~^
Naturwissenschaftliche
Wochenschrift
BEGRÜNDET VON H. POTONlfi
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof. Dr H. MIEHE
IN BERLIN
NEUE FOLGE. 20. BAND
(DER GANZEN REIHE 36. BAND)
JANUAR — DEZEMBER 1921
MIT 112 ABBILDUNGEN IM TEXT
JENA
VERLAG VON GUSTAV FISCHER
1921
Alle Rechte vorbehalten.
Register.
I. Größere Originalartikel
und Sammelberlchte.
Alvcrdes, F., Erblichkeit und Nicht-
Erblichkeit. 377.
Armbruster , L., Neue Urkunden über
das älteste Haustier. 193.
Balss, H., Über Stridulationsorganc bei
dekapoden Crustaceen. 697.
Berger, A., Über die Geschichte und
die neuesten Fortschritte der Kenntnis
der Kakteen. 353.
Czepa, A., Die Reizwirkung der Rönt-
gen- und Radiumstrablen. 657.
Dahl, Fr., Täuschende Ähnlichkeit mit
Bienen, Wespen und Ameisen. 70.
Dahms, P., Über Pflanzenabzüge und
Weingeist zur OrdenszeiL 177.
Eichinger, A. , Die Entstehung von
Roterden und Laterit. 409.
E n g e 1 h a r d t , V., Dante und das Welt-
bild des Mittelalters. 529.
Färber, Ed., Das Kontinuitätsprinzip in
der Chemie. 705.
Fricke, H., W'ind und Wetter als Feld-
wirkungen der Schwerkraft. 97.
Fr öl ich, W. , Der Segelflug und ver-
wandte Bewegungen in Luft und Was-
ser. 197.
Galant, S., Die .xerotherme Ameiseninsel
Saint TriphoQ. 258.
Garns, H. , Übersicht der organogenen
Sedimente nach biologischen Gesichts-
punkten. 569.
Garns, H. , Zur Ameisengeographie von
Mitteleuropa. 4 14.
Gicklhorn, J., Notiz über Stentur
igneus als Ursache auffallender Wasser-
verfärbimg. 382.
Goebel, K. , Pöanzcn als Wetter-
propheten. 129.
Greinacher, H. , Eine umkehrbare
Ventilröhre. 381.
Grimpe, G., Chelifer als Schmarotzer.
628.
Gumbel, E. J., Spekulatives aber die
Endlichkeit der Welt. 85.
Halbfafl, W., Kreislaufprozeß des Was-
sers. 86.
Hansen , A., Zur Metamorphosenlehre. 7.
Heikertinger, Fr, Täuschende
Ähnlichkeit mit Wespen und Bienen
(Sphekoidie). 589.
Heikertinger, Fr., Täuschende Ähn-
lichkeit mit .Ameisen (Myrmekoidie). 709.
Heller, H. , Wie orientiert sich die
Ameise." 44g.
H e 1 1 e r , H , Wilhelm Ustwalds Forschun-
gen zur Farbenlehre. 425.
Hennig, Edw. , Neue Ansichten von
der Entstehung des Erdbildes. 681.
Hcrfs, A. , Die Haut der Schnecken in
ihrer Abhängigkeit von der Lebens-
weise. 601.
Hoppe, W. , Aufbau und geologische
Geschichte der Sinaihalbinsel. 209.
Kästner, M. , Bemerkungen zur Ent-
stehtmg und Besiedlung des Trocken-
torfs. 33.
Keller, R., Elektromikroskopie. 665.
Killermann, S., Zur Geschichte der
Einführung der Papageien. 545.
Klingelhöffer, W. , Der Farbensinn
des Menschen und seine angeborenen
Störungen. 321.
Kobel, F., Problem der Wirlswahl bei
den parasitischen Pilzen. 113.
Kranich feld, H. , Gemeinschaftdien-
liche Zweckmäßigkeit, die Lösung des
Problems der Dysteleologien. 513.
K r a n i c h f e 1 d , H. , Eine neue Unter-
suchung der fremddienlichen Zweck-
mäßigkeit. 617.
Krenkel, E., Moorbildungen im tropi-
schen Afrika. Sl.
Kuhn, K., Die Ausbreitung der elektri-
schen Wellen und die Konstitution der
Atmosphäre. 8.
Kuhn, K., Neuere Erfolge von Max-
wells Theorie der Elektrizität. 585.
Kuhn, O. , Zur Biologie unserer ein-
heimischen Egel. 473.
Küster, E., Das Typhetuni in der frühen
deutschen Graphik. 49.
Lenk, E., Vom Leben zum Tode. 726.
Liek, E. , Über Altem und Verjüngung.
l6l.
Lilienthal, G., Über den Segelflug der
Vögel und das Fliegen der Fische. 64I.
Ltndinger, L., Ein neuer Weg zur
Schädlingsforschung. 255.
Martienssen, O. , Gesetz und Zufall
in der Natur. 505.
Mar Zell, H., Der Holunder (Sambucus
nigra) in der Volkskunde. 133.
Mertens. R., Über die Funktion des
Schwanzes der Wirbeltiere. 721.
Meyer, A., Empirie und Wirklichkeit.
361.
Mo h oro V icii , St., Die Folgerungen
der aUgemcinen Relativitätstheorie und
die Newtonsche Physik. 737.
Möbius, M., Zur Metamorphose der
Pflanzen. 739.
Möller, W. , Der hypothetische Welt-
älher. 577.
N i c k e 1 , G., Äther und Kelativitätstheorie.
430-
Nölke, Fr., Über den Kreislaufprozeß
des Wassers. 310.
Ulbricht, K., Dauer der Eiszeit. 229.
Olbricht, K., Gedanken über die Ent-
wicklung der menschlichen Kultur usw.
476.
Passarge, H., Die Birotationstheorie.
118.
Potonie, R. , Zur Bildung der Braun-
kohlenflöze und Ökologisches über den
Braunkohlenwald. 225.
Potonif, R., Paläoklimatologisches im
Lichte der Paläobotanik. 382.
Pratje,.\., Das Leuchten der Tiere. 433.
Prell, H. , Die Grundtypen der gesetz-
mäßigen Vererbung. 289.
Radovanovitch, Was ist die Zeit-
669.
Rautber, M., Deszendenzprobleme, er-
örtert an den Steinheimer Planorben.
US-
Reiche, K., Eine uralte Kochsalzgewin-
nung in Mexico. 498.
R e i n k e , J., Besitzt ein Vogel Einsicht
in kausale Zusammenhänge- 742.
Schmidt, A, Zur Wünschelrutenfrage.
328-
Scholl, J. , Einsteins Weltbild eine
Zablenüktion? 18 1.
Schönherr, Br., Lorentz-Einstein. I.
Schuster, J., Hundert Jahre Phylopalä-
ontologie in Deutschland. 305.
Schwartz, M., Was ist Pflanzenschutz J
532-
Stromer, E., Die Rückbildung der Hüft-
beine bei Seekühen. 4 II.
Termer, Fr., Kakao und Schokolade
bei den alten Mexicanern und anderen
mittelamerikanischen Völkern. 65.
Tischner, Homöopathie und moderne
Biologie. 625.
Vierhapper, Fr., Eine neue Einteilung
der Pflanzengesellschaften. 265, 281.
Vogtherr, K. , Über die kosmischen
Bewegungen des .\thers. 393.
Voß, H., Die künstliche Parthenogenese
de§ Froscheies, 3>6,
3^^4t;
IV
Register.
Weber, Fr., Pflanze und Elektrizität.
241, 249.
Wiei3mann, H., Die biologisclien Vor-
gänge im Boden. 489.
Wilhelmi, J., Zur Ausgestaltung der
Schädlingsbekämpfung. 312.
Will er, A. , Aus dem Stoffhaushalt
unserer Gewässer. 17.
Willer, A., Neues über Maränen. 561.
Winkler, H. , Christian Gottfried Nees
von Esenbeck als Naturforscher und
Mensch. 337.
Zache, E. , Die chemischen Nieder-
schläge des norddeutschen Diluviums.
457-
Zimmermann, R., Vorkommen des
Ziesels in Sachsen. 102.
II. Einzelberichte.
A. Allgemeines, Biologie,
Zoologie, Anatomie,
Vererbungslehre.
Aichel, O., Kiefer- und Zahnwachstum
usw. 552.
Ariens-Kappers, C. U., Weshalb ist
die Hirnrinde gefaltet f iio.
Barrows, A., In Stein bohrende Assclo.
389-
Baumann, H., Anatomie der Tardi-
graden. 671.
Bro wer, G. A. und V erwey , J., Vogel-
warte Noordwijk aan Zee. 106.
Coccidium bigeminum bei Füchsen. 304.
D e c o p p e t , M., Maikäferproblem in der
Schweiz. 299.
Eggeling, H. V., Inwieweit ist der Wurm-
fortsatz am menschlichen Blinddarm ein
rudimentäres Gebilde? J02.
Fehlinger, H. , Das Carnegie-Institut
zu Washington. 12.
Floericke, K., GewöUuntersuchungen.
539-
Friedenthal, H., Bildung der mensch-
lichen Geschlechtszellen. 465.
Goldschmidt, R. , Die quantitative
Grundlage von Vererbung und Artbil-
dung. 331.
Grote, H., Ornis Rufllands. 523.
Henning, H., Farbige Ölkugeln im
Sauropsidenauge. 692.
Hesse, Einfluß des Untergrundes auf
das Gedeihen des Rehes. 639.
Hermaphroditismus bei verschiedenge-
schlechtlichen Zwillingen des Rindes.
233-
Holmgren, N., Parietalorgane und
ihre Innervation bei Fischen. 346.
Holmgren, N. , Nervus terminalis bei
Knochenfischen. 348.
Jegen, G., Biologie und Anatomie eini-
ger Enchylräiden. 57.
Karstedt, Blastogener Hermaphroditis-
mus. 152.
Key, W. E., Erbveranlagung und soziale
Tüchtigkeit. 349.
Klaatsch, H., Ausbildung der mensch-
lichen GliedmaSen. 370.
Komarek, Höhlenfauna. 690.
Kunze, K., Zentralnervensystem der
Weinbergschnecke. 676.
Latzin, H., Möglichkeiten der theore-
tischen Biologie. 453.
Mackens en, C. v.. Künstliche Beleuch-
tung der Hühnerställe. 717.
Martell, P., Stammesgeschichte des
Hausrindes. 745.
Math er, T. , Naturschutz in den Ver-
einigten Staaten, 55.
Naturschutz in Holland. 3S8.
Naumann, Raubseeschwalbe. 747.
Pax, F., Schlesiens Stellung in tiergeo-
graphischer Hinsicht. 644.
Plath, O. E. , Blutsaugende Fliegen-
larven. 334.
Prell, Problem der Unbefruchtbarkeit.
440.
Schömmer, Geschlechtsbestimmung im
Hühnerei. 184.
Schrader, Geschlechtsbestimmung bei
den Mottenläusen, go.
Schulze, P., Deutsche Hydren. 398.
Schulze, P., Cordylophora lacustris.
651.
Schuster, W., Nahrung der am Wasser
lebenden Vögel. 109.
Seyfarth, C, Langerhanssche Inseln.
716.
Spemann, H. und Falkenberg, H.,
Zum Determinationsproblem. 369.
Steinhardt, Elefant des Kaokofeldes.
612.
Study, Für und wider Darwin. 555.
Verne, J. , Die Natur des roten Farb-
stoffes der Crustaceen. 55-
Versluys,J., Limulus, eine zum Wasser-
leben übergegangene Arachnoide ? loö.
Volz, W., Urwald als Lebensraum. 202.
Wachs, H., Restitution des Auges nach
E.\stirpation von Retina und Linse bei
Tritonen. 123.
Weigold, H., Wanderungen der See-
schwalben. 371.
Wille, J., Deutsche Schabe. 319.
Zeleny, Rückbildung der Augen bei
Drosophila. 648.
Zimmermann, R. , Ende des Wisents.
107, 717.
Zimmermann, R., Kurzohrige Erdmaus,
Microtus subterraneus. 223.
B. Botanik, Bakteriologie,
Landwirtschaft.
Andre, Ursachen des periodischen Dik-
kenwachstums des Stammes. 153.
Barlot, J., Farbreaktionen zur Unter-
scheidung der Pilze. 154.
Baumgärtel, O., Problem der Zyano-
phyzeenzelle. loS.
Brudeck, M. J., Desinfektionskraft von
Formaldehydpräparat K. p. und Kresol-
präparat Nr. 72. 350.
Bracht, E. , Surapfzypressenwald in
Florida. 124.
Bürge ff, H., Sexualität und Parasitis-
mus. 204.
Burgeff, H., Eigenartige Form des
Parasitismus. 137.
Geyr v. Schweppenburg, Pflanzen-
geographie der inneren Sahara. 318.
Gothan, W., Weiteres über die „ältesten
Landpflanzea". 39g.
Heinricher, E., Mistel und Birnbaum.
28.
Heinricher, Bestäubung der Mistel.
232.
Haberlandt, G. , Wundhormone als
Erreger von Zellteilungen. 592.
Kühl, H. , Bekämpfung von Pflanzen
Schädlingen mit kolloidalem Schwefel
636.
Melchior, H. , Saugorgane der Mistel
554-
Molisch, H., Aschenbild und Pflanzen
Verwandtschaft. 234.
Murbeck, Sv. , Biologie der Wüsten
pflanzen. 220.
Riede, ,,Hydropoten" bei Wasserpflanzen
535-
Schneider und Kochmann, Hirten
täschel in der Medizin, 230.
Schulz, A. , Ein vergessener Botanike:
des 16. Jahrhunderts. 417.
Simon, S. V., Stoffstauung und Neu
bildungsvorgänge in isolierten Blättern
1S3.
Skottsberg, C. , Botanischer Garten
mit Naturschutzgebiet. 691.
Tröndle, Aufnahme von Stoffen in die
Zelle, 158.
Wettstein, F. v., Reinkultur der Algen.
6S9.
Wettstein, ^. v,, Künstliche Partheno-
genese bei Vaucheria, 467.
W i s s e 1 i n g h , C, v., Untersuchungen über
Osmose. 136.
C. Physiologie, Medizin
(einschl. Veterinärmedizin),
Psychologie, Hygiene.
Ankylostomum in Tierbeständen. 304.
Biedermann, W. , Wesen und Ent-
stehung diastatischer Fermente. 221.
Carre, Wie eine Infektionskrankheit ent-
steht. 745.
Domo, Einflüsse des Klimas auf die
Gesundheit. 153.
Ernst, Schutzimpfung bei Maul- und
Klauenseuche. 746.
Fox, H., Erkrankung der Pankrfasdrüse
bei Tieren. 304.
Gildemeister, Erforschung der mensch-
lichen Hörgrenze. 631.
Gley, Lehre von der inneren Sekretion.
75-
Kunze, Die Empfindung der Richtung,
aus der der Schall kommt. lo.
Langer, Chemotherapeutische Leistung.
693-
L e u p o 1 d , Beziehungen zwischen Neben-
nieren und Keimdrüsen. 419.
Nervöse Erscheinungen bei Tieren infolge
von Eingeweidewürmern. z6o.
Pferderäude, Übergang auf den Menschen.
704.
Ratten als Überträger der Trichophytie
beim Pferde. 183.
Reuter, Spirochätenkrankheit beiVögeln.
155-
S z ä s z , Technik des Geflügelimpfens. 200.
Zwaardemaker, Physiologische Wirk-
samkeit des Kaliums. 713.
D. Geologie, Hydrographie,
Paläontologie,
Bärtling, R. , Die Endmoränen der
Hauptvereisung zwischen Teutoburger
Wald und Rheinischen Schiefergebirge.
59-
liergt, W. , Das Muttergestein des Ser-
Kegisler.
pentias im sächsischen üranulitgcbirge.
370-
Brauns, R., Meteorstein von Forsbach.
276.
Cloos, R., Geologie der Schollen im
schlesiscben Tiefengestein. 156.
Cloos, H., Mechanismus tiefvulkanischer
Vorgänge. 701.
Feh linger , H., Bergbau in Me.xiko. 319.
GletscherbeweguDg in der Schweiz im
Jahre 1919. 56.
Haenel, H., Warum schlägt die Wün-
schelrute aus? II.
Heim, A., Deckentheorie an der Grenze
von West- und Ostalpen. 204.
Hilber, V., Die geologische Stellung
des Faläolithikums. 54.
Hohen stein, V., Die Löß- und Schwarz-
erdeböden Rheinhessens. 58.
Hohenstein, V., Schlesische Schwarz-
erde. 594.
Jäger, Fr., Die Austrocknung Südafri-
kas. 52.
KoSmat, Geologische Bedeutung der
Schweremessung. 453.
Krenkcl, G. , Beriebt über eine For-
schungsexpedition in Deutsch-Ostafrika.
53-
Mügge, O. , Petrographie des älteren
Paläozoikums zwischen Albungen und
Witzenhausen. 86.
zur Mühlen, L. v., Magnesitbergbau
am Galgenberg bei Zobten. 333.
zur Mühlen, L. v.. Die baltischen Öl-
schiefer. S50.
Neynaber, K., Wirkung von Spreng-
granaten und Minen auf verschiedene
Bodenarten. 302.
Pfizenmeyer, Mammutvorkommen im
Jakutsgebiet. 732.
Philipp, H., Eine neue Theorie der
Gletscherbewegung. 274.
Range, P., Geologie und Mineralschätze
Angelas. 301.
Schmitz, G., Deutsche Olschieferlager.
452.
Schneider höhn, H., Asphaltgänge im
Fischflußsandstein im Süden von Süd-
westafrika. 89.
Stutzer, O. , Geologie der oligozänen
Pechkohlenflöze Oberbayerns. 332.
Werth, E. , Dauer der Spät- und Post-
glazialzeit. 29.
Wüst, G., Verdunstung auf dem Meere.
58-
E. Geographie.
Klute, F., Geographie des Kilima-
ndscharogebiets. 235.
Mager, F., Kurland. 348.
Rein, G. K., Abessinien. 673.
Sapper, K. , Innertropische Akklimati-
sation. 595.
Skottsberg, C. , Die Juan-Fernandez-
(Robinson-)lnseln. 596.
Wi tiaczil , E., Die Grenzlage Wiens. 11.
F. Völkerkunde, Anthropologie,
Vorgeschichte.
Baker, F. C, Eiszeitliche Menschen-
knochen in Nordamerika. 598.
Davenport, C. B. und Love, A. G.,
Körpeimängel in den Vereinigten Staa-
! tcn. 157.
McDougall, W. , Psychische Veran-
lagung und Volkscharakter. 405.
C o h n , L. , Zweck des Tragens von
Nasen-, Lippen- und Wangenpilöcken.
13s- '
Fischer, E., Variieren der morphologi-
schen und physiologischen Merkmale '
der Menschen. 41Ö.
Hilzheimer, Ursprung des Menschen-
geschlechts. 123.
Klaatsch, Die Entstehung der artiku-
lierten Sprache. 418.
K r a u s e , G r., Ethnologie der Balier. 610.
Martin, R., Bedeutung einer anthropo-
logischen Untersuchung der Jugend. 109.
Martin, R., Skelettkultur. 650.
Montelius, Absolute Datierung der
i älteren und jüngeren Steinzeit. 170.
Smith, E. VV. und Dale, A. M., Die
Ilavölker Nord-Rhodesiens. 537.
Teßmann, G., Weltanschauung der Na- 1
turvölker. 63S. '
Verworn, M. , Bonnet, R. , Stein-
mann, G., Die diluvialen Skclettfundc
von Oberkassel bei Bonn. 402. |
Werth, Altsteinzeitliche Funde im Sinai-
gebietc. 275,
G. Physik, Meteorologie,
Astronomie.
A b b o t , Helligkeitsänderungen der Sonne.
420.
Bergstrand, Entfernung des großen
Orionnebels. 90.
Dreis, J., Wolkenstruktur und Wolken-
flächen. 15.
Fowler, W., Doppelstern vom Algol-
typus. 537.
! Gehlhoff, G. und Schering, H., Ab-
sorptionsmessungen in Luft. 172.
Graff, Hauptebene der Milchstraße. 446.
G u ra b e 1 .Wahrscheinlichkeitstheoretische
Betrachtungen zur Endlichkeit der Welt.
731-
Jahreszeitlypen. 186.
John, St., Keine Bestätigung der Rela-
tivitätstheorie. 420.
Kapteyn und van Rhijn, Gesetz der
Verteilung der Fixsterne. 78.
Lenard, Gegen die Relativitätstheorie.
S5I-
Ludendorff und Heiskanen, Radial-
I geschwindigkeit der veränderlichen
! Sterne. 551.
j Meyermann, Ring des Saturn. 421.
; M i 1 1 i k a n , Ausdehnung des ultravioletten
! Spektrums. 79.
O 1 1 m a n n s , Mechanik der physikalischen
Anziehungserscheinungen. 231.
Pease und Anderson, Ein Gasstern.
446.
Pickering, Durchmesserraessung eines
Fixsterns. 637.
Ramsauer, C., Lichtelektrische Wirkung
unterteilter Lichtquanten. 611.
Regener, E., Unterschreitung des Ele-
mentarquantums. 95.
Rutherford, Zerlegung von Elementen
durch «-Strahlen. 728.
Shapley, Neue Forschungen auf dem
Gebiete der Stellarastronomie. 536.
Slipher, Spiralnebel mit auffallend
großen Geschwindigkeiten. 421.
Stcbbins, Algol. 552.
Tietgen, H., Tönen der Telegraphen-
und Fernsprcchleitungen. 57.
Tubandt, C, Die Eleklrizitätsleitung in
festen kristallisierten Stoffen. 387.
Walter, B. , Solarisationserscheinungen.
155-
We th, M., Der positive Spitzenstrom. 121.
Wiechert, .Äther im Weltbild der Phy-
sik. 037.
Zecher, G., Dopplereffekt im Röntgen-
spektrum. 260.
H. Chemie, Mineralogie,
Kristallographie.
Aminoff, G. , s. Flink.
Asch an, O., Neue Bestandteile des Ko-
lophoniums. 647-
Auerbach, R., Polychromie des kollo-
idalen Schwefels. 92.
Bagster, L. S., s. Dehn.
Bamberger, M. und Grengg, R.,
Farben von Mineralien bei tiefen Tem-
peraturen. 317.
Böggild, O. B., Neue Mineralien. 316.
Bragg, W. L,, Anordnung der Atome.
in Kristallen. 608.
Bruhns, G., Hilfsmittel für Ablesen an
Büretten. 452.
Bürki Fr., und Schaaf , F., Zerfall des
Hydroperoxyds durch Basen. 715.
C 1 a s s e n , A. und N e y , O., Atomgewicht
des Wismuts. 299.
Cooling, G, s. Dehn.
Crommelin, Elektrischer Widerstand
der Metalle bei tiefen Temperaturen.
55°-
Dehn, M., Theorie chemischer Um-
setzungen. 29S.
Dennison, D. M. , Kristallstruktur des
Eises. 582.
Dhar, N. R. und Ch att erj i, G., Pepti-
sation. 646.
Dittler, E. , Experimentelle Versuche
zur Bildung silikatischer Nickelerze. 173.
Eitel, W., Zinkblende im Basalt des
Bühls bei Kassel. 104.
Fischer, Fr. undSchrader, H., Her-
kunft des Benzols bei der Leuchtgas-
gewinnung. 93.
Flink, G., Neue Mineralien. 633.
Gibbs, W., Neue Form der Phasen-
regel. 715.
Groh, J. und Hevesy, G. v., Selbst-
diffusionsgescliwindigkeit des geschmol-
zenen Bleis. 201.
Haller, R., Hydroperoxyd als Lösungs-
mittel 11. 371.
Hatschek, E, Abnorme Liesegangsche
Schichtungen. 92.
Heß, K., Aufbau der Zellulose. 467.
Hieber, W., Methode zur Bestimmung
allelotroper Gleichgewichte. 672.
Hoff mann, Radioaktivität aller Ele-
mente. 139.
Hönigschmidt, O. undBirkenbach,
Atomgewicht des Wismut. 56.
Hönigschmid, O. und Dir ken bac h ,
L., Atomgewicht des Berylliums. 567.
Hüll, A. V/., Röntgenstrahlenanalyse der
Kristallstruktur von Metallen. 58 1.
Hüll, A. W., Kristallstruktur des Cal-
ciums. 671.
Kossei, A. und Giese, G. , Farbstoff
des grünen Eiters. 33 1.
IV
Register.
Weber, Fr., Pflanze und Elektrizität.
241, 249.
Wießmann, H., Die biologischen Vor-
gänge im Boden. 489.
Wilhelmi, J., Zur Ausgestaltung der
Schädlingsbekämpfung. 312.
Will er, A. , Aus dem Stoff haushält
unserer Gewässer. 17.
Willer, A. , Neues über Maränen. 561.
Winkler, H. , Christian Gottfried Nees
von Esenbeck als Naturforscher und
Mensch. 337.
Zache, E. , Die chemischen Nieder-
schläge des norddeutschen Diluviums.
457-
Zimmermann, R., Vorkommen des
Ziesels in Sachsen. 102.
II. Einzelberichte.
A. Allgemeines, Biologie,
Zoologie, Anatomie,
Vererbungslehre.
Aichel, O., Kiefer- und Zahnveachstum
usw. 552.
Ariens-Kappers, C. U., Weshalb ist
die Hirnrinde gefaltet? HO.
Barre WS, A., In Stein bohrende Asseln.
389.
Baumann, H. , Anatomie der Tardi-
graden. 671.
Bro wer, G. A. und Ve rwey , J., Vogel-
warte Noordwijk aan Zee. 106.
Coccidium bigeminum bei Füchsen. 304.
Decoppet, M., Maikäferproblem in der
Schweiz. 299.
Eggeling , H. V., Inwieweit ist der Wurm-
fortsatz am menschlichen Blinddarm ein
rudimentäres Gebilde? 702.
Fehlinger, H. , Das Carnegie-Institut
zu Washington. 12.
Floericke, K., Gewölluntcrsuchungen.
539-
Friedenthal, H., Bildung der mensch-
lichen Geschlechtszellen. 465.
Goldschmidt, R. , Die quantitative
Grundlage von Vererbung und Artbil-
duDg. 331-
Grote, H., Ornis Rußlands. 523.
Henning, H., Farbige Olkugeln im
Sauropsidenauge. 692.
Hesse, Einfluß des Untergrundes auf
das Gedeihen des Rehes. 639.
Hermaphroditismus bei verschiedenge-
schlechtlichen Zwillingen des Rindes.
233.
Holmgren, N. , Parietalorgane und
ihre Innervation bei Fischen. 346.
Holmgren, N. , Nervus terminalis bei
Knochenfischen. 348.
Je gen, G., Biologie und Anatomie eini-
ger Enchyträiden. 57.
Karstedt, Blastogener Hermaphroditis-
mus. 152.
Key, W. E., Erbveranlagung und soziale
Tüchtigkeit. 349.
Klaatsch, H., Ausbildung der mensch-
lichen Gliedmaßen. 370.
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Steinhardt, Vom wehrhaften Kiesen.
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Stock, A., Ultra-Strukturcheniie. 16.
Stock, A., Ultra-Strukturchemie. 568.
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Strasburger, Lehrbuch der Botanik.
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Stromer, E., Paläozoologisches Prakti-
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Tarn mann, G., Lehrbuch der Metallo- {
graphie. 748.
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Th ormeyer, F., Philosophisches Wörter-
buch. 352. i
Trünke!, H., Repetitorium der Pflanzen-
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Ulbrich, E., PfianzenkundeBd.il. 159.
Ulbricht, K., Das Kugelphotometer. 142.
Urban, Ign. , Plumiers Leben und
Schriften. 238. ,
Valentin er, S., Grundlagen der Quan-
tentheorie. 432.
Valentiner, S. , Anwendungen der j
Quantenhypothese usw. 734.
Vater, R, Technische Wärmelehre. 470.
Verweyen.J. M., Naturphilosophie. 558.
V e r w o r n , M., Die Anßinge der Kunst.
62.
Verworn, M. , Mechanik des Geisles-
lebens. 55S.
Voigt, A., Exkursionsbuch zum Studium
der Vogelstimmen. 159.
Voigt, A., Wasscrvogelleben. 392.
Wachs, H., Entwicklung, ihre Ursachen
und deren Gestaltung. 16.
Wächter, W., Vademecum für Sammler
von Arznei- und Gewürzpflanzen. IlT,
Wagner, G. , Landschaftsformen von
Württembergisch-Franken. 351.
Waibel, L. , Urwald — Veld —Wüste.
239.
Walt her, J. , Vorschule der Geologie.
79-
Walther, J. , Geologie Deutschlands.
405-
Walther, J., Geologische Heimatkunde
von Thüringen. 536.
Wasielewski, W. v. , Telepathie und
Hellsehen. 334.
Wegener, A., Entstehung der Mond-
krater. 750.
Weil, A., Die innere Sekretion. 486.
Weil, L. W., Grundlagen der techni-
schen Hpdrodynamik. 143.
Wenz, \V., Geologie. 159.
Wiegers, Fr., Diluvialprähistorie als
geologische Wissenschaft. 501.
Wiesner, J., Anatomie und Physiologie
der Pflanzen. 614. '
W i n t e 1 e r , F. , Die heutige industrielle
Elektrochemie. 62.
Wolf, B., Das Recht der Naturdenkmal-
pflege in Preußen. 32.
Wolff, W., Die Entstehung der Insel
Sylt. 64.
Ziehen, Th., Lehrbuch der Logik. 372.
Zwölf länderkundliche Studien. 55S.
V. Anregungen und Antworten.
Ameisen, Kettenbildung derselben. 280.
Athertheorie und Einsteineffekt. 80.
Aufklärung, 504.
Boden, biologischen Vorgänge darin. 736.
Cicindela- Arten, zur Biologie der. 176.
Disjunktionsproblem Keilhacks. 392.
Dominantes Merkmal, Ausbreitung des-
selben in der Natur. 47.
Dünge- und Futtermittel, Untersuchung der-
selben. 240.
Gesellschaft für positivistische Philosophie.
280.
Glazialkosmogonie, zur Kritik der. 735.
Grundwasser und Quellen. 80.
Haeckels Monismus eine Kulturgefahr.
190.
Hellsehen und Namenraten. 48.
Hunde, fischende. 80.
„Inkohlung". 736.
Köppernickel, Herkunft des N.imens. igi,
424, 560.
Kreislauf des Wassers. 392, 504.
Mauersegler, Nislweise. 240.
Naturschutz in den Vereinigten Staaten.
279.
„Orthogenesis, Mutation, Auslese", einige
Bemerkungen zu dem Aufsatz H. Fischers
darüber. 47, 239.
Paläoklimatisches im Licht der Geophysik.
511.
Phyletische Potenz. 176.
Pilzvergiftung durch Tricholoma ligrinum.
175-
Riesensterne, Gaskugeln? 735'
Schöngefärbte Tiere. 264.
Schwalben in der deutschen Urlandschaft.
48.
Singzikaden. 423.
Sprachliche Bemerkung (, .anomal"). 512.
Süfiwassermeduse. 752.
Swift, seine Auffassung vom Tierbau. 80.
Waldschutz durch Vogelschutz. 736.
Wisente im Plesser Tiergarten. 392.
Zodiakallicht. 192.
VI. Abbildungen.
Abraliopsis, Ilaulleuchtorgan. 436.
Aschenbilder von Pflanzen. 234, 235.
Atlantisches Gebiet im Eozän. 685.
Chromosomenverteilung, Schemata. 293,
295.
Crustaceen, Stridulationsorgane. 697—700.
Drosophila, Augen. 648, 64g,
Erdteile im Karbon. 686.
Farbkreis. 425.
Fische, fliegende. Ö41.
Geosynklinalen des Mesozoikums. 688.
Gonostoma elongatum, Leuchtorgan. 437.
Halicoridae, Hüftbeine. 412.
Hunde, altägyptische Darstellungen. 194
bis 197.
Kochsalzgewinnung in Mexiko. 499, 500.
Lampyride, Leuchtorgan. 436.
Lilie, Narbe mit keimenden Pollenkörnern.
667.
Mistel, Saugorgan. 534.
Möwen, im Segelflug. 641.
Noctiluca. 435.
Nordatlantisches Gebiet zur großen Eis-
zeit. 683.
Papageien auf alten Bildern. 548, 549.
Papagei im Bauer. 743.
Parietalorgane bei Fischen. 347.
Penaeopsis stridulans. 69S.
Planorbis multiformis, Stammbaum. 149.
Schnecken, Drüsen. 603.
Segelflugmodelle. 642, 643.
Silene nutans, Blütenstand. 131.
Stenops gracilis, Blinddarm. 702.
Stubbenhorizont bei Senftenberg. 227.
Tiefseetintenfisch. 435.
i Unbefruchtbarkeit, Schema. 442.
Ventilröhre, umkehrbare. 381.
Voratlantischer Kontinentalblock. 685.
VII. Literaturlisten.
16, 32, 48, 64, 80, 112, 128, 144, 160,
208, 280, 288, 304, 336, 352, 376, 408,
432. 448, 472, 488, 512. 543. 500, 584,
600, 616, 624, 648, 680, 696, 704, 736.
O. PäU'sche BiichHr. t.ipperl ,<i: Co. G.
b. H., Nanmbiirg a.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge ao- Band ;
der gatixen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 2. Januar igai.
Nummer 1.
Lorentz- Einstein.
Einsteins „Weltbild" eine Zahlenfiktion f
Philosophisch-kritische Untersuchungen
[Nachdruck verboten.]
Die vorliegenden Ausführungen bringen in
kurzer Fassung einen neuenZusammenhang
zwischen der M a x w e 1 1 - L o r e n t z sehen Theorie
und Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Als
unmittelbare Folgerung ergibt sich, daß Ein-
steins „Weltbild" als bloße mathematische Ab-
straktion zu bewerten ist. Ich erlaube mir zu-
nächst zwei Tatsachen zur Vergleichung
nebeneinander zu stellen.
Da eine Bewegung der Erde relativ zum Licht-
äther experimental nicht nachzuweisen ist, nahmen
H. A. Lorentz und Fiz Gerald an, daß alle
Körper, die sich gegen den Äther bewegen, in
der Bewegungsrichtung eine Verkürzung auf das
1
I —
j fache ihrer Länge erleiden. — Ein-
steins spezielles Relativitätsprinzip setzt voraus,
daß die Geschwindigkeit eines Lichtstrahles eine
Invariante in allen möglichen Inertialsystemen ist;
Längen und Zeiten werden in ein Abhängigkeits-
verhältnis gebracht; die weitere Rechnung liefert
zahlenmäßig die Lorentzkontraktion.
Lorentz setzte also gewissermaßen das
„Kontraktionsprinzip" als Prämisse und erklärte
die „Konstanz der Lichtgeschwindigkeit" (Michelson-
versuch), während Einstein umgekehrt das
Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit als Prämisse setzt und die Lorentzkontraktion
(zahlenmäßig) folgert.
Dieses Wechselspiel erscheint uns äußerst auf-
fällig und erinnert uns unwillkürlich an das be-
kannte Umformungsverfahren: ist a^^b, so ist
log^b = n. Wie hier in jeder der beiden Glei-
chungen jedes Element nur in verschiedener Zu-
sammensetzung wiederkehrt, so finden wir dort
in jeder von beiden Theorien jedes „Prinzip"
nur mit verschiedener Bedeutung wieder. Berück-
sichtigen wir, daß die als Symbol gesetzten
Gleichungen identische Gleichungen sind, so
wird den Ausgangspunkt unserer Untersuchung
die Frage zu bilden haben, ob Einsteins spe-
zielle Relativitätstheorie das Resultat
einer bloßen Umformung der Maxwell-
Lorentzschen Theorie ist. Daran ist näm-
lich nicht zu zweifeln, daß zwischen Einsteins
Lorentz - Transformationen und den Max well -
Lorentzschen Gleichungen ein direkter Zusam-
menhang besteht. — Näheren Einblick in die
Methode solcher Umformung werden wir offenbar
gewinnen, wenn uns folgende Frage beantwortet
von Bruno Schönherr, Zillerthal (Riesengebirge).
ist : Zu welchem Zweck wird im allgemeinen eine
neue Theorie aufgestellt und wie geht der Auf-
bau der Gedankenelemente bei Aufstellung einer
Theorie vor sich? Cournot ^) antwortet uns
darauf in meisterhafter Weise mit einem einzigen
Satze: „Ini allgemeinen ist jede wissenschaftliche
Theorie, die ersonnen wurde, um eine bestimmte
Zahl durch Beobachtung gegebener Tatsachen zu
vereinen, einer Kurve zu vergleichen, die nach
irgendeinem geometrischen Gesetz unter der Be-
dingung gezogen wird, durch eine Reihe vorher
gegebener Punkte hindurchzugehen". Werden
also in eine Theorie neue Erfahrungswerte ein-
geführt, d. h. wird die Zahl durch Beobachtung
gegebener Tatsachen vermehrt, so wird dadurch
die ganze Theorie wesentlich modifiziert; die
Grundbegriffe passen sich den neuen Beobachtun-
gen an und das ganze Tatsachengebiet wird auf
eine neue Art interpretiert. Man sagt: die so
veränderte Theorie ist das Ergebnis einer Induk-
tion — sie ist in der Erfahrung erarbeitet. Die
Grundbegriffe bzw. Grundgleichungen einer neuen
Theorie müssen also immer mit Rücksicht auf
die zu erklärenden Tatsachen zurechtgestutzt und
zurechtgerückt werden. Damit z. B. Newton
sagen konnte, daß sich der Mond wie ein gegen
die Erde schwerer Körper verhält, mußte er die
Galileischen Fallgesetze modifizieren.^)
') Dieses Zitat und das folgende von Poinsot entnehme
ich dem erkenntnistheoretiscben Werke von J. B. Stallo,
„Die Begriffe und Theorien der modernen Physik". Nach
der 3. Auflage des englischen Originals übersetzt von Hans
Kleinpeter. Mit einem Vorwort von Ernst Mach.
2. Auflage. Leipzig, Barth igii. (Cournot S. 105,
Poinsot S. 99.) Die in diesem vorzüglichen Buch (ent-
standen in den siebziger Jahren des vor. Jahrh.) entwickelten
Gedanken haben obigen Untersuchungen als Leitfaden gedient.
*) Es ist gänzlich ausgeschlossen , daß ein menschliches
Zerebralsystem aus sich heraus aus ganz allgemeinen Prinzi-
pien den genauen Betrag für die Perihelbewegung des Merkur
ableiten könnte, wie er von den Astronomen (Leverrier)
als Niederschlag mühevoller Beobachtungen festgestellt wor-
den ist. Der auch hier unvermeidliche induktive Weg ist der,
daß zunächst die Grundgleichungen der N e w t o n sehen Theorie
und eine Gleichung für die Perihelbewegung mittels eines
geometrischen Gesetzes unter einen Hut gebracht werden. Da
in der Gerber sehen Formel für die Perihelbewegung, die
bekanntlich mit der Einstein sehen genau übereinstimmt die
Lichtgeschwindigkeit eingeführt ist, so ermöglicht das 'geo-
metrische Gesetz Minkowskis als Differentialgleichung die
Verbindung mit den Bewegungsgleichungen der New ton-
sehen Attraktionstheorie, was als Resultat die Bewegungs-
gleichungen der Einstein sehen Gravitationstheorie ergibt.
Zweifellos ist diese Kombination mit aufiergewöhnlichem Ge-
schick durchgeführt worden. Es kann nicht genug betont
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. I
Nun ist auch das Verfahren in Gebrauch, die
Rraukateeiner Reilie von—Umformmigen einer
Gleichung, die eine Hypothese enthält und deren
ElemeirteiTichts mehr imä nichts weniger als die
Elemente der zu erklärenden Erscheinung sind,
als neue Hypothesen auszugeben, die in Verein
mit den daraus hervorgehenden Folgerungen
nicht selten als physikalische Theorien prunken.
Ist der mathematische Ausdruck einer „Grund-
hypothese" z. B. a" = b, so wird auf Grund dieser
Methode die Gleichung nach irgendeinem geo-
metrischen Gesetz, das jedoch die Eigenschaft
besitzt in der Gleichung bereits implizite
enthalten zu sein, in eine andere Form verwan-
delt, sagen wir in n = log^b oder a = yb. (Da
Verhältniszahlen ursprünglich Symbole für geo-
metrische Verhältnisse, und da Gleichungen nichts
anderes als ein ökonomischer Ersatz für sonst
ausgedehnte Tabellen von Verhältniszahlen sind,
so kann ein Gleichungssystem nur durch ein
geometrisches Gesetz in ein anderes übergeführt
werden.) Trotzdem all diese möglichen Gleichun-
gen eine so verschiedenartige Physiognomie
haben, so sind sie doch alle identisch, d. h. sie
beschreiben in Wirklichkeit alle nur ein und das-
selbe Tatsachengebiet und zwar kommt bei der
mathematischen Beschreibung nur der Grad der
Erscheinungen in Betracht. Sämtliche auf diesem
Wege umgewandelten Gleichungen enthalten also
dieselben Erfahrungswerte, es sind nirgends
neue Beobachtungsdaten aufgenommen. Ist die
werden, daß es sich hier nur um die Zusammenfassung alge-
braischer Gleichungen unter gleichzeitiger Beobachtung geo-
metrischer Verhältnisse handelt. Die Ableitung der allge-
meinen Relativitätstheorie — die Prinzipien mitsamt des de-
duktiven Weges — ist eine Deutung der Grundgleichungen
der Einst einschen Gravitationstheorie, wie sie auf dem
soeben in einem groben Umriß dargelegten induktiven Wege
zustande gekommen sind, und ist diesen zurechtgerückt und
ihnen angepaßt. Sicherlich wäre Newton seinen Zeitgenossen
als wissenschaftlicher Zauberkünstler erschienen, wenn ihm
daran gelegen hätte, den induktiven Weg seiner Entdeckung
in ein mystisches Dunkel zu hüllen und wenn er dann am
Schluß des umgekehrten deduktiven Weges gesagt hätte: Daß
diese aus der Forderung des Attraktionsprinzipes auf rein
mathematischen Wege fließenden Bewcgungsgleichungen die
Kepler sehen Gesetze liefern, muß nach meiner Ansicht von
der physikalischen Richtigkeit der Theorie überzeugen. Aller-
dings ist für Newton diese Methode weniger empfehlens-
wert, denn sein mathematischer Weg wäre lächerlich kurz
und zu wenig kompliziert. Wie also Newton durch Ein-
beziehung der Planetenbewegungen nach Kopernikus-
Kepler das Galileische konstante ,, Fallpotential" erweitert
hat, so hat Einstein durch Einbeziehung der Perihel-
bewegungen nach Leverrier-Gerber das Newtonsche
Graviialionspotential verfeinert. Ob letztere Übertragung auf
irdische Verhältnisse zulässig ist, das steht freilich auf einem
anderen Blatt. Mit Hinsicht auf den soeben dargestellten Zu-
sammenhaiig hat Einstein aus der Deutung seiner Gravita-
tionsformel nur zwei Schlüsse gezogen, wenn man von seiner
verbogenen Welt absieht: die Krümmung der Lichtstrahlen
und die Verschiebung der Spektrallinien in Gravitationsfeldern.
— Ich möchte ferner an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen,
daß die bewunderungswürdigen Arbeiten bei der Errechnung
des Planeten N.eptun durch Leverrier und Adams <larin
bestandeii haben , daß unter meisterhafter Ausnützung des
mathematischen Handwerkzeuges neue Beobachtungen in ein
bekanntes Schema eingeordnet wurden.
Gleichung für ein Naturgesetz durch rechtwink-
lige Koordinaten festgelegt, so läßt sich dasseltre
Gesetz z. B. auch durch eine Polarkoordinaten-
gleichung ausdrücken; das die Tränsfönftattön
vermittelnde allgemeine geometrische Gesetz
lautet in diesem Falle:
r- ■ cos^ 9 -j- r* • sin"^ y = X- -j- y''.
Das Naturgesetz ist dann in eine andere mathe-
matische Mundart übersetzt und — ein neuer
Gesichtspunkt ist gewonnen. Besteht nun die
Möglichkeit, daß man einer solchen resultierenden
Gleichung eine einigermaßen evidente Deutung
geben kann, d.h. läßt sich in der Gleichung eine
Beziehung finden, die in einem anderweitigen
größeren Tatsachengebiete als allgemeines Gesetz
bekannt ist, so sind nach der bewußten Me-
thode schon die Grundgleichungen für eine
„neue" Theorie gewonnen und vielfach glaubt
man, nun nur so drauflos folgern zu können
und häufig meint man, mit solchen Prinzipien
alle Geheimnisse der Natur erklären zu können.
Da die Gleichungen für „Grundhypothese" und
„resultierende Hypothese" in den meisten Fällen
komplizierter Beschaffenheit sind, so ist ihre
Identität schwer erkennbar und weil der for-
schende Blick meistens auf die Natur der Er-
scheinungen gerichtet ist, so bemüht man sich
zunächst mit der Feststellung, welche von beiden
Hypothesen die richtige ist (was nebenbei bemerkt
häufig den Anlaß zu weitschweifigen Kontroversen
bildet: „Mit Worten läßt sich treftlich streiten,
mit Worten ein System bereiten") und sieht da-
bei den Wald vor Bäumen nicht, d. h. bemerkt
nicht, daß weiter nichtsals ein mathemati-
sches Band die beiden Theorien verbindet.
Die „Grundhypothese", welche die Daten der
Beobachtung in die Rechnung eingeführt hat,
verblaßt natürlich immer mehr, denn sie wird ja
von der neuen „alles umfassenden" und daher die
Gedanken am meisten überwältigenden Theorie
dem Grade nach miterklärt. Dank des mathe-
matischen Vexierbildes, in dem die beiden be-
wußten Theorien stehen, ist die neue Theorie in
der Lage, oft die haarsträubendsten Dinge zu
folgern und sie unbehelligt als unumstößliche
Wahrheiten zu behaupten. Da so eine Theorie
durchaus ein für alle Male alles erklären möchte,
so schießt sie nicht selten mit Hilfe der kargen
Erfahrungswerte, die ihr zugrunde liegen und die
sie von der alten Theorie geliehen hat, bis in die
magischsten Atmosphären und sphärischen Räume
hinaus, um von dort der festeren und geraderen,
hoffnungsvollen und gläubigen Welt die frohe
Kunde mitzubringen, daß alles stimmt und stim-
men muß. „Sitzt ihr nur immer I leimt zusammen,
braut ein Ragout von andrer Schmaus und blast
die kümmerlichen Flammen aus eurem Aschen-
häufchen rausl" usw. Daß es aber nicht stimmen
kann, liegt auf der Hand und zeigt sich auch ge- 1
wohnlich dann, wenn daran gegangen wird, die I
Folgerungen der „Pseudotheorie" mit „Hebeln
N. F. XX. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
und Schrauben" zu lockern. Poinsot äußert
sich zu diesem Thema folgendermaßen :
„Was so manche Köpfe über die den mathe-
matischen Formeln scheinbar zukommende IVIacht
getäuscht hat, liegt an dem Umstand, daß man
ziemlich leicht aus ihnen bereits bekannte Wahr-
heiten ziehen kann, die man sozusagen selbst in
sie eingeführt hat, so daß es den Anschein ge-
winnt, daß uns die Analyse etwas geben würde,
was sie in Wirklichkeit nur in eine andere
Sprache gekleidet hat. Wenn ein Satz bekannt
ist, braucht man ihn nur in Gleichungen zu klei-
den; ist er richtig, so muß jede von ihnen eben-
sowie jede Ableitung aus ihnen richtig sein,
gelangt man so zu einem evidenten oder anders-
woher bekannten Satze, braucht man nur diesen
Satz zum Ausgangspunkte zu machen und die
Entwicklung rückwärts zu gehen, und es gewinnt
den Anschein, als ob uns die Rechnung allein zu
dem Satze geführt hätte, um den es sich handelt.
Darin eben besteht die Täuschung des Lesers".
Es ist selbstverständlich, daß die eben ge-
schilderte Entwicklung in den meisten Fällen i m
Unbewußten vor sich geht. Der ganze Vor-
gang beruht auf dem psychologischen Moment,
daß der Mensch durchaus die Schranken durch-
brechen möchte, die ihm die Natur in seinem
Denken und Handeln überall setzt. Hat er ein-
mal eine Luke, d. h. einen neuen Gesichtspunkt
gefunden, so stürmt das Denken mit einem keine
Grrenzen kennenden Elan hindurch und glaubt
nun die Welt in ihrem innersten Wesen vor sich
ausgebreitet zu sehen. Der so von der Natur
genarrte Theoretiker vergißt dabei ganz, daß die
Wissenschaft auch ein Siück Natur ist, und daß
auch hier die Bäume nicht in den Himmel wachsen
können und das Weitertreiben der Spekulationen
beeinflußt häufig sein dadurch übermäßig stark
in Anspruch genommenes abstraktes Denken so-
weit, daß ihm immer mehr die Fähigkeit ver-
loren geht. Einfaches als einfach anzusehen. Die
Naturwissenschaft erforscht und erkennt ihr Ob-
jekt durch Beobachtung und Erfahrung, und es
wird wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß
das Beobachten und Erkennen eine Äußerung
der Natur ist. — Es wird nicht unangebracht
sein, wenn ich an dieser Stelle zu diesem Gegen-
stande die folgenden Worte Machs zitiere. Mach
sagt am Eingang seines Vortrages (Über den
Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung
von Erfindungen und Entdeckungen):^)
„Den naiven hoffnungsfrohen Anfängen des
Denkens jugendlicher Völker und Menschen ist
es eigentümlich, daß beim ersten Schein des Ge-
lingens alle Probleme für lösbar und an der
Wurzel faßbar gehalten werden. So glaubt der
Weise von Milet, indem er die Pflanze dem Feuchten
entkeimen sieht, die ganze Natur verstanden zu
haben; so meint auch der Denker von Samos,
weil bestimmte Zahlen den Längen harmonischer
Saiten entsprechen, mit den Zahlen das Wesen
der Welt erschöpfen zu können. Philosophie und
Wissenschaft sind in dieser Zeit nur Eins. Rei-
chere Erfahrung deckt aber bald die Irrtümer auf,
erzeugt die Kritik, und führt zur Teilung, Ver-
zweigung der Wissenschaft. — Da nun aber
gleichwohl eine allgemeine Umschau in der Welt
dem Menschen Bedürfnis bleibt, so trennt sich,
demselben zu entsprechen, die Philosophie von
der Spezialforschung. Noch öfter finden wir zwar
beide in einer gewaltigen Persönlichkeit wie
Descartes oder Leibniz vereinigt. Weiter
und weiter gehen aber deren Wege im allge-
meinen auseinander. Und kann sich zeitweilig
die Philosophie soweit der Spezialforschung ent-
fremden, daß sie meint, aus bloßen Kinderstuben-
erfahrungen die Welt aufbauen zu dürfen, so hält
dagegen der Spezialforscher den Knoten des
Welträtsels für lösbar von der einzigen Schlinge
aus, vor der er steht, und die er in riesiger per-
spektivischer Vergrößerung vor sich sieht. Er
hält jede weitere Umschau für unmöglich oder
gar für überflüssig, nicht eingedenk des Voltaire-
schen Wortes, das hier mehr als irgendwo zu-
trifft: »Le supeiflu chose tres necessaire»."
Die eingangs auffällig gewordene doppelte
Wechselbeziehung zwischen Lorentzkontrakiion
und Konstanz der Lichtgeschwindigkeit läßt uns
vermuten, daß die Maxwell- Loren tzsche
Theorie und Einsteins spezielle Relativitäts-
theorie in einer solchen Korrelation stehen, wie
sie oben dargelegt wurde. Unsere Aufgabe hat
sich also nun dahin differenziert, zu untersuchen,
ob sich die den unter Diskussion stehenden Theo-
rien zugrunde liegenden allgemeinen Gleichungeti
nach einem bestimmten, in beiden Theorien im-
plizite enthaltenen geometrischen Gesetz direkt
ineinander umrechnen lassen. Da in diesem Falle
die beiden Gleichungssysteme identische Glei-
chungssysteme wären, so wäre damit der Beweis
geführt, daß die beiden Theorien die gleichen und
nur die gleichen Erfahrungswerte in sich bergen.
Weil die Formel für die Lorentzkontraktion mit
den Maxwell-Lorentz sehen Gleichungen iden-
tisch ist ^) und da ferner die Lorentzkontraktion
dem Grade nach aus Einsteins Lorentz-Trans-
formation gefolgert wird, so hätten wir offenbar
das vermittelnde geometrische Gesetz im Prinzip
von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu
suchen. Machen wir nun unter diesen Bedingungen
ein mathematisches Experiment, so finden wir
aus dem Resultat die Richtigkeit unserer Annahme
vollauf bestätigt. Setzen wir nämlich die Werte
der Formel für die Lorentzkontraktion in Ein-
steins allgemeine Gleichung ein, die das Gesetz
von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aus-
drückt, so liefert die Rechnung unmittelbar —
') E. Mach, „Pop.-wiss. Vorles." 4., verm. u. durcbges.
Aufl. Mit 73 Abb. Leipzig, Barth, 1910. (S. 290 u. 291.)
') Es ist kein Unterschied, ob die Formel auf wahrnehm-
bare Körper oder aber auf Elektronenkörper Anwendung
findet.
4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 1
Einst.eins Lorentz-Transformation. Mit Rück-
sicht auf obigen Ausspruch von C o u r n o t müssen
wir nun argumentieren, daß Einstein bei Auf-
stellung der Lorentz - Transformation folgende
Bauanweisung unbewußt benutzt hat:
Die Reihe gegebener Punkte ist in der von
Lorentz aufgestellten Formel für die Lorentz-
kontraktion festgelegt.
: = x']/l
I.
worin x = vt 2.
(x' = Länge des im Äther ruhenden Stabes
X = Länge desselben verkürzten Stabes bei der
Geschwindigkeit v.)
Der Schlüssel zum geometrischen Gesetz findet
sich im Prinzip von der Konstanz der Lichtge-
schwindigkeit.
x' ' — c-t'"^x- — C't". II.
Die Kurve ist das Abbild der Lorentz-Trans-
formation:
x — vt
l/
v-
/l -
— -
c-
V
t —
c--^
1/
v-^
r-
c-2
I.
111.
Dieser Zusammenhang ist in der „Einfachen Ableitung
der Lorentz-Transformation" in Einsteins „gemeinverständ-
licher" Schrift deutlich zu ersehen. Faßt man dort die erste
Gleichung auf S. So (es liegt hier die 5. Aufl. vor) mit der
Gleichung (7b) zusammen, so erhält man unsere Gleichung
(I, l): Zieht man seine Gleichung (6) mit der darüber stehen-
den Gleichung zusammen, so ergibt sich unsere Gleichung
(I, 2\ Diese Gleichungen ergeben zusammen mit seinen
Gleichungen (5) die Lorentz-Transformation. Seine linearen
Gleichungen (5) sind aber zusammengenommen identisch
mit der allgemeinen Gleichung für das Gesetz von der
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (seine Gleichung Sa), nur
ist dort bereits das Verhältnis der Konstanten bestimmt.
Das Konstanlenverhältnis ist -er ausgerechneten Lorentz-
Transformation entnommen. Einstein gibt dem Konstanten-
verhältnis zusammen mit unserer Gleichung (1, 2) eine ,, evi-
dente" Deutung: spezielles Relativitätsprinzip. Da in Ein-
steins Ableitung die Gleichungen für das spezielle Kelativi-
tätsprinzip mit den linearen Gleichungen für das Prinzip von
der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zusammengezogen
werden, so resultieit dort als Ausrechnung unsere Gleichung
(I, l). Die weitere Analyse der Theorie bis auf ihre letzten
Grundbegriffe bildet eine besondere Aufgabe.
Wir haben also gefunden : Die von Einstein
entdeckte Lorentz Transformation ist das Resultat
einer mathematischen Analyse der Maxwell-
Lorentzschen Gleichungen — die Gleichungen
sind nach einem bestimmten Gesichtspunkte
differenziert. Es soll nun etwas näher untersucht
werden, wie die Differenzierung auf Grund des
eben genannten Rezeptes vor sich geht.
Zunächst ist zu beachten, daß die Formel für
die Lorentzkontraktion an und für sich nichts an-
deres zum Ausdruck bringt als die Abhängig-
keitsbeziehung zwischen Verkürzung und Ge-
schwindigkeit der Körper, wobei die physikalische
Ursache der Verkürzung gar keine Rolle spielt.
Es liegt hier der gleiche Kasus vor als z. B, bei
Anwendung der Formel für den freien Fall, denn
bei Gebrauch derselben fragt man auch nicht
nach der Ursache der Fallbewegung. Ein Natur-
gesetz besagt: Es ist nun einmal so, das Experj-,
ment bestätigt immer wieder, daß es so ist, aber
warum es so ist, wissen wir nicht; es ist ledig-
lich das tatsächliche Verhalten auf eine Formel
gebracht. Die Formel für die Lorentzkontraktion
ist eine in eine Gleichung gekleidete Deutung der
Resultate der Michelson- und ähnlicherV ersuche, also
eine in Zahlen gesetzte Hypothese, womit sich die
scheinbare Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
das IVIeßergebnis der Versuche, beschreiben läßt.
Die „Konstanz der Lichtgeschwindigkeit" ist also in
den Maxwell-Lorentzschen Gleichungen im-
plizite enthalten 1 Was bei Lorentz als schein-
bar gilt,') wird nun bei Einstein Wirklichkeit^
seine spezielle Relativitätstheorie setzt die Kon:
stanz der Lichtgeschwindigkeit als Prinzip an die
Spitze. Dieses Postulat hat die Abhängigkeit von
Längen und Zeiten (und auch die Verbannung
des Äthers) zur unabweisbaren Konsequenz. Diese
zunächst labile Abhängigkeitsbeziehung wird in
die F"orm der allgemeinen Gleichung (II) gebracht
und damit die „alles umfassende" Relativitäts-
theorie die bewährte Maxwell-Lorentzsche
Theorie genau in sich einschließt, werden die
Werte der bekannten Formel für die Lorentz-
kontraktion (I) in die Gleichung (II) eingesetzt.
Die Ausrechnung liefert dann die Lorentz-Trans-
formation (111). Einstein schreibt: „Die spe-
zielle Relativitätstheorie ist aus der Maxwell-
Lorentzschen Theorie der elektromagnetischen
Erscheinungen auskristallisiert". Aus diesem Zu-
sammenhange ist deutHch ersichtlich, wie die
„Lorentzkontraktion" in Einsteins Lorentz-
Transformation implizite enthalten ist. Da die
Formel für die Lorentz-Kontraktion für gleich-
förmige Translationsbewegungen gilt, so können
wir ergänzend sagen, daß auch die „spezielle
Relativität" in den Maxwell-Lorentzschen
Gleichungen implizite enthalten ist.
Zwei Beispiele mögen zur weiteren Klärung
der hier in Betracht kommenden Verhältnisse
dienen. Es ist bekannt, daß ein ins Wasser ge-
haltener Stab dem Auge gebrochen erscheint.
Nehmen wir nun an, es fehlte uns der Tastsinn,
mit dem wir sonst die Täuschung konstatieren,
wie würden wir dann die augenfällige Erscheinung
des gebrochenen Stabes deuten können? Wir
würden dann entweder argumentieren : es besteht
in Wirklichkeit das Prinzip von der Brechung
des Lichtes und die Erscheinung des gebrochenen
Stabes ist nur eine scheinbare; oder aber: der
') Neben die Annahme von Lorentz, daß alle Körper
(unabhängig von Material und sonstigem physikalischen Zu-
stand) bei der Bewegung gegen einen materiellen Äther durch
dessen Einwirkung eine spezifisch gleiche Verkürzung erleiden,
wäre die Tatsache zu setzen, daß alle Körper (anabhäifgig
von Material und sonstigem physikalischen Zustand) im luft-
leeren Raum die gleiche Fallbeschleunigung erfahren.
NF. XX. Nr. 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S
Stab wird beim Eintauchen in das Wasser tat-
sächlich gebrochen und die Lichtbrechung ist,
wenn auch eine brauchbare Annahme, nur schein-
bar. Entsprechend folgert Lorentz: das Kon-
tralttionsprinzip ist Wahrheit und die augenfällige
Erscheinung der Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit beim Michelsonversuch ist scheinbar, das
Additionstheorem der Lichtgeschwindigkeit gilt ;
und Einstein: das Prinzip von der Konstanz
der Lichtgeschwindigkeit existiert und die Lorentz-
kontrakiion ist scheinbar. Wir sehen , daß in
beiden Fällen ein gemeinsamer Tatbestand nur
verschieden gedeutet wird. — Wir denken uns
ferner in einem unendlich großen, leeren Raum
zwei Weltkörper A und B. Ein Beobachter auf
A nimmt zunächst seinen Weltkörper als ruhend
an und stellt fest, daß B um A eine Kreisbewegung
vollführt, wobei B in demselben Drehungssinn
um seine eigene Achse rotiert. Bei einem Um-
lauf um A macht B acht Umdrehungen um seine
Achse. Der Beobachter setzt sich nun an seinen
Schreibtisch und stellt folgende Reflexionen an.
Er sagt sich, daß sich seine Beobachtung auch da-
mit beschreiben läßt, daß man B als ruhend an-
nimmt, wobei dann sein Weltkörper A eine Kreis-
bewegung um B im entgegengesetzten Drehungs-
sinne macht und in demselben entgegengesetzten
Sinne um die eigene Achse rotiert. Bei acht
Umdrehungen um B macht dann A eine Drehung
um die eigene Achse. Nach weiterem Überlegen
bemerkt der Beobachter, daß noch ein anderer
Standpunkt möglich ist. Er sagt sich nämlich, daß
;man ja auch die Verbindungslinie der Mittel-
punkte der beiden Weltkörper als ruhendes Bezugs-
element auffassen kann, wobei dann A in dem-
selben Sinne wie zuletzt rotiert, während B eine
entgegengesetzte Rotationsbewegung vollführt :
macht nun A einen Umlauf, so macht B deren
sieben. Nach Analogie mit diesem Beispiel dürfen
wir sagen, daß das spezielle Relativitätsprinzip
die augenfällige Erscheinung der Nichtkonstatier-
barkeit der Bewegung der Erde gegen den Licht-
äther beim Michelsonversuch oder besser gesagt,
das hier zutage tretende absolute Verbindungs-
glied zwischen Erde und einem im Äther ruhenden
starren Körper — die Konstanz der Lichtge-
schwindigkeit — zum Bezugselement macht.
Wir müssen bei all diesen Beispielen und
ebenso bei der Behandlung des Gegenstandes
unserer Untersuchung dauernd im Auge behalten,
daß sich unser Denken nicht mit den Dingen,
wie sie an sich sind, sondern mit den Gedanken-
vorstellungen von denselben beschäftigt, und daß
seine Elemente nicht reine Gegenstände, sondern
ihre gedanklichen Gegenstücke sind. Nur mit
von der Wirklichkeit abgerissenen Symbolen
lassen sich Gedankenexperimente über Relativität
. a la Einstein anstellen, denn nicht mit Reali-
täten, sondern mit Gedankenelementen reflektieren
wir — in der Wirklichkeit existiert kein Inei tial-
system. ') „Du gleichst dem Geist , den du be-
greifst, nicht mirl' sagt die Seele der Natur zum
Flaust. Hätte dieser Relativitätsgedanke den Wert
einer universellen Weltformel, so müßte z. B. ein
beseeltes, durch Erwärmen ausgedehntes Stück
Eisen die Veränderung auch dahin interpretieren
können; ich habe mich überhaupt nicht verändert,
sondern das ganze Universum hat sich verkleinert
und abgekühlt. Oder ein Trunkener wäre be-
rechtigt, seine getrübten Beobachtungen dahin
auszulegen : ich bin das Absolute, Unveränderliche
und normal, aber die ganze Welt ist trunken. —
Der Einstein sehe Relativitätsgedanke eignet
sich nicht als Fundament zum Aufbau einer ge-
danklichen Welt.
Formulieren wir nun das Gesamtergebnis un-
serer Untersuchung in Verbindung mit den un-
mittelbar daraus hervorgehenden Folgerungen
allgemeinster Art, so erhalten wir;
Einsteins Lorentz - Transformation ist das
Resultat einer bloßen Verschmelzung der Max-
well- Loren tzschen Gleichungen mit der all-
gemeinen Gleichung, die das Gesetz von der
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ausdrückt und
ist nicht ursprünglich aus dem Prinzip von der
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und dem Re-
lativitätsprinzip hervorgegangen. Die Gnmd-
gleichungen der Maxwell - Lorentz sehen
Theorie und Einsteins spezieller Relativitäts-
theorie sind exakt identische Gleichungen. Das
allgemeine geometrische Gesetz, das in beiden
Grundgleichungen implizite enthalten ist und das
die beiden Grundgleichungen ineinander überführt,
ist das Gesetz von der Konstanz der Lichtge-
schwindigkeit. In Einsteins Lorentz • Trans-
formation sind die gleichen und nur die gleichen
Erfahrungswerte enthalten als in den Maxwell -
Loren tzschen Gleichungen. Einsteins spe-
zielle Relativitätstheorie und die Maxwell-
Lorentzsche Theorie beschreiben das in Be-
tracht kommende Tatsachengebiet der Wirklich-
keit entsprechend, wenn dabei das den Maxwell-
Loren tzschen Gleichungen zugrunde liegende
Erfahrungsbereich innegehalten wird — alles
übrige ist Spekulation. Da wir aus der Erfahrung
nicht wissen, ob die Max well- Lo re ntzschen
Gleichungen in jedem Geschwindigkeitsbereich
Gültigkeit besitzen, so ist z. B. dem Begriff von
der Grenzgeschwindigkeit des Lichtes nur eine ähn-
liche Bedeutung beizumessen, als wie sie etwa
dem Elastizitätsmodul der Festigkeitslehre zu-
kommt. (Natürlich hätte auch schon Lorentz
den Stab verschwinden lassen können, denn man
braucht nur in seiner Kontraktionsformel für die
Geschwindigkeit v die Lichtgeschwindigkeit c zu
setzen und schon schrumpft der Stab zu einem
Nichts zusammen.) Da sich Einstein bei Auf-
stellung seiner Theorie nur in Zahlen bewegt hat,
so ist er nicht berechtigt mit seinen neuen, er-
rechneten Begriffen einen realen, physikalischen
') Für diesen Zusammenhang sind die Überlegungen von
M. Palagyi seines Vortrages „Die Relativitätstheorie in der
modernen Physik" besonders wichtig.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. I
Sinn zu verbinden. Eine vorhandene Theorie
kann wohl durch bloße mathematische Operationen
ausgebreitet, aber niemals vertieft werden. Ein
„alles umfassendes physikalisches Weltbild", wenn
das menschliche Denken jemals ein solches er-
zeugen könnte, ist niemals mit einziger Hilfe
von Mathematik zu konstruieren. Einsteins
„Weltbild" spekuliert unberechtigterweise unerlaubt
weit über die zurzeit festgestellten Beobachtungen
hinaus. Einsteins spezielle Relativitätstheorie
stützt sich nicht auf das Prinzip von der Anpas-
sung der Gedanken an Beobachtungen, sondern
beruht auf dem Verfahren der Anpassung von
Gedanken an Gedanken — kurz gesagt: Ein-
steins „Weltbild" ist eine verunglückte Zahlen-
spekulation I
Wir wollen uns nun zum Schluß den hier
wirksamen Mechanismus des Gedankenanpassens
zusammenfassend zum Bewußtsein bringen. Wir
haben soeben gesehen, daß die Lorentz- Trans-
formation identisch mit den Maxwell-Lorentz-
schen Gleichungen ist, und daß die einzelnen
Elemente in jedem Gleichungssystem ihre Be-
deutung deshalb wechseln, weil jedes System ein
anderes Element zum Bezugselement macht.
Während Lorentz sich auf den im Äther ruhen-
den Körper bezieht, nimmt Einstein Bezug auf
die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die
letztere Festsetzung zwingt das Denken mit
logischer Notwendigkeit zur Verleugnung des
Äthers und zur Annahme der Abhängigkeit von
Längen und Zeiten, und die Verbannung des
Äthers hat weiter eine neue Erklärung der Ent-
stehung des Lichtes zur Folge. Da Einstein
und der größere Teil der Verfechter seiner Lehre
seine Gedankenerzeugnisse für unumstößliche
Wahrheiten halten, so verfallen sie in den uralten
Fehler metaphysischer Theorienbildung, die immer
wieder versucht, die wahre Natur der Dinge aus
den Begriffen von denselben abzuleiten. So kon-
struierte man sich früher zornige Geister, um
sich damit die Vorgänge beim Donnern, bei
Vulkanausbrüchen, bei Sonnenfinsternissen usw.
begreiflich zu machen; und wenn nun leere und
sphärische Räume und errechnete Raum- und
Zeitabhängigkeit zur Erklärung aller Geheimnisse
der Natur dienen sollen, so sehen wir hier weiter
nichts anderes darin als einen modernen Ersatz
für jene ehemaligen metaphysischen Geister — und
dazwischen stellen wir das wüste Treiben der
modernen Spiritisten. Wenn die Alten im Donner
den Zornausbruch eines Geistes sahen, so mag
dies in Anbetracht des zu jener Zeit herrschenden
Aberglaubens noch angehen, denn böse Geister
waren den Menschen schon damals in der Er-
fahrung aus anderen Gebieten zur Genüge be-
kannt. Wenn aber heute die Lorentz- Kontraktion
auf das Vorhandensein eines „Nichtstoffes" zurück-
geführt wird, so sehen wir in diesem Erklärungs-
versuch ein Gemenge von „Idem per idem er-
läutern" mit einem „Obscurum per obscurius er-
klären" und identifizieren ihn mit der zeitgemäßen
Anpassungsmethode: daß das Leder so teuer ist,
daran sind die hohen Schuhpreise schuld. (Ich
bitte, die Verwendung solcher Analogien an dieser
Stelle nicht als den Erguß einer Geschmacklosig-
keit aufzufassen; ich bin mir dabei nur der Tat-
sache bewußt, daß durch Vorführung drastischer
Vergleiche Bände gespart werden: wissenschaft-
liche Ökonomie!) Die verbreitete Annahme, daß
heute die Metaphysik aus den Naturwissenschaften
verschwunden sei, beruht leider auf einem Irrtum.
Wenn es heute noch Physiker und Chemiker gibt,
die bei Gebrauch von Abstraktionsgebilden, wie
Atomen und . Molekülen, wie von wirklichen
Dingen reden, so hat die Philosophie die Pflicht,
ihre Kenntnisse zwecks rücksichtsloser Aufklärung
zu verwerten und hat sämtlichen Spezialisten
z. B. die vortrefflichen Worte des EuckenPhilo-
sophen Otto Braun*) vorzuhalten: „Erfahrung
und Mut des Denkens müssen sich einen: von
Gedanken her erfolgt die Frage an den Stoff,
die Erfahrung gibt die Antwort — und nie
dürfen wir den Begriffen zuliebe uns
der Wirklichkeit verschließen." Atome,
Moleküle, Schwerpunkt usw. sind Begriffe und es
wird wohl niemand behaupten wollen, daß es
einen „wirklichen" Schwerpunkt gibt. Neue
Wahrheiten von apodiktischer Genauigkeit und
Gewißheit liefert nur die experimentelle Forschung
— eine brauchbare Theorie schematisiert die Er-
fahrungswerte. Lassen sich Wahrnehmungen
sammeln und organisieren, so darf dann das
Schema und vor allen Dingen die Art seiner Dar-
legung niemals so beschaffen sein, daß man sich
erst das Gehirn zermartern muß, um das System
begreifen zu können. Weitgehende Folgerungen
einer Theorie haben dann hohen praktischen
Wert, wenn dabei der Forscher die wissenschaft-
liche Einsicht besitzt, daß seine Forderungen in
Wirklichkeit nur approximative Gültigkeit
besitzen, aber einen oft zuverlässigen Führer für
weitere Untersuchungen bilden können. *) Besteht
dann die Möglichkeit, den Verlauf der voraus-
gesagten Vorgänge durch Versuch genau zu be-
stimmen, so können die so neu gefundenen Daten
rückwärts in die den Spekulationen zugrunde
liegenden Gleichungen eingeführt werden (In-
duktion), und erst wenn diese Revidierung statt-
gefunden hat, sind die Grundgleichungen für eine
weitere neue Theorie geschaffen. Brauchbare
Theorien fallen den Menschen nicht als Ergeb-
nisse von bloßen Gedankenexperimenten fix und
fertig abgerundet in den Schoß, sondern sie
müssen erst in der Erfahrung erarbeitet werden.
Die Wissenschaft ist nie eine fertige Größe, son-
dern sie ist stets etwas Werdendes, Unabge-
schlossenes, Bewegtes : die ganze Welt ist in
') Prof. Dr. Otto Braun, „Geistesprobleme und Lebens-
fragen". Ausgewählte Abschnitte aus den Werken Rudolf
Euckens. Reclam Nr. 5993—5995 (S. 29).
') Die Behandlung der allgemeinen Relativitätstheorie
nach diesem Gesichtspunkte mag in einem folgenden Aufsatz
durchgeführt werden.
N. F. XX. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Fluß! Ein Werk, das fruchtbar sein soll, muß tivitätstheorie glaubt ein Abschluß zu sein und
immer Triebe erkennen und fühlen lassen, damit wäre dann — der Sarg der Physik,
es eben leben und wachsen kann. Die Rela-
Zur Metaiiiorphosenlehre. ')
(Nachdruck verboten.) Von Dr. A,
Dem naiven Realismus, der uns gewisser-
maßen angeboren ist, gelten die Dinge so, wie
sie erscheinen. Das ist die natürliche Auffassung
im gewöhnlichen Leben, die auch von Kant ge
billigt wird. Aus der Erkenntnis, daß diese Auf-
fassung unvollkommen ist, sind Wissenschaft und
Forschung erst entstanden. Diese strebt unter
allen Umständen dahin, eine möglichst absolute
Erkenntnis der Gegenstände zu erlangen. Das ist
durch bloße Anschauung nicht möglich. Die
Fähigkeit unseres Denkens nur kann uns Erkennt-
nis verschaffen. Der natürliche Anfang dieser
Tätigkeit ist der Vergleich. Wir suchen einen
uns unverständlichen Gegenstand dadurch besser
zu verstehen, daß wir ihn mit einem uns schon
verständlichen vergleichen. Dadurch kommen
wir aber nur zu einer relativen Erkenntnis und
in den allermeisten Fällen müssen wir uns auch
in der Wissenschaft mit dieser Art Erkenntnis
begnügen.
So ging es anfangs auch mit den Blüten, die
einen so auffallenden Gegensatz zu den Laub-
organen der Pflanzen bilden, daß sie als etwas
davon absolut verschiedenes erscheinen. Mal-
pighi und andere verglichen aber doch
wenigstens die Hüllorgane der Blüten, Kelch und
Blumenblätter mit Laubblättern. Zum morpho-
logischen Vergleich der eigentlichen Fortpflanzungs-
organe kam es aber nicht, weil hier jede Mögliah-
keit eines Vergleichs aufhörte. Die bloße be-
griffliche Unterordnung der Blütenteile unter den
Begriff Blatt ist aber bloße Klassifikation
und keine Hypothese, sie hat für die wissen-
schaftliche Erkenntnis gar keinen Wert. Denn
was hieße es: ein Staubfaden ist ein Blatt, wenn
dies Wort einen bloßen Begriff bedeutet. Ein
„Blatt" gibt es in Wirklichkeit gar nicht, es gibt
nur Laubblätter, Hochblätter, Blumenblätter, Kelch-
blätter, Fruchtblätter. Es müßte also gesagt wer-
den, was für eine Art Blatt ein Staubfaden sein
solle. Das eigentliche, in allem Anfang durch
die Sprache so genannte Blatt ist das große
Organ der Pflanzen, das Laubblatt von flacher
Form. Also wenn eine Beziehung überhaupt an-
genommen wird, kann man nur sagen, ein Staub-
faden ist ein Laubblatt, d. h. der Anlage nach,
denn später gleichen sie sich nicht mehr. Es
hat also nicht bloß den Ort eines Laubblattes,
worauf C. F.Wolf das Hauptgewicht legte, son-
dern auch gewisse innere Eigenschaften der Laub-
biattanlage. Dafür, daß das Alte in neuer Form
erscheint, sind wir gezwungen , eine Ursache an-
zunehmen und da hier Beobachtung nicht
Hansen f.
möglich ist, nehmen wir vorläufig eine hypothe-
tische Ursache an; die Metamorphose. Auf
diesem Standpunkt stehen Goethe, Goebel und
andere Botaniker mit ihm. Durch noch un-
bekannte Wirkungen ändern sich die Eigen-
schaften und danach die ganze Form der Laub-
blattanlage und sie wird zum Sporophyll. Dieser
Standpunkt wird in den meisten Lehrbüchern
vertreten z. B. in Strasburgers Lehrbuch, 1 3. Auf-
lage, durch Fitting S. 169.
Nach Veröffentlichung meiner letzten Arbeit
über Goethes Morphologie ") schrieb mir ein be-
freundeter Kollege, daß er diesen Standpunkt nicht
teilen könne, eine Staubfadenanlage sei doch von
Anfang an eine Staubfadenanlage und keine
Laubblattanlage. Dieser Standpunkt ist der oben-
bezeichnete natürliche Realismus, für den
die Sachen so sind, wie sie scheinen. Wenn er
auch antitheoretisch ist, so ist er doch nicht völlig
atheoretisch. Für ihn ist ein Staubblatt schon in
der Anlage ein Staubblatt, ein Karpell ein Karpell.
Es gibt also keine Metamorphose der Blütenteile.
Diese begrifflich doch als Metamorphosen zu
bezeichnen ist ganz überflüssig und unverständlich,
denn Metamorphose kann nur ein zeitlicher und
räumlicher Vorgang sein. Das findet man schon
bei Kant. Eine Metamorphose von Begriffen
ist weder logisch noch erkenntnistheoretisch zu be-
gründen, sondern führt nur zu scholastischen
Kunststücken, die leicht ad absurdum zu führen
sind. ■' ' ^■'
Nimmt man nämlich diesen Standpunkt für
die Blüten an, dann müßte er auch für die
übrigen Organe gelten. Die Anlage einer Kar-
toffel wäre gleich einer Knollenanlage, die einer
Blattranke kein Blatt, sondern eine Rankenanlage,
der Orchideenknolle keine Wurzel, sondern eine
Knollenanlage. Metamorphosen dürfte es dann
auch hier nicht geben, die Herkunft der Organe
könnte nicht erklärt werden, sie wäre dennoch
Tatsache. Für das Verständnis der Funktion ge-
nügte das auch. Aber diese Anschauung wircl
') Dieser Aufsatz fand sich unter den nachgelassenen Schriften
Adolph Hansens und wurde mir zur Veröffentlichung
übergeben. Da die Metamorphosenlehre das Gebiet ist, welches
den Verstorbenen in den letzten Jahren bis kurz vor seinem
Tod immer wieder stark beschäftigte, so glaubte ich am
Manuskript, abgesehen von den Literaturangaben, keine Ände-
rungen vornehmen zu sollen. Georg Funk.
•) Adolph Hansen, Goethes Morphologie (Metamor-
phose der Pflanzen und Osteologie), GieSen 1919, Verlag
A. Töpelmann. Auch in Ber. d. Uberhess. Ges, f. Natur- u.
Heilk. N. F. Naturw. Abteil. Bd. 7, 19:9, S. 1—200.
NaturwissenschaftKehe Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. I
durch Tatsachen sofort erschüttert. Bei den
Vegetationsorganen sieht man den Vorgang der
Metamorphosen wirkUch, worauf Goethe schon
aufmerksam gemacht hat und was wohl niemand
bezweifelt (Ranken, Kartoffel und OrchisknoUen,
Wurzelknollen usw.).
Bei den Blüten ergibt eine entwicklungsge-
schichtliche Beobachtung kein klares Resultat. Die
Anlage der Blütenteile gleichen Blattanlagen ge-
nau, brauchen aber keine solchen zu sein. Aber
auch hier wird die naive Ansicht durch Tatsachen
erschüttert, durch die sog. Rückschläge. Eine
Staubblattanlage wird oft ein Blumenblatt oder ein
Karpell, bei Vergrünungen ein laubblattähnliches
Gebilde. Das beweist, daß es nicht von Anfang
an eine unveränderliche Staubblattanlage ist,
sondern daß andere Entwicklungsmöglichkeiten
darin verborgen sind. Die Ansicht, ein Staubblatt
ist von Anfang an ein Staubblatt, ist also un-
haltbar.
Mit dem naiven Realismus wäre auch die
phylogenetische Entstehung der Blüten nicht zu
begreifen. Anfangs gab es keine Blütenpflanzen.
Die Blüten müssen aus Vegetationsorganen ent-
standen sein, was man bei den Kryptogamen, Mar-
chantia, Osmunda, Ophioglossum , Botrychium
deutlich sieht, wo die Umwandlung von Laub-
blättern in Sporophylle vor Augen liegt.
Die naive realistische Ansicht, welche die Meta-
morphose bei den Blüten leugnet, kann also auf
keine Weise sich wissenschaftlichen Halt ver-
schaffen und sollte ganz außer Kurs gesetzt wer-
den. Es ist nicht denkbar, daß ohne Metamor-
phose plötzlich Sexualorgane an Pflanzen entstan-
den seien. Zweifellos liegt darin noch eher eine
Energieersparnis, als wenn ohne vorhandene
Grundlage neue Organe entstanden sein sollten.
Die Ausbreituug der elektrischen Wellen und die Konstitution der Atniospliäre.
Von Karl Kuhn.
[Nachdruck verboten.]
Die Reichweite der heutigen Großstationen für
drahtlose Telegraphie beträgt 20000 km. Die
elektrischen Wellen müssen also der vollen Krüm-
mung eines Erdhalbmessers folgen, um zur Emp-
fangsantenne zu gelangen. Durch die theoretischen
Untersuchungen von Sommerfeld *) und seinen
Mitarbeitern H. W. March und W. v. Ryb-
czynski wurde nachgewiesen, daß die Beugung
der viele Kilometer langen elektrischen Wellen
an der Erdoberfläche völlig ausreicht, um trotz
der eigentlich geradlinigen Ausbreitung genügend
Energie zur Empfangsstation gelangen zu lassen.
Sommerfelds Berechnung der durch die Beu-
gung ankommenden Energie stimmt innerhalb der
möglichen Genauigkeit mit den Messungen von
Austin gut überein. Aber schon vor Jahren
hat Marconi**) beobachtet, daß die Reichweite
einer Sendestation bei größeren Entfernungen
während der Nacht beträchtlich zunimmt. Auch
zeigten quantitative Messungen der ankommenden
Empfangsenergie bei konstanter Entfernung wäh-
rend der Nacht eine starke Zunahme gegenüber
den Messungen am Tag. Zunächst machte sich
diese Erscheinung nur bei Entfernungen über
1 000 km bemerkbar ; doch ist es K. E. F. S c h m i d t •')
auch gelungen, bei nur 400 km Entfernung mit
einer hochempfindlichen Apparatur die Zunahme
der Empfangsenergie bei Nacht zu messen. Den
gleichen Einfluß wie die Nacht zeigte auch die
Sonnenfinsternis*) vom 17. April 191 2. Diese
') Jahrbuch d. drahtlosen Telegraphie Bd. 17, S. 2 — 15
(1917)-
') J. Zenneck, Lehrbuch d. drahtlosen Telegraphie.
3. Aufl. Stuttgart 1913.
') Mitteil. d. naturforsch. Gesellsch. zu Halle a. S, Bd. 2,
S. 9 — 12. Halle 1913.
*) Met. Zeitschr. Bd. 37, S. 177—184 (1920).
Verhältnisse kann Sommerfelds Beugungs-
theorie nicht erklären.
Es ist deshalb schon viel früher von Heavi-
side, Eccles') u. a. die Theorie aufgestellt
worden, die großen Reichweiten seien durch Re-
flexion oder Brechung der elektrischen Wellen an
ionisierten Luftschichten zu erklären. Etwa in
der Höhe des Nordlichts soll eine dauernd ioni-
sierte Luftmasse vorhanden sein, die durch eine
korpuskulare Strahlung ^) der Sonne hervorgerufen
sein könnte. Diese Tag und Nacht gleichmäßig
ionisierte Schicht wird allgemein als die Heaviside-
s<Jiiicht^) bezeichnet und durch Spiegelung der
elektromagnetischen Wellen an ihr können die
außergewöhnlichen Reichweiten während der
Nacht erzielt werden. Am Tage dagegen sollen
die Wellen der drahtlosen Telegraphie gar nicht
bis in die Höhe der Heavisideschicht gelangen,
da sich durch die ultraviolette Sonnenstrahlung
bereits in sehr viel geringerer Höhe ionisierte
Zwischenschichten ausbilden sollen , welche die
elektrischen Wellen reflektieren und vom Vor-
dringen zur Heavisideschicht abhalten.
Tatsächlich nimmt die Intensität des Sonneh-
ultravioletts nach den Messungen von W ig and,*)
der diese im Freiballon bis in 9425 m Höhe mit
einem Zinkkugelphotometer nach Elster iirld
G e i t e 1 untersuchte , außerordentlich stark mit
der Höhe zu. Auch weist die elektrische Leit-
fähigkeit der Luft in hohen Atmosphärenschichten
eine beträchtliche Steigerung auf, selbst wenn von
') Physik. Zeitschr. Bd. 13, S. 1163 (1912).
'') Jahrbuch d. drahtlosen Telegraphie Bd. 12, S. 175—
l8j (1917)-
3) 1. c. S. 56—67.
*) Abderhalden, Fortschritte d. naturwiss. Forschung
Bd. 10, S. 246-269 (1914I.
N. F. XX. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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der durch die Luftdruckerniedrigung vermehrten
Beweglichkeit der Ionen abgesehen wird. Nach den
wenigen vorliegenden Messungen von Wigand ')
erreicht die Leitfähigkeit bei 6000 m einen Wert,
welcher gleich dem 22 fachen Betrag des Pots-
damer Mittelwertes für normale Tage ist. In
8865 m Seehöhe maß Wigand eine Leitfähig-
keit, welche 68 mal so groß wie die gleichzeitig
am Erdboden herrschende war. Es ist also an
der Möglichkeit des Vorkommens ionisierter Luft-
schichten in niedrigeren Höhen wohl nicht zu
zweifeln.
Da Sommerfelds Beugungstheorie die nor-
male Ausbreitung der elektrischen Wellen am
Tag völlig einwandfrei darstellt, so haben wir
eigentlich „keinen Grund, bei den Tagesbeobach-
tungen die Mithilfe von reflektierenden Luft-
schichten mit in Anspruch zu nehmen. Wohl
aber dürften diese zur Erklärung der abnorm
großen und gleichzeitig unregelmäßigen Reich-
weiten bei Nacht heranzuziehen sein". (Sommer-
feld^).) In der Nacht schwankt die vergrößerte
Reichweite oft stark; bei konstanter Entfernung
ist die ankommende Energie sehr veränderlich.
Wenn die Ursache davon eine ionisierte Luft-
schicht in großer Höhe ist, so kann diese reflek-
tierende Schicht (die Heavisideschicht) keine
völlig zusammenhängende lückenlose Kugelschale
sein, sondern es ist wohl die rasche Veränder-
lichkeit der ankommenden Signale durch eben-
falls veränderliche Heavisidewolken bedingt.
Die Höhe der ionisierten Heavisidewolken-
schicht berechnet C. J. d e G r o o t ^) für die Tro-
pen zu rund 200 km. Bei seinen Messungen in
Niederländisch - Ostindien konnte de Groot fast
jede Nacht eine „stille Zone" in etwa 3000 km
Entfernung beobachten, die völlig der „Zone des
Schweigens" bei starken Schallphänomenen ent-
spricht. Während also in der Nacht in 3000 km
Entfernung die Zeichen der Sendestation nicht
mehr wahrgenommen werden konnten, waren zur
selben Zeit gleichstarke Empfangsanlagen in
4000 bis 5000 km Entfernung in sehr guter Ver-
bindung mit der Sendestation. Aus der Lage
der „stillen Zonen" ergibt sich die angegebene
Höhe von etwa 200 km für die Heavisideschicht.
Daß in Europa bei Nachtverbindungen eine stille
Zone selten zur Beobachtung kommt, erklärt de
Groot aus der viel stärkeren Ausprägung der
oberen Luftschichten in den Tropen.
Von großer Wichtigkeit für die genaue Höhen-
bestimmung der Heavisideschicht und von ioni-
sierten Zwischenschichten wäre die Ausführung
eines Vorschlags von J.A.Fleming.*) Ähnlich
wie L ö w y und Leimbach'') die Tiefe von Erz-
') Abderhalden, 1. c, S. 243 — 246 und Verhandl. d.
deutsch, phys. Ges. Bd. 16, S. 232 ^^9[4).
^) Jahrbuch der drahtlosen Telegraphie Ed. 12, S. 2 — 15
(191 7)-
') 1. c. S. 15-35.
^1 1. c. S. 183.
°) Phys. Zeilscbr. Bd. 11, S. 697 — 70; (igio) und Bd. 13,
S- 397—403 (I9«2).
lagerstätten und vom Grundwasserspiegel in der
Erde durch Reflexion oder Absorption von ge-
richteten elektrischen Wellen festzustellen suchten,
so will Fleming die Höhe der Heavisidewolken
bestimmen. „Wenn wir gerichtete Luftleiter an-
wenden, um elektrische Wellen unter verschiede-
nen Winkeln nach oben zu senden, und dann
beobachten, wo diese hauptsächlich zur Erde
zurückkehren, könnten wir vielleicht in der Lage
sein, die drahtlose Telegraphie als ein Agens zur
Erforschung der Atmosphäre zu verwenden , ge-
rade wie wir einen Scheinwerfer benutzen können,
um reflektierende Objekte oder Wolken in den
unteren Schichten der Atmosphäre zu entdecken."
Infolge des Weltkriegs mußte Fleming die Aus-
führung seines interessanten Planes zurückstellen.
Nach Sommerfelds Hypothese kann man
sich die in der drahtlosen Telegraphie verwandten
elektromagnetischen Strahlen in Oberflächenwellen
und in Raumwellen zerlegt denken. Die Raum-
wellen breiten sich in den Luftraum hinein aus,
während die Oberflächenwellen ähnlich wie Draht-
wellen an der Erdoberfläche entlanggleiten, ohne
tief in den mehr oder weniger leitenden Unter-
grund einzudringen. Nach oben nehmen die
Oberflächenwellen, welche für die Zeichenüber-
tragung vor allem in Betracht kommen, langsam
an Intensität ab. Durch Intensitätsmessung der
ankommenden Zeichen, welche bei Ballonfahrten
in verschiedenen Höhen angestellt werden, kann
die Theorie der Oberflächenwellen auf ihre Richtig-
keit geprüft werden. Versuche im Freiballon,
auch auf Nachtfahrten, wurden von Lutze^) bis
in 6500 m Höhe angestellt. „Bei den Versuchen
mit Norddeich als Sendestation überwiegen die
Oberflächenwellen stark. Bei der Erhebung von
1500 m auf 6500 m sinkt nach der Theorie die
Energie der Oberflächenwellen auf — . Die Laut-
^ 2,7
Stärkenmessungen ergaben eine Abnahme der
Intensität etwa auf die Hälfte. Bei Berücksicl^ti-
gung des Einflusses der Raumwellen, die den
Oberflächenwellen überlagert sind, sind also Theorie
und Meßergebnis in guter Übereinstimmung." ^)
Bei Paris als Sendestation ergab sich eine viel
beträchtlichere Abnahme der Intensität der elektro-
magnetischen Wellen, da hier die Raumwellen
durch die Rundung der Erde abgeschirmt sind.
„Die Lautstärke in 5500 m sinkt etwa auf den
achten Teil der in 1050 m Höhe gemessenen.
Die Werte beim Auf- und Abstieg stimmen gut
überein. Diese Resultate liefern den experimen-
tellen Nachweis der von Zenneck und Uller
angenommenen Oberflächenwellen. Den theoreti-
schen Existenzbeweis hat 1909 Sommerfeld
erbracht."-)
') Latze und Everling, Abhandl. d. naturfor.'ch. Ges.
zu Halle a. S. Neue Folge Nr. 3, 79 S. (1914).
') Phys. Zeitschr. Bd. 14, S. 288 und 1152 (I9I3)- —
Jahrbuch d. drahtlosen Telegraphie Bd. 8, S. 367 (1914). —
Wigand, in: „Abderhalden, Fortschritte d. naturwiss.
Forschung" Bd. 10, S. 238—239 (1914).
10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. I
Diese Iniensjtätsniessungen der elektrischen
Wellen auf Ballonfahrten wurden nach der sog.
Parallelohmmethode angestellt. Diese Methode
ist aber für quantitative Zwecke fast unbrauchbar;
dazu kommen auf Ballonfahrten noch eine ganze
Reihe neuer Fehlerquellen. Lutze und seine
Mitarbeiter suchten zwar alle Einwände gegen
ihre Ergebnisse zu entkräften ; aber P. L u d e w i g ')
schließt doch seine eingehende Kritik mit den
Worten: „Diese Ergebnisse können jedoch noch
nicht als endgültig betrachtet werden." Man kann
also aus diesen Messungen noch nicht den Schluß
ziehen, daß etwa die Heavisideschichten in recht
niedrigen Höhen '-) zu suchen seien. Weitere
Messungen , vor allem auch in der Stratosphäre
(in über 12 km Höhe), wären notwendig; es liegt
hier noch ein weites Feld für die Betätigung bei
Freibaiionfahrten vor, denn die Theorie der Er-
scheinungen wird erst beim Vorliegen eines
größeren experimentellen Materials eine genauere
Ausgestaltung erfahren können.
') Annal. der Hydrographie Bd. 43, Heft 2 (1914) und
Helt 5 und 6 (1915).
') Wolken, welche I — 5 8 Wasser in I cbm enthalten,
können außerordentlich grofie Werte für die Dielektrizitäts-
konstante erreichen, die denen bei vielen flüssigen und festen
Körpern nahekominen. „Ist die Dielektrizitätskonstante der
Wolken von einer Gröfie, wie sie sich durch Berechnung nach
der Mischungsregel ergibt, so kann es bei senkrechtem Ein-
fallen der langen Wellen der drahtlosen Telegraphie auf
Wolken bis zur Totalreflexion kommen." R. Emden, Mün-
cbener Berichte S. 417 — 435 (1918).
Das Versagen der Sendestationen für draht-
lose Telegraphie in Flugzeugen bei 6 bis 8 km
Höhe rührt nicht etwa von der Absorption der
ausgesandten elektrischen Wellen durch ionisierte
Luftschichten her; die Ursache ist vielmehr die
starke Luftdruckverminderung in der Höhe, wo-
durch die Funkenentladung des Senders ihren
oszillatorischen Charakter verliert und damit auch
keine elektrischen Wellen mehr in den Raum
aussendet. Zum Schlüsse sei erwähnt, daß die
Möglichkeit durch die drahtlose Telegraphie die
Erdkrümmung zu überwinden, es andererseits
verwehrt , von unserem Planeten aus lange
elektrische Wellen mit größerer Stärke in den
Weltenraum hinauszuschicken. Ebenso wird es
die Heavisideschicht unmöglich machen, daß von
einem anderen Planeten, etwa vom Mars, elektro-
magnetische Wellen an unsere irdischen Empfangs-
stationen gelangen können. Das weitere Studium
der Ausbreitung der elektrischen Wellen wird uns
noch genauere Aufschlüsse über die elektrischen
Zustände unserer Atmosphäre geben und zwar
auch in Höhen, die nie auf einer wissenschaft-
lichen Hochfahrt im Freiballon erreicht werden
können, aber andererseits wird nach unserem
jetzigen Wissen vom Vorhandensein der Heaviside-
schicht zunächst und für die nahe Zukunft ein
interplanetarischer Verkehr mit den langen elektro-
magnetischen Wellen der drahtlosen Telegraphie
nicht möglich sein.
Einzelberichte.
Die Empfiudnng der Richtung, aus der ein
Schall kommt.
Diese Empfindung ist besonders sicher für
iinbestimmte Geräusche und wurde bisher meist
durch Bezugnahme auf das äußere Ohr erklärt.
Die Beweglichkeit, Größe und trichterartige Form
des äußeren Ohres bei einzelnen Tieren ließ es
daher verständlich erscheinen, daß diese eine be-
sonders ausgebildete Fähigkeit besitzen, die Rich-
tung eines verdächtigen Geräusches zu empfinden
und danach die Flucht in die zweckmäßigste
Richiung zu verlegen. Indessen ist auch beim
Menschen diese SchallRichtungsempfindung ziem-
lich scharf ausgeprägt und eine völlig befriedigende
Erklärung für dieselbe wurde erst während des
letzten Krieges, in dem naturgemäß genaue Rich-
tungsfeststellungen des Schalls eine wichtige Rolle
spielten, durch Hornborstel und Wert-
heimer gefunden. Nach einer von Kunze in
der physikalischen Zeitschrift (1920, Seite 437)
beschriebenen Anwendung der neuen Lehre auf
die Messung von Windgeschwindigkeiten entsteht
die Schall Richtungsempfindung durch die gefühls-
mäßig beurteilte, wenn auch sehr kleine Zeit-
differenz der Empfindungen in beiden Ohren.
Beläuft sich dieser Zeitunterschied auf 0,00003
Sekunden oder weniger, so verlegt man die Schall-
quelle in die Mittelebene, wird jedoch der Zeit-
unterschied größer als drei Hunderttausendstel
einer Sekunde, so rückt die vom Horcher ange-
nommene Schallquelle mehr und mehr auf die
Seite desjenigen Ohres, das den Schall zuerst
empfängt, bis man bei 0,0006 Sekunden Differenz,
die einem Schallweg von 21 cm entspricht, die
Schallquelle um 90" seitlich von der Mittelebene
annimmt. Bei 003 Sekunden erst hört die Ein-
heitlichkeit des Schalleindrucks auf, man empfindet
dann das Nacheinander der von beiden Ohren
aufgenommenen Schalleindrücke. Bei tatsächlich
seitlich gelegener Schallquelle kann eine schein-
bare Verschiebung derselben in die Mittelebene
dadurch ■ erzielt werden, daß man den kürzeren
Schallweg durch Einschaltung einer entsprechen-
den Schlauchleitung dem längeren gleich macht.
Kunze hat diese Theorie mit gutem Erfolge
zur Messung der Windgeschwindigkeit benutzt,
indem er den von einer Klopfvorrichtung aus-
gehenden Schall sowohl mit der Windrichtung
als auch gegen dieselbe je einem Schalhrichter
oder Mikrophon zuführt, von denen Leitungen zu
je einem der Ohren führen. Kbr.
N. F. XX. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
II
Warnm sehlägt die Wünschelrute aus?
H. Haenel sagt in seinem Vortrage: Zur
physiologischen Mechanik der Wünschelrute (Ber. :
Münch. med. Wochenschr. 1920 Nr. 2): „Die
Wünschelrute ist ein ebenso einfaches wie wirk-
sames Instrument, die Supinatoren dem Willens-
einflusse mehr oder weniger zu entziehen, und
zeigt feinste Veränderungen in allen Kon-
traktionszuständen in vergrößertem, augenfälligem
Maße an."
Solch feinste Veränderungen des Kontraktions-
zustandes aber können durch plötzliche Abgabe
von Elektrizität durch die Haut herbeigeführt
werden. Denn, wie Ar. Adler mit Adolf
Heyd weil 1er (A. H., Über Selbstelektrisierung
des menschlichen Körpers; Ann. d. Physik 1902)
nachgewiesen hat, führen die Muskelzusammen-
ziehungen zu beträchtlichen statischen Ladungen
des Körpers, welche sich in der Regel nur all-
mählich ausgleichen.
Wenn nun die Leitungsfähigkeit des Erdreichs
durch Vorkommen von Metalladern Q.der Wasser
in demselben plötzlich vergrößert wird, so erfolgt,
sobald der Rutengänger über ein solches gelangt,
eine momentane Verminderung der elektrischen
Ladung der Muskel-Disdiaklasten, die am schwäch-
sten innervierten Supinatoren erschlaffen, die
Antagonisten bekommen das Übergewicht und
die Wünschelrute schlägt aus (Psychiatrisch-neuro-
logische Wochenschr. 1920 S. "]•]).
Dr. Ar. Adler.
Die Grenzlage Wiens.
Die Übereinstimmung der Flora, Fauna und Be-
völkerung Wiens mit den geologisch- geographischen
und klimatischen Verhältnissen fiel mir bei Ver-
fassung meines „Naturgeschichtlichen Führers für
Wien" (Wien, Holder) stark ins Auge, und da
sie wegen der auffälligen Grenzlage Wiens in
allen eben hervorgehobenen Beziehungen von be-
sonderem Interesse ist, möchte ich sie hier kurz
auseinandersetzen.
Die Grenzlage Wiens tritt zunächst in
landschaftlicher (geographischer) Be-
ziehung hervor, denn es liegt dort, wo die
Alpen sowie die niedrigeren Gebirgsmassen
Mitteleuropas, letztere mit dem Ostrande der
Böhmischen Masse, ihr Ende erreichen, und die
für den Osten Europas bezeichnenden Steppen-
gebiete über Ungarn und durch das Wiener
Becken bis an den Kern dieses Erdteiles heran-
reichen. Die Lage zusammen mit der geographi-
schen Breite Wiens bedingt aber, daß dieses auch
klimatisch an der Grenze verschiedener Ge-
biete liegt, nämlich dort, wo die Wirkungen des
wärmeren südlichen Klimas aufhören, durch
die böhmische Gebirgsmasse und die Karpathen
aber die üblen Wirkungen des kälteren nörd-
lich en K 1 i m a s ferngehalten werden, und durch
die Böhmische Masse zusammen mit den Alpen
zugleich eine Scheidewand gegen das feuchtere
und gleichmäßigere Klima von Westeuropa
gebildet wird. Dieses durch milde Winter und
verhältnismäßig feuchte, kühle Sommer gekenn-
zeichnete Klima stößt hier mit dem durch ge-
wisse Extreme gekennzeichnete osteuropäi-
schen Klima zusammen, das wegen des Zu-
sammenhanges Europas mit dem Festlande Asiens
ein mehr kontinentales, im Winter kälteres, im
Sommer aber trockeneres und wärmeres ist.
Wien hat tatsächlich heiße und trockene Sommer,
und diese haben die große Landflucht der Wiener
während der heißesten Monate zur Folge. Die
Unterschiede in den Niederschlagsmengen treten
scharf hervor, wenn man das Wetter, wenn auch
nur in dem nordöstlichsten Teile der Voralpen
mit jenem der etwas weiter östlich, gegen den
Neusiedler See zu gelegenen Gebiete Niederöster-
reichs vergleicht.
Diese Verhältnisse üben natürlich ihren großen
Einfluß auf die Pflanzenwelt aus. Die Flora
der Wiener Umgebung gehört wohl größtenteils
der mitteleuropäischen. Baltischen Flora an,
bis hierher reicht aber auch die östliche Pon-
t i s c h e F 1 o r a, welche, von Osten vordringend, nach
der Eiszeit das Wiener Becken, sowie die trockenen,
sonnigen Hänge rings um dasselbe eingenommen
hat, und durch Schwarz föhrenwälder, den
Pontischen Buschwald und Federgras-
fluren, aber auch durch den Weinbau ge-
kennzeichnet ist. Für die ersteren sind be-
zeichnend: die Schwarzföhre oder österreichische
Kiefer (Pinus nigra), der warzige Spindelbanm
(Evonymus verrucosus), die strauchige Kronen-
wicke (Coronilla emerus), die Felsenbirne (Ame-
lanchier ovalis), der wohlriechende Seidelbast
(Daphne cneorum), der Frühlingsadonis (Adonis
vernalis), das blaue Elfengras (Sesleria varia) und
andere. Den zweiten kennzeichnen: die flaumige
Eiche (Quercus lanuginosa), die Zwerg- und die
Steinweichsel (Prunus fruticosa und mahaleb), der
Blasenstrauch (Colutea arborescens), die letzten
aber das Federgras oder Frauenhaar (Stipa pen-
nata und capillata), die Zwergschwertel (Iris
pumila), gewisse Insektenstendel (Ophrys), ein
Lein (Linum tenuifolium), der Diptam (Dictamus
albus) und andere. Auch die alpine oder besser
subalpineFlora reicht in die Nähe von Wien,
wenn auch nur einige Ausläufer derselben bis
vor seine Tore gehen, wie die Aurikel (Primula
auricula) und die fleischrote Heide (Erica carnea),
das buchsbaumblättrige Kreuzkraut (Polygala
chamaebuxus), das Alpenveilchen (Cyclamen euro-
paeum), gewisse Steinbrech- (Saxifraga) und
Hungerblümchen- (Draba) Arten und noch
andere.
Bezüglich der T i e r w e 1 1 sind die Verhältnisse
ganz ähnliche. Wien und seine Umgebung ge-
hört im allgemeinen der für Mitteleuropa be-
zeichnenden, der Baltischen Flora entsprechenden
Germanischen Fauna an. Doch hat auch
■1-2
Natiirwissenschaftli€he Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. J
die Ton tische Fauna, den südostlich von
Wien gelegenen Tiefebenen folgend, manche Ver-
treter bis hierher gesendet. Wenn wir von dem
noch weiter westlich, bis Mitteldeutschland, vor-
gedrungenen Hamster absehen, so sind vor allem
bezeichnend das Erdziesel (Spermophilus citillus),
sowie einige Mausarten, weiter die freilieh eben-
falls noch weiter westwärts vorgedrungene
Haubenlerche (Alauda cristata), die Grauammer
(Emberiza miliaria), die Kuhstelze (Budytes flava),
die Uferschwalbe (Cotyle riparia) und viele andere
Singvögel, die große Trappe (Otis tarda), der
Kranich (Grus cinerea), der Kormoran (Phala-
cocorax carbo), die Mandelkrähe (Coracias garrula)
und noch manch' anderer Vogel. Von den
wechselwarmen Tieren treten östliche und zu-
gleich südliche Formen hervor, von welchen bloß
die Steppenotter (Vipera ursinii), die Smaragd-
und dife Mauereidechse (Lacerta viridis und mu-
ralis) sowie gewisse Formen der Frösche und
Kröten (Rana ridibunda und agilis, Bombinator
igneus) hervorgehoben seien. Von den wirbel-
losen Tieren seien bloß die Miesmuschel (Dreis-
sensia polymorpha), die Gottesanbeterin (Mantis
religiosa) und die Weingrille (Oecanthus pellucens)
genannt. Die al pine Fauna ist im aligemeinen
an die höheren Gebiete der Alpen gebunden, im
Winter kommen aber manche von ihren Ver-
tretern tiefer herunter bis in die Nähe von
Wien, so z. B. die Ringdrossel (Turdus tor-
quatus) und der Alpenmauerläufer (Tichodroma
muraria).
Die Grenzlage Wiens kommt endlich auch in
völkischer Beziehung auffällig zur Geltung.
Bei Wien sind seit jeher die Völker zusammen-
gestoßen. Bis hierher hatten schon die Römer
Ihre kulturbringende Herrschaft ausgedehnt, hier
befand sich seit alten Zeiten die Grenzwacht der
Germanen, mitten zwischen den im Norden
(Böhmen) und Süden (Südostalpen) von Osten
vorgedrungenen Slawen, aber auch gegen jene,
bei ihren Zügen nach Westen den südöstlich ge-
legenen Tiefebenen folgenden asiatischen Reiter-
völker der Hunnen, Awaren und Madjaren,
Sowie später der Türken. Eines dieser Völker
hatte ja fast vor den Toren Wiens, in der ungari-
schen Tiefebene, die ihm seiner Heimat so ähn-
liche Verhältnisse bot, für lange Zeit die Herr-
schaft an sich gerissen. Diese Grenzlage Wiens
in ethnographischer Beziehung führte aber auch
zu einer Mischung des germanischen
Blutes seiner Bewohner mit verschiedenen
anderen Einschlägen, welche rnit Ursache war
der Schönheit der Wienerin und des schönheits-
freudigen Sinnes des Wieners, freilich auch seines
in völkischer Beziehung viel zu nachgiebigen
Wesens. Der frohe Sinn des Wieners sowie seine
^ sentimentale Liebe zur Heimat hängen aber auch
mit der günstigen klimatischen Lage Wiens und
dem durch diese bedingten Gedeihen der Wein-
rebe sowie der Schönheit seiner Landschaft zu-
sammen, die wieder großenteils durch das Zu-
sammenstoßen so verschiedenartiger geologisch-
geographischer Elemente bedingt ist.
Wien. Prof. Dr. E. Witfaczil.
Das Carnegie-Institut zu Washington.
Zu den bedeutendsten wissenschaftlichen For-
schungsanstalten gehört das im Jahre 1902 ge-
gründete Carnegie - Institut zu Washington, das
gegenwärtig über ein Vermögen von 22 Millionen
Dollar verfügt. Seine Verwaltung untersteht
einem 24gliedrigen Kuratorium, das alljährlich
im Dezember zusammentritt um die Angelegen-
heiten der Anstalt im allgemeinen, besonders aber
den Fortschritt der bereits unternommenen Ar-
beiten und die Einleitung neuer Forschungen zu
besprechen und die dafür nötigen Mittel zu be-
willigen. In der Zeit zwischen den Sitzungen des
Ausschusses werden die Angelegenheiten der
Anstalt von einem engeren Ausschuß geleitet, der
aus 8 Personen besteht; sein Vorsitzender ist
gegenwärtig Charles D. Walcott, der bekannte
Geologe. Die Zentralverwaltung (Präsident R o -
bertS. Wood ward) befindet sich in der Bundes-
hauptstadt Washington.
Die wissenschaftliche Tätigkeit obliegt For-
schungsabteilungen für bestimmte Gebiete, deren
das Institut gegenwärtig elf zählt, ferner einzelnen
Forschern, die ihre ganze Zeit dem Institut und
seinen Aufgaben widmen, sowie einer großen
Zahl anderer Mitarbeiter.
Von den erwähnten Forschungsabteilungen
befinden sich zwei zu Cold Spring Harbor auf
Long Island, nämlich eine Anstalt für experi-
mentelle Entwicklungslehre und das Amt
für Rassen hygiene (Eugenik), die unter Leitung
des Biologen C. B. Davenport stehen. Erstere
wurde im Juni 1904 errichtet und sie hat seither
zahlreiche und teilweise recht umfangreiche Ar-
beiten ausgeführt, darunter solche über das Do-
minanzproblem; die Erbeinheiten; die Biotypen
innerhalb der Arten; die Folgen fortgesetzter
Züchtung in bestimmter Richtung (bei Vermei-
dung von Bastardierung) auf die Erbmerkmale;
die Beziehungen zwischen somatischem Bau und
Chromosomen; die geschlechtsbeschränkte Ver-
erbung; die Bestimmung sekundärer Geschlechts-
merkmale; den unmittelbaren Einfluß des Alkohols
und anderer Stoffe auf das Keimplasma; den
etwaigen Einfluß des Somas auf transplantierte
Keimzellen usw.
Das Amt für Rassenhygiene hat Aufzeichnun-
gen über mehrere tausend amerikanischer Familien
gesammelt und Erhebungen über die Schicksale
abnormal veranlagter Familien während vieler
Geschlechterfolgen ausgeführt ; beachtenswert sind
überdies die Studien betreffend Albinos im Staat
Massachusetts; Neger-Europäerbastarde; sterilisierte
Männer in einer Strafanstalt.
Das seit Dezember 19 14 bestehende Institut
für Embryologie zu Baltimore befaßte sich
N. F. XX. Nr. I
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
'3
bisher hauptsächlich mit Problemen der vorgeburt-
lichen Entwicklung des Menschen. Die Studien
werden gefördert durch das Vorhandensein einer
Sammlung von etwa 3C00 menschlichen Embry-
onen, die zum größten Teil von dem verstorbenen
Prof. Mall zusammengetragen wurde. Außerdem
sind reichliche klinische Aufzeichnungen und
photographisches Material vorhanden. Von den
Arbeiten des Instituts sind herorzuheben jene über
pathologische Zustände der weiblichen Sexual-
organe und ihre Beziehungen zur Befruchtung;
über Tubenschwangerschaft {146 Fälle); über die
Ursachen der Abgänge und der Unfruchtbarkeit;
über den Bau der Medulla oblongata ; über die
Entwicklung des Nervensystems usw.
Von großer praktischer Bedeutung ist das im
Jahre 1907 — 1908 erbaute Ernährungslabo-
ratorium zu Boston, dessen Direktor F. G.
Benedict ist. Zweigstellen befinden sich im Zoo-
logischen Garten in der Stadt New York sowie
zu Durham in New Hampshire. Die Ausrüstung
des Instituts besteht aus einer Apparatur zur Be-
obachtung des Stoffwechsels, der Muskeltätigkeit,
der Atmung, der Körpertemperatur und ähnlichen
Untersuchungen. Beobachtungskammern sind für
Menschen und Tiere vorhanden. Die Forschungen
des Ernährungslaboratoriums betreffen den Stoff-
wechsel normaler Männer und Frauen, der Kinder
von der Geburt bis zur Pubertät, sowie der Diabe-
tiker; dann den Stoffwechsel warm- und kalt-
blütiger Tiere; den Einfluß verschiedener äußerer
Umstände auf den Stoffwechsel (wie z. B. sauer-
stoffreicher Luft; verschiedener Temperaturen;
der Muskeltätigkeit; der Schwangerschaft; des
Fastens; des Genusses von Reizmitteln); den Ein-
fluß des Alkohols auf die geistige und körperliche
Tätigkeit; den Einfluß längerdauernder Nahrungs-
beschränkung und andere Gegenstände. Bemer-
kenswert ist, daß eine vier Monate dauernde Ein-
schränkung von 12 jungen Männern auf die Hälfte
bis zwei Drittel ihres normalen Kalorienbedarfs
keine üblen Folgen von praktischer Bedeutung
ergab. Das beweist wieder, daß erst Unterernäh-
rung von langer Dauer verhängnisvoll wird.
Das botanische Forschungsinstitut
zu Tuscon im Staat Anzona widmet sich vor-
nehmlich dem Studium des Pflanzenlebens in der
Wüste; es wurden nicht nur in den wüsten und
halbwüsten Gebieten im Südwesten der Vereinigten
Staaten umfassende Untersuchungen ausgeführt,
sondern auch Expeditionen nach den Gestaden
des Roten Meeres, nach dem Sudan, der lybischen
Wüste, Algerien und Australien unternommen.
— Das Institut für Meeresbiologie zu Prince-
ton in New Jersey (mit einer Zweiganstalt zu
Loggerhead Key, Tortugainseln, am Golfstrom)
hat sich vor allem die Erforschung der Lebens-
bedingungen in den tropischen und subtropischen
Meeren zur Aufgabe gemacht. Überdies sind noch
zu erwähnen die Anstalten für Erdmagnetismus
und Geophysik, beide in der Bundeshauptstadt,
das astronomische Institut zu Albany, N. Y.,
das Mount Wilson • Observatorium zu Pasadena,
Kalifornien, und endlich ein historisches Institut
zu Washington D. C. Die früher bestandene Ab-
teilung für Wirtschaft und Soziologie hat Ende
1916 ihre Tätigkeit eingestellt. >:f, -■?-•:•::.■.• :
Die Veröffentlichungen des Carnegie-Instituts
zu Washington sind in fast allen Mittelpunkten
des Geisteslebens in Deutschland vorhanden, und
zwar in folgenden Anstalten. BerHn: Preußische
Akademie der Wissenschaften; Universitätsbiblio-
thek; in Bonn a. Rhein: Universitätsbibliothek; in
Bremen: Naturwissenschaftlicher Verein; in Bres-
lau: Universitätsbibliothek; in Dresden: Öffent-
liche Bibliothek; in Erlangen: Universitätsbiblio-
thek; in Frankfurt a. M. : Stadtbibliothek; in
Freiburg i. Br. : Universitätsbibliothek ; in Gießen ;
Universitätsbibliothek; in Göttingen: Gesellschaft
der Wissenschaften; Universitätsbibliothek; in
Greifswald: Universitätsbiblothek ; in Halle: Uni-
versitätsbibliothek; in Hamburg: Stadtbibliothek;
in Heidelberg: Universitätsbibliothek; in Jena:
Universitätsbiblothek; in Karlsruhe: Technische
Hochschule, Bibliothek; in Kiel: Universitäts-
bibliothek; in Königsberg : Universitätsbibliothek;
in Leipzig: Universitätsbibliothek; in Marburg:
Universitätsbibliothek; in München: Universitäts-
bibliothek; in Rostock: Universitätsbibliothek;
in Stuttgart: Landesbibliothek: in Tübingen:
Universitätsbibliothek; in Weimar: Staatsbibliothek;
in Würzburg: Universitätsbibliothek.
H. Fehlinger.
Zur Kenntnis der Kristallgitter.
In einer vor kurzem erschienenen Arbeit
will A. Reis (Zeitschrift f. Physik I, S. 204 — 220
und II, S. 57 — 69, 1920) einen Beitrag zur Be-
antwortung der Frage liefern, inwieweit die Eigen:
Schäften der bisher nur für ganz wenige einfache
Stoffe ausgewerteten Modelle vom Feinbau der
Kristalle in der besonderen Natur der betreffen-
den Stoffe, oder inwieweit sie im Wesen der
kristallisierten Materie überhaupt begründet sind,
— Eine Reihe von Kristallographen und
Physikern neigt bekanntlich zu der Auffassung,
daß im Kristall von einem eigentlichen Molekül-
verband bestimmter Atome überhaupt nicht mehr
gesprochen werden könne und daß gerade diese
Aufhebung des einzelnen molekularen Verbandes
und seine Ersetzung durch den Gesamtverband
des Kristallgitters das Wesentlichste beim Über-
gang vom amorphen zum kristallinen Zustand
der Materie sei. Demgegenüber scheint es dem
Chemiker nicht so leicht möglich, den Begriff
des Moleküls für diesen Zustand sofort fallen zu
lassen. Diesem Festhalten am Kristallmolekül
steht jedoch z. B. entgegen, daß beim Gitter-
modell des NaCl (vgl. Nat. Wochenschr. 191 7,
Nr. 38, S. 522, Fig. I A u. B.) jedes Na- Atom von
6 Cl- Atomen, und umgekehrt jedes ClAtom von
6 Na-Atomen vollkommen gleichartig uiiigeiben
14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. i
erscheint. Es ist hier also nicht angängig,
zwischen irgend zwei bestimmten Atomen eine
besonders innige chemische Bindung zu einem
Molekül anzunehmen, während dementsprechend
die übrigen Bindungen zwischen benachbarten
Na- und Cl-Atomen im Verhältnis hierzu schwächer
angenommen werden müßten. Der Verfasser wirft
darum die Frage auf, ob nicht diese Schwierig-
keit nur durch unzutrefifende Verallgemeinerung
der an den einfachsten Stoffen aufgefundenen
Merkmalen entstanden ist. Er unternimmt es,
die Frage durch den Versuch zu beantworten,
den „chemischen Verbindungen zwei
verschiedene Grundtypen von Kristall-
gittern zuzuordnen", wie sich ja auch che-
misch die Salze und die Verbindungen ohne Salz-
charakter unterscheiden lassen.
Die bisher ausgewerteten Modelle geben uns
zunächst nur ein vereinfachtes Schema der Atom-
schwerpunkte oder der „Atomlagen", während
über die spezielle Anordnung der Atomkerne
und Atomelektronen nichts ausgesagt wird. Die
Entfernungen zwischen solchen unmittelbar be-
nachbarten „Atomlagen" soll kurz als „Atom-
abstand" bezeichnet werden. Man kann nun stets
gewisse, nur durch „innere" Strecken ^j verbundene
Atomlagen zu einer „Punktgruppe" zusammen-
fassen, wobei gleichzeitig noch die Vorschrift zu
beachten ist, daß die Summe aller Entfernungen
innerhalb der Gruppe möglichst klein werden
soll. Die so gewählten Einheiten sollen als
„natürliche Punktgruppen" des Gitters be-
zeichnet werden. Bei Beachtung dieser Auswahl
kann man nun folgende Gitterarten unterscheiden :
1 . Setzt sich ein Gilt er lückenlos aus gleichen
Atomgruppen zusammen, so entspricht diese Atom-
gruppe genau dem Begriff des chemischen Mole-
küls; solche Gitter werden vom Verf. Molekül-
gitter genannt. In dem speziellen Fall, daß
sich Atomgruppen überhaupt nicht unter-
scheiden lassen, sondern das Gitter aus lauter
gleichen Atomen aufgebaut wird, wird von einem
einatomigenGitter gesprochen. (Die Kristall-
gitter der Elemente sind teils einatomige, teils
Molekülgitter).
2. Hingegen ist bei chemischen Verbindungen
auch ein Aufbau aus ungleichen Atomgruppen
möglich. Im allgemeinen werden in diesem Falle
wenigstens zwei der vorhandenen Arten von
Atomgruppen den Charakter von Ionen, der ganze
Stoff den Charakter eines Salzes haben. Aus
ungleichen Atomgruppen aufgebaute Gitter
werden daher „lonengitter" genannt, und zwar
speziell „Radikalionengitter", wenn mindestens
eine Atomgruppe aus mehreren Atomen besteht,
„Atomionengitter", wenn jedes Atom eine Gruppe
für sich bildet. (Umgekehrt müssen aber nicht
etwa alle festen Salze lonengitter bilden).
Bei diesem Vorgehen würde z. B. auch der
') über die Definition dieses Begriffes siebe a. a. O. I,
S. 2o8 und 11, S. 57—59.
umstrittene Begriff des „Kristallmoleküls" eine
scharfe Fassung erhalten. Nur in Molekülgittern
tritt der „Molekülbereich" neben die bisher
üblichen Begriffe Fundamentalbereich und Ele-
mentarparallelepiped. — In bezug auf die Atom-
abstände läßt sich nun für die verschiedenen oben
definierten Gitterarten folgendes aussagen : In ein-
atomigen Gittern sowie in Atomionengittern von
nur zwei Atomarten sind alle Atomabstände
gleich. In allen Molekülgittern dagegen müssen
ungleiche Atomabstände vorkommen, es besteht
wohl kein Zweifel, daß die Abstände der im
Molekül unmittelbar chemisch verbundenen Atome
kleiner sind als die Abstände von benachbarten
Atomen, die zu verschiedenen Molekülen gehören.
Die ersteren Abstände werden zu ungefähr i — 2 Ä
geschätzt, während die „zwischenmolekularen
Atomabstände in Kristallen zu 2,5 — 4 A ange-
geben werden. Da nun die physikalischen Eigen-
schaften der festen Stoffe besonders eng mit den
Atomabständen zusammenhängen werden, wird
vom Verf. nachzuweisen versucht, daß die von
ihm unterschiedenen Gitterarten sich tatsächlich
auf Grund ihres physikalischen Verhaltens unter-
scheiden lassen. Als Arbeitshypothese wird hierzu
angenommen, daß starken Anziehungskräften
zwischen zwei Atomen kleine Abstände zuge-
ordnet sind und umgekehrt.
Während in Atom- und Atomionengittern die
Festigkeit aller Gittermaschen die gleiche ist,
werden Molekül- und Radikalionengitter aus
Maschen von sehr ungleicher Festigkeit aufgebaut
sein. Ein Vergleich ergibt, daß die Kompressi-
bilität von Molekülgittern meist ungefähr halb so
groß als die derselben Stoffe in flüssigem Zustand
gefunden wird, während sie die der lonengitter
im Durchschnitt um mehr als das Zehnfache,
diejenige der einatomigen Gitter noch stärker
übertrifft. Ein Vergleich der thermischen Aus-
dehnungskoeffizienten ist bisher nur in roher An-
näherung möglich, trotzdem ist nach Reis eine
Gruppierung der Gitter nach den unterschiedenen
Klassen unverkennbar: Die Werte für Molekül-
gitter betragen auch hier das Mehrfache von den
Werten für lonengitter und für einatomige Gitter
mit Ausnahme der Alkalimetalle (Diamant und
Graphit fallen durch tiefe, Schwefel und Phosphor
durch hohe Werte aus der Reihe). — Auch über
die Beziehungen zwischen den Eigenschaften eines
und desselben Stoffes in verschiedenen Aggregat-
zuständen gestattet die Klassifizierung nach
Reis einige Aussagen zu machen, z. B. für die
optischen Eigenschaften und den Energieinhalt.
Hierbei werden auch Vorstellungen über die Ver-
schiedenheit polymorpher Modifikationen ent-
wickelt. Schließlich werden noch einige Folge-
rungen ausgesprochen, die zwischen den Modellen
der Gasmoleküle und denen der Kristallgitter für
die gleichen Stoffe weitgehende Beziehungen fest-
legen. (Es muß besonders darauf hingewiesen
werden, daß für Molekülgitter, wie der Verf.
N. F. XX. Nr. i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
fS
selbst auch erwähnt, bisher röntgenographisch
noch kein einwandfreies Beispiel festgestellt
werden konnte. Es ist aber offenbar, daß vieles
für die Brauchbarkeit der vorgeschlagenen Ein-
teilung zu sprechen scheint. D. Ref.) Spbg.
Wolkenstruktur und Wolkeuflächen.
Im „Wetter" Jahrg. 1920, S. 11 gibt J. Dreis
folgende interessante Einteilung der Wolken :
als Leiche und vermutete nun das gräßlichste
Verbrechen. Erfreulicherweise erkannte der herbei-
gerufene Dorfschullehrer Meyer sofort die ge-
schichtliche Bedeutung des Fundes und sorgte
für dessen Bergung. Der Fund gelangte dann in
das Museum zu Stade. Ein Stück von der Leiche
selbst kam in die Sammlung der Moorstation in
Bremen. Dieser Moorleichenfund von Obenahen-
dorf ist für die Erforschung der Moorgeologie,
wie wir weiter unten sehen werden, von beson-
derer Wichtigkeit. So mag denn an dieser Stelle
Art derselben :
Beispiele:
Anfangsstadium :
Höhepunkt:
Auf lösungsstadium :
a) Mischungswolken
b) Slrahlungswolken
See- und Kiisten-
nebel, Bergsattel-
nebel
kleine Fetzen-
schwämme
Küstennebel,
Gebirgstalnebel
c) Aufstiegwolken
Zyklonenwolken,
Gewitter, Haufen-
wolken, Schäfchen,:
Faserwolken hoher
Schiebten i
flache, stetig an
schwellende Nebel-
schichten
Wellenbildung;
kleine Fetzen-
schwämme
stark wogende
Nebelmeere
ruhig liegende
Nebelmeere mit
glatter Wellenfläche
große Wolkenmassen
mit Gipfelformober- 1
fläche oder Fetzen-
obetfläche
Schäfchenwolken-
schichten von grober,
aber verwaschener
Struktur
homogene Auflösung
durch Sonnenstrah-
lung oder Wetter-
umschläge
Auflösung in Fetzen
oder in Fasern
Die Stadien der Wellenbildung und
ihre Folgeerscheinungen sind in den unteren
Schichten : Wellenbildung, die Erweiterung der
Wellenberge führt zu Aufströmen, Ausbreitung
der aufsteigenden Ströme an ihrer Oberseite nach
allen Seiten, evtl. setzt auch volle Wirbelbildung
ein, d. h. Wiederhinabfluten der Strömung. Mit
Erlöschen der Strömungen setzt Auflösung der
Wolkenformen ein. In den mittleren sind die
Vorgänge ähnlich, doch die Wolkenformen kleiner
und mehr geordnet, in höchsten Schichten die
Stadien mehr zur einfachen Wellenbildung ver-
schmolzen, gefolgt von faseriger Auflösung der
Wolkenmasse.
Die Stadien der Wolkenstruktur sind:
Fetzen-, Gipfelstruktur, entweder Zurückfließen
zur Fetzenstruktur oder Auflösung in Fasermassen
je nach genügender oder ungenügender Entwick-
lung des Niederschlags. Dr. Bl.
Moorleiche.
Im Mai 1895 wurde von Torfgräbern bei der
Bauernschaft Obenahendorf, Kreis Neuhaus a. O.
(Prov. Hannover) eine menschliche Leiche im großen
Kehdinger Moor gefunden. Die Lage der Leiche war
Südnord. Die Leiche selbst lag etwa 2 — a'/g m
unter der Oberfläche. Der Torfgräber,, der auf
die Leiche stieß, hatte sie mit seinem Spaten zu-
erst mitten durchgeschnitten und die untere
Hälfte wieder verkühlt, in der Meinung, es handele
sich um den Kadaver von irgendeinem Tier. Als
beim zweiten Schnitt Haare und Kleidungsstücke
zutage kamen, erkannte er das gefundene Stück
ein Referat über die jüngst erfolgte eingehende
Veröffentlichung dieser Moorleiche durch H.Hahne
in dem vom Provinzialmuseum zu Hannover
herausgegebenen Sammelwerk „Vorzeitfunde aus
Niedersachsen" Lieferung 4/5 seinen Platz finden.
Die Moorleiche von Obenahendorf ist zunächst
einmal deshalb von besonderem Interesse, weil
sie die einzige ist, die sofort vor jeder Austrock-
nung, wenigstens zu einem Teil, als Naßpräparat,
konserviert worden ist. Die Moorleichen, die wir
sonst in unseren Museen studieren können (z. B.
Provinzialmuseum zu Hannover, Museen zu Kiel,
Stade usw.), fallen uns, gewöhnlich durch das
mumienartige Aussehen der Leichenteile, die
lederartige Beschaffenheit ihrer Haut und die holz-
artige Härte der Knochen auf. Durch die Er-
haltung des Fundes von Obenahendorf können
wir feststellen, daß all diese Erscheinungen ledig-
lich Folgen des Austrocknens sind. So werden
durch das Aussehen dieses Fundes auch die Be-
richte über die Auffindung anderer Moorleichen
in sehr wertvoller Weise ergänzt und es wird
uns verständlich, weshalb die Weichteile in der
Mehrzahl der Fälle dem uninteressierten Moor-
arbeiter im Moor nicht ohne weiteres auffallen,
zumal wenn sie zusammengepreßt sind.
Neben der Moorleiche von Obenaltendorf
wurden Teile eines Rumpfkleides (Hemdrock,
Kittel), eine große Decke, in der die Leiche ein-
gewickelt gelegen hat, zwei Hosenbeinreste und
zwei Binden, wahrscheinlich Kniebinden, gefunden.
All diese Gewebeteile bestehen durchweg aus
Schafwolle ; Beimengungen anderer Gespinstfasern
sind nicht nachweisbar. Es liegen zwei Gewebe-
formen vor: zweischäftiger Taffet und zwei-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. P. XX. Nr. I
schäftiger Taffet mit doppeltem Einschlagfaden
(Rips).
Außerdem wurden neben der Leiche zwei
Schuhe, je aus einem Stück tehaarten Leders ge-
schnitten, und zwei kleine Kapseln aus Silberblech
gefunden. Die letzteren beiden Fundstücke er-
möglichen eine einwandfreie Datierung des Fundes
in die Zeit um 250 n. Chr. In derselben Zeit läßt
sich übrigens auch die gleiche Webetechnik nach-
weisen.
Irgendwelche Spuren einer gewaltsamen Tötung
oder Versenkung des lebenden Menschen ließen
sich bei dieser Moorleiche nicht nachweisen.
Der IVioorbotaniker Prof. Dr. W e b e r - Bremen
hat die Fundstelle kurze Zeit nach der Auffindung
der Moorleiche besucht. Weber sah in der Wand
der Torfgrube in dem hier anstehenden hellen
oberen Sphagnumtorf einen dunkel gefärbten
Horizont, der ihm als Rest der Lagerstelle der
Leiche bezeichnet wurde; an dieser Stelle zeigte
der Torf deutlich Störung, die aber nicht in dem
darüber liegenden Torf bis zur Oberfläche zu ver-
folgen war. Eine Eingrabung der Leiche hatte
also nicht stattgefunden. Die Oberfläche des
Moors wird also zur Zeit der Versenkung der
Leiche nicht wesentlich höher gelegen haben als
die Leiche selbst, und diese wird dann auch
nicht tief eingesenkt worden sein. Auch diese
Beobachtung spricht mit gegen die Vermutung
der Versenkung eines Lebenden.
Neuere Abtorfungen bei der Fundstätte ver-
hinderten gegenwärtig die Feststellung der Ge-
samtmächtigkeit des Moores und der Mächtigkeit
der seit der Versenkung der Leiche entstandenen
Moorschichten. Die Leiche lag in den untersten
Sphagnumtorfschichten dicht über einer Zone- von
Übergangstorf mit viel Wollgras, die ihrerseits
Schilftorf mit Holzresten überlagerte. Da das
Kehdinger Moor ein Niederungsmoor ist, in dem
der ältere Sphagnumtorf fehlt, so entspricht der
vorhandene Sphagnumtorf dem jüngeren Sphag-
numtorf der Hochmoore. Dann ist wohl der
Übergangstorf im liegenden und der Schilftorf
den unteren Schichten des oberen Hochmoor-
torfes, die Holzreste aber einem Teil des Grenz-
horizontes der Hochmoore gleichzusetzen. Da
ein Teil des oberen Sphagnumtorfes im Keh-
dinger Moor zur Zeit der Versenkung der Moor-
leiche bereits vorhanden war, darf man wohl an-
nehmen, daß die Zeit des durch den Grenzhori-
zont bezeichneten warmen Trockenklimas, wenn
auch noch nicht lange, vorüber war, umgekehrt,
daß das Ende der Grenzhorizontzeit bis gegen das
3. Jahrhundert nach Chr. nach diesem Befunde
herabzurücken wäre, wenn die angesetzten Glei-
chungen zwischen Hoch- und Übergangsmoor
stichhaltig sind, was nach den bisherigen moorgeo-
logischen Veröffentlichungen allerdings der Fall
zu sein scheint. Dann besitzt aber die Moor-
leiche von Obenaltentorf eine besondere Bedeutung
für die Chronologie der Nacheiszeit und der
Moore überhaupt.
Wernigerode a. H. H. Mötefindt.
Bücherbesprechimgen.
Wachs, Dr. H. , Entwicklung, ihre Ur-
sachen und deren Gestaltung. Mit
n Textabb. Freiburg i. Br. 1920, Th. Fischer.
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Ein Vortrag, der an der Hand einiger lehr-
reicher neuerer Erfahrungen in die Probleme der
experimentellen Entwicklungsforschung einführt
und der vermöge der klaren verständlichen Dar-
stellung der Beachtung empfohlen werden kann.
Miehe.
Stock, Alfred, Ultra-Strukturchemie. Ein
leichtverständlicher Bericht. 8 1 Seiten in 8 "
mit 17 Abb. im Text. Berlin 1920, Verlag von
Julius Springer. Preis geh. 6 M. -j- Teuerungs-
zuschlag.
Der vorliegende Bericht enthält den wesent-
lichen Inhalt einer Vortragsreihe, die der Verf.
vor den wissenschaftlichen Angestellten der Farb-
werke vorm. Fr. Bayer & Co. in Leverkusen über
die neuere Entwicklung der Lehre von der Struk-
tur der Atome gehalten hat. Er wendet sich an
chemisch etwas vorgebildete Leser, ist aber im
übrigen ganz allgemein verständlich und bringt
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freier Darstellung. Den Lesern der Naturw.
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Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neu© Folge 20. Baod;
der ganten Reihe 36. Band,
Sonntag, den 9. Januar 1921.
Nummer S.
Aus dem Stoffhaushalt unserer Gewässer.
Vortrag, gehalten in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i. Pr. am 9. Februar 1920.
Von Dr. med. et phil. A. Willer.
[Nachdruck verboten.]
Mit 4 Kurven.
Zur Ernährung des tierischen Organismus sind
einesteils organische, anderenteils anorganische
Stoffe notwendig. Die anorganischen Verbindungen,
welche ihre Bedeutung für den lebenden Organis-
mus in ihren physikalischen Eigenschaften haben
und sich nur zu einem geringeren Teile an den
chemischen Umsetzungsvorgängen beteiligen, wer-
den z. T. auch aus anorganischen Bestandteilen
entnommen, die organischen Verbindungen also
diejenigen Verbindungen, welche die Elemente
Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff,
Schwefel, Eisen und Phosphor enthalten, stammen
entweder direkt aus dem Pflanzenreich oder in-
direkt auf dem Wege durch andere Tierkörper
aus diesen, da nur die Pflanze imstande ist, aus
anorganischen Stoffen, organische Verbindungen,
die als Energiequelle für den lebenden tierischen
Organismus dienen können, zu bilden. Wir müssen
daher, wenn wir nach den Quellen der Nahrung
für die Tiere fragen, zunächst den Nährquellen
der Pflanzen nachgehen. Die Pflanzen stellen in
jedem Falle, sowohl im Luftleben wie im Wasser-
leben, die sog. „Urnahrung" für die tierischen Or-
ganismen dar. Der Stoffhaushalt eines Gewässers,
also die Wechselwirkung zwischen den im Wasser
vorhandenen Nährstoffen einerseits, den Pflanzen
und Tieren andererseits, wird zunächst abhängen
von der vorhandenen Nährstoffmenge und Nähr-
stoffqualität für die Pflanzen und erst dann wird
sich die Ausbildung der Tierwelt auf Grund des
Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von
Nährstoffen pflanzlicher Natur entwickeln. Dazu
treten dann in der Beeinflussung der Organismen-
zusammensetzung noch physikalische und che-
mische Einwirkungen anderer Natur, wie z. B.
Belichtung, Erwärmung, Bodenbeschafifenheit,
Strömung usw.
Als Nahrungsquellen der Wasserpflanzen kom-
men in Betracht: i. die Wassermasse, die den
Aufenthaltsort der Pflanzen darstellt, 2. der
Boden der Gewässer, 3. die Luft über den Ge-
wässern, 4. die Zuflüsse, einmal die dauernden,
dann aber auch vor allen Dingen die zeitweise
einfließenden Rinnsale, welche von dem benach-
barten Lande und dem höher gelegenen Terrain
dem Ufer zufließen. Nicht alle Wasserpflanzen
sind in der Lage diese Nahrungsquellen in gleicher
Weise oder direkt zu benutzen, so können z. B.
die im Boden enthaltenen Nährstoffe direkt nur
von den in diesem wurzelnden Pflanzen nutzbar
gemacht werden, die Luft und damit die Kohlen-
säure der Luft wird direkt nur ausgenutzt von
denjenigen Pflanzen, die ihre Sprosse über die
Wasseroberfläche erheben oder Schwimmblätter
ausbilden. Die wurzellosen und untergetaucht
lebenden Pflanzen sind allein auf die im Wasser
gelöst enthaltenen Nährstoffe angewiesen.
Es besteht also ein Unterschied in der Nahrungs-
aufnahme zwischen den einzelnen Gruppen der
Wasserpflanzen: i. den festwurzelnden, 2. den
Schwimmpflanzen, 3. den untergetaucht lebenden
nicht im Boden wurzelnden Pflanzen. Es bestehen
natürlich zwischen diesen Pflanzen Übergänge und
Zwischenformen. Als eine festwurzelnde Pflanze
mit zugleich Schwimmblättern, nenne ich die See-
rosenarten (Nymphaea, Nuphar), festwurzelnde
Pflanzen ohne Schwimmblätter sind die meisten
Froschlaichkräuter oder Potamogetonaceen.
Schwimmpflanzen ohne Festwurzelung sind die
Wasserlinsen oder Lemnaceen , der Froschbiß
(Hydrocharis morsus ranae) und andere.
Die untergetaucht lebenden, nicht im Boden
wurzelnden Pflanzen gehören wieder einesteils zu
schwimmenden oder schwebenden, anderenteils zu
festsitzenden epiphytisch oder auf Steinen usw.
sitzenden. Pflanzen. Letztere gehören zum sog.
Aufwuchs, jene wenigstens zum Teil zu dem
Plankton. Es ist ersichtlich, daß diese plankto-
nischen und Aufwuchsformen sich am stärksten
von dem Gehalt des Wassers an Nährstoften ab-
hängig zeigen müssen, da sie ja nur auf diese an-
gewiesen sind. Aber auch die übrigen Pflanzen
sind von diesen mehr oder weniger abhängig,
denn einmal müssen die festwurzelnden aber unter-
getaucht lebenden Formen ihren Kohlenstoff, der
bei den Landpflanzen der Kohlensäure der Luft
entnommen wird, dem Wasser entnehmen, ande-
rerseits müssen die freien Schwimmpflanzen ihre
Nährstoffe mit Ausnahme des Kohlenstoffes hin-
wiederum dem Wasser entziehen, während sie
diesen aus der Luft gewinnen können. Dadurch,
daß von den festwurzelnden Pflanzen die Wurzeln
zuweilen nur noch mehr als Haftorgane denn als
Nährorgane benutzt werden, kompliziert sich die
ganze Angelegenheit noch mehr. Bei ihnen be-
steht die Möglichkeit, daß abgelöste Sprosse selb-
ständig ohne besondere Wurzelorgane im Wasser
fortleben, so z. B. bei der allbekannten Wasser-
pest (Eledea canadensis), die aus Amerika einge-
schleppt in ihren nur weiblichen Pflanzen, die
i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
allein bei uns vorkommen, unsere Gewässer in
so überaus massenhaftem Auftreten bevölkert und
vielfach zu einer Plage für den Wasserwirt ge-
worden ist. In der Tat gibt es nur verhältnis-
mäßig wenige Wasserpflanzen, die infolge ihres
Wurzeins im Boden von der Zusammensetzung
des sie umgebenden Mediums, des Wassers, voll-
kommen unabhängig sind. Es sind dies Pflanzen,
welche mehr als Sumpf-, denn als Wasserpflanzen
angesprochen werden können, z. B. die Phrag-
mites-, Typha-, Glyceria-, Juncus- usw. Arten.
Hiernach ist es nun auch nicht mehr wunder-
bar, wenn ein gewisser Zusammenhang zwischen
der Menge des im Wasser vorhandenen Roh-
materials und der organisierten, lebenden Sub-
stanz besteht. Es gilt für das pflanzliche Leben
im Wasser das Liebigsche Gesetz vom Minimum,
nach welchem der in der Minderheit vertretene,
unentbehrliche und unersetzliche Nährstoff seine
Entwicklung begrenzt, wie es für das pflanzliche
Leben auf dem Lande gilt, und ebenso wie in der
Landwirtschaft, dieses Gesetz die Grundlage für
die moderne Düngerlehre abgegeben hat, so hat
man in der Wasserwirtschaft die gleichen Schluß-
folgerungen gezogen und dort, wo der Ertrag des
Wassers d. h. also für uns letzten Endes der Er-
trag an Fischfleisch einer Hebung bedarf, die Zu-
fuhr von Nährstoffen zum Wasser gehoben, indem
man die zu bewirtschaftende Wasserfläche düngte,
entweder durch Zufuhr von Naturdünger oder
auch seit etwa einem Jahrzehnt von Kunstdünger.
Man ging hierbei davon aus, daß durch die
Düngung zunächst die pflanzliche Urnahrung und
hierdurch dann auf mehr oder weniger direktem
Wege die Menge oder Masse der Endproduzenten
der Fische vermehrt wird. Diese zunächst theo
retischen Gedankengänge haben dann ihre Richtig
keit durch die praktischen Erfahrungen bewiesen
Heute wissen wir, daß die in unserem Sinne er-
tragreichsten Gewässer diejenigen sind, die von
Natur aus die meisten Nähr- und Düngerstoffe
erhalten, die Dorfteiche, in die die häuslichen Ab-
wässer und die Schwemmwässer der Dorfstraßen
gelangen.
Wenn wir nun die chemische Zusammen-
setzung des Süßwassers betrachten, so zeigt
sich, daß di,eselbe großen Schwankungen unter-
liegt, analog den Verschiedenheiten welche der
Boden in der Landwirtschaft aufweist. Wichtig
für sämtliche Organismen, Tiere sowohl wie
Pflanzen, ist der Gasgehalt des Wassers, zunächst
an Sauerstoff. Der Gasgehalt, also der Gehalt
an gelöstem O und CO» ist einmal abhängig von
der Temperatur derart, daß im kälteren Wasser
die Menge der gelösten Gase größer ist als im
wärmeren Wasser, was nun auch zu Verschieden-
heiten des Gasgehaltes in den verschiedenen
Wasserschichten führt, so daß wir in Seen, in
denen die Verhältnisse nicht durch Fäulnisprozesse
am Boden und Assimilationsprozesse in den wär-
meren Schichten ^) kompliziert sind , im kalten
Wasser den höheren Gasgehalt finden, und daß
im Winter dasselbe gilt gegenüber dem Sommer.
So beträgt z. B. der Sauerstoffgehalt im Genfersee
im Winter 7,3 ccm pro 1,
im Sommer 5,7 ccm pro 1,
der Kohlensäuregehalt im Winter 0,6 ccm pro 1,
im Sommer 0,3 ccm pro 1,
der Sauerstoffgehalt im Plönersee
im Winter 12,35 ccm pro 1,
im Sommer 2,3 ccm pro 1.
Die Wirkung der Temperaturänderungen ist
größer als die des Druckes, bei o" bis 25" 30 bis
40 "/(,, bei extremster Druckschwankung um 6 %.
Die jahreszeitlichen Schwankungen des Sauerstoff-
gehaltes im Wasser sind also recht bedeutend.
Die Kurve zeigt diese Schwankungen in der
ccm Opro I.
12
Jan. Febr. MSrz April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okl Nov Dez.
Abb. I.
Der Sauerstoffgebalt der Oberflächenschicht im Sakrower See
während eines Jahres gezeichnet nach Schickendantz
mit den den gemessenen Temperaturen entsprechenden
Sättigungspunkten für Sauerstoff.
Oberflächenschicht des Sakrower Sees, eines mit
der Havel in Verbindung stehenden tiefen Sees
(s. Abb. i). -) Daneben sind die einzelnen Zahlen
in den verschiedenen Schichten angegeben (s. Tab.).
Zum Verständnis dieser Zahlen muß noch her-
vorgehoben werden, daß wir drei Perioden im
Jahre an unseren Seen unterscheiden. Die erste
Periode ist, die der teilweisen Zirkulation. In
dieser, der Zeit des Sommers, lagern die kältesten
und schwersten Schichten, also die mit etwa 4 " C
Temperatur am Boden, die nächst höheren Schich-
• -i j^
/ \ •
auf.
') In der Regel treten derartige Prozesse in den Gewässern
^) G. Schickendantz, Temperaturen und Sauerstoff im
Sakrower See bei Potsdam, Intern. Revue f. Hydrob. u.
Hydrog. Bd. III igio/n, S. 84ff.
N. F. XX. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
19
Tiefe
in m
Febr.
April
Mai
Juli
Sept.
Okt.
No
V.
Dez.
t
0 1
t 0
t
0
t 0
t
0 1
t
0
l
0
t 0
0
1,0
7,4
8,5 10,9
10,4
9,5
19,2 5,2
17,3
5,5
11,6
6,4
5,7
5.2
4,0 6,1
'h
3.1
8,7 10,6
10,3
9.8
2
3.2
5,9
8.4 9.9
10,1
8,5
17.4
11,6
6,2
4,0 6,2
5
3,2
5.Ö
7.7 8.1
9,6
16,2 2,7
•7.5
11,6
6,4
5.8
5,'
4,0
6
9,4
17
7
8,3
12,7
11,6
8
7
8.9
",5
9
6.5
6.7
11,2
10
3.2
5.7
5.2 8
5.7
6,4
5,9 2,5
6,0
1.6
8.3
0,1
5.8
5.0
4,0
15
4.8 7
5.0
6.2
5.3
5.5
1,3
5,6
0,1
5,7
5.1
4.0
20
3.3
4.9
4,4 5.6
4.6
5.3
4.7 «.7
4.7
0,4
4,8
0,1
5.6
4.1
4,0 6,0
25
3.9 3,8
4.2
3,7
4.4 0,1
4.5
0,2
4.5
0,1
4.7
0,2
4,0 6,1
30
3.5
2.7
3.8 3
4,1
3.2
4.5 0.1
4.4
HjS
4,5
H,S
4.5
HjS
4,0 6,0
Der Sauerstoffgehalt des Wassers im Sakrower See während eines Jahres.
Nach Schickendantz.
= Wassertemperatur in " C. O = Sauerstoffgehalt pro i 1 in ccm.
ten weisen nur geringe Temperaturerhöhungen
auf bis wir an eine Schicht kommen, wo die
Temperaturerhöhung sprungartig mehrere Grade
beträgt, wir nennen diese Schicht die Sprung-
schicht. Sie ist z. B. schön ausgeprägt in den
Tabellen vom Juli, September und Oktober. Von
hier aus finden wir dann die höchst temperierten
Wasserschichten des Sees überhaupt. Diese
Sprungschicht erklärt man dadurch, daß die über
dieser gelegenen Wassermassen von den täglichen
Temperaturschwankungen der Luft beeinflußt wer-
den und diese durch Zirkulationsströmungen mit-
machen. Den darunter gelegenen Wasserschichten
fehlen während dieser Zeit diese Zirkulationsbe-
wegungen, es befinden sich diese in einem Zu-
stande der Stagnation. Da in diesen Tiefen der
Pflanzenwuchs in unseren norddeutschen Seen zu-
meist aufgehört hat oder gering ist, so findet hier
zunächst keine Produktion von Sauerstoff durch
diese und kein Austausch mit der Luft statt, in-
folgedessen nimmt, der Sauerstoff hier infolge des
Verbrauchs durch Organismen und durch Fäulnis-
prozesse ständig ab und der Gehalt an HjS und
wie sich später zeigen wird an COj zu. Wir
sehen daher einen gewaltigen Unterschied zwi-
schen dem Sauerstoffgehalt der Zirkulations-
schichten und dem der stagnierenden Schichten
in den betreffenden IVIonaten.
Im Herbst nun kühlen sich die oberen Schichten
ab und sinken infolge der zunehmenden Schwere
nach unten, die Zirkulation greift immer weiter
nach unten und es kommt so schließlich zu einer
Vollzirkulation des Seewassers. Eine gleiche Voll-
zirkulation nur im umgekehrten Sinne durch Er-
wärmung der Wassermassen tritt dann , häufig
allerdings in weniger stark ausgeprägtem Grade
im Frühjahr auf.^) Während des Winters haben
') Die auf 4" erwärmten oberflächlichen Wasserschichten
sinken als schwerere Wassermassen in die Tiefe ab.
wir dann ein Stadium der Stagnation für die ge-
samte Wassermasse bis auf die alleroberste
Schicht, es schwindet daher in tieferen Seen auch
hier der Sauerstoffgehalt in den Tiefen, die jetzt
die höchsten Temperaturen aufweisen. Die
Schichtung ist eine umgekehrte wie im Sommer.
Wie stark der Sauerstoffgehalt der einzelnen
Wasserschichten durch diese thermischen Vorgänge
beeinflußt und verändert wird, ist leicht aus den
Tabellen zu ersehen.
Es hat sich nun aber gezeigt, daß der
Sättigungskoeffizient an Sauerstoff, der ja der
Temperatur und dem Luftdruck entsprechen muß,
unter Umständen erheblich überschritten wird, ')
und dies hat darauf hingewiesen, daß der Sauer-
stoffgehalt nicht allein abhängt von dem Wechsel-
verkehr zwischen Atmosphäre und Wasser, son-
dern zu einem großen Teil, vielleicht zu einem
wesentlichen von der Tätigkeit der sauerstoff-
produzierenden grünen Pflanzen. In Gewässern,
in denen ein reiches organisches Leben sich ent-
faltet, würden die sauerstoffzehrenden Prozesse
der abgestorbenen Organismenleiber die Überhand
gewinnen und zu HjS-Mengen führen, die jedes
höhere Leben schließlich verhindern würden,
wenn nicht wieder die Lebenstätigkeit der
grünen Pflanzen für eine reichliche Sauerstoff-
produktion sorgen würde. Ein Beispiel, wie diese
Anreicherung an Sauerstoff durch die Pflanzen
wirkt, gibt folgende Tabelle:
Es sind hier fortlaufend dreistündlich in einem
Teiche Sauerstoffbestimmungen vorgenommen
worden.
Temp. 20,1" C 0,733 ccm 0 pro 1
„ 21,0° C I,i;i8
„ 21,8» C 1,605
„ 21,6" C 1,540
„ 20,3" C 0,937
19,1» C 0,930
24. VI. 8 Uhr vorm.
II „
2 ,, nachm.
5 „
8 ,, abends
II „ nachts
'j Siehe die Kurve Abb. I.
20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
5
S
II
2
25. VI. 2 „ nachts Temp. 18,4» C 0,799 ccm U pro 1
morgens ,, 18,0° C 0,815 ■• •• "
„ „ 1716° C 1,214 I. .. 1.
vorm. ,, 18,0» C 1,304 „ „ ,,
mittags „ 19,8» C 1,679 „
Diese Tabelle stammt von S e y d e 1 , ') sie
zeigt die Sauerstoffzunahme bei der Belichtung
infolge der Tätigkeit der Pflanzen. Man hat diese
Eigenschaft der 0-Produktion nun der Fischerei-
praxis dienstbar gemacht, indem man den Sauer-
stoffmangel von verschlammten Gewässern, die
unter Eis sich befinden und infolgedessen keinen
Gasaustausch mit der Atmosphäre besitzen, da-
durch zu bekämpfen sucht, daß man das Eis
schneefrei hält und so durch die Tätigkeit der
Pflanzen im Wasser den Sauerstoffgehalt hebt.
Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, daß die sog.
Wintersterben der Fische, welche auf Sauerstoff-
mangel unter Eis in fäulnishaltigen Gewässern
zurückzuführen sind, nur dann auftreten, wenn die
Eisdecke mit Schnee bedeckt ist, ^) und so das
Wasser und damit seine Schwebpflanzen und
übrigen Pflanzen im Dunkeln gehalten werden.
Versuche, welche von mir am Königsberger Ober-
teich ausgeführt worden sind, haben gezeigt, daß
in der Tat schneefrei gehaltene Stellen unter Eis
einen höheren Sauerstoffgehalt bereits nach kurzer
Zeit aufweisen als die schneebedeckten Stellen:
Folgende Zahlen wurden z. B. erhalten:
gefegte Stelle
vorm. 1 1 Uhr vor dem Fegen :
a) O m WT. 0,1» 8,345 ccm O
2 m WT. 2« 7,28 ccm O
4 Uhr 30 nachm.
b) o m WT. o,i" 7,12 ccm O
2 m WT. +1,2" 8,094 ccm O
ungefegte Stelle
vorm. II Uhr
a) o m WT. 0,1" 8,347 ccm O
1,80 m WT. 1,2» 9,26 ccm O
4 Uhr 30 nachm.
b) o m WT. 0,1" 6,2 ccm O
i,So m WT. 1,2" 7,96 ccm O
Es hatte also eine mehr oder weniger starke
0-Abnahme stattgefunden, welche wohl darauf
zurückzuführen ist, daß sich tierische Organismen
in größerer Menge an die eingeschlagenen Eis-
löcher gedrängt und so durch ihre Atmungs-
prozesse zu einer Sauerstoffabnahme geführt hatten.
Es zeigt sich jedoch ein großer Unterschied in
der Abnahme an beiden Stellen, es betrug die
Abnahme an der schneefrei gemachten Stelle
O m — 1,225 ccm in 5 Std.
Boden -}-o,8i4 ccm
an der schneebedeckten Stelle
o m — 2,147 ccm
Boden — 0,284 ccm
>) Seydel, E., Über die Schwankungen des Sauerstoff-
gehaltes in Teichen. Mitt. d. Fischereivereins für die Provinz
Brandenburg Bd. IV, Heft 7, 1912.
') S c h i e m e n z.
Es betrug also das Mehr an der schneefreien
Stelle o m —0,922 ccm, d. h. 14,5 %
am Boden 1,098 ccm, d. h. 13,9 "/o
Die Versuche wurden unterbrochen durch Ein-
treten von Tauwetter, das das Eis milchig und
daher für Licht stark undurchgängig machte, sie
sollen fortgesetzt werden.
Weit weniger erforscht als die Beziehungen
zwischem dem Pflanzenleben des Wassers und
seinem Sauerstoffgehalt sind die zwischen ihnen
und der Kohlensäure. Es handelt sich nämlich
hierbei ebenfalls nicht um die COj -Aufnahme in
Gasform, sondern die untergetauchten Pflanzen
vermögen dieses Gas ebenfalls fast nur in ge-
löster Form aufzunehmen; eine einzige Möglich-
keit besteht für die Wasserpflanzen, den Kohlen-
stoff auch als gasförmiges Kohlendioxyd aufzu-
nehmen, nämlich dasselbe aus den großen Inter-
cellularräumen zu entnehmen, die gerade die
Unterwasserpflanzen in so ausgeprägtem Maße
besitzen. Diese enthalten auch CO,, das aus dem
Wasser hineindiffundiert. Die hauptsächlichste
C- Quelle ist jedoch im Wasser selbst zu suchen
und wird die Kohlensäure durch die Epidermis
hindurch ebenso wie der Sauerstoff und die Nähr-
salze aufgenommen. Es ist bekannt, daß den
typischen Unterwasserpflanzen Spaltöffnungen ent-
weder ganz fehlen oder nur in bedeutend ge-
ringerer Zahl vorhanden sind, als bei Land-
pflanzen. Die Cuticula selbst ist äußerst zart, eine
Kutinisierung wie bei den Landpflanzen fehlt.
Meines Wissens hat zuerst Z u n t z darauf hinge-
wiesen, daß es in vielen Fällen der Kohlenstoff
ist, der sich als Nährstoff im Wasser im Minimum
befindet, und somit nach dem L i e b i g 'sehen Ge-
setz das Gedeihen der pflanzlichen Organismen
grundlegend beeinflußt. Er zeigte, daß bei intensiv-
ster Schüttelung mit Luft bei 16» C das Kubikmeter
Wasser nur 0,3 1 CO3 aufnehmen kann, daß ein
Gewässer von einem Hektar mit 7500 cbm Inhalt
also enthahen würde 2250 1 COj = 4, 4 l<g CO2
entsprechend 1,2 kg Kohlenstoff. Nach Zuntz'
weiteren Untersuchungen wird aber von einer
reichen Mikroflora diese Menge von Kohlenstoff
an einem Tage assimiliert. Selbst wenn wir die
noch nicht bewiesene, ja durch Nathansons
und Czensnys Versuche unwahrscheinlich ge-
machte Annahme, daß der Kohlenstoff im Wasser
aus an Alkali gebundene CO., entnommen werden
kann, mit zu Hilfe nehmen, würde nur eine Menge
von 1,4 kg C in dem erwähnten 7500 cbm-Teiche,
an dem die Zuntzschen Untersuchungen und
Berechnungen ausgeführt wurden, resultieren.
Die Annahme, daß die Kohlensäure dem Ver-
brauch entsprechend nun etwa aus der Luft
wieder in das Wasser hinein diffundiert, ist zu
Unrecht geltend gemacht, da wie Steffen,
Hüfner, Hoppe-Seyler u. a. gezeigt haben,
es Wochen dauert, bis ein CO., - Molekül eine
Tiefe von einem Meter erreicht hat. Die Luft-
CO, kommt demnach für die Ernährung der
N. F. XX. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
21
Mikroflora des Wassers und wohl auch der
anderen submersen Flora nur in ganz geringem
Maße in Betracht. Als Hauptkohlenstoffquelle
müssen wir daher für die Mikroflora zum wenig-
sten neben den Atmungsprodukten der Tiere
und Pflanzen die in Zersetzung begriffenen organi-
schen Substanzen am Boden ansehen. Hierauf
wird dann auch die Erfahrung in der Praxis der
Wasserwirtschaft zurückzuführen sein, daß mit an-
organischen Düngesalzen gedüngte Gewässer sehr
häufig jeden Erfolg vermissen lassen, während die
mit organischem Dünger versehenen erstaunliche
Mehrerträge bringen. Daß in der Tat in pflanzen-
reichen Teichen die CO., im Laufe des Tages völlig
verschwinden kann, haben Untersuchungen im
Z u n t z sehen Laboratorium gezeigt. Neuerdings
liegen hierfür interessante Zahlen von Czensny*)
aus Teichen vor; er fand folgende Mengen
freier CO-,:
3 Uhr früh
2 Uhr abends
Abnahme
6,6 mg pro 1
2,6 mg
4,0 mg
5,4
3,o „
2,4 „
7,2
3,7 ,.
3,5 „
6.8 „
4,9 -,
1,9 „
7,6 „
4.2 „
3,4 „
7,2
2,1 „
5,1 „
Daß die CO., nicht vollständig aus dem Teich-
wasser geschwunden war, ist darauf zurück-
führen, daß diesen Teichen aus Versuchsgründen
abgeschnittenes Pflanzenmaterial zugeführt worden
war, das durch seine Verwesung dafür sorgte,
daß der Kohlenstoff nicht völlig zum Ver-
schwinden kam. Im übrigen konnte Czensny
das Verschwinden der freien CO., an in Zer-
setzung begriffenen Stoffen armen Teichen am
Abend, wie es Knauthe berichtet hatte, eben-
falls feststellen : '^)
abends (9. VI.) früh (10. VI.) mittags (10. VI.)
o 3,3 5-5
o 1 1 ,0 2,9
o 14.5 1,1
o 10,3 6,6
Wir sehen also, daß das Verhältnis der Wasser-
pflanzen zum Kohlenstoff ein viel ungünstigeres
als das der Landpflanzen oder besser Luftpflanzen
ist. Während der Nacht findet nun also infolge
des Aufhörens der Assimilationstätigkeit der
Pflanzen wieder eine Anreicherung der Kohlen-
säure im Wasser statt und zwar einerseits durch
die COj-Ausatmung der höheren Organismen und
andererseits durch die auch des Nachts weiter
laufenden Zersetzungsvorgänge organischer Sub-
stanz.
Soviel über den Gasstoffwechsel in unseren
Binnengewässern. Im Meere liegen die Verhält-
nisse etwas anders, doch soll hier nicht darauf
eingegangen werden. Sehr interessant wäre es,
zu untersuchen, wie sich diese Verhältnisse an
') s. Zeitschr. f. Fischerei, N. F., Bd. IV, 1919, p. io,S
u. 110.
') 1. C. p. 121.
polaren Seen verhalten, die ja durch lang dauernde
Belichtung und lang dauernde Verdunkelung aus-
gezeichnet sind. Die wissenschaftlich-praktischen
Versuche der Hydrobiologie und der speziellen
Fischereibiologie haben gezeigt, daß neben den
Sauerstoff- und Kohlensäureverhältnissen eine der
wichtigsten Rollen das Kali, der Kalk und die
Phosphorsäure sowie der Stickstoff in ihrem Ge-
halt im Wasser spielen. Ich will hier absehen
von mehr speziellen Fällen, wo etwa durch zu
hohen Eisen- oder Mangangehalt das Leben im
Wasser in besonderer Richtung beeinflußt wird,
das sind Spezialfälle, die hier nicht behandelt
werden sollen. Ganz besonderes Interesse hat
der Stickstoffwechsel in der Hydrobiologie erregt,
weil es wichtig war, zu erfahren, wie sich die
Organismenwelt diesem Stoffe gegenüber im
Wasser verhalten wird. Wir wissen aus den
landwirtschaftlichen Forschungen, daß die Rolle
und das Schicksal des N im Boden recht mannig-
faltig sind. Wir kennen seit vielen Jahren stick-
stoffsammelnde oder nitrifizierende und stickstoff-
zehrende oder denitrifizierende Prozesse im Erd-
boden, die im wesentlichen auf bakterielle Ein-
flüsse zurückzuführen sind, wenn auch rein che-
mische Vorgänge ebenfalls eingreifen. Für die
Verhältnisse im Wasser war diese Frage bis
kurz vor dem Kriege noch recht ungeklärt. Erst
Untersuchungen von H. Fischer -München in
Verbindung mit H o f e r und von Zuntz, Czensny
und Will er haben hier einige Klarheit geschaffen.
Es hat sich nun gezeigt, daß auch im Wasser
bakterielle sowie chemische Nitrifikations- und
vor allem auch Denitrifikationsvorgänge sich ab-
spielen, in ähnlicher Form wie im Ackerboden.
Als Stickstoffquellen sind einmal vor allen Dingen
zerfallende Eiweißsubstanzen der Organismen-
leiber, die Exkrete der Tiere, dann die Luft und
außerdem die stickstoffhaltigen Salze, also die
Nitrite und Nitrate, welche im Wasser gelöst auf-
treten und dem Boden mehr oder weniger direkt
als solche entnommen sind, zu nennen. Der Ge-
samtstickstoffgehalt der Gewässer ist naturgemäß
ein verschiedener und schwankt auch im einzelnen
See oder Teich bzw. Fluß mit der Jahreszeit.
Czensny fand z. B. in Sachsenhausener Bach-
wasser folgende Mengen an Gesamtstickstoff (1. c.) ;
1914
April 0,35 mg pro i 1
Mai 0,80
Juni 0,76
Juli 0,87
Anfang September 0,81 „
Ende September 0,59 „
1915
Juli 0,41 mg pro i 1
August 0,60 „
Anfang September 0,59 „
Ende September 0,54 „
Im Sachsenhausener Teichwasser:
April
1914
0,36 mg pro 1 i
22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
Mai 0,91 mg pro i 1
Juni 0,81 „
Juli 0,98
Anfang September 0,58 „
Ende September 0,76 „
1915
Juli 0,51 mg pro i 1
August 0,70 „
Anfang September 0,53 „
Ende September 0,37 „
Bedeutung gewinnt für die höheren Organis-
men, die Pflanzen und demnächst für die Tiere,
der N erst, wenn er als Ammoniak oder Nitrat
auftritt. Nur in diesen beiden Formen vermögen
die Wasserpflanzen den Stickstoff aufzunehmen
und zu Eiweiß umzusetzen. Es sind die Bakterien,
welche den in anderem Zustande im Wasser vor-
handenen Stickstoff in diese beiden Formen um-
wandeln. Einmal sind es Fäulnisbakterien, die
die Abbauprodukte des Eiweißes, das aus den
Organismen stammt, schließlich in Ammoniak
und Ammoniumsalze umsetzen, dann aber
kennen wir ähnlich wie im Boden Azotobakterien,
die den gelösten Stickstoff des Wassers binden
und weiter verarbeiten, um ihn so dem Kreislauf
der Stoffe im Wasser zuzuführen. Auch nitrifi-
zierende Bakterien oder vielleicht besser bakterielle
nitrifizierende Prozesse sind aus dem Süßwasser
bekannt geworden. So zeigen folgende Kurven
das Schwanken des Nitratgehaltes im Havelwasser,
das in Glasbehältern aufbewahrt wurde (Abb. 2).
Der Nachweis von nitratbildenden Bakterien im
Wasser ist sehr schwierig. Interessant ist es nun,
daß es immer dann gelang, Nitratbildner in dem
betreffenden Havelwasser nachzuweisen, wenn die
Kurve im Aufsteigen begriffen war. Es handelt
sich beim Nitrifikaiionsprozeß im Wasser offenbar
um eine ähnliche Erscheinung, wie wir sie in
unseren Gewässern als Wasserblüte kennen, d. h.
um die Erscheinung, daß sich gewisse Blaualgen
plötzlich ungeheuer vermehren und unsere Ge-
wässer grün färben. ') Daß es sich hierbei tat-
sächlich um bakterielle Vorgänge im Wasser
handelt, beweisen Versuche mit ausgekochtem,
also sterilem Havelwasser, bei denen diese Zacken
ausbleiben. Merkwürdigerweise sind wir über
das Vorkommen von Nitrobakterienarten, also
Nitrit zu Nitrat oxydierenden Formen und Nitro-
somonasarten, also Ammoniak zu Nitrit wandeln-
den Arten im Meere besser orientiert als im Süß-
wasser.
In sehr ausgedehntem Maße wirken nun ent-
gegengesetzt arbeitende Spaltpilze im Wasser, die
sog. Denitrifikanten. In der landwirtschaftlichen
Düngerlehre spielt die Frage der Denitrifikation
eine große Rolle. Es handelt sich hierbei um die
Spaltung der Salpetersalze und das dadurch statt-
findende Freiwerden des Stickstoffes, der dann in
die Luft entweicht. Es hat sich gezeigt, daß der-
artige Denitrifikationsvorgänge sich im wesent-
lichen in Böden abspielen, die mindestens 2$ %
Wasser enthalten und gewisse Kohlehydrate, die
aus dem Zerfall der Zellulose entstehen. Die de-
nitrifizierenden Bakterien sind nämlich bei der
Assimilation des Kohlenstoffs auf organische Ma-
terie angewiesen. Es war nun eigentlich von
vornherein als wahrscheinlich anzunehmen, daß
gerade das Wasser unter Umständen ein ganz
ausgezeichnetes Milieu für Denitrifikanten abgeben
würde. Auch hier wieder sind die marinen
Untersuchungen zunächst vorangegangen. Jetzt
wissen wir jedoch, daß im Süßwasser dort, wo
der Boden des Gewässers humusreich ist, die
Denitrifikation durch Bakterien eine außerordent-
"W'^i^i Januar
prol
Mdrz
') WilleV, A., Experimentelle Studien zur Salpeter-
düngung in Teichen; Fisch.-Ztg., Bd. 18, 1915.
Tager W 20 30 iO SO 60 W -
Abb. 2. Schwankungen des Nitratgehaltes im Wasser.
Nach Will er.
Havelwasser im Licht.
Havelwasser im Dunkeln.
lieh große Rolle spielt, und daß die hier im
Wasser gelösten Nitrate und Nitrite bei günstiger
Temperatur außerordentlich schnell umgewandelt
werden. Dagegen in Gewässern, die mehr auf
humusarmem Sandboden sich befinden, spielen
diese Bakterien — Bacillus fluorescens liquefaciens
hat eine große Bedeutung in dieser Hinsicht —
eine geringere Rolle. Die sog. Teichdüngung
hat mit diesen Prozessen daher mehr zu rechnen
als vielleicht die Landwirtschaft selbst. Ein Bei-
spiel derartiger Denitrifikationswirkung zeigt fol-
gende Kurve (Abb. 3). Hier sind wiederum im
Havelwasser Denitrifikanten durch Zugabe von
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
23
geringen Mengen Alkohol, also einer Kohlenstoff-
quelle, begünstigt und die Nitrifikanten geschädigt
worden. Wir sehen völlige Denitrifikation der
zugeführten Nitrate. Eine ähnliche Kohlenstoff-
quelle stellt der Kalkstickstoff (Calciumcyanid) dar.
Die dritte Kurve zeigt, wie sich der Nitratgehalt
hierbei verhält (Abb. 4). Hier wird offenbar die
Schädigung der Nitrifikanten nicht so intensiv
stattfinden, so daß nach dem Verbrauch des
Kohlenstoffs aus dem Kalkstickstoff diese wieder
anfangen zu nitrifizieren und es zu einer Neu-
bildung von Nitraten, deren Stickstoffquelle viel-
ZS.März
!J. April
Tage 10 zq
Abb. 3. Denitrifikation im Havelwasser.
Havelwasscr + ionigN205+ i ccm Alkohol absol. pro 1 1.
Nach WiUer.
Denitrifikanten die Oberhand haben, während
umgekehrt in den kalten Meeren diese nicht so
zur Geltung kommen und letztere daher einen
größeren Stickstoffgehalt aufweisen. Nach Brand t
enthalten die Holsteinschen Seen mit viel Sal-
petersäure und salpetriger Säure viel Plankton,
die Salpetersäure- und salpetrigsäurearmen wenig
Plankton. Als Lieferanten für den Stickstoff der
Pflanzen in unseren Gewässern kommen also in
erster Linie Bakterien in Frage, die den vor-
handenen Stickstoff in die für die Pflanze allein
aufnahmefähige Form des Ammoniaks und des
2$. April
Z4 Mai
OTage 70 20 30'
.\bb. 4. Denitrifikation und Nitrifikation im Havelwasser.
Havelwasser -j- 10 mg N2O5 -|- 0,6 mg Kalkstickstoff pro i 1.
Nach Willer.
leicht hier im Kalkstickstoff selbst zu suchen ist,
kommt. Wir sehen, es findet im Wasser ein
dauernder Kampf zwischen den beiden Organismen-
gruppen, den Nitrifikanten und den Denitrifi-
kanten statt. Es ist bekannt, daß Brandt den
verhältnismäßig großen Reichtum der kalten
Meere an Organismen der verhältnismäßigen
Armut an solchen in den warmen Meeren gegen-
über erklären möchte dadurch, daß infolge der
höheren Temperatur in den warmen Meeren die
Nitrats überfuhren. Es sind aber auch wiederum
Bakterien, die diesen Stickstoff den Pflanzen zu
entziehen vermögen. Die genauen Schwankungen
des Stickstoffgehaltes in den einzelnen Schichten
der Seen und während der verschiedenen Jahres-
zeiten sind im allgemeinen noch so gut wie un-
bekannt. Hier sind sicherlich noch recht inter-
essante und auch für die praktische Wasserwirt-
schaft wichtige Ergebnisse: zu erwarten. Über
die Rolle der übrigen Nährstoffe, vor allem des
24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
auf 3 mm-
Blattfläche
von Elodea
canadensis.
Kalis und der Phosphorsäure, sind wir zwar so-
weit unterrichtet, daß wir annehmen, diese werden
als gelöste Salze durch die ganze Epidermis der
Wasserpflanze aufgenommen. Wir wissen, daß
sie natürlich ebenfalls, sobald sie ins Minimum
gelangen, die Entwicklung der Pflanzenwelt des
Wassers grundlegend beeinflussen können. Die
einzelnen Arten werden in ihrem Vorkommen
abhängig sein von dem mehr oder weniger
großen Gehalt an diesen Stoffen im Wasser. Wie
gesagt, genauere Angaben fehlen hier noch völlig.
V. Alten hat an gewissen Diatomeenarten
nachweisen können, daß ihr Vorkommen von
dem Gehalt des Wassers an Phosphorsäure über-
haupt abhängig ist. Daß eine starke Vermehrung
einzelner Diatomeenarten durch Zufuhr von P
und K stattfindet, geht aus folgenden in Ver-
suchen von mir festgestellten Zahlen hervor, die
sich auf die Kieselalge Cocconeis placentula Ehrbg.
beziehen:
1. Kultur mit gewöhnlichem Wasser
(0,25 mg P.fi,„ 5,5 mg K^O pro 1)
enthielt in 2 Kontrollproben nach
8 Tagen durchschnittlich 22,05
und 7,3 Individuen;
2. Kultur mit demselben Wasser
-f- 8 mg Phosphorsäure pro 1
durchschnittlich 36 und 46,6 In-
dividuen ;
3. Kultur mit demselben Wasser
-j- 4 mg K -j- 8 mg P pro 1 durch-
schnittlich 46,4 und 59,3 Indi-
viduen.
Es ist also zweifellos, daß die Zahl der
Pflanzen von dem Gehalt gelöster Phosphate und
Kalisalze abhängig ist. Die Möglichkeit besteht
allerdings, daß durch die Zufuhr die Vermehrung
nur zunächst angeregt wird und später diese
wieder nachläßt. Die beendeten Versuche sind
jedoch noch nicht ausgearbeitet. Ich hoffe später
darüber berichten zu können.
Weiter hat v. A 1 1 e n ^) nachgewiesen, daß
nicht nur die Zahl, sondern auch vor allen Dingen
die Form und Größe der Diatomeen durch Kali-
salze und Phosphate beeinflußt wird, indem bei
stärkerem Gehalt an diesen Salzen die Größe der
untersuchten Arten erheblich heraufgesetzt wird
im Verhältnis zu der Größe der gleichen Arten
in Gewässern mit weniger Gehalt an diesen
Stoffen. Leider hat er hier keine ganz genauen
und übersichtlichen Tabellen gegeben. Ähnliche
Resultate für Grünalgen fand R ay s s (Coelastrum).^)
Das, was also von den Pflanzen des Landes gilt,
nämlich, daß sie durch einen größeren Gehalt
ihres Nährmediums an Nährsalzen an Größe und
Zahl zunehmen, gilt auch für die Wasserpflanzen,
soweit sie vom Boden unabhängig sind.
Über die regionäre Verteilung des Kalis und
der Phosphorsäure in unseren Binnenseen wissen
wir zurzeit so gut wie nichts. Über die jahres-
zeitlichen Schwankungen können uns einen aller-
dings sehr oberflächlichen Aufschluß für eine
Gruppe von bestimmten Teichen Zahlen von
Czensny geben, die allerdings mehr zu anderen
Zwecken gewonnen worden sind. Er fand fol-
gende Zahlen in einem fließenden Wasser:^) .-,'
Gehalt von P2O5 im Sachsenhausenfer Zuleitet:
1914
30. April 0,26 mg pro 1
18. Mai o,SS „
15. Juni 0,22 „
13. Juli 0,31
20. Juli 0,61
3. September 0,69 „
1915
12. Juli 0,48 mg pro 1
10. August 0,76 „
7. September 0,87 „
29. September 0,40 „
In den Sachsenhausener Teichen:
1914
30. April 0,30 mg pro 1
18. Mai 0,59
15. Juni 0,25
13. Juli 0,92
20. Juli 0,51 „
3. September 0,70 „
1915
12. Juli 0,57 mg pro 1
10. August 0,83 „
7. September 1,34
29. September 0,39 „
Es scheint also, als wenn der Gehalt des
Wassers an P.iOg im Spätsommer am größten ist.
Ähnlich scheint es sich mit dem Kali zu ver-
halten, doch sind die Zahlen hier noch spärlicher,
da sie sich nur auf einen ganz kurzen Zeitraum
erstrecken. Ich gebe sie nur der Vollständigkeit
halber wieder:
KjO im Zuleiter im Teich
12. Juli 1,43 1,33 mg pro 1
10. August 2,10 2,06 „
7. September 2,40 2,77 „
24. September 2,93 2,75 „
Über den Kalkstoffwechsel im Wasser sind
bisher noch nicht allzu viele Arbeiten erschienen.
Wir wissen jedoch, daß auch der Kalkgehalt
jahreszeitlichen Schwankungen unterliegt, genau
wie Kohlensäure und Sauerstoff. Auch hier finden
sich Unterschiede im CaO-Gehalt der verschiedenen
Schichten :
Kulk menge im Kuresee
Juni 1906 bis Oktober 1907.-)
Tiefe Temperatur CaO
15. VI. 06 o m I7i3° C 61,0 mg pro 1
12 r2i4 6o,!s
1) Zeitschr. f. Fischerei, N. F., Bd. IV, S. 190 ff.
-) Beiträge zur Kryptogamenflora der Schweiz, J915, 5, 2.
') 1, c.
") J. N. Brönstedt und C. Wesenberg-Lund,
Chemisch -physikalische Untersuchungen der dänischen Ge-
wässer. Intern. Revue für Hydrobiologie und Hydrographie
Bd. IV, 191 1.
N. F. XX.
Nr. 2
N
aturwissensch
ai
Tiefe
Temperatur
CaO
15. VI. 06
i:; m
8,5° C
60,0 mg pro
1
28
0,0
61,8
23. VII. 06
0
17.5
59>o
13
i?,8
59.4
15
9.5
bI,S
27
7.1
64,8
8. VIII. 06
0
19.4
55.0
13
i6,s
59,8^
17
8,2
64,0
31
7.2
64,0
24. VIII. Ob
0
i^,o
5=;,S
13
15,4
55.S
17
15.1
b2,6
30
7.7
63.8
12. IX. 00
0
"5,0
^6,o
13
■5.4
57,0
17
15.'
Sb,2
30
7.7
64,6
S. X. 06
0
12,8
56,2
13
12,8
57,2
17
12,,S
57.4
30
7.4
19. X. 06
0
II, S
58,0
13
II.5
58.2
17
".5
5'J.o
32
7.3
64,4
13. XI. ob
0
S.4
59.5
13
8,4
59,0
24
8,4
59.0
30
^.3
58.4
10. XII. 06
0
^.2
59.4
13
5.2
58,8
24
5.2
58,0
30
5.2
5S,4
Wenn ich zu Beginn meines Vortrages gesagt
habe, daß der Nährstoff, welcher sich im Wasser
im Minimum befindet, für das Gedeihen der
Wasserpflanzen maßgebend ist, so gilt naturgemäß
ein gleiches Gesetz nicht in dieser Form für die
Tiere. Aber dennoch hängt auch die Zusammen-
setzung der Fauna eines Gewässers nicht zuletzt
ab von dem Vorhandensein resp. Fehlen der not-
wendigen Nahrungsstoffe oder besser Nahrungs-
organismen. Wenn ich sage Nahrungsorganismen,
so meine ich nicht durchweg Organismen als
lebende Individuen, sondern auch die Reste der-
selben, ja auch ihre Extraktionsstoffe usw. Wenn
wir die Tierwelt eines Gewässers betrachten , so
können wir dieselbe nach Art der systematischen
Zoologie einteilen oder aber wir sondern sie nach
den einzelnen Biozönosen, den einzelnen Lebens-
gemeinschaften. Nun müssen wir zwar jedes Ge-
wässer als eine Biozönose selbst auffassen, ge-
wissermaßen als einen Organismus für sich. Den-
noch hat jedes Gewässer wiederum seine Biozö-
nosen niederer Ordnung. Es sind dies die Ufer-
region, die Bodenregion und die Region des freien
Wassers. Am ausgeprägtesten sind die Biozö-
nosen zweiter Ordnung an den Seen. Wir wollen
auf den tierischen Stoffhaushalt im Sinne der
Ernährung der Tiere etwas mehr eingehen. Zu-
nächst ist da festzustellen, daß, wenn auch die
Tier- und Pflanzenwelt der einzelnen Regionen
jede für sich ihre Charakteristika aufweisen, den-
25
noch mannigfache Wechselbeziehungen zwischen
ihnen bestehen. Als besonders für uns wichtige
Tierformen möchte ich da zuerst auf die Fische
eingehen. Wir sehen, daß die Mehrzahl derselben
zur Laichzeit die Uferregion oder doch die flachen
Stellen aufsucht, um dort den Laich abzulegen.
Die Jungfische selbst halten sich in dieser gut
durchwärmten Region auf und erst später, wenn
sie eine gewisse Größe erreicht haben, verteilen
sie sich auf die ihrem erwachsenen Stadium eigen-
tümliche Region. Der Hecht bleibt im allgemeinen
in der Nähe des Ufers, der Blei sucht mehr die
Bodenregion auf, der Zander geht in das freie
Wasser. Nicht jede Art jedoch sucht eine be-
stimmte Region auf, sondern manche Arten sind
bald in der einen bald in der anderen Region.
Als Beispiel hierfür nenne ich den Uklei. Wir
kennen Ukleibestände, welche sich am Ufer auf-
halten und solche, welche im freien Wasser leben-*)
Beim Barsch unterscheiden wir nach seinem
Aufenthaltsort, den Krautbarsch, den Jagebarsch
und den Tiefenbarsch. Diese drei können wir an
ihrer Farbe unterscheiden. Der Krautbarsch zeigt
einen messingenen Ton, der Jagebarsch mehr
einen helleren Ton, der Tiefenbarsch einen dunk-
leren Ton.-) , :, ;• ,.
Entsprechend diesen verschiedenen Aufenthalts-
orten ist nun auch die Ernährungsweise der ein-
zelnen Lokalformen verschieden.
Wir können sagen, daß wir über die Qualität
der gesamten Nahrung unserer wichtigsten mittel-
europäischen Süßwasserfische gut orientiert sind,
weniger gut über die Quantität. Die Unter-
suchungen von iSusta, Schiemenz, Hofer,
Arnold, Walteru. a. haben uns in dieser
Hinsicht genügend aufgeklärt. Zunächst habein
diese Untersuchungen gezeigt, daß die alte Auf-
fassung, der Fisch seihe das Wasser einfach durch
und benutze alles das, was an seinem Reusen-
apparat an tierischen und pflanzlichen Organismen
hängen bleibt, als Nahrung, falsch sind. Wir
wissen, daß der Fisch jedem einzelnen Nahrungs-
tier besonders nachstellt und es sich aus den
übrigen Organismen heraussucht. Wir haben er-
kannt, daß nicht jedes niedere Tier im Wasser
für den Fisch eine gleichermaßen geeignete und
begehrte Nahrung darstellt, sondern, daß wir
unterscheiden müssen, zwischen einer Hauptnah-
rung, einer Gelegenheitsnahrung und einer Not-
nahrung.^) Nur dort, wo die Hauptnahrung in
einem Gewässer in genügender Menge vorhanden
ist, gedeiht der Fisch und wächst gut ab. Wo
diese nicht vorhanden ist, kann zwar an ihre
Stelle die Notnahrung treten, der Fisch fristet
dann aber ein kümmerliches Dasein, er wächst
entweder nur wenig weiter oder überhaupt nicht
mehr. Die Fortpflanzung läßt häufig ebenfalls
') Schiemenz, P. , Mitt. Fischerei- Vereins f. d. Prov.
Brandenburg Bd. V, H. II.
2) Schiemenz, P., ibid. Bd. XI, H. I.
') Schiemenz, P. , Deutsche Fischerei. Zeitung 1909,
AUgcm. Fischerei-Zeitung 30. Jahrg. S. 323.
26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
nach, kurz und gut der Bestand eines Gewässers
an dieser Fischart nimmt ab, und sie verschwindet
schließlich ganz und gar aus dem Gewässer. Auf
dieser Erkenntnis beruht die ganze moderne
Fischereiwirtschaft.
Es ist bekannt, daß wir nach dem Ernährungs-
modus unsere Süßwasserfische einteilen in Raub-
fische, Kleintierfresser und Pflanzenfresser, sog.
Grünweidefische. Zu den Raubfischen gehören
der Hecht, Zander, Barsch, Quappe und z. T. der
Aal. Kleintierfresser sind alle diejenigen, welche
von den niederen tierischen Organismen leben.
Die Grünweidefische sind bei uns nur in geringer
Artenzahl vertreten. Es sind dies nur das Röt-
auge und unter Umständen die Plötze, diese leben
auch weniger von den höheren Pflanzen, als
hauptsächlich von dem sog. Aufwuchs, den Epi-
phyten der Unterwasserpflanzen, also vornehmlich
den festsitzenden Kieselalgen und Grünalgen.
Diese alte Einteilung der Fische nach ihrer Er-
nährung, die besonders unter den Praktikern sich
noch allgemeiner Anerkennung erfreut, genügt
jedoch den modernen Anschauungen der Fischerei-
biologie nicht mehr. Denn einerseits leben die
Jugendformen der Fische von anderen Organismen
als die älteren Stadien, andererseits fressen ein-
zelne Arten bald so, bald so, oder gar sie trennen
sich gewissermaßen in Rassen auf Grund ihrer
Ernährungsweise, die Verhältnisse können dabei
noch ziemlich einfach liegen, sie können aber
auch verwickelter sein.
Der Hecht ist ein Beispiel für die einfache
Form des Nahrungswechsels. Der junge Hecht,
welcher in den flachsten Teilen der Uferregion
lebt, ernährt sich von den Crustaceen der Ufer-
region und zwar bilden seine Hauptnahrung die
Cladoceren: Eurycercus lamellatus, Simocephalus
vetulus, Chydorus sphaericus, während die Kope-
poden kaum oder nur als Notnahrung gefressen
werden. Sobald der Hecht aber eine gewisse
Größe erreicht hat, was bereits im ersten Sommer
in der Regel geschehen wird, so verlegt er sich
auf den Raub anderer Fische, die seiner Größe
entsprechen.
Anders der Barsch, bei ihm müssen wir ge-
wissermaßen drei Stadien der Ernährung unter-
scheiden. I. Das Jugendstadium, etwa der erste
Sommer, in dem er sich ebenso ernährt wie der
junge Hecht, nämlich von den Uferformen der
Cladoceren, im zweiten und dritten Jahre dagegen
wird er nicht sogleich Raubfisch, sondern benutzt
vor allen Dingen die Amphipoden und Isopoden,
also Gammarus pulex, Carinogammarus roeselii
und Asellus aquaticus als Nahrung. Daneben
nimmt er auch Phryganidenlarven und einzelne
Molluskenarten, vor allen Dingen Bythinia. Erst
nach dem dritten Jahr wird der Barsch zum Raub-
fisch. Hier besteht insofern noch eine Unklarheit,
als es mir notwendig zu sein scheint, noch ein
viertes Stadium anzunehmen, nämlich das kurz
nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei. Man findet
nämlich in dem Darm der kleinsten Barsche
häufig Vertreter aus der Algengruppe der Konjur
gaten, die zur Familie der Desmidiaceen gehören.
So wurden von mir Closteriumarten gefunden.
Zuweilen finden sich auch Protococcoideen, z. B.
Scenedesmusarten im Darm als Inhalt vor. Sollte
sich in der Tat zeigen, daß die Pflanzen als Haupt-
nahrung in dem allerjüngsten freilebenden Stadium
genommen werden, und dies nicht nur vereinzelte
Fälle sind, so würde der Barsch vier verschiedene
Ernährungstypen durchmachen. Er würde vom
Pflanzenfresser zum Phyllopodenfresser, dann zum
Amphipoden-, Isopoden- und Molluskenfresser und
schließlich zum Raubfisch werden, gerade die Er-
nährung der Jugendstadien unserer Nutzfische im
Süßwasser ist noch ziemlich unerforscht, was
wohl darauf zurückzuführen ist, daß es noch bis-
her keine Bestimmungstabellen der Jugendstadien
gibt, und eine Kennzeichnung der Larvenformen
in der Regel erst möglich ist, wenn sie die end-
gültige Körperform und vor allen Dingen bei den
Weißfischen die Afterflosse typisch ausgebildet
haben. Diese beiden Fische mögen als ein Bei-
spiel angeführt werden, wie die Ernährungsweise
in den verschiedenen Altersstadien eine verschie-
dene ist.
Der Aal, soweit er im Süßwasser lebt, mag
ein Beispiel sein für Fische, welche sich nach ihrer
Ernährungsweise in zwei verschiedene körperlich
unterschiedene Rassen trennen. Wir unterscheiden
zwei Formen des Süßwasseraals, den Breitkopf und
den Spitzkopf. Die Unterschiede in der Körper-
form sind so groß, daß man geglaubt hat, zwei
besondere Arten von Aalen unterscheiden zu
müssen. Schon von Schiemenz ist vor Jahren
behauptet worden, daß der Breitkopf sich im
wesentlichen als Raubfisch von anderen Fischen
ernähre, während der Spitzkopf von niederen
Tieren, vor allem der Larve der Zuckmücke
(Chironomus), dem Schlammröhrenwurm (Tubifex)
und Mollusken wie Sphaerium, Gulnaria und
Dreissensia lebe. Es hat sich hierüber in der
Fischereibiologie ein heftiger Streit entsponnen,
welcher schließlich der Schiemenzschen Ansicht
zum Siege verhelfen hat.
Auch der Uklei ist in zwei verschiedene
Ernährungsformen zu trennen.
Die eine Form ist durch ihren Aufenthalt in
Flüssen und in der Uferregion der Seen gekenn-
zeichnet. Sie ernährt sich vorwiegend von der
sog. Luftnahrung, d. h. von den in das Wasser
fallenden Luftinsekfen, eine andere Form lebt im
freien Wasser der Seen und lebt ausschließlich
von planktonischen Organismen.
Als ein Beispiel für Fische, die als Individuen
selbst mit der Nahrung wechseln, erwähne ich
die Plötze und in geringem Maße auch die Rot-
feder. Beide nehmen als Hauptnahrung sowohl
pflanzliche Organismen als auch — vor allem die
Plötze — tierische Organismen und zwar in allen
Altersstadien auf. Ich hatte bereits gesagt, daß
N. F. XX. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
vor allem als pflanzliche Nahrung die Aufwuchs-
pflanzen in Frage kommen, als tierische Nahrung
kommen im wesentlichen einige Mollusken, be-
sonders Valvata piscinalis und Sphaerium in
Betracht.
Es geht also aus dem Gesagten hervor, daß
die Nahrung unserer Fische nicht einfach derart
ist, daß sie alles fressen, was ihnen vor ihr IVIaul
kommt, sondern, daß sie eine Auswahl treffen.
Weiter geht aber noch hervor, daß das so viel
gepriesene Plankton, dem man früher eine so
überragende Rolle für die Ernährung unserer Fische
zuschrieb, diese Rolle durchaus nicht spielt. E)s
sind eigentlich nur verhältnismäßige wenige Fisch-
arten, die wir als Planktonfresser bezeichnen können.
Das sind außer dem erwähnten Uklei des freien
Wassers vor allem die kleine Maräne, der Stint
und der junge Zander, während der erwachsene
Zander vom Raub anderer Fische, im wesentlichen
des Stintes lebt. In Süddeutschland sind einige
Coregonenarten Planktonfresser. Aber auch das
Plankton wird nicht beliebig gefressen, sondern es
wird auch hier eine Auswahl unter den Orga-
nismen getroffen ; so findet man in manchen
Seen in dem Darm des Stintes reine Leptodora
hyalina-Massen , auch der junge Zander sucht
diese, wenn möglich, als einzige Hauptnahrung
auf. Aus den Untersuchungen der Fischerei-
biologen an diesen beiden Fischen wissen wir,
daß Leptodora hyalina, jener räuberische Kruster
des Planktons, durchaus nicht so selten ist, wie
man früher annahm, sondern in bestimmten
Wasserschichten sogar sehr häufig.
Das Bindeglied nun zwischen diesen höchst
organisierten Tieren des Süßwassers und den
Pflanzen bilden die Nahrungstiere, von denen ich
soeben gesprochen habe, soweit nicht direkt
Pflanzen gefressen werden. Es lag nun nahe, daß
die weiteren Untersuchungen der Hydrobiologen
sich mit dem Wege näher beschäftigten, den die
von der Pflanze produzierten organischen Be-
standteile bis zum Fischkörper zurücklegen, eine
Frage, die ja von großer praktischer Bedeutung
ist. In der Tat hat sich eine Reihe von Unter-
suchungen mit der Frage nach der Nahrung der
Fischnährtiere beschäftigt. Vorangegangen ist
hier wieder die marine Hydrobiologie. Aber
auch die Süßwasserforschung hat sich neuerdings
dieser Frage zugewandt, und es hat sich, soweit
sich die bisher spärlichen Resultate verallge-
meinern lassen, gezeigt, daß der Weg von der
Pflanze zum Fischkörper im allgemeinen kein so
überaus komplizierter ist, wie man vielleicht an-
nehmen könnte.') Ein großer Teil der Fischnähr-
tiere lebt direkt von pflanzlichen Stoffen, so daß
nur eine Zwischenstufe besteht. Ein anderer Teil
dagegen lebt von tierischen Organismen oder
deren Resten, so daß hier mehrere Zwischen-
stufen vorliegen. Wir können auch die Nährtiere
der Süßwasserfische einteilen, wie es Rauschen-
pia t für die Seefische getan hat in:
Großpflanzenfresser,
Kleinpflanzenfresser,
Tierfresser :
a) Räuber,
b) Aasfresser,
Pianktonzehrer,
Detrituszehrer.
Zu den Großpflanzenfressern gehören nach
unseren Untersuchungen die Gammariden, zu den
Kleinpflanzenfressern oder, wie ich besser sagen
möchte, Aufwuchsfressern einzelne Arten von
Ephemeriden, Stylaria lacustris, Sida cristallina,
und in einzelnen Gewässern die Wasserassel,
Asellus aquaticus, zu den Räubern die Leptodora
hyalina und Corixa striata, zu den Aasfressern
können unter Umständen sowohl Gammariden
wie Asellus werden, konstante Aasfresser sind
noch nicht unter den Fischnährtieren bekannt ge-
worden. Die Gruppe der Pianktonzehrer könnte
vielleicht besser aufgeteilt werden, in die Tier-
und Kleinpflanzenfresser. Als Detrituszehrer
möchte Einar Naumann") einzelne Cladozeren
des Plantons betrachten. Schiemenz führt
hier auch die Chironomuslarven auf, soweit sie
zu den Schlammbewohnern gehören.
Eins geht jedenfalls aus den bisherigen Unter-
suchungen hervor, daß nämlich die Ernährungs-
verhältnisse der niederen Wassertiere durchaus
nicht so einfach liegen, wie man bisher anzu-
nehmen geneigt war.
') Willer, A., Fischerei-Zeitung Bd. 22, Nr. 48.
'') Kestkrift utvigea av Lunds Universitet vid dess TrS-
hundrafemtioärsjubileum 1918, Lund und Leipzig.
Einzelberichte.
über farbloses (iuecksilberjodid.
Von diesem Stoff sind bisher nur zwei Formen
bekannt. Im allgemeinen als prächtige, rote,
quadratische Kristalle bekannt, wandelt sich der
Stoff beim Erhitzen auf 126—127" i" leuchtend
gelbe rhombische Kristalle um, die beim Ab-
kühlen langsam wieder rot werden. Man hat es
hier mit einem Schulbeispiel der Enantiotropie
zu tun, das im übrigen keine Besonderheiten
bietet. Nun sind aber die Jodide der mit dem
Quecksilber in die gleiche Gruppe gehörenden
Metalle Cadmium und Zink farblos, und es
ist bisher in keiner Weise eine Farbigkeit wie
die der Quecksilberverbindung bekannt geworden.
Tammann hält nun den Analogieschluß für be-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
rechtigt, daß a u c h das Quecksilberjodid farb-
los sein könne, ebenso wie unter den geeigneten
Bedingungen auch die andern hierher gehörigen
Jodide umgekehrt farbig auftreten mögen. Den
Beweis für diese Möglichkeit hält der Forscher
für das Quecksilberjodid in der Tat für geliefert.')
Wenn er nämlich 10—20 g des Stoffes in
einem schwer schmelzbaren Glasrohre auf 300
bis 350" erhitzte, so trat, wie immer, Sieden des
Stoffes und unzersetztes Verdampfen ein. Wurde
der Dampf alsdann in eine Vorlage geleitet, in
der der Druck plötzlich auf 0,1 Atm. erniedrigt
werden konnte, so trat die Kondensation in auf-
fälliger Form ein. Der Stoff fiel dann in feinster
Verteilung „als farbloser Schnee" nieder, der in
wenigen Sekunden rosarot und nach einigen Mi-
nuten rot wurde. Mit jeder Druckerniedrigung
trat neue Schneebildung auf T a m m a n n glaubt,
daß dieser Schnee die vermutete farblose Modi-
fikation des Quecksilberjodids darstellt. Würde
man sie hinreichend abkühlen, so wäre sie viel-
leicht längere Zeit beständig, und man könnte
durch eine Bestimmung die Modifikation näher
charakterisieren und sie in Beziehung zu den
anderen bereits bekannten Formen des Stoffes
setzen. —
Für die Richtigkeit der wiedergegebenen Be-
funde bürgt ohne weiteres der Name des hervor-
ragenden Forschers. Zu ihrer Auswertung jedoch
möchte ich mir einige kritische Bemerkungen er-
fauben. Zunächst muß daran erinnert werden,
daß man das Quecksilberjodid in fast weißer
Form erhalten kann, wenn man eine ziemlich
stark alkoholische Lösung von Quecksilberchlorid
mit Kaliumjodidlösung fällt. Infolge der äußerst
feinen Verteilung des Niederschlages ist die ihm
eigentlich zukommende Farbe für uns nahezu
gleich reinem Weiß, eine Erscheinung, die ja
auch an anderen farbigen Niederschlägen be-
obachtet werden kann. Dieser anfangs gebildete
Niederschlag des gelben Jodids färbt sich dann,
zumal im Sonnenlicht, innerhalb weniger Augen-
blicke rot. Wie denn überhaupt bei jeder Aus-
fällung des Jodides zuerst immer die an und für
sich bei gewöhnlicher Temperatur unbestän-
dige gelbe Form fällt, eine auch sonst stehende
und thermodynamisch auch erklärliche Erschei-
nung. Bis zu einer genauen Bestimmung der
für die Tammann'sche Modifikation gültigen
Eigenschaften ist mithin die Möglichkeit vor-
handen, daß auch bei ihr es lediglich die feine
Korngröße des schneeigen Kondensats sei,
die dem Beobachter dieses als „weiß" erscheinen
läßt. Zumal der Umstand, daß der „farblose
Schnee" sofort in rosaroten Beschlag über-
geht, macht diese Annahme wahrscheinlich. Auf
Grund der bisherigen Erfahrung sollte mindestens
als momentane Zwischenstufe auch eine gelbe
Verfärbung auftreten. Bei Farbphänomenen
dieser Art ist, zumal in der Gruppe der ge-
') Ztschr. f. anorganische Chemie; 109, S. 213 {1920J.
nannten Metalle, weiterhin zu berücksichtigen, in
wie hohem Grade solche von Temperaturein-
flüssen abhängen; vergleiche die starke Gelb-
färbung des Zinkoxyds beim Erhitzen, die
nicht auf einer neuen Modifikation beruht! Und
schließlich ist der Schluß anfechtbar, weil Queck-
silberjodid gefärbt ist, müsse dasselbe für Cad-
mium und Zink gleichfalls gelten, und umgekehrt.
Quecksilber bildet so viel stärkst farbige Ver-
bindungen, daß es in dieser Beziehung mit den
beiden Metallen gar nicht zu vergleichen ist.
Hier liegt meines Erachtens das eigentliche
Problem. Hans Heller.
Mistel und Birubaum.
Die auffällige Erscheinung, daß die Mistel auf dem
Birnbaum im allgemeinen selten auftritt, während
der Apfelbaum eine ihrer besten Wirtspflanzen ist,
war von E.Heinrich er vor einigen Jahren auf
Grund neuer Versuche in einer Abhandlung be-
handelt worden, die in den Denkschriften der
Wiener Akademie, Math.-naturw. Kl., Bd. 93, 1916,
erschienen ist. Er hatte drei Gruppen von Birn-
bäumen mit bezug auf ihre Empfänglichkeit gegen
Mistelbefall unterschieden: echt immune, unecht
immune und nicht immune. Echt immun sind
danach solche Bäume, an denen die Mistelkeime
absterben, ohne daß an den Bäumen merkbare
Krankheitserscheinungen auftreten, unecht immun
solche, die unter der Einwirkung der Mistelkeime
einen Krankheitsprozeß durchmachen, dem aller-
dings infolge der Abstoßung von Borkenschuppen
oder ganzer Zweige auch die Misteln selbst
zum Opfer fallen, und nicht immun solche, an
denen die Mistelkeime sich weiter entwickeln,
ohne daß anfangs schädigende Einwirkungen sicht-
bar werden. Heinricher hatte u. a. beobachtet,
daß unecht immune Birnbäume sich bei einer
zweiten oder dritten Infektion (mit Ausnahme
eines noch zu besprechenden Falles) wie echt
immune verhielten, so daß das Überstehen der
ersten Infektion zu ihrer Immunisierung geführt
zu haben scheinen. Andererseits wurde an einem
Baume, auf dem von zehn ausgelegten Mistel-
samen zwei sich zu Pflanzen entwickelten, der
aber nach zwei Jahren Krankheitserscheinungen
zeigte und die Misteln wieder ausmerzte, bei er-
neuter Infektion keine Immunität festgestellt, viel-
mehr kam nunmehr eine größere Zahl von Mistel-
pflanzen als vorher zur Entwicklung, woran aller-
dings, wie die Beobachtungen der letzten Jahre
ergaben, ein Teil abstarb; wie bei der ersten In-
fektion setzten auch bei der zweiten erst um die
schon zu Büschen gewordenen Pflanzen jene Re-
aktionen ein, die zu ihrer Beseitigung führten.
Heinricher schließt nun, daß durch Pfropfung
von Zweigen dieses Birnbaumes auf WildHnge
oder andere geeignete Unterlagen sich leicht
Birnbäume würden erziehen lassen, auf denen
sich die Mistel entwickeln könnte, und er meint,
daß möglicherweise in solchen Pfropfungen eine
N. F. XX. Nr. i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
29
Erklärung gebotea wäre für die Tatsache, daß in
gewissen Gegenden, wie in der Cöte-d'Or und
in Luxemburg, die Birnbaummistel häufig sei.
Das erwähnte Absterben der Misteln falle nicht
ins Gewicht, da die Infektionen in seinen Kultur-
versuchen an jungen Bäumchen und an den Haupt-
achsen ausgeführt wurden, wo die Misteln schäd-
licher wirkten und eher der Ausmerzung unter-
lägen, als in der freien Natur, wo sie sich ge-
wöhnlich in der Krone ansiedelten ; hier ge-
fährdeten sie das Leben des Baumes und ihr
eigenes viel weniger und könnten sich leichter fort-
entwickeln. In einem der Versuche mit unecht
immunen Bäumen hat sich, wie bereits angedeutet,
herausgestellt, daß der Baum durch die erste In-
fektion noch nicht immun geworden war, daß
aber die Reaktion auf die zweite Infektion erst
nach längerer Zeit und dann sehr heftig auftrat.
Die Erscheinung war derart, daß sie nach An-
sicht Heinrichers nur durch Giftwirkung zu
erklären ist und seine Annahme von der Er-
weckung von Antitoxinen durch das Misteltoxin
zu stützen geeignet ist. „Man gewinnt den Ein-
druck, daß durch die erste Infektion im Baum ein
Antitoxin entstanden war, das zunächst die Wir-
kung des Mistelgiftes hemmte und so eine Re-
aktion verzögerte. Zwischen Antitoxin und Toxin
entbrannte gewissermaßen ein Kampf um das
Übergewicht, der endlich zugunsten des Toxins
ausfiel und dessen verzögerter, aber gründlicher
Sieg dann in der außergewöhnlich starken Re-
aktion seinen Ausdruck fand." (Zeitschrilt für
Pflanzenkrankheiten Bd. 30, 1920, S. 41 — 51).
F. Moewes.
Dauer der Spät- und Postglazialzeit.
Für die absolute Dauer der Spät- und Postglazial-
zeit und der zugehörigen Kulturen haben bekannt-
lich die hervorragenden nordischen Geologen d e
GeerundSernanderunddie deutschen Forscher
Keilhack, Penck und Menzel u. a. m. eine
Reihe von rein zahlenmäßigen Angaben aufge-
stellt, um dadurch klare Vorstellungen über das
wahre Alter und die Dauer dieses Zeitabschnittes
zu ermöglichen. Wohl hatten die von diesen
Forschern ermittelten Zahlen im wesentlichen die
Zustimmung aller in Betracht kommenden Geo-
logen gefunden. Demungeachtet sind gerade in
den letzten Jahren mehrfach von archäologischer
Seite diese Zahlen angegriffen worden. Immer
und immer wieder wurde dabei den Geologen
entgegengehalten, daß die von ihnen ermittelten
Zahlen viel zu hoch gegriffen seien und dadurch
eine gänzlich verzerrte, phantastische Vorstellung
von der Erd- und ältesten Menschengeschichte
gäben. Infolge dieser Angriffe hat neuerdings
der Eiszeitgeologe E. Werth seinerseits einmal
eine Nachprüfung dieser Zahlen unternommen.
Bei dieser Nachprüfung kommt Werth im Kor-
respondenzblatt der deutschen Gesellschaft für
Anthropologie 51, 1920, S. 7 — 10 zu einer ganzen
Reihe von neuen wertvollen Beobachtungen, welche
die Beachtung der weitesten Kreise verdienen.
Für die Dauer des Rückzuges des Eises von
der südschwedischen Eisrandlage über die mittel-
schwedische bis zur Eisscheide, d. h. bis zum
Ende der Eiszeit, hatte de . G e e r bereits auf
Grund seiner Untersuchungen der Eismeertone
5000 Jahre angenommen. Für die Postglazialzeit
selbst hatte er einen Wert von 7000 Jahren ein-
gesetzt. Mit der ersten Angabe erklärt sich
Werth einverstanden, während ihm die zweite
zu gering erscheint. In der Frage nach der Post-
glazialzeit schließt sich Werth vielmehr mit
Menzel an Keilhack an, welcher allein für
diese Zeitspanne vom Höhepunkte der Litorina-
senkung bis heute auf 7000 Jahre kommt. Der
Höhepunkt der Litorinasenkung aber deckt sich
nach unserem Wissen ziemlich genau mit der
Grenzzeit zwischen dem sog. Mesolithikum und
dem Vollneolithikum. Zu diesen 7000 Jahren
hätten wir dann noch die Zeit des Mesolithikums
hinzuzurechnen, um die absolute Zeitdauer der
Postglazialzeit zu erhalten. Für dieses Mesolithi-
kum glaubt Werth weitere 4000 Jahre annehmen
zu müssen. Damit gelangen wir dann für die
gesamte seit der südschwedischen Eisrandlage bis
heute verstrichene Zeit auf 16000 Jahre.
Dieselbe Zahl hatte bereits 1894 A. Heim
auf Grund eines experimentell für eine bestimmte
Zeitspanne festgestellten Sedimentationswertes be-
rechnet, die das die ehemalige Schwyzer Bucht
des Vierwaldstätter Sees abdämmende Delta der
Muota zu seiner Aufschüttung gebraucht hat.
Der von Heim gefundene Wert von etwa
16000 Jahren bezeichnet zugleich die Zeit, die
bis heute seit dem Penckschen sog. Bühlstadium
des sich zurückziehenden eiszeitlichen Gletschers
verflossen ist. Die zugehörigen Bühlmoränen finden
sich nach Penck und Brückner bei demjenigen
der alpinen Moränengebiete, in welchen ein typi-
sches Zentralbecken zur Ausbildung gelangt ist
(Rosenheimer Becken, Bodensee, Genfer See), erst
oberhalb dieser Becken abgelagert. Bereits 191 2
hatte es jedoch Werth wahrscheinlich zu machen
gesucht, daß der Zone dieser großen Becken im
Alpenvorlande die große, im weiteren Vorlande
des skandinavischen Gebirgsstockes sich hinziehende
Depression der Ostsee, der großen russischen
Seen und des Weißen Meeres mit der Onega-
Dwina- und Mesenbai entspricht. Wir hätten da-
mit die dem alpinen Bühlstadium entsprechenden
Moränen des nordeuropäischen diluvialen Eises
erst nördlich der Ostsee in einem der schwedischen
Endmoränenzüge zu suchen. Für das Alter der
südlichsten Gruppe derselben waren oben im
Minimum 16 000 Jahre angesetzt. Beide Zahlen-
angaben stimmen also ungefähr überein.
Auch ein absolutes Alter für den Beginn der Ab-
schmelzperiode des letzten eiszeitlichen Gletschers
in seinem Maximalstande hat Werth zu errechnen
versucht. Für die Gletscherrückzugsbewegung an
sich vom Maximalstande der letzten Vereisung
3ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2
bis zur südschwedischen Eisrandlage hat er dabei
nach dem Vorgange von Menzel 4000 Jahre
eingesetzt. In diese Zahl hatte jedoch Menzel
die zahlreichen auf diesen Weg entfallenden Still-
standslagen miteingesetzt ; ebenso hatte auch de
Geer die schwedischen Stillstandslagen ohne
Störung in seine Jahreszählungen hineingezogen.
Mit dieser Einrechnuiig der Stillstandslagen in die
4000 Jahre kann sich jedoch Werth nicht ein-
verstanden erklären. Seiner Überzeugung nach
dürfte eine derartige Einreihung für Norddeutsch-
land nicht angängig sein, da sich die schwedischen
Eisstillstandsmarken quantitativ in keiner Weise
mit den entsprechenden Bildungen in Norddeutsch-
land vergleichen lassen; nirgends in Schweden
kenne man z. B. die durch massige Häufung von
Eisrandbildungen (Endmoränenzüge) entstanden zu
denkende Moränenlandschaft (Grundmoränenland-
schaft), wie sie in Norddeutschland die beiden
baltischen Eisrandlagen in breiter Zone begleitet
und auch sonst auftritt. Diese Moränenlandschaft
stelle entweder die Marken zahlreicher unmittel-
bar aufeinanderfolgender Stillstandslagen dar oder
bezeichne die Zone einer längere Zeit oszillieren-
den Gletscherfront. Jedenfalls deute sie auf eine
ganz erhebliche Verzögerung der Gesamtrück-
gangsbewegung hin. Die Gesamtheit dieser zahl-
reichen Stillstandslagen auf den dänischen Inseln
und in Norddeutschland (bis zur äußersten Jung-
moräne) berechnet Werth auf wenigstens 4000
Jahre. Diese zu den 4000 Jahren glatter Rück-
zugsbewegung hinzugerechnet ergeben also 8000
Jahre für die Abschmelzung des Eises (der letzten
diluvialen Eiszeit) von seinem Maximalstande bis
zum südschwedischen Halt. Da dieser letztere
nach den vorhin gegebenen Zahlen 16000 Jahre
zurückliegen soll, so würde die Zeit des be-
ginnenden Rückzugs (der Beginn der Abschmelz-
periode) mit 16000 und 8000 = 24 000 Jahren
anzusetzen sein.
Mit diesen Zahlen lassen sich die von N ü e s c h
auf Grund der Ablagerungen des Schweizersbildes
bei Schaffhausen gewonnenen Daten vergleichen.
Nüesch hat hier fünf verschiedene Schichten
unterschieden, von denen die oberste 40 bis 50 cm
starke Humusschicht Metallreste der Bronze- und
Eisenzeit führte, während die tieferen Schichten
der jüngeren und die tiefsten der älteren Stein-
zeit angehörten. Nüesch schätzte nun die Bil-
dungsdauer der obersten Metallschicht gemäß dem
für die Bronzezeit angenommenen Alter auf
4000 Jahre und berechnete danach die Ablage-
rungszeit der sechsmal so starken gesamten
Schichtenfolge des Schweizersbildes auf 24000 Jahre.
Wenn wir diese Zahl nach oben zu einem Viertel-
hunderttausend abrunden, so haben wir Aussicht,
auch noch die Lokalschotter mitberechnet zu
haben, die die Kulturschichten des Schweizers-
bildes unterteufend diese von den der benachbarten
Maximalstandmoräne ausgehenden fluvioglazialen
Schottern trennen, und gelangen damit chronolo-
gisch an den Beginn der Abschmelzperiode (Spät-
glazial). Für diesen Zeitpunkt haben wir oben
24000 Jahre erhalten. Damit würde dann die
Schweizersbildsche Schätzung übereinstimmen, und
zwar nicht nur in der Gesamtzififer, sondern auch
in den Ziffern für die einzelnen betrachteten Unter-
gruppen.
Wir können demnach den Beginn der Spät-
glazialzeit rund 25000 Jahre zurückrechnen. Für
diese 25000 Jahre würde sich dann die folgende
Chronologie ergeben:
Spätglazial = Abschmelzzeit des letzteiszeitlichen
Gletschers =Magdalenien 23000 — 9000 v.Chr.
Ancylus- und Litorinaperiode = Mesolithikum
(Campignien) 9000— 5000 v. Chr.
Vollneolithikum 5000 — 2000 v. Chr.
Metallzeit 2000 v. Chr. bis heute.
Wohl weist Werth selber darauf hin, daß
den bei der Berechnung angewandten Methoden
verschiedene Mängel anhaften, und warnt deshalb
selbst, auf solche Zahlen etwa allzuviel Gewicht
zu legen. Aber einmal beruhen die Werth sehen
Angaben doch auf gesunden Grundlagen. Gerade
in der absoluten Zeitbestimmung für die Eiszeit hat
bis jetzt das subjektive Gefühl eine für die Wissen-
schaft allzu gefährliche Rolle gespielt und zu den
widersprechendsten Zahlen geführt. Dieses sub-
jektive Gefühl scheint jedoch in der Werthschen
Arbeit ausgeschaltet zu sein und dafür lediglich die
exakte Forschung zu sprechen. Derartige exakte
Angaben sind aber gerade hochwillkommen , vor
allem für die weiteren, sich für die Eiszeitfragen
interessierenden Kreise. Denn gerade für diese
ist es von besonderem Wert, wenn sie sich nicht
immer mit einer relativen Altersangabe für die
einzelnen Perioden und Kulturen zu begnügen
brauchen, sondern auch einmal absolute Zahlen
erhalten können, die ja die Verhältnisse ganz
anders klar legen als komplizierte wissenschaft-
liche Fachangaben.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Bücherbesprechungen.
Lewin, Kurt, Die Verwandtschaftsbe-
griffe in Biologie und Physik und die
Darstellung vollständiger Stamm-
bäume. Heft 5 der von Prof Schaxel
herausgegebenen Abhandlungen zur theoretischen
Biologie. Berlin 1920, Gebr. Borntraeger. 6,80 M.
In der Physik wird der Begriff der Verwandt-
schaft gewöhnlich für die chemische Affinität be-
nutzt; bisweilen werden aber auch, ohne damit
einen exakten Begriff zu verbinden, ähnliche
Erscheinungen als „verwandt" bezeichnet. Im
ersten Falle handelt es sich um die Vereinigungs-
N. F. XX. Nr. 2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
3*
fähigkeit, in diesem um die Eigenschafts-
ähnlichkeit, wobei sich sofort herausstellt, daß
diese beiden „Verwandtschaften" ganz verschiedene
Beziehungen bestimmen, da ja eben unähnliche
Gebilde sich am leichtesten chemisch zu verbinden
pflegen. — Der in der Biologie verwendete Be-
griff der Blutsverwandtschaft läßt sich mit keinem
der genannten physikalischen Verwandtschaftsbe-
griffe vergleichen; aber trotzdem gibt es auch in
der Biologie Verwandtschaftsbegriffe, welche den
Begriffen der Physik entsprechen, und zwar ent-
spricht die Fähigkeit, gemeinsame Nachkommen
zu erzeugen der chemischen Affinität und die
Typenverwandtschaft der Verwandtschaft als Eigen-
schaftsähnlichkeit. Diese Typen Verwandtschaft
gibt zugleich die „Idee des Systems", da sie nicht
nur diejenigen biologischen Gebilde umfaßt, die
infolge der geschichtlich, d. h. „zufällig" verwirk-
lichten Bedingen tatsächlich entstanden sind, sondern
alle überhaupt möglichen Organismen. Dabei
werden die Typen nach ihrer „Ableitbarkeit"
geordnet, wobei es durchaus unmotiviert erscheint,
an einer Über- und Unterordnung der Typen fest-
zuhalten. „Das Beispiel der Chemie zeigt ja, daß
man mit Sinn von derartigen Ableitungen, z. B.
der aliphatischen Verbindungen aus dem Methan
reden kann, ohne daß man die Stoffart, aus der
die Ableitung erfolgt, also das IVIethan, den abge-
leiteten StofTarten, seinen Derivaten überordnet."
— Man erhält so einen „ideellen" Stammbaum,
einen „Eigenschafts-Stammbaum", im Gegensatz
zu dem generalogischen Stammbaum, welcher die
„Existentialbeziehung" ausdrückt. —
Die Abhandlung, deren Inhalt durch obige
Sätze skizziert werden soll, entstammt einer noch
nicht veröffentlichten größeren, wissenschafts-
theoretisch vergleichenden Arbeit : Der Ordnungs-
typus der genetischen Reihen in Physik, organis-
mischer Biologie und Entwicklungsgeschichte. Die
hohe Bedeutung der vergleichenden Wissenschafts-
lehre erhellt deutlich schon aus dieser vorweg-
nehmenden Veröffentlichung, wobei gerade durch
das Aufsuchen wissenschaftstheoretischer Äqui-
valenzbeziehuugen auch die Unterschiede zwischen
den einzelnen Wissenschaften deutlicher hervor-
treten. Gerade der Begriff der „Verwandtschaft"
in der Biologie hat, besonders seitdem er von der
Deszendenztlieorie übernommen wurde, eine ver-
wirrende Vielseitigkeit erhalten, und jede Unter-
suchung ist zu begrüßen, welche, wie die vor-
liegende, versucht, diese verschiedenen „Verwandt-
schaften" zu entwirren. Vor allem aber ist die
Erkenntnis wichtig, daß Morphologie und Ab-
stammungslehre zwei durchaus getrennte Gebiete
behandeln, daß die morphologische Ableitbarkeit
einer Form aus einer anderen über den genea-
logischen Zusammenhang der beiden Formen gar
nichts aussagt, sondern daß ein solcher Zusammen-
hang immer von Fall zu Fall einzeln bewiesen
werden muß.
Zur Darstellung vollständiger Stammbäume
gibt L. bemerkenswerte Vorschläge für die Aus-
führung chronologischer Stammtafeln,
welche nicht nur die Ahnen eines Probandus,
sondern auch deren Lebensdauer, die Zeit ihrer
Eheschließung, die Zahl der Generationsfolgen und
eventuelle Generationsverluste zur Darstellung
bringen.
Zürich. M. Schips.
Jensen, B., Erleben und Erkennen. Aka-
demische Rede. 53 S. Jena 1920, Gustav
Fischer. Brosch. 3 M.
Die Rede behandelt den in neuerer Zeit wieder
viel betonten Gegensatz zwischen dem gefühls-
mäßigen, „intuitiven" Erleben und dem wissen-
schaftlichen, „nüchternen" Erkennen und kommt
zu dem Schlüsse: „Es läßt sich nur eine Art
von Erkennen nachweisen, die zu klaren, sicheren
Ergebnissen führt und daher den Namen Erkennen
mit Recht trägt. Dieser Erkenntnis erscheint
... die mannigfaltige materielle Welt und die
Fülle des Geistigen mit allen seinen Idealen als
eine untrennbare Einheit, als einheitlicher Kosmos.
Ein Gegenstand vielfältigster . .. mit allen
Gefühlen sich auswirkenden Erlebens, aber
eines einzigen, einheitlichen Erkennen s"
(S. 51). Nach J. ist nämlich nur das als wahres
Erkennen anzusehen, was sich in folgende drei
Phasen zerlegen läßt:
1. Analyse des im Erlebnis kontinuierlichen
Gedankenbildes in einzelne Komponenten
(= „Größen");
2. Feststellung der quantitativen Werte
der maßgebend beteiligten Größen und der Arten
ihrer Beteiligung an dem Zustandekommen der
zu erklärenden Erscheinungen;
3. Ermittlung der Art und Weise, wie jede
zu erklärende Erscheinung durch die maßgebend
beteiligten Größen eindeutig bestimmt ist.
Es ist klar, daß diese Analyse des Erkenntnis-
vorganges nur gilt, wo es sich um die Unter-
suchung quantitativ bestimmbarer Erschei-
nungen handelt; der Nachweis, daß sie auch für
den Bereich der bis jetzt quantitativ nicht restlos
faßbaren, als „geistig" bezeichneten Objekte maß-
gebend sei, wird in der Rede wohl versucht, kann
aber nicht als gelungen bezeichnet werden. Er
lautet (S. 24): „Geistiges kann nachweislich nie
durch Geistiges allein eindeutig bestimmt werden.
Es müssen also zu den Bedingungen, von denen
eine psychische Erscheinung abhängt, stets auch
physische Größen gehören; und das können
nur materielle Änderungen im Zentralnervensystem
sein . . . Womit sich für jedes psychische Ge-
schehen die Frage erhebt: Von welchen Nerven-
prozessen ist es abhängig, wie ist es von ihnen
abhängig und wie wird es durch sie eindeutig be-
stimmt?" Diese Argumentation dürfte sich m. E.
kaum aufrecht halten lassen. Denn wenn Geistiges
wirklich durch psychische und physische
„Größen" bestimmt ist, dann kann die Frage, wie
sie durch physische Größen eindeutig
bestimmt sei, gar nicht gestellt werden, sondern
32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
N. F. XX. Nr. 2
auch bei dieser Frage müssen psychische und
physische Faktoren berücksichtigt werden.
Der „nicht weiter auflösbare Rest", der auch in
der Auffassung Jensens bestehen bleibt (S. 26 f.)
zeigt, daß auch die qualitative Seite eines
jeden Problems neben der quantitativen nach Auf-
klärung verlangt, sofern wir von Erkenntnis im
vollen Sinne des Wortes reden wollen. Die Frage,
ob wir eine solche restlose Erkenntnis jemals er-
reichen können, ist hier belanglos; sicher ist, daß
wir sie zu erstreben haben und daß wir nicht be-
rechtigt sind, die quantitative, d. h. die gewöhnlich
so genannte „exakte" Fragestellung als allein be-
rechtigt anzusehen, wenigstens so lange nicht, als
nicht bewiesen ist, daß sich alle Qualitäten eines
Körpers bzw. eines Systems von Körpern als
Funktionen seiner Masse darstellen lassen. — Dies
andere freilich kann nie genug betont werden,
daß der Mensch zu allen Zeiten nur zu schnell
bereit war, über das „Wesen" der Dinge nachzu-
sinnen, statt in mühevoller Einzelarbeit die Dinge
erst zu „ermessen". Wir müssen auch jetzt dar-
über klar sein, daß wir noch viel zu wenig
„Physik" wissen, als daß wir mit Aussicht auf
Erfolg „Metaphysik" treiben könnten. In diesem
Sinne war es sicher verdienstlich, den Wert des
quantitativen Erkennens gegenüber dem viel ge-
priesenen „inneren Erleben" festzustellen.
Zürich. M. Schips.
Wolf, Dr. B., Landgerichtsrat, Justitiar der Staat-
lichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen,
Das Recht der Naturdenkmalpflege
in Preußen. Mit Unterstützung des Mi-
nisteriums für Wissenschaft, Kunst und Volks-
bildung und mit Benutzung amtlicher Quellen.
313 S. Berlin 1920, Gebrüder Bornträger.
Während die Rechtsverhältnisse der eigent-
lichen Denkmalpflege wiederholt eingehend be-
handelt worden sind, haben sich die Juristen um
ihre jüngere Schwester, die Naturdenkmalpflege,
weniger bekümmert. Der Gegenstand verdient
gerade in der gegenwärtigen Zeit, wo die deut-
schen Landschaftsbilder und Naturdenkmäler mehr
als je durch Ausbeutung aller Art bedroht sind,
nicht geringere Aufmerksamkeit als die Pflege der
Bau- und Kunstdenkmäler. Ohne Kenntnis der
Gesetze und Verordnungen aber, die bei der
Durchführung der Naturdenkmalpflege zu berück-
sichtigen sind, gleichen die Bestrebungen, sie im
einzelnen auszuüben, häufig dem „Jagdhund ohne
Spur". Das Buch von Dr. Wolf, das als Band 7
der von H. Conwentz herausgegebenen „Bei-
träge zur Naturdenkmalpflege" erschienen ist, gibt
hier die bisher vermißte Belehrung. Es behandelt
nach einer Übersicht über die Grundbegriffe und
die Organisation der Naturdenkmalpflege die ein-
schlägigen Verfügungen der Ministerien, Re-
gierungen, Schul- und Kirchenbehörden, General-
kommissionen usw., um dann in seinem Haupt-
teil die mit reichlichen Erläuterungen versehenen
Gesetze, die zu ihrer Ausführung bestimmten An-
weisungen sowie ein Verzeichnis der auf ihnen
beruhenden Polizeiverordnungen und Bekannt-
machungen zu geben. Die Darstellung beschränkt
sich aber nicht auf die gesetzlichen Bestimmungen,
die für die Naturdenkmalpflege im engeren Sinne
in Betracht kommen, sondern sie zieht auch alle
Vorschriften heran, die für die verwandten Ge-
biete des Heimatschutzes in Frage kommen. So
sind nicht nur die sog. Verunstaltungsgesetze von
1902 und 1907, sondern auch die für den Schutz
des Orts- und Landschaftsbildes wichtigen Vor-
schriften des neuen Wohnungsgesetzes vom 28.
März 191 8 mitgeteilt und erläutert. Sonst werden
außer dem Strafgesetzbuch u. a. Wassergesetz,
Ausgrabungsgesetz, Berggesetz, Feld- und Forst-
polizeigesetz, die Waldwirtschaftsgesetze, die Jagd-
ordnung, das Vogelschutzgesetz, Fischereigesetz,
soweit sie für den Gegenstand in Betracht kom-
men, behandelt. Im letzten Abschnitt wird die
Sicherung der Naturdenkmäler durch Rechtsge-
schäft und Enteignung erörtert. Ein sorgfältiges
alphabetisches Sachverzeichnis erleichtert das Nach-
schlagen. Alle, die sich aus Neigung oder Beruf
mit Natur- und Heimatschutz beschättigen, finden
in dem Buche wertvolle Belehrung; wer sich vor
die Lösung praktischer Fragen gestellt sieht, wird
es nicht entbehren wollen. F. Moewes.
Literatur.
Mez, Prof. Dr. C. , Das Mikroskop und seine Anwen
düng. Handbuch der praktischen Mikroskopie. 12., umge
arbeitete Aufl. Mit 495 Tcxtfig. Berlin '20, J. Springer.
Pauli, Prof. Dr. Wo., Kolloidchemie der Eiweißkörper
I. Hälfte. Mit 27 Textabb. Dresden und Leipzig '20, Th
Steinkopf. 10 M.
Penck, Prof. Dr. W. , Der Südrand der Puna de Ata
cama (NW-Argentinien). Abh. d. Math.-Phys. Kl. d. Sachs,
Akad. d. Wissensch. Bd. XXXVII, Nr. I. Mit 9 Tafeln^
I Karte und 17 Textfig. Leipzig '20, B. G. Teubner. 30 M
Lassar-Cohn, Prof. Dr., Ad. Stöckhardts Schule der
Chemie. 22. Aufl. Mit 200 Abb. u. I färb. Tafel. Braun-
schweig '20, F. Vieweg. 24 M.
Ulbricht, Dr. K., Das Kugelphotometer. München u.
Berlin '20, P. Oldenburg. 24 M.
Doflein, Prof. Dr. Fr., Mazedonische Ameisen. Mit
10 Textabb. u. 8 Tafeln. Jena '20, G. Fischer. 14 M.
Hertwig, Prof. Dr. A., Elemente der Entwicklungslehre
des Menschen und der Wirbeltiere. 6. Aufl. Mit 438 Text-
abb. Jena '20, G. Fischer. 30 M.
Walther, Prof. Dr. Joh., Vorschule der Geologie.
7. Aufl. Mit 123 Abb. Jena '20, G. Fischer. 12 M.
Inhalt: A. Willer, Aus dem Stoffhaushalt unserer Gewässer. (4 Abb.) S. 17. — Einzelberichte: G. Tammann, Über
farbloses Quecksilberchlorid. S. 27. E. Heinricher, Mistel und Birnbaum. S. 28. E. Werth, Dauer der Spät- und
Postglazialzeit. S. 29. — Bücherbesprecbungen: K. Lewin, Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und Physik und
die Darstellung vollständiger Stammbäume. S. 30. B. Jensen, Erleben und Erkennen. S. 31. B. Wolf, Das Recht
der Naturdenkmalpflege in Preußen. S. 32. — Literatur: Liste. S. 32.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Päfz'schen Buchdr, Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe 36, Band.
Sonntag, den i6. Januar 1921.
Nummer 3.
Bemerkungen zur Entstehung und Besiedlung des Trockentorfs.
[Nachdruck verboten.]
Von M. Kästner, Frankenberg i. S.
Inhaltsübersicht: a) Die veralteten Anschauungen.
b) Die Waldbodenflora als Verhinderer der Trockentorfbildung.
c) Die Waldbodentlora als Zerstörer des Trockentorfs, d) Gegen-
überstellung der alten und neuen Auffassung, e) Ergebnisse.
Die folgenden Ausführungen bringen nichts
neues. In der neuesten (3.) Auflage von E. Ra-
manns „Bodenkunde" (Berlin 191 1) kann man
S. 197, 208, 469 ff. und 475 f. fast alles hier Vor-
gebrachte in zusammengedrängter Form finden.
Wenn ich mir trotzdem erlaube, meine Beobach-
tungen zu veröffentlichen, so glaube ich dadurch
gerechtfertigt zu sein, daß in bezug auf ihren
Gegenstand selbst in Fachkreisen noch immer
veraltete Vorstellungen herrschen. Ist doch selbst
die neueste Auflage von Warming-Graeb-
ners „Lehrbuch der ökologischen Pfianzengeo-
graphie" (Berlin 1914 — 1918) in bezug auf die
Frage über die Entstehung des Trockentorfs
(Rohhumus) noch nicht über die Anschauungen
hinausgekommen, die P. E. Müller in seinem
durch gründliche Beobachtungen und vorsichtige
Urteile gleich ausgezeichneten Werke „Studien
über die natürlichen Humusformen und deren
Einwirkung auf Vegetation und Boden" (Berlin
1887) bereits in den Jahren 1878, 1884 und 1887
ausgesprochen hat. Das Gleiche gilt von
Graebners „Pflanzenwelt Deutschlands" (Leipzig
1909). Ich habe im Gegenteil den Eindruck, als
seien mehrere Ansätze zu einer neuen Betrach-
tungsweise, die sich an verschiedenen Stellen der
„Studien" finden und von denen im folgenden
noch die Rede sein wird, unbeachtet geblieben.
Nur bei R a m a n n sah ich — wie gesagt — meine
Erfahrungen bestätigt.
a) Die veralteten Anschauungen.
Bei Warming-Graebner lesen wir S. iiof.:
„Rohhumus (Trockentorf . . .) ist eine ,Torfbildung
auf dem Trocknen', eine schwarze oder schwarz-
braune, torfartige Masse, die von dicht verfilzten
Pflanzenresten, nämlich von Wurzeln, Rhizomen,
Blättern, Moosen, Pilzhyphen u. a. gebildet wird . . .
P. E. Müller spricht in der deutschen Ausgabe
seiner Studien von Heidetorf, Buchentorf, Eichen-
torf. Besonders gewisse Pflanzenarten bilden
Rohhumus, weil sie sehr dünne, zahlreiche und
stark verzweigte Wurzeln (oder Rhizoiden) aus-
bilden, die gerade an der Bodenoberfläche liegen
und die Pflanzenreste in einen dichten Filz' ver-
weben; solche Arten sind z. B. Rotbuche, Cal-
luna, Vaccinium myrtillus, Picea excelsa. Die
meisten dieser Pflanzen besitzen Mykorrhizen, die
sicher die Verfilzung befördern." „Es finden sich
in ihm nur wenige Tiere, meistens Rhizopoden
und Anguilluliden, aber keine Regenwürmer.
Rohhumus tritt im Walde besonders an den dem
Winde ausgesetzten Stellen auf, während sich der
gewöhnliche Humus mit seinen Regenwürmern
und anderen Tieren an die frischen und ge-
schützten Stellen hält ; wenn gewöhnlicher Humus
in einem Buchenwalde durch ungünstiges Holz-
fällen und ähnliches in Rohhum.us übergegangen
ist, so kann sich die Buche nicht weiter ver-
jüngen, sie verschwindet und macht in vielen
Fällen der Calluna-Heide Platz." Und noch kürzer
S. 113: „Der Übergang vom gewöhnlichen
Humusboden zu Rohhumus wird dadurch her-
vorgerufen; daß I. sich Pflanzen mit dicht ver-
filzten Wurzeln einfinden, 2. die Tiere, insbe-
sondere die Regenwürmer, verschwinden, so daß
der Boden nicht durchgearbeitet wird, 3. die
Bodenteile, namentlich die Sandkörner, zusammen-
sinken, wodurch der Boden fester und luftärmer
wird."
Ähnlich äußert sich Graebner in seiner
„Pflanzenwelt Deutschlands" S. 186 über die Ent-
stehung des Trockentorfs im Laubwald. Nachdem
er von der lockeren Lagerung des Fallaubes im
geschlossenen Walde gesprochen hat, fährt er
fort: „Sobald aber der Wald durch Ausholzung
usw. zu licht wird, sobald Sonne, Wind und Regen
direkt die Bodenoberfläche berühren, findet leicht
eine Verdichtung des Humus statt, die Verwesung
tritt, wohl infolge der plötzlichen Temperatur-
und Feuchtigkeitsschwankungen, zurück und die
Humusbildung wird ausgiebiger. Zugleich finden
sich Moose und zwar polsterbildende Arten wie
Dicranum und Leucobryuvi an, die stets schlechten
Rohhumus im Gefolge haben. Auch schon so-
bald die Bäume ohne Unterwuchs hoch und
breitkronig werden, treten infolge der Luftbe-
wegung unter ihnen usw. ähnliche Verhält-
nisse ein."
Auch für die Entstehung des Fichtentorfs
macht er a. a. O. S. 209 zunächst die Moosbil-
dung verantwortlich, indem er sagt: „Eine dicke
Moosdecke schon läßt die Verwesung zurück-
treten und befördert die Humusbildung, unter
ihr findet man stets reichlichen Humus, gebildet
aus den Resten des Mooses und dem Abfall des
Baumes." Im folgenden freilich kommt er der
hier vertretenen Ansicht sehr nahe, ohne aber zu
erkennen zu geben, daß es sich um den grund-
legenden Vorgang aller Trockentorf bildung
handelt. „Aber", fährt er fort, „auch ohne viel
Moos, wenn letzteres z. B. in sehr dichten (dunklen
u
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
Fichten-)Wäldern zurücktritt, geht im Nadelwalde
oft eine ganz andere Humusbildung vor sich, als
im Laubwalde. Es scheint überhaupt, als ob die
Nadelstreu (wohl wegen des Harzgehaltes) sich
schwerer zersetzt als die meiste Laubstreu, auch
auf den Haufen in Gärten bleibt ihre Struktur
länger erhalten . . . Das Zurücktreten der Ver-
. wesung gegenüber der Humusbildung braucht
nur gering zu sein, es braucht nur wenig mehr
Humus alljährlich erzeugt zu werden, als durch
die Tätigkeit der Verwesungsorganismen ver-
arbeitet wird, als in die anorganischen Rohstoffe
inkl. Kohlensäure und Wasser aufgelöst wird, so
bringt diese wenn auch zunächst nur unbe-
deutende Ansammlung von Humus bald sekun-
däre Erscheinungen mit sich. Der Humus wird
bald sauer, durch mehr oder weniger starken Ver-
lust der Struktur setzt er sich fest zusammen,
namentlich bei dem jetzt erfolgenden Zurück-
treten der den Boden durchwühlenden Tiere, der
Regenwürmer, Käfer, Käferlarven usw." Und
weiter: „Unter für die Humusbildung günstigen
Verhältnissen kann eine sehr erheblich dicke
Humusschicht auch ohne starke Moosbildung ent-
stehen, in dichten Fichtenwäldern beispielsweise
kann sie oft über 3 dm Dicke erreichen."
Die ziemlich allgemein verbreitete Ansicht
über die Entstehung des Trockentorfs geht also
dahin : Ursache der Bildung von Trockentorf ist
einesteils das Auftreten von Flachwurzlern mit
dichtem, verpilztem Wurzelgeflecht und von
Moosen, andernteils der vermehrte Zutritt von
Sonne, Wind und Regen zum Waldboden, wie
ihn Durchforstung des Waldes oder Kahlheit zur
Folge haben.
b) Die Waldbodenflora als Ver-
hinderer der Trockentorfbildung.
Dem gegenüber möchte ich betonen, daß
Trockentorf in meinem Beobachtungsgebiet ledig-
lich von den Waldbäumen gebildet wird und
zwar immer dort, wo ein Mißverhältnis besteht
zwischen der Laub- und Nadelschüttung und den
diese Abfallmassen zerstörenden Mächten. Als
solche kommen in erster Linie die meisten Gräser,
Kräuter und Stauden des Waldbodens in Frage.
Sie sind gewissermaßen die Vortruppen in dem
unübersehbar großen Heer der Mächte, deren
Aufgabe es ist, den toten Abwurf der Wald-
bäume wieder in einfachere Pflanzennährstoffe
zurückzuverwandeln. Sie leiten diese Arbeit ein,
indem sie durch ihre Wurzeln und vor allem
durch die alljährlich hervorbrechenden ober-
irdischen Triebe die Bodenstreu, die durch die
winterliche Schneedecke zusammengepreßt worden
war, wieder lockern. Wer ein einziges Mal be-
obachtet hat, welch kräftige Arbeit die jungen
Triebe von Anonone nemorosa, Rammculus
ficana, Mcrcurialis pereimis, Corydalis cava u. a.
leisten, der wird von der Bedeutung dieser Tätig-
keit für die Lockerung der Bodenstreu überzeugt
sein. — In dieser Hinsicht ist sicher auch die
Wirkung der zahllosen Sporenträger der höheren
Pilze nicht zu unterschätzen.
Auch verhindern die oberirdischen Teile der
Waldbodenflora durch ihr bloßes Dasein eine
gleichmäßige, dichte Lagerung der fallenden
Blätter und Nadeln. — Hier ist besonders der
Moose zu gedenken. Ihre Polster verhindern, wie
man in jedem Fichtenwalde beobachten kann,
ganz augenscheinlich die Erhöhung der Streu
durch neue Nadelschüttung; denn während auf
benachbarten moosfreien Stellen die verklebte
alte Streu mit einer 2 — 3 cm mächtigen Schicht
junger Fichtennadeln bedeckt ist, liegen auf dem
Moosteppich nur einzelne Nadeln verstreut. Da-
von aber, daß die Moospolster den Verlust an
Nadelstreu ausgleichen, indem sie selbst abge-
storbene Teile zur Trockentorfdecke liefern, kann
gar keine Rede sein. In dieser Hinsicht sind be-
sonders lehrreich die rundlichen, bleichgrünen
Kissen von Leucohryum glauctim. Sie vergrößern
sich mehr seitswärts als aufwärts. Auf der Seite,
nach der ein solches Kissen wächst, liegen die
bis unten mit toten Blättern dicht besetzten Moos-
stämmchen fast wagerecht. Die gesamte, bis
2 cm dicke Moosschicht ist nicht durch Rhizoiden
verfilzt. An den Stellen des Waldbodens, über
die die Pflänzchen hinweggeschritten sind, findet
man ihre weißgrauen Reste von neuem mit
Nadelstreu überdeckt. Leiicobryuni beteiligt sich
also anscheinend an der Vermehrung der trocken-
torfbildenden Masse. Aber die Restschicht ist
kaum noch '/.^ cm stark, und die Moosstämmchen
sind in kurze Stückchen zerfallen. Der Beitrag,
den sie zur Masse der toten Bodendecke liefern,
ist also gegenüber dem Fichtenabwurf nur gering-
fügig. Jedenfalls ist er wesenthch geringer als
der Verlust an Nadelstreu ausmacht, den der
Waldboden an den von lebenden Kissen besetzten
Stellen erleidet, denn dort kann sich keine Nadel-
streu halten. So kommt es auch, daß die Kissen
sich nur wenig über die ringsum wachsende
Nadelstreu erheben.
Emporheben der Laubstreu durch hervor-
brechende Triebe und Verhinderung ihres Zu-
sammensetzens durch die bereits vorhandene Wald-
bodenflora wirken in gleichem Sinne. Der Sauer-
stoff der atmosphärischen Luft erhält Zutritt zu
den Abfallmassen, so daß deren chemischer Zer-
fall beschleunigt wird. Gleichzeitig wird ver-
hindert, daß die Streudecke den Erdboden von
der atmosphärischen Luft abschließt. So erhalten
Regenwürmer und andere Bodentiere und die
Wurzeln der ausdauernden Gewächse Atemluft.
Erstere können nun ihrerseits die Zerkleinerung
der toten Pflanzenreste fortsetzen, letztere sind
nicht gezwungen, ihre Wurzeln in der obersten
Bodenschicht zusammenzudrängen und diese da-
durch zu verfilzen und so das Übel in steigendem
Maße zu verschlimmern. Durch die fast restlose
Aufarbeitung der Abfallstoffe wird auch ver-
hindert, daß der Boden saure Eigenschaften an-
nimmt, was für das pflanzliche und tierische
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
35
Leben im Waldboden vielleicht ebenso bedeutungs-
voll ist, wie die Zufuhr von Atemluft.
Was geschieht aber an den Stellen, wo die
grünen Waldbodenbewohner, diese Pioniere der
Humusaufarbeitung, fehlen? Am häufigsten tritt
dieser Fall in den Fichtenkulturen ein, wo die
Bäume so dicht stehen, daß der Waldboden das
ganze Jahr hindurch nur äußerst spärliches Licht
empfangt. Aber auch im Buchenwalde können
die Verhältnisse so liegen, daß sich keine Boden-
flora zu entwickeln vermag. Die Beschaffenheit
des Laubdaches scheint hier zunächst nicht aus-
schlaggebend zu sein, weil sich auch bei dichte-
stem Zusammenschluß der Kronen infolge der
erst später einsetzenden Laubentfaltung zahlreiche
Frühlingspfianzen entwickeln können, deren ober-
irdische Triebe immer wieder die Laubschicht
des vorigen Jahres emporheben und durch-
brechen.
Wohl aber kann in Bodeneinsenkungen und
Schluchten das Laub zu solcher Höhe aufgehäuft
werden, daß die Frühlingspflanzen nicht zum Lichte
vordringen können. So fand ich auf dem schmalen
Gneisrücken zwischen zwei tief eingeschnittenen
Bachtälern folgende Verhältnisse. Während der
größte Teil des Bodens keine Laubdecke und in-
folgedessen auch nur eine messerrückenstarke,
schwarzbraune, dichte Humuskruste zeigte, war in
flachen Kesseln und Rinnen das Laub offenbar
unter Beteiligung des Windes um so höher auf-
gehäuft. Hier fand ich unter 15 cm lockerer,
trockener Buchenlaubstreu 10 cm Buchentorf.
Die obersten 6 cm waren geschichtet, zeigten
nach unten zu immer dunklere Töne von braun
und festere Packung und ließen mit abnehmender
Deutlichkeit Blattreste erkennen. Die unteren
4 cm zeigten sich als eine schwarzbraune, un-
deutlich geschichtete Masse, die von Buchen-
würzelchen und Pilzfäden mäßig, aber keinesfalls
so durchsetzt war, daß man auf den Gedanken
kommen konnte, ihre Dichtigkeit rühre in erster
Linie von der Durchwurzelung und Durch-
spinnung mit Pilzfäden her. Darunter befand
sich graurosae, lehmige Verwitterungserde von
Augengneis. Außer Buchensämlingen, deren
Keimwurzel durch die ganze 25 cm mächtige
Masse von Pflanzenresten hindurch den Mineral-
boden erreichte, trug der Boden keine Pflanze.
Daß zum Zustandekommen solcher Anhäufungen
geschlossener Buchenwald gehört, ist selbstver-
ständlich.
An solchen unbegrünten Stellen des Laub- und
Nadelwaldes breitet sich der Abwurf des Wald-
daches, durch Unterholz, hohes Gestände, niedriges
Geblätt, Grasbüschel, Blattkleinpflaster und Moos-
polster nicht behindert, als zusammenhängende
Decke über den Waldboden aus. Jeder Gewitter-
und Landregen, vor allem aber die Schneedecke
des Winters durchfeuchtet die Masse und drückt
sie zusammen. Im Frühjahr bleibt sie in ihrer
verdichteten Form liegen und empfängt eine neue
Auflage von Knospen, Schuppen, Blättern und
Nadeln. — Auf frischen Böden finden Pilzmycelien
hier geeignete Lebensbedingungen. Durch das
Eindringen in die Pflanzenreste heften sie diese
aneinander und erhöhen so die Dichte der Masse.
Aber weder sie noch die zahlreichen winzigen
Tierchen aus dem Geschlecht der Milben, Tausend-
füßler, Urinsekten (z. B. Campodeiden) usw., deren
einige man bei Lupenvergrößerung oder unter
dem Mikroskop in jedem ccm besonders der
jüngeren und jüngsten Schichten findet, vermögen
des Reichtums Herr zu werden.
So häufen sich die Massen Jahr für Jahr. Die
älteren Schichten zeigen immer weniger erkenn-
bare Reste von Fichtennadeln und Buchenblättern,
Die zerkleinerten Massen setzen sich um so dichter
zusammen. Ob bei dieser Zerkleinerung rein
chemische Vorgänge (Selbstzersetzung ohne oder
mit nur geringer Beteiligung des atmosphärischen
Sauerstoffs) oder mikroskopisch kleine Lebewesen
die Hauptrolle spielen, ist kaum zu entscheiden,
hat aber m. E. für die Entstehung des Trocken-
torfs nur untergeordnete Bedeutung. Jedenfalls
kann infoge der dichten Lagerung nicht genügend
Sauerstoff zugeführt werden, so daß es nicht zur
Verwesung oder Vermoderung der organischen
Verbindungen kommt, sondern eben zur Torf-
bildung. — Regenwürmer mögen sich anfangs an
der Zerkleinerung der Abfallmassen beteiligt
haben. Mit zunehmendem Abschluß des Erd-
bodens von der atmosphärischen Luft, vielleicht
auch mit zunehmendem Sauerwerden des Boden-
wassers aber gingen ihnen die Lebensbedingungen
aus.
Im ganzen erhalten wir also den Eindruck,
daß Trockentorf dann entsteht, wenn die Gesamt-
heit der humusverarbeitenden Kräfte mit der Zu-
fuhr an Abfallstoffen nicht Schritt zu halten ver-
mag^
Eine Andeutung meiner Auffassung finde ich
bereits bei M ü 1 1 e r S. 234 (auf Seite 33 in der vor-
liegenden Arbeit angeführt Ij, doch bezieht sich
die Stelle nur auf die Verarbeitung des Abwurfs
durch Gliederfüßler. Ebenso sei hier nochmals
auf die S. 33 erwähnte Arbeit Graebners über
die teilweise Entstehung des Fichtentorfs hinge-
wiesen.
c) Die Waldboden flora als Zerstörer
des Trockentorfs.
Überall, wo der Waldboden sich dauernd be-
grünen kann, unterbleibt die Trockentorfbildung. i)
Daß man trotzdem so oft unter Moospolstern und
Grasdecken Trockentorf findet, erklärt sich folgen-
dermaßen. Der Trockentorf ist auf die eben ge-
schilderte Weise im geschlossenen Walde bei Ab-
•J Vgl. dazu Müller S. 292 : „Auf frischem, namentlich
lehmigem Boden sind die offenen Stellen und die Säume der
Bestände, besonders an der Nordseite derselben mit einer
üppigen Vegetation krautartiger Pflanzen , namentlich von
Gräsern bedeeist, und eine nähere Untersuchung ergibt, daß
der Boden mit Regenwurmexkrementen bedeckt ist und sich
überhaupt in einem physikalisch günstigen Zustande befindet."
36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
Wesenheit der Bodenflora entstanden. Später
werden durch Naturgewalten oder menschliche
Eingriffe Lücken in das Walddach gerissen. Auf
den belichteten Stellen siedeln sich Moose, Gräser,
Riedgräser, Simsen, Heidekraut, Heidelbeere und
wenige andere Pflanzen wie MajantJicmum und
Trientalis an, die nur auf Trockentorf stehen. —
So fand ich in der Nähe von Frankenberg in
Sachsen in 300 m Meereshöhe und 50 m über
der nahen Zschopautalsohle auf Gneisboden im
Rest eines ehemals ausgedehnteren Buchenwaldes,
dem einzelne Fichten eingestreut sind, in einer
flachen Mulde unter lockerer oder wenig verklebter
Laub- und Nadelstreu 5—8 cm schwarzbraunen,
fest zusammengebackenen, wenig durchwurzelten
Trockentorf auf hellgelbem Lößlehm, der mit ein-
zelnen Stöcken von Calamagrostis aritiidi/iacca,
Aira flcxitosa, Athyrhnn Füix fcmina, kleinen
Flecken von Vaccimnin myrtülits und gerade in
diesem Jahre (Ende Mai 1919) zahllosen Keim-
pflanzen der Rotbuche besetzt war. Beim Aus-
graben der Calamagrosfis-^Vi%c\\A zeigte sich der
Trockentorf im Bereich des dichten Wurzelschopfes
völlig aufgelockert, während er in der unmittel-
baren Umgebung der Pflanzen unversehrt war.
Die gleiche Erscheinung konnte ich unter den
Pelzen von Aira flexuosa feststellen. Hier war
an ringförmigen Stöcken *) der Trockentorf unter
der leeren Mitte des Ringes tiefer hinab zerstört
als unter den lebenden Teilen. Die Stöcke des
Frauenfarns Athyrium Filix feviina zeigten zwi-
schen der Hauptmasse ihres dicht zusammenge-
faßten, schwarzen Wurzelschopfes keinen Trocken-
torf. Derselbe reichte in ungelockertem Zustande
nur von außen heran. Die Pflanzen waren also
älter als der Trockentorf. Die stricknadeldicken
Wurzeln der Buchenkeimlinge durchsetzten die
Trockentorfschicht auf kürzestem Wege, um in
den Lößlehm zu gelangen. Die derben Grund-
achsen von Vacci)num viyrtillus lagen fast aus-
schließlich in der Bodenstreu. Von ihnen aus
gingen in größeren Abständen feinverzweigte
Faserwurzeln, die sich zwischen dem in Zersetzung
begriffenen Buchenlaub wagerecht ausbreiteten
und kleine Flächen desselben von Fünfmarkstück-
bis Handtellergröße verklebten. Mit ihrem Gewirr
hin- und hergeschlängelter Fäserchen waren sie
bei oberflächlicher Betrachung von den Blattader-
netzen, denen sie sich anschmiegten, kaum zu
unterscheiden. Den jährlichen Zuwachs der
Grundachsen stellte ich mit 30 und mehr cm
fest : bei der geringen oberirdischen Vergrößerung
eine ganz beträchtliche Leistung. Dabei lagen
die neuen Triebe oft dicht neben den alten oder
verzweigten sich fischgrätenartig, so daß auch
hier der Gedanke der Trockentorflockerung nicht
ganz von der Hand zu weisen ist. Den feuchten
') Die Pflanze verjüngt sich immer wieder dadurch, daß
aus den niederliegenden Grundgliedern der alten Halme neue
Triebe nach aufien und oben wachsen. Dabei stirbt der
Stock im Innern allmählich ab, so daß aus dem Büschel
schließlich ein Ring wird.
Grund der flachen Mulde deckte unter einer klei-
nen Lichtung die Flut von Carcx brizoides. Am
Rande des Bestandes ergab der Einstich 2 cm
schwarzbraunen, speckigen Trockentorf auf stren-
gem, feuchtem, weißgrau ausgebleichtem Lößlehm.
Innerhalb des Bestandes war der Torf samt den
oberen 3 cm des Lehms durch das derbe Grund-
achsengeflecht der Pflanzen ein wenig gelockert.
In der Folge habe ich diese Beobachtungen
an zahlreichen anderen Stellen der Umgebung
Frankenbergs nachgeprüft und dabei folgendes
gefunden. Im dicht geschlossenen jüngeren
Fichtenwald, wo der Lichtgenuß das ganze Jahr
hindurch so gering ist, daß sich keine Boden-
flora entwickeln kann, lag unter einer dünnen,
lockeren Nadelstreu und einer i — 2 cm hohen
Schicht krümelig zersetzter Nadeln ein dunkel-
brauner, ungeschichteter Trockentorf, der an wenig
geneigten Stellen eine Mächtigkeit bis zu 27 cm
erreichte. Der Torf macht, mit der Lupe be-
trachtet, ganz und gar nicht den Eindruck einer
.verfilzten, sondern einer sandkuchenartig zusammen-
gebackenen, mürben, dunkelbraunen Masse, die
mit zahllosen winzigen, glashellen und daher deut-
lich unterscheidbaren Quarzsplitterchen (wahr-
scheinlich Staubteilchen) vermengt ist und sich
leicht auseinanderbrechen und zerkrümeln läßt.
Erst unter dem Mikroskop erkennt man, daß auch
zarte Pilzfäden die Humusteilchen auf kurze Ent-
fernung lose miteinander verspinnen. Auf größe-
ren, noch geformten organischen Resten verdichten
sie sich oft zu zarten Geweben. — Anderwärts ist
bereits die ältere, in Zersetzung begriffene Nadel-
streu in 2 cm Mächtigkeit unter 2 — 3 cm jüngerer,
lockerer Streu durch Pilzfäden so versponnen, daß
sie sich als zusammenhängende Decke abheben
läßt. Unter solchen Decken ist dann auch der
Trockentorf etwas stärker verfilzt. Wieder an
anderen Stellen verleihen Fichtenwürzelchen mit-
tels ihrer Pilzwurzel Teilen des Trockentorfs einen
höheren Grad von Zusammenhalt, wobei seine
Gesamtdichte sehr gering sein kann. Einen Grund
für diese verschiedene Entwicklung konnte ich
nicht entdecken. Jedenfalls hing die Mächtigkeit
des Trockentorfs von dem schwächeren oder
stärkeren Auftreten von Pilzfaden oder Pilzwurzeln
nicht ab.
Unter kleinen Lücken im Walddach stellen
sich Moospolster ein. Auf frischem Boden über-
ziehen Teppiche, aus Dicramim, Brachythecinvi,
Mumm liornum u. a. gemischt, eine zentimeter-
starke alte, wohlerhaltene Nadelstreu, unter der
dunkelbrauner Fichtentorf liegt. Ein Vergleich
mit benachbarten moosfreien Stellen ergibt, daß
hier wie dort die ältere Nadelstreu von Pilzfäden
zu einer zusammenhängenden Decke versponnen
und daß auch der Trockentorf ziemlich reichlich
von ihnen durchzogen ist. Unter dem Teppich
aber ist die Erscheinung besonders innerhalb der
Nadelstreu augenscheinlich stärker entwickelt.;
Jedenfalls hält sich der Boden unter dem Moos-
teppich feuchter als ohne diesen Schutz, so daß
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
37
sich das Pilzfadengeflecht reicher entwickeln
kann. Von einer Erhöhung der Abfallstoffe durch
das Moos selber ist nichts zu sehen.
In einem schlagreifen Fichtenbestande, wo der
feinsandige Boden mit einem offenen Büschelwuchs
von Aira flexiiosa bedeckt war, hatte der dichte
Filz der zwirnfadendünnen, aber zugfesten Aira-
Wurzeln die 2 cm mächtige Trockentorfdecke
und die obenaufliegende Schicht der Halmreste
so vollständig zerkleinert, daß sich beides wie
feines Mehl leicht ausklopfen ließ. Der reine
Wurzelkörper blieb dann als eine weiche, werg-
artige Masse übrig. Im oberen Teil derselben
waren mehrere wagerecht oder aufwärts streichende
Würzelchen zu bemerken, die durch ihre hellere
Farbe und durch spinnfadenzarte, krause Wurzel-
härchen von mehr als I mm Länge auffielen
(Tauwurzeln?). Auch an den Stellen, über die
Aira Pflanzen hinweggeschritten waren , erwies
sich der Trockentorf vollständig gelockert. Von
einer Erhöhung des Humus durch ^/>(?- Reste
war nichts zu sehen, obgleich unter den lebenden
Stöcken die abgestorbenen Halme oft bis 5 cm
hoch übereinanderlagen. Diese wohlgeschichtete
Masse von Stengeln und Blattscheiden war so
locker und trocken, daß der zersetzende Sauerstoff
der atmosphärischen Luft jedenfalls leicht ein-
dringen kann. Nur einige wenige Blattscheiden-
fasern auf dem nicht mehr bedeckten Fichtentorf
deuteten an, daß Aira ehemals hier gestanden
hatte. — Das nordwärts gerichtete, aus Glimmer-,
Chlorit- und Hornblendeschiefer (hm) bestehende
linke Zschopaugehänge oberhalb der Lichtenwalder
Hofwiese trägt einen Laub- und Nadelmengwald,
der gegenwärtig stark gelichtet ist. Der flachere
Gehängeteil (20") trägt auf einer 4 — 14 cm mäch-
tigen Schicht von sandkuchenartig zusammen-
gebackenem , schwarzbraunem Trockentorf einen
offenen Großbüschelwuchs von Calamagrostis
ariindinacea mit Aira flcxiiosa, Luzula neviorosa,
Majanthemum bifoliiun und Vaccininm myrtilhis.
Unter jedem Calama^ rostis-^\i&c\\z\. ist der Trocken-
torf in Pulver umgewandelt. Bei größerer Mäch-
tigkeit des Torfs ist die Auflockerung oben gründ-
licher durchgeführt als unten, z. B. waren bei
14 cm Dicke des Trockentorfs nur die oberen
6 cm völlig zerkrümelt. Sicher spielt hierbei das
Alter des Büschels eine Rolle. Die Calainagrostis-
Pflanzen haben sich wahrscheinlich erst nach der
Lichtung des Waldes angesiedelt, und die Lichtung
besteht noch nicht so lange, daß die Wurzeln die
mächtigeren Stellen der Trockentorfdecke hätten
vollständig zerstören können. In jedem Falle
dringen sie aber bis in den Verwitterungsboden
vor. Auch Aira flcxiiosa hat erst vor wenigen
Jahren seine trockentorfauflockernde Tätigkeit
begonnen. Zunächst gewinnt man allerdings
den Eindruck, als ob die Pflanze durch ihr
ebenfalls bis in die Verwitterungserde vor-
dringendes, feines Wurzelgespinst an der Ver-
dichtung des Humus zu Trockentorf schuld wäre.
Aber zahlreiche sorgfältige Vergleiche mit benach-
barten unbesiedelten Stellen haben mich doch
davon überzeugt, daß eine wenn auch geringe
Lockerung des Trockentorfs bereits eingetreten
ist. Und außerdem beweisen ja die erwähnten
Befunde an anderen Stellen, daß die Pflanze den
Trockentoif völlig zu zermürben vermag. Sie
arbeitet eben weniger rasch als Calamagrostis, da
ihre Wurzeln wesentlich dünner sind und zunächst
auch weiter auseinanderstreben als die ihrer Stand-
ortsgenossin. Auch Luzula itemorosa und Majan-
themuin bifüliuni versuchen, mit ihren wagerecht
kriechenden Grundachsen den Trockentorf zu
lockern, halten sich aber bei dickerer Bodenstreu
mehr an diese. Anderwärts, so am rechten Steil-
gehänge (35") des Saubachtals unterhalb P'ranken-
berg habe ich aber gesehen, daß auch Luzula
ucniorosa eine 2 — 6 cm mächtige Trockentorf-
schicht aus Buchen- und Fichtenabfällen unter
I — 2 cm verklebter Laubstreu vollständig gelockert
hatte. Ebenso konnte ich am rechten Gehänge
(25 ") der Parkschlucht oberhalb Lichtenwalde be-
obachten, daß die Grundachsen von Alajaiilheinum
eine 5 cm mächtige Trockentorfschicht kreuz und
quer durchkrochen und zu zerstören im Begriff
waren. Die Laub- und Nadelstreu, an die sich
die Pflanze sonst gern hält, war hier freilich nur
I cm dick und verklebt. — Mit Trockentorf
(5 — 10 cm) ist ferner fast der ganze aus ober-
karbonischen Sandsteinen (co,) aufgebaute obere
Teil des Hofwiesengehänges oberhalb Lichtenwalde
bedeckt. Auch hier wird gegenwärtig Laub- und
Nadelmengwald künstlich verjüngt, so daß sich
Gelegenheit bietet, den Einfluß der Bloßlegung
des Waldbodens auf die Humusdecke zu unter-
suchen. Aber auch hier spricht nichts dafür, daß
der Trockendorf erst infolge der starken Lichtung
entstanden sei. Vielmehr liegen die Verhältnisse
so: Bei der Ausrodung der alten Baumwurzeln ist
die unter dem geschlossenen Walddach vorhanden
gewesene Trockentorfdecke an vielen Stellen zer-
stört worden. An solchen Orten ist der Ver-
witterungsboden nur mit einer messerrückenstarken,
schwarzen Kruste überzogen. Häufig findet sich
hier auch der schmutzigviolette, löschpapierartige
Filz der P'adenalge Zygogoiiiuiii cricetorum Ktz.
var. terrestrc Kirchn. (nach freundlicher Bestim-
mung durch Herrn Prof Dr. S c h o r 1 e r -Dresden). ')
Wo die Trockentorfdecke aber unverletzt geblieben
ist, wird sie durch Aira flexuosa zermürbt, und
zwar ist der Vorgang schon ziemlich weit fortge-
schritten. Große Flecke tragen auch Polster von
') An zahlreichen anderen Stellen meines Beobachtungs-
gebiets sind solche bei der Veijüngung aufgerissene und um-
gestürzte Waldböden je nach ihren Feuchtigkeits- und Licht-
verhältnissen mit Massenwuchs von Airaflsxuosa, Calamagrostis
ariindinacea, Luzitla nemorosa, Festuca silvatica, Carex örizoides,
Hohus molliSy Rttbus Idcieus, Senecio Fuchsii^ PrcnaiUhes purpurea,
Epilobinm angtistifoutim, Dicranella hetcromaüa u. a. bestanden.
Ich erwähne das, um nicht die Meinung aufkommen zu lassen,
als besiedelten Aira, Calamagrostis, Lmula, Carex brizoides
u. a. nur den Trockentorf. Im Gegenteil ist festzustellen, daß
sie den aufgebrochenen Waldboden ganz entschieden bevor-
zugen.
38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
Polytrichum commune. Auch unter ihnen ist der
Trockentorf etwas aufgelocl<ert , aber durch die
Rhizoiden des Mooses und durch Pilzfäden neuer-
dings verfilzt. Daß die Lockerung aber über-
wiegt, beweist der Umstand, daß iiberall junge
Pflanzen von Luzida, Aira und Festuca hetero-
pJiylla die IVIoospolster durchbrechen. Sie werden
das Moos allmählich verdrängen, den Trockentorf
völlig zerkleinern und so wieder günstigere Ver-
hältnisse für anspruchsvollere Waldpflanzen schaffen.
— Zu den Trockentorfzerstörern rechne ich ferner
Molinia coenilea und Nardiis sfricta, von denen
die erstere wohl immer, die letztere gelegentlich
auf Trockentorf wächst. Besonders schön konnte
ich ihre Wirkung feststellen auf trockenem Löß-
lehmboden am rechten Flachgehänge des sog.Stein-
bruchtälchens zwischen Frankenberg und Alten-
hain. Die Pflanzen wuchsen am Fichtenwaldrande
bei SSW- Richtung. Die Trockentorfschicht war
I cm stark und zeigte in der nächsten Umgebung
der Pflanzen deutlich das sandkuchenartige Ge-
präge. Trotzdem die groben, wenig verzweigten
Wurzeln beider Gräser nicht sehr dicht standen
— es handelte sich um kleine Stöcke — , erwies
sich der Trockentorf zwischen ihnen zermürbt,
unter den Moli>na-VQa.nzen so stark, daß man ihn
aus dem Zwischenraum zwischen oberirdischen
Trieben und den im Lößlehm steckenden Teil
der Wurzeln herausblasen konnte. Die Pflanzen
standen dann wie auf Stelzen. Die kurzen, dicht
gedrängten Reste der abgestorbenen oberirdischen
Molima-Tr\A>t waren von den geschlängelten
Wurzeln durch den gelockerten Torf hindurch bis
auf die Oberfläche des Lößlehms gezogen worden,
so daß die Reihe der Sprosse ein wenig schräg
im Trockentorf lag. Auch am rechten Flachge-
hänge des oberen SaubachtRls unterhalb Franken-
berg hatten umfängliche il/<?//;//«-Büschel mit ihren
dichtstehenden Wurzeln eine 3 — 4 cm dicke
Trockentorfschicht gut gelockert. — In noch
kräftigerer Weise durchpflügt Nardus strida lang-
sam den Trockentorf Während aber z. B. Aira
flexuosa den bei seinem Vorwärtsdrängen durch-
schrittenen Raum nicht wieder besiedelt — am
rechten Zschopaugehänge unterhalb Braunsdorf
beobachtete ich häufig, daß Calamagrostis arun-
dmacea diese Stellen besetzt — überlassen Molinia
und Nardus den einmal eroberten Boden nicht
sobald einem Nachfolger, da ihre abgestorbenen
Teile außerordentlich haltbar sind.*) — Am Butter-
berggehänge unterhalb der Lichtenwalder Schloß-
mühle (SSO) und am Braunsdorfer Gneisgehänge (S),
deren Laubholzbestände vor mehr als 15 Jahren
ebenfalls stark gelichtet, z. T. vollständig nieder-
gelegt worden sind, findet man an stark besonnten
und daher beträchtlichen Feuchtigkeitsschwankun-
gen ausgesetzten Stellen den Trockentorf zu einem
nur noch lose zusammenhängenden Pulver zer-
'J Vgl. dazu den Querschnitt durch einen .\ara'i«-Büschel
in Kästner, Wie untersuche ich einen Pflanzenverein? Samm-
lung Biol. Arbeit Heft 7, Berlin u. Leipzig bei Theodor Fisher
1919. S. 37, Abb. 28.
fallen. Im oberen, flacheren Teil des Braunsdorfer
Gneisgehänges (8 — 10*) wird ein 2 — 4 cm mäch-
tiger, nicht sehr fester Trockentorf aus dem Ab-
wurf von Birken, Eichen und Kiefern durch die
Faserwurzeln von Vaccinium niyrfilliis in der oben
geschilderten Weise zusammengesponnen. — In
ähnlicher Weise verhält sich hier Calluna, nur
daß bei ihm die kriechenden Grundachsen fehlen.
Auf lichten Stellen des Fichtenwaldes im oberen
Saubachtal stellte ich auf frischem Boden im Heide-
kraut folgenden Querschnitt fest: 3 — $ cm offenes
Gewirr hauptsächlich aus Fichten — , weniger aus
Heidekrautwürzelchen, teilweise von Pilzfaden-
häuten versponnen und locker von Hypiunn
Sclircberi gedeckt; 4 cm lockerer, grobdurch-
wurzelter Trockentorf; 4 — 5 cm fester, nicht oder
wenig durchwurzelter Trockentorf; darunter die
Erde durch hellere Töne von Braun in Bleicherde
übergehend. Da die 4 cm lockerer Torf keines-
falls erst nach der Ansiedlung des Heidekrauts
entstanden, sondern augenscheinlich alter Fichten-
torf waren, so ist nur die Deutung möglich, daß
auch hier eine Lockerung von Trockentorf vor-
liegt, und zwar durch Heidekraut. Ob das oben
aufliegende, noch gänzlich frische Gewirr von
Fichtenwürzelchen sich einmal zu Trockentorf
verdichten und so die vorhandene Masse ver-
mehren wird, vermag ich nicht zu sagen. — Auf
einer, nahen Fichtenschonung, wo vor der Neu-
bepflanzung der Trockentorf entfernt worden war,
und wo Calluna einen geschlossenen, nur durch
die Flclitenbäumchen unterbrochenen Bestand
bildet, durchdringen dessen Wurzeln die obersten
10 cm des Bodens. Sie gehen von einem kurzen,
senkrechten, sich rasch verjüngenden Erdstamm
wagerecht nach allen Seiten, ohne den mehligen
Boden zu verfilzen; vielmehr läßt sich dieser leicht
aus der wenig verzweigten Wurzelkrone heraus-
klopfen. Die Anregung zu dieser Beobachtung
verdanke ich Herrn Geh. Forstrat Dr. Vater-
Tharandt, der die Liebenswürdigkeit hatte, mir
mitzuteilen, daß Calluna sich am leichtesten und
vielleicht auch am üppigsten auf nicht zu unfrucht-
barem Boden ansiedele, der von Trockentorf
künstlich befreit worden ist
Aira, Calamagrostis, Molinia, Nardus, Carex
brizoides, Luzula nemorosa dringen also mit
ihren Wurzeln durch den Trockentorf hindurch,
bis sie den Mmeralboden erreichen, wobei Luzula
und Carex brizoides mit ihren wagerecht kriechen-
den Grundach'-en anscheinend nur schwächere,
Aira, Calamagrostis, Molinia und Nardus mit
ihren steil abwärts dringenden Wurzeln aber
auch mehr als dezimeterstarke Humusdecken zu
bewältigen vermögen. Dabei wird der Trocken-
torf nach kürzerer oder längerer Zeit vollständig
gelockert und so für anspruchsvollere Pflanzen
wieder bewohnbar gemacht. Die anderen, Heide-
kraut, Heidelbeere, Maja)itliemu7n und Trienfalis,
vermögen mit ihren flachstreichenden Grund-
achsen und Wurzeln in der lockeren Bodenstreu
ohne Zusammenhang mit dem Mineralboden zu
N. F. XX. Nr. ^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
39
leben. Häufig mag auch für die beiden letzteren
der Fall so liegen, daß sie die Nachsiedler der
oben genannten Trockentorfzerstörer, besonders
von Aira flexuosa sind. Zuweilen beteiligt sich
MaJaiiflieiJiuin an der Lockerung des Trocken-
torfs, doch kommt es bei der Kleinheit der
Pflanze und der geringen Dichte ihrer unter-
irdischen Teile nicht zu einer durchgreifenden
Wirkung. Heidekraut und Heidelbeere dagegen
verfilzen in der Regel die Bodenstreu, lockern
aber den darunterliegenden Trockentorf. Daß sie
aber von sich aus die iWasse des Trockentorfs
wesentlich vermehren könnten, indem sie immer
neuen Abwurf der Waldbäume oder ihre eigenen
Abfälle in den Verfilzungsbereich ziehen, ist mir
nicht sehr wahrscheinlich. Einmal handelt es sich
bei den Standorten dieser Pflanzen um stark ge-
lichtete Stellen, wo der Laub- oder Nadelabwurf
infolge der räumigen Stellung der Bäume stark
eingeschränkt ist, ganz abgesehen davon, daß
fallendes Laub und Genadel den Boden nicht un-
gehindert erreichen kann und so oft ein Spiel
des Windes werden wird. Sodann ist der eigene
Abfall der Pflanzen so unbedeutend, daß er kaum
in Betracht zu ziehen ist. Ob man sie daher als
Trockentorf bildner bezeichnen darf, ist mir höchst
fraglich; ich sehe in ihnen höchstens Trocken-
torferhalter, während Aira, Calamagrosiis, Moliiiia,
Nardus, Carcx brizoides und Lustda nemorosa
Trockentorfzerstörer sind. Aus keinem der beiden
Ausdrücke darf aber geschlossen werden, daß die
genannten Pflanzen auch Trockentorfanzeiger
wären. Ausgenommen hiervon ist nur Molinia.
Die übrigen gedeihen mindestens ebensogut, an-
scheinend sogar besser auf trockentorffreiem
Mineralboden.
Auch den Gedanken der Trockentorfzerstörung
durch grüne Waldbodenbewohner finde ich bei
Müller schon angedeutet, S. 49: „Sowohl in
den Silkeborger (Jüiland) als auch in den nord-
seeländischen Wäldern sieht man schon ein Jahr
oder doch jedenfalls ein paar Jahre, nachdem der
alte Buchenwald auf einem torfbekleideten Terrain
weggehauen ist, den Boden mit Aira flexuosa
vollständig bedeckt. Dieses Gras, das schon in
dem nicht ganz geschlossenen Buchenwald in zahl-
reichen isolierten Haufen vorkam, breitet sich,
wenn das volle Licht auf den Waldboden herein-
gelassen wird, zu einer zusammenhängenden Decke
aus, deren dichtes und zähes Wurzelgewebe mit
den harten nadelspitzen Ausläufern sich in das
Torf hineinbohrt und dasselbe völlig durch-
zieht . . . Ich habe den Torf an einer Stelle im
Gribskov (Seeland) untersucht, welche mit der
dichtesten und üppigsten Vegetation von Aira
flexuosa bedeckt war, und wo diese mindestens
zehn Jahre, wahrscheinlich weit länger, gestanden
hatte . . . Der Obergrund bestand aus ziemlich
stark lehmhaltigem Sande von bedeutender
Mächtigkeit und die zwischen diesem und dem
Torf liegenden Schichten haben anscheinend ganz
denselben Charakter behalten, den sie im Buchen-
walde hatten; aber das Gras erstreckte sein
Wurzelgewirr tief unter die Torfschicht, und
diese selbst hatte eine ihrer Eigentümlichkeiten
in sehr lehrreicher Weise verändert. Die schwarze
Masse war dichter, anscheinend fast strukturlos
und machte den Eindruck eines fetten Schlamms. ')
Aus der mikroskopischen Analyse ergab sich,
daß fast alle die Reste von Blättern, Knospen-
schuppen, Blüten usw., welche der frische Buchen-
torf enthält, zu einem feinen schwarzen Schlamm
umgebildet waren, in dem man zwar die Ele-
mente, welche ihn ursprünglich zusammengesetzt
hatten, noch spüren konnte, wo aber sowohl die
Buchenwurzeln wie die Abfälle fast ganz in eine
seifenartige Masse verwandelt waren. Dieselbe
enthielt, soweit ich sehen konnte, nicht einen
einzigen lebendigen Faden von dem schwarzen
Mycelium, -) aber aus einer unendlichen Menge
kleiner Bruchstücke desselben war zu ersehen,
wie stark es ausgebreitet gewesen war und wie
unverwüstlich dieses Gewebe ist; eine Reihe von
Jahren hat es nicht ganz zu zersetzen vermocht.^)
Allerdings war der Torf noch ungemein reich an
freier Humussäure und der Regenwurm fehlte
noch, aber die Schicht selber war unzweifelhaft
in einem Auflösungszustande; ihre Konsistenz und
Zähigkeit verdankte sie jetzt allein den Gras-
wurzeln, welche sie doch vielfach durchbrochen
und eine Reihe von Insektenlarven, die ich nie-
mals im Buchentorf bemerkt habe und die ohne
Zweifel das Zersetzungswerk fördern, herbei-
gerufen hatten. Ob es der Schmiele und ihrer
Fauna allmählich gelingen wird, diese Torf-
bildung zu zerstören und die Stelle wieder für
Pflanzen und Tiere bewohnbar zu machen, ist
wohl nicht mit Bestimmtheit zu sagen, kommt
mir aber doch sehr wahrscheinlich vor."
Auch der inmitten größerer ßuchentorfgebiete
auftretende „InsektenmuU", von dem Müller
S. 38 — 41 spricht, und den er zunächst „für einen
von Insekten zerteilten Torf" ansehen zu müssen
glaubt, ist wahrscheinlich erst durch die Boden-
flora gelockert worden, ehe ihn die Insekten in
Angriff nahmen, denn aus einer Bemerkung am
Schluß der Seite 40 geht hervor, daß es sich um
begrünten Waldboden handelt. „Die meisten der
Bodenpflanzen des Buchenwaldes können hier
vorkommen, wenn die Schichten größere Mächtig-
keit erreichen; doch scheint die Heidelbeere auf
einem solchen zerteilten Torf gut zu gedeihen."
d) Gegenüberstellung der alten und
neuen Auffassung.
Nach der immer noch herrschenden, P. E.
Müller zugeschriebenen Auffassung spielt bei
der Entstehung des Trockentorfs die Verfilzung
') Wahrscheiolich eine Kolge des feuchten Seeklimas.
Bei uns habe ich diese Erscheinung nicht beobachtet. K.
'^) Der Buchenpihwurzel. K.
') Aber die erhaltende Kraft des Trockentorfs war eben
infolge der Durchlüftung durch die /ijVa-Wurzel im Schwin-
den. K.
40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
der Pflanzenreste durch Wurzeln, Pilzfäden und
Moosrhizoiden die Hauptrolle. Demgegenüber ist
zu bemerken, daß Müller vornehmlich vom
Buchenwald Jütlands spricht, wo allerdings nach
seiner ausführlichen und lebendigen Schilderung
die Verfestigung der Bodenstreu durch die Pilz-
wurzel der Rotbuche so auffällig ist, daß dieser
Vorgang als Ursache der Trockentorfbildung er-
scheinen kann. Müller lehnt freilich S. 78 f.
diese Folgerung ausdrücklich ab. ')
Aber die Verwerter seiner grundlegenden
Arbeiten sind, wie die Ausführungen im Ab-
schnitt a) beweisen, weniger vorsichtig gewesen.
— Offenbar handelt es sich um einen sekundären
Vorgang. Wenn Müller zeigt, wie auf dem
„Mull" die ganze Erdkruste bis zum Untergrund
zur Ernährung der Bäume beiträgt (S. 14), wäh-
rend bei Trockentorfauflage „das unermeßliche
Gewebe" der Buchenwurzeln in dieser Deckschicht
zu einem dichten Filz zusammengedrängt ist
(S. 33), so geht daraus m. E. ohne Zweifel her-
vor, daß die Buche zu dieser Verlegung ihrer
Wurzelmasse nach oben durch die Trockentorf-
bildung gezwungen worden ist. Gewiß trägt die
Buchenwurzel mit ihrem Pilzgeflecht unter den
geschilderten Verhältnissen zur Erhaltung und
wegen ihrer schweren Zersetzbarkeit auch zur
Vermehrung der Trockentorfmasse bei, aber zuerst
muß doch der Boden durch Trockentorf anderer
Entstehung abgedichtet worden sein, ehe die
Buchen ihre Saugwurzeln aus Atemnot nach oben
zusammendrängten.
Daß es für das Verständnis aller Fragen , die
mit dem Trockentorf zusammenhängen , nicht
gleichgültig ist, ob man in seiner Verfilzung die
Ursache seiner Entstehung oder eine Folge sieht,
ergibt sich aus einer Stelle des Müll ersehen
Werkes selbst mit zwingender Logik. S. 37 sagt
er: „Die gleichförmige Decke, welche der (Buchen-)
torf oft auf große Strecken über den Waldboden
zieht, ist jedoch hin und wieder durch Flecke,
deren Vegetation einen anderen Charakter des
Bodens verrät , unterbrochen. So kann man na-
') „Wenn wir darauf aufmerksam gemacht haben, daß
der (Buchen-)Mull im wesentlichen das Gepräge von der Ar-
beit der Regenwürmer irägt, und dafi der (Buchen-)Torf
hauptsächlich durch die verbindenden Elemente, die Buchen-
wurzeln und das Pilzmycelium , seinen Charakter erhält, so
haben wir damit noch keinen Aufschluß darüber gegeben,
wodurch diese beiden Faktoren, jeder an seinem Ort, hervor-
gerufen wurden. . . Unsere Beobachtungen beginnen mit den
Strukturverhältnissen des Bodens, und erst darnach können
unsere Schlüsse beginnen. Was dagegen für die besonderen
Formen des organischen Lebens bestimmend ist, darüber be-
sitzen wir nur in den Aufschlüssen über das Vorkommen der-
selben schwache Andeutungen. , . Es ist nämlich wahrschein-
lich, daß die hervorgehobenen faunistischen und floristischen
Eigentümlichkeiten im Boden nur als der Ausdruck etnes Zu-
standes von komplizierterem Charakter und mit einer bunteren
Reihe von Voraussetzungen, als es sich überschauen ließ, auf-
gefaßt werden muß; daß sie als ein Ausdruck, der im glück-
lichsten Falle nur eins der wichtigsten Hauptmomente liefern
kann, anzusehen sind. Denn hier, wie überall in der leben-
den Natur, ist eine Erscheinung äußerst selten die einfache
Folge einer einzigen Ursache."
mentlich in den Niederungen und den kessei-
förmigen Vertiefungen teils kleine Gebüsche von
Himbeeren, teils Gruppen recht gedeihlicher
junger Buchen sehen, die durch ihre Entwicklung
und Form gegen die verkümmerten und ver-
krüppelten kleinen Buchenpflanzen, welche hin
und wieder auf dem Torf ihr Dasein fristen, deut-
lich abstechen. ... In diesen kleinen Himbeer-
gebüschen oder Gruppen von recht kräftigen
jungen Buchen habe ich nämlich ... oft einen
vortrefflichen Mull angetroffen, ohne daß es mög-
lich war, in der Beschaffenheit des Bodens selber
irgendwelchen Grund dafür zu finden, daß die
Zersetzung der organischen Reste auf diesem
Fleck . . . sich in anderer Weise als in den großen
Torfflächen, die ihn umgeben, vollziehen sollte.
Ich habe niemals . . . eine solche Mulloase unter-
sucht, ohne dort Regenwürmer, sogar in bedeu-
tender Menge zu finden, während in den angren-
zenden Strecken keine Spur von ihnen vorhanden
war." Es handelt sich offenbar um kleine Lich-
tungen im Buchenwalde, in denen es eben wegen
des Auftretens von Himbeeren usw. nicht zur
Bildung von Trockentorf kommen konnte.
Müller wird durch seine Stellung zur Frage der
Trockentorfentstehung gezwungen, solchen Oasen-
boden, der nach seinem Sprachgebrauch ganz
unzweifelhafter „Mull" ist, an anderer Stelle seines
Werkes als „mullartigen Torf' zu bezeichnen, was
natürlich ganz unhaltbar ist — m. E. ein schlagen-
der Beweis dafür, wie wichtig es ist, die primäre
Ursache der Trockentorfbildung zu kennen. Daß
Müller den naheliegenden Zusammenhang nicht
selbst ausspricht, kann ich mir nur so erklären:
In seinem Untersuchungsgebiet herrscht der durch
Buchen-Pilzwurzel verfilzte Trockentorf bei weitem
vor; in dem feuchten Seeklima Jütlands scheint
das Zusammensetzen das Buchenlaubs rascher und
auf größeren Strecken vor sich zu gehen als bei
uns; die Buchenwurzeln werden schneller in Atem-
not versetzt; so können sie in weiten Gebieten
nur an der Bodenoberfläche für die Ernährung
der Bäume tätig sein; die wenigen Stellen, wo
sich die Buchen anders verhalten, bilden Aus-
nähmen; kein Wunder, wenn dem Beobachter die
Verfilzung des Buchentorfs als zu seinem Wesen
gehörig erscheint. Auch Müller kennt (Buchen-)
„Torf ohne Wurzelmasse", doch behandelt er ihn
wegen seines selteneren Vorkommens als Abart.
Meiner Meinung nach zeigt dieser „Torf ohne
Wurzelmasse" die Entstehungsbedingungen des
Trockentorfs aber reiner als der durch Wurzeln
verfilzte. Aus dem Gesagten scheint sich doch
die Notwendigkeit zu ergeben, daß man zur Ver-
meidung von Mißverständnissen den ursprünglichen
Schüttungs- oder Lagertorf von dem nachträglich
verfilzten Torf unterscheidet. —
Ich stelle also der Auffassung, daß Trocken-
torf durch Verfilzung der Abfallmassen entstehe,
die Anschauung entgegen, daß lediglich über-
mäßige, d. h. von den zerstörenden Kräften nicht
zu bewältigende Schüttung der Laub- und Nadel-
I
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
41
bäume die Ursache der Trockentorfbildung ist.
Nebenbei gewinnen wir damit den Vorteil, die
Entstehung des Buchentorfs nicht anders erklären
zu müssen wie die des Fichtentorfs. (Vgl. dagegen
die Anführungen aus Graebners „Pflanzenwelt
Deutschlands" im Abschnitt a verliegender Ar-
beit!)
Ferner lehne ich die Ansicht ab, daß auch
Glieder der Waldbodenflora {Call/i/ia, Vacciniitm,
Carex hnzoides, Moose usw.) nennenswert an
der Bildung von Trockentorf beteiligt seien. Die
gesamte Waldbodenflora verhindert vielmehr die
Trockentorfbildung oder zerstört bereits vor-
handenen Trockentorf, auf dem sie sich bei gün-
stiger werdenden Lichtverhältnissen ansiedelt.
Callmia, Vacciiiintn und die Moospolster kommen
höchstens als Erhalter des von den Waldbäumen
erzeugten Trockentorfs in Frage. In ursprüng-
lichen Gr/fo«(7-Heiden mögen die Verhältnisse
anders liegen. Auch die Durchspinnung des
Trockentorfs mit den Mycelien der saprophytisch
lebenden Pilze bedeutet meines Erachtens in
erster Linie eine sehr langsame Zerstörung der
Waldbodendecke, die allerdings mehr chemischer
Natur ist.
Endlich ergibt sich aus den voranstehenden
Ausführungen, daß auch unvorsichtige Lichtung
des Waldes oder Kahlschlag nicht Ursache der
Trockentorfbildung werden kann. Es handelt
sich dabei nur um Verdichtung bereits vor-
handenen Trockentorfs. Das ist aber eine vorüber-
gehende Erscheinung; der freigelegte Trockentorf
wird von den Wurzeln der massenhaft sich ein-
stellenden Kahlschlagspflanzen im Laufe weniger
Jahre zerstört. Die unleugbaren Schädigungen,
die der Waldboden durch zu starkes Pläntern
oder Kahlhieb erleidet, müssen also anderswo zu
suchen sein als in unvermeidlicher Trockentorf-
bildung.
e) Ergebnisse.
1. Trockentorf wird lediglich durch den Ab-
wurf der Waldbäume, besonders der Buchen und
Fichten, gebildet und zwar immer dort, wo die
zerstörenden Kräfte die Abfallmassen nicht be-
wältigen können.
2. Da als solche Zerstörer in erster Linie die
Pflanzen des Waldbodens in Frage kommen, die
zu ihrer Entwicklung Licht brauchen, so kann
Trockentorf nur an unbegrünten Stellen des
Waldbodens entstehen, also im geschlossenen
Fichtenwalde und an solchen Stellen des Buchen-
waldes, wo das Fallaub so hoch aufgehäuft ist,
daß die Frühlingspflanzen nicht durchbrechen
können.
3. An begrünten Waldstellen kommt es nicht
zur Bildung von Trockentorf, weil einesteils die
Bodenstreu in jedem Frühjahr durch massenhaft
empordrängende Pflanzentriebe gehoben und ge-
lockert wird und weil andernteils Sträucher,
Gräser und Moospolster ein festes Zusammen-
lagern des Baumabwurfs verhindern.
4. Werden trockentorfbedeckte Waldstellen
freigelegt, so siedeln sich Gräser und Stauden an,
die mit ihren Wurzeln den Trockentorf vor allem
mechanisch zerstören. Solche Trockentorfzerstörer
sind besonders Aira flcxuosa, Calaiiiagrostis
arimdinacca, Moliuia caerulea, Nardiis strida,
Fesiuca heterophylla, Carex brizoidcs, Liiznla
iicmorosa, Alajantliemitm bifoUum.
5. Cnlluna vulgaris und Vacciuiitin myrtilhts,
die unter den gleichen Umständen besonders im
Nadelwalde auftreten, verzögern wohl die Zer-
störung des Trockentorfs durch ihre Faserwurzeln
und die sie umspinnenden Pilzfäden, lockern ihn
aber durch ihre derben Haupt- und Nebenwurzeln.
Im ganzen ist der Trockentorf unter ihnen
weniger fest und dicht als an den Stätten seiner
Entstehung, so daß doch wohl Luft und Wasser
und andere zerstörende Kräfte ihn besser an-
greifen können als an unbegrünten Stellen.
6. Moospolster, die belichtete Waldboden-
stellen besiedeln, scheinen im allgemeinen zwar
nicht die vorhandene Trockentorfdecke selbsttätig
zu lockern, setzen aber ihrer Verstärkung durch
Neuaufschüttung eine Grenze.
7. Die unter 5 und 6 genannten Pflanzen sind
mit Ausnahme von Moliuia und Majaiifhevuwi
keineswegs Trockentorfanzeiger. Vielmehr ge-
deihen sie ebensogut, wahrscheinlich sogar besser,
auch auf Mullerde {Calamagrostis, Carex bri-
zoidcs, Luzula neiiiorosa) oder auf Waldböden,
die bei der Bestandsverjüngung von der Trocken-
torfdecke befreit, aufgerissen oder umgestürzt
worden sind {Aira flcxuosa, Calluna vulgaris,
Vacciuium myrfillus, Dicraiieüa heterornalla).
8. An der Vermehrung des Trockentorfs ist
die Waldbodenflora entweder gar nicht oder so
unwesentlich beteiligt, daß der in Frage kom-
mende Betrag gegenüber den Abwurfmassen der
Bäume völlig zurücktritt.
9. Als äußerst langsam und zwar hauptsäch-
lich chemisch arbeitende Trockentorfzerstörer sind
auch die saprophytisch lebenden Pilze anzusehen.
Ihre Tätigkeit ist um so beachtlicher, als viele
von ihnen auch den Trockentorf im geschlossenen
Walde in Angriff nehmen, wohin ihnen die grüne
Waldbodenflora aus Mangel an Licht nicht zu
folgen vermag.
Bücherbesprechimgen.
Stöckhardt, Ad., Schule der Chemie. 22. Aufl.,
bearbeitet von Prof. Dr. Lassar - Co hn.
Braunschweig 1920, Friedr. Vieweg. 24 M.
geb. 32 M.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
Bücher wie dieses, das seit nunmehr beinahe
75 Jahren im Buchhandel erscheint, pflegt die
Kritik als „alte, liebe Bekannte" zu begrüßen mit
der Bemerkung, daß sie besonderer Empfehlung
nicht mehr bedürfen. Ich betone, daß in diesem
Falle der Eindruck eines alten Werkes bei mir
vorherrschend ist. Es wird immer eine Unmög-
lichkeit sein, ein Buch, das vor Jahrzehnten sehr
wohl „den Bedürfnissen seiner Zeit entsprochen
hat", im selben Geiste nur durch gelegentliche
„Bearbeitungen" über lange Zeiträume auf der
wissenschaftlicherseits zu fordernden Höhe zu
halten. Es sei denn, man treibt die Verjüngungs-
arbeit an jeder Neuauflage so weit, daß —
schließlich ein neues Buch dabei herauskommt.
In richtiger Würdigung dieser Sachlage hat denn
auch der Verlag vor einigen Jahren den Wunsch
geäußert, daß ein „ganz moderner Stöckhardt"
geschrieben werde. Das ist durch Ostwald
geschehen; und die Tatsache einer vierten
Auflage seiner „Schule" beweist schon rein äußer-
lich, daß den Bedürfnissen der Gegenwart Ost-
walds Schule entspricht. Es ist deshalb falsche
Ehrfurcht vor der inzwischen geschichtlich ge-
wordenen Leistung Stöckhardts, seine „Schule"
zum Prokrustesbett der ganzen modernen Chemie
zu machen.
Dies aber ist es, was durch die vorliegende
Neuauflage geschehen ist. Zunächst hinsichtlich
der geradezu unglaublichen Fülle des Stoffes.
Was davon geboten wird, geht weit über den
Rahmen einer „Schule", d. i. einer ersten Ein-
führung, hinaus. Nicht allein die gesamte an-
organische, sondern sämtliche Kapitel der or-
ganischen Chemie sind, neben der „Tierchemie"
und einem 2o Seiten langen „Analytischen An-
hang", der aber in keiner Weise eine syste-
matische Analyse ermöglicht!, als zum Thema
einer erzieherischen Einführung in eine begriff-
lich wahrlich nicht einfache Wissenschaft gehörig
betrachtet worden ! Was für den geringen Um-
fang der Chemie von 1846 recht war, ist aber
für 1920 nicht billig. Es heißt ein oberflächliches
Wissen um außerordentlich viel Tatsachen be-
fördern, wenn dem Schüler die Konstitutions-
formel des Chinins (S. 460) vorgesetzt (denn
sie bleibt unbegründet) wird. S o erziehen wir
Chemikanten, nicht Chemiker! Es ist mir
nicht zweifelhaft, daß die trübe Erscheinung der
chemischen Halbbildung, die zu insbesondere
pharmazeutischen Alchimistereien der unerfreu-
lichsten Art führt, dieser breiten, im Grunde aber
unendlich seichten Schulung zuzuschreiben ist.
Findet doch sogar Einsteins Theorie S. 330
ehrfürchtige Erwähnung ! !
Nicht verwunderlich ist infolgedessen derIVlangel
an exakter Erläuterung des Chemischen
schlechthin andererseits. „Wasserfreie Säuren
heißen Anhydride" (S. 162). „Das Vereini-
gungsbestreben der Atome versinnbildlicht man
durch Striche" (S. 50). „Oxydieren heißt:
einen Körper mit Sauerstoff verbinden" (S. 92) —
dies sind nur einige willkürliche Sätze über An-
gelegenheiten, die sorgfaltigster Begriffsbestim-
mung bedürfen. Die lonentheorie ist auf
einer Seite abgetan; von einer Anwendung oder
sonstigen Erwähnung findet sich nichts. In einem
Buch, das über die allerersten Anfänge fortführen
soll, das „angehende Apotheker, Landwirte" usw.
unterrichten will, unentschuldbar. Ebenso, sagen
wir; unmodern ist an der alten, ja ältesten Nomen-
klatur hängen geblieben worden. Was Wissen-
schaft und Industrie immer und immer wieder
fordern, was zumal zum Verständnis der heu-
tigen Chemiesprache unentbehrlich ist, nämlich
die folgerichtige Anwendung einer sinngemäßen
Namengebung, findet in diesem Buche nur neben-
her und nicht einmal hervortretende Behandlung.
Ja, S. 125 werden sogar Namen wie Kalium-
sulfat u. ä. als „recht überflüssig" bezeichnet!
So altertümlich wie die genannten Tatsachen
sind auch die Abbildungen des Buches. Ihre
Menge und unzweckmäßige Stilisierung be-
schweren das ohnehin viel zu umfangreiche Buch
um ein weiteres. Viele Bilder kommen doppelt
und dreifach vor, teilweise auf einander gegen-
überstehenden Seiten! So S. 130 und 131. Eine
pädagogische Geschicklichkeit vermag ich darin
nicht zu sehen.
Weitere Einzelheiten glaube ich mir nach
obigem ersparen zu dürfen. Nicht leichten Herzens
entschloß ich mich zu dieser ablehnenden
Besprechung, glaube aber, sie der Chemie und
dem angesehenen Verlage, dem wir eine große
Zahl bester Veröffentlichungen danken, schuldig
zu sein. Er hat ja einen vollwertigen Ersatz des
alten St öckhardt; möchte er sich entschließen,
künftig nur ihn erscheinen zu lassen. Unseres
Dankes darf er sich versichert halten. Hoch-
achtung vor der großen Leistung von einst!
Die Forderung des Tages aber lautet anders;
und selbst des großen Berzelius berühmtes
Lehrbuch hat das Schicksal erlebt, dem Fort-
schritt der Wissenschaft zum Opfer gefallen zu
sein . . . Hans Heller.
Pauli, Prof Dr. Wo., Kolloidchemie der
Eiweißkörper. I. Hälfte. Dresden und
Leipzig 1920, Verlag von Theodor Steinkopfif.
10 M.
Nachdem Graham in den Kolloiden jene
eigenartige Erscheinungsform der Materie kennen
gelehrt hatte, die ein scheinbar grundsätzliches
Gegenteil zu den Kristalloiden bildete, hat sich
die Forschung jener neuen Welt „der vernach-
lässigten Dimensionen" mit außergewöhnlichem
Eifer hingegeben. Die formalen Ergebnisse dieser
Arbeiten auf kolloidchemischem Gebiete zielen
nun mehr und mehr dahin, den ursprünglichen
Gegensatz zu den anderen physikochemischen
Erscheinungen verschwinden zu lassen und als
einen nur graduellen, nicht aber wesentlichen
zu demonstrieren. Den ersten Schritt hierzu tat
schon Zsigmondy, indem er Kolloide als dis-
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
43
perse Anteile von der Größe 0,i ,« bis o,i ///t
definierte und sie somit als einen Sonderfall der
Lösungen überhaupt kennzeichnete. Immer-
hin aber sind die in diesem Bereich zu verzeich-
nenden Tatsachen und Vorgänge von solcher
Eigenart, und erfordern eine von den üblichen
Methoden stark abweichende Behandlung, daß sie
ihre Sonderstellung im Gebiete der Gesamtchemie
trotz aller Versuche, sie ihnen zu nehmen, beibe-
hielten. Rein äußerlich fand dieses Verhältnis
seinen Ausdruck in der entsprechenden Literatur,
die erfahrungsgemäß dem „Chemiker" schlechthin
stets eine Art Bibliophilenangelegenheit war. In
neuester Zeit nun macht sich zunehmend eine
Bewegung bemerkbar, die die Kolloidchemie ihres
eigenartigen Charakters berauben und sie als einen
Sonderfall der allgemeinen Chemie auch dann
betrachtet wissen will, wenn unsere bisherigen
„klassischen" Vorstellungen auf kolloidchemische
Probleme nicht anwendbar zu sein scheinen.
Mit anderen Worten, man sucht eine Deutung
kolloidaler Effekte im Sinne und mit den Mitteln
der Struktur- und Elektrochemie der
echten Lösungen.
Dies mußte vorausgeschickt werden, um den
Charakter des vorliegenden Buches verständlich
zu machen. Auch Pauli nämlich, dem wir zahl-
reiche wertvolle Arbeiten auf dem im Titel ge-
nannten Gebiet verdanken, glaubt, wenn ich den
Sinn des ersten ganz vorzüglich geschriebenen
Abschnittes seiner Arbeit recht verstehe, die in
den folgenden Kapiteln niedergelegten Befunde
„mit der Strukturchemie verknüpfen" zu können.
Selbstverständlich ist dieses Bemühen an sich so
zu billigen wie jeder Versuch der Zusammen-
fassung heterogener Tatsachen unter allgemei-
nen und einheitlichen Gesichtspunkten. Aber
es darf doch nicht übersehen werden, daß solchen
Versuchen durch den Stoff selbst Grenzen
gezogen sind. Und es bestehen nun einmal, wo-
rauf insbesondere Wo. Ostwald immer wieder
eindringlich hinweist, kolloidchemische Fakten,
die einstweilen in die klassische Chemie
nicht einzureihen sind.
Sie als solche ausdrücklich betont zu finden
wird man in dem L Teil dieses Werkes ver-
missen. Es läßt mithin in diesem Betracht
unbefriedigt. Denn die vielen exakten Angaben
und Diskussionen elektrochemischer Verhältnisse
an Eiweißstoffen sind eben keine Kolloid-
chemie dieser Stoffel Obwohl ihr einzigartiger
Charakter sachlich natürlich nicht zu verkennen
ist. Ich denke an die Maxim u merscheinungen,
an den oft völligen Mangel stöchiometrischer Be-
ziehungen und schließlich daran, daß die 72 Ta-
bellen des Buches von einer Mannigfaltigkeit der
Versuchbedingungen, Methodik und damit also
von einer Unvergleichbarkeit sind, die ein-
fach einzig ist! Solange noch eine derartige
„Empirie" im behandelten Gebiet notwendig ist,
fühlt sich der Berichterstatter außerstande, den
„klassisch" gerichteten Gedanken und Absichten
des Verf. folgen zu können.
Im übrigen stört, daß absichtlich vorwiegend
die aus Paulis Laboratorium hervorgegangenen
Arbeiten behandelt werden. Sie bilden, bei aller
Wertschätzung, doch nur einen Teil der hierher
gehörenden Forschungsergebnisse. Aber dieser
Teil ist hoch bedeutsam, und für den Arbeiter
oder Liebhaber auf diesem Gebiet dürfte Paulis
Buch unentbehrlich werden. Diesem zu wünschen-
den Erfolge dient nicht allein die immer klare
und gut lesbare Darstellung, sondern auch die
vorzüglichen Abbildungen und Diagramme.
Das Buch muß also angelegentlich empfohlen
werden. Nachstehend die wichtigsten Kapitel-
überschriften: Stabilitätsbedingungen der Eiweiß-
lösungen; Elektrische Ladung von nativem lös-
lichen Eiweiß; Eigenschaften bei isoelektrischer
Reaktion; Eiweißsalze mit Säuren; desgl. mit
Basen; Zeitliche Zustandsänderungen der Alkali-
proteine; Salze des Globulins; Wanderungsge-
schwindigkeit der Proteinionen.
H. Heller.
Bavink , Dr. B., Einführung in die anor-
ganische Chemie. Sammlung Aus Natur
und Geisteswelt. Berlin und Leipzig 1920,
B. G. Teubner. 1,60 M. und Zuschlägen.
Klein, Dr. Joseph, Chemie, Anorganischer
Teil. 7., verbesserte Auflage. Sammlung
Göschen. Vereinigung wissensch. Verleger.
W. de Gruyter & Co. 2,10 M. und 100 7o-
Beide Bändchen wollen einen ersten Überblick
über das Gesamtgebiet der anorganischen Chemie
geben, setzen jedoch verschieden vorgebildete
Leser voraus. Bavink schrieb „so elementar als
möglich", setzt nur einfachsten Volksschulunter-
richt voraus und sucht seine Darstellung vor allem
auch für Volkshochschulkurse brauchbar zu machen.
Dies würde bedingen, die einfachen Grundtat-
sachen möglichst eindringlich darzulegen, von
jeder weitergehenden Vertiefung in Einzelheiten
aber abzusehen, so sehr man gerade bei völligen
Laien versucht ist, ihrem Wissensdurst durch Hin-
weis auf bekannte und wichtige Tatsachen in
Wissenschaft und Industrie entgegen zu kommen.
Der Verf. hat auf engem Raum beiden Seiten
der zweifellos schwierigen Aufgabe gerecht zu
werden versucht. So kommt leider gerade die
für den Nichtvorgebildeten wichtigste, nämlich
die experimentelle Seite etwas zu kurz; so
sehr, daß selbst für wesentlichste Versuche auf
„ein gutes Experimentierbuch" verwiesen werden
muß, z. B. S. 13. Die Notwendigkeit, fast auf
jeder Seite auf andere einführende Bücher zu ver-
weisen, muß das Studium immer beeinträchtigen,
was um so mehr zu bedauern ist, als im gan-
zen die Auswahl des Verf. in verschiedenen
Richtungen glücklich getroffen und in recht an-
genehmer Weise zur Darstellung gebracht ist.
Aber , wie gesagt , wenn überhaupt eine
wissenschaftliche Einführung ange-
44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
strebt wird, darf die Wissenschaft auf
keinen Fall vom bloßen Wissen um gewisse
chemische Erscheinungen beeinträchtigt werden.
Eine Neuauflage könnte in diesem Sinne je-
doch unschwer umgestaltet werden. Viele durch-
aus entbehrliche Einzelheiten müßten in Wegfall
kommen, so, um nur einige Beispiele zu nennen,
die Nennung der Loschmidt sehen Zahl (I) S. 27,
StoiTe wie H y d r a z i n S. 60 , Cäsium S. 86,
ferner der Anhang über Kristallsysteme
u. a. m. Ich glaube, daß das Buch dadurch nur
gewinnen wird.
Im einzelnen sei noch bemerkt: für die Salz-
bildung der Schwefelsäure auf S. 34 ist zweck-
mäßig die Umsetzung mit Zink zu streichen, mit
Rücksicht auf das Reaktionsbeispiel S. 33 unten.
— Im Literaturverzeichnis vermisse ich jegliches
Buch von Ostwald. Gerade dieser Meister
chemischer Unterrichtung sollte aber nachdrück-
lich empfohlen werden! Bücher, wie die von
Werner, Nernst(!) hingegen gehören nicht in
eine „Einführung" wie die vorliegende. —
Für einen Leserkreis mit besserer Vorbildung
schrieb Klein seinen gedrängten (und darum
nur dem höher gebildeten Schüler leicht ver-
ständlichen) Abriß, der nach einer Einleitung über
die wichtigsten Grundtatsachen in zwei große klar
disponierte Abschnitte zerlegt ist: Gesetzmäßig-
keiten und Theorien, sowie die Elemente und
ihre Verbindungen. Gut an der Darstellung ist
neben der flotten Schreibweise die scharfe For-
mulierung kennzeichnender Beispiele, von
denen vielleicht nur das auf S. 32 unten gegebene
unklar bleibt. Im übrigen zeigt das Buch selb-
ständiges Urteil in der Stoffauswahl. S. 144
möchte das „graue" Zinn Erwähnung finden als
typischer Fall der bei Metallen als Regel erkannten
Allotropieerscheinungen. Ob es richtig ist,
unter diese auch den Ionen zustand zu rechnen
(S. 42) bestreite ich. Nach den Forschungen ins-
besondere von Hantzsch müssen die Ionen als
Oxoniumsalze, mindestens aber als Kom-
plexe, d. h. Verbindungen aufgefaßt werden.
— Die nächste Auflage des Werkchens sollte
einer Durchsicht auf eindeutige und einwandfreie
Nomenklatur unterzogen werden. — Im Sinne
der so sehr erwünschten Einheitlichkeit der
Atomge Wichtsrechnungen liegt es endlich, daß
grundsätzlich nur 0=i6 zur Grundlage genom-
men wird. Die Tabelle auf S. 16 sollte längst
dementsprechend abgeändert sein.
Druck und Ausstattung des Bändchens sind
sehr gut, und so ist es für jeden, der aus irgend-
einem Grunde der anorganischen Chemie teil-
haftig werden möchte, warm zu empfehlen.
. H. Heller.
Lehmann, K. B. und Neumann, R. O., Atlas
undGrundriß derBakteriologie. 2 Teile.
6. Aufl. Lehmanns medizinische Handatlanten.
Bd. X. München, J. F. Lehmanns Verlag. 60 M.
Endlich ist dies einzigartige Lehrbuch, auf das
nicht besonders aufmerksam gemacht werden muß,
wieder neu erschienen. Wenn auch die neue
6. Auflage ein unveränderter Abdruck der 5. ist,
so ist doch ein 70 Seiten langer übersichtlicher
Nachtrag dazu gekommen, der die Fortschritte,
die während des Krieges in der Wissenschaft ge-
macht worden sind, in kurzer Form zusammen-
faßt. Allerdings ist es unverständlich, warum die
Nachträge nicht einfach an die betreffende Stelle
im Hauptteil gestellt worden sind, zumal stets
genau die Seitenzahl des Hauptteiles angegeben
ist. Dieser Formfehler hätte sich wohl leicht ver-
meiden lassen können.
Im Anhange selbst wäre es S. 750 wünschens-
wert, die Ergebnisse der Kolloidchemie ausführ-
licher behandelt zu sehen, und S. 799 vermißt
man sehr ein genaueres Eingehen auf die Much-
schen Fartialantigene. Bei S. 808 wäre ein Ein-
gehen auf die neusten Arbeiten über die Wasser-
mannsche Reaktion (z. B. Nathan u. a.) ange-
bracht. Sehr gut ist hingegen der Abschnitt über
Influenza (S. 757), Thyphus, Dysenterie und Para-
typhus (S. 763) und Cholera (S. 788). Auch das
Fleckfieber, das ja erst während des Krieges ein
gesteigertes Interesse hervorrief, ist vortrefflich,
wenn auch etwas sehr kurz, behandelt worden.
Alles in allem aber wird das Buch jeden be-
friedigen, ist es doch das einzige umfassende Lehr-
buch der bakteriologischen Diagnostik, das sich
nicht nur auf pathogene Bakterien beschränkt.
Auch die Tafeln dürfen uneingeschränktes Lob
verdienen. Collier.
Riebet, Charles, Die Anaphylaxie. Über-
setzt von J. Negrin y Lopez. Leipzig 1920,
Akadem. Verlagsgesellschaft m. b. H.
Obwohl das Buch des bekannten Pariser Physio-
logen bereits im Jahre 1913 geschrieben ist und
nur einen kurzen späteren (191 4) Nachtrag über
die durch Chloroform bedingte Anaphylaxie ent-
hält, ist doch die deutsche LTbertragung mit Freude
zu begrüßen. Der größte Mangel, und es ist wohl
der einzige, liegt nur darin, daß die 19 14— 1920
erschienene umfangreiche Literatur nicht berück-
sichtigt worden ist. Obwohl es sich in dem Werk
um eine systematische, objektive Betrachtung der
Anaphylaxie handelt, hat doch Verf, der 1902
selbst dieses Wissensgebiet zum ersten Male er-
kannte und selbst den Namen Anaphylaxie prägte,
eine große Reihe eigener, unveröffentlichter Be-
obachtungen eingeflochten. So ist das Büchlein
nicht nur eine zusammenfassende, kritische Ab-
handlung, sondern auch zugleich eine Wiedergabe
eigener Untersuchungen, und gerade dies ist es,
was die Arbeit so wertvoll macht. Sehr gut ge-
lungen sind neben den Kapiteln über die Ana-
phylaxie in der Medizin und der geschichtlichen
Einleitung der Abschnitt über die alimentäre
Anaphylaxie, der aus einem Vortrag auf dem
XVII. internationalen Kongreß für Medizin in
London hervorgegangen ist.
Die Anaphylaxie ist keineswegs nur ein für
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
45
Mediziner wichtiges Gebiet. Im Gegenteil ist es
notwendig, daß die Biologen sich in diese Pro-
bleme, die mit den Fragen der Immunitätswissen-
schaft in engstem Zusammenhange stehen, in weit
größerem Umfange vertiefen. Alle diese Gebiete
gehören ja auch eigentlich weniger zur Medizin
als zur Biologie, wie schon seit langer Zeit H. Much
erkannt hat, der sie unter dem Namen „Patho-
logische Biologie" zusammenzufassen versuchte.
So ist das Werk, das sich trotz seiner Übersetzung
durch einen äußerst guten Stil auszeichnet, nicht
nur Medizinern, sondern auch jedem biologisch
interessierten Wissenschaftler zu empfehlen, zu-
mal gerade die Anaphylaxielehre sich nicht in
kleinste Einzelheiten verliert, sondern die Zusam-
menhänge und das Wechselspiel der einzelnen
Faktoren im Körper betrachtet. Collier.
Schottler, Dr. W., Der Vogelsberg, sein
Untergrund und Oberbau. Eine gemein-
verständliche geologische Heimatkunde. Mit
4 Tafeln und 30 Textabbildungen. Braun-
schweig 1920. G. Westermann.
Das vorliegende Buch bildet das 12. Heft der
deutschen Heimatgeologie, die von Dr. C. Mord-
ziol in Verbindung mit Fachgenossen herausge-
geben wird. Das ansprechend geschriebene Werk
ist der Niederschlag jahrelanger Forschungen, die
der Verf als kartierender Landesgeologe in Vogels-
berg angestellt hat. Im Gegensatz zu den schon
vorhandenen Führern ist das Büchlein als eine
volkstümliche Heimatkunde von Oberhessen ge-
schrieben, die zugleich als Einführung in die Geo-
logie dienen kann. Untergrund und Oberbau sind
hierbei möglichst gleichmäßig berücksichtigt. Nach
einer kurzen Betrachtung der heutigen Landober-
fläche werden auf 74 Seiten die einzelnen For-
mationen vomSilur bisTertiär mit ihren organischen
Resten und Mineralschätzen behandelt, während
der größte Teil der restlichen 94 Seiten dem Auf-
bau des alten Vulkans gewidmet ist. An der
Hand guter Abbildungen werden uns die charakte-
ristischen Vorkommen der Basalte mit ihren
Schlackenagglomeraten und Tuffen vor Augen
geführt. Die Schilderung der Diluvialzeit mit
ihren eiszeitlichen Bildungen, die Entstehung des
Lösses und der Torfmoore bildet den Abschluß
des Werkes. Ein ausgedehntes Ortsverzeichnis
sowie eine Zusammenstellung der wichtigsten
geologischen Karten und Schriften über Ober-
hessen erhöhen den Wert derselben. 30 gut aus-
gewählte Textabbildungen und 4 Tafeln mit Pro-
filen erläutern aufs beste das Dargestellte. Somit
dürfte dies Werkchen nicht nur dem Naturfreunde
reiche Belehrung bieten, sondern auch dem Fach-
manne eine willkommene Gabe sein. Möge dies
treffliche Büchlein weit über die Grenzen von
Hessen hinaus Interesse und Verbreitung finden.
Haupt.
Fitschen, J., Gehölzflora. Ein Buch zum Be-
stimmen der in Deutschland und den angrenzen-
den Ländern wildwachsenden und angepflanzten
Bäume und Sträucher. Mit 342 Abb. 8 ". VIII,
221 S. Leipzig 1920, Quelle u. Meyer.
So viele Hilfsmittel uns zum Bestimmen der
einheimischen Blütenpflanzen zur Verfügung stehen :
Jeder, der sich auch mit den Gehölzen abgibt,
mußte immer wieder als empfindliche Lücke ein
Buch entbehren, das ihm ermöglichte. Bäume und
Sträucher auch im blütenlosen Zustande zu be-
stimmen, besonders aber die in Gärten, Anlagen,
Parken usw. angebauten. Diese Lücke will vor-
liegendes kleines Buch ausfüllen. Es enthält nicht
nur alle bei uns wildwachsenden Holzgewächse,
sondern auch die bei uns angepflanzten ausländi-
schen, mit Ausnahme der größeren Seltenheiten.
Dagegen sind Bastarde, Abänderungen usw. in
größerem Umfange mit angeführt. Die Anord-
nung ist die in neueren Bestimmungsbüchern
übliche dichotomische ; als Merkmale sind in erster
Linie die an beblätterten Zweigen sichtbaren, erst
in zweiter Linie die Blüten und Früchte heran-
gezogen. Eine kleine Sondertabelle behandelt die
gefülltblütigen Holzgewächse. Die Bearbeitung
ist, wie bei dem Rufe und der Erfahrung des
Verfassers nicht anders zu erwarten, sehr geschickt ;
es sind stets leicht kenntliche, scharf charakte-
risierte Merkmale herangezogen und durch klare,
charakteristische Abbildungen deutlich gemacht.
Eine Anzahl Probebestimmungen führte jetzt,
Mitte Oktober, sicher und ohne besondere Schwierig-
keiten zum Ziele. Die Ausstattung ist eine (ür
die jetzigen Verhältnisse sehr gute. So wird das
kleine Buch jedem, der mit Gehölzen zu tun hat
oder sich dafür interessiert, zur Freude gereichen
Reh.
Franz, V., Ursprüngliches in der warm-
blütigen Tierwelt der Kriegsgebiete,
in : Beiträge zur Naturdenkmalpflege , heraus-
gegeben von H. Conwentz, Band 6, Heft 3,
S. 313 — 412. Berlin 1919.
Deutschland ist an warmblütigen Tieren wesent-
lich ärmer als Rußland, die Karpathenländer und
die Balkanhalbinsel. Die Fauna des nordöstlichen
F"rankreichs, das der Verf. während des Feldzugs
aus eigener Anschauung kennen lernte, zeigt in-
folge stärkerer Besiedlung und ausgiebiger wirt-
schaftlicher Pflege des Landes zwar viel weniger
Ursprünglichkeit als diejenige Rußlands, übertrifi"t
aber an Reichtum bei weitem die Tierwelt der
meisten Gegenden Deutschlands. Den Ausdruck
„Ursprünglichkeit" möchte der Verf., zumal bei
der Fauna des Westens, allerdings in bedingtem
Sinne verstanden wissen. Er besagt nur, daß
manche Arten dort zahlreicher auftreten und sich
günstigerer Existenzbedingungen erfreuen als bei
uns. Wildkatze, Fuchs, Marder, Fischotter, Wild-
schwein, Raubvögel, Krähen, Haselhuhn, Wachtel,
wohl auch Wiedehopf, Waldschnepfe und Grau-
reiher, sind im allgemeinen in Ost- und West-
europa häufiger als in Deutschland. Für den
Osten nennt der Verf. ferner Bär, Wolf, Luchs,
46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
Wisent, Elch, Adlerarten, Uhu, Kolkrabe, Auer-
und Birkwild , weißen und schwarzen Storch,
Blaurake, für den Südosten außerdem Geier,
Kaiseradler, Edelreiher, Purpurreiher, zahlreiche
Schwimmvögel , Steinhuhn , Dohle , Zwergtrappe
und Elster. Manche Tierarten führen in den
Kriegsgebieten noch eine ursprünglichere Lebens-
weise als in Deutschland. Ob die Vorliebe der
Misteldrosseln Nordfrankreichs und Belgiens für
offenes, parkähnliches Gelände in diesem Sinne
gedeutet werden darf, ist fraglich. Sicher aber
ist die Amsel in Frankreich ebenso wie in Polen
noch der scheue Waldvogel, der sie in Deutsch-
land einst war. Im Walde brütend fand man im
Rokitnogebiet und im Urwalde von Bialowieza
den bei uns ganz an menschliche Bauwerke ge-
wöhnten Mauersegler. Auch weißer Storch und
Haussperling bevorzugen im Südosten hier und
da Bäume als Niststätten statt menschlicher Bau-
werke. Die Armut Deutschlands an größeren
wildlebenden Tieren, die nicht nur bei einem Ver-
gleich mit den östlichen Nachbarländern, sondern
auch bei einer Betrachtung Frankreichs deutlich
hervortritt, ist zweifellos eine Folge der wirt-
schaftlichen Pflege unseres Landes. „Der Fort-
schritt der Bodenkultur konnte und durfte nicht
aufgehalten werden; aber durch die schonungs-
lose Vernichtung der alten Vegetation in Wald
und Feld und durch die unmäßige, durch Prämien-
zahlungen unterstützte Verfolgung des Raubwildes
ist unsere Tierwelt mehr, als unvermeidlich war,
beeinträchtigt worden." F. Pax (Breslau).
Grossmann, Prof. Dr. H., Fremdsprachiges
Lesebuch für Chemiker. Leipzig 1920,
Verlag von Johann Ambrosius Barth. 28,20 M.
Der Verf., der während des Krieges durch
zahlreiche Veröffentlichungen über den Wirt-
schaftskampf der chemischen Industrien der krieg-
führenden Länder hervortrat, setzt seine damalige
im besten Sinne nationale Arbeit in diesem
Buche fort. Mehr denn je kommt es für unsere
chemische Wissenschaft und Industrie darauf an,
jetzt, wo man uns trotz des angeblichen „Friedens"-
zustandes von der internationalen Arbeit auszu-
schließen willens ist, zu zeigen, daß ganz gewiß
nicht w i r unter solcher wissenschaftlichen Kalt-
stellung zu leiden haben. Es erübrigt sich zu
erläutern, daß und warum die chemischen
Arbeiten Deutschlands an Umfang und Inhalt
nach wie voran erster Stelle im internationalen
Wettbewerb stehen. Um diese unsere vielbe-
neidete Stellung zu behaupten, um sie zu festigen,
ist es nötig, daß wir die Torheit der Feinde
nicht nachmachen, nämlich in falscher Über-
heblichkeit zu glauben, es geht auch ohne die
andern. Der Verf. betont in seinem Vorwort
darum mit Recht, daß es jetzt „notwendiger als
früher erscheint, daß die deutschen Chemiker in
die Lage versetzt werden, die Literatur des Aus-
landes im Original kennen zu lernen und zu ver-
stehen."
Diesem Zwecke dient das vorliegende Buch
zweifellos in anerkennenswerter Weise. In 21 Ab-
schnitten in französischer und englischer Sprache
sind Lesestücke gegeben worden, deren Thema
ausschließlich dem Gesamtgebiet der reinen und
angewandten Chemie angehört. Da zum Teil
höchst „moderne" Angelegenheiten darin abge-
handelt sind, wie z. B. „Les soies de collodion",
„Fixation of Atmospheric Nitrogen" usw., so darf
man hofifen, daß allein das textliche Interesse
eine eindringlichere Beschäftigung mit dem rein
Philologischen begünstigen wird. Um freilich die
beiden Sprachen „so weit zu beherrschen, daß
man Verhandlungen darin zu führen imstande
ist", muß weit mehr geschehen als das noch so
aufmerksame Durchlesen dieses Buches. Diese
Absicht kann nach meiner Schätzung nur durch
„gemeinschaftliche seminaristische Übungen" voll
erfüllt werden. Auf diese mußte der Verf. den
Haupt ton in seinem ein wenig flüchtig ge-
schriebenen Vorwort legen I Erst die sprach-
lichen Übungen vermögen, so wie das che-
mische Praktikum, eine einigermaßen flotte
Behandlung fremder Texte und Aussprachen zu
gewährleisten. Es ist doch leider Tatsache, daß
nur wenige unserer Chemiestudierenden genügend
Begeisterungsfähigkeit haben, um der Chemie
willen Sprachstudien zu treiben. Das Seminar
mit Gleichstrebenden könnte da Segensreiches
wirken. Und für es ist das Buch von Groß-
mann in der Tat eine sehr brauchbare und er-
quickliche Unterlage.
Ein Wörterverzeichnis ist für eine Neu-
auflage dringend zu empfehlen. Viele Kunstaus-
drücke, die übrigens in den üblichen Lexiken
großenteils fehlen, würden alsdann dem leichten
Lesen kein Hindernis mehr sein.
Im übrigen ist die Sauberkeit und Lesbarkeit
des Druckes anzuerkennen. Form und Einband
sind einwandfrei. H. Heller.
Legahn, Dr. med. A., Physiologische
Chemie II. Dissimilation. 3. verb. Aufl.
Berlin und Leipzig 1920, Vereinigg. wissensch.
Verleger, W. de Gruyter & Co. 2,ioM. u. ioo"/o.
Die in Einzelheiten sehr verbesserte Neu-
auflage hat den Charakter eines angenehm les-
baren und durch verständnisvolle Stoffauswahl
auffallenden Repetitoriums bewahrt. Als solches
wird es insbesondere Studierenden der Medizin
und Naturwissenschaftlern beste Dienste tun
können. Es sind nacheinander die Körperorgane,
der Eiweißabbau, die Exkrete, schließlich Stoff-
wechselanomalien und postmortale Zersetzungen
behandelt. Neu ist ein Kapitel über die Li-
poide. Hierzu ist zu bemerken, daß die Mem-
brantheorie von O verton keineswegs allgemein
angenommen worden ist.
Im Literaturverzeichnis sollten die in Buch-
form erschienenen Arbeiten, sowie überhaupt
einige Lehrbücher hervorgehoben werden.
H. H.
N. F. XX. Nr. 3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
47
Anregungen und Antworten.
Die Ausbreitung eines dominanten Merkmales in der freien
Natur. Den Anlaß zu den folgenden Bemerkungen bildet der
Artikel von Dr. Hugo Fischer in dieser Zeitschrift.') In
dem Hauptpunkte zwar, in der Überzeugung von der hohen
Bedeutung der Mutationen und der Orthogenesis bei der l'^ot-
stehung der Arten, stimme ich mit dem Verfasser durchaus
überein. In einem Punkte aber ist seine Auffassung richtig
zu stellen. Er nimmt nämlich an, daß ein durch Mutation
neu aufgetretenes Merkmal, wenn es nach den Mendelschen
Regeln erblich und zwar dominant ist, daß es dann bei freier
Kreuzung von selbst, d. h. ohne daß es Selektionswert be-
sitzt, sich weiter ausbreiten und „wie eine ansteckende Krank-
heit allmählich die ganze Sippe ergreifen" werde. Diese
falsche Auffassung ist mir auch sonst in der Literatur wieder-
holt begegnet. Johannsen warnt in seiner Erblichkeits-
lehre'-) davor. ,, Die Erscheinung der Dominanz hat . . . ge-
legentlich zu der irrigen Auffassung Veranlassung gegeben, es
müßte die Dominanz ein sukzessives Überwiegen dominierend
charakterisierter Individuen mitführen. Davon ist aber keine
Rede." Ebensowenig kann andererseits auch von einem all-
mählichen Verschwinden eines rezessiven Merkmales als Folge
der Mendelschen Gesetze allein, d. h. ohne Eingreifen von
Selektion die Rede sein.
Man kann sich durch eine einfache Rechnung von diesen
beiden Tatsachen überzeugen. Sie ist 1908 von Hardy^)
veröffentlicht. Ich habe die kleine Rechnung bald nach dem
Bekanntwerden der Mendelschen Gesetze ebenfalls durchge-
führt und dasselbe nur noch etwas allgemeinere Ergebnis
erhalten.
Die Aufgabe ist folgende : In einer Population tritt eine
Art in zwei Varietäten auf, die sich zunächst nur durch ein
Merkmal unterscheiden sollen. Außerdem können auch Bastarde
zwischen den beiden Varietäten vorhanden sein, die sich, wenn
vollkommene Dominanz des einen Merkmales vorliegt, von der
einen Varietät äußerlich nicht unterscheiden. Die Anzahlen
der Individuen der ersten Varietät zu denen der zweiten
Varietät zu den Bastarden verhalten sich wie p:q:x, wobei
X im speziellen auch gleich o sein kann. Die Individuen
kreuzen sich , ohne daß irgendwelche Zuchtwahl stattfindet,
d. h. nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitslehre. Für
die Vererbung des unterscheidenden Merkmales gelten die
Mendelschen Regeln. Welches ist dann das Verhältnis der
Anzahlen der Individuen reiner Rasse der ersten Varietät (P)
zu denen reiner Rasse der zweitenVarietät (Q) zu den Bastarden (X)
in der nächsten und den weiter folgenden Generationen ?
Die drei Gruppen von Individuen können auf 6 ver-
schiedene Weisen zu zweien kopulieren ; es können nämlich
gebildet werden die Kopulae PP, PQ, PX, QQ, QX, XX.
Die Wahrscheinlichkeiten dieser Kombinationen verhalten sich
nach den Regeln der elementaren Wahrscheinlichkeitslehre wie
p(p — l); 2pq :2px; q(q — l):2qx:x(x — l). Hierfür kann man,
wenn die Anzahl der vorhandenen Individuen nicht gar zu klein
ist, mit großer Annäherung setzen p-: 2pq : 2px: q- :2qx:x'^.
Nach den Mendelschen Regeln gehen nun hervor:
Aus der Kombi-
nation
PP
PQ
PX QQ QX
XX
Nachkommen in
der ersten Gene-
ration
lauter
P
lauter
X
V2P
V2.X
lauter
Q
VaQ
V,x
'/*p
V«Q
V,x
Daraus erhält man die relative Häufigkeit der verschiedenen
Individuen in der ersten Nachkommengeneration. Es ver-
halten sich die Zahl der Individuen P zu den Q zu den X wie
(p+£^(, + })^.(p + ^)(, + ^).
*) Hugo Fischer: „Orthogenesis, Mutation, Auslese."
Naturw. Wochenschr. 1920 Nr. 36.
^) W. Johannsen: , .Elemente der exakten Erblichkeits-
lehre." G. Fischer, Jena 1909, S. 378.
^) Hardy; „Mendelian Proportions in a Mixed Popu-
lation." Science N. S. 1908, Bd. 28.
Für die folgende Generation erhält man auf entsprechen-
dem Wege das Verhältnis der relativen Häufigkeiten wiederum
P 4- ^f ^ (. + 'tf - (P + I) K I). --
kommt also zu dem Ergebnis, daß schon in der ersten Nach-
kommengeneration ein Gleichgewichtszustand sich
herstellt, der bei weiterer freier Kreuzung nicht wieder ver-
lassen wird.
Zu demselben Ergebnis kommt man leicht auch, falls das
betrachtete Merkmal in drei oder beliebig vielen verschiedenen
Ausprägungen auftritt. Im besonderen vermehrt sich
nach der ersten Kreuzung die relative Häufig-
keit der d ominan tm erkm aligen Individuen nicht
weiter. Sie kann nur zunehmen, wenn das Merkmal durch
wiederholte Mutationen immer neu erzeugt wird oder wenn
es positiven Selektionswert besitzt. Johannes Reichel.
Einige Bemerkungen zu dem Aufsatz von H. Fischer
„Orthogenesis, Mutation, Auslese" (in Nr. 36, 1920, S. 561 — 566).
Über die Möglichkeit einer Artveränderung durch direkte Ein-
wirkung des Milieus zu streiten, hat wenig Zweck, da eine
sichere Entscheidung nach dem gegenwärtigen Stande der
experimentellen Forschung nicht möglich ist. Immerhin dürfte
Fischer (S. 561, Sp. 2, Z. 24) die N i c h t vererbbarkeit auch
körperlich erworbener Eigenschaften nicht als erwiesene Tat-
sache hinstellen. Er dürfte höchstens sagen, die Vererbbar-
keit derselben sei bisher nicht erwiesen, was natürlich etwas
ganz anderes ist. Wird doch mancher z. B. auf Grund der
Umfärbungsversuche Kammerers mit Salamandra (wobei nur
eine ganz geringe Spur von. Licht zu den Keimzellen dringt,
also sog. Purallelinduktion fast ausgeschlossen ist) und anderer,
experimenteller Daten diese Vererbbarkeit somatischer Merk-
male sogar für wahrscheinlich halten, wenn wir von allem
nichtexperimentellem Material absehen, auf das ja auch F. —
mit Recht — wenig Wert legt, wie aus einer Bemerkung
gegen O. Hertwig (dessen extreme Stellungnahme mit Recht
kritisiert wird) hervorgeht. Das hält F. jedoch nicht ab, als
Beispiel für die Wirkung der Auslese selbst einen nichtexperi-
meniellen, also nicht sicheren „Fall" zu verwenden (Anm.
S. 562). Daß alle Organismenarten durch irgendeine Milieu-
bedingung verändert werden müßten, noch dazu in gleichem
Sinne, hat wohl noch niemand behauptet, Fischers diesbe-
zügliche Erörterungen sind also überflüssig (S. 562, Sp. l). —
Die auf den späteren Seiten mitgeteilten Fälle von nicht
nützlichen Merkmalen — daß es solche gibt, hat schon be-
sonders Nägeli hervorgehoben (Organisationsmerkmale) —
sind allerdings kaum durch Auslesewirkung zu erklären, weniger
sicher sprechen sie gegen die sog. Vererbung erworbener
Eigenschaften. — Übrigens sind die Ansichten nicht bloß über
diese letztere, sondern auch über die von F. bevorzugte
Mutationstheorie recht verschieden. Denn das bisher beige-
brachte experimentelle Mutationsmaterial ist für die Evolution
so gut wie werllos, so daß als (noch dazu indirekte) Stütze
dieser Ansicht eigentlich nur der Mendelismus mit seinen Erb-
einheiten in Betracht kommt. — Auf Seite 562, Sp. I, Z. 8
weist F. hin auf „die Frage der Artbastarde, die allein mit
dem einfachen Mendelismus nicht aufzuklären" sei. Das ist
mindestens mißverständlich. Denn daß Artbastarde ebenfalls
mendeln, haben die Artkreuzungsversuche Baurs, Lotsys
und anderer mindestens wahrscheinlich gemacht, wenn nicht
erwiesen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um t oder 2,
sondern uro eine größere Zahl unabhängig mendelnder Fak-
toren. Vielleicht soll sich hierauf Fischers unklare Be-
merkung vom „einfachen" Mendelismus beziehen, wobei man
allerdings nicht wüßte, bei wieviel Faktoren dieser einfache
Mendelismus aufhört. — Unklar ist auch die Definition der
Orthogenesis (auf S. 563, Sp. 1, Z. 29) als „Summe erblicher
Abänderungen, die in gleicher Richtung erfolgen". Hierbei
ist nicht zu erkennen, ob gemeint ist das gleichzeitige Auf-
treten einer Reihe von Organismen, die in gleicher Weise
von der Norm abwichen, oder das Auftreten einer Reihe von
Veränderungen nacheinander, die sich in der gleichen Richtung
bewegen, bei demselben Organismus oder wenigstens in der-
48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3
selben Deszendenzreihe. Dort scheint es, als wäre beides ge-
meint (vgl. S. 563, Abschnitt 2). — Ganz verfehlt ist end-
lich der Versuch, für die Orthogenesis (im ersten Sinne) den
Mendelismus heranzuziehen (S. 563, Z. 54), auf den ich hier
nicht eingehe, da es schon von anderer Seite kritisiert wurde
(s. oben). W. Peter.
Hellsehen nnd Namenraten. Das Referat von Wa sie-
le wski über Tischners Ausführungen: ,,Über Telepathie
und Hellsehen" (diese Zeitschrift N. F. 19, Nr. 28) veranlaßt
mich, hier einige Bemerkungen vorzubringen, die auf das beim
Hellsehen stattfindende psychische Geschehen ein höchst merk-
würdiges Streiflicht werfen. Ich kenne die Originalarbeit
Tisch n er s noch nicht, kann mich also derzeit nur auf obiges
Referat stützen. In diesem steht als gelungenes Beispiel des
Hellsehens folgendes: Die Versuchsperson sagt beim Be-
trachten des verschlossenen Zettels: ,,Ganz schön geschrieben,
fremder Name" und produziert dann die Namen: Zoroa,
Zarathust, Zarastro (richtiger Name war Sarastro). Wie man
sieht, wurde der aufgegebene Name nicht völlig richtig, aber
doch mit sehr grofler Annäherung gefunden, aber — und das
ist sehr wichtig — nicht auf einmal, sondern in
stufenweisem, tastendem Heranraten erarbeitet. Ks
ist, als hätte die Versuchsperson das aufgegebene Wort an-
fangs wie im Nebel gesehen und hätten sich ihr allmählich
einzelne Buchstaben (Vokale und Konsonanten) mehr oder
' minder aufgehellt, bis das ganze Wort klar, d. h. also richtig
zum Vorschein kam.
Genau dasselbe Phänomen nun beobachtet man in
bestimmten Fällen, wenn jemand einen ihm aus dem Ge-
dächtnis entschwundenen Namen wieder aufsuchen will. Es
kann dies häufig sofort oder wenigstens plötzlich in dem
Sinne gelingen, daß nach einigem Nachdenken gleich das
richtige Wort hervorspringt, oder aber es gelingt oft überhaupt
nicht. In bestimmten Zwischenfällen jedoch kann infolge
langsamen Ablaufes des psychischen Prozesses dieser analysiert
werden, wobei es gelingt, die einzelnen Phasen dieses Vor-
ganges festzuhalten. Ich gebe einige einfachere von mir ge-
sammelte Beispiele, in denen das jeweils letzte Wort das ur-
sprünglich vergessene, aber allmählich wiedergefundene Wort
darstellt. (Die Wörter sind nicht orthographisch , sondern
mehr oder weniger phonetisch geschrieben); I. oto, poto,
ponto, pontis. — 2. matuschek, malischek, marlinek. —
3. pastinak, pasternek, partinek, partonek. — 4. garibaldi,
kanibali, chinaldi, califatti. — 5. heberdey, humperdink,
korumpey. —
Auch hier schwebt eine Art Nebelbild des vergessenen
Wortes vor: man beachte, daß schon der erste Schritt in der
Anzahl der Silben, oft auch in der Vokalfolge, in der Bildung
charakteristischer Buchstabenkomple.xe oder Silben bereits
große Ähnlichkeit mit dem Endwortc aufweist. Stufenweise
werden dann unrichtige Buchstaben oder Kombinationen aus-
geschaltet, immer richtigere eingefügt, bis das richtige Wort
hervorkommt.
Das nähere Studium dieses Heranratens birgt eine Fülle
interessantesten Details und allgemeiner Gesetzmäßigkeiten,
über die ich gelegentlich anderswo berichten will.
Aber auch auf anderen Gebieten spielt das Heranraten
eine auffallende Rolle. Am besten bekannt ist es wohl beim
Kopfrechnen, wobei das Wesen desselben in einer Zerlegung
des Rechnungsvorganges in Teiloperationen, in Annäherungs-
Schritte besteht. Auch die Art und Weise, wie die rechnenden
Pferde ihre Aufgabe lösen, ist wenigstens in manchen Fällen
als ein Heranraten erkannt worden. In der Traumarbeit auf-
tretende Wortbildungen erinnern durch den Verlauf ihrer
Bildung mitunter ebenfalls an ähnliche Vorgänge, Verlesen
und Versprechen sind damit in Zusammenhang zu bringen.
Versuch und Irrtum (trial and error) stehen damit ebenfalls
in gewisser Beziehung. Und die Als-Ob-Philosophie weist in
manchen Fällen von Fiktionsbildung auf ähnliche Erschei-
nungen hin.
Ich konnte hier alle diese Dinge nur kurz andeuten und
behalte mir ausführlichere Mitteilungen vor. Jedenfalls werfen
die hier skizzierten Fälle, vor allem das Wiederauffinden
vergessener Namen durch Gedächtnisarbeit ein
höchst merkwürdig es Schlag licht aut verschiedene
Gebiete psychischen Geschehens und werden
vielleicht auch bei der Untersuchung gewisser
Phänomene des Hellsehens zu überraschenden
Ergebnissen führen.
Klosterneuburg bei Wien. L. Linsbauer.
Dem sehr beachtenswerten Aufsatz von O. Schnurre:
„Die Schwalben in der deutschen Urlandschaft". Naturw.
Wochenschr. 1920, Nr. 42, S. 665 möchte ich noch folgendes
ergänzend hinzufügen. Da unserer Rauch- oder Stallschwalbe
in Nordamerika die Scheunenschwalbe {^Chelidon erythrogaster
Stcyn) entspricht, kann vielleicht deren Lebensweise über das
Urlcben unserer Rauchschwalben Auskunft geben. Vor der
Besiedlung Amerikas durcli die Europäer nistete die Scheunen-
schwalbe in hohlen Bäumen, unter Vorsprüngen der Felsen,
an Klippen, in Erdhöhlungen, Felsenritzen und ähnlichen Ort-
lichkeiten, und auch heute noch hält sie in den westlichen
Gebirgen an dieser ihrer primitiven Nistweise fest. „Sobald
die Axt des fleißigen Ansiedlers erschallt, schreibt H. Nehr-
ung („Die nordamerikanische Vogelwelt", Milwaukee 1891,
S. 277), ertönt auch das Gezwitscher dieses traulichen Men-
schenfreundes wie ein Echo, und sobald das primitive Block-
haus inmitten des Waldes errichtet ist, hängt sie auch schon
laut zwitschernd unter der Dachtraufe, in der Spitze des
Giebels oder am Dachsparren, um sich einen passenden Platz
für ihren Erdpalast auszusuchen."
Auf Grund dieser Tatsachen, sowie auch noch auf Grund
anderer Erwägungen möchte ich daher glauben, daß unsere
Rauchschwalbe in der deutschen Urlandschaft nicht nur
Steppen- sondern auch Waldbewohner war, namentlich
natürlich in der Nähe der Wildwechsel sowie der Futterplätze
der großen Tiere und der Lichtungen. Und wenn wir weiter
in die Diluvialzeit zurückgehen und ferner bedenken, daß die
Rauchschwalbe fast ausschließlich im Innern der Gebäude zu
brüten pflegt, so wird die Annahme nicht ohne weiteres von
der Hand gewiesen werden können, daß sie auch am Ein-
gang der damals außergewöhnlich wildreichen Höhlen ge-
brütet haben mag. Dr. W. R. Eckardt in Essen.
Literatur.
Oppenheimer, Prof. Dr. C, Kleines Wörterbuch der
Biochemie und Pharmakologie. Berlin und Leipzig '20, de
Gruyter & Co. 16 M.
Großmann, Prof. Dr. H., Fremdsprachliches Lesebuch
für Chemiker. Leipzig '20, Joh. A. Barth. 28,20 M.
Planck, M., Die Entstehung und bisherige Entwicklung
der Quantentheorie. Ebenda. 4 M.
Boveri-Boner, Dr. Y. , Beiträge zur vergleichenden
Anatomie der Nephridien niederer Oligochäten. Mit 6 Text-
abb. u. 3 Tafeln. Jena '20, G. Fischer. 8 M.
Czapek, Prof. Dr. Fr., Biochemie der Pflanzen. 2. Aufl.
2. Bd. Ebenda. 66 M.
Inhalt: M. Kästner, Bemerkungen zur Entstehung und Besiedlung des Trockentorfs. S. 33. — Bücherbesprechungen:
Ad. Stöckhardt, Schule der Chemie. S. 41. Wo. Pauli, Kolloidchemie der Eiweißkörper. S. 42. B. Bavink,
Einführung in die anorganische Chemie. J. Klein, Chemie, Anorganischer Teil. S. 43. K. B. Lehmann und R.
O. Neu mann, Atlas und Grundriß der Bakteriologie. S. 44. Ch. Riebet, Anaphylaxie. S. 44. W. Schottler,
Der Vogelsberg, sein Untergrund und Oberbau. S. 45. J. Fitschen, Gehölzflora. S. 45. V. Franz, Ursprüngliches
in der warmblütigen Tierwelt der Kriegsgebiete. S. 45. H. Grossmann, Fremdsprachiges Lesebuch für Chemiker.
S. 46. A. Legahn, Physiologische Chemie II. Dissimilation. S. 46. — Anregungen und Antworten : Die Ausbreitung
eines dominanten Merkmales in der freien Natur. S. 47. Einige Bemerkungen zu dem Aufsatz von H. Fischer ,, Or-
thogenesis, Mutation, Auslese". S. 47. Hellsehen und Namenraten. S. 48. Die Schwalben in der deutschen Urland-
schaft. S. 48. — Literatur: Liste. S. 48.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 23. Januar 1921.
Nummer 4.
Das Typhetum in der frühen deutschen Graphik.
Von Prof. Dr. Ernst Küster in Gießen.
[Nachdruck verboten.]
Mit I Abbildung im Text.
Das Streben der Zeichner und Maler nach
naturgetreuer Wiedergabe der Pflanzenwelt kennt
zwei Ziele: das eine besteht in der möglichst
porträtähnlichen Darstellung eines Pflanzenindivi-
duums oder einer Pflanzenspezies, bei dem anderen
handelt es sich um eine den natürlichen Verhält-
nissen entsprechende Auswahl und Verteilung der
Pflanzen im Bilde.
Wie sorgfältig bereits die Künstler des
15. Jahrhunderts die Merkmale zahlreicher Pflanzen-
arten studiert und im Bilde wiedergegeben haben,
lehrt ein Blick auf die Gemälde der frühen Nieder-
länder, auf den Genter Altar, auf die Werke des
Regier v. d. Weyden, Dirk Bouts, Hugo
V. d. Goes u. a. und lehren noch eindringlicher
die Zeichnungen eines Dürer, seine „Rasen-
stücke", seine „Heilpflanzen" [Aiiagallis usw.), sein
Chelidonimn. Hervorragend als Pflanzenbeobachter
waren Botticelli, Leonardo da Vinci ^)
und viele andere italienische Künstler des Quattro-
cento und der ihm folgenden Jahrzehnte.
Von der Fähigkeit der Maler, auch die Ver-
teilung der Pflanzenarten auf verschiedenartige
Standorte zu studieren und das Ergebnis solcher
Studien künstlerisch zu verwerten, indem von
ihnen wohlcharakterisierte, leicht erkennbare
Pflanzenformen für die Kennzeichnung der im
Bilde dargestellten Geländearten verwendet werden,
gibt uns eine recht geringe Zahl von Werken
überzeugende Kunde. Die ausgezeichneten Pflan-
zenkenner, als welche wir die Meister des Genter
* Altars zu bewundern haben, schenkten ihr Inter-
esse nicht nur der Morphologie, sondern auch der
Ökologie oder Standortslehre der ihnen zugäng-
lichen Pflanzen. Rosen") macht darauf aufmerk-
sam, daß die Brüder van Eyck im Mittelbild
ihres Altarwerkes (Brunnen des Lebens) nicht nur
sehr zahlreiche Pflanzenarten abbilden, sondern
auch sehr verständnisvoll den Standortsbedürfnissen
der Pflanzen gerecht werden: Nasturtutm offici-
nalc und Cardamiiie pratensis lassen die Künstler
in der Nähe des Baches grünen, Asperiila odo-
rata wird im Schatten untergebracht, die Wiese
bevölkern sie mit Wiesenpflanzen.
Das biologische Verständnis der Brüder van
') Vgl. namentlich R o s e n , Die Natur in der Kunst, 1903,
S. 309. — Ich ergänze seine Bemerkungen über Leonardo
mit dem Hinweis darauf, daß sich dieser auch mit dem Bau
des £uJ>/ioriia-Zy3,Üiium beschäftigt und mit dieser Pflanze
ein von den Malern und Graphikern seiner Zeit nur selten
dargestelltes Objekt studiert hat (Zeichnung in Windsor).
-) Rosen, 1903, a. a. O. S. 72.
Eyck verdient um so höhere Bewunderung, als
es ihr Werk vor so vielen gleichzeitigen und
späteren niederländischen und deutschen Gemälden
oder graphischen Erzeugnissen verschiedenster
Art hervorragend auszeichnet: die Sorgfalt der
Genter steht in auffälligem Widerspruch zu der
Unbedenklichkeit, mit der die späteren Künstler
Akelei und andere üppig grünende und prächtig
blühende Gewächse zwischen den Backsteinen der
Gemäuer und den Steinfliesen ihrer Hallen und
Paläste sich entwickeln lassen, Taraxacum neben
ConvaUaria stellen und anspruchsvolle Garten-
pflanzen ebendort anbringen, wo wir auf ihren
Bildern das Gras nur büschelweise gedeihen sehen.
Die Entdeckung, daß man durch richtige Wahl
der dargestellten Pflanzen den Schauplatz der
vom Künstler dargestellten Handlung hervorragend
gut charakterisieren kann, und daß in vielen Fällen
bestimmter Gewächse gar nicht zu entraten ist,
wenn die naturwahre Darstellung eines bestimmten
Schauplatzes gelingen soll , ist erst sehr spät ge-
lungen.') Die Maler und Graphiker des 15. Jahr-
hunderts deuten zwar gelegentlich gern den Wald
an , in dessen Schatten sich irgendein Vorgang
abspielt, begnügen sich aber mit der Darstellung
von Bäumen, ohne die einer bestimmten Baumart
— abgesehen von den Eichen, deren charakte-
ristische Blattform den Künstlern früh sich einge-
prägt hat — auch nur zu versuchen. Der Blick
auf „Kulturformationen" öffnet sich in vielen
frühen Darstellungeti, aber wir erkennen die Ab-
sicht der Künstler, Äcker und Felder usw. darzu-
stellen, mehr aus der geometrischen Felderung
des Geländes, den Zäunen und Hecken, aus aller-
hand landwirtschaftlichen Zutaten als aus den
botanischen Merkmalen der in Betracht kommen-
den Arten. Mit großer Liebe und oft mit be-
merkenswertem Geschick bauen Maler und Gra-
phiker des 15. und 16. Jahrhunderts tropische
Wälder und phantastische Vegetationen auf, wenn
es sich darum handelt, Adam und Eva im Paradies,
die Flucht der hl. Familie nach Ägypten -) oder
') Die griechische Kunst — von der minoischen bis zur
hellenistischen Periode — macht von den Pflanzen als Mitteln
für Charakterisierung eines Schauplatzes keinen nennenswerten
Gebrauch (wenn man von den Darstellungen der P/^/j-Sprosse
und -Früchte und der dekorativen Verwendung der Bäume ab-
sieht). Um so wirkungsvoller ist die Art, mit der die Künstler
des alten Ägyptens sich des Lotos und des Papyrus bedienen,
um die am Flußufer spielenden Szenen — Jagd .auf Wasser-
geflügel usw. — zu kennzeichnen.
'■') Vgl. Schenck, H., Martin Schongauers Drachenbaum
(Naturw. Wochenschr. 1920, Bd. 19, Nr. 49, S. 775).
50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
Johannes den Evangelisten auf Patmos zu zeigen.
Selbst dann, wenn naturwahr gezeichnete Palmen
das tropische Ensemble kennzeichnen helfen und
phantasievoll erdachte Exotenformen zurücktreten,
kann auch diese Art, den Schauplatz der Hand-
lung durch richtig gewählte Pflanzen zu charakte-
risieren, nicht mit der Beobachtungsgabe der
van E y c k wetteifern.
Unter den vielen Formationen der einheimi-
schen Flora, die leicht zu beobachten und für den
Maler und Graphiker leicht wiederzugeben sind,
spielt das Typhetum — d. h. die von Sümpfen
und Gräben her wohlbekannte aus Typha , dem
Liesch- oder Rohrkolben (Schmackedutschke,
Narrenzepter) gebildete Formation — eine be-
merkenswerte Rolle in der Kunst des 15. Jahr-
hunderts. Ihre gewaltigen Blätter und noch mehr
ihre zylindrischen schwarzen Kolben haben ihr
schon damals die Aufmerksamkeit der Pflanzen-
freunde gesichert. Beim Studium der frühen
Graphik muß es auffallen, daß das Typhetum im
15. Jahrhundert als Kennzeichen sumpfiger Stand-
orte, zur Charakterisierung der Fluß- und Seen-
ufer auch bei denjenigen Künstlern, die im übri-
gen keine besondere Begabung für die Beobach-
tung des Pflanzenlebens und die naturwahre Dar-
stellung der Standortsverhältnisse der Pflanzen er-
kennen lassen, sich einer bemerkenswerten Beliebt-
heit erfreut.
Der hervorragende oberdeutsche Stecher, den
wir als Meister E. S. zu bezeichnen pflegen (1450?
— 1467), belebt seine Darstellungen gern mit
reicher Flora. Die Begegnung der tiburtinischen
Sibylle mit Kaiser Augustus (L. 192) findet vor
einem Flusse statt. Daß die an seinem Ufer
grünende Gruppe monokotyler Gewächse aus
Typha besteht, halte ich für wahrscheinlich; alle
anderen Pflanzen, die der Künstler darstellt, wird
der Botaniker kaum zu benennen wagen : sie sind
unter seiner Hand teils zu schwungvollen Orna-
menten geworden, zum Teil zwar von ihm natura-
listisch, aber unter Vernachlässigung der spezifi-
schen Formen dargestellt; der Freude des Künst-
lers am Beobachten vegetabilischer Naturformen
stellen sie kein günstiges Zeugnis aus. Ganz
ohne Zweifel ist, deiß die auf der Taufe Christi
(L. 28) dargestellten Kolben eine Typlia-G:Tü-^^z
darstellen; von den zahlreichen roseitenbildenden
Pflanzen des Vordergrundes gilt dasselbe wie von
den auf L. 192 sichtbaren. 735*//(7 Gruppen von
befriedigender Naturwahrheit finden sich auf der
großen Taufe Christi (L. 29), deren Vordergrund
wiederum stilisierte Rosetten füllen. Nach Be-
trachtung dieser Stiche werden wir kaum be-
zweifeln können, daß auch die sterile Wasser-
pflanze, die am Ufer des vom hl. Christophorus
durchschrittenen Gewässers (L. 140) grünt, als
Typha bestimmt werden darf — um so weniger,
als inmitten des Wassers an einer felsigen Klippe
ein kolbentragendes Exemplar sichtbar ist.
Die Blätter des Hausbuchmeisters geben —
trotz seiner Vorliebe für Kranzgewinde, für Garten-
und Walddarstellungen — dem Botaniker nur ge-
ringe Ausbeute. Die feine Beobachtungsgabe, die
der Meister in den Dienst der Menschen- und
Tierdarstellung stellt, scheint — wie bei so man-
chem anderen Künstler — der Pflanzenwelt gegen-
über untätig zu bleiben. ^) Um^ so überraschender
ist, daß die Typha wiederholt und gut gelungen bei
ihm erscheint, bei den Darstellungen des hl.
Christophorus (L. 31 und L. 32) an Flußufern, wie
die Ökologie der Pflanze es fordert, — in anderen
Fällen (L. 41, L. 67, L. 71) ohne solche örtliche
Beziehungen. Gerade für Christophorusdarstellun-
gen hat aber auch der Hausbuchmeister gewiß
schon so viele, mit Typha ausgestattete Vorbilder
gehabt, daß wir aus den wohlgelungenen Typhetum-
Darstellungen seines Griffels nicht auf eigene
Naturbeobachtung zu schließen nötig haben.
Eine stattliche Kollektion von Typhetum-
darstellungen bringt der Illustrator der kölnischen
Bibel von 1478, deren schöne Holzstöcke später
noch einmal in der von Kob erger, dem Nürn-
bergischen Drucker und Verleger des Schatz-
behalters, der Schedeischen Chronik usw., heraus-
gegebenen sog. Neunten deutschen Bibel (1483)
Verwendung finden. Ich verweise für die letztere
auf die Darstellung des Opfers von Kain und
Abel (fol. VI), auf Moses vor seinem göttlichen
Gesetzgeber (fol. XLIX), eine weitere Mosesszene
aus den Numeris (4. Mos. 10; fol. LXXI), auf
Tobias mit dem Engel (fol. CCXXXIIII). Überall
erscheint Typha als leicht erkennbarer Begleiter der
Wasserläufe. Der Illustrator der genannten Bibeln ist
für unsere Frage besonders ergiebig, weil er es sehr
liebt, seine Bildchen mit Bächen, Flüssen oder
Seen zu beleben, auf deren Spiegel sich zumeist
ein Schwan schaukelt. Auch durch vegetabilische
Zutaten die Wasserläufe zu kennzeichnen, hat der
Künstler freilich nur einige Male das Bedürfnis
gefühlt. Wenn er auch seine Darstellungen gern
mit Vegetation ausstattet, und seine Bäume gut
beobachtet und gezeichnet sind, so bleibt doch
die Typha, auch bei ihm die einzige mit Sicher-
heit bestimmbare und ökologisch an die richtige
Stelle gesetzte Pflanze. Gar nicht selten läßt der-
selbe Künstler an den Ufern seiner Gewässer
sterile Sumpfpflanzen sprießen , die nach dem
Laub zu schließen, recht wohl Typha sein könnten ;
vielleicht hat der Künstler auch bei jenen tat-
sächlich an den Rohrkolben gedacht.
Auf die Bibel läßt 1 49 1 K o b e r g e r den Schatz-
behalter folgen, dessen Holzschnitte von Nürnberger
Meistern stammen. Wir haben hier auf die
„35. Figur" zu verweisen, die Auffindung Mosis:
am Ufer des Nils läßt der Illustrator ein reiches
Typhetum sich entwickeln, das vorn das Bild
abschließt. Die lockenähnlich stilisierten Blätter
unterscheiden den Schnitt deutlich von dem des
niederrheinischen Meisters. Ähnliche Formen
') Die vielen Bilder im „Spiegel menschlicher Behältnis"
sind vollends so gut wie vegetationslos (vgl. Naumann,
HolzschniUe des Meisters vom Amsterdamer Kabinett z, Sp.
menschl. Beh., Straßburg 1910).
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5>
zeigen die Typ/ia-?{iAnzen in Schedels Welt-
chronik — ich verweise auf das Städtebild von
„Constancia" (fol. CCXLI).i) —
Auf den schönen Holzschnitten, die das von
Bergman von Olpe 1494 herausgegebene
„Narrenschiff'' Sebastian Brants schmücken,
spielen vegetabilische Zutaten eine geringe Rolle.
Am allerwenigsten ist versucht worden, durch
Studium des natürlichen Vorkommens der Pflanzen
in der Vegetation ein Mittel zur Kennzeichnung
des Geländes zu finden. Einen schwachen Ver-
such hierzu dürfen wir immerhin in der Dar-
stellung des Narren am Vogelgarn erkennen : der
Waldrand, an dem der Vogelsteller Platz ge-
nommen hat, wird sogar durch Farnkraut ge-
kennzeichnet. Um so wichtiger wird hiernach
die Rolle, welche auch in dieser Holzschnittfolge
das Typhetum spielt: den Narren, der „in pfütz
und moß" watet, zeigt eine der ersten Darstel-
deuten. Das geschieht auch bei den Typha-
Pflanzen, deren Kolben als schwarze Massen in
dem Bilde eingetragen sind.
Ungefähr gleichzeitig mit dem Baseler Holz-
schnitt ist die Typhetumdarstellung bei Felix
H e m m e r 1 i n : Varie oblectationis opuscula et
tractatus, Argentorati Joh. Preiß, 1477). ') Die
hier reproduzierte Abbildung zeigt den von
Wespen umschwärmten Hemmerlin, der inmitten
eines 7)'Ma- Bestandes kniet. Wir bemerken an
letzterem manche gut beobachtete Einzelheit und
stellen fest, daß Mensch und Typha auf dem
Straßburger Schnitt in richtigen Proportionen
dargestellt sind.
Von weiteren Holzschnittwerken erwähne ich
noch das Exercitium super pater noster (Krems-
münster) ^) mit einer schönen ökologisch richtig
angebrachten Ty/^/^a-Gruppe. Das Berliner Kabi-
nett bewahrt einen den hl. Christophorus dar-
lungen des Buches inmitten einer dichten
Typhagruppe; ihre Halme sind wie das Laub,
allerdings unsorgfaltig gezeichnet und im Ver-
hältnis zur Gestalt des Narren viel zu klein
geraten. — Wie bekannt, hat man — wohl mit
Unrecht — versucht, die Holzschnitte der Berg-
manschen Offizin dem jungen Dürer zuzu-
schreiben. Ich erwähne in diesem Zusammen-
I hang, daß mir weder aus Dürers Werk noch
I aus dem Schongauer sehen bisher eine Dar-
stellung des Typhetum bekannt geworden ist, —
j wie überhaupt beiden die Pflanzenwelt zur Cha-
rakterisierung des Schauplatzes zu verwerten, fern
lag. — Der Künstler der Bergmanschen Offizin
liebt es wie andere Künstler seiner Zeit, einzelne
Teile seiner Darstellungen schwarz auszufüllen,
um den Lokalton der betreffenden Dinge anzu-
') Vgl. auch das sterile Zy/^a-Exemplar von „Cracovia".
stellenden Holzschnitt, *) der vielleicht schon dem
16. Jahrhundert angehört. Er zeigt im Vorder-
grund eine Typha — sie ist zwar schlecht be-
obachtet, aber doch die einzige nach der Spezies
bestimmbare Pflanze, die auf dem Schnitte sicht-
bar ist.
Bei der weiten Verbreitung der Rohrkolben
in der frühen deutschen Graphik wäre es nicht
zu verwundern, wenn gar mancher Zeichner von
den Werken früherer Künstler seinen vegetabili-
schen Motive entlehnt hätte und hierbei zur Dar-
stellung mißverstandener und mißratener Typha-
') Hain 8425, Proctor 581 : vgl. auch Jos. Baer&Co.
Incunabula, xylographica et typographica 1455 — 1500, p. 52, 13.
') Schreiber, Manuel de l'amateur de la gravure sur
bois et sur metal, T. VII (1895), tab. LXVII ; vgl. auch
T. VIII, 1900, tab. LXXXVIII.
^) Kristeller, Holzschnitte im kgl. Kupferstichkabinelt
zu Berlin. Zweite Reihe 1915, Tab. LXX.
S2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
Pflanzen gekommen wäre. Beispiele für letztere
ließen sich leicht erbringen : ich verweise auf die
Zj'/'^ö'-Darstellungen eines holländischen „Specu-
lum humanae salvationis" aus dem 15. Jahr-
hundert oder auf die Holzschnitte zur Fridolins-
legende (Ulm, Joh. Zainer, ca. 1480).
Von der französischen Graphik erwähne ich
den Pariser Totentanz von i486 („Miroer salutaire
pour toutes gens"). Der Künstler, der in zahl-
reichen kleinen Darstellungen den Boden mit
einer Fülle kleiner Blümchen ausstattet, weiß
nichts von Naturbeobächtung und naturalistischer
Darstellung der Gewässer; seine Streublumen zu
benennen, ist unmöglich — nur eine (in natur-
widrig kleinem Format erscheinende) Typha-
Pflanze scheint hiervon eine Ausnahme zu machen.
Daß der Zeichner seine Typha von anderen gra-
phischen Darstellungen entlehnt und abgeschrieben
hat, ist wahrscheinlich.
Von den Italienern mag Mantegna genannt
sein ; Typheta stellt er auf seinen Tritonenkämpfen
dar (B. 17, B. 18), die zweite Darstellung zeigt
Typha neben blühendem Schilf. —
Die große Beliebtheit, deren sich die Typha
bei den Künstlern des Quattrocento erfreut, und
die sie auch in späteren Perioden nicht verliert,
ja bis in unsere Tage behalten zu wollen scheint,
erklärt sich nicht nur durch die Auffälligkeit
ihres Habitus und ihrer Färbung, sondern ebenso
sehr aus dem Umstände, daß ihre charakteristi-
schen formalen Eigenschaften mit wenigen Strichen
und bescheidenstem Aufwand bereits befriedigend
zur Darstellung gebracht werden können und in '
allen Techniken leicht zu bewältigen sind. Wie
in Kupferstich und Holzschnitt sind die Rohr-
kolben auch für den mit Pinsel und Farbe
arbeitenden Künstler leicht wiederzugeben. Um
auch hier Beispiele zu nennen, verweise ich auf
das schöne Typhetum, das der Brügger IVIeister
der Ursulalegende in der iVlartyriumszene gegeben
hat (Kloster der Sceurs noires zu Brügge). Ein
besonders schönes Werk der Miniaturmalerei
finden wir in den Tres heiles heures de Chan-
tilly (tab. VI, VII, XXXVII); auf einem der Bild-
chen sehen wir Typha neben Kopfweiden die
Vegetation eines Bachufers nicht übel kennzeichnen.
Sogar der Bildhauer findet in der Typha ein
Gewächs, das mit seinen besonderen technischen
Mitteln charakteristisch wiederzugeben leicht mög-
lich ist. Beispiele sind mir freilich zunächst nur
aus der mit heraldischen Motiven beschäftigten
Bildhauerei ') bekannt geworden.
Wir besitzen noch keine vergleichend-ikono-
graphischen Studien für die Taufe Christi, den
hl. Johannes-Evangelist auf Patmos, die Christo-
phoruslegende, den wunderbaren Fischzug. Ich
zweifle nicht, daß das Studium der frühen Dar-
stellungen dieser Szene uns noch zahlreiche
weitere Belege für die bevorzugte Rolle kennen
lehren würde, welche der Typha -Vi.o\htn in der
Kunst des 15. Jahrhunderts spielt.
^) Typhakolben finden wir im Wappen der Rohrbeck
(Siebmachers Wappenbucli Bd. 5, Abt. 10, bürgerliche
Geschlechter 1916), Ried und gewiß noch anderer Familien
in deutlich „redender" Beziehung zum Namen.
Einzelberichte.
Die Aiistrockming Südafrikas.
Zu dieser Frage gibt Fritz Jäger in seinen
Beiträgen zur Landeskunde von Süd-
westafrika (Mitt. aus den deutschen Schutzge-
bieten, Ergänzungsheft Nr. 14, Berlin 1920, E. S.
Mittler & Sohn) sehr beachtenswertes Tatsachen- •
material. Er weist nach, daß an eine stetige Ver-
minderung der Niederschläge in dem letzten Men-
schenalter nicht zu denken sei, daß vielmehr die
Menge des Grundwassers, neben welcher die des
Oberflächenwassers gar keine Rolle spielt, sehr be-
deutenden Schwankungen unterliege, nicht nur inner-
halb einzelner Jahrgänge, sondern auch in Zeit-
räumen von Jahren und Jahrzehnten. Daß die
Abnahme dabei weit häufiger beobachtet wird als
die Zunahme, liegt in der Hauptsache daran, daß
das Wasser fast dauernd allmählich
sinkt, also um so weniger von künstlichen Boh-
rungen erfaßt werden kann. Demgegenüber kommen
starker örtlicher Verbrauch, Entwaldung, Gras-
brände, die hier und da lokal die Austrocknung
kleiner Gebiete begünstigen mögen, im großen
und ganzen doch kaum in Betracht. Sie ersticken
wohl "in trockenen Zeiten den Wasserrückgang,
ohne jedoch dadurch eine dauernde Verminderung
herbeiführen zu können. Wenn häufig das Aus-
trocknen des Ngamisees als ein Hauptbeweis für
die fortschreitende Austrocknung Südafrikas ange-
führt wird, so ist demgegenüber die Mitteilung
von A. G. Stigand, Notes on Ngamiland, G. J.
Bd. 39, S. 3766". von großer Bedeutung, nach
welcher beim Rückzug des Wassers am Westende
des Sees die Stümpfe von Steppenbäumen ent-
blößt wurden, woraus hervorgeht, daß einstmals
an Stelle des Sees Baumsteppe oder Trockenwald
stand.
Fragt man nun nach der Ursache der fast
dauernden Senkung des Wasserstandes, so scheint
sich Verf der Meinung Passarges anzuschließen,
die auch Ref. mehrfach ausgesprochen hat, daß
nämlich die Menge des in der Erdrinde befind-
lichen Bodenwassers nicht bloß von der heutigen
Niederschlagsmenge abhängig ist, sondern daß
jene noch große Vorräte aus einer regenreicheren
jüngsten geologischen Vergangenheit besitzt, die
erst allmählich aufgezehrt werden, ohne daß des-
wegen die Regenmenge wesentlich abnimmt.
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
53
Die heutigen Regen vermögen eben den Verlust
durch Verdunstung und Abfluß nicht zu ersetzen,
und dadurch trocknet tatsächlich der
Boden Südafrikas langsam aber stetig
aus, ohne daß deswegen eine wesentliche oder
stetige Abnahme der Niederschläge zu konstatieren
wäre.
Erst wenn das Wasser im Boden sich dem
heutigen Klima angepaßt hat, wird sich ein Still-
stand im Austrocknen des Bodens bemerkbar
machen. W. Halbfaß.
Berieht über eiue Forschiiugsexpedition
in Deutsch-Ostafrika.
G. Krenkel teilt in den Berichten der
Mathematisch • Physischen Klasse d. Sachs. Akad.
d. Wissensch. z. Leipzig, LXXI. Bd. seine
geologischen Ergebnisse mit. In vier Ge-
bieten der Kolonie hat er unter schwierigen
Kriegsverhältnissen — er kam wenige Wochen vor
Beginn des Krieges dahin — seine Untersuchungen
anstellen können: im Küstenland; im Uluguru-
gebirge; in der Landschaft Ugogo und im abfluß-
losen Rumpfschollenland; im Tanganjikaseegebiet.
Im südlichen Teil der Küstenzone tritt an das
Land unmittelbar der Kontinentalsockel an das
Meer heran (2000 m Tiefe). Im mittleren Teile
liegt vor der Küste ein 80 km breiter Schelf, aus
dem die Koralleninseln Mafia und Sansibar als
letzte Reste der alten zerstörten Küste hervor-
ragen. An der Ostküste des Schelfes findet sich
dann der Steilabfall des Kontinentalsockels. Im
Norden trennt ein 900 m tiefer Grabeneinbruch
die Insel Pamba vom Festland. Die Küstenlinie
ist hier vielleicht von tektonischen Verhältnissen
vorgezeichnet.
Das Küstenland bauen entweder Riffgesteine
(marine Kalke, echte Rififkalke, Korallensandsteine)
oder Gesteine fluviatiler Entstehung mit Ver-
witterungserden. Im mittleren Küstenland lagern
diese jungen Gesteine auf dem Sockel aus meso-
zoischen Gesteinen. Sowohl in den Rififgesteinen
als auch in den nicht marinen Bildungen lassen
sich zwei verschiedenaltrige Horizonte nachweisen.
Das Küstenland ist in schaukelnder Bewegung.
Man kann annehmen, daß eine Vernichtung des
Küstenlandes vor sich geht. Küstenterrassen sind
mehrfach stufenförmig übereinander gelagert.
Wir haben an der ostafrikanischen Küste entweder
eine Steilküste mit Kliff oder eine Flachsandküste
mit Dünen und Strandwällen vor uns. Nicht allein,
aber mit erklärt werden die „ertrunkenen" Täler
der ostafrikanischen Küste.
Das Ulugurugebirge steigt aus dem Steppen-
und Buschgebiete steil auf und ist von einer brei-
teren oder schmäleren Vorhügelzone umgeben.
Kurze, steile Täler führen in das Gebirge, dessen
höhere, regenreiche Abhänge von dichtem Urwald
bedeckt sind. An dem Westabhang tritt der
Graben der Mkatasteppe heran. Im Mkatagraben
fanden sich Schichten der pflanzenführenden unteren
Karruformation in Gestalt von dunklen Kohlen-
schiefern. Ob sie einer versenkten Decke oder
einem Becken angehören, ist noch nicht erwiesen.
Im vorgelagerten Menduberge fand man Asbest-
lager. Das Gebirge wird überwiegend von kristal-
linen Schiefern (Gneisen und Glimmerschiefer),
untergeordnet von Graniten und anderen Tiefen-
gesteinen aufgebaut. Kristalline Kalke herrschen
im Osten vor. Krenkel glaubt, daß ältere kristal-
line Schiefer und granitisch-körnige Gesteine von
jüngeren Graniten und verwandten Gesteinen
durchdrungen worden sind. Die Gneise und
Glimmerschiefer sind aufgerichtet, sogar stellen-
weise steilgestellt.
Als Ganzgesteine treten Pegmatite in 15 — 20 m
Mächtigkeit auf. Die Gänge werden von Längs-
und Querverwerfungen durchsetzt. Die Pegmatite
liefern Glimmerplatten, die abgebaut werden.
Das Hochplateau von Ugogo stellt im Gegensatz
zu den umgebenden Hochschollen eine Tiefscholle
dar. Morphologisch lassen sich folgende Bauele-
mente erkennenn: i. die Fastebene von Nord-
ugogo; 2. die Fastebene von Südugogo; 3. das
Ugogomittelgebirge; 4. das Ugogogrenzgebirge ;
5. das Rubehogebirge ; 6. die Turubruchstufe; 7.
das Bergland von Hochussandaui. Das Grund-
gebirge Ugogos bilden kristalline Gesteine. Jünger
sind wenig verbreitete jungvulkanische Gesteine.
Darüber legen sich die aus der Zerstörung der
älteren Schichten hervorgegangenen Deckschichten.
Krenkel nimmt an, daß die kristallinen Ge-
steine dem Altpaläozoikum angehören und bis zum
Präpaläozoikum hinabreichen. Die jungvulkanischen
Gesteine sind jungtertiären Alters. Die Deck-
schichten reichen vom Altquartär bis zur Jetztzeit.
Während Grundgebirgsschichten und Deckschichten
sich immer zusammen vorkommend zeigen, sind
die jungvulkanischen Gesteine nur auf den Umkreis
zwischen Makutupora und Manjoni in der Turu-
bruchstufe vorhanden. Das Fehlen aller paläo-
zoischen und mesozoischen Schichten ist eine
Folge der Abtragung durch Erosion. Die jung-
vulkanischen Gesteine treten in Gängen oder
Decken auf, sind emporgestiegen, als sich die
großen Brüche der ostafrikanischen Schollenzone
bildeten.
Das kristalline Grundgebirge ist spätestens
im Altpaläozoikum gefaltet worden. Das Grund-
gebirge wurde in der Folgezeit teilweise bis auf
den granitischen Kern abgetragen. Im Osten
Ugogos haben sich in abgesenkten Gebieten
Schiefermassen erhalten. Es entstand eine Fast-
ebene. Schon in der Kreidezeit, im jüngeren
Tertiär den Höhepunkt erreichend, begannen
tektonische Ereignisse, die Ugogo in den Bereich
der östlichen ostafrikanischen Zerrüttungszone
führen. Zwei große, landschaftlich deutlich hervor-
tretende Bruchlinien lassen Ugogo als Tiefen-
scholle aus dem Landschaftsbild heraustreten.
Durch das Innere Ugogos zieht als Bruchlinie
die Ilindilinie. Krenkel bezeichnet Ugogo als
„Kesselbruchfeld", das in seiner südwestlichsten
54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
Ecke, in der großen Salzsteppe, am tiefsten abge-
sunken ist. Im Osten scheint eine weit gespannte
Verbiegung den Übergang zur großen Salzsteppe
zu vermitteln.
Am nördlichen Ostufer des Tanganjikasees
finden sich mächtige sedimentäre Ablagerungen
mit Diabasen in Form von Decken und Gängen.
Sie reichen bis zu dem GneisKungwestock im
Süden, zu den kristallinen Schiefern beim Orte
Njassa im Norden und in das Flußgebiet des
Malagarassi und Vindi im Osten. Fossilien fehlen
den Schichten bis jetzt völlig. Man hat die Schichten
zur „Tanganjikaformation" zusammengefaßt, die
Krenkel als den Absatz eines salzigen Binnen-
meeres auffaßt. Diese Formation zerfällt in die
liegenden „Sandsteinschichten" und die hangenden
„Kalkkieselschichten". Die Diabase sind lokal in
ihrem Auftreten beschränkt. Zusammenhängende
JVIassen bilden sie im Plateau von Hochuha. Süd-
lich davon zeigen sich Diabase in den Njamuri-
bergen. Die Schichten der Tanganjikaformation
sind wenig gestört, nur entlang einer Störungs-
zone von 15 km Breite, die mit der Entstehung
des Tanganjikagrabens zusammenhängt, finden sich
auffallende Verwerfungen. Am See sind eine
Menge Schollen vorhanden. Rudolf Hundt.
Die geologische Stellung des Faläolithikuins.
In den Mitteilungen der Wiener anthropolog.
Gesellschaft 50, 1920, S. 69 — 71 wirft V. Hilb er
aus Graz von neuem die Frage nach der geologi-
schen Stellung des Paläolithikums auf. Nach der
Boule-Obermaier sehen Gliederung ist das
ganze Oberpaläolithikum (vom Aurignacien an)
postglazial. Bekanntlich hat Penck und ihm im
wesentlichen folgend auch Bayer die Ansicht
vertreten, daß das Solutreen letztinterglazial, und
das kalte Mousterien der vorletzten Eiszeit ange-
höre. Die Stellung der Niederterrasse und des
jüngeren Löß wollte sich mit diesen Ansichten
jedoch nicht recht vereinbaren lassen. Wenn
die Niederterrasse letztglazial ist, so könnte der
jüngere Löß spätestens in einem früheren Ab-
schnitt des Letztglazials zwischen den Bildungs-
zeiten der Hoch- und Niederterrasse entstanden
sein. Der Löß ist aber nach seiner Schnecken-
fauna nicht eiszeitlich; der jüngste Löß müßte
demnach, wie auch Penck folgerichtig annimmt,
in das letzte Interglazial gehören und die zwei
Terrassen würden nach Penck dann den letzten
beiden Eiszeiten entsprechen.
Diese Folgerungen aber widersprechen un-
zweifelhaft den Tatsachen. Nicht nur das Solu-
treen, sondern auch das Aurignacien und Magda-
lenien liegen im jüngsten Löß. Was also für das
unbestrittene postglaziale Alter des Magdaleniens
gilt, gilt für das ganze Oberpaläolithikum.
H i 1 b e r glaubt eine Lösung dadurch ge-
funden zu haben, daß er die Schotterterrassen
oder, wie er sie nennt, Baustufen, nicht in Eis-
zeiten entstanden sein läßt. Da das Oberpaläo-
lithikum nacheiszeitlich ist, so muß auch der
Junglöß, welcher es enthält, nacheiszeitlicher Ent-
stehung sein. Für die vielfach erwähnte Nicht-
bedeckung der Niederterrasse durch Löß gibt es
für ihn nur die Erklärung, daß dieser Löß älter
ist als diese Terrasse. Da er aber wegen seines
Magdaleniengehaltes nacheiszeitlich ist, muß es
auch die (jüngere) Niederterrasse sein. In der
Nacheiszeit haben sich also zuerst Löß und da-
nach die Niederterrasse gebildet.
Für das aus den Kulturen gefolgerte Alter
des jüngeren Lößes sucht H i 1 b e r auch noch
andere unmittelbare Beweise zu geben. Neue
Analysen der Lößschneckenfauna ergaben nach
ihm in der strittigen Frage nach dem Klima-
charakter dieser Fauna deren gemäßigte Natur.
Die entgegengesetzten Ergebnisse anderer Autoren
sollen nach Hilber lediglich durch ausschließ-
liche Berücksichtigung einzelner nordischer Arten,
welche nach Hilber jedoch auch in nicht-
glazialen Ablagerungen vorkommen sollen, ge-
wonnen sein (?). Auch aus dem mehrfach be-
obachteten Auftreten einer warmen Fauna
zwischen zwei kalten im Löß will Hilber ein
Zeichen für nichtglaziales, interstadiales Alter des
jüngsten Lößes entnehmen. Es sei klar, daß das
Intensitätsmaximum einer Klimaperiode in der
Mitte der zugehörigen Ablagerung erscheinen
müsse. Wenn Wiegers also den jüngeren Löß
in drei Phasen, je eine kältere am Anfang und
am Schluß, und eine wärmere in der Mitte ein-
teile, so dürfe er dann nicht auf Eiszeit schließen,
da dort die kalte Fauna in der Mitte stehen
müßte. Es bleibe also weiter keine andere
Deutung übrig als die, daß der Löß nicht glazial
sei. Da der Löß ein Produkt klimatischer Fak-
toren sei, müssen auch die älteren Löße nicht-
glazial sein. Die Niederterrasse sei nach ihrer
Nichtbedeckung durch den Löß nach diesem ge-
bildet, also müsse sie ebenfalls postglazial sein.
Die geologische Stellung des Paläolithikums
denkt sich Hilber dann folgendermaßen: Chel-
leen und das kulturell und faunistisch eng mit
ihm verbundene Acheuleen gehören in die letzte
Zwischeneiszeit, das Mousterien fällt als Kaltzeit
in die jüngste Eiszeit und das ganze Oberpalä-
olithikum gehört in die Nacheiszeit.
Eine derartige Ansetzung löst gewiß „alle
Schwierigkeiten" — aber diese Lösung geht nur
zu glatt und zu einfach vor sich, als daß sie des-
halb von vornherein als richtig gelten könnte.
Schwerlich werden die Geologen von ihrer Seite
aus der von Hilber gegebenen Ansetzung zu-
stimmen. Das entscheidende Wort darüber liegt
bei ihnen, ich will ihnen als Archäologe nicht
vorgreifen.
Zum Schluß nur noch eine kleine nebensäch-
liche Bemerkung: Hilber schreibt ständig
Chellean, Acheulean usw. Diese wohl als „Ver-
deutschungen" gedachten neuen Formen sind
sprachlich ebenso unschön wie durch nichts ge-
rechtfertigt. Ich möchte deshalb dringend davon
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
abraten, sie etwa in die Literatur zu übernehmen
und durch sie die alten französischen Fachaus-
drücke ersetzen zu wollen.
Wernigerode a. H. Hugo iWötefindt.
Naturschutz in den Yereiuigten Staaten von
Amerika.
Im Jahresberichte 1919 des Nationalpark-
dienstes zu Washington berichtet Direktor
Stephan T. Math er über den Stand des Natur-
schutzes in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Zahl der dort bestehenden Naturschutz-
parks stieg im Jahre 1919 mit Errichtung des
Canjonparks am Coloradofluß und des La Fayette-
Nationalparks im Staat Maine auf 18. Dazu
kommen noch 33 kleinere Naturdenkmäler,
wovon 23 durch den Nationalparkdienst und 10
durch das Ackerbauministerium verwaltet werden.
Die gesamte Gebietsfläche der Naturschutzparks
beträgt 27800 qkm, jene der Naturdenkmäler
5000 qkm. Im Hauptlande der Vereinigten Staaten
befinden sich 16 Naturschutzparks, außerdem
je einer in Alaska und auf Hawaii. Östlich des
Mississippi liegt nur ein einziger Naturschutz-
park, nämlich der La Fayettepark in Maine. Es
ist aber die Errichtung weiterer solcher Parks
im Osten der Vereinigten Staaten zu erwarten;
am meistenAussicht auf Verwirklichung scheint
von den bestehenden Projekten jenes betreffend
einen Naturschutzpark im Sanddünengebiet des
Staates Indiana zu haben.
Der erste von der Regieruag errichtete Natur-
schutzpark war jener zu Hot Springs in Arkansas;
sein Gebiet wurde schon 1832 reserviert. Erst
1872 folgte dann der Yellowstone Nationalpark.
Das erste Naturdenkmal, das unter den Schutz
der Bundesregierung genommen wurde, ist die
weltbekannte indianische Ruinenstätte von Casa
Grande im Staat Arizona, nahe der mexikanischen
Grenze ; ein diesbezügliches Gesetz kam 1 892 zu-
stande. Dann folgte 1908 der sog. Teufelsturm
im Staat Wyoming.
Als Denkmäler der nordamerikanischen Indianer
und ihrer Kulturen kommen besonders das Casa
Grandegebiet und der Mesa Verde-Naturpark in
Betracht, letzterer im Staat Colorado. Die Aus-
grabungen im Mesa Verde-Park werden vom
Direktor des Bureau of Ethnology am National-
museum Dr. J. W. Fewkes geleitet, der auch
die Rekonstruktion einer Anzahl alter Bauten
ausgeführt hat. Außerhalb des Parkes, einige
Kilometer westlich von seiner gegenwärtigen
Grenze, befinden sich am Rande des Monte-
zumatales die sog. Aztekenbrunnen-Ruinen, die
von ihrem früheren Besitzer der Bundesregierung
geschenkt wurden, um als nationales Denkmal
erhalten zu werden. Auch im Nordwesten von
Mesa Verde, im Hovenweepbezirk, liegen zahl-
reiche indianische Ruinen, deren Schutz dringend
geboten ist.
Das Casa Grandenaturdenkmal und die weiter
gegen die mexikanische Grenze zu gelegene
Ruinenstätte von Tumacacori, die ebenfalls als
Naturschutzgebiet erklärt ist, stehen unter Ver-
waltung von Kustos P i n k 1 e y. Die Ausgrabungen
sind an beiden Plätzen noch nicht weit vorge-
schritten. Das Leben der Indianer der Gegen-
wart ist ebenfalls in einigen Naturschutzparks zu
beobachten, so im Grand Canyonpark des Colo-
radoflusses, in dem großen Gletscherpark im
Staat Montana (an der kanadischen Grenze) und
anderwärts.
Zu wichtigsten Aufgaben des Nationalpark-
dienstes gehört der Schutz der einheimischen
Tier- und Pflanzenwelt. Für wilde Tiere sind in
den meisten Naturschutzgebieten musterhafte Zu-
fluchtsstätten eingerichtet. Das ist notwendig,
nicht nur weil zum Teil das Wild von den In-
dianern abgeschossen wird, sondern auch, weil
es der zunehmende Touristenverkehr noch mehr
bedroht. Hatte doch 19 19 die Zahl der Besucher
schon 755000 betragen, verglichen mit 253000
1913 und 61000 1907. Bei Haus- und Wege-
bauten usw., die im Interesse der Erschließung
der Naturschutzgebiete für den Verkehr not-
wendig sind, wird stets strenge darauf Bedacht
genommen, den natüriichen Zustand der Land-
schaften so wenig wie möglich zu stören. Wo
in der Vergangenheit gegen diesen Grundsatz
verstoßen wurde, ist der Naturparkdienst bestrebt,
die ursprünglichen Verhältnisse wieder herzu-
stellen. Direktor Math er regt an, daß die Natur-
schutzgebiete in Zukunft mehr wie bisher für
Studienzwecke seitens der Hochschulen, aber auch
von Einzelpersonen, ausgenutzt werden sollen.
H. Fehlinger.
Die Natur des roten Farbstoffes der
Crustaceen
ermittelte der Franzose J. V e r n e. ') Der P arb-
stoff, der in besonderer Menge und Reinheit
beim Hummer in nahezu allen gepanzerten
Teilen seines Körpers angetroffen wird, gab mit
Jod eine veilchenfarbige Anlagerungsverbindung,
mit Schwefelsäure eine Blaufärbung. Das Ab-
sorptionsspektrum wurde für die Identifizierung
entscheidend. Es wies nämlich alle die Absorp-
tionsstreifen auf, die man auch am Carotin
festgestellt hat. Dieser Farbstoff ist bekanntlich
sehr verbreitet; es ist der Farbstoff" der Mohr-
rübe, des Eigelb, -) sowie manch anderer kress-
farbiger usw. Pigmentierungen Seine Überein-
stimmung mit dem Crustaceenpigment wird außer
den genannten Farbenreaktionen auch durch die
chemische Elementaranalyse erwiesen. Danach
ist in ihm das Verhältnis von Kohlen- zu Wasser-
stoff" wie 5:7. Das ergibt in Verbindung mit
ebuUioskopischen Bestimmungen die Bruttoformel
CjoHse. die von WiUstätter für das Carotin
sichergestellt ist.
') C. r. de la Soc. de Biologie; 83, S. 963 (1920).
'') Vgl. Naturw. Wochenschr., N. F. 17, S. 545 (1918).
56
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
Da das Chlorophyll, der Farbstoff des
Blattgrüns, auch im Tierreich festgestellt worden
ist,') so liefert der oben beschriebene F"und einen
neuen Beleg für die Übereinstimmung einer
ganzen Reihe physiologischer Bestandteile im
Pflanzen- und Tierreich. Die biologische Be-
deutung dieser Erkenntnis bedarf keines be-
sonderen Hinweises. H. H.
Atomgewicht von Wismut.
O. Hönigschmidt und L. Birckenbach
machen über diese Bestimmung eine vorläufige
Mitteilung, -) aus der hervorgeht, daß der bisher
international geltende Wert Bi = 208,o als erheb-
lich falsch angesehen werden muß. Dieser Wert
beruht auf Bestimmungen, die von Schneider,
Marignac (1883) und Gutbier (1908) gemacht
wurden und denen man unbesehen trauen zu
dürfen glaubte, weil die von den Genannten ge-
fundenen Werte bis auf geringe Abweichungen
gut miteinander übereinstimmen. Nun fand zwar
C lassen^) bereits 1890 einen Wert, der von
den anderen um nahezu eine Einheit abwich,
nämlich Bi =^ 208,9, «^ber da dieser Wert einzig
dastand, so fand er überhaupt keine weitere Be-
achtung. Ja, Brauner, dem man eine peinliche
Durchsicht aller Alomgewichtswerte verdankt, *)
ging so weit, die Sicherheit des international an-
genommenen Wertes als bis auf eine Einheil
der ersten Dezimale anzunehmen !
Die Analyse Hönigschmidts wurde am
Chlorid und Bromid vorgenommen. Reinstes
Wismut wurde in einem Quarzgefäß durch Er-
hitzen im Chlorstrom in das Chlorid überführt.
Dieses wurde in einem Stickstoffstrom in ein
anderes Quarzgefäß sublimiert und darin einge-
schmolzen zur Wägung gebracht. Aus dem so
gewogenen Chlorid wurde alsdann unter Ver-
wendung reinster Reagentien und Beobachtung
allergrößter Exaktheit mittels Silbernitrat das
Chlor bestimmt. Aus dem Verhältnis Wismut-
chlorid : Chlor konnte der wahre Wert des Atom-
gewichtes ermittelt werden. Als Mittelwert zahl-
reicher Bestimmungen ergab sich so der Wert
Bi = 209,06 ± 0,009.
In vorzüglicher Übereinstimmung hiermit er-
gab die Analyse des Bromids die Größe 209,034.
Diese Werte weichen mithin um eine Einheit
von dem bisher als richtig angesehenen Werte
ab; der neue Wert, an dessen Richtigkeit zu
zweifeln zunächst kein Grund vorliegt, ist also um
nicht weniger als 0,5% höher. Da der Wert
Classens ihm recht nahe kommt, so findet
dieser damit eine sicherlich unerwartete Recht-
fertigung. Im übrigen beweist dieser Fall wiederum.
•) Naturw. Wochenschr., N. K. 18, S. 303 (1919).
'') Sitzungsberichte d. Bayr. Akad. d. Wissensch. ; Math.-
Phys. Kl.; 1920, S. 83. Ausführliche Mitteilung: Zeitschr. (.
Elektrochemie 26, S. 403 (1920).
') Ber. d. d. Chem. Ges. 23, S. 938 (1890).
*) Vgl. A b e g g , Handb. d. anorg. Chemie. Leipzig 1 907 fl.
daß auch in den exakten Wissenschaften nicht
die Mehrheit ausschlaggebend gemacht werden
sollte, daß auch hier gut begründete Annahmen
nie sicher sind, eines Tages von den besser be-
gründeten abgelöst zu werden. H. Heller.
Gletscherbewegungen in der Schweiz
im Jahre 1919.
Seit 191 3 wurde in der Schweiz, ähnlich wie
in den österreichischen Alpen (vgl. für diese den
Bericht von Brückner in der Zeitschrift für
Gletscherkunde, 10. Bd. 1916, S. 137) der Wieder-
beginn des Vorrückens der Gletscher festgestellt,
nachdem sie sich seit 1888 im Rückzug befunden
hatten (vgl. die Berichte in den Jahrbüchern des
Schweizerischen Alpenklubs; die folgenden An-
gaben für das Jahr 191 9 sind zum Teil einer vor-
läufigen Notiz im Bulletin de la Societe Vaudoise
des Sciences Naturelles, Vol. 53, Nr. 198 ent-
nommen). Das Vorrücken machte sich im Jahre
1919 viel stärker als im Vorjahre bemerkar: von
100 beobachteten Gletschern befanden sich 69
im Zunehmen (1918: 46,5), 4 waren stationär
(1918: 14), und 27 (1918: 39,5) im Abnehmen.
Speziell im Kanton Wallis zeigten von 18 be-
obachteten Gletschern 9 einen Vorstoß, 8 ein
Zurückweichen, nur einer (der Mont- Fort- Gletscher
im Nendaztal) blieb stationär. Am stärksten,
nämlich um 25,30 m, ging der Zinalgletscher
zurück ; die Vorstöße dagegen erreichten viel be-
trächtlichere Werte, z. B. beim Trientgletscher
im schweizerischen Teil des Montblancmassives
31 m, beim oberen Grindelwaldgletscher 55 m,
beim Blattengletscher im Lötschental sogar 67 m.
Das Vordringen der Gletscher erfolgte oft mit
großer Heftigkeit: Felsen und Erdreich mit den
darauf stehenden Bäumen wurden mitgerissen und
Gebäude zerstört, z. B. eine Steinbrücke durch
den oberen Grindelwaldgletscher.
Im großen und ganzen scheinen sich die
Gletscherschwankungen ziemlich gut in die von
Brückner (vgl. Klimaschwankungen seit 1700.
Pencks Geogr. Abhdl. IV, 2, 1890) aufgestellte
35 jährige Periode der Klimaschwankungen zu
fügen ; die Zeiträume des Vorrückens umfassen in
der Schweiz im vergangenen Jahrhundert die
Jahre 1811 — 1822; 1840—1855; 1870—1888, und
seit 191 3. Auch regenreiche Jahre mit zahl-
reichen Bergstürzen folgen sich annähernd peri-
odisch: 1816, 1846, 1876/78, 1908/10. Immerhin
scheint die Periode mit 35 Jahren etwas zu groß
zu sein; ein Zeitraum von 30 — 33 Jahren würde
den Tatsachen besser entsprechen. — Für die
Gletscher von Chamounix hat Mouzin (Etudes
glaciologiques en Savoie, T. II, Paris 1910) eine
Periode von 105 — 106 Jahren (also ein Vielfaches
von 35) gefunden; hiernach wäre das mittlere i
Maximum des gegenwärtigen Vorrückens im
Jahre 1925 zu erwarten.
Zürich. . M. Schips. S
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
57
^
Biologie und Anatoiiiie einiger
Enchyträiden.
Hierüber wurden in jüngster Zeit von Georg
Jegen in der Vierteljahrsschrift der Naturforschen-
den Gesellschaft in Zürich (65. Jahrg. 1920, S. 100 bis
208) eingehende Untersuchungen veröffentlicht.
Die Enchyträiden sind bekanntlich kleine (kaum
einige Millimeter lange) Oligochäten, die im
Boden und in Blumentöpfen (daher der Name,
von chytra = Topf) oft in ungeheuren Mengen
gefunden werden. Die Tatsache, daß sich die
Enchyträiden häufig in absterbenden Pflanzen
bzw. Pflanzenteilen vorfinden, legt die bisher all-
gemein für richtig gehaltene Ansicht nahe, daß
es sich um pathogene Parasiten handle. Es er-
gaben aber Untersuchungen von erkrankten
Pflanzen, die weiter noch durch Infektionsver-
suche bestätigt wurden, daß die Enchyträiden
nur bedingt als pathologisch angesehen werden
dürfen. Die Krankheit der Versuchspflanzen war
nämlich nicht durch die Enchyträiden, sondern
durch Nematoden [Tylcnchiis devastatrix und
Aphclctichys oniicroidcs) hervorgerufen ; die Enchy-
träiden dringen den Älchen nach, wobei sie hem-
mend auf die Ausbreitung der Nematoden ein-
wirken und, sofern die Schädigung der Pflanze
einen bestimmten Grad noch nicht überschritten
hat, die Gesundung der Pflanze herbeiführen.
Dabei bringen die Enchyträiden die Nematoden
sehr wahrscheinlich durch Absonderung eines
Verdauungssekretes zum Absterben, indem sie
deren Körper in eine schleimige Masse auflösen
und diese dann als Nahrung aufnehmen. Sind
aber die Pflanzenteile durch die Älchen schon in
erheblichem Maße geschädigt, dann werden nicht
nur die Älchen, sondern auch die Pflanzenzellen
selbst durch die Drüsenabscheidung der Enchy-
träiden zersetzt, wodurch natürlich der Untergang
der erkrankten Pflanze beschleunigt wird. Im
Boden selbst dringen die basisch reagierenden
Drüsensäfte leicht in abgestorbene, pflanzliche
Gewebe ein und schaffen so für die Fäulnis-
erreger günstige Existenzbedingungen. Es sind
also die Enchyträiden nicht als Schädiger, sondern
als Förderer des Pflanzenwuchses (bzw. der Humus-
bildung) anzusehen, indem sie, freilich in anderer
Weise als die Regenwürmer, an der ständigen
Umsetzung des Bodens sich aktiv beteiligen.
Tatsächlich sind denn auch fruchtbare Böden sehr
reich an Enchyträiden (Jegen fand im Humus-
boden je nach Jahreszeit 11 800— 150 000 Indi-
viduen auf den Quadratmeter), während sie in
unfruchtbaren Ton- und Lehmböden fast ganz
fehlen.
Die anatomischen Untersuchungen erstreckten
sich besonders auf die Verdauungs- und auf die
Fortpflanzungsorgane. Dabei stellte sich heraus,
daß die inneren Organe je nach dem Alter des
Individuums in weiten Grenzen voneinander ab-
weichen. Es lassen sich Jugendstadium, Reife-
stadium und Altersstadium unterscheiden. Im
Jugendstadium zeigen besonders die Ge-
schlechtsorgane, dann auch das Blutgefaßsystem,
das Nervensystem und die Segmentalorgane ganz
larvalen Charakter und können leicht in syste-
matischer Beziehung zu I äuschungen Veranlassung
geben. In diesem Stadium ernähren sich die
Tiere vorwiegend von pflanzlichen Stoffen (faulende
Pflanzenreste aus dem Boden), während die älteren
Individuen ihre Nahrung, wie die Regenwürmer,
der Erde selbst entnehmen. Das Alters-
stadium ist charakterisiert durch den Zerfall
besonders der Geschlechtsorgane. Für die syste-
matische Einteilung dürfen nur die Merkmale der
reifen Tiere verwendet werden; da dies bis
jetzt nicht immer geschah, ist die Systematik der
Enchyträiden ziemlich schwankend; vor allem
sollten die inneren, stark veränderlichen Organe
bei der Aufstellung des Systems möglichst wenig
benutzt werden ; ihre Heranziehung für die Syste-
matik erscheint aber auch gar nicht nötig, da die
äußeren Merkmale, welche sich besonders auf das
Borstenfeld (Borstentaschen), auf die Zahl, Form
und Anordnung der Borsten und auf die Zahnung
der Mund- und Kopflappen beziehen, zur Fest-
stellung des Systems der Enchyträiden genügen.
Zürich. Dr. M. Schips.
Tönen der Telegraplien- und Fernsprech-
leitungen.
Aus Beobachtungen zweier Linien entgegen-
gesetzter Richtung ermittelte H. Tietgen (Das
Wetter 1920, S. 26) folgende Tatsachen: Das
Tönen ist unabhängig vom Wind (bei Windstille
ist es vielfach am heftigsten), von der Tempe-
ratur (relativ heftiger bei niedrigen Temperaturen
infolge der größeren mechanischen Spannung der
Drähte) und den Tageszeiten (es tritt tagsüber
wie nachts, morgens wie abends auf). Es tönen
die an beiden Enden geerdeten und ungeerdeten
Leitungen, bei sehr heftigem Tönen läßt sich
häufig eine Grundschwingung von etwa 5 per/sec.
feststellen, dabei tönen die Linien entgegengesetzter
Richtung (N — S, 0 — W) mit wesentlicher Inten-
sität nie gleichzeitig, tönen sie zu gleicher Zeit,
so geschieht es mit geringer Intensität und wenig
auffallend. Nicht zu ermitteln ist ein fester Zu-
sammenhang des Tönens mit dem Barometerstand,
doch hat das Tönen der einen oder anderen
Linie stets einen Witterungswechsel im Gefolge,
welcher fast immer innerhalb der auf das Tönen
folgenden nächsten zwei Tage eintritt, und zwar
ist aufklärendes, heiteres, sog. schönes Wetter zu
erwarten, wenn die N-S-Linie tönt, Trübung der
Atmosphäre und Niederschläge aber beim Tönen
der 0-W-Linie. Die Schroffheit und Heftigkeit
des Wetterumschlages ist proportional der Stärke
des Tönens, wieder einsetzendes Tönen der Drähte
deutet auf weitere Verschärfung des eingetretenen
Wetterzustandes, andernfalls nach Eintritt des-
selben völlige Beruhigung der Drähte. Tietgen
erklärt die das Tönen verursachenden Schwin-
58
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
gungen der Drähte magnetischer Natur,
denn er hatte bei den Beobachtungen stets die
Empfindung, als „ob die Drähte von mag-
netischen Kraftl inien geschnitten wür-
den oder magnetische Kraftlinien
schneiden, wenn sie tönen". Letzteres
könnte der Fall sein infolge der Erdbewegung,
und die magnetischen Vorgänge wären kosmischer
Natur. Dr. Bl.
Verdunstung auf dem Meere.
Unter diesem Titel erschien kürzlich eine Ar-
beit von Dr. G. Wüst in den „Veröüfentlichungen
des Instituts für IVIeereskunde an der Univ. Berlin.
N. F. A. Geogr. naturw. Reihe Heft 6, mit 1 1 Fig.'
im Text, Berlin 1920", welche die Versuche zur
direkten Bestimmung der Verdunstung auf dem
Ozean zusammenfaßt und dabei besonders das
Beobachtungsmaterial verwertet, daß auf deutschen
Schiffen von 191 1 bis 19 13 gesammelt worden
ist. Als Verdunstungsgefäß dienten, wie bei den
bekannten Lütgensschen Messungen, zylindrisch
geformte Glasgefäße, die ein Volumen von
2,4 cdm besaßen und möglichst gleichmäßig bei
allen Beobachtungsreihen montiert worden waren.
Die Analyse der Wasserproben, wobei die Ver-
dunstungshöhe aus der Salzgehaltszunahme er-
mittelt wurde, geschah allerdings oft erst mehrere
Jahre nach der Ermittlung im Laboratorium, doch
war Vorsorge getroffen, daß eine Änderung im
Salzgehalt zwischen Entnahme und Titrierung in-
zwischen nicht eintreten konnte.
Als weitaus wichtigste Energiequelle für die
Entstehung der Verdunstung stellt sich die Strah-
lung heraus, an zweiter Stelle ist die Geschwindig-
des Windes zu nennen. Bei 50 km/Stunde erwies
sich die Verdunstung im Durchschnitt 6 mal
größer als bei Windstille, und schon bei 10 km-
Stunde doppelt so groß. Damit steht im engsten
Zusammenhang das Ergebnis eigener Studien, die
W. in der Ostsee durchführte, daß nämlich die
Verdunstungsgröße an der IMeeresoberfläche eine
im ganzen um 44 "/o geringere Verdunstung
zeigen würde, als an Bordhöhe, obwohl der Unter-
schied im Durchschnitt nur 6 m betrug. Die
Windgeschwindigkeit nimmt nämlich in geringer
Höhe über dem Horizont schon sehr schnell zu.
Sehr sorgfältig werden von dem Verf der Einfluß
der Lufttemperatur, des Luftdrucks, des Salzgehalts,
der Luftbewegung, endlich der Größe und der
Aufstellung des Gefäßes erwogen, so daß er glaubt,
instand gesetzt zu sein, aus den Ergebnissen der
Messungen im Beobachtungsgefäß auf die Ver-
dunstung über dem freien Meer schließen zu
können, ein Resultat, das bekanntlich bei Messun-
gen der Verdunstungsgröße auf dem Festland
noch lange nicht erreicht ist.
Während W. Schmidt zu einer mittleren
tatsächlichen Verdunstung des Weltmeeres von
2,07 mm;24'^ oder 76 cm/Jahr gelangte, wobei er
in der Hauptsache sich auf die bekannten Ergeb-
nisse der Lütgensschen Beobachtungen stützte,
ergibt sich aus den Wüst sehen Berechnungen
eine mittlere Verdunstung von 2,24 mm/24i' oder
82 cm/Jahr, also ein etwas höherer Betrag, wobei
die Fehlergrenze etwa + 12 % beträgt. Für die
Kalmen erhielt W. nur fast 45 "/^ höhere Werte
als Schmidt, während in den Passaten nahezu
Übereinstimmung besteht; in den Nordbreiten
findet er höhere Werte als für die entsprechenden
Zonen der Südhalbkugel, während die Auffassung
von Schmidt das Gegenteil ergab. Die zonalen
Unterschiede der Verdunstung sind im Weltmeer
schwächer ausgeprägt als im Atlantischen Ozean.
Dennoch ist wegen des verhältnismäßig großen
Anteils der . verdunstungsarmen Polarmeere der
Mittelwert für den Atlantischen Ozean (2,18 mm/
24'') kleiner als für das ganze Weltmeer. Die
Maxima der Verdunstung im Weltmeer liegen
zwischen 20 — 10" n. Br. und 10 — 20" s. Br., die
Minima natürlich in den Polargebieten, sie er-
scheinen gegen die Maxima des Salzgehalts um
10 — 15" Breite gegeneinander verschoben, jeden-
falls eine Folge des Einflusses der Niederschläge.
Da wir über seine absoluten Beträge noch immer
sehr mangelhaft unterrichtet sind, verzichtet W.
darauf, auf seine Verdunstungsergebnisse die Bilanz
des Wasserhaushaltes auf der Erde aufs neue zu
ziehen, sondern verschiebt sie auf die Zeit, bis wir
über die Niederschlagsverhältnisse auf dem Ozean
genauer unterrichtet sein werden.
Halbfaß.
Die Löß- und Schwarzerdeböden Rheinhessens.
Kürzlich hat Victor Hohenstein in den
Mitt. d. Oberrhein. Geol. Vereins N. F. Bd. IX, 1920,
über dieses Thema Untersuchungen veröffentlicht.
In regionalen bodenkundlichen Arbeiten ist es
zweckmäßig, der Beschreibung der Böden eine
kurze Charakteristik des geologischen Aufbaues,
der Morphologie, des Klimas, der Flora und der
Anbauverhältnisse des betreffenden Gebietes voran-
gehen zu lassen.
Am geologischen Aufbau Rheinhessens
beteiligt sich hauptsächlich das Tertiär, das Dilu-
vium und das Alluvium, im SW und W als
Liegendes auch noch das Rotliegende. Das Dilu-
vium setzt sich aus Schottern und Sanden, sowie
vor allem aus Löß zusammen, welcher eine bis
mehrere Meter mächtige Decke auf den Hoch-
flächen und besonders an den Abhängen (10 — 20 m
gegen das Rheintal) bildet und damit zur hohen
Fruchtbarkeit und intensiven Nutzung des rhein-
hessischen Bodens wesentlich beiträgt.
In engem Zusammenhang mit dem geologi-
schen Aufbau steht der Landschaftscharak-
ter. In mehreren Stufen steigt das rheinhessische
Plateau zu einer größtenteils über 200 m über
NN liegenden welligen Hochfläche an, die im SW
häufig Höhen von 300 m über NN erreicht.
Das Klima Rheinhessens ist günstig. Die
Niederschlagshöhe beträgt 450—500 mm, die
i
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
59
mittlere Jahrestemperatur 9 — 10" C. Rheinhessen
gehört somit zu den trockensten und wärmsten
Gebieten Deutschlands.
Die Anbauverhältnisse Rheinhessens
stehen ganz im Zeichen einer intensiven Kultur.
Auf den Ackerbau entfallen 75 %. Hauptbrot-
frucht ist Roggen, Weizen tritt zurück. Mangels
an Wiesen und Weiden wird viel Luzerne und
Esparsette angebaut. Wein nimmt 10 "/o '^^'^
landwirtschaftlich genutzten Fläche ein. In be-
sonderer Blüte und Pflege steht der Obstbau;
riesige Walnußbäume sind nicht selten. Die
Dörfer und Landstraßen tragen reichlichen Baum-
schmuck. Wald ist von Natur her sehr spärlich
vertreten. In der rheinhessischen Flora, beson-
ders aber in der Sandflora von Mainz sind charak-
teristische weitverbreitete Typen der osteuropäisch-
asiatischen Steppengebiete vertreten, wie Adonis
vernalis, Gypsophila fastigiata, Stipa capillata und
pennata usw.
Die Unterlage der rheinhessischen Löß- und
Schwarzerdeböden bildet der Löß, welcher wie
anderwärts charakteristisch als gelber bis gelb-
brauner kalkhaltiger Staubsand ausgebildet ist und
durch sein außerordentlich feines gleichmäßiges
staubartiges Korn ausgezeichnet ist. Der Gehalt
an Feinboden (unter 2 mm) beträgt im Mittel
98 — 99 "/q. Auf den Staub (0,05 — 0,01 mm) allein
entfallen etwa 50 "/„. Der Kalkgehalt beträgt im
Mittel 13 "/o; 8— 9 "/j sind seltene Ausnahmen,
doch kann er auch auf 18 "jg ansteigen. Die
Wasseraufnahmefähigkeit erreicht im Maximum
48 Vol.-7o.
Die Lößböden nehmen in Rheinhessen weite
Gebiete ein und sind durch hervorragend günstige
physikalische Eigenschaften ausgezeich-
net: feinkörnig, lehmig, schwach humos, licht-
braun, warm, wegen des Kalkgehaltes gut krümelig,
deshalb sehr leicht bearbeitbar und nicht ver-
krustend. Die Wasserfassung ist groß, so daß
die Lößböden einerseits reichliche Wassermengen
aufspeichern können, andererseits auch wieder
dieselben bei langanhaltenden Trockenperioden
an die Vegetation abgeben können, was bei der
geringen Niederschlagshöhe von besonderer Be-
deutung ist. Die Absorptionskraft für Nährstoffe
ist eine gute. Nicht so günstig sind wie bei
allen Lößböden die chemischen Eigen-
schaften, die indessen hier noch verhältnis-
mäßig gute sind, da infolge der geringen Nieder-
schlagshöhe die Auswaschung sehr gering ist.
Der beste Maßstab dafür ist der hohe Kalkgehalt,
der im Mittel 5 % beträgt.
Die rheinhessische Schwarzerde ist eine
dem russischen Tschernosem entsprechende klima-
tische Bodenart von 50 — 60 cm Mächtigkeit und
schwarzbrauner Farbe, welche nach unten allmäh-
lich in einen dunkelbraun bis hellbraun ge-
sprenkelten Horizont und schließlich in den Löß
übergeht. Sie ist in einem nacheiszeitlichen,
trockenen steppenartigen Klima bei fortgesetzter
Anreicherung von chemisch ausgefälltem Humus
aus den langsam verwesenden Resten einer üppi-
gen und gut bewurzelten Gras- und Kräuter-
vegetation hervorgegangen. Ihre Eigenschaften
sind ganz hervorragende, vielleicht noch etwas
besser als jene der Lößböden: schwarzbraun, gut
krümelig, tiefgründig, leicht bearbeitbar, kalkhaltig,
sehr warm und nährstoffreich. Die Schwarzerde
besteht aus reichlichen Wurmkrümeln, ebenso
reichen senkrechte Regenwurmgänge bis 2 m
Tiefe. Nicht selten kommen in der Schwarzerde
wie auch in dem dicht anschließenden Löß runde
oder ovale Tierlöcher von Wühlern, vor allem
dem Hamster vor, welche mit Schwarzerde oder
Lößmaterial oder beidem gemischt angefüllt sind.
Unter der normalen Oberflächenschwarzerde
ist in der ausgedehnten Lehmgrube der Dampf-
ziegelei von Herrn Gebrüder Schnell am Bahn-
hof in Sprendlingen dem etwa 8 — 10 m mächtigen
Löß ein 30 — 100 cm mächtiger Horizont von „be-
grabener Schwarzerde" in 4 m Tiefe eingelagert.
Diese begrabene Schwarzerde zeigt weitgehende
Übereinstimmung mit der Oberflächenschwarzerde.
Auch hier sind Hamsterlöcher, Regenwurmgänge
und -krümel häufig, woraus hervorgeht, daß die
begrabenen Schwarzerdeböden dereinst echte
Oberflächenböden waren und von Löß wieder
eingedeckt wurden. Ähnliche Böden hat Verf. in
der Provinz Sachsen nachgewiesen, außerdem
kommen sie in Rußland und Kanada vor.
Die rheinhessische Schwarzerde bildet sich
unter der augenblicklichen landwirtschaftlichen
Betriebsweise nicht mehr. Sie ist als Reliktboden
eines trockenen kontinentalen Steppenklimas auf-
zufassen, das an der Wende vom Diluvium zum
Alluvium geherrscht hat. Die rheinhessische
Schwarzerde bedeckt eine Fläche von 200 qkm.
Auf Grund der agrogeologischen Untersuchun-
gen muß angenommen werden, daß die rhein-
hessischen Löß- und Schwarzerdeböden von
Natur waldfrei waren. Es sind vortreffliche Acker-
böden, die sich durch leichte Bearbeitbarkeit und
große Fruchtbarkeit auszeichnen; auf ihnen ge-
deihen alle Feldfrüchte gut. Roggen, Gerste und
Luzerne werden besonders häufig angebaut.
V. Hohenstein, Halle.
Die Endmoräiieu der Hauptvereisung
zwischen Teutoburger Wald und Klieiuischem
Schiefergebirge
behandelt R. Bärtling in einer interessanten
Arbeit, welche in der Zeitschr. d. Deutschen
Geolog. Ges., Monatsber. Nr. i — 3, 72. Bd. 1920,
erschienen ist.
Den langwierigen Untersuchungen zahlreicher
Geologen der Preuß. Geol. Landesanstalt ist es
gelungen, den Verlauf der Endmoränen im Rand-
gebiete des größten Eisvorstoßes auch für Rhein-
land und Westfalen festzustellen. Während sie
auf der linken Rheinseite bei verhältnismäßig
flachem Gelände als große, das ganze Landschafts-
bild beherrschende Bergzüge erscheinen, sind sie
6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
dagegen im Hügellande rechts des Rheines zu
mehr oder weniger undeutlichen Resten aufgelöst,
deren Zusammenhang durch die Bergzüge des
alten Gebirges, sowie durch die starke Löß-
bedeckung verschleiert wird.
Auf der linken Rheinseite endigt der süd-
lichste Endmoränenzug in der Gegend von
Krefeld. Von da ab fehlt jede Spur, da der
Rhein die Reste zerstört oder überschüttet hat.
Erst wieder im Gebiete der Saarner Mark auf der
rechten Rheinseite konnten sie unter den Ablage-
rungen der Rheinniederterrasse als mächtige lokale
Blockpackung festgestellt werden, deren Untergrund
(,, Flözleeres") deutliche Glazialschrammen zeigte.
Ihre Fortsetzung finden diese Endmoränen der
Ruhr entlang in dem großen die Stadt Essen in
weitem Umkreis umziehenden Essener End-
moränenbogen. Daran reiht sich der um die
Stadt Bochum verlaufende Bochumer End-
moränenbogen, der hauptsächlich aus sehr
mächtigen, vorwiegend feinsandigen Ausschüt-
tungen besteht. Nach einer Unterbrechung durch
Karbon- und Kreidehöhen folgen ostwärts bei
Dorstfeld mächtige Blockpackungen. Der an-
stoßende Dortmunder Bogen erstreckt sich
über die Stadt Horde bis östlich von Holzwickede.
In der Hörder Endmoräne überwiegt ein-
heimisches Karbon, in der Holzwickeder
Endmoräne hauptsächlich Oberer Turonmergel.
Stark nach Süden ausbiegend folgt nun in einem
sehr flachen Bogen die Unnaer Endmoräne.
Unsere Kenntnisse \on der weiteren östlichen
F'ortsetzung sind sehr dürftig. Aus dem Vor-
kommen der Grundmoräne südlich der Städte
Soest, Lippstadt und Paderborn, sowie der dünnen
Bestreuung mit vereinzelten nordischen Blöcken,
die bis auf die Höhe des Haarstrangs hinauf-
gehen, wissen wir, daß die Endmoräne in der
Nähe der Kammlinie des Haarstrangs gelegen
haben muß, daß aber der Kamm wahrscheinlich
frei vom Eise blieb, wie man dies wohl auch
vom südlichsten höchsten Teile des Teutoburger
Waldes annehmen muß.
Im Hinterlande dieser Endmoränen liegen
weit ausgedehnte eintönige Grundmoränen, die
erst wieder durch die erste Rückzugsstaft'el in der
Gegend von Münster eine Unterbrechung er-
fahren. Hier verläuft der große Endmoränen -
bogen von Münster, an den sich nach
Norden bis in die Gegend von Rheine der
Neuenkirchener Bogen anschließt, dann die
Emsbürener Endmoräne und die Lohner
Berge, während nach Süden der Beckumer
Endmoränenbogen sich hinzieht. In der
Münsterschen Endmoräne fehlen Blockpackungen
fast ganz. Ihre Oberflächenformen sind wenig
frisch und überaus verwischt, so daß man an-
nehmen muß, daß hier eine Gleichgewichtslage
zwischen Nachschub und Zurückschmelzen des
Eisrandes bestand. Der Rückzug vollzog sich
ungleichmäßig und zwar im westlichen Teile von
West nach Ost schneller (90 km) als gleichzeitig
im östlichen Teile von Süd nach Nord (25 km).
Vermutlich ist hier der Einfluß der See oder gar
des Golfstromes bemerkbar, wie das auch bei
später gebildeten Endmoränen, wie der schleswig-
holsteinischen, der Fall ist.
Beim weiteren Zurückschmelzen des Eises
kam es in Westfalen nochmals zur Aufschüttung
einer bedeutenden Endmoräne zwischen den süd-
lichsten Kuppen und Kämmen des Teutoburger
Waldes. Sie ist vor allem bei Lengerich, Lienen,
Iburg, Hilter und Borgholzhausen beobachtet.
Der Eisrand fiel lange mit den südlichsten
Kämmen des Teutoburger Waldes zusammen, so
daß nördlich des Gebirges die Grundmoränen,
südlich der Kammlinie dagegen glaziale Sande
{Schmelzwasserabsätze) vorherrschen, die sich in
fast allen Schluchten bis nahe an die Kammlinie
hinaufziehen. Auffallend ist dieser Gegensatz im
Landschaftsbild: auf der Nordseite fruchtbare
Grundmoränenflächen, auf der Südseite dagegen
eintönige Heidesandflächen.
Für die Art der Ausbildung der End-
moränen war der Einfluß des Untergrundes
und der Gebirge von ganz besonderer Be-
deutung. In Holland herrscht der Typ der Stau-
moränen vor, welche in Westfalen fehlen und
hier durch Sandaufschüttungen und Blockpack-
ungen vertreten werden. Nach Ansicht von
Bärtling hat das Eis den Teutoburger Wald
beim ersten Vorstoß größtenteils überschritten,
während es sich dem Gebirgsrand des Rheinischen
Schiefergebirges und des Haarstrangs anpassen
mußte. Der Einfluß des Teutoburger Waldes mit
seinen geschlossenen quer zur Stromrichtung des
Eises verlaufenden Kämmen zeigt sich besonders
in der Ausbildung der südlichsten Endmoräne auf
der rechten Rheinseite, während links des Rheines
und vor allem in Holland, wo keine derartigen
Hindernisse bestanden, größere und geschlossene
Endmoränen zur Ausbildung gelangten. Wo das
Inlandeis ungehindert vordringen konnte, waren
die Wirkungen wesentlich größer als dort, wo
ein geschwächtes Eis im Lee oder wie Bärtling
es treffend nennt, im „Eisschatten" des Teuto-
burger Waldes erst noch die Höhen des Haar-
strangs und der Grafschaft Mark hinaufsteigen
mußte. Je höher die vorgelagerten Kämme,
desto geringer die Ausbildung der südlichen End-
moräne. Aber auch bei der Münsterschen End-
moräne zeigt sich ein ähnliches Bild, indem ihre
Fortsetzungen in den Lohner Bergen bedeutender
sind, als die Sandrücken im Innern des Beckens.
Die Wirkungen des Eises und vor allem
seiner Schmelzwässer auf den Untergrund
beobachtete Bärtling im Gebiete zwischen
Rhein und Dortmund. Das untere Ruhrtal be-
stand damals ebensowenig wie das Rheintal. Vor
dem Herannahen des Eises verlief das Ruhrtal
von der Quelle bis Witten wie heute; bei Witten
aber brach die Ruhr nach Norden durch und
schüttete mächtige Flußschotter auf den flachen
Kreidehöhen des Gebirgsvorlandes im Gebiete
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6i
zwischen Witten, Kastrop, Herne und Essen auf.
Sie sind erheblich älter als das Eis, welches 50 m
tief in diese Geröllablagerungen eingeschnittene
Täler vorfand. Die Ausräumung dieser Täler hat
entweder während der ersten Eiszeit oder in der
ersten Interglazialzeit stattgefunden. Hernach
sind die Täler wie die Höhen mit den Grund-
moränen des vordringenden Inlandeises bedeckt
worden. Das Eis hat wenig umgestaltend ge-
wirkt, dagegen um so mehr die vor dem Eis-
rande verlaufenden Schmelzwässer. Die außer-
ordentlich tiefe Lage von Eisrandbildungen je im
einspringenden Winkel zweier Endmoränenbögen
ist auf die Erosionswirkung gewaltiger
Wasserfälle vor dem Eisrand zurückzuführen,
welche durch Zusammenströmen der auf der
Oberfläche des Eises verlaufenden Schmelzwasser-
flüsse in der Senke zwischen zwei Zügen des
Eisrandes entstanden sind. Ähnliche auskolkende
Wirkungen der Schmelzwässer auf den Unter-
grund wurden auch bei der Münsterländischen End-
moräne festgestellt, wo sie indessen nicht auf den
einspringenden Winkel beschränkt sind, sondern
der Endmoräne über weite Bogenstücke folgen.
Bei der nördlicher liegenden Endmoräne des
Teutoburger Waldes sind solche Wirkungen noch
nicht beobachtet, da hier so tiefgehende Auf-
schlüsse fehlen. Diese gewaltigen Wirkun-
gen der Schmelzwässer sind nicht zu unter-
schätzen; sie machen sich ohne Unterschied der
Härte des Untergrundes bemerkbar. Bei Kupfer-
dreh schufen sie Höhenunterschiede von 80 m,
ebenso bei Langendreer, wo die Auskolkung bis
13 m unter den heutigen Ruhrspiegel hinabgeht.
Ohne die tiefgehenden Schächte wären diese Fest-
stellungen nicht möglich gewesen. Sie zwingen
uns, vor weitgehenden Schlüssen aus der Lage
der Endmoränen zu den Talterrassen zu warnen,
denn die Höhenlage der Endmoränen ermöglicht
keinerlei Schlüsse auf ihre Beziehungen zu den
Talterrassen. Während im Oberlaufe der Ruhr
die Terrassen stufenweise in das anstehende Ge-
stein eingeschnitten sind, haben sie sich weiter
unten in die Endmoränenmassen der Auskolke
eingeschnitten, so daß bei Altendorf oberhalb von
Steele Grundmoränen unter der untersten Ruhr-
terrasse festgestellt werden konnten. Die Moränen
sind älter als die 3 Terrassen oder wenigstens
gleichaltrig mit einer zur Hauptterrassenzeit zeit-
weilig stark zurückgestauten Ruhr.
Die Eismächtigkeit rechnet Bärtling
zur Zeit des größten Eisvorstoßes bei Münster auf
fast 500 m, da der Eisrand am Haarstrang bis in
Höhen von über 200 m hinaufstieg und man in
den randlichen Gebieten des Inlandeises wenig-
stens 5 "0 Gefälle für eine Bewegung des Eises
annehmen muß.
Da der Abfluß der Schmelzwasser in nörd-
licher oder nordwestlicher Richtung versperrt
war, so entstanden vielfach Stauseen, deren
Abflüsse auf die heutigen Täler, so z. B. der
Ruhr, umgestaltend gewirkt haben. Das Hell-
weger Tal, das sich am ganzen Nordrand des
Haarstrangs bis in die Gegend von Paderborn
verfolgen läßt und sich östlich von Soest mit
dem Lippetal vereinigte, stellt wahrscheinlich den
Abfluß des großen Sennestausees dar. Die
Lippe führte die Schmelzwasser aus der Gegend
von Detmold, Mastholte und Beckum ab, während
die Stever jene des Münsterschen Endmoränen-
bogens sammelte. Nachdem die Münstersche
Tiefebene frei geworden war, sammelte die Ems
die vom Teutoburger Walde kommenden Schmelz-
wassermassen und führte sie nach Nordwesten
ab. Die Talsysteme der Lippe, Stever und Ems
stehen somit im Zusammenhang mit je einer ein-
zigen Rückzugsphase des Inlandeises, woraus sich
die Tatsache erklärt, daß diese Täler über dem
heutigen Talboden nur die eine von den glazialen
Schmelzwassermassen aufgeschüttete Talterrasse
besitzen. Die interessanten, z. T. recht schwie-
rigen Untersuchungen von Bärtling haben die
Glazialgeologie Nordwestdeutschlands um ein be-
trächtliches Stück vorwärts gebracht.
V. Hohenstein, Halle.
Bücherbesprechungen.
Robien, Paul, Die Vogelwelt des Bezirks
Stettin. 112 Seiten, Stettin 1920, Leon
Sauniers Buchhandlung.
Unter „Bezirk Stettin" versteht der Verf. nicht
den gleichnamigen Regierungsbezirk, sondern ein
Gebiet, das im Süden die Kreise Randow, Gräfen-
hagen und Pyritz, im Osten Saatzig, Regenwalde,
Naugard und Kammin, im Westen Ückermünde
und im Norden das Gebiet von Swinemünde bis
zur Regamündung umfaßt. Innerhalb dieses Be-
zirks wurden von Robien durch eigene Be-
obachtung rund 200 Vogelarten, darunter 127
Brutvögel, festgestellt. Das Blaukehlchen ist er-
freulicherweise im Bezirk Stettin nicht selten, der
Ortolan, wie in anderen Gegenden Norddeutsch-
lands, in Zunahme begriffen. Bemerkenswert ist
das Vorkommen des Heuschreckensängers sowie
der Gebirgsbachstelze, die ursprünglich dem Flach-
lande fehlte. 1913 hat der Erlenzeisig in den
Grabower Anlagen gebrütet. Die Wiesenweihe
nistet nur westlich von Waldowshof Brutplätze
der Sumpfohreule liegen in den Kreisen Pyritz
und Greifenhagen. Der Wespenbussard soll in
der Ückermünder Heide brüten. Der Kolkrabe
dürfte im Osten des Gebiets noch einige Horste
bewohnen; das gelegentliche Brüten der Raben-
krähe wird vom Verf. nicht für unmöglich ge-
halten. Schwarzstorch und Kranich sind in letzter
62
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
Zeit nicht mehr mit Sicherheit als Brutvögel
nachgewiesen worden. An vielen Stellen seiner
Schrift tritt R o b i e n warm für die Idee des Natur-
schutzes ein und wendet sich energisch gegen
das unverantwortliche Treiben von Schießern und
Eierräubern. Von dem Erlaß eines radikalen
Schießverbots verspricht er sich guten Erfolg für
den Schutz der einheimischen Vogelwelt. Den
durch eine derartige Maßnahme bedingten Aus-
fall an Fleisch empfiehlt er durch eine groß-
zügige Zucht von Tauben, Hühnern, Gänsen und
Enten auszugleichen. Da die Schrift in erster
Linie für Vogelfreunde bestimmt ist, hat der Verf
auf die Unterscheidung der Subspezies und die
Hinzufügung von Autorennamen verzichtet. Daß
der Verf. im Gegensatz zu führenden Ornithologen
die Verwendung von Doppelnamen (z. B. Cocco-
thraustes coccothraustes) ohne stichhaltigen Grund
prinzipiell ablehnt, vermag der Referent nicht zu
billigen. F. Fax (Breslau).
Verworn, Max, Die Anfänge der Kunst.
2. Aufl. 75 S. 31 Abb. u. 3 Tafeln. Jena 1920,
Gustav Fischer.
Das Buch führt uns in mustergültig einfacher
Weise das allmähliche Werden der künstlerischen
Ausdrucksfähigkeit des Menschen vor, von den
leisesten Symptomen an Feuersteinfunden des
ältesten Diluviums bis zu den „physioplastischen",
ohne jede Ideenbildung wiedergegebenen Jagd-
tieren der Höhlenbilder und Beinschnitzereien des
mittleren Paläolithikums. Der Text ist ergänzt
mit lehrreichen Abbildungen. Auch prinzipiell
ist dem Verfasser seine Auffassung zuzugeben,
daß der Naturalismus gerade dieser ältesten Figuren-
darstellungen ein Ergebnis des noch ideenlosen
Seelenlebens ihrer Verfertiger ist. Die darauf
folgende, aus der nunmehr erst entwickelten Ein-
bildungskraft entstehende „ideoplastische" Kunst,
die nicht mehr direkt an das Naturbild sich hält,
sondern aus der Phantasie schafft, rechnet Ver-
worn nicht mehr unter die Anfänge der Kunst
und berücksichtigt sie daher nicht weiter. Doch
weist er überzeugend darauf hin, daß deren äußer-
liches Ungeschick nur einen relativen Rückschritt •
gegenüber der naturalistischen Überzeugungskraft
der „physioplastischen" Kunst bedeutet. Denn sie
hat dieser gegenüber den Vorzug eines unbe-
grenzten Ideengehaltes. Da entsteht denn freilich
sogleich eine grundsätzliche Frage: Sind die An-
fange dessen, was wir im eigentlichen Sinne Kunst
nennen im Gegensatz zu reiner Technik und
naturalistischer Richtigkeit, nicht gerade erst da
zu suchen, wo die „ideoplastische" Kunst beginnt?
Verworn schließt seine Ausführungen mit dem
Hinweise, die Aufgabe der Kunst sei, Bewußtseins-
inhalte zum Ausdruck zu bringen. Wie aber,
wenn man vielmehr Gefühlsinhalte verlangte? In
dem Falle würden des Verfassers Ausführungen
weniger den Anfängen der Kunst als ihren Vor-
stufen und Voraussetzungen gelten. Rezensent ist
dieser Meinung und bedauert daher, daß die so
überzeugend sachlichen Ausführungen am Schluß
durch eine Polemik gegen die ästhetische Nach-
barwissenschaft ein wenig getrübt worden ist.
K. Steinacker.
Winteler, Dr. F., Die heutige industrielle
Elektrochemie. Ein Überblick mit beson-
derer Berücksichtigung der schweizerischen Ver-
hältnisse. Sonderabdruck aus der Halbmonats-
schrift für das Gesamtgebiet der Technik
„Technik und Wirtschaft" Jahrg. 1918, Heft 17
bis 24. 80 Seiten in kl. 8" mit 2ö Abbildgn.
im Text und 2 Tafeln. Zürich 1919, Verlag
von R. Ascher & Co. Preis geh. 1,70 Frs.
In außerordentlich klarer Darstellung gibt der
Verf eine Übersicht über die allgemeinen wirt-
schaftlichen Grundlagen der Elektrochemie, ihre
derzeitigen Leistungen und ihre Entwicklungs-
möglichkeiten und -notwendigkeiten. Bei der
Besprechung der heute praktisch im großen durch-
geführten Verfahren, bei der die elektrothermi-
schen Prozesse, die Schmelzelekttolyse und die
Elektrolyse der wässerigen Lösungen in gleicher
Weise berücksichtigt werden, befleißigt er sich
großer Kürze und bringt so dem Leser das
Wesentliche zur klaren Anschauung. Das Büch-
lein verdient daher, auch wenn es sich in der
Hauptsache auf die schweizerischen Verhältnisse
beschränkt, doch das Interesse auch des deut-
schen Publikums — des allgemein interessierten
Wissenschafters wegen der Klarheit der Darstellung,
des Spezialisten wegen vieler wertvoller Angaben
über den Stand der elektrochemischen Technik in
der Schweiz — , und es muß nur bedauert werden,
daß der — an sich durchaus angemessene —
Preis von 1,70 Frs. das Büchlein den deutschen
Interessenten infolge des unglückseligen Tiefstan-
des unserer Valuta heute fast unzugänglich macht;
es ist dies ein weiteres kleines Beispiel für die
Schwierigkeiten, die den wissenschaftlich inter-
essierten Deutschen bei der — in Wirklichkeit
unentbehrlichen — Benutzung der außerdeutschen
Literatur entgegenstehen.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Abel, O., Lehrbuch der Paläozoologie.
500 S., 70oTextabb. Gustav Fischer, Jena 1920.
Brosch. 40 M.
Von dem überaus rührigen Verfasser liegt
abermals ein umfangreiches, in gewohnter sorg-
fältiger Weise illustriertes Lehrbuch vor. Es be-
handelt diesmal auch die Wirbellosen unter den
Fossilien. Freilich ist dabei, um für lehrhafte zu-
sammenhängende Darstellung Raum zu gewinnen,
bewußt nur ein kleiner Bruchteil von Einzel-
erscheinungen der fossilen Tierwelt herausgehoben
worden und mit gleicher Absichtlichkeit die Aus-
führlichkeit von Gruppe zu Gruppe je nach dem
tatsächlichen wissenschaftlichen Werte durchaus
verschieden gehandhabt worden, Schematismus
also in jeder Beziehung vermieden.
Die Wahl des Ausdrucks Paläozoologie anstatt
N. F. XX. Nr. 4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
63
Paläontologie bedeutet ein Programm, nämlich
das Streben nach Eingliederung des Wissensstoffes
in die biologischen Fächer, nach Unabhängigkeit
vor allem von allzu geologisch betonten Bedürf-
nissen. Daß biologische Betrachtungen einen
größeren Raum einnehmen, ist bei der bekannten
Arbeitsrichtung des Verf. selbstverständlich und
ganz gewiß kein Schaden, um so weniger als
gerade sie mit Recht als ein Brückenpfeiler
zwischen geologischem und paläontologischem
Ufer aufgefaßt werden.
Dem speziell systematischen Teil gehen Kapitel
allgemein-paläontologischen Inhalts voraus. Bei
den sonst nicht zu ausführlich behandelten Säuge-
tieren finden sich ebenfalls wertvolle Bemerkungen
allgemeineren Inhalts vorausgeschickt.
Das Werk dürfte neben anderen paläontologi-
schen Lehrbüchern seinen Platz erobern und be-
haupten, insbesondere weil es wirklich mehr auf
Einführung in den Stoff als eine dem Schüler
doppelt fernstehende vollkommene Übersicht über
den gesamten Formenschiatz abgestellt ist.
Hennig.
Oppenheimer, C. und Wei§, O. , Grundriß
der Physiologie für Studierende und
Ärzte. I. Teil. Oppenheimer, Biochemie.
3. Aufl. 522 S. Leipzig 1920, Georg Thieme.
22 M.
Über dieses Werk, das nach kaum Jahres-
verlauf eine neue Auflage erlebte, erübrigt es
sich eigentlich, ein Wort des Lobes zu sagen.
War schon die vorangehende Auflage ein Kunst-
werk, so ist die jetzt vorliegende neue Bearbeitung
noch um vieles verbessert worden. So ist auch
das schwierige Kapitel über den Zellstoffwechsel
in prägnanter Weise ausgearbeitet, und keine
wichtigen Tatsachen sind umgangen. Auch das
Kapitel der Kolloide ist völlig neu umgestaltet
worden. Es ist besonders erfreulich, daß hoher
Wert auf möglichst klare, vollständige Darstellung
der modernen Zellphysiologie gelegt ist, was in
manchem Lehrbuch oder Grundriß vermißt wird.
Und doch tritt die Wichtigkeit gerade dieses Ge-
bietes immer mehr in den Vordergrund.
Auch die Pathologie des Stoffwechsels tritt
diesmal in ihr Recht: Es sind Zusätze über Gicht
und Diabetes hinzugekommen, Ansätze zu der
wichtigen Umgestaltung in der Pathologie, in der
etwas weniger pathologische Anatomie aber desto
mehr pathologische Physiologie wünschenswert
ist. Ebenso ist der praktische Ausblick, der der
. Ernährungslehre angefügt ist, eine wesentliche
Bereicherung des Werkes. Oppenheimers
Grundriß hält in trefflicher Weise den Mittelweg
zwischen kompendienhafter, unzureichender Kürze
und ermüdender Länge und ist daher für Studie-
rende ebenso wie für Gelehrte, die mit dem Ge-
biete der Biochemie Berührung haben, ein in
seiner Art einzig dastehendes Lehrbuch.
Collier.
Spitta, O., Grundriß der Hygiene. Berlin
1920, Julius Springer. 36 M.
Ein Lehrbuch der Hygiene soll sich nicht nur
darauf beschränken, die schädigenden Wirkungen
der Außenwelt auf den Menschen der Reihe nach
aufzuzählen, sondern es soll den Leser den Zu-
sammenhang zwischen Mensch und Umwelt
vor Augen führen. Es muß gleichsam ein Ge-
samtbild der Umwelt mit dem Menschen in der
Mitte malen und zeigen, wie im Wechselspiel
zwischen beiden alles Geschehen darauf hinaus-
läuft, den Menschen als Individuum oder als Gat-
tung erstarken zu lassen, teils durch Ausschaltung
ungünstiger oder gar feindlicher Momente, teils
durch Verstärkung der günstigen und fördernden.
Der Spittasche Grundriß erfüllt nun diese
Forderungen in vortrefflichem Maße. Dies ist
vor allen Dingen der Erfolg der Anordnung des
Stoffes, der nach physiologischen Gesichtspunkten
eingeteilt ist, da Verf. von dem sehr richtigen
Grundsatz ausgeht, daß die Hygiene zum größten
Teil angewandte Physiologie und Pathologie ist.
So gibt das Buch einen einheitlichen Überblick
über das Gesamtgebiet der Hygiene. Die ange-
fügten kurzen Abschnitte über die Untersuchungs-
methoden werden besonders dem Studierenden
und die Literaturangaben jedem angenehm sein,
der sich in einzelne Kapitel der Hygiene aus-
führlicher vertiefen will. Die Gesetzgebung ist
ebenfalls eingehend berücksichtigt, ein Umstand,
der das Buch auch für solche Leser wertvoll
macht, die in der sozialen Fürsorge beschäftigt
sind, zumal noch der klare, leicht faßliche Stil
dazukommt. Collier.
Arndt, Kurt, DieBedeutung derKolloide
für die Technik. Allgemeinverständlich
dargestellt. 3. verb. Aufl. 53 Seiten in kl. 8".
Dresden und Leipzig 1920. Verlag von Theodor
Steinkopff. Preis geheftet 3 M.
Die kleine Schrift, die sich an weitere Kreise
des naturwissenschaftlich interessierten Publikums
wendet, gibt zunächst einen ganz kurz und
elementar gehaltenen Überblick über das Wesen
der Kolloide und schildert dann an einer Reihe
von Beispielen die praktische Bedeutung der
Kolloidchemie. Daß das Büchlein jetzt schon
in der dritten — übrigens wesentlich verbesserten
und sorgfältig ergänzten — Auflage vorliegt,
beweist seine Brauchbarkeit.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Littrow, Atlas des gestirnten Himmels
für Freunde der Astronomie. Taschen-
ausgabe. Mit einer Einleitung von Prof. Dr.
J. PI aß mann. 2. Auflage. Berlin 1920,
F. Dümmler. il M.
Auf diese unveränderte Auflage des bereits
früher mehrfach besprochenen Büchleins seien die
Freunde der Astronomie hier nur hingewiesen.
Miehe.
64
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4
Mieleitner, K., Die technisch wichtigen
Mineralstoffe, Übersicht ihres Vorkommens
und ihrer Entstehung. Mit einem Vorwort von
P. Groth. VI und 195 Seiten in 8" und 9 Ab-
bildungen im Text. München und Berlin 1919,
Druck und Verlag von R. Oldenbourg. Preis
geheftet 15,60 M.
Das vorliegende Buch gibt eine Übersicht
über die für die Chemie und chemische Techno-
logie wichtigen Mineralvorkommen. Es wendet
sich an alle die, die — aus allgemeinen theoreti-
schen oder aus praktischen Gründen — Interesse
für die genannten Industrien haben. Es ist sach-
gemäß und sehr übersichtlich geschrieben — sein
Verfasser ist Kustos der mineralogischen Samm-
lungen des Bayerischen Staates in München und
hat an der Aufstellung der großen dortigen topo-
graphisch geordneten Sammlung der Minerallager-
stätten aller Länder hervorragenden Anteil —
und wird zweifellos allen Interessenten von großem
Nutzen sein. Wenn der Referent einen Wunsch
aussprechen darf, so möchte er bitten, daß in
einer etwa notwendig werdenden zweiten Auf-
lage auch einige Zahlenangaben über die wirt-
schaftliche Bedeutung der einzelnen Mineralien
gemacht werden ; sie würden für die Leser und
Benutzer des Buches von großem Werte sein.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Classen, Alexander, Handbuch der qualita-
tiven chemischen Analyse anorgani-
scher und organischerVerbindungen.
7. umgearbeitete und vermehrte Auflage. IX u.
341 Seiten in 8". Stuttgart 1919, Verlag von
Ferdinand Enke.
In dem vorliegenden Buche behandelt der be-
kannte Aachener Hochschullehrer zunächst die
wichtigsten Reaktionen der Metallionen und
schildert im Anschluß daran den systematischen
Gang, der zur Erkennung der einzelnen Metall-
ionen in Mischungen dient. Weiter bespricht er
das für den Analytiker wichtige Verhalten der
anorganischen und eine größere Anzahl organi-
scher Säuren und — sehr ausführlich —
das der wichtigeren Alkaloide. Zum Schluß
werden eine große Anzahl besonders wichtiger
organischer Stoffe behandelt. Das Buch be-
schränkt sich also nicht, wie die meisten, für den
Gebrauch der Studierenden bestimmten Lehr-
bücher der analytischen Chemie auf die Stoffe
der anorganischen Chemie, es läßt auch die Stoffe
der organischen Chemie zu ihrem Rechte kommen ;
daher hat es auch für weitere Kreise Interesse.
Für die Zuverlässigkeit der Angaben und die
Klarheit der Darstellung bürgt der Name des
Verfassers; bewiesen werden sie durch die Not-
wendigkeit der Herausgabe einer siebenten Auflage.
Berlin- Dahlem. Werner Mecklenburg.
Wolff, W., Die Entstehung derlnselSylt.
2. Aufl. Friedrichsen u. Co., Hamburg 1920.
48 S., II Tafeln. Brosch. 6 M.
Den zahlreichen Besuchern der Insel wird in
kurzen Zügen ein zuverlässiges gemeinverständ-
liches Bild von den geologischen Vorgängen ent-
rollt, an deren Ende der heutige Zustand des
Eilandes, seine Gestalt, Umgrenzung und sein Bau
stehen. Eine Reihe guter Lichtbildwiedergaben
führen noch sicherer in das Verständnis des Be-
handelten ein. (Daß die Entwicklung des Menschen-
geschlechts rückwärts „bis in die Braunkohlen-
periode hinauf reiche, S. 34, ist eine wohl kaum
allgemein geteilte Auffassung!).
Edw. Hennig.
Literatur.
Mosler, Dr. H., Einführung in die moderne drahtlose
Telegraphie und ihre praktische Verwendung. Mit 2l8 Text-
abb. Braunschweig '20, Fr. Vieweg. 24 M.
Andree, Prot. Dr. K., Geologie des Meeresbodens.
Bd. II die Bodenbeschaffenheit und nutzbare Mineralien am
Meeresboden. Mit 139 Textfig. , 7 Tafeln und I Karte.
Leipzig '20, Gebr. Bornträger. 92 M.
Heiberg, J. L., Naturwissenschaften, Mathematik und
Medizin im klassischen Altertum. 2. Aufl. Leipzig u. Berlin '20,
B. G. Teübner. 2,80 M.
Binz, Dr. A., Schal- und Exkursionsflora der Schweiz.
Basel '20, B. Schwabe & Co. 9 Fr.
K ü k e n t h a 1 , Prof. Dr. W., Leitfaden für das zoologische
Publikum. 8. Aufl. Mit 174 Textabb. |ena '20, G.Fischer.
28 M.
Mez, Prof. Dr. C, Hagers „Mikroskop und seine An-
wendung. 12, Aufl. Mit 495 Textfig. Berlin '20, J. Springer.
3S M.
Inhalt: E. Küster, Das Typhetum in der frühen deutschen Graphik, (i Abb.) S. 49. — Einzelbericbte : Fr. Jäger,
Die Austrocknung Südafrikas. S. 52. G. Krenkel, Bericht über eine Forschungsexpedition in Deutsch - Ostafrika.
S. 53. V. Hilber, Die geologische Stellung des Paläolithikums. S. 54. T. Math er, Naturschutz in den Ver-
einigten Staaten von Amerika. S. 55. J. Verne, Die Natur des roten Farbstoffes der Crustaceen. S. 55. . O. Hönig-
schmidt und_ L. Birckenbach, Atomgewicht von Wismut. S. 56. Gletscherbewegungen in der Schweiz im
Jahre 1919. S. 56. G. Jegen, Zur Biologie und Anatomie einiger Enchylräiden. S. 57. H. Tietgen, Tönen
der Telegraphen- und Fernsprechleitungen. S. 57. G. Wüst, Verdunstung auf dem Meere. S. 58. Victor
Hohenstein, Die Löl3- und Schwarzerdeböden Rheinhessens. S. 58. R. Bärtling, Die Endmoränen der Haupt-
vereisung zwischen Teutoburger Wald und Rheinischen Schiefergebirge. S. 59. — Bücherbesprechungen : 1'. Robien,
Die Vogelwelt des Bezirks Stettin. S. 61. M. Verworn, Die Anfänge der Kunst S. 62. F. Winteler, Die heutige
industrielle Elektrochemie. S. 62. O. Abel, Lehrbuch der Paläozoologie. S. 62. C. Op penheimer und Q. Weiß,
Grundriß der Physiologie für Studierende und Arzte. S. 63. O. Spitta, Grundriß der Hypienc. S. 63. K. Arndt,
Die Bedeutung der Kolloide für die Technik. S. 63. Littrow, Atlas des gestirnten Himmels für Freunde der Astro-
nomie. S 63. K. Mieleitner, Die technisch wichtigen Mineralstoffe. S. 64. A. Classen, Handbuch der qualita-
tiven chemischen Analyse anorganischer und organischer Verbindungen. S. 64. W. Wolff, Die Entstehung der Insel
Sylt. S. 64. — Literatur: Liste. S. 64.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folgre 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 30. Januar 1921.
Nummer 5.
Kakao und Schokolade bei den alten Mexicanern und anderen
mittelamerikanischen Völkern.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. phil. Frau
Vierhundert Jahre sind verflossen, seit Euro-
päer zum ersten Male mit dem Kakao und der
Schokolade bekannt wurden, die heute eine so
hervorragende Rolle in der Ernährungswirtschaft
spielen. Wie schnell sich der Kakao als eines
der beliebtesten Genußmittel neben dem Kaffee
und Tee eingebürgert hat, beweist nichts besser
als ein kurzer Hinweis auf die Zunahme seines
Verbrauches in Deutschland im Anfang dieses
Jahrhunderts. Die Einfuhrzahlen für Kakao in
den beiden Jahren 1900 und 1913 erreichten eine
Höhe von 200000 dz im Werte von rund 29,6
Millionen Mark und eine Höhe von 529000 dz im
Werte von rund 67,1 Millionen Mark. Auf den
Kopf der Bevölkerung entfielen im Jahre 0,8 kg.
Bei diesem Import spielte die ursprüngliche
Heimat der Pflanze überhaupt keine Rolle. Mittel-
amerika fiel für Deutschland völlig aus. Sein
Bedarf wurde vielmehr zum größten Teile durch
Afrika gedeckt (297000 dz im Werte von 35,8
Millionen Mark) , ') erst dann folgten Amerika
(209000 dz für 27,8 Millionen Mark), Asien (10400 dz
für 1,5 Millionen Mark) und die Südsee (6800 dz
für I Million Mark). Von dem amerikanischen
Kakao kamen wiederum die beträchtlichsten
Mengen aus Südamerika, und zwar aus Ecuador
(71 300 dz für 9,7 Millionen Mark) und aus Brasilien
(63000 dz für 8 Millionen Mark). Der Rest ver-
teilt sich außer auf die beiden Republiken Co-
lombia und Venezuela ausschließlich auf West-
indien, wo die Dominikanische Republik auf Haiti
bevorzugt war (32 100 dz für 3,8 Millionen Mark).
Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges machte
sich bereits auch eine erfreuliche Zunahme der
Kakaogewinnung in unseren Kolonien bemerkbar.
Wenn man die Steigerung des Kakaoverbrau-
ches, die übrigens in gleichem Maße auch für die
anderen europäischen Staaten zu verzeichnen ist,
in solcher Weise durch Zahlen bestätigt findet,
so darf man doch nicht außer acht lassen, daß
sie eben nur in verhältnismäßig später Zeit ein-
getreten ist. Früher war das keineswegs der
Fall.
Nach der üblichen Annahme kamen zum ersten
Male in Europa Kakaobohnen den Abendländern
zu Gesicht, als Hernan Cortes, der Eroberer
Mexicos, im Jahre 1528 aus der Neuen Welt
heimkehrte und am spanischen Hofe vor den
Augen Karls V. neben den Kostbarkeiten und
') Die eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf das
Jahr 1913. Sie sind der Statistik des Deutschen Reiches ent-
nommen.
z Termer.
seltsamen Dingen der neu eroberten Gebiete auch
Proben der dort heimischen typischen Agrikultur-
gewächse ausbreitete. Von da an wurde in
Spanien die Herstellung der Schokolade bekannt
und schnell beliebt. Durch die strenge Abschließung
der spanischen Kolonien in Amerika gegen andere
Nationen — kein Nichtspanier, nicht einmal ein
Portugiese durfte seinen Fuß auf spanisch-ameri-
kanischen Boden setzen, — und ferner durch das
sich abschließende Wesen der Spanier gegenüber
ihren europäischen Nachbarn war es möglich, das
Geheimnis der Schokolade das 16. Jahrhundert
hindurch zu wahren. Erst 1606 wurden die
Schranken durchbrochen, als ein längere Zeit in
Spanien ansässiger Italiener Antonio Carletti
bei der Rückkehr in sein Heimatland den Lands-
leuten Kunde von dem angenehmen Getränk
einer fremden Welt übermittelte. Nun schlössen
durch Vermittlung der Italiener schnell auch die
anderen europäischen Nationen mit dem Kakao
Bekanntschaft, vor allem Frankreich, wo unter
Ludwig XIIL und seinem Nachfolger die Schoko-
lade zu einem Modegetränke wurde. Freilich war
ihr Genuß nur den Vornehmen möglich, da alle
Mengen von verbrauchtem Kakao Schmuggel-
oder Seeräubergut waren, das natürlich sehr teuer
bezahlt werden mußte. Zu Beginn ihrer lohnen-
den Tätigkeit hatten allerdings die englischen
wie holländischen Flibustier und Buccaniers die
Kakaoladungen spanischer Beuteschiffe für nichts
geachtet. Sie warfen den „Bockmist", *) wie sie
spottend die Kakaobohnen bezeichneten, einfach
ins Meer.
Veranlassung zur Einbürgerung und Anpflan-
zung in anderen Erdteilen gaben die Spanier
selbst, die den Kakao um 1670 nach ihren philip-
pinischen Besitzungen überführten. ^) Von dort
kam er in die holländischen Kolonien Hinter-
indiens und noch später findet er sich in Afrika.
In Europa aber blieben Kakao und Schokolade
nach wie vor bis ins 19. Jahrhundert hinein ein
kostspieliges und daher nur von wenigen ge-
nossenes Getränk, das dann erst die zunehmende
tropische Produktion und damit verbundene Ver-
billigung der Ware auch weniger Bemittelten zu-
gänglich machte und so den europäischen Völkern
') „cagarruta de carnero" nach Thomas Gage, Neue
merkwürdige Reisebeschreibung nach Neuspanien. Leipzig
1693, P- 230-
') Vgl. des näheren hierüber: Padre Fray Manuel
Blanco, Flora de Filipinas. 2. Aufl. Manila 1S45, P- 4 '9
bis 423.
66
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. s
in ihren breiteren Volksschichten ein ebenso an-
genehm schmeckendes wie nahrhaftes Getränk
übermittelte.
Lange bevor die Europäer Mittelamerika und
Mexico betreten hatten, war der Kakaobaum in
diesen Ländern eines der wichtigsten Kultur-
gewächse gewesen. Welche Bedeutung er für das
Kulturleben der alten Zeit errungen hatte, erhellt
aus seiner Aufnahme in den mexikanischen My-
thus. Kakaobohnen finden sich da des öfteren
unter anderen Attributen bestimmter Gottheiten;
der vornehmste und volkstümlichste Gott der
alten Mexikaner, der Windgott Quetzalcouatl, muß
natürlich als Heros und Repräsentant eines golde-
nen Zeitalters unerschöpflicher Fülle an allem
dem Erdenmenschen Notwendigen und Begehrens-
werten unter seinen Besitztümern auch einen aus-
gedehnten Garten mit erlesenen Kakaobäumen
sein eigen nennen, die poetisch als „Blumenkakao"
(xochicacauatl) bezeichnet wurden. Selbst in den
erhaltenen Bilderschriften mythologischen Inhaltes
aus dem mexikanischen Kulturreiche wird der
Kakao mit abgebildet, sei es in der Form von
Bohnen oder des ganzen Baumes, mit dem dann
der mythische Baum des Südens gemeint ist, ^)
sei es in der Form der Schokolade, die etwa bei
der Göttin der Lebensmittel, Tonacaciuatl, -) oder
bei der Wassergöttin Chalchiuhtlicue ") in einem
Becher schäumend wiedergegeben ist.
Das in den europäischen Sprachen gebräuch-
liche Wort „Kakao" geht auf das mexikanische
cacauatl zurück, das die einzelne Kakaobohne
bezeichnet. Die Schoten, die reihenweise die
Bohnen enthalten, hießen im Mexikanischen
cacauacentli, während für den Baum mehrere
Benennungen üblich waren. Man unterschied be-
sonders vier Arten: zwei, die cacauaquauitl
hießen und sich nur durch ihre verschiedene Größe
voneinander trennen ließen, xochicacaua-
quauitl und tlalcacauatl. Von letzterer
wurde hauptsächlich die Schokolade zubereitet.
Linguistisch mag noch hinzugefügt werden, daß
die Herkunft und Etymologie des Wortes cacauatl
unbekannt ist.
Das Gedeihen des Kakaobaumes ist an be-
stimmte klimatische Bedingungen geknüpft und
daher sein Vorkommen geographisch begrenzt.
Wärme ist für ihn eine Hauptnotwendigkeit seiner
Existenz. Daher überschreitet denn auch in
Mittelamerika seine Wachstumsgrenze nicht die
Meereshöhe von 600 m. '') Er ist ganz an die
warme Tieflandszone (tierra caliente) mit ihren
Mitteltemperaturen von 27 — 23" C angepaßt.
Tiefgründige Alluvialböden mit mäßigem Zusatz
von Kalk sind für das Fortkommen des Baumes
am geeignetsten, und daher findet er sich am
') Codex Fejervary-Mayer, fol. I. Herausgegeben
von E. Seier.
'•') Codex Borgia, Blatt 57 ed. E. Seier.
ä) Codex Borgia, Blatt 57 ed. E Seier.
*) Nur selten kommen Exemplare bis über 900 m vor.
Sapper, Nördl. Mittelamerika, S. 197.
besten entwickelt in den Urwäldern des nördlichen
Guatemala, in der Feten-Landschaft, wie in den
heißen Küstengegenden des atlantischen und pa-
zifischen Gestades des östlichen und südöstlichen
Mexico. Analog liegen die Verhältnisse in anderen
mittelamerikanischen Republiken, von denen El
Salvador, Nicaragua und Britisch Honduras in
Betracht kommen.
Genau die gleiche Verbreitung besaß der Kakao-
baum schon in vorspanischer Zeit. Für Mexico,
wo das Kulturzentrum beim Eintreffen der Weißen
mitten auf dem Hochlande lag, ergab sich aus
diesen klimatischen und geographischen Momenten
ein Import aus den warmen Tieflandsregionen
auf die kühlen Flächen des Hochlandes. Die Haupt-
importgegenden für diesen Zweig des mexikanischen
Handels lagen im heutigen Staate Tabasco und an
der pazifischen Abdachung von Chiapas, also in
den beiden alten Landschaften Anauac Xicalanco
und Anauac Ayotlan, dem heutigen Soconusco.
Dort waren regelrechte Kakaopflanzungen ange-
legt, in ihrer Einrichtung den modernen gleichend.*)
Denn man pflanzte ebenso wie heute höhere Bäume
zwischen die Kakaostämme, damit sie vermöge
ihres höheren Wuchses dem Kakaobaum den ihm
notwendigen Schatten spendeten. Die Spanier
nannten diese hilfsmäßig gepflanzten Stämme später
„Mutter des Kakao" (madre de Cacao).-)
In den anderen bereits erwähnten mittelameri-
kanischen Gebieten waren die vorhandenen Pflan-
zungen in ihrem Umfange beschränkter und eben
nur für den Unterhalt ihrer Besitzer bestimmt.
Überall in den Urwäldern Guatemalas, die zwar
vor langer Zeit von kulturell hoch entwickelten
Indianerstämmen bewohnt waren, aber später nur
noch primitiv lebende Nachkommen jener beher-
bergten, trafen die Spanier im 17. Jahrhundert
bei ihren Kriegszügen gegen diese „Lacandones"
bei jeder kleinen Siedelung Kakaogärtchen (cacaua-
tales) an. Erst in Yucatan, bei den Mayaindianern,
und in Nicaragua, bei den Nicarao, einem Stamme
mexikanischer Herkunft, fanden sich wieder um-
fangreichere Plantagen.
Über die Bedeutung des Kakaobaumes für die
Wirtschaft der Bevölkerung Mittelamerikas in vor-
spanischer Zeit läßt sich das Wesentliche zum
größten Teile nur aus Mitteilungen über die mexi-
kanischen Zustände und denen bei den Nicarao
in Nicaragua entnehmen. Nur spärlich fließen
demgegenüber die Quellen über die anderen mittel-
amerikanischen Gebiete. Verwendung von dem
Baume fanden nur die Bohnen — vielleicht auch
das Holz — , und zwar nach zwei ganz entgegen-
gesetzten Richtungen hin, nämüch zur Herstellung
') Oviedo VIII. cap. 30 (= tom. I, p. 317 li.)
*) Wenn Dufour als mexikanisches Wort hierfür ,,atl-
inan" angibt, so ist zu bemerken, daß aus alter Zeit ein
solches Wort nicht überliefert ist. Es scheint vielmehr eine
Übersetzung des spanischen Wortes zu sein, wobei freilich nur
der zweite Teil ,,inan" (= seine Mutter) versländlich ist, wäh-
rend der erste „all" (Wasser) nicht recht am Platze ist. —
Oviedo gibt als Namen für diese Bäume in Nicaragua
„yaguaguyt" an (aquauiti?).
I
N. F. XX. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
6?
der Schokolade und als Zahlungsmittel im öffent-
lichen Verkehr.
Neben dem aus dem Saft der Agave gewon-
nenen Pulque (mex. octli)') erregte kein anderes
der einheimischen Getränke so sehr die Aufmerk-
samkeit der Eroberer als die Schokolade. Dieses
Wort ist seiner Herkunft nach mexikanisch. Die An-
sicht eines neueren englischen Autors,-) der ein in
seinen technischen Teilen recht wertvolles Werk
über den Kakao verfaßte, daß es sich zusammensetze
aus „choco" (= Frucht des Baumes) und „latl"
(= Wasser), ist völlig unrichtig. Sie zeigt, daß
ihr Vertreter nicht genügende Sprachkenntnisse
besaß und daher ohne Besinnen die falschen An-
gaben eines sonst vortrefflichen alten Autors,
Thomas Gage,^) übernahm, die er allerdings
insofern modifizierte, als Gage „choco" für eine
Bezeichnung des Aufschäumens hält, das ja, wie
sich zeigen wird, auch eine gewisse Rolle spielte.
Die richtige Ableitung des Wortes ist vielmehr die
von „coco" und „atl", wobei „coco" ein Synonym
für „cacauatl" ist, wie Oviedo beweist (tom. I,
p. 318 li.). Die Bedeutung wäre dann einfach
„Kakaowasser", „Kakaogetränk".
Die Mexikaner bereiteten ihre Schokolade nun
auf folgende Weise zu. Über einem nicht sehr
starken Feuer wurden die Kakaobohnen unter an-
dauerndem Umrühren zum Schutz gegen An-
brennen getrocknet. Dann schüttete man sie auf
den steinernen Mahlstein (metlatl) und erhielt
durch das Zerreiben der Bohnen mittels der
steinernen Handwalze (metlapilli) ein Pulver, das
„cacauapinolli" genannt wurde. Zu diesem fügte
man darauf allerlei Ingredienzien, die dem Getränk
hernach einen besonders angenehmen Geschmack
verleihen sollten. Besonders bevorzugte Gewürze
waren schwarzer und roter Pfeffer, Vanille und
Bienenhonig. Dieser diente an Stelle von Zucker
zum Süßen. Endlich mußte das Gemisch auch
noch gefärbt werden, meist durch Achiote (Bixa
Orellana) in roter Farbe, weil angeblich die Ein-
geborenen durch ihre mit den Kulten zusammen-
hängende Anthropophagie an Bluttrinken gewöhnt
waren.*) Im Anschluß daran sei bemerkt, daß der
Padre Avendaflo, der sich am Ende des 17. Jahr-
hunderts bei den Itzä im nördlichen Guatemala
aufhielt, berichtet, bei diesem Mayastamme sei es
Brauch gewesen, den Opfern vor ihrer Hinrichtung
einen Kakaotrunk zu verabfolgen.*)
Eine zweite Art der Herstellung des Kakao-
pulvers war einfacher. Man schüttete das Pulver
einfach in Atolli, eine mit Wasser aufgekochte
Maismasse, und genoß dann diese ohne besondere
Würze. Dem Anschein nach ist diese zweite Art
die beim niederen Volke übliche gewesen.
') Das Wort Pulque gehört wahrscheinlich der arauka-
nischen Sprache Chiles an.
'■') Whymper.
') Th. Gage, Neue merkw. Reisebeschr. usw. Part. II,
Cap. 19.
*) Oviedo 1. c. (= tom. I, p. 318 li.)-
') cf. Ph. A. Means, History of the Spanish Conquest
of Yucatan and of the Itzas. Cambridge, Mass. 1917, p. 134.
In spanischer Zeit wurde es erst Sitte, noch
andere Beitaten zu den alten hinzuzufügen, wie
Zimt, Nelken, Mandeln, Haselnüsse, Pomeranzen-
blütenwasser u. a.^)
Das auf die erste Art zubereitete Gemisch
mußte tüchtig durchknetet werden, bis es einen
guten Teig ergab. Diesen ließ man in kleinen
Tafeln trocknen und bekam so Tafelschokolade.
So geschah es wenigstens in den Zeiten nach der
Unterwerfung des Landes, als die Spanier die Her-
stellung nach ihrem Geschmack vorgenommen
hatten. In alter Zeit kannte man Tafelschokolade
wohl nicht. Vielmehr ließ man es hier bei der
Zubereitung des Pulvers bewenden. Um Schoko-
lade zu erhalten, tat man es einfach in Wasser
und rührte es mit kleinen — teilweise kunstvoll
gearbeiteten — Quirlen um.'^) Hauptbedingung,
die der mexikanische Schokoladetrinker an sein
Getränk stellte, war einmal, daß die Schokolade
kalt sein mußte und ferner, daß sie auf ihrer
Oberfläche eine dicke Schaumschicht trug (Cacau-
apogouallotl). Um den nötigen Schaum zu er-
halten, gehörte ein gewisses Geschick und eine
besondere Übung dazu, den Aufguß nicht zu dünn,
aber auch nicht zu dick werden zu lassen. Zu
geringes Aufschäumen wurde stets auf falsche
Zubereitung oder auf eine minderwertige Sorte
des Kakaos zurückgeführt. Letzteres war fast
stets bei der Schokolade des kleinen Mannes der
Fall.
Trotzdem die Spanier in Einzelheiten Neue-
rungen in der Schokoladeherstellung einführten,
übernahmen sie doch zum größeren Teile das,
was sie im Lande vorgefunden hatten. Auch sie
gewöhnten sich daran, das Getränk mit einer
dichten Schaumschicht zu genießen, was sie frei-
lich oft dadurch zu erreichen suchten, daß sie die
Flüssigkeit in einem langen Strahle sich aus dem
Trinkgefäße in den Mund laufen ließen, vielleicht
einer Sitte ihrer europäischen Heimat huldigend,
der noch heute der spanische Bauer beim Wein-
trinken aus dem Schlauche nachkommt. Nur
darin wichen sie von dem indianischen Vorbilde
ab, daß sie den Trank warm zu sich nahmen. Die
Eingeborenen verharrten aber noch immer bei
ihrer kalten Schokolade.
Über die Zubereitung des Getränkes in den
übrigen noch in Frage kommenden Gebieten
Mittelamerikas sind Einzelheiten nicht überliefert
worden. Sie wird aber ähnlich vorgenommen
worden sein wie in Mexico. Denn aus Yucatan
berichtet ein Autor das Vorhandensein eines Scho-
koladegetränks aus Mais und Kakao, wie es ja
in Mexico ebenfalls genossen wurde. Als das
entsprechende Wort für chocolatl wird für die
yukatekische Mayasprache „zaca" angegeben.^)
Eine Besonderheit findet sich in Nicaragua bei
') Vgl. darüber des näheren Colmenero.
*) Abbildungen solcher Quirle bei Caec. Sei er, Auf
alten Wegen usw. S. 130.
"] Villagutierre lib. U, cap. 2 Ifol. 89 li.).
68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. s
den mexikanischen Nicarao insofern, als dort die
Kakaobutter für den Häuptling reserviert wurde.*)
Wie bereits angedeutet, kannten die alten
Mexicaner Qualitätsunterschiede einzelner Kakao-
sorten. Bevorzugten sie schon den „tlalcacauatl"
als besonders zur Schokoladeherstellung geeignet,
so richtete sich dessen Güte wiederum nach der
Gegend seiner Herkunft. Die beste Sorte wurde
in Anauac Ayotlan, dem heutigen Soconusco
(mex. Xoconochco), gewonnen, und selbst bis in
neue Zeiten hinein hat es damit sein Bewenden
gehabt. Denn noch zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts schreibt der gelehrte Historiker Guate-
malas, Domenigo Juarros mit Bezug auf
Soconusco: „en efecto su cacao es el mas apre-
ciado del mundo, y el que se gasta en el Real
Palacio" (in der Tat ist sein Kakao der am höchsten
geschätzte der Welt und wird am Hofe des Königs
verwendet.)") Außerdem waren noch andere
Kakaogegenden in alter Zeit durch die Qualität
ihrer Produkte angesehen. Als solche nennt unter
anderen Sahagun die Gegend von Tochtepec,
das heutige Tuxtepec am Rio Papaloapan, neben
Guatemala und den beiden Anauac.^)
Die feinen Sorten wanderten in die Küchen
der Vornehmen und in die des Hofes. In diesen
Kreisen war die Schokolade das Tafelgetränk, das
nach den Mahlzeiten in kunstvoll aus edlem Me-
tall gearbeiteten Trinkschalen *) genossen wurde,
genau wie auch im modernen Europa der Kaffee
im Anschluß an die Mittagsmahlzeit eingenommen
wird. Wenn auch die Zahlenangaben der spanischen
Autoren meist um ein Vielfaches die wirkliche
Zahl übertreiben, so muß doch immerhin nach
dem Überlieferten der Verbrauch an Kakao bei
den in Betracht kommenden Stellen ziemlich be-
deutend gewesen sein. So soll der Kakaospeicher,
den die Truppen des Cortes bei der Einnahme
der Hauptstadt Mexico plünderten, 4000 Cargas
Kakaobohnen enthalten haben,*) was einer Zahl
von 96 Millionen Bohnen gleichkäme, und bei der
täglichen Mahlzeit des Herrschers Motecuhgoma
sind nach Angabe desBernal Diaz 50 größere
Gefäße mit Schokolade aufgetragen worden.*)
Wenn der schon einmal zitierte W h y m p e r den
jährlichen „Verbrauch" an Kakao am mexika-
nischen Hofe auf 2744000 fanegas (^= ca. 1 10 Mil-
lionen Kilogramm) beziffert, so ist das ein Miß-
') Oviedo, 1. c. (= tom. I, p. 319 re.): „El calachuti
. . , pönese de aquel graso por los labrios e toda la barba,
e paresge que esid undato con agafran desleydo grueso, e re-
luce como manteca."
') Juarros trat. IV, cap. 14 (= Band II, p. 77).
') Sahagun Hb. X, cap. 18.
*) Bernal Diaz cap. 91: ,,copas de oro fino" (ed.
Garcia I, p. 280).
°) Herrera II, IX, 4 und Torquemada IV, 57.
") Bernal Diaz, cap. 91. „En ello, mas lo que yo vi,
que trayan sobre c;inquenta jarros grandes hechos de buen
cacao, bon su espuma". . . Erst vor kurzem ist in einem Artikel
der „Woche" über die Schokolade diese Stelle so ausgelegt
worden, als habe der König selbst die 50 Gefäße getrunken.
Davon kann keine Rede sein. Denn aus der Quelle geht her-
vor, daß sie für die ganze Tafelgesellschaft bestimmt waren.
Verständnis der benutzten Quelle. Bezieht sich
doch diese Zahlangabe vielmehr auf die Tribut-
leistungen in Form von Kakaobohnen an dem
Hofe des mit dem mexikanischen König eng ver-
bündeten Fürsten Negaualcoyotl von Tezcoco.*)
Diese Tribute zeigen nun gleich den Kakao
in der zweiten Art seiner Verwendung in Mexico
sowohl wie im übrigen Mittelamerika, soweit der
Baum kultiviert wurde, nämlich als Münze im
öffentlichen Verkehr.
Neben Metallstückchen, mit Goldstaub ange-
füllten Federposen, Quetzalvogelfedern, Decken
und Stoffstücken als Zahlungsmitteln nahmen die
Kakaobohnen eine gleichwertige Stellung ein. Sie
bildeten eine der beliebtesten einheimischen Geld-
sorten. Ebenso war es mit ihnen in Yucatan der
Fall, wo sie neben Steinen, kupfernen Glöckchen
und Schellen benutzt wurden, wie auch in Nica-
ragua, wo man sie mit Muschelschnüren, Edel-
steinen, kleinen Beilen und kupfernen Schellen
zusammen bei Handelsgeschäften verwendete. Auch
in Guatemala waren sie die häufigste Münzsorte.
Allgemein verwendeten die Indianer zu Münz-
zwecken die weniger guten Kakaosorten, da ja
die Qualität dabei nicht in Frage kam.
Überall hatte sich eine bestimmte Währung
herausgebildet, und alte Berichte lassen er-
kennen, daß sich das Währungssystem auf der
vigesimalen Zählmethode aufbante. 400 Bohnen
bildeten ein „tzontli", 20 tzontli (8000 Bohnen)
ein ,,xiquipilli" und 3 xiquipilli (24000 Bohnen)
eine „carga", eine Bezeichnung spanischer Her-
kunft, für die die entsprechende mexikanische Be-
nennung unbekannt ist.-) Sie bedeutet „Last" und
ist in Anwendung gebracht worden auf die weiten,
umfangreichen Körbe aus Weidengeflecht, die eine
so große Zahl von Bohnen fassen konnten. Es
wird sogar erzählt, daß manche Körbe loo car-
gas, also 24 Millionen Bohnen, enthalten hätten;
sie wären von einem derartigen Umfange gewesen,
daß sechs Männer sie nicht zu umspannen ver-
mocht hätten.
Die erwähnte Währungseinteilung erhielt sich
nicht lange in die spanische Zeit hinein. Bereits
im Jahre 1527 setzte ein Königliches Manifest
unter, dem 28. Januar fest, daß an Stelle der Be-
hälter, die die Bohnen in den abgestuften Zahlen-
einheiten bargen, bestimmte durch einen offiziellen
Stadtstempel signierte Maße zu treten hätten.
Vielleicht waren die Spanier bei der früheren Me-
thode zu oft von den Eingeborenen betrogen
worden, daß sie auf eigene geeichte Hohlmaße
zurückgriffen. Aber schon am 24. September 1536
kam ein neuer Erlaß heraus, der wiederum die
Abzahlung der Bohnen nach der alten Weise ver-
langte.
Eine der ältesten Quellen über die Eroberung
Mexicos, der Bericht eines ungenannten und bis-
') Torquemada II, 53.
ä) Motolinia, Historia de los Indios de Nueva Espana
(bei Icazbalceta I, p. 190).
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69
her unbekannt gebliebenen Autors, des sog. Con-
quistador Anönimo, gibt bereits den den euro-
päischen Münzen damaliger Zeit entsprechenden
Wert der Kakaomünze bekannt. Danach hätte
eine Kakaobohne im Werte einem halben „mar-
chetto" entsprochen,') der nach Ansicht des ge-
lehrten französischen Herausgebers und Übersetzers
spanischer Quellen aus dem ZeitaUer der Ent-
deckungen, Henri Ternaux-Co m pans, etwa
einem französischen Centime gleich gewesen wäre.
Demnach müßte also eine Bohne gleich einem
Centime gesetzt werden. Ob diese Rechnung
stimmt, mag dahingestellt bleiben. Nach späteren
Quellen wäre sie zu hoch gegriffen; denn Palacio,
ein Geistlicher, der im Jahre 1579 Guatemala im
Auftrage der spanischen Krone bereiste und über
die Ergebnisse seiner Rundreise einen offiziellen
Bericht abfaßte, bestimmt den Wert von 200 Bohnen
zu einem Real, das wären 20 Pfennig. Dann käme
auf eine Bohne Vio Pfennig. Er fügt aber noch
ausdrücklich hinzu, daß eine carga im Werte
24000 Reales gleichgekommen wäre. Eine carga
sind, wie oben angegeben, 24000 Bohnen. Dem-
nach hätte innerhalb der carga eine Bohne den
Wert eines Reals gehabt, also von 20 Pfennig.
Oviedo hat Angaben hinterlassen, aus denen
sich auf die Kaufkraft des Kakaogeldes in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts schließen läßt.
Danach hätte ein Sklave 100 Bohnen gekostet,
für 4 Bohnen hätte man 8 Früchte erhalten, ein
käufliches Frauenzimmer hätte sich für 8—10
Bohnen hingegeben. =) Der Wert des Kakaogeldes
ist demnach ziemlich hoch gewesen.
Bis in die Gegenwart hinein hat sich der Kakao
als Zahlungsmittel neben den Metallmünzen er-
halten. Zur Zeit, als Otto Stoll Guatemala
bereiste, um die Wende der siebziger Jahre, waren
16 Bohnen gleich einem Viertel eines Reals
(i cuartillo) ; ^) für eine Beichte zahlte man in
Nebaj (Departamento Vera Paz) 1 5 Kakaobohnen
und IG Maiskolben.'') Auch Desire Charnay
hatte 1863 noch auf dem Markte in San Christo-
bal (Chiapas) Kakaobohnen als Münzen im Um-
lauf gefunden. ^) Und um auch noch ein Beispiel
aus dem 17. Jahrhundert hinzuzufügen: so fand
D a m p i e r auf seinen Seereisen in mittelamerika-
nischen Gewässern Kakaomünzen im Umlauf an
dem Gestade der Bai von Campeche, also wohl
in Tabasco. ®)
Die Verbreitung des Kakaos im mexikanischen
Reiche erfolgte teils durch den Handel, teils durch
Tributleistungen, die die aztekischen Eroberer
des Landes den unterworfenen Provinzen auferlegt
1) „Sono queste alberi (d. h. Kakaobäume) in grande
stimaziüne perche quei grani sono tenuli per la principal
moneta che corra in quel paese, et val ciascuno come un
mtzzo marchetto fra noi." Conquistador anönimo (bei Icaz-
balceta I, p. 3S0/81).
*) Oviedo, 1. c. (= tom. 1, p. 316 re.).
') Stoll, Guatemala, S. 103.
♦) Stoll, ebendort, S. 394-
>•) Charney, Cites et Ruines, S. 484.
") Dampier, vol. I, S. 91.
hatten. Der Kaufmannsstand nahm ja in der
Bevölkerung eine hervorragende Stellung ein.
Von seinem Handelszentrum in der Stadt Mexico
zogen seine Mitglieder bis in die Gegenden von
Honduras, ja vermutlich sogar bis in jene von El
Salvador und Nicaragua, also Gebiete, die schon
früher als besondere Produktionsländer des Kakao
genannt wurden. Nach Überlieferungen soll der
regelmäßige Kakaoimport unter der Regierung
des letzten Königs von Tlaltelolco namens Mo-
quiuix aufgenommen worden sein. Das wäre
mithin etwa um 1470 n. Chr. gewesen, und dieses
Datum hat eine um so größere Wahrscheinlich-
keit für sich, als eben jene südlicheren Provinzen
verhältnismäßig spät mexikanischer Oberhoheit
Untertan wurden.
Die Art des in Frage kommenden Handels-
objektes brachte es mit sich, daß Betrug beim
Handel mit Kakao nicht selten war. So röstete
der Betrüger kleine schlechte Bohnen, um ihnen
ein besseres Äußere zu geben, er tauchte sie in
Wasser, damit sie durch Vollsaugen ihren geringen
Umfang vergrößerten; bisweilen wurden sie auch
mit Farbe bemalt, damit sie recht frisch erschie-
nen. Ganz grob verfuhren Fälscher, die in die
dünne äußere Haut der Bohnen einen aus Wachs
hergestellten Kern einschlössen. ')
Die Tributleistungen werden zumeist aus jenen
Qualitäten zusammengesetzt gewesen sein, die für
die Münzen verbraucht wurden. Daneben gingen
natürlich auch Mengen besserer Sorten ein, durch
die der Konsum am königlichen Hofe gedeckt
wurde. Vielfach finden sich in den erhaltenen
Bilderschriften derartige Kakaotribute bei einzelnen
Städten angegeben.
Unter den zahlreichen Kultzeremonien, die
einzelnen Verrichtungen in der einheimischen
Landwirtschaft gewidmet waren, finden sich natür-
lich auch solche, die mit der Pflege des Kakao-
baumes in Zusammenhang stehen. So mußte
beim Einpflanzen eines Setzlings oder beim Aus-
streuen der Samen das Ackerland zuvor mit dem
Blute eines Menschen oder Tieres besprengt wer-
den. Bei den Maya-Indianern der Halbinsel Yu-
katan und ihren mittelamerikanischen Nachbarn
hielt man vor der Aussaat zunächst ein Fest ab
zu Ehren der Götter Ekchuah, Chac und Hobnil,
die als Schutzgottheiten der Kakaopflanzungen
verehrt wurden. Auf dem Landstück eines Dorf-
genossen abgehalten, gipfelte die Feier in der
Opferung eines Hundes, der auf seinem Fell einen
der Farbe des Kakao entsprechenden Fleck tragen
mußte. War diese auf Analogiezauber beruhende
Handlung beendet, so brannten die Anwesenden
vor den Götteridolen Weihrauch ab, und zum
Schluß bekam jeder Teilnehmer einen Zweig vom
Kakaobaume, den er als guten Talisman für das
Gedeihen seiner Pflanzung daheim aufzubewahren
hatte.
') Sahagun.lib. X, cap. 18. — Oviedo, 1. c. (=tom. I,
p. 316 re.).
70
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 5
Die Bedeutung des Kakaobaumes für die Wirt-
schaft der einheimischen Bevölkerungen von Mittel-
amerika und Mexico ist nach allem Vorhergehen-
den sehr hoch zu veranschlagen, Oviedo nennt
ihn sogar den von den Indianern am höchsten
geschätzten Baum.*) Für das letztere Land war
er freilich nur Gegenstand des Importes, und
daher mag er dort in alter Zeit bereits nicht
billig gewesen sein. Nicht ohne Grund werden
jedenfalls die Quellen fast stets nur von dem
Schokoladegetränk der Vornehmen reden. Im
Erzeugungslande selbst ist er neben den aus Mais
gewonnenen Getränken von alters her auch bei
dem niederen Volke zur Zubereitung der Schoko-
lade verwendet worden. Und diese ist über die
Zeiten der Eroberung hinweg das Nationalgetränk
Mittelamerikas geblieben, ein Beweis mehr dafür,
daß jene Zeiten trotz ihrer eingreifenden Umwäl-
zungen in dem Kulturleben der eingeborenen
Nationen vieles von dem alten Kulturgut und dem
alten Volksleben weiter fortbestehen ließen. Und
so sehr ist die Schokolade heute dem Mittel-
amerikaner zum Bedarfsgegenstand geworden, daß
seine Länder für den Kakaoexport so gut wie
gar nicht in Frage kommen. Nur das nordwest-
liche Chiapas mit seinem Departement Pichucalco
macht davon eine Ausnahme. ^) Langsam hat
der Kakao, wie anfangs gezeigt wurde, Fuß in
Europa gefaßt; heute, so kann man wohl sagen,
ist er zum Lieblingsgetränk vieler Millionen
Europäer geworden. Aber auch bei niedriger
stehenden Völkern , die ihn erst später kennen
lernten, hat er sich bald eine Vorzugsstellung zu
erringen gewußt, wie das Beispiel der Philippinen
beweisen mag. *)
Literatur.
Blanco, Manuel, Flora de Filipinas. 2. Aufl. Manila 1845.
Charney, Desire, Cites et Ruines Americaines. 1863.
Colmenero de Ledesnaa, Antonio, De chocolata Inda,
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Dufour, Philippe Sylvestre, Traite curieux du Cafe, The
et Chocolate. Vienne (ohne Jahr).
Herrera, Antonio de, Historia general de los hechos
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') Sapper, Nördl. Mittelam. S. 197.
') Über die dortigen Verhältnisse unterrichtet Padre Kr.
Manuel Blanco, Flora de Filipinas. Es scheint, als ob
dort zuerst die Sitte aufgekommen ist, die Schokolade mit
Kaffee vermischt zu trinken: „Otros le (dem Kakao) aiiaden
cafe tostado en sustancia." 2. Aufl. S. 422.
Täuschende Ähnlichkeit mit Bienen, Wespen und Ameisen.
[Nachdruck vcrbotCD.]
Von Prof. Dr.
Auf Seite 752 des letzten Bandes dieser Zeit-
schrift kommt Heikertinger, bezugnehmend
auf meinen Aufsatz (S. 173) noch einmal auf den
Bienenfang der Spinnen- und den Ameisenfang
der Vögel zurück. — Da Heikertinger, um
seine Theorie stützen zu können, unausgesetzt die
Forschungsresultate anderer unrichtig wiedergibt
und alles fortläßt, was gegen seine Theorie spricht,
würde ich es nicht für nötig halten, noch einmal
in diesem Punkt das Wort zu nehmen, wenn ich
es nicht, als staatlich angestellter Spezialist in der
Spinnentierkunde, für meine Pflicht hielte, weitere
Kreise über den wahren Sachverhalt aufzuklären.
Aus der etwas unklaren jetzigen Darstellung
Heikertingers muß derjenige Leser, der meine
früheren Arbeiten und Ausführungen nicht noch
einmal vornimmt, den Eindruck gewinnen, i. daß
zwischen den Bienen und Spinnen, mit denen ich
experimentiert habe und denen, über die sonst
gewöhnlich in der Mimikryliteratur die Rede ist.
Friedr. Dahl.
ein wesentlicher Unterschied bestehe, 2. daß auch
nach meiner Ansicht die Kreuzspinne, mit der
Heikertinger einige Versuche gemacht hat,
zu denjenigen Spinnen gehört, welche Bienen in
allen Fällen leicht bewältigen und 3. daß
ich bei meinen Experimenten Bienen verwendet
habe, welche im Verhältnis zur Spinne zu groß
waren und deshalb freigegeben wurden. — Ein
unbefangener Leser, dem ich Heikertingers
Darstellung vorlegte, verstand diese wenigstens
so. — Alles das ist aber unrichtig.
Ad I. Zunächst verstehe ich auch jetzt noch
nicht, warum die kleineren Bienen, die, ebenso
wie die größeren, mit einem Stachel bewehrt sind,
und denen, ebenso wie den größeren, wehrlose
Fliegen in Bau, Haltung und Bewegungen täuschend
ähnlich sind (Mimikry), nur deshalb, weil sie mit
einer Theorie in Widerspruch stehen, „außerhalb"
bleiben sollen. — Zudem habe ich, wie sich jeder
Leser leicht überzeugen kann (Vierteljahrsschr. f.
1
N. F. XX. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
7«
wiss. Philos. Bd. 9 S. 177), auch mit Tieren ex-
perimentiert, die annähernd so groß sind wie die
Kreuzspinne und die Honigbiene. Ich benutzte
Arama sclopetaria, Andrena labialis und Helophihis
pcnditltis. Bei allen meinen Versuchen mit diesen
Tieren entkam die genannte Biene und die bienen-
ähnliche Fliege regelmäßig aus dem Netz. Nur
das Abbeißen der haltenden Fäden ging in diesen
Fällen so schnell vor sich, daß ich es nicht mit
aller wünschenswerten Sicherheit feststellen konnte.
Dieses Abbeißen habe ich dagegen bei Zilla
x-noiata sehr deutlich gesehen. Worauf es aber
bei der Mimikryfrage allein ankommt, das zeigte
sich auch in diesen Fällen sehr klar und sicher:
Die Spinne verhielt sich diesen Tieren gegenüber
völlig anders als noch größeren gewöhnlichen
Fliegen gegenüber und die Versuchstiere entkamen
deshalb regelmäßig, während die größeren ge-
wöhnlichen Fliegen regelmäßig gefangen wurden.
— Bei meinen Versuchen ging ich allerdings viel
sorgsamer zu Werke als Heikertinger, der die
Honigbiene gewaltsam mit einer Pinzette am
Hinterbein packte und ins Netz hielt. Solche Fälle
kommen in der Natur nicht vor und können
deshalb bei Schlüssen auf das Naturleben nicht
maßgebend sein. Ich habe ausdrücklich einen Fall
erwähnt, daß eine ziemlich stark gedrückte Biene,
Nomada succincta, von der Aranea sclopetaria ein-
gesponnen und an die Wohnung geschleppt wurde.
— Was speziell die Kreuzspinne anbetrifft, so
verweise ich auf das Spinnenwerk von A. Menge
(Preußische Spinnen in: Sehr. d. naturf. Ges. Danzig
1866 — 78 S.46), den ich in meinem Aufsatz als einen
unserer vorzüglichsten Spinnenbeobachter bezeich-
nete, und der als solcher den Biologen allgemein
bekannt ist. Menge sagt: „Erkennt die Spinne
das ins Netz gedrungene Tier als gefahrbringend,
z. B. eine größere Wespe oder Ameise, oder ist
es für sie ungenießbar, so beißt sie selbst die
zurückhaltenden Fäden ab und ist dem Tiere zu
seinem Entkommen behilflich." — Also auch da
liegt eine durchaus zuverlässige Veröffentlichung
vor. — Ad 2. Über das Bewältigen von Bienen
im Netz der Spinnen, das ich nur nebenbei er-
wähnte, konnte ich die ganze Literatur nicht
bringen und glaubte durch den allgemeinen Hin-
weis auf Menge für jeden, der sich weiter für
die Frage interessiert, dargetan zu haben, daß die
Kreuzspinne nicht zu ihnen gehört. Auch jetzt
kann ich nicht alles bringen, da natürlich kritische
Auseinandersetzungen nötig sind. Als eine Spin-
nengattung, bei der man den Bienen- und Hummel-
fang auch in der Natur beobachtete, nenne
ich nur die Gattung Argyope. Die Gattung kommt
für Deutschland fast gar nicht in Betracht, weil
sie nur bei Berlin und am Rhein von Bingen bis
Basel einzeln, selten zahlreich, vorkommt. Be-
obachtungen in der Natur sind übrigens in allen
Fällen, in denen es sich um Schlüsse auf das
Naturleben handelt, viel wertvoller als Experi-
mente. Experimente bleiben da immer nur ein
Notbehelf. — Ad 3. Bei meinen Experimenten
mit Bienen habe ich stets, wie jeder aus meiner
genannten Arbeit ersehen kann, einen Gegenver-
such gemacht und zwar, wenn möglich, mit Fliegen,
die noch etwas größer waren als die Bienen.
Wir kommen nun zu einer zweiten Frage, wie-
weit Ameisen von den Vögeln gefressen werden.
Heikertinger sagt, er habe „an erdrückendem
Tatsachenmaterial nachgewiesen, daß die Ameisen
eine Hauptnahrung der Vögel ausmachen". — Er
selbst hat keine Untersuchungen am Objekt ge-
macht. — Sehen wir uns also einmal an, wie er
die Literatur benutzt. — Da er meine Arbeit über
„Das Leben der Vögel auf den Bismarckinseln"
(Mitt. a. d. zool. Mus. Berlin, Bd. i, H. 3, S. 107 ff.)
nennt, mag uns diese Arbeit als Beispiel dienen.
— In seiner Abhandlung (Biol. Zentralbl. Bd. 39,
S. 98) sagt Heikertinger: „Eine Arbeit F.
Dahls gewährt uns einigen Einblick in die
Nahrung der Vögel der Bismarckinseln. Von 63
zumeist insektivoren Vogelarten fanden sich in
28 Ameisen vor und zwar ebensowohl geflügelte
als ungeflügelte." — So kurz und allgemein diese
Angabe ist, so falsch ist sie von Anfang bis zu
Ende und zwar von ihm zugunsten seiner Theorie
gefälscht. — Zunächst sei erwähnt, daß ich im
ganzen 280 Mageninhalte von 97 Vogelarten ge-
nau untersuchte. Unter diesen waren, wenn man
von Fällen absieht, in denen Insekten höchstens,
wie angegeben wurde, den hundertsten Teil des
Mageninhalts ausmachten und nur zufällig mit
Pflanzenteilen aufgenommen sein konnten, 167
Mägen 54 insektenfressenden Vogelarten
entnommen. In 41 Mägen, die 27 Vogelarten
entnommen waren, befanden sich Ameisen; aber
nur in 10 Mägen von 9 Vogelarten wurden sicher
ungeflügelte Ameisen, d. i. Arbeiter, nachgewiesen.
In 19 Mägen waren es sicher nur geflügelte, und
in 12 Mägen von 10 Vogelarten waren die Ameisen
soweit zerstört, daß man nicht erkennen konnte,
ob es Geschlechtstiere oder Arbeiter waren. —
Die Angabe H ei ker tingers, daß in den Mägen
aller 27 (bzw. 28) ameisenfressenden Arten „so-
wohl geflügelte als ungeflügelte" vorhanden ge-
wesen seien, ist also falsch. Selbst wenn alle
Ameisenbruchstücke von Arbeitern hergerührt
haben würden, was als vollkommen ausgeschlossen
gelten kann, könnten es höchstens 19 Vogelarten
sein, welche Arbeiter gefressen hatten. Nach der
Lebensweise der Vögel zu schließen aber waren
es gewiß nicht mehr als 10 — 12 Arten. Auf die
Arbeiter aber kommt es bei der Mimikryfrage
allein an; denn Mimikryfälle nach geflügelten
Ameisen sind bisher noch nicht bekannt geworden.
— Es kommt hinzu, daß ich nur bei einer einzigen
Vogelart im Bismarck- Archipel, bei Megaluriis
iiiacntnis eine größere Zahl von Arbeitern (30)
im Magen fand und daß gerade diese Vogelart nur
ganz lokal vorkommt, von mir nur auf der kleinen
Insel Uatom, niemals dagegen auf Neupommern
selbst beobachtet wurde. Abgesehen von Alega-
lurus fand ich höchstens 2 Ameisenarbeiter in
einem Magen. — Zu diesen Befunden muß noch
72
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX, Nr. 5
eins berücksichtigt werden, worauf ich in meiner
Arbeit „Das Leben der Ameisen im Bismarck-
Archipel" (Mitt. a. d. zool. Mus. Berlin Bd. 2,
H. I III) ganz besonders hingewiesen habe : Der
Ameisenreichtum ist im Bismarck -Archipel, wie
jedem Besucher sofort auffällt, ein ungeheurer.
Nach meinen zahlreichen Köderfängen mittels
Selbstfängers, die ich in Norddeutschland und im
Bismarck-Archipel in gleicher Weise unter sorg-
fältiger Vermeidung von Ameisennestern und
Ameisenstraßen, ausführte, ließ sich berechnen,
daß der Ameisenreichtum, d. i. der Reichtum an
Ameisenarbeitern im Bismarck-Archipel etwa 30
mal so groß ist als in Norddeutschland. Was be-
deuten da, frage ich, die wenigen Ameisenarbeiter,
die ich wirklich in Vogelmägen fand?
Vergleichen wir aber nun einmal die Individuen-
zahlen der verschiedenen Landarthropoden, die in
den Mägen der Vögel des Bismarck- Archipels ge-
funden wurden. — Zunächst sei darauf hinge-
wiesen, daß, abgesehen von den Tagfaltern, die
täuschende Ähnlichkeit sich ganz besonders beim
ruhenden und kriechenden Tiere zeigt. Damit
steht im Einklang, daß die fliegend fangenden
Vögel des Bismarck-Archipels, wie die Magen-
inhalte zeigen, beim Fange eine Auswahl nur in
der Größe treffen, sonst aber Fliegen, Bienen,
Ameisen, Käfer und Wanzen ohne Unterschied
fressen. Wenn der Bienenfresser f'ili/d?;'^?/'^/' besonders
Bienen frißt, so liegt das lediglich daran, daß an den
Orten, wo er seine Jagd betreibt, die fliegenden
Insekten von geeigneter Größe besonders Bienen
sind. Da die fliegendfangenden Vögel für die
Mimikryfrage, abgesehen von den Tagfaltern, also
nicht in Betracht kommen, mögen sie zunächst
aus unserer Statistik ausscheiden. Ebenso scheiden
aus die Seeschwalben (Sterna), welche ihre Nahrung
auf dem Meere suchen und gelegentlich tote oder
halbtote geflügelte Insekten auf der Oberfläche
treibend finden. — Es ergeben sich dann aus
meinen Magenuntersuchungen folgende Zahlen :
142 Vögel hatten gefressen: 87 Spinnen, mehr
als 280 Käfer, 4 Schmetterlinge, mehr als I2i
Raupen, 159 Ameisen (und zwar 42 Arbeiter,
68 Geschlechtstiere und 49 zweifelhafte), 4 Bienen,
2 Grabwespen, keine Faltenwespen und Schlupf-
wespen, 23 Zweiflügler, 197 Zweiflüglerlarven, 4
Ameisenlöwen, 39 Wanzen, 33 Zikaden, 22 Ohr-
würmer und 69 Geradflügler. Die Zahlen ent-
sprechen bei den Käfern, Raupen, Zweiflügler-
larven, Zikaden, Ohrwürmern und Geradflüglern
etwa dem Eindruck, den man selbst beim Sam-
meln von ihrer Häufigkeit bekommt. — Entschie-
den zu niedrig ist die Zahl der Schmetterlinge,
Hautflügler, Zweiflügler und Wanzen. Auch bei
den Spinnen scheint mir die Zahl keineswegs
ganz der Häufigkeit zu entsprechen. — Z. T. er-
. klärt sich das Mißverhältnis in den letztgenannten
Tiergruppen daraus, daß die Tiere keine Teile
besitzen , die sich bei der Druckwirkung des
Muskelmagens gut erhalten und die schon in
Bruchstücken erkennbar sind. Alle Tiere, welche
feste Mundwerkzeuge oder einen festen Kopf be-
sitzen, lassen sich leicht der Gruppe und der Zahl
nach feststellen. Feste Mundwerkzeuge (Cheliceren)
haben freilich auch die Spinnen. Wenn diese
trotzdem in zu geringer Zahl erscheinen, so wird
es daran Hegen, daß erfahrungsgemäß von den
Vögeln oft nur der leicht abtrennbare weiche
Hinterleib gefressen wird, dieser aber im Magen-
inhalt schwer zu erkennen ist. Die sicher erkenn-
baren Spinnwarzen sind zu klein und werden
nicht leicht gefunden. Daß bei Vögeln gegen die
Spinne als Nahrung irgendeine Abneigung vor-
handen wäre, läßt sich also aus ihrer Zahl im
Magen nicht nachweisen. — Viel zu gering ist
die Zahl der Zweiflügler, die, nach meiner Be-
rechnung aus den Köderfängen, im Bismarck-
Archipel 35 "1^1 so individuenreich vertreten sind
als bei uns (Mitt. a. d. zool. Mus. Bd. I, Heft 3,
S. 1 29 f.), was sehr viel sagen will , da sie auch
bei uns schon recht individuenreich vertreten sind.
Da wir wissen, daß Fliegen allgemein von Vögeln
gern gefressen werden, könnte man denken, daß
sie als die geschicktesten Flieger unter den In-
sekten, durch ihren geschickten Flug den Vögeln
entgehen, ') und das mag in einem gewissen Grade
auch richtig sein. Bei ihrem großen Individuen-
reichtum erklärt uns der geschickte Flug aber
auch nicht annähernd ihre äußerst geringe Zahl
in den Mageninhalten der Vögel; denn auch bei
den geschickt fliegenden, fliegendfangenden Vögeln
ist offenbar die Zahl der Dipteren (57 in 23
Mägen) viel zu gering. Nun wissen wir aber, daß
die Dipteren durchweg sehr zart gebaut und da-
bei äußerst brüchig sind und daß sie sehr feste
Teile, die gequetscht leicht erkennbar wären, nicht
besitzen. Ferner zeigt die Untersuchung der
Mageninhalte, daß gerade bei den Vogelarten, bei
denen Dipteren besonders als Nahrung in Frage
kommen könnten, nach den Angaben in meiner
Arbeit fast immer ein großer Teil des Magen-
inhaltes als unerkennbare Masse vorhanden war.
Da diese Masse aber meist Chitinteilchen erkennen
ließ, dürfen wir wohl annehmen, daß die ge-
fressenen Dipteren der Mehrzahl nach unter der
Wirkung des Muskelmagens völlig zermalmt
sind. — Dasselbe gilt für die Schmetterlinge
namentlich für die Kleinschmetterlinge und die
kleineren Heteroceren. — Schmetterlingsraupen
und Dipterenlarven sind zwar auch dünnhäutig.
Aber ihre Haut ist verhältnismäßig zäh , so daß
diese trotz ihrer Zartheit meist erkannt wurde.
Von den Raupen wurden allerdings bisweilen nur
die Köpfe und die Stigmen erkannt. — Es bleiben
dann nur die Hymenopteren und Wanzen, die,
obgleich sie leicht erkennbare Hartgebilde besitzen,
in zu geringer Zahl in den Mageninhalten sich
finden. Besonders fällt das bei den Wanzen auf,
die im Bismarck-Archipel außerordentlich viel in-
dividuenreicher vorhanden sind als die Zikaden
') Die schlimmsten Feinde der Dipteren sind zweifellos
die netzbauenden Spinnen.
N. F. XX. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
73
und sich trotzdem in den Mageninhalten in kaum
größerer Zahl finden. Bei den Hymenopteren
muß ganz besonders die geringe Zahl der Ameisen-
a r b e i t e r auffallen, deren Individuenreichtum, wie
schon hervorgehoben wurde, im Bismarck- Archipel,
ganz enorm groß ist. Doch auch die Bienen,
Grabwespen und Faltenwespen sind reich ver-
treten und nicht annähernd in entsprechender
Zahl in den Mageninhalten vorhanden. Bei den
genannten Hautflügjern und den Wanzen bleibt
uns nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß sie
von vielen Vögeln als Nahrung gemieden werden.
Sie fanden sich auch nur in dem Magen verhält-
nismäßig weniger Vogel arten. Während sich
Käfer bei 29 nichtfliegendfangenden Vogelarten
und die verhältnismäßig individuenärmeren Gerad-
flügler bei 23 Vogelarten fanden, hatten nur
8 Arten Bienen gefressen, nur 14 Arten Wanzen
und auch nur 15 Arten geflügelte Ameisen.
Ameisenarbeiter werden, wie schon oben ange-
geben wurde, höchstens von 12 Vogelarten ge-
fressen.
Damit ist der Beweis erbracht, daß im
Bismarck- Archipel die Ameisen, Wespen, Bienen
und Wanzen unter den Vögeln weniger Feinde
besitzen als andere Insekten, daß sie also, während
sie ihrer Nahrung nachgehen und in der Brut-
pflege tätig sind, weniger von Vögeln behelligt
werden als andere Insekten. — Bewiesen ist da-
mit freilich nur, daß sie von manchen Vögeln
gemieden werden. Die Frage, warum sie ge-
mieden werden, interessiert uns erst an zweiter
Stelle. — Da wir wissen, daß besonders in diesen
beiden Ordnungen unangenehme, ja, sogar gefähr-
liche Absonderungen vorkommen, liegt der Ge-
danke allerdings sehr nahe, das Gemiedenwerden
diesen Absonderungen zuzuschreiben. Da die
Absonderungen nicht bei allen Arten der Gruppe
gleich stark sind, — wissen wir doch, daß bei
manchen Wanzen, namentlich bei gestreckten,
unscheinbar gefärbten Arten, der Geruch sehr
schwach ist, — würde uns die Richtigkeit dieser
Annahme noch klarer vor Augen treten, wenn
wir bei unseren Vergleichen über die „Ordnung"
hinaus, wenigstens bis auf die „Familie" weiter
gingen. Wir würden dann sehen, daß unter den
Wanzen manche, z. B. die sehr lebhaft gefärbten
Pyrrhocoriden, fast nur von den Kuckucken ge-
fressen werden, von diesen aber ziemlich regel-
mäßig. Wir würden weiter sehen, daß es auch
unter den Käfern einzelne Gruppen gibt, die (ab-
gesehen von den fliegendfangenden Vögeln) nur
von den Kuckucken gefressen werden , z. B. eine
lebhaft gefärbte häufige Coccinellide und die eben-
falls lebhaft gefärbte Gattung O'idcs.
Steht nun fest, daß Bienen, Wespen und
Ameisenarbeiter von vielen insektenfressenden
Vögeln gemieden werden, so ergibt sich als
logischer Schluß, daß diejenigen Tiere anderer
Gruppen, die ihnen täuschend ähnlich sind, in
dieser Ähnlichkeit einen großen Vorteil besitzen und
nur das setzt die Selektionslehre voraus. Diese Lehre
gibt dann für das, was der Neolamarckismus als
Zufall ansehen muß, eine natürliche Er-
klärung.
Wie der Leser an dem hier gegebenen Bei-
spiel sieht, muß der Forscher, um aus Vogel-
magenuntersuchungen sichere Schlüsse ziehen zu
können, äußerst sorgfältig. Schritt für Schritt vor-
gehen. Bei Heikertinger bemerken wir von
einer solchen Sorgfalt keine Spur. Bei ihm soll
es die Masse tun. Die Masse soll das „erdrückende
Beweismaterial" liefern.
In meiner Arbeit über die Ameisen des Bis-
marck-Archipels nannte ich die Vögel die schlimm-
sten Feinde der Ameisen, und das ist richtig. Ich
wies aber ausdrücklich darauf hin, daß gerade die
Vernichtung der Geschlechtstiere den Be-
stand der Ameisenstaaten gefährden könne. Die
wenigen Arbeiter, die von den Vögeln gefressen
werden, kommen dabei gar nicht in Betracht.
Meine Worte schließen keineswegs aus, daß die
Vögel anderen Tiergruppen noch weit schlimmere
Feinde sind. Durch meine hier gegebenen Aus-
führungen ist dafür der Beweis geliefert.
Was die Magenuntersuchungen einheimischer
Vögel anbetrifft, so bin ich bereits in einer ande-
ren Zeitschrift („Aus der Heimat" Jahrg. 33, S. 22)
näher auf dieselben eingegangen und werde in
derselben Zeitschrift noch einmal auf das Thema
zurückkommen. — Hier sei nur noch einmal her-
vorgehoben, in wie geringer Zahl die Arbeiter
unserer Waldameise, (der eine einheimische Spinne
täuschend ähnlich ist), von Vögeln gefressen wer-
den, namentlich während des Sommers. — Man
kann es nicht genug betonen, daß Tiere, welche
so offen auftreten wie unsere Waldameise, un-
möglich viele Feinde haben können, weil sie dann
schon längst ausgerottet sein würde; und damit
decken sich alle Vogelmagenuntersuchungen voll-
kommen. Neben den Ameisenstraßen könnten
zahlreiche Vögel sich gütlich tun, wenn ihnen die
Waldameise wirklich ein angenehmes Futter wäre.
Jeder Tierbeobachter kann sich leicht davon über-
zeugen, daß man mit einer Pinzette eine Ameise
nach der andern aufsammeln kann, ohne von den
anderen belästigt zu werden. — Man müßte also
hunderte von Waldameisenarbeiter in den Vogel-
mägen finden. Und was findet man? Während
des Sommers günstigenfalls einzelne Stücke. Ist
das alles Zufall? — Daß offen auftretende Tiere
von den Vögeln gemieden, versteckt lebende
gierig gefressen werden, ist übrigens eine so all-
gemein gültige Erscheinung, daß jeder Naturbe-
obachter, ja, sogar der Laie sie kennt. Welcher
Garten- und Hühnerbesitzer wüßte nicht, daß die
zahlreich frei auf dem Kohl lebenden Raupen des
Kohlweißlings von den Hühnern, auch einzeln vor-
geworfen, verschmäht, die im Innern der Kohl-
köpfe lebende Raupe der Kohleule dagegen gierig
gefressen wird. Ist das alles Zufall? — Heiker-
ting;er sagt: „Eine Unterscheidung zwischen ge-
fährlichen und harmlosen Ameisen müßte vom
Vogel- und nicht vom Menschenstandpunkt vor-
74
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 5
genommen werden, was aber für uns Menschen
undurchführbar ist." — Gewiß ist das durchführbar.
Wenn man im Magen des Wendehalses, nach den
bis jetzt vorliegenden Untersuchungen, während
des Sommers fast nie Waldameisen, sehr zahl-
reich aber andere Ameisen findet, so muß er sie
doch wohl unterscheiden können; denn daß er
Waldameisen, auch einzeln umherlaufende, im Som-
mer nicht finden könne, wird doch wohl keiner,
der das Tierleben der Heimat kennt, glauben
wollen. — Der Vertreter der neolamarckistischen
Zufallstheorie wird sich also immer wieder mit
der Annahme beruhigen müssen, es ist Zufall,
während sich für den Vertreter der Selektions-
lehre das eine stets als notwendige F"olge aus dem
anderen ergibt.
Ich hoffe durch meine hier gegebenen Aus-
führungen dem nicht voreingenommenen Leser
klar vor Augen geführt zu haben, wie verschieden
der Neodarwinismus und der Neolamarckismus
den aus den Vogelmagenuntersuchungen sich
ergebenden Tatsachen gegenüberstehen.
Wundern muß man sich eigentlich über das
nochmalige Wiederaufglimmen des Larmarckis-
mus, da er doch das allgemeine Bedürfnis des
Menschen, sich alle Erscheinungen in der lebenden
Natur ursächlich zu erklären, so wenig befriedigt,
da doch erst die Darwinsche Selektionslehre
kommen mußte, um den Abstammungsgedanken
zum vollen Siege zu führen. — Diese eigenartige
Erscheinung dürfte in folgenden drei Tatsachen
ihre Erklärung finden : Erstens darin , daß B o -
taniker die Abstammungslehre mehr in die
Hand nahmen, in der Botanik aber der Kampf
ums Dasein und das Wirken der Selektion nicht
so klar zutage tritt wie in der Zoologie. Zweitens
daiin, daß über die wichtigsten Fragen der Se-
lektionslehre, namentHch über die Mimikryfrage in
erster Linie die Entomologie zu entscheiden hatte,
diese sich aber vorwiegend in den Händen von
Dilettanten befindet. Drittens darin, daß die Ver-
treter der Selektionslehre sich über das Auftreten
der ersten Anfangsstadien nützlicher Eigenschaften
immer noch nicht völlig klar geworden sind.
Dilettanten sind leicht geneigt ins Extrem zu
verfallen. Nachdem die Entomologen von der
Selektionslehre gehört hatten, suchten sie überall
nach Mimikryfällen. Bald gab es für sie nur noch
Schutzfarben, Trutzfarben und Mimikry. Jede
auch nur annähernde Ähnlichkeit wurde von ihnen
als Mimikry gedeutet. — ■ Die Folge war, daß sie
die Mimikrylehre und damit auch die Selektions-
lehre gründlich in Mißkredit brachten; denn jeder,
der z. B. Vögel kennt, muß sich sagen', daß
viele Farben der Tiere weder als Schutzfarben
noch als Trutzfarben zu verstehen sind. Da man
aber nicht auf den eigentlich recht nahe liegen-
den Gedanken kam, daß das Weibchen jeder
Tierart das Männchen der eigenen Art von denen
anderer Arten, die am gleichen Orte vorkommen,
zur Paarung muß unterscheiden können, daß,
wenn der Geruchssinn versagt, wie bei den Vögeln,
zum Erkennen außer dem Gehörssinn nur noch
der bei Vögeln so hoch entwickelte Gesichtssinn
in Frage kommen kann, die Farben also lediglich
Erkennungs färben sein werden, so wandte
man der Selektionslehre den Rücken und ließ unbe-
kannte innere Ursachen, ließ den Zufall walten.
— Die extremen Vertreter der Selektionslehre
aber, die in sehr vielen Fällen durch die Selektion
den Zufall ausgeschaltet sahen, wollten gar keinen
Zufall mehr anerkennen und alles durch Selektion
erklären. — Beides ist verfehlt : — Wie ein Stück
Feuerstein einem Stück Bernstein lecht ähnlich
sein kann, ohne daß beide Substanzen auch nur
das Geringste miteinander gemein hätten, so kann
auch ein Tier einem Tiere aus einer anderen
Gruppe recht ähnlich sein, ohne daß zwischen
beiden auch nur die geringste Beziehung bestände.
— Freilich ist es viel merkwürdiger, wenn einmal
zwei Tiere verschiedener Gruppen als wenn zwei
Steine einander ähnlich sind, weil die Ähnlichkeit
bei Tieren viel mehr an Einzelheiten gebunden
ist. Der Fall ist um so merkwürdiger, je höher
die einander ähnlichen Tiere organisiert sind. —
Je ähnlicher zwei hochorganisierte Tiere ver-
schiedener Gruppen einander sind, um so seltener
wird es sich um eine zufällige Ähnlichkeit
handeln. Sehen wir deshalb eine Ähnlichkeit mit
Tieren einer Gruppe (z.B. mit Ameisen) in ver-
schiedenen Gruppen wiederkehren, so sind
wir, wegen der äußerst geringen Wahrscheinlich-
keit eines Zufalls, genötigt, anzunehmen, daß die
Fälle in der gleichen oder in einer sehr ähnlichen
Weise zustande gekornmen sind. - — Sehen wir
weiter, daß in der Ähnlichkeit ein Vorteil der
einen Tiergruppe begründet ist, so haben wir da-
mit einen Anhaltspunkt, mittels der Selektions-
lehre den Zufall auszuschalten. Wir sind dann aber
genötigt, das Wirken der Naturauslese anzu-
erkennen. So zwingt uns schon die öfter wie-
derkehrende Ähnlichkeit von Spinnen, die viele
Feinde besitzen, mit Ameisenarbeitern, die wenige
Feinde besitzen, die Entstehung der Ähnlichkeit
duich Selektion anzunehmen. Das ist kurz der
logische Gedankengang, welcher der Mimikrylehre
zugrunde liegt. Es macht uns also schon die in
meinem letzten Aufsatz hervorgehobene, in ver-
schiedenen Spinnengruppen wiederkehrende Ähn-
lichkeit mit Ameisenarbeitern, die von Vögeln
selten gefressen werden, die Selektionslehre gleich-
sam zur Gewißheit, weil die Wahrscheinlichkeit,
daß in allen Fällen ein Zufall vorliegt, fast gleich
Null ist. — Die Gewißheit wird noch, größer,
wenn das nähere Eingehen auf irgendeinen Einzel-
fall weitere Einzelheiten ergibt : — Sehen wir, daß
bei der Gattung Myrmaradnic (Salticus) , im
Gegensatz zu fast allen anderen Spinnen, die Taster
des Weibchens stark erweitert sind und dadurch
die Kiefer der Ameisen vortäuschen, daß die
Vorderbeine beim Gehen vorgestreckt gehalten
werden und dadurch die Fühler der Ameisen vor-
täuschen, daß nicht nur die Gestalt und Haltung,
sondern auch die Bewegungen ameisenartig sind,
N. F. XX. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
75
so kann nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein
Zufall als völlig ausgeschlossen gelten. Schon die
Ameisenähnlichkeit bei den Spinnen genügt also,
um die Richtigkeit der Selektionslehre dem Neo-
lamarckismus gegenüber zu beweisen für jeden,
der es gelernt hat, mathematisch zu denken.
Diese Gewißheit darf uns aber nicht hindern,
jeden neuen Fall einer Ähnlichkeit einer gründ-
lichen Untersuchung zu unterwerfen. Wir dürfen
niemals ohne erneute Untersuchung verallgemeinern
wollen und müssen uns stets darüber klar sein,
daß eine zufällige Ähnlichkeit niemals völlig
ausgeschlossen ist.
Kurz sei zum Schluß des Auftretens der ersten
Anfange nützlicher Eigenschaften bei Tieren, in
unserem Falle der Entstehung der ersten An-
fänge einer Ameisenähnlichkeit gedacht, da die
Neolamarckisten behaupten, die ersten Anfänge
einer nützlichen Eigenschaft ließen sich durch Natur-
auslese nicht erklären, die Vorteile seien zuerst
zu unbedeutend um Selektionswert zu besitzen.
Den Beweis für diese Behauptung sind sie uns
freilich schuldig geblieben. — Nach allem, was
der Systematiker täglich beobachtet, muß genau
das Gegenteil von dem, was jene behaupten, als
zutreffend angenommen werden. Der Systema-
tiker weiß, daß bei jeder Tierart einige Eigen-
schaften mehr, andere weniger abändern, und zwar
pflegen alle Eigenschaften, die, soweit wir die
Funktion kennen, für die Erhaltung der Tierart
wichtig sind, wenig zu variieren, während die
weniger lebenswichtigen Eigenschaften stark ab-
zuändern pflegen. Schon Darwin wußte, daß
die sog. rudimentären Organe, die keine lebens-
wichtige Funktion mehr besitzen und deshalb ver-
kümmern, meist sehr stark variieren. — Nach
diesen unseren Erfahrungen muß bei den Mimikry-
formen, z. B. bei den ameisenähnlichen Spring-
spinnen die ameisenähnliche Gestalt, da sie lebens-
wichtig ist, verhältnismäßig konstant sein, und
das trifft zu. Nur die mächtig entwickelten Man-
dibeln des Männchens, welche dessen Ameisen-
ähnlichkeit bedeutend herabsetzen, variieren
stark. Die Gestalt des Weibchens aber variiert
wenig. Als bei den Vorfahren dieser Spinnen die
Ameisenähnlichkeit noch nicht vorhanden war,
war der allgemeine Habitus noch nicht lebens-
wichtig und konnte stark variieren. Durch starke
Variation der Körperform kann, namentlich bei
einer gestreckten Springspinne, leicht eine ziem-
lich hochgradige Ameisenähnlichkeit zustande
kommen, so daß die Naturauslese an derartige
Variationen anknüpfen konnte. — Starke Variationen
kennen wir auch heute noch bei vielen Tierarten.
Erinnert sei nur an die verschiedenen Farben und
Zeichnungen des Hainschneckengehäuses (Helix
)iemoralis) , einer gemeinen Ostseeassel (Idothea
haWiica) und an die starken Farbenabänderungen
fast aller Haustiere. Der Züchter hatte bei der
Domestikation z. B. des Rindes natürlich besonders
einen reichen Milch- und Fleischertrag im Auge.
Die Haarfarbe war ihm ziemlich gleichgültig. Des-
halb trat nach Aufhören der Naturzüchtung eine
starke Variation der Farbe ein. Verwildert ein
Haustier, wie man es beim Kaninchen kennt, so
tritt sofort wieder die Naturzüchtung ein, und die
Farbe wird wieder konstant.
Ich möchte diesen Aufsatz nicht abschließen,
ohne auf zwei vorzügliche kleine Abhandlungen
von E. Study hingewiesen zu haben, die in der
Zeitschrift „Die Naturwissenschaften" (7. Jahrg.
S. 371 ff.) und in der „Zeitschrift für induktive
Abstammungs- und Vererbungslehre" (Bd. 24, S. 33 ff.)
veröffentlicht sind. Die erste wendet sich gegen
die Anhänger der E im ersehen Schule und be-
kämpft sie mit ihren eigenen Waffen. Die zweite
geht mit der Logik O. Hertwigs ins Gericht.
Beide zeigen klar, daß nur die Selektionslehrc
unserem logischen Denken gerecht wird.
Einzelberichte.
Die Lehre von der inneren Sekretion.
Vor dem Jahre 1890 finden sich in der Lite-
ratur nur einige wenige Hinweise auf die endo-
krinen Drüsen oder Blutgefäßdrüsen, welche ihre
Absonderungen nicht in die äußere Umgebung
des Lebewesens, sondern ins Blut desselben er-
gießen. Immerhin hatte schon 1801 der Physio-
loge Legallois, wie Gley') nachweist, eine
sehr klare Vorstellung von den Beziehungen, die
vorhanden sein müssen zwischen den verschiedenen
Sekreten auf der einen, und den Schwankungen
in der Zusammensetzung des venösen Blutes auf
der anderen Seite. Der Göttinger Professor A. A.
') Abhandlungen und Monographien aus dem Gebiete der
Biologie und Medizin, I. Heft: Gley, „Die Lehre von der
inneren Sekretion" (Bern J920, Ernst Bircher).
Berthold demonstrierte 1849 ^'s erster durch
Versuche, daß die Keimdrüsen auf dem Wege über
das Blut den ganzen Organismus beeinflussen
können. Auch sonst finden sich kurze Hinweise
auf die Drüsen mit innerer Abscheidung. Die
wahren Begründer der Lehre von der inneren
Sekretion sind jedoch Claude Bernard und
Brown-Sequard; den Anteil, den der eine
und der andere an der Begründung dieser Lehre
haben, zeigt Gley auf.
Als wesentliche Kennzeichen der Drüsen mit
innerer Sekretion werden genannt: i. Die Zellen
der sog. Blutgefäßdrüsen müssen die Eigenschaften
von drüsigen Elementen besitzen, und sie müssen
um die Blutgefäße gelagert sein, die aus dem
Organ austreten; 2. in diesen Zellen und in dem
venösen Blut der Drüse oder in der austretenden
1P^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 5
Lymphe muß eine spezifische Substanz chemisch
nachgewiesen werden Icönnen; und 3. muß das
venöse Blut der Drüse die physiologischen Eigen-
schaften dieser spezifischen Substanz besitzen. Für
zahlreiche Organe — sagt Gley — die zu den
Drüsen mit innerer Sekretion gerechnet werden,
„sind ohne Zweifel nicht alle diese Bedingungen
erfüllt worden ; manche dieser Organe sind jedoch
ganz sicher auch vom Standpunkt der schärfsten
Kritik als Drüsen mit innerer Sekretion aufzu-
fassen, denn obwohl nicht alle oben erwähnten
Merkmale zugegen sind, gestattet es eine Reihe
übereinstimmender Tatsachen , sie als endokrine
Drüsen anzuerkennen. . . . Niemand wird z. B.
bestreiten wollen, daß die Schilddrüse eine Blut-
gefäßdrüse ist, obwohl man bisher im venösen
Blut dieses Organs keine spezifischen chemischen
oder physiologischen Eigenschaften nachweisen
konnte; aber die Folgen der Exstirpation dieses
Organs sind so eigenartig und die Wirkung des
Schilddrüsenextraktes, das diese schädlichen Folgen
aufhebt, ist so charakteristisch, daß man gezwungen
ist anzunehmen, daß die Stoffe, die in diesem Ex-
trakt enthalten sind, das innere Milieu elektiv be-
einflussen."
Eine Ausnahme von der Regel, daß die Drüsen
der inneren Abscheidung keine Beziehungen zum
äußeren Milieu haben, bilden die Leber, das Pan-
kreas, und auch die Schleimhaut des Zwölffinger-
darms und des Leerdarms, die Stoffe sowohl nach
außen wie nach innen abscheiden. Überdies be-
stehen gewisse Wechselbeziehungen zwischen äuße-
rer und innerer Abscheidung. Als typisches Bei-
spiel wird u. a. der Harnstoff erwähnt, der in der
Leber gebildet, ins Blut ausgeschieden und von
der Niere abgefangen wird, um nach außen ab-
gegeben zu werden.
Der direkte Nachweis der Abscheidungspro-
dukte in den Drüsen oder im Blut und die Er-
mittlung ihrer chemischen Natur ist bisher erst
ausnahmsweise gelungen. „Es sind nur wenige
Stoffe, die in den Drüsenzellen chemisch nach-
gewiesen werden konnten : so Fette in den Darm-
zellen und in den Zellen des Fettgewebes, sowie
Adrenalin in den Zellen der Nebennieren. Man
hat allerdings auch in den Zellen der Schilddrüse
ein Produkt der Zelltätigkeit nachgewiesen , die
kolloide Substanz; aber wir wissen nicht, ob diese
kolloide Substanz nur das aktive Prinzip des Schild-
drüsensekretes enthält und ob es das ganze aktive
Prinzip in sich beherbergt. Der chemische Nach-
weis der spezifischen Produkte der Drüsen mit
innerer Sekretion im venösen Blute ist ebenfalls
nur für eine geringe Anzahl von Drüsen gelungen.
In den Darmvenen und im Ductus thoracicus hat
man Fette gefunden und sogar quantitativ be-
stimmt; man hat Zucker und Harnstoff im Blut
der Lebervenen nachgewiesen, und man hat schheß-
lich Adrenalin im Blute der Nebennierenvene ge-
funden."
Sehr wichtig für den Beweis des Vorliegens
innerer Sekretion ist die Feststellung, daß einem
spezifischen Produkt der Drüsentätigkeit bestimmte
physiologische Eigenschaften zukommen, die zeit-
weilig auf das Blut übertragen werden. Es wäre
nötig, daß er für alle endokrinen Drüsen erbracht
würde; darauf abzielende Untersuchungen sind
jedoch selten gemacht worden. Ein diesbezüg-
licher Nachweis wurde erbracht für jene Drüsen,
in denen Stoffe produziert werden, welche den
Ablauf chemischer Reaktionen verändern und nach
der Art von Fermenten wirken, nämlich das innere
Sekret des Pankreas, das zur Regulierung des nor-
malen Zuckergehaltes im Blute dient, und das
Antithrombin der Leber, auf dem die Gerinnung
des Blutes beruht. Auch hinsichtlich der beiden
bestbekannten inneren Abscheidungsstoffe, des
Sekretin der Schleimhaut des Zwölffinger- und des
Leerdarms, sowie des Adrenalin, gelang die Fest-
stellung, daß dieselben in das venöse Blut der
Organe übergehen, in welchen sie gebildet werden.
Statt die Anwesenheit der Sekrete im venösen
Blut zu ermitteln, wurde gewöhnlich ein einfacheres
Verfahren angewendet, das in der Beobachtung
der Wirkung von Organextrakten besteht. Das
Resultat jedoch istj meint Gley, daß beinahe
alle Arbeiten, die seit fünfzehn Jahren über diese
Frage ausgeführt wurden, auf einer Methode be-
ruhen, die zwar nicht absolut mangelhaft, jedoch
unvollständig und darum ungenügend ist. Ohne
die große Bedeutung mancher Ergebnisse zu ver-
kennen, zu welchen die Untersuchung mit Organ-
extrakten führte, warnt Gley vor Schlüssen, die
einzig auf solcher Wirkung beruhen; er sagt:
„Wenn die chemischen und physiologischen Merk-
male, d. h. der Nachweis des spezifischen Produktes
im venösen Blute, nicht vorhanden sind, so kann
eine innersekretorische Wirkung nur dann ange-
nommen werden, wenn eine ganze Reihe von
übereinstimmenden physiologischen, pathologischen
und therapeutischen Momenten vorliegt : es muß
nachgewiesen sein, daß die Exstirpation des Or-
gans, dessen innersekretorische Wirkung vermutet
wird, einen ganzen Komplex von funktionellen
Störungen hervorruft, die auch beim Menschen als
Krankheit vorkommen können; ferner daß man
diese Störungen herabmindern oder zum. Ver-
schwinden bringen kann durch regelmäßige An-
wendung von Organextrakten oder durch Organ-
verpflanzung, wenn die letztere möglich ist. Der
Erfolg einer solchen Substitutionstherapie bildet
die Gegenprobe zu den Versuchen, in denen ein
Organ zerstört wird. Und nur weil eine solche
Reihe von übereinstimmenden Tatsachen mit Be-
zug auf die Schilddrüse und mit Bezug auf die
interstitielle Drüse der Geschlechtsdrüsen ermittelt
wurde, werden die Schilddrüse, die interstitielle
Drüse des Hodens und das Corpus luteum mit
Recht als Organe mit innerer Sekretion betrachtet."
Gleys Einwände gegen die Methode der Organ-
extrakte lese man in seiner Schrift selbst nach.
Die inneren Sekrete werden in vier Gruppen
eingeteilt: i. Innere Sekrete, die als Nährstoffe
dienen (Glukose der Leber ; Fett der Darmschleim-
N. F. XX. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
n
haut und des Panniculus adiposus; Fibrinogen der gänge oder Funktionen reguliert werden. 3. Hor-
Leber). 2. Morphogenetische Substanzen oder mone und 4. Parhormone. Die Harmozone teilt
Harmozone, durch welche die chemischen Vor- Gley wie folgt ein:
Innere Sekrete:
1. Substanzen, die im Stoffwechsel Substanz, die die Zuckerpro-
eine Rolle spielen. duktion reguliert.
2. Substanzen, die dazu dienen, Antithrombin,
das innere Milieu unverändert
zu erhalten.
3. Morphogenetische Substanzen, Chemische Natur unbekannt,
die durch ihre chemischen Wir-
kungen die Formbildung be-
einflussen.
Organe mit innerer Sekretion:
Pankreas.
Leber.
Interstitielle Drüse des Testi-
kels und Corpus luteum.
Schilddrüse. Hypophyse.
Thymus.
Die Hormone und die Parhormone werden nach ihrer physiologischen Funktion wie nach-
stehend gruppiert:
Innere Sekrete:
Organe mit innerer Sekretion:
Hormone mit chemischen Wir- Substanz, die das Trypsin akti- Milz.
kungen.
Hormone mit physiologischen
Wirkungen.
Parhormone.
viert.
Substanz, die den Stickstoffumsatz Schilddrüse,
und den Gaswechsel steigert.
Sekretin.
Galaktagoge Substanz.
Kohlensäure.
Harnstoff.
Schleimhaut des Duodenums
und Jejunums.
Myometrale Drüse , Plazenta
oder Fötus (?).
Muskeln und Drüsen.
Leber.
Entgegen dem sonstigen Gebrauch beschränkt
Gley die Bezeichnung „Hormone" auf eine Ab-
teilung der inneren Sekrete, welche als eigentliche
Reizstoffe aufzufassen sind.
Die Nährstoffsekrete werden in recht beträcht-
lichen Mengen ans Blut abgegeben; sie sind für
den Energieverbrauch bestimmt und werden des-
halb auch Verbrauchssekrete genannt. Anderer-
seits sind die „morphogenetischen Substanzen
und die Hormone schon in sehr geringen Dosen
wirksam; es handelt sich um Körper, die sich
augenscheinlich in ähnlicher Weise verhalten, wie
nervöse Reize oder Fermente. Mit ihnen gelangt
keine Energie zu den Zellen, die von ihnen be-
einflußt werden; sie setzen bloß präexistierende
Energie frei, sie regeln die physiologische Funk-
tion und lösen sie aus". Sehr wichtig ist, daß
Harmozone und Hormone in ihrem Ursprung und
in ihrer Wirkung spezifisch im anatomischen und
physiologischen Sinne sind, nicht aber im zoolo-
gischen Sinne, d. h. „die Sekrete, die mit einer
elektiven Wirkung ausgestattet sind, stammen aus
einem ganz bestimmten Organ und ausschließlich
aus diesem Organ; aber welcher Art das Tier
auch angehören mag, dem sie entnommen wur-
den, sie üben ihre Wirkung auch auf Tiere aus,
die anderen Arten angehören". Fraglich ist, ob
die Beschränkung der Sekrete auf bestimmte Or-
gane absolut ist, oder „ob sich trotz der Arbeits-
teilung im Organismus nicht auch in anderen
Organen Spuren von Eigenschaften nachweisen
lassen, die bei einem bestimmten Organ die aus-
schlaggebende Eigenschaft sind."
Im letzten Teil seiner Arbeit unternimmt
Gley, festzustellen, aus welchen Stoffen die Drüsen-
zellen die von ihnen sezernierten spezifischen Sub-
stanzen bereiten, oder mit anderen Worten, wie
die Drüse geladen wird; weiterhin geht er auf
die Ursachen ein, welche die Ausscheidung aus
den Drüsenzellen oder die Entladung der Drüse
hervorrufen. Dann untersucht er den Einfluß des
Nervensystems auf die innere Sekretion und
schließlich die Wechselwirkung oder gegenseitige
Beeinflussung der Drüsen mit innerer Sekretion ;
in dieser letzteren Beziehung sind wichtige patho-
logische Probleme erstanden.
Aus der Unter- oder Überfunktion der Drüsen
mit innerer Sekretion erwachsen mehr oder min-
fs
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 5
der schwere Störungen der Gesundheit. Der Be-
griff der Unterfunktion ist längst bekannt und
manche Pathologen meinen, daß er überhaupt die
Pathologie zu beherrschen habe. Da die endo-
krinen Drüsen nur ganz kleine Mengen von außer-
ordentlich wirksamen Stoffen liefern, meint Gley,
es sei nicht anzunehmen, daß ihre Produktion
allzu leicht ungenügend würde. Ebenso wie die
Unterfunktion wahrscheinlich weniger häufig vor-
kommt, als heute angenommen wird, spielt wahr-
scheinlich auch die Überfunktion eine verhältnis-
mäßig bescheidene Rolle. Gley sagt: „Man hat
einen großen Mißbrauch mit Erklärungen durch
Störungen der inneren Sekretion getrieben; man
ging dabei so weit, daß, wenn man einen Sym-
ptomenkomplex nicht allein durch Hyper- oder
allein durch Hyposekretion einer Drüse erklären
konnte, man einfach diese beiden Faktoren gleich-
zeitig heranzog ; so hat man z. B. behauptet, daß
bei der Akromegalie gleichzeitig ein partieller
Hyperpituitarismus und ein Hypopituitarismus vor-
handen sind." Auf solche kritiklose Weise kann
man freilich leicht alle krankhaften Erscheinungen
erklären, aber die Erklärungen bedeuten in Wirk-
lichkeit gar nichts.
Zum Schlüsse wird die Frage aufgeworfen, „ob
nicht in den endokrinen Drüsen toxische Sub-
stanzen gebildet werden, durch deren mehr oder
weniger weitgehende Resorption krankhafte Sym-
ptomenkomplexe hervorgerufen werden könnten.
Eine solche Vorstellung ist natürlich hypotheti-
scher Natur, aber manche Tatsachen lassen sie
von Interesse erscheinen". So hat man z. B. ge-
funden, daß die Schilddrüse bei vielen Infektions-
krankheiten ein abnormes Kolloid ausscheidet, das
nicht mehr seine normalen Farbreaktionen gibt.
Neuerdings wurde versucht, die Erscheinungen der
Akromegalie durch eine Störung in der inneren
Sekretion der Hypophyse zu erklären , die von
der physiologischen Sekretion qualitativ verschie-
den sein soll. Es ist also möglich, daß die krank-
haften Erscheinungen nicht alle aus einer Insuffi-
zienz oder gar einem Verlust der Funktion resul-
tieren; krankhafte Symptome können auch bedingt
sein durch einen gestörten Stoffwechsel des Or-
gans. H. Fehlinger.
Das Gesetz der Verteilung der Fixsterne
im Räume.
Dieses Gesetz versuchten Kapteyn und
van Rhijn durch sorgfältige Bearbeitung des
reichen, jetzt vorliegenden Materials über Paral-
laxen, Eigenbewegungen und Sternhelligkeiten zu
erforschen (Astrophys. Journal, July 1920). In
den galaktischen , d. h. auf die Ebene der Milch-
straße bezogenen Breiten zwischen + 40 " bis
+ 90" läßt sich die mittlere, jährliche Parallaxe
von Sternen der Größenklasse m und der Eigen-
bewegung ft befriedigend darstellen durch die
Formel
\gn= —0,691 — 0,0682 m -|- 0,645 lg /<.
Durch Kombination dieser Formel mit dem be-
reits früher ebenfalls von Kapteyn gefundenen
Gesetz der Verteilung der Parallaxen von Sternen
von gegebener Größe und Eigenbevvegung er-
geben sich die beiden Hauptgesetze, welche die
Anordnung der Sterne im Räume bestimmen.
Das erste dieser Gesetze gibt die Häufigkeit der
verschiedenen absoluten Helligkeiten M ') pro
Raumeinheit wenigstens in der Umgebung der
Sonne zwischen — 10,6 M und -{- 7,4 M an und
stellt sich als eine symmetrische Wahrscheinlich-
keitskurve dar von der Gleichung:
lg cp (M) = — 2,394 + 0,1858 M — 0,0345 M^.
Daraus folgt, daß die totale Anzahl von Sternen
in der Nachbarschaft der Sonne vom hellsten bis
zum schwächsten ganz gleichmäßig gleich 0,0451
für die Raumeinheit (i parsec^) ist. Unter parsec
oder Sternweite ist die Entfernung zu verstehen,
die einer Parallaxe von i Sekunde entspricht,
d.h. eine Entfernung 206225 Erdbahnhalbmessern
oder 3 74 Lichtjahren. — Nimmt man an, daß die
für die Nachbarschaft der Sonne abgeleitete Funk-
tion <p (M) auch für alle weiteren Entfernungen
gilt, so wäre die mittlere absolute Helligkeit aller
Sterne 2,7 mit einem wahrscheinlichen Fehler von
+ 1,69, d. h. ungefähr 2,9 M schwächer als die
Sonne; die Sonne gehört somit zu den helleren
Fixsternen des Milchstraßensystems.
Das zweite Grundgesetz über die Anordnung
der Sterne im Räume bezieht sich auf die Raum-
dichtigkeit der Sterne als Funktion ihrer Entfernung
von der Sonne. Setzt man die Sterndichtigkeit
nahe der Sonne gleich I, so findet Kapteyn
folgende Tabelle:
Parallaxe Sterndichte Parallaxe Sterndichte
0,296"
1,00
0,007"
0,60
0,118
1,00
0,005
0.45
0,047
1,00
0,003
0,30
0,030
0,92
0,002
0,18
0,019
0,86
0,001
0,09
0,012
0,76
Betrachtet man die Dichtigkeit der Sternverteilung
in einer Ebene senkrecht zur Milchstraßenebene, so
ergibt sich in der Richtung der Pole der Milch-
straße praktisch als Grenze des ganzen Systems
die Entfernung von 1500 parsec, während in der
Milchstraßenebene die ebenso geringe Dichtigkeit
von Sternen erst in einer achtmal so großen Ent-
fernung angetroffen wird. Hierbei ist allerdings
Symmetrie rund um die Pole der Milchstraße
vorausgesetzt, die in Wirklichkeit, wie schon der
Anblick der Milchstraße zeigt, nicht vorhanden
ist. Auch ist bei allen diesen Untersuchungen
der Einfachheit halber die Sonne als im Mittel-
punkt des gesamten Systems stehend angenom-
men, was bekanntlich ebenfalls nicht ganz richtig
ist. Demnach müssen Kapteyns Forschungs-
') d. h. der Größe, wie sie in der Einheit der Entfernung
(i parsec) erscheint.
N. F. XX. Nr. 5
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
79
resultate auch jetzt noch als provisorische be-
zeichnet werden, doch glaubt der geschätzte
Groninger Astronom, daß die erst in Zukunft zu
gewinnenden definitiven Ergebnisse die schon
jetzt erkennbaren Gesetze nicht mehr wesentlich
umgestalten werden. Kbr.
Die Ansdehuuug des ultravioletten
Spektrums.
IVIillikan berichtet im vorjährigen Juliheft
des Astrophysical Journal , daß durch hochge-
spannte, im Vakuum überspringende Funken und
Benutzung eines Hochvakuum-Spektrometers mit
besonders für diesen Zweck hergestelltem Kon-
kavgitter das ultraviolette Spektrum erheblich über
die bisher bekannten Grenzen hinaus verfolgt wer-
den konnte. Während Schumann mittels Vaku-
umkamera das Spektrum Geißlerscher Röhren bis
etwa 100 ixf.1 = looo Ängström-Einheiten zu ver-
folgen vermochte, photographierte M i 1 1 i k a n als
äußerste Linien der Funkenspektra von Kohlen-
stoff, Zink, Eisen, Silber und Nickel solche von
bzw. 260,5 ; 317.3; 271,6; 260,2; 202 Ängström-
Einheiten. Da in allen diesen Spektren auch die
Wasserstofflinie 1215,7 auftritt, glaubt Millikan,
daß im hochgespannten Funken neben gleichfalls
festgestellten Röntgenstrahlen Wasserstoff abge-
spalten wird. Die ultravioletten Strahlen sind
durch diese Beobachtungen den Röntgenstrahlen,
deren Wellenlängen nach Haga und Wind zwischen
I und 10 A.-E. liegen, erheblich näher gerückt.
Kbr.
Bücherbesprechungen.
Stromer, Ernst, Paläozoologisches Prak-
tikum. 104 S., 6 Textabb. Borntraeger, Berlin
1920. Brosch. 10 M.
Ohne mechanisches Handwerk geht es in
keiner Naturwissenschaft ab. Der vorliegende
Leitfaden geht von der sehr beherzigenswerten
Mahnung aus, solche Hilfsarbeit nicht zu gering
zu achten und etwa grundsätzlich Hilfskräfte
damit zu betrauen. Das Sammeln und die Prä-
paration von Fossilien gewähren nicht nur häufig
unwiederbringliche Gelegenheit zu wichtigen Be-
obachtungen, sondern sie müssen oft selbst aus
bestimmtem, wissenschaftlich bedingtem Gesichts-
winkel betrieben werden und sind dann ein un-
lösbarer Bestandteil der geistigen Stoffbearbeitung.
So sollte jeder Paläontologe die wichtigsten Hand-
griffe selbst geübt haben und kennen. Um sich
im Einzelfalle schnell über die vorteilhafteste
Methode zu unterrichten, ebenso zur methodischen
Aneignung ist die Stromer sehe Zusammenstellung
der wesentlichsten mechanischen und chemischen
Möglichkeiten ein trefflicher Führer.
Ein kürzerer spezieller Teil geht zum Schluß
die Tiergruppen in systematischer Reihe mit Hin-
blick auf die jeweils in Betracht zu ziehenden,
durch die normale Erhaltung bedingten Anwen-
dungen durch. Ein sorgfältig zusammengestelltes
und klar geordnetes Literaturverzeichnis gibt alle
nötigen weiteren Hinweise. Edw. Hennig.
einen aufreibenden Kampf gegen Sonnenglast und
Dürre — die gekrümmten, verzerrten Formen der
Stämme scheinen der Ausdruck dieses verzweifelten
Ringens zu sein. Trotz seiner Armut beherbergt
das Kaokofeld eine zahl- und artenreiche Tierwelt,
die St. in lebhaften Bildern vor Augen führt. Wir
erfahren u. a., wie sehr die Tiere der Dürre und
Trockenheit angepaßt sind, daß sie im Kampfe
ums Dasein andere Eigenschaften ausbildeten als
Artgenossen im wasserreichen Kongobecken, an
den Seen und den Sümpfen des Sudan.
Große Teile der Steppe bewohnt ein Zweig
des Hererovolkes, Ovatjimba genannt. Viehzüchter
sind alle Ovatjimba in gleicher Weise; Anfänge
von Ackerbau findet man im Norden des Kaoko-
feldes. Dort werden Felder gerodet, gehackt und
mit Mais oder Hirse bestellt. Die südlichen Ova-
tjimba, soweit sie südlich des 18,45 Breitengrades
leben, hausen ohne Stammesverband hordenweise
im Busch. Über körperliche und psychische
Eigenarten der Ovatjimba sagt St. Beachtenswertes.
In ihrem friedfertigen, ja feigen Wesen unter-
scheiden sie sich stark von ihren Nachbarn, den
Ovambo. Unter letzteren gibt es auffallend viele
Weißlinge oder Albino ; St. bekam den Eindruck,
daß diese geistig augenscheinlich nicht ganz auf
der Höhe stehen. H. Fehlinger.
Steinhardt, Vom wehrhaften Riesen und
seinem Reiche. 224 S. 24 Bildertafeln,
I Karte. Hamburg 1920, Alster- Verlag.
Eindrucksvoll schildert St. die Landesnatur des
südwestafrikanischen Kaokofeldes sowie das Leben
von Tieren und Menschen in dieser Steppe, die
im steten Wechsel von Sonnenglut und eisiger
Nachtkälte steht, die durchzogen ist von felsum-
schlossenen Tälern, deren Hänge spärlicher Wuchs
bedeckt; knorriger Steppendorn kämpft im Tale
Walther, J., Vorschule derGeologie. Eine
gemeinverständliche Einführung und Anleitung
zu Beobachtungen in der Heimat. Siebente er-
gänzte Auflage. Jena 1920, Gustav Fischer.
Das vor 15 Jahren in erster Auflage erschienene
Werk liegt nun in der siebenten Auflage vor, der
beste Beweis für seine Brauchbarkeit und die An-
erkennung, die es in geologisch interessierten
Kreisen gefunden hat. Die Darstellung ist klar,
verständlich und anregend, gegen frühere Auflagen
vielfach verändert und ergänzt. Die Literatur für
Exkursionen ist bis in die neueste Zeit nachge-
tragen. Krenkel.
8o
Natui-wissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 5
Anregungen und Antworten.
Zu Höfers Grundwasser und Quellen. Die Bemerkungen
des Herrn W. Halbfafi über mein Buch „Grundwasser und
Quellen" (Nr. 39, S. 624, 1920 dieser Wochenschrift) scheinen
mir geeignet, teilweise Irrungen im Leserkreise zu veranlassen,
weshalb ich mir erlaube, sie richtig zu stellen. So sagt Herr
Halb faß: „Man weiß nicht recht, ob der Verf. den Begriff
des juvenilen Wassers überhaupt gänzlich ablehnt oder nicht."
Hierzu habe ich zu bemerken, daß ich auf S. 67 das juvenile
Wasser mit der Bemerkung erwähne, daß „es im Abschnitt
Thermen eingehender besprochen wird". Da der Begriff ju-
veniles Wasser zur Erklärung mancher Thermen von E. Sueß
aufgestellt und auch nur für diese verwendet wurde, so ist
es naturgemäß, daß jenes bei diesen 'besprochen wird. Da
heißt es nach eingehenden Untersuchungen über Thermen auf
S. 165: „nicht das heiße Thermal wasser, sondern nur seine
Wärme ist juvenil; es gibt kein juveniles Wasser,
wohl jedoch juvenile Thermen" , also ein juveniles, fremdes
Heizgas, welches das Bodenwasser erwärmt. Damit glaube
ich mich über allen Zweifel klar ausgesprochen zu haben. —
Die Volgersche Kondensationsbypolbese habe ich auf
6 Seiten als unhaltbar bewiesen und durch meine, auch meteo-
rologisch begründete Nebellheorie ersetzt. Die „Umformung"
jener Hypothese durch M e z g e r erscheint mir nicht ausreichend
und deshalb zwecklos. Ich mußte mit den Zeilen sparen und
Unnotwendiges unterdrücken. — Herr Halb faß scheint den
wesentlichen Unterschied zwischen dem dickleibigen Lehr-
buch Keilhacks und meinem kurzen Leitfaden manch-
mal zu übersehen ; jenes kann die einzelnen Abschnitte mit
vielen Einzelfällen, Beispielen und Bildern erweitern, während
ich, meinem Programm gemäß, stets bemüht sein mußte, mich
auf das Wesentliche zu beschränken. — Den ,, Zusammenbang
des Grundwassers mit dem Meere" habe ich auf den Seiten
76, 98 und 109 besprochen, auch Beispiele und Literatur-
hinweise gegeben, was mir hydrogeologisch als ausreichend
erscheint; ich wäre dem Hydrographen Herrn Halbfaß dank-
bar gewesen, wenn er mir angedeutet hätte, in welcher Art
ich meine diesbezüglichen Ausführungen zu ergänzen hätte.
Wien III, 8. Oktober 1920.
Dr. Hans Höfer-Heimhalt.
Äther-Theorie und Einstein-Effekt. Da das Sonnenlicht
elektro-magnetischer Natur ist, liegt die Annahme nahe, daß
die Sonne im Äther nicht nur Bewegungserscheinungen, sondern
auch Zustandsänderungen in Form von Spannungen und Zer-
rungen hervorruft. Die Stärke derselben wird c. p. von der
Größe der Entfernung der betreffenden Ätherpartie von der
Sonne abhängen und in der Nähe derselben vergleichsweise
am stärksten sein.
Durch diese magnetische Beeinflussung des Äthers durch
die Sonne kann die Ablenkung eines Sternlichtstrahles beim
Vorbeistreichen am Sonnenrand hervorgebracht werden, indem
die Verzerrungen des Fortpflanzungsmittels den Gang des
Lichtwellenzuges in ähnlicher Weise beeinflussen müssen, wie
eine Narbe das benachbarte Gewebe, d. h. an sich heran-
ziehen. Hat doch schon Faraday eine Drehung des polari-
sierten Lichtstrahls im magnetischen Felde nachweisen können.
So kann der ,, Einst ein- Effekt " auch auf Grund der
Äther-Theorie erklärt werden.
Die Abweichung in der Perihelbewegung des
Merkur aber, welche eigentlich das Vorhandensein von
Planeten innerhalb der Merkurbahn, die aber tatsächlich
fehlen, erfordern würde, ist ebenfalls durch ein, in der Son-
nennähe am stärksten wirkendes, von der Sonne selbst aus-
gehendes und den ihr am nächsten befindlichen Planeten am
meisten beeinflussendes Magnetfeld einer prinzipiellen Er-
klärung zugänglich, dazu bedarf es also ebenfalls nicht der
Relativitätstheorie. Ar. Adler.
F'ischende Hunde. Am Stagno di San Giusta bei Orislano
an der Westküste Sardiniens beobachtete ich einstmals Hunde,
die regelrecht Fische fingen. Als wir am Ufer des erv/ähnten
großen Strandsees (den man kurz vor dem Kriege trocken zu
legen begann) nach Milben und Insekten suchten, bemerkten
wir wenige Schritte von uns entfernt ganz nahe am Wasser
einen mittelgroßen Hund, der scharf ins Wasser schaute. Er
ließ sich durch unsere Anwesenheit nicht stören (wurden doch
die Hunde in Sardinien zumeist in merkwürdig freundlicher
Weise behandelt, so daß sie wenig scheu sind). Nachdem der
Hund einige Minuten unbeweglich ins Wasser gesehen, fuhr
er plötzlich blitzschnell mit dem rechten Fang ins Wasser
und schleuderte einen etwa 20 cm langen Fisch ans Land und
trug ihn davon. Eine Strecke weiter fischte ein zweiter Hund
in derselben Weise, ebenfalls mit Erfolg. , Da ich vermutete,
es könnte sich vielleicht um matte, kranke Fische handeln,
die die Hunde anzögen, weil leicht fangbar, untersuchte ich
das Ufer genauer; es waren aber keine kranken oder toten
Fische aufzufinden. Die Scharen von Fischen schwammen
schnell davon, wenn ich näher hinzutrat; sie machten durch-
aus nicht den Eindruck als wären sie krank. Diese Hunde
fischten also regelrecht. Es wäre mir interessant, von ähn-
lichen Beobachtungen zu hören. Wenn ich mich recht er-
innere, habe ich einmal in einer Jagdzeitschrift im allge-
meinen gelesen, daß Hunde zuweilen große Fischliebhaber
seien und den Teichwirt dadurch schädigten.
Dr. Anton Krausse, Eberswalde.
Moderne, biologische Auffassung des Tierbaues bei J. Swift.
Bei meiner heurigen Reiselektüre des bekannten satyrischen
Werkes „Gullivers Reisen" von Swift, das bereits 1726 er-
schienen ist, ist mir im 3. Kapitel der Reise in das Land der
Riesen Brobdignag (Ausgabe der Reclamschen Universalbiblio-
thek S. Ill), wo davon die Rede ist, daß drei Gelehrte Gul-
liver untersuchen, eine hochinteressante Stelle aufgefallen, die
wohl verdient, allgemein bekannt gemacht zu werden. Es
heißt dort: „Alle drei stimmten darin überein, daß ich nicht
nach den regelmäßigen Naturgesetzen geschaffen sein könne,
weil ich nicht zur Erhaltung meines Lebens, durch Erklettern
der Bäume oder durch Eingraben in die Erde, gebildet sei.
Sie sahen ferner aus meinen Zähnen, die sie genau in Augen-
schein nahmen, ich sei ein fleischfressendes Tier; da jedoch
die meisten Vierfüßler mich an Kraft bei weitem überträfen
und Feldmäuse sowie einige andere viel zu behende seien,
könnten sie sich nicht vorstellen, wovon ich lebte, wenn ich
mich nicht von Schnecken oder Insekten ernähre; zugleich
aber erboten sich alle drei, durch sehr gelehrte Gründe zu
beweisen, auch dies sei nicht wohl möglich." Diese Äuße-
rung erinnert lebhaft an die Stelle in Goethes ,,Athrois-
mos", der freilich so manches Jahrzehnt später erschienen
ist: „Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten mächtig
zurück."
W'ien. Prof. Dr. E. Witlaczil.
Literatur.
Much, Prof. Dr. H., Pathologische Biologie (Immuni
tälswissenschaft). 3. Aufl. Mit 6 Tafeln u. 7 Textabb. Leip-
zig '20, C. Kabitsch. 45 M.
Inhalt: Fr. Termer, Kakao und Schokolade bei den alten Mexicanern und anderen mittelamerikanischen Völkern. S. 65.
Fr. Dahl, Täuschende Ähnlichkeit mit Bienen, Wespen und Ameisen. S. 70. — Einzelberichte: Gley, Die Lehre
von der inneren Sekretion. S. 75. Kapteyn und van Rhijn, Das Gesetz der Verteilung der Fixsterne. S. 78.
Millikan, Die Ausdehnung des ultravioletten Spektrums. S. 79. — Bücherbesprechungen: E. Stromer, Paläo-
zoologisches Praktikum. S. 79. Steinhardt, Vom wehrhaften Riesen und seinem Reiche. S. 79. J. Walther,
Vorschule der Geologie. S. 79. — Anregungen und Antworten: Zu Höfers Grundwasser und Quellen. S. 80. Äther-
Theorie und Einstein-Effekt. S. 80. Fischende Hunde. S. 80. Moderne, biologische Auffassung des Tierbaues bei
J. Swift. S. So. — Literatur: Liste. S. 80.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Fol^e 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 6. Februar 1921.
Nummer 6.
Über Moorbildungen im tropischen Afrika.
tNachdruck verboten.] Von Prof. Dr. E.
H. Potonie, dem die geologische Wissen-
schaft eine Reihe höchst wichtiger Forschungen
über die Bildungsweise und den Bau der rezenten
Moore und über ihre Umwandlung zu Kohlen-
lagern verdankt, ist seit vielen Jahren dafür ein-
getreten, daß die großen Kohlenbildungs-
perioden der Erde unter dem Einfluß eines
tropisch- feuchten Klimas gestanden haben.
Auf die Begründung dieser Ansicht, für die Po-
tonie eine Anzahl vollgültiger Beweise beibringen
konnte, soll hier nicht eingegangen werden. Bis
in die neueste Zeit fand er Gegnerschaft, natur-
gemäß von solchen, denen eine sachgemäße Ab-
wägung aller hierbei in Frage kommenden Materien
unmöglich war, vor allem, weil ihnen eine Kennt-
nis tropischer Natur und tropischer Klimaeigen-
tümlichkeiten fehlte.
Eine wesentliche Stütze fand Potonie durch
die Entdeckung eines 800000 Hektar großen
Flachmoorgebietes in der heißen Ebene des flachen
östlichen Teiles von Sumatra am Kamparfluß durch
S. H. Koorders, dessen 30 m hoher immer-
grüner Mischwald auf mächtigen Torflagen wächst.
Andere Tropenmoore wurden später von Janensch
aus Deutsch Ostafrika , von R. Lang aus dem
malayischen Archipel und von K. Keilhack von
Ceylon beschrieben.^)
Während des Krieges ist es mir gelungen, die
Zahl der bekannten Tropenmoore um einige zu
vermehren, die sich in Deutsch-Ostafrika und in
der Kongokolonie finden, also in recht verschieden-
artigen Klimaprovinzen liegen. Diese seien im
folgenden kurz geschildert.
Kigoma, der Endpunkt der von Daressalam
nach dem Tanganjikasee führenden Zentralbahn
steigt am Suedgehänge einer geräumigen Ein-
buchtung des Sees empor. Sie wird durch zwei
Landzungen gegen die heftigen böigen Wirbel-
') Über Tropenmoore und die ältere Literatur vgl,
K. Keilhack, Über tropische und subtropische Torfmoore
auf der Insel Ceylon, Jahrb. Preuß. Geol. Landesanst. 1915,
H. 1; ferner K. Keilhack, Über tropische und subtropische
Flach- und Hochmoore auf Ceylon ; Mitt. Oberrhein. Geol.
Vereins, N. F. 4, S. 76. Keil hack gibt zum ersten Male
Listen der gesammelten Pflanzen, die wichtige Schlüsse und
Vergleiche mit außertropischen Mooren erlauben. — Weiter
sind anzuführen: 4. Bericht über die Ausgrabungen und Er-
gebnisse der Tendaguru- Expedition, Sitz.-Ber. Ges. Naturforsch.
Freunde, Berlin 1911, S. 393. — Janensch, Die Torfmoore
im Küstengebiet des südlichen Deutsch-Ostafrikas. Wiss. Er-
geh, der Tendaguru-Expedition, 3. H., S. 265. — R. Lang,
Geol.-Min. Beobachtungen in Indien, I — 3; Centralblatt für
Min., Geol. u. Pal. 1914, S. 257, 513. — Ausführlichere An-
gaben über die unten beschriebenen Moore und ihre klima-
tische Stellung inE. Krenkel, Moorbildungen im tropischen
Afrika, Centralblatt f. Min. 1920.
Krenkel, Leipzig.
winde des Grabensees abgeschlossen, der nach
den neuesten, von Jacobs und Stappers aus-
geführten Lotungen in seinem südlichen Teil-
becken bis zu 1435 "^ Tiefe erreicht und damit,
655 m unter den Spiegel des Indischen Ozeans
eingesenkt, der zweittiefste See der Erde nach
dem Baikal ist. Die genannten Landzungen, die
Anhöhen um die Bucht von Kigoma wie die
hohen Uferberge des Sees bestehen aus stark ge-
störten eintönigen Sandsteinserien der Tangan-
jikaformation.
Die Bucht von Kigoma zeigt an ihrem innersten
Rande einen flachen Strandsaum, der von hellen,
aus der Zerstörung der Sandsteine der Tangan-
jikaformation hervorgehenden Seesanden aufgebaut
ist. Die übrigen Seiten der Umrahmung der
Bucht steigen steiler aus dem Wasser empor. An
diesen steiler geneigten Uferböschungen läßt sich
um die ganze Bucht herum ein markantes Bran-
dungskliff erkennen, wie solche auch von anderen
Strecken des Sees bekannt geworden sind. Der
Strand der innersten Bucht findet landeinwärts
seine Fortsetzung in einem weiten ebenen Tal-
boden, der hinter einer etwa loo m breiten den
See von ihm abdämmenden Landbrücke einen
ausgedehnten Sumpf mit einer offenen Wasser-
fläche in der Mitte trägt. Sie wird von einem
wechselnd breiten Streifen wasserliebender Ge-
wächse umzogen , der sich durch seine saftig
grüne Farbe namentlich zur Trockenzeit von dem
fahlen Gelb der umgebenden Vegetation scharf
umrissen abhebt. Auch an den Abhängen dieses
Talbodens in der Umgebung des Teiches, der den
Namen Kibirizi trägt, ist ein Strandkliff sehr
deutlich zu erkennen, das sich in das eben er«
wähnte lückenlos fortsetzt. Das den Teich Kibi-
rizi umziehende Kliff beweist, daß sich die Bucht
von Kigoma einst erheblich tiefer landein er-
streckte. Es erklärt zugleich die Entstehung des
Teiches, der als ein von der heutigen Bucht von
Kigoma abgeschnürter Teil einer älteren, ausge*
dehnteren Bucht des Sees anzusehen ist.
Der Teich Kibirizi und seine Umgebung mit
stagnierenden Regenwassertümpeln sollten, als
Brutstätten malariaübertragender Mücken, während
des Krieges der Gesundung Kigomas zu Liebe
trockengelegt werden. Die vorgenommenen Ent-
wässerungsarbeiten, so die Anlage eines den Teich
mit der Bucht verbindenden Entwässerungsgrabens,
gaben Gelegenheit, die geologische Beschaffenheit
des Teichuntergrundes kennen zu lernen. Sie
legten zugleich ein recht ausgedehntes Tropen-
sumpfmoor frei.
82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. 6
Dieses Sumpfmoor erhält an einer Seite kleine
Zuflüsse aus den Randbergen des Sees. In seinem
Innern trägt es eine unregelmäßig gestaltete, von
Schwimmpflanzen lückenhaft bestandene Wasser-
fläche, die alle Anzeichen vorschreitender Ver-
sumpfung durch Verlanderpflanzen zeigt. Denn
von dem sie umgebenden innersten Vegetations-
gürtel aus rücken locker stehende Ausläufer in
sie vor, die sich nach außen mehr und mehr
verdichten. Dieser innerste Vegetations-
gürtel besteht aus einem sehr gleichmäßigen
Bestände von Sumpfgräsern — fast ausschließlich
wohl Cyperus Papyrus — von übermannshohem
Wuchs, die in dicken Klumpen, die man als
„Riesenbülte" bezeichnen könnte, beisammen stehen
und von schmalen Wasseradern durchzogen wer-
den. Auf diesen innersten „Papyrusgürtel" folgt
nach außen mit abnehmender Wassertiefe ein
zweiter, in dem die üppigen Papyrusstauden
zurücktreten, kleiner werden und sich andere
Gräser und Blütenpflanzen zwischenmischen. Am
Rande des Sumpfmoores, dem ausdauernde Was-
serlachen schon fast völlig fehlen, ist Papyrus
nicht mehr zu finden, eine Reihe verschiedener
Gräser und Stauden bilden vielmehr das vor-
herrschende Pflanzenelement. Auch hier stehen
die Süß- und Sauergräser noch in kleinen Bülten,
eine Analogie zu unseren Mooren.
Die Verlandung des Kibiriziteiches wird also,
genau wie bei den Seen unseres Klimas, durch
mehrere, zonenartig aufeinander folgende, wenn
auch nicht scharf getrennte Vegetationsgürtel be-
zeichnet. Eine genauere Beschreibung der diese
Gürtel zusammensetzenden Pflanzengemeinschaften
zu geben, ist mir unmöglich, so wünschenswert
sie auch wäre, da ich dazu zu wenig Botaniker
bin. Die gesammelten Pflanzen mußten in Afrika
zurückbleiben. Auffällig war es, daß sich nirgends
Moose und Flechten fanden.
An seiner Grenze wird nun dieser Grassumpf
— ein typisches Tropen flach moor, mit ver-
landenden Pflanzen im Innern, Fortsetzern der
Torfbildung im bereits landfest gewordenen Moor
nach außen hin — von einem zweiten Moortypus
umzogen, den man als Gehängemoor be-
zeichnen könnte. Dieses Gehängemoor zieht sich
über dem Sumpfmoor an den Böschungen des
Tales aufwärts und endet da, wo die oben be-
schriebene Strandlinie eines älteren, höheren
Standes desTanganjikadasGehänge durchschneidet.
Der Pflanzenwuchs auf ihm ist vielgestaltiger als
im äußersten Sumpfmoorgürtel, vor allem finden
sich viele blühende Kräuter, so Leguminosen. Als
auffallendstes Unterscheidungsmerkmal zum Sumpf-
moor, dem ein solcher völlig fehlt, zeigt das Ge-
hängemoor einen sehr lückenhaften Baum- oder
besser Buschwuchs von recht kümmerlichem Aus-
sehen, was wieder als Analogie zu unseren Mooren
gelten könnte. Das Gehängemoor endet mit
scharfer Grenze an den in der Umgebung von
Kigoma verbreiteten Pflanzenbeständen.
Am nördlichen Rande des Sumpfmoores, in
der Übergangszone zum Gehängemoor ansetzend,
finden sich üppige Bestände tropischer Kulturen,
so schöne Ölpalmen, die in dieser niedrigen Ufer-
region des Tanganjikasees als Vorposten ihres
Hauptverbreitungsgebietes inWestafrika in einzelnen
Exemplaren vorkommen, Bananenhaine und Pa-
payen. Sogar zu einzelnen P'eldkulturen ist der
trockene Humusboden hier früher benutzt worden,
der dann eine lockere krümelige Struktur durch
das Auflockern mit der Hacke angenommen hat.
Über die Untergrundsbeschaffenheit
des Kibirizisumpfmoores wurde folgendes festge-
stellt: Im Innern des Moores, unter der offenen,
tiefbraun gefärbten Wasserfläche, fand sich ein
breiiger, brauner P'aulschlamm, dessen Mächtig-
keit nicht ermittelt werden konnte. Am Ent-
wässerungsgraben dagegen, der ungefähr l^/g m
an seiner tiefsten Stelle in der Landbarre einschnitt,
wurde ein Profil erschlossen, das oben Torf, unter
diesem Sande und Kiese mit gelegentlichen
Tonschmitzchen zeigte , diese ganz ähnlich den
Ablagerungen des Buchtrandes, jedoch im Gegen-
satz zu deren kräftiger Färbung deutlich ausge-
bleicht und hier und da mit beginnender ort-
steinartiger Verfestigung. Die größte Mächtig-
keit des Torfes betrug im Graben über i m;
doch ist die wahre Mächtigkeit nach der Lage-
rung sicher größer. Die Farbe des nassen Torfes
ist braunschwarz bis schwarz, getrocknet dunkel-
braun. Der getrocknete Torf zeigt ein innig ver-
filztes Pflanzengewebe, in dem sich vor allem
Wurzelfasern, seltener Reste von Stengeln und
Blattstücken unterscheiden lassen. Der im Ge-
hängemoor vorkommende Torf zeigt eine viel ge-
ringere Mächtigkeit, die 20 cm erreicht. Er ist
sehr viel lockerer als der vorbeschriebene. Seine
Farbe ist heller. Unter seinen Bestandteilen über-
wiegen Wurzelteile, während eine homogene, diese
einbettende Grundmasse zurücktritt.
Außer dem Kibirizimoor dehnt sich vielleicht
zwischen Kigoma und dem Luitschetal ein anderes
großes Moor aus. Nach seiner Lage und seinem
Pflanzenbestand wäre es nicht ausgeschlossen, daß
hier ein Tropen hoch moor vorliegt. Da es
nicht besucht werden konnte, mag die bloße Er-
wähnung der Möglichkeit eines solchen Vorkom-
mens genügen.
Zu streifen wären noch die klimatischen
Verhältnisse am nördlichen Ostufer des Tanganjika-
sees. Dieses gehört dem äquatorialen Klimatypus
mit zwei Niederschlagsmaxima an; die kleine
Trockenzeit ist nur schwach entwickelt. Udjidji,
in der Nähe Kigomas, erhielt, um nur eine Be-
obachtungsstation zu nennen, im Jahre 191 1 eine
Regenmenge von 1092 mm; das Temperatur-
maximum betrug 34, das Minimum 12,5° C.
Wie gegenwärtig die Bedingungen zur Moor-
bildung am See gegeben sind , so bestanden sie
auch zur Karruzeit an beiden Ufern des noch
nicht gebildeten Sees. Karrukohlen sind sowohl
im Hinterlande von Karema wie im Lukugagraben
gefunden worden.
N. F. XX. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
H
Nach meinen übrigen Beobachtungen und Er-
kundigungen dürften Flachmoore auch in ande-
ren Teilen Deutsch- Ostafrikas vorkommen. So
wurde mir, um Beispiele aus verschiedenen Land-
schaften zu nennen, aus dem „Zwischenseen-
gebiet" berichtet, daß in den oft versumpften,
dicht mit Papyrus bestandenen Talsohlen Urundis
und Ruandas Torflagen festgestellt wurden. Ich
habe ferner im Innern Deutsch - Ostafrikas im
Nordugogo in einem Steppenbecken der Land-
schaft Mletsche über grauschwarzeni, fettem Steppen-
beckenton eine Torflage von etwa 20 cm Dicke
gefunden. Es handelt sich um ein kleines Flach-
moor, dessen Bau nicht weiter untersucht wurde.
Vorkommen ähnlicher Art werden sich wohl noch
öfter ermitteln lassen. Die Moore Ugogos sind
beachtenswert deshalb, weil das Klima dieses
Landes starke Extreme zeigt: so eine lange,
scharf ausgeprägte Trockenzeit mit völliger Regen-
freiheit während vieler Monate und eine kurze
Regenzeit mit allerhöchstens 700 mm Regen in
günstigen Jahren, dazu sehr hohe Temperaturen.
Zwischen Daressalam und Bagamojo habe ich
weiter an der Küste des Indischen Ozeans mehr-
fach dünne Lagen von braunem Torf über fossil-
führenden marinen Sanden oder in diese einge-
lagert gesehen. Besonders diese Vorkommnisse
der Küstenmoore (Mangrovenmoore?) von
paralischem Typus, die rezenten Beispiele für
eine unserer wichtigsten Erscheinungsformen der
fossilen Kohlenlager, erscheinen mir aus vielen
Gründen einer näheren Untersuchung wert, so
auch wegen der sich in ihrer Lagerungsweise ab-
spiegelnden jungen Bewegungen des Küstenlandes.
Aus allen diesen Angaben ergibt sich — zu-
sammen mit der Schilderung der Moore aus dem
südlichen Küstengebiet Deutsch- Ostafrikas, die
Janensch und v. St äff im Hinterlande von
Lindi und Kilwa aufgefunden und ausführlich ge-
schildert haben — daß Moorbildungen in den
verschiedensten Teilen dieses großen Gebietes auf-
treten. So an der mäßig feuchten ozeanischen
Küste mit ihren geringen Temperaturschwankun-
gen, im trockeneren Küstenhinterland, im regen-
armen heißen Innern mit großen Temperatur-
gegensätzen, an der inneren, dem regenreichen
Kongobecken schon angenäherten Seengrenze am
Tanganjika, und in den kühleren, regen- und
nebelreichen Hochländern des Nordwestens. Zwei-
fellos werden sich noch viele andere Vorkomm-
nisse finden.
Unter den ostafrikanischen Mooren ließen sich
schon heute nach bestimmten Merkmalen ver-
schiedene Typen aufstellen. Da aber gerade
ihr Pflanzenbestand, als eins ihrer wichtigsten
Merkmale, noch nicht genügend erforscht ist und
fast nur lücken- und laienhafte Angaben über ihn
vorliegen, müßte eine solche Aufstellung als ver-
früht unterbleiben, solange nicht der Botaniker
sein Urteil gesprochen hat. Trotzdem mag der
Versuch einer nur orientierenden Übersicht der
zu scheidenden Typen gewagt werden. Ihr sind
die bisher bekannt gewordenen außerafrikanischen
Vorkommen beigefügt. Die Moore Ostafrikas
werden in ihrer Mehrzahl den tropischen Flach-
mooren angehören; es ist aber kaum daran zu
zweifeln, daß es auch hier tropische Hochmoore
gibt.
Zu unterscheiden wären :
I. Tropische Moore.
A. Rezente Tropenmoore.
1. Tropenflachmoore
a) mit tropischem Regenhochwald, der deut-
liche Anzeichen eines Sumpfwaldes trägt,
so Pneumatophoren, Besen- und Brettwurzeln ;
Unterholz in verschiedenem Grade, oft nur
gering entwickelt. Unter der Wurzeldecke
dunkler schlammiger Humus. Offenen Wasser-
stellen nicht selten.
Vorkommen: im Kongobecken am Ruki;
außerhalb Afrikas: Osiküste von und mitt-
leres Sumatra, Ceylon?
b) mit üppiger Baum- und Buschvegetation,
z. T. in reinen, z. T. in gemischten Bestän-
den; Kraut- und Graswuchs zurücktretend.
Vorkommen : Großes und kleines Narunyo-
moor am Lukuledi, Mto Nyangi am Mbem-
kuru
c) mit Sumpfgräsern : Grasmoor (mit Gramineen,
Cyperaceen , Nymphaceen , Leguminosen).
Durchsetzt von wenig dichtem, mäßig hohem
Busch und niedrigen, nur vereinzelt höheren
Bäumen.
Vorkommen : (3.) Narunyomoor, Matumbica-
tal. Außerhalb Afrikas: südliche Westküste
von Ceylon
d) mit reinem oder überwiegendem Sumpf-
gräserwuchs im Innern („Papyrusmoor"),
meist mit offenen Wasserstellen ; ohne Baum-
und Buschwuchs.
Vorkommen: Bucht von Kigoma, Hoch-
länder des Zwischenseengebieies, (kleine)
Steppenmoore, Katanga;
e) paralische (Mangroven-) Moore: Pflanzenbe-
stand noch unbekannt.
Vorkommen: an der Küste Deutsch-Ost-
afrikas zwischen Bagamojo und Daressalam,
z. T. wohl subrezent.
2. Ubergangsbildung:Gehängemoor von
geringer Ausdehnung mit verkümmerter Baum-
und Buschvegetation.
Vorkommen : Bucht von Kigoma.
3. Tropenhochmoore, mit niedrigen Gräsern,
Farnkräutern und vereinzelten Baum- und Busch-
gruppen ; Vegetation kümmerlich.
Vorkommen: am Pindirobach im Mbemkuru-
tale (Süden von Deutsch- Ostafrika), zwischen
Kigoma und Luitsche?
B. Subrezente Tropenmoore.
Schwammige Torflager zwischen jungen Sedi-
menten, mit Resten von Baumstämmen und an-
deren Pflanzen.
Vorkommen : am Kongo zwischen Buma und
Lisala, eingelagert in junge Kongoalluvionen,
g4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 6
darunter Bleichsand; in Katanga. — Außerhalb
Afrikas : in mehreren, durch Bleichsande getrennten
Lagen übereinander auf der Malayischen Halb-
insel bei Ipoh und Tronoh.
IL Subtropische Moore
(mit Gebirgsklima im tropischen Gebiet).
1. Flachmoore: Grasmoor ohne Bäume und
Sträucher: die Flora zeigt viele Anklänge an
unsere heimischen Moorpflanzen (mit Apono-
geton, Juncus, Scirpus, Eriocaulon u. a.).
Vorkommen: Nurelia, am Talagalla (2250 m)
auf Ceylon. Hierher gehören wohl am besten
die Papyrusmoore in den Hochländern des
Zwischenseengebietes in Deutsch-Ostafrika.
2. Hochmoore: Grasmoor mit verkümmertem
Baumwuchs und wenig Staudenwuchs ; ohne
Moose.
Vorkommen: Nurelia auf Ceylon (weitgehende
Übereinstimmung in den Familien und selbst
in den Gattungen zu der Flora in den nord-
deutschen Mooren).
Daß auch außerhalb des eben besprochenen
Gebietes Bedingungen zur Moorbildung im tropi-
schen Afrika vorhanden sind, habe ich durch
vielerlei Angaben bestätigt gefunden, die mir
während meiner Reise durch die Kongokolonie
gemacht worden sind. Von diesen mag nur eine
erwähnt werden, die gut beobachtet erscheint.
Es handelt sich nach der Beschreibung um ein
großes mit Hochwald bestandenes Sumpfflach -
moor. Es dehnt sich am Unterlaufe des Ruki
aus, eines linken Nebenflusses des Kongo, der
sich bei Coquilhatville unter dem Äquator in den
Riesenstrom ergießt und die Urwälder der Mitte
des Kongobeckens entwässert. Was mir die
Schilderung dieses Moores als gut beobachtet er-
weist, ist die Erwähnung von „kurzen dicken Ge-
bilden, die zugespitzten Baumstümpfen gleichen
und in großer Anzahl den sumpfigen Boden be-
decken". Es kann sich hiernach nur um die
kegelförmigen Atemwurzeln sumpfständiger Laub-
bäume handeln, deren Lebensweise also eine
große Übereinstimmung verrät zu der Sumpfwald-
vegetation, wie sie uns Koorders und nach
ihm Potonie aus dem ebenen Flachlande des
östhchen Sumatra zwischen den Flüssen Siak und
Kampar beschrieben haben.
Auch subrezente Tropenmoore sind
im Kongobecken vorhanden. So sah ich auf der
Dampferfahrt kongoabwärts zwischen den an der
äußersten nördlichen Biegung des Kongoknies
gelegenen Stationen Buma und Lisala an einer
durch eine der jüngsten Hochfluten mit ihren
riesigen Wassermassen frisch abgebrochenen Ufer-
wand ein wichtiges Profil junger Ablagerungen
entblößt. Bis zum Wasserspiegel lagen Flußsande
von heller Färbung, darüber, allmählich aus diesen
hervorgehend, eine schwarzbraune, etwa I bis 1 ^4 ni
mächtige, lockere torfige Schicht, in der
noch schwärzliches Astwerk zu erkennen war,
und über dieser als Abschluß, aber nun mit
scharfer Abwaschungsgrenze ansetzend, jüngste.
gelb und braun gefärbte Flußablagerungen des
Kongo.
Dieses Profil zeigt deutlich, wie sich in einer,
wohl nur wenig zurückliegenden Zeit über jungen
Flußsedimenten in einer Üferniederung ein Sumpf-
flachmoor, wohl ein Waldmoor, gebildet hat. Es
wuchs, nach Analogie des gegenwärtigen Wachs-
tums der Flora im tropischen, feuchtigkeitschwan-
geren Kongourwald zu urteilen, das in kürzester
Zeit enorme Pflanzenmassen hervorbringt, rasch
heran, wurde dann wieder zerstört und abgetragen
und schließlich von einer neuen Lage von Sedi-
menten eingedeckt. Ein Einschneiden des Kongo
in seine Ablagerungen brachte das werdende
Kohlenflöz wieder ans Tageslicht.
Damit ist der Beweis erbracht, daß im tro-
pischen Urwald des Kongobeckens Moore in junger
geologischer Zeit entstanden sind, ebenso wie sie
noch heute in ihm gedeihen.
Dem vorbesprochenen ähnliche subrezente Torf-
lager hat C. Guillemain aus der Südprovinz
der Kongokolonie, aus Katanga, beschrieben.
Nur im Aufbaumaterial mögen sie sich unter-
scheiden, indem es sich bei ihnen um die Residuen
ausgedehnter Papyrussümpfe handelt. In erheb-
licher Ausdehnung finden sich diese jugendlichen
Kohlenflözbildungen im unteren Lufiratale und an
anderen Kongoquellflüssen.
Gleichartige subrezente Bildungen hat R. Lang,
der im östlichen Sumatra wachsende Waldmoore
über weiten Gebieten fand, ähnlich denen am
Ruki, von der Halbinsel Malakka bekannt ge-
geben, wo sich in den Tagebauten der Zinngruben
ausgezeichnete Profile von vertorften Waldsümpfen
und ihrer Gesteinsunterlage finden.
Daß im Gebiete des feuchten tropischen Kongo-
urwaldes Ansammlung von Rohhumus keine Aus-
nahme, sondern sogar eine Regel ist, deuten auch
die Schwarzwasserflüsse des inneren Kongo-
beckens an. Der tropische Urwald bedeckt in
Zentralafrika ein ausgedehntes, wenn auch nicht
geschlossenes Gebiet, das sich zwischen dem
5. Grade nördlicher und dem 5. Grade südlicher
Breite zonenartig zu beiden Seiten des Äquators
ausstreckt, mit einzelnen Ausläufern südwärts. Die
das Urwaldland durchziehenden zahlreichen Ge-
wässer sind echte Schwarzwasserflüsse. Sie
führen von gelöstem Humus tiefschwarz bis bräun-
lich in verschiedenen Tönen gefärbtes Wasser.
Obwohl es durch seine Farbe den Eindruck starker
Trübung erweckt, lassen sich eingetauchte Gegen-
stände viele Meter tief verfolgen. Dieses dunkle
Schwarzwasser führen die Ströme des Kongo-
beckens allein innerhalb des Urwaldbereichs, nicht
aber außerhalb desselben, ein deutlicher Hinweis
darauf, daß die dunkle Färbung mit der Erzeugung
von Rohhumus zusammenhängt.
Im großen ganzen ist das Urwaldland des
Kongobeckens weniger regenreich, als meist an-
genommen wird. Die hier fallenden Regen sind
beträchtlich geringer als auf Sumatra und Java,
I
N. F. XX. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
8S
wo Regenmengen von weit über 3000 mm durch-
aus die Regel sind. Im Kongobecken bewirkt
jedoch die Form der gewaltigen geologischen wie
orographischen Mulde eine intensive Sammlung
der Niederschläge in der Rinne des Kongo. Dazu
ist die Verdunstung durch die üppige, den Boden
vor Austrocknung bewahrende Pflanzendecke und
die meist starke Wolkenbildung gehemmt. Diese
Momente steigern die Wirksamkeit der kaum je-
mals 2000 mm übersteigenden Regenfälle — solche
Niederschläge finden sich z. B. als in einem der
regenreichsten Gebiete des Landes zwischen Co-
quilhatville und Lukolela am Kongo — für die
Urwaldstrecken um das Mehrfache.
Die aus dem tropischen Afrika bisher be-
schriebenen Moore sind nicht eben zahlreich. Sie
werden sich jedoch als verbreitet sehr rasch
herausstellen, sobald aufmerksam auf ihr Vor-
kommen geachtet werden wird.
Ohne hier weiter auf spezielle, mit der Moor-
bildung in den Tropen zusammenhängende Fragen
eingehen zu wollen, die geologischer und klima-
tologischer Natur sind, soviel jedenfalls ist sicher,
daß die wichtigsten Perioden weit ausgedehnter
und langandauernder Moorbildung auf der Erde
unter der Herrschaft eines tropisch- feuchten Klimas
standen mit allen seinen, einen üppigen Wuchs
der Flora fördernden Eigenschaften.
Spekulatives über die Endlichkeit der Welt.
[N»chdjuck verboten,] Von E. J. Gumbel (Berlin).
Die folgenden Zeilen sollen plausibel machen, Sonne aufgehen zu sehen
warum ein experimenteller Nachweis der Endlich-
keit der Welt auf optischem Weg heute und ver-
mutlich immer unmöglich ist.
Die Astronomen vermuten, daß die Welt end-
lich, aber unbegrenzt ist. Die allgemeine Rela-
tivitätstheorie hat sich dieser Vermutung ange-
schlossen. Man veranschaulicht sich dies, indem
man zweidimensionale Geschöpfe betrachtet, die
auf der Oberfläche einer Kugel leben. Deren
Welt hat nämlich beide Eigenschaften.
Unsere Welt verhält sich geometrisch, als wenn
wir auf der dreidimensionalen Oberfläche einer
Kugel von vier Dimensionen lebten. (Die Begriffe
Welt und Vierdimensionalität sind dabei nicht im
Sinn des raum-zeitlichen Kontinuums gebraucht.)
Da nur das Licht uns die Erkenntnis der uns
umgebenden Sternenwelt bringt, so drängt sich
zum experimentellen Nachweis der Endlichkeit der
Welt folgender Gedankengang auf: Das Licht
schreitet von einer Lichtquelle in Kugelwellen fort.
Das Licht muß also, nachdem es die ganze Welt
durchlaufen, wenn man von der Absorption ab-
sieht, von der „entgegengesetzten" Seite wieder
zurückkehren. Anders gesprochen: Es muß für
jeden auf der dreidimensionalen Oberfläche der
vierdimensionalen Kugel gelegenen Stern ein Bild
existieren , wo die Kugelwellen zusammenlaufen
und wieder auseinander gehen. Dieses Bild wird
an unserem Firmament als Stern erscheinen, den
wir an und für sich von den „wirklichen" Sternen
nicht unterscheiden können.
Nach der allgemeinen Relativitätstheorie wird
das Licht beim Durchgang durch Gravitations-
felder abgelenkt. Wir setzen bei der Überlegung
also voraus, daß die Gravitationsfelder das Zu-
standekommen des Bildes nicht verhindern.
Die Frage des Nachweises der Endlichkeit der
Welt konzentriert sich demnach auf die Auffindung
des Bildsternes. Hierzu stehen uns eine Reihe
von Methoden zur Verfügung. Zunächst könnte
man sich auf einen geeigneten Punkt der Erde
stellen und versuchen das Bild der untergehenden
Oder allgemein ge-
sprochen, es ist zu versuchen, zu bestimmten
Sternen der einen Himmelshalbkugel die zuge-
hörigen Bildsterne als Sterne der anderen Halb-
kugel aufzufinden. Die beiden Sterne müssen be-
zogen auf die Ekliptik an der Himmelskugel ieinen
Längenunterschied von 180 Grad und die gleiche,
aber entgegengesetzte Breite haben.
Der Nachweis der Zusammengehörigkeit zweier
Sterne als Stern und Bild läßt sich auf zwei
Weisen durchführen: mit Hilfe der Dopplerver-
schiebung und mit Hilfe der Parallaxenwerte. Wir
betrachten zunächst die Dopplerverschiebung.
Wenn der eine Stern sich in einer bestimmten
Richtung zur Erde bewegt, so müßte sein Bild
sich in entgegengesetzter Richtung bewegen. Also
müßten die beiden Dopplerverschiebungen den
gleichen Betrag, aber entgegengesetzte Richtung
haben. Man müßte demnach die Sterne der nörd-
lichen und südlichen Halbkugel einzeln darauf
durchsehen, ob sich zwei Sterne mit diesen Eigen-
schaften finden.
Da aber zu jedem Stern ein Bildstern gehört,
so könnte man auch untersuchen, ob wenigstens
entsprechende Sterngebiete der nördlichen und
südlichen Halbkugel im Mittel die gleiche, aber
entgegengesetzte Dopplerverschiebung aufweisen.
Dem liegt die Annahme zugrunde, daß die ge-
samte durch die Schwerkraft herbeigeführte Ab-
lenkung des Lichtes zwar nicht verschwinde, aber
verhältnismäßig klein sei. In Erweiterung dieses
Gedankens wäre zu untersuchen, ob nicht für die
nördliche und südliche Halbkugel im ganzen die
gleiche, aber entgegengesetzte Dopplerverschiebung
herauskommt.
Tatsächlich werden aber im Mittel ebensoviele
Sterne sich auf die Erde zu, als von ihr weg be-
wegen. Daher wird sich für dieses Mittel in
beiden Fällen Null ergeben, was für unsere Theorie
nichts aussagt. Dies ist nur einer der Einwände,
die die Unausführbarkeit unseres Gedankenexperi-
ments und damit überhaupt des Nachweises der
Endlichkeit der Welt auf optischem Weg zeigen.
86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 6
Es ist nämlich überhaupt unwahrscheinlich, daß
das Licht seinen Umlauf um die Welt vollendet.
Denn es ist zu befürchten, daß es von den schwarzen
Massen aufgeschluckt wird. Endlich haben wir
bei unserem Vergleich stillschweigend vorausge-
setzt, daß der Stern seine Geschwindigkeit in der
kolossalen Zeit, die das Licht vom Stern zum
Bild braucht, nicht wesentlich verändert hat. (Eine
an sich schon sehr unwahrscheinliche Hypothese.)
Entscheidend aber ist, daß stets einer der
beiden zusammengehörigen Sterne so weit von
uns entfernt sein muß, daß die genauen spektro-
skopischen Untersuchungen, die die Feststellung
der Dopplerverschiebung verlangt, überhaupt nicht
vorgenommen werden können. Dies läßt sich
einfach zeigen. Die Entfernung eines Sternes wird
mit Hilfe seiner Parallaxe gemessen.
Dies gibt uns scheinbar ein zweites Mittel um
die Zuordnung von Stern und Bild durchzuführen.
Die Entfernung des Sternes von der Erde und die
Entfernung des Bildes von der Erde müßte näm-
lich zusammengerechnet den halben Umfang eines
größten Kreises der vierdimensionalen Kugel
geben.
Aber eine einfache Überlegung zeigt, daß die
Parallaxe des Bildes tatsächlich immer dann un-
meßbar ist, wenn die Parallaxe des Sternes meß-
bar ist und umgekehrt. Nehmen wir den gün-
stigsten Fall für die gleichzeitige Messung von
Bild und Stern, so müssen beide gleichweit von
der Erde entfernt sein. Dann beträgt ihre Ent-
fernung je einen Quadranten eines größten Kreises
der vierdimensionalen Kugel. Aber nach einem
Satz der Geometrie ist der Umfang eines größten
Kreises auf einer n dimensionalen Kugel wie bei
der gewöhnlichen Kugel 2R7T. Wir brauchen
also zur Bestimmung der Parallaxe den Radius
der vierdimensionalen Kugel. Dieser ist natürlich
nicht exakt bestimmbar. Nach den Schätzungen
de Sitters ergibt er sich als das 10*^- bis 10'*-
fache des Erdbahnradius. Rechnen wir mit der
ersten Zahl, so gibt eine elementare Rechnung
eine Parallaxe von höchstens einhunderttausendstel
Bogensekunde. Eine solche ist aber durch unsere
astronomischen Messungen nicht nachweisbar. Also
selbst im günstigsten Fall kann man die Beziehung
für die Parallaxen, die sich daraus ergibt, daß die
Entfernung von Stern und Bild gleich einen halben
Weltumfang ist, nicht nachweisen.
Wenn der Stern sichtbar ist, so ist also sein
Bild nicht sichtbar und umgekehrt. In dem oben
erwähnten günstigsten Fall ist, da der Erdbahn-
radius 150 MiH. Kilometer beträgt und das Licht
300000 km in der Sekunde macht, die Entfernung
von der Erde zum Stern ungefähr 10 Mill. Licht-
jahre. Der Arcturus ist aber z. B. nur lOO Licht-
jahre entfernt. Bei quadratischer Abnahme der
Intensität mit der Entfernung wäre also ein Stern
von gleicher Größe 10 milliardenmal schwächer
als der Arcturus, also ein Stern von der 40. Größen-
klasse. Stern und Bild können also nicht gleich-
zeitig gesehen werden.
Jetzt sehen wir auch, wie unberechtigt unsere
frühere Annahme war, daß Stern und Bild sym-
metrisch gelegen sein müßten. Denn aus einer
bestimmten Lage eines Bildes zu einer gewissen
Zeit kann nur gefolgert werden, daß der zuge-
hörige Stern vor 20 Mill. Jahren die dazu sym-
metrische Lage eingenommen hat.
Da es unmöglich ist, zu einem Stern das zu-
gehörige Bild zu finden, ist es unmöglich die End-
lichkeit der Welt auf diesem optischen Weg ex-
perimentell zu beweisen. Dies könnte nur ge-
schehen, wenn man ein Verfahren finden könnte,
um den Bildcharakter eines Sternes nachzuweisen.
Durch optische Eigenschaften ist dies sicher nicht
möglich. Denn, da das Bild über seine Geschichte
nichts aussagt, so sind für die Optik Stern und
Bild völlig gleichberechtigt.
In mechanischer Hinsicht dagegen werden
Sterne und Bilder einander nicht äquivalent sein.
Zwei Bilder werden sich ungefähr verhalten wie
zwei Sterne, da nahe gelegene Bilder nahe gelegenen
Sternen entsprechen. Dagegen wird das gegen-
seitige Verhalten eines Sternes und eines Bild-
sternes gegenüber dem Verhalten zweier wirk-
licher Sterne bemerkenswerte Abweichungen zeigen.
Denn nur das vom Bild ausgestrahlte Licht wird
durch den Stern eine Gravitationswirkung erfahren,
nicht aber das vom Stern ausgestrahlte. Eine
Gravitationswirkung, die von der Masse des Bildes
herrührt, wird nicht vorhanden sein. Hat man
nun von zwei Sternen, die wir als sehr benach-
bart sehen, die Parallaxen so genau gemessen, daß
man entscheiden kann, daß sie nicht etwa nur
zufällig auf derselben Gesichtslinie stehen, sondern
„wirklich" benachbart sind, so ist es vielleicht
einmal möglich, durch den Unterschied in der
Größenordnung der Gravitationswirkung des
Lichtes und der Gravitationswirkung der Masse
den Nachweis für den Bildcharakter eines Sternes
und damit der Endlichkeit der Welt zu erbringen.
[Nachdruck verboten.]
Zum Kreislaufprozeß des Wassers,
Von Prof. W. Halbfaß, Jena.
Daß der Kreislaufprozeß des Wassers auf der
Erde nicht in mathematisch genauem Sinne ge-
nommen werden darf, bedarf wohl kaum einer
besonderen Erwähnung. Dennoch geht aus dem
meiner Ansicht nach wohlbegründeten Beweis-
verfahren von G n i r s *) hervor , daß wenigstens
in den zwei letzten vergangenen Jahrtausenden
eine meßbare Erniedrigung des Niveaus der
Ozeane, die gegenüber der Gesamtmasse der
Erde eine nur verschwindend dünne Oberflächen-
') MiU. Geogr. Ges. Wien 1908.
N. F. XX. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
87
Schicht darstellen, nicht stattgefunden hat. Es
hat sich ferner herausgestellt, daß alle Behaup-
tungen von einer dauernden Abnahme des
Wasserstandes der Flüsse und der Binnenseen
nicht zu erweisen sind und daß endlich von einer
gleichmäßigen, die ganze Erde umspannenden,
Abnahme der Niederschläge nicht die Rede sein
kann, daß vielmehr ein vielleicht periodisches An-
und Abschwellen im Wasserstand der Flüsse und
Seen und der Niederschlagsmengen erfolgt.
Auf der anderen Seite aber läßt sich nicht
bestreiten, daß die Erde beständig von ihrem
Wasservorrat einbüßen muß. Von den Ober-
flächenschichten der Erde sickert Wasser unauf-
hörlich in tiefere Schichten der Erdkruste, aus
denen es nur zum Teil in Gestalt von Quellen
und in Dampfform wieder an die Oberfläche zu-
rückkehrt. Die ,, Bergfeuchtigkeit" des Gesteins
auch in den größten Tiefen beweist, daß das
Wasser in Tiefen sinken kann, aus denen es frei-
willig nicht wieder emporsteigt. Am Meeres-
boden herrscht ein Druck, der in einer Tiefe von
9000 m mit 900 kg auf I qcm entspricht, d. h.
ein Druck, dem selbst die Wände des stärksten
Dampfkessels nicht standhalten könnten, ge-
schweige denn der viel weichere Boden der Welt-
meere. Es muß also in die unter dem Meeres-
boden liegenden Erdschichten fortwährend Wasser
abfließen, an dessen Wiederemporsteigen natürlich
nicht zu denken ist. Weiter binden die unaus-
gesetzt sich vollziehenden Kristallisationsvorgänge
in der Natur chemisch Wasser und halten es fest,
lassen es also in den atmosphärischen Kreislauf
nicht wieder zurückgehen. Endlich aber erfolgt
in Vulkanen, sobald das durch Erdspalten ver-
sinkende Wasser mit dem heißen Magma der
tieferen Schichten in Berührung kommt, sofort
eine Zersetzung in seine Bestandteile: Wasserstoff
und Sauerstoff, wobei ersterer wegen seiner
Leichtigkeit explosionsartig in die Höhe schießt
und in den oberen Schichten des gasförmigen
Erdgürtels der sog. Wasserstoffschicht dauernd
verbleibt.
Es muß also irgendeine andere Quelle der
Erneuerung und Vermehrung des Wassers auf
der Erdoberfläche vorhandens sein, welche imstande
ist, alle die geschilderten Verluste zu decken. Da
an eine irdische Quelle nicht zu denken ist, so
kann sie nur kosmischen Ursprungs sein, auf
welche Tatsache bereits namhafte Physiker hin-
gewiesen haben. Nur von den eigentlichen Geo-
graphen und Hydrographen scheint die Lücke,
die hier in unsere Kenntnisse von einer der wich-
tigsten Vorgänge in der Natur klafft, noch nicht
genügend beachtet zu sein.
Eine höchst originelle Erklärung versuchten
in einer sehr umfangreichen Schrift — sie umfaßt
nicht weniger als 772 Seiten Text im Lexikon-
format mit 312 Abbildungen — der Ingenieur
Hörbiger und der Astronom Fauth,*) welche
wohl deswegen bisher so wenig Beachtung ge-
funden hat, weil sie unmittelbar vor dem Welt-
krieg erschien und weil sie z. T. in einem wenig
lesbaren Stil geschrieben wurde. Ohne Zweifel
gehört dieses Werk zu den bedeutendsten und
gedankentiefsten Leistungen menschlichen Geistes
und wir Deutsche können stolz darauf sein, daß
es ein Werk deutscher Forscher ist. Vor kurzem
ist von einem begeisterten Anhänger dieser Lehre,
dem Ingenieur Dr. ing. Voigt,") ein Buch er-
schienen, das eine gemeinfaßliche Einführung in
Hörbiger- Fauths Glazialkosmogonie sein
will, sehr faßlich geschrieben und durch bildliche
und graphische Darstellungen vortrefflich unter-
stützt, sehr geeignet erscheint, solche Leser in die
Hörbigerschen Ideenwelt einzuführen, denen es
an Zeit und Geduld gebricht, das umfangreiche
Hauptwerk selbst zu studieren. Wir können uns
hier auf die Begründung der Hörbigerschen
Glazialkosmogonie im einzelnen und auf die
Folgerungen, die aus ihr auf die Entstehung der
Sedimentgebirge, Kohlen-, Erdöl- und Salzlager-
stätten gezogen werden, nicht einlassen, sondern
wollen nur diejenigen Gedankengänge hervorheben,
die ein Hineinspielen kosmischer Einflüsse auf den
Kreislaufprozeß des Wassers an der Erdoberfläche
wahrscheinlich machen sollen und es m. E. auch
wirklich tun.
Hörbiger weist zunächst auf die Schwierig-
keiten hin, welche sich der Erklärung so gewalti-
ger Hagelwetter entgegenstellen, wie dasjenige
vom 13. Juli 1788, das durch ganz Frankreich
vom Süden des Landes über Belgien bis nach
Holland hinein sich erstreckte, eine Gesamtbreite
von 150 km, eine Länge von über lOOO km er-
reichte oder dasjenige vom 24. Mai 1830, welches
Rußland vom baltischen bis zum schwarzen Meer
von einer Ausdehnung von 15 Längegraden und
10 Breit egraden verwüstete und eine durch-
schnittliche Geschwindigkeit von 94 km in der
Stunde besaß, oder endlich dasjenige, welches am
7. Juni 1894 Wien heimsuchte, wobei im Durch-
schnitt auf I qm Bodenfläche nahezu i Zentner
Eis fiel ! Die kurze Dauer des Zerstörungswerkes,
der lange schmale Weg, den das Unheil nimmt
und die schnelle Aufklärung nach dem Rasen
und Toben der Elemente führen eigentlich von
selbst zu den Gedanken, daß hier außerirdische
Kraftäußerungen vorliegen müssen. Sie gehen
weit über alles hinaus, was man etwa als Wirkung
einer Störung im atmosphärischen Gleichgewicht
ansehen könnte, welche die Temperatur-, Feuchtig-
keit- und Schwereunterschiede der atmosphärischen
Schichten begleiten.
Dasselbe gilt von den tropischen Regen, die
mit fast absoluter Pünktlichkeit eintreffen und
durch ihre Anschmiegung an den Sonnenhoch-
stand nach geographischer Breite und Tageszeit
auf kosmischen Ursprung hinweisen. Nach einer
') Hörbiger-Fauth, Eine neue Entwicklungsgeschichte
des Weltalls und des Sonnensystems. Kaiserslautern 1913.
-) Dr. ing. Voigt, Eis ein Weltenbaustoff. Berlin-
Wilmersdorf, Hermann Paetel. 312 S. in 8" nebst Atlas in
15 Taf. u. 4". 24 M.
as
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 6
vollkommen klaren Nacht, nach einem klaren
Sonnenaufgang gegen lo Uhr morgens, bewölkt
sich derHimmel, und Regen setzt mit großartiger Ge-
nauigkeit gegen 4 Uhr nachmittags ein, der dann
bis gegen Abend anhält, um dann wieder eine
klare Nacht folgen zu lassen. Wären diese enor-
men Niederschläge einfach eine Folge der Kon-
densation von Wasserdämpfen, die der Erdboden
verdunstet, so ist absolut nicht abzusehen, warum
die tagsüber verdampften Wassermengen nicht in
der kühleren Nacht als Regen niederfielen! Von
der physikalischen Erklärung der Hagelstürme
und tropischen Regen zu derjenigen der tropischen
Wärme ist nur ein Schritt, den Hör biger auch
tut. Diese Stürme bestehen in einem stoßweisen
Herabsteigen rasch bewegter Luftschichten in die
unterste am Erdboden zurückgehaltene Schicht,
welches selten länger als i Minute dauert, aber
gewaltige Wirkungen hervorruft. Der jüngst ver-
storbene Mathematiker Reye hat berechnet, daß
zur Bewegung der einströmenden Luft, welche
auf Kuba im Jahre 1844 einen furchtbaren Zyklon
hervorrief, eine halbe Milliarde PS. 3 volle Tage
lang aufgewendet worden ist. Solche in kürzester
Zeit sich austobenden Gewalten können unmög-
lich Einregelungsversuche sein, welche die Atmo-
sphäre macht, um das durch Sonnenbestrahlung
gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen, sie
können vielmehr nur kosmischen Ursprungs sein.
Hörbiger weist nun auf die Tatsache hin,
daß schon wiederholt in sehr großen Höhen
Wolken in einer Höhe bis zu 150 km am völlig
klaren Himmel beobachtet wurden, welche nur
aus Cirruseis bestehen können, ihren optischen
Eigenschaften entsprechend. Wie kommen Eis-
kristalle und Eisblöcke von solchem Umfange in
so unfaßbare Höhen, wo bereits die atmosphäri-
sche Luft begonnen hat sich in ihre Elemente
aufzulösen.? Da sie sich nur abwärts senken
können, so müssen sie zumal als Gebilde, die gar
nicht an die Erdrotation gebunden sind , vom
Weltenraume her hereingekommen sein. Sie bil-
den einen quantitativen Zuwachs von Wasser zur
Erde, welcher jenseits des irdischen Kreislauf-
prozesses des Wassers steht. Es gibt also einen
Wasserzufluß zur Frde, der aus dem Weltenraum
quillt und seinen Ursprung aus dem ungeheuren
Strom von Flüssigkeiten nimmt, der von der
Sonnenkorona ausgeht und im kalten Weltenraume
erstarrt.
Die sonstigen Konsequenzen , welche Hör-
biger aus seiner Annahme, daß namentlich die
äußeren, unsere Sonne umkreisenden Planeten,
aus Eis bestehen, worauf schon ihr spezifisches
Gewicht hinweist, und daß unser Mond ursprüng-
lich als Planet die Sonne umkreist habe, können
wir hier beiseite lassen, da sie mit seiner Theorie
des kosmischen Anteils am Kreislauf des Wassers
auf der Erde nur in einem losen Zusammenhang zu
stehen scheinen, wollen aber die Fachmänner nach-
drücklichst auf die Lektüre des Originalwerkes oder
wenigstens des Voigt sehen Auszuges hinweisen.
In der Geschichte der Theorien vom Kreislauf-
prozeß des Wassers müssen jedenfalls Hörbiger
und sein Schüler Fauth mit Achtung genannt
und die von ihnen beigebrachten Tatsachen sorg-
fältig auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Dar-
aus, daß die „Wissenschaft" sie bisher durch-
gehends abgelehnt hat, folgt noch lange nicht
ihre Unrichtigkeit. Die Geschichte der Wünschel-
rute bietet ein glänzendes und schwerwiegendes
Beispiel dafür, daß Tatsachen und Theorien, wel-
che anfangs Männer der Wissenschaft mit einer
verächtlichen Handbewegung glaubten abtun zu
können, später doch allgemeinste Beachtung ge-
funden haben.
Einzelberichte.
Petrographie des älteren Paläozoikums
zwischen Albuugen und Witzhausen. ^)
In dem behandelten Gebiet nehmen nach M o -
esta Grauwacken den weitaus größten Teil der
Oberfläche ein, am Südrande erscheinen aber in
den tiefsten Geländeteilen auch Tonschiefer mit
Einlagerungen von Quarziten, Kieselschiefern,
Hornsteinen, Kalken und Diabasen. Eine sichere
Alterbestimmung ist mangels sicher bestimmbarer
Versteinerungen nicht möglich. Mo esta ver-
gleicht die Grauwacken mit den Tanner Grau-
wacken und die Schiefer mit den Wieder Schiefern
des Harzes.
Die Schiefer sind namentlich an den Hängen
des Hölltals aufgeschlossen. Sie sind reich an
Quarz, ziemlich serizitisch, etwas eisen- und kohle-
') O. Mügge in den Nachr. v. d. Ges. d. Wissenschaften
zu GöUingen. Math, naturw. Klasse. 1919.
haltig und oft sehr zierlich gefältelt. Ihre Kalk-
einlagerungen sind dicht bis marmorartig. Die
Kieselschiefer sind voll von meist elliptisch defor-
mierten Radiolarien ; sie erscheinen auch im Kon-
takt mit den unten besprochenen Diabasen. Die
von Moesta als älter angesprochenen Grau-
wacken sind sandig, im großen bankig, im Hand-
stück fast kompakt. Auf Grund der Mineralge-
mengteile und der z. T. nur wenig abgerollten
Gesteinsbruchstücke und weil im Gelstertale die
Grauwacke, nicht der Schiefer, vom Zechstein
überlagert wird, weil ferner nur die Schiefer, nicht
auch die Grauwacken, Diabase eingeschaltet ent-
halten, endlich auch weil Lagerungsverhältnisse,
die auf jüngeres Alter der Schiefer hinwegweisen,
ihm nicht bekannt geworden sind, hält Mügge
die Grauwacken im Gegensatz zu Moesta
für jünger als die Schiefer. Die Grauwacken
könnten etwa, wie es B e y s c h 1 a g für die petro-
N. F. XX. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
89
graphisch durchaus ähnlichen Grauwacken von
Oberellenbach tut, zum Culm gestellt werden,
wenn die Parallelisierung der Schiefer mit den
Wieder Schiefern zu Recht besteht.
Die Diabase, die in den Schiefern sehr häufig
auftreten, sind alle sehr zersetzt. An der Grenze
zu den Schiefern werden sie zuerst feinkörnig,
schließlich völlig dicht. In den dichten Gesteinen
ist Olivin reichlich ausgeschieden, z. T. als größere
Einsprengunge, z. T. als sehr kleine Einspreng-
unge, die im Längsschnitt als zweizinkige Doppel-
gabeln, im Querschnitt als abgestumpfte Rhomben
mit großem Grundmasseeinschluß erscheinen. Sie
sind völlig zersetzt.
Die von M o est a erwähnte variolitische
Varietät ganz nahe am Bahnhof Albungen wurde
vonMügge wieder aufgefunden. Ihre Variolen haben
dieselbe Zusammensetzung wie die dichten Diabase,
die Zwischenmasse der Variolen dagegen scheint
Glas nur mit Ausscheidungen zahlreicher kleiner
Olivine gewesen zu sein. Sie ist jetzt vollständig
zersetzt. Im Gegensatz zu den Sphärolithen der
sauren Ergußgesteine lassen sie keinen Kristalli-
sationsmittelpunkt erkennen. Warum sie sich
trotzdem längs Kugeloberflächen von der um-
gebenden Glasmasse abgrenzen, dürfte nach des
Verf. Ansicht in folgendem begründet sein : Vom
jetzigen Mittelpunkte der Variolen, in dem zuerst
Feldspatkeime auftauchten, wuchsen diese anfangs
strahlig nach allen Richtungen, wurden aber als-
bald durch die schon ausgeschiedenen zahlreichen
kleinen Olivineinsprenglinge, sehr bald auch durch
die fast gleichzeitig einsetzende Kristallisation des
Schrnelzrestes zu Augit fortwährend unterbrochen.
An jeder Unterbrechungsstelle entstand ein neues
Wachstumszentrum und nur, weil diese Unter-
brechungen wegen der großen Zahl, Kleinheit und
regellosen Verteilung der Olivine auf allen Seiten
gleichmäßig erfolgte, blieb die Grenze zwischen
dem durch die Ausscheidung von Plagioklas und
Augit völlig kristallin werdenden Teile des Mag-
mas und jenem, der nur aus Glas mit mikro-
skopischen Olivineinsprenglingen bestand, zu jeder
Zeit annähernd eine Kugelfläche. Diese „Variolen"
stehen also den „Spärolithen" der sauren Erguß-
gesteine, deren regelmäßig radialstrahliges Wachs-
tum nicht durch das Vorhandensein zahlreicher
kleiner älterer Einsprengunge behindert wurde,
als kugelige Wachstumsformen von
Faseraggregaten ohne regelmäßigen
Bau gegenüber.
Aus verschiedenen Gründen nimmt der Verf.
an, daß die Diabaseinlagerungen als Ergüsse unter
hohen Wasserdruck entstanden sind. Exogene
Kontakterscheinungen erheblicher Art fehlen. In
chemischer Hinsicht zeigen die Analysen der
Variolen und ihrer Zwischenmasse größere Unter-
schiede, als nach der mikroskopischen Untersuchung
erwartet wurde. Die Variolen weisen einen et-
was höheren Gehalt an Alkalien auf, die Zwischen-
masse eine starke Anreicherung des Magnesia-
eisengehaltes. F. H.
Asphaltgäuge im Fischflußsandstein im Süden
von Südwestafrika.
In Südwestafrika war schon seit längerer Zeit
das Gerücht verbreitet, in den Sandsteinen des
Fischflusses kämen Kohlen vor. Im Februar 191 5
erhielt H. Schneiderhöhn („Senkenbergiana",
Bd. I, Nr. S, 191 9) vom Kommando der Schutz-
truppe den Auftrag, diese Vorkommen zu unter-
suchen. Leider sind später seine Sammlungen,
Photographien und Skizzen über diese Gegend
verloren gegangen, indem nach dem Friedensschluß
in Südwest seine Koffer von englischen Offizieren
in Windhuk gestohlen worden sind. Es konnte
daher nur eine kurze Beschreibung der Vorkommen
gegeben werden.
Die geologischen Verhältnisse stellen sich in
ihren Grundzügen nach P. Range') wie folgt
dar : Auf einem kristallinen Sockel der afrikanischen
Primärformation liegt eine mächtige Folge kon-
kordanter Sedimente, die folgendermaßen gegliedert
werden :
Karrooformation
Fischflußschichten
Schwarzrandschichten
Obere
Nama-
Schwarzkalk
Kuibisschichten
Basisschichten
Untere
formation
Alle diese Schichten liegen heute so gut wie
horizontal mit einem kaum merklichen Einfallen
nach Südosten. Der Fischfluß hat sich in seinem
Mittellauf in die nach ihm benannten Schichten
eingeschnitten. Infolge des ganz schwachen süd-
östlichen Einfallens kommt man nach Süden zu
in immer höhere Horizonte, wobei sich deutlich
ein Faziesübergang von Flachsee- bis zum reinen
Litoralgestein beobachten läßt.
Von Bedeutung sind zwei Absonderungs- oder
Kluftsysteme. Sie setzen senkrecht durch die
horizontalen Gesteinsbänke hindurch und durch-
kreuzen sich unter 60". Die eine Kluftrichtung
streicht ost — westlich, die andere südsüdwestlich
— nordnordöstlich. Beide Kluftsysteme sind meist
reine Zerrungs- bzw. Druckklüfte. Die Ost-West-
klüfte bilden die Lagerstätte des als Kohle ange-
sehenen Asphaltes.
Eine sehr eigenartige Erscheinung ist an dem
Ausstrich dieser Klüfte zu sehen. Längs der
Klüfte ist oft die oberste Gesteinslage dachförmig
aufgebuckelt. Die Aufwölbung erreicht manch-
mal 50—70 cm Höhe und ist fast nur längs der
Ost- Westklüfte entwickelt. Sie ziehen sich oft
viele hunderte von Metern hin. Die Entstehung
dieser Aufbuckelungen ist auf Kosten der hohen
Erwärmung zu setzen, welche die oberste, durch
keinerlei Schutt oder Vegetation geschützte Sand-
Steinlage durch die Sonnenbestrahlung erfährt.
Nach unten setzen sich diese Aufwölbungen nicht
fort.
') P. Range: Geologie d. d. Namalandes. Beitr. z.
geol. Erforsch, d. d. Schutzgebiete. 1912, H. 2.
90
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 6
Die Asphaltgänge sind bis jetzt nur in dem
tiefeingeschnittenen Fischflußtal und in einigen
Seitenschluchten beobachtet worden, und zwar an
folgenden drei Stellen :
1. Etwa 4 km südlich vom Übergang Unis
gaos, der etwa 13 km südöstlich Berseba liegt.
Dort sind an der östlichen Steilwand des Fisch-
flußtales 2 größere und etwa 20— 25 kleinere Gänge
aufgeschlossen.
2. In einer 2 km nördlich dieser Stelle von
Westen einmündenden Seitenschlucht 6 kleinere
Gänge.
3. Am Übergang Rukadomes, 50 km südlich
Unis gaos am westlichen Talhang 3 kleinere Gänge.
Sämtliche Gänge sind mit einer brekziösen
Gangmasse erfüllt. Ihre Mächtigkeit schwankt
zwischen 0,75 m bis zu 1 mm. Sämtlich asphalt-
führende Gänge sind dadurch ausgezeichnet, daß
in ihrer Umgebung das rote Gestein auf einige
Zentimeter fahlgrün ausgebleicht ist.
Die Gangfüllung besteht aus tonig-sandigen
Zerreibsei, Kalkspat und Asphalt. Letzterer bildet
stets die innerste, jüngste Gangausfüllung, zu beiden
Seiten ist er von Kalkspat umsäumt, und den
äußersten Saum bildet das Zerreibsei. Der As-
phalt ist eine geruchlose, glänzende, tiefschwarze
Masse von der Härte 2 — 3 und mit muschligem
Bruch. Er läßt sich leicht schon mit einem Streich-
holz zum Entflammen bringen und brennt dann
mit heller, starker, wenig rußender Flamme, die
leicht bituminös riecht. Nachdem der asphaltartige
Anteil verbrannt ist, bleibt ein erheblicher Rest
von porösem, anthrazitähnlichem Kohlenstoff übrig,
der, einmal entzündet, lang nachglüht, eine starke
Hitze dabei entwickelt und zum Schluß wenig
Aschenbestandteile übrig läßt. In dem breitesten
beobachteten Gang, an der Fundstelle i betrug
die Asphaltmächtigkeit 0,25 m. In anderen Gängen
ist sie bedeutend geringer und sinkt bis auf 1 mm
herab. Auf dem Plateau konnten einige Gänge
bis zu I km weit verfolgt werden, dann hinderten
Schuttmassen einer Senke daran. Aus den Mächtig-
keiten ergibt sich, daß trotz der guten Qualität
an eine bergmännische Gewinnung des Materials
nicht zu denken ist, wenn nicht noch mehr und
größere Vorkommen gefunden werden. Doch ist
das nicht anzunehmen, da die Hottentotten schon
laOge dieses Material zum Feueranzünden benützen
und in dem dortigen gut aufgeschlossenen Gebiet
andere Gänge sicher schon längst aufgefunden hätten.
Der Verf. nimmt für den Asphalt am Fisch-
fluß die anorganische Entstehung an und denkt
an hydrothermale Exhalationen, die vielleicht im
Gefolge der Entstehung des Explosionstrichters
des Großen Brukaros auftraten, der 20 km nörd-
lich von Berseba liegt. Es erscheint ihm sehr
wahrscheinlich, daß im Gefolge dieser, wohl der
Postkarroozeit angehörigen Explosion auch die
Asphaltsubstanz in Form von Kohlenwasserstoffen
empordrang und zusammen mit Schwerspat, Quarz,
Chalcedon, Kalkspat und Kupferkies der hydro-
thermalen Phase angehört. F. H.
Entfernung des großen Orionnebels.
Bergstrand glaubt durch eine indirekte Er-
mittlung der Parallaxe der mit dem Orionnebel
in nahem Zusammenhang stehenden, die Helium-
linien zeigenden Sterne ß, y, ö, e, C, x usw. Orionis
Aufschluß über die Entfernung des Nebels ge-
wonnen zu haben (Astron. Nachrichten Nr. 5038).
Bei diesen Sternen sind nämlich die Geschwindig-
keiten im Visionsradius aus den Linienverschie-
bungen im Spektrum auf Grund des Doppl er-
sehen Prinzips ziemlich genau in Kilometern be-
stimmt. Vergleicht man nun die durchschnittliche
Bewegung im Visionsradius, die bei diesen Sternen
von der Sonne fort gerichtet ist, mit den aus ge-
nauen Positionsmessungen von verschiedenen Daten
zu ermittelnden relativen Eigenbewegungen, die
eine langsame perspektivische Zusammenziehung
der ganzen Gruppe hervorbringen, so läßt sich
unter der Voraussetzung, daß die wirklichen Be-
wegungen der einzelnen Sterne unregelmäßig nach
dem Gesetz des Zufalls verteilt sind (daß also
auch die Bewegungen senkrecht zum Visionsradius
die gleiche durchschnittliche Geschwindigkeit haben,
wie diejenigen im Visionsradius), die mittlere Ent-
fernung dieser Sterne und damit auch des von
ihnen umgebenen Orionnebels abschätzen. Berg-
strand findet eine Parallaxe von 0,008", d. h.
der Erdbahnhalbmesser würde vom Orionnebel
aus unter diesem Sehwinkel erscheinen, was einer
Entfernung von etwa 400 Lichtjahren entspricht.
Kbr.
Die Geschlechtsbestimmnng bei den Motten-
läusen.
Der sog. Hymenopterentypus der Geschlechts-
bestimmung gilt, soweit wir heute wissen, für alle
Hymenopteren. Bei allen Hautflüglern entstehen
die Männchen aus unbefruchteten Eiern, die zwei
Richtungskörper abgeschnürt und eine Reduktion
ihrer Chromosomenzahl erfahren haben. Die
Hymenopterenmännchen sind infolgedessen haplo-
ide Organismen, bei deren Samenreifung die Re-
duktionsteilung ausfallen muß. Im Gegensatz zu
ihnen sind alle Weibchen diploid. Sie gehen aus
befruchteten Eiern hervor oder aber aus solchen,
die zwar unbefruchtet geblieben sind, ihre Chro-
mosomenzahl aber nicht reduziert haben. Den-
selben Modus der Geschlechtsbestimmung be-
sitzen offenbar auch die heterogenen Rädertiere,
doch sind bei diesen die Unsersuchungen noch
nicht so genau durchgeführt wie bei den Hymeno-
pteren. Nach kürzlich veröffentlichten Unter-
suchungen von Schrader*) gehören auch die
Mottenläuse, die Aleurodinen, hierher, oder wenig-
stens gewisse Formen von ihnen.
Die Mottenläuse, kleine zarte Tierchen von
') Schrader, F., Sex determination in Ihe white fly
(Trialevrodes vaporariorum). Journ. of Morphology, vol. 34,
1920.
N. F. XX. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
91
I — i'/q mm Größe mit vier mehlig bestaubten
Flügeln, die man früher zu den Schildläusen rechnete,
sind eine nicht sehr artenreiche Gruppe der Schnabel-
kerfe. Viele von ihnen leben als Schädlinge auf
Kulturpflanzen, so Aleurodes citri, die „weiße
Fliege" oder Orangenfliege, die in Orangen- und
Zitronenkulturen südlicher Länder oft in derartiger
Masse auftritt, daß die ganzen Blätter wie mit
Mehl bestäubt erscheinen. Solche Pflanzen er-
kranken und liefern nur kümmerliche Früchte. In
unseren Breiten finden sich auf Kulturpflanzen die
Kohlmottenlaus und die Erdbeermottenlaus, die
aber in der Regel nicht in so großer Zahl auf-
treten, daß sie schädlich werden. Außerdem gibt
es viele harmlose Mottenläuse auf anderen Pflanzen,
so Aleurodes aceris auf dem Ahorn , Aleurodes
proletella, wie schon der Name andeuten soll, eine
der gemeinsten Formen, auf dem Schöllkraut. Die
Spezies, die Seh rader zu seinen Untersuchungen
gedient hat, ist Trialeurodes vaporariorum, eine
auf verschiedenen Nachtschattengewächsen lebende
Mottenlaus. Bei einer in Amerika lebenden Rasse
dieser Form kommen Männchen und Weibchen
in mehr oder weniger gleichem Verhältnis vor.
In England scheint neben dieser Rcisse eine andere
zu existieren, die lediglich aus Weibchen besteht.
Die Weibchen pflanzen sich offenbar partheno-
genetisch fort und erzeugen immer wieder Weib-
chen. Auch bei der amerikanischen Rasse gibt
es eine parthenogenetische Entwicklung, aber
hier gehen aus den unbefruchteten Eiern nur
Männchen hervor. Der Modus der Geschlechts-
bestimmung bei dieser Rasse wurde durch die
zytologische Untersuchung ermittelt.
Trialeurodes vaporariorum besitzt im weib-
lichen Geschlecht 22 Chromosomen. Vor der
Reifung der Eizellen findet eine paarweise Ver-
einigung der homologen Chromosomen statt, die
Doppelchromosomen werden zu Tetraden, und so
treten 11 Tetraden in die erste Reifungsteilung
ein. Da die einzelnen Komponenten der Tetraden
vor der Reifung miteinander verschmelzen, er-
scheinen allerdings die Doppelchromosomen in
der Äquatorialplatte der ersten Reifungsspindel
als einfache Gebilde. Auf dem Stadium der
Äquatorialplatte verharrt die Reifungsspindel, bis
das Ei abgelegt ist. Nur wenn die Ablage des
Eies verzögert wird, kann die erste Reifungsteilung
noch etwas weiter ablaufen. Die 1 1 Tetraden
werden geteilt, so daß 1 1 Dyaden in den ersten
Richtungskörper kommen , 11 im Ei verbleiben.
Der Richtungskörper bleibt unter der Oberfläche
des Eies liegen und trifft ebenso wie der Eikern
sogleich die Vorbereitungen zu einer neuen Tei-
lung. Der Richtungskörper ist meist in der Tei-
lung hinter dem Eikern etwas zurück, führt die
Teilung aber auch immer vollständig durch. So
erhalten wir vier Chromosomengruppen, jede aus
1 1 einfachen Chromosomen bestehend. Die
Richtungskörper bleiben alle drei im Eiplasma
unter der Oberfläche liegen und gehen nach
einiger Zeit zugrunde. Die innerste Chromosomen-
gruppe stellt den gereiften Eikern dar, oder viel-
mehr, sie wandelt sich in diesen um und wandert
ins Zentrum des Eies.
Ist das Ei unbesamt geblieben, so liefert der
Eikern im Zentrum des Eies allein die erste
Furchungsspindel mit 1 1 Chromosomen, der haplo-
iden Zahl. Diese Zahl wird während der ganzen
Entwicklung und auch beim ausgebildeten Indi-
viduum beibehalten, wie eine Untersuchung der
verschiedensten Somazellen zeigt. Immer ist es
ein Männchen, das aus einem solchen unbefruch-
teten Ei mit haploider Chromosomenzahl hervor-
geht.
Ist aber das Ei besamt worden, so trifft der
gereifte Eikern auf seiner Wanderung ins Eiinnere
auf den Samenkern, der inzwischen aus dem Kopf
des Spermatozoons hervorgegangen ist, und ver-
schmilzt mit diesem zu einem einheitlichen Fur-
chungskern. So wird hier die diploide Chromo-
somenzahl wieder hergestellt, und in die erste
Furchungsspindel treten 22 Chromosomen ein.
Aus dem befruchteten Ei entsteht ein Weibchen.
Wie läuft nun bei den Männchen dieser
Mottenlaus die Samenreifung ab ? Da die Männ-
chen haploide Organismen sind, müssen wir er-
warten, daß bei ihnen, ähnlich wie bei den Männ-
chen der Hymenopteren, die Reduktionsteilung
ausfällt. Das ist in der Tat der Fall. Bei den
Hymenopteren macht die Spermatozyte — man
möchte sagen — wenigstens noch den Versuch zu
der Reifungsteilung. Hier fällt sie vollständig aus.
Die einzige Spermatozytenteilung, die zur Bildung
der Spermatiden führt, ist eine Äquationsteilung
und unterscheidet sich in nichts von den voraus-
gehenden Spermatogonienteilungen. Da auch im
übrigen die „Spermatozyte" nicht die geringsten
Unterschiede gegenüber einer Spermatogonie auf-
weist — eine Wachstumsperiode fehlt vollkom-
men — , so ließe sich darüber streiten, ob über-
haupt von einer Spermatozyten- oder Reifungs-
teilung die Rede sein kann. Aus allen Sperma-
tiden gehen funktionsfähige Samenfäden hervor
— ■ weibchenbestimmende Spermatozoen mit II
Chromosomen.
Bleibt ein Weibchen unbegattet, so vermag es
nur Männchen hervorzubringen, ähnlich wie die
drohnenbrütige Bienenkönigin. Das regelrecht be-
gattete Weibchen erzeugt weibliche und männ-
liche Nachkommen, doch ist das Geschlechtsver-
hältnis sehr variabel; es ist wahrscheinlich von
äußeren Faktoren abhängig. Wie die Hymeno-
pterenweibchen den Charakter des abzulegenden
Eies bis zu einem gewissen Grade willkürlich zu
bestimmen vermögen, so scheint es auch bei der
untersuchten Mottenlaus zu sein.
Es wäre von besonderem Interesse, die eng-
lische Rasse von Trialeurodes vaporariorum, die an-
scheinend aus rein parthenogenetisch sich vermeh-
renden Weibchen besteht, *) auf ihre zytologischen
') Es wäre aber auch denkbar, dafi es sich um eine Form
mit Heterogonie handelt.
92
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 6
Verhältnisse hin zu untersuchen. Ist der Modus
der Geschlechtsbestimmung bei dieser Form ganz
ebenso wie bei den Hymenopteren, so sollte man
erwarten, daß die parthenogenetisch entstandenen
Weibchen diploid sind, daß sie aus Eiern ihren
Ursprung nehmen, in denen die Reduktionsteilung
unterbleibt.
Was uns aber den hier beschriebenen Fall als
besonders wertvoll erscheinen läßt, daß sind die
so außerordentlich klaren Chromosomenverhält-
nisse, die er bietet. Es ist kürzlich die Ansicht
geäußert worden, haploide Organismen seien nicht
lebensfähig, die haploide Natur der Hymenopteren-
männchen wurde angezweifelt. Läßt sich auch
die Haltlosigkeit einer solchen Auffassung ohne
Schwierigkeit darlegen, so muß doch zugegeben
werden, daß die Chromosomenverhältnisse bei den
Hymenopteren sehr ungünstig sind; nicht nur
sind die Chromosomen sehr klein und sehr zahl-
reich, die Chromosomen der Reifungsteilungen
sind Sammelchromosomen, die in den somatischen
Zellen wieder in geringerwertige Elemente zer-
fallen, und das erschwert weiterhin die Unter-
suchungen. Alle diese Schwierigkeiten bestehen
bei Trialeurodes nicht, hier tritt es klar zutage,
daß auch eine (die mütterliche) Chromosomen-
garnitur vollauf genügen kann, einen lebensfähigen
Organismus zu produzieren. In diesem Falle wie
in den anderen uns bisher bekannten Fällen ist
es immer ein Männchen, das auf diese Weise ent-
steht. Zwar lassen sich bei Trialeurodes ebenso-
wenig wie bei den Hymenopteren morphologisch
dififerente Geschlechtschromosomen nachweisen,
aber wir haben guten Grund zu der Annahme,
daß wie bei vielen Tieren so auch hier zwei Ge-
schlechtschromosomen oder zwei X das weibliche,
ein X das männliche Geschlecht bestimmen.
Nachtsheim.
(London) mitgeteilten Strukturen von abnormen
Liesegan gschen Schichtungen dürften die Er-
klärung noch erschweren.^)
Um den im Organismus auftretenden Bestand-
teilen möglichst nahe zu bleiben, verwendete H a t -
schek zum Studium die Bildung von Kalzium-
phosphaten in Gelatine -Gelen. Zu diesem
Zweck wurden Lösungen von Kalziumsalzen auf
mit Trinatriumphosphatlösung imprägnierte Gela-
tineschichten in Probiergläsern aufgefüllt, so daß
allmähliche Diffusion eintrat. Es zeigte sich ein
Unterschied im Reaktionsverlauf je nach der Her-
kunft der Gelatine. Übereinstimmend aber wurde
festgestellt, daß die Schichtenbildung von Kalzium-
phosphat von sehr großer Schärfe und Regel -
m ä ß i g k e i t war, vollkommen frei von Umsetzungs-
produkt in den Räumen zwischen den Nieder-
schlagsschichten. Aber daneben zeigten sich einige
sonderbare Anomalien.
So waren in einigen Fällen die Schichten g e -
krümmt, und zwar merkwürdigerweise mit der
konkaven Seite nach unten. In anderen
Fällen waren die Schichtungen durch 2—3 mm
breite Brücken miteinander verbunden. Endlich
aber zeigte sich in einigen Fällen, daß die Schich-
tungen weit voneinander entfernt lagen, und daß
gleichzeitig zwischen zwei Schichten von mikro-
skopischenKristallen drei Schichtungen
von makroskopischen Aggregaten gelegen
waren. Derartiges ist bisher nie beobachtet worden.
Eine Deutung mit heutigen Mitteln ist zunächst
unmöglich.
Es dürfte für Biologen wie Geologen von
hohem Belang sein, zu erkennen, daß, wie be-
schrieben, sehr viel verwickeltere Strukturen als
die bisher bekannten durch einfache, von außen
unbeeinflußte Diffusion sich zu bilden vermögen.
H. Heller.
Abnorme Liesegangsche Schichtniigeu.
Man versteht unter Liesegangschen Ringen ')
im allgemeinen bekanntlich rhythmische Fällungen
der verschiedensten Salze, wie sie bei der Diffusion
der ihnen zugrundeliegenden Lösungen in Gelatine
entstehen. Läßt man beispielsweise eine mit
Natriumchromat versetzte Gelatinelösung erstarren,
und bringt nachher einen Tropfen Silbernitratlösung
darauf, so diffundiert er in die Gelatine hinein und
fällt dabei naturgemäß das sehr schwerlösliche
rote Silberchromat aus, aber merkwürdigerweise
nicht gleichmäßig, sondern in zahlreichen
deutlich voneinander abgehobenen
Ringen. Diese oft untersuchte Erscheinung ist
von hervorragender Wichtigkeit für biologische
und geologische Schichtungen, beispielsweise wer-
den die Achatbänderungen darauf zurückgeführt.
Eine restlos einwandfreie Theorie darüber aber
besteht noch nicht. Die von Emil Hatschek
Die Polychromie des kolloidalen Schwefels.
Unter geeigneten Versuchsbedingungen durch-
läuft ein System kolloidalen Schwefels nahezu alle
Farben der Farbenskala. Diese Erscheinungen
sind deshalb besonders interessant, weil die zu
beobachtenden Farberscheinungen lediglich auf
dem Grade der Verteilung des Dispersoids
ohne weitere chemische Veränderungen beruhen.
Im Gegensatz zu den Metallsolen, bei denen be-
kanntlich ebenfalls lebhafte Farberscheinungen
wahrgenommen werden, ist das Dispersoid hier
ein Dielektrikum. Die Versuche bilden ein
besonders schönes Beispiel für die Beziehungen
zwischen Farbe und Dispersitätsgrad, ein Thema,
das heute besonders lebhaft erörtert wird; u. a.
werden von Wo. Ostwald auch die Farbum-
schläge bei den gebräuchlichen Indikatoren auf
kolloidale Phänomene, d. h. solche der Teilchen-
größe des Indikators zurückgeführt, worüber er in
eine Kontroverse mit Hantzsch, dem erfolg-
') Vgl. hierzu: ,, Liesegangsche Ringe" vom Verfasser;
Prometheus 30, S. 409 (Nr. 1561 (1919)).
') KoUoid-Zeitschr. 27, S. 225 (1920).
N. F. Joe. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
9i
reichen Erforscher der chemischen Natur der In-
dikatoren geraten ist.
Rudolf Auerbach^) geht von einer ~ -
20
Lösung von Natriumthiosulfat NaoSgOg aus. Wer-
den 10 ccm hiervon mit 9,9 com Wasser und
hierauf 0,1 ccm Phosphorsäurelösung (HgPOJ
von der Dichte 1,70 versetzt, so bemerkt man,
wie bei jedem Säurezusatz zu dem genannten Salz
zunächst eine schwache Trübung, dann gelbblaue
Opaleszenz eintritt, und hierauf verschiebt sich die
Durchsichtsfarbe allmählich von gelb über kreß, rot,
veil nach blau. Alsdann fällt der abgeschiedene
Schwefel aus und setzt sich als Niederschlag zu
Boden. Ein Versuch, der sich im Probierglas an-
stellen läßt und innerhalb etwa 20 Minuten be-
endet ist.
Quantitativ ließ sich die Farbenskala nun mes-
sen mittels der Farbnormen von Wi. Ostwald-)
derart, daß das Bild der in einer Küvette befind-
lichen Lösung auf einen Schirm von Normalweiß
geworfen und daselbst mit den Ostwaldschen
Normalaufstrichen verglichen wurde. Gegen Ende
der Umsetzung wird die Messung ungenau infolge
wachsenden Weißgehaltes. Der Verlauf der
Trübung des Gesichtsfeldes ist nun sehr inter-
essant. Man erkennt bei Kreß 10 einen Knick
im Weißgehalt und der Schwarzgehalt der Farb-
töne nimmt plötzlich stark zu. Dieser Punkt ist
als Beginn der Flockung zu betrachten. Er
ist nach etwa 3 Sekunden erreicht. Von da an
werden die Farben wachsend trüber, bis nach
Eintritt des Blau der bunte Farbton verschwindet
und man in die Grau reihe hineinkommt. Hier
beginnt der Schwefel sich abzusetzen, und man
kommt durch die verschiedenen Grau nach dem
reinen Weiß zurück. Die Messung ergab einen
hohen Gehalt an Vollfarben in den bunten Sta-
dien. Da das Beersche Gesetz als gültig be-
funden wurde, so sind die Farbänderungen nicht
als Folge der wachsenden Schwefelkonzentration
aufzufassen.
Aus Vorstehendem ergibt sich eine neue Be-
stätigung des Satzes von Wo. Ostwald, nach
dem sich das Maximum der Absorption disperser
Systeme mit abnehmendem Grade der Dis-
persion nach dem langwelligen Ende des
Spektrums zu verschieben pflegt.
H. Heller.
Die Herkunft des Benzols bei der Leuchtgas-
gewinnung.
Hierüber liegt eine neue Arbeit von Franz
Fischer und H. Schrader vor.'') Benzol ist
M Kolloid-Zeitschrift 27, S. 223 (1920).
^) Vgl. „Ostwalds Forschungen 2ur Farbenlehre" vom
Verfasser, Naturw. Wochenschr. N. F. 19, Heft 9, S. 129
(1920). Darin auch Erklärung der hier gebrauchten Farb-
benennungen.
') Franz Fischer und H. Schrader, Brennstoff-
Chemie I. Bd., S. 4 (1920).
das wichtigste Ausgangsmaterial für die Darstellung
aromatischer Verbindungen. Es wird der Haupt-
menge nach als „Nebenerzeugnis" der Gasanstalten
und Kokereien gewonnen, also aus rohen Kohlen
bei hohen Temperaturen. Die Frage, auf welche
Weise es hieraus entstehe, hat offenbar ein hohes
theoretisches, in gleichem Maße aber auch prak-
tisches Interesse. Kann man doch hoffen durch
Kenntnis der Entstehung die dazu führenden Um-
setzungen und Bedingungen derart willkürlich zu
beeinflussen, daß der wertvolle Stoff in der theo-
retisch höchstmöglichen Menge gewonnen wird.
Für die Theorie war die Frage in mehrfacher Hin-
sicht von Belang.
B u 1 1 e r o w zuerst gelang es, beim Leiten von
Azetylen durch glühende Röhren Benzol synthe-
tisch zu erzeugen. Man nahm früher auf Grund
dieser Reaktion an, daß das Kokereibenzol in ähn-
licher Weise entstehe, etwa so, daß normale Kohlen-
wasserstoffe durch thermische Zersetzung unter
Ringschluß zusammentreten. Für z. B. Hexan
ergäbe sich etwa das Schema
CH.2 — CHj
CH.,
CH
CHa,
chJ
CHy
CH,
^,CH,
CH,
CH,
,CH
chI Jch
CHj— CH3 CHj CH
1896 aber zeigte Haber, daß Hexan bei der
thermischen Zersetzung nur ganz geringe Mengen
von Benzol liefert. Dieser Weg konnte also
nicht der sein, der in der Kokerei vorliegt. Man
dachte dann daran, daß aus Paraffinen, Naphtenen
ungesättigte Verbindungen entstehen könnten,
die sich dem Azetylen ähnlich verhielten.
Auch dagegen sprach der Versuch, der, während
des Krieges in Amerika durchgeführt, klägliche
Benzolausbeuten ergab. Endlich meinte man auch,
daß in den Kokereigasen Azetylen selbst entstehe
und sich zum Benzol kondensiere. Über die Her-
kunft des Azetylens aber wußte man nichts aus-
zusagen.
Nun ist durch die Arbeiten der letzten Jahre,
an denen die beiden Forscher hervorragenden An-
teil haben, festgestellt worden, daß bei vermindertem
Druck und tiefen Temperaturen aus der Kohle
der sog. U r t e e r entsteht, der beim gewöhnlichen
Kokereiverfahren natürlich ebenfalls primär auf-
treten muß. Der Urteer also muß diejenigen
Stoffe enthalten, aus denen infolge weitergehender
Zerlegung das Benzol hervorgeht. Urteer besteht
im wesentlichen aus zwei großen Stoffklassen,
aus dem Erdöl ähnlichen Kohlenwasserstoffen und
aus Phenolen, d. h. also ringförmigen Verbindungen.
Aus welchem Anteil kommt das Benzol?
Die Anwort ist nach Obigem naheliegend : da
aus aliphatischen Verbindungen nicht oder wenig
Benzol entsteht, so müssen die Urteerphenole da-
für verantwortlich gemacht werden. Ein einfacher
Reduktionsvorgang würde zur Entstehung hin-
reichend sein. Die Untersuchung bestätigte den
Schluß in vollem Umfange. Wurde z. B. o-Kresol
94
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 6
mit Wasserstoff bei 700 — 800 Grad durch ein
Porzellanrohr geschickt, so trat die Bildung von
benzolartigen Flüssigkeiten ein. Daneben fand
sich stets Methan. Es muß mithin eine vollstän-
dige Reduktion aller Seitenketten stattfinden:
CH3
CHs
/\0H
+
H^ = f 1 + H
Kresol
Toluol
CH3
^^
H,
= 1 1 + CH^.
\y
Benzol Methan
Bei dieser in thermochemischer Beziehung
wichtigen Umsetzung ergab sich nun ein be-
merkenswerter Einfluß der Gefäßwandungen auf
den glatten Verlauf des Prozesses. In Eisenröhren
nämlich trat starke Rußabscheidung und Verminde-
rung der Benzolausbeuten ein. Erst ein ver-
zinntes Rohr lieferte Benzolkohlenwasserstoffe
bis zu 78 "/o ohne jegliche Kohlenstoffabscheidung,
vermutlich deshalb, weil Zinn nicht imstande ist,
Karbide zu bilden.
Durch diese Versuche ist die Entstehung des
Benzols in den Kokereien und in der Gasretorte
aufgeklärt Daneben ist das allgemein wichtige
Ergebnis gezeitigt worden, daß Benzolhomologe
durch Reduktion quantitativ ihre Seitenketten
verlieren und in Benzol übergehen können. Dies
ist ein für die präparative Chemie zweifellos
wichtiger Befund. Für die Technik ist ein
gangbarer Weg gewiesen, die bei der Urteerge-
winnung in großen Mengen anfallenden Phenole
in kostbares Benzol überzuführen, und zwar auf
eine Weise, die den Anforderungen wissenschaft-
licher Betriebsweise entspricht, dabei aber nicht
mit Unkosten verknüpft ist. H. H.
Bleiwasserstotf zum ersten Male dargestellt.
Nachdem vor kurzem die Entdeckung zweier
neuer gasförmiger Hydride , des Wismut- und
des Zinnwasserstoffs, gelungen war, lag es
nahe, nach dem Analogen dieser Stoffe, dem
Blei Wasserstoff, zu forschen. Diese Arbeiten sind
nach vielen vergeblichen und äußerst mühevollen
Versuchen nunmehr von Erfolg gekrönt worden.
Zwar gelang es Fritz Paneth (Hamburg) und
O. Nörring") einstweilen nicht, wie bei den
beiden anderen Metallen, den gesuchten Bleiwasser-
stoff aus Blei-Magnesiumlegierungen darzustellen,
dagegen führte eine andere nicht minder inter-
essante Methode zum Ziel. Tellur und Arsen
lassen sich durch Gleichstromelektrolyse in die
') In der Urabbandlung durch grobe Druckfehler ent-
stellt!
') I: Berichte d. deutsch. Chem. Geselisch. 53, S. 1693
(1920). II: Zeitschr. f. Elektrochemie 26, S. 452 (1920).
Hydride überführen ; andererseits gelingt es durch
elektrische Zerstäubung mittels Induktionsfunken
in Wasserstoffatmosphäre oder durch kolloidale
Zerteilungen ') Hydride herzustellen. Beide Wege
versagten beim Blei, führten aber zu dem ge-
suchten Hydrid, wenn sie auf eine ebenso einfache
wie sinnreiche Weise miteinander gekoppelt
wurden.
Eine Schwefelsäurelösung wurde bei 220 Volt
mit einer in besonderer Weise konstruierten
B 1 e i kathode elektrolysiert. Hierdurch trat augen-
blicklich in der bekannten Weise kathodische
Wasserstoffentwicklung auf. Infolge der besonde-
ren Form der Kathode (deren Herstellung im
Original I nachzulesen ist) bildet der Wasserstoff
eine Hülle um das Blei, so daß momentan Strom-
unterbrechung eintritt. Alsbald hört die Gasent-
wicklung auf, die Säure gelangt wieder an die
Kathode, es tritt neue Wasserstoffentwicklung auf
usw. Nun ist jede dieser Stromunterbrechungen
mit kräftigen Funken an der Kathode verbun-
den. Sie bewirken ein teilweises Verdampfen des
Metalls, das mit dem ja unmittelbar vorher ent-
standenen Wasserstoff nunmehr zum Bleiwasser-
stoff zusammentritt. Unter geeigneten Versuchs-
bedingungen ist das Funken sehr regelmäßig und
lebhaft und damit die Bildung des Hydrids stetig
gewährleistet.
Mit dem Strom des molekular entweichenden
Wasserstoffs geht der gasförmige Bleiwasserstoff
hinweg. Sein Nachweis gestaltet sich nicht eben ein-
fach, gelang jedoch schließlich auf folgende Weise.
Durch die Zerstäubung entstandenes Blei wurde
natürlich im Gasstrom mitgerissen. Es wurde
durch dichte Wattefilter zurückgehalten. Das
gebildete Hydrid wurde in einem mit flüssi-
ger Luft gekühlten Gefäß kondensiert. Wurde
die Kühlung alsdann aufgehoben, so verdampfte
der Bleiwasserstoff wieder und konnte in einer
angeschlossenen Marsh sehen Röhre durch Bildung
eines Bleispiegels nachgewiesen werden. Da-
mit ist einwandfrei erwiesen, daß in der Tat ein
gasförmiger Beiwasserstoff entsteht und es sich
nicht nur um eine Suspension von Bleiteilchen
kleinster Ausmessung in Wasserstoff handelt. Die
Identifizierung des Bleispiegels, der den bekannten
Arsen- bzw. Antimonspiegeln ganz analog ist, ge-
schah u. a. durch Zufügen eines Körnchen Jods,
wodurch der graue Bleibeschlag beim Erwärmen
plötzlich in das gelbe Jodid überging.
Nun ließ sich ein Bleispiegel solcher Art dar-
stellen gleichgültig, ob man Schwefelsäure oder
Kaliumhydroxydlösung elektrolysierte. Es kann
mithin nur eine Umsetzung zwischen Blei und
dem beiden Elektrolyten gemeinsamen Wasser
stattgefunden haben. Da ferner gasförmige Oxyde
oder Hydroxyde des Bleis nicht wahrscheinlich
sind, so muß als sichergestellt gelten, daß sich
der kathodisch entwickelte Wasserstoff mit dem
Blei zu dem erwarteten Hydrid vereinigt hat.
Vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. 18, S. 427 (1919)-
N. F. XX. Nr. 6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
55
allerdings , so ist hinzuzufügen, erst nachdem
Funken durchschlag stattgefunden hat. Ohne
diese fand keine nachweisbare Hydridbildung statt.
Es ist mithin weiter anzunehmen, daß entweder
durch die F"unken entstehender atomarer Wasser-
stoff in statu nascendi sich mit dem fein zer-
stäubten Blei verbindet, oder aber, daß aktiver
Wasserstoff Hg ') für die Hydrierung verantwort-
lich gemacht werden muß, was deshalb wahr-
scheinlich ist, weil er mit Schwefel, Arsen usw.
unmittelbar Hydride ergibt.
Im Anschluß an diese Untersuchungen erörtert
P a n e t h die Frage , welche Elemente gas-
förmige Hydride zu bilden imstande
sind? Meist nimmt man an, daß solche Hydride
nur von Nichtmetallen gebildet werden, so
daß man im allgemeinen sie geradezu als ein
Kennzeichen dieser betrachtet, während die Hy-
dride von Metallen entweder fest -) oder nicht
unzersetzt vergasbar seien. Mit der Entdeckung
des Zinn-, vor allem aber des Bleiwasserstoffs ist
jedoch dieser Satz nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Zu einer überraschenden Gruppierung der Ele-
mente mit gasförmigen Wasserstoffverbindungen
gelangt man nun, wenn das periodische Sy-
stem in der Anordnung von Staigmüller^)
betrachtet wird. Man ersieht daraus sofort, daß
eine scharfe Trennungslinie zwischen den genannten
und anderen Elementen mit gasförmigen Hydriden
(insgesamt sind es 20) und denjenigen Grundstoffen
ohne dieses Kennzeichen möglich ist. Nur das
Bor steht außerhalb dieser Gruppe. Diese Schar
von Elementen aber umfaßt alle die, die I — 4
Stellen vor einem Edelgas stehen. Diese
Eigenart steht mit dem elektronen Atombau natur-
gemäß in engsten Beziehungen, die hier jedoch
noch nicht berührt werden sollen. Im übrigen
beweist die Entdeckung des Bleiwasserstoffs, daß
die Stellung des Bleis im Periodischen System
neben Silicium und Zinn in der gleichen Gruppe
auch valenzchemisch gerechtfertigt ist.
Der Berichterstatter möchte nicht unterlassen
hinzuzufügen, daß die Arbeit Pan eths ein Muster
chemischer Methodik und bester Experimeniier-
kunst ist, und eine schlechthin klassische Leistung
genannt zu werden verdient. H. Heller.
Die Ursache der Unterschreitung des
Eienientarquantunis.
Hierüber macht E. Regener eine wichtige
Mitteilung.^) In einem Aufsatz in dieser Zeit-
schrift ') hatte der Unterzeichnete beiläufig er-
wähnt, daß neuere Messungen von F. Ehren-
haft*") ergeben haben, daß die Ladung des
') Vg'- iiOzonform des Wasserstoffs", Ref. in Naturw.
Wochenschr. N. F. 19, S. 527 (1920).
') ^g'- i.Wasseritoff, die schwächste Säure", Ref. in Na-
turw. Wochenschr. N. F. 19, S. 782 (1920).
') Zeitschr. f. physik. Chemie 39, S. 245 (1902).
*) Königl. PreuS. Akad. d. Wissensch., Berlin 1920, S. 632.
*j Naturw. Wochenschr. N. F. XVIII, Nr. 20, S. 275.
») Annalen d. Physik 56, I9l8ff.
Elektrons, des kleinst möglichen elektrischen Quan-
tums, Werte annehmen könne, die weit unter-
halb dessen liegen, der bisher auf verschiedene
Weise als die absolut kleinste existenzfähige Menge
angenommen werden mußte. Daraus war ohne
nähere Kritik der erwähnten Untersuchungser-
gebnisse gefolgert worden, daß „die Atomistik
der Elektrizität sehr in Frage gestellt" sei. Die
Bedeutung einer solchen Möglichkeit bedarf nicht
der Erörterung. Es ist darum von Wichtigkeit,
daß Regener zu einer ganz anderen Deutung
der an sich einwandfreien Messungen Ehren-
hafts kommt. Er macht nämlich sehr wahr-
scheinhch, daß die Unterschreitung des Elementar-
quantums in den genannten Arbeiten nur schein-
bar sei.
Die Begründung dieser Auffassung wird ge-
wonnen aus Versuchen, die im Auftrage Rege-
ners von E. Radel gemacht wurden. Dieser
stellte Ladungsmessungen an Teilchen an, deren
Größe in dem weiten Intervall von 2,8 -lO^^ bis
8-io~* cm Radius gelegen war. Wurde an diesen
nach der ursprünglichen Methode (Beobachtung
der Steig- und Fallgeschwindigkeit im elektrischen
und Gravitationsfeld) gemessen, so ergab sich bei
Anwendung des Widerstandsgesetzes von Stokes-
Cunningham immer dann der bekannte Wert
der Elementarladung von ca. 4,8- lo^^*^, wenn die
Radien der Teilchen größer waren als etwa
2,7 • 10^^ cm. Dabei war es ganz gleichgültig, ob
an Teilchen aus Kolophonium, Paraffinöl, Queck-
silber, Gold oder anderen Stoffen gemessen wurde.
Bei sehr kleinen Teilchen aber ergaben sich
in der Tat die von Ehrenhaft mitgeteilten
großen Unterschreitungen des Ladungs-
wertes. Sie müssen jedoch als nur scheinbar
reell gewertet werden. Denn wenn der Ladungs-
wert bei diesen aus der Brownschen Be-
wegung berechnet wurde, so ergab sich eben-
falls ein Mhtelwert nahe dem bekannten von
4,8-10""'*'! Nun kommt bei der letztgenannten
Art der Berechnung ein Faktor nicht vor, der
in der ersten Rechnung enthalten ist: der Radius
der Teilchen. Er also muß für den Widerspruch
verant wertlich gemacht werden.
R e g e n e r macht über den Einfluß des Radius
nun folgende Erörterungen. Jedes Teilchen ver-
dichtet auf sich eine Gasschicht. Diese ver-
größert die Reibung der Teilchen am umgeben-
den Gas. Im allgemeinen ohne Belang wird der
Wert dieser Reibungseinflüsse nun von Bedeutung,
wenn es sich um sehr kleine Teilchen handelt.
Alsdann nämlich läßt er die Beweglichkeit
geringer erscheinen. Man findet infolgedessen
rechnerisch eine bewegende Kraft der Teilchen,
die ohne den Reibungseinfluß größer gefunden
würde. Aus der Bewegungskraft aber ermittelt
man die Ladung, und so wird auch sie unter
den angegebenen Umständen zu klein ge-
funden.
Radel hat sogar die Grenze, bei der die hier
geschilderten Einflüsse wirksam zu werden be-
96
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. 6
ginnen, genau bestimmen können. Goldteilchen
von 2,7 • io~^ cm Radius zeigen noch das richtige
Quantum , aber bereits Teilchen von 1,5 bis
2,o. 10^^ cm zeigen nur mehr die halbe Ladung.
Der Radius ist in erster Linie von der Dichte der
Substanz abhängig. Daraus folgert Regen er
weiter, daß die Teilchen mit einer gegen die Ober-
fläche hin zunehmenden Gasschicht umhüllt sind.
Diese Ausführungen sind so überzeugend, daß
sich die aufsehenerregenden Versuchsergebnisse
Ehrenhafts damit erledigt haben dürften.
Hans Heller.
Bücherbesprechungen.
Eilers , Georg , Am Schattenstab, eine
Himmelskunde in geschichtlicher An-
ordnung. 192 S. Braunschweig 1920, Georg
Westermann. Geb. 16 M.
Scheiner, J., DerBau desWeltalls. 5. Aufl.
Von Prof. Dr. Guthnick. 120 S. Leipzig 1920,
Teubner.
Peter, B. , Die Planeten. 2. Aug. Von Dr.
Hans Naumann. 125 S. Leipzig 1920, Teubner.
Voigt, Dr. Ing. e. h.. Eis, ein Weltenbau-
stoff, gemeinfaßliche Einführung in Hörbigers
Glazialkosmogonie (Welteislehre). 312 S. mit
Atlas, 15 Tafeln in Quart. Berlin 1920, Her-
mann Paetel. Geh. 24 M., geb. 32 M.
Das erste Werk, mit hübschen Bildern und
Zeichnungen, wendet sich an solche, die ohne
Vorkenntnisse in die Astronomie eindringen
wollen, es ist sehr anschaulich und mit großem
pädagogischen Geschick geschrieben, und stellt
den Werdegang der Astronomie von der Urzeit
her dar, wo man die ersten Messungen der Zeit
am Schattenstab vornahm. Als Geschenk vorzüg-
lich geeignet, wird es jedem Anfänger eine reine
Freude bereiten. Die beiden nächsten Bücher
sind aus der Sammlung „Natur und Geisteswelt",
und beide durch ihre neuen Verfasser auf den
gegenwärtigen Stand der Forschung gebracht. Bei
der Beschreibung der Planeten ist leider die so
sehr ausführliche und brauchbare Erklärung der
Marserscheinungen von Bau mann nicht benutzt,
die doch vieles von dem Rätselhaften sehr be-
friedigend erklärt. Sonst ist das gegebene Material
gut und reichhaltig. Ganz ausgezeichnet ist die
Darstellung Guthnicks über den Bau des Welt-
alls. Man stellt auf jeder Seite den erfahrenen
Beobachter und Forscher fest, der hier aus Eige-
nem berichtet. Die Ergebnisse der Sonnenforschung,
die der Spektralanalyse auf allen Gebieten sind
so eingehend dargestellt, als es der beschränkte
Raum gestattet. Mit besonderer Befriedigung
wird man aber die beiden letzten Abschnitte
studieren über die Fixsterne und die Nebelflecken
und über den äußeren Bau des Weltalls. Gerade
hier wird gegenwärtig ungeheuer viel gearbeitet,
und es ist schwer, die Ergebnisse zu finden, die
hier in übersichtlicher Weise zusammengestellt
werden, unter stetem Hinweis auf das Proble-
matische, das vielen Ergebnissen noch anhaftet.
Über die Hör biger sehe Glazialkosmogonie
ist hier Bd. 191 3, S. 561 ausführlich die Rede
gewesen. Wegen des allzu großen Umfanges des
Originalwerkes hat hier Voigt die wichtigsten
Gedankengänge klar dargestellt, der Atlas stellt
die Vorgänge bildlich dar, und gibt Abbildungen
aus der Sternenwelt. Soviel man auch kritisch
zu dieser Kosmogonie sagen kann, sie ist jeden-
falls eine schöpferische Idee und jeder, der sich
mit kosmologischen Problemen befaßt, kann hier
die Vielseitigkeit bewundern, mit der der an sich
einfache Grundgedanke vom Welteneis auf Pro-
bleme der verschiedensten Art vom Fixstern bis
zur Eiszeit und dem Hagelwettern angewendet
worden ist. Der Preis ist für das Gebotene billig
zu nennen. Riem.
Förster, Wilhelm Die Freude an derAstro-
nomie. 2. Aufl. 32 S. Berlin 1920, Ferd.
Dümmler. Brosch. 2,50 M.
An einen sehr interessanten kulturgeschicht-
lichen Rückblick, in dem eine Szene aus dem jetzt
kaum bekannten Kindermärchen von Tieck, „Der
gestiefelte Kater" eine Rolle spielt, in der König,
Gelehrter und Hofnarr sich über die großen Zahlen
der Astronomie unterhalten, an Erinnerungen an
Alexander v. Humboldt und dessen Kosmos
knüpft der Verfasser Betrachtungen, wie auch der
Laie von der bloßen Freude an der Schönheit
des Sternhimmels fortschreiten kann zur tätigen
Mitarbeit auf vielen Gebieten, auf denen schon
mit geringen Mitteln, aber mit Sorgfalt und Aus-
dauer etwas geleistet werden kann, was wissen-
schaftlichen Wert haben kann. Riem.
Inhalt: E. Krenkel, Über Moorbildungen im tropischen Afrika. S. 81. E. J. Gumbel, Spekulatives über die Endlich-
keit der Welt. S. 85. W. Halbfaß, Zum Kreislaufprozefi des Wassers. S. 86. — Einzelberichte: O. Mügge, Petro-
graphie des älteren Paläozoikums zwischen Albungen und Witzhausen. S. 86. H. Schneiderhöhn, Asphaltgänge
im Fiscbflußsandstein im Süden von Siidwestafrika. S. 89. Bergstrand, Entfernung des großen Orionnebels. S. 90.
Schrader, Die Geschlechtsbestimmung bei den Mottenläusen. S. 90. E. Hatschek, Abnorme Liesegangsche Schich-
tungen. S. 92. R. Auerbach, Die Polychromie des kolloidalen Schwefels. S. 92. Fr. Fischer und H. Schrader,
Die Herkunft des Benzols bei der Leuchtgasgewinnung. S. 93. F. Paneth, Bleiwasserstoff zum ersten Male darge-
stellt. S. 94. E. Regener, Die Ursache der Unterschreitung des Elementarquantums. S. 95. — Bücherbesprechun-
gen: G. Eilers, Am Schattenstab. J. Scheiner, Der Bau des Weltalls. B. Peter, Die Planeten. Voigt, Eis,
ein Weltbaustoff. S. 96. W. Förster, Die Freude an der Astronomie. S. 96.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge so. Band;
der ganien Reibe j6. Band.
Sonntag, den 13. Februar 1921.
Nummer 7.
Wind und Wetter als Feldwirkiingen der Schwerkraft.
[Nachdiuck verboten.]
Von Dr. phil. H. Fricke.
Mit 5 Abbildungen im Text.
Die Ergebnisse der britisciien Expeditionen
zur Beobachtung der Sonnenfinsternis vom 30. Mai
1919 scheinen die Auffassung zu bestätigen, daß
das Gravitationsfeld die Lichtstrahlen ablenkt. Man
hat darin bekanntlich einen Beweis für die Ein-
steinsche Relativitätstheorie erblicken wollen,
doch läßt sich die Erscheinung wohl natürlicher
mit der Äthervorstellung in Zusammenhang
bringen. ') Die neu entdeckte Erscheinung
zeigt im Grunde ja weiter nichts, als daß der
Äther im Schwerkraftfelde seine Struktur geändert
haben muß, derart, daß das Licht nicht nach allen
Seiten sich mit der gleichen Geschwindigkeit fort-
pflanzt. Damit wäre jedoch eine Erscheinung ent-
deckt, die über das Wesen der bisher so geheim-
nisvollen Schwerkraft etwas Wichtiges aussagt. Sie
zeigt, daß die Gravitation, die seit Newton durch
ihre Zeit- und Widerstandslosigkeit eine Sonder-
stellung unter den Naturkräften einzunehmen schien,
Ähnlichkeit mit dem elektromagnetischen Kraft
felde besitzt, und dieses stellt man sich seit Fa-
raday bekanntlich als einen elastischen Zwangs-
zustand im Äther vor. Es wäre damit eine Un-
vollständigkeit in der von Newton gegebenen
Darstellung der Schwerkraft nachgewiesen. Aller-
dings hatte man diese Lückenhaftigkeit bereits
lange vor Einstein erkannt, wie die Arbeiten von
Riemann, W. Weber, Tisserand, Gerber,
Levy^) u. a. beweisen. Bei allen bisher unter-
suchten Abweichungen von der Newtonschen
Theorie handelt es sich jedoch um Störungen
höherer Ordnung, die eben an der Grenze der
Nachweisbarkeit liegen.
Demgegenüber soll hier die Aufmerksamkeit
auf Wirkungen gelenkt werden, die ganz unmittel-
bar in bisher unerklärter Weise mit der Schwer-
kraft zusammenzuhängen scheinen und die zu den
gewaltigsten und auffallendsten Naturerscheinungen
auf der Erdoberfläche gehören. Gemeint ist vor
allem die unten genauer beschriebene tägliche
Doppelschwingung des Barometers, die
Ebbe und Flut im Luftmeer der Erde. Es ist
jedoch nicht ausgeschlossen, daß der größte Teil
der geophysikalischen Erscheinungen überhaupt
') Vgl. hierzu die Arbeit E. Wiecherls; „Die Gravi-
tation als elektrodynamische Erscheinung" in den Annalen der
Physik, 1920, Bd. 63, S. 301 ; ferner die Darstellung der
Arbeilen L. Silbersteins, Physikal. Berichte, 1920,
S. 1514— 16.
') Vgl. die Darstellung von Zenneck über die Gravi-
tation in der Enzyclopädie der math. Wissenschaften. Leipzig,
Teubners Verlag, 1903. Bd. V, I, bes. S. 35— ?3; f"°" <"*=
oben angeführte Arbeit von Wjechert.
— Wetterstürme, Erdbeben, Vulkane und gebirgs-
bildende Kräfte, für die eine allgemein anerkannte
Erklärung bisher merkwürdigerweise nicht ge-
funden ist — sich einheitlich als Feld wirkungen
bisher unbekannter Art der sich fortwährend in-
einander verdrehenden kosmischen Schwerkraft-
felder darstellen lassen. Die Newton sehe Theorie
kann zu einer solchen Erklärung nicht führen, da
sie Widerstände bei den Bewegungen der Schwer-
kraftfelder nicht kennt. Doch ist Newtons Auf-
fassung logisch kaum haltbar, da eine Kraft nur
da wirken kann, wo sie auf Widerstände stößt.
Die Mängel der Newtonschen Theorie scheinen
also viel offener zutage zu liegen, als man bis-
her ahnte.
Es soll hier nun an der Hand von Abbil-
dungen gezeigt werden, daß die tägliche Doppel-
schwingung des Barometers genau mit Struktur-
änderungen des Schwerkraftfeldes parallel läuft.
Nur der Umstand, daß die mehr als 200 Jahre
alte Newtonsche Theorie Feldwirkungen dieser
Art nicht kannte, scheint die klare Einsicht in die
einfachen Zusammenhänge bisher verhindert zu
haben.
Die erste Abbildung erklärt zunächst einmal
den merkwürdigen Umstand, daß wir auf der Erde
von einer Anziehungskraft der Sonne nichts merken.
Man sollte meinen, daß die Gravitation auf der
Erde einen höheren Wert besitzen müßte, wenn
die Sonne in Richtung des Erdmittelpunktes steht,
und ihre Wirkung zu der der Erde sich addiert,
als wenn sie senkrecht über uns steht und der
Erde entgegenwirkt. Nach der Newtonschen
Theorie wird die Soiinenanziehung jedoch durch
die Trägheitsbewegung der Erde ausgeglichen.
Man kann die Erdbahn mit genügender Annähe-
rung als einen Kreis betrachten; die Sonnenan-
ziehung wird dann durch die Zentrifugalkraft der
Erdbewegung aufgehoben, die scheinbar relativ zu
einer ruhend gedachten Erde entsteht. Die Erde
steht im Schwerkraftfelde der Sonne also dauernd
unter der Wirkung zweier entgegengesetzt gleicher
Kräfte, der Sonnenanziehung und der Fliehkraft
ihrer Bahn. Nach der Newtonschen Auffassung,
die Widerstände im Schwerkraftfelde nicht kennt,
heben sich diese Kräfte in allen Teilen der Erde
vollständig auf. Viel wahrscheinlicher ist jedoch,
daß das Gleichgewicht zwischen den beiden gleich
starken Gegenkräften erst eintritt, wenn der Erd-
körper seine Struktur geändert hat und in einen
inneren Spannungszustand versetzt ist. Schon die
einfache Logik fordert eine solche Annahme ; denn
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N. F. XX. Nr. 7
wenn die Newton sehe Auffassung richtig wäre,
so würde sich die Erde in einem vollkommen
kräftefreien Räume genau so wie in dem Schwer-
kraft-Trägheitsfelde der Sonne verhalten, in dem
zweifellos in verschiedenen Richtungen verschiedene
Kräfte wirksam sind, das also relativ zur Sonne
„polarisiert" ist. An elastische Feldwirkungen dieser
Art, die bei den elektromagnetischen
Kräften stets auftreten, scheint man bei der
Schwerkraft bisher gar nicht gedacht zu haben.
,"
^
Abb.
Abb. 2 soll nun ganz schematisch die zunächst
als starr betrachtete Erde und ihr elastisches Luft-
meer veranschaulichen, wie es
Abb. 2.
ohne ein fremdes Kraftfeld aussehen wird. Abb. 3
dagegen soll die Wirkung des als relativ zur Erde
ruhend gedachten Sonnenfeldes zeigen, wie es sich
als Folge der in Abb. i veranschaulichten Kräfte
darstellen muß. Die aus den Schwerkraft- und
Trägheitswirkungen sich zusammensetzenden Kraft-
linien entsprechen ganz den Kraftröhren Fara-
days, in deren Längsrichtung ein Zug, in deren
Querrichtung ein Druck herrscht. Der Mechanis-
mus der Äiherbewegungen, der einen solchen
Spannungszustand erklärt, kann vorläufig unerörtert
bleiben. Doch mag erwähnt werden, daß mög-
licherweise infolge einer Schirmwirkung des ge-
waltigen Erdkörpers auf der der Sonne zuge-
kehrten Seite die Sonnenanziehung, auf der ent-
gegengesetzten Seite die Fliehkraft stärker wirk-
sam ist. Auf den dadurch elastisch gespannten
Erdkörper würde dann noch seitlich die Quer-
kontraktion wirken (Abb. 3).
AA^i^^A^AtA
Y Y t t y V y t y V V
Abb. 3.
Nun verhält sich nach Lord Kelvin der Erd-
körper kosmischen Kräften gegenüber wie der
beste Stahl, aus dem sein Inneres vermutlich auch
besteht. Nicht wie Stahl können sich jedoch die
weicheren Oberflächenschichten, vor allem aber
nicht die Lufthülle verhalten. Da diese keine
Gestaltselastizität besitzt, muß sie den inneren
Kraft wirkungen nachgeben, es tritt ein F 1 i e ß e n ,
eine Strömung ein. Es muß also auf den der
Sonne zugewendeten und den ihr gerade gegen-
überliegenden Teilen der Erde eine aufsteigende,
auflockernde Luftströmung, auf den seitlich dazu
liegenden Erdteilen dagegen eine absteigende,
verdichtende Luftströmung entstehen.
Nun ruht die Erde jedoch nicht im Schwere-
felde, sondern dreht sich fortgesetzt darin. Je
nach dem Stande der Sonne muß die Erscheinung
sich daher im steten Wechselspiele wiederholen.
Abb. 4 stellt einen Querschnitt durch die Äqua-
torialebene der Erde dar und veranschaulicht die
Verhältnisse zur Zeit der Nachtgleichen. Man
kann das Kraftfeld der Sonne in vier Quadranten
teilen; in je zwei gegenüberliegenden herrschen
die gleichen Zustände. In dem der Sonne zuge-
kehrten und dem gegenüberliegenden Quadranten
überwiegt die auflockernde Komponente, in den
rechtwinklig zur Sonne stehenden die nieder-
drückende. Also von 3 Uhr morgens bis 9 Uhr
vormittags erzeugt die Sonnengravitation einen
absteigenden Luftstrom, so daß um 9 Uhr vor-
mittags ein Druckmaximum eintreten muß; von
da ab beginnt allmählich die Auflockerung, die
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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bis 3 Uhr nachmittags dauert, so daß um diese
Zeit das Minimum eintritt. Von da an tritt wie-
der bis 9 Uhr abends Verdichtung, weiterhin bis
3 Uhr nachts Verdünnung ein. -Die Zeiten der
Luftverdichtung sind in der Abb. 4 durch schraf-
fierte Flächen angedeutet. Daß die Maxima und
IVIinima in Wirklichkeit erst eine Stunde später
eintreten — morgens um 10 Uhr ist ja eine be-
kannte Wetterkrisis — erklärt sich zwanglos aus
der Trägheit der Luft.
Dieser Verlauf der täglichen Barometer-
schwankung wird nun durch die Naturbeobachtung
in der allergroßartigsten Weise bestätigt. Abb. 5
stellt die täghche Doppeloszillation für verschiedene
Breitengrade dar. Ich entnehme einer Darstellung
von Hann') (in Himmel und Erde, VI, S. 345)
das folgende:
9^Jtm.
6^3Un.
if^Tlm.
tiefsten Stände. Die Luftdruckunterschiede er-
reichen und überschreiten selbst 3 mm, sind also
sehr in die Augen fallend. Die jetzt schon viel-
fach in Anwendung gebrachten, kontinuierlich die
Luftdruckänderungen aufzeichnenden Barographen
liefern Tag für Tag die gleichen schönen Doppel-
wellen, so daß es manchem fast langweilig und
unnötig erscheinen möchte, in solchen Gegenden
den Luftdruck regelmäßig aufzuzeichnen, der sich
ja vom Wetter ganz unabhängig gemacht hat
und keine Warnung mehr vor Witterungsände-
rungen zu geben vermag. In der Tat finden wir
bei einem sorgfältigen Beobachter in Gambia
(Westafrika, 13^2" nördlicher Breite) die von diesem
Standpunkte aus erklärliche, sonst aber doch
kuriose Bemerkung, „daß daselbst die Luftdruck-
beobachtungen wohl kein wissenschaftliches Inter-
esse haben, weil die Barometerschwankungen bei
jeder Witterung ganz gleichmäßig vor sich gehen
und der heftigste Tornado nicht den geringsten
Effekt darauf habe".
Trotzdem der kosmische Charakter der ganzen
Erscheinung eigenthch unverkennbar ist, hat die
Abb. 4.
bo'j\f:
„Die Regelmäßigkeit der stündlichen Schwan-
kungen des Barometers unter den Tropen", sagt
A. V. Humboldt, „ist so groß, daß man be-
sonders in den Tagesstunden die Zeit nach der
Höhe der Quecksilbersäule bestimmen kann, ohne
sich im Durchschnitte um 15 — 17 Minuten zu
irren. In der heißen Zone des Neuen Kontinentes,
an den Küsten wie auf Höhen von mehr als
12000 Fuß (3900 m), wo die mittlere Temperatur
auf 7 " herabsinkt, habe ich die Regelmäßigkeit
der Ebbe und Flut des Luftmeeres weder durch
Sturm, noch durch Gewitter, Regen und Erd-
beben gestört gefunden" (Kosmos, I, S. 336). Tag
für Tag erreicht das Barometer zwischen 9 und
10 Uhr vormittags und abends seine beiden höchsten
und um 4 Uhr morgens und abends seine beiden
') Vgl. auch Hann, Lehrbuch der Meteorologie, Leipzig
1906, bes. S. 138 flf.
meteorologische Wissenschaft bisher jeden Ver-
such einer solchen Erklärung mit Gründen abge-
wiesen, deren Unrichtigkeit ohne weiteres ersicht-
lich ist. So schreibt Hann in dem erwähnten
Aufsatze (S. 361): „Die tägliche Barometerschwan-
kung mit ihren zwei Maximis und Minimis hat
auf den ersten Blick die größte Ähnlichkeit mit
der Ebbe und Flut des Meeres. Man nennt sie
deshalb oft kurzweg „eine atmosphärische Ebbe
und Flut". So bezeichnend diese Ausdrucksweise
für die Art des Auftretens der täglichen Luft-
druckschwankung ist, so verfehlt wäre es, dabei
auch an eine ähnliche Ursache zu denken. Die
atmosphärischen Gezeiten können keine Gra-
vitationserscheinung sein, denn sonst
müßten sie vor allem dem Mondtag folgen und
nicht dem Sonnentag. Der Mond hat eine 2,2 mal
größere fluterzeugende Kraft als die Sonne, was
auch für die Atmosphäre gültig ist. Die Gravi-
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tationsfluten , die der Mond in der Atmosphäre
erzeugt, sind aber sowohl nach der Theorie, als
auch nach dem Ergebnis der Beobachtungen un-
merklich klein (o,o6 mm) und lassen sich gar
nicht vergleichen mit der geschilderten Barometer-
schwankung, die in nicht mißzuverstehender Weise
vom täglichen Laufe der Sonne abhängt."
Der Trugschluß in dieser Argumentation liegt
klar auf der Hand. Die Begriffe „Gravitations-
wirkungen" und „Ebbe und Flut erzeugende Kräfte"
sind miteinander verwechselt worden. Die Schwer-
kraftwirkungen entsprechen nach Newton der
Funktion -5 , worin m die Masse und r die Ent-
fernung bedeutet. Während die Schwerkraft der
Sonne auf der Erdoberfläche noch 0,6 Promille
der Erdschwere beträgt, ist die des Mondes nur
0,0000033 (ein Dreihunderttausendstel) der Erd-
schwere, also 200 mal schwächer als die der
Sonne. Wenn es also unmittelbare Wirkungen
des Schwerkraftfeldes gibt, wie es hier angenom-
men wird, so müssen diese der Sonne und
nicht dem Monde folgen! Eine Überschlags-
rechnung zeigt auch, daß die in den Tropen be-
obachtete Barometerschwankung der Größe nach
mit den Änderungen im Gravitationsfelde genau
übereinstimmt. Bei der Ebbe und Flut des Meeres
handelt es sich überhaupt nicht um eine solche
unmittelbare Schwerkraftwirkung, sondern um
eine Störung zweiter Ordnung (Differentialfunk-
tion), bei der Entfernungsänderungen infolge der
Erddrehung die Hauptrolle spielen ; diese Erschei-
nung, bei der der Mond wegen seiner großen
Nähe allerdings einen bedeutenderen Einfluß als
die Sonne ausübt, ist von einer viel geringeren
Größenordnung als das hier betrachtete I'hänomen.
Da in der Newtonschen Formulierung Feld-
wirkungen nicht vorkommen, glaubte man, die
der Sonnenbewegung genau folgende Luftdruck-
änderung könne nur durch die Wirkung der
Sonnenstrahlung verursacht worden sein. Nun
paßt der Gang der Temperatur mit seinem nur
einmal täglich eintretenden Maximum und Mini-
mum und seinen starken örtlichen Unterschieden
zu der so unverkennbar als Gravitationswirkung
verlaufenden Erscheinung wie die Faust aufs
Auge. Man fand aber doch einen Ausweg; man
sagte einfach, die tägliche Doppeloszillation sei
die erste Oberschwingung der durch rätselhafte
Widerstände unterdrückten Hauptschwingung —
eine Erklärung, die man wohl nur so lange bei-
behalten wird, als man absolut keine andere findet.
Die Abhängigkeit der täglichen Barometer-
schwankung von der geographischen Breite, wie
sie in Abb. 5 ersichtlich ist, ist nach der hier ge-
gebenen Erklärung ohne weiteres verständlich,
denn am Pol ändert die Sonne im Laufe des
Tages ihre Höhe nicht mehr, eine Schwingung
kann daher nicht eintreten. Dagegen müßte eine
Drehung des Windes eintreten, und man hat solche
täglichen Drehungen des Windes mit der Sonne
tatsächlich vielfach beobachtet.
Die Sonnenschwerkraft wirkt also täglich zwei-
mal wie die Hübe einer gewaltigen Saug-
und Druckpumpe auf die Erde. Dadurch werden
vom Äquator ausgehend gewaltige auf- und ab-
steigende Luftströmungen erzeugt, die die Haupt-
ursache der irdischen Luftbewegungen und der
Winde darstellen. Indem sich die periodischen
Wirkungen in bestimmter Richtung aufsummen,
werden auch Bewegungen der Luft, des Meeres,
und der Erdschichten von längerer Dauer und
bestimmter Richtung erzeugt werden. Es ist also
hier ein ganz neuer Weg zum Verständnis der
das Leben unseres Planeten erhaltenden Natur-
kräfte aufgefunden, lediglich dadurch, daß wir die
leeren Räume, durch die Newton seine Schwer-
kraft zeit- und widerstandslos hindurchwirken Heß,
mit anschaulichen Vorstellungen ausgefüllt haben
und kontinuierlich wirkende Kräfte darin vermuten,
wie sie uns seit Faraday im elektromagnetischen
Felde längst geläufig sind.
Es mag zunächst überraschend und befremdend
erscheinen, wenn der Gravitation, deren Gesetze
man längst nach jeder Richtung hin für erforscht
und aufgeklärt hält, hier ganz neue Eigenschaften
beigelegt werden. Man muß jedoch bedenken,
daß wir auf der Erde mit Schwerkraftfeldern
wegen deren Kleinheit eigentlich gar keine Ex-
perimente anstellen können. Wir sind daher auf
das kosmische Gedankenexperiment und die dar-
aus abgeleiteten astronomischen Berechnungen
angewiesen, und diese kann man meist gar nicht
nachprüfen. Die vom Verf. seit langer Zeit ver-
tretene Ansicht, daß die Gravitationsfelder in
Wirklichkeit viel mehr unmittelbar wahrnehmbare
Eigenschaften besitzen, als die dürre Newton-
sche Theorie ahnen läßt, ist daher nicht zu wider-
legen. Die neueren Bestrebungen vieler Theo-
retiker (u.a. Wiecherts, s.o.), das Schwerkraft-
feld als einen Teil des elektromagnetischen Kraft-
feldes aufzufassen, würden dadurch eine ganz neue
Unterstützung erhalten. Daß Newtons Formu-
lierung sich in der Astronomie bisher leidlich
bewährt hat, liegt vielleicht nur daran, daß die
Schwerkraft- und Trägheitserscheinungen, wie wir
am Beispiel der Erde in Abb. i sahen, mit ent-
gegengesetzt gleichem Betrage in die Formeln
eingehen. Man braucht nur anzunehmen, daß
der Einfluß der Zeit und der räumlichen Wider-
stände sich nicht nur bei der Schwerkraft, son-
dern in genau derselben Weise auch bei den
Trägheitsbewegungen der Massen geltend macht
— eine Symmetrie, wie sie bei den Strönnungen
einer inkompressiblen Flüssigkeit, hier des Äthers,
stets zu erwarten ist — so erklärt es sich sofort,
wie die Täuschung eines von Zeit und räumlichen
Widerständen unabhängigen Kraftfeldes zustande
kommen mußte. Nur diesen eigenartigen Verhält-
nissen verdankt Newtons seltsame, aller Logik
widersprechende Lehre von der zeitlosen Fern-
kraft ihre Erfolge, wenigstens für eine erste An-
näherung. Die oben erwähnten neueren Theorien
von Riemann bis Einstein lassen jedoch
N. F. XX. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
loi
schon deutlich erkennen, daß bei genaueren Be-
rechnungen Glieder zu berücksichtigen sind, die
vom Quadrat der Lichtgeschwindigkeit abhängen,
und die die Gravitation somit als Ätherwirkung
kennzeichnen. Abgesehen von diesen geringen,
bisher allein beachteten Unstimmigkeiten lassen
sich aber, wie unsere Ausführungen zeigten, viel
schwerere Bedenken gegen Newtons Theorie
geltend machen. Es mag in diesem Zusammen-
hange noch darauf hingewiesen werden, daß die
auf Grund der herrschenden Ansichten aus den
Bahnen der Gestirne abgeleiteten Berechnungen
der „schweren Massen" bei den meisten Weltkörpern
so geringe Werte geliefert haben, daß die Richtig-
keit der Voraussetzungen recht zweifelhaft er-
scheint. So hat man beispielsweise für den Jupiter
eine mittlere Dichte von 1,4 (auf Wasser als Ein-
heit bezogen), für den Saturn sogar nur eine
solche von 0,7 herausgerechnet, obgleich man auf
diesen Planeten deutlich vulkanische Ausbrüche
erkennen zu können glaubt. Auch die aus den
Bahnelementen der Finsternisveränderlichen vom
Algoltypus errechneten Massen haben ganz un-
wahrscheinlich geringe Werte ergeben. In allen
diesen Fällen wird die Newton sehe Theorie wohl
gar nicht anwendbar sein, denn es können offen-
bar neben der Schwerkraft noch ganz andere Kräfte
die Bahnen der Gestirne bestimmen. Man mag
dabei zunächst an elektromagnetische Kräfte
denken, die in dem Bohrschen Atommodell be-
kanntlich auch zur Berechnung von Planetenbahnen
führen. Es können bei der ungemein schnellen
Rotation der äußeren Planeten jedoch auch Flieh-
kräfte im. Äther wirksam werden, die eine schein-
bare Verminderung der Schwerkraft und damit
der Massen bewirken würden. Das unbedingte
Vertrauen, das namentlich die Astronomen seit
200 Jahren der Ne wtonschen Theorie entgegen-
bringen, dürfte vor einer schärferen Kritik wohl
kaum noch bestehen können. Man mag über die
dunklen Prinzipien Einsteins denken wie man
will, man wird ihm jedoch das Verdienst zuer-
kennen müssen, daß er endlich einmal zu einer
gründlichen Prüfung der Gravitationstheorie ange-
regt hat. Eine solche Kritik darf jedoch nicht bei
einigen praktisch wertlosen kleinen Störungen höhe-
rer Ordnung Halt machen ; man muß vielmehr die
Möglichkeit erwägen, daß die herrschende Schwer-
kraftlehre ganz große , unmittelbar wahrnehm-
bare Mängel enthält, und daß es die höchste Zeit
ist, sie durch eine rationelle Feldwirkungslheorie
nach Art der elektromagnetischen oder noch besser
durch eine alle Kraftfelder umfassende Äther-
strömungstheorie zu ersetzen.') Dann erst können
') Die weitere Ausgeslallung des hier entwickelten Ge-
dankenganges findet sich in meinem, in Nr. 10 des Jahrg. 1920
dieser Zeitschrift besprochenen Buche „Eine neue und ein-
fache Deutung der Schwerkraft", Wolfenbüttel, Heckners Ver-
lag, 1919, weiter in den 1920 cbendort erschienenen Schriften
„Der Fehler in Einsteins Relativitätstheorie" und „Die neue
Erklärung der Schwerkraft". Eine kurze Darstellung meiner
Äthertheorie habe ich in „Glasers Annalen für Gewerbe und
Bauwesen", 1920, Bd. 86, Nr. 1032, S. 95 — 96, gegeben.
wir dem pulsierenden Leben und Atmen unseres
Erdballs wirkliches Verständnis entgegenbringen.
Es erscheint auch keineswegs ausgeschlossen, daß
die Kenntnis der Vorgänge im Schwerkraftfelde
uns ganz neue Methoden zur Energiegewin-
nung zur Verfügung stellen wird.
Es mag noch zum Schluß darauf hingewiesen
werden, daß der Gedanke, ein Pulsieren der
Schwerkraft sei die Ursache der Barometerschwan-
kungen, von keinem Geringeren als von Goethe
herrührt. Er hat ihn nicht nur in seinen umfang-
reichen meteorologischen Arbeiten, sondern auch
in seinen Dichtungen („Zahme Xenien") mehrfach
behandelt. So schreibt er am Anfang seiner
„Italienischen Reise" während einer Wetterbe-
obachtung auf dem Brenner : „Ich glaube nämlich,
daß die Masse der Erde überhaupt, und folglich
auch besonders ihre hervorragenden Grundfesten
nicht eine beständige, immer gleiche Anziehungs-
kraft ausüben, sondern daß diese Anziehungskraft
sich in einem gewissen Pulsieren äußert, so daß
sie sich durch innere notwendige, vielleicht auch
äußere zufällige Ursachen, bald vermehrt, bald
vermindert. Mögen alle anderen Versuche, diese
Oszillation darzustellen, zu beschränkt und roh
sein, die Atmosphäre ist zart und weit genug,
um uns von jenen stillen Wirkungen zu unter-
richten." Goethe verband offenbar mit dem Begriff
der Schwerkraft weit anschaulichere, lebendigere und
wohl auch richtigere Vorstellungen als der von ihm
bekämpfte Newton. Leider vermochte er nicht
wie dieser durch exakte Formulierung seinen Ideen
in den Augen der Fachphysiker das nötige Gewicht
zu verleihen, so daß seine bedeutsamen Anregungen
bisher unbeachtet und unverstanden geblieben
sind. Wenn die Ausführungen dieses Artikels
nun atich noch keine abgeschlossene Theorie ent-
halten, so lassen sie den Weg zu einer solchen
doch bereits klar erkennen; sie lassen auch die
Fragen, die heute durch den Kampf um Ein-
stein das allgemeine Interesse erregen, in einem
ganz neuen Lichte erscheinen.') Newtons
') Einstein geht bekanntlich von dem Widerspruche
aus, der zwischen den Versuchen von Fizeau und Michel-
son bestehen soll. In beiden Fällen bleiben die optischen
Gesetze realativ zu dem auf der Erde ruhenden und mit ihr
bewegten Beobachter konstant. Einstein schlofl daraus
etwas voreilig auf eine geheimnisvolle Bedeutung des „Be-
obachterstandpunktes" für die Optik, eine gänzlich un-
physikalische Idee. Er leitete daraus das logisch un-
haltbare ,, Prinzip von der Konstanz der Vakuumlicht-
geschwindigkeit relativ zu beliebig bewegten Beobachtern"
ab, das bereits durch die Versuche von Sagnac mit
bewegten Beobachtern widerlegt erscheint. Denn selbst-
verständlich kann ein Beobachter die optischen Erscheinungen
nur insoweit beeinflussen, als er mit einem Kraftfelde ver-
bunden ist. Natürlicher ist wohl die Idee, in den Versuchen
von Fizeau und Michelson sei nicht dem Beobachter,
sondern dem genau wie dieser bewegten Schwerkraft felde
der Erde der entscheidende Einfluß zuzuschreiben, wie ich in
der Schrift: ,,Der Fehler in Einsteins Relativitätstheorie"
(Wolfenbüttcl 1920) näher ausgeführt habe. Die Physiker
konnten auf diese einfache Lösung bisher nicht kommen, da
optische Feldwirkungcn der Schwerkraft unbekannt waren;
erst die Ergebnisse der Sonnenünsternisexpedition haben hier
Wandel geschaffen. Der Gedanke von Stokes, das Ergeb-
102
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N. F. XX. Nr. 7
Theorie der Schwerkraft scheint so unvollständig
zu sein, daß sie nicht nur den Störungen höherer
Ordnung, sondern bereits den nächstliegenden,
uns unmittelbar berührenden Erscheinungen und
nis des Mich eis onschen Versuchs durch eine Mitführung
des Äthers durch die Erde zu erklären, läßt sich zwanglos mit
tneiner Auffassung verbinden, da das hier behandelte„Schwer-
kraft-Trägheitsfeld" offenbar nichts anderes als der „Äther" ist.
Kräften gegenüber versagt. Der Ersatz der alten
unhaltbaren Lehre von der Fernwirkung der
Schwerkraft durch eine moderne Feldwirkungs-
und Äthertheorie dürfte daher zu den dringend-
sten Aufgaben der physikalischen Wissenschaft
gehören. Ihre Lösung wird uns einen ganz un-
erwarteten und überraschenden Einblick in den
Zusammenhang der Naturkräfte gewähren.
[Nachdruck verboten.]
Über das Vorkommen des Ziesels in Sachsen
verdanken wir die ersten ausführlicheren Mit-
teilungen J. Thaliwitz, der 1895 (10) die Frage
aufwarf; „Ist das Ziesel ein Bewohner unserer
sächsischen Schweiz?", um danach 1898 (11) des
Tieres Vorkommen im äußersten östlichen Erz-
gebirge um Lauenstein sowie in der Gegend der
Orte Olsen, Ölsengrund, Breitenau, Liebenau und
Hellendorf festzustellen. Jacobi (4) führt diese
zusammenhängenden, auf ein Gebiet von nur
gegen lO qkm Fläche sich erstreckenden Vor-
kommen unter Berufung auf Thaliwitz dann
ebenfalls an und bezweifelt eine ältere,aufR eichen -
bach und E. Besser sich stützende Angabe
Reibis ch's (8) von einem Vorkommen des Tieres
auch in der Lausitz. Ihm sowohl wie auch Thall-
witz ist dabei entgangen, daß Citellus citellus
aus Sachsen aber noch früher erwähnt wird.
Chrst. Frdr. Ludwig (6), dem wir die erste
umfassendere Zusammenstellung auch der sächsi-
schen Säuger verdanken, führt das Tier bereits
1810 allerdings ohne alle weiteren, in diesem Falle
aber ganz besonders wünschenswerten näheren
Angaben auf, und Schumann (9) schreibt dann
1822 in seinem Lexikon von Sachsen:„Der russische
Balk aber, welcher mit russischem Getreide mit-
gekommen und im mittleren Sachsen sehr zahl-
reich geworden war, ist glücklich wieder aus-
gerottet". Endlich bezeichnet Fechner (3) unsere
Art 1851 als „sehr selten in der Zittauer Gegend,
bei Bjnzlau (Schlesien) häufiger". Nach einer
späteren Angabe in den Meyer und Helm sehen
Jahresberichten der ornithologischen Beobachtungs-
stationen im Königreich Sachsen (7) wurde schließ-
lich im Jahre 1891 ein Ziesel auch im Vogtlande,
und zwar auf Feldern bei Chrieschwitz (bei Plauen)
erschlagen, wobei gesagt wird, daß „er bisher noch
nicht beobachtet, seitdem aber auch nicht wieder
gesehen worden ist". Jacobi (4) äußert hierzu
den Verdacht, daß es sich in diesem Falle um
ein aus der Gefangenschaft entwischtes Tier ge-
handelt haben könne.
Aus den vorliegenden, ja nur bescheidenen
Angaben ein sicheres Urteil über das sächsische
Vorkommen des Ziesels zu fällen, ist nicht ganz
leicht. Das eine aber steht jedenfalls fest, daß
das Tier in Sachsen ältere Bürgerrechte besitzt,
Über das Vorkommen des Ziesels in Sachsen.
Von Rud. Zimmermann, Dresden.
Mit einer Kartenskizze.
als man bisher im allgemeinen anzunehmen ge-
neigt war, und daß es bei uns einmal auch schon
weiter verbreitet gewesen zu sein scheint, als sein
heutiges nur beschränktes Vorkommen schließen
läßt. Nun sagt ja schon Blasius (i): „Man hat
eine Zeitlang geglaubt, daß das Ziesel von Osten
her in Deutschland eingewandert sei; man kann
aber eher umgekehrt behaupten, daß es allmählich
immer weiter nach Osten zurückgedrängt worden
ist." Doch scheint es, daß er sich bei dieser
Behauptung, wie ihm ja auch entgegengehalten
worden ist, lediglich auf eine mißverständliche
Auslegung eines alten Schriftstellers (Albertus
Magnus), nicht aber auf wirkliche beglaubigte
Funde gestützt hat. Heck (2) dagegen läßt auf
Grund einer noch zu erwähnenden Beobachtut g
Liebes die Möglichkeit bestehen, daß Citellus
citellus „vor gut loo Jahren schon einmal viel
weiter westlich gewesen zu sein scheint". — Ist
es nun schon auffallend genug, daß das Tier be-
reits in unserem ältesten umfassenden Verzeichnis
der sächsischen Säugetiere genannt wird, so gewinnt
die Möglichkeit seiner ehemals größeren Ver-
breitung in Sachsen vor allem durch die Angabe
Schumanns, den ich zwar nicht immer als emen
in zoologischen Dingen absolut zuverlässigen Ge-
währsmann halte, dessen Mitteilungen in diesem
Falle aber doch so bestimmt gehalten sind, daß
man nicht achtlos an ihnen vorübergehen kann,
sofort eine fast zwingende Wahrscheinlichkeit. *)
Inwieweit dabei die Behauptung von einer Ein-
schleppung des Ziesels mit russischem Getreide
zu Recht besteht, muß zunächst in Ermangelung
aller weiteren Unterlagen noch unerörtert gelassen
werden. Vielleicht glückt uns noch einmal ein
literarischer Fund — bisher war allerdings das
Fahnden nach weiteren Belegen im älteren Schrift-
') Man könnte sich höchstens an die für den Ziesel sonst
nicht gebrauchte Bezeichnung „Balk" stoßen. Mir ist die
Herkunft dieses Ausdruckes, den aber schon der verstorbene,
bekannte sächsische Faunist Robert Berge unserer Art zu-
schreibt, nicht bekannt; doch entsinne ich mich, ihn früher
schon einmal für den Ziesel gebraucht gefunden zu haben,
ohne aber heute der Quelle nachkommen zu können. Aber
abgesehen davon, läßt die Angabe Schumanns schon im
Zusammenhang mit seinen übrigen Mitteilungen kaum auf eine
andere Art als Citellus schließen.
N, F. XX. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
103
tum ein vergebliches ^) — , der eine weitere Klärung
in die Angelegenheit bringt. Steht die ehemalige
Weiterverbreitung des Tieres in Sachsen aber sicher,
so gewänne damit auch die diese Weiterverbreitung
bereits stützende Mitteilung Liebes (5), nach der
dieser Mitte der siebziger Jahre des verflossenen
Jahrhunderts auf dem Wolgen bei Leubsdorf in
Ostthüringen (unweit der sächsischen Grenze) zahl-
reiche, von ihm auf gegen 80 Jahre alt geschätzte
Tierbauten fand, die er als solche des Ziesels
deutete, ein viel bestimmteres Aussehen. Für die
Beurteilung des mittelsächsischen Vorkommens
des Ziesels ist vielleicht auch die Tatsache nicht
unwichtig, daß des Tieres Verschwinden — wenn
seine Einschleppung nicht etwa erst um oder nach
1813, zu welcher Zeit russisches Getreide aller-
dings in ungewöhnlich großen Mengen in Sachsen
eingeführt wurde, geschehen und einer ungewöhn-
lich raschen Ausbreitung des Tieres ein ebenso
schnelles Wiederverschwinden (die Schumann-
sche Mitteilung stammt ja schon aus dem Jahre
1822) nachgefolgt sein sollte") — zeitlich mit
jenen durchgreifenden Veränderungen in der land-
wirtschaftlichen Ausnutzung des Bodens zusammen-
fallen würde, die gegen Ausgang des 18. Jahr-
hunderts begannen und sich ins 19. hinein fort-
setzten und die sich in dem damals schon am
intensivsten genutzten Nordwest- und Mittelsachsen
am auffallendsten fühlbar machten. Die bis dahin
übliche Dreifelderwirtschaft nämlich, die immer
ein Drittel des genutzten Bodens brach liegen ließ,
ging in die heute noch übliche Reihenwirtschaft
über, wodurch für das Tier, das jeder regelmäßigen
Bodenbearbeitung abhold ist, die Lebensbedingungen
natürlich zu viel ungünstigeren wurden.
Unabhängig von dem mittelsächsischen Vor-
kommen des Ziesels müssen wir das heute noch
bestehende osterzgebirgische betrachten, das m. E.
zu jenem in keinerlei Beziehung steht oder jemals
gestanden hat und das man allgemein als eine
Einwanderung des Tieres aus Böhmen deutet.
Ich vermag mich dieser Ansicht heute aber nicht
mehr anzuschließen, sondern halte das Vorkommen,
das mit dem böhmischen in unmittelbarstem Zu-
sammenhang steht und sich nur wenige Kilometer
über die Grenze erstreckt, für die von jeher
') Dieser Mangel an älteren Angaben trifft allerdings
nicht nur für den Ziesel zu, sondern gilt gerade für Sachsen
auch noch für viele andere, zum Teil sogar viel auffallendere
Tierarten. Beispielsweise läßt sich das bis um die Mitte des
19. Jahrhunderts bestandene Vorkommen des sich der Be-
obachtung sicherlich kaum entziehenden Bibers in Sachsen in-
folge eines derartigen Mangels jeglicher älterer Fundorts-
bezeichnungen heute nicht mehr mit völliger Sicherheit um-
grenzen; besäßen wir hierüber als einzige nicht auch wieder
eine Angabe Schumanns und drei zufällig erhalten ge-
bliebene Belegstücke, so wüßten wir heute kaum etwas von
dem einem erst nach der Mitte der vierziger Jahre des ver-
flossenen Jahrhunderts erloschenen Vorkommen des Tieres an
der Mulde bei Würzen.
'') Die rasche Ausbreitung des Tieres besäße dann in der
Gegenwart ein Analogen in der Ausbreitung der Bisamratte,
sein schnelles Verschwinden würde sich aus den wenig gün-
stigeren Lebensbedingungen infolge einer intensiveren Bear-
beitung des Bodens erklären.
bestandene äußerste nördliche Ausstrahlung des
letzteren. Für ein Vorrücken des Tieres nach
Norden besitzen wir aus Böhmen auch keinerlei
Anhalt : die Tatsache etwa, daß sein Vorkommen
hier erst in verhältnismäßig jüngster Zeit sicherer
festgelegt worden ist, berechtigt uns noch nicht
zu dieser Annahme. Jeder Faunist weiß es ja
auch, wie spät die sorgfältigere Erforschung der
Kleinsäugerfauna überall erst eingesetzt hat und
wie spärlich nicht nur in der Vergangenheit,
sondern selbst in der Gegenwart noch vielfach
die Nachrichten über die meisten unserer Klein-
säuger fließen und wie lange manches alte Vor-
kommen sich der allgemeinen Kenntnis entzogen
hat. Übrigens erwähnt auch schon ein sächsischer
Schriftsteller des 17. Jahrhunderts das Tier aus
Böhmen; Chr. Lehmann (f 1688) schreibt in
seinem, erst nach seinem Tode 1699 erschienenen
„Historischen Schauplatz derer natürlichen Merck-
würdigkeiten in dem Meißnischen Ober-Ertzgebirge"
über unser Tier: „In Böhmen ist eine Hamster-
Art / die sie Zeisele oder Tritschele nennen / fahl
und grünlicht an der Farbe / und streiffigt wie die
ramigten Katzen / so groß als Eichhörnchen und
fast eine Art wie die Meerschweingen. Hingegen
sind die Hamster größer / braun und weiß-
gilbicht . . .". Daß unser Gewährsmann das sächsi-
, Breitenau/^Oelseri,
Lauensleln '»[ö£lsen'gr''"i>
-^■, ";*;Bieni;of, .
Liebenau v*peierswäl()
V.-.-; ;■• ; -. •..-•,■.-.
BÖHMEN
Vorkommen das Ziesels in Sa
sehe Vorkommen nicht kennt, ist aber noch kein
Grund etwa zu der Annahme, daß es zu seiner
Zeit noch nicht bestanden hätte. Denn einmal
ist dasselbe ja ein räumlich nur ganz beschränktes
und außerdem auch kein besonders häufiges, und
zum anderen bestand zwischen dem Wohn- und
Wirkungsort Lehmanns (Scheibenberg) ein viel
lebhafterer Verkehr mit Böhmen als mit dem auch
bedeutend weiter entfernteren Osterzgebirge. —
Für das Bestehen des osterzgebirgischen Vor-
kommens von jeher spricht vor allem auch der
landschaftliche Charakter des Gebietes, das in
reichlich vorhandenen und vielfach dürftigen Wiesen
noch große steppenartige Anklänge zeigt und in
dem, soweit sich dies zurückverfolgen läßt, auch
schon von jeher mehr als in anderen sächsischen
Landesteilen der Wald zugunsten von Wiesen-
und Weideflächen zurückgetreten ist.
M. E. besitzt unser Tier auch gar keine so
große Fähigkeit, sein Verbreitungsgebiet aus-
I04
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 7
zudehnen und sich etwa wie der Hamster dem
Feldbau anzupassen. Viel eher kann man von
ihm behaupten, daß sein Vorkommen immer mehr
an Umfang einbüßt und besonders durch die
Zunahme des Feldbaues stark eingeengt wird.
Als ich 191 1 die rumänische Dobrudscha, in der
das Tier noch eine ganz gewöhnliche Erscheinung
ist und wo ich in reichstem Maße Gelegenheit
hatte, es zu beobachten, bereiste, wurde mir mehr-
fach mitgeteilt, daß es überall dort, wo der Feld-
bau an Ausdehnung gewinnt, in seinem Bestände
zurückgeht und ich selbst traf es in den Weide-
und Steppengebieten auch immer viel häufiger
an als in solchen mit überwiegendem Feldbau.
Im Einklang damit steht ja auch die von H e c k (2)
mitgeteilte Erfahrung von Falz -Fein, daß auch
in Südrußland die rasch zunehmende Kultivierung
der Steppe das Vorkommen des Tieres immer
mehr beschränkt. Die Vergrößerung des Ver-
breitungsgebietes des Tieres in Gebieten, in denen
der Landbau noch eine ganz andere Rolle spielt
und der Boden dabei auch viel gründlicher und
tiefer umgearbeitet wird, als etwa in der Dobrudscha
und in Südrußland, will daher auch wenig wahr-
scheinlich erscheinen.
Nun scheint aber aus der seinerzeit von
Jacobi (4) veranstalteten Umfrage eine Zunahme
des Ziesels und die Ausdehnung seines Ver-
breitungsgebietes wenigstens in Schlesien festzu-
stehen. Ich will mich hier auch, da ich die
schlesischen Verhältnisse zu wenig kenne, jedes
Urteils enthalten, möchte aber betonen, daß ich
heute im allgemeinen allen derartigen, auf Rund-
fragen sich stützenden und nicht durch völlig
einwandfreie Beobachter bekräftigten Angaben
sehr skeptisch gegenüber stehe. Wer sich mit
faunistischen Arbeiten beschäftigt und sein Material
dabei auch auf eigenen Nachforschungen im
Lande gesammelt hat, weiß, wie unendlich schwer
oft sichere Angaben selbst von bekannteren
Tierarten zu erlangen sind und wie wenig manches
Tier auch an den Orten häufigeren Vorkommens
sogar solchen Personen bekannt ist, von denen
man die Kenntnis desselben wohl erwarten dürfte.
Wenn auf ein derartiges Vorkommen aber erst
einmal die Aufmerksamkeit der Menge gelenkt
worden ist, wird schärfer auf dasselbe geachtet
und es mehren sich damit auch die Mitteilungen
über dasselbe und unter ihnen sind sicherlich dann
auch solche wenig geschulter Beobachter, die
infolge ihrer erhöhten Aufmerksamkeit auf ein von
ihnen vorher nicht gekanntes und nicht beachtetes
Tier und der dadurch bewirkten häufigeren Be-
obachtung desselben ein von Jahr zu Jahr zahl-
reicheres Vorkommen behaupten, ohne sich bewußt
zu sein, daß sie sich lediglich einer Selbsttäuschung
hingeben. Meine Schlafmausforschungen in Sachsen
sind ein ganz besonders redendes Beispiel dafür!
Wie manchesmal ist mir nun nicht schon von
einem Häufigerwerden des Siebenschläfers an Orten
berichtet worden, von denen ich das Vorkommen
länger als meine Gewährsmänner kenne und an
denen sich eine solche Zunahme durchaus nicht
behaupten läßt, wie manchesmal mir ein Fundort
nicht als zweifellos neu geschildert worden, an
dem dann sorgfältige persönliche Nachforschungen
ergaben, daß uralte Leute das Vorkommen schon
aus ihrer Kindheit kannten I Und könnte es daher
mit dem Ziesel nicht ganz ähnhch sein ?
Literatur.
1) Blasius.J.H., Naturgeschichte der Säugetiere Deutsch-
lands und der angrenzenden Länder von Mitteleuropa. Braun-
schweig 1S57 (S. 276 — 278).
2) Breiims Tierleben. IV. Auflage. Säugetiere , 2. Bd.
Leipzig 1914 (S. 498—503).
3) Fechner, K. A., Versuch einer Naturgeschichte der
Umgegend von Görlitz. Zweiter, zoologischer Teil : Wirbeltier-
fauna. 14. Jahresbericht über die höhere Bürgerschule zu
Görlitz. Görlitz 1857.
4) Jacobi, Arnold, Der Ziesel in Deutschland nach
Verbreitung und Lebensweise. Arch. f. Naturgeschichte, Jahrg.
1902, Bd. I, Heft 3, S. 199 — 238.
5) Liebe, K. Th. im Zoologischen Garten, 17. Jahrg.
1876, S. 106—108.
6) Ludwig, Chr. Fried r., Initia Faunae Saxonicae.
Fase. I. Leipzig 1810.
7) Meyer, A.B. und Helm, F., VII.-X. Jahresbericht
der ornithologischen Beobachtnngsstationen im Kgr. Sachsen.
Anbang: Die sonstige Landesfauna betreffende Beobachtungen.
Dresden und Berlin 1896.
8) Reibisch, Th., Verzeichnis der Säugetiere Sachsens.
Sitzungsber. d. naturw. Ges. Isis in Dresden. Jahrg. 1869,
S. 86—89.
9) Schumanns Lexikon von Sachsen. 9. Bd. Zwickau
1822 (Säugetiere S. 714 — 715).
10) Thallwitz, J., Ist das Ziesel (Spermophilus citillus
L.) ein Bewohner unser sächsischen Schweiz? Über Berg und
Tal, 18, 1S95, S. 139—140.
11) Thaliwitz, J. , Über das Vorkommen des Ziesels
in Sachsen. Sitzungsber. d. naturw. Ges. Isis in Dresden.
Jahrg. 1898, S. 95 — 96.
Einzelberichte.
Zinkblende iiu Basalt des Bühls bei Kassel.
So häufig die Blende als Gangmaterial auftritt,
so selten hat man sie in Effusivgesteinen be-
obachtet, und deshalb sind die Einschlüsse einer
schwarzen Zinkblende, die sich unter den zahl-
reichen wissenschafthch wertvollen Einschlüssen
in dem Basalte des Bühls bei Weimar in der Nähe
von Kassel finden, besonders merkwürdig. W.
EiteP) konnte an der Hand eines vorzüglichen
Materials aus der Sammlung des verstorbenen
Prof. Hornstein die paragenetischen Verhält-
nisse der Blendevorkommnisse klären und daraus
ihre Vorgeschichte ableiten.
Makroskopisch erscheinen die Blendeeinschlüsse
in der Regel als unregelmäßige, manchmal auch
') Centralbl. f. Min. usw. 1920, Nr. 17/18, S. 273—285,
N. F. XX. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
105
fast platten- oder linsenförmige Einlagerungen in
den normalen Bühlbasalt. In den meisten Fällen
ist die Blende ganz schwarz gefärbt, verrät also
sofort ihren hohen Gehalt an beigemengtem Eisen-
sulfid. In wenigen Handstücken aber bemerkt
man eine fast farblose, nur schwach gelbliche oder
honiggelbe Zinkblende, die nach dem umgeben-
den Basalte zu in eine Zone von gelblichroter
Farbe übergeht, um schließlich am Kontakt in
der gewöhnlichen tiefschwarzen F'arbe zu er-
scheinen. „Es machen derartige Einschlüsse ganz
den Eindruck, als hätte eine ursprünglich sehr
schwach eisenhaltige Zinkblende aus dem Basalt
oder aus anderen Substanzen der unmittelbaren
Umgebung randlich Eisensulfid aufgenommen, als
sei aber die isomorphe Mischung nur an den
Randpartien der Blende zustandegekommen,
während die Zeit nicht ausreichte, um in den
anisotropen Medium durch Diffusion den ungleich-
mäßigen Sulfidgehalt überall auszugleichen."
Häufig findet sich eine oft innige durch-
wachsung mit wasserklarem Quarz und braunem
Gesteinsglas. Sehr bemerkenswert ist das Auf-
treten von Magnetkies, der sich zuweilen mit der
Blende und dem Quarz zusammen, teils in den
Basalt direkt eingelagert findet, dann jedoch im-
mer in der nächsten Umgebung der anderen
Mineralien. Es ist nicht zu bezweifeln, daß auch
der Magnetkies mit der Zinkblende und dem Quarz
paragenetisch verknüpft ist und nicht etwa in
Basalt eine primäre Ausscheidung darstellt. Ein
Dünnschliff, der Zinkblende, Magnetkies und Quarz
nebeneinander zeigt, läßt darauf schließen, daß
die drei Mineralien gleichaltrig sind. Es fragt
sich nur, ob der Magnetkies eine primäre Bildung
oder etwa aus Pyrit durch thermische Dissoziation
entstanden ist. Bemerkenswert ist, daß man keine
Magnetkiesreste in der Nachbarschaft der oben
erwähnten zonaren Zinkblendeeinschlüsse mehr
findet. An sonstigen Akzessorien treten noch auf
Cordierit und in einem Einschluß auch Zirkon,
den der Verf. für ein zufällig in die Nähe des
Einschlusses geratenes Begleitmineral des Basaltes
selbst hält.
Untersuchungen im auffallenden Licht zeigten,
daß von einer Abschmelzung der Blende im Ba-
salt nicht die Rede sein kann, sie hat stets zackige,
scharfe Ränder. Beim gelinden Anätzen mit
kaltem Bromdampf treten mitunter die charakte-
ristischen Zwillingslamellen nach (in) auf. Die
erwähnte Glasmasse muß ziemlich leichtflüssig ge-
wesen sein, denn sie dringt in äußerst feinen
Äderchen in die aufgeblätterte Blende ein. Im
innigen Zusammenhang mit dem Glas stehen die
zahlreichen gerundeten Quarzkörner, die von un-
regelmäßigen Sprüngen durchsetzt sind und zahl-
reiche Interpositionen von Glas enthalten. Sehr
wichtig ist das in einem Schliff festgestellte Vor-
kommen von Pyrit in Paragenesis mit Quarz und
Zinkblende. Dies Mineral war völlig in die Blende,
einige kleinere Körner z. T. auch in Quarz ein-
gewachsen. Der Verf. kommt zu der Annahme,
daß es sich in dem vorliegenden Falle nur um
ein zufällig erhalten gebliebenes Relikt der pri-
mären Blende— Pyrit— Quarz — Paragenesis handeln
könne. Nach dem Gesamtbild zu urteilen, liegt
in den Blendeeinschlüssen jedenfalls ein primäres
Gangvorkommnis vor, das von dem Basall aus
der Tiefe nach oben befördert wurde. Irgendein
Anhaltspunkt für das geologische Alter dieser Gang-
bildungen sind jedoch nicht vorhanden. Es ist
immerhin nicht ausgeschlossen, daß die primären
Quarzgänge mit Blende und Pyrit ähnlich wie in
dem Vorkommen des Finkenberges in paläozoischen
Horizonten, also in beträchtlicher Tiefe gesucht
werden müssen.
„Wo ist nun aber der Pyrit, der zweifellos doch
einmal in größerer Menge in dem Gange vor-
handen war, neben der Blende verblieben?" Bei
Atmosphärendruck ist das Eisendisulfid von 575 "
ab nicht mehr beständig, sondern geht, besonders
rasch bei höheren Temperaturen, im Sinne des
Dissoziationsgleichgewichts
FeS., :<=>: FeS + S
in Magnetkies über. Dieser thermischen Um-
wandlung wurde der ursprünglich vorhandene Pyrit
unterworfen. Infolgedessen findet man jetzt reine
Magnetkieskonkretionen als unmittelbare sulfidische
Einschlüsse des Bühlbasaltes sehr häufig, höchst
selten jedoch (erst neuerdings vom Verf. festge-
stellt) reliktische Pyritaggregate.
Die Vorgeschichte der Blendeeinschlüsse ist
nach dem Verf. also kurz folgende: Ein in unbe-
kannter Tiefe das Gebirge durchsetzender Gang
von Blende mit wenig Pyrit und viel Quarz wurde
von dem Basalt durchbrochen. Mitgerissene Bruch-
stücke des Ganges erlitten dabei eine weitgehende
thermische Umbildung, indem der Pyrit in Magnet-
kies und Schwefeldampf dissoziierte. Bei der
hohen Temperatur konnte der Magnetkies mit der
Blende jedenfalls in isomorphe Mischung eingehen.
Es stimmt damit aufs beste überein, daß man
höchstens reliktischen Magnetkies in der nächsten
Umgebung eines völlig schwarzen, offenbar an
Schwefeleisen gesättigten Blendekristalls trifft,
ferner auch der Umstand, daß die oben erwähnte
honiggelbe Blende randlich dunkelbraun bis tief-
schwarz gefärbt erscheint. Dabei braucht der
Schmelzpunkt des Schwefeleisens (1183" in H.,S-
Atmosphäre gemessen) nicht erreicht worden zu
sein, so daß dieses in flüssigem Zustand die Blende
umspült hätte. Es genügt völlig die Annahme,
daß die festen Phasen P'eS und ZnS bei den Zu-
standsbedingungen lebhafter atomistischer Beweg-
lichkeit im Mischkristall koexistierten und demzu-
folge ineinander diffundierten. Während dieses
Diffusionsprozesses unterbrach die Erstarrung des
Basaltes und die fortschreitende relativ rasche
Abkühlung des Gesteinskörpers bald den Aus-
gleich der Konzentrationsunterschiede, und im ge-
wissermaßen halbfertigen Zustande sind die Ein-
schlüsse auf uns überkommen.
Die chemische Untersuchung ergab außer Zink,
Eisen und Schwefel Spuren von Mangan und
io6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 7
Kadmium. In einer von M. D i 1 1 r i c h analysierten
Probe ist das Verhältnis von FeS : ZnS ca. = i : 4,
also beinahe dem Marmatit (1:3) entsprechend.
In einem vom Verf. analysierten Stück vom spez.
Gew. 4,033 + 0,005 ist das Verhältnis FeS: ZnS
etwa wie 1:3, also einem normalen Marmatit
ungefähr entsprechend. F. H.
Limulus, ein zum Wasserleben übergegangener
Arachnide ?
Sollen, wie die Lankest ersehe Limulus-
theorie 1881 es will, die Spinnen von Limulus
oder, allgemeiner gesagt, die Land - Arachniden
von den Limuliden abstammen, so müßten die
Tracheenlungen der ersteren aus den Kiemen der
Merostomen hervorgegangen sein. Der Unter-
schied in der Lage der Organe — bei Limulus
frei an der Hinterseite der Blattfüße, bei Spinnen
eingesenkt und nur durch ein enges Stigma Luft-
zutritt gewährend — läßt sich aus der verschie-
denen Lebensweise — dort Wasser-,' hier Land-
leben — erklären. Nach Metschnikoff 1871
und anderen Untersuchern entstehen bei Arachni-
den und zwar bei Skorpioniden sowie Araneen
die Tracheenlungen als Einstülpungen dicht an
der Hinterseite der Gliedmaßenanlagen des Ab-
domens, die zur Embryonalzeit vorhanden sind,
was allgemein mitKingsley 1885 im Sinne der
Lankest ersehen Hypothese aufgefaßt wird.
Ähnlich Mac Leod 1884.
Im Sinne einer entgegengesetzten Auffassung,
nämlich der, daß die Limuliden — mit Sim-
roth, Jarowski, Bütschli, Montgomery,
B. Hall er — von landbewohnenden Tieren ab-
stammen und ihre Kiemen aus den Tracheen-
lungen der Arachniden hervorgegangen sind, führt
Versluys etwa folgendes aus. ^) i. Die Ablei-
tung der Tracheenlungen aus Kiemen bei Deutung
der Limulusblattfüße als echte Gliedmaßen würde
uns mit Fu reell 1909 zur Annahme eines diphy-
letischen Ursprungs der Skorpioniden und der
übrigen Arachniden zwingen, denn bei den Skor-
pionen erscheint das 2. Paar jener Gliedmaßen
als die sog. „Kämme" der Skorpione, ohne
Atmungsfunktion, und man könnte sich nicht
denken, daß Kämme sich später, im Araneen-
stadium, wieder hätten zu Tracheenlungen
umbilden können. Zu einer diphyletischen
Ableitung der Arachniden aber kann sich Vers-
luys offenbar nicht verstehen. 2. Sehr schwie-
rig würde auch eine Ableitung der Spinnwarzen
der Araneae sein. Die Spinnwarzen sollen ja
nach Montgomery 1909 und Kautsch 1910
aus rudimentären Gliedmaßen des 3. und 4. Ab-
dominalsegments hervorgegangen sein. Dies im
Verein mit der Limulustheorie würde heißen, daß
kiementragende Blattfüße zunächst, im Skorpio-
') J. Versluys, Die Kiemen von Limulus und die
Lungen der Arachniden. In: Bijdragen tot de Dierkunde.
XXI. Feestnummer. Leiden 1919. 15 Seiten.
nidenstadium der Phylogenese, zu Tracheenlungen
und schließlich, bei Arachniden, zu Spinnwarzen
wurden! 3. Ferner haben bekanntlich viele
Spinnen und Milben, die Pseudoskorpione und
die Phalangiden statt der Tracheenlungen, wie sie
den übrigen Arachniden eigen sind, Röhren-
tracheen. Es würden demnach vielmals Röhren-
tracheen aus Tracheenlungen entstanden sein
müssen, und „dieser Vorgang wird um so un-
wahrscheinlicher, je öfter er angenommen werden
muß". 4. Ferner treten bei Solifugen und Aka-
riden auch Tracheen auf, deren Stigmata am
Zephalothorax liegen, und die sich somit nicht
von den abdominalen Blattfußkiemen des Limulus
ableiten lassen. — Heymons 1905 war schon
geneigt, Limulus und die Arachniden auf gemein-
same, an feuchten Orten als Ufertiere lebende
Vorfahren zurückzuführen. Es liegen aber, meint
nun Versluys, die Kiemen der Gigantostraken
un^i des Limulus überhaupt nicht an dem Hinter-
leib von Gliedmaßen, sondern von Sterniten,
denn, wie besonders der Vergleich eines Giganto-
straken mit einem Skorpion auf den ersten Blick
lehre, die abdominalen Blattfüße von jenen seien
— mit Sarle 1903, Clarke und Ruedemann
191 2 — keine echten Gliedmaßen, sondern eben
Sternite, wie solche auch die Bauchseite des Prä-
abdomens der Skorpioniden und anderer Arach-
niden bedecken. „Zugunsten dieses Vergleiches
fällt schwer ins Gewicht, daß neben den Blatt-
füßen an den entsprechenden Segmenten keine
Sternite vorhanden sind, wohl aber ein typischer
Sternit am ersten darauffolgenden Segmente, wo
kein Blattfuß auftritt." Die Ähnlichkeit der Ab-
dominalfüße von Limulus mit den Spaltfüßen der
Crustaceen sei eine sehr oberflächliche. Höch-
stens: „in diesen modifizierten Sterniten sind die
Reste abdominaler Gliedmaßen mit enthalten und
mögen vielleicht etwas zur Kompliziertheit des
Baues der Blattfüße beitragen". Die Blattfüße der
Merostomen als bewegliche Sternite müssen nun
den abgeleiteten Zustand darstellen gegenüber den
unbeweglichen Sterniten der Skorpione; mithin
seien auch die Kiemen von Limulus von den
Tracheenlungen abzuleiten als Anpassungen an
das Wasserleben. V. Franz (Jena).
Beobachtungen der „Vogelwarte Noordwijk
aan Zee".')
Die bisher nur primitive holländische „Trek-
station", „eigentlich das Studierzimmer der Villa
nova", also bisher ein privates, aber von Freunden
der Sache unterstütztes wissenschaftliches Unter-
nehmen, fand in der angesehenen holländischen orni-
thologischen Zeitschrift „Ardea" Aufnahme für ihren
ersten umfangreichen Bericht über Beobachtungen
von Juni 1 9 1 8 bis Februar 1 9 1 9, angestellt von den Ver-
') G. A. Brower en Jan Verwey; Waarnemingen
van het ,,Trekstalion Noordwijk aan Zee". In; Ardea, Tijd-
schrift der Nederlandsche Ornithologische Vereeniging. Jahr-
gang VlII, Afl. 1, Wageningen 1919, S. 1 — 96.
N. F. XX. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
107
fassern und einigen Helfern auf zwei hochgelegenen
Punkten — Wasserturm und Hoteldach — am
Innen- und Außenrand des Dünengürtels bei Tag
und Nacht. Die tagebuchmäßige Wiedergabe der
Einzelbeobachtungen nimmt, wie nicht selten in
ornithologischen Arbeiten, ziemlich bedeutenden
Raum ein. Von allgemeineren Feststellungen sei
folgendes erwähnt: Die kleinen Singvögel, Stein-
schmätzer, Braunkehlchen, Fliegenfänger, Würger
usw. halten sich auf dem Zuge tags über an ge-
eigneten Funkten längs dem Binnenrand des Dünen-
gürtels auf, ziehen dagegen abends und nachts
längs der Küste. Die Beobachter kamen zu der
Überzeugung, daß an den geeigneten Rastplätzen
die Vögel meist 3 bis 6 Tage verweilen. — Als
Zugstraßen an der holländischen Küste sind für
den Herbstzug drei verschiedene zu verzeichnen:
I. ONO»«WZW, längs der Küste, 2. O^-'W,
also vom Land seewärts, 3. umgekehrt: W«->0
(ZO). Die unter i genannte Straße ist die haupt-
sächlichste, die weitaus meisten Vögel folgen dem
Küsten- oder Dünenstreifen, obschon bei geeignetem
Wetter mehr oder minder zahlreiche auch über das
ganze holländische Land fliegen. Die zweite Straße
schlagen Vögel aus Zentral- und Westeuropa nach
England ein, sei es um dort oder in Irland zu
überwintern, sei es um über Großbritannien süd-
wärts zu ziehen : Saatkrähen, Kiebitze, wohl auch
Dohlen schlagen diesen Weg ein und ziehen da-
bei sehr hoch. Die dritte Zugrichtung ist eine
neu festgestellte (während über die zweite bereits
Eagle Clarke berichtet hat): Drosseln, Klein-
vögel und Krähen verschiedenster Art sah man
in der Abenddämmerung oder des Morgens vom
Meere her landwärts fliegen, und gelegentlich an-
gespülte Vogelleichen zeigen, daß der Flug übers
Meer nicht gefahrlos ist. — Hinsichtlich der
Schnelligkeit des Vogelzugs treten die Verfasser
besonders den übertriebenen Vermutungen Gät-
kes entgegen und stellen ausführliche Tabellen
auf, beruhend auf Beobachtung des Vogelzugs
durch zwei um i km voneinander entfernte Posten
und genaue nachträgliche Vergleichung aller
sicher vergleichbaren Beobachtungen. So fand
sich, daß für Stare eine Geschwindigkeit von 30
bis 68 km in der Stunde anzunehmen ist, ähnlich
kleinere Vögel, unter denen die Sperlinge die
schnellsten sind, worauf Finken, Bachstelzen und
Wiesenpieper folgen. Nebelkrähen ziehen ver-
hältnismäßig am langsamsten.
Den Schluß des Berichts bildet eine Aufzählung
sämtlicher beobachteter Vogelarten mit kurzer
Charakterisierung einer jeden hinsichtlich ihrer
Zugverhältnisse im Beobachlungsgebiet. Besonders
erwähnenswerte Arten darunter sind der Kolkrabe
und dieGabelschwanzmöve.Xemasabinii; vielleicht
ist nicht minder erwähnenswert, daß von Meisen
nur zwei Arten, Kohl- und Blaumeise, zur Be-
obachtung gelangten.
Man wird sich dem Wunsche der Redaktion
der „Ardea" anschließen, daß die holländische
„Trekstation" fortbestehen und weitere Berichte
liefern möge. V. Franz (Jena).
Das Eude des Wiseuts.
Von den beiden europäischen Wildrindern hat
sich nur der Wisent bis in unsere Tage zu halten
vermocht. Neben einem kleinen Bestand, den
der Fürst von Pleß auf seinen schlesischen Be-
sitzungen unterhielt und der aus vier, 1865 von
Bialowies bezogenen Tieren hervorgegangen war,
kam die Art in freier Wildbahn nur noch an
zwei Stellen vor : einmal in dem russischen Kron-
forst Bialowies, wo sich das Tier des weitgehend-
sten Schutzes und einer, im einzelnen freilich stark
übertriebenen Pflege erfreute, und zum anderen
an einer räumlich kleinen Stelle im Kaukasus. An
dem einen dieser beiden Vorkommen, im Wald-
gebiet von Bialowies, das ja bereits im August
191 5 in deutsche Hände fiel und bis zum Kriegs-
ende auch unter deutscher Verwaltung stand,
lernten wir während des Krieges das Tier auch
selbst noch kennen. Allerdings hatte es, als
deutsche Truppen in das Waldgebiet einzogen,
bereits stark unter den Kriegshandlungen gelitten;
der Bestand, der bei Ausbruch des Krieges noch
fast 750 Stück betragen hatte, umfaßte nur noch
150- 160 Stück. Infolge der unmittelbar nach
der Besetzung des Gebietes von der deutschen
Verwaltung ergriffenen Schutzmaßnahmen aber
erholte er sich in einer recht erfreulichen Weise,
und konnte, nachdem das Frühjahr 191 8 emen
Zuwachs von nicht weniger als 23 Kälbern ge-
bracht hatte, bei einer im Herbst desselben Jahres
vorgenommenen Zählung auf wieder gegen 200
beziffert werden. Was wir aber dann bei der
Räumung des Gebietes als unabwendbar hinneh-
men mußten, hat sich inzwischen leider auch er-
füllt: der Bialowieser Wisent gehört heute nur
noch der Geschichte an ; er, der sich ja so leidlich
noch durch die Kriegswirren selbst hindurch ge-
rettet hatte, wurde ein Opfer dieser elenden nach-
kriegszeitlichen Verhältnisse. Russische Bauern
haben ihm, so schreibt mir Konrad Löns, der
gleichfalls den Bialowieser Besatzungstruppen an-
gehört hatte und der dann, als nach jenen trüben
Novembertagen 1918 Offiziere und Mannschaften
nur noch daran dachten, auf raschestem Wege die
Heimat zu erreichen, freiwillig mit nur noch 25
Mann in dem Gebiet ausharrte, um den Rückzugs-
weg unserer Ukrainetruppen zu sichern, ein Ende
bereitet und ein paar der letzten mußte dann
schließlich auch das kleine, pflichttreu ausharrende
Häuflein dieser letzten Besatzungsmannschaften
unter dem eisernen Zwange der Verhältnisse für
die eigene Verpflegung abschießen. „So ist er
dahingegangen", schließt Löns seinen Bericht,
„unrühmlich, wie es das Ende dieses entsetzlichen
Völkermordens ja auch war!" —
Zur Geschichte auch des Bialowieser Wisents
gibt Szalay, der dabei das gesamte ältere
Schrifttum benutzt und kritisch verarbeUet hat.
io8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
in seiner fleißigen Arbeit „Wisente im Zwinger"
im Zoologischen Beobachter, 57. — 59. Jahrgang,
1916— 1918, interessante und wertvolle Daten;
neueres Material enthält das von der Militärforst
Verwaltung Bialowies herausgegebene Lieferungs-
werk „Bialowies in deutscher Verwaltung", aus
dem hier besonders
Gent he, F., Die Geschichte des Wisents in
Europa; 3. Heft, Berlin 1918, S. 119— 140,
Rörig, G., Die Säugetiere [des Waldgebiets
von BialowiesJ, ebenda, S. 141 — 171 (Der
Wisent, S. 142 — 150) sowie
E s c h e r i c h , G., In den Jagdgründen des Zaren,
ebenda, S. 192 — 204
hervorgehoben seien. Einige eigene Beobachtun-
gen und die Mitteilung über des Tieres Ausrottung
habe auch ich selbst in
Europas letzte Wisente, Zeitschrift für Vogel-
schutz und andere Gebiete des Naturschutzes,
2. Jahrg., Berlin 1921 (im Druck),
niedergelegt. Photographische und kinematogra-
phische Aufnahmen des Tieres, die im Januar
19 iS erfolgten und mit deren Leitung ich
betraut worden war, ließ der Bund für Vogel-
schutz in Stuttgart vornehmen, das dabei ge-
wonnene Material befindet sich im Besitze des
Bundes.
Über das Vorkommen im Kaukasus besitzen
wir keinerlei neuere Nachrichten. Der russische
Zoologe D.Filatow, der in den Jahren 1908 — 191 1
drei Reisen in den Kaukasus zur Erforschung des
Tieres, das K. A. Satunin übrigens als eine
eigene Spezies Bos (Bison) bonasus caucasicus Sat.
beschrieben hat, unternommen und über die Er-
gebnisse seiner Forschungen in einer längeren
Arbeit in den „Memoires de l'Academie Imperiale
des Sciences de St. Petersbourg, VIII. Serie, Classe
PhysicoMathematique, Vol. XXX, Nr. 8, St. Peters-
burg 191 2" berichtet hat, gibt die Ausdehnung
des im Kaukasus vom Wisent bewohnten Gebietes
mit 50 Werst in West-Ost- und 20 Werst in Nord-
Süd-Richtung an (und das an Größe damit noch
um ein Merkliches hinter dem Waldgebiet von
Bialowies zurückbleibt). Über die Größe des
Bestandes sagt er, daß die Zahl der Tiere „schwer-
lich weniger als 100 betragen, andererseits aber
wohl kaum an 1000 heranreichen" wird. Es soll
hier nicht weiter auf die Filatowschen Mit-
teilungen, die Hermann Grote in deutscher
Übersetzung im Zoologischen Beobachter (55, 1914,
S. TJ — 85) auszugsweise mitgeteilt hat, eingegangen
werden. Nur das eine sei noch hervorgehoben,
daß schon damals F i 1 a t o w den Bestand als stark
gefährdet bezeichnete und vorschlug, die Reste
desselben durch die ungesäumte Schaffung günsti-
gerer Lebensbedingungen für die bedrohten Tiere
zu erhalten zu versuchen, vor allem den Wald-
abtrieb in den vom Wisent bewohnten Tälern
einzustellen und den Weidebetrieb, in dem Filatow
infolge der damit verknüpften Beunruhigung der
Tiere und ihrer Verdrängung von den freien
Weideflächen in. den dumpfen Urwald des Gebirges
N. F. XX. Nr. 7
eine besonders ernste Gefahr für den Wisent er-
blickte, wesentlich einzuschränken. Da die von
ihm vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen während
des Krieges aber wohl kaum haben ergriffen
werden können und zu ihrer Unterlassung dann
vor allem auch noch die Wirkungen dieses letzleren
selbst besonders mit dem Überhandnehmen des
Wilddiebstahls gekommen sind, dürfte nach
menschlichem Ermessen auch dem Kaukasus-
Bestand das gleiche Schicksal geworden sein, das
den Bialowieser Bestand betroften hat. Meine
noch während des Krieges entstandenen Be-
fürchtungen teilte auch der inzwischen verstorbene
Herr von Falz- Fein, der die Vernichtung auch
des Kaukasus- Wisentes während bzw. nach dem
Kriege für eine kaum noch anzuzweifelnde Tat-
sache hielt.
Um die Tragik des Wisents zu einer er-
schöpfenden zu gestalten, machte Prof. P a x -Breslau
auf der neunten Jahreskonferenz für Naturdenkmal-
pflege in Berlin (5. und 6. Dezember 1919) die
Mitteilung, daß auch der Pleßsche Wisentbestand,
der m. W. zuletzt gegen 30 Stück umfaßte, durch
den schlesischen Grenzschutz völlig zusammen-
gewildert und (wenn sich nicht inzwischen schon
sein Schicksal erfüllt haben sollte) an den Rand
des Abgrundes gebracht worden ist. — Wir werden
daher den Wisent, wenn nicht schon heute, so
doch zum mindesten in allernächster Zeit, in die
Annalen der Geschichte einreihen müssen.
Rud. Zimmermann, Dresden.
Das Problem der Zyauophjzeenzelle.
Seit Ferdinand Cohn, 1875, ist es Brauch
geworden, die Zyanophyzeen und Bakterien mit-
einander zu den Schizophyten zu vereinigen.
Wesentliche Unterschiede zwischen beiden in der
äußeren Morphologie wohl einander ähnlichen Grup-
pen, den Zyanophyzeen und den eigentlichen oder
Eubakterien, hat neuerdings namentlich Arthur
Meyer hervorgehoben, der den Bakterien, wie
191 8 auch Paravazini, Zellkerne und wegen
der Endosporen — während die Zyanophyzeen
Chlamydosporen bilden — Askomyzetenverwandt-
schaft nachsagt. Demnach bleiben die Zyano-
phyzeen als ganz isoliert stehende Gruppe übrig,
zumal sie, sei es infolge primitiver oder regres-
siver Organisation, keinen unzweifelhaften Zellkern
besitzen. Diese Sachlage und der Wunsch, eine
definitive Neuorientierung der Blaualgen , Rot-
algen und Spaltpilze in der botanischen Stammes-
geschichte vorzubereiten, veranlaßte O. Baum-
gärt eis Studie (Das Problem der Zyanophyzeen-
zelle, Archiv für Protistenkunde, Bd. 41, 1920, H. i,
S. 50 — 148, I Tafel). Der Arbeit ist eine vor-
zügliche Zusammenfassung beigefügt, deren gekürzte
Wiedergabe am besten über ihren Inhalt Auskunft
geben wird.
Der Protoplast der Zyanophyzeen besteht aus
dem peripheren Chromatoplasma, welches
als Assimilationspigment ein Gemisch von Chloro-
N. F. XX. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
109
phyll, Phykozyan und Karotin in diffuser Ver-
teilung enthält, wobei es zu winzigen Ansamm-
lungen in Form Meyerscher Granula sich an-
sammeln kann, und dem hyalinen Zentro-
plasma; letzteres hat lakunösenBau und in seinen
Alveolen „Plasten"; zunächst die Endop lasten,
flüssige bis steifgelige Gebilde, die wohl aus
Glyko- und P-Proteiden bestehen, und deren Sub-
stanz die Matrix für die beiden anderen Plasten-
arten ist : an der Peripherie der Endoplasten ent-
stehen bei optimaler Assimilation die Epiplasten;
sie bestehen aus einer sehr resistenten Hülle von
hochkondensiertenNukleoglykoproteiden und einem
weniger resistenten Kern, der mehr Proteincharakter
zeigt. Ektoplasten, vorwiegend aus Protein-
substanzen, entstehen an der Peripherie des Zen-
troplasmas, wenn, bei minimalem Lichtgenuß und
überwiegend saprobiontischer Ernährung, die Ei-
weißproduktion über die Kohlehydralassimilation
überwiegt.
f Zentroplasma und Plasten stellen
einen offenen Zellkern dar, der außerdem
noch die Rolle von Kohlehydratplasten hat, einen
„Karyoplasten", der „phylogenetisch jene Stufe be-
deutet, wo die Arbeitsteilung zwischen Karyo-
plasma und den Kohlehydratplasten noch nicht
durchgeführt erscheint". Der Kernsaft höherer
Pflanzenkerne entspricht den Endoplasten, die
Chromiolen den Epiplasten und die proteinhaltigen
Xukleolen den Ektoplasten.
Dem Karyoplasten fehlt eine typische mito-
tische Verlagerung von chromatischen Individuali-
täten mittels eines komplizierten Spindelfaser-
apparates; die vorhandenen Plasten werden bei
der Zerschneidung des Zentroplasmas ohne be-
sondere Gruppierungsvorgänge auf die Tochter-
zellen verteilt, wobei steifgelige Plastenaggregate
chromosomähnliche Gebilde vortäuschen können.
V. Franz, Jena.
Die Nahrung der am Wasser lebenden Yögel.
Folgende drei graphischen Tabellen gibt der
Ornithologe Wilhelm Schuster in der Allge-
meinen Fischereizeitung 1920:
Tabelle!
Fischnahrung
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
It
Die Länge der Rechtecke bezeichnet die Meoge der von je
einem Vogel erbeuteten und verzehrten Nahrung.
Diese Tabellen erscheinen recht anschaulich und
einleuchtend und wohl nicht zu gewagt, obwohl
sie der Verf. selbst als „gewagt" hinstellt. In
anderen Punkten ist der Verkünder der „Wieder-
kehrenden Tertiärzeit" auch hier recht hypothe-
tisch, so in der durch Beobachtung nicht erhärte-
ten Vermutung, die herabfallenden flüssigen Ex-
kremente des Graureihers möchten Plsche anlocken,
Tabelle2.
Sonstige Nahrung
Weiß:
Wertlose Fische (kleine, kranke)
Schwarz:
Nutzfische mit Küchenwert.
1 Grauer oder Fischreiher, Ardea cinerea.
2 Fischadler, Pandion haliai-tos.
3 Großer und Mittlerer Säger.
4 Große Rohrdommel, Botaurus stellaris.
5 Taucher und Möwen, Podiceps und Larus.
6 Kleiner Säger, Zvv-ergrohrdommel.
7 Seeschwalben, Sterna.
8 Schwarzbrauner Milan.
9 Eisvogel und Wasseramsel.
10 Enten, Kiebitz, Rotschenkel, Wasser-,
Tüpfelhuhn, Rohrweihe.
11 Weißer Storch, Ciconia alba.
Teich-,
zumal sie — nach Adolf Müllers bisher nicht
bestätigter Angabe — bei Nacht leuchten sollen
wie Phosphor. Erwähnt wird, daß der Graureiher
auch Wassersalamander, Molche und Muscheln
frißt. 1) V. Franz (Jena).
Die Bedeutung einer anthropologisclien
üutersucliung der Jugend.
Rudolf Martin spricht sich in einem Vor-
trag, der in einer Versammlung des Münchener
Lehrerverbandes gehalten wurde (abgedruckt im
„Volksschulwart", 8. Jahrg. Heft 10) darüber
folgendermaßen aus. In der Vergangenheit war
die Erziehungstendenz ganz auf die Entfaltung
der geistigen Fähigkeiten gerichtet. Man war sich
nicht bewußt, daß alle geistige Entwicklung nur
dann von Dauer sein kann, wenn sie von einer
adäquaten körperlichen begleitet wird, und daß
der Körper um so kräftiger sein muß, je größer
die Anforderungen sind, die an Gehirn und Nerven
gestellt werden. Der Begriff der Körperkultur
mußte von unserer Zeit erst neu geschaffen werden
und es gilt nun, die Geister aufzurütteln, damit
') Ich fand außer Mäusen und Aalen einmal auch den
dreistachligen Stichling in Reihermägen.
HO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 7
uns nicht der Vorwurf gemacht werden kann,
wir hätten der Jugend gegenüber unsere Pflicht
versäumt und unsere Aufgabe verkannt.
Um die körperliche Ertüchtigung der Jugend
zweckmäßig einleiten und durchführen zu können,
ist vorerst Klarheit über ihre Leibesbeschaffenheit
erforderlich. Wir brauchen einen Gradmesser für
die körperliche Beschaffenheit des Einzelnen, eine
Methode, die es uns ermöglicht, den physischen
Habitus eines Menschen in meß- und wägbaren
und damit in vergleichbaren Größen auszudrücken.
Diese weicht von Person zu Person stark ab,
erstens wegen der Verschiedenheiten der elterlichen
Erbanlagen, dann infoige der mannigfachen Ein-
wirkungen der Umwelt, die schon vor der Geburt
beginnen, jedoch besonders nachher die Entwick-
lung weitgehend beeinflussen.
Bei der Frage der Berufseignung spielt bereits
die Kenntnis der Körperkonstitution eine wichtige
Rolle, „hängt doch der Erfolg in den meisten
Berufen, weit mehr als offen zutage liegt, nicht
nur von dem erworbenen Wissen, sondern auch von
der körperlichen Beschaffenheit des Einzelnen ab".
Martin macht sich anheischig, „durch ein genaues
Studium der Körperproportionen eines Menschen
ein sicheres Urteil abgeben zu können über die
Funktionstüchtigkeit seiner einzelnen Körperteile
und damit über seine spezielle Leistungsfähigkeit
und Eignung zu gewissen Berufen".
Da aber der Körper ein äußerst verwickelter
Merkmalkomplex ist, gilt es, die wesentlichen
Eigenschaften auszuwählen und festzustellen.
Martin empfiehlt zwölf meßbare und vier nur
zu beschreibende Merkmale bei Schulunter-
suchungen zu berücksichtigen. Die Beteiligung
an der Erhebung ist von selten der Eltern und
Kinder als eine freiwillige gedacht. Erforderlich
ist u. a. die Vornahme aller Messungen nach einer
einheitlichen genau vorgeschriebenen Technik. Es
handelt sich dabei zwar um Handhabung recht
einfacher Instrumente, aber eine Vertrautheit mit
ihnen ist dennoch unerläßlich; jeder Lehrer kann
sie leicht erwerben. Beachtenswert sind Martins
Ausführungen über die Zeit der Beobachtung. Die
in dieser Hinsicht bestehenden Schwierigkeiten
sind am besten zu beheben, wenn in jeder Schule
am Anfang des Jahres die Schüler nach ihrem
Geburtsdatum in Monatslisten zusammengestellt
werden. Ungefähr zwischen dem lO. und 20. eines
jeden Monats werden dann die in diesem Monat
geborenen Kinder gemessen. Unter Umständen
könnte man sich auch damit begnügen, die Kinder
in Vierteljahrsgruppen zusammenzufassen. Ein
solches Verfahren ist wegen der Wachstums-
periodizität der Kinder erforderlich. Das Längen-
wachstum des Körpers ist „in der Zeit von April
bis Ende Juli am intensivsten, in der Zeit vom
August bis Dezember aber am geringsten. Um-
gekehrt fällt die stärkste Gewichtszunahme in die
Sommer- und Herbstmonate, während im Winter
und Frühjahr das Körpergewicht wenig oder gar
nicht zunimmt. Gewicht- und Längenwachstum
verhalten sich also alternativ. Die Zeit der größten
Längenzunahme ist für das Kind in körperlicher
und geistiger Hinsicht die ungünstigste; hier besitzt
es die geringste Widerstandskraft und Leistungs-
fähigkeit, während in der Periode der größten
Gewichtszunahme seine gesundheitliche und geistige
Verfassung am besten zu sein pflegt."
Das bei anthropologischen Schuluntersuchungen
gewonnene Material ist vielseitig verwendbar. Es
läßt sich daraus z. B. der Einfluß der sozialen
Umwelt auf das Wachstum und das Körpergewicht,
die Wirkung der geographischen Faktoren auf den
Körperbau, die Rassenzusammensetzung der Be-
völkerung usw. ermitteln.
Die geplanten Untersuchungen sollen unsere
Einsicht in die physiologischen Prozesse vertiefen
und beitragen, einer rationellen Körperkultur die
Wege zu ebnen. Dabei ist es besonders wichtig,
auch die Zweckmäßigkeit der einzelnen körper-
lichen Übungen festzustellen, denn jede derselben,
das Turnen, der Sport und die rhythmische
Gymnastik, hat ihre spezielle Bedeutung, und sie
alle sollen zur Ertüchtigung der Jugend heran-
gezogen werden.
Leibesübungen finden in der körperlichen Ent-
wicklung deutlich Ausdruck. Es wurden junge
Männer gemessen, die Turnvereinen angehören,
wobei sich ergab, daß „die Leute mit einer
mittleren Turnzeit von 2^/^ Jahren in sämtlichen
Köpermerkmalen diejenigen übertrafen, die nur
eine 4^/2 -monatliche Turnzeit hinter sich hatten.
Der Unterschied zugunsten der erstgenannten
Gruppe betrug für die Körpergröße 13 mm, für
das Gewicht 4700 g, für den Brustumfang 87 mm,
den Oberschenkelumfang 23 mm, den Oberarm-
umfang 15 mm und den Unterschenkelumfang
17 mm." Es zeigte sich auch, daß das Turnen
kein Auslese faktor ist, d. h. daß die länger
Turnenden nicht schon von vornherein die besser
Entwickelten waren, denn die erst kurze Zeit
Turnenden haben sich in der F"o]gezeit in gleicher
Weise entwickelt, wie die länger Turnenden. Die
Kräftigung der Muskulatur durch Leibesübung
trägt zur Ausbildung normaler Wirbelsäulen-
krümmungen bei, und ein erweiteter Brustkorb
dehnt die Lunge und macht sie widerstandsfähig
gegen Tuberkulose. Namentlich in den Perioden
raschen Wachstums erhöhen Leibesübungen die
Widerstandskraft der Kinder und verhüten oft,
daß krankmachende Einflüsse zur Geltung kommen
können. H. Fehlinger.
Weshalb ist die Hirnrinde gefaltet?
Es steht längst fest, daß die Faltung der grauen
Hirnrinde nur zum allerkleinsten Teil ein Aus-
druck der Intelligenzhöhe des Tieres sein kann,
da fast ausnahmslos kleinere Tiere eine viel
weniger gefaltete Hirnrinde haben als ihnen nahe
verwandte größere, ja es ist zum Beispiel bei
kleinen Nagern die Hirnrinde einfach glatt, während
N. F. XX. Nr. 7
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
III
sie bei größeren mehr oder weniger gefaltet ist.
Mit anderen Worten : die Natur scheint es zu ver-
meiden, der Hirnrinde eine größere Dicke zu
geben als bis zu einem bestimmten Maß; wird
das Tier größer, so wird die Rinde nicht mehr
dicker, sondern stattdessen ausgebreiteter und da-
her gefaltet. So ist die Rinde der Walgehirne
sehr stark gefaltet. Warum dieses Verhältnis be-
steht, darauf gab man bisher die ziemlich ein-
leuchtend erschienene, obwohl nicht ganz ein-
wanddichte Antwort, dies diene der besseren Er-
nährung, wobei man sowohl an die erleichterte
Blutzufuhr wie auch an den erleichterten Lymph-
abfluß dachte und die Furchen des Gehirns ge-
geradezu Nährschlitze genannt hat. Seitz 1887,
Kükenthal und Ziehen 1889.
C. U. Ariens-Kappers greift neuerdings
dieses Problem in anziehender Weise auf.^) Ob
man seinem Gedankengang in allen Stücken folgen
wird, ist wohl die Frage, und es sei daher, da
ich nicht alle seine Betrachtungen in seinem Sinne
werde wiedergeben können, außer auf das folgende
Referat auch nachdrücklich auf die Originalarbeit
hingewiesen. Jedenfalls zeigt der Verfasser ein-
leuchtend, daß die obige Erklärung nicht genügen,
ja wohl kaum irgendwie zutreffen kann. Denn
das von ihm beigebrachte Tatsachenmaterial be-
steht in dem Hinweis auf zahlreiche im Innern
des Gehirns gelegene, also zu den Ernährungs-
wegen keine bestimmte Beziehung innehaltende,
gleichwohl aber sich faltende „Kerne", d. h.
Ganglienzeil- oder kurz „Grau"-Massen. Ein solcher
Kern ist zum Beispiel die Oliva inforior in der
unteren Oblongata des Säugetiergehirns. Ähnlich
erweist sich die dem weißen Hinterhorn im Rücken-
mark auflagernde graue Substantia gelatinosa
Rolandi ihrem gefältelten Querschnitt nach als
„Oberflächenorgan", ähnlich sehr deutlich der
Nucleus dentatus im Kleinhirn der Säuger, nicht
minder ist der Gollsche Kern bei Cebus, wo er
sehr groß ist, rindenähnlich lamelliert, ferner das
Grau der absteigendenTrigeminuswurzel beim Pferd,
der Nucleus laminaris im Acusticuskern ver-
schiedener Wirbeltiere und andere mehr; bei
Fischen mit starker Funktion des Sehorgans faltet
sich das Mittelhirndach ein, ebenso das Corpus
geniculatum externum (Franz). — Auch den
der Länge nach gefalteten Sehnerven von Pleu-
ronectes zieht der Verfasser als Beispiel kurz
heran, obwohl er doch kein Grau, sondern eine
weiße Fasermasse ist, also kaum hierher passen
kann. Als roten Faden durch alle diese Angaben
hindurchziehend findet Kappers, daß es sämt-
lich „Organe der Sensibilität oder Bestandteile
aufsteigender Bahnen sind", die bei stärkerer Aus-
dehnungOberflächenausdehnung gewinnen. Schließ-
') C. U. Ariens-Kappers: Über das Rindenproblem
und die Tendenz innerer Hirnteile, sich durch Oberflächen-
yermehrung statt Volumzunahme zu vergrößern. In : Folia
neuro-biologica, Band VUI, Nr. 5, :9I4. Seite 507 bis 531.
lieh ist die Großhirnrinde selber ein Beispiel, das
um so mehr auffällt, weil gerade in den olfak-
torischen, visuellen und sensiblen Regionen die
Rinde am dünnsten bleibt, also ihre Vergrößerung
am meisten durch Flächenausdehnung stattfindet.
Diese Erscheinungen im zentralen Nervensystem,
meint Verfasser weiter, laufen parallel mit Er-
scheinungen in der Peripherie. Die Sensibilität der
Haut ist eine Oberflächenausdehnung, die Akustik
zeigt in der gewundenen Fläche der Scala tym-
pani ein Oberflächenbild, die Retina zeigt eine
exquisite Oberflächenausdehnung von wenigen
Zellschichten, und der Geruch ist bei vielen Tieren,
bei denen diese Qualität mächtig ist, in einer
stark lamellierten Schleimhaut der Nase lokalisiert.
Diese Tatsachen dienen teils der vermehrten
Exposition gegenüber den Reizen, teils deren
besseren Lokalisation. „Wäre es angesichts dieser
Tatsachen befremdend, wenn dasselbe Prinzip im Ge-
hirn wiederholt würde ?" Verf. meint in der Tat, daß
„die Zweckmäßigkeit für die vermehrte Reizauf-
nahme und die leichtere Erhaltung des lokalisatori-
schen Stigmas durch Flächenausdehnung exquisit
rezeptorischer Teile klar ist" und sucht nun ferner-
hin — was ja stets berechtigt ist ■ — auch nach
einer entwicklungsmechanischen Erklärung für die
Erscheinung, denn „die Zweckmäßigkeit erklärt
eben nicht den biologischen Prozeß, wodurch diese
Flächenausdehnung zustande kommt". Für diese
Erklärung zieht er vielmehr die Neigung zur
flächenartigen Ausbreitung des Dendritengezweigs
der in Frage kommenden Zellen heran, und so
erwähnt er aus der Retina besonders die Hori-
zontalzellen, aus dem Kleinhirn die Purkinje-
schen Zellen, die Dendriten im Rückenmark von
Ammocoetes. Diese Flächenausdehnung der Den-
driten soll nun ihrerseits auf dem Kappers sehen
Gesetz der Neurobiotaxis beruhen, nach welchem
die Zellausläufer der maximalen Reizentladung
entgegenwachsen. Ganz schön, meine ich,
aber ist diese Neurobiotaxis wirklich eine „Taxis",
etwas irgendwie physikochemisch Erklärtes?
Kappers meint es, doch könnte ich dazu nur
meine Auffassung wiederholen, ') daß die Neuro-
biotaxis bisher nur vergleichend-anatomisch fest-
steht und nur aus Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten
„erklärt" werden kann. — Wie dem nun auch
sein mag, es scheint vom Verf. treffend darge-
legt, daß die Oberflächenausbildung jener grauen
Hirnmassen eine „inhärente" ist. „So wird
doch auch kein Mensch annehmen, daß ein Knochen,
ein Muskel, ein Sinnesorgan sich nur so und so
gebaut hat wegen einer bestimmten Blutzufuhr.
Dazu kommt, daß man Organe findet, wie die
Leber, wo jede Zelle in der sorgsamsten Weise
von Kapillaren umgeben ist, und doch von einer
Flächenausdehnung des Organs keine Rede ist."
V. Franz (Jena).
') Naturw. Wochenschr. 1919. Nr. 29, S. 414.
112
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 7
Goldschmidt, Prof. Dr., Rieh., Einführung in
die Vererbungswissenschaft. 3. neu-
bearbeitete Auflage mit 178 Abb. Leipzig 1920,
Wilh. Engelmann.
Kurz nach dem Erscheinen von E. Baurs
„Vererbungslehre" ist nun auch Goldschmidts
bekannte „Einführung in die Vererbungswissen-
schaft" neu herausgekommen. Das Buch weist
in der Anordnung und Auswahl des Stoffes eine
große Anzahl von Änderungen auf, die teils aus
den auch während der Kriegsjahre gemachten
Fortschritten auf dem Gebiet der Vererbungs-
forschung resultieren, vor allem aber auf einer
weher vertieften kritischen Durcharbeitung des
bekannten Tatsachenmaterials wie auf einer teil-
weisen Umgruppierung des gesamten Stoffes be-
ruhen.
Schon der Abschnitt über die Variabilität zeigt
derartige Veränderungen. Eine größere Einheit-
lichkeit ist hier dadurch erzielt, daß in der ersten
Vorlesung die elementaren Tatsachen über die
Zellteilung und die Chromosomen in Reifung und
Befruchtung fortgelassen sind und dafür in einer
besonderen Vorlesung Platz gefunden haben, die
im Anschluß an die Besprechung der Spaltungs-
gesetze den gesamten Chromosomenmechanismus
bei der Mendelspaltung behandelt. — Auch die
übrigen Vorlesungen über die Variabilität weisen
wesentliche Änderungen auf Die jetzt am Schluß
des ganzen Abschnittes stehende Vorlesung über
die IVIodifikabilität hat eine merkliche Verkürzung
erfahren.
Es folgt dann wie früher am Anfang des Haupt-
teiles über den IVIendelismus die Besprechung der
Dominanz- und der einfachen Spaltungserschei-
nungen. Alle schwierigeren Fälle, wie das Auf-
treten von Neuheiten, die durch ihre Häufigkeit
immer mehr an Bedeutung gewinnenden Poly-
merien, ferner die Koppelungen, die Lethalfak-
toren u. a. sind dagegen in einem Abschnht über
„höheren Mendelismus" zusammengestellt. Hier
finden sich auch im Anschluß an die Besprechung
der Tatsachen über Geschlechtschromosomen, ge-
schlechtsbegrenzte Vererbung und ähnliches die
neuen Forschungsergebnisse von Morgan und
seinen Schülern (an der Taufliege Drosophila). Die
aus ihnen abgeleiteten theoretischen Folgerungen
Morgans, die den Mechanismus der Mendel-
spaltung bis in seine feinsten Einzelheiten aufzu-
hellen scheinen, wie z. B. über die Lagerung der
Bticherbesprechungen.
Faktoren im Chromosom, über den P"aktorenaus-
tausch zwischen benachbarten Chromosomen u. a.
erfahren dabei eine durchdringende Erörterung.
Das eigentliche Problem der Geschlechtsbe-
stimmung ist von den übrigen Tatsachen über
Vererbung des Geschlechts abgetrennt und in
verkürzter Form in der vorletzten Voriesung dar-
gestellt. Auch die früher nur kurz im Anschluß
an die geschlechtsbegrenzte Vererbung diskutierte
Frage der Intersexualität wird in einer besonderen
Vorlesung auf Grund der neuen Untersuchungen
des Verf. und seiner Mitarbeiter sehr eingehend
behandelt.
In der Voriesung über die Mutationstheorie
hat der über die Oenotherafrage handelnde Teil
eine wesentliche Umarbeitung erfahren im Hin-
blick auf die weitgehende Klärung, welche dies
Problem inzwischen durch die neu hierzu erschiene-
nen Untersuchungen insbesondere durch Renners
Ergebnisse und ihre Interpretation gefunden hat.
Auch der Vorlesung über die Vererbung erwor-
bener Eigenschaften ist die kritische Durcharbeitung
besonders anzumerken. Hier sind Guthries
jetzt wohl endgültig widerlegte Transplantations-
versuche ausgemerzt. Auch fehlen Kamm er ers
Versuche über die Farbenvariationen beim Feuer-
salamander und andere nicht eindeutige früher oft
zitierte Befunde. Denn wie der Verf selbst ein-
leitend betont, ist hier „die Interpretation der im
Vordergrund des Diskussion stehenden Unter-
suchungen in letzter Zeit schwankend" geworden.
So ist in fast jedem Kapitel die kritisch sich-
tende Hand des Verf. zu spüren. Nur einige Un-
genauigkeiten auf botanischem Gebiet bedürfen
noch der Korrektur. Die Neuauflage ist, darin
müssen wir dem Verf. recht geben, ein fast neues
Buch geworden, das seine Aufgabe, in die Ver-
erbungswissenschaft einzuführen, voll und ganz
erfüllen wird. Um so mehr ist es deshalb zu be-
dauern, daß es dem Verleger trotz der Verwendung
eines überaus dürftigen Papiers nicht möglich war,
den Preis des Buches niedriger anzusetzen. Da-
durch werden naturgemäß der Verbreitung dieses
empfehlenswerten Buches in den Kreisen der
Studierenden unserer Hochschulen leider sehr enge
Grenzen gezogen. S. V. Simon-Göttingen.
Literatur.
Spitta, Prof. Dr. O., Grundrifl der Hygiene. Mit
197 Textabb. Berlin '20, J. Springer. 36 M.
Inhalt: H. Fncke, Wind und WeUer als Feldwirkungen der Schwerkraft, (s Abb.) S. 97. Rud. Zimmermann, Über
das Vorkommen des Ziesels in Sachsen, (i Abb.) S. :o2. — Einzelberichte: W. Eitel, Zinkblende im Basalt des
Buhls bei Kassel. S. 104. J. Versluys, Limulus, ein zum Wasserleben übergegangener Arachnide? S. 106. G A
Brower und Jan Verwey, Beobachtungen der „Vogelwarte Noordwijk aan Zee". S. I06. R. Zimmermann Das
Ende des Wisents. S. 107. O. Bau mgärtel, Das Problem der Zyanophyzeenzelle. S. 108. W. Schuster' Die
Nahrung der am Wasser lebenden Vögel. (3 Abb.) S. 109. R. Martin, Die Bedeutung einer anthropologischen Unter-
suchung der Jugend. S. 109. C. U. Ariens -Kapp ers, Weshalb ist die Hirnrinde gefaltet? S. iio. — Bücher-
besprechungen : Rieh. Goldschmidt, Einführung in die Vererbungswissenschaft. S. 112. — Literatur: Liste. S. 112.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, BerUn N 4, luTalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 20. Februar 1921.
Nummer 8.
Das Problem der Wirtswahl bei den parasitischen Pilzen/)
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Fritz
I.
Wenn wir von parasitischen Pilzen sprechen,
müssen wir zuerst vorausschicken, was wir unter
diesem Begriff verstehen; denn von den Pilzen,
die nur auf totem Substrat exjstieren können
(Saprophyten), gibt es mancherlei Übergänge (z. B.
Wundparasiten) bis zu den Formen, die unbedingt
auf lebendes Gewebe angewiesen sind. In diesem.
Aufsatz werden nur die letztgenannten Typen,
die strengen Parasiten, berücksichtigt.
Das Problem der Wirtswahl bildet einen guten
Ausgangspunkt zur Diskussion über Neubildung
biologischer und morphologischer
Arten. Doch werde ich diese Fragen im vor-
liegenden Aufsatz nicht in die Besprechung ein-
beziehen, indem ich auf einen Vortrag von Ed.
Fischer verweise (Fischer 1916). Im folgen-
den wird also die Wirtswahl der Parasiten als
gegebene Tatsache angenommen und nur den
Gründen nachgegangen , die sie so und nicht
anders gestalten, wie sie eben ist.
Daß zwischen den strengen Parasiten und
ihren Wirten innige Beziehungen existieren müssen,
ist von vornherein anzunehmen; denn der Pilz
benutzt die Pflanze nicht nur als Wohnplatz, son-
dern auch in bezug auf seine Nahrung ist er voll-
ständig auf sie angewiesen, vermag er doch nicht
die geringste Spur von Baustoffen selbst zu pro-
duzieren. Dieser tiefen Abhängigkeit wegen
können die Gründe von Immunität oder Empfäng-
lichkeit nicht nur durch das eine der beiden Lebe-
wesen bedingt sein. Pilz und Wirt müssen viel-
mehr in sehr feiner Weise aufeinander abgestimmt,
aneinander angepaßt sein.
Betrachten wir vorerst die Tatsachen dieser
Anpassung und der dadurch bedingten Speziali-
sation ohne uns über ihre Gründe irgendwelche
Vorstellung zu machen, so fällt uns die außer-
ordentliche Kompliziertheit der Verhältnisse auf.
Diese möge einleitend an Hand einiger Beispiele
gezeigt werden.
Zuerst möchte ich auf die bekannte Erschei-
nung hinweisen, daß die Spezialisation der ein-
zelnen Pilze in sehr weiten Grenzen schwankt.
So ist beispielsweise der sehr häufige „weiße Rost"
des Hirtenläschchens (Cystopus candidus)
nach den Untersuchungen von Eberhardt
(Eberhardt 1904) in ein und derselben biologischen
Form sowohl auf Capsella als auch noch auf
mancher anderen Cruciferengattung verbreitet.
Für Peronospora parasitica dagegen, einer
anderen Kreuzblütler- bewohnenden Peronosporee,
Kobel (Bern).
hat Gäumann erwiesen (Gäumann 1918), daß
sie so weitgehend spezialisiert ist, daß kaum ein
und dieselbe Form Vertreter verschiedener Gattun-
gen zu befallen vermag. Ähnliche Beispiele ließen
sich aus den Versuchen von Stäger (1905 — 10)
mit dem Mutterkorn der Gräser (Claviceps
purpure a) und denjenigen von Bürens mit
Protomyces (v. Büren 191 5) und noch aus
anderen Pilzgruppen erwähnen. Doch möchte ich
nur noch anführen, daß man in den sehr zahl-
reichen Untersuchungen der Rostpilze fast durch-
weg weitgehende Spezialisierung gefunden hat.
Aber gerade hier gibt es einige interessante Aus-
nahmen, auf die ich noch zurückkommen werde.
Neben Coleosporium- Arten , P u c c i n i a
Isiacae und P. subnitens handelt es sich
hauptsächlich um das vielbesprochene Cronar-
tiumasclepiadeum. Es ist dies eine Uredineen-
Art, die ihre Aezidiosporen, d. h. ihre geschlecht-
lich entstehenden Fortpflanzungsprodukte, auf der
Kiefer ausbildet. Ihre Uredo- und Teleutosporen-
generation lebt für gewöhnlich auf Vince toxi -
cumofficinale. Ed. Fischer konnte dann
aber einwandfrei dartun — nachdem schon
Geneau de Liamarliere dies wahrscheinlich
gemacht hatte — , daß auch Paeonia befallen
wird. Seither hat besonders Kle bah n noch eine
ganze Anzahl anderer Wirte experimentell aufge-
funden und zwar aus den verschiedensten Familien,
wie die nachstehende Zusammenstellung zeigt:
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Es ist aber ausdrücklich hervorzuheben , daß
dieser Pilz nicht etwa omnivor ist , d. h., daß er
nicht auf jede beliebige Pflanzenart überzugehen
vermag (vgl. hinterste Kolonne der Tabelle).
Betrachten wir nun die Wirtswahl vom Ge-
sichtspunkt der systematischen Verwandtschaft
der Pilze unter sich aus. Da sind denn auch
wieder alle möglichen Fälle realisiert:
Es ist allgemein bekannt, daß morphologisch
nicht unterscheidbare Formen in ihrer Wirlswahl
verschieden sein können. Solche biologische
Arten oder Spezial formen hat die Forschung
sehr viele bekannt gemacht. So fand ich, um nur
ein Beispiel anzugeben (Kobel 1920), daß Uro-
myces Trifolii in zwei morphologisch nicht
verschiedene Formen zerfällt. Davon hat die
eine als Hauptwirt Trifolium pratense, geht
daneben auch auf andere Trifolien über, nicht
') Dieser Aufsatz wurde als Vortrag im Winter 1919/20
in der ,, Bernischen botanischen Gesellschaft" gehalten und für
die „Naturwissenschaftliche Wochenschrift" etwas umgeändert.
114
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 8
Familien
Asclepiadaceae:
Ranunculaceae:
Solanaceae:
Scrophulariaceae:
Verben aceae:
Balsaminaceae:
Rosaceae:
Tropaeolaceae:
Wirte
Vincetoxicum officinale
„ fuscatum
Paeonia officinalis
„ peregrina
„ tenuifolia
Schizanthus Graham!
Fedicularis palustris
Nemesia versicolor
Verbena teucrioides
erinoides
Immun
Impatiens balsaminea
Grammatocarpus volubilis
Tropaeolum minus
„ majus
„ Lobblanum
,, canariense
P. silvatica
V. officinalis
„ Aublietia
„ biseriata
„ bonariensis
„ bracteosa
„ urticifolia
„ venosa
J. nolitangere
„ glandulosa
„ parviflora
aber auf T. ochroleucum. Die andere wird
auf T. ochroleucum gefunden, ging in den
Versuchen auf weitere Arten über, nie dagegen
auf T. pratense. Von Interesse für unsere
Frage ist dabei, daß trotz dieser offenbaren bio-
logischen Verschiedenheit einige gemeinsame
Wirte aufgefunden wurden (T. alpinum, ar-
vense, pannonicum, squarrosu m).
Angesichts dieser verschiedenen Wirtswahl von
morphologisch nicht unterscheidbaren Formen
verwundern wir uns durchaus nicht, daß Pilze aus
Gruppen, die im System weit auseinander liegen,
auf demselben Wirtspflanzenkreis nicht die gleiche
Auswahl treffen. Ich verweise auf die Umbelli-
feren bewohnenden Puccinia- und Protomyces-
Arten und auf die Gramineen-Bewohner unter den
Rostpilz- und Claviceps- Arten.
Dagegen wurde auch beobachtet, daß mor-
phologisch verschiedene Arten fast durchweg die-
selben Wirte befallen. Dies gilt z. B. für Pucci-
nia Jaceae und P. Centaureae f. spec.
Transalpinae, wie Hasler (1918) nachge-
wiesen hat.
Einen interessanten Fall fand ich auch unter
meinen Versuchsobjekten (Kobel 1. c). Uro-
myces Trifolii-hybridi, U. Trifolii-re-
pentis und U. flectens sind offenbar einander
nahe verwandte Spezies. Denn weder in ihren
Aezidien oder Uredosporen (wo solche vorkommen),
noch in ihren Teleutosporen zeigen sie greifbare
Unterschiede. Auch die Wirtswahl ist in weit-
gehendem Maße identisch. Dagegen weichen die
3 Arten im Entwicklungsgang sehr deutlich von-
einander ab.
Von großem Interesse für die Frage der Wirts-
wahl ist die Erscheinung des Wirtswechsels,
wie sie sich am ausgesprochensten bei den Rost-
pilzen findet. Es zeigt sich, daß die Wirte der
beiden Entwicklungsabschnitte aus systematisch
meist weit entfernten Gruppen stammen: Cupres-
saceen — Rosaceen (Gymnosporangien), Abieiaceen
— verschiedene Dikotylenfamilien (Coleosporien
nnd Cronartien), Papilionaceen — Euphorbiaceen
(verschiedene Uromyces-Arten) usw. Auch der
Grad der Spezialisation ist oft in beiden Ab-
schnitten sehr verschieden. Während z. B. für
Cronartium asclepiadeum und einige
Coleosporien die Aezidien - Generation sehr
spezialisiert und die Uredo - Teleuto - Generation
multivor ist, wurde für Puccinia Isiacae und
P. subnitens das Gegenteil erwiesen.
Als Komplikation für die Frage der Wirtswahl
tritt hinzu, daß man nicht zwischen Anfälligkeit
und Immunität schlechtweg unterscheiden kann.
Es kommen vielmehr alle möglichen graduellen
Abstufungen vor zwischen vollkommener Wider-
standsfähigkeit und leichtestem Befall. So findet
man z. B. häufig — um nur einen solchen Emp-
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
HS
fänglichkeitsgrad zu kennzeichnen — , daß auf be-
stimmten Pflanzen eine Uredinee wohl Pykniden,
nicht aber Aezidien zu bilden vermag. Doch ist
noch eines anderen Punktes zu gedenken. Der
Amerikaner Siakman (1915) hat nämlich er-
wiesen, nachdem schon Ward, Klebahn u. a.
darauf aufmerksam gemacht hatten, daß der Nicht-
befall einer Pflanze auf zwei diametral entgegen-
gesetzten Gründen beruhen kann : auf der Immu-
nität im eigentlichen Sinne und auf „Überempfäng-
lichkeit". Stak man konnte nämlich beobach-
ten, daß oft die Keimschläuche der Uredineen-
sporen in normaler Weise in eine Wirtspflanze
eindringen und sich dort einige Zeit entwickeln.
Dann aber töten sie die Wirtszellen in ihrer Um-
gebung ab. Da nun die Rostpilze strenge Para-
siten sind, können sie in diesem abgestoibenen
Gewebe nicht weiter gedeihen und schaffen sich
so durch zu intensives Einwirken selbst ein zu
ihrem Fortkommen unbrauchbares Substrat.
II.
Nachdem wir uns die Haupttatsachen der
Spezialisation vergegenwärtigt haben, wollen wir
ihre Ursachen diskutieren.
Wir wollen zuerst die Frage berücksichtigen,
ob vielleicht rein pflanzengeographische
Gründe für die Wirtswahl maßgebend seien,
so, daß ein Pilz sich an die Pflanzen angepaßt
hätte, die an seinem ursprünglichen Entstehungs-
ort gerade wuchsen. Es sind wirklich einige
Beispiele bekannt geworden, die für diese Annahme
sprechen. So hat Stäger (1905) vom Mutter-
korn der Gräser eine Spezialform gefunden, die,
soweit die Versuche reichen, nur die beiden wald-
bewohnenden Gramineen Brachypodium sil-
vaticum und Milium effusum befiel, nicht
aber ihre verwandten Wiesenbewohner. Ein
anderes schönes Beispiel hat Ed. Fischer be-
kanntgegeben. Es handelt sich um Uromyces-
caryophyUinus, einen Rostpilz, der seine
Aezidien auf Euphorbia Seguieriana (^ E.
Gerardiana) bildet. Fischer konnte nun dartun,
daß dessen Teleutosporengeneration im Wallis
(Schweiz) in gleicher Weise sowohl Saponaria
ocymoidesals auch Tunica prolifera befällt.
Mit Infektionsmaterial aus dem Großherzogtum
Baden konnte er die Tunica sehr stark, die Silene
aber nur äußerst schwach infizieren. Da die letzte
in Baden nicht vorkommt, liegt hier eine sehr
schöne Kongruenz zwischen Pflanzengeographie
und Wirtswahl vor. Es scheinen dies aber Aus-
nahmefälle zu sein, denn in weitaus den meisten
Untersuchungen zeigt sich, daß die Spezialisation
mit der Verbreitung der Wirtspflanzen nicht
parallel geht. Ich verweise nur auf das Cronartium
asclepiadeum (vgl. die Tabelle), das eine Menge
Pflanzen zu befallen vermag, die in seinem natür-
lichen Verbreitungsgebiet — und dieses ist durch
die Kiefer bedingt — nicht vorkommen.
Lange hat man geglaubt, die Immunität mit
gewissen morphologischen Eigentümlichkeiten
der betreffenden Pflanzen erklären zu können.
Es liegt ja nahe, etwa eine dicke Cuticula oder
Epidermis oder einen dichten Haarbesatz als Schutz-
mittel anzunehmen. Dies mag in einigen Fällen
berechtigt sein, ist aber sicher nicht von großer
oder gar allgemeiner Bedeutung.
Dann hat man vielfach versucht, die Empfäng-
lichkeit mit der systematischenVerwandt-
schaft zu parallelisieren. Man hat dafür wirklich
einige schöne Beispiele gefunden, wovon ich be-
sonders die Puccinia Hieracii anführen will.
Diese Sammelart zerfallt zuerst in zwei Unterarten;
sie weisen geringe morphologische Unterschiede
auf; davon lebt die eine nur auf Euhieracien, die
andere ausschließlich auf der Untergattung der
Piloselloiden. Jede von ihnen zerfällt dann weiter
in eine Anzahl Spezialformen, die auch in recht
weitgehendem Maße der weiteren Aufteilung der
Gattung Hieracium folgen. Als ferneres Beispiel
dieser Art möchte ich die Resultate anführen, die
Schweizer (1919) mit einer Compositen - be-
wohnenden Peronosporee, dem Verursacher der
unter dem Namen „Salatschimmel" bekannten
Krankheit des Salates und vieler anderer Compo-
siten, erhielt. Diese BremiaLactucae zerfällt
in eine Anzahl Spezialformen, wovon jede nur
Vertreter von einer Gattung befällt, nicht aber
auch — soweit wenigstens die eingehenden Ver-
suche reichen — auf Vertreter anderer Gattungen
übergeht.
Meist liegen die Verhältnisse aber so, daß eine
Art, bzw. Spezialform vorzugsweise Ver-
treter einer bestimmten systematischen
Gruppe befällt, daneben aber auch auf einzelne
Vertreter aus verwandten Gruppen übergeht. Je
nach dir Infektionsweite des Pilzes sind diese
Gruppen bald Gattungen, bald Untereinheiten von
solchen. Daß dem so ist, zeigen fast alle mit einer
genügend großen Anzahl Pflanzen ausgeführten
Versuche, so z. B. die von mir mit Trifolien ■ be-
wohnenden Uromyces -Arten eingeleiteten und die
von Steiner mit den Alchemillen-bewohnenden
Formen der SphaerothecaHumuli gemachten
Experimente (Steiner 1908). Wichtig für unsere
Frage ist die Tatsache, daß auch innerhalb
der Hauptnährpflanzengruppe einzelne
Arten unempfänglich sein können. Bei
den sehr eingehend studierten Getreiderosten hat
man sogar gefunden, daß es innerhalb einer
empfänglichen Art, ja, innerhalb einer empfang-
lichen Varietät, Rassen geben kann, die praktisch
immun sind. Es ist dies ein Resultat, das für
die Züchtung widerstandsfähiger Sorten von Kultur-
pflanzen von größter praktischer Bedeutung ist.
Sehen wir also schon in diesen Beispielen, daß
die Empfänglichkeit nur bis zu einem gewissen
Grade mit der systematischen Verwandtschaft
Hand in Hand geht, so zeigt das mehrfach erwähnte
Cronartium asclepiadeum ein Verhalten,
das gleichsam jeden derartigen Parallelisierungs-
versuch verhöhnt. Dieser oft großen Willkür und
Unregelmäßigkeit halber ist es durchaus nicht
ii6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 8
ratsam, umgekehrt für Pflanzen, die von denselben
Parasiten befallen werden, eine systematische Ver-
wandtschaft geltend zu machen, wenn nicht zugleich
auch andere Verhältnisse (morphologische, genetiche
usw.) im gleichen Sinne sprechen.
Wenn wir von der systematischen im Stich
gelassen werden, so haben manche Forscher auf
die chemischeVerwandtschaft hingewiesen
und dies sicher mit viel größerer Berechtigung.
Der Pilz ist ja in höchstem Maße von den Stoffen
der Wirtspflanze abhängig, da sie seine einzige
Nahrungsquelle darstellen.
Wir müssen aber diese Verwandtschaft näher
zu definieren trachten, indem wir das Wesentliche
im komplizierten Chemismus der Pflanze heraus-
suchen. Dies sind nun unzweifelhaft die Ei weiß -
Stoffe, die ja als die eigentlichen Träger der
Lebenserscheinungen anzusehen sind. Obschon
man chemisch von ihnen leider wenig weiß, ist
doch sicher, daß sie große und komplizierte
Moleküle darstellen, und daß infolge der Isomerie
— worauf für unsere Frage besonders Heske
hinweist — eine unübersehbare Anzahl unter sich
wenig verschiedener Eiweiße existieren kann.
Daß sie faktisch existiert, hat die Serodiagnostik
erwiesen, indem sie verschiedene Methoden zur
biologischen Eiweißdifferenzierung gefunden hat.
Diese sind bereits so verfeinert, daß man sogar
Varietäten einer Art in ihren Eiweißen auseinander
halten kann. Daneben existieren aber auch
Methoden, die dazu taugen, große Unterschiede,
wie sie z. B. zwischen Familie und Familie vor-
kommen, nachzuweisen.
Auf den ersten Blick scheinen die Ergebnisse
der Serodiagnostik für unsere Frage keine Be-
deutung haben zu können, denn sie zeigen, daß
die Eiweißverwandtschaft mit der systematischen
parallel zu gehen scheint, und diese haben wir
ja als nicht durchaus maßgebend für die parasitäre
Wirtswahl erkannt. Aber die Verhältnisse liegen
bei weitem nicht so einfach. Vor allem ist zu
bedenken, daß die Eiweißähnhchkeit nicht immer
durch die stammesgeschichtliche — was soviel
heißt, wie systematische — Verwandtschaft bedingt
sein muß. Es können vielmehr auch Konvergenzen
in den Eiweißstoffen systematisch weit auseinander
Stehender Lebewesen möglich sein, ein Punkt, der
auch von den Serodiagnostikern zugegeben wird.
So müßten denn Vincetoxicum officinale,
Nemesiaversicolor,Tropaeolum und alle
die anderenWirtedesCronartium asclepiadeum
unabhängig von ihrer Stammesgeschichte gewisse
Eiweißähnlichkeiten erworben haben. Diese fürs
erste fast unmöglich anmutende Forderung gewinnt
durch die Untersuchungen von Thöni und
Thaysen (1915) bedeutend an Wahrscheinlich-
keit. Sie konnten nämlich dartun, daß ein und
dieselbe Pflanzenart mehrere Eiweiße besitzt. Es
gelang ihnen bei Weizen, Roggen und Gerste eine
ganze Anzahl durch fraktionierte Ausfällung mit
Ammoniumsulfat zu isolieren und ihre Verschie-
denheit dann auf serodiagnostischem Wege dar-
zutun. Diese Forscher weisen selbst darauf hin,
daß man das Problem der parasitischen Pilzwahl
damit in Zusammenhang bringen könne, sind sich
aber bewußt, daß Einwände dagegen zu gewär-
tigen seien. Diese verlieren aber bedeutend an
Kraft, wenn man auch den Einfluß anderer Fak-
toren, auf die ich noch zurückkommen werde,
nicht vergißt.
Daß unter der Zahl der Eiweißstoffe in den
verschiedenen Wirten des Cronartiums asclepiadeum
nun auch gewisse gemeinsame Typen vorkommen
können, erscheint uns schon viel wahrscheinlicher.
In diesem Zusammenhang betrachtet, erscheint es
interessant , daß dieser Rostpilz zwei Wirte mit
einigen ebenfalls mullivoren Coleosporien gemein-
sam hat (Schizanthus Grahami und Tropaeolum
minus). Ferner wird Tropaeolum majus zugleich
von Cronartium und der vielleicht in ihrer Wirts-
wahl noch extremeren Puccinia Isiacae befallen.
Diese hat wiederum sechs Gattungen mit der
vierten multivoren Uredinee, mit Puccinia sub-
nitens, gemeinsam; davon stimmen drei sogar
in den Arten überein (dies nach den Unter-
suchungen von Klebahn, Tranzschel,
Arthur und Bethel zusammengestellt). Es
ist möglich, daß in weiteren Untersuchungen
eine noch größere Übereinstimmung gefunden
wird. Es scheinen demnach nicht nur die ge-
nannten Pilze sehr multivor, sondern ebenso die
betreffenden Pflanzen sehr empfänglich. Dies kann
seinen Grund darin haben, daß gewisse, von
mehreren Pilzen ausnutzbare Eiweißstoffe, immer
wieder auftreten, ohne daß in den befallenen
Pflanzen andere chemische Verbindungen vorkom-
men, die einen Befall durch den Parasiten ver-
hindern. Es wäre höchst wünschenswert — und
Ed. Fischer hat diesen Gedanken schon 1916
(1. c.) geäußert — , daß Serodiagnostik und Myko-
logie zusammenarbeiten , um diese interessante
Frage abzuklären. Dabei dürfte man allerdings
vor den feinsten Methoden, und besonders vor
einem Isolierungsversuch der verschiedenen Ei-
weiße, nicht zurückschrecken.
Aus den bisher gemachten serodiagnostischen
Versuchen ist für unsere Frage noch nicht viel abzu-
leiten. Doch muß ich eine Angabe vonWendelstadt
undFellner(i9ii)erwähnen. Sie konnten nämlich
konstatieren, daß ImpatiensBalsaminea mit
Tropaeolum minus — wenn auch nur schwach
— positiv reagierte. Und sie erklären es als auf-
fallend, daß hier zwei Pflanzen aus verschiedenen
Familien in ihren Eiweißen so nahe übereinstim-
men, daß sie (in ihrer Versuchsdisposition 1) eine
Verwandtschaft anzeigen. Für uns hat dieser
Punkt aber besondere Bedeutung dadurch, daß
die beiden Pflanzen zugleich Wirte des Cronar-
tium asclepiadeum sind.
Wir müssen aber noch auf andere Faktoren
hinweisen, die die Verhältnisse noch unübersicht-
licher gestalten können. Vorerst" haben wir zu
berücksichtigen, daß in der Wirtspflanze noch
sehr viele andere Stoffe als nur Eiweiße vor-
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
117
banden sind, Verbindungen, die unter Umständen
auch von Bedeutung für den Pilz sein können.
So hat V. Kirchner gefunden, daß zwei für
Gelbrost empfängliche Weizensorten einen ge-
ringeren Säure-, dafür aber einen bedeutenderen
Dextrosegehalt aufwiesen als zwei wenig empfäng-
liche. Ähnliches hat er für den Befall durch
Steinbrand dargetan und war schon vor ihm für den
Rebenschädling Peronospora viticola be-
kannt. Er ist geneigt, diesen Verschiedenheiten
die Schuld am Befall oder Nichtbefall zuzuschreiben.
Dabei darf man nicht vergessen, daß solche Re-
servestoffe (und Stofifwechselprodukte) , von Art
zu Art bekanntHch, im Gegensatz zu den Eiweißen,
sowohl in quantitativer als auch in qualitativer
Hinsicht, sehr variabel sein können. Es ist daher
sehr virohl möglich, daß ihnen manche Art inner-
halb der oben erwähnten Hauptnährpflanzengruppe
die Immunität gegenüber einem bestimmten Para-
siten verdankt. Da diese Stoffe bis zu einem ge-
wissen Grad auch von äußeren Einflüssen, z. B.
der Düngung, abhängig sind, könnten indirekt auch
die Infektionsmöglichkeiten der Pilze einigermaßen
beeinflußt werden. Doch hebt v. Kirchner
nachdrücklich hervor, daß die Anfälligkeit (bzw.
Widerstandsfähigkeit) durchaus erbliches IMerkmal
sei. Dies ist natürlich für die Beurteilung der
ganzen Frage von fundamentaler Bedeutung, speziell
auch für die Züchtung widerstandsfähiger Sorten
unserer Kulturpflanzen.
Ein interessantes Beispiel, das auch in diesen
Zusammenhang gehören dürfte, führt Lang an.
Er experimentierte nämlich unter anderen mit
einer für den Gelbrost (Puccinia gluniarum)
nicht empfänglichen Weizensorte. Infizierte er
aber die betreffenden Pflanzen vorher mit dem
Brandpilze Tilletia Tritici, so verloren sie
ihre Immunität gegenüber dem Rostpilz. Lang
nimmt wohl mit Recht an, daß durch das Auf-
lösen des Tilletiamyzels der Chemismus der Weizen-
sorte verändert wurde.
III.
Suchen wir uns zum Schluß noch eine Vor-
stellung über die Vorgänge bei derNahrungs-
aufnahme der parasitischen Pilze zu machen;
denn das Wie der Aufnahme könnte geeignet
sein, auch einige Anhaltspunkte über die Wirts-
wahl selbst zu liefern.
Wir dürfen von vornherein nicht annehmen,
daß die Eiweißsubstanzen der Wirtspflanzen als
solche aufgenommen werden. Wir müssen viel-
mehr annehmen, daß die Pilze Fermente aus-
scheiden, die fähig sind, die komplexen Moleküle
zu zerlegen. Auf diese Fermentwirkung hat neben
anderen Forschern besonders Heske hingewiesen.
Die Teilstücke des Eiweißes müssen jedenfalls so
klein sein, daß sie durch die Haustorienwand des
Parasiten hindurchzutreten vermögen. Erst dann
kann der Pilz sie aufnehmen und in Teile von
sich selbst umwandeln.
Ehrlich^ denkt sich das Eiweißmolekul zu-
sammengesetzt aus einem „Kern" von unbekannter
chemischer Zusammensetzung, an den die sog.
„Seitenketten" gebunden sind. Er stellt sich
darunter gewisse chemische Gruppierungen vor,
die fähig sind, sich mit bestimmten chemischen
Stoffen zu vereinigen. Ist diese Bindung geschehen,
so entstehen im Eiweißmolekül drin Umlage-
rungen, die die aufgenommene Substanz in Teile
des aufnehmenden Organismus selbst umwandeln.
Diese Gedankengänge bilden die Grundlage zu
E h r 1 i c h s berühmter „Seitenkettentheori e",
die in der Immunitätslehre eine so bedeutende
Rolle spielt. Die weiteren Punkte dieser Theorie
können wir für unsere Frage entbehren. Für uns
ist wichtig, daß die Seitenketten des Pilzeiweißes
— gleichsam als Fangarme wirkend — sich mit
den durch die Fermente gebildeten Teilprodukten
des Pflanzeneiweißes, unfd mit anderen geeigneten
Produkten der Pflanzenzelle, verbinden können.
Ja, es erscheint möglich, daß sie diese sogar in-
folge der chemischen Valenz durch die Haustorien-
membran hindurchzuziehen vermögen. Nun sind
drei Fälle denkbar:
1. Die aufgenommene Substanz kann so an
eine Seitenkette gebunden werden, daß sie nach-
her durch intramolekulare Umwandlungen ver-
arbeitbar ist.
2. Sie kann mit einer Seitenkette eine so feste
Bindung eingehen, daß sich dieser intramolekulare
Umbau nicht mehr zu vollziehen vermag. Abge-
sehen davon, daß der aufgenommene Teil so für
den Pilz nutzlos wird, ist für ihn auch ein „Fang-
arm" verloren, da die Seitenkette durch die feste
Bindung gleichsam lahmgelegt wird.
3. Und schließlich ist auch der Fall denkbar,
daß ein aufgenommener Stoff zu den Seitenketten
des Pilzeiweißes gar keine Affinität besitzt (wenn
in diesem Fall überhaupt eine Aufnahme erfolgt).
Weil nun sowohl bei den Eiweißstoffen der
Wirtspflanzen als auch bei denjenigen der Pilze
eine große Mannigfaltigkeit möglich ist, und weil
auch eine große Anzahl von Fermenten in Be-
tracht kommen kann, verwundert uns die große
Vielgestahigkeit in der Wirtswahl durchaus nicht.
Daß die.«e aber in den weitaus meisten Fällen mit
der systematischen Verwandtschaft der Wirte
Hand in Hand geht, wird verständlich durch die
damit mehr oder weniger parallel gehende Ei-
weißverwandtschaft.
Die Unempfänglichkeit könnte nach dieser
Hypothese ihren Grund in einer Lahmlegung der
Seitenketten haben, wenn nicht schon die Fer-
mente des Pilzes ungeeignet waren zum Auflösen
des betreffenden pflanzlichen Eiweißes. Die Uber-
empfänglichkeit dagegen ist wohl am einfachsten
als zu heftiges Einwirken der Fermente erklärbar,
da man ja ein Absterben der Wirtspflanzenzellen
konstatiert.
Eine geringe Änderung im Chemismus des
Pilzes — sei sie nun durch Mutation oder
sonstwie entstanden — hätte sogleich eine Ände-
rung in der Wirtswahl zur Folge, also die Bildung
ii8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
N. F. XX. Nr. 8
einer neuen Spezialform. Von dieser aus ist der
Schritt zu einer neuen morphologischen Art kein
großer und kaum mehr prinzipieller Natur. Man
weiß im Grund nie, ob bei den „biologischen
Arten" nicht doch geringe, mit den derzeitigen
Hilfsmitteln nicht beobachtbare morphologische
Unterschiede vorhanden sind, und die Übergänge
zu „guten Arten" sind ja allmähliche.
Überblicken wir noch einmal unser Problem,
so erscheint es uns als sehr wahrscheinlich,
daß die Wirtswahl in erster Linie ab-
hängig ist von den Eiweißsubstanzen
der Wirtspflanzen. Da aber ein und
dasselbe Lebewesen verschiedene Ei-
weißkörper besitzt, und da ebenfalls
Stoffwechselprodukte und Reserve-
stoffe, sowie morphologische Eigen-
tümlichkeiten von Einfluß sein können
und indem auch verschiedene Fermente
entscheidend einwirken werden, treten
in der Wirtswahl eines Parasiten viele
Unregelmäßigkeiten auf, so daß sie
nicht durchaus mit der systematischen
Verwandtschaft der Wirtspflanzen par-
allel geht. Mit H.lfe der Ehrlichschen
Seitenkettentheorie kann man sich einigermaßen
eine Vorstellung von den komplizierten Wechsel-
beziehungen machen. Möge bald die Eiweiß-
chemie die Hindernisse, die einen tieferen Einblick
in diese Fragen verwehren, überwinden. Dann
wird man für unser Problem, und auch für die sich
eng anschließende Frage der Bildung neuer Formen
im Pflanzenreich, auf besserer Grundlage stehen.
Literatur.
Für die Literatur über die Rostpilze verweise ich auf die
alljährlichen Zusammenstellungen von Ed. Fischer (Fischer,
Ed., Publikationen über die Biologie der Uridineen, Zeitscbr.
f. Botanik).
1. V. Büren, G. , Die schweizerischen Protomycetaceen
mit besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungsgeschichte
und Biologie. (Beilr. zur Kryplogamenflora d. Schweiz V, I,
1915)-
2. Eberhardt, R., Contiibutions a l'etude de Cystopus
candidus (Centralblatt f. Bakteriologie usw. 2. Abt XII
1904.)
3. Fischer, Ed., Der Speziesbegrifif und die Frage der
Speziesentstehung bei parasitischen Pilzen. (Verhandl. Schweiz.
Naturf. Ges. 98. Jahresvers. Schuls 1916, II. Teil).
4. Gäumann, E., Über die Formen der Peronospora
parasitica. (Beih. z. Bot. Centralbl. XXXV, Abt. I, 1918.)
5. Hasler, R., Beitr. z. Kenntn. d. Crepis- u. Centaurea-
Puccmien vom Typus d. P. Hieracii. (Centralbl. f. Bakterio-
logie usw. Abt. 11, 48, 191S).
6. Kobel, F., Zur Biologie der Trifolien-bewohnenden
Uromyces-Arten. (Ibidem 52, 1920).
7 Schweizer, J., Untersuchungen am Salatschimmel,
Bremia Lactucae Regel. (Verh. d. thurgauisch. naturf. Ges.
Hefl 23, 1919).
8. S tag er, R., Verschiedene Publikationen in Bot. Zei-
tung 51, 1003, Centralbl. f. Bakteriologie II. Abt. 14, 190?:
17, 1907; 20, 1908; 27, 1910.
9. S t a k m a n , E. C, Relation between Puccinia graminis
and plants highly resistant to its attack. (Journ. of Agric.
Res. Vol. 44, 1915).
10. Steiner, R. , Die Spezialisation der Alchimillen-
bewohnenden Sphaerotheca Humuli. (Centralbl. f. Bakterio-
logie usw. 21, J908).
11. Thöni und Thaysen, Zeitschr. f. Immunitätsf. I,
23, 1915, S. 82—107, vgl. besonders S. 106.
12. Wendelstadt undFellmer, ibidem 8, 1911.
S- 43—57-
Die Birotationstheorie.
[Nachdruck verboten.] Von Hans Passarge
Die neue Theorie der Schwerkraft, deren
Grundzüge hier kurz entwickelt werden sollen,
hat ihren Ursprung in erkenntniskritischen Er-
wägungen zur theoretischen Mechanik. Sie stellt
im Sinne der Mechanik von Heinrich Hertz
einen Versuch dar, die unter dem Einfluß der
Gravitation verlaufenden gleichförmig beschleu-
nigten Bewegungen auf rein gleichförmige, nur
dem Trägheitsprinzig unterliegende Bewegungen
zurückzuführen oder mit anderen Worten, eine
mechanische Erklärung für Ursprung und Wesen
der Gravitation zu liefern. ^)
Nach der klassischen Mechanik Newtons ist
jede Masse Ursache einer Beschleunigung, ohne
daß aber der Begriff „Masse" über seine mathe-
matische Richtigkeit und Anwendbarkeit hinaus
definiert wird. In dieser Gestalt erfordert der auf die
Mechanik der Himmelskörper angewandte Begriff
„Masse" eindeutig die Annahme, daß den Himmels-
körpern eine verschiedene mittlere Dichte eigen-
') Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, in
neuem Zusammenhang dargestellt. Leipzig 1894.
(Königsberg i. Pr.).
tümlich ist, eine Annahme, die sich nicht ohne
weiteres mit sehr bestimmten Ergebnissen der
Astrophy.sik in Übereinstimmung bringen läßt.
Eine unbefangene Überlegung, d. h. eine solche,
der der Begriff „Masse" im Sinne Newtons nicht
vertraut ist, würde viel eher auf die Annahme
verfallen, daß die mittlere Dichte aller Himmels-
körper die gleiche ist, und eine Theorie der
Gravitation, die zu einem solchen Ergebnis führen
würde, würde den geschulten Astronomen und
Physiker zwar befremden, eine Überlegung aber
befriedigen, die sich ohne Kenntnis des Gravitations-
gesetzes, aber mit Kenntnis der Ergebnisse der
Spekt^o^kopie zum ersten Mal der Frage gegenüber-
sähe, welche Dichte den einzelnen Himmelskörpern
eigentümlich ist. Der Begriff einer unterschied-
lichen Dichte ist uns nur von den irdischen Stoffen
her unmittelbar geläufig, denn ohne weiteres und
logisch widerspruchslos führen wir bei zwei ihrem
Volumen nach gleichen, ihrem Gewicht nach aber
verschiedenen Körpern den Gewichtsunterschied
auf die verschiedene Dichte zurück. Die Frage
läßt sich aber nicht abweisen: ob es logisch zu-
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
119
lässig ist, den Himmelskörpern einen Dichteunter-
schied im gleichen Sinne beizulegen, wie den
irdischen Körpern, die wir greifen und wägen
können. Der Zweifel gründet sich vornehmlich
darauf, daß die Ergebnisse der Spektralanalyse
selbstleuchtender Himmelskörper eine sehr weit-
gehende Übereinstimmung der sie zusammen-
setzenden Stoffe ausweisen. Läßt man daraufhin
die heuristische Hypothese zu, daß alle Himmels-
körper, von denen eine Attraktionswirkung ausgeht,
von gleicher mittlerer Dichte sind, so gerät man
sofort mit dem Gravitationsgesetz in Widerspruch,
von dem nur die weitere Hypothese befreien kann,
daß zwar ein gewisser Teil des Himmelskörpers
inbezug auf seine Dichtigkeit dem Zustand ent-
spricht, der aus dem Gravitationsgesetz abgeleitet
werden muß, daß aber seine weitaus größere Masse
von gleicher Dichte wie die mittlere Dichte der
Erde ist. Eine solche Hypothese ist deshalb logisch
zulässig, weil es sich bei den Werten, die wir für
die Masse und Dichte der einzelnen Himmels-
körper kennen, immer nur um relative Werte
handelt.
Auf dieser Hypothese also fußt die Birotations-
theorie, indem sie, zunächst nur in Anwendung
auf die zum Sonnensystem gehörigen Himmels-
körper, voraussetzt, daß nur die äußeren Erstar-
rungs- oder Abkühlungsrinden der Planeten und
der Sonne in ihrem Dichtigkeitsverhältnis den aus
dem Gravitationsgesetz abgeleiteten verschiedenen
Werten entsprechen, daß aber der ganze innere
Kern bei allen von gleicher mittlerer Dichte ist.
Unter solcher Voraussetzung würde sich wegen
des unterschiedlichen Trägheitsmoments von Rinde
und Kern die Rotation eines Planeten unter ver-
schiedenen Bedingungen vollziehen, und es wäre
die weitere Annahme zulässig, daß die Rotation,
die wirklich beobachtet wird, nicht die ursprüng-
liche Rotation, des Planeten ist, sondern — im
Rahmen der über unbegrenzte Zeitfristen sich
erstreckenden kosmischen Entwicklung — ein
posthumer Bewegungszustand nur der Planeten-
rinde, während das ganze Innere um eine anders
gerichtete innere Achse in entgegengesetzter
Richtung rotiert. Einen äußeren Anhalt für eine
solche Annahme bieten die Eigenbewegungen der
Gebilde auf der Oberfläche von Saturn, Jupiter und
Sonne, aber es bietet sich eine schwache Analogie
auch auf der Erde selbst, wenn man sich der Ent-
stehung der äquatorialen Meeresströmungen und
der Passatwinde erinnert. Beschränken wir zu-
nächst die Betrachtung allein auf den Planeten
^ Erde, so gewinnen wir folgendes Bild: Die
ganze Erdrinde, Lithosphäre und Atmosphäre
als eine Einheit genommen, rotiert von Westen
nach Osten im Ablauf eines Sterntages einmal
um die Hauptträgheitsachse; diese Rotation ist ein
Folgevorgang der hypothetischen Rotation des
ganzen Erdinnern von Osten nach Westen, die in
kosmischer Vorzeit die einzige und ursprüngliche
Rotation der Urerde war, heute aber noch als
Innenrotation fortdauert. Aus beiden Rotationen
resultieren „Fliehkräfte", und aus Gründen, die
wohl in der atomistischen Struktur der Materie zu
suchen sind, stehen alle der Erde zugehörigen
Körper unter der Einwirkung beider „Fliehkräfte",
die wir uns aber nicht als Fliehkräfte im gewöhn-
lichen Gebrauch des Wortes vorzustellen haben,
sondern als Lageverrückungen unter dem Ein-
fluß gleichförmiger Bewegungen. Die so beein-
flußten Körper nehmen dann den Weg, der sich
als Resultierende eines Wegeparallelogramms ergibt,
und die Resultierende selbst ist nach Richtung
und Strecke der freie Fall. Ist dies alles richtig,
dann muß sich nachweisen lassen, daß die von
einem freifallenden Körper in einer Sekunde, unter
der Annahme, seine Bewegung erfolge mit gleich-
förmiger Geschwindigkeit, zurückgelegte Strecke
abzuleiten ist aus den gleichförmigen Bewegungen,
die die beiden Rotationen, weil allein dem Trägheits-
prinzip gemäß verlaufend, darstellen. Man kann
aber die Fallstrecke als mit der halben End-
geschwindigkeit in gleichförmiger Bewegung
zurückgelegt ansehen und also schreiben:
I 2 ?r (r — e)
I) -y- — T —
wenn / in m/sec'^ die Schwerebeschleunigung, r den
ganzen Radius der Erde, q den Radius der inneren
Erdkugel und T in Sekunden die Frist eines
Sterntages bezeichnen. Die Gleichung ist rein
geometrisch und homogen, weil auf beiden Seiten
beschleunigungslose Bewegung ausgedrückt ist,
nachdem man den Wert für die beobachtete
Schwerebeschleunigung g so auf y reduziert hat,
daß er der Länge eines Sternzeit Sekundenpendels
entspricht. Indem wir so verfahren, schalten wir,
ganz im Sinne der Hertz sehen Mechanik, den
Begriff „Kraft" aus der Überlegung aus und führen
jede Bewegung, die man sich gewöhnlich als unter
dem Einfluß von Kräften verlaufend vorstellt, auf
eine Bewegung zurück, die nur unter dem Träg-
heitsprinzip verläuft. Das berechtigt oder vielmehr
zwingt zu einer geometrischen Behandlung des
Problems. Dann entspricht, wenn man dem Radius
der Erde r den Wert i gibt, die Länge des In-
nenradius q bezogen auf die Erdoberfläche, der
Länge eines Sternzeit- Sekundenpendels L, und
es ist:
— = — oder o = rL.
r I ^
2)
Setzt man diesen Wert für q in Gleichung i) ein,
so erhält man, da y = sr-L, als Wert für die Länge
des mittleren Erdradius:
1) r = — TT T j-
•" 4 I — L
Die Ausrechnung ergibt in Übereinstimmung
mit den geodätischen Messungen für r^^ den Wert
6 367 331m. Für q ergibt sich der Wert 6 300 370 m,
und der Abstand x—q, also die Mächtigkeit der
Lithosphäre, ist dann 66961 m, in Übereinstim-
mung mit der Rechnung nach geothermischen
Tiefenstufen, denen zufolge in einer Tiefe von
120
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 8
rund 6; km unter der Erdoberfläche alle auf ihr
bekannten Stoffe schmelzflüssig sein müssen. Die
Masse der Erde muß nun nach der Birotations-
theorie definiert werden nicht als Masse des ganzen
Erdballes, sondern als Produkt des Rauminhalts
der Lithosphäre in die mittlere Dichtigkeit der
die Lithospäre zusammensetzenden Stoffe. Diese
Dichtigkeit hat nach den Ergebnissen der Geo-
logie und der Geophysik den runden Wert 2,6;
dem Rauminhalt der Lithosphäre entspricht der
Ausdruck (i — L)". Das Resultat muß, wenn die
Birotationstheorie richtig ist, das gleiche sein wie
das aus der allgemeinen Gravitation abgeleitete
Ergebnis für die Masse der ganzen Erde. In der
Tat ist (i— L)3 ■ 2,6—1 : 330593. Wir dürfen
also sagen: Der aus der Birotationstheorie abge-
leitete Wert für die Masse der Lithosphäre ist,
bei nicht ganz sicherem Wert für ihre mittlere
Dichte, identisch mit dem auf Grund der allge-
meinen Gravitation abgeleiteten Wert für die Masse
der ganzen Erde. Der Wert für L ist 0.9894836 m,
Log (i—L) = 0,0218671 —2. Auf welche geo-
graphische Breite bei vorstehenden Ausrechnungen
die Länge des Sekundenpendels zu beziehen ist,
muß zunächst außer Betracht bleiben, um die
weitere Darstellung der Theorie nicht zu ver-
zögern und zu Beweisen zu gelangen, die noch
eindringlicher für sich selbst sprechen.
Wir übertragen die Birotationstheorie auf die
Bewegung des Systems Erde -Mond. Da beide
Himmelskörper gemäß unserer Hypothese von
gleicher Dichte sein sollen, berechnet sich die
Lage des Schwerpunktes des Systems nicht aus
den „Massen", sondern aus den Volumina. Be-
deutet R den Abstand des Mondes vom Schwer-
punkt des Systems, und P den Abstand des Erd-
mittelpunktes vom Schwerpunkt des Systems, ist
also R -f P der aus der Mondparallaxe berechnete
Abstand Erde Mond, und V: i das Volumenver-
hältnis Erde : Mond, dann liegt der Schwerpunkt
des Systems außerhalb der Erde, 1317000 m von
der Oberfläche entfernt, und es muß, wenn die
Theorie richtig ist, der Wert für die Schwerkraft
des Mondes sich aus seiner Bewegung um den
Schwerpunkt des Systems ableiten lassen. Wir
können aber auch einfacher verfahren, indem wir
Erde und Mond als nur einen Himmelskörper
auffassen und auf eine solche fiktive räumliche
Einheit die Birotationstheorie unmittelbar wie auf
die Erde allein anwenden. Dann haben wir in
Gleichung 2) r durch R zu ersetzen, und es ist
der Quotient q:R gleich der Länge des Sekunden-
pendels für den Mond, ein Wert, der mit tt-
multipliziert, die Schwerkraft des Mondes im Ver-
hältnis zur Schwerkraft der Erde ergeben muß.
Ist also die mittlere Entfernung Erde Mond aus
der Parallaxe zu 38442OGOO m bestimmt, so
findet man, wenn V: 1=49,504 das Volumen-
verhältnis ausdrückt, nach den obigen Angaben
R = 376 808 300 m und P =761 1673 m. Dann
ist ?7:2j5 R-i = 0,165 S die Schwerkraft des Mondes,
ein Resultat, das mit den besten Bestimmungen
der „Masse" des Mondes, insbesondere mit der
Bestimmung von Hinks aus Störungen in der
Bahn des kleinen Planeten Eros, vollkommen über-
einstimmt. Die gleiche Auffassung, nämlich die
Auffassung des Systems Erde-Mond als einer Ein-
heit, führt aber auch zu den Relationen
4)
„ 2 TT R dm
g T t
5)
2 TT P V^
vi7orin g in mjsec'^ die Schwerebeschleunigung der
Erde, R, P und V wie oben angegeben, dm ein
unendlich kleines Massenteilchen, T einen mittleren
Sonnentag in Sekunden und t die Frist einer
synodischen Lunation in mittleren Sonnentagen
bedeuten.
In Wahrheit sind Erde und Mond ein Doppel-
stern. Die Zusammenordnung zweier oder mehrerer
Himmelskörper zu Systemen von Doppelsternen
oder mehrfachen Sternen sind wir vielleicht be-
rechtigt, als eine allgemeine Regel im Aufbau des
Kosmos zu verstehen, i) Das Verhältnis zweier
gleich schwerer, durch eine gewichtslose Stange
verbundener Körper a und b und ihre gleichförmige
Bewegung um den in der Mitte ihres Abstandes
gelegenen gemeinsamen Schwerpunkt können wir
uns in der Weise veränderlich denken, daß a an
Größe stetig bis zur Größe A zunimmt und b
stetig bis zur verschwindend kleinen Größe ß ab-
nimmt; dann rückt der Schwerpunkt immer mehr
nach der Seite des zunehmenden Körpers, während
auf beiden Seiten die Bewegungsenergie gleich
bleibt. Setzen wir dann die Veränderung soweit
fort, daß b zu /J und a zu A, d. h. daß die Größe
b verschwindend klein gegen A und demgemäß
der Abstand des Körperchens ß vom Schwerpunkt
des Systems unendlich groß wird gegen den Ab-
stand des Körpers A vom Schwerpunkt des Systems,
so daß wir also keinen Fehler mehr machen, wenn
wir den Schwerpunkt des Systems mit dem
Schwer- und Mittelpunkt des Körpers A zusammen-
fallen lassen, dann ist ein so entstanden gedachtes
und bewegt vorgestelltes System mit der Zentral-
bewegung eines Körpers von kleinstem Gewicht
um einen festen Punkt identisch, und wir stehen
ganz unter dem Emdruck, als ob von dem festen
Punkt eine „Kraft" ausgeht, die das Körperchen ß
nach einem Zentrum, nämlich nach A hinzieht.
Übertragen wir nun diese Betrachtungsweise auf
ein fingiertes isoliertes System Sonne Erde, so
dürfen wir nach Analogie mit den Relationen 4)
und 5) schreiben :
4)' r3^27tRfi
r« =
T t
2 TT ff V
T t
Hierin bedeutet /'die zunächst nachStrecke/sec-
') W. Trabert, Kosmische Physik. Leipzig 191 1,
S. 196.
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
121
noch unbekannte Anziehungskraft der Sonne an
ihrer Oberfläche, R den Abstand der Erde vom
Schwerpunkt des Systems Sonne-Erde, /< die Masse
der Erde, a den verschwindend kleinen Abstand
des Sonnenmittelpunktes vom Schwerpunkt des
Systems , V = i ^ das Volumen der Sonne,
T in Sekunden einen mittleren Sonnentag, t in
mittleren Sonnentagen die Frist eines Jahres-
umlaufes der Erde. Multipliziert man 4)' und 5)'
miteinander und gibt zugleich der verschwindend
kleinen Strecke 0 den Wert i m, dann muß auch
auf der linken Seite F in Metern ausgedrückt
werden und man erhält, wenn G diese in m/sec"
ausgedrückte Schwerkraft der Sonne ist:
6) G«=^f;^.
Die Ausrechnung mit den Zahlenwerten der
einzelnen Größen bestätigt die Richtigkeit, und
die Auflösung der Gleichung nach R ergibt für
die Berechnung die astronomische Einheit:
worin k die Gaus sehe Sonnenkonstante ist. Die
Gleichung enthält aber auch das dritte Keplersche
Gesetz :
R«
,, = const.
und sie bestätigt damit die Richtigkeit der Biro-
tationstheorie, deren Voraussetzung es eben war,
daß alle Himmelskörper, von denen eine Attraktions-
wirkung im Sinne des Newton sehen Gravitations-
gesetzes ausgeht, von gleicher Dichte sind.
Einzelberichte.
Der positive Spitzenstrom.
Die elektrische Entladung zwischen einer Spitze
und einer Platte als Elektroden erfolgt in Gasen
in Form des sogenannten Spitzenstroms. Ist die
Spitze Kathode, d. h. negative Elektrode, so ist
selbst bei Atmosphärendruck die selbständige Ent-
ladung ein Glimmstrom mit den charakteristischen
Kathodenlichtschichten. Auch bei positiver Spitze
kann sich ein Glimmstrom ausbilden; nur zeigen
sich dann die leuchtenden Kathodenschichten an
der negativen Plattenelektrode. Unter besonderen
Bedingungen (großer Elektrodenabstand, geringe
Stromstärke und nicht zu niedriger Gasdruck) kann
aber bei einer Spitzenanode eine ganz andere
Entladungsform auftreten, wobei die Plattenkathode
ganz dunkel bleibt und sich nur an der positiven
Spitze ein Lichtbündel zeigt. Diese ganz andere
Art der Entladung wurde von Johannes Stark der
, .positive Spitzenstrom" genannt. Durch Erhöhung
der Stromstärke geht der positive Spitzenstrom
leicht in die gewöhnliche Glimmstromentladung
über; an der vorher dunklen Kathodenplatte treten
dann die Glimmstromkathodenschichten auf und
gleichzeitig sinkt der Spannungsabfall an der
Spitzenanode von einigen hundert Volt auf den
kleinen Wert des Glimmstromanodenabfalls.
Auf Veranlassung von J. Stark untersuchte
MaxWeth') die Leuchterscheinungen des posi-
tiven Spitzenstromes spektrographisch. Um ein
helles großes Anodenlichtbüschel zu erzielen,
erzeugte Weth den positiven Spitzenstrom in
Wasserstoff von nur einigen Millimetern Gasdruck.
Er fand, daß bei geringem Druck die Anode
durchaus nicht eine scharfe Spitze zu sein braucht.
Weth benützte zur Erzielung großer Lichtstärke
als Anode einen Messingstift von 1,5 bis 5 mm
Durchmesser, der bis an sein Ende in eine Glas-
') Ann. d. Phys. Bd. 62, S. 58g — 602, 1920.
röhre eingeschmolzen und mit dieser zusammen
glatt abgeschliffen war. Trotzdem war an der
kleinen ebenen Anodenfläche der Spannungsabfall
zur Ausbildung eines positiven Lichtbüschels hin-
reichend. Als Entladungsgefäß diente ein Liter-
kolben mit Quarzfenster. Der beschriebenen
Anode gegenüber war das untere Drittel des Glas-
kolbens innen versilbert und bildete die Kathode.
Als Stromquelle diente eine Hochspannungs-
dynamomaschine von 35CO Volt, von der beliebige
Spannungen abgenommen werden konnten.
In Wasserstoff von 2 mm Druck zeigte der
positive Spitzenstrom folgendes Aussehen: die
ebene Endfläche der Drahtanode ist von einer
dünnen, weißblauen und ziemlich hellen Lichthaut
überzogen; dann folgt eine viel dunklere 0,3 mm
dicke Schicht. Auf dieser sitzt ein weißlicher
Kegel, der ganz allmählich in einen braunrötlichen
Lichtpinsel von etwa 12 mm Länge übergeht und
dann im Gasraum erlischt. Bei ganz niedrigen
Drucken wird das Lichtbüschel zwar bis 25 mm
lang, aber auch äußerst lichtschwach ; unter 1 mm
Gasdruck ist der Spitzenstrom nur noch schwierig
zu erhalten.
Diese beobachteten Leuchterscheinungen
stimmen völlig mit der von Stark aufgestellten
Theorie des positiven Spitzenstroms überein. Infolge
der kleinen Oberfläche der positiven Elektrode
konzentriert sich der Potentialabfall an dieser;
daher strömen auf die Anode aus dem Gasraum
mit wachsender Geschwindigkeit negative Ionen
und vor allem Elektronen. Die Elektronen treffen
schließlich mit einigen hundert Volt Geschwindig-
keit auf das Anodenmetall und werden reflektiert
oder lösen sekundäre Kathodenstrahlen aus. Daher
herrscht an der Anode durch den dichten Elektronen-
schwarm der verschiedensten Geschwindigkeiten
eine lebhafte Oberflächenionisation; durch Elek-
tronenstoß wird unmittelbar an der Anode das
Gas stark ionisiert und die hier entstehenden
122
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 8
Atom- und Molekülionen emittieren bei ihrer
Bildung Licht, das uns in der sehr hellen weiß-
blauen Anodenlichthaut entgegentritt.
Aus diesem Gebiet stärkster Ionisation unmittel-
bar an der Anode werden die positiven Ionen
abgestoßen und laufen mit zunächst wachsender
Geschwindigkeit in den Gasraum. In nächster
Nähe der Anode ist aber die Geschwindigkeit der
positiven Ionen noch zu gering, um beim Zusammen-
stoß mit Gasmolekeln ionisierend oder licht-
erregend zu wirken. Wir haben hier die auf die
Anodenlichthaut folgende viel dunklere Schicht
vor uns, welche — wie oben erwähnt — in Wasser-
stoff von 2 mm Gasdruck 03 mm dick ist. Am
Ende dieses „Dunkelraumes" ist aber die Ge-
schwindigkeit der positiven Ionen so groß geworden,
daß sie die lonisierungsarbeit beim Zusammenstoß
mit Gasmolekeln leisten können.
Auf den Dunkelraum folgt also eine zweite
Zone lebhafter Ionisation und Lichterregung durch
den Stoß der raschen positiven Ionen. Dies ist
das Gebiet des mit dem Auge sichtbaren weiß-
lichen Lichtkegels und des Lichtpinsels. In dem
dichten Gas verlieren allmählich die positiven
Ionen durch Zusammenstöße mit Gasmolekeln
und durch lonisierungsarbeit an Geschwindigkeit
und können diese auch nicht mehr zurückgewinnen,
da in größerer Entfernung von der Spitzenanode
das elektrische Feld immer schwächer wird. Die
positiven Ionen laufen dann langsam auf die Platten-
kathode zu, wo sie neutralisiert werden. Auf dem
letzten Teil ihres Weges können sie wegen ihrer
geringen Geschwindigkeit weder Ionisation noch
Leuchten hervorrufen und erleiden daher auch
keine Umladungen mehr.
Großes Interesse bietet die spektrographische
Untersuchung des positiven Spitzenstroms. Nach
Starks Theorie werden von der Spitzenanode
positive Ionen in den Gasraum hinausgestoßen
und bewirken die Bildung des positiven Licht-
büschels. Wenn dieses wirklich von schnellen
leuchtenden Ionen (= Kanalstrahlen) hervorgerufen
wird, so stellen diese eine rasch bewegte Licht-
quelle dar und die Spektrallinien der Wasserstoff-
ionen müssen nach Dopplers Prinzip eine Ver-
schiebung der Wellenlänge aufweisen. Wirklich
beobachtete Weth bei den Linien Hß und Hy des
des Balm er sehen Serienspektrums eine Ver-
schiebung um 3 Angströmeinheiten (== AE), ^)
was einer Geschwindigkeit der leuchtenden Wasser-
stoffteilchen im Lichtpinsel des positiven Büschel-
lichts von i8o-Volt entspricht. Da im Lichtpinsel
auch ganz langsame Teilchen leuchten und da
nach Dempster neutrale Kanalstrahlenteilchen
unter 50 Volt Geschwindigkeit nicht mehr leuchten,
so zieht Weth den wichtigen Schluß, daß es nur
die positiv geladenen Wasserstoffteilchen sind,
welche Licht aussenden. Dies entspricht Starks
Hypothese, daß das Balm ersehe Serienspektrum
') I AE == 0,000000 1 mm.
vom positiven Wasserstoffatom emittiert wird,
während nach Bohrs erfolgreicher Theorie die
Balmerlinien vom neutralen Wasserstoffatom
stammen sollen. Immerhin ist durch Unter-
suchung des positiven Büschellichts BohrsTheorie
wohl nicht entscheidend zu widerlegen, da durch
den hohen Gasdruck im positiven Spitzenstrom
die Möglichkeit der Neutralisierung und Umladung
der Ionen nicht mit völliger Sicherheit aus-
geschlossen werden kann.
Das Bandenspektrum des Wasserstoffs fand
Weth am stärksten in der Nähe der Spitzenanode.
Es i^t bekannt, daß es vorzugsweise von langsamen
Elektronenstrahlen angeregt wird und solche haben
wir ja auch nach Starks Theorie des positiven
Spitzenstroms in erheblicher Dichte an der Anoden-
oberfläche anzunehmen. Das Bandenspektrum
des Wasserstoffs ist nach Stark dem positiven
Molekülion Ho+ zuzuschreiben und auch Bohr
teilt es wegen seiner KompHziertheit dem Wasser-
stoffmolekül zu.
Auch das von Stark auf Grund theoretischer
Erwägungen entdeckte kontinuierliche Wasserstoff-
spektrum ist im positiven Büschellicht in erheblicher
Stärke vorhanden. Während sich Elektronen an
positive Atom- oder Molekülionen anlagern, gehen
diese aus dem stabilen Zustand des Ions kontinu-
ierlich in den ebenfalls stabilen neutralen Zustand
über. Deshalb müssen sich die Spektrallinien
ebenfalls kontinuierlich ändern und während sich
das Elektron auf einer Spiralbahn dem Ion all-
mählich nähert, werden die emittierten Spektral-
linien einen gewissen Wellenlängenbereich über-
streichen. Für Auge und Spektrograph, welche
über die verschiedenen Übergangsphasen und
über die Emission vieler einzelner Lichtquellen
integrieren, entsteht so ein kontinuierliches
Spektrum. „Seinen Träger, das im Übergang vom
positiven zum neutralen Zustand begriffene Atom
oder Molekül bezeichnet Stark als Quantenpaar."
Beim positiven Büschellicht haben wir in der Nähe
der Anode auch langsame Elektronen, die keine
vollständige Ionisation bewirken können. Diese
lagern sich an positive Ionen an und die so ge-
bildeten Quantenpaare erklären das Auftreten des
kontinuierlichen Wasserstoffspektrums an der Anode
des positiven* Spitzenstroms.
Die spektrographische Untersuchung des
Büschellichts durch Weth hat also ergeben, daß
die Balm ersehen Serienlinien des Wasserstoff-
spektrums, Starks Anschauung entsprechend,
möglicherweise vom positiven Wasserstoffatom
stammen; das Auftreten des kontinuierlichen und
des Bandenspektrums des Wasserstoffs, das nach
der Theorie zu erwarten war, ist tatsächlich fest-
gestellt worden. Schließlich ist die Theorie des
positiven Spitzenstroms von Stark durch die
Auffindung des Dopplereffekts am Büschellicht
glänzend bestätigt worden.
Karl Kuhn.
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
123
Restitution des Auges uaoh Exstirpation TOn
Retina und Linse bei Tritonen.*)
Weitere Prüfung der Frage, inwieweit das Vor-
handensein von Netzhautzellen notwendig sei für
das Zustandekommen der Linsenneubildung aus
der oberen Iris (vgl. Naturw. Wochenschr. 1920,
Nr. 31, S. 492), führte HorstWachs zu folgen-
den wiederum sehr beachtenswerten Versuchen
und Ergebnissen. Es wurden aus dem Auge
gleichzeitig Linse, Glaskörper und Netzhaut ent-
fernt und zwar durch Herausdrücken dieser Teile
aus einer an der Schläfenwand des Augenfelds ge-
setzten Öffnung an den mit Y2 P^oz. Chloreton-
lösung betäubten Tieren. Hierauf bildet sich die
Netzhaut und die Linse neu, und zwar letztere —
wie nach den früheren Ermittlungen des Verf zu
erwarten — erst nachdem bereits die neue Reiina
den Hohlraum austapeziert hat, wobei jedoch deren
Zellenmaterial noch nicht die Ausbildung der
Stäbchen- und Zapfenzellen erreicht zu haben
braucht. Material zur Neubildung der Netzhaut
wird vom Wundrande im Umkreise der ganzen
Iris geliefert, wo bekanntlich in der Grenzzone
zwischen Netzhaut und innerem Irisblatt die
normale Zuwachszone der Netzhaut liegt, außerdem
erhält die Anlage der neuen Netzhaut Zuwachs
von dem stehengebliebenen Figmentepithel oder
Außenblatt der Netzhaut aus. Dieser Zuwachs
erfolgt möglicherweise innerhalb breiter Berüh-
rungsflächen, sicherlich aber findet eine Zellabgabe
statt an deutlichen Umschlagsstellen des Tapetums
in das Material der neuen Netzhaut hinein. Mit
letzterem ist gemeint, das Tapetum ringsum er-
hebt sich hier und da zu Falten, deren Scheitel-
kante zu Netzhaut wird und sich mit den übrigen
Netzhautregeneraten im Auge vereinigt unter Ab-
schnürung von dem gleichzeitig sich wieder zu-
sammenschließenden Tapetum nigrum. — Die
Neubildung der Lmse erfolgt in der bekannten
Weise von der oberen Iris aus. — An der Um-
bildung von Tapetumzellen in Netzhautzellen ist
besonders beachtenswert, daß hierzu keineswegs
etwaige Reservezellen verwendet werden, denn
solche sind gar nicht vorhanden, sondern die
pigmenthaltigen Zellen des Tapetums entledigen
sich ihres Pigments durch Ausstoßung, werden
also „entdifferenziert" — nicht rückdifferenziert
— treten in rege Zellvermehrung ein und liefern
so das Material für oben besagten Zweck. ■') So
vollziehen sich im Grunde des Augapfels Vor-
gänge, die durchaus an die bei der Linsenneubil-
') H. Wachs, Restitution des Auges nach Exstirpation
von Rilina und Linse bei Tritonen. Zweiter Teil. Archiv f.
Entwicklungsmech., Bd. XLVI, Heft 2 und 3, 1920, S. 328
— 389 7 Tafeln.
''] Noch 1916 schrieb Barfurth, gemäß dem damaligen
Stande der Forschung, in ,, Regeneration und Transplantation,
Rückblick auf die Ergebnisse 25Jähriger Forschung" (Anat.
Hefte, ..Ergebnisse", S. 452): ,,üie Regeneration geschieht
nicht als Erneuerung bereits differenzierter oder in Rückbildung
begriffener Gewebe, sondern immer als vollständige Neubil-
dung von undifferenzierten Anlagen aus, die in der typischen
Ontogenese reserviert wurden,"
dung aus der oberen Iris erinnern: Ausstoßung
des Pigments der Zellen, Einsetzen reger Zell-
teilungen und Abgabe der gebildeten Zellen an
das zu Regenerierende in Gestalt von Umfaltungen.
Gelegentlich finden sich in der neuen Retina noch
Klümpchen schwachen Pigments, das wahrschein-
lich aus den zum Aufbau verwendeten Tapetum-
zellen stammt.
Gegenüber dieser vollständigen Netzhautregene-
ration, bei welcher übrigens anfangs infolge der
starken Verkleinerung des Augapfels das Tapetum
gleichsam der neuen Retinaschale entgegenkommt,
fällt auf, daß nach Spemann 1912 Entfernung
eines Teils der Augenanlage bei wesentlich jün-
geren, nämlich Neurulastadien nicht mehr die
Bildung eines Auges von normaler Größe gestattet,
sondern statt dessen ein kleineres Auge ent-
steht. Somit ist hier, vielleicht entgegen dem,
was man hätte erwarten können, aber in Über-
einstimmung mit früheren Befunden Wachs' an
der Linse, die Regenerationsfahigkeit nicht am
größten bei den jüngsten Stadien, und der Verf.
legt des weiteren dar, daß sie, mit höherem Alter
nach Zuwachs zu einem Optimum wieder ab-
sinkend, anscheinend parallel sei dem „Ausgesetzt-
sein", vielmehr der Verletzungsmöglichkeit unter
Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit des Über-
lebens der verletzten Tiere. —
In einer bei uns wenig bekannten Arbeit hat
schon Colucci 1891 ') die Regeneration der
Netzhaut von Triton untersucht und wenigstens
soviel richtig gesehen, daß die Neubildung vom
Tapetum nigrum aus erfolgt. Doch erkannte er
weder die Bedeutung der Linsen- noch der Netz-
hautregeneration richtig, sondern suchte als Er-
gebnis einen Parallelismus zwischen den regene-
rativen und den normal-embryonalen Vorgängen
festzustellen. V. Franz.
Der Ursprung des Menschengeschlechts.
Wieder eine neue Hypothese über den Ur-
sprung des Menschengeschlechtes! so könnte man
ausrufen. Doch bedeutet das nicht, daß den Aus-
führungen Hilzheimers,-) die der Autor selbst
als aphoristische bezeichnet und als solche zur
Diskussion stellen will, geringe Aufmerksamkeit
gebührte. Sie sind vielmehr sehr anregend. Wenn
von zwei verwandten Tierarten — führte H i 1 z -
heim er schon in seinem Handbuch der Biologie
der Wirbeltiere aus — die eine den Wald, die
andere die Steppe oder offene und Parklandschaft
bewohnt, so ist das Waldtier allgemein das pri-
mitivere: man vergleiche Okapi und Giraffe, Hirsch
und Renn, Wisent und Bison, Dendrohyrax und
Procavia, Tiger und Löwe. Der höchststehende
') Mera. Accad. Sc. Ist. Bologna, Ser. 5, Vol. I, erwähnt
nach H. Wachs, wie auch die vorangehende Fußnote.
^) M. Hilzheimer: Aphoristische Gedanken über einen
Zusammenhang zwischen Erdgeschichte, Biologie, Menschheits-
geschichte und Kulturgeschichte. Zeitschrift für Morphologie
und Anthropologie, Band XXI, Heft 2, S. 185—208.
124
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 8
Büffel, der Kaffernbüffel, das spezialisierteste
Schwein, Phacochoerus, die eigenartigsten Hunde,
die Mähnenhunde, die höchststehenden Beuteltiere,
die Känguruhs, die ihnen konvergenten Nagetiere
Springhase, Springmaus und Taschenmaus sind
Steppentiere. Den letztgenannten Beispielen eignet
der nach allen Seiten freibewegliche Kopf auf
schlankem Hals hoch über den Schultern — wie
beim Menschen. Also dürfte auch die Mensch-
werdung, die Erhebung zum aufrechten Gang bei
verlängerten Hintergliedmaßen, in der Steppe er-
folgt sein. Nur in ihr konnte sich Kultur ent-
falten, weiter entwickeln und den jetzigen Höhe-
punkt erreichen.
Europas Steppen nach der Eiszeit hatten
reiches Säugetierleben. Vertreter, die schon durch
ihre Körpergröße sich als fortgeschritten erweisen
gegenüber ihren im Wald gebliebenen Verwandten,
waren Breitstirnelch, Riesenhirsch, wollhaariges
Rhinozeros, Bison priscus und Mammut. Ihre
weniger ursprüngliche Organisation ist, wie das
Hilzheimer des näheren ausführt, auch im
einzelnen erweisbar. Was diese Tiere vernichtete,
war der Wald, als er in ihre Wohngebiete ein-
zog. Edelhirsch und Reh konnten, obwohl auch
sie offenbar in Anpassung an die Steppe oder
offene Landschaft ihre Eigentümlichkeiten erworben
haben, im Wald noch fortbestehen, die großen
Steppensäuger dagegen nicht. Mag auch Sibirien
nie Wald gehabt haben, so wurden das Mammut,
Bisonten und Rhinozeros an ihren winterlichen
südwärts gerichteten Wanderungen — die sie
mutmaßlich ausführten — durch einen Waldgürtel,
die heutige Taiga südlich der Tundra, gehindert;
in Nordamerika dagegen, wo sich eine gewaltige
Prärie unbegrenzt nach Süden erstreckt, hat sich
der Bison erhalten.
Sucht man nun die Sätze, daß das Heraus-
treten aus dem Wald Fortschritt bewirkt und die
Rückkehr in ihn auf einer gewissen Organisations-
höhe nicht mehr möglich ist, auf den Menschen
anzuwenden, so findet man in der Tat die körper-
lich und kulturell tiefstehenden Völker im Wald
lebend: die zurückgebliebensten Indianer Amerikas
(wenn wir von den besonders unwirtlichen Ver-
hältnissen im äußersten Süden absehen), die Zwerg-
völker Asiens und Afrikas. Die Erwerbung des
aufrechten Ganges wird mit dem Heraustreten
aus dem Wald erfolgt sein; die Pygmäen, kurz-
beinig, sind also vor Erwerbung der verlängerten
Hinterextremitäten in den Wald wieder zurück-
gekehrt. In einem mehrmaligen Vorrücken und
Rückgehen der zwischen dem Eis- und dem Wald-
gürtel gelegenen Zonen liegt der Anstoß zur
körperlichen und kulturellen Entwicklung des
Menschen.
Nordostafrika, in der Tertiärzeit ein Entwick-
lungszentrum der Elefanten, Sirenen, Zetazeen
und mancher Huftiere, das ehemalige Wohnge-
biet eines Affen, den Schlosser wohl mit Recht
für den Stammvater aller Anthropoiden und
Hominiden hält, dürfte auch die Menschenaffen
und den Menschen geliefert haben; irgendwo auf
dem Gebiet südlich des nördlichen Waldgürtels
treimten sich Menschenaffen und Menschen von-
einander. Zu Beginn der Eiszeit paßte der Mensch
sich dem südwärts rückenden Walde an. Im
Norden aus ihm hervortretend, ergab er die
Neandertalrasse. Er konnte nicht mehr zurück in
den nordwärts vorrückenden Wald, und so mußte
der Homo primigenius aussterben. Mit Beginn
der jungen Altsteinzeit drangen ein zweites Mal
Menschen in die nördliche Steppe vor, schon von
höherer Kultur, sie ergaben den Homo aurigna-
censis; auch er starb aus, getötet von dem wie-
der nach Norden vorrückendem Walde. — Süd-
lich des nördlichen Waldgürtels ist wohl die Kul-
turentwicklung nie gestört worden. Zunehmende
Wärme und Trockenheit nach der Eiszeit züchtete
Wüstennomaden und als deren ausgeprägtesten Typ
den feinknochigen, bei guter Muskulatur fettarmen,
lebhaften, nervösen, dem Ackerbau seit alters ab-
holden Juden.
In dem Maße wie Eis, Tundra und Waldgürtel
sich nordwärts zurückzogen, folgte die Kultur: es
blühte Medien und dann Persien auf. Vor dem
Wald der nordwärts vorliegenden Gebirge mußte
die Kultur nach Westen ausweichen. Athen,
Sparta, Korinth, Frankreich. Wir Deutschen da-
gegen sind im Begriff, aus einem Waldvolk ein
Steppenvolk zu werden, indem wir unter Mithilfe
der Natur die Kultursteppen schaffen.
So hypothetisch wie die Darlegungen des Ver-
fassers sind, werden sie unausbleiblich auf manches
Bedenken stoßen, doch betrachte ich es gerade
aus diesem Grunde nicht als meine Aufgabe, auf
solche Möglichkeiten im einzelnen hinzuweisen.
V. Franz (Jena).
Der Siiiupfzypressenwald iu Florida.^)
Der Klang dieser Bezeichnung erweckt beim
Leser unwillkürlich die Vorstellung von Sumpf,
Moor, von schlammigem Boden und wuchernder
Pflanzenwelt, allein von alledem habe ich soweit
ich gekommen bin, d. h. bis zur ungefähren Hälfte
der Halbinsel, nichts angetroffen, nichts wie das
märkische Luch, das Hochmoor der Lüneburger
Heide, die unergründlichen Moore des hohen
Venns oder die Sümpfe des norwegischen Fjelds.
Florida ähnelt in dem mir bekannt gewordenen
Stromgebiet des St. John-River, der amerikanischen
Riviera, der weiteren Umgebung von Berlin nach
Osten zu ■ — fester grobkörniger Sandboden mit
kärglichem Pflanzenwuchs und seichten Gewässern.
Schematisch zerfällt die Landschaft in vier scharf
gegeneinander abgegrenzte Zonen, die in unmittel-
') Aus Anlaß der Veröffentlichung des Aufsatzes: Die
Entstehung der bodenständigen Braunkohlen-
flöze. Eine Würdigung des gegenwärtigen Stand es
der Forschung in Nr. 38 dieser Zeitschrfft hat der Geh.
Rat Prof. Eugen Bracht, Darmstadt, dem Verfasser einen
Brief übersandt, der mit gütiger Erlaubnis hier abgedruckt
sei,
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
125
barer Abhängigkeit von ihrer Erhebung über dem
Wasserspiegel stehen.
Der Kiefernwald als erste Zone, der auf
einem Boden steht, der sich dort meist nur um
wenige Dezimeter über den Nullpunkt des Wasser-
spiegels erhebt, nimmt den größten Raum ein.
(Die Nadeln erreichen eine Länge, daß ich sie
zweimal zusammenlegen mußte, um sie in der
Brieftasche zu bergen.)')
Der Boden wird als Unterholz von einer
kriechenden Fächerpalme eingenommen, so daß
eine Durchquerung dieser Kiefernwälder einige
Schwierigkeiten bereitet.
Von Zeit zu Zeit erblickt man in Gesichts-
höhe eine der gefährlichen grafitfarbenen dicken
Schlangen, die sich auf einem Fächerblatt aufge-
rollt hier sonnen, beim Herannahen von Menschen
jedoch nach unten verschwinden. Der Biß dieser
Schlange ist tödlich. Hier und da erhebt sich
über die Kronen der Kiefern ein etwas höheres
Stockwerk, das von hohen Fächerpalmen gebildet
wird. Diese Fächerpalme ist ein Uferbaum, der
nur an feuchten Stellen wächst und daher den
Lauf der Ströme und die Seeränder begleitet, in
Buchten sogar im Wasser wurzelnd und der ganzen
Landschaft einen tropischen Zug verleihend. Die
Kiefernwaldzone ist eintönig und wird nur hier
und da durch kleine Lichtungen oder Teiche unter-
brochen; an den offenen Stellen bildet dann die
Yucca am Boden vereinzelte Beete, während als
größte Laubhölzer eine Nußbaumart ihre mächtigen
Kronen über alles erhebt.
Die zweite Zone seewärts ist die uns inter-
essierende Sumpfzypressenzone. Sie tritt
am Monroe Lake, wo ich sie zu beobachten Ge-
legenheit hatte, nicht als ein zufällig und willkür-
lich begrenztes Gebiet auf, sondern ihre Grenzen
sind durch die Wassertiefe gegeben, die schätzungs-
weise zwischen o — 1,50 m liegen mag. Auf
dem festen Ufer wuchsen keine Zypressen, sondern
nur Fächerpalmen, dagegen kam sie vereinzelt im
Buschwerk auch auf höherem Standort an den
Flußrändern vor.
Die Zypresse erscheint unmittelbar als ein
Anpassungsergebnis an sinkenden Boden. Nach-
dem sich die Pflanze durch Bildung der Atem-
wurzeln dem Leben im stehenden Wasser ange-
paßt hat, iieht sie die Seichtwasserzone dem Fest-
land vor. Sie ist aber in derselben an ein be-
grenztes Maximum der Wassertiefe gebunden; es
gibt somit in Seen wie dem Monroe- Lake keine
Wälder von beliebiger Flächenausdehnung, sondern
nur mäßig breite Gürtel, die im Seichtwasser
wachsen, dessen Tiefe zwischen ziemlich engen
Grenzen schwankt. Der Wald ist also nur vom
Kahn aus zu erreichen; da aber die Atemwurzeln
den Stamm rings umgeben, so bedarf es einiger
Vorsicht, um ohne Leck durchzukommen. Die
eigentlichen Wurzeln sind sehr dicht und radial
angeordnet und liegen ganz flach dem harten
•) Pinus palustris, Longleavedpine ?
Seegrund auf; Pfahlwurzeln habe ich bei ent-
wurzelten Exemplaren nicht bemerkt. Aus den
Wurzeln erheben sich die hohlen flachgedrückten
Atemwurzeln bis etwa 50—75 cm über die Was-
seroberfläche heraus und besorgen die Luftzufuhr
für das Wurzelsystem.
Die äußere Erscheinung des Sumpfzypressen-
waldes ist sehr eigenartig; unheimlich ist der
Anblick der zum Teil mächtigen, sehr locker
stehenden Stämme mit ihrem stark verbreiterten
Fußende! Da jeder Baum eines ausgebreiteten
Podiums bedarf, so ist der lichte Bestand erklär-
lich. Beim Fehlen jeglichen Unterholzes ist kein
Vogel zu sehen noch zu hören — es herrscht
vollkommenes Schweigen. Die Belaubung der
älteren Bäume ist sehr dürftig, die winzigen
Schüppchen wirken kaum als Laub und oft ist
mehr Spanisches Gras vorhanden als Laub ; dieser
Epiphyt hängt in massigen schwarzen Floren
von den Asten, als Trauerschmuck das unheim-
liche der Stimmung unterstreichend, und ich fühlte
mich wie in eine geologische Vergangenheit ver-
setzt.
Dort wo die zunehmende Tiefe des Seewassers
dem Fortkommen der Zypresse eine Grenze setzt,
beginnt die dritte, die Graszone; diese schließt
sich ohne merkliche Übergangszone dem Wald-
gürtel an und auch diese botanische Art ist offen-
bar an eine gewisse Wassertiefe gebunden. (Zahlen
vermag ich leider nicht anzugeben.) Ich kann
nur erwähnen, daß unsere langen Ruder beim
Durchqueren der Graszone nicht mehr bis auf
den Grund reichten, so daß wir mehrfach stecken
blieben; wir mußten alsdann Bündel der über
mannshoch aus dem Wasser ragenden Halme zu-
sammenraffen und uns auf diese Weise mit dem
Kahn weiterziehen. Ähnlich wie die Zypresse
stellt auch dies Schilfgras eine Anpassung an den
sinkenden Boden dar. Bei seinem dichten Bestand
muß es einen ergiebigen Produzenten von Pflanzen-
substanz abgeben, die sich unter günstigen Ver-
hältnissen als abgestorbene organische Masse, als
Flöz anhäufen kann.
Diese breiten Schilfgrasflächen werden nun
seewärts von einem letzten Vegetationsgürtel, als
vierter Zone, abgelöst, nämlich von einer auf der
Wasserfläche schwimmenden Pflanzen-
decke. Dieselbe besteht meiner Erinnerung
nach ganz oder wenigstens der Hauptmasse nach
aus entwurzeltem Schiifgrase und zwar in so
dichter und tiefer Packung, daß wir unser Boot
nur mit größter Mühe hindurchzubringen ver-
mochten. Das Rudern war natürlich ausgeschlos-
sen und das Abstoßen mit den Rudern, um von
einer kleinen Lücke zur anderen zu gelangen,
hatte wegen des Ausweichens der schwimmenden
Massen nur geringen Erfolg.
Diese schwimmende Decke enspricht wohl der
größten Tiefe, bis zu welcher das Schilfgras zu
wachsen vermag und bei der Wind und Stürme
ihre Entwurzelungstätigkeit ausüben.
Was nun die Senkungsvorgänge anbetrifft, so
126
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
N. F. XX. Nr. 8
haben, wie ich las, Bohrungen im Gebiet von
New Orleans das Vorkommen von zwei oder gar
drei Horizonten von Sumpfzypressenstämmen, bei
30 — 40 und öo m ? Tiefe ergeben ; zwischen diesen
Horizonten lagern anorganische Ablagerungen;
hiermit dürften frühere Senkungen wohl ge-
nügend erwiesen sein; in Florida dagegen würde
bei einer heutigen plötzlichen Senkung zur
Ausfüllung eines tieferen Seebeckens, um den
Boden für einen neuen Zypressenwald zu schaffen,
das Schwemmaterial fehlen mangels eines höher
gelegenen Hinterlandes.
Die Betrachtung des von der schwarzbraunen
Kohlenumhüllung entblößten Stubbenhorizontes
in der Lauchhammerschen Grube im Senfienberger
Revier versetzte mich unwillkürlich nach dem noch
lebenden Sumpfzypressenwald in Florida und regte
mich zum Feststellen des Gleichartigen sowie der
Unterschiede an. Es lag zunächst kein Grund
vor anzunehmen, daß der einstige deutsche Zy-
pressenwald wesentlich anders ausgesehen habe
wie der amerikanische; dagegen hatte ich keine
klare Vorstellung davon, welche Naturereignisse
zur Ausbildung eines Stubbenhorizontes führen
konnten. Schon die bloße Tatsache, daß alle
Bäume in einer gewissen Höhe abgebrochen zu
sein schienen, versetzte mich in Erstaunen; auch
vermochte ich mir aus der Erinnerung an den
heutigen Wasserwald ohne jede andere Vegetation
noch Unterholz zunächst nicht klarzumachen,
welche Pflanze, oder welche Pflanzengemeinschaft
das IVlaterial zu einer solchen Einbettung geliefert
haben konnte.
Nun stellt sich bezüglich einer solchen Ein-
bettung seit dem Erscheinen der Po tonieschen
Arbeiten bei jedem Beobachter unwillkürlich der
Begrifif der Vertorfung ein, die ja in normalen
Verhältnissen rasch verläuft; es war mir auch
gegenwärtig wie schnell solche Vertorfungen sich
vollziehen können.
Auf dem Torfgebiet des Hohlohs zwischen Gernsbach
und Wildbad pflegen I m tiefe Entwässerungsgräben bereits
nach wenigen Jahren wieder völlig zugewachsen zu sein.
Einen chronologischen Anhalt kenne ich von den Hochmooren
des Hohen Venns, wo die bisherige preußisch-belgische Grenze
entlang einer Römerstraße, „la Vecquee" genannt, verläuft.
Diese Straße liegt unter dem Torf auf der alten Bodenober-
fläche und wurde zu der Zeit, als ich mich dort aufhielt, der
Steingewinnung wegen ausgehoben. Dicht dabei fanden sich
auf der alten Bodenfläche beträchtliche Schlackenlager ausge-
breitet, die von einstiger Eisenverhüttung herrührten, aus einer
Zeit, als die Höhen des Venns mit Wald bestanden waren
und man das Erz zum Brennmaterial heraufführle, anstatt um-
gekehrt wie heute. Römerstraße und Schlackenlager liegen
2 m unter der jetzigen Torfoberfläche, so daß diese Vertorfung
an 1700 Jahre beansprucht hat.
Es erscheint mir daher verständlich, daß ein
Sumpfzypressenwald durch eine geringe Senkung
des Bodens gelötet werden kann, um dann sofort
durch jene Schilfgrasvegetation, die ich oben be-
schrieb, vollkommen eingebettet zu werden, und
zwar schnell genug, daß noch keine weitgehende
Vermoderung der Wurzelstumpfe eingetreten ist.
Es liegt wohl auf der Hand, daß dieses Schilfgras
bei dem nahezu völligen Fehlen einer Winterruhe
zu einer schier unbegrenzten Wachstumsleistung
gelangen konnte, um in verhältnismäßig kurzer
Zeit ungeheuere Mengen abgestorbenen organischen
Materials zu erzeugen, so daß selbst in den
Subtropen eine Art Torfbildung auf diesem Wege
möglich war.
Fassen wir die für Florida so einschneidenden
Senkungsvorgänge näher ins Auge, so ergibt sich,
daß dieselben nicht ganz einfach zutage liegen.
Mein Eindruck des Landes war nämlich nicht nur
derjenige von Landsenkung, sondern es erweckte
die gänzlich verschlissene Oberfläche, die ganz
geringe Hügelbildung und das Fehlen von Auf-
schlüssen und anstehendem Gestein die Vorstellung
von einer nach früherem Untergetauchtsein wieder
gehobenen Landmasse. An Steinen traf ich nur
einigemal im Urwald kleine bemooste Häufchen,
die dem Begriff einer Indianerbestattung ent-
sprachen; sonst gibt es da wo ich war, keinen
Siein und die Reste einer einstigen Steinzeit sind
nur als Analogie als solche zu deuten. Schon
bei der Landung in Sanford am Lake Monroe auf
den paar Schritten vom Garteneingang bis zum
Hotel wußte ich, daß ich auf vorgeschichtlichem
Material wandelte; die Wege waren nämlich mit
Muschelschalentrümmern bekiest und ein fünf-
pfennigstückgroßes Bruchstück eines halbgebrannten
Napfes verrieten dies. Der Gärtner bestätigte mir
die Herkunft dieses „Kieses" aus einem erreich-
baren „Shellmound", den ich bald aufsuchte.
Wenn nun die Bildung der Stubbenhorizonte
an sich schwer verständlich erscheint und in der
Tat ohne die Annahme einzelner, innerhalb der
säkularen Senkung vorgekommener instantaner
Senkungen unerklärlich bleiben müßte, so bietet
das Bild des Shell-mound's in schroffem Gegensatz
hierzu den Begriff äußersten Stillstandes und
säkularen Verharrens ohne die leiseste physikalische
oder klimatische, botanische sowie zoologische
Veränderung.
Die bloße Umschau von den Muschelbergen,
8 — 10 m hoch, 50 Schritte breit und kilometerlang
sich am Seeufer hinziehend, erweckt zunächst die
Vorstellung unermeßlich langer Zeiträume, die
erforderlich waren, um bei dem äußerst geringen
täglichen Zuwachs an zerstampften Gehäusen solche
Anhäufungen zu schaffen. Hier haben Geschlechter
in vollkommenem kulturellen Stillstand eben gerade
nur gelebt und sich ernährt — ohne Klimaänderung,
ohne Jahreszeiten, ohne Winterkälte — jeden
Kulturanstoßes enthoben und nur Schnecken-
gehäuseschichten über ältere Schichten häufend.
Ihre einzige Sorge war, Brennholz für das Rösten
sowie Feuer oder allenfalls Ton für die Herstellung
roher Gefäße zu beschaffen. Jedes Gehäuse wurde
mit einem Holzstäbchen angebohrt, um das ge-
bratene Tier herauszuholen. Als einziges anderes
Gerät kommen als große Seltenheit fossile Haifisch-
zähne vor, die von anderen Gebieten mitgebracht
werden mußten. Ich habe trotz eifrigen Suchens
nicht die leiseste Spur eines Gerätes angetroffen
N. F. XX. Nr. 8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
127
— nur die dünnen Aschenschichten fanden sich
in allen Lagen.
Steigt man den steilen Abhang zu dem
brackischen Seewasser hinab, so sieht man, daß
die Schalenmassen bis unter den Wasserspiegel
reichen — und daß in dem klaren seichten Wasser
heute noch die gleiche Schnecke weilerlebt, deren
Schale die Muschelberge bildet, wie ein Zeugnis
zugunsten der S i m r o t h sehen Pendulationstheorie.
Es hat somit hier seit den — wir dürfen wohl
sagen — vielen Jahrtausenden seit dem Auf-
treten des Menschen eine wesentliche Senkung
des Bodens nicht stattgefunden; es ist dies eine
Tatsache, an der nicht vorbeizukommen ist, wie
sie indessen mit den sonstigen Anzeichen und
den auf „Senkung" eingestellten Annahmen in
Widerspruch steht 1
Dieser Widerspruch ist indessen doch nur ein
scheinbarer, denn eine Betrachtung der Tiefenkarte
des mexikanischen Meerbusens liefert den Schlüs-
sel dazu.
Da zeigt es sich nämlich, daß die Halbinsel
nicht als Ganzes gleichmäßigen Senkungsvorgängen
unterworfen wurde, sondern die Westküste ganz
anders davon betroffen wurde als die Ostküste.
Dies geht aus dem Verlauf der Steilabsturzlinie
nach dem mexikanischen Meerbusen zu hervor,
die im Westen bei 270 km Entfernung von der
Küste von 200 auf 2000 m, im Süden sogar von
95 auf 3700 m absinkt und hiermit bezeugt, daß
die Halbinsel einst an dieser Westseite mehr als
doppelt so breit warl
Im Osten dagegen ist der Absturz nur ganz
gering und verläuft nahe der Küste bei nur unbe-
deutender Landeinbuße.
Es bedeutet dies, daß die Senkung sich in
einer Art Kippbewegung um eine Drehachse voll-
zog, die fast genau mit dem Verlauf der Ostküste
zusammenfallt, welche somit nahezu stillstehend
in ihrer alten Lage verharren konnte.
Da der beschriebene Shellmound ganz nahe
der Ostküste gelegen ist, wird dessen Verbleib im
ursprünglichen Zustande ganz begreiflich und die
etwaigen Senkungen und Hebungen, die hier statt-
gefunden haben mögen, müssen vor Anwesenheit
des Menschen sich zugetragen haben.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß
der Zypressenwald des Monroesees zwar eine be-
stimmte Form des Vorkommens im seichten
Seewasser darstellt, während die Verhältnisse im
Süden der Halbinsel etwas andere sein mögen,
dennoch aber insofern auf gleiche Wachstums-
verhältnisse hinauskommen als die Okefeno swamps
mit ihrer Fläche von ca. 900 qkm, und die Ever-
glades Cypress swamps mit 275 km Länge und
95 km Breite, d. h. 20 000 qkm ein Seichtwasser-
gebiet von 0,30 — I m Tiefe darstellen, die in der
Regenzeit noch anwächst; eine wesentlich ver-
schiedene Moorvegetation, die für die Vertorfung
in Frage kommen könnte, darf somit kaum vor-
ausgesetzt werden !
Fassen wir die Ergebnisse der Beobachtungen
zusammen, um die heutigen noch im Sumpfzy-
pressenwald bestehenden Verhältnisse mit den
fossilen tertiären Vorkommen im heimischen Ge-
biet zu vergleichen, so ergeben sich folgende Tat-
sachen :
1. Es gibt in Florida heute noch Sumpfzy-
pressenwald im Seichtwasser der Seen, der bei be-
schränkter Wassertiefe einen Vegetationsgürtel
darstellt.
2. Für eine eigentliche Sumpfvegetation ist an
diesen Stellen kein Platz.
3. Die Sumpfvegetation wird durch eine Schilf-
graszone ersetzt, deren Zerfallprodukte eine Art
Vertorfung erzeugen könnten.
4. Die Einbettung von Strecken des Sumpf-
zypressenwaldes in organische Schichten, eventuell
in abgestorbenem Schilfgras ist an eine Senkung
des Untergrundes, beziehungsweise an ein Vor-
rücken des Schilfgrasgebietes landeinwärts bei
wachsender Wassertiefe gebunden.
5. Während die Bohrungen im Mississippigebiet,
500 engl. Meilen westlich, das Vorhandensein von
Sumpfzypressenhorizonten in größeren Tiefen an-
deuten, denen Senkungen, säkulare sowie in-
stantane, entsprechen müssen, zeigt ein Muschel-
haufen eine nur unwesentliche Senkung des Bodens
seit seines Entstehens, obwohl die Bildung zwar
unmeßbare, aber sicherlich ungeheuere Zeiträume
in Anspruch genommen hat.
6. Der scheinbare Widerspruch zwischen die-
sem Stillstand und den sonstigen Anzeichen von
Bodensenkung findet seine Erklärung in einem
verschieden gearteten Anteil an den Bodenbewe-
gungen der Ost- und der Westküste der Halb-
insel, in dem Sinne, daß während die erstere
ziemlich unberührt verblieb, die Westküste durch
starke Senkungen ins Meer versank und die Halb-
insel auf weniger als den halben Flächenraum
einschrumpfte.
7. In Anbetracht der Wahrscheinlichkeit, daß
organische Ablagerungen nur dann der Zerstörung
zu entgehen vermögen, wenn ihnen durch baldige
Bedeckung mit anorganischen Sedimenten der
nötige Schutz zuteil wird, darf für Florida, bei
dem Fehlen eines abtragungsfähigen höheren
Hinterlandes, die Bildung von Stubbenhorizonten
in Verbindung mit Braunkohlenflözen wie unsere
heimischen nicht vorausgesetzt werden.
Eugen Bracht.
Bücherbesprechimgen.
Disp er, Peter, Über die Massenverteilung
und Verschiebung der Druck- und
Zugkräfte in einemKometen. Montabau
1919, WUly Kalb. 3 M.
128
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 8
Der Verfasser gibt leider nicht genau an, wie
er sich die physikalische und chemische Be-
schaffenheit eines Kometen vorstellt, was aber
zwischen seinen mathematischen Ableitungen an
Bemerkungen eingestreut ist, setzt jedenfalls ganz
andere Gebilde voraus, als sie über die Natur der
Kometen durch die Beobachtung bekannt geworden
sind. Es könnte sonst nicht auf S. 15 heißen:
„Der Schweif besitzt also einen, wenn auch äußerst
geringen Grad von Elastizität und Biegsamkeit,
wie sie etwa einem erhitzten und schnell abge-
kühlten Stück Eisen eigentümlich ist." Der Ko-
metenkopf scheint nach Disper eine Gasmasse
zu sein, und keine meteorische Wolke, so daß die
von ihm abgeleiteten Ergebnisse für die wirklichen
Kometen kaum in Betracht kommen dürften.
Interessant sind die von ihm gefundenen Be-
ziehungen zwischen Gravitation und Wärme, die
mit den Anschauungen von Fricke identisch
sind (vgl. S. 158 dieses Bandes). Riem.
Beutner, R., DieEntstehungelektrischer
Ströme in lebenden Geweben und
ihre künstliche Nachahmung durch
synthetische organische Substanzen.
Stuttgart 1920, Verlag von F. Enke.
In dem vorliegenden, streng wissenschaftlichen
Werke berichtet der Verf. vor allem über seine
äußerst interessanten Versuche über die Entwick-
lung elektromotorischer Kräfte bei der Einschal-
tung einer mit Wasser nicht mischbaren organi-
schen Flüssigkeit (kurz als „Öl" bezeichnet) zwi-
schen wässrige Lösungen verschiedener Salze oder
eines Salzes in verschiedendn Konzentrationen, und
über Ketten, die aus zwei verschiedenen, zwischen
identische wässrige Salzlösungen geschaltete „Öle"
aufgebaut wurden.
Ganz abgesehen vom großen Interesse, daß
diese Ketten und ihre Theorie für die physikalische
Chemie besitzen, sind sie von außerordentlichem
Werte für die Deutung der elektrischen Ströme,
die an allen lebenden Geweben zwischen einer
normalen und einer verletzten Gewebsstelle auf-
treten.
So sei z. B. nur darauf hingewiesen, daß nach
Ansicht der Ref aus Beutners Versuchen her-
vorgeht, daß alle Versuche, die schädigende
Wirkung verschiedener Salze auf tierische Gewebe
an der Größe des von ihnen hervorgerufenen
elektrischen Stromes zu messen, ihr Ziel verfehlten,
weil nicht die Giftwirkung des Salzes, sondern
sein Teilungskoefizient zwischen Wasser und Ge-
websoberfläche die Ursache der Verschiedenheit
der entwickelten elektromotorischen Kräfte zu
sein scheint.
Die den Physiologen am meisten interessierenden
elektromotorischen Wirkungen der tierischen Ge-
webe, die „Akiionsströme" werden vom Verf. nicht
diskutiert; sicher werden auch bei ihrer Deutung
die Beutnerschen Versuche zu berücksichtigen
sein.
Es ist hocherfreulich, daß die Verlagsbuch-
handlung dieses Buch, obwohl es vielleicht zu-
nächst leider nur auf einen kleineren Leserkreis
hoffen darf, der Wissenschaft zugänglich gemacht
hat. Brücke, Innsbruck.
Schulz, H., Das Sehen, eine Einführung
in die physiologische Optik. Stutt-
gart 1920, Verlag F. Enke.
Das vorliegende Werk entstammt der Feder
eines Physikers und hat die Vorzüge und Nach-
teile dieser Abstammung.
Es führt den Leser gut in die mit der physio-
logischenOptik zusammenhängenden physikalischen
Probleme ein. In die Darstellung der speziell
physiologischen und psychologischen Tatsachen
hat sich aber leider eine recht beträchtliche Zahl
von Irrtümern eingeschlichen.
Dennoch wird das Buch als Ganzes weiten
Kreisen wertvolle Kenntnisse vermitteln können.
Brücke, Innsbruck.
Literatur.
Seifert, Prof. Dr. O. , Die tierischen Parasiten des
Menschen. II. Teil. Klinik und Therapie der tierischen Para-
siten des Menschen. Mit 19 Te.xtabb. 2. Aufl. Leipzig '20,
C. Kabitsch. 72 M.
Pauli, Prof. Dr. Wo., Kolloidchemie der Eiweifikörper.
1. Hälfte. Mit 27 Textabb, Diesden u. Leipzig '20, Th.
Steinkopf.
Beniner, R. , Die Entstehung elektrischer Ströme in
lebenden Geweben und ihre künstliche Nachahmung durch
synthetische organische Substanzen. Mit 15 Textabb. Stutt-
gart '20, F. Enke. 40 M.
Fehlinger, H., Das Geschlechtsleben der Naturvölker.
Mit 9 Textabb. Leipzig '21, C. Kabitsch. 15 M.
Gothan, Prof. Dr., Potonies Lehrbuch der Paläobotanik.
2. umgearb. Aufl. 2. Lief. Berlin, Gebr. Bornträger. 22 M.
Cassirer, E., Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Er-
kenntnisiheoretische Betrachtungen. Berlin '21, B. Cassirer.
Schulz, Dr. H., Das Sehen. Eine Einfuhrung in die
physiologische Optik. Mit 86 Textabb. Stuttgart, F. Enke.
25 M.
Donath, Prof. Dr. und Lissner, Dr. A. , Kohle und
Erdöl. Mit 8 Abb. Ebenda. 7,50 M.
Kauffmann, Prof. Dr. H., Beziehungen zwischen phy-
sikalischen Eigenschaften und chemischer Konstitution. Ebenda
60 M.
Inhalt: F. Kobel, Das Problem der Wirtswahl bei den parasitischen Pilzen. S. 1:3. H. Passarge Die Birotations-
Iheorie. S. 118. — Einzelberichte: M. Weth, Der positive Spitzenstrom. S. 121. H. Wachs, Restitution des Auges
nach E.xstirpation von Retma und Linse bei Tritonen. S. 123. Hilzheimer, Der Ursprung des Menschengeschlechts.
S. 123. E. Bracht, Der Sumpfzypressenwald in Florida. S. 124. — Bücherbesprechungen: P. Disper, Über die
Massenverteilung und Verschiebung der Druck- und Zugkräfte in einem Kometen. S. 127. R. B eutner, Die Ent-
stehung elektrischer Ströme in lebenden Geweben und ihre künstliche Nachahmung durch synthetische organische Sub-
stanzen. S. 1 28. H. S c h u 1 z , Das Sehen, eine Einführung in die physiologische Optik. S. 128. — Literatur: Liste. S. 128.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag Ton Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sonntag, den 27. Februar 1921. Nummer 9.
Neue Folge so. Band;
der ganxen Reihe 3Ö. Band.
[Nachdruck verboten.]
Pflanzen als Wetterpropheten.
Von K. Goebel.
Mit 2 Abbildungen.
Das Wetter vorhersagen zu können, war von
jeher ein eifrig erstrebtes Ziel — bekannthch ist es
auch jetzt nur noch unvollkommen erreicht. So-
lange man aber diesem Wunsch hilflos gegenüber-
stand, suchte man ihn auf einem Umweg zu be-
friedigen. Man nahm an, daß andere Organismen
bessere Wetterpropheten seien als der Mensch.
Zu diesen Organismen rechnete man auch
einige Pflanzen, die durch mehr oder minder auf-
fallende Bewegungen erkennen lassen sollten, ob
gutes oder schlechtes Wetter bevorstehe. Dieser
Glauben war so fest begründet, daß manche dieser
Pflanzen sogar ihre Artbezeichnung daher erhielten.
Allgemein bekannt sind bei uns die „Wetterdistel"
(Carlina acaulis) und das „Wettermoos" (Funaria
hygrometrica). ^) In unseren botanischen Gärten
aligemein verbreitet (auch als Zierpflanze angebaut)
ist eine Kappflanze, Dimorphotheca p 1 u v i a 1 i s , -)
so genannt, weil sie ihre Blütenköpfe bei Regen
schließen soll. Auch der aus Peru stammende
Strauch Porliera hygrometrica verdankt seinen Art-
namen einem ähnlichen Glauben. Aber auch
solche Pflanzen, denen man es nicht schon am
Namen anmerkt, haben zeitweise als Wetter-
propheten Aufsehen erregt. So der unten zu er-
wähnende Abrus precatorius und andere.
Wenn wir uns fragen, wie diese Pflanzen zu
ihrem Rufe gekommen sind und ob dieser be-
gründet ist, so sei zunächst daran erinnert, daß
die Bewegungen, welche diese Pflanzen ausführen,
ganz verschiedener Natur sind.
Bei Porliera, Abrus, Dimorphotheca u. a.
handelt es sich um Bewegungen lebender Blatt-
organe, bei Carlina, Funaria u. a. dagegen um
tote Pflanzenteile, die hygroskopische Bewegungen
ausführen. Diese bedürfen hier keiner ausführlichen
Besprechung — man findet sie ja in jedem
botanischen Lehrbuch erwähnt. Es sei deshalb
nur weniges hervorgehoben.
1. Die hygroskopische Empfindlichkeit ist eine
außerordentlich verschiedene. Am größten ist
sie unter den mir bekannten Pflanzen bei einigen
australischen „Strohblumen". Als Strohblumen
oder „Immortellen" bezeichnet man bekanntlich
einige Kompositen, deren Hochblatthülle aus
Blättern besteht, die, wenigstens in ihrem oberen
Teile, aus totem Gewebe bestehen, das sich ohne
•) Linne führt bei Besprechung des Nutzens des Moose
ausdrücklich an; „Mnium hygrometricum utwisar luftens
torka eller fuktighet (Skrifter afCarl v. Linne II, p. 137).
^) Noch im Katalog für 1921 von einer Erfurter Firma
steht bei dieser Pflanze ,, zeigt Regen an".
erhebliche Schrumpfung im trockenen Zustand
erhält und so dem ungeübten Auge als „lebend"
erscheint. Die Bezeichnung „Immortellen" ist also
eine ebenso irrige, als die der „Jerichorose" als
„Auferstehungspfianze" (Anastatica), in beiden
Fällen handelt es sich um totes Gewebe, das
weder nochmals sterben noch wieder aufleben kann.
Bekannt sind auch außer der schon genannten
Wetterdistel namentlich die auf trockenen Wiesen
bei uns wachsenden „Katzenpfötchen", Antennaria
dioica. Die hygroskopische Empfindlichkeit der
Hüllblätter dieser Pflanzen ist aber eine recht
bescheidene gegenüber der einiger australischer
Helipteres - Arten , die in unseren Gärten nicht
selten als Zierpflanzen gezogen werden, weil
deren Hüllblätter durch ihre lebhafte Färbung
(rot, gelb usw.) ebenso als „Schauapparat" —
wenigstens für das menschliche Auge — auffallen,
wie bei anderen Kompositen die Randblüten.
Diese Hüllblätter besitzen eine kurze mittlere
Zone, die als hygroskopisches Bewegungsgelenk
tätig ist. ') Bestreicht man diese Zone auf der
Außenseite mit Wasser, so tritt augenblicklich
eine starke Einwärtskrümmung des oberen Blatt-
teiles ein, während keine Bewegung erfolgt, wenn
man den oberhalb des Gelenkteiles gelegenen
Teil des Involukralblattes benetzt. Das Gelenk
ist eine ganz kurze schmale Zone an der Grenze
zwischen dem unteren, teilweise noch aus lebendem
Gewebe bestehenden Teil des Involukralblattes
und dem oberen, schmäleren gefärbten. Es ist
dorsiventral, denn nur die Außenseite (Unterseite)
ist in erheblichem Maße hygroskopisch. Diese
aber ist sehr empfindlich. Es genügt, daß man
einen „geöffneten" Blütenkopf in einen wasser-
dampfreichen Raum bringt, um sofort einen Ver-
schluß der Blütenköpfe herbeizuführen. Als solchen
Raum benutzte ich das Victoria regia- Haus unseres
Gartens. Die Blütenköpfe von Helipteres roseum
blieben darin dauernd geschlossen. Nur bei sta;i:em
Sonnenschein, der zunächst eine Verminderung
der relativen Luftfeuchtigkeit bedingte, trat eine
schwache Öffnung ein. Es genügt also Wasser-
dampf, um eine Schließbewegung herbeizuführen.
Demgemäß blieben an luftfeuchten Tagen auch
die Blütenköpfe geschlossen. Es kann keinem
Zweifel unterliegen, daß auch der abendliche Ver-
schluß derHelipteres-Blütenköpfe auf eine Zunahme
der relativen Luftfeuchtigkeit, also auf einer hygro-
') Vgl. Goebel, Die Entfaltungsbcwegungen der Pflanzen,
Jena 1920, S. 93.
130
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
skopischen Bewegung beruht. Um einigermaßen
zahlenmäßige Anhaltspunkte für die hygroskopische
Empfindlichkeit dieser Involukralblätter zu ge-
winnen, wurden im Exsikkator durch Schwefelsäure
verschiedenen Wassergehaltes verschiedene Grade
relativer Luftfeuchtigkeit hergestellt. Bei Anwendung
von 40proz. Schwefelsäure (57% relative Luft-
feuchtigkeit) blieben die Köpfe offen. Bei 35proz.
(etwa ö5"/(, relative Luftfeuchtigkeit) waren sie halb-
geöffnet, bei 30proz. (/Ö^/q relative Luftfeuchtig-
keit) geschlossen. IMan kann also wohl annehmen,
daß Verschluß erfolgt, wenn etwa 70% relative
Luftfeuchtigkeit erreicht ist. Eine Verminderung
um 13% genügt, um die Offnungsbewegung herbei-
zuführen.
Man wird geneigt sein, anzunehmen, daß diese
starke hygroskopische Empfindlichkeit der Pflanze
von Nutzen sei, derart etwa, daß nachts die Blüten
durch den Verschluß des Involukrums gegen die
schädliche Einwirkung von Feuchtigkeit geschützt
seien.
Das ist möglich. Aber es sei darauf hinge-
wiesen, daß eine hygroskopische Empfindlichkeit
auch vorkommt, wo diese Schutzbedeutung aus-
geschlossen ist. So ist es bei Ammobium alatum,
der bekanntesten „Strohblume", die gleichfalls
dem australischen Florengebiet entstammt. Hier
sind die Hüllblätter so kurz, die Blütenköpfe so
dick, daß die letzteren von ersteren zur Blütezeit
nicht mehr ,, geschlossen" werden können. Trotz-
dem sind die Hüllblätter hier ebenfalls hygrosko-
pisch. Diese Eigenschaft ist also gewiß nicht im
„Kampf ums Dasein" zum Schutz der Blüten er-
worben worden. Vielmehr sehen wir den oberen
Teil der Hüllblätter an den Blütenköpfen einer
ganzen Anzahl von Kompositen aus ganz oder
größtenteils abgestorbenem Gewebe bestehen
(z. B. Xeranthemum, einige Centaurea-Arten u. a.),
ohne daß sie ausgesprochen hyproskopische Be-
wegungen ausführen. Bei Helipteres ist die pri-
märe Funktion des Gelenks die der Öffnung des
Hüllblattapparates beim Austrocknen. Das ge-
schieht durch Schwinden des Gelenks auf der
Außenseite. Die Schließbewegung kann ja mög-
licherweise auch von Nutzen sein. Aber wenn
ein solcher vorhanden ist — was nur experimen-
tell erwiesen werden kann — , so ist er nur ein
sekundärer.
Die kurz besprochenen hygrometrischen Pflan-
zen können also insofern einigermaßen als „Wet-
terpropheten" gelten, als sie eine Zunahme der
Luftfeuchtigkeit anzeigen, die ja vielfach dem
Regen voran geht.
Geheimnisvollere Kräfte schrieb man der
zweiten Gruppe von Pflanzen zu, bei denen es
sich namentlich um Öffnungs- und Schließbe-
wegungen von Blütenköpfen und Blättern handelt.
Vaucher, in dessen — mit Unrecht fast ver-
gessenem — Werk sich eine Menge „biologischer"
Beobachtungen finden, sagt ^) von Dimorphotheca:
„Ce que le Pluvialis presente de remarquable, c'est
le mouvement de ses ligules qui s'ouvrent le
matin, si la temp^rature est sereine, mais qui
restent fermes, si le temps annonce une pluie
durable, et non pas une pluie d'orage." Er folgte
darin im wesentlichen dem, was Linne von einer
anderen Pflanze anführte: „Den Sonchus Sibiriens
(= Lactuca sibirica) hat Linne-) sogar zum Wet-
terpropheten gemacht, indem er sagte, daß der
folgende Tag meistens schön ist, wenn die Blüthen
des Sonchus die Nacht hindurch geschlossen sind;
der folgende Tag wäre aber unbeständig und
regnigt, wenn die Blüthen des Sonchus die ganze
Nacht hindurch offen geblieben wären. Ich habe
zwar nicht Gelegenheit gehabt den Sonchus
Sibiriens des Nachts zu beobachten, aber wahr-
scheinlich wird er ein ebenso schlechter Wetter-
prophet sein, als die Calendula pluvialis, von der
man sagt, daß sie sich schließt, wenn Regen bevor-
steht; diese Blume richtet sich aber mehr nach
dem Sonnenschein, als nach dem kommenden
Regen. Herr Link sagte, daß er die Calendula
pluvialis sehr oft beobachtet und gefunden habe,
daß sie sich nur dann an das Wetter kehrt, wenn
es lange trocken gewesen ist, wenn aber oft
Regenschauer kommen, so richtet sie sich auf
keine Weise darnach, woraus man auf ein Ge-
wöhnen an schlechtes Wetter schließen könnte."^)
Tatsächlich handelt es sich bei diesen Kompositen
aber nicht um Wetterpropheten. An einem warmen
Julitage blieben in unserem Garten die Pflanzen
von Dimorphotheca pluvialis trotz 10 Minuten
langem prasselndem Regens geöffnet — während
die Blütenköpfe von Helipteres roseum und H.
Manglesii durch die Bewegungen ihrer Involu-
kralblätter geschlossen waren. Das periodische
Offnen und Schließen dieser Pflanzen wird viel-
mehr wie in anderen Fällen durch ihre Empfind-
lichkeit für Schwankungen der Licht- und Wärme-
intensität bedingt. Je nach den einzelnen Pflanzen
überwiegt die thermonastische oder die photo-
nastische Reizbarkeit. Dimorphotheca gehört zu
den ersteren — man kann sich leicht überzeugen,
daß Pflanzen im Victoriahaus auch nachts 10'',
wenn die im Freien stehenden längst geschlossene
Blütenköpfe zeigen, diese noch offen haben. Daß
die Blütenköpfe auch photonastisch reizbar sind,
soll nicht in Abrede gestellt werden, indes ver-
dankt die Pflanze ihren Namen jedenfalls nicht
ihrer photonastischen, sondern ihrer thermo-
') Vaucher, Histoire pbysiologique des plantes d'Eu-
rope, Vol. III (1S41), p. 140.
^) Vgl. Linne, Phil. bot. ed. II, p. 275 wo es von „Ca-
lendula africana" heißt: . . . at vero si vigilias non adsumat,
seu non aperiat flores hora septima matutina, pluviae hac
die cadent, coustanti lege umbres autem ex tonitru evilare non
facile didiscit. Sonchus Sibiriens si noctu claudatur proxi-
ma dies plerumque serena erit, si vero aperto flore per noctem
vigilet insequens dies plerumque erit pluviosa." Offenbar be-
ruht diese Annahme darauf, daß die Blütenköpfe stärker ther-
monastisch als photonastisch sind, in einer warmen Nacht
also offen bleiben. Nach einer waimen Nacht regnet es öfter
als nach einer kalten. Darauf dürfte Linnes Annahme be-
ruhen.
') M e y e n , Neues System der Pflanzenphysiologie, III
(1839), S. 497-
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
131
nastischen Reizbarkeit. Als Regenprophet ist sie
jedenfalls ganz unbrauchbar.
Die Pflanzen, die man seit Pfeffers Unter-
suchungen gewöhnlich zur Demonstration der
Öffnungs- und Schließungsbevvegungen der
Blüten zu benutzen pflegt: Crocus und Tulipa
sind im getriebenen Zustand nicht sehr empfind-
lich. Die thermonastisch am stärksten empfind-
liche Pflanze, die ich derzeit kenne, ist 0.\'alis
hirta, eine wie Dimorphotheca vom Kap
stammende Oxalis-Art. Sie bildet in unserem im
Winter auf 12 — 15" gehaltenen Kaphause zwar
ihre Blütenknospen, aber sie entfaltet sie bei
dieser Temperatur nicht. Bringt man aber eine
Pflanze mit noch geschlossenen, hinreichend aus-
gebildeten Blütenknospen in ein Gewächshaus mit
25", so öffnen sich die Knospen innerhalb von
5 Minuten. In das kühle Haus zurückgebracht,
schließen sich die Blüten wieder, brauchen dazu
aber eine längere Zeit — mehrere Stunden. Sie können
sich bei höherer Temperatur dann noch einmal
öffnen.^) Gegen Benässung sind die Blüten sehr
empfindlich, nicht nur öffnen sie sich in warmes
Wasser gelegt überhaupt nicht, sondern es genügt
ein kurzdauernder Aufenthalt im Wasser, um sie
abzutöten. Es mag also, da Regen und niedrigere
Temperatur miteinander zusammen aufzutreten
pflegen, auch aus diesem Grunde für die Blüten
vorteilhaft sein, daß sie nur bei höherer Tempe-
ratur sich öffnen.
Es gibt aber auch Blüten, deren Öffnungs-
und Schließbewegung von anderen Faktoren ab-
hängt, die man bisher meist übersehen hat und
zwar deshalb, weil die meisten Botaniker die
(Jffnungs- bzw. Schließbewegung nur als einen
durch Wachstumsverschiedenheit auf den beiden
Seiten der Blumenblätter usw. bedingt betrachten.
Es geschah das auf Grund der berühmten Unter-
suchungen von Pfeffer. Dieser'-) glaubte nach-
gewiesen zu haben, daß die Krümmungsbewegun-
gen der Blüten durch Wachstum vermittelt werden.
Gewiß ist das in den von Pfeffer unter-
suchten Blüten und vielen anderen so. Aber man
kann nicht von Crocus und Tulipa auf die Ge-
samtheit der Blüten schließen. Unzweifelhaft
handelt es sich bei manchen davon nicht um
Wachstumsverschiedenheiten auf Ober- und Unter-
seite, sondern um Verschiedenheiten der Turgor-
spannung. Das läßt sich besonders leicht bei den
Blüten von Silene Arten zeigen.
Manche davon zeigen bekanntlich ein periodi-
sches Offnen und Schließen, wobei der Verschluß
durch Einrollen der Blumenblätter stattfindet.
Letzteres erfolgt bei Melandryum noctiflorum,
Silene nutans u. a. am Tage, die Öffnung abends.
Man kann aber auch am Tage leicht eine Öffnung
der Blüten herbeiführen, bzw. sie geöffnet er-
halten.
Meine Beobachtungen an Silene nutans und
Mel. noctiflorum ergaben zunächst folgendes.
Wenn man Blüten von Sil. nutans oder Mel.
noctiflorum mit eingerollten Petalen in Wasser
legt, findet bald eine Ausbreitung statt. So hatte
Abb. I.
Abb. 2.
') Bei Pflanzen, die schon länger im Warmhaus stehen,
tritt die photonastische Reizbarkeit hervor.
-) Pfeffer, Pflanzenphysiologie, 2. Aufl., II, S. 175. Auf
die sonstige Literatur kann hier nicht eingegangen werden.
z. B. die in Abb. i abgebildete Infloreszenz 5^1$
nachmittags drei Blüten mit eingerollten Petalen.
Abb. 2 zeigt dieselbe, nachdem die Blüten ^/^ Stun-
den in Wasser von 20° gelegen hatten — bei
höherer Temperatur geht die Ausbreitung wesent-
132
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
lieh rascher vor sich.') Dem entspricht, daß diese
Blüten an trüben feuchten Tagen gleichfalls ge-
öffnetbleiben können, ebenso wenn man sie öfters
bespritzt. Selbstverständlich spricht dabei aber
die Wasserversorgung der ganzen Pflanze mit.
Daß die Einrollung auf einer Turgorverminderung
der Oberseite beruht, ist mir nicht zweifelhaft.
iVIan kann sie bei Silene conoidea herbeiführen
dadurch, daß man die Blüten wiederholt hin- und
herbewegt oder daß man sie abgeschnitten in
trockener Luft liegen läßt. Es ist derselbe Vor-
gang, welcher früher ^) von Gräsern wie Leersia
clandestina und Phalaris arundinacea beschrieben
wurde, nur daß er bei Sil. nutans und Mel. nocti-
florum mehrere Tage hintereinander sich einstellen
kann. Ferner erhielt ich sehr rasche Einrollung
der Blumenblätter von Mel. noctiflorum, wenn ich
die abends geöffneten Blumenblätter auf ihrer
Oberseite mit einem heißen Körper in Berührung
brachte und dadurch den Turgor aufhob. Be-
streichen mit hypertonischen Lösungen wirkt viel
langsamer und schwächer, weil die Blumenblätter
schwer benetzbar sind. Andere Sileneen zeigen
die Einrollung nur beim Abblühen.
In dem Ein- und Aufrollen der Blumenkrone eine
Anpassungserscheinung nachzuweisen, wird nicht
leicht sein. Man kann die Einrollung nicht etwa als
eine Schutzvorrichtung für die'Staubblätter und ihren
Pollen ansehen, denn die Staubblätter von Silene
nutans ragen, wie Abb. i zeigt, aus den einge-
rollten Blumenkronen weit hervor, die von Mel.
noctiflorum treten über die „Nebenkrone" über-
haupt nicht hervor, brauchen also auch keinen
Schutz. Die eingerollten Blumenblätter versperren
auch durchaus nicht immer den Eingang in die
Blüte. Daß die Blumenblätter aber gegen Schä-
digung durch Austrocknen empfindlicher seien
als die anderer Silene- Arten, welche keine peri-
odische Bewegung zeigen und sich gegen diese
Gefahr durch Einrollung schützen, ist weder nach-
gewiesen noch wahrscheinlich. Es liegt eine Ab-
hängigkeit des Turgors der Oberseite von äußeren
Faktoren vor — ähnlich wie in anderen Fällen,
ohne daß man diese derzeit als eine adaptative
bezeichnen könnte.
Daß beim Offnungsvorgang der Blumenkrone
die Blumenblätter noch erheblich heranwachsen,
ist auch ohne Messung leicht wahrnehmbar. Dann
aber wirkt der Antagonismus zwischen Ober-
und Unterseite so, daß nur bei starker Turges-
zenz der ersteren die Blüte geöffnet bleibt. Sinkt
die Turgeszenz auf der Oberseite, ^) so tritt Ver-
') Vaucher (Histoire physiol. des plan'es d'Europe, I
(1841), p. 365), welcher die Bewegungen der Fetalen einiger
Silene- Arten erwähnt, meint, sie seien ,,independants de tout
ageut exterieur, puisqu'ils ont lieu par un temps pluvieux
comme par un ciel serein, et dans l'obscurile comme au plein
jour". Daß das nicht zutrifft, geht aus dem oben Mitge-
teilten hervor.
'■') Goebel, Entfaltucgsbewegungen, S. 44.
^) Wenn man eingerollte Blumenblätter ausbreitet, schnellen
sie wieder (wie schon Gärtner beobachtete) in ihre ur-
sprüngliche Lage zurück.
Schluß ein. Das kann bei manchen Sileneen
mehrmals (periodisch) erfolgen, bei anderen ge-
schieht es nur einmal beim Abblühen. Künst-
lich kann der Vorgang, wie die bei Silene
conoidea angeführte Beobachtung zeigt, auch vor
dem Abblühen durch Transpirationssteigerung,
und mehrmals hervorgerufen werden. Der Unter-
schied liegt also nur in einer größeren Empfindlich-
keit der Oberseite bei den Silenazeen mit mehr-
mals sich öffnenden Blüten.
Sehen wir noch zu, wie es sich mit den
„Wetterpflanzen" verhält, deren Blattbewegungen
als ein Anzeichen für die Witterungsfestslellung
abgeben sollten.
Porliera hygrometrica ist ein zu den Zygo-
phyllen gehöriger Strauch, der an trockenen Stand-
orten in Peru wächst. Der Artname rührt von
den Beobachtungen her, die schon die ersten Be-
schreiber der Pflanze, Ruiz und Pavon') ver-
anlaßten, diese als Wetterpropheten zu betrachten.
Zunächst sei erwähnt, daß die Blätter sehr schöne
Schlafbewegungen ausführen. Sie sind doppelt
gefiedert. Die Fiederbläitchen schlagen sich nach
oben zusammen, die Blattspindel senkt sich. Das
Aussehen der ganzen Pflanze wird durch diese
„nyktinastische" Bewegung so verändert, daß sie
auf die genannten Forscher den Eindruck machte,
als ob sie blattlos und vertrocknet sei. Die Wet-
terprophezeiung soll nun darin bestehen, daß
wenn der folgende Tag trocken sein wird, eine
halbe Stunde vor Sonnenuntergang die Blätter
anfangen sich zusammenzufalten, was früher ein-
tritt, wenn der folgende Tag neblig und stürmisch
sein wird.
Die Zeit, in der die nyktinastische Bewegung
eintritt, soll also anzeigen, wie das Wetter am
folgenden Tage sich gestalten wird. Außerdem
kommt das Verhalten zum Regen in Betracht : R u i z
und Pa von geben an, wenn es nachmittags stark
geregnet habe und die Pflanze naß geworden sei,
so schließen sich die Blätter vor oder kurz nach
Sonnenuntergang vollständig. Das tun sie aber
auch sonst.
Endlicher-) dagegen meint , die Blätter
seien bei heiterem Wetter ausgebreitet, wenn
Regen bevorstehe (instante pluvia) aber geschlossen.
Ob das auf eigener Wahrnehmung oder auf einer
mißverstandenen Mitteilung von Ruiz und Pa-
von beruht, vermag ich nicht zu sagen. Jeden-
falls ist die Angabe nicht richtig.
Eingehender untersucht wurde das Verhalten
von Porliera von Pantanelli. ') Wie zu erwar-
ten war, ergab sich dabei, daß Porliera kein
Wetterprophet ist. Die Blattbewegungen können
') Ruiz et Pavon, Systema vegetabilium florae peru-
vianae et chilensis, 1, 1798, p. 94 u. 95.
*) Endlicher, Genera plantarum ( 1836 — 1840), II, 110.
') Enr. Pantanelli, Studi d'anatomia e fisiologia sui
Pulvini motori di Robinia Pseudacacia L. et Porliera hygro-
metrica R. et P. Atti della societa dei Naturalisti e Matematici
de Modena, Ser. IV, Vol. II, 1901. Daselbst auch weitere
Literatur.
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
133
zwar abgesehen vom Licht auch von anderen
äußeren Einwirkungen — namentlich der Luft-
feuchtigkeit — beeinflußt werden, aber wenn die
alten Autoren daraus auf eine Vorahnung des
Wetters am folgenden Tage geschlossen haben,
so beruht das nur darauf, daß nach einem trüben
feuchten Abend am folgenden Tage häufig schlechtes
Wetter eintritt. Im übrigen bestätigte Panta-
nelli, daß je nach der Luftfeuchtigkeit die Schlaf-
bewegungen früher oder später eintreten können,
derart, daß ein Steigen der Luftfeuchtigkeit im
allgemeinen die „Schlafbewegung" und die Wach-
bewegung früher eintreten läßt, was nicht zu ver-
wundern ist, da es sich dabei um Beeinflussung
des Turgors der Gelenkpolster handelt. Doch ist
der Einfluß ein verhältnismäßig wenig starker
gegenüber den „inneren", die Turgoränderungen
bedingenden Einflüssen. Eine höhere Luftfeuchtig-
keit begünstigt nur zeitweilig die Ausdehnung der
gerade „aktiveren" Hälfte des Gelenkpolsters.
Außerdem nimmt Pantan eil i noch eine„Regen-
scheu" der Pflanze an. Nach oder während eines
Regens verändern sich die Öfi'nungswinkel der
Blättchen und noch mehr der Blätter. Dabei kann
es sich nicht um den Einfluß der Luftfeuchtigkeit
handeln, sondern entweder um den der Benetzung,
einer Temperaturdifferenz oder den mechanischer
Erschütterung. Letzteres lehnt Pantanelli ab, aber
er ist über die eigenthche Ursache nicht ins Klare
gekommen. Denn es ist nur eine teleologische
Zurechtlegung, wenn er sagt, „wir stehen also vor
einer Abwehreinrichtung gegen das Wasser in den
Beziehungen auf die Ernährungsphysiologie: ein-
mal um die Transpiration nicht zu hemmen, sodann
um die Infiltration zu verhindern, oder auch für
beide Zwecke. Daß die Spaltöffnungen auf der
Oberseite der Blättchen zahlreicher sind, wird
diese Annahme stützen". Daß aber Porliera nicht
einen Regen voraus ahnen kann, ist klar. Es ist
möglich, daß Endlichers Angabe darauf beruht,
daß einem Regen starke Licht- oder Temperatur-
abnahme vorausging.
Die Bewegungen von Porliera sind also zwar
noch nicht vollständig aufgehellt, aber sicher ist,
daß sie ihren Artnamen „hygrometrica" ebenso-
wenig zu Recht trägt, wie Dimorphotheca
„pluvialis" genannt zu werden verdient.
Im Jahre 1888 tauchte eine neue „Wetter-
pflanze" auf. Es erschien in Prag eine Broschüre
„J. F. Nowacks Wetterpflanze, deren Eigen-
schaften, Cultur und Pflege, mit Anleitung, wie
durch dieselbe jegliche Witterungs- und Temperatur-
veränderung für den Horizont, die Umgebung und
Local unbedingt verläßlich und genau 48 Stunden
vorher bestimmt werden kann".
Diese Pflanze, deren Eigenschaften in so merk-
würdigem Deutsch gepriesen wurde, ist Abrus
precaiorius, eine Leguminose.
Eine sorgfältige in Kew von F. W. Oliver
ausgeführte Untersuchung ') ergab, daß die Blatt-
bewegungen wie bei anderen Leguminosen un-
mittelbar von Schwankungen des Lichtes und
der Wärme beeinflußt werden, aber keine Vor-
ahnung für künftige Ereignisse erkennen lassen.
Das wird nicht hindern, daß solche Wetterpflanzen
wieder auftauchen — Mysterien haben die Menschen
stets mehr angezogen als nüchterne Beobachtung!
') The weather plant, Bulletin of miscellaneous infor-
mation Royal Gardens, Kew, Nr. 37, 1890.
[Nachdruck verboten.]
Der Holunder (Sainbucus uigra) iu der Volkskuudfe.
Von Dr. Heinrich Marzell, Gunzenhausen (Bayern).
Obwohl sich der Holunder meist in nächster
Nähe der menschlichen Siedelungen findet, so
daß es scheinen könnte, er wäre überall der Kul-
tur entsprungen, so ist er doch ein in Mitteleuropa
wirklich einheimischer Strauch. Seine natürlichen
Standorte sind Auenwälder und Flußufer. Aller-
dings wurde er sicher schon sehr früh auch von
den Menschen angepflanzt, so daß ein Vorkom-
men im Walde nicht selten ein Überrest früherer
Kultur sein mag. Auch haben wohl beerenfres-
sende Vögel viel zu seiner Verbreitung außerhalb
seines natürlichen Standortes beigetragen. In den
steinzeitlichen Niederlassungen der Schweiz und
den bronzezeitlichen Oberitaliens wurden Samen
des Holunders aufgefunden. Dies läßt darauf
schließen, daß schon der prähistorische Mensch
die Beeren einsammelte und (zu Mus gekocht)
verzehrte.^) Da der Holunder auch in Südeuropa
ein ziemlich häufiger Strauch ist, so haben ihn
die Völker des klassischen Altertums sicher ge-
kannt. Theophrast') beschreibt den von ihm
,akte' genannten Strauch sehr ausführlich, gibt aber
keine arzneilichen Verwendungen an. Daß aber
solche bekannt waren, beweisen die Schriften der
Hippokratiker, die die akte als abführendes, harn-
treibendes und gynäkologisches Mittel nennen,
vorausgesetzt daß hier dieser Pflanzenname das-
selbe bedeutet wie bei Theophrast und nicht
etwa den verwandten Attich (Sambucus Ebulus).
Dioskurides') unterscheidet akte (Sambucus
nigra) und chamaeakte (^„Erdholunder"; Sam-
bucus Ebulus). Er sagt aber, daß Anwendung und
Wirkung bei beiden Pflanzen die gleiche sei. Als
solche gibt er die harntreibenden Eigenschaften
an, ferner führen die als Gemüse gekochten Blätter
Schleim und Galle ab. Die in Wein gekochte
Wurzel dient den Wassersüchtigen; auch soll sie
Buschan 1895, 137.
') Hist. plant. 3, 13.
') Mat. med. 4, 173.
134
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
gegen Schlangenbiß helfen. Die frischen Blätter
lindern als Umschlag Entzündung und Geschwüre,
ferner helfen sie bei Podagra, wenn sie mit Ochsen-
oder Bockstalg aufgelegt werden. Die Beeren
werden schließlich zum Schwarzfärben der Haare
benutzt. Viele dieser von Dioskurides ange-
gebenen Anwendungen finden wir noch heute in
der Volksmedizin. P 1 i n i u s ^) berichtet von einem
Aberglauben der Hirten, demzufolge Hörner und
Posaunen, die aus dem Holz des „sabucus" ge-
fertigt sind, lauter schallen, wenn das Holz dazu
da geschnitten wurde, „wo der Strauch das Krähen
der Hähne nicht hören kann". An anderer Stelle -)
bespricht er die Heilkraft des Holunders. Seine
Angaben decken sich ungefähr mit dem bei
Dioskurides Gesagten. Die Masern werden
vertrieben, schreibt Plinius, wenn man die von
ihnen befallenen Körperstellen mit einem Holunder-
strauch peitscht. Es erinnert dies an die „Über-
tragung" des Rotlaufs auf einen Holunderzweig,
wie sie die deutsche Volksmedizin kennt.
Die medizinischen und botanischen Schriften
des deutschen Mittelalters behandeln den Holunder
ausführiich, nicht nur weil ihn die alten Arzte so
hoch schätzten, sondern weil der Baum auch im
deutschen Volksglauben ein ganz besonderes An-
sehen genoß. Albertus Magnus (gest. 1280)
sagt am Schluß seines Kapitels über den Holunder, ^j
daß er nicht alle Eigenschaften des Strauches be-
sprochen habe, weil sie ja ohnehin allgemein be-
kannt seien. Ferner behauptet er, daß die innere
Rinde des Holunders, wenn sie von unten nach
oben geschabt werde, ein Brechmittel, wenn von
oben nach unten ein Abführmittel sei;
ja er setzt sogar hinzu: „et haec saepius est ex-
pertum" (und dies ist schon öfter erprobt worden).
Daß diesem Glauben eine Art „Sympathie" zu-
grunde liegt, ist ohne weiteres ersichtlich. Ein
schlagender Beweis für die Gleichartigkeit des
primitiven Denkens ist, daß wir diese Meinung
bei den verschiedensten Volksstämmen finden,
so daß es ausgeschlossen ist, daß sie von einem
Volk zum anderen gewandert und über-
nommen worden ist. Wir treffen nämlich den-
selben Glauben im südlichen und westlichen Ruß-
land in der Form an, daß der Saft der frühmorgens
von unten nach oben geschabten Rinde brechen-
erregend, der von oben nach unten geschabten
abführend sei.*) Dem Pharmakologen Kobert
wurde er aus Sibirien mitgeteilt und der Ethno-
graph Bartels berichtet ihn von den Winnebago-
Indianern, die der Meinung sind, daß die Ho-
lunderrinde (wohl von der verwandten S. cana-
densis L.) nur dann abführende Wirkung zeige,
wenn sie der Medizinmann von oben nach unten
schabe, d. h. von den Zweigen nach der Wurzel
zu. Schabt er sie aber in umgekehrter Richtung,
also von der Wurzel aufwärts, so wirkt sie nicht
') Hist. nat. 16, 180.
^) Hist. nat. 24, 52 f.
') De Vegctabilius, 6, 220 f.
*) Demitsch 1889, 230.
abführend, sondern als Brechmittel.^) Entsprechend
glauben die Rumänen in der Bukowina, daß man
die Spulwürmer los werde, wenn man Hollerrinde,
die man nach unten geschält hat, kocht und
diesen Absud trinkt, denn dann „kommen sie
herunter", hat man aber die Hollerrinde nach
oben geschält, dann kommen die Spulwürmer
zum Mund heraus.-) Noch heute ist diese Meinung
im deutschen Volksglauben ziemlich verbreitet.
Aus Röckingen am Hesseiberg (Mittelfranken) wird
mir berichtet (1909), daß die aufwärts geschabte
und in Milch gekochte Holunderrinde Erbrechen
bewirke („es geht überschie"), die nach unten ge-
schabte aber Diarrhöe („es geht unterschie"). Das
Tatsächliche an diesem wirklich „internationalen"
Aberglauben ist übrigens, daß die Holunderrinde
brechenerregende und abführende Wirkung zeigt.
Wie volkstümlich übrigens der Holunder auch in
früheren Jahrhunderten war, beweisen schließlich
noch die Worte Bocks:") „In Teutscher Nation
ist freilich der Holder jederman bekant / darumb
nit von nötten viler wort / wie / wo oder wann
derselbig wachse / sintemal ein jeder zuvor den
Holder kennet. Denn kaum ein gemeiner bäum
under allen zu finden / als eben Holder."
Soweit die ältere Geschichte des Holunders.
Was seine Stellung in der Volkskunde betrifft, so
kann hier über dieses Gebiet nur ein kurzer
Überblick gegeben werden, denn der Holunder
ist wohl die Pflanze, die die meisten volkskund-
lichen Beziehungen aufweist, und eine „Volkskunde
des Holunders" würde eine umfassende Arbeit
sein. Was ist nun der Grund, daß gerade der
Holunder so innig mit dem Denken und Fühlen
des Volkes verknüpft ist? Als Baum, der schon
in der Urzeit bei den Wohnungen der Menschen
wuchs, der diesem in allen seinen Teilen Heil-
mittel liefert — „die lebendige Hausapotheke des
deutschen Einödbauern", wie Höfler so treffend
sagt — , ist er die Personifikation oder der Sitz
eines guten Hausgeistes, dem der Mensch zu Dank
verpflichtet ist. „Vor dem Holunder soll man
den Hut abnehmen", heißt ein Bauernspruch. Er
ist heilig, unverietzlich. Wenn man einen Holunder-
busch umhaut, so stirbt jemand, meint man auf
der schwäbischen Alb *) und im Bergischen glaubt
man, daß der Verstümmler eines Holunderbusches
bisweilen am dritten Tag nach seinem Frevelwerk
verschieden sei. ^) Hierher gehört es wohl auch,
wenn man sich vielerorts scheut das Holunder-
holz zu verbrennen. In verschiedenen Gegenden
wird dies verschieden begründet. In Siebenbürgen
glaubt man, daß man sonst das ganze Jahr Zahn-
schmerzen habe,«) in der Schweiz, daß man sich
Krankheiten oder andere Unfälle zuziehe, ') in der
') Henri ci 1894, &•
^) Zeitschr. f. österr. Volkskunde 7, 256.
") Kreutterbuch 1551, 376a.
*) Thierer, Ortsgesch. v. Gussenstadt 1912, 1, 204.
S) Zeitschr. Ver. rliein.-westf. Volkskunde 11 (1914), 266,
*) Schullerus 1901, 3.
') Schweiz. Id. 2, 1185.
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
135
Altmark würden die Pferde des Bauern, der mit
Holunderholz einheizt, zugrunde gehen.') Nach
dänischem Glauben sitzt im Holunder ein Geist,
die Hyldemoer (Holundermutter), ihr opferte man,
indem man Milch über die Wurzeln des Baumes
goß. Zahlreiche Beispiele für die Personifikation
des Holunders als guter Dämon bringt W. Mann-
hardt in seinen geistvollen, für mythologische
und volkskundliche Forschungen so fruchtbaren
„Wald- und Feldkulten". ^) Der Holunder ist nach
dem Volksglauben der geeignetste Baum, auf den
Krankheiten „übertragen" werden können. Manch-
mal geschieht dies auf eine recht einfache Weise
z. B. wenn man in Schlesien, um sich von Zahn-
schmerzen zu befreien, am Karfreitag in einen
Holunderast beißt.^) Oft wird dagegen der Ho-
lunder mit einem Spruch angeredet. Einen alten
„Schwinsegen" (Schwindsegen, d. i. Segen gegen
die Schwindsucht) enthält eine 161 7 niederge-
schriebene Handschrift aus dem Kloster St. Blasien:
„Gang an einem Sonntag zu Vesperzeit zue einem
Holderstock und brich ein schoß darab, daß in
einem jähr gewachsen ist und brich dreimal daran
ab und sprich dreimal allemal wann du es brichst:
Was ich brich das schwin, und was ich darmit
bestrich das wachs. Im Namen usw." *) Das
Fieber zu vertreiben bindet man in Zechlin (Ost-
Prignitz) in der Nacht bei abnehmendem Mond
einen Bindfaden um einen Fliederbaum, der auf
der Scheid' (Grenze) steht und spricht:
Guten Morgen, Herr Flieder,
Ich bring dir mein Fieber
Ich binde dich an
Nun gehe ich in Gottes Namen davon 1 °)
In Mecklenburg geht man drei Tage hinter-
einander vor Sonnenaufgang zu einem Flieder-
baum, umfaßt ihn und spricht:
„Fleder, ich hevv de Gicht,
Du best se nich
Nimm se mi af,
So hevT ik se nich." ^)
Auch das geschriebene Wort tut seine Wirkung.
Auf ein Blatt Papier werden folgende Worte ge-
schrieben: Gott der Herr ging über das Land;
da begegneten ihm die siebenzigerlei Gichter und
Gichtinnen. Da sprach der Herr: Ihr siebenziger-
lei Gichter und Gichterinnen, wo wollt ihr hin?
Da sprachen die siebzigerlei Gichter und Gichte-
rinnen: Wir gehen über das Land und bringen
die Menschen um ihre Gesundheit und Glieder.
Da sprach der Herr: ihr sollt zu einer Holler-
staude gehen, da sollt ihr alle Ästlein abbrechen
und lassen nur dem N. N. (Name des Kranken)
seine geraden Glieder. Im Namen usw. Dieser
Spruch muß in Bockleder genäht und dem Kranken
als Amulett umgehängt werden." ')
') Danneil 1859, 53.
2) 2. Aufl. 1904, z. B. 1, 10 ff.
') Drechsler 1 (1903), 90.
*) Mones Anz. f. Kde. Vorz. 6 (1837), 461.
^) Zeitschr. Ver. f. Volkskunde 7 (1897), 70.
•) Bartsch 2 (1879), 404.
') Panzer, Beitr. 2 (1855), 305.
Ganz besondere Wirkung hat der Holunder
am Johannistag, der verchristlichsten Feier der
heidnischen Sommer- Sonnenwende, an der die
Geister besondere Macht haben. Wer am St.
Johannistag um 12 Uhr mittag unter der Feuer-
esse (Sitz der Hausgeister!) eine Holunderdolde,
die in Butter gebraten wurde, ißt, bekommt ein
Jahr lang kein Fieber.') Ebenso wird, wer am
Johannistag gebackene Hollerküchlein ist, das
ganze Jahr nicht krank.-)
Daß der Holunder als „guter Hausgeist" die
bösen Geister vertreibt, ist nach dem Gesagten
ohne weiteres verständlich. „Die Leipziger nehmen
um die Hexen zu vertreiben Holunder", sagt
Praetorius (1668, 459) im 17. Jahrhundert und
die alte „Rockenphilosophie" ^) schreibt: „Einen
Holunder-Strauch vor eine Stall-Thür gepflantzt,
bewahret das Vieh vor Zauberey". Der Holunder-
strauch am Haus oder Stall schützt gegen Hexen
und böse Geister, meint noch heute der Grau-
bündner.*) Ähnlich wie mit Hilfe des Gunder-
manns kann man auf der schwäbischen Alb die
Hexen entlarven: In der Nacht vom Gründonners-
tag auf den Karfreitag muß man mit dem Schlag
12 Uhr auf dem Kirchhof einen Holunderzweig
abschneiden und aushöhlen. Damit kann man am
Karfreitag während des vormittägigen Gottes-
dienstes die Hexen ausfindig machen, die verkehrt
dasitzen. Jedoch dreht die Hexe ihrem Beobachter
den Kragen um, wenn er sich nicht vor dem
Läuten aus der Kirche macht.*)
Und doch ist auch der Holunder in schlechten
Ruf gekommen, denn nach einem weitverbreiteten
Volksglauben (z. B. Posen, Mecklenburg, aber auch
in der Haute-Bretagne) hat sich der Verräter Judas
an ihm aufgehängt. Als Erinnerung an diese Be-
gebenheit sendet der Strauch einen unangenehmen,
leichenartigen Geruch aus. Ein Nachklang an
diese Sage ist es, wenn der an den Stämmen des
Holunders wachsende Holunderschwamm (Auri-
cularia auricula Judae) häufig als „Judasohr" be-
zeichnet wird. Dieser zu den Basidiomyzeten ge-
hörige Pilz war übrigens früher als Fungus Sam-
buci offizineil.
An dem Namen Holunder ist vielfach von
Unberufenen herumgedeutelt worden, und er wurde
bald mit „hohl", auch mit der „Göttin Holle"
(Frau Holle), ja sogar mit „heilig" in Verbindung
gebracht. Die althochdeutsche Form holuntar
zeigt, daß im 2. Bestandteil die Ableitung -tar
steckt, die wir auch in Maßholder (ahd. mazzaltra),
Wacholder (ahd. wechalter) finden. Sie bedeutet
soviel wie „Baum" (vgl. engl. tree). Den ersten
Bestandteil treffen wir z. B. in hyll, der schwe-
dischen Bezeichnung des Holunders an. Ein ety-
mologischer Zusammenhang mit dem russischen
jkalina' (Viburnum opulus) wird vermutet. Im
') Mitteil. Nordböhm. Exk -Kl. 20, 71-
^) Oberösterreich; Baumgarten 1862, 28.
') 1707, 2, 328.
') Ulrich, 1S97, 39-
''} Alemannia 13, 199.
136
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
Oberdeutschen ist das Wort oft zu Holler, Holder sowie Kelke, Keilke sind ebenfalls niederdeutsch,
verkürzt. Die Bezeichnung Flieder ist Ursprung- Thüringisch sind Zwebchen, Zwöbbeken, Ziwecken,
lieh eine niederdeutsche. EUhorn und Älhorn sächsisch Schibicke.
Einzelberichte.
Untersuchungen von Metallen mittels
Röntgenstrahlen.
Hierüber berichten S. Nishikawa und
G. Asahara in „The Physical Review" (Americ.
Phys. Soc.) Band XV, S. 38—45 (Januar 1920). —
Läßt man ein enges Bündel inhomogener (weißer)
Röntgenstrahlen durch ein dünnes Metallblech
gehen, so erhält man photographisch ein Röntgeno-
gramm, das außer von der allgemeinen kristal-
linischen Beschaffenheit des betr. Metalls abhängig
ist besonders auch von der Vorgeschichte des
untersuchten Stückes, d. h. z. B. von mechanischer
Bearbeitung oder von verschiedenartiger Bean-
spruchung durch Wärme usw. Die Verfasser
haben in dieser Hinsicht die Wirkung des Walzens
mit nachfolgendem Glühen bei verschiedenen
Metallen untersucht und glauben, daß derartige
Studien zu wichtigen Schlüssen für die Metallurgie
führen werden. Geprüft wurden AI, Cd, Cu, Pb,
Ag, Th, Sn, Zn und verschiedene Arten von
Messing. Die Metalle wurden in jedem Falle zu
Stücken von 30X30X4 mm geschnitten; diese
Platten wurden dann bis zu einer Dicke von
0,1—0,18 mm (bei AI bis 0,54 mm) ausgewalzt.
Die Photogramme wurden durch heterogenes
Röntgenlicht von einer CoolidgeRöhre bei 60000
Volt Maximalspannung erhalten. Abstand von
photographischer Platte und Objekt betrug 5 cm,
der Durchmesser des Strahlenbündels war 3 mm.
Expositionszeit i Stunde bei einer Stromstärke
von 5 Milliampere. Insgesamt wurden über 100
Photogramme aufgenommen.
Gewalztes AI uminium,Ca dm ium,Kupfer,
Zink und Messing lieferte schlecht ausgebildete,
verwaschene Röntgenogramme, aber alle sym-
metrisch in bezug auf die Walzrichtung
und in jedem Falle charakteristisch für das be-
treffende Metall. — Silber und Zinn gaben
ebenfalls schlecht ausgebildete verwaschene Laue-
Diagramme, aber diese gingen während der
folgenden 2 oder 3 Wochen allmählich bei Wieder-
holung der Aufnahme in deutliche Punktdiagramme
über, wie sie bei den anderen Metallen nur nach
längerem Glühen erhalten werden. Für diese
beiden Metalle tritt also das Kristallwachstum,
das für den geglühten Zustand charakteristisch
ist, bereits bei Zimmertemperatur ein. Selbst bei
-j-S" dauert hier noch die Erholung der kristalli-
nischen Struktur von der kristalldeformierenden
Beanspruchung durch das Walzen in gleicher
Weise an, wenn auch weniger schnell. — Blei
und Thallium ergaben unregelmäßig verteilte
Flecke, die keinerlei Symmetrie in bezug auf die
Walzrichtung erkennen ließen. Für diese Metalle
ist also entweder die kristallinischen Struktur
durch das Walzen überhaupt nicht gestört worden,
oder die Wiederherstellung der ursprünglichen
Struktur ist außerordentlich schnell schon bei
gewöhnlicher Temperatur erfolgt. Beim Thallium
war indessen das Röntgenogramm nicht identisch
mit dem durch Glühen erhaltenen.
Die Wirkung des Glühens nach dem Walzen
wurde mit Hilfe eines besonderen Ofens beobachtet,
der die Herstellung der Röntgenogramme ermög-
lichte, während die Metallbleche bei jeder ge-
wünschten Temperatur bis zu 800" gehalten wurden.
Die verschiedenen Metalle unterscheiden sich hin-
sichtlich ihres Verhaltens beim Glühen ganz be-
trächtlich. Bei Silber und Zinn genügen z. B.
30 Minuten langes Erwärmen auf 80", um die
Wirkungen des Walzens zum Verschwinden zu
bringen, während beim Kupfer zweistündiges
Erwärmen auf 800" hierzu noch nicht genügt.
In beigegebenen Photogrammen werden die ver-
schiedenenWirkungen des Erhitzens für C a d m i u m
bei 100", 150^', 200" und 250" gezeigt. Die Ver-
fasser glauben auf Grund ihrer Ergebnisse sagen
zu können, daß diese Methode sich zur Unter-
suchung der Wirkung aller Arten von mechanischer
wie thermischer Behandlung von Metallen besonders
eignen wird.
Übrigens hätten sich auch auf Grund der ver-
schiedenen Röntgenogramme die Umwandlungs-
punkte von Thallium und Zinn bestimmen
lassen. Wenn man nämlich die in oben geschil-
derter Weise erzeugten Röntgenogramme von
erhitztem Thallium für eine Reihe von steigenden
Temperaturen herstellt, so ergibt sich, daß nach
Überschreitung des Umwandlungspunktes das Dia-
gramm plötzlich in das eines einfachen Kristalles
übergeht. Beim Abkühlen des Metalles kehrt sich
der Wechsel um. Unter Berücksichtigung der
Verzögerungserscheinungen ergab sich hierdurch
als Umwandlungspunkt ca. 227", in guter Über-
einstimmung mit Bestimmungen nach anderen
Methoden. Auch Zinn wurde in dieser Weise
nachgeprüft und zwar besonders in der Nach-
barschaft von 160", es wurde jedoch keinerlei
Veränderung des Röntgenogramms beobachtet.
Spbg.
Untersuchungen über Osmose.
Zu einer neuen Methode der Bestimmung von
Molekulargewicht und Dissoziationsgrad, die wie
die bekannte de Vriessche Methode der plas-
molytischen Grenzkonzentration auf pflanzen-
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
137
physiologischer Grundlage ruht, gelangte neuer-
dings C. V. Wisse li n gh "^j bei seinen Unter-
suchungen über die Epidermiszellen der Samen
der Gattung Cuphea. Es handelt sich dabei um
folgendes: Wie die Lythraceen überhaupt, so
besitzen auch die Samen von Cuphea die Eigen-
schaft, beim Quellen in Wasser auf ihrer ge-
samten Oberfläche Haare auszustülpen, so daß
sie nachher aussehen wie ein krauses Lockenhaupt.
Diese Erscheinung, die man bisher irrtümlicher-
weise auf Quellungsprozesse zurückführte, beruht
nach den Versuchen von Wisselingh auf osmo-
tischen Vorgängen. Normalerweise ragen die
Haare ins Innere der Epidermiszellen herein und
sind dort ihrer Länge halber spiralig aufgerollt.
Bringt man nun die Samen in Wasser, dann ent-
steht ein osmotisches Gefalle, das sich dadurch
auszugleichen sucht, daß Wasser durch die Plasma-
haut in die Zellvakuole eindringt. Dadurch wird
der Turgordruck in der Zelle so erhöht, daß die
Haare mit Gewalt durch die Außenwand heraus-
gequetscht werden, wobei sie sich handschuh-
fingerartig umstülpen, bis sie das Innere vollstän-
dig nach außen gekehrt haben. Das Volumen
der Zelle kann auf diese Weise durch das ein-
dringende Wasser auf das Vierfache erhöht wer-
den. Bringt man nun die Haare während dieses
Vorgangs in immer höher konzentrierte Salz-
lösungen, dann kommt ein Moment, wo das Aus-
stülpen innehält, weil die Außenkonzentration der
Innenkonzentration das Gleichgewicht hält. Ist
der osmotische Wert der Außenlösung bekannt,
dann ist damit auch derjenige der Zelle in dem
gerade erreichten Ausstülpungsstadium gegeben.
Mit dieser einen Lösung (a) kann man nun jede
beliebige andere Lösung (b) aichen. Man braucht
zu dem Zwecke nur zu bestimmen, welche Konzen-
tration dieser zweiten Lösung ein Verharren des
Haares in genau demselben Stadium bedingt, a
und b werden dann isosmolisch sein. Ist b ein
Nichtelektrolyt (z. B. Saccharose), dann kann man
das Molekulargewicht direkt berechnen; ist es
dagegen ein Elektrolyt, also dissoziiert, dann er-
gibt sich aus dem Gleichgewichtszustand unmittel-
bar der Dissoziationsgrad von b. Von Wisselingh
hat diese Bestimmung für verschiedene Sub-
stanzen (Saccharose, Glyzerin, NaCl, KNOg) be-
stimmt und gefunden, daß die Genauigkeit
der Methode der Größenordnung nach hinter den
physikalischen Methoden (Gefrierpunktserniedri-
gung, Siedepunktserhöhung, elektrolytisches Leit-
vermögen) keineswegs zurücksteht. So bestimmte
er, um nur 2 Beispiele anzuführen, das Molekular-
gewicht von Saccharose auf 342,1 (statt 342,2) und
von Glyzerin auf 93,3 (statt 92,1). Weiterhin
kann man auf Grund des Ausstülpungsvorganges
auch die Permeabilitätsverhältnisse bestimmter Sub-
stanzen näher umgrenzen, und das bildet eine zweite
Analogie zu der Methode der plasmolytischen
Grenzkonzentration von de Vries. Handelt es
*) Flora, N. F. 13, 1920.
sich um Stoffe, für die das Plama in höherem
Maße permeabel ist, dann wird bei der Über-
tragung von Wasser in die isotonische Lösung
kein dauernder Stillstand eintreten, sondern in
dem Maße, als der Stoff eindringt und mithin die
Konzentration im Zellinnern wächst, das Aus-
stülpen weiter fortschreiten, und die Schnelligkeit,
mit der dieser Prozeß sich fortsetzt, wird als Maß
für die eingedrungenen Stoffmengen dienen können.
Auf diesem Wege stellte von Wisselingh fest,
daß z. B. für Salze wie NaCl und KNO3 eine leicht
nachweisbare Permeabilität vorhanden ist und daß
selbst Saccharose — wenn auch in beschränkten
Mengen — aufgenommen wird. Es wird der
Zukunft überlassen bleiben, den Anwendungsbe-
reich und die praktische Bedeutung dieser neuen
Methode schärfer herauszuarbeiten.
Peter Stark.
Eigenartige Form des Parasitismus.
Sowohl der Parasit (Chaetocladium) als auch
der Wirt (Mucor) gehören der Gruppe der Joch-
pilze (Zygomyzeten) an. Der Vorgang der In-
fektion wurde von H. Burgeff (Zeitschr. f. Bo-
tanik, 12, 1920) Schritt für Schritt auf Objekt-
trägerkultur beobachtet. Sporen von Parasit und
Wirt wurden gemeinsam ausgesät und keimten zu
Hyphen aus. Es ergab sich nun die merkwürdige
Tatsache, daß die Fäden des Mucor (Wirtspflanze !)
— offenbar durch einen chemischen Reiz ange-
lockt — auf die Hyphen des Parasiten gerade-
wegs zuwuchsen, bis Berührung stattfand. Nun
machen sich in dem Parasiten folgende Änderungen
bemerkbar. In der Hyphenspitze, die dem Mucor-
faden anliegt, reichern sich die Kerne an und die
Spitze wird durch eine Zellwand von dem übrigen
Faden abgegrenzt. Diese Zelle tritt nun dadurch,
daß die Mucorzellwand resorbiert wird, in offene
Kommunikation mit dem Plasrria des Wirtes. Nun
treten Plasma und Kerne aus dem Mucorfaden in
den „Schröpfkopf", wie die Zelle weiterhin ge-
nannt werden kann, über, der also nebeneinander
lebende Substanz zweier verschiedener Gattungen
enthält und sich weiterhin zu einer auffälligen
Gallenbildung auswächst. Die Zelle schwillt kugelig
an und bildet Seitenverzweigungen, an die sich
weitere Chaetocladiumhyphen eng anschmiegen,
so daß ein inniger Kontakt zwischen Galle und
Parasit erzielt wird und ein Stoffaustausch über
möglichst große Flächen stattfinden kann. Bur-
geff nimmt an, daß die Chaetocladiumkerne in
der Galle („Pionierkerne") die Aufgabe haben, die
Plasmahaut permeabel zu machen für die Stoffe,
die aus dem Wirte übertreten wollen. Um die
Entstehungsgeschichte dieser seltsamen Gallen,
die innerhalb einer einzigen Zelle zweierlei art-
fremde Kerne friedlich nebeneinander beherbergen
(„Heterocaryose") verständlich zu machen, erinnert
Burgeff an die geschlechtlichen Vorgänge, wie
sie für die Jochpilze bezeichnend sind. In der
Mehrzahl der Fälle werden die Geschlechtspro-
138
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
dukte, die Zygoten, dadurch gebildet, daß die
Hyphenenden zweier Mycelien miteinander ver-
schmelzen. Im einzelnen spielt sich dieser Vor-
gang in folgender Weise ab : ^ Fadenäste wachsen
aufeinander zu, platten sich an der Berührungs-
stelle gegeneinander ab und grenzen sich von der
Traghyphe jeweils durch eine Zellwand ab. An
der Berührungsstelle selbst wird die trennende
Wand gelöst und die Zellinhalte der beiden ab-
gegrenzten Zellen, der Gametangien, verschmelzen
miteinander. Die so entstandene Zygote, welche
die absterbenden Myzelien überdauert und einer
neuen Generation den Ursprung gibt, enthält also,
genau wie die beschriebenen Gallen, zweierlei Kerne'
ist also ebenfalls heterokaryotischer Natur. Es be-
steht demnach eine weitgehende Anologie zwischen
beiderlei Prozessen. Da nun selbst zwischen weit
entfernten Arten und Gattungen der Jochpilze
wenigstens Versuche sexueller Betätigung bestehen
und da auf der anderen Seite auch der Parasit
nicht jede beliebige Gattung befällt, sondern sich
auf bestimmte systematische Gruppen beschränkt,
so besteht die Möglichkeit, die Chaetocladium-
gallen so zu erklären, daß sie sich von Kopulations-
vorgängen herleiten, und daß erst sekundär die
Entwicklung in andere Bahnen gedrängt worden
ist. Eine Entscheidung ließe sich auf folgende
Weise anbahnen: es ist bekannt, daß — von
speziellen Fällen abgesehen — , bei den Zygomy-
ceten nicht jede beliebigen Myzelien miteinander
kopulieren, sondern daß bereits eine geschlecht-
liche Differenzierung eingetreten ist, die sich zwar
noch nicht in morphologischen Merkmalen, sondern
bloß in der geschlechtlichen Stimmung äußert.
Man redet dementsprechend nicht von Männchen
und Weibchen, sondern von -\- und — Myzelien.
Bloß Myzelien mit entgegengesetzten Vorzeichen
besitzen das Vermögen, miteinander zu kopulieren.
Sollte es sich im Verlaufe weiterer Untersuchungen
herausstellen, daß dieser sexuelle Charakter auch
über die Möglichkeit der Gallenbildung entscheidet,
daß also bloß + Myzelien von Chaetocladium mit
— Myzelien von Mucor in parashäre Verbindung
treten können und umgekehrt, dann würde die
ausgesprochene Hypothese eine ganz wesentliche
Stütze erhalten. Peter Stark.
Zweck des Trasrens toii Nasen-, Lippen-
nnd Waiigenpflöcken.
Dieser Brauch ist sehr weit verbreitet. Unter-
lippenpflöcke werden in Ostafrika und im west-
lichen Sudan getragen, ausnahmsweise sind Pflöcke
in Ober- und Unterlippe zugleich eingesetzt. Unter-
lippenpflöcke sind^in Südamerika häufig zu finden.
Noch öfter kommt Durchbohrung der Nase vor
und zwar in zweierlei Form: als solche der Scheide-
wand, die dann einen Quer- oder einen Hänge-
pflock trägt, oder als solche der Nasenflügel bzw.
der Nasenwand unmittelbar oberhalb derselben.
Der Auffassung, daß die Durchbohrung und
die Befestigung von Gegenständen in den durch-
löcherten Körperteilen der Befriedigung des
Schmuckbedürfnisses dient, kann Ludwig Cohn^)
nicht beipflichten. Er erhieh dafür auf Neuguinea
von Eingeborenen eine ganz andere Erklärung.
Auf den Admiralitätsinseln ist Durchbohrung der
Nasenscheidewand üblich ; Pflöcke darin (und zwar
Hängepflöcke aus Muscheln, bis zu etwa 15 cm
Länge und schön ornamentiert) werden aber nur
bei Festen getragen. Am Alltag steht das Loch
meist leer; nur gelegentlich sieht man einen Stroh-
halm oder ein Endchen von einem Zweig darin
stecken. Auf die Frage, warum man das macht,
erhielt C. die Auskunft, der Strohhalm sei eben-
sogut wie der Pflock, denn er hindere dadurch,
daß er quer vor den Nasenlöchern stecke, die
Krankheit (d. h. Krankheit bringende Geister),
durch die Nase in den Körper einzudringen. Diese
Erklärung wirkt überzeugend, schreibt C, denn
sie geht dahin, daß das Tragen eines Gegen-
standes in der durchlöcherten Nase von den Natur-
menschen als gesundheitliche Maßregel
aufgefaßt wird, als Schutz gegen krankheits-
bringende Geister, denen der Primitive, neben dem
Zauber, alle körperlichen Übel zuschreibt. Später
allerdings ist dieser ursprüngliche Zweck aus dem
Bewußtsein der allermeisten Völker verschwunden;
in dem von C. angeführten Fall aber hat er sich
noch erhalten. Nach der Meinung der Naturvölker
dringen die Krankheiten durch die Körperöffnungen
ins Innere hinein; lag da nicht der Gedanke nahe,
ihnen diese Öffnungen unzugängHch zu machen?
Da ein Verschluß derselben an Lebenden nicht
möglich war, so griff man eben zu dem Mittel
der Barrieren und Palisaden: man machte an der
Nasenöffnung entweder ein Loch in der Scheide-
wand und steckte einen Pflock hindurch, oder aber
man durchbohrte die Nasenflügel, da hier hinein-
gesteckte Stifte die Luftwege ebenso wirksam für
die Eindringlinge versperrten. C. hält dafür, daß
die gleichen Gesichtspunkte auch maßgebend
waren für Mund und Ohren : Für den Mund leistete
der melanesische Hängepflock, der heute nur noch
bei Festen getragen wird, den Dienst einer Weg-
sperre; sonst wurde aber sein Eingang dadurch
geschützt, daß man ihn mit scharfspitzigen Pali-
saden umgab : man durchbohre Ober- und Unter-
lippe, wohl auch die Wangen zu beiden Seiten
des Mundes und steckte spitze Gegenstände (mit
der Spite nach außen) hinein, um der Krankheit
den Eingang zu verleiden. An den Ohren wurden
die Läppchen und manchmal auch der Rand der
Ohrmuschel durchbohrt, um einen gleichen Schutz
zu tragen. Späterhin, als der ursprüngliche Zweck
all dieser Durchbohrungen aus dem Volksbe-
wußtsein verschwunden war, wurden einige der
früher zum Schutz eingesteckten Gegenstände als
reine Schmucksachen weiter ausgebildet, so in der
Nase (unten wie seitlich), in den Lippen und den
Ohren, während die Löcher in den Wangen zu
') Korrespondenzblau der deutschen Gesellschaft für An-
thropologie (51, Jg., Nr. 5—10).
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
139
Seiten des Mundes, vielleicht weil sie keiner starken
Vergrößerung fähig sind, allmählich ausgeschaltet
wurden und der Vergessenheit anheimfielen.
Die Durchbohrungen, die Naturmenschen an
sich vornehmen, lassen sich aus dem allverbreiteten
Geisterglauben derselben zwanglos erklaren, ürst
nachträglich erhiehen sie den Zweck, als Schmuck-
träger zu dienen. Bei dieser Erklärungsweise
nimmt es auch nicht Wunder, wenn sich aut
Grund altchinesischer Quellen das frühere Aut-
treten des Oberlippenpflocks in Südchina nach-
weisen läßt, weitab von dem Gebiet, wo er heute
noch vorkommt. H. Fehlinger.
Über die Radioaktivität aller Elemente.
Die Erscheinung der Radioaktivität ist bisher
an 37 Elementen von hohem Atomgewicht fest-
gestellt worden. Von Elementen mit niedrigem
Atomgewicht senden nur Kalium und Rubidium
dauernd sehr weiche, d. h. wenig durchdringungs-
fähige /S Strahlen aus. Ob bei Kalium und Ru-
bidium die /!? Strahlen aus dem Atomkern stam-
men und ob daher ihre Emission mit einem Atom-
zerfall verknüpft ist, ist noch nicht bekannt.
Bei /i-Strahlenumwandlung müßte aus Kalium
das Erdalkalimetall Kalzium und aus Rubidium
Strontium entstehen. Das gebildete Kalzium und
Strontium hätten etwasabweichende Atomgewichte,
doch ist deren Nachweis experimentell kaum mög-
lich. Das Alkalimetall mit dem nächst höheren
Atomgewicht, das auf Rubidium folgt, ist das
Cäsium. An diesem ließ sich aber bis jetzt keine
/S Strahlung nachweisen; sie könnte jedoch so
schwach und wenig durchdringungsfähig sein, daß
sie sich vielleicht der Meßbarkeit entzog. Aus
Cäsium würde als Umwandlungsprodukt Baryum
vom Atomgewicht 132,81 entstehen, während ge-
wöhnliches Baryum das Atomgewicht 137.37 hat.
O. Hahni) jgt mit der Bestimmung des Atom-
gewichts von Baryum aus den sehr wertvollen
Cäsiummineralien beschäftigt.
Für die Radioaktivität aller übrigen Elemente
mit niedrigem Atomgewicht liegt bis jetzt kein
Anzeichen vor. Das könnte an der nicht ge-
nügenden Empfindlichkeit der bisherigen Meß-
methoden liegen; nun hat aber G. Hoff mann )
ein Elektrometer zum Nachweis kleinster Elektri-
zitätsmengen von ungeheurer Empfindlichkeit
konstruiert. Das neue Elektrometer ist auf Bruch-
teile eines Millimeters Gasdruck evakuiert und
die Bewegung des sehr leichten Elektrometer-
systems wird durch einen Lichtzeiger auf einer
sich gleichmäßig drehenden Trommel aufgezeichnet,
die mit photographischem Papier bespannt ist.
Ein einzelnes a-Teilchen erzeugt auf seinem gan-
zen Weg etwa 150000 Ionen. Weil durch die
Empfindlichkeit von Ho ff man ns Elektronieter
bereits 5000 Ionen einen Ausschlag des Licht-
•) Pbys Zeitschr. Bd. 20, 1919.
2) Ann. d. Pbys. Bd. 62, S. 738—758, i92o.
Zeigers um i mm bewirken, so markiert sich der
lonisationsvorgang eines jeden einzelnen «■ 1 eil-
chens mit einer stoßweisen gut meßbaren Be-
wegung des Lichtzeigers. Über dem Elektrometer
ist ein kugelförmiger lonisationsraum von 7,72 cm
innerem Durchmesser aus Messing aufgesetzt, in
den ein mit dem Elektrometersystem verbundener
Zerstreuungskörper hineinragt.
Mit diesem Apparat hat H o f f m a n n 810 Stoße
des Lichtzeigers aufgenommen und hat die btoB-
größe, d. h. die Menge der bei jedem Stoß eines
«-Teilchens gebildeten Ionen in einer Tabelle
mitgeteilt. Für die Ionisation ergaben sich fol-
gende Werte: durchschnittliche Zahl der Stoße
L :2 in der Stunde; durchschnittliche Große
= 157 mm = 81700 Ionen; Zahl der Stoße
pro qcm der Kugeloberfläche und Stunde = 0,28;
gesamte «Ionisation im Durchschnitt = 1 190 Ionen
in der Sekunde. Die gleichförmige Bewegung
des Lichtzeigers zwischen den Stößen der « 1 eil-
chen entspricht einer lonenbildung von 1 39p m
der Sekunde infolge der durchdringenden Strahlung
der Erde. , , t> u „
Hoff mann hat dann emgehende Berechnun-
gen über die Erklärung der beobachteten btoß-
größen durch eine radioaktive Verunreinigung
der Wände des lonisationsgefäßes angestellt. Bei
einer lonenabsättigung von 90 «/o ist für die
kürzeren Stöße die Annahme einer neuen Radio-
aktivität nötig, die nicht der gewöhnlichen Uran-
Radium- und noch viel weniger • der Thorium-
familie zugeschrieben werden kann. Hoffmann
nimmt daher eine «-Aktivität des Messings oder
dessen Hauptbestandteils, des Kupfers/) an, wo-
raus die Wand des lonisationsgefäßes besteht.
Ein Quadratzentimeter Metall sendet sekundlich
,.io-^ «-Teilchen von der geringen Reichweite
von 1,8 cm in Luft von O« und 760 ^m aus.
Die Aktivität des Kupfers ist mindestens i, 5 Mil-
lionen mal geringer wie die des Urans. Kein
Wunder, daß eine derartig geringe Radioaktivität
bisher nicht nachweisbar war. „Als Resultat der
näheren Diskussion der Stoßverteilungskurve der
«-Aktivität in einem kugelförmigen Metallgetaß
ergibt sich, daß es nicht angängig ist, die be-
obachteten «Aktivitäten allein auf das Radiurn
und seine Abkömmlinge zu schieben. Es ist mit
Sicherheit das Vorhandensein langlebiger Radio-
elemente mit kurzer Reichweite nachgewiesen.
Ob allerdings die neue Aktivität dem Kupfer oder
einem die Gefäßwand verunreinigenden unbe-
kannten Glied der Uranreihe zuzuschreiben ist,
ist noch nicht völlig sicher ausgemacht.
Hoff mann hat dann noch interessante Ver-
suche zur Erzielung von Räumen angestellt, die
möglichst frei von a Ionisation sind. Um die von
der Wand des lonisationsgefäßes ausgehenden «•
Teilchen zu vermindern, wurde eine Reduktion
nToie^Ausdehnung der Versuche auf Hohlkugcin aus
Metallen mit hoben Atomgewichten scheint besonders aus-
sichtsreich Ergab doch Platinfolie emen dreimal so hohen
Wert der «-Aktivität pro qcm Oberfläche wie Messmg."
140
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
der Wandoberfläche durch Ersetzung der massiven
Wand durch ein weitmaschiges Drahtnetz vorge-
nommen. Der Einfluß der Wände gegenüber den
radioaktiven Stoffen in der Luft wurde dann noch
durch eine beträchtliche Erhöhung des Gasdrucks
vermindert. Als lonisationsgefäß diente ein aus
feinen Platindrähten zusammengeschweißter Netz-
korb, der in einem Gefäß aufgehängt wurde, in
welchem durch eine kleine Kompressionspumpe
bis zu 15 Atmosphären Druck hergesteHt werden
konnte.
Bei 5 Atmosphären Druck wurden in Luft
und Kohlensäure verschiedener Herkunft 2 bis
14,5 Stöße in der Stunde am Elektrometer be-
obachtet. „Blieb die Luft tagelang im Beobach-
tungsgefäß, so stieg die Radioaktivität an. Die
Bildungsgeschwindigkeit entsprach ungefähr der
Radiumemanation. Offenbar stammt diese Akti-
vhät von einem Radiumgehalt der Wandungen
des äußeren Druckgefäßes, das aus roh bearbei-
teten Eisenteilen zusammengesetzt war."
Weitere Versuche wurden bei normalem Luft-
druck mit 2 Kupferdrahtkugeln von 8 cm Durch-
messer als lonisationsgefäße ausgeführt. Die
Kugeln wurden in einem großen Zinkgefäß von
solchen Dimensionen aufgehängt, daß die «-Strah-
lung der Wandung nicht in den Kugelraum ein-
treten konnte. Bei der einen Drahtkugel (Nr. i)
war die Maschenweite etwa 1,5 cm, die andere
Kugel (Nr. 2) bestand nur aus 3 zueinander senk-
rechten größten Drahtkreisen. Mit Kugel 2
glückte es trotz des Volumens von 260 ccm ganz
außerordentlich geringe Ionisationen bis herab zu
3,1 Stößen in der Stunde zu erzielen.
„Das Verhältnis der Stoßzahlen für Bomben-
luft bei Kugel i und Kugel 2 ist ungefähr gleich
dem Verhältnis der Drahtoberflächen. Man ist
versucht, daraus zu schließen, daß die Restaktivität
im wesentlichen auf radioaktiven Stößen beruht,
die von den Drähten ausgehen."
Wenn die Stoßzahlen auf 3—4 Stöße in der
Stunde herabgehen, dann kann mit großer Ge-
nauigkeit die gleichförmige Ionisation infolge der
durchdringenden Strahlung der Erde gemessen
werden. Die Größe der durchdringenden Strah-
lung bleibt nach den Aufzeichnungen der unmittel-
bar aufeinanderfolgenden Teile der Registrier-
kurven bis auf 1—2 %o konstant. In jeder Se-
kunde werden infolge der durchdringenden Strah-
lung im ccm etwa 3,88 Ionen neu gebildet.
Die Versuchsanordnung mit den Drahtkugeln
als Ionisationskammern ist auch sehr empfindlich
für jede Änderung der durchdringenden Strahlung.
„Die Strahlung stärkerer Radiumpräparate konnte
durch dicke Mauern aus entfernteren Teilen des
Gebäudes her beobachtet werden. Die Strahlung
eines Gefäßes, das ein Kaliumsalz enthält, kann
in wenigen Minuten gemessen werden."
In der Zusammenfassung seiner Ergebnisse
stellt Hoffmann noch einmal folgendes fest:
„Es zeigt sich, daß zur Erklärung der Beobach-
tungen die Strahlung des Radiums und seiner
N. F. XX. Nr. 9
Abkömmlinge nicht ausreicht, sondern daß lang-
lebige radioaktive Substanzen mit Strahlungen
kurzer Reichweite außerdem vorhanden sein
müssen Die Möglichkeit einer Aktivität, etwa
des Cu, wird diskutiert. Es wird gezeigt, wie
Räume hergestellt werden können, die eine sehr
geringe ß-Ionisation aufweisen."
Karl Kuhn.
Die Kristallstruktur einiger Karbonate der
Calcitgruppe.
R. W. G. W y c ko f f bringt im American Journal
of Science (IV. Folge) 50. Bd. (1920) S. 317—360
hierüber ausführliche Untersuchungen auf Grund
von Röntgenaufnahmen nach der Laue-Methode.
Die Struktur des Calcits wurde bereits 191 5 durch
W. L. und W. H. Bragg mit ihrer Reflexions-
methode (vgl. Naturw. Wochenschr. 1917, S. 522)
ermittelt, ebenfalls die analoge Struktur des Side-
rits (FeCOg) und Manganspats (MnCOg). Die
vorHegenden Untersuchungen von Wyckoff wur-
den ursprünglich in der Hoffnung unternommen,
daß die weitgehenden Hinweise, welche Laue-
Diagramme bei entsprechender Auswertung zur
Erforschung einer Struktur liefern können, dazu
dienen könnten, die O- Atome im Gitter mit
größerer Genauigkeit als sonst möglich einzuord-
nen. Es sollten vor allem entscheidende Anhalts-
punkte hinsichtlich der Existenz der Baugruppe
COg im Gitter gewonnen werden. ^)
Von den hierher gehörigen Karbonaten kom-
men nach Wyckoff nur CaCOg, FeCOg und
MnCOs, seltener auch noch MgCOg und ZnCOg
in für diese Untersuchung geeigneten natürlichen
Kristallen vor. Von CrCOg, CdCO, und NiCOg
ist kein brauchbares natürliches Material verfüg-
bar. — Zur Auswertung der in der üblichen Weise
erhaltenen Laue-Röntgenogramme verwendet der
Verf. nicht die z. B. von Rinne [Ben Verhandlgn.
K. Sachs. Ges. d. W. zu Leipzig 67. Bd., S. 303 ff.
(191 5)] vorgeschlagene stereographische Projektion,
sondern die gnomonische, weil diese ihm folgende
Vorteile zu bieten scheint. (Diese Projektionsart
wurde übrigens auch schon von E. Schiebold
mit Vorteil angewendet.) Die Indizes der
reflektierenden Gitterebenen sind sehr leicht und
einfach abzulesen. Ferner bietet diese Methode
den Vorteil, daß auch infolge von ungenauer
Orientierung der Kristallplatte zur Richtung des
1) Anm. d. Ref. Die von W. H. Bragg für den Calcit
als die wahrscheinlichste angenommene Struktur besitzt näm-
lich hinsichtlich der Lage der 0-Atome zunächst einen Frei-
beitsgrad. Aus diesem Grunde ist auch von E. Schiebold
in seiner ausführlichen Untersuchung „Über die Verwer-
tung der Laue- Diagramme zur Bestimmung der
Struktur des Kalkspates" (Abhandlungen der mathem.-
phys. Kl. d. S. Ak. d. \V. z. Leipzig XXXVI. Bd. (1919)
der gleiche Weg bereits eingeschlagen worden. (Diese Arbeit
ist dem Verf. offenbar noch nicht bekannt gewesen.) Das
Ergebnis Schiebolds ist übrigens mit dem des Verf. iden-
tisch, das Braggsche Struklurmodell wurde als beste Lösung
bestätigt.
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
141
Primärstrahles unsymmetrisch ausgefallene Laue-
Diagramme danach ganz einfach ausgewertet
werden können. Der zweckmäßigen Herstellung
und Auswertung dieser gnomonischen Projektionen
werden danach eingehende Betrachtungen ge-
widmet, besonders hinsichtlich der Auswertung
unsymmetrischer Diagramme.
Die so erhaltenen Werte der Flächenindizes
der reflektierenden Gitterebenen dieser Laue-
Diagramme würden übrigens, wie schon bei NaNOg
früher von Wyckoff geschehen (The Physical
Review, American Phys. Soc. Bd. XVI (1920)
S. 149 — 157) nicht auf die Kanten des Spaltungs-
rhomboeders als kristallographische Achsen be-
zogen, wie dies nach der IVIill ersehen Bezeich-
nungsweise für die rhomboedischen Kristalle üb-
lich ist. Es wurden vielmehr zunächst Achsen
zugrunde gelegt, die den Diagonalen der Flächen
desSpaltungsrhomboeders (-j- R) entsprechen, d. h.
die Polkanten des Rhomboeders — 2 R. Dadurch
wird eine viel größere Einfachheit in den Flächen-
indizes der Diagrammpunkte erzielt. Da aber bei
der weiteren Auswertung der Intensitäten dieser
Diagrammpunkte gewisse Strukturebenen schein-
bar Wellenlängen reflektieren würden, die kürzer
sind als sie überhaupt in dem benutzten Röntgen-
licht enthalten waren, so wird man gezwungen
ein besseres Achsensystem auszuwählen. Wenn
nun die Diagonalen der Flächen dieses bisherigen
Bezugsrhomboeders ( — 2 R) zu Achsen genommen
werden (das sind nun aber die Polkanten des
Rhomboeders -}~4R). so verschwinden auch die
erwähnten Unstimmigkeiten. Die Rechnung zeigt,
daß in diesem nunmehr als Struktureinheit ge-
wähltem Rhomboeder 2 Moleküle CaCOg ent-
halten sind. ')
Über den Einfluß der Spannung, mit der die
Röntgenröhre betrieben wird, auf die Natur des
erhaltenen Diagramms wird vor Beginn der Mit-
teilung der Auswertungsversuche noch gesagt,
daß I. die brauchbarsten Photogramme mit Hilfe
einer Wolfram-Antikathode bei einer Spannung
von 50000 Volt erhalten wurden und 2. daß die
Verwendung verschiedenartiger Absorptionsschirme
unnötig und nicht wünschenswert ist.
Die Auswertung der Laue- Diagramme des
Calcits führt zunächst zu der Feststellung, daß
das Strukturmodell der Raumgruppe D°3,\ oder
D^s.a angehören muß. Es erwächst hiernach die
Aufgabe, alle Möglichkeiten zu besprechen, nach
denen CaCOg in einer dieser Raumgruppen ange-
ordnet werden kann. Durch Vergleich der in
') Anm. d. Ref. Es muß nochmals darauf hingewiesen
werden, daß das gleiche Ergebnis auf analogem Wege schon
in der älteren Arbeit von E. Schiebold erhalten worden
ist (vgl. a. a. O. S. 84 u. 85). Die auf diese Weise aus den
Laue- Diagrammen allein abgeleitete Struktur stimmt übrigens
mit der von W. H. Bragg ermittelten überein, bei der bei
näherer Betrachtung ebenfalls das Rhomboeder 4 R als Grund-
einheil zu wählen ist. Die von H Tertsch (Tscberm. Min.,
petr. Mittig. Bd. 34 (1917) abgeleitete Struktur, deren Einheit
das Spaltungsrhomboeder ist, kann infolgedessen nicht ange-
nommen werden.
den Laue-Diagrammen beobachteten Reflexpunkte
von bestimmten Strukturebenen mit den lediglich
durch die folgende Annahme errechneten ergibt,
daß nur die Raumgruppe D^aa passend sein kann.
Die hierzu notwendig anerkannte Annahme ist die,
daß die Intensität des von den einzelnen Atomen
abgebeugten Röntgenlichts proportional ist der
betreffenden Atomordnungszahl. — Nach der Ent-
scheidung über die Raumgruppe bleibt die Frage
nach der genaueren Plazierung von O, Ca u. C
noch offen. Die Diskussion ergibt dann das be-
reits von Bragg ermittelte Modell (s. Natur w.
Wochenschr. 1917, S. 525). Unter Beziehung auf
die Kanten a der obengenannten Struktureinheit
als Achsen ergeben sich folgende Koordinaten
der innerhalb einer Einheit liegenden Atome:
Ca =
4' 4 4
3a 35 3^
4' 4' 4"
_ a a a
C = o, o, o; — , — , .
' ' 222
O := u, u, O; u, o, u; O, u, u;
, a a , a a a
u H — , - ; u H — , — , —
' ■> 2 222
u.
— u,
"+2'
worin u den Wert von nahezu "/^ hat und jeden-
falls innerhalb 0,24 und 0,26 liegt. Der Winkel
zwischen den Achsen (Koordinatenwinkel) be-
trägt 46" 06'. Die Polkantenlänge dieses Rhom-
boeders ist a = 6,16 X 10-' cm.ij
Während zur Untersuchung beim Calcit islän-
discher Doppelspat verwendet wurde, stand für
Manganspat solcher von Lake County, Colorado,
zur Verfügung [nahezu reines MnCOg nach Ana-
lyse vgl. Wash. Acad. Science, 7. Bd., 365 (1917)].
Zur Ermittlung der Ausmaße der Struktureinheit
wurden mit den Linien der L Serie von Wolf-
ram eine vergleichende Spektralaufnahme von
Calcitspaltungstücken und von diesen MnCOj-
Spaltungsrhomboedern hergestellt. Wenn der Wert
d=304X io~* cm für Calcit als genau bekannt
vorausgesetzt wurde, ergab sich danach für MnCOg
der Wert d = 2,83 X I0~" cm. Dieser weicht aber
erheblich von dem für MnCOg von Bragg (X-rays
and crystal-structure) ermittelten Werte ab. Da
für den dort verwendeten Manganspat weder
Fundort noch chemische Zusammensetzung ange-
geben wird, kann eine Aufklärung dieser Un-
stimmigkeit nicht versucht werden. — Durch ana-
loge Auswertung von Laue Diagrammen desMnCOg
wird nun das gleiche Strukturmodell ermittelt, wie
bereits für den Calcit geschehen. Der Wert u bei
den oben angegebenen Koordinaten für O liegt aber
hier wahrscheinlich bei 0,27 und a^ S,6i8Xio-* cm
Koordinatenwirkel ^47 " 46'.
Die Struktur von Siderit (FeCOg, Mol.-Gew.
•) Diese Zahlen weichen von den z. B. bei E. Schie-
bold angegebenen ab; dort ist a = 6,345 X ■°""''' '^'"'
142
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
= 114,93) wird der von Manganspat (MnCOg,
Mol.-Gew. = 115,85) als völlig identisch gefunden.
Eine Reihe von Laue Photogrammen des Eisen-
spats ließ sich nicht von denen des Manganspats
unterscheiden. Vergleichsspektra von Spaltungs-
rhomboedern (wie oben angegeben) lieferten für
FeCOg den Wert 2,81 X lo-^* cm. Innerhalb der
Versuchsfehler kann also die Struktur des FeCOg
und ihre Ausmaße mit der des MnCOg gleich ge-
setzt werden.
Die Struktur von MgCOg konnte wegen Mangels
an ebensogut geeignetem Material nicht in gleicher
Weise überprüft werden.
Aus diesen Daten ergeben sich nun hinsicht-
lich der Existenz der „Baugruppe" CO., in den
untersuchten Karbonaten folgende Anhaltspunkte.
Für CaCOg wird gefunden : der kürzeste Abstand
von O zu C zu 1,21 X io~* cm/) von O zu Ca zu
2,30 X I0"~* cm, von Ca zu C zu 3,04 X lO""* cm.
') Auch diese Zahl wird bei E. Schiebold hiervon
abweichend mit 1,54 X lO"** cm angegeben.
Beim MnCOg dagegen sind die entsprechenden
kürzesten Abstände vonO zu C= 1,225 X io~* cm,
von O zu Mn = 1,96 X io~^ cm, von Mn zu C
= 2,83 X io~* cm. Für Siderit wären nach obigem
die gleichen Werte anzunehmen. Daraus ergibt
sich, daß die Abstände zwischen den C Atomen
und den 3 dicht darum angeordneten OAtomen
in beiden Fällen innerhalb der Versuchsfehler
gleich sind, während die Abstände zwischen Mn
bzw. Ca und O und ebenfalls zwischen Mn bzw.
Ca und C verhältnismäßig stark verschieden sind.
Daraus darf wohl auf die Existenz der
Baugruppe CO3 geschlossen werden.
Zum Schluß der Arbeit werden noch die Mög-
lichkeiten der Bindungen zwischen den einzelnen
Atomen besprochen mit dem Resultat, daß die
Annahme von elektrisch geladenen Ca- bzw. CO^-
lonen als am wahrscheinlichsten sich aufdrängt.
— Betrachtungen über den Zusammenhang der
ermittelten Kristallstruktur mit den beim Calcit
in der Natur beobachteten häufigsten Kristall-
flächen bilden den Schluß der Arbeit. Spbg.
Bücherbesprechungen.
Ulbricht, K. , Das Kugelphotometer (Ul-
brichische Kugel). 1 10 Seiten mit 31 Textabb.
u. 3 Tafeln. München und Berlin 1920, Ver-
lag K. Oldenburg. Geh. 24 M., geb. 28 M.
Bringt man eine Lichtquelle in das Innere einer
Hohlkugel (von 1,5 — 3 m Durchmesser) deren
Innenwandung mit einem weißen Anstrich von
möglichst vollkommenem Zerstreuungs- und ge-
ringem Absorptionsvermögen versehen ist, dann
ergibt sich nach dem Lambertschen Gesetz,
daß die Wandbeleuchtung durch das von den
Wand flächen- zurückgeworfene Licht
überall die gleiche ist ganz unabhängig davon, an
welcher Stelle der Hohlkugel die Lichtquelle an-
gebracht ist. Verschiedenheiten in der Wandbe-
leuchtung treten lediglich durch die unmittel-
bare Bestrahlung der Lichtquelle auf. Schaltet
man durch Anbringung einer Blende diese an
einer Stelle der Kugelwandung aus, trennt man
also auf diese Weise das zurückgeworfene Licht
von der unmittelbaren Bestrahlung, dann kann
man an dieser Stelle die Wandbeleuchtung messen,
indem man in der Wand eine Öffnung anbringt
und das heraustretende Licht mit einem Photo-
meter mißt; man erhält auf diese Weise eine
Größe, die in geradem Verhältnis zur mittleren
räumlichen Lichtstärke des Leuchtkörpers
steht und sonach als Maß derselben dienen kann.
Das ist der Gedanke, der dem Kugelphotometer
von Ulbricht (auch Integrator genannt) zugrunde
liegt. Es ist das Meßinstrument, das heute,
namentlich seitdem es seit 1906 in den Vor-
schriften des Verbandes deutscher Elektrotechniker
aufgenommen ist, vorwiegend für die Photo-
metrierung von Glüh- und Bogenlampen verwendet
wird. Die Arbeiten des Verfassers darüber sind
in den Jahren 1900 bis 1910 in der elektrotech-
nischen Zeitschrift erschienen. Das vorliegende
Buch ist eine Neubearbeitung dieser Aufsätze unter
Benutzung fremder Veröffentlichungen; es enthält
an Theorie und Praxis alles, was über das Kugel-
photometer wissenswert ist. K. Seh.
Pfeiffer, L., Die Werkzeuge des Steinzeit-
menschen. Aus der technologischen Ab-
teilung des Städtischen Museums in Weimar.
415 S. mit 540 Textabbildungen. Jena 1920,
Gustav Fischer.
Für die Erforschung der vorgeschichtlichen
Technik ist bisher außerordentlich wenig getan.
Um so dankbarer müssen wir dem Städtischen
Museum in Weimar dafür sein, daß es in mühe-
voller Arbeit Jahrzehnte hindurch all das zu sam-
meln versuchte, was uns über die steinzeitliche
Technik ein klares Bild geben kann. Die An-
regung zu dieser Sammelarbeit ging von dem
Medizinalrat Dr. Pfeiffer aus, der die Sammel-
arbeit auch während der ganzen Zeit mit dem
größten Interesse begleitete und durch persönliche
Opfer sowie durch Gewinnung von Geldmitteln
ermöglichte. Pf. hat sich mit dieser Sammelar-
beit jedoch nicht begnügt, sondern auch versucht,
die Ergebnisse dieses Sammeins in einer Reihe
von Arbeiten, darunter mehreren Büchern, bekannt,
zugeben. All diese Arbeiten will das jetzt er-
schienene neue Buch zu einem abschließenden
Werk zusammenfassen, gleichzeitig aber auch ein
Leitfaden zur Einführung in die Technik, „speziell
für Museen, Volkshochschulen, landwirtschaftliche
und technische Schulen, für Sammler" sein.
N. F. XX. Nr. 9
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
143
Das Werk wird gewiß von Fachleuten als
Materialsammlung benutzt werden können; sie
werden dann einmal darin blättern und dankbar
des Verfassers gedenken. Eine Verbreitung über
die Fachkreise hinaus dürfen wir dem Werke je-
doch aus rein wissenschaftlichen Erwägungen
heraus nicht wünschen. Denn das Buch steht
keineswegs mit dem in Einklang, was Pf. durch
die Förderung des Museums durch seine Einzel-
forschungen geleistet hat; und so fürchte ich, daß
Pf. sich selbst den schlechtesten Dienst erwies, als
er dieses Werk als seine Lebensarbeit bezeichnete.
Doch zum Inhalt. Drei Leitgedanken hat der
Verf. wie einen roten Faden in den Aufbau des
Ganzen hineingewebt. Einmal seine eigene An-
schauung von der Chronologie: das Solutreen ge-
höre hinter das Magdalenien, weil es an der ihm
sonst eingeräumten Stelle nicht in Pf.s Theorien
hineinpaßt. Zweitens: Der Übergang zur Jung-
steinzeit und die in der Jungsteinzeit auftretenden
neuen Kulturgüter seien lediglich durch die Ein-
wanderung eines neuen Volkes zustande gekom-
men. Drittens: In der Technik lasse sich von der
jüngeren Steinzeit an ein „Dualismus" erkennen,
der sich durch eine Oberschicht in der Bevölke-
rung erkläre, die immer neues, feineres Werkzeug
habe anfertigen lassen, während die in Sklaven-
stellung stehende Unterschicht sich mit den alten
Werkzeugen habe begnügen müssen. Mit diesen
drei Leitsätzen werden sich jedoch wohl die
wenigsten Fachgenossen befreunden können.
Der Gesamteindruck des Buches ist entschieden
nicht günstig. Allzuoft finden sich langatmige
Wiederholungen. Die Gliederung ist des öfteren
nicht innegehalten. Was soll z. B. in dem Ab-
schnitt Werkzeuglehre die Schilderung der Jagd-
tiere oder in dem gleichen Abschnitt unter der
Überschrift Rhinoceros die Angabe über Vogel-
eier usw. Und was hat schließlich das Kapitel
„Rösten der Getreidekörner" überhaupt mit Prä-
historie zu tun?
Jede Benutzung des Buches wird übrigens sehr
beeinträchtigt durch zahlreiche Druckfehler und
Entstellungen.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
La Baume, Wolfgang, Vorgeschichte von
Westpreußen in Grundzügen allgemein
verständlich dargestellt. Herausgegeben von
der naturforschenden Gesellschaft in Danzig.
102 S., i8 Tafeln, 84 Textabbildungen. Danzig
1920, in Kommission bei R. Friedländer und
Sohn in Berlin.
Einstmals hatte die Provinz Westpreußen
mehrere Jahrzehnte lang im Vordergrund der vorge-
schichtlichen Forschung gestanden, als Abraham
Lissauer in Danzig ansässig war und sich mit
Feuereifer den vorgeschichtlichen Studien zuwandte.
Seine Arbeiten und die seiner Freunde Anger und
Dorr waren für ihre Zeit mustergültig und gehören
noch heute zu dem unentbehrlichen Rüstzeug des
Vorgeschichtsforschers. Die von diesen drei
Forschern geleistete Arbeit versuchte der hoch-
verdiente Direktor des ProvinziaJmuseumsConwentz
fortzusetzen. Aber zu seiner Unterstützung fanden
sich keine Mitarbeiter, und so bereitete sich all-
mählich ein Stillstand vor, der dann dazu führte,
daß Westpreußen zu derjenigen Provinz wurde, die
am allerwenigsten literarische Veröffentlichungen
auf vorgeschichtlichem Gebiet aufzuweisen hat.
Merkwürdig fügt es nun das Schicksal, daß gerade
in dem Augenblick, wo die Provinz durch die
Bestimmung des Friedens von 1919 zerstückelt
wurde, sie sich noch einmal zu einer mustergültigen
Verarbeitung ihrer vorgeschichtlichen Funde auf-
raffte. Von sachkundiger Hand erhalten die aus
ihr vorliegenden reichen Funde in der La Baume-
schen Vorgeschichte eine für die weitesten Kreise be-
rechnete Zusammenfassung, eine Zusammenfassung,
wie ich sie mir gar nicht besser und klarer denken
kann und für die es eigentlich auch nur ein Gegen-
stück in dem von Oskar Mertins verfaßten „Weg-
weiser durch die Urgeschichte Schlesiens" (2. Aufl.
Breslau 1906) gibt. In übersichtlicher zusammen-
hängender Form wird ein gutdurchdachter Über-
blick über die Vorgeschichte der Landschaft ge-
boten. Dabei werden die wichtigsten Funde aus-
führlich erörtert und in gut gewählten Abbildungen
vorgeführt. Am Schlüsse der einzelnen Abschnitte
findet sich jeweilig die wichtigste Literatur ver-
zeichnet. Möchte das Buch zu ähnlichen gleich-
guten zusammenfassenden Darstellungen der Vor-
und Frühgeschichte der übrigen Provinzen und
Landschaften Deutschlands anregen und möchte
gleichzeitig mit seinem Erscheinen für die hart-
geprüfte Landschaft, der es gewidmet ist, eine
neue Periode eifrigster Forschung und reichster
wissenschaftlicher Ergebnisse auf dem Gebiete
der Vorgeschichte heranbrechen I
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Weil, L. W., Neue Grundlagen der tech-
nischen Hydrodynamik. München und
Berlin, Verlag R. Oldenburg. 219 Seiten mit
133 Abbildungen. Preis geh. 26 M., geb. 30 M.
Die Hydrodynamik hat für zahlreiche Strömungs-
probleme, die wissenschaftlich und wirtschaftlich
von der größten Bedeutung sind, noch keine
exakte Erklärung bzw. analytische Lösung finden
können, da einerseits die experimentelle Erforschung
außerordentlich schwer ist, andererseits die rein
theoretische Behandlung auf oft unüberwindliche
Schwierigkeiten stößt, die zur Aufsteilung ver-
einfachender Annahmen über den Strömungs-
verlauf geführt haben. Das hat zur Folge gehabt,
daß der praktische Hydrodynamiker seine mathe-
matischen Beziehungen ausschließlich aus der
praktischen Erfahrung auf empirischem Wege
gewinnt, während er das Feld der wissenschaft-
lichen Bearbeitung derselben vollständig den
Theoretikern überläßt. Zwischen beiden besteht
eine Kluft. Das vorliegende Buch (es ist in mehr-
jähriger Kriegsgefangenschaft geschrieben) macht
den Versuch, diese Kluft zu überbrücken ; alle
144
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 9
durch theoretische Betrachtung gewonnenen Er-
gebnisse werden sorgfältig geprüft, ob sie quali-
tativ und quantitativ mit der praktischen Erfahrung
übereinstimmen. Folgende Themata werden in
den einzelnen Abschnitten behandelt: i. Die turbu-
lente Strömung, 2. die Zentralströmung, 3. das
Ausfluß oder iVIündungsproblem, 4. der Energie-
satz der kreisenden Flüssigkeit, 5. der hydraulische
Stoß, 6. die Kreiselräder. K. Seh.
Diels, Paul, Die Slawen. 141 S. (Aus Natur und
Geistes weit Nr. 740.) Leipzig 1920, B. G. Teubner.
Das Büchlein D i e 1 s' ist recht zeitgemäß heraus-
gekommen. Es enthält reichliches Tatsachen-
material u. a. über die Urheimat der Slawen, ihre
Gliederung in Sprachstämme, deren geographische
Verbreitung, die Sprachen, Schrift, Religionen
und kulturellen Eigenarten. Die Abschnitte über
die Kaschuben, Polen und Tschechen verdienen
besondere Beachtung, weil es sich hier um Nach-
barvölker handelt, deren Sprachgebiete in geringer
Ausdehnung über Deutschlands Grenzen herein-
reichen. Ganz innerhalb unserer Grenzen lebt
nur der kleine Slawenstamm der Sorben oder
Wenden. So manche Tatsachen, wie etwa gerade
die Erhaltung der sorbischen Sprache in der
Lausitz und des Kaschubischen und Polnischen in
Ostpommern, sind noch nicht klar gedeutet, sie haben
vielleicht auch mehr als eine Ursache. Es scheint
(und das ist ganz natürlich), daß die Intensität
der deutschen Besiedelung nach Osten zu abnahm ;
daß wir jenseits der Lausitz und Pomerellens, in
Schlesien und Preußen, wieder eine starke und
siegreiche deutsche Kolonisation vorfinden, muß
(und kann) aus der besonderen Geschichte der
letztgenannten Länder erklärt werden. Stellen-
weise mag auch die Bodenbeschaffenheit die
deutschen Ansiedler weniger angezogen und somit
der alten Bevölkerung zum Schutz gedient haben
(Kaschubenland). Auch die für uns ganz unlösbare
Frage erhebt sich, ob nicht die Slawenbevölkerung
Ostdeutschlands von vornherein verschiedene
Grade der Dichtigkeit aufwies. — Nicht in den
Bereich der Darstellung gezogen sind die
materielle Kultur, Lebensweise und Gebräuche
der slawischen Völker. H. Fehlinger.
Literatur.
Herz, Prof. Dr. W., Leitfaden der theoretischen Chemie,
Als Einführung in das Gebiet für Studierende der Chemie,
Naturwissenschaften und Pharmazie , Arzte und Techniker,
2, Aufl. Ebenda. 50 M.
Virchow, H. , Die menschlichen Skelettreste aus dem
Kämpfeschen Bruch im Travertin von Ehringsdorf bei Weimar.
Mit 42 Textabb. u. S Tafeln. Jena '20, G. Fischer. 100 M.
Neumayer, M., Erdgeschichte. 3. Aufl., gänzlich neu-
bearbeitet von Prof. F. E. Sueß. I. Bd. Dynamische Geo-
logie. Mit 132 Te.xtabb. 30 Tafeln u. 2 Karten. Leipzig
und Wien '20, Bibliographisches Institut.
Praktikum und Repetitorium der quantitativen Analyse.
111. Teil : Elektroanalyse. Mit 27 Textfig. Leipzig '20, J. A.
Barth. 10,80 M.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin , B. G.
Teubner.
Rüsberg, Dr. F., Einführung in die analytische Che-
mie. I. Teil: Theorie und Gang der Analyse. Mit
15 Textfig. 2. Teil: Die Reaktionen. Mit 4 Textfig.
Sommer, Dr. G, Leib und Seele in ihrem Verhältnis
zueinander.
Egerer, Dr. A., Kartenkunde. I. Einführung in das
Kartenversländnis. Mit 49 Textabb.
Krantz, Prof. P. , Sphärische Trigonometrie zum
Selbstunterricht. Mit 27 Textfig.
Schmidt, Prot. Dr. F. A. , Wie erhalte ich Körper
und Geist gesund?
Bloch, Dr. W., Einführung in die Relativitätstheorie.
2. verb. Aufl. Mit 18 Fig.
Scheiner, Piof. Dr. J. f , Der Bau des Weltalls.
5. Aufl. bearbeitet von Prof. Dr. P. Guthnick. Mit
28 Textfig.
Peter, Prof. Dr. B. f. Die Planeten. 2. Aufl. durch-
gesehen von Dr. H. Naumann. Mit 16 Textfig.
Roth, A., Grundlagen der Elektrotechnik. 3. Aufl.
Mit 70 Abbildungen.
Vater, Prof. R. 'f , Einführung in die technische
Wärmelehre. 2. erweiterte Aufl. bearb. von Dr.
F. Schmidt, Mit 46 Textabb.
Thomes, Prof. Dr. K. , Nahrung und Ernährung. Mit
einer Erläuterung von Rubners Nahrungsmilteltafel. Ebenda.
10 M.
U h 1 i c h , Prof. Dr. R. , Untersuchungen zur Erklärung
der fernwirkenden Kräfte. Ebenda. 4 M.
Hahn, Dr. K., Grundriß der Physik. Für höhere Lehr-
anstalten und Fachschulen, sowie zum Selbstunterricht. Mit
326 Figuren. Ebenda 16 M.
Bader, Dr. H. G., Grundlagen der Flugtechnik. Ent-
werfen und Berechnen von Flugzeugen. Mit 47 Textfiguren.
Ebenda. 36 M.
Voigt, Prof. Dr. A., Exkursionsbuch zum Studium der
Vogelstimmen. 8. vcrm. u. verb. Aufl. Ebenda. 20 M.
Fitschen, J., Gehölzflora. Ein Buch zum Bestimmen
der in Deutschland und den angrenzenden Ländern wild-
wachsenden und angepflanzten Bäume und Sträucher. Mit
342 Abb. Ebenda. 15 M.
Brohmer, Dr. P., Fauna von Deutschland. Ein Be-
stimmungsbuch unserer heimischen Tierwelt. Mit 935 Abb.
Ebenda. 22 M.
Guenther, Prof. Dr. K., Kultur und Tierwelt. Mit
33 Abb. Ebenda. 6 M.
Graebner, Prof. Dr. P., Lehrbuch der nichtparasitären
Pflanzenkrankheiten. Mit 244 Textabb. Berlin '20, P. Parey.
Kirchberger, Prof. Dr. P., Was kann man ohne Ma-
thematik von der Relativitätstheorie verstehen? Karlsruhe '20,
C. F. Müller. 8 M.
Reichenbach, Dr. H., Relativitätstheorie und Erkennt-
nis a priori. Berlin '20, J. Springer.
Born, M., Die Relativitätstheorie Einsteins. Mit 129
Textabb. u. einem Porträt Einsteins. Ebenda. 34 M.
Inhalt: K. Goebel, Pflanzen als Wetterpropheten. (2 Abb.) S. 129. H. Marzell, Der Holunder (Sambucus nigra) in
der Volkskunde. S. 133. — Einzelberichte : S. Nishikawa und G. Asahara, Untersuchungen von Metallen mittels
Röntgenstrahlen. S. 136. C. v. Wisselingh , Untersuchungen über Osmose. S. 136. H. Burgeff, Eigenartige Form
des Parasitismus. S. 137. L. Cohn, Zweck des Tragens von Nasen-, Lippen- und Wangenpflöcken. S. 138. Hoff-
raann, Über die Radioaktivität aller Elemenie. S. 139. R. W. G. Wyckoff, Die Kristallstruktur einiger Karbonate
der Calcitgruppe. S. 140. — Bücherbesprechungen: K. Ulbricht, Das Kugelphotometer. S. 142. L. Pfeiffer,
Die Werkzeuge des Steinzeitmenschen. S. 142. W. La Baume, Vorgeschichte von Westpreufien. S. 143. L. W.
Weil, Neue Grundlagen der technischen Hpdrodynamik. S. I43. P. Diels, Die Slawen. S. 144. — Literatur: Liste. S. 144.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miebe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band,
Sonntag, den 6. März 1921.
Nummer 10.
Deszendenzprobleme, erörtert am Fall der Steinheimer Planorben.
[Nachdruck verboten.]
Von M. Rauther (Stutlgart).
Mit 3 Abbildungen.
Das Mittel einer denkmäßigen Ordnung ge-
gebener Mannigfaltigkeiten ist der Vergleich. Ver-
gleichbarkeit der Lebewesen besagt, daß diese,
obwohl im ganzen konkret- gestaltlich verschieden,
doch „in gewisser Hinsicht" gleich sein können.
Der Ausdruck umfassenderer oder engerer Grade
dieser relativen Gleichheit ist das vielgliedrige
System der Organismen. Was aber ist das
gleiche, das systematische Zusammengehörigkeit
bedingt? Etwa ein einzelner konkreter Teil der
verglichenen Wesen? Wenn wir Säuger, Vögel,
Fische usw. „Wirbeltiere" nennen, so tun wir das,
weil sie alle sich im Besitz einer Wirbelsäule
gleichen. Aber die Wirbelsäule haben sie nicht
als gestaltlich identisches Gebilde gemein: nicht
als eine Wirbelsäule von dieser Größe, Form
und Beschaffenheit; sondern nur als eine Wirbel-
säule überhaupt, d. h. ein sinnlich wahrnehm-
barer, Qualitäten entbehrendes, unwirkliches Ge-
dankengebilde. Und so ist auch „das Wirbeltier",
dem wir außerdem noch ein Rückenmark-über-
haupt, ein Bauchherz-überhaupt u. a. m., sowie
ein allgemeines Lageschema dieser Teile zu-
schreiben mögen, ein Gedankengebilde. Also:
nur in denkhaft-abstrakten Zügen spricht sich
das Gemeinsame, die Einheit systematischer
Gruppen aus.
Sollte was hinsichtlich der mehr oder minder
umfassenden „Genera" sehr einleuchtend, nun
nicht auch für die Art, als engste „systematische
Kategorie", Geltung haben? Auch die Art er-
scheint ja vielen Naturforschern nur als künstliche
Zusammenfassung des Gemeinsamen vieler unter
sich, wenn auch meist nur geringfügig verschie-
dener Individuen oder „Personen". Pendeln diese
nur wenig um eine „Normalform", so scheint
es in der Tat möglich, auch das Wesen der Art
in einem abstrakt allgemeinen Charakter auszudrük-
ken. Tritt aber eine Art in mehreren gut gekenn-
zeichneten Formen (geographischen usw.) auf oder
ist sie physiologisch in höherem Grade dimorph
oder polymorph, so wird es deutlich, daß ihr
Wesen nur in eine umständliche Beschreibung
unter Berücksichtigung der konkreten Grenzfälle
zu fassen ist.
Die Art kann also in der Tat nicht gleich den
übrigen systematischen Kategorien wie ein „Genus"
behandelt werden. Und zwar darum nicht, weil
artgleiche Wesen nicht nur durch allgemeine Be-
griffe, sondern auch konkret-körperlich zusammen-
hängen. Die Art, als ein ununterbrochener Strom
durch Zeugung sich wiederholender, „voneinander
abstammender" Personen, ist demnach selbst durch-
aus ein reales Wesen. Sie, nicht die Person
(wie meist gelehrt wird), ist das eigentliche
Element des Systems, nicht aber selbst schon
begriffliche Kategorie desselben.
Der Zusammenhang durch Zeugung erscheint
nun als der eigentlich der Natur eigene, allein
wirkliche, gegenüber dem nur denkhaften der
systematischen Einheiten. Nichts lag daher näher
als daß es den Naturforscher reizte, diesen
Dualismus zu überwinden und das Hineinspielen
von nur Denkhaftem in die Natur zugunsten
durchaus wirklicher Verknüpfungen zu beseitigen.
Diesen Schritt tat die Abstammungslehre.
Es scheint so einfach, daß, wie die Personen
zum allgemeineren Charakter der Art hinzutretende
Besonderheiten zum Ausdruck bringen, so auch
verschiedene Arten nur allmählich sich ausbildende
Sonderungen aus einer ihnen als leiblicher Vor-
fahr zugrundeliegenden Siammart von allge-
meinerem Charakter seien. „Varietäten sind be-
ginnende Arten" (D arw in). Wie jene von ihren
Ahnen die Artähnlichkeit „erbten", so könnte ja
auch das Gemeinsame mehrerer Arten Erbgut
von selten der gemeinsamen einfacheren Stamm-
art sein. Hier liegt aber eine trügerische Analogie
vor; denn jede Art ist eben nichts Einfacheres,
als die ihr zugerechneten Personen, sie ist kein
Regriff, sondern ein mehr oder minder hohe
konkrete Mannigfaltigkeit umschließendes Wesen.
Übersieht man dies, so erscheint freilich das
System mit einem Schlage in einem neuen Sinn :
die Gattungsbegriffe (mehr oder minder hoher
Ordnung) werden zu Repräsentanten von (dennoch
als konkret geforderten) Ahnenformen. Und das
logische Gesetz der mit ihrem Umfang fort-
schreitenden inhaltlichen Verarmung der systema-
tischen Begriffe erscheint nun als Naturgesetz des
Wurzeins aller Organismenmannigfaltigkeit in ge-
staltlich Einfachem — der „Entwicklung" vom
Niederen zum Höheren. — Wie die Abstammungs-
lehre sich die Triebkräfte dieses Fortgangs denkt,
braucht hier nicht erörtert zu werden. Jedenfalls
würde sie den Verstand schon in hohem Maße
befriedigen, wenn es ihr gelänge, alle Organismen
unter der Voraussetzung genealogisch historischer
Folge einstämmig widerspruchsfrei zu ordnen.
Hiermit steht und fällt im Grunde die ganze
Deszendenztheorie (was ihre konsequenten Ver-
fechter auch stets gefühlt haben). Denn gäbe es
zahlreiche oder gar so viele von Grund auf besondere
Abstammungsfolgen wie besondere Arten, so
146
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 10
verlöre sie das ihr wesentliche Erklärungsprinzip
für das Dasein systematischer Einheiten: die Ab-
stammung aller Unterglieder dieser von gleichen
realen Ahnen.
Läßt sich denn nun die im System zwar nur
denkhaft, aber doch in engster Anlehnung des
Denkens an das Naturwirkliche gegebene Ee-
ziehungsstruktur durch den Stammbaum ange-
messen abbilden? Wir sehen dabei davon ab,
daß die durch Vergleich gewonnenen Generalia
des Systems selbst sich nie mit in noch so
nebelhafter Vorzeit lebenden Stammarten decken
können; denn alle Bestimmungen sind bei jenen
selbst wieder begrifflicher, bei diesen konkret-
gegenständlicher Art. Aber die begriffliche
Dichotomie des Systems scheint doch zum
Stammbaumbilde trefflich zu passen?
Auf den ersten Blick wohl. Nicht aber, sobald
man ins einzelne geht. Die Dipnoer z. B. zeigen
in ihrem knöchernen Skelett, ihrer Beschuppung,
ihren Flossenstrahlen u. a. sicherlich generelle'
Übereinstimmung mit den Ganoiden, so daß man
sie mit diesen aus einer Wurzel herleiten möchte;
andererseits aber lehnen sie sich durch ihren
autostylen Schädel, uneingeschränkte Chorda, Lage
des Geruchsorgans u. a. an die Holocephalen an,
die mit den Ganoiden gar nichts (außer dem all-
gemeinsten Fischcharakter) gemein haben, sich
vielmehr enger an die Plagiostomen anschließen.
Solche Doppelbeziehungen stören die Logik des
Systems nicht (ein Begriff kann ja mit vielen
anderen Begriffen einzelne Bestimmungen gemein
haben); abstammungsmäßig aber sind sie nicht
zu erklären. Denn da man sich, der Einwurzelig-
keit zuliebe, den hypothetischen Artenzuwachs
des Stammbaums gleichsam auf dem Wege der
ungeschlechtlichen Vermehrung (analog dem
Wachsen eines wirklichen Baumes) vorstellt, so
kann jede Art nur zu einer Ahnenart, bzw. einer
Linie von Ahnenarten; blutsverwandtschaftliche
Beziehungen haben. Man muß also den Erbgutwert
der akzessorischen Ähnlichkeitsbeziehungen leugnen
und sie für phylogenetisch belanglose, auf diesen
oder jenen Zufallsgründen beruhende „Konver-
genzerscheinungen" erklären. Etwas anderes wäre
es, wenn, wie jede Tierperson in der Regel zwei
Eltern hat, jede Art zwei Elternarten hätte und
so auch hier eine Doppelbeerbung, bzw. von den
„väterlichen" und „mütterlichen" Ahnenartenketten
her eine Mehrfachbeerbung, eintreten könnte.
Wäre dergleichen irgendwie denkbar?
Erst jüngst hat W. Lu bosch i) die nicht nur
innerhalb der Arten, sondern in jedem Kreise
und auf jeder Stufe des Systems begegnenden
„netzförmigen" Ähnlichkeitsbeziehungen mit der
Vorstellung einer progressiven Umbildung der
Lebewesen in Einklang zu bringen versucht. Die
Ergebnisse verschiedener Erfahrungsgebiete haben
') Das Problem der tierischen Genealogie. Nebst einer
Erörterung des genealogischen Zusammenhangs der Stein-
heimer Schnecken, in: Arch. mikr. Anat. Festschr. Hertwig
1920. ^
in diesem Versuch eine sehr geistvolle Ver-
knüpfung erfahren. Bei ihrer gedrängten Dar-
legung werde ich mich indessen nicht rein
referierend verhalten.
Das erste ist die klarere Einsicht in die
genealogischen Verhältnisse überhaupt.
Man verdankt sie sehr wesentlich einem von den
Biologen anfangs wenig beachteten Werke des
Historikers Lorenz. 1) Später erst haben
O. Hertwig, Lewin u. a. das Genealogie-
problem in biologischer Rücksicht durchdacht.
Die Grundtatsache ist, daß bei allen zweielterlich
gezeugten Organismen — und es ist zweifelhaft,
ob es tierische Organismenarten gibt, die sich
dauernd nur durch ein- oder ungeschlechdiche
Zeugung erhalten — die Zahl der Ahnen jeder
Person rückwärts in geometrischer Progression
zunimmt. Stellt man die wirkliche Ahnentafel
eines „Probandus" auf, so ergibt sich gerade das
umgekehrte Bild eines Stammbaums, d. h. die Ab-
stammungslinien zweigen sich, je weiter man
zurückgeht, um so mehr auf. Dabei ist freilich
zu berücksichtigen, daß nicht die Ahnenlinien
aller Personen selbständig bleiben. Da Geschwister
nur ein gemeinsames Elternpaar haben und da
nahe und fernere Verwandten- sowie Mehrehen
auch in der Natur nichts Seltenes sind, so werden
die Aszendenzlinien verschiedener Personen kommu-
nizieren, d. h. das Bild eines Netzwerks geben.
Das Bild eines Stammbaums können wir aus
diesem Netz nur herauslösen, wenn wir allein den
Mannes- oder Weibesstamm verfolgen. Da sich
in unseren menschlichen Familien der Name allein
im Mannesstamm vererbt, so ist uns die männ-
liche Stammtafel ganz besonders geläufig.
Infolge des „Ahnenverlustes" durch Verwandten-
ehen wird die Zahl der Ahnen jeder Person nie
so groß sein, wie sie theoretisch sein könnte.
Soweit wir aber auch zurückgehen, so muß doch
als „Stamm" jedes Personenbestandes einer Art
eine Vielheit von Personen bleiben, allermindestens
ein Stammvater und eine Stammutter, die nach
der Definition der Art als genealogischer Einheit
unter sich und mit ihren Nachkommen bereits
artgleich sein mußten. Wäre es dennoch und
wie wäre es etwa denkbar, daß in diesem strengen
Rahmen genealogischen Geschehens Neuentstehen
von Arten stattfindet?
Hier treten nun zweitens Erfahrungen und
Theorien der Variabilitäts- und Ver-
erbungslehre ein. — Wir wissen, daß Personen
und Personenfolgen einer Art unter wechselnder
„Umwelt" sich ihrer Erscheinung nach verändern
können. Größe, Gestalt, Färbung, Gewohnheiten
usw. können auf bestimmte durch Nahrung,
Temperatur, Licht, Bewegung u. a. m. gegebene
Bedingungen in bestimmter Weise (meist aber
durch ein Mehr oder Weniger) antworten. Erblich
sind diese „Modifikationen", wenngleich sie
') Lehrbuch d. gesamten wissensch. Genealogie, usw.
Berlin 1898.
N. F. XX. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
147
sog. Nachwirkungen zeigen können, im strengen
Sinne nicht. Andern sich die äußeren Bedingun-
gen, so ändert sich auch bei den Nachkommen
wieder der Habitus. — Im Grunde müßte man
schon hieraus die Konsequenz ziehen, daß das
Wesen einer Art nicht in einem festen Komplex
von erscheinungsmäßigen IVIerkmalen zu sehen
ist, sondern in etwas Dynamischem, einem s p e -
zi fischen Reaktionsvermögen auf die
Umwelt. D a aber allein die wechselnden gestalt-
lichen Reaktionen ein sichtbarer Ausdruck dieses
dauernden Wesens sind, so bleibt praktisch nichts
übrig, als jede Art nach den unter den normalen,
d. h. häufigsten Bedingungen vorkommenden IVIerk-
malen zu kennzeichnen, aber mit einem durch
die Berücksichtigung anderer Bedingungen ge-
setzten Spielraum. Wie wichtig es ist, sich vor
Augen zu halten, daß in jeder Person einer Art
viel mehr an Möglichkeit stecke, als sich unter
jeweiligen Bedingungen erscheinungsmäßig reali-
siert, wird sich weiterhin noch eindringlich zeigen.
Eben darum aber ist bei der Bewertung dessen,
was sich etwa unter ungewöhnlichen Bedingungen
realisiert, als artlich neu stetes Mißtrauen ge-
boten.
Für die, wie gesagt , nicht erblichen Modifika-
tionen leuchtet ohne weiteres ein, daß sie auch
durch Zuchtwahl extremer Abweicher sich nicht
zu einem als artlich neu anzusprechenden Maße
steigern lassen. Man nimmt an, daß von der
Veränderung hier nur das Soma, nicht aber die
Erbmasse betroffen wird, und nennt sie daher
auch Somationen(Plate). Andere Abweichun-
gen hält man auf Grund ihrer Vererbbarkeit für
auf Veränderung der Keimkonstitution beruhend
und faßt sie jetzt — ungeachtet ihres Charakters
und Ausmaßes — als Mutationen zusammen.
Die besonderen Gesetze ihrer Erblichkeit machen
bekanntlich das hauptsächliche Arbeitsfeld der
modernen Vererbungsforscher aus. Mutanten er-
scheinen nun meist als ganz ausgesprochene
„Nova"; oft, wenn auch nicht ausnahmslos, als
sprungweise Abweichungen von der Norm. Diese
können sich auf alles erdenkliche Eigenschaftliche
erstrecken: Form, Größe, Proportionen, Farbe,
Zeichnung usw.
Mutation gilt gegenwärtig für das wahrschein-
lichste Mittel der Natur zur Bildung neuer Arten.
Indessen sehen wir wohl, daß durch sie erblich
gefestigte Rassen entstehen können, aber — nicht
mehr. Diese Rassen kreuzen sich stets unter-
einander und mit der Normalform unbegrenzt
fruchtbar, während selbst nahe verwandte Arten
in der Regel keine fruchtbaren Bastarde ergeben.
Tritt diese Rassenkreuzung, etwa bei Verwilde-
rung, ungehemmt ein, so erfolgt in der Regel
auch gestaltlicher Rückschlag in die Wildform
(Hybridatavismus). Selbst veränderte Lebenslage
scheint gleiches bewirken zu können (Spontan-
atavismus). Sonach haben wir gar keinen Grund
anzunehmen, daß durch Mutation irgend etwas
Konstitutives zur Keimesveranlagung hinzukommt
Wir dürfen uns nach gegenwärtiger Erfahrung
vorstellen, daß die durchschnittliche Erscheinungs-
form jeder Art das Produkt zahlreicher, meist
antagonistischer Bildungstendenzen (Erbeinheiten,
Faktoren) ist, die sich in einem fein abgestimmten
Gleichgewicht befinden. Die ausgebildete Er-
scheinung eines Mutanten mag nun noch so be-
fremdend sein, schwerlich nötigt sie je zu der
Annahme anderer als der normalerweise bei der
Art anzunehmenden Faktoren; nur scheinen diese
in ungewöhnlichen Wechselbeziehungen wirksam
zu sein. Gewisse Faktoren werden zugunsten
anderer gehemmt, ohne doch vielleicht dauernd aus-
geschaltet zu werden. Sehr häufig erscheinen die
Mutanten daher als ausgesprochene „Defekt-
variationen"; will man in anderen Fällen die Ent-
bindung eines sonst kompensierten Faktors „pro-
gressiv" nennen, so ist das lediglich Geschmack-
sache. Man wird also sagen dürfen, daß das
dynamische Wesen der Art (s. o.) in den
Mutanten nicht an sich selbst geändert oder gar
bereichert, wohl aber durch eine Störung seines
ersten Werkzeugs, der Keimesanlagen nämlich,
zu einer abnormen Äußerung gedrängt sei. Da-
mit ist wohl verträglich, daß Mutanten einzelne
Charaktere in exzessiver, auch qualitativ weit
von der Norm abweichender Ausbildung auf-
weisen. Neu — (und zwar auch wohl meist nur
in dem .Sinne: zum erstenmal wissenschaftlich
festgestellt) — ist an den Mutanten nur die ak-
tuelle Störung einer spezifischen Anlagenkonsti-
tution, ohne daß diese aber in ihrem potentiellen
Charakter bereichert würde.
Sollte nun die progressive Artenumwandlung
ein notwendiges Postulat der Biologie sein, so
muß man, da die Somationen als Material aus-
scheiden, dennoch das Neuauftreten von Faktoren,
oder wenigstens die dauernde Verselbständigung
von Rassen mit neuen Faktorenkombinationen,
auch postulieren. Und da Mutation oft plötzlich
bei zahlreichen Personen eines Artbestandes zu-
gleich auftritt (bisweilen scheinbar spontan, aber
meist im Zusammenhang mit der Verpflanzung
unter ungewöhnliche Bedingungen, Kultivation
usw.), so liegt die Annahme nahe, daß im Lebens-
lauf der Arten labile, d. h. zu mutativer Abände-
rung disponierte Perioden mit solchen der Konstanz
abwechseln.
Daß auch bei den „wilden" Arten normaler-
weise mutative Erscheinungen bis zu einem ge-
wissen Grade mitspielen, geht aus züchterischen
Erfahrungen hervor, die deren Peisonenbestände
(Populationen) als der Keimesveranlagung nach
(genotypisch) gemischt erscheinen lassen. Man
kann züchterisch aus einer äußerlich in kontinu-
ierlichen Übergängen variierenden Population
mehr oder minder zahlreiche Stämme (Biolypen)
isolieren , die für sich eine geringere somatische
Variationsbreite haben als die Gesamtart (Jo-
hannsen). Es gibt also im Rahmen dieser wohl
stets verschiedene Konstellationen der Erbfaktoren.
Die Biotypen entsprechen etwa dem, was de
148
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 10
Vries „elementare Arten" nennt — („die
verschiedenen konstanten Faktorenkombinationen,
welche bei heterozygoten Eltern vornehmlich ent-
stehen müssen").
Innerhalb einer „Großart" oder Population,
deren Personen sich trotz leichter genotypischer
Verschiedenheiten beliebig kreuzen, kann es also
gar nicht ausbleiben, daß ein bestimmtes geno-
typisch bedingtes Merkmal bei mehreren Elementar-
arten in verschiedener Kombination wiederkehrt.
Denn es kann ja die ihm entsprechende Faktoren-
konstellation auf den netzartigen genealogischen
Linien in der mannigfachsten Weise sich ver-
teilen. — Nehmen wir nun aber das Auftreten
eines nicht nur kombinativ, sondern konstitutiv
neuen IVIerkmals von Artwert in einer Personen-
gruppe als möglich an! Müßte es nicht als sol-
ches die fruchtbare Kreuzbarkeit mit dieser und
damit die Verteilungsmöglichkeit des neuen Merk-
mals auf die Stammart oder Schwestermutanten
aufheben ?
Lubosch glaubt nun „die Lösung des genea-
logischen Problems" in einer kühnen Hypothese
zu finden: in Mutationsperioden — Zeiten der
„Labilität einer Art" — könnte zunächst doch
noch die Möglichkeit fruchtbarer Kreuzung trotz
bereits eingeleiteter genotypischer Sonderung von
Personengruppen der Art bestehen. Diese Kreu-
zungen, denen eine Nachkommenschaft mit
mannigfachen konstanten Kombinationen der
neuen Merkmale entwüchse, würden die Erklärung
geben „für die so oft im Tierreiche beobachteten
Erscheinungen, daß das gleiche Merkmal sich in
verschiedenen Arten und Ordnungen vorfindet,
und daß eine Art oder Ordnung Merkmale in
sich vereinigt, die bei anderen Arten isoliert vor-
kommen".
* *
*
Lubosch hat vor weiterem Ausbau zunächst
getrachtet, seine Gedankengänge an einem reichen
Tatsachenmaterial, dem aus dem Tertiärbecken
von Steinheim a. A. gehobenen Formenschatz
des Planorbis (Gyrauhis) viulHformis, zu prüfen.
Da es sich hier in der Tat um „eines der
wichtigsten Demonstrationsobjekte der
Deszendenztheorie"^) handelt, das zudem
durch neue (leider erst nach dem Abschluß von
Luboschs Abhandlung erschienene) p-orschungen
in ein verändertes Licht gerückt wird, so lohnt
es sich wohl, den Deutungen jenes Materials er-
neute Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Steinheimer Becken enthält Ablagerungen
aus einem später anscheinend völlig abgeschlos-
senen Süßwassersee. Es läßt sich aus den älteren
•) Die Gründe, mit denen Fleischmann (Die Deszen-
denztheorie, l<;oi) die Steinheimer Planorben als solches zu
diskreditieren suchte, hat Plate (Biol. Centralbl., 21. Bd.,
1901), wie mir scheint, nicht ohne Erfolg bekämpft. Eine
sehr sorgfältige Abwägung der Beweiskraft der Planorbisreihen
m Wigands „Darwinismus" (i. Bd , 1874, S. 427 ff.) ist,
soweit ich sehe, von allen neueren Erörterern der Frage unbe-
achtet geblieben.
Schichten eine 17 Arten umfassende Schnecken-
fauria nachweisen (Gottschick). In den jüngeren
Schichten finden sich dagegen nur die Reste von
dreien dieser Arten; Linmaea dilatata Noulet,
Pseudamnicola ps6ndoglobulus d'Orbigny und PI.
vmüiformis Bronn. Diese letztere erregt eben
hier besonderes Interesse durch ihre erstaunliche
Variabilität. Ältere Autoren — Klein, Sand-
berger, Quenstedt, auch noch Miller —
rechneten die einzelnen Formen verschiedenen
Gattungen zu. Diese Ansicht kann aber schwer-
lich aufrechterhalten werden seitdem Hilgen-
dorfi) ein rundes, glattes, in einer Ebene auf-
gerolltes Embryonalende 2) und die schiefe voll-
ständige Mündung als gemeinsamen Charakter und
zwischen allen Formen fortlaufende Übergänge
nachwies.
Es ist H i 1 g e n d o r f s Verdienst, die Verteilung
dieser Formen auf verschiedene Horizonte im
ganzen durchaus zutreffend erkannt und sie da-
nach in einen zeitlichen Zusammenhang gebracht
zu haben. Als gemeinsame Stammform betrachtet
Hilgendorf vermutungsweise die Varietät
aeqiieumbüicahis. Von ihr läßt er eine Haupt-
und zwei Nebenreihen ausgehen (Abb. i).
DieHauptreihe enthält den gröfleren steinheimensis, den
mit leichter Spiralfurche versehenen teiiuis; bei sukatus tritt
hierzu eine Abflachung der Winduogswandungen. Bei discoi-
dms erfährt der obere Rand der Windungen eine lei.'Jtenartige
Verdickung, während sich zugleich die Unterseite der Spirale
eintieft. Durch stärkere Ausprägung dieses Charakters zweigt
sich hier eine Seitenlinie rotundatiis — aber ohne Leisten-
bildung I — ab. Die Hauptreihe setzt sich fort in den hoch-
gewundenen und mit Leisten versehenen trochiformis, von dem
wiederum eine Seitenlinie zu dem niederen elegans führt. An
trochiformis schließen sich dann in den obersten Schichten
Formen, die wieder früheren sich nähern (oxystoma, sufremus),
ja fast zur Ausgangsform zurückkehren {„revertem").
Von den Nebenreihen ist die eine sehr formenarm;
sie führt über kraussi nur zu dem winzigen, in der Trochi-
formiszeit aussterbenden pseudottnuis. Reichhaltiger ist die
Nebenreihe, die über parvus und nmiutus zu crescens und in
Seitenlinien einerseits zu Iriguitrus, andererseits zu dem stark
gerippten costahis und dem hochgetürmten, aber winzigen und
rippenlosen denudatus führt.
Dies Stammbaumbild ist in seiner schematischen
Klarheit natürlich sehr verblüffend. Zieht man
aber die vielen neben den charakteristischen vor-
kommenden „Zwischenformen" in Betracht, so
wird die Eindeutigkeit der Zusammenhänge bald
zweifelhaft. Schon Hilgendorf selbst hat
abweichende Möglichkeiten in Einzelfällen erwogen
— z. B. den Übergang auch von rotundatus in
trochiformis, der dann „zwei Wurzeln" hätte, was
aber „ein höchst unwahrscheinliches Verhalten"
wäre — und Wigand (a. a. O. S. 433) hat in
seiner Kritik gerade auf die vielfachen „Konver-
genzen" gebührenden Nachdruck gelegt; doch
wollen wir darauf erst später eingehen.
Eine sehr eingehende Bearbeitung der Stein-
') Planorbis raultiformis im Steinheimer Süfl wasserkalk,
in: Monatsber. Akad. d. Wissensch. Berlin, 1866.
') Nach Gottschick sind „kleine Unterschiede an den
Embryonalwindungen der einzelnen Formen immerhin wahr-
nehmbar".
N. F. XX. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
149
heimer Planorben durch H y a 1 1 ') brachte eine
sehr vertiefte Kenntnis der enormen Formenmenge
und ihrer Wechselbeziehungen. Hinsichtlich der
Abstammungsverhältnisse äußert sich Hyatt sehr
vorsichtig; doch neigt er dazu, bei der IBewertung
dieser die bloße Formenvergleichung gegenüber
der genauen Beachtung der Schichtenfolge zu be-
•#■
Abb. I. Hilgendorfs Stammbaum von Planorhis midtiforniis
(ausgezogene Linien).
günstigen. Eine erhebliche und theoretisch wich-
tige Abweichung von Hilgendorf liegt darin,
daß Hyatt keine in sich gleichartige Ausgangs-
form annimmt, sondern bereits 4 ursprünglich in
den See eingewanderte Varietäten von PI. levis.
Diese umfassen aber auch ihrerseits schon eine
solche Fülle verschieden gerichteter Untervarietäten,
daß man sagen kann, es komme in der späteren
Entwicklung kaum noch etwas Neues, vielmehr
lediglich eine Steigerung der hier bereits ange-
deuteten Tendenzen zum Vorschein. Und zwar
entsprechen den 4 Ausgangsformen auch 4 Stamm-
') The genesis of the tertiary species of Planorbis at
Steinheini, in: Anivers. Mem. Boston Soc. nat, Hist., 1882.
reihen, von denen die I. ungefähr Hilgendorfs
Hauptreihe bis trocJiiformis, die II. deren Strecke
oxystoma-siipremits verselbständigt enthält, während
die III. und IV. Hilgendorfs /rr;-7w^- Nebenreihe
modifiziert darstellen. Schon diese IVleinungsver-
schiedenheiten sehr sorgfältiger Beobachter weisen
ja wieder auf verschiedene Verknüpfungsmöglich-
keiten hin. Die Ableitung der oxystoma-^€\\i^
von levis dürfte allerdings, nach Gottschick,
einem „Mißgeschick" (Vermengung des levis mit
einer nicht nach Steinheim gehörigen Form) zu-
zuschreiben sein.
Gottschick,*) zu dessen Darstellung der
Verwandtschaftsverhältnisse wir uns nun zunächst
wenden wollen, hat gerade die stratigraphischen
Befunde mit erhöhter Sorgfalt berücksichtigt und
dabei Hilgendorfs Ansichten über die zeitliche
Reihenfolge der Formen weitgehend bestätigen
können. Mit Hyatt aber berührt er sich inso-
fern, als auch er die Umbildung nicht von einer
Stammrasse ausgehen läßt, sondern von einem
vor dem Abschluß des Sees eingewanderten, inner-
halb gewisser Grenzen vielgestaltigen , aber alle
Übergänge aufweisenden (somit wohl allgemeine
Promiskuität der Personen erlaubenden) Formen-
kreise. 3 „Normalformen" lassen sich daraus her-
vorheben (Abb. 2): I. der extreme G. m. appla-
)iatus Thomae mit bis zu 5^/2 in einer Ebene
liegenden, stark involuten und mit scharfer Außen-
kante versehenen Windungen; 2. der extreme
G. m. kleini Gottsch. et Wenz mit 3V2 — 4 weniger
involuten, rasch zunehmenden und im Querschnitt
rundlichen Windungen; 3. zwischen beiden die
Mitte haltend G. )ii. dcalbatus Sandb. Hinsicht-
lich der gleich tiefen oberen und unteren Ein-
nabelung entsprechen sie H ii g e n d o r f s aegtieian-
lilicatHS. An diese 3 Normalformen lassen sich die
3 Hilgendorfschen Reihen passend anknüpfen;
und zwar die Hauptreihe an dealbatus, die kraiissi-
Reihe an kleini, die minitttis Reihe an applauatus.
Im einzelnen ist dazu folgendes zu bemerken. Alle 3 Ur-
rassen gehen zunächst gleichsinnig in eine als stci'ihcimcitsis
Hilg. zu kennzeichnende Form über, deren Vertreter sich zwar
jeweils mehr oder weniger eng an a/>pliuialus, dealbatus oder
kleini anschließen, aber durch Größe, Dickschaligkeit und be-
sonders geringe Einsenkung der Mitte der Oberseite durchweg
ausgezeichnet sind (Abb. 3 a). Ganz allmählich nimmt dann
der obere Rand der Windungen das Aussehen einer stumpfen
Kante an und die Oberseite der Windungen senkt sich zu
einer Ilachen Furche ein. — Bei einem Teil der Stücke mit
besonders rasch zunehmenden Umgängen tritt dagegen starke
Einsenkung der Umgänge ineinander ein, so daß sich ein
sieinheimeiisis involutiis Hilg. unterscheiden läßt. Dieser be-
hält die rundlichen Umgänge bei und geht allmählich in iraussi
über, doch bleiben auch ferner Übergänge mit ab-
geplatteten Umgängen bestehen. Es ist also die
/!vi7Kjj(-„Reihe'' von der Hauptreihe nicht scharf gesondert,
iraussi vielmehr nur eine extreme Form innerhalb eines ge-
schlossenen Formenstroms. Überhaupt ist durchweg zu be-
denken, daß jede unterschiedene ,,Form" auf charakte-
ristischen Repräsentanten beruht, neben denen Individuen
von minder reinem Charakter beständig in Menge hergehen.
Eine andere Schar behält die starke Abplattung von
') Die Umbildung der Süflwasserschncckcn des Terliär-
beckens von Steinheim a. A. usw., in; Jena. Zeitschr. f. Na-
turw., 56. Bd., 1920.
ISO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. lo
applanatus bei, zeigt aber sehr geringe Gröfle ; sie entsprecheD
dem (als besondere Form nicht aufrerhtzuerhaltenden) par-
fus Hilg, scheinen sich aber nicht weiter fortzusetzen. Die
minu/tis-Reihe ist eher an kleine und sich abplattende äeal-
batiis- und /i'/d'/«/-ähnliche Formen anzuknüpfen.
Die Hauptreihe geht dann durch völlige Abflachung
der Umgänge, Einfurchung der Oberseite, Ausbildung einer
oberen und Verschärfung der unteren Außenkante und Ein-
nabelung der Unterseite in tentiis (Abb. 3 b) über — wie ge-
sagt mit ständiger Bewahrung der Hinneigung zum imvliilus-
Typ. Rasch vollzieht sich dann der Übergang zum siilcattis
Hilg. mit starker Wulstbildung entlang der Naht des stark in-
volutcn Gehäuses. Und bald schließt sich hieran der typische
planotbiformis (== dtscoideus Hilg.) mit flacherem Längswulst,
schärferer (bis kielförmiger) Außenkante und geringerer In-
volution der Windungen — , anfangs noch klein, dann an
Größe zunehmend.
Abb. 2. Querschnitte von Gyrauliis imtltiformis applanatus (a),
dealbatus [y] und klehn (c) ; nach Gottschick.
CP?32D
Abb. 3. Querschnitte von Gyrauliis multiformis steinhcimeiisis
(a) und teniiis (b); nach Gottschick.
In den oberen planoriiformisScinchien finden sich be-
reits mehrfach, aber nicht kontinuierlich, Ansätze zur Erhöhung
der Spiralenmitte. Ziemlich plötzlich, obwohl Übergänge nicht
ganz fehlen, treten dann die hochgewundenen trochiformis auf.
Der Übergangsperiode gehört wohl auch der etwas zweifel-
hafte rotitndatus Hilg. an. Trochiforviis selbst ist in viele
Unterformen zerlegbar; zunächst ist das Gehäuse noch ziem-
lich stumpf, erst später wird es spitzer. Anfangs skalarid,
legen sich die Windungen später oberhalb der Kante des vor-
hergehenden Umgangs an. Oft sind die Gehäuse ganz be-
sonders dickschalig. — Sehr rasch, trotzdem aber mit allen
Zwischenstufen, tritt dann oxysloma Klein auf, indem bei
trochiformis mit schwachem Kiel das Gehäuse niedriger wird.
Trochiformis mit starkem Kiel bilden sich entsprechend in
elegans Hilg. um. Die Übergänge von trochiformis zu oxy-
stoma erweisen sich insofern bereits als rückläufig, als sie
wieder rundliche Windungen, weiten perspektivischen Nabel
und dünne Schale haben; doch nimmt die Schalendicke beim
typischen oxystoma wieder zu und häufig tritt eine kräftige
Lippenbildung auf.
Das Überraschendste an der Hauptreihe war von jeher
der ,, Rückschlag" der fast jüngsten Form revertetis in die Aus-
gangsform, bezeichnet durch Größenabnahme, prallrunde Um-
gänge, allerdings etwas tiefere Einnabelung als bei steinhei*nensis.
Und dann setzt mit siipremus nochmals eine Umbildung in
der alten Richtung ein, die durch Wulst- und Furchenbildung,
Zunahme der Größe und Schalendicke wieder an teiiuis er-
innert.
Was nun die Nebenreihen angeht, so wurde die An-
knüpfung von miiiutus schon erwähnt. Triqiietrtis Hilg. ist
nur ein miniiiiis mit etwas kantigen Umgängen, aber von
diesem nicht scharf zu trennen; er ,, berührt sich" auch mit
pseudolemiis , der andererseits ,,in der Hauptsache [1] von
kraiissi abzuleiten ist '. — Mehr rundliche minutiis zeigen in
der planorbiformis-'Ltxi Ansätze zur Rippenbildung, die sich
dann zum Habitus des typischen costalus Klein steigern. Auch
hier treten nun gleichzeitig mit trochiformis Skalaridenforraen
auf mit allmählich bis zu völligem Schwund sich ausflachenden
Rippen, die endlich den korkzirherförmig gewundenen demi-
ciatus Hilg. ergeben (Skalariden, aber mit kantigen Umgängen,
sind auch von viinitttts selbst aus der pla>iorbiformiS'Y.t'\\. be-
kannt). — Andererseits erfährt minutus auch eine Zunahme
der Umgänge, wobei diese flacher (im Querschnitt herzförmig)
werden. So entsteht mit crescens Hilg. wieder eine Foim, die
sich der Ausgangsform applanatus täuschend anähnlicht —
eine bemerkenswerte Parallele zum gleichzeitigen Rückschlag
von „revertens".
Auch die Anknüpfung der Nebenreihe kraussi an stein-
heimensis-involutus und deren Verwachsung mit der /«««'i-Bahn
wurde schon berührt. Selbst die Umbildung zum trochiforinis-
Typ ,, macht kraussi einigermaßen mit, indem er seine Mitte
erhöht", doch nicht durchweg. Für pseudotenuis ist die Ab-
leitung von kraussi oft zweifelhaft; derartige Formen könnten
z. T. ebensogut ,,von verkümmerten planorbiformis oder von
kantigen minutus" (s. o.) abgeleitet werden.
Überblicken wir das Tatsächliche, so zeigen
sich zwischen den „Reihen" sehr viel innigere
Beziehungen, als sie der Hilgendorfsche
Stammbaum erkennen ließ. Alle scheinen in der
Tat einen ähnlichen Fond von Bildungstendenzen
mitbekommen zu haben, die nur jeweils schwächer
oder stärker hervortreten. Bedenkt man die
Variationsbreite bei jeder der unterschiedenen
Formen, so darf man kaum mehr von selbständi-
gen Reihen sprechen, sondern nur von einem
breiten, allenfalls durch inselartige Lücken unter-
brochenen, bald mehr bald minder polymorphen
Formenstrom. Nur indem man extreme Formen
herausgreift, benennt und durch Linien verbindet
(so daß sie als alleinige Stammväter der nächst-
jüngeren extremen Form erscheinen), entsteht das
Bild des Stammbaums. Auf die enge Verschmel-
zung der kratissi-pseitdo(emiis-Kt\ht mit der
Hauptreihe wurde schon hingewiesen; desgleichen
auf die Anlehnung von pscmioteniiis an friqiietnis.
Die Tendenz zur Gehäuseerhöhung tritt mehrfach
hervor. Die terminalen Formen verschiedener
„Reihen" (revertens und cresccns) nähern sich ein-
ander fast bis zur UnUnterscheidbarkeit (Gott-
schick S. 177) USW. Also: ein netzförmiges
Bild — es ist durch einige punktierte Linien in
Abb. I wenigstens angedeutet — der gestaltlichen
Beziehungen liegt hiermit unbedingt vor.
Lubosch hat auf Grund der Darlegungen
Hyatts bereits grundsätzlich ähnliche Schlüsse
gezogen. Als Schulfall zum Belege der Kreu-
zungshypothese sind die Befunde geeignet zunächst
unter der Voraussetzung, daß alle die beschrie-
N. F. XX. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
ISI
benen Hauptumbildungsfcfrmen „genotypisch be-
dingt" seien. Wenn aber ihre Kreiizbarkeit nur
in statu nascendi möglich sein soll , so müßten
sie nach Ablauf der „Labilitätsperioden" wohl
sogar als neue Arten bewertet werden. Hyatt
entschied sich auch in diesem Sinne; dies, wie
auch die von älteren Autoren geübte Aufteilung
in verschiedene Gattungen, beruht aber sicherlich
auf einem Überschätzen von bloßen Habitusunter-
schieden. Hilgendorf und Gottschick
sprechen auch als Systematiker nur von Varie-
täten.
Nun hat die Gottschicksche Untersuchung
ein — übrigens schon von IM i 11 er') nebenher
berührtes — IVIoment in den Vordergrund ge-
rückt, wodurch auf die merkwürdige Umbildungs-
intensität dieser Schnecken helleres Licht fällt.
Das Vorkommen von Arragonit in den Stein-
heimer Schichten, erst spärlicher, dann reichlicher,
endlich zurücktretend und Kieselsäureab-
scheidungen Platz machend, weist nämlich
darauf hin, daß jener tertiäre See • — • wohl im
Zusammenhang mit den dort nachgewiesenen
vulkanischen Vorgängen — zeitweilig einen reichen
Zufluß aus Thermalquellen erhielt. In der
Zeit der ursprünglichen 3 rniilti/oniiis-Wznt\'ä.\.en
ist davon noch nichts nachzuweisen; sie waren
also wohl Kaltwasserformen, wie sie auch außer-
halb des Sees lebten. Die regste Abartung setzt
eben dann ein, als sich die Einwirkungen der
heißen Zuflüsse am meisten bemerkbar machten,
zur piano rbisformis- und trochiformis-T.€\\. Daß
neben dem wechselnden Chemismus des Wassers
(Ca- und COa- Gehalt u. a.) die Wärme schon
durch Veränderung des ganzen Lebensrhythmus
(in Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung, senso-
rischen und motorischen Reaktionen) auch starke
gestaltliche Abänderungen gleichsam herausfordern
mußte, ist leicht auszudenken. Als endlich die
Einflüsse der Thermen zu schwinden begannen,
kehrten auch die Planorben annähernd wieder
zur Normalform zurück ; — ein Vorgang, der mit
einem Widerspruch gegen das „Gesetz" von der
Unumkehrbarkeit der Phylogenese in seinem ur-
sprünglichen Sinne wenig zu schaffen hat. Denn
hier liegt eben gar keine phyletische Entwicklung
vor, sondern nur Abänderung im Rahmen einer
Art unter dem Einfluß besonderer Außenbedingun-
gen; Abänderungen, wie sie in mehr oder minder
ähnlicher Weise auch von Thermalformen anderer
Mollusken bekannt geworden sind (s. bei Gott-
schick S. 192 ff.).
Im Steinheimer See selbst erhielten sich nach
dem Wirksamwerden der Thermalwasser außer
G. multiformis nur noch 2 weitere Schnecken-
arten : Limnaea dilatata und Pseudamiiicola pseii-
doglobiilus. Auch für sie konnte Gottschick
zeigen, daß sie, eben zur Zeit als bei den Planor-
ben die Abartung einsetzte, gleichfalls, wenn auch
') Die Schaeckcnfauna des Steinheimer Obermiozäns, in :
Jahresh. Ver. f. vaterl. Naturk. Württemberg. 56. Jahrg., 1900.
nicht in so vielen und ausgeprägten Richtungen,
entsprechende Umbildungen erlitten (Dicken-
zunahme der Schale, zeitweilige Größenzunahme,
Änderungen des Windungstyps). Ps. kehrt end-
lich, ähnlich und gleichzeitig mit den Planorben,
wieder zu der Ausgangsform weitgehend gleichen-
den Formen zurück. Die Lünuaea dagegen ver-
mochte offenbar nicht, unter den veränderten
Verhältnissen ihr physiologisches Gleichgewicht
dauernd zu behaupten, denn sie stirbt schon zur
trocJnfonins-2.€\\. aus.
Daß bei den Planorben die gestaltlichen Re-
aktionen auf die qualitativ gleichartigen Thermal-
einflüsse mehrere Haupt- und Nebenrichtungen
aufweisen, kann — angesichts des Umstandes,
daß Formen aller „Reihen" durcheinanderlebten,
örtliche Besonderheiten also wohl kaum maß-
gebend waren, und auch selektive Einflüsse nicht
näher zu begründen sind — wohl am ehesten
aus dem Vorhandensein mehrerer Biotypen
(Stammrassen Hyatts und Gottschicks!) in
der Ausgangspopulation verstanden werden. (Auch
in anderen Fällen, z.B. in den bekannten Tower-
schen Versuchen mit dem Coloradokäfer, traten
übrigens auf den gleichen Reiz hin — Wärme
und Feuchtigkeit — verschiedene Mutanten auf.)
Im übrigen ist es so ganz leicht nicht zu ent-
scheiden, wieweit die Variabilität der Planorben
auf genotypischen Umordnungen oder auf regu-
lativen, nur somatischen Modifikationen beruhe.
Für letzteres spricht gerade die Kontinuität der
Umbildungen. Das Auftreten auch ungewöhn-
licher qualitativer Merkmale ohne ersichtlichen
adaptativen Wert macht indessen ersteres wahr-
scheinlich, wie denn auch nach anderweitiger Er-
fahrung abnorme Außenbedingungen Mutation zu
begünstigen scheinen.
Sicherlich müssen wir nun erwarten, daß die
Verteilung der etwa genotypisch in den Stamm-
rassen abgeänderten Merkmale nach den bei
Kreuzung zwischen Mutanten geltenden Regeln
vor sich gehe; wie dabei das gleiche Merkmal
in verschiedenen Kombinationen auf die abge-
leiteten Rassen übergehen könne, hat Lubosch
sehr einleuchtend gezeigt. Trat dann etwa aus
physiologischen oder ökologischen Gründen —
aus konstitutionellen ist es kaum anzunehmen —
eine sexuelle Isolierung der Rassen ein, so wer-
den sich doch innerhalb dieser bei neuen Muta-
tionen wieder die gleichen Regeln der unter ge-
kreuzten Mutanten möglichen Merkmalkombina-
tionen geltend machen. Nimmt man aber an,
daß etwa hier (entgegen der Regel) die Mutationen
an sich schon die weitere genealogische Einheit
aufhoben, so ist es allerdings schwierig, sich die
Verteilung der Neukombinationen durch Kreuzung
vorzustellen; die Annahme besonderer nur wäh-
rend der „Labilität" der Art gegebener Bedingun-
gen hilft darüber schlecht hinweg. — Aber auch
ohne Kreuzung wäre es nicht so wunderbar, wenn
gleiche Teiltendenzen hier und dort wieder zum
Ausdruck kämen; da doch alle Rassen die
152
gleiche Artveranlagung mit sich nahmen, —
wie denn auch das Wiedereinlenken in die
Ausgangsgestalt sich in divergenten Reihen als
möglich erweist (Spontanatavismus!). Nur wenn
irgendwo etwas konstitutiv Neues aufträte, so wäre
es allerdings nur durch Kreuzung verteilbar. Es
kann aber nicht sicher ausgemacht werden, daß
etwa die Leisten- oder Rippenbildung oder die
Gehäuseerhöhung etwas den Rahmen der von
vornherein arteigenen Potenz überschreitendes
Neues sei; denn der Habitus der Stammrassen
zeigt ja nur, was die Art unter „normalen" Be-
dingungen vorzugsweise realisierte, nicht aber, was
sie potentiell bedeutet. Auch Lub ose h steht
dieser Auffassung nicht fern. Unterstreicht er doch
selbst Hyatts Ausführungen über die Vorbe-
reitungaller später sich steigernden Abwandlungen
schon in den Stammrassen und bringt er doch
das ganze Phänomen schließlich auf die Formel,
daß „die einwandernden Steinheimer Schnecken
und ihre nächsten Abkömmlinge gruppenweise
oder insgesamt unter dem Einfluß des neuen
Milieus ein sich immer mehr steigerndes und im-
mer weiter um sich greifendes Freiwerden ge-
bundener Grundfaktoren erlebten, die das IVIaterial
zu verhältnismäßig wenigen echten Neubildungen
und zahlreichen Neukombinationen lieferten." Die
von V. Haecker^) erfolgreich angebahnte weitere
Durchdenkung der Pluripotenzerscheinungen
dürfte auch den in manchen Fällen von Artum-
bildung noch nötig erscheinenden Annahmen des
Auftretens von konstitutiv Neuem den Boden
vollends entziehen.
Bei dieser Deutung büßen die Stein-
heimer Planorben allerdings ihren ver-
meintlichen Wert als hervorragendes
Belegstück der Deszendenztheorie ein.-')
Und dann scheinen sie auch wenig geeignet zu
zeigen, wie sich die Kommunikationen der Ver-
zweigungen vermeintlich progressiver Stammbäume
vom genealogischen Netzwerk aus verstehen ließen.
') Über Gedächtnis, VererbuDg und Pluripotenz, Jena
1914. und Entwicklungsgeschichtliche Eigenschaftsanal vse.
Jena 1918 (Kap. 25). ^
2j Plate (in seinen der Gottschickschen Abhandlung
angeschlossenen „Bemerkungen") geht sogar so weit, den
Multiformis-Stammbaum nur für „eine Kette von Somationen"
zu erklären. Wenn er in ihm zugleich den Ausdruck einer
orthogenetischen „Zickzackevolution" sieht, so ist das also
offenbar nicht im üblichen Sinne einer artlichen Umbildung
zu verstehen.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 10
Eine andere Frage wäre, ob nicht etwa die bei der
rassenmäßigen Differenzierung einer Art auftreten-
den gestaltlichen Wechselbeziehungen eine ana-
logienhafte Beurteilung des „systematischen Netz-
werks" erlauben würden.?
In einer früheren Abhandlung i) versuchte ich
am historischen Gange zu zeigen, daß die An-
sichten über die Zusammenhänge der Lebewesen
zunächst, gemäß der Natur des menschlichen
Denkens, in zwei Richtungen gehen können: man
kann sie in abstrakt -generellen Zügen suchen (den
Einheiten des Systems) oder in mehr konkret-
gegenständlichen („Affinitäten", worunter dann
nicht nur die spezifische Ähnlichkeit der Artge-
nossen, sondern auch viele „Konvergenzen" zwischen
Genera fallen). Beide Möglichkeiten verschmelzen
endlich in der insbesondere von Goethe ausge-
bildeten (den Pluripotenzgedanken in umfassendster
Form enthaUenden) Idee des Typus. Des Typus
nicht etwa in demSinne eines abstrakten Grundplans
(Schema), sondern als konkret anzunehmendes, aber
die ganze gestaltliche Mannigfaltigkeit der Einzelfor-
men potentiell umfassendes Wesen. Einer Gemein-
schaft solcher wahrhaft ursprünglicher Wesen müßte
begriffliche Einheit mit der realen genealogischen
Einheit (wie jetzt nur bei der Art) zugeschrieben
werden ; damit bestände aber die Möglichkeit der
„Metamorphose" in Unterformen mit mannigfach
gekreuzten Merkmalskombinationen. Man könnte
also die Artenbildung nach Analogie der Rassen-
bildung in der Art immerhin denken, d. h. wie
Rassen in der Art wurzeln, so Arten in einer
realen „Überart". Freilich ist damit das Prinzip
des Naturfortschritts preisgegeben (aber dies darf
auch nur Folgerung, nicht Dogma sein). Und
freilich kommen wir auch dabei ins Hypothetische
und zunächst sogar schwer Faßbare (die Arten
sind eben nicht nur kombinativ, sondern poten-
tiell — ihrer begrifflich - systematischen Stellung
nach — etwas Besonderes, vgl. a. a. O. S. 133).
Aber wir bleiben doch auf dem Boden denknot-
wendiger Deutung des Tatsächlichen (während
progressive Mutationsperioden weder denknotwen-
dig, noch tatsächlich erweisbar sind), und müssen
uns damit trösten, daß alle Deutungen des Natür-
lichen doch in irgendeinem Sinne letzten Endes
auf „Wunderbares" hinführen.
') Über den Begriff der Verwandtschaft, in: Zool Jahrb
Suppl. XV. 3. Bd. (Festschrift Spengel), 1912.
Einzelberichte.
Blastogener Hermaphroditismus.
Im Gegensatz zum somatischen oder erworbe-
nen und unechten Hermaphroditismus, wie er
durch das Auftreten sekundärer heterogener Ge-
schlechtsmerkmale sich manifestiert, ist der blasto-
gene bei den hochentwickehen Tieren eine seltene
Erscheinung. Ein ausgeprägter Fall von ange-
borenem und echten Hermaphroditismus, bei dem
sogar die Feststellung, ob weiblicher oder männ-
licher Zwitter in Frage kommt, unentschieden
bleibt, wird in der „Berl. Tier. W." Nr. 49, 1920,
von Oberstabsveterinär K a r s t e d t mitgeteilt. Im'
Jahre 1915 wurde dem Berichterstatter auf dem
N. F. XX. Nr. lo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
153
Vormarsch in Kurland ein Pferd einer Kolonne
vorgeführt mit dem Bemerken, daß es ein „Zwitter"
wäre. Das betreffende Pferd war ein kleines
Bauern- sog. Panjepferd.
Die Untersuchung ergab folgendes Bild: „Die
Scheide zieht sich bedeutend weiter nach unten,
sie hat fast die doppelte normale Länge, sie steht
dauernd offen und an Stelle der Klitoris sitzt ein
normal ausgebildeter Penis, welcher aus der Scheide
heraushängt. Dieser Miniaturpenis hat die Länge
von etwa 8 — 10 cm, beim Urinieren wird er aber
steif und erigiert und hat in diesem Zustand eine
Länge von etwa 20 cm. Der Penis ist vollkom-
men normal ausgebildet, er besitzt einen Schwell-
körper und Eichel, welche von der Harnröhre
durchbohrt ist. Nach dem Urinieren schwillt der
Penis wieder ab. Ein Gehänge ist nicht vorhan-
den, an seiner Stelle sitzt ein Gebilde, einem ver-
kümmerten Hodensack ähnlich. Hoden sind in
ihm nicht nachweisbar. IVlangel an Zeit erlaubte,
da die Untersuchung auf dem Marsche stattfand,
dem Berichterstatter nicht, noch eine innere
Untersuchung, ob ein Uterus vorhanden wäre,
vorzunehmen. Bei solcher Sachlage, da ebenso
viele Kriterien für das mäunliche, wie für das
weibliche Geschlecht vorliegen, das Entscheidende
für das weibliche Geschlecht, nämlich das Vor-
handensein eines Uterus, aber nicht erhoben ist,
ist es nach dem Berichte tatsächlich unmöglich,
die Natut des Zwitters festzustellen.
Der Fall hat in gewisser Hinsicht Ähnlichkeit
mit der „Trächtigkeit eines männlichen Hasen",
den der römische Geschichtsschreiber A e 1 i a n
in seinem Werke „De venatione" berichtet: „Ein
Jäger, dessen Wahrheitsliebe zu mißtrauen er sich
nicht entschließen könne", schreibt Aelian, „habe
beobachtet, daß ein erbeuteter Rammler in seinem
Leibe zwei vollkommen ausgebildete Junge ge-
tragen habe. Da sein Bauch sehr stark ange-
schwollen war, habe man ihn aufgeschnitten und
aus ihm zwei Junge entfernt. „Unter den beleben-
den Strahlen der Sonne" hätten sie sich bald er-
holt und dargebotene Nahrung begierig angenom-
men." Trotzdem die Erzählung aufgelegtes Jäger-
latein ist, hat sie doch eine tatsächliche Grundlage.
Der trächtige Rammler war nämlich ein weiblicher
Hermaphrodit; infolge der starken Schwellung
des Bauches traten die männlichen Geschlechts-
organe, die die Natur des Rammlers dokumen-
tierten, deutlich hervor. Der Beobachter unter-
ließ es aber, sich nach der Geschlechtsöffnung
umzusehen, oder, was wahrscheinlicher ist, er ver-
schwieg, daß auch diese vorhanden war.
Tatsächlich sollen unter den Feldhasen bis-
weilen echte Zwitter vorkommen. Im Altertum
bis hinein in die neueste Zeit war daher in Jäger-
kreisen vielfach der Aberglaube verbreitet, daß
der Hase sein Geschlecht manchmal auch „ändern"
könne, eine Anschauung, welche erstmals „Her-
mann Döbel" in seinem 1745 erschienenen
Werke „Neueröffnete Jägerpraktika", das beste
Werk über Jagdhunde seiner Zeit, als im Bereiche
der JVIöglichkeit gelegen, mit Entschiedenheit be-
kämpft. Reuter.
t'ber die Ursachen des periodischen Dicken-
wachstums des Stammes.
In früheren Versuchen bemühte sich Klebs,
durch bestimmte Kulturbedingungen die Ruhe-
periode bei gewissen tropischen Holzpflanzen
auszuschalten, d. h. sie zu ständigen Treiben zu
bringen. Auf Veranlassung von Klebs stellte
sich nun Andre (Zeitschr. f. Bot. 12, 1920), die
Aufgabe, zu untersuchen, ob es durch entsprechende
Eingriffe gelingt, auch die Periodizität, die sich
bei den meisten Holzpflanzen in der Jahresring-
bildung äußert, zu unterdrücken, d. h. den Unter-
schied zwischen Frühholz und Spälholz auszu-
merzen. Es ergab sich, daß Nicotiana und Lan-
tana Camara die Fähigkeit besitzen, dauernd ihr
Kambium weiter wachsen zu lassen und bei kon-
stanter Wasser- und Nährsalzversorgung homogenes
Holz zu bilden. Welchen Charakter dieses Holz
besitzt, hängt von den gewählten Ernährungs-
bedingungen ab. Einschränkung der Nährsalz-
zufuhr, die bewirkt werden kann durch Bewurze-
lung von Stecklingen in Leitungswasser, durch
Kultur bereits bewurzelter Stecklinge in Nähr-
lösung, durch Reduktion des Wurzelsystems bei
normal kultivierten Pflanzen und schließlich durch
Züchtung relativ großer Exemplare in relativ
kleinem Topf, verursacht die Bildung von Engholz.
Umgekehrt wird bei reichlicher Nährsalzzufuhr
Weitholz produziert. Der Experimentator hat es
also in der Hand, durch willkürliche Eingriffe
die Ausgestaltung des Holzes nach der einen oder
der anderen Richtung zu verschieben und mög-
licherweise die Jahresringbildung zu unterdrücken.
Damit ist aber gezeigt, daß die Periodizität in
hohem IVIaße von äußeren Faktoren abhängig ist.
Ob sie sich aber, wie Klebs will, restlos durch
solche Einflüsse erklären läßt, das erscheint auch
nach den Versuchen H. Andres recht fragUch.
Er führt selbst ein Beispiel an, wo es nicht ge-
lang, die Periodizität zu unterdrücken (Zimmer-
linde) und weist mit Recht auf die Fälle hin, wo
innerhalb eines Jahres der Charakter des Holzes
mehrmals zonenweise wechselt, ohne daß äußere
Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden
könnten. Da ist es immerhin noch das Nahe-
liegendste, diese Prozesse auf einen autonomen,
im Wesen der Pflanze selbst beruhenden inneren
Rhythmus zurückzuführen. P. Stark.
Einflüsse des Klimas auf die Gesundheit.
Einige Beispiele der Beeinflussung der Gesund-
heit durch das Klima seien aus der beachtens-
werten Schrift von C. Domo „Klimatologie im
Dienste der Medizin" ') hier angeführt. Für Sonnen-
bestrahlungskuren ist der Wechsel der spektralen
') Sammlung Vieweg, Nr. 50. Braunschweig 1926.
154
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 10
Zusammensetzung der Sonnenstrahlung mit der
Tages- und Jahreszeit von großer Bedeutung Be-
obachtungen in Davos haben gezeigt, wie ver-
schieden schnell die Hauptwirkungen der Sonnen-
strahlung mit steigender Sonne zunehmen. Am
wenigsten schwankt die Wärmestrahlung, während
die ultraviolette Intensität sowohl im Tages wie
im Jahreslaufe ganz gewaltige Verschiedenheiten
aufweist. „Wenn Wärme- und ultraviolette In-
tensität für den 15. Juli mittags einander gleich
gedacht sind, so ist die Wärmeintensität am 15.
Januar mittags etwa 10 mal so groß, am 15. Januar
morgens fast 20 mal so groß als die ultraviolette
Strahlung. Es ist also nicht die größere Intensität
der Sonne, welche im Sommer bei forzierten
Sonnenkuren die Haut verbrennt, sondern der
größere Gehalt an ultravioletter Strahlung, die
Wärmeintensität nimmt sogar ein wenig ab in-
folge des erhöhten Wasserdampfgehaltes der At-
mosphäre." Dazu kommt ein „großer Unterschied
zwischen Frühjahrs- und Herbstsonne trotz der
annähernd gleichen Sonnenhöhen ; die Herbstsonne
ist viel reicher an ultravioletten Strahlen". Der
winterlichen Sonnenstrahlung fehlen auch dort,
wo sie verhältnismäßig stark und anhaltend ist
(im Hochgebirge), die kürzesten Strahlen, die zur
Pigmentbildung am meisten beitragen und die
Haut muß sich im Frühjahr stets aufs neue an
sie gewöhnen. Die Betrachtungen über die
Schwankungen der Wärme- und uhravioletten In-
tensität mit der Tages- und Jahreszeit führen zu
dem Schluß, daß es nicht die Gesamtiniensität der
Sonne ist, welche im Hochsommer, etwa bei
Sonnenkuren, Schaden anrichten kann, sondern der
zu große Gehalt an ultravioletten Strahlen. Schirmt
man diese ab, was durch einen einfachen Glas-
schirm geschehen kann, so bringt die Sonnenkur
keine Gefahren mit sich. Auch bei partiellen Be-
strahlungen müßten wohl aus dem spektral zer-
legten Sonnenlicht geeignet ausgewählte Strahlen-
gattungen spezifische und daher energischere
Wirkungen ausüben.
Mit Recht wird beim Klimawechsel dem
psychischen Moment großer Wert beigelegt. Es
ist gut, daß anscheinend überall psychische und
physische Einflüsse einander entgegenwirken, einen
Ausgleich schaffen. Das Hochgebirgstal z. B.
bietet ein Bild absoluter Ruhe; die Küstenland-
schaft dagegen ist durch nie rastende von Tönen
verschiedener Höhe begleitete Bewegung ausge-
zeichnet, die Nervenreiz erzeugen, während die
übrigen begleitenden Faktoren (mittelhohe und
wenig schwankende Temperatur, geringe Ver-
dunstung, großer Luftdruck, geringe Strahlung)
beruhigend wirken, im großen Kontrast zum Hoch-
gebirgstal, in welchem alle durch das Auge auf-
genommenen Erscheinungen das Bild voller Ruhe
bieten, alle anderen genannten Faktoren aber in
hohem Maße stimulierend wirken. In dem Zu-
sammenhang kommt Domo auf Störungen des
Wohlbefindens auf Reisen zu sprechen. Er weist
darauf hin, daß schon das bei plötzlichem An-
fahren und plötzlichem Anhalten von Wagen aus-
gelöste Gefühl ein recht unangenehmes ist; „im
Lift macht sich das recht deutlich geltend, wer
es aber je einmal im Fesselballon kennen gelernt
hat, weiß, daß die allermeisten da ihren Tribut
zahlen müssen. Die Ursache? Induktionsströme?
Das würde auf das schlüpfrige Kapitel des tierischen
Magnetismus führen. Genügt nicht neben der
Annahme psychischer Einwirkungen die Erklä-
rung durch verschiedene Elastizität der Zellen-
wände und des flüssigen Zellinhaltes sowie durch
den Wechsel des Druckes, unter welchen die in
Körperhöhlen eingeschlossenen Gase kommen?
Haben wir nicht in der Seekrankheit dieselben
Momente, also auch wohl die gleichen, soeben
erwogenen Ursachen ? Das Ausbleiben der Krank-
heit bei ganz kleinen Kindern würde für diese
Deutung sprechen.
Es ist bekannt, daß das Tropenklima auf den
Europäer nachteilig einwirkt, doch gilt es, in dieser
Hinsicht noch manches zu klären. Man weiß,
daß sich der Europäer in den Tropen nicht unbe-
deckten Hauptes der Sonne aussetzen darf, aber
man kennt bisher die Ursache der Gefahr des
Hitzschlages nicht. Die Wärmestrahlung, meint
Domo, „dürfte diesen Effekt schwerlich aus-
lösen, denn der starke Wasserdampfgehalt schwächt
dieselbe sehr erheblich, auch ist ja die Lufttempe-
ratur im allgemeinen kaum heißer als an heißen
Tagen in der gemäßigten Zone. Ungeklärt ist also
noch, ob der ultraviolette Anteil an der Strahlung
der Tropensonne so verderbenbringend gesteigert
ist oder ob die Ursache der Erscheinung in dem
überaus geringen physiologischen Sättigungsdefizit
liegt. Tatsache ist, daß in den Tropen zur heißen
Jahreszeit am Tage die leichteste Bewegung ein
Ausbrechen des Schweißes über den ganzen Körper
zur Folge hat und daß zur Mittagszeit trotz der
gesteigerten Temperatur die unerträgliche Schwüle
etwas weniger belästigt, da das Sättigungsdefizit
sich bei Zunahme der Temperatur wenigstens ein
klein wenig erhöht." Zum Schluß gibt Domo
Hinweise darauf, wie die Bearbertung meteoro-
logischer Beobachtung gestaltet werden sollte, um
sie der Medizin besser dienlich zu machen.
H. Fehlinger.
Neue Farbreaktionen zur llutersclieidung
der Pilze.
J. Barlot (Sitzung vom 22. November 1920
der Pariser Akademie) ließ wässerige oder alko-
holische, 20— 40proz. Pottasche- oder Sodalösungen
auf verschiedene Pilze einwirken. Mycena pura
wurde augenblicklich grünlichgelb verfärbt, wäh-
rend die äußerlich ähnliche amethystfarbene Va-
rietät der Laccaria laccata schwarzbraune Färbung
ergab. Die beiden häufigen Goniphidius- kn^n
verhalten sich ebenfalls verschieden: G. viscidus
färbt sich violettbraun, G. glutinosus schwach
gelbbraun. Herten
N. F. XX. Nr. 10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
IS5
Solarlsationserscileiniiiieen (Uiiikehrerschei-
nungeu) in photoKraphiscIien und röutgeuo-
graphischen Aufnahmen.
Professor Dr. B. Walter vom Hamburger
Physikalischen Siaatslaboratorium führte in dem
Naturwissenschaftlichen Verein in Hamburg hier-
über folgendes aus: Während bei normaler Be-
lichtung einer photographischem Platte auf der-
selben ein sog. Negativ entsteht, von dem das
eigentliche Positivbild erst durch einen abermaligen
photographischen Prozeß, nämlich durch emen
Abdruck auf lichtempfindlichen Papier oder sog.
Diapositivplatte erhalten wird, kann man durch
sehr starkes oder auch sehr langes Belichten auch
schon direkt auf der Originalplatte ein positives
Bild erhalten, das allerdings niemals so gute Kon-
traste zeigt wie das auf normalem Wege zustanden
gekommene. Derartige direkte Positivbilder be-
zeichnet man als „solarisierte" Bilder — von sol,
die Sonne — , weil nämlich die Erscheinung zu-
erst bei den Bildern dieses Gestirns beobachtet
wurde. Die Belichtung, welche zur Erzielung
eines solchen solarisierten Bildes nötig ist, ist bei
den verschiedenen Plattensorten des Handels, auch
wenn sie für normale Belichtungen die gleiche
Empfindlichkeit haben, sehr verschieden, sie liegt
nämlich etwa zwischen der hundert- und der
hunderttausendfachen von derjenigen, welche zur
Erzielung eines normalen Negativs nötig ist.
Solarisationserscheinungen ganz besonderer Art
treten ferner bei Aufnahmen von Blitzen oder
elektrischen Funken auf, hier nämlich nur dann,
wenn die Platte nach der Aufnahme des Blitzes
oder F"unkens noch einer schwachen allgemeinen
Belichtung ausgesetzt wird. Man erhält dann im
normalen Positivbitd einen schwarzen Blitz bzw.
Funken. Die Erscheinung wird nach dem Eng-
länder Clay den, der sie zuerst beobachtete und
auch aufklärte, als Claydeneffekt bezeichnet.
Auch bei Aufnahmen mit Röntgenstrahlen
können, wenn man übermäßig lange Expositions-
zeiten anwendet, Solarisationserscheinungen auf-
treten. Eine solche liegt z. B. bei den zuerst vor
einigen Jahren von dem Röntgenarzt Professor
Köhler in Wiesbaden am äußeren Schattenrande
der Röntgenbilder gewöhnlicher menschlicher
Gliedmaßen beobachteten hellen Randstre ifen
vor, einer Erscheinung, welche, da sie zunächst
nicht einwandfrei erklärt werden konnte, das leb-
hafteste Interesse der Physiker erregte, weil man
dabei an eine neue Art von Beugungs- oder In-
terferenzerscheinungen, ja sogar an eine Total-
reflexion der Röntgenstrahlen dachte, bis sie von
dem Vortragenden eben als eine Solarisations-
erscheinung erkannt wurde. Dieselbe entsteht
nämlich dann, wenn die photographische Platte
bei der Aufnahme so stark bestrahlt wird, daß
der freie Hintergrund derselben schon solarisiert
ist und daher das Maximum der Schwärzung '
nicht mehr hier, sondern in dem der Randlinie
des abgebildeten Organs entsprechenden Streifen
liegt. Jener Randlinie entspricht nämlich in einem
solchen Röntgenbilde keine genaue mathematische
Linie, sondern — wegen der nicht punktförmigen
Gestalt des Brennflecks der Röntgenröhre — ein
mehr oder weniger breiter Streifen. In diesem
Streifen ferner findet in unserem Falle von außen
nach innen zu ein sehr starker Abfall der Strahlungs-
intensität statt, so daß wir also darin im Negativ
ein verhältnismäßig schmales Schwärzungsmaxi-
mum oder eben im Positivbilde einen solchen
hellen Streifen erhalten, wie ihn die Kohl er-
sehen Bilder zeigen. Die Richtigkeit seiner Auf-
fas'^ung konnte der Vortragende u. a. dadurch er-
härten, daß es ihm auf Grund derselben gelang,
die Köhler sehen Streifen mit zum mindesten
derselben Deutlichkeit zu erhalten wie ihr Ent-
decker. Daß ferner der letztere die Erscheinung
bei seinen diesbezüglichen Aufnahmen nicht im-
mer, sondern nur gelegentlich erhielt liegt daran,
daß auch hinsichtlich der Solarisierbarkeit für
Röntgenstrahlen nicht bloß die photographischen
Platten verschiedener Fabriken, sondern auch so-
gar die verschiedenen Emulsionen einer bestimmten
Plattensorte einer und derselben Fabrik oft ganz
gewaltige Unterschiede zeigen, und daß ferner
auch die Erscheinung bei der Aufnahme mensch-
licher Organe nur auf einer sehr leicht solarisieren-
den Platte mit größerer Deutlichkeit hervortritt.
Noch sehr viel deutlicher aber als bei solchen
Organen lassen sich die Randstreifen, wie zuerst
von dem Münchener Oberingenieur Janus be-
obachtet wurde, in den Röntgenbildern von Me-
tallstücken erzeugen; und der Grund hierfür
liegt nun, wie in einer kürzlich in den „Fort-
schritten auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen"
veröffentlichten Abhandlung des Vortragenden
gezeigt wurde, darin, daß man in diesem Falle
die Platte viel länger bestrahlen und also auch
den freien Hintergrund derselben viel stärker
solarisieren kann, ohne daß deswegen hier — wie
bei jenen menschlichen Organen — die durch den
bestrahlten Gegenstand hindurchgegangene Strah-
lung schon so stark wird, daß die von ihr be-
wirkte Schwärzung fast ebenso stark ist wie die-
jenige in dem nach dem Obigen in der Rand-
zone des abzubildenden Gegenstandes liegenden
Schwärzungsmaximums. Denn wenn dies der Fall
ist, so kann ein Randstreifen der in Rede stehen-
den Art natürlich nicht mehr zustande kommen,
da ja dann die innere Seite desselben von der
hindurchgegangenen Strahlung sozusagen wegge-
wischt wird. Bei dickeren Metallstücken tritt dies
aber erst bei viel stärkerer Bestrahlung ein; und
es ist dann auch meist nicht die durch sie hin-
durchgegangene primäre, sondern die in der Unter-
lage der Platte erzeugte sekundäre Strahlung,
welche hier die Verwischung der inneren Seite
des Randstreifens bewirkt.
Spiropterakrankheit bei Vögeln.
Nach dem „Journ. of comp. Path. and Therap."
starben in 7 Jahren 135 Vögel, davon ii8 Papa-
156
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. lo
geien an Spiroptera incerta. Die Würmer wurden
nicht über 14 mm lang und 0,45 mm dick. Sie
verursachten den Tod der Tiere durch die Zer-
störung der für die Vögel unentbehrlichen pro-
ventrikulären Drüsen, Verstopfung des Schlundes,
Zerreißung des Proventrikels und durch Hervor-
treten toxischer Wirkungen. Die Lebensgeschichte
des Parasiten ist unbekannt. Er kann spontan
absterben und die befallenen Tiere werden dann
wieder gesund. Therapeutisch sind die Würmer
nicht zu beeinflussen. Die Bekämpfung der Krank-
heit ist auf hygienischen Maßnahmen aufgebaut.
Mittels Kalium hydroxyd werden die Exkremente
gelöst und zentrifugiert. Der Bodensatz wird nach
Eiern der Spiropteren durchsucht. Bei positivem
Befund ist das Tier zu isolieren. Mit dieser Me-
thode gelang es in dem beschriebenen Falle der
Seuche Herr zu werden.
Eine ähnliche Bedeutung wie dem Innen-
schniarotzer Spiroptera kommt dem Ektoparasiten
Laminosioptes gallinarum sive Sarcoptes cysticola
insofern zu, als derselbe seine pathogene Wirkung
auf endogenem Wege im Gegensatz zu den übrigen
Milbenarten entfaltet. Die Sarcoptes cysticola
lebt im Unterhautgewebe, also nicht wie die
Räudemilbe in den Gängen der Oberhaut, welche
sie gegraben hat und bewirkt dort die Bildung
kleiner flacher, fettiger Knötchen, die mitunter so
zahlreich werden, daß die Schlachtstücke ein un-
appetitliches Aussehen bekommen. Das Fleisch
ist zwar genießbar, aber minderwertig. Eine Be-
handlung ist nicht möglich. Die bei der Spiro-
ptera erprobten hygienischen Bekämpfungsmaß-
nahmen sind auch gegen diesen Schmarotzer von
Erfolg. Vgl. Reuter, Die Geflügel Krankheiten
und ihre Behandlung. Verlag von Dr. Paul Trüben-
bach, Chemnitz. Reuter.
Geologie der Scholleu iu schlesischen Tiefen-
gesteinen.
Neue Untersuchungen im Grenzgebiet der Ge-
birgsbildung.
Die Arbeit von R. C 1 o o s (Abhandl. d. Preuß.
Geolog. Landesanstalt, N. F. H. 81) ist be-
merkenswert dadurch, daß in ihr eine ganz neue
Forschungsmethode angewendet wird. Damit
werden weite, bisher so gut wie völlig verschlossene
Gebiete der geologischen, insbesondere der tekto-
nischen Untersuchung zugänglich. Es handelt
sich um die großen Massive von granitisch-körnigem
Tiefengestein, die sich überall auf der Erde im
Gebiete alter, jüngerer und jüngster Faltengebirge
finden. Der Geologe empfand sie nicht selten
als unerwünschte Störung, wenn sie ihm tektonisch
wichtige Glieder des Gebirgsbaus gewissermaßen
„aufgefressen" oder fossil führende Schicht gruppen
durch Metamorphose unkenntlich gemacht hatten.
Cloos geht nun den Gängen, Stöcken, Lak-
kolithen und Batholithen mit geologischen Mitteln,
mit Kompaß und Meßband, zu Leibe. Den Granit
untersucht er auf die Richtung von Bankung und
Klüftung, sowie auf die oft nur angedeutete
Streckung; bei den gangförmigen Nachschüben
des Magmas wird besonders die Lagerung studiert.
Die im Granit eingeschlossenen Schollen werden
behandelt „als ob sie tektonische Gebirgsteile
wären"; Streichen und Fallen ihrer Begrenzungs-
flächen werden bestimmt, schließlich wird der
Kontakt mit dem Nebengestein und das Neben-
gestein selbst, soweit es von Gängen durchzogen
ist, in die Untersuchung einbezogen.
Dem beschreibenden Teil der Arbeit geht ein
kurzer Überblick über die geologische Struktur
Schlesiens voraus; er wird in einer Skizzenkarte
illustriert. Die jungen Sedimente im Sudetenvor-
land werden abgedeckt und dadurch der schein-
bare Gegensatz zwischen dem Bau der Sudeten
und dem ihres Vorlandes beseitigt. Ihr Unter-
grund bildet eine zusammengehörige Einheit. Auf
Grund der Kulmkonglomerate werden vier schon
in unterkarbonischer Zeit bestehende „Blöcke" aus
kristallinem Gestein und altpaläozoischen Schichten
unterschieden.
Im jüngeren Karbon erhielten nun drei dieser
Blöcke einen neu empordringenden Granitbatho-
lithen als Kern eingeschaltet.
Diese jüngeren Granitmassive und einige der
in ihnen eingeschlossenen Schollen werden sodann
beschrieben. Es handelt sich meist um diskor-
dante Schollen, d. h. solche, deren Begrenzung in
keiner Beziehung zur Schichtung und Schieferung
der die Scholle bildenden Sedimentgesteine steht.
Bei konkordantem Verband dagegen drängt sich
der Granit zwischen die einzelnen Lagen und
Blätter der schiefrig struierten Scholle und be-
rührt sie auch außen an Schichtfugen oder Schiefe-
rungsflächen.
Diese Verhältnisse finden sich vor allem bei
den älteren vorkulmischen Graniten und Gneisen.
Die Gleichzeitigkeit von Faltung und Intrusion
ist für die Konkordanz verantwortlich zu machen.
Im allgemeinen Teil zieht Cloos nun aus den
angedeuteten Beobachtungen seine Folgerungen.
Der Granit ist durch sein Emporsteigen in die
Zone der gebirgsbildenden Prozesse geraten und
daher dem gerichteten Druck, dem Tangential-
druck, ausgesetzt. Je nach dem Zustand, in dem
sich der Granit befindet, hat der Druck ver-
schiedene Wirkungen.
Im völlig erstarrten Granit kommt es entweder
zu echter Kataklase, mechanischer Quetschung
und Zertrümmerung, oder es entstehen Klüfte, die
sich auch ins Nebengestein fortsetzen. Ihre große
Mehrzahl streicht parallel NO, N, oder in anderen
Teilen Schlesiens NW. Das ist die Richtung der
Druckkraft, der sie ihren Ursprung verdanken.
Ganz anders verhält sich der Granit, bevor er
völlig erstarrt ist. Er ähnelt dann nicht einem
festen Körper, sondern einer großen ungeschichteten
Tonmasse. Auf den gerichteten Druck reagiert
er durch seitliches Ausweichen. Daraus folgt dann
eine Paralleleinstellung der Glimmerblättchen und
der scheibenförmigen Einschlüsse.
N. F. XX. Nr. 10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
157
Da wir es aber mit einer zähen, nicht mehr
flüssigen Masse zu tun haben, reißen auch Spalten
auf, und zwar in der Druckrichtung, senkrecht
auf der Ebene der Streckung. Daß dies die erst-
entstehenden Spalten sind, wird durch Füllung
mit Aplit bewiesen.
Die ersten Anzeichen der horizontalen Bankung
sind auf die Kontraktion infolge von Abkühlung
zurückzuführen. Der noch flüssige Granit zeigt
sich den Streckungserscheinungen noch beträcht-
lich zugänglicher.
Die Bedeutung des graniti^chen Magmas für
die gebirgsbildenden Bewegungen wird am Bei-
spiel des Werdegangs des Riesengebirges verfolgt.
Der ältere Granit tritt konkordant mit den Sedi-
menten verfaltet und verwebt auf; dann erfolgt
Erstarrung und eine längere Pause in der Gebirgs-
bildung. Mit dem Zutritt des jüngeren Granits
„kommt neues Leben in die tektonische Werk-
statt". Aber diesmal sind es nicht Faltenbe-
wegungen, denn der Gebirgsteil hat durch die
erste Intrusion die Fähigkeit dazu eingebüßt. Man
trifft vielmehr Schollentektonik und diskordante
Kontakte an. Mit der Erkaltung und Erstarrung
des jüngeren Granits ersterben die Bewegungen.
Der Granit hat sich aus einem Förderer und Leiter
der tektonischen Kräfte in ein grobklotziges Hinder-
nis verwandelt. Cloos bezeichnet ihn dann ge-
radezu als eine tektonische Insel im Meere der im
Sedimentgebiet fortdauernden Faltungsvorgänge.
Zum Schluß betont Cloos nochmals die engen
Beziehungen zwischen Vulkanismus und Tektonik.
Dabei teilt er dem Magma jedoch weniger eine
aktive als eine passive Rolle gewissermaßen als
Schmier- und Füllmittel zu.
Bis in jene Zone, wo kein Seitendruck mehr
auf das granitische Magma wirkte, reichen die
Aufschlüsse im schlesischen Granit nicht hinab.
Überall ist die Wirkung tektonischen Druckes zu
verspüren. Kockel, Leipzig.
Körpermängel in den Vereinigten Staaten
von Amerika.
C. B. Davenport undA. G. Love behandeln
im Scientific Monthly, Bd. 10, 1920 ein auf Grund
militärischer Rekrutierungsaufzeichnungen aus dem
Weltkrieg gewonnenes Material, umfassend 2754000
iVIänner im Alter von 18 bis 30 Jahren. Ver-
hältniszahlen wurden auf je lOOO der ßeobachtungs-
masse berechnet. Im Durchschnitt hatten je
468 von 1000 Männern körperliche Mängel, die
jedoch größtenteils nicht schwerer Natur waren.
Da manche Männer mehrere Defekte aufwiesen,
kamen deren 557 auf je 1000 Männer.
Am häufigsten waren Defekte mechanischer
Art, welche die Knochen, Gelenke, Arme, Beine,
Hände und Füße betrafen ; sie bildeten 39 "/^ aller
festgestellten Körpermängel. Den zweiten Platz
nehmen Mängel der Sinnesorgane mit la"/,, ein,
dann folgt Tuberkulose mit 1 1 "', usw. Von den
einzelnen Mängeln des Körperbaues waren schwäch
lieh gebildete oder mißgebildete Füße am zahl
reichsten, es kamen ihrer 124 auf 1 000 Männer,
Vom biologischen Standpunkt, sagen Davenport
und Love, ist dieses Versagen der Füße bei
jungen Männern ein Zeichen dafür, daß diese Or
gane den Ansprüchen, welche das moderne Kul-
turleben stellt, schlecht angepaßt sind. Unter den
Fußdefekten wiegt wieder Plattfuß vor, und zwar
ani stärksten in den Staaten an der Küste des
Stillen Ozeans und den nördlichen Felsengebirgs-
staaten (145—231 von lOOo), während er in den
Siidoststaaten am seltensten ist (47—79 von looo,
mit Ausnahme von Florida und Alabama); hier
lebt der weitaus größte Teil der mit Vorliebe
barfuß gehenden Neger, die ebenso wie die weißen
Südstaater weniger massig im Körperbau sind als
die Nordstaater.
Die Hammerzehe und gebogene große Zehe
kommt am häufigsten vor in einigen Neuengland-
und mittelatlantischen Staaten, am oberen Mis-
sissipi und in den meisten Staaten des fernen
Westens.
Mißbildete oder verstümmelte Hände und
Finger hatten je 8 von looo Männern. Verhält-
nismäßig am häufigsten ist dieser Mangel in Neu-
england und im Nordwesten festgestellt worden.
Mißbildung, Atrophie oder Verlust der Arme
wurde in mehr als 15000 Fällen festgestellt und
zwar am öftesten in den mittelatlantischen und
Südost Zentralstaaten und am Stillen Ozean. Noch
um so 7o häufiger ist Beinmißbildung oder Verlust.
Hernien und vergrößerte Leistenringe kamen
bei durchschnittlich 40 von 1000 Männern vor.
Die Häufigkeitsverteilung nach Staaten ist ganz
unregelmäßig; obenan stehen Neu-Jersey, die
beiden Virginia, Florida, Wyoming, Nevada, Ore-
gon und Californien (51 — 116).
Überraschend häufig ist die doch hauptsäch-
lich auf mangelhafter Erbveranlagung beruhende
Rückgratsverkrümmung usw., sie trifft auf 55 von
1000 Männern. Mehr wie 60 Behaftete kamen
auf 1000 in Neuengland und den meisten der
dichtbevölkerten Staaten an den großen Seen,
dann in Tennessee, Virginia, Colorado, Utah und
Oregon. In den westlichen Präriestaaten und
den meisten Südstaaten ist dieses Entartungs-
zeichen selten.
Eine andere Überraschung ist, daß der Kropf
in Amerika gar nicht so selten vorkommt als
dort bisher angenommen wurde. Seine relative
Häufigkeit ist 8 auf 1000, doch kommt er meist
im Gebiet der großen Seen und im Nordwesten
vor, in den Südstaaten vom Kap Fearfluß bis
Colorado ist er dagegen fast unbekannt.
Von den Defekten des Nervensystems steht
Geistesschwäche obenan; sie wurde bei der ersten
Untersuchung der Auszuhebenden in fast 40000
Fällen (15 auf loOO), nachher aber noch vielfach
durch psychologische Prüfungen festgestellt.
Fehlinger.
158
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 10
Nene Untersnchnngen über die Aufnahme von
Stoffen in die Zelle.
Auf Grund früherer Untersuchungen gelangte
Tröndle zu der Auffassung, daß die Stoffauf-
nahme in die Pflanze kein reiner Diffusionsprozeß
ist, sondern daß dabei das lebende Plasma wesent-
lich beteiligt ist. Es zeigte sich nämlich, daß die
Aufnahmegeschwindigkeit nicht dem Fickschen
Diffusionsgesetz folgt (d. h. proportional geht der
Außenkonzentration), sondern zunächst konstant
bleibt, um späterhin abzunehmen. Das deutet
Tröndle in folgender Weise: „Die Salze reizen
das Protoplasma; die Reaktion besteht darin, daß
das Protoplasma die Salze zufolge aktiver Tätigkeit
in die Vakuole hineinschafft. Wenn eine bestimmte
IVIenge Salz aufgenommen ist, so macht sich eine
Ermüdung geltend, die dem Weber sehen Gesetz
folgt." Diese Deutung wurde nun in weiteren Experi-
menten geprüft und bestätigt. *) Von dem Gedanken
ausgehend, daß die aktive Beteiligung des Plasmas
durch Narkose ausgeschaltet werden kann, wurde
das Palisadengewebe von Buche und Ahorn vor
dem Verbringen in die Salzlösungen der Ein-
wirkung von Äther und Chloralhydrat ausgesetzt.
Es trat nun tatsächlich der erwartete Erfolg ein:
Die Salzaufnahme in die Zellen blieb völlig aus.
Weiterhin wurde dann dasselbe Gewebe mit ver-
dünnter Säure behandelt; dadurch wird das Proto-
plasma, ohne dauernd Not zu leiden, vorübergehend
geschädigt. Unter diesen Umständen nun findet
die Salzaufnahme nicht wie bei normalem Ver-
halten mit konstanter Geschwindigkeit statt,
sondern sie geht der Außenkonzentration propor-
') Biochem. Zeitschr. igzi.
tional, d. h. das Ficksche Diffusionsgesetz ist hier
verwirklicht. Das dauert aber bloß so lange, bis
die Zelle den schädigenden Einfluß der Säure
überwunden hat. In einer dritten Reihe von
Versuchen wurde die Aufnahme von Alkaloiden
in die Spirogyrazellen untersucht. Das Ein-
dringen ist hier sehr leicht zu erkennen
dadurch, daß die Alkaloide den in der Vakuole
vorhandenen Gerbstoff ausfällen. Es zeigt sich
nun, daß die freien Alkaloidbasen sehr rasch
eindringen, während zugesetztes Alkaloidsalz
erst nach wesentlich längerer Zeit einen Nieder-
schlag bildet. Dieser Niederschlag ist aber bloß
auf die gleichzeitige Anwesenheit freier Alkaloid-
ionen zurückzuführen, das undissozisierte Salz dif-
fundiert nicht. Das kann man derart erweisen,
daß man dem Salz eine Spur Säure zusetzt; da-
durch wird die Hydrolyse vollständig zurückge-
drängt und eine Fällung bleibt nun völlig aus.
Diese Tatsache, daß die Zelle zwar die freien
Alkaloide passieren läßt, nicht aber deren Salze,
ist wiederum auf die Einwirkung des lebenden
Plasmas zurückzuführen. Das läßt sich in sehr
einfacher Weise dartun: „Wenn man in einer
Vergleichsreihe freie Alkaloidbase , Alkaloidsalz
und Alkaloidsalz -|- verdünnte Säure in äquimo-
laren IVlengen anwendet, aber alle 3 Lösungen mit
Chloroform sättigt, dann erfolgt der Niederschlag
zu derselben Zeit, und das ist eine Folge davon,
daß durch das Chloroform die Zellen zumeist
rasch abgetötet werden. Insgesamt genommen
bilden die Versuche wieder einmal einen deut-
lichen Hinweis darauf, wie ferne wir noch einer
rein physikalisch- chemischen Deutung der Stoff-
aufnahmeprozesse stehen. Peter Stark.
Bücherbesprechungen.
Mosler, H., Einführung in die moderne
drahtlose Telegraphie und ihre prak-
tische Anwendung. 240 Seiten mit 218
Figuren. Braunschweig 1920, Fr. Vieweg.
Geb. 24 M.
Das Buch kommt einem Bedürfnis entgegen.
Durch den Weltkrieg wurde die Entwicklung der
drahtlosen Telegraphie und ihre Anwendung ganz
außerordentlich gefördert. Die vorhandenen vor-
züglichen größeren Werke, die vor bzw. während
des Krieges entstanden sind, bringen meistens
noch nichts über die Kathodenröhe, der vor-
wiegend der große Aufschwung der Funken-
telegraphie zu danken ist, und über die Rahmen-
antenne. Das vorliegende Buch gibt in sehr
dankenswerter Weise eine wissenschaftliche Zu-
sammenstellung alles dessen, was in der drahtlosen
Telegraphie von Interesse und Bedeutung ist.
Der Stoff wird vornehmlich vom Standpunkt der
Praxis aus behandelt. Allen denen, die sich für
die Telegraphie ohne Draht interessieren, kann
das Buch warm empfohlen werden. K. Seh.
Günther, Hanns, Elektrotechnik für Alle,
eine volkstümliche Darstellung der Lehre vom
elektrischen Strom und der modernen Elektro-
technik. 2. stark verm. u. verb. Aufl. von „Der
elektrische Strom". 318 S. mit 373 Abbildgn.
Stuttgart 1920, Franksche Verlagshandlung.
Wie der Untertitel andeutet, ist das Buch
nicht für Fachleute, sondern für Laien geschrieben
und zwar für die vielen, die gern wissen möchten,
wie und warum die elektrischen Straßenbahnen
sich bewegen, die Telephone sprechen, die elektri-
schen Lampen leuchten. Der Stoff ist in 4 Ab-
schnitte gegliedert: Die Grundlagen der Elektro-
technik, elektrische Maßeinheiten und Maßinstru-
mente, die Erzeugung des elektrischen Stroms, die
Anwendung der Elektrizität. Dieser letzte Ab-
schnitt umfaßt nahezu ^/j des ganzen Buches.
K. Seh.
Binz, Dr. A., Schul- und Exkursionsflora
der Schweiz. Basel 1920, L. Schwabe & Co.
9 Fr.
N. F. XX. Nr. 10
Naturwissenschaftliche Wochenschrift .
159
Da diese Flora außer dem Gesamtgebiet der
Schweiz auch die angrenzenden Teile Badens und
des Eisasses berücksichtigt, reicht ihre Benutzbar-
keit über die Schweizer Grenzen hinaus. Sie ist
sorgfältig abgefaßt und würde auch denen zu
empfehlen sein, die in der Schweiz reisend ein
zuverlässiges Bestimmungsbuch zu benutzen wün-
schen. Abbildungen sind nicht beigegeben, der
Verf. meint, daß reichliche Abbildungen dazu ver-
leiten, das genaue Studium der Pflanze selber zu
vernachlässigen; scharfe Beschreibungskunst ersetze
die Bilder und erziehe zu scharfer Beobachtung.
Das ist in gewisser Hinsicht richtig, doch würde
das Bild so gut wie das Wort eine eingehende
Vergleichung veranlassen müssen, und schließlich
bleibt dem wahren Pflanzenfreunde doch immer
die Aufgabe, sich seine Objekte viel genauer an-
zusehen, als es durch die Feststellung der für
die Bestimmung erforderlichen Merkmale geschieht.
Wollte man in der Hinsicht ein übriges tun, so
würden kurze, das Gesamtbild der Pflanze be-
lebende Zusätze über allerhand andere wissens-
werte Eigenschaften und Eigenheiten sehr wün-
schenswert sein. Freilich würde eine solche Be-
reicherung bald mit den Rauminteressen zusam-
menstoßen. Miehe.
Voigt, Prof. Dr. A., Exkursionsbuch zum
Studium der Vogelstimmen. 8. verb.
Aufl. Leipzig 1920, Quelle & Meyer. 20 M.
Dies hübsche Büchlein, dessen Beliebtheit und
Brauchbarkeit durch die zahlreichen Auflagen be-
wiesen ist, will dem Vogelfreunde eine Anleitung
geben, wie er draußen im Feld und Wald rasch
und zuverlässig die Vogelstimmen erkennen kann,
bzw. wie er möglichst praktisch selber Notizen
über seine Wahrnehmungen machen kann. Die
schriftliche Fixierung des Vogelgesanges ist eine
außerordentlich schwere Aufgabe. Dem Verf.
kommt es drauf an, eine durch eigene langjährige
Erfahrung ausgestaltete und ausgeprobte Methode
anzugeben, die dem, der sich in sie hineinarbeitet,
erlaubt, die Vögel auch unter den schwierigen
Verhältnissen der freien Natur zu erkennen. Er
hat sogar die Laute in einer Tabelle angeordnet,
nach der eine Bestimmung ausgeführt werden
kann. Im speziellen Teil sind unsere wichtigsten
Vögel im einzelnen geschildert, wobei naturgemäß
auch das Aussehen, die Lebensweise, das Vor-
kommen usw. dargestellt werden. Miehe.
Das Pflanzenreich. Herausgegeben von A. Engler.
Leipzig 1920, W. Engelmann. Heft 71 (30 M.),
72 (24 M.j, 73 (60 M), 74 (16 M.).
Mit dem Heft 74, das den allgemeinen Teil
und das Register enthält, ist die interessante
Familie der Araceen zum Abschluß gebracht.
Auch das Heft 73, in welchem die Araceae-
Aroideae und -Pistioideae von Engler bearbeitet
wurden, sowie Heft 71, das die von Engler und
K. Krause dargestellte Gruppe der Araceae Coloca-
sioideae sowie einen Nachtrag zu den Araceae-
Philodendroideae bringt, waren noch dieser Familie
gewidmet. Im 72. Heft hat A. Lingelsheim die
Familie der Olaceen fortgesetzt, in dem er die
Gattungen Fraxinus, Fontanesia, Syringa, Schrebera
und Forsythia behandelt. Miehe.
Brohmer, Dr. P., Fauna von Deutschland.
2. vermehrte Aufl. Mit 935 Abbildungen. Leipzig
1920, Quelle und Meyer. 22 M.
Dies Bestimmungsbuch ist seinerzeit mit Recht
freudig begrüßt worden. War es doch der erste
Versuch, den Zoologen ein auch auf Exkursionen
benutzbares Hilfsmittel zum Bestimmen von Tieren
zu geben. Naturgemäß hafteten einem solchen
ersten Versuch noch allerlei Mängel an, doch
zeigt der verhältnismäßig rasche Absatz der ersten
Auflage, daß das Büchlein viel benutzt wurde.
Die neue Auflage ist nach manchen Richtungen
verbessert, wobei sich aber der Umfang des Buches
sogar noch hat , verringern lassen. Nicht auf-
genommen sind die Meerestiere, dagegen sind die
mikroskopischen Tiere (z. B. die Protozoen) ein-
bezogen. Dadurch, daß die einzelnen Gruppen
von Fachleuten bearbeitet wurden, ist Gewähr für
Zuverlässigkeit gegeben. Eine Auswahl hat natür-
lich immer stattfinden müssen, es ist aber über-
raschend, wie reichhaltig das handliche Büchlein
ist, das überdies eine große Zahl lehrreicher
Bilder enthält. Miehe.
Wenz, W., Geologie. Aus der Sammlung:
„Die Auskunft." Nr. 5 — 7. Heidelberg 1920,
Willy Ehrig.
Diese reichhaltige Zusammenstellung von Fach-
ausdrücken in alphabetischer Folge aus den Ge-
bieten der Geologie und Stratigraphie und in be-
schränkterem Maße aus denen der Petrographie,
Mineralogie und Bergbaukunde ist für weitere
Kreise bestimmt, die sich mit Geologie beschäftigen,
und bezweckt, als erste Orientierung das Verständ-
nis der Fachausdrücke zu fördern. Bei der Er-
klärung der stratigraphischen Begriffe sind die
deutschen und mitteleuropäischen Verhältnisse
besonders berücksichtigt; dem ist auch in der
Weise Rechnung getragen, daß bei den einzelnen
Formationen die Gliederung in den wichtigsten
deutschen Verbreitungsgebieten in tabellarischer
Form gegeben wird.
Die Erläuterungen zu den Schlagwörtern sind
knapp, aber klar und zuverlässig, so daß das Werk
empfohlen werden kann. Krenkel.
Ulbrich, E., Pflanzenkunde. Band II: Die
Blutenpflanzen. Leipzig 1920, Ph. Reclam jun.
Der erste Band der Ulbrich sehen Pflanzen-
kunde wurde in Nr. 40 des vor. Jahrg. besprochen.
Der vorliegende 2. Band grenzt zunächst die
Blütenpflanzen von den niederen Pflanzen ab, und
bringt sodann eine gedrängte Über>icht über das
System der Gymnospermen und der Angiospermen.
Der Besprechung der einzelnen Familien und
ihrer wichtigsten Vertreter geht beide Male ein
i6o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 10
allgemeiner Abschnitt über die Vegetations- und
Reproduktionsorgane sowie die phylogenetischen
Verwandtschaftsverhältnisse voraus. Bei dem
knappen Raum mußte sich der Verf. natürlich
auf das Wichtigste beschränken; er hat es aber
verstanden, durch übersichtliche Gliederung und
ansprechende Darstellung dem Leser Interesse
für den immerhin etwas spröden Stoff abzuge-
winnen.
Eine ganze Reihe von Textabbildungen, sowie
mehrere z. T. farbige Tafeln sind dem empfehlens-
werten Büchlein beigegeben. Esmarch.
Literatur.
Adametz, Leopold, Herkunft und Wande-
rungen der Hamiten, erschlossen aus
ihren Haustierrassen. (Osten und Orient,
I. Reihe: Forschungen, 2. Bd.) 8". 107 S. 24
Kunstdrucktafeln mit 44 Abb. Wien 1920,
Verlag des Forschungsinstitutes für Osten und
Orient. [Zu beziehen durch Otto Harrassowitz,
Leipzig.] 30 M.
Es wird hier systematisch die Haustierforschung
zur Lösung ethnologischer Probleme herangezogen.
Nach Adametz' Untersuchung der ältesten, den
Sumerern und vordynasiischen Ägyptern gemein-
samen Haustierrassen muß die Geburtsstätte
sumerisch hamitischer Kultur mehr oder weniger
in den Gegenden des heutigen Afghanistan, Be-
ludschistan und anschließenden Persien gelegen
gewesen sein; ja sie dürfte sich sogar noch bis
ins nordwestliche Indien erstreckt haben. Auf
gleichem Wege kommt der Verf zu dem zweiten
Hauptergebnis, daß eine der ältesten Besiedelungen
Afrikas — und zwar jene, die die ersten Anfänge
der Kultur und die ersten Haustiere mit sich
brachte — nur vom Norden her über die Land-
enge von Suez erfolgt sei.
Der Zweck meiner Anzeige an dieser Stelle
kann nur sein, auf Adametz' neuartige
Forschungswege hinzuweisen.^) Auf Einzelheiten
können wir uns hier nicht einlassen. Wie sich
die afrikanistische Wissenschaft zu Adametz'
Folgerungen von den Wanderungen der Hamiten
zu stellen hat, wird Bernhard Struck in seinem
demnächst erscheinenden Buche über Völkerpro-
bleme in Afrika noch mit berühren.
Dresden. Rudolph Zaunick.
') Der Titel des Buches müßte vielleicht richtiger lauten :
Die hamitischen Hauslierrassen, mit Rückschlüssen auf die
Herkunft und Wanderungen der Hamiten.
Cassirer, E, , zur Einsteinschen Relativitätstheorie.
Berlin '21, B. Cassirer.
Wenz, Dr. M., Geologie. Nr. 5— 7 der Sammlung „Die
Auskunft" usw. Heidelberg, M. Ehrig.
Oppenheiraer, Prof. Dr. C, Kleines Wörterbuch der
Biochemie und Pharmakologie. Berlin und Leipzig '20, de
Gruyier. 16 M.
Kaiser, Prof. Dr. E., Bericht über geologische Studien
während des Krieges in Südwestafrika. Gießen '20, A. Töpel-
mann. 6 M.
Niggli, Prof. Dr. P. , Lehrbuch der Mineralogie. Mit
560 Textfig. Berlin '20, Gebr. Bornträger. 80 M.
France, R. H., Zoesis. Eine Einführung in die Gesetze
der Well. München '20, F. Ilanfstaengel. 5,50 M.
Falck, Prof. Dr. A., Die Arzneibücher (Pharmakopoen)
vergleichend besprochen mit einem Verzeichnis der Arznei-
bücher. Leipzig '20, J. A. Barth. 24 M.
Much, Prof. Dr. H., Die Partigengesetze und ihre All-
gemeingüliigkeit. Erkenntnisse, Ergebnisse, Erstrebnisse. Leip-
zig '20, C. Kabitzsch. 15 M.,
Burgerstein, Prof. Dr. A., Die Transpiration der
Pflanzen. 2. Teil (Ergänzungsband). Jena '20, G. Fischer.
35 M-
Lang, Prof. Dr. R., Verwitterung und Bodenbildung als
Einführung in die Bodenkunde. Stuttgart '20, E. Schweizer-
barth. 24 M.
Hildebrandt, Dr. K., Norm und Verfall des Staates.
Dresden '20, Sibyllen-Verlag. 23 M.
Hildebrandt, Dr. K., Norm und Entartung des Men-
schen. Ebenda. 27 M.
Roscoe, Sir H., Ein Leben der Arbeit. Erinnerungen.
Übersetzt von R. Thesing. Mit 21 Abb. Leipzig '19, Aka-
dem. Verlagsgesellschaft. 41,60 M.
Engelhardt, Dr. V., Einführung in die Relativitäts-
theorie.
Fricke, Dr. H., Die neue Erklärung der Schwerkraft.
Kurzgefaßte und gemeinverständliche Darstellung. Wolfen-
büttel '20, Heckner. 6,60 M.
Fricke, Dr. H., Der Fehler der Einsteinischen Rela-
tivitätstheorie. Ebenda. 10 M.
Loele, W., Die Phenolreaktion (Aldaminreaktion) und
ihre Bedeutung für die Biologie. Mit 2 Textfig. u. 24 Photo-
grammen. Leipzig '20, W. Klinkhardt. 12 M.
Weizen, Dr. S. K., Thoden van, Psychoencephale Studien.
V. verm. Aufl. Joachimsthai i. d. M. '20, Weizen.
Hennig, Prof. Dr. E., Strukturelle und skulpturelle Züge
im Antlitz Württembergs. Mit 15 Textabb. Öhringen '20.
F. Rau. 5,70 M.
Wegner, Prof. Dr. G. , Die Landschaftsformen von
Württembergisch Franken. Mit besonderer Berücksichtigung
des Muschelkalkgebietes. Ebenda. 4,20 M.
Pfeiffer, Dr. L., Die Werkzeuge der Steinzeitmenschen.
Mit 540 Textabb. Jena '20, G. Fischer. 48 M.
Gerke, Dr. O., Kurzes Lehrbuch der Pflanzenkunde.
Mit 40 Abb. Hannover '20, M. u. H. Schaper. 23,80 M.
Wegen er, Prof. Dr. A., Die Entstehung der Kontinente
und Ozeane. 2., gänzlich umgearbeitete Aufl. Mit 33 Abb.
Braunschweig '20, F. Vieweg. 12 M.
Hauser, Dr. O., Ins Paradies des Urmenschen. 25 Jahre
Vorweltforschung. Mit 18 Bildertafeln. Hamburg und Ber-
lin '20, Hoffmann u. Campe.
Inhalt: M. Rauther, Deszendenzprobleme, erörtert am Fall der Steinheimer Planorben. (3 Abb.) S. 145. — Einzel-
bericbte: Karstedt, Blastogener Hermaphroditismus. S. 152. Andre, Über die Ursachen des periodischen Dicken-
wachstums des Stammes. S. 153. C. Domo, Einflüsse des Klimas auf die Gesundheit. S. 153. J. Barlot, Neue
Farbreaktionen zur Unterscheidung der Pilze. S. 154. B. Walter, Solarisationserscheinungen (Umkehrerscheinungen)
in photographischen und röntgenographischen Aufnahmen. S. 155. Reuter, Ppiropterakrankheit bei Vögeln. S. 155.
R. Cloos, Geologie der Schollen in schlesischen Tiefengesteinen. S. 156. C. B. Davenp ort und A. G. Love,
Körpermängel in den vereinigten Staaten von Amerika. S. 157. Tröndle, Neue Untersuchungen über die Aufnahme
von Stoffen in die Zelle. S. 158. — Bücherbesprechungen: H. Mosler, Einführung in die moderne drahtlose Tele-
graphie und ihre praktische Anwendung. S. 158. H. Günther, Elektrotechnik für Alle. S. 158. A. Binz, Schul-
und Exkursionsflora der Schweiz. S. 158. A. Voigt, Exkursionsbuch zum Studium der Vogelstimmen. S. 159. Das
Pflanzenreich. S. 159. P. Brohmer, Fauna von Deutschland. S. 159. W. Wenz, Geologie. S. 159. E. Ulbrich,
Pflanzenkunde. S. 15g. L. Adametz, Herkunft und Wanderungen der Hamiten, erschlossen aus ihren Haustierrassen.
S. 160. — Literatur: Liste. S. 160.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe :)6. Band.
Sonntag, den 13. März 1921.
Nummer 11.
Über Altern und Verjüngung.*)
tNachdnick verboten.] Von Dr. med.
Soweit wir in der Geschichte des mensch-
lichen Geistes zurückblicken, überall und immer
wieder sehen wir die Frage auftauchen, weshalb
der Mensch altere und vergehe, weshalb nur den
Göttern und nicht auch ihm ewige Jugend ver-
liehen sei. Priester und Philosophen, Ärzte und
Naturforscher haben sich seit jeher mit diesem
Problem eifrigst beschäftigt. Wir wollen hier aber
von jeder geschichtlichen Erörterung absehen und
nur in aller Kürze zusammenfassen, was die heutige
Wissenschaft vom Leben, die Biologie, uns auf
diese uralte Menschheitsfrage zu antworten hat.
Wenn wir unser eigenes Leben, das Leben
unserer Mitmenschen, ja der ganzen lebendigen
Umwelt verfolgen, so sehen wir überall einen
völlig gesetzmäßigen Ablauf: Entstehung, Ent-
wicklung, Wachstum, Stillstand; dann der ab-
steigende Teil der Kurve : Niedergang, Ende, Auf-
lösung. Auch wenn keine äußeren Ursachen, wie
Krankheiten, Unfälle u. dgl. hinzutreten, geht aus
inneren Ursachen jedes Leben aus in Altern und
Tod. Dieser physiologische Tod ist freilich außer-
ordentlich selten. Nach der amtlichen Statistik
sterben in Preußen 90 "jg aller Menschen an Krank-
heiten, nur 10 "/o an Altersschwäche. Aber selbst
diese Zahl ist unzutrefifend. Genaue Sektionen
haben uns gelehrt, daß auch bei alten Leuten fast
immer eine Krankheit die Todesursache ist, und
die Behauptung Nothnagels, daß von 1 00 000
Menschen vielleicht einer an wirklicher Alters-
schwäche sterbe, besteht auch heute noch zu recht.
Die Wissenschaft hat die Gesetze des Lebens-
ablaufs nach allen Richtungen hin durchforscht,
viele Rätsel gelöst, die wichtigsten freilich, die
Endfragen , wie immer ungelöst gelassen. Was
das Alter kennzeichnet, weiß jeder, auch ohne
Biologe oder Arzt zu sein. Wir alle kennen die
Veränderungen der Haut und Haare, die Steifig-
keit der Gelenke, Brüchigkeit der Knochen, Ab-
nahme der Muskelkräfte, Abnahme der Sinnes-
empfindungen, besonders die Alterssichtigkeit,
Nachlassen des Gedächtnisses und der Intelligenz,
gewisse seelische Veränderungen wie Egoismus,
Geiz usw. Besonders wichtig ist der nachweis-
bare Schwund der inneren Organe. Schon den
alten Ägyptern war dies gelegentlich der Balsa-
mierung der Leichen aufgefallen. Sie nahmen an,
daß z. B. das Herz bis zum 50. Leben.^jahre jähr-
lich um 2 Drachmen zunähme, von dann in
gleichem Maße wieder ab. Wenn auch dies nicht
so genau zutrifft, grundsätzlich ist die Beobachtung
richtig. Wir finden in der Tat bei Greisen eine
Verkleinerung des Herzens, der Leber, Nieren usw. ;
E. Liek, Danzig.
das Gehirn z. B. füllt die Schädelkapsel nicht mehr
aus. Sehr zu beachten ist die Tatsache, daß diese
Vorgänge nicht an ein bestimmtes Alter gebunden
sind. So wissen wir z. B. daß die Fähigkeit der
Linse, ihre Gestalt verschiedenen optischen Auf-
gaben anzupassen, von der Geburt an gleich-
mäßig abnimmt, daß also die Alterssichtigkeit nur
eine Stufe einer bestimmten Entwicklung darstellt.
Wir kennen Organe wie die Urniere, die schon
während des Embryonallebens ihre Aufgabe er-
füllt haben und zugrunde gehen. Andere Or-
gane wie die Thymusdrüse stellen ihre Tätigkeit
in der Pubertät ein und verfallen dem Alters-
schwund. Aus diesem Grunde hat Virchow
nicht mit Unrecht das Leben ein langsames
Sterben genannt. Diese Tatsachen erklären auch
die Unmöglichkeit, wissenschaftlich einen be-
stimmten Zeitpunkt festzusetzen, von dem an das
Altern beginnt. Wir werden noch sehen , daß
ganz einschneidende Veränderungen im Sinne des
Alterns schon bei der Geburt einsetzen.
Mikroskopisch finden wir, daß der Schwund
der Organe auf einer Abnahme und Schrumpfung
gerade der wichtigsten Bestandteile, der Zellen,
beruht. Sie wissen, daß unser Körper aus Mil-
liarden einzelner Zellen zusammengesetzt ist, einen
Zellenstaat darstellt. Diese Zellen, die Träger des
Lebens, schwinden im Alter, die Zwischensubstanz,
das für den Lebensprozeß viel weniger wichtige
Bindegewebe, nimmt zu. Es ist natürlich nicht
gleichgültig, wo, in welchen Organen, diese Wand-
lung stattfindet. Es genügt, daß in ganz be-
grenzten Provinzen des Zellenstaates, sofern sie
nur lebenswichtig sind, solche Veränderungen auf-
treten, um den Fortbestand des ganzen Organis-
mus zu gefährden. Die Brüchigkeit der Knochen,
die Abnahme der Muskelkraft, die Alterssichtig-
keit z. B. sind für den Lebensvorgang ziemlich
belanglos. Der Schwund der Herzmuskelzellen
aber, die Zunahme des Bindegewebes in den
Blutgefäßen, die dadurch ihre Elastizität einbüßen
und starrwandig werden, können den Lebensprozeß
erheblich stören und endlich aufheben. Man war
früher geneigt, diesen Veränderungen im Herzen
und in den Blutgefäßen die größte Bedeutung
für Altern und Tod zuzuschreiben. Man brachte
diese Anschauung in Formeln wie: jeder Mensch
hat das Alter seiner Gefäße, oder: jeder Mensch
stirbt am Herzen, an Herzschwäche. Wir sind
heute von dieser Vorstellung abgekommen. Ein
') Nach einem Vortrag in der Naturforschenden Gesell-
schaft zu Danzig am 5. Januar 1921.
102
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. II
russischer Forscher Kuljabko hat gezeigt, daß
auch dort, wo anscheinend ein ganz sicherer Herz-
tod vorliegt, die Herzmuskelzellen funktionsfähig
bleiben. Er entnahm z. B. Kindern, die infolge
einer Diphtherie unter schweren Vergiftungser-
scheinungen gestorben waren — für uns Ärzte
ein sicherer Herztod — , ich sage, er entnahm den
Leichen das Herz, einmal sogar 24 Stunden nach
erfolgtem Tode, brachte es in geeignete Nähr-
flüssigkeit, führte Sauerstoff zu und siehe da, das
anscheinend tote Organ begann wieder zu schlagen
Und viele Stunden regelrecht zu arbeiten.
Diese und andere Beobachtungen haben uns
gelehrt, die Ursache des Todes, auch des physio-
logischen Todes an Altersschwäche, nicht im
Herzen, sondern im Zentralnervensystem zu suchen.
Wir wissen, daß von einer bestimmten Gruppe
von Nervenzellen — im verlängerten Mark —
Atmung und Herztätigkeit unterhalten und ge-
regelt werden. Versagen diese Nervenzellen, sei
es infolge Krankheit, sei es durch Altersverände-
rungen, auf die wir noch zurückkommen, dann
hört die kunstvolle Arbeit des Herzens auf, das
Leben erlischt.
Doch brechen wir diese Betrachtungen, die uns
zu weit von unserem Thema wegführen würden,
ab und kehren zu den Altersveränderungen zurück.
Wir wissen jetzt, ungefähr wenigstens, wie wir
altern, wir fragen, warum wir altern.
Der Vergleich des menschlichen Körpers mit
einer sehr kunstvoll gebauten Maschine, die sich
im Laufe der Zeit durch die ständig geleistete
Arbeit abnutzt, schließlich unbrauchbar wird und
stillsteht, hegt nahe und ist auch häufig gezogen
worden. Er trifft aber nicht ganz zu. Auch
wenn ich von der Fortpflanzung, also der Er-
zeugung neuer Maschinen, absehe, hat der
lebendige Organismus vor der kunstvollsten
Maschine ungleich viele Vorteile: er paßt sich in
vollendeter Weise wechselnden äußeren Bedin-
gungen an (in dieser Weise hat man das Leben
überhaupt definiert), er ersetzt selbsttätig schad-
haft gewordene Teile, ja er erneuert sich von Zeit
zu Zeit. Wir wissen z. B., daß unsere roten Blut-
körperchen (5 Millionen in einem Kubikmillimeter
Blut) nur 14 Tage leben und dann durch neue
ersetzt werden. Wir wissen, daß die Zellen unserer
Haut und Schleimhäute einem ständigen Erneue-
rungsprozeß unterliegen. Die alten, unbrauchbar
gewordenen Zellen schilfern an der Oberfläche
ab, immer wieder frische wachsen aus den tieferen
Schichten nach. Ja man hat berechnet (Mole-
schott), daß der menschliche Körper in etwa
7 Jahren seinen ganzen Zellenbestand erneuert.
Aber nicht nur der Körper als Ganzes ändert sich,
sondern auch die einzelnen Organe. Immerfort
wird Verbrauchtes abgetragen, völlig selbsttätig
werden im Laufe des Lebens Organe, die ihren
Zweck erfüllt haben, in Ruhe gesetzt, neue Or-
gane entwickeln sich usw. Wir sehen, der Ver-
gleich des Alterns mit der Abnutzung einer
Maschine, ein Vergleich, den Männer der Wissen-
schaft, wie Virch'ow und Verworn, gezogen
haben, trifft nicht ganz zu. An sich besteht zu-
nächst kein Zweifel, daß der lebende Organismus,
also auch der Mensch, sehr viel länger ausdauem
könnte als es tatsächlich der Fall ist. Weshalb,
fragen wir wieder, altert er trotzdem?
Viel Aufsehen hat seinerzeit die Antwort er-
regt, die Metschnikoff auf diese Frage gab:
der Mensch altert infolge Vergiftung des Körpers
durch die Stoffwechselprodukte seiner Darm-
bakterien. Wir wissen, daß der Darm, besonders
der Dickdarm, von ungeheuren Mengen Bakterien
— ein Forscher hat ihre Zahl auf 100 000 Milliarden
berechnet — bevölkert ist. Die Stoffwechselpro-
dukte dieser Bakterien schädigen nach M. den
Körper, besonders die empfindlichen Nervenzellen,
die dann von Freßzellen (Phagozyten) zerstört
und durch Bindegewebe ersetzt werden. Tiere,
die einen kurzen Darm haben, wie z. B. die Vögel,
leben länger. Man sollte, folgert M., dem Menschen
den Dickdarm ausschneiden oder, da wohl nur
wenige für diesen immerhin gefährlichen Eingriff
zu haben sein werden, zum mindesten die schäd-
lichen Darmbakterien durch harmlose, z. B. Milch-
säurebazillen verdrängen; daher Empfehlung des
Genusses saurer Milch.
M. hat sich die Sache doch etwas zu leicht
gemacht. Viele seiner Behauptungen stimmen
einfach nicht. So gibt es Tiere, die als Pflanzen-
fresser einen langen Darm haben und doch sehr
lange leben, z. B. der Elefant 2CX) Jahre. M. hatte
ferner behauptet, es gäbe in Bulgarien viel mehr
alte Leute als anderswo, und zwar aus dem Grunde,
weil die Hauptnahrung der ländlichen Bevölkerung
in saurer Milch bestände. Auch das ist nicht
richtig. Es gibt in Bulgarien viele alten Leute, aber
noch mehr Analphabeten; die Landleute kennen
oft ihr Geburtsjahr nicht und bezeichnen sich,
wenn sie ein hohes Alter erreicht haben, kurzweg
als Hundertjährige.
Also mit dieser Theorie war es nichts. Er-
wähnenswert ist hier vielleicht der Umstand, daß
viele Wundermittel zur Lebensverlängerung, so das
„Lebensmanna" des Grafen von St. Germain, auch
nichts weiter waren als starke Abführmittel.
Tiefer als Metschnikoff faßte Weismann
das Problem des Alterns auf. Nach ihm liegt der
Natur nur an der Gattung, nicht am Einzelwesen.
Daher sind nur die Geschlechtszellen, das Keim-
plasma, unsterblich, die Einzelzellen sind, sobald
der Zweck der Fortpflanzung erfolgt ist, über-
flüssig, sie altern und vergehen. Weismann
erklärt den Tod als eine Zweckmäßigkeitsein-
richtung der Natur; durch ihn wird Platz ge-
schaffen für neues Leben. Die Arbeiten Weis-
manns haben Anlaß gegeben zu einer großen
Reihe von Untersuchungen über Beziehungen
zwischen Lebensdauer und Fortpflanzung, zwischen
Geschlechtszellen und den übrigen Körperzellen,
usw. Bütschli und später v. Hanse mann
z. B. nahmen ein Ferment an, daß in den Keim-
drüsen gebildet werde, auf den übrigen Körper
N. F. XX. Nr. n
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
163
einwirke und ihn jung erhalte. Mit dem im Alter
einsetzenden Schwund dieser Drüsen sei auch der
Leib dem Altern und dem Tode verfallen. Ich
muß es mir versagen, auf diese Fragen, die reich
an Widersprüchen sind, hier näher einzugehen.
Hertwig hat aufmerksam gemacht auf die
Wechselbeziehungen zwischen Zelleib und Zell-
kern; im jugendlichen Körper viel Zellmasse und
ein verhältnismäßig kleiner Kern, im weiteren
Leben eine fortschreitende Verkleinerung des Zell-
leibes im Vergleich zum Zellkern. Diese Ver-
armung an Protoplasma führe endlich zum Unter-
gang des Organismus.
F"riedenthal weist darauf hin , daß der
Körper, abgesehen von den Zellen, aus deren Ab-
kömmlingen, den sog. Zwischensubstanzen, bestehe.
Dies Zwischengewebe, eine funktionell tote Masse,
nehme im Laufe des Lebens immer mehr zu, der
aktiv täüge Zellenanteil ab. Schließlich werde
der mechanische Anteil am lebenden Organismus
so groß, daß er den aktiv tätigen unterdrücke.
Pflüger erklärt den Ablauf des Lebens durch
einen Wachstumstrieb aller lebenden Substanz.
Mißt man z. B. die Zeit, die ein Lebewesen braucht,
um sein Gewicht zu verdoppeln, so sehen wir
diese Zeiten immer länger werden (Mi not,
Friedenthal). Die befruchtete Eizelle wächst
ungeheuer schnell (ein Körper von 75 kg ist
iSocxD Millionen mal so schwer als die Eizelle).
Beim Eintritt ins Leben hat der Mensch bereits
V20 seines Gewichtes erreicht, am Ende des
I. Lebensjahres schon */a bis '/?> verdoppelt sich
jetzt also höchstens noch dreimal in immer länger
werdenden Zeiträumen. Ist der Körper ausge-
wachsen, dann reicht der Wachstumstrieb, den sich
Pflüger an eine besondere Zellsubstanz gebunden
vorstellt, gerade hin, um das Leben zu erhalten.
Ist die Substanz verbraucht, so daß Verluste nicht
mehr ersetzt werden können, dann verfällt der
Organismus der Atrophie und dem Tode.
Ahnlich sind die Gedankengänge Rubners
über die Beziehungen des Stoffwechsels zur Lebens-
dauer. Die lebendige Substanz hat, abgesehen
von Wachstum und Wiederaufbau, die Fähigkeit,
die ihr in der Nahrung zugeführte Energie je nach
Bedürfnis in Arbeit und Wärme umzuwandeln.
Aber das Maß dieser Energieumwandlung ist be-
schränkt. Beim Menschen ist nach den Berech-
nungen Rubners bis zum Eintritt der Pubertät ^|^,
bei vollendetem Wachstum Vs der Energie ver-
braucht. Ist diese Fähigkeit der lebenden Sub-
stanz erschöpft, so hört schließlich jeder Ersatz
auf, es erfolgt naturnotwendig Zusammenbruch
und Tod.
Auch gegen diese Gedankengänge sind ge-
wichtige Bedenken erhoben. Man hat darauf hin-
gewiesen, daß der Stoffwechsel bei Greisen nicht
wesentlich herabgesetzt ist, daß Wunden und
Knochenbrüche auch bei alten Leuten ausge-
zeichnet, wenn auch etwas langsamer, heilen usw.
Ich gehe auf das Für und Wider hier nicht näher
ein. Eins nur ist seltsam. Wer wird bei dem
Wachstumstrieb Pflügers, bei der Energie der
Biogene Rubners nicht an einen Begriff erinnert,
der in früheren Zeiten, noch vor 100 Jahren, die
größte Rolle spielte und dann Jahrzehnte lang in
der Wissenschaft streng verpönt war. Ich meine
den Begriff der Lebenskraft, des Vitalismus. Die
Wiederkehr dieses Ausdrucks als Wachstumstrieb,
als Zellenergie, in neuester Zeit als ererbte An-
lage, als Konstitution, beweist, daß wir das rein
materialistische Denken in der Naturwissenschaft,
die Zeit, in der wir uns vermaßen, die Lebens-
vorgänge nur chemisch-physikalisch erklären zu
können, überwunden haben. Wir sagen heute
nicht mehr, das Leben ist bedingt durch physi-
kalisch-chemische Prozesse, sondern es verläuft
unter physikalisch-chemischen Vorgängen.
Alle bisher genannten Erklärungen haben etwas
Unbefriedigendes. Sie erklären eigentlich nicht,
sondern umschreiben nur Vorgänge, die wir beim
Ablauf eines Lebens beobachten. Das Leben eines
Zellenstaates, nun gar des Menschen, der die natür-
lichen Lebensbedingungen durch Wohnung, Klei-
dung, Art der Ernährung, kurz durch das, was
wir Zivilisation nennen, vielfach von Grund auf
geändert hat, ich sage, das Leben eines solchen
Zellenstaates beruht auf zu verwickelten und schwer
zu übersehenden Vorgängen, um so grundlegende
Fragen wie die nach Altern und Tod beantworten
zu können. Ist denn, fragen wir jetzt, Altern und
Tod wirklich eine notwendige Erscheinung alles
organischen Lebens? Verlassen wir den Vielzellen-
verband , wie ihn die höheren ■ Tiere darstellen
und wenden wir uns zu den einfachsten Lebe-
wesen, die nur aus einer einzigen Zelle bestehen.
Wir stoßen auf die überraschende Tatsache, daß
hier der Tod unbekannt ist. Zwar bleibt das
Einzelwesen als solches nicht bestehen, aber es
zerfällt jede Zelle durch einfache Teilung in 2 gleich
große, neue Zellen usf Es bleibt kein Rest, es
gibt keine Leiche, keine Verwesung.
Die Frage der Unsterblichkeit der Einzeller ist
lange heftig umstritten worden, jetzt aber in
positivem Sinne entschieden. Frühere Unter-
sucher (Maupas, Calkins, Hertwig) hatten
gefunden, daß in Einzellerkulturen nach einiger
Zeit, sagen wir nach 3, 4, 500 Generationen,
Alterserscheinungen auftreten. Die Tierchen werden
kleiner, es werden weniger Geißelfaden gebildet,
der Zelleib trübt sich, kurz es treten Alterser-
scheinungen auf (Depression), die dann auch schließ-
lich zum Aufhören der Teilungen und zum Tode
der Einzelwesen führen. Woodruff konnte nun
in einer großen Reihe ausgezeichneter Beobach-
tungen mit unwiderstehlicher Beweiskraft zeigen,
daß das Altern und Absterben der Einzeller aus-
schließlich auf die Überladung der Nährflüssigkeit,
also des Wassers, mit Stoffwechselprodukten zu-
rückzuführen sei. Er beobachtete die Teilung
eines Einzellers (Paramaecium, Pantoffeltierchen)
unter dem Mikroskop im hängenden Tropfen und
brachte jedesmal nach der Teilung das eine Tier-
chen in neue Nährflüssigkeit. Er fuhr so fort.
164
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. II
7 Jahre lang, durch nahezu 5000 Generationen,
ohne daß Erscheinungen des Alterns, geschweige
denn des Absterbens nachzuweisen waren. Woo-
druff wies ferner nach, daß nur die eigenen Stoff-
wechselprodukte schädlich wirkten. Brachte er
z. B. Pantoffeltierchen, die er lange in derselben
Kulturflüssigkeit gezüchtet hatte, und die infolge
dessen die erwähnten Alterserscheinungen auf-
wiesen, in eine von anderen Einzellern belebte
Nährlösung, die also auch gesättigt war von Stoff-
wechselprodukten, aber von fremden, so lebten
die Pantoffeltierchen wieder auf, teilten sich,
usw. usw.
Die Schlußfolgerung aus diesen Versuchen ist,
daß ein ungestörter Stoffwechsel, d. h. hinreichende
Zufuhr von Nährstoffen, ausreichende Abfuhr der
Stoffwechselschlacken dem Einzeller ein unbegrenzt
langes Leben sichern. Noch eine wichtige Be-
obachtung konnte W. bei seinen Versuchen machen.
Auch in stets frischer Nährlösung wurden von
Zeit zu Zeit die Teilungen seiner Versuchstierchen
langsamer. W. konnte in solchen Pausen be-
obachten, wie bei der Teilung der Zellen Anteile
der Kernsubstanz ganz abgestoßen wurden. Auf
diese Weise kam eine Verjüngung zustande, die
weiteren Lebensäußerungen, Teilungen usw. er-
folgten wieder regelmäßig.
Andere Maßregeln der Einzeller, dem drohenden
Alter und Tod zu entgehen, wie die Vereinigung
zweier Zellen (Kopulation, Vorläufer der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung), sowie die Einkapse-
lung übergehen wir. Für unsere Betrachtungen
kommt nur der ausgiebige Stoffwechsel und die
fortdauernde Zellteilung mit gelegentlicher Aus-
stoßung unbrauchbar gewordener Kernanteile in
Betracht.
Ein Vergleich nun mit den vielzelligen Wesen,
zu denen auch der Mensch gehört, zeigt sofort,
wie viel ungünstiger diese gestellt sind. Der Ein-
zeller ist rings von seiner Nährflüssigkeit, dem
Wasser, umgeben, die ganze Oberfläche ist am
Stoffwechsel beteiligt. Bei den Vielzellern liegt
Zelle an Zelle zu großen Verbänden, Organen,
zusammengefaßt, die Nährflüssigkeit wird als Blut
und Lymphe an die Zellen herangebracht. Die
einfachste Überlegung zeigt, daß aus rein mecha-
nischen Gründen von einem so ausgiebigen Stoff-
wechsel wie beim Einzeller keine Rede sein kann.
Es muß daher zur allmähligen Anhäufung von
Stoffwechselprodukten innerhalb der Zellen kom-
men. Diese Stoffwechselschlacken sind in der
Tat direkt nachweisbar. In Form von fetthaltigen
Farbkörnchen, dem sog. lipoiden Pigment, treten
sie schon in den ersten Lebensjahren auf, nehmen
immer mehr an Zahl und Ausdehnung zu, bis
sie im hohen Alter schließlich den ganzen Zell-
leib ausfüllen. Es kommt zu dem eingangs er-
wähnten Altersschwund der Zellen, der sog. Pig-
mentatrophie. Besonders wichtig sind diese
Pigmentanhäufungen in den Herzmuskelzellen und
in den Nervenzellen. Um ihre Erforschung hat
sich vor allem Mühlmann verdient gemacht.
Sehr beachtenswert ist die Tatsache, daß wir
gleiche Befunde bei allen Wirbeltieren, ja auch
bei niederen Tieren antreffen. So hat H. Hodge
in den Ganglienknoten der alternden Biene,
Harms im Hirn und in den Schlundganglien eines
kleinen Röhrenwurms (Hydroides pectinata) die
gleiche Pigmentatrophie, wie sie in den Nerven-
zellen des menschlichen Gehirns vorkommt, auf-
gefunden. Alle Einwände gegen die Deutung der
Befunde haben sich bisher nicht als stichhaltig
erwiesen. Man hat z. B. darauf aufmerksam ge-
macht, daß hervorragende Männer (Bunsen 88,
Pflüger 88, Mommsen 86 Jahre) bis ins höchste
Alter trotz pigmentierter Hirnzellen ungeschwächte
geistige Kräfte bewiesen hätten. Dieser Einwand
hält genauer Prüfung nicht stand. Ich sehe davon
ab, daß erfahrungsgemäß, aus einem leicht be-
greiflichen Gefühl der Ehrfurcht heraus, an die
geistigen Leistungen alter Leute ein etwas mil-
derer Maßstab angelegt wird. Wir wissen aber
auch, daß stärkere Arbeit eine stärkere Durch-
blutung bedeutet. Ein stark benutztes Großhirn
wird also unter günstigeren Stoffwechselbedingun-
gen leben, und demnach seine Zellen erst später
und weniger schwer der Pigmentatrophie ver-
fallen. Sodann ist überhaupt das Großhirn, der
Sitz des Verstandes, für den rein mechanischen
Ablauf der Lebensvorgänge nicht von so großer
Bedeutung. Das zeigen Versuche an Hunden,
denen das Großhirn entfernt war, ferner Beobach-
tungen an Menschen mit schweren Hirnverletzun-
gen. Die Nervenzellen, die für unser Leben, für
Altern und Tod, ausschlaggebende Bedeutung
haben, liegen, wie schon erwähnt, in den Zentren
für Atmung und Herztätigkeit, im verlängerten
Mark. Die Pigmentatrophie dieser Zellen läßt
den Geistiggroßen ebenso altern wie den Geistes-
schwachen.
Auch die zweite Möglichkeit der Verjüngung,
die wir bei den Einzellern kennen lernten, die
fortgesetzte Zellteilung, ist beim Vielzeller be-
schränkt. Wenn ich eingangs sagte, daß der Zell-
bestand unseres Körpers sich immer wieder er-
neuert, so muß ich jetzt eine Einschränkung
machen. Gerade die wichtigsten Zellen des Kör-
pers machen leider eine Ausnahme. So wissen
wir, daß die Nervenzellen, die im Embryonalleben
eine schier unbegrenzte Vermehrungsfähigkeit auf-
weisen, sich nach der Geburt nicht mehr teilen.
Gewiß, die einzelnen Nervenzellen werden größer,
ihre Ausläufer wachsen und vermehren sich, die
Zahl der Zellen nimmt aber nicht mehr zu. Ein
Hundertjähriger hat daher auch Nervenzellen, die
100 Jahre alt sind und ebenso lange ununter-
brochen haben arbeiten müssen; ein Verlust an
Nervenzellen ist völlig unersetzlich. Das Gleiche
gilt von den Herzmuskelzellen und wahrscheinlich
auch von den Zellen der großen Drüsen, wie
Leber, Niere usw. Dadurch also, daß mit der
Geburt die Teilungsfähigkeit gerade der wichtig-
sten Körperzellen aufhört, macht der Mensch beim
Eintritt ins Leben den größten und folgenschwer-
N. F. XX. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
165
sten Schritt zu Altern und Tod. Man kann dies
Verhältnis auch so ausdrücken: Altern und Tod
sind der Preis, den wir für unsere hohe Organi-
sation der Natur entrichten müssen.
Eine vollkommenere Organisation wäre viel-
leicht denkbar, Ansätze dazu sehen wir. So ist
bei den vielzelligen Wesen der Schlaf als eine
Einrichtung zur Regelung und Besserung des
Stoffwechsels aufzufassen. Bei den Manteltieren
(Ascidien), immerhin schon hoch entwickelten
Tieren, geben zu gewissen Zeiten die Zellen ihre
Differenzierung auf, der verwickelte Aufbau des
Körpers nach Organen schwindet, es kommt
wieder zu einer Anhäufung von einfachen Plasma-
zellen, aus der heraus sich das Tier neu verjüngt
entwickelt. Doch das sind Ausnahmen. Im all-
gemeinen — und das gilt auch für den Menschen
— entsteht die unbegrenzte Teilungsfähigkeit der
Zellen erst wieder durch die Vereinigung zweier
verschiedengeschlechtlicher Keimzellen, der Kreis-
lauf des Lebens beginnt damit von neuem.
Weshalb das alles so ist, weshalb unser Stoff-
wechsel unvollkommen eingerichtet ist, weshalb
die Nervenzellen ihre Teilungsfähigkeit verlieren,
das sind Fragen, die ebensowenig zu beantworten
sind wie das Rätsel des Lebens überhaupt. Alle
naturwissenschaftliche Forschung, auch die Bio-
logie, zielt auf das Warum und endet bestenfalls
bei einer Erklärung des Wie.
Haben wir somit Altern und Tod als gesetz-
mäßige Phasen des Lebens aller vielzelligen Wesen
kennen gelernt, so stehen wir jetzt vor der zweiten,
praktisch wichtigeren Frage: ist es möglich, diesen
notwendigen Ablauf hinauszuschieben oder gar
rückläufig zu machen, ist, mit anderen Worten,
eine Verlängerung des Lebens oder gar eine Ver-
jüngung möglich, und auf welchen Wegen ? Be-
schäftigt die Frage nach den Ursachen des Alterns
und Sterbens in erster Linie den Naturforscher,
so stoßen wir hier, bei der Verlängerung des
Lebens, auf ein Problem allgemeinster Art, eine
Aufgabe, vor die sich jeder einzelne Mensch ge-
stellt sieht, und die jeder nach seiner Art zu
lösen sucht. Wie auch immer der einzelne Mensch
zum Leben steht, ob als Gläubiger oder Zweifler,
ob als Philosoph oder als ein Mensch des Alltags,
— ist sein Leben bedroht durch Krankheit oder
Altern , dann steht vor uns Ärzten der Mensch,
oft nicht nur körperlich, sondern auch seelisch
nackt, ein Mensch, der auf ein Hinausschieben des
Scheldens von dieser Welt hofft und drängt. Der
Wunsch lange zu leben gehört wie der Wunsch
der Nachkommenschaft — auch dies ist ja nur
eine Form des Weiterlebens — zu den Urtrieben
alles organischen Lebens, und nicht umsonst ver-
heißt das mosaische Gesetz als stärkste Belohnung
für erfüllte Kindespflicht — auf daß du lange
lebest auf Erden.
Seit es schriftliche Urkunden der Menschheit
gibt, fehlt es nicht an zahllosen Vorschriften und
Ratschlägen, die das Leben verlängern, den Ein-
tritt des Alterns nach Möglichkeit hinausschieben
sollen. Berufene und Unberufene haben über dies
Problem eine schier unübersehbare Bibliothek zu-
sammengeschrieben. Es würde uns hier viel zu
weit führen, wollten wir auch nur in gedrängtester
Kürze einen Abriß dieser Anschauungen und Be-
strebungen geben. Aber ich empfehle diese Wan-
derung einem jeden, der das menschliche Leben
einmal wieder von der ergötzlichen Seite sehen
möchte. Neben klugen Gedanken und verstän-
digen Vorschlägen welch eine Fülle von Aber-
glauben, Narrheiten, ja Betrug. Wer kennt nicht
die mittelalterlichen Sagen vom Jungbrunnen, der
Altweibermühle usw.? Zaubertränke, Goldtinki-
turen, Lebenselixiere, Wunderbetten, Übertreibun-
gen in der Lebensführung bis ins Lächerliche
hinein, ziehen an unseren Augen vorüber. Immer
das gleiche Ziel; die Verlängerung des Lebens,
das wirklich Erreichte oft das Gegenteil.
Letzten Endes dienen ja alle menschlichen
Einrichtungen, der Staat, die gesamte Hygiene
(Wohnung, Kleidung, Ernährung), die Heilkunde
usw. nur dem einen Zweck: Verlängerung des
menschlichen Lebens. Was äußere Umstände
eines Volkes, politische und wirtschaftliche, für
die Lebensaussichten des einzelnen bedeuten, dar-
über wird gerade unsere Generation sehr lehr-
reiche Vergleiche anstellen können. Hinter uns
in der Zeit von 1870 — 1914 eine von Jahr zu Jahr
sinkende Sterblichkeit, eine Zunahme der Lebens-
erwartung für den einzelnen. Vor uns ein ver-
stärkter Kampf ums Dasein, eine Auslese, die an
Grausamkeit, an Zahl der Opfer die Schrecken
des Krieges weit übertreffen wird.
So verlockend es auch wäre, diese Gedanken-
gänge weiter zu verfolgen, so z. B. einmal das
Gebiet der Heilkunde, die soziale Fürsorge und
ähnliche Fragen vom Standpunkte des Biologen
aus zu betrachten, die Kürze der Zeit zwingt, den
Faden wieder aufzunehmen , zu unserem eigent-
lichen Thema zurückzukehren. Wir wollen sehen,
was die heutige Wissenschaft dem einzelnen über
die Möglichkeit der Lebensverlängerung zu sagen
hat. Verschiedene Wege der Erforschung sind
möglich. Zunächst die Statistik. Man hat mit
vielem Fleiß unendliche Zahlenreihen über alt
gewordene Leute zusammengetragen und hat
daraus Schlüsse gezogen über Ursachen und
Mittel zu langem Leben. Was lehren uns diesö
Zahlen? Das Lebensalter der Menschen ist, sd
weit wir zurückblicken, immer das gleiche ge-
wesen. Überlieferte höhere Zahlen, wie z. B. das
Alter der biblischen Patriarchen, finden ihre ein-
fachste Erklärung in einer anderen Zeitrechnung.
Weiter; auch heute werden vereinzelte Menschen
sehr alt, 100, 120, ja 150 Jahre. Es gibt mehr
alte Frauen als Männer, aber die ganz hohen Altef
sind bisher nur von Männern beglaubigt. ' '
Soweit die sicheren Daten, weitere Feststellun-
gen sind nicht mehr einwandfrei. Wie immer
entnimmt auch hier jeder den Zahlenreihen das,'
was in seine Vorstellung paßt. So findet def
Abstinenzler, daß nüchterne Leute die meiste AuS'
166
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. u
sieht haben, alt zu werden. Aber wie häufig sind
es Lebensschwache, die nüchtern leben, und wie
viele frohe Trinker erreichen ein hohes Alter. So
hören wir von einem Lothringer Chirurgen Polit-
man, der 140 Jahre alt wurde, stets rüstig und
arbeitsfreudig blieb, so daß er noch am Tage vor
seinem Tode seine eigene Frau an einem Krebs-
leiden operierte; dabei soll dieser Mann von seinem
25. Lebensjahre an nicht einen Tag nüchtern gewesen
sein. Ahnliches gilt von anderen Genußmitteln.
Elisabeth Durieux z. B. soll täglich 40 Tassen
Kaffee getrunken haben und wurde dabei 140
Jahre alt. Ich bitte mich nicht mißzuverstehen.
Ich möchte beileibe nicht den Kaffee oder gar
. den Alkohol als Mittel zur Lebensverlängerung
empfehlen; aber bei der bekannten Übertreibung
aller Lebensfanatiker ist es ganz gut, die Dinge auch
einmal von der anderen Seite her zu betrachten.
Ein zweites Beispiel. Man hat herausgefunden,
daß alle Männer, die ein hohes Lebensalter er-
reichten, verheiratet waren, oft vielfach verheiratet
waren. Wir lesen von einem Franzosen, de
Longueville, der iio Jahre alt wurde, mit
99 Jahren sich zum zehnten Male verheiratete
und, 101 Jahre alt, Vater wurde. Die Feinde
oder wohl richtiger gesagt, die Feindinnen des
Junggeselientums schließen daraus, die Ehe sei
das beste Mittel der Lebensverlängerung. Aber
hören wir auch die andere Seite, den bedrängten
Junggesellen. Er sagt, vielleicht unter Berufung
auf Newton, Kant, Schopenhauer und
viele andere, das sei noch lange nicht bewiesen.
Mit das durchschnittlich höchste Lebensalter er-
reichen die im Cölibat lebenden katholischen
Priester. Wenn ein Mann wie der erwähnte Fran-
zose zehnmal verheiratet war, und trotzdem so
alt wurde, so beweise das doch nur, daß es ganz
unverwüstliche Leute gäbe, denen selbst 10 Frauen
nichts anhaben könnten; die meisten Männer
hätten an weit weniger genug.
Wer hat Recht? Ganz gewiß beide Teile
Das ruhige Gleichmaß der Ehe, die Vermeidung
von Ausschweifungen, die Freude an den heran-
wachsenden Kindern und Enkeln können sicher
im höchsten Maße lebensbejahend und damit
lebensverlängernd wirken. Aber auch die andere
Seite hat Recht. Wer so alt wird, wessen Keim-
drusen sich so lange funktionstüchtig erhalten,
der ist in der Tat unverwüstlich. Man hat 150-
jahrige seziert, deren Organe keine groben Alters-
veranderungen aufwiesen. Die Statistik hat uns
auch gelehrt, daß langes Leben erblich sein kann.
Diese glücklichen Leute bekommen von der Keim-
masse ihrer Eltern her eine ungewöhnliche Energie
ihrer Gewebe mit, ein Etwas, das wir mit Messer,
Mikroskop, chemisch- physikalischen Untersuchungs-
methoden, Blutproben usw. schlechterdings nicht
fassen können. Früher nannte man das, wie schon
erwähnt, Lebenskraft, heute spricht man von einer
guten Anlage, von einer ererbten und vererbbaren
Konstitution. Verschiedene Namen für die gleiche
Sache. ^
Und noch eins. Viele, die ein ungewöhnlich
hohes Alter erreichten, schrieben dies einer be-
stimmten Lebensweise zu. Wenn wir aber genauer
hinsehen, welch eine Fülle verschiedenster, oft
geradezu widersprechender Ansichten. Das Gleiche,
wenn wir uns im Kreise der Mitlebenden um-
sehen. Jeder sucht die Aufgabe, jung zu bleiben,
in verschiedener Weise zu lösen. Der eine lebt
vegetarisch und trägt Jägerhemden, der andere
hält Fleisch für das beste Nahrungsmittel, dieser
geht dem Alkohol und Tabak ängstlich aus dem
Wege, jener sieht in beiden Sorgenbrecher und
damit Lebensverlängerer. Der eine müllert fleißig
und stählt seine Muskeln durch Sport, der andere
hält mit Kant eine erheiternde Lektüre für ge-
sünder als körperliche Bewegung usw. Auf einem
römischen Grabstein der Kaiserzeit lesen wir (nach
Hufeland), daß der Tote 115 Jahre alt wurde,
und dies hohe Alter der Tatsache zuschreibe, daß
er sich dauernd dem Anhauch junger Mädchen
aussetzte. Wem sollte das nicht einleuchten I Ein
anderes Beispiel. Als ich mich im Frühjahr 19 12
einige Monate in Amerika aufhielt, machte gerade
ein Verjüngungsmittel großes Aufsehen, das ein
findiger Mann in Chicago vertrieb. Er fing vom
Dache seines Hauses den Sonnenschein in Flaschen
auf und verkaufte ihn, i Dollar für die Flasche.
Der Mann machte glänzende Geschäfte. Und ich
bin Ketzer genug zu glauben, daß dieser ver-
gnügte Schwindler mehr Menschen geholfen hat,
als viele in pharmazeutischen Fabriken hergestellte,
hochwissenschafillche Medikamente. Die Klugen
lachten und die Dummen, wie überall in der
Mehrzahl, glaubten. Beides aber, Lachen und
Glauben, wirkt außerordentlich lebensbejahend
und damit lebensverlängernd.
Geistige Vorgänge, die Entwicklung seelischer
Energien sind es, die bei allen Arten der Lebens-
verlängerung eine sehr wichtige, wenn nicht die
ausschlaggebende Rolle spielen. Unter diesem
Gesichtspunkt lösen sich die vielen, vorher be-
rührten Widersprüche. Wir verstehen, weshalb
Leute mit einem schwachen, bresthaften Körper,
wie Kant, ein sehr hohes Alter erreichten. Wir
verstehen den Sinn der Askese, z. B. der Abstinenz.
Die Entsagung, das Opfer machen seelische Kräfte
frei, lösen Spannungen aus, die dem Ablauf der
rein körperlichen Lebensvorgänge zugute kommen.
Wir verstehen die lebensverkürzende Wirkung der
Hypochondrie.
Ohne weiteres ist damit aber auch der häufige
Wechsel, das rasche Verschwinden einst hochge-
priesener Methoden erklärt. Wer spricht z. B.
heute noch von Kneipp, und doch hat er
zweifelsohne vielen Leuten genützt, nämlich denen,
die an ihn und seine Wasserkur glaubten. Mit
dem Glauben schwindet die Wirkung. Auch der
Aberglaube kann in diesem Sinne lebensverlängernd
wirken.
Doch genug hiervon. Nur auf einen Versuch
von wissenschaftlicher Seite, der in letzter Zeit
erhebliches und berechtigtes Aufsehen erregt hat.
N. F. XX. Nr. 11
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
167
möehte ich noch eingehen, die von St ei nach
vorgeschlagene experimentelle Verjüngung. Ich
muß, da ich nicht nur vor Ärzten spreche, die
Grundlagen des Verfahrens etwas ausführlicher
behandeln. Den Ablauf der Lebensvorgänge stellte
man sich früher so vor, daß Gehirn und Rücken-
mark, allgemein gesagt das Zentralnervensystem,
einerseits durch die Sinnesorgane Eindrücke der
Außenwelt empfing, andererseits wieder auf dem
Wege der Nervenbahnen die Tätigkeit der Körper-
organe teils bewußt, teils unbewußt anregte und
unterhielt. In den letzten Jahrzehnten wissen wir,
daß auch andere, sehr wichtige Organe, die Drüsen
mit innerer Sekretion, in den Ablauf der Lebens-
vorgänge erregend und hemmend eingreifen. Wir
unterscheiden in unserem Körper zweierlei Drüsen,
solche mit und solche ohne Ausführungsgang. Zu
ersteren gehören z. B. die Schweißdrüsen, Talg-
drüsen, Speicheldrüsen, Tränendrüsen, Brustdrüsen,
Leber, Nieren, Bauchspeicheldrüse usw. Ihre Ab-
sonderungen werden in bekannter Weise teils auf
die äußere, teils auf die innere Körperoberfläche
geleitet. Daneben gibt es aber noch eine Menge
anderer Drüsen, die, ohne Ausführungsgang, ihre
Absonderungen direkt der Blutbahn zuführen. Es
sind dies, um nur einige anzuführen, Schilddrüse,
Thymus, Epithelkörper, Hirnanhang, Zirbeldrüse,
Nebenniere, gewisse Zellinseln der Bauchspeichel-
drüse und Leber usw. Man wußte früher mit
diesen Drüsen nicht viel anzufangen, hielt sie wohl
gar für überflüssig, für Reste früherer Entwicklungs-
stufen. Erst in den letzten 4 Jahrzehnten haben
Experiment und klinische Beobachtung uns über
die ungeheure Bedeutung dieser Drüsen für den
Körperhaushalt aufgeklärt. In aller Kürze einige
Beispiele. Die Nebennieren sind kleine, unschein-
bare Organe, die, am oberen Nierenpol gelegen,
mit der Niere selbst nichts zu tun haben. Wir
wissen heute, daß sie wichtige Stoffe (z. B. Adre-
nalin) ins Blut abgeben. Die Zerstörung der
Nebennieren durch Verletzung oder Krankheit
führt unausbleiblich in kürzester Zeit zum Tode.
Das Gleiche gilt von dem sog. Hirnanhang, der
Hypophjrse, und von den winzigen, hinter der
Schilddrüse gelegenen Epithelkörperchen. Weiter,
die Schilddrüse steht, wie wir jetzt wissen, in
nahen Beziehungen zum ganzen Wachstum, zur
Entwicklung der Geschlechtsorgane usw. Ihre
Entfernung bedingt bei jungen Tieren Störungen
des Wachstums und der Entwicklung, bei er-
wachsenen körperlichen und geistigen Verfall
(Cachexie).
Ahnlich wirken Erkrankungen dieser Drüsen.
So wissen wir, daß die Erkrankung der Schild-
drüse, die wir als Basedowsche Krankheit be-
zeichnen, schwere Veränderungen, vor allem Ent-
artung des Herzmuskels, herbeiführt. Erkrankungen
des erwähnten Hirnanhangs bedingen ein über-
natürliches Wachstum der Gliedmaßen, Verküm-
merung der Geschlechtsorgane usw. Genug, über-
all sehen wir innige und wichtigste Beziehungen
dieser Blutdrüsen zu den verschiedensten Körper-
organen und zueinander, Einflüsse hemmender
und erregender Natur. Entwicklung, Wachstum,
normaler Verlauf der Lebensvorgänge, alles steht
unter dem Einfluß dieser inneren Sekretion. Wir
wissen z. B., daß zum Zustandekommen der Reife
mindestens 4 innere Drüsen normal funktionieren
müssen : Schilddrüse, Thymus, Hypophyse, Keim-
drüse. Man nennt die Sekrete dieser Drüsen
Hormone, chemische Blutboten, über deren ge-
nauere Zusammensetzung wir noch nichts wissen,
wie überhaupt die Lehre von der inneren Sekretion
trotz wichtigster Ergebnisse noch des weiteren
Ausbaues harrt.
Unter den Drüsen mit innerer Sekretion nehmen
die Keimdrüsen eine eigentümliche Stellung ein.
Man rechnete sie früher zu den Drüsen mit äußerer
Sekretion. Nachdem Leuwenhoek 1678 die
Samenzellen, Karl Ernst v. Baer 1827 die
menschliche Eizelle gefunden hatten , nachdem
weiter die feineren mikroskopischen Vorgänge,
die zur Bildung der Keimzellen führen, aufgedeckt
waren , schienen Aufgabe und Bedeutung der
Keimzellen genügend geklärt. Erst sehr viel
später, vor etwa 3 Jahrzehnten (die grundlegenden
Versuche rühren von Bro wn-Sequard [1891]
her) erkannte man, daß die Keimdrüsen auch
wichtige innersekretorische Aufgaben haben. Ley-
dig fand 1850 zwischen den Hodenkanälchen
eigentümliche Zellen, die mit den Keimzellen
nichts zu tun haben und die als interstitielle Zel-
len bezeichnet wurden. Wenige Jahre später, 1885,
wurden auch im Eierstock ähnliche Zellen ge-
funden. Da sie besonders zahlreich zur Zeit der
Pubertät auftreten, hat Steinach die Bezeichnung
Pubertätsdrüse eingeführt. Sorgfältige Unter-
suchungen, an denen St ei nach seit mehr als
2 Jahrzehnten hervorragenden Anteil nimmt, haben
uns über die eigentümliche innersekretorische Be-
deutung dieser Pubertätsdrüse aufgeklärt. Ich will
Sie nicht mit dem Gang dieser Untersuchungen
aufhalten, sondern nur kurz die schon jetzt fest-
stehende Schlußfolgerungen mitteilen. Wir haben
uns heute die Keimdrüsen (Hoden, Eierstock) als
aus zwei völlig verschiedenen Drüsen zusammen-
gesetzt zu denken: die eigentliche Geschlechts-
drüse und die Pubertätsdrüse. Es gibt mehrere
Wege, letztere zu isolieren, wie es für Forschungs-
zwecke notwendig ist. Der sicherste Weg ist die
Verpflanzung, entweder auf eine andere Stelle des
Körpers oder auf ein anderes Tier. Dabei geht
die eigentliche Keimdrüse zugrunde, die Pubertäts-
drüse aber bleibt erhalten und damit auch ihre
eigentümliche Wirkung. Gleichzeitig wird jeder
Nerveneinfluß ausgeschaltet. Wir wissen heute
mit Bestimmtheit, daß die ganzen sekundären Ge-
schlechtsmerkmale, wie die Unterschiede der Ge-
schlechter im Knochenbau, Haarkleid, Fettansatz,
Stimme usw. auf. die spezifische Wirkung nur
dieser Pubertätsdrüse zurückzuführen sind. Zu
diesen sekundären Geschlechtsmerkmalen gehören
auch die seelischen Unterschiede im Geschlechts-
leben, der Fortpflanzungstrieb, die Neigung zum
I68
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. u
anderen Geschlecht, der Mutterinstinkt usw. Man
spricht von einer Erotisierung des Gehirns durch
die Sexualhormone und hat bei niederen Tieren,
z. B. Fröschen die wirksamen Stoffe im Gehirn
nachweisen können.
Wie spezifisch diese Sexualhormone arbeiten,
haben Tierversuche von Steinach über Ge-
schlechtsumwandlung (Maskulierung, Feminierung)
bewiesen. Durch Kastration und Überpflanzung
andersgeschlechtlicher Keimdrüsen gelingt es bei
jungen Tieren Entwicklung, Körperbau, Behaarung
usw. völlig umzustimmen, ebenso das Triebleben.
In dieser Weise feminierte männliche Meerschwein-
chen z. B. bekommen nicht nur ein weibliches
Aussehen (Körperbau, Schädel, Haarkleid), sondern
zeigen auch in ihren Trieben spezifisch weibliche
Eigenschaften, treiben Brutpflege, säugen Junge usw.
Für die menschliche Heilkunde sind diese Ver-
suche von großer Bedeutung. Bei Männern z. B.,
die durch Krankheit oder, wie im Kriege so
häufig, durch Verietzungen ihrer Keimdrüsen be-
raubt waren, hat man in zahlreichen Fällen durch
Überpflanzung gesunder Pubertätsdrüsen schwere
Ausfallserscheinungen beseitigt. Es ist gelungen,
durch den gleichen Eingriff das krankhafte Trieb-
leben eines Homosexuellen zu heilen usw.
Doch, werden Sie fragen, was hat das alles
mit der Verjüngung zu tun? Nun, Steinach
fand bei seinen Versuchen, daß die hormonale
Funktion der Pubertätsdrüse nicht allein darin be-
steht, die körperiichen und seelischen Geschlechts-
merkmale zur Ausbildung zu bringen, sondern sie
auch während des ganzen Lebens auf der Höhe
zu halten. Nachlaß der Funktion der Pubertäts-
drüsen gehe parallel mit den Erscheinungen des
Greisenalters. Es lag nun der Gedanke nahe,
durch eine Wiederentfachung der Tätigkeit der
Pubertätsdrüse den Altersvorgang zu unterbrechen
oder wenigstens hinauszuschieben. Dazu gibt es
verschiedene Wege. Der einfachste ist beim Manne
die Unterbindung der Ausführungsgänge der Keim-
drüsen, bei der Frau Röntgenbestrahlungen in be-
stimmter Stärke. Es werden durch diese Ver-
fahren die eigentlichen Geschlechtszellen außer
Funktion gesetzt, sie verkümmern und gehen zu-
grunde, die sog. Pubertätsdrüse aber wird zu er-
neutem Wachstum und stärkerer Sekretion an-
geregt. So wird der Körper wieder mit Sexual-
hormonen überschwemmt, eine neue Jugend her-
beigeführt.
So weit die theoretischen Grundlagen des
Steinach sehen Verfahrens. Seine Tierversuche
haben die Voraussetzungen bestätigt. Steinach
experimentierte an Ratten. Das Greisenalter ist
hier gekennzeichnet durch Abmagerung, Struppig-
werden und teilweisen Ausfall des Haarkleides,
schlaffe Körperhahung, verringerten Stoffwechsel,
Teilnahmlosigkeit, Aufhören des Geschlechtstriebes.
Es gelang durch die erwähnten Eingriffe alle diese
Erscheinungen zu beseitigen und noch einmal eine
Zeitspanne der Vollkraft herbeizuführen. Nach
einigen Monaten freilich eriosch die Wiederbe-
lebung. Dann war noch eine zweite Verjüngung
möglich, und zwar durch Überpflanzung von Puber-
tatsdrüsen jüngerer Tiere. Auch diese Wieder-
belebung ging nach einiger Zeit verioren, es er-
folgte der körperliche und geistige Zusammen-
bruch und schließlich der Tod. Immerhin war
das Leben der operierten Tiere gegen das der
Kontrolltiere um 8— lo Monate veriängert.
Jetzt erhebt sich die wichtige Frage: lassen
sich diese gewiß sehr bedeutsamen Tierversuche
auch auf die menschlichen Verhältnisse übertragen.
S t e 1 n a c h bejaht diese Frage. Sein chirurgischer
Mitarbeiter Licht enst er n hat auf der letzten
Naturforscherversammlung in Nauheim (September
1920) über 26 operierte Fälle berichtet. Kann
also die St ei nachsehe Operation schon jetzt
von uns Ärzten Greisen und solchen, die es zu
werden fürchten, mit gutem Gewissen empfohlen
werden ? Meines Erachtens ist diese Frage unbe-
dingt zu verneinen.
Ich kann hier nur das Wichtigste, was dagegen
spricht, hervorheben. Zunächst sachliche Be-
denken. Das Fundament der Stein ach sehen
Voraussetzungen, die Beziehungen der Pubertäts-
drüse zu den Alterserscheinungen, steht auf sehr
schwachen Füßen. Ein Massenexperiment spricht
dagegen. Seit Jahrtausenden beraubt der Mensch
aus Eigennutz zahlreiche Haustiere ihrer Keim-
drüsen. Meines Wissens ist bei diesen Tieren ein
früheres Altern bisher nicht beobachtet worden.
Ferner betreffen die Altersvorgänge, wie wir sie
eingangs kennen gelernt haben, nicht nur die Ge-
schlechtsdrüsen, sondern die allerverschiedensteh
inneren Organe, z. B. die Nerven- und Herzmuskel-
zellen, und wir wissen, daß hier die AltersveH-
änderungen, vor allem die Pigmentatrophie, einer
Rückbildung nicht fähig sind.
Die Tierversuche S t e i n a c h s sind noch nicht
ausreichend nachgeprüft. Nachforschungen in
Einzelfragen haben zu widersprechenden Ergeb-
nissen geführt. Aber nehmen wir einmal an, alle
Beobachtungen und Schlüsse an den Versuchs-
tieren wären richtig, dann bleibt doch bis zur
Übertragung dieser Ergebnisse auf menschliche
Verhältnisse ein sehr weher Schritt. Wir haben
bei solchen Übertragungen zu viele und zu herbe
Enttäuschungen eriebt, als daß nicht äußerste
Vorsicht und Kritik geboten erschiene. Wie oft
haben wir gehört, daß bei Tieren durch diese
und jene Mittel Krebs, Syphilis, Tuberkulose mit
einem Schlage beseitigt werden konnten. Hoff-
nungen, die sich unter dem Eindruck solcher
Erfolge auch für den Menschen einstellten, haben
sich nicht erfüllt. Der Mensch ist eben keine
Ratte und kein Meerschweinchen. Gewiß gilt
auch von ihm als einem Glied der organischen
Natur das, was ich vorhin von dem Einfluß der
Sexualhormone sagte. Auch die Entwicklung des
Menschen veriäuft unter der Wirkung der Puber-
tätsdrüse. Aber die Pubertätsdrüse ist von den zahl-
reichen Drüsen mit innerer Sekretion sicher nicht die
wichtigste. Wir leben in einer Zeit, die die sexuale
N. F. XX. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
169
Frage überwertet. Die Spannungen, die das Ge-
schlechtsleben übermittelt, sind für den Menschen
nicht immer die stärksten und nicht immer die wert-
vollsten. Zu leicht wird übersehen, daß beim
Menschen die weitaus stärkste Drüse mit innerer
Sekretion das Gehirn ist (ich verweise hier auf
die Forschungen Friedenthals über das Ver-
hältnis vom Gehirn zur Körperoberfläche, den
sog. Cephalisationsfaktor; dieser Faktor ist beim
Menschen ganz unverhältnismäßig groß. Je klüger
ein Wesen, desto besser seine Lebensaussichten).
Seelische Vorgänge sind beim Menschen auch
in geschlechtlichen Dingen von überragender Be-
deutung. So sehen wir häufig genug ein Ver-
schwinden des Geschlechtstriebes und eine Wieder-
kehr, die beide auf rein seelische Vorgänge zu
beziehen sind. Eine Wiederbelebung sehen wir
nach Behandlungen und operativen Eingriffen, die
mit den von St ei nach vorgeschlagenen nichts
zu tun haben , lediglich auf suggestivem Wege.
Kommt noch eins hinzu: Operationen wie die
von St ei nach empfohlene sind von uns jahr-
zehntelang aus anderer Anzeige, nämlich zur Be-
kämpfung der Vorsteherdrüsenvergrößerung, bei
alten Männern ausgeführt worden ; eine Verjüngung
wurde danach nicht beobachtet. Auch die
Röntgenbestrahlung der Eierstöcke ist zu vielen
tausend Malen vorgenommen. Wenn hier eine
Verjüngung eintrat, so war sie zwanglos auf die
Beseitigung schwerer Krankheit, wie z. B. Ge-
schwülste, Blutungen zu beziehen.
Aber die Krankengeschichten Steinachs,
widerlegen sie nicht alle Einwände? Im Gegen-
teil. Lichtenstern gibt selbst zu, daß bei
jüngeren Menschen mit zurückgebliebener Ge-
schlechtsentwicklung die Operation nutzlos war.
Es sind schließlich nur S wirkliche Erfolge übrig,
und sehen wir uns diese genauer an, so finden
wir niemals reine unzweideutige Fälle, d. h. ge-
sunde Greise, wie Steinach sie für seinen Ein-
griff verlangt. Immer liegen gleichzeitig schwere
Krankheiten vor (Blasenstein, Vergrößerung der
Vorsteherdrüse mit Harnverhaltung, Blasen-
katarrh, Nierenbeckenentzündung, Vereiterung
einer Keimdrüse, beiderseitiger Wasserbruch usw.).
Diese Krankheiten wurden geheilt, daneben die
Steinachsche Operation ausgeführt. Wer will
mit Sicherheit entscheiden, welcher Behandlung
die erzielte Verjüngung zuzuschreiben ist?
Verjüngungskuren haben seit jeher etwas
Mystisches gehabt. In einer Zeit körperlicher und
seelischer Zerrüttung, wie sie unser Volk jetzt
durchlebt, ist der günstigste Boden für Mystik
aller Art, Zauberer und Propheten gegeben. Auch
bei der Steinachschen Operation spielt die
Suggestion, sowohl beim Arzt wie beim Kranken,
sicher eine große Rolle. Wer an die Steinach-
sche Operation glaubt, dem wird sie helfen. Sehr
zu bedauern bleibt, daß die Steinachschen Ver-
suche so schnell und so ausgiebig den Weg in
die Zeitungen gefunden haben. Überspannte
Freunde haben Steinach, der als Forscher
durchaus ernst genommen zu werden verdient,
mit übereilten und übertriebenen Schilderungen
mehr geschadet als genützt. Um so mehr er-
wächst uns Ärzten die Pflicht, kühl und klar zu
bleiben und nicht Hoffnungen mit Tatsachen zu
verwechseln. Steinach selbst hat sich genötigt
gesehen, vor übertriebenen Erwartungen zu warnen.
Es wird ihm so gehen, wie allen seinen Vor-
gängern; zuerst begeisterte Aufnahme, ausge-
zeichnete, d. h. durch Suggestion des Operateurs
und des Operierten bedingte Erfolge. Dann der
Pendelausschlag nach der anderen Seite: tiefe
Enttäuschung und Ablehnung, zum Schluß nach
einigem Hin und Her ein gesicherter Erfahrungs-
bestand. Für einzelne, sorgfältig ausgesuchte Fälle
wird die Operation vielleicht bestehen bleiben.
Aber auch dann dürfen wir nicht vergessen, daß
es sich immer nur um einen Aufschub handelt.
Es altern ja nicht nur die Keimdrüsen, es altert,
wie wir gesehen haben, der ganze Körper, insbe-
sondere die Nervenzellen. Ob nach dem Auf-
flackern des Lebenslichtes der Zusammenbruch
nicht noch ein schnellerer sein wird als bei nor-
malem Ablauf, steht dahin.
Trotz S t e i n a c h werden wir der Natur weiter
unsern Tribut zollen müssen. Für den Natur-
forscher hat diese Vorstellung nichts Bedrückendes.
Er weiß, daß in der Welt des Organischen ein
ständiges Gehen und Kommen, Entstehen und
Vergehen herrscht, daß das Leben an sich dauert
und nur die äußeren Formen absterben. Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Das Gesetz
von der Erhaltung der Energie, die Grundlage
aller heutigen Naturerkenntnis, kann auch auf die
geistigen Energien übertragen werden. Mag man
sie Seele oder anderswie benennen, sie sind un-
vergänglich. Unser Körper vergeht mit Ausnahme
des Keimplasmas, das, wie vorher ausgeführt,
potentiell unsterblich ist. In letzter Zeit hat Karl
Ludwig Schleich — Arzt, Forscher und Dichter
— sogar die Unsterblichkeit des Körpers natur-
wissenschaftlich zu beweisen gesucht. Nach ihm
ist die Gesamtsumme alles Lebenden eine kon-
stante Bildung, nur die Form wechselt. Träger
des Lebens seien bestimmte Anteile des Zellkerns,
die Chromosomen, diese seien unverweslich, un-
verdaulich und nur durch Feuer zu zerstören.
Beim Tode des Vielzellenstaates, z. B. des Men-
schen, fallen die zu Organen zusammengefaßten
Zellverbände wieder auseinander, die Chromo-
somen aber bleiben erhalten und gehen neue Ver-
bindungen ein. Also ein ewiger Kreislauf des
Organischen, im gewissen Sinne eine Unsterblich-
keit auch des Körpers.
Was die Kunst der Lebensverlängerung an-
langt, so haben sehr kluge Köpfe gefunden, daß
es wohl viele Mittel gäbe, das Leben zu verkürzen,
aber kein einziges sicheres Mittel, es zu verlängern.
Die Vorschriften der Alten — ich denke hier an
Hippokrates, Aristoteles, Seneca, Plu-
tarch, Galen u. a. — , Mäßigkeit, Einfachheit,
Arbeit, vor allem ein heiterer Gleichmut der See'e
i;o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. II
und ruhige Fügung in das Unabänderliche, sind
auch heute gültig. Und auch heute noch gilt
das Wort, das Feuchtersieben vor loo Jahren
prägte: „Nichts in der Welt macht früher alt, als
die beständige Furcht es zu werden". Wenn uns
die jüngste Wissenschaft etwas Neues und Bleiben-
des in dieser Frage gebracht hat, so ist es die
Bewertung der Anlage. Daher Vorsicht in der
Wahl der Eltern. Die ererbte, gesunde Anlage
ist die beste Gewähr für ein gesundes und langes
Leben.
Schrifttum.
V. Feuchtersieben, „Zur Diätetik der Seele". Reclam.
Friedenthal, Allgemeine und spezielle Physiologie des
Menschenwachstums. 1914.
Harms, Experimentelle Untersuchungen über die innere
Sekretion der Keimdrüsen. 1914.
Holle, Allgemeine Biologie. 1913.
Hufeland, Makrobiotik. Reclam.
Kammerer, Allgemeine Biologie. 1915.
Kammerer, Über Verjüngung und Verlängerung des
persönlichen Lebens. 1921.
Kant, Von der Macht des Gemüts, durch den bloflen
Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein. Reclam.
Korscheit, Lebensdauer, Allern und Tod. 191 7.
Lichtenstern, Die Erfolge der Altersbekämpfung bejm
Manne nach Steinach. Bert. klin. W. 42, 1920.
Liek, Zu den Steinachschen VerjüngungsversjicHep.
Deutsche med. Wochenschr. 42, 1920.
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Miehe, Allgemeine Biologie. 1920.
Mühlmann, Das Altern und der physiologische Tod. igiö.
Müller, Über Altern und Tod. Volkmanns Sammlung
klinischer Vorträge.
Pawlinoff, Der Sauerstoffmangel als Bedingung der
Erkrankung und des Ablebens des Organismus. Berlin I90f2.
Schallmeyer, Vererbung und Auslese. igi8.
C. L. Schleich, Das Problem des Todes, iqao.
Schultz-Schultzenstein,Die Verjüngung des mensch-
lichen Lebens. Berlin 1850.
Steinach, Verjüngung durch experimentelle Neube-
lebung der alternden Pubertätsdrüse. 1920.
Tand 1er und Groß, Die biologischen Grundlagen der
sekundären Geschlechtscharaktere. 1913.
Einzelberichte.
Die absolute Datierung der älteren und
jüngeren Steinzeit.
Im Anschluß an die S. 29 dieser Zeitschrift
besprochene Arbeit von E. Werth über die ab-
solute Dauer der Spät- und Postglazialzeit und
der zugehörigen Kulturen (Korrespondenzblatt für
Anthropologie, 51, 1920. S. 7—10) hat Nils
Niklasson ein Referat über Untersuchungen von
Montelius, die die Ermittlungen von Datierungs-
punkten für die ältere und jüngere Steinzeit be-
zweckten, unter dem Titel „Zur Chronologie der
älteren Steinzeit" in derselben Zeitschrift erscheinen
lassen (S. 19—22). Der hochverdiente Nestor der
schwedischen Vorgeschichtsforschung OscarMon-
telius ging bei den in Rede stehenden Unter-
suchungen von einem bestimmten Typus „mandel-
förmiger" Feuersteinwerkzeuge aus, die grob zu-
geschlagen und an den Rändern oft mit einer
feinen Retusche versehen sind. Das Verbreitungs-
gebiet dieses bestimmten Werkzeugtypus umfaßt
Norddeutschland (Rügen), Dänemark, das südliche
und westliche Schweden und die südwestlichen
Teile von Norwegen. Bereits seit Jahren hat
Montelius die fraglichen Geräte für die ältesten
Zeugen menschlichen Daseins in Skandinavien er-
klärt. Die jüngeren Forscher haben ihm in dieser
Anschauung nicht beipflichten wollen. Sie haben
vielmehr in diesen Fundstücken nicht fertige Ge-
räte, sondern nur Vorarbeiten für jungsteinzeitliche
Feuersteindolche und Lanzenspitzen erblicken
wollen. Dieser Widerspruch hat M. veranlaßt,
seine diesbezüglichen Forschungen zu erweitern
und in einer Abhandlung „De mandelformiga
flintwerktygens älder" (Antikvarisk tidskrift för
Sverige 20, 1918. S. I— 60) noch einmal zusam-
menfassend zu behandeln. In dieser Abhandlung
weist M. wohl überzeugend nach, daß es sich um
wirklich fertige, typische Geräte und nicht um
Vorarbeiten handelt; für diese Geräte sucht er
dann gleichzeitig auch eine genaue Chronologie
zu ergründen. Die Ergebnisse dieser chronolo-
gischen Untersuchung basieren auf folgenden drei
Punkten. Erstens, daß die Form dieser Geräte
wie auch die Art ihrer Herstellungstechnik darauf
hindeuten, daß sie aus einer sehr frühen Periode
stammen. Zweitens, daß sie nie in Gräbern oder
auf Wohnplätzen der jüngeren Steinzeit oder auch
nicht zusammen mit anderen Geräten dieser Zeit-
periode gefunden sind. Drittens, daß eines dieser
Geräte in einer Torfschicht gefunden sein soll,
die von einem Wohnplatz aus der Zeit der Kjök-
kenmöddinger überlagert ist. Da nun diese
mandelförmigen Geräte mit den Solutreenspitzen
Westeuropas sehr weitgehend übereinstimmen,
erhebt M. im Anschluß hieran die Frage, ob es
möglich ist, daß Feuersteingeräte, die gleichzeitig
mit der Solutreenperiode sind, im nördlichsten
Deutschland und in Dänemark und in den süd-
lichen und westlichen Teilen von Schweden ver-
wendet werden konnten. Diese Frage versucht
M. mit ja zu beantworten, und daraufhin die ge-
nannten mandelförmigen Werkzeuge des Nordens
für gleichaltrig mit dea Solutreenspitzen anzusetzen.
Bei diesen Erörterungen geht M. von der An-
nahme aus, daß Eiszeiten und Zwischeneiszeiten
in Nord- und Mittel- und Westeuropa gleichzeitig
gewesen seien, daß also die letzte mitteleuropäische
Eiszeit gleichzeitig mit der letzten Vereisung im
Norden stattgefunden haben müsse. Diese An-
nahme steht jedoch im schroffen Widerspruch mit
den Anschauungen, die bisher unsere Eiszeitgeo-
logen über den Verlauf der Eiszeit ausgesprochen
haben, so daß sie wohl erst einmal näher zu be-
gründen wäre, bis man auf ihr weiterbauen kann,
wie das M. ohne weiteres tut. M, leitet aus ihr
nämlich die folgende Gleichsetzung ab:
N. F. XX. Nr. 1 1
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
171
Mittel-
Die
Postglazialzeit
und Westeuropa.
Neolithikum
Azylien
Magdalenien
Solutreen
Aurignacien
Skandinavischer Norden.
Die
Postglazialzeit
letzte Eiszeit l Mousterien
Ende: Acheuleen
Mitte: Chelleen
Anfang
Die vorletzte Eiszeit
Die letzte
Zwischeneiszeit
Die jüngere Steinzeit
Die Zeit der Kjökken-
möddinger
Die Zeit der Knochen-
harpunen
Die Magiemosezeit
Die Renntierzeit
Litorinazeit
Ancyluszeit
Die Zeit der letzten Vereisung
Die letzte Zwischeneiszeit
Die Zeit der großen Vereisung
Da mit der Voraussetzung, die M. zu dieser
Gleichsetzung führte, wohl schwerlich ein Geologe
übereinstimmen wird, so dürfte damit auch der
Gleichsetzung von vornherein jeder Boden ent-
zogen sein. Nun versucht jedoch M. diese Gleich-
setzung noch durch eine Reihe von Übereinstim-
mungen sicherzustellen. Einmal durch die Über-
einstimmung der oben genannten mandelförmigen
Geräte mit den Solutreenspitzen , dann durch
den Hinweis auf das Vorkommen des Renntieres
während der Solutreenperiode und noch in der
Mitte des Magdaleniens in Westeuropa, in Nord-
deutschland, Dänemark und Schweden während
der Zeit nach der großen Vereisung. Welter
durch die im Magdalenien außerordentlich häufigen
Speer- und Harpunenspitzen aus Renntierhorn,
die er mit den Speer- und Harpunenspitzen aus
Knochen, mitunter auch aus Renntierhorn, aus
dem Norden vergleicht. Schließlich auch durch
den Hinweis auf die wohl allgemein gebilligte
Gleichsetzung des Campigniens mit der Kjökken-
möddingerzeit. Dieser letztere Punkt ist offen-
sichtlich ein Fixpunkt und als solcher seit langem
erkannt. Alle übrigen Vergleichs- und Datierungs-
punkte, die M. herangezogen hat, stehen auf viel
zu schwankender Basis, als daß wir sie zur Lösung
einer Frage von so großer Wichtigkeit, wie es
die der Übereinstimmung zwischen der nordischen
Glazialzeit und der westeuropäischen ist mit heran-
ziehen dürfen. So z. B. die mandelförmigen Stein-
geräte. Ein einzelnes Stück dieses Typus hat eine
Fundangabe, die für eine Datierung zu verwenden
wäre, wenn diese Fundangabe völlig gesichert da-
stände. Das ist jedoch, da es sich um ein Stück
handelt, das vor mindestens 70 Jahren gefunden
ist, nicht der Fall. Das Vorkommen des Renn-
tiers in Norddeutschland nach der letzten Ver-
eisung hat man bisher immer damit zu erklären
versucht, daß das Renntier hinter dem ab-
schmelzenden Eise hergewandert sei. Diese Theorie
jetzt plötzlich umzuändern, liegt meinem Erachten
nach keinerlei Veranlassung vor. Mit diesem
zweiten Punkt erübrigt sich dann auch der dritte,
die Übereinstimmung in den Harpunen. Einmal
ist diese Übereinstimmung an und für sich gar
nicht sonderlich groß, und dann beruht sie ja im
wesentlichen bloß darauf, daß die Harpunen hier
wie dort aus Renntierhorn hergestellt sind.
Die relative Chronologie, die uns M. zu bieten
versucht hat, schwebt also völlig in der Luft.
Neben dieser relativen Chronologie hat M. je-
doch bereits auch eine absolute Chronologie er-
mittelt. Das Vorkommen der mandelförmigen
Steingeräte nur in ganz bestimmten Gegenden
des Nordens führt ihn dazu, dieses beschränkte
Vorkommen mit der Vereisung in Zusammenhang
zu bringen. Das weitere Vordringen der Träger
dieser Kulturstufe sei dadurch verhindert worden,
daß Schweden und Norwegen damals bis auf die
Küstenländer vereist waren. Nach de Geers
Untersuchungen habe das Abschmelzen dieser Eis-
massen an der Südküste Schwedens etwa 13000
Jahre v. Chr. angefangen. Auf Grund seiner
obigen Vermutung mußte M. nun folgern, daß
diese mandelförmigen Geräte zeitlich etwa um
1 3 000 v. Chr. anzusetzen sind. Wir würden also
durch diese von M. aufgestellte Vermutung einen
wertvollen chronologischen Fixpunkt erhalten.
Aber wer sagt uns denn, daß diese Vermutung
wirklich zu Recht besteht?
Auf Grund der wahrscheinlichen Gleichzeitig-
keit der Erscheinungen im nördlichen und mittle-
ren Europa will M. den Anfang der Postglazialzeit
des mittleren und westlichen Europas auf rund
18000 V. Chr. ansetzen. Die jüngere Steinzeit
hört sowohl im mittleren und westlichen wie auch
im nördlichen Europa mit der Zeit um 2000
V. Chr. auf. Für ihre Dauer setzt M. schätzungs-
weise eine Zeit von 2000 Jahren ein, demnach
müßte der Beginn dieser Periode um 4000 v. Chr.
anzusetzen sein. Die Kjökkenmöddingerzeit des
Nordens wie die Campignienperiode glaubt M. auf
5000 V. Chr. ansetzen zu müssen. Dann bleiben
also 13000 Jahre übrig, die auf die zwischen dem
Anfang der Postglazialzeit und dem Campignien
liegenden Perioden zu verteilen wären. Diese
Verteilung denkt sich M. in der folgenden Weise:
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Auch diese absolute Chronologie von M. steht
auf sehr schwachen Füßen. Eine Reihe von Grün-
den, die gegen sie sprechen, habe ich bereits weiter
172
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. n
Das westliche und das mittlere
Europa
2000— 4000 V. Chr. ! Jüngere Steinzeit
4000— sooo „ „ jCampignien
SOOO— 700Ü „ „ Azylien
7000—10000,, „ Magdalenien
10000—13000 „ „ Solutreen
13000 — 18000 „
Aurignacien
Die letzte Eiszeit: IVIousterien
Die letzte Zwischeneiszeit :
1 Acheuleen und Chelleen
Die vorletzte Eiszeit
Der skandinavische Norden
Jüngere Steinzeit
Kjökkenmöddingerzeit
Magiemosezeit
Knochenharpunen
j Renntierzeit und mandelförmige
I Feuersteingeräte
j Die letzte Vereisung
i Zwischeneiszeit
Die große Vereisung
oben angeführt. In diesem Zusammenhange will
ich hier nur noch auf einen Punkt hinweisen, der
mir diese absolute Chronologie als völlig unhalt-
bar erscheinen läßt: Der Beginn der ägyptischen
beschichte, d. h. der Beginn der sog. dynastischen
Zeit, läßt sich heute auf Grund der Forschungen
von L. Borchardt bis auf das Jahr 4186 v. Chr.
zurückveriegen (Die Annalen und die zeitUche
Festlegung des alten Reiches der ägyptischen
Geschichte. Berlin 191 7.). Die erste dynastische
Periode zeigt uns noch volle, entwickelte Jung-
steinzeit. Vor dieser dynastischen Zeit liegt je-
doch noch eine weite große vorgeschichtliche
Penode, gleichfalls der jüngeren Steinzeit ange-
hörig. Wir müssen also den Beginn der jüngeren
Steinzeit in Ägypten mindestens auf 5000 v. Chr.
ansetzen. Für Susa hat M. selber früher einmal
den Beginn der jüngeren Steinzeit auf 20 000 v. Chr.
angesetzt (Congres international de Monaco II.
S. 32. Hörn es, Natur- und Urgeschichte des
Menschen. Wien und Leipzig 1909. II. S. 168).
Für Kreta hat Arthur Evans denselben Zeit-
punkt auf 14000 v. Chr. geschätzt. (Ebendort.)
Für das Schweizersbild bei Schaffhausen folgerte
Nu esc h (Das Schweizersbild. Neue Denk-
schriften der allg. Ges. f. die ges. Naturwissen-
schaft 35. 2. Aufl. 1901) 6000 v.Chr. Wir finden
also überall Ansetzungen, die weit über die von
M. neuerdings aufgestellte Zahl hinausgehen. Des-
halb hat auch bereits Werth in seiner Zusammen-
stellung den Beginn der Jungsteinzeit auf 5000 v.Chr.
angesetzt. Auch dieser Ansatz ist sicherlich eher
zu niedrig als zu hoch gegriffen. Wenn aber M.
bereits mit der Ansetzung des Beginns der Jung-
steinzeit um 1000 Jahre von der durch Werth
ermittelten Datierung abweicht, so wachsen diese
Differenzen zwischen den beiden Berechnungen
schier ins unermeßliche, wenn wir uns früheren
Kulturperioden zuwenden. Man braucht nur ein-
mal die Zahlen für das Magdalenien herauszu-
greifen. M. setzt dieses in die Zeit um 7000—
10000 V. Chr., während Werth es der Zeit von
9000—23000 V. Chr. zuschreibt.
Sowohl auf Grund der in den obigen Ausfuhr
rungen enthaltenen Einzelausstellungen wie auch
auf Grund meines persönlichen Gefühls halte ich
die von M. gegebenen zeitlichen Ansetzungen für
die Alt- und Jungsteinzeit für recht unsicher und
bedenklich. Ihr gegenüber stehen die früher be^
sprochenen, von Werth angegebenen Ansetzun-
gen weit mehr gefestigt und gesichert da, so daß
sie unweigeriich vor der von M. gegebenen Chro-
nologie den Vorzug verdienen. M. hat sich bei
seiner Untersuchung offensichtlich viel zu sehr
durch typologische Momeinte leiten lassen, und
diesen gegenüber die rein geologischen Fragen
vernachlässigt, die nun einmal in dieser Frage
mit von ausschlaggebender Bedeutung sind.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefihdt.
Absorptionsmessuugen iu Luft.
G. Gehlhoff und H. Schering (Zeitschr.
f. techn. Physik 1920, Nr. 11, S. 247—256) be-
stimmten vor und nach einer Scheinwerferphoto-
metrie die Absorption der Atmosphäre und fan-
den als kleinsten Wert 1 1 "/„ bei klarer Luft und
als größten 71 »/„ bei Nebel. Dabei ergab sich
im roten eine stärkere Absorption als im blaueri
und für feuchte Luft mindestens der Schluß : Die
am Boden lagernden Schichten der Atmosphäre
absorbieren das rote Licht stärker als das blauem
Bekannt ist ja auch die Erscheinung, daß dort,
wo die Absorption der erdnahen Schichten über-
wiegt, z. B. bei Nebel, die schwach sichtbare
Sonne bläulichweiß erscheint. Umgekehrt dürfte
der Gang der Absorption in trockener Staubfreier
Luft sein. Meist wird in den erdnahen Schichten
die diffuse Reflexion des Lichtes in der reinen
Luft zurücktreten (das blaue Licht wird stärker
geschwächt als das rote) hinter der Absorption
in Wasserdampf, welche auf langwelliges Licht
stärker wirkt. Im Spektrum der Erde finden sich
Absorptionsbanden im roten und gelben, die auf
Wasserdampf zurückgeführt werden, sie sind stär-
ker ausgeprägt im Spektrum der Planeten Jupiter
N. F. XX. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
173
Absorptionsmessungen.
Absorption
in **/o pro km
25. 9. 19
19
i6.
10. 1919 20.
10. 19
9
29. 1. 1920
4.
2. 1920
3-
3. 1920
1
12
3. 1920 1
1
Mittel
(25- 9-
ausschl.)
weifi
31,6
70,8
14.7
51.2
36
34,2
39.8
rot
17.7
32,9
78,4
25,6
52.3
45.6
39.0
45.6
gelb
--
37,0
75
20,3
54.5
39,5
45,0
45,2
grün
14.9
33.7
67,8
12,8
48,1
37,5
38,3
39.7
blau
14.4
22,5
71.4
9,S
3>.6
28,0
37.5 ,
33.4
Wetterlage
Temperat. » C j
Feucht. %
Druck mm Hg
Wind I
Allgem.
+ 15,4»
76 »/o
752.3
starker West
Abziehendes
Tiefdruck-
gebiet
+ 4,0»
85%
748,3
schw. West
Tiefdruck-
gebiet
Regen
+ 8»
90 7o
764.8
Windstill
Hochdruck-
gebiet
Rückseite
Nebel
+ 7»
Soo/o
752.5
schw. West
Hochdruck-
gebiet
80 %
+ 6» I +14.5" ' +6° I
93% 67 7o 62»/„
746,0 752,2 I 751,3
schw. Ost ! schw. West ; West :
Hochdruck- Ankommend. 1 Ankommend, t
gebiet [ Hochdruck- j Tiedruck- j
dunstig gebiet gebiet 1
Klar später dunstig
dunstig ! später klar |
Sicht
Gut
Schlecht
Sehr schlecht
Gut
Schlecht
Wechselnd
Wechselnd
und Saturn. Die von den Verf. ausgeführten
Messungen sind in nachfolgender Tabelle zusam-
mengestellt und dürften mancherlei Schlüsse (auch
in meteorologischer Hinsicht) zulassen, besonders
aber in Rücksicht auf die Sicht. Die Absorptions-
messungen erfolgten in der Zeit von 7 — 9 Uhr
abends. Dr. Bl.
Experimentelle Versuche zur Bildung silika-
tischer Nickeierze.
Die wasserhaltigen Nickelmagnesiasilikate, die
fast immer an Serpentin gebunden erscheinen,
gehören zu den letzten Produkten jener Umwand-
lung, die die Olivin- Pyroxengesteine bis zur völli-
gen Verwitterung durchlaufen. Sie haben ihren
Ursprung in dem geringen Nickelgehalt der IVIag-
nesiasilikate dieser Gesteine und hnden sich ent-
weder als Anflug oder Kluftausfüliung in Serpen-
tinen oder sie treten in roten bis braunen, eisen-
schüssigen, oft quarzreichen Massen auf, die an
Klüfte gebunden sind und das Gestein gangförmig
durchsetzen. ■ Sowohl dem neukaledonischen wie
auch dem Frankensteiner (Schlesien) Vorkommen
ist diese rote Erde eigentümlich. Neben dem
Nickelgel tritt gelförmiger Magnesit auf und als
drittes Zersetzungsprodukt das sog. Grauerz, ein
Gestein von Serpentinstruktur, in dem das Nickel
bis zu 6,5 "/(, in Gelform angereichert ist. Das
Grauerz ist auf Frankenstein beschränkt. Die
chemische Zusammensetzung dieser Silikate ist
sehr schwankend und Namen wie Nickelgymnit,
Garnierit, Pimelith und Schuchardtit entsprechen
durchaus keiner konstanten Zusammensetzung.
DerNickelgehalt beträgt durchschnittlich 18 — 20%.
Von den zwei Theorien, die für die Bildung
der Nickelsilikate in Frage kommen — die eine
Theorie erklärt sie aus heißen aufsteigenden Lö-
sungen entstanden , die andere durch Lateral-
sekretion — kommt für Frankenstein nach der
neuesten Arbeit von Ph. Kraft (Über die gene-
tischen Beziehungen des dichten Magnesits zu den
Mineralien der Nickelsilikatgruppe. Dissert. Techn.
Hochschule. Berlin 1915) nur die der Lateral-
sekretion in Frage. Kraft bestätigt damit die
Anschauungen älterer Autoren über die Genesis
dieser Lagerstätte.
Um einen Einblick in die Nickelsilikatbildung
zu bekommen, schlug nun E. Dittler') den ex-
perimentellen Weg ein. Nach den analytischen
Untersuchungen scheint die Umwandlung nach
zwei Richtungen zu verlaufen : einmal zur Bildung
der sog. Grauerze, das anderemal zur Bildung von
Garnieritsilikaten, und zwar scheinen die letzt-
genannten zu ihrer Bildung kompliziertere Vor-
gänge zu benötigen als die lehmigen nickelärmeren
und braunen Ausscheidungen, die Grauerze.
Der Verf legte sich folgende Fragen vor: Ist
es möglich, durch Laboratoiiumsversuche festzu-
stellen, ob das Nickel aus dem primären Gestein
ausgelaugt werden kann und wenn ja, entstehen
hierbei garnieritähnliche Silikate oder Grauerze?
Weiterhin, entstehen bei der Verwitterung sofort
Nickelerze oder zunächst Ni-arme, oder Mg reiche
Produkte, deren weitere Auslaugung erst zu Nickel-
erzen führt?
Die Versuche zerfallen in zwei Reihen, solche
ohne und solche mit Druck. Als Versuchsmate-
rial dienten entweder fein gepulverte natürliche
Ni- haltige Gesteine oder ein synthetischer Ni-
haltiger Olivin. Auf die Versuche selbst kann
hier nicht näher eingegangen werden. Es seien
Doelter-Festschrift, S. 15—27.
i;4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 1 1
nur noch kurz die Ergebnisse wiedergegeben:
Auslaugungsversuche am Ni- haltigen Serpentin
mit heißem Wasser, Kohlensäure unter Druck und
Sodalösungen führten nicht zur Garnieritbildung.
Es bilden sich amorphe oder kryptokristalline
Ausscheidungen, die etwas Ni und SiO„ -reicher
und etwas Mgärmer sind als die ursprünglichen
Erze und etwa den Grauerzen von Frankenstein
entsprechen. Das umgewandelte Material bleibt
arn Bodenkörper adsorbiert, unter dem Mikroskop
zeigen sich grüne Nädelchen von Nickelsilikat ge-
mischt mit farblosen Kristallen von Magnesia-
silikat und Tonerdesilikat. Entsprechend der
kurzen Versuchsdauer ist die Anreicherung gering-
fügig, doch zeigt das Experiment immerhin, daß
im Prinzip die Bildung der Nickelsilikate in der
Natur auf diesem Wege vor sich gehen kann.
Bessere Ergebnisse erhält man unter Anwen-
dung von Druck im Autoklaven. Aus den Ver-
suchsresultaten darf geschlossen werden, daß die
Garnieritbildung kohlensäurehaltigen Tageswässern
ihre Entstehung verdankt, die das angrenzende
Nebengestein ausgelaugt haben, und nicht von
unten aufsteigenden Thermalquellen, wie vielfach
angenommen wird. Die Bildung der „roten Erde"
bzw. des Grauerzes scheint ein Prozeß für sich zu
sein. Aus diesen Erzen kann sich Garnierit nicht
bilden. Beide Prozesse lauten nebeneinander und
können auch heute noch vor sich gehen. Es
scheint, daß die Mg- und Ni Extraktion aus dem
primären Gestein zwei getrennte Prozesse sind,
von denen der zweite erst vor sich gehen kann,
wenn der erste die Vorbedingungen hierzu ge-
schaffen hat. Experimentell konnte festgestellt
werden, daß bei gewöhnlichem Druck der Prozeß
mit der Mg- Wegfuhr beginnt, während SiO„ zu-
rückbleibt.
In den Serpentinen der Nickelerzlagerstätten
findet sich sehr häufig dichter Magnesit, der meist
durch Einwirkung von COg haltigen Wässern aus
dem Serpentin entstanden ist. Bei den Versuchen
entstehen jedoch Magnesiakarbonate vom Typus
MgCOg-sHaO oder basische Karbonate. MgCO^
könnte nur entstehen, wenn auf die Lösung der
basischen Karbonate COg einwirken würde. Der-
artige Versuche sind noch durchzuführen.
Das von Ph. Kraft in seiner Arbeit erwähnte
getrennte Auftreten von Magnesit und Nickelsilikat
erklärt Dittler folgendermaßen: Bei der Ein-
wirkung COo -hakiger Wässer wird, wie aus den
Versuchen hervorgeht, MgO weggeführt, während
das Nickel als Oxyd oder Hydroxyd zurückbleibt.
Nun tritt die zugleich ausgeschiedene Kieselsäure
mit dem Nickelhydroxyd in Reaktion und es kann
zur Bildung von einfachen Nickelsilikaten kommen.
Hört aber die COg Zufuhr auf, so bilden sich
Magnesiasilikate, welche anfangs Nickelhydroxyd
adsorbieren und im Laufe der Zeit kompliziert
zusammengesetzte Magnesianickelsilikate bilden.
Die Anwendung von Druck im Experiment be-
günstigt nur die Raschheit des Prozesses, ohne
das es notwendig erschiene, ihn auch bei den
Naturvorgängen eine entscheidende Rolle spielen
zu lassen.
Besonders zu den Versuchen geeignet erwiesen
sich die synthetischen Ni-reichen Dunite. Dünn-
schUfife dieser Kunstprodukte in COg haliiges
Wasser gelegt, zeigen schon nach wenigen Tagen
grüne Ausscheidungen von basischem Nickel-
karbonat. Während bei den natürlichen Mineralien
die Umwandlung eine kaum merkbare ist, wird
das in fester Lösung befindliche Nickeloxyd der
Kunstprodukte infoige deren lockeren molekularen
Aufbaues sehr rasch ausgelaugt, woraus auf die
Möglichkeit desselben Vorganges in der Natur
geschlossen werden darf. Die Versuche des Verf.
stellen gewissermaßen das Anfangsstadium der
Verwitterung dar und sprechen für einen äußerst
langsamen und kompliziert verlaufenden Extrak-
tionsprozeß, dessen Einzelvorgänge, wie insbeson-
dere die Bildung der einzelnen Nickelgele, noch
sorgfältigen Studiums bedürfen. F. H.
Lampa, Anton, Das naturwissenschaft-
liche Märchen. Eine Betrachtung. 95 S.
kl. 8». Reichenberg 1919, Vertag Deutsche
Arbeit. 4,50 M.
Lampa, dessen Mach -Schrift ich unlängst
hier besprach, zeigt sich in dieser neuen Studie
als feinfühliger, psychologisch forschender Natur-
wissenschaftshistoriker. Er führt uns zunächst
in die Vorgeschichte der Naturwissenschaft zu-
rück, indem er die Motive untersucht, die den
Primitiven in psychischer Reaktion zur natur-
wissenschaftlichen Denkart brachten. Des weite-
ren macht er uns mit Geistesprodukten bekannt,
die sozusagen auf einem Nebengeleise der Natur-
wissenschaft liegen: mit nalurwissenschaltlichen
Märchen. Er versteht darunter jedes dichterische
Gebilde, dessen Gegenstand naturwissenschaftlichen
Bücherbesprechungen.
Inhalts ist. Also echte Märchen (im Sinne einer
strengen literarhistorischen Definition), aber auch
Mythen, Novellen, Romane usw., z. B. kosmolo-
gische M3nhen, Flugproblemgeschichten, Mond-
und Marsreisen.
Auch in der Fülle der modernen naturwissen-
schaftlichen Märchen lassen sich — wie schon
bei den älteren und ältesten Volks- oder Kunst-
produkten auf diesem Gebiete — zwei Gruppen
unterscheiden. Die eine knüpft an eine auf-
fallende oder merkwürdige Naturtatsache an und
erklärt sie durch das Märchen. Die andere Gruppe
macht zum Gegenstand ein im Zuge der geistigen
Entwicklung auftauchendes naturwissenschafiliches
Problem, dessen Lösung mit Hilfe der dichterischen
Freiheit befriedigend vollzogen wird.
Dresden. Rudolph Zaunick.
N. F. XX. Nr. II
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
I7S
Andröe, K., Geologie des Meeresbodens.
Bd. II {Bodenbeschaffenheit, Nutzbare Mineralien
am Meeresboden). 689 S. m. isgTextfig., 7 Tafeln
u. I farbigen Karte. Leipzig 1920, Borntraeger.
92 M.
Eine „Geologie des Meeresbodens" kann heut
unmöglich im Gegensatz zu der der festen Länder
dahin verstanden werden, daß uns hier schon der
bitter nötige Aufschluß über das feste Fels-
gerüst am Boden der Ozeane würde. Kein
Blick und keine Sonde reicht bisher da hinab.
Die Geschichte von zwei Dritteln der Erdoberfläche
bleibt uns nahezu unlesbar.
Dagegen verheißt uns der erste noch nicht
erschienene Band des sehr dankenswerten A n -
dreeschen Unternehmens wenigstens eine Zusam-
menstellung dessen, was über die Mitwirkung
endogenerKräfte am Aufbau dort unten
bisher bekannt geworden ist, sowie die mehr geo-
graphischen für das Verständnis des Ganzen
wichtigen Züge.
Zunächst liegt nur der zweite stattliche, wohl
ausgestattete Band vor. Er hat es zu tun mit den
lockeren Aufschüttungen am Meeres-
boden, mit der „Lithogenesis der Gegenwart"
(Walther), mit denjenigen „Erscheinungen, welche
das Gefäß des Meeres ohne Rücksicht auf seinen
wässerigen Inhalt betreffen" (Andree), und ist
Philippi gewidmet, der viel für die Geologie
Wissenswertes davon durch eigene Forschungen
in helles Licht rückte.
Die Bedeutung derartiger (gleichfalls mehr geo-
graphischer) Kenntnisse für das Verständnis der
fossilen Meeressedimente ist so groß, daß das
schöne Werk in der Tat eine empfindliche Lücke
auszufüllen imstande ist. Indessen darf hier wie
anderwärts die Abhängigkeit nicht zu einseitig
aufgefaßt werden. Dem geologischen Studium ist
vieles zugänglich, was uns, wenn wir nur von
gegenwärtigen Bildungen auszugehen hätten, für
immer verschlossen bliebe. Man denke nur an
die Tausende von Metern tiefen Aufschlüsse in
erloschenen vulkanischen Körpern, die uns gegen
den Herd solcher Erscheinungen vorzudringen ge-
statten. So liegen uns auch die Erzeugnisse
früherer Meere in ganz anderem Maße offen, als
das Material, das uns die Tiefseeforschung in ver-
hältnismäßig dürftigen Stichproben mühsam zu-
tage fördert. Nicht nur gibt diese dem Geologen
wichtige Daten an die Hand, sie ist in der Bewäl-
tigung ihres Stoffes auch selbst durchaus auf seine
Erfahrungen angewiesen. Lebensverhältnisse und
Sedimentbildung am Meeresboden liegen uns auf
dem festen Lande weit umfangreicher zutage!
Wechselseitige Erklärung und Aufhellung tut
allenthalben not zwischen Geopraphie und Geo-
logie. Das Material aus der Schwesterwissenschaft
muß sich aber jeder Wissenszweig für seine Zwecke
selbst zurechtlegen und zubereiten. Darin liegt
die Berechtigung und Bedeutung des vorliegenden
Werkes.
Eine Parallelaktion kündigt uns der rührige
Verf. in Gestalt eines entsprechend abweichend
behandelten Heftes im „Handbuch der Regionalen
Geologie" an. Doch ist auch hier ein größerer
regional gegliederter Abschnitt über die haupt-
sächlichsten Meeressedimente der Gegenwart schon
gegeben.
Der Inhalt ist so reichhaltig, daß selbst die
Wiedergabe seines Verzeichnisses hier nicht Platz
greifen kann. Die Behandlung ist von erfreulicher
Klarheit und Ausführlichkeit, gibt vielfach die Er-
gebnisse mehrerer Einzeluntersuchungen ver-
schiedenerForscher zusammenfassend wieder. Über-
all macht sich die langjährige sorgfältige Be-
schäftigung mit dem Gegenstand geltend. Eigene
Beobachtungen sind mannigfach eingestreut. Sollte
für einen besonderen Zweck das schöne Nach-
schlagewerk nicht ausreichen, so gibt es doch auch
dann noch die nötige Literatur mit erläuternden
Bemerkungen an die Hand. Der letzte Abschnitt
über nutzbare Bildungen des Meeres dient mehr
der Vollständigkeit als unmittelbar geologischen
Bedürfnissen. Sehr willkommen müssen die bei-
gegebenen Kartendarstellungen sein.
Alles in allem aber wird sich das Buch für
mancherlei geologische Fragen auf lange Zeit
hinaus als unentbehrlich erweisen und es ist tief
bedauerlich, daß die unseligen Zeitverhältnisse in
dem bedeutenden Preise seiner Verbreitung eine
empfindliche Schranke entgegengestellt haben.
Dem „ersten" Band wird man mit gleicher Be-
friedigung entgegensehen dürfen. Hennig.
Anregungen und Antworten.
Eine Pilzvergiftung durch Tricholoma tigriDum. D i 1 1 r i c h
hat in den Ber. d. D.liot. Ges~~ljd. 36, 1918, S. 456 den
ersten Fall einer Vergiftung durch Tricholoma tigrinum nach-
gewiesen, worauf Miehe in der Naturw. Wocbenschr. 1919,
S. 157 kurz hinwies. In Unkenntnis dieser Veröffentlichung
und im Vertrauen auf verschiedene Pilzführer habe ich mir
eine Vergiftung durch Trich. ligr. zugezogen. Ich halte es
für meine Pflicht, darüber zu berichten. Die Vergiftungser-
scheinung, die auf Genuß von 5 mittelgroßen Pilzen eintrat,
war nach Angabe des Arztes eine schwere Magen-Darm- und
Nierenentzündung. Die heftigen Erscheinungen dauerten 24
Stunden, bis zur vollen Wiederherstellung waren noch weitere
3 Tage nötig. Bei dem von Di ttrich mitgeteilten Fall waren
3 Personen nach Genuß von zusammen nur 2 Pilzen an den
gleichen Erscheinungen, jedoch in viel geringerem Grade und
mit kürzerer Dauer erkrankt. Der Irrtum wurde besonders
begünstigt durch folgende 3 populäre Pilzwerke : I. Das ältere,
aber in Schulen noch vielfach vorhandene Pilzbuch von Ahles
(Verlag Schreiber, Eßlingen) führt S. 29 Trich. tigr. direkt
unter den guten Speiseschwäramen auf. 2. Die durch den
Lehrerverein für Naturkunde sehr verbreiteten Pilzbüchlein von
Obermeyer stellen sowohl im allgemeinen Teil als auch
speziell nochmals bei den Tricholomaarten die Regel auf:
Blätterpilze mit angenehmen (bes. Meblgeruch) sind eßbar.
Diese Regel muß auch zu den vielen falschen Pilzregeln ge-
stellt werden, da der Geruch von Trich. tigr. als mehlartig
i?6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. II
bMdchnet werden kann und der Geschmack sehr gut ist.
3. Auch die neuesten, sonst vorzüglichen, ebenfalls vom Lehrer-
verein herausgegebenen Pilzbüchlein von Gramberg haben
diese Erfahrung noch nicht verwertet. Entgegen der Geflogen-
heit Grambergs, bei allen Speisepilzen auf die Giftpilze
hinzuweisen, die etwa mit ihnen verwechselt werden können,
fehlt bei der Gattung Tricholoraa ein solcher Hinweis ganz.
Di|_ in Heft i, S. 28 gegebene Sammelbeschreibung der
3 Tricholomaarten: gambosum, Georgii und grav^oleos kann
aber leicht auch für Trich. tigr. als passend befunden werden.
Auch die farbige Abbildung paßt leidlich gut. Da auch die
Maintterhnge in günstigen Jahren im Herbst wiederkommen,
Itonnte die Fundzeit - Anfang Oktober — nicht abschrecken
Uie verwendeten Exemplare wurden in Hexenriogen in moos-
bedecktem dichtem Nadelwald gefunden. Die endgültige Be-
stimmung hat Herr Professor Di tt rieh -Breslau in dankens-
werter Weise besorgt. Dr. Fr. Bretschneider, Nagold.
In dem Aufsatz „Phyletische Potenz" von Friedl Weber
(Naturw. Wochenschr. XXXV, Nr. 43 [24. X. 1920]) wird
(speziell auf S. 679) die bemerkenswerte, experimentell ge-
fundene Tatsache mitgeteilt, daß die Wertigkeit der Merkmale
(hinsichtlich der Vererbung auf die Nachkommen) je nach dem
Lebensalter der Eltern verschieden ist und sich im Laufe des
Lebens eines (Elteru-)Individuums ändert, daß z. B. die domi-
nierenden Eigenschaften einer Erbsenrasse (A) dadurch in re-
zessive verwandelt werden können, daß zur Kreuzung mit
einer anderen (gewöhnlich in ihren Merkmalen sich rezessiv
verhaltenden) Rasse (B) der Pollen von (in ihrer „phyletischen
Potenz" geschwächten) Spätblüten der Rasse A verwendet
wird. Dies erinnert an die Tatsache, daß auch im Laufe der
Entwicklung eines heterozygotischen I n d i v i d u u m s die Eigen-
schaften der Eltern in wechselnder Weise sichtbar zutage treten.
So gleicht bekanntlich ein (menschliches) Kind im Laufe seiner
Entwicklung zeitweise mehr dem Vater (bzw., wenn es ein
Mädchen ist, dem Frauentypus von dessen Familie), zeitweise mehr
der Mutter. Ahnliches zeigt sich auch bei den Bastarden höhe-
rer Pflanzen. So pflegen nach W. Becker») die Veilchen-
bastarde in der Regel in der ersten Periode ihres Wachstums
der einen, in der zweiten Periode (der gleichen Saison) der
anderen Stammart ähnlicher zu sein, so daß zur sicheren Fest-
stellung der Stammeltern zuweilen eine wiederholte Beobach-
tung der gleichen Stöcke notwendig ist. Nach den kürzlich
mitgeteilten Beobachtungsresullaten von Y. Trouard-
Riolle,2) welche Forscherin sich schon seit längerer Zeit
mit künstlichen Kreuzungen zwischen Acker- und Garlenrettich
(Raphanus Raphanistrum X sativus) befaßt, zeigt den Bastard
von gelbblütigem Acker- und violettblütigem Gartenrettich in
der ersten Generation an den ersten Blüten stets weiße Kron-
blätter; später treten an den gleichen Individuen zuweilen
auch mehr oder weniger gelbe, an anderen Pflanzen mehr
oder weniger violette Blüten auf. Ebenso sind die ersten
Früchte in ihrer Ausbildung intermediär, während die (späteren)
gelben Blüten mehr Raphanistrum-artige, die rosa oder vio-
letten Blüten mehr sativus artige Früchte erzeugen. Die Ver-
fasserin spricht von einer ,.Dissozia tion" der Merkmale:
richtiger wäre es wohl, da niemals eine Aufspaltung zu den
reinen elterlichen Typen erfolgt, von „Dominanz- (oder
Prävalenz-IÄnderung" der elterlichen Eigenschaften
wahrend der individuellen Entwicklung des Bastardes zu reden.
— Bei ausdauernden Bastarden pflegen sich die Merkmale auch
mit dem Alter der Stöcke im Laufe der Jahre zu ändern.
') Die Violen der Schweiz. Neue Denkschr. d. Schweiz.
Naturf. Ges. XLV, Abh. i (1910), S. VI.
^) Les hybrides de Raphanus. Revue generale de
Botanique XXXII (1920), 438—447 mit Abb.
Inhalt: E Liek, ÜberAltein und Verjüngung. S. 161. _ Einzelberichte: Montelius, Die absolute Datierung der älte-
ren und Jungeren Steinzeit S. 170. G. Gehlhoff und H. Sc h ering, Absorptionsmessungen in Luft. S .72 E
Dittler, Experimentelle Versuche zur Bildung silikatischer N.ckelerze. S. 173. - Bücberbesprechuneen- Anton
La m p a Das naturwissenscha.lliche Märchen. S. , 74. K. A n d r e e , Geologie des Meeresbodens.'^S 1 75 - Anreeun"
iro"logre^tr"cTinde"la-Arn.'^'.";7t'"°' '""' '''''='°'°"^ "^"°'""- '^ '"• """^'^''^'^''^ "°'^°^''- ^^ ^''- ^^
So bei Bastarden der (normal) weißblütigen Viola dlba mit
violettblütigen Arten, bei welchen Bastarden der (durch
Mischung entstandene) Farbenton der Blüten sich bei längerer
Kultur im Garten oft erheblich verändert, oder bei Bastarden
von Sempervivum, die mit zunehmendem Aller (bei Vermehrung
durch die rosettenförmigen Ableger) die anfängliche Unfrucht-
barkeit mehr und mehr verlieren und zuletzt leidlich fruchtbar
''"''^°- A. Thellung (Zürich).
Zur Biologie der Cicindela-Arten. Anfang August vor.
Jahres bot sich im Heidegebiet zwischen Ottenstein und AI-
stätte Gelegenheit zur Beobachtung einer mir bis jetzt unbe-
kannten Lebensweise der Cicindela silvestris L. Meine Be-
mühungen, in der Literatur Angaben über eine gleiche Be=
obachtung zu finden, blieben bisher ohne Erfolg, weshalb ich
dieselbe zur allgemeinen Kenntnis bringen möchte, in der Er-
wartung, daß hierdurch ähnliche Beobachtungen bekannt ge-
geben werden.
Es ist bekannt, daß die Larven der Cicindela-Arten sich
in senkrechten Erdhöhlen aufhalten und wie die vollkom.menen
Insekten ein räuberisches Leben führen. Aus den vielfachen
Heidewanderungen während meiner Schüler- und Studentenzeit
kenne ich die Lebensweise dieser Käfer sehr gut, wie sie
namentlich in der sonnigen Mittagszeit durch kurze, sprung-
hafte Flüge ihre Beute, kleinere Insekten, erjagen, Ich habe
die Cicindelen daher schon früher mit Vorliebe als Wege-
lagerer bezeichnet. Wie zutreffend diese Bezeichnung ist, geht
aus folgender Beobachtung hervor.
Auf dem breiten Fahrwege, der uns durch die Heide
führte, fielen uns auf einem etwa 10 m breiten Streifen kleine
Erdhäufchen von etwa 7 bis 8 cm Durchmesser und etwa
3 bis 4 cm Höhe auf. Diese Erdhäufchen hatten sämtlich
einen horizontal verlaufenden, an der Basis gelegenen Ein-
gang, vor dem sich eine etwa den gleichen Durchmesser wie
das Erdhäufchen zeigende kreisförmige Vertiefung befand. Da
wir beim eisten Zusehen nichts Besonderes beobachteten, hoben
wir ein Erdhäufchen mit dem Spaten ab und waren sehr er-
staunt, als wir eine Cicindela silvestris aushoben. Als wir
nunmehr noch etwa 5 weitere Erdhäufchen abhoben, wurde
jedesmal eine Cicindela ans Licht gefördert, so daß es uns
unzweifelhaft wurde, daß die Erdhäufchen von den Cicindelen
herstammten. Sorgfältige und vorsichlige Untersuchungen er-
gaben nun, daß alle Erdhäufchen von Cicindelen bewohnt
waren und der Bewohner in der Regel vorn am Eingang, den
Kopf mit seinen großen Augen zum Ausgang der Höhle ge-
richtet, auf vorüberlaufende Beutetiere lauerte. Weiler ergab
sich, daß die Erdhäufeben sich gerade an einer Stelle befan-
den, an der eine Wanderstraße der großen, roten Waldameise
den Heideweg kreuzte. Ein sofort unternommener Versuch
bestätigte unsere Vermutung. Eine eingefangene Ameise
wurde in etwas angedrücktem Zustande vor die Öfl^oung einer
bewohnten Höhle geworfen. Sofort stürzte sich die Cicindele
auf das Beutetier und führte einen heftigen Kampf auf dem
gewissermaßen als Arena dienenden, kleinen Vorplatze aus.
Hierbei überschlug sich der Käfer mehrfach. Für uns endete
das äußerst ergötzliche Schauspiel damit, daß die Cicindele
nach etwa 3 Minuten währendem Kampfe mit der Beute
davonflog.
Die Kürze der Zeit verhinderte uns leider daran, unseren
Versuch bei anderen Bewohnern zu wiederholen. Eine gleiche
Beobachtung wurde auf dem weiteren Wege nicht gemacht,
obwohl Cicindelen frei herumfliegend genügend sich fanden.
Ob es sich daher um eine Einstellung der Art auf besondere
Verhältnisse, nämlich die Wanderstraße der Ameise, handelt
und vielleicht Erinnerungen aus dem Larvenleben mitspielen,
vermag ich nach dieser einzelnen Beobachtung nicht zu ent-
scheiden, die Vermutung liegt aber nahe. Dr. Löscher-Essen.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Pruck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 20. März 1921.
Nummer 13.
Über Pflanzenabzüge und Weingeist zur Ordenszeit.
[Nachdruck verboten.l
Von Dr. Paul Dabms, Zoppot a. Ostsee.
In einem Aufsatz über den Pfefferling (25)
habe ich den Nachweis versucht, daß das zur Zeit
Ulrichs von Jungingen aus Lactarius pipe-
ratus Scop. hergestellte „Wasser" als Aizenei ver-
wendet wurde. Man sprach früher bereits die
Vermutung aus, daß unter diesem „Wasser" ein
Würzwein zu verstehen sei, bei dem der ausge-
sprochene Geschmack des Pilzes die Grundlage
bilde ; diese Vermutung wurde durch die Tatsache
gestützt, daß im Treßlerbuch an keiner Stelle vom
sog. Lautertrank die Rede ist. Andererseits hat
man vermutet, daß das „Wasser" als Alkohol ge-
deutet werden könne, den man durch Vergärung
der im Pfeffermilchling enthaltenen Verbindungen
und nachfolgender Destillation gewinnen könne.
Wie weit diese Annahmen Anspruch auf Berechti-
gung haben, soll im folgenden geprüft werden.
Im Ordenslande Preußen stand die Beutnerei in
voller Blüte ; Wachs und Honig wurden in Menge
gewonnen und als Hauptprodukte in Danzig ein-
geführt, besonders aus der Bütower Heide (6,
S. 199, 200). Die alten Preußen benutzten den
Honig bereits, da er seiner Hauptmasse nach 70
bis 80 "/g Trauben- und Invertzucker enthält, als
Süßstoff; sie setzten ihn dem Wasser zu und machten
es dadurch schmackhafter. Hartknoch erwähnt
unter ihren Getränken „melicratum seu medonem"
(i, S. 264), wobei Du Gange (5) medo oder
meda als ein mit Honig versüßtes Wasser, meli-
craton als ein mit Honigzusatz versehenes Getränk
deutet. Dieses letztere bildet den Übergang zu
dem Lautertrank, einer Gattung der vielen Würz-
weine des Mittelalters. Ein solcher wird mitunter
schon bei den Alten erwähnt, doch ist dann in
ihm nur eine der natürlichen Nutzanwendungen des
zu täglichem Genüsse dienenden Produktes zu
sehen, wie sie in einem weinreichen Lande natür-
lich ist (19, S. 82).
Lautertrank (lütertranc) ist ein im Mittelalter und
auch späterhin beliebtes Getränk. Er wurde aus
Rotwein erhalten, den man über verschiedenartigen
Kräutern und Gewürzen abklärte (7, S. 389), meist
aber, indem man diese gemeinsam mit Honig dem
Weine zusetzte. Die gegenseitige Einwirkung ließ
man entweder langsam bei gewöhnlicher Tempe-
ratur vor sich gehen, oder man beschleunigte sie
durch Abkochen (19, S. 82). In letzterem Falle
war der Auszug der Pflanzenstoffe ein tief gehen-
der und erinnerte, warm genossen, an Glühwein.
Wurde der Auszug in der Kälte vorgenommen
und zum Gären angesetzt, so entstand eine Art
Likör, den Johannes Voigt andeutungsweise
mit gebranntem Weine vergleicht (3, S. 178).
Das Verbreitungsgebiet des Weinbaus war im
Mittelalter weit au'^gedehnter als heute ; er reichte
bis weit in den Norden des Deutschen Reiches.
In jener Zeit ist von Sorten die Rede, die man
heute kaum mehr oder nur noch dem Namen
nach kennt, von „Weichselweinen", „schlesischen"
und „brandenburgischen Weinen" (14, S. 11). Der
im Rhein- und Moseltale angepflanzte galt vor-
nehmlich im 12. Jahrhundert als ritterlicher Trank;
besonders beliebt waren die Rheinweine. Die
norddeutschen waren wohl sauer, wie es heute
noch der „Grüneberger" ist, denn die Zeit, welche
seit dem Mittelalter verstrich, ist geologisch zu
kurz, als daß man in ihm Vegetationsbedingungen
für den Weinstock annehmen darf, die günstiger
waren als jetzt. Die verhältnismäßig geringere
Güte des Landweins gegen die des Rheinweins
ergibt sich für das Jahr 1406 aus den Preisen;
die des ersteren betrugen V5 von denen des letzteren
(6, S. 262). Freilich waren die Leute jener Zeit
in ihrem Geschmack sehr bescheiden, aber es trieb
sie doch, den heimatlichen Rebensaft zu verbessern
und ihm seine Herbheit zu nehmen.
Dieses Bestreben kam besonders zum Aus-
druck, als die Züge der deutschen Kaiser nach
Italien und die Kreuzzüge mit den milden Weinen
des Südens bekannt machten und bald darauf die
Einfuhr aus dem Süden, besonders aus Griechen-
land, einsetzte. Man versuchte die Herbheit des
„Landweines" durch Zusatz von Honig zu mildern
und fand später dieses Hilfsmittel so wohl ge-
eignet, daß man es auch bei besseren Sorten ver-
wendete, wo es zur Veredelung des Geschmackes
nicht erforderlich war: Man bezweckte dadurch,
ein Getränk zu erzielen, das besonders stark wirkte.
Auch im Ordensstaate Preußen wurde eifrig Wein-
bau betrieben; der „Landwein" stammte besonders
aus Thorn, Riesenburg, Rastenburg und den Gärten
von Marienburg (u, S. 48), ferner aus Rhein,
Tapiau, Polsko und Hohenroda.
Hervorgegangen ist der Lautertrank aus dem
Hippokras, der ursprünglich für medizinische
Zwecke bestimmt war; man hatte ihn mit dem
Namen des berühmtesten Arztes bezeichnet, frei-
lich unter Entstellung (8, S. 31). Zuerst handelte
es sich um einen bloßen Auszug der Gewürze
und Früchte mit Wein, da man die Erfahrung
gemacht hatte, daß dieser mehr aus ihnen heraus-
holte als bloßes Wasser, und daß die mit seiner
Hilfe erhaltene Arzenei sich besser hielt, als der
bloße Pflanzenauszug. Man findet bereits für das
„kellirampt czu Marienburg i43"2" neben anderem
Getränk angeführt „5 tonnen alantwyn", d. h. auf
»78
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 12
Alant {Inuld) abgezogenen Wein (23, S. 96,
Z. 14), ferner in den Inventurverzeichnissen der
Komtureien und Vogteien Christburg, Dirschau,
Rogenhausen und Memel (1398 bis 1402) Vor-
räte von I Faß bis i V2 Tonne davon aufge-
zeichnet, schließlich für Orteisburg „i firtel wer-
metweynn", Wermutwein (27, S. 120, Z. 18).
Die Nürnberger Polizeiordnungen nennen Salbei-
und Wermutwein (9, S. 508); Wermut- und Ing-
werwein sind auch heute noch als Genußmittel
bekannt. Zimt und Nelken verwendet man zur
Herstellung von Glühwein, bittere Pomeranzen-
schalen, Ananas, Pfirsich, Erdbeeren und Wald-
meister und verschiedene andere pflanzliche Sub-
stanzen zur Herstellung von Bowlen. Aus Rot-
wein, in den man grüne Gurkenscheiben ge-
schnitten hat, besteht ein derartiges Getränk, das
in England besonders beliebt ist (26, S. 623). —
Entsprechend den vielen Würzweinen des Mittel-
alters gibt das Große Ämterbuch des Deutschen
Ordens (27), das im Jahre 14OO angelegt wurde
und einen Zeitraum von mehr als 150 Jahren
umfaßt, auch Abzüge von iVIet und Bier über
Pflanzenstoffen an. Der erstere mußte einwirken
auf Salbei, Alant, Himbeeren, Kirschen, Wein und
Lavendel, das andere auf Beifuß, Wermut, Salbei,
Kirschen, Lavendel, Tausendgüldenkraut, Schlehen,
Efeu, Himbeeren, Alant, Holunder, Kricheln (wilde
Pflaumen), Lorbeer, Raute, Wermut und Wein.
Die Anordnung der aufgezählten Pflanzen und
Früchte ist nach der Häufigkeit ihrer Verwendung
vorgenommen; die am meisten benutzten be-
ginnen.
Eine Reihe von Medizinen unter der Bezeich-
nung Lutertrank sind von der Äbtissin Hilde-
gard von Bingen (1098 bis ca. 1180) ange-
geben, die gegen allgemeines Übelbefinden, Magen-
krankheiten, Vieh (?j und Geschlechtskrankheiten
verwendet werden sollten ^15, S. 19, 20, 22). Sie
sind deshalb bemerkenswert, weil die Anschauungen
dieser Frau aus den Überlieferungen des Bene-
diktinerordens, dem sie angehörte, und aus ihrer
ärztlichen Tätigkeit schöpften.
Über die Herstellung erfahren wir Genaueres
von Du Gange nach Bartholomaeus An-
gel icu 3(5): Die „species aromaticae" werden in
ein feines Pulver verwandelt und in einem durch-
lässigen Säckchen von Zeugstoff mit Honig oder
Zucker untergebracht. Je nachdem die Lösung
vonstatten geht, gießt man vom allerbesten Wein
darüber und zwar so lange, als „die Kraft" der
behandelten Pflanzenstoffe sich den Weine mitteilt
und bis die Flüssigkeit klar wird. Diese soll dann
von dem Weine dessen vorteilhafte Eigenschaften,
von dem übergossenen Pulver den Geschmack,
vom Honig die Süße und von den beiden letzteren
die Blume erhalten. — Die Angabe, daß der Pro-
zeß so lange fortzusetzen ist, bis die Klärung ein-
tritt, weist darauf hin, daß mit seinem Beginn die
Flüssigkeit sich trübt. Da die gepulverten Stoffe
der Hauptmasse nach in dem Säckchen wie in
einer Art Filter festgehalten werden, ist nicht an-
zunehmen, daß sie die Veranlassung dazu geben.
Es ist vielmehr zu vermuten, daß in der zunächst
verdünnten Lösung bald eine Gärung einsetzt.
Diese geht so lange weiter, bis Alkohol sich in
genügender Menge gebildet hat. Vorzugsweise
ist der Honig bei dessen Erzeugung beteiligt; der
aus ihm hervorgehende Alkohol verhindert, daß
der Wein bei diesem Prozeß sauer wird, und wirkt
in viel stärkerem Maße lösend auf die Pflanzen-
stoffe als die geringe Menge Alkohol, die der
Wein enthält, besonders wenn er ein saurer Land-
wein ist.
In späterer Zeit erwähnt man auch Lutertrank,
ohne Gewürze oder ähnliche Stoffe zu seiner Her-
stellung zu nennen. Man hat es dann mit einem
Weine zu tun, dessen Gehalt an Alkohol man
durch den vergärenden Honig erhöhte, so daß er
nicht nur süßer, sondern auch haltbarer und
schwerer wurde. Je nach der Menge des ver-
wendeten Honigs und der Zeit der Gärung konnte
man auf diese Weise ein mehr oder minder be-
rauschendes Getränk gewinnen, das Bischöfen,
Ärzten und Rittern vor allen anderen mundete
(19, S. 82). Am Fürstenhofe des deutschen Or-
dens wurde es nur gereicht, wenn hohe Gäste
zum Besuch kamen, die es kannten und es nicht
bei einem solchen Festgelage entbehren sollten ; war
es doch „damals an Fürstenhöfen und unter dem
vernehmen Stande stark in Gebrauch" (3, S. 178).
Der Hochmeister ließ es zuweilen für sich selbst
herstellen, den Rittern war es dagegen durch
ihre Gesetze verboten. Lautertrank durfte in den
Ordenshäusern weder zubereitet noch getrunken
werden, „ward er als Geschenk gesandt, so gab
man ihn den Armen. Mußten ihn Brüder außer-
halb des Hauses trinken, sollte es stets mit Maß
geschehen" (4, S. 501).
Die Bezeichnung des Getränkes, mittelhoch-
deutsch lütertranc, mittellateinisch c 1 a r a -
tum, claretum oder clare, ist wahrscheinlich
dem französischen clare t nachgebildet. Neben-
her läuft der vielfach bekannte Name litt rauch,
den man mit der deutschen Bezeichnung in innige
Beziehung bringt. Der Zusatz des damals meist
verwendeten Süßstoffs zum Wein geht aus der
Bezeichnung mellicratum hervor, das durch
confectio aus Wein, Honig und Würzstoffen
erklärt wird, die Änderung in der Färbung des
benutzten Rotweins bei der Herstellung aus den
Benennungen pigmentum, potio pigmen-
tata und vinum rubellum (5; 7; 16, S. 304,
Anm. 3).
Eine Erklärung des Wortes Lautertrank kann
in zweierlei Weise geschehen. Einmal kann man,
wie bereits angedeutet, davon ausgehen, daß der
bei der Vergärung auftretende Alkoholgehalt das
Getränk haltbarer macht und das Auftreten von
Trübungen verhindert. Der Gedanke, das Spuren
von Ameisensäure, mit denen die Biene den ein-
getragenen Honig vor dem Deckeln der Vorrats-
zellen gegen Verderben schützt, den Pflanzenaus-
zug klar erhält (13, S. 671), muß zurückgewiesen
N. F. XX. Nr. 12
werden. Besonders in den Fällen würde er zur
Erklärung versagen, wo bei der Herstellung des
Lautertranks ein Aufkochen der Flüssigkeit statt-
fand; ferner wäre die Menge der Ameisensäure
zu gering, um eine ausgiebige Wirkung zu er-
zielen.
Andererseits kann man bei dem Namen an
ein Hellerwerden des Weines denken. In weiterer
Bedeutung ist unter „Läutern" nämlich ein „durch-
sichtig, hcht, hell machen" zu verstehen, eine Be-
zeichnung, die in der forstmännischen Sprache
nach Campe und Grimm noch benutzt wird,
um das Lichten = Läutern des Waldes zum Aus-
druck zu bringen (2).
Man versteht mit dem Safte von Zitronen
Flecken von Rotwein, Blaubeeren und Kirschen
zu entfernen; man weiß ferner, daß die roten
Finger, die man beim Abbeeren der roten Johan-
nistrauben bekommt, wieder entfärbt werden,
wenn man am Ende dieser Arbeit Beeren von
weißen Johannistrauben ablöst. Da vielfach Beeren
(19, S. 82) und Früchte (8, S. 31; 12, S. 148) zur
Herstellung des Lutertranks benutzt worden, ist
eine Abänderung der ursprünglichen Färbung des
Rotweins durch sie leicht möglich. Sie wird auch
dadurch belegt, daß Peters für den einfachen
Würzwein zu medizinischen Zwecken, den eigent-
lichen Hypokras, die rote Farbe, für Ciaret oder
Lautertrank dagegen die gelbe angibt (21, S. 81).
— Wie Versuche, die ich anstellte, zeigen, ist der
Farbstoff des Rotweins gegen oxydierende und
reduzierende Stoffe empfindlich; er wird durch sie
vielfach zerstört, der Wein entfärbt. Wurde eine
Mischung aus einem Teil frischem Honig und drei
Teilen Rotwein in der Kälte angesetzt, so begann
sie bald zu gären und ergab ein Produkt von
goldgelber Farbe mit einem Stich ins Rötliche.
Entsprechend dem Mischungsverhältnis beider
Stoffe wird sie bald tiefer, bald lichter sein. Nach
einer Lagerung von über 7 Monaten war eine
hellrote (rosa) Flüssigkeit entstanden, die beim
Offnen der Flasche lebhaft perlte und stark spritzig
schmeckte. Im Geschmack erinnert sie an einen
süßlichen, würzigen Fruchtsaft. Der hohe Gehalt
an Alkohol macht sich bereits beim Zumunde-
führen dieses Getränkes durch seinen Duft be-
merkbar. — Als zum Vergleich eine Mischung
aus drei Teilen von dem gleichen Rotwein und
einen Teil Wasser hergestellt wurde, wich ihre
Färbung verhältnismäßig so wenig von der
vorigen ab, daß man unter Zurückstellung aller
wissenschaftlichen Hypothesen eine einfache Er-
klärung für das Lichterwerden des hergestellten
Lutertranks geben kann: es ist wohl vorzugsweise
die Verdünnung des Rotweins, welche die rötlich-
gelbe Tönung hervortreten läßt.
Eine zweite Annahme war die, daß die durch
Brennen der weißen Pfefferlinge erhaltene Flüssig-
keit Branntwein gewesen sei. — In den Wirt-
schaftsbüchern des deutschen Ordens finden «ich
einige Angaben, die dessen Herstellung bestätigen,
so heißt es für 1406: „i m. deme glockener von
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
!7$
sente Annen gegeben vor wynbornen vor 4 jar"
(10, S. 382, Z. 25, 26) und für 1408: „i m. dem
glockener zu sanie Annen vor gebranten wyn zu
bornen" (10, S. 473, Z. 24, 25) und für 1412
„16 sc. vor 2 Stoffe gebrannten wyns unserm ho-
mei>ter" (20, S. 38, Z. 19, 20). Mit dem Brennen
des Weins ist nach den beiden ersten Stellen der
Glöckner von St. Annen, der Kapelle mit der
Hochmeistergruft auf der Marienburg (17, S. 289,
220), betraut, in der letzten der angezogenen
Stellen wird besonders hervorgehoben, daß das
Brennen vorgenommen wurde, um Gebrannten
Wein zu erhalten; nach ihr läßt sich sogar der
Preis für i Stof, etwa 1V2 l zu % m. ermitteln.
Hirsch (6, S. 262) gibt den Preis für r Ohm
= 110 Stof Branntwein (141 2) mit 36 m. 16 sc.
an ; das ist ebenfalls V3 m. für das Stof. Im Ver-
gleich mit den Angaben für die Jahre 1406 und
1408 ergibt sich dann weiter, daß die vom Glöckner
in der Zeit von 4 Jahren hergestellte Menge des
Destillats nur eine sehr mäßige ist. Aus dem
Landwein konnte man nur wenig davon erhalten,
und edle Weine wollte man zu diesem Zwecke
nur ungern hergeben. Sicherlich hat man in dem
gebrannten Weine kein Genußmittel, sondern ein
Heilmittel zu sehen. Diese Annahme wird be-
stärkt durch die Verwendung des Alkohols in
Danzig; dort durften 1422 nur 4 Leute gebrannten
Wein verkaufen und mußten für die Erlaubnis dazu
je V2 m. zahlen; 1424 zahlte jeder, der Wein
brannte, eine Abgabe. In der 1454 vom Rate
festgesetzten Gewerbsordnung der vereinten Bar-
bierzunft auf der Recht- und Altstadt wird aus-
gesprochen: „desgleichen sollen die weynburner
niemand verbinden, wenn sie nicht Werkgenossen
sind, und keine Salbe verkaufen, die nicht von
den Elderleuten untersucht ist". Die Weinbrenner
scheinen danach eine ärztliche Praxis besessen zu
haben (6, S. 262, Anm. 109 [, S. 303 und Anm. 60).
Diese Annahme erhält einen hohen Grad von
Wahrscheinlichkeit durch die Tatsache, daß ein
Teil der damaligen Chirurgie, namentlich der,
welcher die kleineren Eingriffe umfaßt, von den
Barbieren und Badern ausgeübt werden durfte
(22, S. 108, 109), und ferner dadurch, daß man
seit ahen Zeiten Wunden durch Waschen mit
Wein zu reinigen suchte. Die antiseptischen
Wirkungen des durch Brennen aus ihm erhaltenen
Heilmittels waren, wie die Erfahrung zeigte, be-
deutend besser.
Die aus dem Pfeffermilchling hergestellte
Flüssigkeit war freilich weder Lautertrank noch
Weingeist. Sie kann nicht Lautertrank gewesen
sein, weil sie durch den Prozeß des Brennens er-
halten wurde, wennschon der scharfe Geschmack
als Würze zu seiner Herstellung hätte Veranlassung
geben können. Sie kann auch nicht als Weingeist
aufgefaßt werden, weil ihre Aufbewahrung in
Gläsern von je 4V2 Stof, d. i. rund 6"/, 1 Inhalt,
und deshalb wahrscheinlich weiter Mündung un-
zweckmäßig gewesen wäre. — Freilich ist in
Laciarms piperatus Scop. Zucker enthalten , der
lÜo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. li
zur Vergärung geeignet wäre, wie eine Reihe von H- Immendörfer, Benno, Speise und Trank im
Analysen belegt (l8, S. 95 bis 99, lOI, IIl): '^flf^^;' ^r'i^T. ^"" "' gememnütnger Vortrage
Beobachter
Jahr
Mannit
Mykose (Trehalose)
Traubenzucker (bzw. direkt
reduzierter Zucker)
Braconnot
1811
vorhanden
—
—
Knop und Schnedemann
1844
vorhanden
i
—
—
Bourquelot
1886
im frischen Pilz l ,4 "/oo
im frischen Pilz 4,3 °/oo
—
Bourquelot
1888/9
im gelrockn. Pilz 1,9 "/o
im frischen Pilz 10 %o
im frischen und getrockn.
Pilz : Glukose
Margewicz
1S85
i. getrockn. P. 13,5—15,7 %
im getrockneten Pilz:
4,2 %
Die Mengen vergärbarer Substanz sind freilich
so gering, daß an eine Gewinnung von Alkohol
aus ihm nicht gedacht werden kann. — Erwähnt
mag noch werden, daß in England der Perl-
schwamm Agaiiciis rubcscens Fr. ^^ Amaitifa
riibescens Pers. bei der Kognakbereitung Verwen-
dung findet — freilich nur zur Verschärfung des
Geschmacks (23, S. 8).
Literatur, geordnet nach der Zeit des Erscheinens.
1. Hartknoch, Christophorus, Petri de Dusburg,
Ordinis Teutonici sacerdolis, cbronicon Prussiae etc. Jenae
1679. Dissertaiio XV, cap. 111.
2. Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch der
deutschen Sprache. Braunschweig 1809.
3. Voigt, Johannes, Das Stillleben des Hochmeisters
des deutschen Ordens und sein Fürsteohof. Historisches
Taschenbuch, herausgegeb. von Friedrich v. Raumer.
I. Jahrg. Leipzig 1830. S. 167—253.
4. Voigt Johannes, Geschichte Preußens, von den
ältesten Zeiten bis zum Untergänge der Herrschaft des deut-
schen Ordens. Bd. 6. Königsberg 1834.
5. Du Gange, Glossarium mediae et infimae latinitatis
etc. Parisiis 1845.
6. Hirsch, Theodor, Danzigs Handels- und Gewerbs-
geschichte unter der Herrschaft des deutschen Ordens. Leip-
zig 1858.
7. Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm, Deutsches
Wörterbuch. Leipzig 1885.
8. Ko bei mann, L., Gesundheitspflege im Mittelalter.
Hamburg und Leipzig 1890.
9. Schultz, Alwin, Deutsches Leben im XIV. und
XV. Jahrhundert. 2. Halbband. Wien, Prag, Leipzig 1892.
10. Das Marienburger TreSlerbuch der Jahre 1399 — 1409.
Auf Veranlassung und mit Unterstützung des Vereins für die
Herstellung und Ausschmückung der Marienburg herausgeg.
von Archivrat Dr. Joachim. Königsberg i. Pr. 1896.
11. Treichel, A. , Pilz-Destillate als Rauschmittel.
Schriften der Phys. -Ökonom. Ges. in Königsberg i. Pr. 39. Jahrg.
1898. Königsberg i. Pr. 1898. S. 46—64.
12. Dieffenbacher, J., Deutsches Leben im 12. Jahr-
hundert. Sammlung Göschen. Leipzig 1899.
13. Schiller-Tietz, Über den Bienenstich und das
Bienengift. Prometheus, II. Jahrg. Nr. 562. Berlin 1900.
S. 608—671.
15. Kaiser, Paul, Die naturwissenschaftlichen Schriften
der Hildegard von Bingen. Wissenschaftliche Beilage
zum Jahresbericht des Königstädtischen Gymnasiums zu Berlin.
Ostern 1901. Berlin 1901.
16. Schelenz, Hermann, Geschichte der Pharmazie.
Berlin 1904.
17. Dehio, Georg, Handbuch der deutschen Kunst-
denkmäler. Im Auftrage des Tages für Denkmalpflege bear-
beitet. Bd. II Nordostdeutschland. Berlin 1906.
18. Zellner, Julius, Chemie der höheren Pilze. Eine
Monographie. Leipzig 1907.
19. Hehn, Viktor, Kulturpflanzen und Haustiere in
ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland sowie in das
übrige Europa. 8. Aufl., neu herausgeg. von O. Schrader.
Mit botanischen Beiträgen von A. Engler und F. Pax.
Berlin 191 1.
20. Das Ausgabebuch des Marienburger Hauskomturs für
die Jahre 1410 — 1420. Mit Unterstützung des Vereins für die
Herstellung und Ausschmückung der Marienburg herausgegeben
von Dr. Walther Ziesemer. Königsberg i. Pr. 1911.
21. Peters, Hermann, Die historisch-pharmazeutische
und chemische Sammlung des Germanischen Nationalmuseums.
Mitteilungen aus dem Germanisehen Nationalmuseum. Jahrg.
1913, S. 44-95-
22. Diepgen, Paul, Geschichte der Medizin 11. Mittel-
alter. Sammlung Göschen. Berlin und Leipzig 1914.
23. Das Marienburger Ämterbuch. Mit Unterstützung des
Vereins für die Herstellung und Ausschmückung der Marien-
burg herausgegeben von Dr. Walther Ziesemer. Danzig
1916.
24. Kaufmann, F., Die rosa- und rost-sporigen Gattun-
gen der Blätterpilze Volvaria, Clatidopus, Pluteus, Clitopihts,
Nolaiiea, Leptonia, Entoloma. 39. Ber. des Westpr. Botan.-
Zoplg. Ver. Danzig 191 7. S. 7—28.
25. Dahms, Paul, Der Pfefl'ermilchling Lactarms pi-
pcratus Scop. in Westpreußen. Naturw. Wochenschr. N. F.
Bd. 18, Nr. 36; 7. Sept. 1919, S. 505—513.
26. Schumann, K. und Gilg, E., Das Pflanzenreich.
Hausschatz des Wissens, Abt. V (Bd. 7). Neudamm (ohne
Jahreszahl).
27. Das große Ämterbuch des deutschen Ordens. Mit
Unterstützung des Vereins für die Herstellung und Ausschmük-
kung der Marienburg herausgegeben von Walther Ziese-
mer. Danzig 1921.
N. F. XX. Nr. i:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
i8i
Einsteins Weltbild eine Zahlenflktion »
(Nachdxuck v«bot.a.l Von Joseph Scholl, Fulda.
In Nr. I des lfd. Jahrgangs dieser Zeitschrift
ist ein Aufsatz erschienen, der unsere Überschrift
als Untertitel trägt. In „philosophisch kritischen
Untersuchungen" will der Verf. die Wertlosigkeit
der Einst einschen Theorie dartun. Der Auf-
satz ist in extrem-positivistischem Sinne geschrie-
ben. Es sei mir gestattet, hier die Frage auch
einmal vom gegnerischen Standpunkt, vom Stand-
punkt des kritischen Realismus aus zu beleuchten.
Es mag ohne weiteres zugegeben werden, daß
okjektiv ein Zusammenhang besteht zwischen
den Max well-Lorentzschen Gleichungen und
Einsteins Relativitätstheorie, d. h. daß eine
Kombination der Lorentzkontraktion mit dem
Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit die Lorentztransformation ergibt. Es
dürfte jedoch zu viel behauptet sein, wenn gesagt
wird, Einstein habe diesen Weg bei der Auf-
stellung seiner Lorentztransformation „unbe-
wußt" benutzt. Die Tatsache, daß zwei Gleichun-
gen aus der Einst einschen Ableitung zusammen-
gefaßt die Lorentzkontraktion ergeben, bildet
hierfür keinen Beweis. Daß Einstein auf ganz
andere Weise zu seinem Resultat gekommen ist,
geht meines Erachtens sowohl aus seiner mathe-
matischen Ableitung der Lorentztransformation
als auch besonders aus den vorhergehenden Er-
wägungen über den physikalischen Raum- und
Zeilbegriff und über das Relativitätspostulat mit
aller Klarheit hervor. Einstein will zeigen, daß
„in Wahrheit eine Unvereinbarkeit des Relativitäts-
prinzips mit dem Ausbreitungsgesetz des Lichtes
gar nicht vorhanden sei, daß man vielmehr durch
systematisches Festhalten an diesen beiden Ge-
setzen zu einer logisch einwandfreien Theorie ge-
lange". Lediglich diese beiden IVIomente, Gesetz
der Lichtausbreitung im Vakuum und Relativitäts-
postulat, sind in der Einsteinschen Rechnung
verwendet, von der Lorentzkontraktion ist mit
keiner Silbe die Rede. Daß sie „unbewußt" be-
nutzt worden sei, kann schon deshalb nicht be-
hauptet werden, weil Einstein in seiner Rech-
nung jedesmal bei der Aufstellung einer neuen
Gleichung die Erwägungen genau darlegt, die zur
Aufstellung dieser Gleichung führen, abgesehen
davon, daß es nicht recht ersichtlich ist, wie man
bei einer Rechnung eine Gleichung „unbewußt"
benutzen kann.
Doch sei dem wie ihm wolle, es ist schließ-
lich ganz gleichgültig, welchen Weg Einstein
bei der Aufstellung seiner Theorie subjektiv
benutzt hat; es kommt nur darauf an, ob die
Theorie einen wissenschaftlichen Wert hat oder
nicht. In dem zur Diskussion stehenden Aufsatze
wird ihr jeder wissenschaftliche Wert abgesprochen,
sie bedeute, so heißt es, gegenüber der Loren tz-
sehen Theorie nichts Neues, sondern sei implizite
in ihr enthalten. „Die Grundgleichungen der
Maxwell-Lorentz sehen Theorie und Ein-
steins spezieller Relativitätstheorie sind exakt
identische Gleichungen." Und darum sind auch
„in Einsteins L o r e n t z transformationen die
gleichen und nur die gleichen Erfahrungswerte
enthalten wie in den Max well - Loren tzschen
Gleichungen". „Beide beschreiben das in Betracht
kommende Tatsachengebiet der Wirklichkeit ent-
sprechend, wenn dabei der den Maxwell-
Lorentz sehen Gleichungen entsprechende Er-
fahrungsbereich innegehalten wird; alles übrige
ist Spekulation." Damit soll die Einstein-
sche Theorie als wertlos abgetan sein.
Dieses Werturteil ist meines Erachtens auch auf
positivistischem Standpunkt nicht ganz berechtigt.
Der Positivist beschränkt seine wissenschaftliche
Tätigkeit darauf, die Erfahrungstatsachen zu regi-
strieren, Gesetzmäßigkeiten festzustellen und die
gegenseitige Abhängigkeit der Ereignisse möglichst
auf mathemathische Formeln zu bringen. Alles
übrige verwirft er als „Spekulation". Von diesem
Standpunkt aus betrachtet bringt allerdings die
Relativitätstheorie nichts Neues, d. h. keine
neuen Erfahrungstatsachen. Die Max-
well-Lorentz sehe Theorie und die Relativitäts-
theorie beschreiben beide dieselben Er-
fahrungstatsachen in logisch einwandfreier Weise.
Trotzdem verdient meiner Ansicht nach auch auf
positivistischem Standpunkt die Relativitätstheorie
vor der Loren tzschen Theorie den Vorzug.
Die positivistische Ansicht über den Wert und
die Bedeutung von Hypothesen läßt sich kurz
folgendermaßen formulieren : die Hypothesen sind
Bilder oder Modelle, die sich der Mensch von den
Naturerscheinungen macht. Ihr Wert ist ein dop-
peher: sie vereinfachen und erleichtern die Be-
schreibung der Tatsachen :denkökonomischer
Wert, und sie leiten an zur Auffindung neuer
Tatsachen: heuristischer Wert. Darüber
hinaus haben sie keinen Erkenntniswert. Insbe-,
sondere ist die Frage müßig, ob eine Hypothese
richtig oder falsch sei; es handelt sich ledig-
lich darum, ob sie „brauchbar" ist, d. h. ob
sie sich dazu eignet, einen gewissen Tatsachen-
komplex mit hinreichender Einfachheit zu be-
schreiben. Je größer der Tatsachenkom-
plex ist, den eine Hypothese zu beschreiben ver-
mag und je einfacher und verständlicher
die Beschreibung ist, desto „brauchbarer",
desto „besser" ist die Hypothese.
Auch wenn man die Relativitätstheorie von
diesem Standpunkt aus betrachtet, muß man ihr
meines Erachtens schon einen größeren Wert zu-
erkennen als der Max well - Loren tzschen
Theorie. Denn die Relativitätstheorie erklärt oder
beschreibt, wie Einstein in §i6 seiner gemein-
versländlichen Schrift ausführt, alle Erfahrungs-
tatsachen, die die Maxwell-Lorentzsche
l82
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Theorie beschreibt, d. h. das ganze Tatsachen-
gebiet der Elektrodynamik einschließlich
der Bewegung der Elektronen und des
Michelsonversuches. Die letzteren Tat-
sachen konnte Lorentz nicht ohne die Hilfs-
hypothesen von der Abplattung der Elektronen
und von der Verkürzung gegen den Äther be-
wegter Gegenstände erklären. Lorentz selbst
sieht in der Notwendigkeit dieser Hilfshypothesen
einen Mangel seiner Theorie, wenn er schreibt:
„Sicherlich haftet diesem Aufstellen von besonderen
Hypothesen für jedes neue Versuchsergebnis etwas
Künstliches an. Befriedigender wäre es, könnte
man mit Hilfe gewisser grundlegender Annahmen
zeigen, daß viele elektromagnetische Vorgänge
streng, d. h. ohne irgendwelche Vernachlässigung
von Gliedern höherer Ordnung, von der Bewegung
des Systems unabhängig sind." ^) In der Relativi-
tätstheorie sind diese grundlegenden Annahmen,
von denen Lorentz spricht, gefunden. Sie
braucht zur Erklärung der Elektronenbewegung
und des Michelsonversuches keine Hilfs-
hypothesen, sondern vermag auch diese Tat-
sachen direkt aus ihren Grundprinzipien
abzuleiten. Sie beschreibt also denselben
Tatsachenkomplex wie die Lorentzsche
Theorie mit Hilfe von wenigeren und von
einfacheren Annahmen; sie ist deshalb auch
vom positivistischen Standpunkt aus der L o r e n t z -
sehen Theorie vorzuziehen wegen ihres größeren
denkökonomischen Wertes. Daß sie auch heuri-
stischen Wert hat, zeigt Einstein in § 14 und
15 seiner gemeinverständHchen Schrift.
Wenn man nicht auf positivistischem, sondern
auf realistischem Standpunkt steht, wird man, wie
allen Hypothesen, so auch der Relativitätstheorie
noch einen anderen Erkenntniswert zusprechen.
Der Realist erblickt in einer Hypothese nicht nur
ein Bild, ein Modell oder eine Beschreibung eines
Tatbestandes, sondern eine Vermutung über
den Bestand wirklicher Tatsachen. So
erblicke ich z. B. in der Atomtheorie nicht nur
eine möglichst denkökonomische Beschreibung
eines gewissen Komplexes von Erscheinungen,
sondern die Vermutung, die Materie möchte wirk-
lich aus Atomen zusammengesetzt sein. Die Ele-
mente unseres Denkens sind, wie es in dem zur
Diskussion stehenden Aufsatze ganz richtig heißt,
allerdings nicht reine Gegenstände, sondern ihre
gedanklichen Gegenstücke; sie sind aber auch, wie
ich noch hinzufügen möchte, ihre Abbilder.
Das Bestreben der wissenschaftlichen Forschung
ist eben darauf gerichtet, die Gedankenelemente
zu möglichst genauen und getreuen Abbildern der
wirklichen Dinge zu machen. Um dieses Ziel zu
erreichen, bedient sich die Wissenschaft oft des
Mittels der Hypothese. Ein klassisches Beispiel
hierfür ist die Atomtheorie. Gegeben ist eine
Summe von Erfahrungstatsachen, physikalische und
N. F. XX. Nr. 12
') Zitiert bei W. B 1 o c h , „Einführung in die Relativitäts-
theorie". Aus Natur und Geisteswelt Nr. 618, S. 86.
chemische Erscheinungen. Ein Forscher findet
eines Tages heraus, daß sich diese Erscheinungen
unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusam-
menfassen und auf einfache, leicht verständliche,
„denkökonomische" Weise beschreiben lassen, wenn
man die Annahme zugrunde legt, die Materie be-
stehe aus Atomen. Bis dahin ist die Atomtheorie
lediglich eine Fiktion und das Atom ein Gedanken-
gebilde ohne reales Gegenstück. Dabei kann nun
die Wissenschaft stehen bleiben; sie kann aber
auch noch weiter gehen und an die gemachte
Feststellung die Vermutung knüpfen, jenes Ge-
dankengebilde möchte tatsächlich ein
reales Gegenstück haben, die Materie
möchte wirklich aus Atomen sich aufbauen. Und
nun muß sie in dieser Richtung experimentell
weiter forschen und zusehen, ob die Erfahrung
diese Vermutung bestätigt, ob das Vorhandensein
von Atomen sich nicht erfahrungsgemäß feststellen
läßt. Und gerade bei der Atomtheorie ist diese
Feststellung in so einwandfreier Weise gelungen,
daß selbst hervorragende Autoritäten wie Wil-
helm Ostwald, die bis vor kurzem die Atom-
theorie heftig bekämpften, in letzter Zeit die
wirkliche Existenz der Atome zugegeben
haben. Wir sind also der Meinung, daß den
Hypothesen neben dem denkökonomischen noch
ein realer Erkenntniswert innewohnt. Eine Hypo-
these ist eine auf Grund von Erfahrungstatsachen
aufgestellte Vermutung über einen Tatbestand.
Sie unterscheidet sich von den durch Erfahrung
sichergestellten Ergebnissen der Forschung durch
den Grad der subjektiven Gewißheit;
diese stehen unumstößlich fest, eine Hypothese
hat nur einen gewissen Grad von Wahr-
scheinlichkeit. Die Erfahrung kann diese
Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit machen, kann
aber auch die Falschheit der Hypothese dartun.
Ich glaube aber, daß es für unsere Erkenntnis
doch schon einigen Wert hat, wenn wir uns sagen
können : Vielleicht oder wahrscheinlich besteht der
und der Tatbestand.
Wenden wir unser Ergebnis auf die Relativi-
tätstheorie an. Die spezielle Relativitätstheorie
ist die Vermutung, daß Raum- und Zeitbestim-
mungen abhängig sind von dem Bewegungszu-
stande des Beobachters, daß es kein vor allen
andern ausgezeichnetes Koordinatensystem gibt und
daß alle Vorgänge in der Welt so verlaufen, daß
die sie beschreibenden Gesetze, wie Einstein es
kurz ausdrückt, kovariant sind bezüglich Loren tz-
transformationen. Die allgemeine Relativitäts-
theorie enthält noch weitere Vermutungen über
die Identität von träger und schwerer Masse, die
Struktur des Raumes, die Entstehung des Lichtes
usw. In diesen Vermutungen, die auf Erfahrungs-
tatsachen gegründet sind, liegt meines Erachtens
ein realer Erkenntniswert, und es ist nicht an-
gängig, sie als müßige Zahlenspekulationen einfach
ad acta zu legen. Die Forschung hat zu prüfen,
ob die Vermutungen sich in der Erfahrung be-
stätigen oder nicht. Ich glaube nicht, daß es
N. F. XX. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
183
Einstein oder einem seiner Anhänger jemals
in den Sinn gekommen ist, die Relativitätstheorie
als unumstößliche Wahrheit anzusehen; sie wird
vorläufig nur als Vermutung, als Hypothese be-
trachtet, bis auf Grund neuer, hinreichender Er-
fahrungstatsachen eine endgültige Stellungnahme
erfolgen kann.
Fassen wir zum Schluß das Ergebnis unserer
Untersuchungen noch einmal kurz zusammen. Die
Relativitätstheorie ist eine Hypothese, deren d e n k -
ökonomischen Wert man auch auf positi-
vistischem Standpunkt anerkennen muß. Auf
realistischem Standpunkt wird man ihr dar-
über hinaus noch einen realen Erkenntnis-
wert zusprechen, insofern sie Vermutung eines
Talbestandes ist. Solche Vermutungen haben in
der Wissenschaft ihre volle Berechtigung, wenn
sie auf Erfahrungstatsachen gestützt sind, wie es
bei der Relativitätstheorie der Fall ist. Der Vor-
wurf, „die Relativitätstheorie spekuliere unerlaubt
weit über die zurzeit festgestellten Beobachtungen
hinaus", ist unberechtigt; denn jeder hat das Recht,
auf Grund von beobachteten TatsachenVermutungen
anzustellen über noch nicht beobachtete Tatbe-
stände. Der Vorwurf wäre berechtigt, wenn die
Relativitätstheorie ihre Ergebnisse als unumstöß-
liche Gewißheit hinstellen wollte ; aber das kommt
ja niemandem in den Sinn. Zum Schluß möge
ein Wort Eduard v. Hartmanns zitiert wer-
den: „Die Hypotheseophobie ist eine ebensolche
Kinderkrankheit der modernen Physik wie der
Glaube an die absolute Gewißheit ihrer Lehren".*)
1) Schlußwort der „Weltanschauung der modernen Physik",
Leipzig, Haacke 1909.
Einzelberichte.
StoflFstaiiuiig und Neubildiingsvorgiinge
in isolierten Blättern.
Daß die Bildung von Pflanzenorganen, insbe-
sondere bei regenerativen Vorgängen, von der
Anhäufung bestimmter Stoffe in den betreffenden
Gewebepartien abhängig ist, das ist ein Gedanke,
der schon seit langer Zeit in der Pflanzen-
physiologie geäußert worden ist und der in der
Sachsschen Lehre von den organbildenden
Substanzen eine spezielle Wendung genonimen
hat. Die Betrachtungen bewegen sich jedoch fast
ausschließlich auf theoretischem Boden und so
schien es erwünscht, den Beziehungen zwischen
Organbildung und Stoffanhäufung experimentell
nachzugehen. Hier setzen die Versuche S.V.Simons
(Zeitschr. f. Botanik 12. 1920) ein, die sich auf
die Gesneriacee Sinningia erstreckten. Setzt
man abgeschnittene Blätter dieser Pflanze als
Stecklinge in die Erde, dann treten nach
einiger Zeit an der Basis des Blattstiels Knollen
auf, die sich weiterhin zu normalen Pflanzen
entwickeln. Eine mikrochemische Untersuchung
des Blattstielgewebes ergab, daß der Bildung
der Knolle eine Ansammlung von Kohle-
hydraten vorausgeht, die wohl für den Neu-
bildungsprozeß verantwortlich gemacht werden
kann. Immerhin wäre der Einwand möglich, daß
die Wunde als solche die Knollenbildung auslöst.
Um diese Möglichkeit auszuschalten, wurde die
Basis des Blattstiels fortschreitend bis zu einer
Länge von 3 cm eingegipst, so daß die Bildung
einer basalen Knolle verhindert wurde. Es zeigte
sich nun, daß jetzt oberhalb der Gipshülle eine
Knolle auftrat, die künstlich bis zur Blattspreite
hinaufgedrängt werden konnte, so daß sie außer-
halb des Bereiches der Wundwirkung lag. Ana-
tomisch ergab sich, daß hier die Kohlehydrate
zunächst ebenfalls an der Basis des Blattstiels
gespeichert wurden, daß dann aber eine Stauung
eintrat, die über die Gipsgrenze hinaufwanderte.
Diese Speicherung in der gipsfreien Zone und die
Knollenbildung fallen zum Teil zusammen. Nimmt
man nun die Gipshülle ab, dann bildet sich nach
einiger Zeit an der Basis des Blattstieles eine
starke Knolle, die allmählich die zuerst gebildete
an Größe überholt. iVlikroskopisch läßt sich der
Nachweis erbringen, daß nun ein Abstrom von
Reservestoffen in den inzwischen entleerten
basalen Teil des Blattstieles einsetzt und daß
Schritt für Schritt die Kohlehydrate aus der
oberen Knolle abgetragen werden. In all diesen
Fällen offenbart sich also der Zusammenhang
zwischen Sloffansammlung und Organbildung auf
das Deutlichste. Damit soll aber nicht gesagt
sein, daß nicht auch andere Faktoren (z. B. die
Polarität) für den Ort der Neubildung maßgebend
sind. P. Stark.
Ratten als Überträger der Trichophytie
beim Pferde.
In einem von der „D. Tier. W." der „Tijd-
skrift voor Diergeneeskunde" von 19 19 übernom-
menen Bericht wurden in einem Pferdebestande
mehrere Tiere mit den charakteristischen Er-
scheinungen der Trichophytie (ring- oder kahl-
machende Flechte) behaftet vorgefunden. In dem
Stalle waren kurz vorher zahlreiche Ratten be-
obachtet worden. Diese fürchteten sich nicht vor
den Pferden und diese ebensowenig vor jenen. Die
Ratten liefen über die liegenden Pferde hin, saßen
auf und in der Krippe usw. Einzelne Pferde hatten
einen abgegrenzten Ausschlag und kahle Flecke,
andere sahen räudig aus. Bei einer gefangenen
Ratte fand sich ein nässender und krustößer Aus-
schlag. Die mikroskopische Untersuchung von
iVIaterial von Haut und Haar ergab nicht Favus
i84
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 12
oder Räude, sondern Trichophytie. Diese war
von den Ratten auf diejenigen Pferde übertragen
worden, in deren Boxen die Ratten zwischen den
Doppelwänden ihre Nester hatten. Bei der Be-
kämpfung dieser Hautkrankheit der Pferde ist da-
her auch die Vernichtung der Ratten nötig. Aci-
dum arsenicos. und Bulbus scillä versagten in vor-
liegendem Falle, dagegen erzielte das Rattenver-
tilgungsmittel der Reichsserumanstalt, in einer
Menge von 3 — 5 ccm einer vorher mit Äther
narkotisierten Ratte subkutan injiziert, durch-
schlagenden Erfolg. Nach dem Erwachen aus der
Narkose wurde die Ratte wieder frei gelassen.
Innerhalb von 10 Tagen war der Stall frei von
Ratten.
Bei dem zuerst erkrankten Pferde wuchsen an
den abgeheilten Hautstellen weiße, nicht wie sonst
dunkler gefärbte Haare. Pferde, die mit Decken
belegt waren, erkrankten nur am Kopf und den
Gliedmaßen, weil die bedeckten Stellen vor der
Ratteninfektion Schutz hatten. Reuter.
Die Geschlechtsbestimmung im Hühnerei.
iVIittels des siderischen Pendels glauben
Geflügelzüchter das Geschlecht im Hühnerei
nachweisen zu können und zwar sollen die
mehr linienförmigen (kleinelliptischen), in einer
Ebene sich bewegenden Pendelschwingungen
das männliche und die kreisförmigen oder
großeliiptischen Schwingungen das weibliche
Geschlecht andeuten. Manche wieder machen die
Schwingungen im entgegengesetzten Sinne, also
die kreisförmigen für das männliche und die linien-
förmigen für das weibliche Geschlecht geltend.
Schömmer erklärt in der „D. Tier. W." die
Pendelschwingungen dadurch, daß durch das ge-
danklich gewollte Festlegen einer Richtung un-
willkürlich durch den Finger kleine Impulse erteilt
werden, die schließlich zur Bewegung führen und
zwar ganz gleichgültig, ob das Ei überhaupt be-
fruchtet ist oder nicht. Schon aus diesem Grunde
ist die neuerdings stark vertretene Anschauung
von der Zuverlässigkeit der Pendel probe nicht
haltbar. Es sind daher, wie ein anderer Autor in
der „D. Tier. W." auf Grund genauer Beobach-
tungen nachgewiesen hat, die Schwingungen , die
zwischen den beiden Polen des Eies sich abspielen,
rein zufälliger Art, die unbeeinflußt vom Ge-
schlecht des Eies, von der haltenden Person be-
wirkt werden.
Auch eine weitere Methode, aus der äuße-
ren Gestalt auf das zukünftige Geschlecht des
eventl. ausschlüpfenden Hühnchens schließen zu
können, ist nicht zuverlässig, bewegt sich aber
mehr auf dem Boden des Tatsächlichen als die
Pendelschwingung im okkultistischen Rahmen, da
man mittels des siderischen Pendels auch die
weibliche und die männliche Handschrift, wenn
er über diesen in Schwingung gerät, nachweisen
will. Ist ein Ei durch einen Querschnitt in zwei
gleiche oder fast gleiche Hälften teilbar, so sei
der Keim weiblichen Geschlechts. Sind die durch
einen Querschnitt erhaltenen Teile ungleich, oder
ist der eine zugespitzt, der andere abgestumpft,
so sei er männlichen Geschlechts. Bei der dahin-
gehenden Probe waren nach „Freund, Die
Vogelwelt der Küche" 7 "/o Fehler, bei Eiern ver-
schiedener Rassen 14 \ festzustellen.
Reuter.
Versuche über die Entstehung yon Tonerde-
phosphaten.
Wie H. Leitmeier und H. H e 1 1 w i g in der
Doelter-Festschrift ^) S. 41 — 67 ausführen, dürften
wohl die meisten Phosphate — den Apatit aus-
genommen — Umwandlungsprodukte sein, die
durch Einwirkung von Phosphatlösungen oder
-dämpfen auf bereits vorgebildete Mineralien ent-
standen sind. Dies gilt vor allem für die Ton-
erdephosphate, obwohl wir über die hierher ge-
hörigen Mineralien nur recht wenig Angaben be-
sitzen. So dürfte der Amblygonit durch post-
vulkanische Prozesse entstanden sein. Von den
übrigen sind nur vom Variszit bzw. Redondit
nähere Angaben vorhanden. Brauchbare Angaben
über Synthesen liegen noch nicht vor. Türkis
wird zwar künstlich hergestellt, aber einmal haben
wir keine genauen, wissenschaftlich geprüften An-
gaben über die Wege, welche dabei die Technik
einschlägt, die diese Produkte zur absichtlichen
Nachahmung der edlen Türkise darstellt. Sodann
ist die Frage, ob der so künstlich erhaltene Türkis
mit dem natürlichen auch tatsächlich überein-
stimmt, noch nicht entschieden, da sich bei den
meisten als sichere Kunststeine erkannten Tür-
kisen Unterschiede gegenüber den natürlichen
herausgestellt haben.
Aus einer ausführlichen Literaturzusammen-
stellung über die natürlichen Vorkommen einiger
Tonerdephosphate und der Hypothesen ihrer
Entstehung, auf die hier nicht näher eingegangen
werden kann, geht hervor, daß sich als Zersetzungs-
produkte der verschiedensten Silikatgesteine, die
reich an Tonerdesilikaten sind, sich im wesent-
lichen zwei Phosphatmineralien, Minervit und
Redondit, durch Umwandlung bilden. Der von
Gautier aufgefundene Original - Minervit dürfte
ein einheitliches Mineral sein. Er erwies sich als
frei von Alkalien und ließ sich auf die einfache
Formel AJ.jOg ■P.,06-7HoO zurückführen. Was
sonst in der Literatur unter Minervit beschrie-
ben, ist höchstwahrscheinlich kein einheitliches
Mineral. Die Redonditanalysen führen alle unge-
zwungen auf dieVariszitformel: Al^Og -PoOg ■4H2O.
Die Variszitsubstanz tritt also in zwei Varietäten
auf, die eine völlig verschiedene Entstehung
haben. Der Redondit — und auch der Minervit
— sind gelartige Guanomineralien, der eigentliche
Variszit ist kristallin. Über seine Entstehung
•) herausgegeben von H. Leitmeier. Verl. Th. Stein-
kopff. Dresden und Leipzig 1920.
N. F. XX. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
I8S
sind wir noch nicht weiter unterrichtet, jedenfalls
ist er kein Guanomineral.
In drei Reihen von Versuchen untersuchten
nun die Verff. die Einwirkung einer wässerigen
Ammoniumphosphatlösung auf Kaolin, Feldspäte
und verschiedene Gesteine, da auf diese Art wahr-
scheinlich die Tonerdephosphate der Guanolager
entstanden sind. Bei einigen Versuchen wurde
noch Fluorammonium zugesetzt, doch konnte, wie
vorausgenommen sei, in keinem der dabei erhal-
tenen Produkte Fluor nachgewiesen werden, wäh-
rend viele natürliche Tonerdephosphate Fluor
enthalten. Die Versuche wurden meist derart
ausgeführt, daß das Kaolin-, Feldspat- oder Ge-
steinspulver mit Ammoniumphosphat in einer
Glasröhre drei Monate bei 80" oder bei Zimmer-
temperatur geschüttelt. Die Versuche zeigten
folgende Ergebnisse: Es zeigte sich, daß die na-
mentlich von Teall angenommene Umwandlung
von Silikaten in Tonerdephosphate durch Einwir-
kung von Phosphatlösungen experimentell durch-
führbar ist und sich Produkte ergeben, die in
ihrer Zusammensetzung den in der Natur gefun-
denen ähnlich sind. Teall nimmt eine Wechsel-
wirkung von gelöstem Phosphat und festem Silikat
an, also eine mehr oder weniger weitgehende
direkte Ersetzung von SiO., durch P3O5. eine Um-
wandlung, die soweit geht, bis alles SiOg durch
PaOg ersetzt ist. Als Beweis für diese Bildungs-
art kommt die Auffindung von Zwischengliedern
in Betracht, Silikatgesteinen, in denen nur ein
Teil der S1O2 durch P3O3 versetzt worden ist.
Die bedeutende Vermehrung des P2O,-, - Gehaltes
eines Teils der synthetischen Produkte hängt
sicher auch mit der etwas höheren Temperatur,
die angewandt wurde, zusammen. Es hat sich
gezeigt, daß der Druck hierbei die Reaktion nicht
begünstigen kann, da ja bei dieser Umwandlung
ein Körper mit größerem Volumen gebildet wird.
Silikate, die wasserhaltig sind und durch Zer-
setzung aus den primären Silikaten hervorgegangen
sind, wie der Kaolin, sind leichter zersetzbar. Diese
Zersetzung findet auch unter geringem Druck
statt. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß
in der Natur nicht auch der Umwandlung der
Silikate in Phosphate eine Hydratisierung bzw.
Koalinisierung vorausgeht. Die geringe Menge
von PoO-, , die die Feldspate bzw. die Feldspate
der untersuchten Gesteine aufgenommen haben,
kann entweder eine Adsorptionserscheinung sein,
oder es hat sich doch etwas Phosphat gebildet.
F. H.
Die Jahreszeittj'pen.
Im letzten Jahrbuch der Zentralanstalt für
Meteorologie in Wien sind mehr als 100 000
Monatsmittel veröffentlicht. Die jährliche Gesamt-
produktion aller meteorologischen Stationen der
Erde dürfte mehr als 10 Milliarden ergeben. Es
besteht kein Zweifel, daß an die zahlenmäßige
Aufarbeitung dieses Riesenmaterials, die über die
letzten 40—70 Jahre erstreckt werden muß, nie
geschritten werden kann. Ja sogar die einfache
Publikation des Materials selbst wird immer schwie-
riger, sie verzögert sich immer mehr; und jede
Verzögerung verschiebt die Aufarbeitung um so
mehr. Hier rettend einzugreifen ist die dringend-
ste Aufgabe der statistischen Meteorologie. Seit
kurzem versuchen die Forscher eine einfache Auf-
arbeitungsmethode, indem sie die Zahlenwerte
der Angaben außer acht lassen, nur ihre Tendenz,
die Häufigkeit und die Regel deren Aufeinander-
folge untersuchen. So fand man z. B. in Wien,
daß in den letzten 1 1 Jahren die Winter immer
eine positive Temperaturanomalie, die Sommer
immer eine positive Bewölkungsanomalie hatten.
Noch auffallendere Regelmäßigkeiten ergaben sich,
wenn nicht ein Wetterelement allein, sondern
den natürlichen Verhältnissen besser entsprechend,
mehrere zusammen und gleichzeitig geprüft wur-
den. So fand man, daß in den letzten 30 Jahren
die bewölkt-kalt- nassen Sommer und die bewölkt-
warm-nassen Winter überraschenderweise häufiger
wurden. Die einzig mögliche Erklärung ist, daß
zwischen beiden Erscheinungen ein innerlicher
Zusammenhang bestehen muß. Es läßt sich fol-
genderweise bestätigen. — Im allgemeinen kann
eine Jahreszeit auf Grund der positiven und nega-
tiven Anomalien der wichtigsten Wetterelemente:
Bewölkung, Temperatur und Niederschlag, folgende
8 Typen annehmen:
Die Typen des gleichzeitigen Erschei-
nens der Anomalien von Bewölkung,
Temperatur undNiederschlag:
Nr. Das Vorzeichen der Anomalien Benennung
„ ..,, ~ Nieder-
Bewolk. Temp. ^^^j^^
-)- 4" ~H bewölkt warm naß
+ + — >, » trocken
I
II
III
IV —
V —
VI —
VII +
VIII —
+ „ kalt naß
-\- -j- klar warm „
— + ,. kalt
-|- — „ warm . trocken
— ^ , bewölkt kalt „
— — klar
Die Wahrscheinlichkeit, daß auf einem Sommer
von Typus Nr. III ein Winter von Typus Nr. I
folgt, ist für die letzten 3 Jahrzehnte:
Wie oft folgte ein Winter von Typus
Nr. I einem Sommer von Typus Nr. III
(Wien)
, , , Auf 10 Sommer von Auf die anderen,
janrzenni .^^^^^ ^^ jjj ^^^^^^ II— VIII Typen, fallen
1890—1^99/0 3 Winter v. T. Nr. 1 7 Winter
1900—1909/0 4 „ „ „ „ 6
1910— 1919/0 7 „ „ „ „ 3
Also besteht die größte Wahrscheinlichkeit,
daß ein Winter von T. I auf einem Sommer von
T. III folgt. Auf die anderen 7 möglichen Typen
fällt nur höchstens einer. Der Wahrscheinlich-
keitsfaktor hat in den letzten drei Jahrzehnten
nach einer geometrischen Reihe — 3, 4. 7 —
zugenommen. Man kann annehmen, daß derselbe
im kommenden Jahrzehnt weiter zunehmen wird.
tS6
Naturwissenschaftliche WochenschrifL
-^^ — ■-
N. F, XX; Nr. 12
Im letzten Jahrzehnt ergab nur zur Zeit des
Sonnenfleckminimums Ausnahmen und zwar
die Winter 191 2/3 und 19 13/4. Da das nächste
Minimum erst nach 1923 kommt, ist der heurige
Winter bewölkt -warm zu erwarten. Jedenfalls
lassen sich auch für andere Jahreszeiten charakte-
ristische Aufeinanderfolgen finden. Die Kultur
und die Entwicklung der wirtschaftlichen Vege-
tation hängt im wesentlichen von den oben an-
gegebenen Jahreszeittypen ab, so daß ihre Er-
kenntnis praktischen Wert hat, denn sie würde die
landwirtschaftliche Produktion fördern. Diese hat
also Interesse an der oben angegebenen Ver-
arbeitung der meteorologischen Beobachtungen.
E. Szolnoki.
Schweinerotlauf bei Lämmern.
Wie beim Geflügel, vermag auch bei den Jung-
schafen der Rotlauf bazillus tödliche Erkrankungen
hervorzurufen. Die „Maanedsskrift for Dyrlaeger"
Nr. 3 1, 1909 berichtet von der großen Sterblichkeit
der Lämmer in einem Schafbestand. Bei der
Sektion fand man hämorrhagische Darmentzündung
mit Vergrößerung der Mesentheriallymphdrüsen
und septische Veränderungen bestehend in De-
generation in den Organen und kleine Hämorrha-
gien unter dem Endo- und Epikardium. Sowohl
bei der mikroskopischen Untersuchung als bei den
Kulturversuchen wurde der charakteristische Ba-
zillus des Schweinerotlaufs in Reinkultur ange-
troffen. Rotlaufserum war bei Mäuseversuchen
imstande, die tödliche Wirkung des Bazillus auf-
zuheben. Die Virulenz des isolierten Bazillus war
grauen Mäusen gegenüber auffallend hoch. Im
betr. Haustierbestande war während des Auftretens
der Sterblichkeit unter den Lämmern kein Fall
von Rotlauf bei Schweinen aufgetreten.
Reuter.
Die Beziehungen zwischen Tier-
und Meuschenpocken.
Nach der Bollingerschen Ansicht gibt es
zwei Arten von Pockenseuche, Menschenpocken
und Schafpocken, von welchen gelegentliche
Übertragungen und kleinere Ausbrüche ihren Aus-
gang nehmen: Kuhpocken, Schweinepocken und
Ziegenpocken. Auch die Blasen- oder Pocken-
seuche des Geflügels, welche oft für eine Form
der Maul- und Klauenseuche gehalten wird ist
eine Varietät der Pockenerkrankung. Nach 'der
„Zeitschr. f. Hyg. u. Inf" suchte Dr. Chine die
vorliegende Frage experimentell zu lösen und
zwar dadurch, daß er sowohl Menschenpocken als
auch natürlich vorkommende Schweine-, Ziegen-
und Schafpocken über das Kaninchen als Pas^^age-
tiere auf das Rind übertrug. An den auf diese
Weise schließlich infizierten Kälbern wurden regel-
mäßig die Erscheinungen beobachtet, wie sie bei
der Kuhpocke aufzutreten pflegen. Aus dieser
Tatsache zieht der Verf den Schluß, daß die bei
Menschen und Tieren vorkommenden Pockenarten
alle von der weitest verbreiteten Pockenart, den
Menschenpocken, abstammen. Reuter
Schrenck-Notzing, Freiherr Dr. A. v., Physi-
kalische Phänomene des Mediumismus.
Mit 1 5 Tafeln und 38 Strichzeichnungen im Text!
201 S. München 1920, Verlag von Ernst Rein-
hardt. 26 M.
Man mag die wachsende Zahl der wissenschaft-
lichen Arbeiten zum Okkultismus je nach Neigung
und Überzeugung gern oder ungern sehen, aber
man wird jedenfalls mit der so lange von natur-
wissenschaftlicher und medizinischer Seite geübten
Praxis, ihn sozusagen als nicht vorhanden zu be-
trachten oder bestenfalls als Schwindel abzutun,
bei uns ebenso brechen müssen, wie es in anderen
Ländern schon früher geschehen mußte.
Freiherr v. Schrenck-Notzing ist weiten
Kreisen wohl hauptsächlich durch sein Werk über
Materialisationsphänomene bekannt, das seit seinem
Erscheinen zu einem so lebhaften Austausch für
und wider geführt hat. Hier soll darauf nur so-
weit eingegangen werden, als sein neues Werk in
einem ziemlich ausführlichen Anhang über Nach-
prüfungen des französischen Forschers G. Geley
mit derselben Versuchsperson berichtet, die Punkt
für Punkt die früheren Angaben Schrenck-
Bücherbesprechungen.
Notzings bestätigen. Da die Kontrolle sehr
streng gewesen zu sein scheint, bilden die neuen
Ergebnisse zweifellos eine beachtenswerte Be-
kräftigung der so heftig bestrittenen Resuhate des
deutschen Forschers.
Im übrigen besteht das neue Buch Schrenck-
Notzings aus einzelnen Studien verschiedener
Art, teils Referate, teils eigene Untersuchungen.
Überall dreht es sich in der Hauptsache um die
Erscheinungen der„Telekinese", also die Erzeugung
mechanischer Wirkungen seitens einer dafür be-
anlagten Person (Medium) ohne (anscheinenden)
direkten Kontakt. Diese Wirkungen gehen von
der Bewegung leichter kleiner Körper (Zelluloid-
kugeln, Löffel usw.) bis zur Hebung von Tischen
und noch schwererer Gegenstände (einmal wurde
ein mehrere Zentner schwerer Flügel einseitie ge-
hoben). ^ ^
Das Buch beginnt mit einer zusammengefaßten
Wiedergabe der einschlägigen Untersuchungen von
Ochorowicz mit dem Medium Stanislawa
Tomczyk, sodann folgen eigene Untersuchungen
des Autors mit demselben Medium, die in allem
wesentlichen die früheren Ergebnisse bestätigen
N. F. XX. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
187
Daran schließt sich eine Zifsammenstellung ent-
sprechender Erscheinungen, die bei dem sehr be-
kannten, kürzlich verstorbenen italienischen Medium
Eusapia Palladino zu verschiedenen Zeiten
und an verschiedenen Orten von vielen Beobachtern
festgestellt worden sind. Außer ihm selber nennt
der Verf. die bekannten Forscher Rieh et, Sir
Oliver Lodge, Henri Bergson, Max Des-
soir usw. Leider scheint festzustehen, daß die
Palladino nicht selten betrogen hat, und es ist
klar, daß dieser Umstand einen unauslöschlichen
Rest von Mißtrauen ihren Leistungen gegenüber
hinterlassen muß. Glücklicherweise aber wieder-
holen sich auch auf diesem Gebiete die Erschei-
nungen, und in diesem Sinne können die Angaben
nachgeprüft werden.
Nachdem Schrenck-Notzing weiterhin in
einem kurzen, aber interessanten Abschnitt über
eigene Untersuchungen an verschiedenen Personen
berichtet hat, gibt er einen ausführlichen Auszug
neuerer Versuche (1915 — 16) des englischen
Forschers Crawford, die gut kontrolliert scheinen,
eine Fülle von Stoff bieten und frühere Erfahrungen
bestätigen und weiterlühren, vor allem aber auch
in theoretischer Hinsicht interessant sind. Hier-
mit schließen (bis auf den schon oben erwähnten
Anhang) die experimentellen Beiträge und es folgen
noch Erörterungen theoretischer Art.
Die erwähnten Untersuchungen über Telekinese
scheinen insgesamt einen eigentümlichen und rät-
selhaften Tatbestand zu enthüllen, daß nämlich,
während nach sozusagen einstimmiger Behauptung
sämtlicher Sachkenner tasrhenspielerischer Betrug
nicht zur Erklärung ausreicht, oft auch überhaupt
ausgeschlossen war, dennoch eine eigenartige
mechanische Vermittlung vorhanden ist,
so daß es sich anscheinend überhaupt um keine
Fernwirkungen handelt. Diese Vermittlung
knüpft sich nach den Autoren an eine eigentüm-
liche plastische Masse, die bei den Sitzungen in
Form von Fäden, Ruten, rüsselartigen, ja säulen-
förmigen Gebilden beobachtet werden kann. Die
Gebilde sind bald mehr weich, halbflüssig, bald
steif und elastisch, dem Auge meist unsichtbar,
gelegentlich aber auch sieht- und photographier-
bar, sogar schwach selbstleuchtend 1 Die proble-
matische Masse geht wesentlich von dem Körper
des Mediums aus, ja aus ihm hervor und vermag
zunächst die verschiedensten mechanischen Wir-
kungen auszuüben, indem sie mit dem Körper des
Mediums dauernd verbunden bleibt und ihn ge-
wissermaßen als Widerlager benutzt. Während
sie emaniert ist, verliert nach Wägeversuchen das
Medium an Gewicht; Crawford will sogar in
einzelnen Fällen Gewichtsverluste bis gegen 25 kg
festgestellt haben (?), was ungefähr der Hälfte des
Körpergewichts seines Mediums entsprach. Bei
Störungen oder am Schlüsse der Sitzung kehrt
die rätselhafte Substanz in den Körper des Mediums
zurück. Sie ist ferner lichtempfindlich und besitzt
noch eine ganze Reihe anderer bestimmbarer
Eigenschaften. Die merkwürdigste und unglaub-
lichste von allen ist aber jedenfalls die, daß sie
auch unter psychischer Kontrolle des
Mediums steht: sie handelt den Vorstellungen,
Wünschen usw. desselben entsprechend, wie ein
intelligent geführtes Glied. Und ncch einen Schritt
weiter: Schrenck-Notzing und andere Forscher
vertreten die Auffassung, daß die gleiche Masse
in einem weiterentwickelten Zustande die Trägerin
der Materialisationsphänomene sei, daß sie also
selbsttätig Gestalten anzunehmen vermöge, die
den Vorstellungen des Mediums mehr oder minder
entsprechen, je nachdem diese selbst entwickelt
sind.
Es braucht kaum besonders hervorgehoben zu
werden, daß wir einen derartigen Zustand der
Materie anderweit noch nicht kennen und daß
seine endgültige Bestätigung uns Rätsel über Rätsel
aufgeben würde. Demgegenüber ist wesentlich,
daß es sich nach Angabe der verschiedenen Unter-
sucher nicht etwa um ein hypothetisches Gebilde,
sondern um beobachtete Tatsachen handelt: die
Materie sei gesehen, gewogen, gefühlt, photogra-
phiert worden, nach wesentlich übereinstimmenden
Berichten verschiedener voneinander unabhängiger
Autoren, die natürlich bis auf weiteres die volle
Verantwortung für ihre Angaben übernehmen
müssen.
Der gegenwärtige Stand der Frage, wie ihn
Schrenck-Notzings neues Buch darlegt, scheint
mir auch für kritisch ablehnende Kreise, ja gerade
für solche, in doppelter Hinsicht bemerkenswert.
Erstlich ist erfreulich der behauptete Nachweis
einer mechanischen Vermittlung bei der Telekinese,
die die Annahme materieller Fernwirkungen er-
spart. Der zweite Punkt ist allgemeiner Art: es
kann kaum zweifelhaft sein, daß, nachdem diese
Dinge soweit gediehen sind, also die Behauptung
objektiv nachweisbarer stofflicher Emanationen
bekannter Herkunft, wenngleich unbekannter Natur
zur Diskussion steht — daß es dann bis zu einer
endgültigen, allgemein anerkannten Entscheidung
unmöglich mehr weit sein kann. Denn Nach-
prüfungen — natürlich an geeigneten Personen —
und erneute objektive Feststellungen erscheinen
unter diesen Umständen mit gleicher Sicherheit
möglich wie bei jeder anderen rein naturwissen-
schaftlichen Frage, so daß man voraussichtlich
bald wissen wird, ob derartige Emanationen all-
gemein bei solchen Versuchen vorkommen. Das
wäre ein begrüßenswerter Fortschritt zur Aner-
kennung und Aufklärung dieser noch so rätsel-
haften physikalischen Erscheinungen des Mediumis-
mus. Indem Schrenck-Notzing, teils be-
richtend, teils auf Grund eigener Forschung, in
Zusammenfassung alles bisher Ermittelten die
Sache auf diesen entscheidenden Punkt geführt
hat, hat er der okkulten P'orschung einen Dienst
erwiesen , den auch grundsätzliche Gegner aner-
kennen werden.
Ich versage mir, auf weitere Einzelheiten ein-
zugehen. Nur möchte ich zum Schlüsse noch be>
i88
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. i:
merken, daß in diesen Zeilen bewußt davon ab-
gesehen wurde, den behaupteten Erscheinungen
gegenüber einen grundsätzlich ablehnenden Stand-
punkt zu entwickeln. Bei aller Problematik im
einzelnen besteht doch kein triftiger Grund, die
Möglichkeit derartiger Dinge a priori zu verneinen.
Ist dem aber so, dann ist auch niemand berechtigt,
aus allgemeinen Gründen anzunehmen, daß alle
voneinander unabhängigen wirklichen Untersucher
Opfer unerklärlicher Täuschungen geworden seien,
während der Kritiker aus der Entfernung und
ohne eigne Kenntnis der behaupteten Erschei-
nungen zu einem negativen Urteil befugt sei.
V. Wasielewski.
Luschan, F. v., Die Altertümer von Benin.
Herausgegeben mit Unterstützung des Reichs-
kolonialministeriums, der Arthur Bäßler- und
Rudolf Virchow - Stiftung. Veröfifentlichungen
aus dem Museum für Völkerkunde VIII— X.
522 S. 129 Tafeln in Lichtdruck und 24 Er-
gänzungstafeln in Autotypie, 889 Textabbildgn.
Berlin und Leipzig 1919, Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co.
— Preis; Textband kartoniert und 2 Tafel-
mappen 250 M.
Dem vorliegenden Werk gebührt in der großen
Zahl der völkerkundlichen Veröffentlichungen aus
den beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein
Ruhmesplatz. Nicht allein deswegen, weil es durch
seine Ausstattung hervoiragt, sondern auch, weil
es eine der gediegensten Leistungen deutscher
Gelehrtenarbeit überhaupt darstellt. Mit unermüd-
lichem Sammelfleiß hat sein Verfasser in jahr-
zehntelanger Arbeit zusammengetragen, was ihm
an Altertümern aus Benin auf dem Kunstmarkte
begegnete oder was er in Museen des In- und
Auslandes ermitteln konnte. Wiederum in jahr-
zehntelanger Arbeit hat er dieses Material dann
gesichtet und innerlich verarbeitet, um allen Fein-
heiten gerecht zu werden, aber auch um alle
Fälschungen auszuscheiden. Dazu brauchte er
eine große Sammlung von Originalstücken; und
diese Sammlung hat v. L. in Berlin geschaffen.
Gerade dies Verdienst ist gar nicht hoch genug
anzuschlagen, zumal wenn wir den Umfang dieser
Sammlung im Vergleich mit denen des Auslandes
überblicken. In die englischen Sammlungen sind
von den heute festzustellenden rund 2400 Benin-
altertümern überhaupt nur 507 Stück gelangt.
1249 Stück kamen nach Deutschland, davon nach
Berlin allein dank des geschickten musealpoliti-
schen Wirkens v. L.s nicht weniger als 580 Stück.
Diese wertvolle Monographie der afrikanischen
Kunstgeschichte hat der Verf., gewiß ein schönes
Zeichen der Dankbarkeit, dem Nestor der Afrika-
forschung Georg Schwein furth gewidmet,
der als einer der ersten durch sein Werk „Artes
africanae" unsere Augen auf die afrikanische
Kunst lenkte, wie er überhaupt für die ganze
Afrikaforschung mit die Grundlagen schuf.
Benin war die Hauptstadt eines Königsreiches
an der Westküste von Afrika. Wohl haben sich
in der europäischen Literatur schon aus dem
17. Jahrhundert Berichte über dieses Königreich
erhalten, die sich gar nicht genug tun konnten in
der Schilderung des Glanzes und der Herrlichkeit,
die ihre Verff. am Königshofe von Benin mit
eigenen Augen gesehen hatten. Aber all diese
Berichte waren in Vergessenheit geraten und
Benin selbst nicht weiter beachtet worden. Ge-
wissermaßen durch einen Zufall trat dann Benin
gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Vorder-
grund des Interesses der Afrikaforschung. 1897
wollte ein britischer Regierungskommissar dem
König von Benin einen Besuch machen. Der
König verbat sich diesen Besuch. Der Brite
wollte jedoch seinen Willen durchsetzen. Da
wurde er und seine Expedition überfallen, nur
zwei Mitgliedern gelang es rieh zu retten. Sofort
sandte England eine Flotte von 9 Kriegsschiffen
nach Benin, die die Stadt erobern und alles dem
Erdboden gleich machen mußte. Um die Stadt
selbst, um ihre Denkmäler hat sich dabei niemand
weiter gekümmert. Kaum gelangten jedoch die
ersten bei der Eroberung gemachten Beutestücke
nach Europa, da erregten sie durch ihre Technik,
die durchweg auf der Höhe des überhaupt Er-
reichbaren steht, und durch die Originalität ihrer
Darstellungen die Aufmerksamkeit der Gelehrten,
die Museen begannen in der Erwerbung von
Beninstücken zu wetteifern, und die Nachfrage
nach Beninaltertümern wurde schließlich so groß,
daß ein lebhaftes Fälschergewerbe einsetzte. Über
20 Jahre sind seitdem vergangen. In ihrem Ver-
lauf haben sich viele mit dem Studium der Benin-
kunst beschäftigt, und die Rätsel, die sich an ihre
Entstehung anknüpften, zu lösen versucht. Letz-
teres wäre ja nun eigentlich Aufgabe der eng-
lischen Forschung gewesen, da ja Benin zum eng-
lischen Machtbereich gehörte. Aber gleichwie
die Deutschen seit der Entdeckung der ersten
Beninaltertümer das meiste Interesse für diese
bekundet und die meisten und wertvollsten Stücke
für ihre Museen zu erwerben wußten, so mußte
es auch ein deutscher Gelehrter sein, der das
Fundamentalwerk über diese Funde schuf.
Innerhalb der afrikanischen Kunst nehmen die
Beninaltertümer eine ganz eigenartige Stellung ein.
Ihre Hauptwerke bilden Bronzegußwerke der
allermannigfaltigsten Art: Platten mit Darstellun-
gen von Europäern und Eingeborenen, alle wunder-
voll modelliert und Meisterwerke der Gußtechnik,
Rundfiguren von Hähnen, Leoparden und Schlan-
gen, überlebensgroße Köpfe von Männern und
Frauen, gleichfalls überlebensgroße Gruppen aus
dem Hofstaat, daneben aber auch Kleingerät:
Glocken, Schellen, Anhänger, Armbänder, Lampen,
Schlüssel usw., aber auch Waffen und Geräte.
Weiter findet sich aber auch eine hochentwickelte
Schnitzkunst, die als Material sowohl Holz als
auch Elfenbein verwendet und mit den mannig-
faltigsten Darstellungen ausschmückt.
Zwei Fragen waren es vor allem, welche die
N. F. XX. Nr. i:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
189
Gelehrten beim Studium dieser Kunst fesselten.
Zunächst einmal die Frage nach dem Alter
dieser Kunst. Seit 1897 hat es an Theorien
und Hypothesen darüber nicht gefehlt. Ihnen
ging jedoch v. L. aus dem Wege; er ließ sich
lediglich durch ein Studium des IVlaterials selber lei-
ten. Da waren es vor allen Dingen die Platten mit
den Darstellungen von Europäern, die sich durch
die dort dargestellte Tracht, die Bewaffnung usw.
gut datieren ließen; fast alle diese Platten stam-
men aus dem 16., vielleicht erst aus dem 17. Jahr-
hundert. Aus stilistischen Gründen muß man auch
die große Zahl der übrigen Platten derselben Zeit
zuweisen. Hingegen finden sich einige Platten,
die vielleicht älter, andere, die sehr viel jünger
sind. Es gibt sogar solche, die erst nach 1897,
nach der Zerstörung von Benin, hergestellt sind.
Die Beninkunst läßt sich also über vier Jahr-
hunderte hindurch verfolgen. Innerhalb dieses
Rahmens lassen sich auch das Kleingerät und die
Schnitzfunde einordnen.
Wie aber ist die Kunst selbst zu-
stande gekommen? Als einheimische auto-
chihone Kunst konnte sich vor allen Dingen die
hochentwickelte Gußtechnik niemand denken ;
deutsche Artilleristen, indische Gelbgießer, portu-
giesische Juden wurden deshalb als wahre Väter
von alle dem, was gut und schön war, gemut-
maßt. Nach V. L.s Forschungen lassen sich euro-
päische Einflüsse gewiß auch an den Beninalter-
tümern nicht verkennen, dazu kommen aber
solche aus fast allen afrikanischen Nachbargebieten.
V. L. ist grundsätzlich der Meinung, daß die Kunst
von Benin bodenständig im besten Sinne des
Wortes sei, „rein afrikanisch durchaus und aus-
schließlich ganz allein afrikanisch".
Gerade durch die zielbewußte methodische
Lösung dieser beiden Fragen hat v. L. neue Grund-
lagen und neue weite Ausblicke für die gesamte
Afrikaforschung geschaffen, auf die die deutsche
Forschung stolz sein kann.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Schroeder, H., Die Stellung der grünen
Pflanze im irdischen Kosmos. 93 S.
Berlin 1920, Gebr. Bornträger. Brosch. 8 M.
In höchst geistvoller Weise macht der Verf.
ein gebildetes Laienpublikum mit der Bedeutung
der grünen Pflanze für das Gesamtleben auf der
Erde bekannt. Das Wesen der Kohlensäure-
assimilation wird unter dem Gesichtspunkt des
Gesamtumsatzes von chemischer Energie eingehend
gewürdigt und den meisten Lesern , für die das
Buch bestimmt ist, wird wohl zum ersten IMale
klar werden, daß die grüne Pflanze eine ganz be-
sondere Stellung in ihrem Leben einnimmt. Wenn
der Leser alle Einzelheiten vergessen haben wird,
so wird ihm als dauernder Gewinn aus der Lek-
türe des Schroederschen Buches das Bewußt-
sein bleiben, bisher an einer Erscheinung vorbei-
gelaufen zu sein, deren problematische Bedeutung
er nicht erkannt hatte. Er wird sich merken, daß
das Tier und alle nicht grünen Pflanzen chemische
Energie vernichten, während die grüne Pflanze
diese unter Verwertung der Sonnenenergie er-
zeugt.
Der Verf. legt besonderes Gewicht darauf, daß
dem Leser populärwissenschaftlicher Vorträge
oder Abhandlungen ein Gewinn bleibt, ohne daß
er sich als Dilettant mit dem vorgetragenen Tat-
sachenmaterial eingehender beschäftigt, und er
sieht die Aufgabe populärwissenschaftlicher Schrift-
steller darin, „einen großen Gesichtspunkt, der
allseitig gesicherter Besitz wissenschaftlicher Er-
kenntnis sein muß, der Allgemeinheit zu er-
schließen". Der Autor soll keine Proselyten
machen und keine Tatsachen lehren, „weil bei
den Zuhörern die Muße zu einer fortgesetzten,
gründlichen, also mehr als Halbwissen zeugender
Weiterarbeit in dem berührten Gebiete nicht
vorauszusetzen ist" und „weil mühelos erworbenes,
nicht erarbeitetes Wissen ohne auffrischende Wieder-
holung keinen Bestand hat". Dieser Standpunkt
des Verf. scheint dem Referenten recht beachtens-
wert und gerade in einer Zeitschrift, deren Leser
wohl durchweg auf einem anderen Standpunkt
stehen, besonders hervorgehoben werden zu
müssen.
Unsere ganze populär - naturwissenschaftliche
Literatur ist, im Grunde genommen, hervorge-
gangen aus Opposition gegen die einseitige Be-
tonung der historisch philologischen Wissenschaf-
ten auf unseren Schulen, denen infolgedessen
keine Zeit bleibt, naturwissenschaftliche Fragen
mit derselben Gründlichkeit zu behandeln wie
Sprachen, Geschichte und Mathematik. Die natur-
wissenschaftlichen Schriftsteller haben daher den
Wunsch, ihre Wissenschaft außerhalb der Schule
der Jugend und den sich ihrer mangelhaften
naturwissenschaftlichen Bildung mehr oder weniger
bewußt gewordenen Erwachsenen zugänglich zu
machen. Sie arbeiten, im Gegensatz zu Schroe-
der, in der Regel darauf hin, Proselyten zu
machen, Tatsachen zu lehren und die Leser an-
zuregen, sich privatim mit dem Gelernten weiter
zu beschäftigen, damit sie sehen, daß es außer
der Welt der sog. Geisteswissenschaften noch eine
andere gibt, die ihnen von Rechts wegen nicht
vorenthalten werden dürfte. Daß in der populär-
wissenschaftlichen Literatur sehr viel Minderwerti-
ges produziert wird, das besser ungeschrieben
geblieben wäre, ist nicht zu leugnen. Daß durch
den Dilettantismus Halbbildung großgezogen wer-
den kann, steht ebenfalls fest. Aber das finden
wir nicht nur auf naturwissenschaftlichem Gebiet,
sondern überall, wo dilettiert wird. Und doch
ist gerade ernsthafte Liebhaberarbeit etwas, was
den Berufsmenschen über die fade Alltäglichkeit
emporhebt, und wie Dilettantismus in der Musik
z. B. unmerklich in Kunst übergehen kann, er-
leben wir doch täglich. Wir wissen, wie die
Amateurphotographie die Berufsphotographie im
günstigen Sinne beeinflußt hat, wir sehen gerade
auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, wie aus
tgo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 12
Dilettanten ernste Forscher geworden sind. Un-
sere ganze Floristil< liegt fast ausschließlich in
Händen von Liebhabern, und wenn man sieht,
wie in den Kursen der mikrobiologischen Gesell-
schaft und ähnlichen Einrichtungen die Teilnehmer
mit regem Fleiß und großer Begeisterung sich in
die mikroskopische Welt einleben, so zeigt das
doch, daß ein Bedürfnis nach dilettantischer Ar-
beit vorhanden ist und daß sie auch geleistet wer-
den kann. Nun interessiert sich der geistig rege
Mensch aber noch für mehr Dinge als er arbeitend
bewältigen kann ; er ist manchmal gezwungen, zu
blättern, anstatt zu lesen, er muß hier und da
nippen anstatt zu trinken und für solche F"älle
scheint dem Ref. die Schro edersche Methode
allerdings brauchbar und wertvoll, besonders für
den gebildeten Leser, der über „Denkvermögen
und Urteilskraft" verfügt. Die große Masse, die
geistig weniger geschult ist, sollte man allerdings
auf etwas andere Weise mit den Wissenschaften
bekannt machen. Die Unterschätzung der geistig
Arbeitenden, wie wir sie gegenwärtig beobachten
können, liegt zum Teil gerade daran, daß Vor-
tragende versuchen, mit Hilfe von Lichtbildern
usw. den Hörern in einer oder wenigen Stunden
mit den in langjähriger Forschung gewonnenen
Ergebnissen bekannt zu machen. Diese Vortragen-
den gehen vielleicht von ähnlichen Gedanken aus
wie Schröder, aber sie vergessen dabei, daß
ihr Hörerkreis durchaus nicht in der Lage ist, zu
beurteilen, mit wie großer Mühe oft der geringste
wissenschaftliche Forlschritt erkauft wird. Aus
dieser Erkenntnis heraus versucht man wohl, in
sog. Arbeitsgemeinschaften das Publikum ernst-
hafter zu beschäftigen, aber wirklichen Erfolg
wird man nach Ansicht des Ref. erst dann er-
zielen, wenn man in Anlehnung an den Beruf den
Volksschüler zu bilden sucht. Das im einzelnen
auszuführen, ist hier nicht der Ort; es sollte nur
darauf hingewiesen werden, daß für die Mehrzahl
der Menschen derjenige Dilettantismus zu bevor-
zugen ist, der eine gewisse dauernde Tätigkeit
bedingt. Wächter.
Hertwig, O., Die Elemente der Entwick-
lungslehre des Menschen und der
Wirbeltiere. Anleitung und Repetitorium
für Studierende und Ärzte. 6. Aufl. 4QC S
Jena 1920, G. Fischer. — 30 M.
In der 6. Auflage haben die bekannten „Ele-
mente O. Hertwigs nach und nach den erheb-
lichen Umfang von fast 500 Seiten erlangt. Sie
sind daher mehr selber ein Lehrbuch geworden
als ein kurzer Auszug aus dem Lehrgegenstand,
fuhren aber gleichwohl den Namen „Repetitorium"
insofern mit Recht, als jedem Kapitel kurze Re-
kapitulationen in Gestalt zusammenfassender Sätze
angehängt sind. Somit werden sie ihrem Zwecke
vortrefflich dienen, für manchen Benutzer besser
— nach meiner Ansicht — als in früherer Zeit,
wo sie wesentlich kürzer waren und jeder nach
Vertiefung Strebende lieber zu dem „Lehrbuch"
desselben hochverdienten Verfassers griff. Das
„Lehrbuch" liegt jetzt in zehnter Auflage (iQii;)
^°^- V. Franz (Jena).
Günther, H., Was ist Elektrizität? Er-
zählungen eines Elektrons. Autorisierte freie
Bearbeitung nach dem Enghschen des Ch. R.
Gibson. 124.— 133. Tausend. 102 Seiten mit
37 Abbildungen. Stuttgart 1920, Kosmos-Ge-
sellschaft der Naturfreunde, Franckhsche Ver-
lagshandlung. Geh. 3,60 M. und Teuerungs-
zuschlag.
Die vorliegende Schrift will, den Zielen der
Gesellschaft Kosmos entsprechend, weitesten
Kreisen in volkstümlich anschaulicher Weise die
gegenwärtige elektronentheoretische Deutung der
elektrischen, magnetischen und optischen Er-
scheinungen verständlich machen. Die gewählte
Darstellungsform — das Elektron tritt selbst als
Erzähler auf — ist hierzu zweifellos trefflich ge-
eignet, und die selbst für ein volkstümlich-wissen-
schaftliches Buch fast beispiellos hohe Zahl der
notwendig gewordenen Auflagen deutet auf weit-
gehendes Interesse an der Schrift hin. Es ist
nur sehr zu bedauern und für deutsche Verhält-
nisse leider bezeichnend, daß es zur Erreichung
dieses Erfolgs der Übertragung eines englischen
und daher naturgemäß englisch gerichteten, dazu
auch sachlich keineswegs einwandfreien (siehe
z. B. die Seiten 16, 29, 85, 86, 92 und unter den
Abbildungen namentlich Nr. 35) Originals be-
durfte. A. Becker.
Es ist ein Gefühl der Treue, das mich bitten macht, zu
der Frage „Haeckels Monismus eine Kulturgcfahr" das Wort
ergreifen zu dürfen. Ich darf das deshalb tun, weil ich als
leidender Teil mitreden kann und die Wirkung Haeckels
noch zu einer Zeit erfahren habe, da ich noch nicht natur-
wissenschaftlich geschult war und ich darf es tun, obwohl
ich nur recht wenig das Glück hatte, persönlich mit dem
Forscher zusammen zu sein. Ich bin auch der Anschauung,
daß die mechanistische Weltanschauung ein Unglück für
unser Volk war und ist; wenn ich aber an die Zeit
zurückdenke, wo ich Mittelschüler war, um die Wende der
80er und 90er Jahre, so war es damals nicht Haeckel, der
besonders von uns gelesen wurde — ich war der einzige meiner
Anregungen und Antworten.
Mitschüler der zu seinen Werken kommen konnte — sondern
Büchners Kraft und Sioff und Heigels Spaziergänge eines
Atheisten. Wenn später von den Arbeitern die Worlgebungen
Haeckels mehr gebraucht wurden, so kommt das nur da-
her, weil er im Vergleich zu den anderen der Jüngere ist.
Der Marxismus würde aber zu seiner Verbreitung ohne Haeckel
eben die Worte anderer gebraucht haben. Ich meine, schuld
daran, daß wir als MiUelschüler Haeckel nichts entgegen
zu setzen wußten, waren die Gegner Haeckels, die uns so
jämmerlich im Stiche gelassen haben. Für uns war Haeckel
der Einzige, der mit schwungvollen Worten uns Ziele in der
Zukunft wies. Unsere Lehrer waren alle keine Anhänger
Haeckels, nur wußten wir nicht recht, wem sie anhangen.
N. F. XX. Nr. 12
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
191
Haeckel ist nicht schuld, dafl der deutsche Idealismus da-
mals als abgetan galt und wir nicht angeleitet wurden, uns mit
ihm zu beschäftigen. Ich möchte glauben, daß der deutsche
Idealismus den Leuten rechts zu wenig christlich, den Leuten
links zu wenig drmokratisch und dem in der Mitte, im Schatten
des Bismarckreiches schlafenden Spießertum zu aufregend war.
Haecke 1 ist unschuldig daran, daß tür mich, wenn ich nicht
von anderwärts mir darüber Kunde geholt hätte, beim Ab-
gang von der Mittelschule die Phlogistonlchre noch ruhig
hätte zu Recht bestehen können. .■\uch daran ist Haeckel
nicht schuld, daß uns, wenn unsere völkische Begeisterung
sich in viell.-icht etwas zu großen Worten ausließ, von unseren
Lehrern kalte, spöttische Abweisung zu Teil wurde. Ich
spreche von bayerischen Verhältnissen. Auch daran ist er
nicht schuld, daß die Einführung in die Philosophie damals
so versandet war, daß man lieber auf die Philosophie in den
Mittelschulen ganz verzichtete. Es ist immer so gewesen, daß
das, was in den geistig gehobeneren Schichten getan wird,
nach einigen Jahrzehnten in den einfacheren Volksschichten
nachgemacht wird, wenigstens ist das mit den schwachen
Seiten der Fall, und deshalb ist die Weltanschauung H a e c k e 1 s
oder sagen wir sind Trümmer davon jetzt in der Arbeiter-
schaft lebendig. Der Zusammenbruch und die Verhöhnung
der deutschen idealistischen Philosophie und, damit zusammen-
hängend, die spöttische Abweisung alles dessen, was deutsche
Geschichte und deutscher Staat heißt — wußten wir doch von
Hegel nichts, als dafl er der königlich preußische Staats-
philosoph gewesen sei — das ist die Wurzel der heutigen
lieblosen Gesinnung.
Haeckel ist freilich sehr oft der Versuchung unterlegen,
mit dem Stoßdegen zuzustoßen, nur weil sich gerade ein
schmucker Hieb anbringen ließ, aber ich glaube, Haeckel
wäre mit seinen Gegnern gerechter gewesen, wenn man mit
ihm gerechter gewesen wäre, und ich glaube, wo er das Ge-
fühl hatte, daß man seine Lebensaufgabe, die er nun doch in
der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre sah, unterstützen
wolle, da war er zu weitgehenden Zugeständnissen an die
gegnerische Anschauung bereit. Ich glaube, wenn Haeckel
nur einigermaßen ihm gleich hochsiunige Kirchenlehrer ge-
funden hätte, so hätte er im Streite mit ihnen manches ge-
lernt und manches an seinen Lehren geändert und vertieft.
Daß er dazu bereit war, das hat er doch wohl gezeigt, als er
seine Eiwilligung gab, daß als erster Vorsitzender des Monislen-
bundes ein Pastor (Kalthoff) gewählt wurde. Ich glaube,
daß unter den damaligen Gründern des Monistenbundes ich
nicht der einzige war, der diese Wahl bestätigte mit dem Ge-
danken, dadurch das öde Freidenkertum abzuhalten. Haeckel
sagte damals zu mir, daß er den Freidenkertag in Rom für einen
Reinfall ansehe. Aus demselben Grunde der Abhaltung der Ploß-
freidenker hat sich meines Erinnerns der Ausschuß des Monisten-
bundes damals eine scharfe Verfassung gegeben. Und als ich
später in einer Flugschiift „Die .<^e.\uelle Frage und der Sinn des
Lebens" behauptete, daß mit der Aufstellung des Gottes des
Wahren, Guten und Schönen Haeckel eigentlich auf die
praktische Vernunft Kants und die Forderungen Gott, Frei-
heit und Unsterblichkeit zurückgekehrt sei, da hat mir das
wohl meinen monistenbündlichen Kopf gekostet, aber Haeckel
hat es mir nicht übel genommen. Haeckel hat in einer
Zeit der Dürre, da uns dürstete nach Weltanschauung als
einziger uns Ziele in der Zukunft für unser Streben gewiesen.
Haeckel wollte nicht Volksführer sein und war in vielem
über die volkstümliche Wirkung seiner Werke erstaunt, aber
er war Prediger seiner Entwicklungslehre und das war sein
gutes Recht. Daß er damals der einzige Prediger war, der
sich Gehör zu verschaffen wußte, daß er nicht gezwungen
wurde, in manchem sich auf geübtere Streiter einzurichten,
das war nicht seine Schuld, Wir hätten gerne auch einem
anderen unser Ohr geliehen, wenn er zu uns gekommen wäre.
Ich meine für die philosophische Ermüdung Deutschlands nach
Hegel, für die philisterhafte Spießbürgerlichkeit und die
zersetzende Ausländerei, die die Gedanken der Aufklärung
unverdaut von Welschland herübernahm, dafür kann Haeckel
wirklich nichts, und vor allem kann er nichts für die Er-
ziehung zur Begeisterungsunfähigkeit, die uns zu Teil geworden
'^'- Dr. med. F. Siebert, Bezirksarzt.
Woher stammt der Name „Köppernickel" für Meum
athamjinticum im östlichen Erzgebirge! Zu den Charakter-
pflanzen des botanisch außerordentlicTi interessanten östlichen
Erzgebirges zählt die Bärwurz (Meum athamanticum). Zwar
kommt die aromatisch duftende Pllanje mit den haarfein ge-
fiederten Blättern und gelbhchweißen Blütendolden auch im
übrigen Erzgebirge und den tiefer gelegenen Landstrichen
Sachsens vor, aber nirgends in solchen Massen wie auf den
Wiesen und an den Wald- und Wegrändern in der weiteren
Umgebung des Geisingberges im östlichen Erzgebirge. Die
Pflanze wird in der Literatur vielfach als eines der besten
Milch- und Fuiterkräuter bezeichnet. Auf Grund jahrelanger
eigener Beobachtung habe ich allerdings feststellen können,
daß diese Ansicht ganz und gar nicht zutrifft. Man kann sich
leicht davon überzeugen ; denn die Bärwurz wird vom Weide-
vieh überhaupt nicht gefressen. Die Wiesen werden um die
Uärwurzstöcke sauber abgeweidet, die Stöcke aber stehen ge-
lassen, so daß die Weide bald voll grüner Blatthaufen steht.
Das gleiche ist im Schwarzwald und den Vogesen der Fall,
weshalb Prof. Dr. Klein in seinem Werke „Unsere Wiesen-
pflanzen" mit Recht annimmt, daß anscheinend eine Ver-
wechslung mit der Alpenbärwurz (Meum mutellina) vorliegt,
wenn man unsere Bärwurz für eine gute Futterpflanze erklärt.
Merkwürdig ist nun der Umstand, daß man den Namen „Bär-
wurz" für die Pflanze im ganzen östlichen Erzgebirge nicht kennt.
Sie führt dort die rätselhafte Bezeichnung ,, Köppernickel,
Keppernickel oder Käppernickel". Die Samen der übrigens
dort sehr volkstümlichen Pflanze heißen „Pferdekümmel".
Volkstümlich ist sie besonders deswegen, weil man ihre jungen
Triebe als Einlage bei der Herstellung der ,,Köppernickel-
suppe" und ihre kräftigen, stark aromatisch duftenden Wurzeln
zum Aufsetzen des „Köppernickelschnapses" verwendet. Frei-
lich sind diese beiden Genußmittel, deren Herstellung einst
weit verbreitet war, heute nur noch älteren Leuten bekannt.
Vor einiger Zeit wurde ich nun vom Landesverein Sächsi-
scher Heimatschutz mit der Ermittlung über Herkunft und
Bedeutung der Bezeichnung „Köppernickel" für Bärwurz be-
auftragt. Der Bevölkerung in dem in Frage kommenden Land-
striche ist nichts darüber bekannt, in botanischen Büchern ist
nichts zu finden, ja der Name nicht einmal .angeführt. Selbst
W ü n s c h e - S c h o r 1 e r , Die Pflanzen des Königreichs Sachsen,
worin doch zahlreiche Vulgärnamen verzeichnet sind, versagt.
Ich zog die Wörterbücher von Sanders, Schiller und
Lübben usw. zurate, kam aber zu keinem Ergebnis. Ledig-
lich gibt MüUer-Fraureuth in seinem Wörterbuch der
obersächsischen Sprache an, daß man mit dem Namen Käp-
pernickel um Oschatz in Sachsen den Wiesenkerbel (Anthriscus
silvestris) bezeichne. Da der Kerbel in der Blüte eine ge-
wisse Ähnlichkeit mit unserem Köppernickel hat, liegt hier
entweder eine Verwechslung oder eine freie Übertragung des
Namens auf eine andere Pflanze vor. Ich mußte also schon
tiefer forschen, um zu einem Ergebnisse zu kommen und ich
glaube, daß mir die Lösung dos Rätsels gelungen ist. Ich
möchte jedoch nicht verfehlen, Fachgenossen um Meinungs-
äußerung zu nachstehenden Ausführungen zu bitten.
Die Gegend, wo der Name Köppernickel gebraucht wird,
ist ein uraltes Bergbaugebiet. Ich nehme an, daß der Name
urspiünglich „Kupfernickel" bedeutete und dieses Wort war
in der alten Bergmannssprache gebräuchlich. Unser Metall
Nickel ist in seiner heutigen Form als reines Metall erst seit
dem Jahre 1751 bekannt. Das Nickelerz wurde früher für
Kupfererz gehalten. Weil es aber aller Versuche, es auf
Kupfer zu verhütten, spottete, wurde es als Nickel (in der
Bedeutung Racker) bezeichnet und Kupfernickel genannt; es
gibt bestimmte Anhalte und Beweise für die Entstehung dieses
Wortes. Als schließlich die Herstellung des reinen Metalls
gelang, behielt es den Namen Nickel. Derartige bergmännische
Schimpfnamen für Erze, mit denen man nichts rechtes anzu-
fangen wußte, die nur im Wege lagen und die Halden füllten,
gab es noch mehrere; es sei nur an den Kobalt erinnert,
dessen Name Kobold bedeutet, weil es die \'eihüttung er-
schwerte und werllos und unnütz erschien, bis es als Aus-
gangsstotfder blauen Porzellan-Unterglasurfarbe bekannt wurde.
Unter Kupfernickel verstand man also ein Erz, das in
Menge vorkam, im Wege lag und wertlos war, weil man da-
mit nichts anzufangen wußte. Das gleiche galt nun von der
Bärwurz der Erzgebirgswiesen; auch sie kommt in Menge vor,
192
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XX. Nr. 12
bedeckt oft die ganze Wiese, erstickt andere Futterkräuter mit
ihrem dichten Blattstande, wird vom Weidevieh nicht gefressen,
ist also auch ein wertloser Nickel oder Racker. Es erscheint
mir deshalb im hohen Grade wahrscheinlich, daß der Name
Kupfernickel zuerst von den Bergleuten auf die Bärwurz über-
tragen nnd dann schließlich so allgemein gebräuchlich wurde,
daß der anderwärts verbreitete Name Bärwurz im östlichen
Erzgebirge völlig verloren ging. Die Vermutung wird noch
dadurch gestützt, daß in niederdeutscher Mundart die Be-
zeichnung für Kupfer ,,Köpper oder Köper" lautet; die ersten
Bergleute des Erzgebirges stammten aus dem Harz ; sie haben
also vermutlich das Wort in dieser Form mit anderem, heute
noch erhaltenem niedersächsischen bergmännischen Sprachgut
in das Erzgebirge verpflanzt. Die grüne Farbe der meisten
dafür in Frage kommenden Erze dürfte das übrige bei der
Übertragung des Wortes auf die Pflanze getan haben.
A. Kiengel, Meißen.
Für das Zodiakallicht haben wir mehrere Erklärungen.
Zunächst die von See liger. Er faßt es auf als einen Ring
um die Sonne, eine kosmische Wolke, deren innerer Radius
0,24 ist, also innerhalb der Merkurbahn liegt, während der
äußere Radius I,zo ist, also etwas jenseits der Erde liegt. Die
Masse des Ringes ist sehr gering, aber ausreichend, um das
vielbesprochene Glied in der Perihelbewegung des Merkur zu
erklären. Schmidt hat unter sehr günstigen Umständen das
Tierkreislicht lange Zeit in der Schweiz beobachtet, er hält
es für den Reflex des Sonnenlichtes an den obersten Schichten
der sehr hohen Erdatmosphäre, und vermag auch alle von ihm
beobachteten Erscheinungen damit in Einklang zu bringen.
Ganz neuerdings hat Fi lehne das Licht als einen Ring um
die Erde erklärt, dessen innerer Abstand von der Erdober-
fläche I '/z Erdradien beträgt. Der Ring hat einen ovalen
Querschnitt, dessen Durchmesser senkrecht zur Verbindungs-
linie nach dem Erdmittelpunkt '/j Radien beträgt, während
der andere, in der Verlängerung jener Linie liegende nicht
angegeben werden kann, da wir nur die inneren Teile sehen.
Die Glazialkosmogonie von Hörbiger verlegt die Ursache
der Erscheinung ebenfalls in einen Ring aus Eisstaub, der um
die Sonne gelegen ist, und sich bis über die Erdbahn hinaus
erstreckt. Da die Erscheinung leider so unbestimmt ist, daß
sie allen Versuchen einer genauen Messung widersteht, so ist
es nicht möglich, durch eine Entfernungsbestimmung unter
diesen Erklärungen zur Auswahl der richtigen zu kommen.
Ludendorf betrachtet das Zodiakallicht als eine Fortsetzung
der Korona, und gibt an, daß seine spektroskopische Unter-
suchung wegen der Lichtschwäche sehr schwierig sei. Es gibt
ein kontinuierliches Spektrum, das mit dem der Sonne über-
einzustimmen scheint, so daß es wohl nur in refiektriertem
Sonnenlichte leuchtet. Riem.
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Die Vorgänge des Lebens in der Vorzeit. Berlin, Gebr.
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Vorwelttorschung. Mit 18 Bildtafeln. Hamburg -Berlin '20,
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Marzell, Dr. H., Neues illustriertes Kräuterbuch. Mit
32 Farbdrucktafeln und zahlreichen Textabbildungen. Reut-
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Lindner, Prof. Dr. P., Photographie ohne Kamera.
Mit 5 Textabb. und 16 Tafeln. Berlin '20, Union.
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beilagen. Leipzig und Wien '20, Bibliographisches Institut.
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Oppenheimer, Prof. Dr. C, Kleines Wörterbuch der
Biochemie und Pharmakologie. Berlin und Leipzig '20, de
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Walther, Prof. Dr. Joh. , Vorschule der Geologie.
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Großmann, Prof. Dr. H., Fremdsprachiges Lesebuch
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Inhalt: P. Dahms, Über Pflanzenabzüge und Weingeist zur Ordenszeit. S. 177. J. Scholl, Einsteins Weltbild eine
Zahlenfiktion? S. 181. — Einzelbeiicbte: S. V. Simon, Stoffstauung und Neubildungsvorgänge in isolierten Blättern.
S. 183. Ratten als Überträger der Trichophytie beim Pferde. S. 183. Schömmer, Die Geschlechtsbestimmung im
Hühnerei. S. 184. H. Leitmeier und H. Hellwig, Versuche über die Entstehung von Tonerdephosphaten. S. 184.
Die Jahreszeittypen. S. 185. Schweinerotlauf bei Lämmern. S. 186. Chine, Die Beziehungen zwischen Tier- und
Menschenpocken. S. 186. — Bücherbesprechungen: A. v. Schrenck-Notzing, Physikalische Phänomene des
Mediuraismus. S. 186. F. v. Luschan, Die Altertümer von Benin. S. 18S. H. Schroeder, Die Stellung der
grünen Pflanze im irdischen Kosmos. S. 189. O. Hertwig, Die Elemente der Entwicklungslehre des Menschen und
der Wirbeltiere. S. 190. H. Günther, Was ist Elektrizität? S. 190. — Anregungen und Antworten; „Haeckels
Monismus eine Kulturgefahr". S. 190. Woher stammt der Name „Köppernickel" für Meum athamanticum im östlichen
Erzgebirge? S. 191. Zodiakallicht. S. 192. — Literatur: Liste. S. 192.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 27. März 1921.
Nummer 13.
[Nachdruck verboten.]
Neue Urkunden über das älteste Haustier.
Von Dr. Ludwig Armbruster,
Privatdozent an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin.
Mit 1 1 Abbildungen.
Die zahlreichsten Nachrichten aus der grauesten
historischen Vorzeit über unser ältestes Haus-
tier, den Hund, besitzen wir aus Ägypten, und
zwar aus der Zeit des sog. „Alten Reiches" 3300
bis 2400 V. Chr. (nach Borchardt etwa 1000
Jahre früher!). Es sind zahlreiche Abbildungen
auf uns gekommen von Künstlern, denen die Tier-
darstellung ehedem besondere Freude und heute
noch besonderen Ruhm brachte. Die Darstel-
lungen z. B. der verschiedenen Antilopenspezies
und -geschlechter sind von solcher Feinheit und
Treue, daß sie heute ohne weiteres als Skizzen-
material für Bestimmungstabellen verwandt werden
könnten, von den vielen Aufschlüssen über Do-
mestikations- und Kulturfragen ganz zu schweigen.
Die Darstellungen des alt ägyptischen Hundes
aus der Zeit des „Alten Reiches" sind bei ihrer
großen Zahl auffallend einförmig und absonder-
lich: ein überaus schlankes hochgestelltes Tier
von ansehnlicher Größe, ein Windhundtyp.
Die stark eingezogenen Lenden, der schlanke Kopf,
die langen Beine und der dürre Leib erinnern an
die heutigen Windhunde. Durchaus fremdartig
ist der im Alten Reiche, soviel ich sehe, stets ge-
ringelt dargestellte Schwanz und die Steh-
ohren (Abb. 1). Erst im mittleren Reiche konnte
ich an Windhundtypen ungeringelte Schwänze
feststellen. Die Hunde wurden den Darstellungen
zufolge in erster Linie zur Jagd verwandt. Es
war ein Nutztier, durch seinen Körperbau ge-
eignet zur Jagd selbst auf die flüchtigen Antilopen
in den weiten wüsten Strecken der angrenzenden
Wüste. Dasselbe Tier diente aber auch neben
der Meerkatze als Luxus tier im Gemach der
Großen des Landes. Es darf während der Morgen-
toilette des Königs unter dem Thronsessel sich
aufhalten, ja seine Jungen säugen. — Ein kräftiges
breites Halsband ist stets sein Wahrzeichen als
Haustier.
Da auch Skelettreste ^) dieses alten in
Ägypten „längst entschwundenen" (?) Hundetypus
vorhanden sind, können wir nachprüfen, inwieweit
die überschlank dargestellte Form der Wirklich-
keit entsprach. Die Abb. 2 zeigt graphisch von
mir wiedergegeben das Zahlenmaterial, das G a i 1 -
lard und Daressy 1905 gewannen i. am alt-
ägyptischen Windhund (untere Kurve), 2. an Lupus
vulgaris (mittlere Kurve), 3. am heutigen Wind-
hund (aus der Gegend von Lyon (obere Kurve)).
Die Maßzahl für den Femur des letzteren scheint
mir (durch Schreib- oder Druckfehler) unrichtig
wiedergegeben (212 statt 222).
Vergleichen wir die verbesserte (punktierte)
obere Kurve mit der unteren, so finden wir, daß
die entsprechenden Knochenlängen der beiden
Windhunde ähnliche Proportionen bilden. Der
alte Windhund ist also nur eine etwas verkleinerte
Ausgabe des modernen. Auf keinen Fall ist der
alte Windhund weniger schlank. Vielmehr ist
dessen Oberarm und Oberschenkel deutlich
schlanker (relativ länger).
Ich finde nicht, daß das
Urteil der französischen
Autoren berechtigt ist: der
alte Windhund nähere sich
mehr dem Wolf als dem
modernem Windhund. Der
Brustkorb des alten Wind-
hunds war ebenfalls deutlich
tief, tiefer als auf den meisten
altägyptischenDarstellungen.
Der bei G a i 1 1 a r d und D a -
Abb. I.
Abb. 2.
•) Gaillard et Daressy 1905, La faune mumifie de
l'antique Egypte. Cairo. Taf. i u. IV.
r e s s y (1. c. Taf. IV) wiedergegebene Schädel dieser
Windhundform des alten Reiches (leider ist nur ein
einziges Exemplar untersucht, soviel ich sehe) ist
von oben gesehen nicht übertrieben schlank, so
daß wir als sicher annehmen dürfen, daß Formen,
wie die auf der Darstellung „Wüstentiere" (Ber-
liner Museum Nr. 1132 Relief aus dem Grabe des
Pehenuka) nicht mehr ganz naturgetreu sind und
mehr in eine Linie mit unseren Mode- und Sport-
bildern zu rücken sind. Es wäre freilich mög-
lich, daß die sport- züchterische Bevorzugung der
schlanksten Formen auch übertriebene Schlank-
formen da und dort „hervorgerufen" hat. Die
Jugend form dieses stehohrigen Windhundes ist
uns ebenfalls im Bilde erhalten. Die Ohren sind
1^4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. ti
hier weder stehend noch nach hinten gerichtet,
sondern deutlich hängend. Wer etwa zweifelte,
ob der kleine Hund aus dem Grabe des Ptah-
hotep (Sakkarah) nicht etwa eine neue Hundeform
sei, der sei hingewiesen auf die säugende Hündin
mit ihren 3 Welpen bei Da vi es (The Rock
Tombs of Deir el Grabäwi 5, II Archeological
Survey of Egypt. 11, 12 Memoir T.V). Hier wie
dort sind die Beine im Verhältnis zum Rumpf
ziemUch kurz. Der Jagdeifer usw. des Jungen ist
noch nicht entwickelt, es wird mit der iVIutter
zur Jagd mitgenommen und trägt auch ein Hals-
band, muß aber im Gegensatz zu den alten Wind-
hunden nicht an der Leine geführt werden.
Wie sehr unser Windhund mit den Stehohren
der Hund des ahen Reiches ist, geht daraus her-
vor, daß beispielsweise Luise Klebs 1915 (Die
ReUefs des alten Reiches. Heidelberg 834 f.) nur
einen einzigen Jagdhund mit hängenden Ohren
namhaft zu machen vermag. Denn der von ihr
noch erwähnte „Zwerghund" (D a v i e s Ptahh. I. T.
XXIV, XXV) ist die Duodezdarstellung eines Kalbes
(Huf, Kopf, Halsbildung).
Den Umstand, daß auch die Hyäne (Hyaena striata) von
den Ägyptern „domestiziert"') wurde, könnte man an-
führen, um zu beweisen, daß das Wildmaterial für Hunde-
züchtung im alten Ägypten auffallend formenarm war. In-
dessen ist es fraglich, ob den alten Ägyptern die Hyäne als
Jagdhund gedient hat. Auf der einen Darstellung der Abb. I
nämlich (bei Davies Ptahh. I. T. XXIl), wo 2 Hyänen ganz
friedlich neben einem Jagdhund ruhen, fehlt ihnen das Hals-
band und der Jagdhund hat sie mit seinem aufgelegten linken
Vorderbein sozusagen mit Beschlag belegt, so daß mit der
Richtigkeit der Deutung von Luise Klebs, diese Hyänen
seien von den Hunden eingefangen worden, zu rechnen ist.
Im übrigen wurden aber Hyänen mit samt ihren Jungen ge-
nau so behandelt wie unsere Windhunde mit den ihrigen (die
alten zusammen mit Windhunden an Leinen geführt, die
Jungen je frei daneben). Als Fleischtier wurde die Hyäne
sicher gehalten, vielleicht gezüchtet (vgl. die Jungtiere), jeden-
falls regelrecht gemästet (s. z. B. Bis sing, Gemni-kai I,
Tal. Xlj. Auch an der Hand der Antilopen- und Vogeldar-
stellungen ließe sich zeigen, wie die alten Ägypter an Tier-
wildformen benützten, was sie nur konnten und
wozu sie nur konnten.
Man könnte nun sagen, die sportliche Bevor-
zugung (Jagd in der Wüste, flüchtige Antilopen
als Jagdtiere) der Windhundform führte zum Aus-
sterben der übrigen Hundeformen. Das kann nur
bis zu einem gewissen Grad richtig sein. Zwar ist es
auffällig, daß in der späteren Zeit ebenfalls die
Windhundform vorwiegt (allerdings die Hänge-
ohren häufiger als früher vorkommen). Doch
fehlen andere Hundetypen nicht ganz. Auf
den Wandgemälden von ßeni-Hassan (Grif-
fith 1896, Beni-Hassan, Part III, London, Taf. II
bis IV), zwischen 2000 und 1900 v.Chr., ist außer
dem Windhund eine stattliche Dogge vertreten
(Abb. 3. Profil wenig abgesetzt, Ohren stehend,
Ohrspitze nicht überhängend, Schwanz steil ge-
tragen mit rätselhaft geformter Schwanzspitze,
verwaschene Scheckung) und ein Zwischending
') Gaillard 1912, Les tätonnements des egyptiens de
l'ancien empire ä la recherche des animaux ä domestiquer. lu :
Revue ethnogr. sociol. 1912, Nr. iljia.
zwischen Windhund und Dachshund (Abb. 4)
ohne Zweifel nach einem leibhaftig existierenden
Naturobjekt gemalt. Die Scheckung ist der ähn-
lich wie sie auch auf Windhundbildern vor-
kommt. Hals und Kopf sind deutlich Windhund-,
keinesfalls dachshundartig. Wären die Lenden
etwas stärker eingezogen (es handelt sich freilich
um ein weibliches Tier!), so möchte man ohne
weiteres annehmen, es sei hier bei einem Wind-
hund die Mutation (oder extreme Kombination?)
„Dackelbeinigkeit" aufgetreten. — Auf dem Thron-
Abb. 3.
Abb. 4.
Abb. 5.
Abb. 6.
bilde des Königs Antef (um 1800 v. Chr.) finden
wir dessen Liebüngshunde dargestellt, mehrere
davon sind importiert und es ist ihnen glücklicher-
weise je ihr Rufname beigegeben sowohl in der
Sprache ihres Ursprunglandes als auch in ägyp-
tischer Übersetzung. Dadurch war es den Philo-
logen möglich, die einen als ly bisch (Abb. 5),
die anderen als ostafrikanisch (Abb. 6) zu be-
zeichnen. Beides sind ausgesprochene Windhund-
formen mit nur ganz mäßig geringeltem Schwanz.
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»95
Der lybische Typ zeigt kurze Stehohren, der ost-
afrikanische schmale Hängeohren (vgl. R. Basset,
1897, Les chiens du roi Antef. In: Sphinx Up-
sala. Abbildung bei Gg. Moeller, 1910, Hieratische
Lesestücke, 3, Heft, Leipzig. Zu Blatt 17). Ge-
wiß könnte man hier anführen: weil die Alt-
ägypter Windhundformen brauchten, darum haben
sie auch beim Import nur Windhundformen be-
rücksichtigt. IVIan dürfe aber deswegen nicht
schließen, in Ostafrika bzw. Lybien habe es nur
Windhunde gegeben. Dem ist auf der anderen
Seite wieder entgegen zu halten : Die Altägypter
hielten als ausgesprochene Tierfreunde auch Luxus-
tiere, wie die (meist von Zwergen gehüteten!)
Affen beweisen. Absonderliche Hundeformen wären
also doch wohl willkommen gewesen.
Aus dem alten Afrika findet man noch eine
Hundeform belegt. Auf Tafel LXXI bei Ed. Na-
ville, 1898 (TheTemple of Deir el Bahari, Part III)
sind allerlei Sehenswürdigkeiten dargestellt, von
denen eine Expedition nach dem Lande Punt um
1500 V. Chr zu berichten wußte. Danach muß
es um die Zeit im Lande Punt auf der Somali-
halbinsel neben anderen Merkwürdigkeiten (z. B.
Pfahlbauten) auch „Vorstehhunde", Pointer
(Abb. 7) gegeben haben, nämlich mäßig schlanke
Hunde von ansehnlichem Wuchs ohne eingezogene
Abb. 7.
Lenden (und ohne Ringelschwanz), mit großem
Kopf, abgesetztem Profil, mit überhängender Ober-
lippe und breiten langen Hängeohren. Bei dem
einen können wir eine graugelbe Grundfarbe (Sand-
farbe) mit schwarzgrauen (und weißen ?) Flecken
feststellen. (Auf der Jagddarstellung aus dem
neuen Reiche bei Wilkinson Manners, Bd. 2,
S. 92 erscheint eine ganz ähnliche Form wieder,
vgl. besonders das weibliche Tier 1) Doch wenden
wir uns nun zur ägyptischen Vorzeit.
In den prähistorischen Zeiten — und das
ist für die Nilländer etwas sehr Frühes, finden
wir nun durchaus Unerwartetes. Diese neuen Ur-
kunden über das älteste Haustier beweisen, daß
das Niltal bereits einmal eine Hundeform besessen
hat, die man bisher stets nur für das andere alte
Kulturgebiet des Ostens, die alte Völkerwiege des
Zweistromlandes belegt glaubte, und die man hier
wiederum aus Tibet eingeführt wähnte: die große
„orientalische" Dogge („Tibetdogge").
Abb. 8 (aus Quibell-Green, Hierakonpolis, II,
Taf. 75) zeigt den Menschen als Jäger, zeigt deut-
liche Darstellungen von Antilopen, vielleicht auch
Darstellungen von wilden Tieren, aber keine Wie-
dergabe von Pflegetieren oder von Gehilfen beim
Ackerbau (Haustieren).^) Nur der Hund erscheint
in Gesellschaft und im Dienste des Menschen. Die
beiden sehr großen Hunde links stellen, vom
Menschen angefeuert, 2 Steinböcke. Der
dunkle Hund rechts ist hinter mehreren Antilopen
her. Das Halsband ist namentlich bei dem linken
Tier gut zu sehen. Wer Zweifel an der Treue
der Darstellung oder der Richtigkeit der Deutung
hegen sollte, der sei auf zwei weitere Urkunden
aus prähistorischer Zeit hingewiesen, zunächst auf
die Schnitzerei auf einem Specksteinszepterknauf der
Abb. 8 (aus Quibell-Green, 1900, Hierakonpolis,!,
Taf. 19), vielleicht 4C00 Jahre v. Chr. Diese beste
Naturdarstellung der vordynastischen Zeit führt
eine Heldentat des gedrungenen alten Riesen-
hundes vor: die Löwenjagd. Die Größe
dieses Jagdhaushundes (mit dem deutlichen Hals-
bande), sein überaus kräftiger Bau und massiver
Kopf nebst gesenktem Schwanz weisen auf die
größten Unterschiede gegenüber dem ägyptischen
Abb. 8.
') Bei den Tieren ganz rechts (Iiandelt es sich m. E. um
eine Gruppe von wild en Tieren, um eine Gruppe allerdings
von hohem haustiergeschichtlichen Interesse. Links sind Anti-
lopen von einer Dogge verfolgt. Ganz rechts eine Rinder-
form (?) mit weißem, geschweift breit ausladendem Gehörn,
wohl mittels eines Lasso eingefangen. In der Mitte finden
sich, vollständig frei, 3 Equidengestallen (leider ohne deut-
lichen Schweif) und zwar nach Ausweis von Farbe und Zeich-
nung keine Zebras, sondern Pferde. Weil aber das Pferd,
ähnlich wie die Dogge in der Zeit des alten Reiches, voll-
ständig fehlt, möchte Herr Professor Mö lle r in den 3 Tieren
eher Rinderantilopen (bubalis) sehen. Auf Grund dieser
Wildformen und seltenen Formen müßte man daher vom fau-
nistiscben Standpunkt diesem prähistorischen Wandbild aus
dem Grabe von Kom el-abmar ein recht hohes Alter zu-
sprechen. — Der Haushund-Vorderteil bei Quibell (1900,
Hierakonpolis, I, London, Tafel 12, 7) zeigt Hängeohren und
gedrungenen Kopf mit mäßig überhängender Oberlippe. Der
überschlanke Hals ist höchstwahrscheinlich bedingt durch das
Material (schlanker Elfenbeinstab).
196
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
Hunde des alten Reiches hin. Die Ohrform ist
aus der Darstellung nicht ganz zweifelsfrei zu
entnehmen. Der Erhaltungszustand des Knaufes
läßt zum Beispiel keine genaue Entscheidung
darüber zu, ob das Tier links Hängeohren auf-
weist.
Noch ein drittes Dokument ist uns beschert
worden, und zwar durch die bedeutungsvollen
Ausgrabungen Prof. Möllers. Er fand in dem
prähistorischen Grabe (58, c. 4) aus der Zeit der
ersten Dynastie (etwa nach 3300 v. Chr. neben
allerlei Gefässen, darunter als tiergeographisch
wichtiges Dokument ein Gefäß in Form eines
beladenen Kamels, ein Fisch- und ein Tauben-
gefäß) ein reizendes Spiel, in Elfenbein geschnitzt,
bestehend aus 7 Hunden und 2 Löwen. Ein
Hund und und ein Löwe befinden sich im Ber-
liner Ägyptischen Museum, die übrigen „Spiel-
st eine" im Museum zu Kairo. Würden auch
bewundernswerten Steingefäße und Fayence-
perlen nicht mit im selben Grabe gefunden wor-
den sein, die Betrachtung der Abbildung 9
würde uns schon belehren, daß wir auch hier
Abb. 9.
Abb. 10.
ganz tüchtige Kunstleistungen vor uns haben, daß
der Künstler vor allem das darzustellen in der
Lage war, was er vor sich sah, daß er offenbar
auch nach der Natur darstellte. Von den 6 in
Kairo befindlichen Hunden lagen mir Photogramme
in natürlicher Größe vor. Fünf derselben sind
in Größe, Haltung und Darstellung (z. B. Behand-
lung des Schwanzes, Halsband) fast identisch mit
dem von mir aufgenommenen Berliner Hund der
Abb. 9. Der 7. in Kairo befindliche (Abb. 10)
ist um so verschiedener: nur wenig mehr als halb
so hoch (obwohl er den Kopf hoch hält), mit
langem walzenförmigem Rumpf, langem, kräftig
betontem Schwanz, ziemlich langem Kopf, schlan-
kerem Hals, abgesetztem Profil, langen mäßig
breiten Hängeohren und derben Pfoten an den
geraden, (dem Verwendungszweck zuliebe) viel-
leicht überlangen Beinen (sämtliche Spielsteine
haben nämlich eine auffallend genau gleich lange
Standlinie I): Man erkennt in ihm sofort einen
Dachshund. C. Keller 1909 (Die Stammes-
geschichte unserer Haustiere) schreibt S. 46: „Auch
die Dachshunde tauchen schon in der Pharaonen-
zeit auf, sind aber noch stehohrig." Dieser Fund
belehrt uns eines anderen, wie überhaupt die
Kell ersehen Theorien über Domestikationsmerk-
male im aligemeinen und die Hängeohrigkeit im
besonderen (mendelnde Merkmale!) sehr revisions-
bedürftig sind. Auch unser frühzeitlich -ägypti-
scher Dachshund trägt bereits ein Halsband.^)
Es war für den Künstler gewiß keine leichte
Aufgabe, den viel größeren Doggenhund so zu
modellieren, daß er keine längere Standlinie ein-
nimmt als der viel kleinere Dachshund. Wohl
oder übel mußte er die hinteren Dimensionen
verkleinert wiedergeben und von dem umge-
schlagenen Schwanz konnte er immer nur das
Ende aus dem Elfenbeinklötzchen aussparen. In
der Höhendimension brauchte er sich keinen
Zwang aufzuerlegen und so sehen wir die ganze
vordere Körperhälfte von einer geradezu ver-
blüffenden Ähnlichkeit mit der gemalten, viel
primitiveren Darstellung der Abbildung 8. Auch
die Ähnlichkeit mit den Doggen (mit Halsband 1)
auf der bei Keller, 1. c. S. 13 wiedergegebenen
Reliefdarstellung einer assyrischen Wildpferd-
jagd aus Kujundschik (Zeit des Assurbanipal
etwa 050 V. Chr., Original im Britischen Museum)
ist überraschend.
Der Künstler liebte (oder brauchte) bei seinem
neunteiligen Spielsatz offenbar Abwechslung. Neben
zwei jagdbaren Tieren (2 Löwen) kommen nicht
weniger als sieben Jagdhunde vor. Um so merk-
würdiger ist es, daß der später so häufige löffel-
ohrige, ringelschwänzige Jagdhund der alten
historischen Zeit gar nicht in dem Spielsatz
vorkommt, daß der Künstler vielmehr zwei so
verschieden große Hundeformen in dieselbe
Größenform zwängen mußte. Ob er damals viel-
leicht gar fehlte und, später importiert, derart
Mode wurde, daß er die beiden Formen unseres
Spiels so ganz auffallend gründlich verdrängte?
Die erste Annahme hätte größte Schwierig-
keiten in der tiergeographischen Verbreitung der
Windhundformen und (in Übereinstimmung damit)
in der Gestalt der Antef Hunde (s. o.). Umge-
kehrt könnte jemand einwenden, daß sowohl der
Zepterknauf als das zierliche neunteilige Spiel
Importwaren seien, die über die Hundefauna
des prähistorischen Ägypten nichts Sicheres aus-
sagten. Dem widerspricht jedoch das oben beschrie-
') Ein zweiter hängeohriger Dachsbund aus der ägyptischen
Vorzeit von schlanker Gestalt, aber mit kräftiger Brust, mit
Dackelpfoten, umgelegtem krummen Schwanz und mit Hals-
band gibt wieder in seiner Fig. 4: Maspero, 1912, Histoire
generale de l'art, Egypte. In ; Ars una species mille, Paris.
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
197
bene Wandgemälde, das nach der Natur gfemalt
ist und offensichtlich den Scempel der Boden-
ständigkeit trägt. — Es sei noch erwähnt, daß die
Orientarchäologen zwischen der Kultur des prä-
historischen Ägypten und der des alten Baby-
lonien mehr oder weniger deutliche, freilich
schwer zu erklärende Beziehungspunkte
fanden fz. B. abrollbare Siegelzylinder, Keulen
mit Knäufen, Kennzeichnung der Jahre nicht
durch Zählung, sondern durch Benennung nach
hervorstechenden Ereignissen und, wie mir Herr
Prof. Möller noch mitteilt, Funde von Lapis
lazuli). Die im obigen nachgewiesene große
Haushundform scheint mir fast diese so merk-
würdigen Anknüpfungspunkte um einen .veiteren
zu vermehren. Aber auch dieser Anknüp-
fungspunkt wäre noch sehr hypothetisch und
schwer zu erklären.
Zum Schlüsse sei noch aufmerksam gemacht
auf eine künstlerisch hochbedeutsame Gebrauchs-
plastik (Schminkpalette des Königs Narmer —
Abb. 11) aus der Grenzzeit zwischen ägyptischer
Prähistorie und Historie (etwa um 3300 v. Chr.)
mit zahlreichen Tierfiguren, darunter mehreren
Schakalen und 3 Jagdhaushunden. Der betreffende
Künstler hatte sich in der Natur wohl umge-
sehen , besaß aber neben einem hervorragenden
Kompositionstalent derart überraschende Einfälle
und eine so drollige Handschrift, daß er ein ge-
borener Karikaturkünstler gewesen sein muß.
Die Deutung dieses Hundetypus ist daher nicht
ganz einfach. Auf den ersten Blick muß man
die 3 Hunde für Dachshunde halten. Lange
Hängeohren (gegen C. Keller!), etwas abge-
setzten Kopf, deutlichen Dachshundschwanz, kurze
gedrungene Füße mit Dachshundpfoten, dazu
kräftige gegitterte Halsbänder. Wenn wir aber bei
näherem Zusehen hier selbst an den leichtfüßigen
Antilopen Dachshundbeine vorfinden und die
Größe der Hunde mit der ihrer Opfer vergleichen,
dann müssen wir in ihnen eher Vorstehhunde
„Pointer" dargestellt finden. Auch auf dieser an
Tierformen so reichen (vgl. besonders auch die
ganz köstliche Rückseite!) Prunkpalette fehlt „der
Windhund" vollständig.
Während und ausgangs der ägyptischen Prä-
hisforie finden wir also Riesenhunde (Doggen),
Vorsteh- und Dachshunde (keine Windhunde).
Im alten Reiche fast nur stehohrige, ringelschwän-
zige Windhunde, im mittleren Reiche wiegen
(auch außerhalb Ägyptens) die Windhundformen
(teils mit Hängeohren und geradem Schwanz) vor,
vereinzelt finden sich aber auch schlanke Doggen,
Vorstehhunde und Dackelbeinigkeit. Der im
frühen Europa verbreitete Hund, der Spitz, fehlt.
Sämtliche Hunde des alten Nordostafrika erschei-
nen kurzhaarig, sind bereits offenbar vor Pferd
und Rind (?) domestiziert. Dieser geschichtlich-
geographische Haustierbefund dürfte eine gar zu
scharfe Absonderung der „südlichen Hunde"
(Windhunde), eine strenge Zuweisung der Doggen
.■\bb. u.
nach Inner-Vorder-Asien unmöglich machen. Er
zeigt auch, wie stark und wie früh der Mensch
mit seinen Zucht- und Sportbestrebungen auf die
Verbreitung gewisser Tiere Einfluß gewann.
Den Herren vom ägyptischen Museum Berlin,
Herrn Dir. Prof. Dr. Schäfer und insbesondere
Herrn Prof. Dr. Möller, sei für großes Entgegen-
kommen mein wärmster Dank ausgesprochen.
[Xacbdruck verboten.}
Der Segelflug und verwandte Bewegungen in Luft und Wasser.
Von Dr. med. Wilhelm Frölich (Hoheneck b. Stollberg i. Erzgeb.).
Der Segelflug der Vögel, insbesondere das
fortgesetzte Schweben und Gleiten der Seevögel
über dem Meere mit seiner scheinbaren Unab-
hängigkeit von aller und jeder Kraftquelle ist
Jahrhunderte hindurch Gegenstand des Staunens
und Nachdenkens der Menschen gewesen. Die
mechanische Bedeutung, die bei diesem Segeln
dem Kleingefieder der Vögel, den Deckfedern und
Daunen, zukommt, ist aber bei Erklärungsver-
suchen noch verhältnismäßig wenig gewürdigt
198
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
worden. Ich habe gerade auch von wissenschaft-
licher Seite die Ansicht gehört, daß das Kleinge-
gefieder zwar möglicherweise die Stabilität beim
Fluge verbessert, daß aber seine wichtigste Funktion
im übrigen nur darin zu suchen sei, daß es dem
Vogel einen Wärmeschutz bietet. Die wärme-
ökonomische Bedeutung des Kleingefieders wird
niemand leugnen. Wer aber eine Reihe aufstellen
wollte, in der die verschiedenen Vogelarten nach
Umfang und Reichtum ihres Kleingefieders ge-
ordnet sind, der würde bald inne werden, daß
diese Ordnung nicht zugleich eine Ordnung nach
Wärmeschutzbedürftigkeit ist, daß gerade auch
große Vögel und gerade auch Vögel, die in heißen
Gegenden und womöglich noch dazu in einem
Seeklima leben, ein sehr reichliches Gefieder haben
können, — besonders wenn sie gute Segler sind.
So umfangreich kann das Kleingefieder sein, daß
man meinen sollte, es sei gar nicht auf Vermei-
dung, sondern im Gegenteil eher auf Erzeugung
eines recht großen Luftwiderstandes abgesehen,
zumal doch den wärmeökonomischen Bedingungen
auch schon durch ein dichtanliegendes, pelzartiges
Gefieder ähnlich wie bei Säugetieren genügt wer-
den könnte. Und dieser so bedeutende Umfang
des Gefieders ist es denn auch, der wohl zuerst
den Gedanken hat aufkommen lassen, daß das
Kleingefieder auch beim Fliegen nicht ganz ohne
mechanische Bedeutung sein kann. Insofern ist
aber auch die Qualität des Kleingefieders keines-
wegs gleichgültig. Das so umfangreiche Gefieder
der Eule hat gewiß nicht die Bedeutung, das Tier
zu einem hervorragenden Flugkünstler zu machen.
Wir werden in dem weichen, reichlichen Eulen-
gefieder eine Anpassung an das Nachtleben sehen ;
es ermöglicht einen sehr leisen Flug. Ein Klein-
gefieder von der Qualität des Siraußengefieders
ist für flugfähige Vögel gewiß ungeeignet. Es
erinnert nach Anordnung und Beschaffenheit ent-
fernt an Kamelhaar und bedeutet wohl auch wie
dieses eine Anpassung an das Klima. Soll ein
Kleingefieder eine sehr wesentliche mechanische
Bedeutung für den Flug haben und zugleich eine
zweckmäßige Anpassung an den Flug darstellen,
so muß es umfangreich und widerstandsfähig sein
und gleichzeitig eine glatte Oberfläche haben. Auf
den Einfluß, den Haut-Luftsäcke, wie sie z. B.
de'r Pelikan hat, auf die mechanische Wirksam-
keit des Kleingefieders haben können, soll im
folgenden nicht eingegangen werden. Daß das
Kleingefieder eine mechanische Bedeutung für den
Flug hat, geht vor allem auch daraus mit hervor,
daß unzweifelhafte Beziehungen zwischen der Art
des Fluges und der Qualität des Gefieders be-
stehen. Vögel, die im wesentlichen ein zer-
schlissenes Gefieder haben, sind entweder flug-
unfahig wie der Kiwi-Kiwi oder sie haben einen
kurzphasigen, schwirrenden Flug, weil das Gefieder,
wie ich unten zeigen werde, zu einem langphasigen
Flug oder zum Segeln einer noch zu erläuternden
Spannungsföhigkeit bedarf, welche sich mit der
ZerschUssenheit des ganzen Gefieders oder des
bei weitem größten Teiles des Gefieders nicht
verträgt. Im Gegensatz z. B. zum Albatros, der
beiläufig ein sehr reiches, umfangreiches Gefieder
hat, hat der schwirrende Lund (Fratercula arctica,
Linn.) ein zerschlissenes Gefieder, ebenso wie auch
der schwirrende Eisvogel. Ein Gefieder ist in
dem hier von mir angewendeten Sinne spannungs-
fähig, wenn es nicht zerschlissen ist, wenn die
Federbärte der Deckfedern ein steifelastisches,
flächenhaft ausgebreitstes, an der Oberfläche glattes
Gerüst darstellen, dessen feinste Rippen systema-
tisch geordnete, kapillare Lücken zwischen sich
lassen, derart, daß die gegenseitige Orientierung
der Lücken des Systems durch den Luftstrom
nicht gestört, und daß keine der Lücken durch
den Luftstrom zugedrückt wird. Rückt nun der
fliegende Vogelkörper gegen die Luft an, so übt
er eine Art Fernwirkung aus; er drückt nicht nur
gegen die unmittelbar vor ihm liegenden Luftteil-
chen, sondern auch schon auf weiter vorn befind-
liche, die er noch nicht erreicht hat, so daß sich
die Luft schon im voraus auf eine Umfließung
des Vogelkörpers einstellt; die Luft prallt also
nicht etwa wie eine Billardkugel gegen das Ge-
fieder, sondern sie schmiegt sich eng an die Kon-
turen des Vogelkörpers an, fließt — soweit sie
den Vogelkörper unmittelbar berührt — dicht an
demselben entlang.*) Der eng und streng parallel
am Gefieder entlang fließende Luftstrom übt aber
nun eine Saugwirkung aus, die vermöge der
kapillaren Lücken durch die Federbartflächen hin-
durchgeht, so daß unter den Deckfederbärten
ein Vakuum entsteht. Der Luftstrom kann sich
ja nicht in das Gefieder einwühlen, dazu sind die
kapillaren Lücken zu eng. Indem er nun streng
parallel am Gefieder entlang läuft, sucht er sich
gegen die Haut des Vogelleibes hinzusaugen,
während umgekehrt die Deckfedern, unterstützt
durch elastische Dunen, den Luftstrom vom Vogel-
leib wegzupressen suchen. Je größer die Ge-
schwindigkeit, mit der der Luftstrom am Gefieder
entlangläuft, um so größer die Luftverdünnung,
um so stärker die Gefiederspannung. Diese Ge-
fiederspannung bedeutet aber einen Energieauf-
wand, kostet eine Energieausgabe ; und der Vogel
würde in der gegebenen Form wohl längst im
Kampfe ums Dasein verschwunden oder vielmehr
gar nicht erst entstanden sein, wenn sich diese
Energieausgabe nicht lohnte, wenn der Vogel die
Spannungsenergie seines Gefieders nicht gelegent-
lich wieder nutzbringend zu seinem Vorteil ver-
wenden könnte, dann nämlich, wenn sich das Ge-
fieder wieder teilweise oder vollständig entspannt,
d. h. wenn die Abflußgeschwindigkeit der am
Gefieder entlang fließenden Luft abnimmt. Wenn
der Vogel mit Beschleunigung nach abwärts fliegt,
wird sein Fall dadurch verzögert, daß ein Teil der
Fallenergie infolge der zunehmenden Abflußge-
') Vgl. F.W. Lanchester, Aerodynamik, deutsch von
C. und A. Runge, Göttingen, Verlag von B. G. Teubner, 1909,
Bd. I., S. 13, § 13-
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
199
schwindigkeit der Luft in Gefiederspannung über-
geht. Schließt sich aber nun diesem Abwärtsflug
unmittelbar ein Wiederaufstieg mit abnehmender
Geschwindigkeit an, so wird das zunächst stark
gespannte Gefieder durch seine Entspannung und
die damit verbundene Volumensvermehrung eine
Preßwirkung auf die abfließende Luft ausüben, der
sich die Luft, weil sie nach allen Seiten gleich-
zeitig erfolgt, nicht entziehen kann. Daher wird
das Gefieder durch Abgabe seiner Spannungs-
energie an die abfließende Luft diese Luft zwingen,
mit verhältnismäßig größerer Geschwindigkeit in
der jeweiligen Abflußrichiung, d. h. in der Richtung
des geringsten Widerstandes nach hinten abzu-
fließen. Je geschwinder aber die Luft nach hinten
abfließt, um so schneller fliegt der Vogel. Beim
Aufwärtsfliegen mit abnehmender Geschwindigkeit
nimmt also die Geschwindigkeit des Vogels nicht
so rasch ab, als wenn ihm die Spannungsenergie
seines Gefieders nicht dabei zur Verfügung stände.
Während die Gefiederspannung fallverzögernd
wirken kann, kann die Entspannung steigungbe-
schleunigend wirken. Ohne Mitwirkung des Win-
des ist offenbar die obengedachte Ausnutzung
von Spannung und Entspannung des Gefieders
schon in dem hüpfenden oder springenden Flug
mancher kleinerer Vögel verwirklicht. Lan-
chester beschreibt 1. c. Bd. I, Anhang IV, S. 345,
das Verhalten einer Bachstelze, die vor seinem
mit mehr als 48 km Geschwindigkeit fahrendem
Automobil in der Fahrtrichtung floh : „In dieser
Lage hart bedrängt fliegt die Bachstelze niedrig;
und ihre Bewegung gleicht genau dem Aufspringen
eines Gummiballes auf der Straßenfläche".
Das im obigen Sinne spannungsföhige Gefieder
kann aber nicht nur durch Fallbeschleunigung oder
durch aktive Flugbewegungen des Vogels in
Spannung versetzt werden, sondern vor allen
Dingen auch durch den Wind. Der Vogel kann
sein Gefieder an einem lebendigen Luftstrom
spannen und hierauf diese Spannungsenergie in
einem Totwasserbereich zu seinem Vorteil aus-
spielen. Sein Gefieder hat dabei die Rolle eines
zweckmäßigen Energiespeichers. Je umfangreicher
und widerstandsfähiger dieser Speicher ist, um so
größer ist auch ceteris paribus seine Energiekapa-
zität und der erzielbare Nutzeffekt. Er ermög-
licht den langphasigen Flug und bei gutem Nutz-
effekt und gleichzeitig günstigen äußeren Be-
dingungen das Segeln. Ist bei spannungsfähigem
Gefieder mit den Flügelschlägen ruckweise eine Be-
schleunigung, eine Gefiederspannungsvermehrung,
verbunden, so wird bei der zwischen den Flügel-
schlägen liegenden Spannungsverminderung die
an die Luft übergehende Federspannungsenergie
zugunsten des Vogels ausgenutzt, so daß ein
verhältnismäßig langphasiger Flug resultiert im
Gegensatze zu dem Schwirrflug bei zerschlissenem
Gefieder. Vögel, die zwar noch ein spannungs-
fähiges Gefieder haben, es aber doch in der Regel
nicht zum eigentlichen Segeln bringen, werden
wenigstens den Wind ähnlich wie die Segler,
wenn auch in beschränkterem Umfange ausnützen
können. Nicht spannungsfähiges Gefieder schließt
eine solche Windausnützung aus, macht aber da-
für auch in gewissen Grenzen unabhängiger vom
Winde. Diese relative Unabhängigkeit kann sich
auch in der Flugbahn aussprechen. Die Bahn ist
grundverschieden von der der Segler, geradlinig
oder der Form der IVIeereswellen angepaßt.
Bevor ich die Betrachtungen über den Vogel-
flug schließe, möchte ich nochmals kurz die ein-
gangs erwähnte Vermutung streifen, daß das
Kleingefieder möglicherweise die Stabilität beim
Fliegen verbessert. Lanchester 1. c. Bd. II,
§ 79, S. 107 f. fand bei seiner ersten Berechnung,
daß die Stabilität des Albatros bei seinem Segeln
mangelhaft zu sein schien. Beim Albatros hat
der Schwanz eine sehr geringe Ausdehnung. Wenn
Lanchester nicht später durch Verfolgung der
Albatros Literatur gefunden hätte, daß bei diesem
Vogel die Füße mit ihren Schwimmhäuten beim
Segeln eine solche Lage einnehmen, daß sie als
eine wesentliche Vergrößerung der Schwanzfläche
erscheinen, würde die obige Vermutung eine
wesentliche Stütze in der Tatsache finden, daß der
Albatrosschwanz eine sehr kleine Flächenausdeh-
nung hat. Andererseits scheint mir aber auch
der Beweis nicht zwingend, daß die Ruderfüße
durch ihre Lage als wesentlicher Stabilitätsfaktor
wirken müßten, und dies um so weniger, als nicht
die Fußsohlen, sondern die Fußrücken beim Segeln
nach abwärts gekehrt sind.
In ganz analoger Weise, wie der Wind fördernd
auf den Flug eines Vogels mit spannungsfahigem
Gefieder wirken kann, wirken nun auch die Ober-
flächenwellenbewegungen des Wassers auf das
Schwimmen von Wassertieren mit Schwimmblasen
oder mit mechanisch gleichwirkenden Lungen (See-
schildkrötenlunge, Wallunge). Es gibt nicht nur
ein Segeln in der Luft, sondern auch ein Segeln
im Wasser. Und wo eine relativ kleine Schwimm-
blase oder etwas mechanisch gleichwertiges vor-
handen ist, was nach seinem Umfange nicht hin-
reichend ist, um ein Segeln mit Hilfe des zu- und
abnehmenden, an- und abschwellenden Wellen-
wasserdruckes auf die sich spannende und ver-
kleinernde, entspannende und ausdehnende
Schwimmblase zu ermöglichen, wird doch dieser
wechselnde Wasserwellendruck fördernd auf das
Schwimmen dieser Tiere wirken; und die Phasen-
dauer ihrer Schwimmbewegungen wird auch sonst
durch die Schwimmblase verlängert werden. Den
Fischen dagegen, die, ohne wie die Schollen eigent-
liche Grundfische zu sein, doch keine Schwimm-
blase haben, wird eine ähnlich fördernde Wirkung
des Wasserwellendruckes versagt bleiben, also
z. B- den Makrelen. Der Vorteil der schwimm-
blasenlosen Tiere ist aber dann auch ein analoger
wie der der Vögel mit gänzlich zerschlissenem
Gefieder; ihre Bahn ist unabhängiger von den
Wellen ; bei Wind- und Wellenstille können sie
anderen Fischen mit großer Schwimmblase im
Schwimmen wegen ihres relativ kleineren Volu-
200
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
mens überlegen sein. Die Ausnützung der Wellen
und umgekehrt auch der Vorteil der Schwimm-
blasenlosigkeit bei Wind- und Wellenstille wird
sich dort am deutlichsten zeigen, wo die größten
Wellen vorkommen: im Meere. Der Wal, die
Seeschildkröte, „der fliegende Fisch" wären dort,
wo es nur kleine Wellen und niedrige Wellen
gibt, unmöglich. Der fliegende Fisch ist ein
echtes Hochseetier, lebt nicht in größeren Tiefen.
Für Wale und Seeschildkröten verbietet sich das
Leben in größerer Tiefe von selbst. Schwimm-
blasenlose Seefische dagegen werden sich bei
hohem Seegang in der Regel in größere Tiefen
zurückziehen ; denn dann kommt die Überlegen-
heit der Schwimmblasentiere ihnen gegenüber
weniger zur Geltung. Umgekehrt aber werden
sie bei Wind- und Wellenstille häufiger die ober-
flächlichen Wasserschichten aufsuchen; denn dann
ist die Überlegenheit wenigstens gegenüber Fischen
mit großer Schwimmblase auf ihrer Seite.
Der Wal hat ein auffällig loses Brustkorb-
gerüst, so daß die Oberflächenwellenbewegung
des Wassers seine wie eine Schwimmblase im
Leibe liegende Lunge auch beeinflussen kann, als
wäre sie eine Schwimmblase. Dazu kommt, daß
der innere Bau der Wallunge eine Kommunikation
der in ihren verschiedenen Abschnitten vorhandenen
Gasmassen zuläßt, die die Lunge zu einer der
Schwimmblasenwirkung entsprechenden Wirkung
viel geeigneter macht als die Lungen der anderen
Säuger. Lebend ans Land geschwemmte Wale
gehen unter Erscheinung von Atemnot zugrunde;
das wird verständlich durch die gesteigerte Zu-
sammendrückbarkeit des Brustkorbes. Die
Schwimmblasenwirkung der Wallunge ist es wohl
auch, die es dem Tiere ermöglicht, schlafend zu
atmen. Nähert sich dem dicht unter der Meeres-
oberfläche befindlichen Wal ein Wellental, so wird
er ähnlich emporgleiten können, wie etwa ein
Fisch, der eine Schwimmblase hat und sich am
Boden eines Fischtroges befindet, emporzugleiten
pflegt, wenn ein Eimer Wasser aus dem Troge
ausgehoben wird. Der Mechanismus dieses Em-
porgleitens wird verständlich, wenn wir berück-
sichtigen, daß in einer gasgefüllten Schwimmblase
zu einem gegebenen Zeitpunkte überall derselbe
Gasdruck herrscht, während das von außen gegen
die Schwimmblase drückende Wasser dem Gesetz
des hydrostatischen Wasserdruckes unterworfen
ist. Das Gas in der Schwimmblase sucht sich
daher nicht in beliebiger Richtung, sondern in
der Richtung auszudehnen, aus der der Wasser-
druck am kleinsten ist. Nimmt der Wasserdruck
ab, so erfolgt tatsächlich eine Ausdehnung des
Gases nach dieser Richtung hin. Wir können
den mechanischen Erfolg dieser Gasausdehnung
mit der Wirkung vergleichen, die drückende
Finger auf einen fortzuschnellenden schlüpfrigen
Zitronenkern ausüben. An Stelle des schlüpfrigen
Zitronenkerns müßten wir, um den Vergleich
durchzuführen, den schlüpfrigen Fischkörper setzen,
an Stelle der drückenden Finger den Wasserdruck.
Der Vergleich hinkt aber insofern, als beim Fort-
schnellen des Zitronenkerns die hierzu erforder-
liche Energie aus den drückenden Fingern be-
zogen wird, während beim Emporgleiten des
schlüpfrigen Fischkörpers die hierzu erforderliche
Energie durch Entspannung des Gases in der
Schwimmblase aufgebracht wird. — Theoretisch-
physikalische Erwägungen führen nach Lan-
chester 1 c. Bd I, S. 65, § 56 zu dem Ergebnis,
daß sich ein Walfisch nach der „Dimensions-
theorie" überhaupt kaum würde „fortbewegen
können, ohne einen Totwasserbereich in seinem
Kielwasser mitzuführen, was höchst unwahrschein-
lich ist". In der mechanischen Wirkung der Wal-
lunge als Schwimmblase liegt vielleicht hier die
Erklärung des Widerspruchs zwischen Theorie
und Erfahrung.
Unter den Schildkröten sind die Seeschild-
kröten offenbar die gewandtesten Schwimmer;
ihre Bewegungen im Wasser erinnern lebhaft an
die großer Vögel. Im Gegensatz zu anderen
Schildkröten wird bei den Seeschildkröten, wie
G. Rouch nachgewiesen hat, die Ausatmung
durch die Federkraft des Panzers bewirkt. Sie
sind also auch der Einwirkung des hydrostatischen
Wasserdruckes auf das Gas in ihren Lungen
leicht zugängig; und in deutlichem Kontrast zu
anderen, nicht segelfähigen Schildkröten haben
ihre Vorderfüße eine Umwandlung zu Flossen er-
fahren.
Der „fliegende Fisch" hat eine riesengroße
Schwimmblase; bei einem Exemplar von 16 cm
Länge war die Schwimmblase (nach Brehms Tier-
leben 1914, Bd. Fische S. 326) 9 cm lang und
2,5 cm weit und enthielt etwa 44 ccm Gas. Neben
dieser außerordentlichen Schwimmblase hat der
fliegende Fisch als auffälliges Merkmal auch noch
riesengroße Brustflossen, die offenbar notwendig
sind, um die große Energiekapazität der Schwimm-
blase zweckmäßig auszunützen. Wie der weit-
klafternde Albatros der beste Segler unter den
Vögeln ist, so der Flugfisch mit seinen weit-
klafternden Brustflossen der beste Segler unter
den Fischen. Wir können uns sein Segeln etwa
so vorstellen: Bewegt sich der Flugfisch gegen
einen ankommenden Wellenberg, so geht er bei
entsprechender Flossenstellung, durch Zusammen-
drückung seiner Schwimmblase schwerer werdend,
im Gleitflug nach abwärts, soweit es ihm gerade
eben möglich ist; denn je tiefer er sich unter
dem Wellenberg sozusagen einbohren kann, um
so mehr wird seine Schwimmblase gespannt, um
so größer ist die Energiemenge, mit der seine
Schwimmblase geladen wird; hierauf gleitet er
ähnlich, wie es oben schon beschrieben wurde,
gegen ein Wellental empor, das sich ihm über-
lagert, und er bohrt sich danach entweder von
neuem in einen Wellenberg hinein, oder er schnellt
bei entsprechender Flossenstellung aus dem Wasser
heraus und zeigt sich als ,, fliegender Fisch".
Zum Schluß möchte ich noch der Vermutung
Ausdruck geben, daß eine Analogie auch insofern
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
201
besteht, als die Gezeitenspannung der Gestirne
bei ihren Bewegungen gegeneinander der mecha-
nischen Wirkung nach in Parallele zur Gefieder-
und Schwimmblasenspannung und -entspannung
gesetzt werden darf.
Wir haben oben Formen von Energieüber-
tragung besprochen, wie sie bei einem recht er-
heblichen Teil der Vertebraten statthaben: einer-
seits Übertragungen vom Tier auf das Fortbe-
wegungsmedium, aber andererseits auch Über-
tragungen vom FortbewegungsmeHium auf das
Tier. Kennzeichnend für diese Übertragungen
ist es, daß dabei nirgends etwas von Vibrationen
oder Erschütterungen bemerkbar ist, durch die
etwa die Energieübertragung unterbrochen oder
auch nur beeinträchtigt würde; vielmehr findet
regelmäßig nur ein stetiges harmonisches An-
und Abschwellen des Druckes und der Spannung
im Gefieder und in der Schwimmblase einerseits
und im Fortbewegungsmedium andererseits statt.
Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Voraus-
setzungen zu einer solchen harmonischen Energie-
übertragung nicht nur in den besprochenen Fällen
gegeben, sondern überall dort, wo unter physio-
logischen Bedingungen Energieübertragungen von
einem Tier auf ein homogenes Medium wie Luft
oder Wasser (vielleicht auch Wehäther) oder in
umgekehrter Richtung stattfinden, so daß wir von
einem physiologischen Prinzip der harmonischen
Trägheit sprechen dürfen. Nach diesem Prinzip
werden Tier und Medium bei der Energieüber-
tragung beide harmonische Schwingungen aus-
führen; einerseits wird fortgesetzt eine mechani-
sche Beanspruchung des molekularen Gefüges des
Mediums stattfinden, und andererseits wird sich auch
der Tierkörper in sich selbst harmonisch bewegen,
schwingen und pendeln, gleich als ob er jeweils auf
einen bestimmten Schwingungsrhythmus „abge-
stimmt" wäre. Eine solche Abstimmung ist wört-
lich verwirklicht beim Hervorbringen der Stimme.
Beim Brüllen, Schreien, Grunzen, Singen usw.
ist das Medium, auf das Energie übertragen wird,
die in der Lunge und Luftröhre eingeschlossene
Luft. Zum Zwecke der Energieübertragung auf
diese Luft schwingt wohl immer ein wesentlicher
Teil des ganzen Körpers mit; dieses Mitschwingen
wird verständlich, wenn wir bedenken, daß Druck-
schwankungen im Brustkorb notwendig auch mit
Fernwirkungen verbunden sein müssen. Soweit
bei der Hervorbringung der Stimme auch die äuße-
ren Bedeckungen des Körpers in Mitschwingungen
geraten, wie z. B. beim Menschen die des Brust-
korbes und eines Teiles des Schädels, erfordert
das Prinzip der harmonischen Trägheit auch ein
harmonisches Verhalten der Federn und Haare.
Vielleicht erklärt es sich so, daß z. B. das Frauen-
haar dünner ist als das der Männer.
Allem Anscheine nach ist also die physikalische
Beschaffenheit der Federn und Haare nicht nur
von äußeren physikalischen Bedingungen abhängig,
sondern auch von der Stimme der betreffenden
Tiere.
Hoheneck, am 10. Januar 1921.
Einzelberichte.
Die Selbstdiffnsioiiscrescliwjndigkeit des
geschmolzenen Bleis.
In einem Gas oder in einer Flüssigkeit haben
wir uns die Moleküle in heftigster Bewegung vor-
zustellen. Die molekulare Wärmebewegung wir-
belt in einer ruhenden Gas- oder Flüssigkeits-
masse die einzelnen Moleküle aufs lebhafteste
durcheinander. Der mit dem geistigen Auge ge-
sehene Tanz der Moleküle konnte in Gasen und
in flüssigen Lösungen auf verschiedenen Wegen
experimentell nachgewiesen werden; nun ist es
J. Groh und G. v. Hevesy*) auch gelungen,
in einer einheitlichen Flüssigkeit, nämlich im
flüssigen geschmolzenen Blei, die Geschwindigkeit
der Bleimoleküle "•') unmittelbar zu messen. Damit
ist zum erstenmal augenscheinlich gezeigt, daß in
einer homogenen Flüssigkeit eine rasche Diffusion
der eigenen Moleküle ineinander (= Selbstdiffusion)
stattfindet.
Um die Selbstdiffusion im flüssigen Aggregat-
zustand nachzuweisen, muß die Bewegung irgend-
») Ann. d. Phys. Bd. 63, S. 85—92 (1920).
-) Nach den Versuchen von H. Siedentopf (Ann. d.
Phys. 61, S. 23, 1897) ist das geschmolzene Blei assoziiert.
wie gekennzeichneter Bleimoleküle gegenüber den
übrigen Molekülen im flüssigen Blei verfolgt wer-
den. Groh und Hevesy bestimmten die Diffu-
sionskonstante von Thorium B, einem radioaktiven
Bleiisotopen, im geschmolzenen gewöhnlichen Blei.
Das radioaktive ThBBlei (Ag. 212) weicht im
Atomgewicht vom gewöhnlichen Blei (Ag. 207,1)
so wenig ab. daß bei der Gleichheit der Molekül-
und Atomradien der beiden Bleiisotopen der mini-
male Massenunterschied bei der Diffusion gar
keine Rolle spielt.
Um mit Thorium B gemischtes Blei herzu-
stellen , wurde auf der Oberfläche einer negativ
geladenen Bleifolie der radioaktive Niederschlag
eines Radiothorpräparats gesammelt. Die Bleifolie
wurde dann in Salpetersäure gelöst, die nötige
Menge Bleinitrat zugesetzt und dann elektroly tisch
mit dem Bleiisotop ThB „indiziertes" aktives Blei
abgeschieden. Das radioaktive Blei wurde in einer
Hartglasröhre von etwa 3 mm Durchmesser, die
am unteren Ende geschlossen war, zu einer etwa
1,5 cm langen Bleischicht eingeschmolzen. Sehr
empfindlich wurden die Versuche durch das
Springen der Hartglasröhren während des Schmel-
zens und Erstarrens der Bleisäulen gestört. Schließ-
202
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
lieh halfen sich Groh und Hevesy so, daß sie
über die Hartglasröhre eine zweite, ganz eng
passende brachten, welche die flüssige Bleisäule
auch dann noch zusammenhielt, wenn die innere
Röhre gesprungen war.
Um zu verhindern, daß später beim Diffusions-
versuch Gasblasen das geschmolzene Metall auf-
rühren, wurde die flüssige radioaktive Bleischicht
mit Hilfe einer Gae de sehen rotierenden Queck-
silberpumpe entgast. „Es zeigte sich, daß das
frisch geschmolzene Blei längere Zeit hindurch
Gase abgibt — vermutlich Sauerstoff aus dem
allmählich zerfallenden, im Metall gelösten Oxyd."
Gleichzeitig wurde in einem Seitenrohr die drei-
fache Menge von gewöhnlichem Blei entgast.
Groh und Hevesy ließen dann die 1,5 cm
lange radioaktive Bleisehieht erstarren und schich-
teten darüber im Vakuum durch Neigen des
Rohres die dreimal solange inaktive Bleischicht.
Nachdem auch das inaktive Blei erstarrt war,
wurde die Glasröhre abgeschmolzen und dann in
einen vertikalen elektrischen Ofen von etwa 340"
gebracht. In diesem waren die aufeinander ge-
schichteten 2 Bleisäulen bald geschmolzen und
die Diffusion nahm ihren Anfang. „Nach dem
Ablauf der Diffusionszeit von ^^—2 Tagen schal-
tete man den Heizstrom aus und ließ das Blei im
Ofen erstarren. Die Bleisäule wurde jetzt in vier
gleiche Stücke von je 1,5 cm Länge geschnitten.
Nunmehr walzten wir dünne Bleiblättchen aus
den vier Spaltstücken und verglichen ihre «Akti-
vitäten im Elektroskop; deren Verhältnis ergab
unmittelbar die Verteilung des aktiven Bleis zwi-
schen den vier Schichten nach der Diffusion und
somit, da Versuchszeit und Schichtlänge bekannt
smd, die Möglichkeit der Berechnung der Diffu-
sionskonstante des aktiven Bleis im inaktiven."
Aus 17 Versuchen ergab sich als Mittelwert
für die Selbstdiffusionskonstante des Bleis bei 3430
der Wert 2,22 cm^/Tag. Aus der ermittelten
Diffusionskonstante läßt sich nach der Formel
vonEinstein-Smoluchowski der Radius des
diffundierenden Bleiatoms bzw. Moleküls zu 0,78 ■
10-8 cm berechnen; nach der von Sutherländ
modifizierten Formel ergibt sich der Wert 1,16.
lO"** cm.
Bereits früher wurde die Diffusionsgeschwindig-
keit des Goldes in geschmolzenem Blei von
Roberts-Austen bei 550» zu 3,18 cm7Tag
bestimmt; für die Selbstdiffusion des Bleis bei
dieser Temperatur ergibt die Rechnung unter Be-
rücksichtigung der geänderten Zähigkeit der ge-
schmolzenen Masse den Wert 3,5.
Von hohem Interesse ist es, die Diffusions-
geschwindigkeit des Bleiions in Wasser mit der
des Bleiatoms (Moleküls) im geschmolzenen Blei
zu vergleichen. Zu berücksichtigen ist hierbei die
Temperaturverschiedenheit und die andere Zähig-
keit des Mediums. Nach der Theorie ist die
Diffusionsgeschwindigkeit der absoluten Tempe-
ratur direkt und der Zähigkeit des Mediums um-
gekehrt proportional. Die Selbstdiffusionsgeschwin-
digkeit des Bleis bei Zimmertemperatur von 18»
und auf die Zähigkeit des Wassers bezogen be-
rechnet sich zu 2,13 cm^/Tag; die Diffusions-
geschwindigbeit des Bleiions in Wasser beträgt
nach experimenteller Bestimmung nur 0,67 cm -/Tag.
Die langsame Diffusion der Bleiionen erklärt
sich daraus, daß jedes Bleiion eine Anzahl Wasser-
moleküle angelagert hat. Die Hydrathülle des
zweiwertigen Ions vergrößert den Radius des Blei-
atoms mindestens um das Dreifache gegenüber
dem Radius der Atome (Moleküle) im geschmol-
zenen Blei. Im vorliegenden Fall zeigt also die
geringe Diffusionsgeschwindigkeit des Bleiions
gegenüber dem Bleimolekül aufs anschaulichste
die starke Hydratation der Ionen, die schon seit
längerer Zeit aus anderen Gründen angenommen
wurde. Kari Kuhn.
Der Urwald als lebensraum.
Wenn wir W. V o 1 z i) durch Südsumatra folgen,
erfahren wir, was der Urwald dem europäischen
Menschen ist, was er dem Malayen ist, dem in-
discher Kulturgeist hilfreich zur Seite gestanden,
und was er für den Kubu bedeutet, der noch jetzt
Urmensch ist, wie vor Zehntausenden von Jahren.
Der erste Eindruck, den der Europäer vom Ur-
wald empfängt, ist der des endlos Wechselvollen:
„Kein Baum gleicht dem anderen, kein Stamm
dem anderen; zarte, duftfeine Formen und grobe,
massige, schmale und breite, Riesen und Zwerge
nebeneinander, durcheinander, übereinander — es
ist ein betäubender, sinnverwirrender Eindruck.
Und doch ist alles eins, eine mächtige, grüne
Laubmauer," denn die Farben fehlen, alles ist grün
und in dem Grün verschwinden die Blüten der
Bäume gleichwie die farbenprächtigen Orchideen.
Nicht lange währt es, so sieht der Blick nur noch
die grüne Mauer, ins Innere des Urwaldes dringt
er nicht hinein und etwas wie Enttäuschung über-
kommt den Reisenden, um so mehr, als auch
die Sonne ausgeschlossen ist; hoch oben in den
Wipfeln der Bäume spielt ihr Licht. Ringsum
ist Dämmer, Feuchtigkeit und Schwüle. „In
ewiger Lauheit verrinnt der Tag, die Nacht; kaum
je sinkt das Thermometer unter 21—22", kaum
je steigt es über 28—29». Die Fülle erdrückt,
die Üppigkeit erstickt. Und tiefe Sehnsucht
überkommt uns nach Freiheit, nach Sonnenlicht,
heraus, heraus aus dem Banne des Rimba!"
Die Malayen des Urwalds, sagt Volz, sind
„freier und selbstbewußter in ihrem Auftreten, als
z. B. in den kleinen Sultanaten der Ostküste, aber
zuvorkommend und höflich. Wenn man länger
irgendwo bleibt und der Tau der Frische sich
somit veriiert, werden sie unter Umständen ein
wenig dummdreist, nicht frech, jedoch etwas
dreist, lassen sich aber leicht in ihre Schranken
weisen. Stets bleiben sie gefällig und, ich möchte
') Wilhelm Volz: Im Dämmer des Rimba. Sumatras
Urwald und Urmensch. 112 S. Breslau 1921, F. Hirt. 15 M.
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
203
sagen, gehorsam. Wie alle Malayen sind sie fröh-
lich und zum Lachen und Scherzen geneigt, man
glaubt bei uns gern, daß die Bewohner heißer
Klimate impulsiv und heißblütig seien; das gilt
für die Malayen keineswegs, eher ist ihnen Phlegma
und im Zusammenhang damit geringe Energie
eigen. Auch die berühmte Hinterlist der Malayen
ist ein Märchen." Das Leben der Urwaldmalayen
ist ein äußerst ärmliches. Ihre Hauptnahrung ist
Reis, der auf kleinen Rodungen im Urwald an-
gebaut wird. Der Boden gibt nur zwei Ernten,
dann muß frischer Grund gesucht werden. „Nur
wenn wieder und immer wieder der Busch ge-
rodet und verbrannt wird, weicht schließlich der
Urwald, und mannshohes Steppengras, der Alang-
Alang, siedelt sich an, mit Buschzeug untermischt.
So finden sich diese Steppenflächen häufiger um
die Dörfer herum. Aber die Dörfer sind klein
und liegen weit voneinander; so sind sie mit
ihren gelegentlichen Steppenflächen und Frucht-
gärten Oasen im unermeßlichen jungfräulichen
Rimba." Vorderindischer Einfluß, der seit fast
zweitausend Jahren auf den ostindischen Inseln
nachweisbar ist, hat den Malayen zum Menschen
gemacht, und vorderindisch ist noch heute alles,
was sein Leben erhellt. Der Islam vermochte in
der Volksseele nicht tief Wurzel zu schlagen; die
Religion der glühenden Wüste haftet nur ober-
flächlich, da weder die Volksseele, noch die geo-
graphische Umwelt günstige Bedingungen für ihre
Aufnahme bieten. Allerdings entbehren die im
Urwald lebenden Malayen nun jeder von außen
kommenden Anregung; sie sind ein „aus alter
Kultur zurücksinkendes Volk, die geistige Quelle
ist durch den Islam zerstört, nichts Neues dafür
gegeben ; so nährt sich das Volk von den Resten
verblichener Zeiten — und seinem primitiven
Geiste genügt das."
Weit hinter den Urwaldmalayen zurück stehen
die Kubu, die ältesten Einwohner der sumatra-
nischen Waldgebiete. Sie sind von der Außen-
welt unbeeinflußt und die natürliche Artung ihres
Wohnraumes hat sie nicht aufwärts steigen lassen ;
ihre Kultur ist ein Rest von Urkultur. Das un-
bestrittene Reich der Kubu sind Zehntausende '
von Quadratkilometern Urwald zwischen dem
menschenleeren Gebirge der Westküste und den
unbewohnbaren Sumpfwäldern der Ostküste, mit
Ausnahme der großen Flüsse, wo Malayen in ge-
ringer Zahl wohnen und selten ins Landesinnere
vordringen. Die Zahl der Kubu mag ein paar
Tausend sein. Wandernd durchstreifen sie „den
unermeßlichen Rimba, familienweis; selten nur
bleiben die Kinder nach der Heirat mit ihren
Eltern zusammen. Nur in größerer Nähe der
malayischen Siedlungen haben sie sich zu kleinen
Horden zusammengetan; hier haben sie auch ge-
legentlich kleine Niederlassungen, in denen sie
bisweilen auch längere Zeit sich aufhalten." Ge-
wöhnlich verweilt jede der einzeln wandernden
Familien nur eine Nacht am gleichen Ort unter
einem dürftigen Windschirm. Tag für Tag zieht
man weiter, nach Nahrung suchend; gegessen
wird alles, „was eben genießbar ist. Den Grund-
stock der Nahrung bilden Früchte und Beeren,
sowie Wurzeln uud Knollen, die sie mit einem
spitzen Stock ausgraben; daneben aber sind ihnen
Eidechsen, Frösche und Raupen und fette Käfer-
larven eine schmackhafte Zuspeise. Jagd und
Fischfang kommt für ihre Nahrung nur sehr wenig
in Betracht, da sie keine Waffen oder Geräte zum
Fang haben und mit dem vorlieb nehmen müssen,
was ihnen ein glücklicher Zufall in den Schoß
wirft. . . . Vorräte kennt der Kubu nicht, es ist
genug, daß jeglicher Tag seine eigene Plage
habe. So ist das Dasein überaus beschwerlich;
selbst für den genügsamen Kubu ist der Tisch
nur äußerst spärlich gedeckt, grad daß er nicht
verhungert." Die Geschicklichkeit der Kubu im
Ersteigen von Bäumen ist erstaunlich. An Werk-
zeugen besitzen sie kaum etwas; „sie stehen noch
in der Holzzeit und leben fast wie die Menschen-
affen über ihnen in den Bäumen". Das ärmliche
Dasein, die schweren Mühen in der Suche nach
Nahrung erschöpfen das Leben rasch und Volz
ist überzeugt, daß die Leute schon recht früh
altern und in verhältnismäßig jungen Jahren
sterben. Von den Kindern werden nur wenige
groß.
Wenn angenommen wird, daß die Wiege der
Menschheit im Urwald stand, und wenn wir den
Urwald als Lebensraum betrachten, wie ihn Volz
zeigt, so sind wir zu der Folgerung gezwungen,
daß ein wesentlicher Aufstieg unseres Geschlechtes
erst dann in den Bereich der Möglichkeit kam,
als Zweige desselben das Leben im Urwald auf-
gaben; denn im Urwald wären die eigenartig
menschlichen Anlagen allgemein so verkümmert,
wie sie bei den Kubu verkümmert sind. An dem
Zustand dieses Völkleins ist der Urwald schuld;
„er nimmt der Menschenblüte die Lebensluft, die
Möglichkeit der Entwicklung. Der Urwald gibt
dem Menschwesen Nahrung, aber so karg, daß er
ohne Unterlaß der Nahrungssuche nachgehen muß,
will er nicht verhungern; tagaus, tagein, jahraus,
jahrein spendet der Urwald diese kärgliche Nahrung
— so ist eine Änderung, eine Abwechslung in
der Art der Suche nicht vorhanden. In der Steppe
ist die Art der Suche anders in der Trockenzeit,
anders in der Regenzeit ; dadurch wird der Mensch
zum Denken und Überlegen geführt; er muß sich
umstellen; im Urwald nicht; der Urwald ist durch
alle Jahrtausende derselbe. So spärlich ist die
Nahrung, daß nur kleinste Horden sich ernähren
können ; damit isoliert der Urwald den Menschen.
So wild verwachsen ist der Urwald, so sehr be-
nimmt er jegliche Sicht, daß kaum je eine Kubu-
horde andere Kubus im Urwald antrifft ; damit
schaltet der Urwald den Verkehr aus. Der Kubu ist
nur auf seine Frau, seine Kinder geistig angewiesen
— damit entfällt jeglicher Impuls zu geistiger Be-
tätigung, es fehlt Konkurrenz, es fehlt Herrschsucht,
es fehlt die Eifersucht, es fehlt das einfachste Mit-
teilungsbedürfnis, der Austausch von Erfahrungen
204
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
mit seinesgleichen. Was soll er mit dem Weibe, mit
dem er den ganzen Tag zusammenlebt, besprechen ?!
Damit fehlt der Anstoß zum Denken, zum Kombi-
nieren, zur geistigen Entwicklung, und in der
Isoliertheit, unter den elenden Lebensverhältnissen
des Urwaldes bleibt der Kubu durch all die Jahr-
tausende, was er einst gewesen — der Urmensch,
der Urwaldmensch."
Angesichts der im Urwald gebotenen Lebens-
bedingungen haben wir vielleicht den Gedanken
aufzugeben, daß die Menschwerdung sich dort
vollzog und die Möglichkeit ins Auge zu fassen,
daß erst dann das eigenartig Menschliche sich
entwickelte, als der Vormensch aus dem Walde
hinausgetreten war in die sonnige Steppe; sonst
hätte er dem Schicksal der anthropoiden Affen
nicht entrinnen können! Dieser Schluß drängt
sich auf, wenn man das hier angezeigte Buch von
Volz gelesen hat, das viel gelesen zu werden
verdient; es ist moderne Geographie, die nicht
lernen, sondern erleben läßt, keine Reisebeschrei-
bung, sondern das leise Fühlen und Verstehen
des tropischen Urwaldes als Entwicklungsraum
von Menschengeschlechtern. H. Fehlinger.
Sexualität und Parasitismus.
Merkwürdige Zusammenhänge zwischen Sexu-
alität und Parasitismus vermutet H. Burgeff^)
bei den Mukorineen. Unter diesen in ihrer Jugend
durch einzelliges Myzel ausgezeichneten, in Erde
oder auf Mist gedeihenden Fadenpilzen gibt es
etliche, die auf Verwandten parasitieren. So
wachsen z. B. junge Hyphenenden von Chaeto-
cladium auf solche von Mucor zu, legen sich ihnen
an, gliedern eine Endzelle ab und veranlassen,
nachdem eine offene Verbindung hergestellt ist,
den Wirt (Mucor) zu einer gallenartigen Auftrei-
bung, in deren Plasma sowohl Kerne von Chae-
tocladium als auch von Mucor verteilt sind. Diese
Galle, in die Nährstoffe des Mucor hineinströmen,
die also eine Art Schröpfkopf darstellt, wird dann
von Chaetocladiumhyphen umsponnen, die offen-
bar auf osmotischem Wege die Galle ausschöpfen.
Wenn auch im einzelnen etwas anders, aber doch
im Wesen ähnlich macht es Parasitella. Die
ersten zur Anlage des Schröpfkopfes führenden
Vorgänge ähneln sehr der bei den Mucorineen
üblichen sexuellen Kopulation, bei der auch zwei
Hyphenendenzellen sich vereinigen, natürlich hier
unter Kopulation der Kernpaare. Diese Ähnlich-
keit veranlaßte nun Bürge ff, die Frage zu prüfen,
ob der parasiteile Anschluß zwischen allen For-
men der getrenntgeschlechtlichen Komponenten
möglich ist. Die parasitären Mucorineen nämlich
sowohl wie andere Mucorineen, so z. B. Mucor,
Absidia, Rhizopus haben zweierlei äußerlich gleiche
aber geschlechtlich polarisierte Myzelien. Kopu-
') H. Bürge ff, Ber. d. Deutschen Botanischen Gesell-
schaft Bd. 38, S. 318, 1921. Vgl. auch Naturw. Wochenschr.
Bd. 20, S. 137.
lation erfolgt nur, wenn ein -|-- mit einem — Myzel
zusammentrifft. Merkwürdigerweise zeigte es sich
nun in einigen Fällen, daß Parasiten- und Wirts-
myzel entgegengesetztes Vorzeichen haben, also
in ihrer geschlechtlichen Ausprägung entgegen-
gesetzt sein müssen, wenn die Ausbildung eines
Schröpfkopfes erfolgen soll. Es parasitiert z. B.
ein -f- ■ Parasitellamyzel nur auf einem Absidia-
myzel und umgekehrt. Der Parasitismus ist also
wechselseitig geschlechtsbegrenzt. Burgeff
schließt daraus, 'daß hier die Reizstoffe, die zur
sexuellen Vereinigung anregen, die gleichen sein
müssen, wie die parasitäre Verkopplung bewirken-
den. Bei einer anderen Mukorinee, Rhizopus, war
aber dieser geschlerhtsbegrenzte Parasitismus nicht
zu finden , Parasitella zapft sowohl -f~ ■ Rhizopus-
wie — --Rhizopusmyzelien an. Nun machen
manche Mukorineen Anläufe zu Bastardierung,
auch Absidia und Rhizopus. Diese natürlich nicht
bis zur Kernkopulation vorschreitenden Anläufe
werden bei Absidia und Rhizopus ganz nach dem
Schema ausgeführt, d. h. es versucht zu kopu-
lieren nur -|--Asidia mit Rhizopus und um-
gekehrt. Beide haben also gewisse gleiche Sexual-
komplemente, daneben muß aber Rhizopus noch
ein besonderes Komplement haben, daß die Sexual-
und Parasitärkompjemente von Parasitella so er-
gänzt, daß es zur parasitären Verbindung kommt.
Diese Deutung seiner Beobachtungen bringt der
Verf. in Beziehung zu einer interessanten Fest-
stellung, die Kniep bei der Untersuchung der
Kopulation des ebenfalls getrenntgeschlechtlichen
Pilzes, Schizophyllum commune, eines Hymeno-
myzeten machte. Er fand, daß unter einer großen
Zahl von Myzelien dieses Pilzes nur eine gewisse
Zahl kopulierte, daß sie aber alle mit Myzelien
kopulierten, die zwar der gleichen Art angehörten,
aber anderer Herkunft waren. Diese letzteren
mußten also ein Komplement mitbringen, das den
anderen Myzelien fehlte. Aus diesen Befunden
geht hervor, daß man in diesem Falle nicht mit
zwei komplementären Kopulationsfaktoren aus-
kommt, sondern mehrere annehmen muß, und
hierzu stand, wie oben erwähnt, das Verhalten
von Parasitella gegenüber Absidia und Rhizopus
in einer gewissen Parallele. Miehe.
Deckentheorie an der Grenze von West-
rand üstalpen.
Gegenwärtig erscheint als für die Alpengeo-
logie wichtiges Werk der zweite Band von Al-
bert Heims Geologie der Schweiz. Durch
dieses, glücklicherweise in Deutschland (Tauch-
nitz, Leipzig) verlegte und dadurch wenigstens
für Bibliotheken nicht unerschwingliche Buch,
wird der Schweizer Teil der Alpengeologie in
Wort und Bild dem Studium zugänglich gemacht.
Damit gewinnen die in den letzten Jahren er-
schienenen Arbeiten über den Bau der Ostschweiz
in Deutschland an Interesse. Denn man wird
ihre Resultate auch in den Ostalpen berücksichtigen
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
205
müssen. Die Deckentheorie ist heute in der
Schweiz allgemein anerkannt und tritt uns in ihrer
einheitlichsten und auch einseiligsten Form in den
Arbeiten von Staub „Zur Tektonik der südöst-
lichen Schweizeralpen" und vor allem „Über Fazies-
verteilung und Örogenese in den südöstlichen
Schweizeralpen", Beiträge zur geol. Karte der
Schweiz, Neue Folge, XLVI. Lieferung, Bern 1916
und 1917 entgegen. Diese wieder gründen sich
auf zahlreiche Spezialarbeiten, die meist in den
Beiträgen zur geol. Karte der Schweiz erschienen
sind (z. B. Albert Heims bekannte Monogra-
phie des Säntis 1905, Arnold Heim, Chur-
firsten - Mattstockgruppe 1910 — 191 7, Trümpy,
Geol. Untersuchungen im westlichen Rhätikon 1916.
Spitz und Dyhrenfurth, Monographie der
Engadiner Dolomiten 1915 und viele andere), und
setzt ihrerseits die Theorien fort, die Argand
in seiner ausgezeichneten Arbeit „Sur l'arc des
Alpes occidentaies" (Fcl. Geol. Helv. Vol. XIV,
I, 1916) für die Westschweiz und das angrenzende
Frankreich aufstellt.
Argand und Staub fassen die Alpen nicht
als das Werk einer einmaligen , relativ kurzen
tertiären Faltungsperiode auf (eine Tatsache, die
den ostalpinen Geologen schon längst vertraut
ist) ; sie sparen vielmehr bereits bei der variskischen
Faltung zur Karbonzeit einen ungefalteten Streifen
aus. Dieser erstrecke sich zwischen dem starren
eurasiatischen Kontinent, der nach Süden bis zu
den heutigen „autochthonen kristallinen Zentral-
massiven" (z. B. Aar- und Gotthardmassiv) reicht,
und der „indoafrikanischen Scholle" (eine wenig
glückliche Argandsche Bezeichnung), die süd-
östlich jenem gegenüberliegt.
Dieser Streiten, in dem die jungpaläozoischen
und allmesozoischen Schichten konkordant und
gleichförmig dem Untergrund auflagern sollen
(es handelt sich aber wahrscheinlich nur um eine
durch die spätere Gebirgsbildung erzeugte Schein-
konkordanz) senkt sich während der Trias, des
Jura und der Kreide als „alpine Geosynklinale"
hinab und nimmt eine bedeutende Schichtenreihe
auf. An der Nordseite der breiten Mulde, also
am Südhang des eurasiatischen Kontinents, bildete
sich der Streifen der helvetischen Sedimente, jener
Gesteine, die heute gänzlich verlagert die Schweizer
Kalkalpen aufbauen und sich im Osten nach
Vorarlberg, dem Grünten im Allgäu und weiteJ
nur noch als ziemlich schmale Fiyschzone fort-
setzen. In der Zentralzone der alpinen Geosyn-.
khnale gelangten die meist schieferigen Bildungen
der penninibchen Zone zum Absatz (Bündner
Schiefer). Sie finden sich heute in der Südschweiz,
dem Engadiner Fenster und nach vielen Tek-
tonikern auch in den Tauern. Im Süden entstanden
auf karbonzeithch gelaltetem Untergrund die Ge-
steine der ostalpinen Fazies. Sie entsprechen
einem seichteren inselreichen Meere (Rand der
„indoafrikanischen Scholle") und sollen, der
extremen Deckentheorie zufolge, heute den größten
Teil der Ostalpen als schwimmende Decke auf-
bauen. Im einzelnen gliedert Staub sowohl die
penninische wie die ostalpine Zone vor der
Deckenbildung durch eine ganze Reihe von lang-
gestreckten Geantiklinalen, d. h. Rücken, die
Seichtwassersedimente tragen, ja zum Teil sogar
über die Meeresspiegel hinausgeragt haben sollen.
Auf diese Art erhält er eine wellblechartige Einzel-
struktur des alpinen Meeres, wofür wir jedoch
heute nirgends auf der Erde Beispiele finden.
Um die Mitte der Kreidezeit führten nun die
tangential schiebenden Kräfte zunächst im ost-
alpinen Gebiet zu weitgehenden Deckenüber-
schiebungen, deren Alter durch die stellenweise
übergreifende obere Kreide festgelegt ist. Im
Tertiär ergreift die tektonische Bewegung auch
das penninische Gebiet. Auch hier entwickelt
sich aus je einer Geantiklinale, einem „Decken-
embryo", eine Decke, die eine über der anderen
nach Norden und Nordwesten wandern. Vor sich
her schieben die penninischen Decken die Sedi-
mente, die am Südhang des eurasiatischen Kon-
tinents lagen und verlagern sie als passives, von
seinen Wurzeln losgerissenes helvetisches Decken-
system weit nach Norden. Dabei werden Stücke
der unterostalpinen Decken als Klippen auf
dem Rücken der helvetischen Decken mitgetragen.
Die helvetischen Decken „branden" schließlich im
jüngsten Tertiär an den Massen des Molasse-Nagel-
fluh (Arnold Heim), die penninischen über-
winden nur an wenigen Stellen (Niesen, süd-
westlich vom Thuner See) den Rand des eurasia-
tischen Kontinentes. Aber durch ihren Druck
stauchen sie diesen Rand etwas empor, so daß er
heute, durch Abtragung der einst darüberliegen-
den Decken bloßgelegt, die Hochgipfel der auto-
chthonen kristallinen Zentralmassive aufbaut (Jung-
frau, Finsteraarhorn, Montblanc).
Auch im Gebiet der höchsten, südöstlichsten
Decken gehen in dieser letzten, der insubrischen
Faltungsphase Argands, noch wichtige Verände-
rungen vor. Das ist das Gebiet der ostalpinen
Decken, denen Staub als höchste die Dinariden
(also die südlichen Kalkalpen) zuzählt, eine An-
nahme, mit der er sich von der seit E. Sueß
herrschenden Anschauung freimacht, daß Alpen
und Dinariden scharf geschiedene Gebirge seien.
Durch starke Senkungen im Südalpengebiet und
weitere Zusammenpressung des ganzen Alpen-
körpers erfolgten Steilstellung der Deckenwurzeln
und (nach Argand und Staub unbedeutende)
nach Süden gerichtete Überschiebungen in den
südlichen Kalkalpen.
So versucht man durch eine größere Reihe
von Dislokationsphasen die eigenartigen und
mechanisch zunächst ganz unbegreiflich scheinen-
den Querprofile durch die Westalpen, den unge-
heuren Deckenhaufen zu erklären.
So einleuchtend die Darstellung auch auf den
ersten Blick sein mag, und so gut sie auf die Ver-
hältnisse des helvetischen Gebiets paßt, krankt
sie doch zweifellos daran, daß sie das Prinzip des
einseitigen Schubes überueibt. Wenn man auch
206
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
nicht, wie es früher allgemein üblich war und in
jüngerer Zeit noch von Rothpletz oder M y 1 i u s
(Forschungen an der Grenze von West- und Ost-
alpen) unternommen wurde, Überschiebungen aus
allen Himmelsrichtungen annehmen darf, so bietet
doch die längst erkannte S-förmige Biegung des
Alpenkörpers an der Grenze von West- und Ost-
alpen Gründe genug für eine, wenigstens in der
Ostschweiz wirkende starke Ost-West-gerichtete
Komponente der gebirgsbildenden Schubkräfte
(z. B. von Spitz und Dyhrenfurth betont).
Damit werden aber zahlreiche Überschiebungen
im penninischen und unterostalpinen Gebiet, die
Staub als deckentrennend ansieht, zu unterge-
ordneten Sekundärstörungen, die Größe desDecken-
haufens, die riesige Zahl der Decken verringert
sich mit einem Schlage, die Wellblechpaläogeo-
graphie erübrigt sich und macht wahrscheinlicheren
paläogeographischen Verhältnissen Platz.
Ist die Deckentheorie in ihrer einseitigsten
Form schon im engen Gebiet der Schweiz nicht
überall glatt durchzuführen, so ergeben sich noch
größere Schwierigkeiten, wenn man sie ohne
weiteres auf die Ostalpen übertragen will. Fragen,
wie die nach dem Alter der Überschiebungen (im
Osten zweifellos vorwiegend vor der oberen Kreide,
am Westende der Osialpen im Tertiär erfolgt),
nach der Heimat der nördlichen Kalkalpen (ob
nördlich oder südlich der kristallinen Zone), nach
der Bedeutung der südlichen Kalkalpen mit ihren
beträchtlichen, nach Süden gerichteten Über-
schiebungen im Gesamtbau der Alpen harren im-
mer noch einer allgemein befriedigenden Lösung.
Leipzig. C. W. Kockel.
Die Technik des Geflügelimpfens.
Diese sich immer mehr einbürgernde thera-
peutische und prophylaktische IVIaßnahme hatte
bisher beim Geflügel keine einheitliche Technik
aufzuweisen. Als Impfstelle benützt man meist
den Brustkorb, die Flügel, die Schcnkelinnen- und
Außenfläche, ferner die Dorsalfläche des Halses
und den Nacken. Nähere, eingehende Angaben,
eine Beschreibung, wie man die Vögel beim Impfen
anfassen und halten soll, existiert nicht. Nur eine
ältere, unmögliche Abbildung kommt öfter vor in
den Anweisungen und Prospekten, bei welcher
die Krallen des Huhnes direkt auf die Hand des
Impfenden gerichtet sind. Im „Allatorvosi Lapok",
1920, Nr. 13/14 empfiehlt daher Dr. Szäsz, Leiter
der Staatlichen Impfstoffanstalt in Budapest, ein
von ihm erprobltes zweckmäßiges Verfahren. Nach
demselben soll die Impfstelle leicht und ohne Ge-
fahr erreichbar und wenig empfindlich sein. Weder
die Brust noch die Flügel oder die Schenkelgegend
entsprechen diesen Anforderungen, denn bei diesen
ist das Fixieren der Vögel beim Impfen umständ-
lich und eine gelegentliche lokale Reaktion be-
einflußt den Wert des Tieres. In jeder Hinsicht
entspricht dagegen als Impfstelle die Dorsal-
fläche des Halses, aber nur im mittleren
Drittel, wo die Haut weich ist und locker anliegt,
weniger empfindlich ist und keine stärkeren Ge-
fäße, Nerven oder Sehnen bedeckt, die beim Ein-
stechen der Impfnadel eine besondere Beachtung
erfordern würden; an dieser Stelle kann man so-
gar bei Kücken, auch verhältnismäßig größere
Mengen Impfstoff unter die Haut bringen, ohne un-
angenehme Folgen. Nicht so an der blutreichen,
festeren Nackengegend oder im unteren Drittel
des Halses, wo der Kropf leicht verletzt werden
kann und die injizierte Flüssigkeitsmenge, auf die
hier befindlichen Nerven drückend, Bewegungs-
störungen hervorrufen kann. Beim Impfen an der
Halsgegend genügt ein Gehilfe vollkommen, der
das in ein Handtuch gehüllte Tier am Tisch hält.
Der Gehilfe ruht mit seiner linken Hand auf dem
im Tuch eingewickelten Körper des Vogels, mit
der Rechten faßt er den Schnabel und fixiert den
Kopf des Impflings. Die Impfnadel wird mög-
lichst parallel mit den Halswirbeln unter die Haut
geführt, nach dem Einspritzen ist ein Verdrücken
des Impfstoffes unnötig, sogar schädlich; ebenso
das Abschneiden oder gar Ausrupfen der Federn
an der Impfstelle. Selbst die Desinfektion an der
Impfstelle ist überflüssig. Dagegen sollen die
Vögel nach dem Impfen weniger Nahrung erhalten.
Reuter.
Bücherbesprechungen.
Berndt, G., Physikalisches Wörterbuch.
Band 5 von „Teubners kleine Fachwörterbücher".
200 S. mit 81 Figuren im Text. Leipzig und
Berlin 1920, B. G. Teubner. Geb. 5 M. und
Teuerungszuschlag.
Auerbach, F., Wörterbuch der Physik.
Aus „Veits Sammlung wissenschaftlicher Wörter-
bücher". 466 S. mit 267 Figuren. Berlin und
Leipzig 1920, Vereinigung wissenschaftlicher
Verleger. Geb. 26 M.
Die Verf. haben die mühevolle Arbeit unter-
nommen, die gesamte Physik nebst benachbarten
Wissensgebieten in der Form eines Wörterbuchs
darzustellen. Sie wenden sich damit in erster
Linie an alle diejenigen, die sich möglichst rasch
über irgendeinen hierhergehörigen Begriff oder
Fachausdruck orientieren wollen, ohne an den je-
weiligen Stellen tiefer eindringen zu müssen, wie
dies etwa beim Gebrauch eines Lehrbuchs er-
forderlich wäre. Immerhin suchen sie das letztere
durch ein der Bedeutung des Gegenstandes an-
gepaßtes mehr oder weniger ausführliches Ein-
gehen, durch schematische Veranschaulichungen
und zahlreiche Hinweise auf naheliegende Zusam-
N. F. XX. Nr. 13
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
207
menhänge soweit zu ersetzen, als es im Interesse
einer ausreichenden Vervollständigung der ge-
botenen Einzelkenntnis wünschenswert ist.
Das erstgenannte Buch zeichnet sich trotz
seines geringen Umfangs durch große Vollständig-
keit in der Anführung aller wichtigen Stichwörter
und durch klare und scharfe Definitionen aus, wo-
bei von ausführlicheren Darlegungen naturgemäß
abgesehen werden mußte. Anerkennenswert ist
die Anordnung, daß bei Fremdwörtern eine ety-
mologische Erklärung, bei Bezugnahme auf Per-
sonen knappe biographische Daten vorausgeschickt
sind. Als kurzes Nachschlagebuch wird es weniger
weitgehenden Ansprüchen jedenfalls vortrefflich
genügen.
Das zweitgenannte Buch sucht höheren An-
sprüchen gerecht zu werden. Es beschränkt sich
nicht auf die Definition, sondern bespricht alle
wichtigeren Tatsachen und Gesetze unter Bei-
fügung von Zahlentafeln, Figuren, mathematischen
Formeln und theoretischen Beziehungen in einem
solchen Umfang, daß der Leser damit einen voll-
ständigen Einblick in das jeweilige Gebiet erhält
und gleichzeitig den tieferen Zusammenhang in
den Einzelfragen erkennt. Das Buch vermag da-
durch auch dem Fachphysiker Dienste zu leisten,
und es bleibt nur zu wünschen, daß seine Be-
deutung in dieser Richtung durch Hinzufügung
von Literaturnachweisen bei Gelegenheit einer
etwaigen Neuauflage weiter wachsen möchte.
A. Becker.
Lowie, Robert H., Primitive Society. VIII
und 463 S. New- York 1920, Macmillan. 3 Doli.
Unter dem Einflüsse des evolutionären Opti-
mismus der Sechziger und Siebziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts begründete der amerikanische
Ethnologe Lewis H. Morgan eine soziale
Theorie, deren Grundprinzip die unilineare
Entwicklung der menschlichen Geistes-
kräfte und der auf ihren Auswirkungen beruhen-
den Kulturen war. Die völkerpsychologischen
Forschungen der letzten 50 Jahre, zu denen ge-
rade Morgans kühne Annahmen vielfach Anstoß
gaben, haben jedoch gezeigt, daß seine Theorie
nicht zu halten ist. Statt Gleichartigkeit tritt uns
überall Verschiedenartigkeit entgegen und je tiefer
wir in den Kulturbesitz der einzelnen Völker Ein-
blick gewinnen, desto deutlicher wird es, daß sie
nicht Stufen einer gleichgerichteten Entwicklung
darstellen, die gesetzmäßig vor sich ginge. So-
weit es sich um das Teilgebiet der gesellschaft-
lichen Zustände handelt, wird dies in dem vor-
liegenden Buch Robert H. Lowies anschaulich
gemacht. Der Verf. hatte als Kurator des ameri-
kanischen Naturgeschichtemuseums, wie einst
Morgan, besonders gute Gelegenheit zum Studium
der sozialen Einrichtungen der nordamerikanischen
Indianer, doch hat er überdies auch viel auf andere
Völker bezügliches Material zusammengetragen
und kritisch gesichtet. Wer die hier gesammelten
Tatsachen würdigt, kann unmöglich mehr an der
Meinung festhalten, daß im Völkerleben allgemein
gültige Gesetze walten, die zu bestimmten Zielen
hinführen oder daß entwicklungsgesetzlich ein
stetiger P'ortschritt von niedriger zu höherer Kul-
tur stattfinde. Wohl sind vielfach bei weit von-
einander entfernt lebenden Völkern Kulturgüter
vorhanden, die sich äußerlich in hohem Maße
gleichen und dem gleichen Zwecke zu dienen
scheinen, doch handelt es sich bloß um rein äußer-
liche Übereinstimmungen. So täuscht die Aus-
wirkung des Bedürfnisses nach gegenseitiger Förde-
rung und nach Zusammenschluß mit gleichge-
sinnten Genossen bei manchen primitiven Völkern
Vorbilder ganz moderner sozialer Erscheinungen
vor, wie etwa die Gewerkschaften der Samoaner
(S. 34i5), aber sie haben keinerlei innere Beziehung
zu den europäischen Berufsverbänden. Lowie
macht uns klar, daß das bunte Bild, das alle
Einzelkulturen darbieten , in bedeutendem Maße
durch Entlehnung von Kulturgütern bei zufälliger
Berührung der Völker zustande kam. Mehr als
jede andere ist unsere eigene Kultur ein Komplex
entlehnter Elemente. Eine einzigartige Ereignis-
folge ließ sie entstehen, wie sie bei keinem anderen
Menschheitszweig mehr eintreten kann und sie
kann deshalb kein Wegweiser für Kulturen sein,
deren Träger wesentlich anderen Schicksalen aus-
gesetzt waren. — Die Darstellungsweise Lowies
ist klar und scharf, sie läßt Zweifel nicht auf-
kommen; andererseits ist sie so lebensvoll, daß
der Leser dem Autor bis zum Ende folgen muß.
H. Fehlinger.
Geiger, H. und Makower, W., Meßmethoden
auf dem Gebiete der Radioaktivität.
Band 65 der Sammlung „Die Wissenschaft".
156 Seiten mit 61 Abbildungen. Braunschweig
1920, Fr. Vieweg & Sohn. Geh. 6 M. und
Teuerungszuschlag.
Die Verff. veröffentlichen hiermit ihre im Jahre
191 2 erschienene englische Ausgabe über den
gleichen Gegenstand in im wesentlichen unver-
änderter deutscher Übersetzung. Ursprünglich
für einen an der Universität Manchester von Prof.
Rutherford eingerichteten Elementarkursus
ausgearbeitet, will das Buch eine Anleitung geben
für alle wichtigeren praktischen Arbeiten auf dem
Gebiet der Radioaktivität.
Die beiden ersten Kapitel besprechen die
wesentlichen technischen Hilfsmittel für radioaktive
Messungen. Darauf folgt im 3. Kapitel eine kurze
Betrachtung der Leitfähigkeitserzeugung in Gasen,
auf deren quantitative Verfolgung fast alle radio-
aktiven Untersuchungen sich stützen. Die sich
anschließenden Kapitel wenden sich den eigent-
lichen radioaktiven Untersuchungsmethoden im
einzelnen, insbesondere der Untersuchung der a-,
ß- und yStrahlen, der radioaktiven Niederschläge
und Umwandlungen, schließlich den Methoden zur
absoluten Messung und zur Trennung radioaktiver
Substanzen zu. Besonderer Wert ist darauf gelegt,
zu zeigen, daß die große Mehrzahl der in Betracht
208
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 13
kommenden Versuche mit den einfachsten Mitteln
befriedigend durchführbar ist und daß in dieser
Hinsicht Bedenken gegen eine stärkere Mitberück-
sichtigung des Gebiets der Radioaktivität bei
praktischen Übungen unberechtigt sind.
So sehr das Erscheinen einer solchen erprobten
und von durchaus authentischer Seite geschriebe-
nen Anleitung einem Bedürfnis entspricht, so sehr
muß andererseits bedauert werden, daß die Verf.
selbst in keiner Weise das Bedürfnis empfunden
haben, dem deutschen Leser mehr zu bieten als
eine Übersetzung einer alten, rein englisch ge-
richteten Darstellung, in der weder der Fortschritt
der letzten 8 Jahre überhaupt noch insbesondere
die ausgedehnte deutsche Literatur, die für die
Verfif. nicht zu bestehen scheint, zur Geltung
kommt. Es ist kein Zweifel, daß das Buch den
Besucher eines englischen Praktikums, für den es
geschrieben ist , voll befriedigen wird. Ebenso-
wenig ist es aber auch zu bezweifeln, daß der
deutsche Benutzer, wenn er bei Bewertung der
Literatur des Gebiets nicht vollständig in die Irre
gehen will , mehr verlangen muß. Sorgen wir
endlich energisch dafür, daß der alte deutsche
Fehler, der uns in unkritischer Überschätzung der
fremden Leistungen die eigenen nicht mehr sehen
ließ, uns nicht erneut befalle!
A. Becker.
Angersbach, A., Das Relativitätsprinzip.
39. Bändchen der Mathematisch Physikalischen
Bibliothek, herausgegeben von W. Lietzmann
und A. Witting. 57 S. mit 9 Fig. im Text.
Leipzig und Berlin 1920, B. G. Teubner. Kart.
1,40 M. und Teuerungszuschlag.
Die ansprechenden Bändchen der „Mathema-
tisch Physikalischen Bibliothek" wollen teils eine
Verliefung solcher elementarer Probleme geben,
die allgemeinere kulturelle Bedeutung oder be-
sonderes wissenschaftliches Gewicht haben, teils
wollen sie Dinge behandeln, die den Leser, ohne
zu große Anforderungen an seine Kenntnisse zu
stellen, in neue Gebiete der Mathematik und
Physik einführen.
Die vorliegende Schrift will in diesem Sinne
dem allgemein Gebildeten das Verständnis für die
Grundlagen und den Inhalt der Relativitätstheorie,
insbesondere der Einst ein sehen speziellen
Theorie, vermitteln. Sie löst diese Aufgabe in
ganz vortrefflicher Weise. Die Betrachtung der
grundlegenden Probleme ist bei voller wissen-
schaftlicher Strenge so durchsichtig und durch
die konkrete elementare Durchrechnung der wesent-
lichen quantitativen Verhältnisse so weitgehend
veranschaulicht, daß die Schrift allen an dem
Gegenstand interessierten Kreisen aufs wärmste
empfohlen werden kann. B. Becker.
Knotnerus - Meyer, Th., Zoologisches
Wörterbuch. Teubners kleine Fachwörter-
bücher 2. 212 S. kl. 8". Leipzig und Berlin
1020, B. G. Teubner. — Geb. 7,20 M. und
Teuerungszuschläge.
Das Büchlein enthält über 4000 Tiernamen,
zoologische Fachausdiücke und Namen von Zoo-
logen, letztere mit kurzer Biographie, jene mit
kurzer sachlicher und sprachlicher Erklärung, und
auf 2 Seiten das zoologische System. Wer im
System und in der vergleichenden Morphologie
wenig zu Hause ist, wird das Büchlein mit Vorteil
benutzen. *) V. Franz (Jena).
') Für einen Neudruck sei die Aufnahme des Namens
Heincke empfohlen, der neben dem der Mitarbeiter des Ge-
nannten nicht fehlen dürfte; ferner ist bei „Brachyura'' der
Ausdruck Rückenfüßer mißverständlich, da der nur für einen
Teil von jenen zutrifft. Sonst fand ich nichts zu bemängeln.
Literatur.
Much, Prof. Dr. H., Pathologische Biologie (Immunitäts-
wissenscbaft). 3. Aufl. Mit 6 Tafeln u. 7 Textabb. Leipzig
'20, C. Kabitscb. 45 M.
Mosler, Dr. H., Einführung in die moderne drahtlose
Telegraphie und ihre praktische Verwendung. Mit 218 Text-
abb. Braunschweig '20, Fr. Vieweg. 24 M.
Andre, Prof. Dr. K., Geologie des Meeresbodens. Bd. II.
Die BodenbescbafTenheit und nutzbaren Mineralien am Meeres-
boden. Mit l39Textfig., 7 Tafeln und i Karte. Leipzig' 20,
Gebr. Bornträger. 92 M.
Heiberg, J. L. , Naturwissenschaften, Mathematik und
Medizin im klassischen Altertum. 2. Aufl. Leipzig u. Berlin
'20, B. G. Teubner. 2,80 M.
Binz, D. A., Schul- und Exkursionsflora der Schweiz,
Basel '20, B. Schwabe & Co. 9 Fr.
Kükenthal, Prof. Dr. W. , Leitfaden für das zoologi-
sche Praktikum. 8. Aufl. Mit 174 Textabb. Jena '20, G.
Fischer. 28 M.
Seifert, Prof. Dr. O., Die tierischen Parasiten des Men-
schen. II. Teil : Klinik und Therapie der tierischen Parasiten
des Menschen. Mit 19 Textabb. 2. Aufl. Leipzig '20, C.
Kabitsch. 72 M.
Prof. Dr. Wo., Kolloidchemie der Eiweißkörper.
Mit 27 Textabb. Dresden und Leipzig '20, Th.
Pauli
I. Hälfte.
SteinkopflF.
M e z , Prof. Dr. C. , Hagers „Mikroskop und seine An-
12. Aufl. Mit 495 Textfig. Berlin '20, J. Springer.
Wendung".
38 M.
Schwarz, Fr. M. v. , Legierungen.
Stuttgart '20, F. Koke. Geh. 16 M.
Mit 45 Textabb.
Inhalt: L. Armbruster, Neue Urkunden über das älteste Haustier. (11 Abb.) S. 193. W. Frölich, Der Segelflug
und verwandte Bewegungen in Luft und Wasser. S. 197. — Einzelbericbte: J. Groh und G. v. Hevesy, Die
Selbstdiffusionsgeschwindigkeit des geschmolzenen Bleis. S. 201. W. Volz, Der Urwald als Lebensraum. S. 202.
H. Burgeff, Sexualität und Parasitismus. S. 204. A. Heim, Deckentheorie an der Grenze von West- und
Ostalpen. S. 204. Szäsz, Die Technik des Geflügelimpfens. S. 206. — Bücberbesprecbungen : G. Bernd t, Phy-
sikalisches Wörterbuch. S. 206. F. Auerbach, Wörterbuch der Physik. S. 206. R. H. Lowie, Primitive Society.
S. 207. H. Geiger und W. Makower, Meßmethoden auf dem Gebiete der Radioaktivität. S. 207. Th. Knot-
nerus-Meyer, Zoologisches Wörterbuch. S, 208. — Literatur: Liste. S. 208.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InTalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Fol^e 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 3. April 1921.
Nummer 14.
Autbau und geologische Geschichte der Sinaihalbinsel.
[Nachdruck verboten,]
Von Walter Hoppe, Leipzig.
Die Sinaihalbinsel mit ihrem heiligen Berg
steht seit Jahrhunderten im Interesse der biblischen
Geographieforschung. Wohl seit 350 n. Chr.,
durch die Ansiedlung der ersten christlichen Ere-
miten auf der Sinaihalbinsel, mindestens aber seit
dem 6. Jahrhundert, mit der Erbauung des
St. Katharinenklosters unter Justinian I., ist der
2292 m hohe Dschebel Musa als Berg der Ge-
setzgebung festgelegt worden.*) Gegen die Lage
des alttestamenilichen Sinai auf der nach ihm be-
nannten Halbinsel wandte sich zuerst der englische
Geograph Beke. Auf Grund des biblischen
Berichtes sollte der Sinai ein Vulkan gewesen
sein, und er suchte ihn 1874 im Hedschas in
NW-Arabien. Wegen des Mißerfolges dieser Ex-
pedition gab Beke seine Vulkantheorie auf, hielt
aber an der Lokalität fest. Für seine Gedanken
setzte sich erneut Gunkel 1903 ein: „Nach den
biblischen Berichten muß der Sinai ein Vulkan
gewesen sein. Zu einem Vulkan hat Moses sein
Volk geführt und in dem schrecklichen Vulkan-
ausbruch hat man Jahves schauerliches und maje-
stätisches Erscheinen erlebt." Auch er suchte, da
jüngere Vulkane auf der Sinaihalbinsel fehlen, da-
gegen in Arabien in geschichtlicher Zeit, z. B.
noch 1256 bei Medina, Vulkanausbrüche statt-
fanden, den heiligen Berg in Nordwestarabien.
Einen wesentlichen Beitrag lieferte Musil zur
Sinaifrage. Die geologische Begründung zu M u -
sils Ansicht ist erst unlängst von Kober er-
schienen -) und so soll hier etwas näher auf diese
Entdeckungen eingegangen werden. 19 10 unter-
nahm Musil mit Kober als Geologen eine Reise
in den nördlichen Hedschas.^) Er passierte dabei
ein geologisch junges Vulkangebiet. „Wir ge-
langten in die Ebene al Gaw, in der wir am
2. Juli unverhofft die meiner Ansicht nach wichtigste
Entdeckung auf dieser Forschungsreise machten,
nämlich die des wahren biblischen Berges Sinai.
Alle unsere Mühen wurden vergessen und gern
hätten wir auch die Grotten der Diener Mosis
genau untersucht, aber unser Führer wollte um
keinen Preis, daß wir den heiligen Vulkan al Bedr
betreten." Kober hebt hervor, daß die Verhält-
nisse zweifellos für die Möglichkeit von Aus-
brüchen in geologisch rezenter Zeit sprechen. Nach
') Oberhumer, Die Sinaifrage. Mitt. d. k. k. Geogr.
Gesellsch. Wien 1911, S. 628.
*) L. Kober, Das Nördliche Heg.'u. II. C. von: Geol.
Forsciiungen in Vorderasien. Denkschr. d. Ak. d. Wiss. Math.-
Nat. Kl. Wien 1919, 96 Bd.
') A. Musil, Vorbericht über die Reise nach Arabien.
Anzeiger d. K. Ak. d. Wiss. Wien 1911, S. 139.
seinen Forschungen hält er die Lage des biblischen
Sinai im Sinne von Musil für entschieden. Der
heilige Berg der Gesetzgebung ist demnach nicht
mehr auf der Sinaihalbinsel zu suchen, sondern
im nördlichen Hedschas als der Vulkankegel des
HäIa-1-Bedr in 27" 12' n. Br. und 37* 7' ö. Gr.
Die meisten Reisen nach der Sinaihalbinsel
galten dem Berg Mosis. In Einklang damit steht
es, daß nach dem westlichen Teil der Halbinsel,
wo das Katharinenkloster steht, z. B. auch die
meisten geologischen Expeditionen unternommen
wurden. Es liegen heute von der Sinaihalbinsel
eine große Anzahl geologischer Einzelergebnisse
vor. Eine geologische Zusammenfassung besteht
nicht, und es ist schwierig, sich nach diesen, recht
verschieden zu wertenden Berichten ein Bild vom
Aufbau zu machen.
In der Sinaihalbinsel sind 3 Forschungsgebiete zu
unterscheiden. Das nördliche, westlich der Landes-
grenze Ägypten gegen Palästina von Akaba nach
Rafah am Mittelländischen Meer und ungefähr im N
des 30" n. Br. bezeichnet sein letzter Erforscher, der
Berliner Geologe Dr. Range (Lit.-Verz. 39), nach
einem Vorschlage von Schweinfurth als Isth-
muswüste. Dr. Range durchreiste die Isth-
muswüste 191 5/16 als Geologe in der türkischen
Armee bei ihrem Vorstoß gegen den Suezkanal
mehrmals. Er hat davon auch eine geologische
Karte gezeichnet. Wichtig sind für dieses Ge-
biet noch die Angaben von Douville 1913. Öst-
lich der Landesgrenze Akaba Rafah hat Blancken-
horn 1914 in seinem Handbuch über Syrien,
Arabien, Mesopotamien eine Gesamtdarstellung der
geologischen Verhältnisse gegeben. Es werden
deshalb die Untersuchungen hier ungefähr mit
dieser Grenze im Osten abschließen.
Viele Nachrichten liegen vom 2. Forschungs-
gebiet vor, dem W- oder SW-Teil der Halb-
insel, ungefähr vom 30." n. Br. bis nach S zum
Ras Muhammed sich erstreckend. Dieses Gebiet
ist von Ägypten aus in einer Reihe von Expe-
ditionen erforscht worden; z. B. Holland 1866,
Bauermann 1868, Milne 1874, Hüll 1883,
F o u r t a n 1 898. Auch deutsche Geologen haben
hierher Forschungsreisen unternommen, Fraas
1866, Walt her 1887 (Karte entworfen), Roth-
pletz 1891, Schürmann 1914. Seine letzte
große topographische wie geologische Erforschung
hat der W Teil der Halbinsel 1898/99 durch Bar-
ron von Ägypten aus erfahren. Barron gibt
als wesentlichen Beitrag seiner Resultate eine geo-
logische Karte. Nach O schließt dieses W-
Forschungsgebiet ungefähr am Dschebel Musa,
210
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 14
am 34." ö. Gr. ab. Hierauf folgt nach O das
3. Forschungsgebiet, die SO- Sinaihalbinsel.
Dieser Teil ist weniger bereist worden. Zu nennen
sind: Ruppel 1829, Figari Bey 1864, Hüll
in den achtziger Jahren. Wiederum ein Geologe
der Geological Survey of Egypt, H u m e , unter-
nahm ausgedehnte Expeditionen hier und legte
als Resultat eine ausführliche Beschreibung der
topographischen wie geologischen Verhältnisse
nieder. Seine geologische Karte reicht nach N
bis zum 28." 36' n. Br. Barrons Karte schließt
im N ab am 29." 24' n. Br. und im Innern am
29." n. Br. ungefähr. Die geologische Karte von
Dr. Range endet im S am 30° n. Br. Nach
den neuesten Aufnahmen ist also das zwischen
der Isthmuswüste und der eigentlichen Halbinsel
noch nicht kartenmäßig festgelegte Gebiet nur noch
von geringer Ausdehnung. Eine Karte des ge-
samten Gebietes besteht von Hüll, 18S9; sie ist
nach den heutigen Ergebnissen als ganz veraltet
anzusehen. Das Blatt 48/F. VII, Syrien, Feträisches
Arabien, O- Ägypten von Blanckenhorn der Inter-
nationalen Karte von Europa beruht im wesent-
lichen auf den Ergebnissen von Barron und
H u m e. Die Verhältnisse der Isthmuswüste nach
Dr. Range sind natürlich noch nicht berück-
sichtigt worden.
Es sollen hier bei der Betrachtung des geo-
logischen Aufbaues der Sinaihalbinsel die Unter-
suchungen zusammengefaßt nach den 3 Forschungs-
gebieten behandelt werden und zwar möglichst
in der Reihenfolge: W-Sinai, 0-Sinai, Isthmus-
wüste.
I. Das Grundgebirge.
Das Grundgebirge spielt die herrschende Rolle
im Aufbau der Halbinsel. Südlich vom 30." n. Br.
besteht der Kern des Sinaidreiecks aus Eruptiven.
In der SW-Sinaihalbinsel bildet roter Granit die
Gebirgszüge im Innern, ebenso die lange Kette
an der Küste von Tor bis zum nördlich davon
gelegenen Ras Jehan. In weiter Ausdehnung ist
auch Gneis am Aufbau beteiligt. Dazu kommen
noch im Innern der Halbinsel Hornblende -Gra-
nite, Diorite und in geringerem Maße Basalt,
Dolorit, Felsit als Gänge und ein weites Kontakt-
schiefergebiet am Wadi Barq im N des Eruptiv-
massivs.
Barron teilt die Gesteine wie folgt ein:
I. Erstarrungsgesteine.
a) Granit.
Grobkörniger roter Granit, arm an Glimmer
und anderen femischen Gemengteilen.
Forphyrischer Granit, blaßrot, mit großen
Orthoklaskristallen.
Grauer Biotitgranit, der lokal in Gneis über-
geht und das Ausgangsmaterial zu allen Gneisen
und Schiefern bildet.
b) Syenit und Diorit.
c) Ganggesteine und gangförmig auftretende
Gesteine, felsitisch und doleritisch.
d) Laven.
e) Vulkanische Kuppen.
2. Metamorphe Gesteine.
a) Gneis und Schiefer.
b) Metamorphe Kalksteine, Granatschiefer und
Sandsteine.
Der grobkörnige rote Granit wird außerordent-
lich häufig von Gängen von Dolerit und Felsit
durchzogen. Der hellrote porphyrische Granit ist
charakterisiert durch große hellrote Orthoklase
und einen geringeren Gehalt an Quarz als im
grobkörnigen Granit. Er verwittert zu breiten,
abgerundeten Kuppeln und niedrigen Massen,
während der grobkörnige rote Granit durch die
Verwitterung in scharf gezackte Spitzen und
schmale Kämme übergeht. Dadurch scheiden
sich beide Granittypen schon von weitem. Auch
den hellroten Granit durchströmen reichlich Gänge
von Dolerit und Felsit. Gemischt mit dem roten
Granit oder allein vorkommend findet sich
als 3. Typus ein grauer Biotitgranit. Seine
Neigung, gneisartig zu werden, beruht auf seinem
Glimmergehalt und alle Gneise der Sinaihalbinsel
dürften aus diesem Biotitgranit hervorgegangen
sein. Geringe Verbreitung besitzen Syenit und
Diorit. Einer besonderen Behandlung bedürfen
noch die schon mehrfach angeführten Gänge oder
gangförmig auftretende Gesteine. Das ganze
Eruptivgebiet durchziehen Gänge. Ihre Richtung
ist im allgemeinen SW — NO, kann aber auch
anders sein, und zwar handelt es sich in erster
Linie um Dolerit und Feisite; daneben finden
sich noch Gangbildungen von Pegmatit und fein-
körnigem Granit. Auch Sedimente können gang-
förmig durchzogen sein. Ein Beispiel davon sind
die dünnen Basaltadern im Kreidekalkstein vom
Dsch. Hadud oder Doleritgänge im Karbon-Sand-
stein am Wadi Baba. Geringe Verbreitung nur
besitzen die Laven von Maghara bis Wadi Baba.
Nördlich vom Wadi Tayiba finden sich nach
Schürmann Basaltgänge von mindestens 26 km
Länge. Sie sind von miozänem Alter und haben
eozäne Mergelkalke kontaktmetamorph verändert.
Als Reste der Schlote von Gängen sind die vul-
kanischen Kuppen anzusehen.
Die im Zusammenhang mit den Eruptiven
stehenden metamorphen Gesteine nehmen nur
eine geringe Ausdehnung ein. Sie breiten sich
lokal aus vom 28.° 36' n. Br. nach Norden bis
29.° n. Br. und am 33." 45' ö. Gr. Hauptsächlich
2 Gruppen können unterschieden werden: echte
Gneise und Schiefer und ein Komplex von ver-
schiedenartigen metamorphen Gesteinen, neben
einigen Arten von geringer Wichtigkeit. Es sind
zunächst glimmerhaltige Gesteine. Dann kommen
vor Feisite, die bisweilen schiefrig werden, Quarzit-
schiefern gleichen und Hornblendeschiefer. Hierin
sind intrudiert : Adern und Gänge eines felsitischen
Gesteins, rötlicher Granit, Granit in großen Feld-
späten, Gänge eines doleritischen Gesteins, von
SW — NO-Richtung und jünger als die anderen
Intrusionen die echten Gneise, die zweifellos, wie
Übergänge beweisen, aus dem grauen Granit her-
N. F. XX. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
211
vorgegangen sind und dann die Schiefer nehmen
unter den metamorphen Gesteinen den größten
Raum ein. Sie haben auch auf große Ausdehnung
immer die gleiche Beschaffenheit. Kontaktwir-
kungen an Sedimenten lassen erkennen Kalksteine,
Schiefer und Sandsteine. Verändert worden sind
sie vom umgebenden Granit. Granaten häufen
sich oft in Granatschiefern an, während Sandsteine
Biotit enthalten können.
Ihrem Alter nach reiht Barron im W Sinai
die Eruptive und metamorphen Gesteine folgen-
dermaßen ein:
1. Diorit.
2. Grauer Biotit-Granit.
3. Biotit- Gneis und Schiefer mit metamorphen
Kalksteinen und Sandsteinen.
4. Hellroter, porphyrischer Granit.
5. Grobkörniger, roter Granit.
6. Syenit und Syenit-Felsite.
7. Quarzitische Felsit- und Doleritgänge. Es
sind die ältesten Gangbildungen. Die folgenden
Gänge sind basischer.
8. Doleritische Gänge, in NW — SORichtung.
Doleritische Kuppen und Lavamassen des Karbon.
9. Doleritische Gänge in der Kreide.
10. Lavamassen von Wadi Tayiba. Nach
Schürmann iVIiozän.
Im SÖ-Sinai treten an der Oberfläche sedi-
mentäre Ablagerungen ganz zurück. Eruptive und
metamorphe Gesteine spielen am Aufbau die
Hauptrolle. Weite Gebirgsregionen setzen Granit,
Gneis, Hornblendegranit, Syenit, Andesit, Feisite
und Kontaktschiefer zusammen. Unter den Erup-
tiven sind 3 Hauptgesteinstypen am wesent-
lichsten vertreten. Ein gröberer Granit liegt im
N, Hornblendegranit oder Syenit trennen ihn von
einem granitischen Biotitgneis, der mehr im S-Teil
herrschend ist. Daneben bestehen noch eine Reihe
von Varietäten der Eruptive ; so kommt am Wadi
Mesud ein heller Granit vor. Von einem Neben-
fluß des Wadi Nasb ist ein Granit von schrift-
granitischem Charakter zu erwähnen. In der
zentralen Achse der Halbinsel sind die haupt-
sächlichsten Gesteine granitischer Gneis und Horn-
blendegranit. Einige der Granit- und Gneisberge
im Innern tragen Kuppen von Andesiten und
Tuffen. Wie im W-Teil sind auch hier Gänge
weit verbreitet. Sie durchziehen das ganze Eruptiv-
system als dessen jüngste Glieder. Da sie den
Nubischen Sandstein nicht erreichen, sind sie
ihrem Alter nach wenigstens unterkreatzisch und
verglichen mit Nachbarregionen vielleicht vorkar-
bonisch. Immer laufen sie, oft viele km, einander
parallel und mitunter bestimmen sie die Richtung
der Gebirgszüge. Petrographisch bestehen sie
aus Felsiten, Dolerit und Diabas hauptsächlich in
den metamorphen Gesteinen. Zwei Systeme Gänge
können unterschieden werden. Die allgemeine
Richtung ist NNO — SSW; daneben besteht eine
zweite im rechten Winkel dazu. Alle Gänge
wechseln beträchtlich in ihrer Dicke. Sie kann
nur wenige cm betragen, aber auch bis zu 100 m
ansteigen.
Durch Bewegungen ermöglicht stieg Magma
empor, das nun in eine alte Sedimentkruste ein-
drang und so entstand Gneisstruktur oder die
Sedimente erfuhren Umgestaltungen. Die Ver-
änderungen im Kontakthof des Granites treten
am Wadi Kyd hervor. Am Granit folgen Gneise,
Hornblendeschiefer, IVIuskowitschiefer , die in An-
dalusitschiefer, Knotenschiefer und schließlich
Phyllite übergehen. Auch durch die Schiefer-
regionen ziehen in großer Anzahl felsitische und
doleritische Gänge. Am Granit stoßen die Schiefer
mit harten Grenzen zusammen. — - Basalt ist im
SO-Sinai zweifelhaft.
II. Sedimentäre Absätze.
Karbon. Sedimente sind über dem einge-
ebneten Grundgebirge abgelagert worden. Von
paläozoischen Schichten ist nur Karbon entwickelt
und zwar allein im W- Sinai am 29." n. Br. Hier
dehnt sich W der Wasserscheide vom Dschebel
Dahab Karbon aus, zieht S vom Dsch. El Ti und
am Wadi Hamr wird Karbon durch eine Ver-
werfung abgesetzt, die Kreide dagegen bringt.
An der zentralen Wasserscheide im Osten ist
Karbon nur z. T. vorhanden, allein im Westen
und Norden finden sich auch Kalk- und Sand-
steine. Die Karbonablagerungen bestehen aus
einer Serie von rötlichem oder bräunlichem Sand-
stein, unterlagert von Kalkstein, auf dem nach
unten dunkelrote Sandsteine folgen. Der obere
Sandstein stellt sich am Dsch. Habir in 144 m
Höhe vor als oben dünne Lagen von hellrotem
quarzitischem Sandstein , rotem Sandstein , zwei
dünnen Partien von purpurnen Sandsteinen mit
Pflanzeneindrücken und die Basis bilden weiße
Sandsteine. Nach oben war die Grenze, gleich-
zeitig vom Karbon überhaupt, festgelegt durch
überlagernde Olivinbasalte. Der Karbonkalkstein,
die mittlere Karbonpartie also, hat seine Haupt-
verbreitung beiderseits vom Wadi Baba. Es ist
ein dunkler, kristalliner, harter Kalkstein, ein
rötlichbrauner Dolomit oder von mehr ockriger,
mergliger Beschaffenheit. Diese verschiedenen
petrographischen Ausbildungen können alle Fos-
silien enthalten. Reichliche Fossilfunde ergaben
sich z. B. SW vom Wadi Umbogmah, Wadi Me-
ringa, Wadi Nasb; so Orthis Michelini d'Eveille,
Streptorhynchus crenistria Phillips, Spirifer, Pro-
ductus, Zaphrenlis, Lepidodendron, Mosaicum Sal-
ter, Sigillaria sp. usw. Der Dolomit enthält außer-
dem Crinoidenstielglieder.
Diese Fossilfunde innerhalb des alten Karbon-
sandsteins haben eine Parallele in der Karbon-
fauna zwischen „Nubischem Sandstein" am Wadi
Araba östlich des Nils. Walt her (1890) hielt
die Fauna für unterkarbonisch , S c h e 11 w i e n
(1894) erklärte sie für oberkarbonisch. Auf der
Sinaihalbinsel scheint nach v. Klebelsberg
(191 1) das Alter mehr auf Unterkarbon zu weisen.
Wo die Kalksteine mit dem unteren Sandstein,
21^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 14
dem Wüstensandstein von HuU, zusammenstoßen,
enthalten sie Eisen-, Mangan- und Kupfererze. Am
Wadi Nasb und Chalig liegen einerseits Braun-
eisenstein, Psilomelan und Pyrolusit zwischen den
horizontalen Schichten des Sandsteins, andererseits
ähnlich ausgebildet Kupferschwärze und Malachit.
Hier dürften bereits die alten Ägypter ihre Erze
geholt haben.
Der untere Sandstein, Wüstensandstein, setzt
sich zusammen aus rötlichbraunem, purpurnem
Sandstein und ist nicht so hart als der obere. In
seinem Hangenden enthält er Türkise, die gleich-
falls von den Ägyptern schon ausgebeutet wurden.
Das Haupttürkisvorkommen ist W von Ginne.
Der Wüstensandstein ist fossilleer. Da er aber
ohne alle Unregelmäßigkeiten in das weitere Kar-
bon übergeht, ist er jedenfalls dem unteren Kar-
bon zuzuzählen.
Die Karbonschichten haben eine Reihe Störun-
gen erlitten. So sind sie an manchen Stellen,
z. B. W vom Wadi Baba, gegen Kreide gekommen.
Aus dem Karbongebiet führt Rothpletz
(1893) Perm an, vom Wadi Schellal als Dolomit
und Kalkstein mit Spirifer Tasmanni Morris,
Stenopora ovata Lonsdale usw. Da Rothpletz
angibt, daß die fossilführenden Schichten Sand-
steinen eingeschaltet seien, entsprechend dem als
sicher erkannten Karbonkalksteinen und Dolomiten,
dürfte es sich am Wadi Schellal auch um Karbon
handeln.
Vom Karbon an war auch der W-Teil der
Halbinsel Festland. Erste marine Absätze be-
ginnen im W- und O Teil wieder mit dem Ceno-
man. Es war deshalb in stratigraphischer und
paläogeographischer Beziehung wichtig, als Bar-
thoux 191 3 in der Islhmuswüste Jura entdeckte.
Dr. Range fand auch Jura 19 15/16; er brachte
von seinen Reisen eine Reihe Jura- und Kreide-
fossilien mit. ')
Jura. In der Isthmuswüste ist Jura entwickelt
nur in den Magarabergen. Nach den Fossil- und
Stufenangaben von Barthoux und Douville
191 3 und den Ergebnissen der von Dr. Range
gesammelten Fauna zeigt sich, daß Lias fehlt, der
Dogger vollständig vertreten ist insbesondere
durch Ammoniten und Brachiopoden und vom
Malm Oxford und Kimmeridge. Ihrem Charakter
nach ist die Fauna als typisch mitteleuropäisch
anzusehen, d. h. als Ablagerung einer Flachsee
mit engen Beziehungen nach S- Deutschland, des
außeralpinen Frankreichs und der Schweiz.
Schichtenfolge.
1. Lias fehlt.
2. Dogger. Nach Douville Basisschichten als Sandsteine,
Mergel, Kalksteine.
Bajocien, Bathonien und Callovien sind vertreten durch
gelbliche Kalksteine und Mergel. Es enthalten u.a.:
Bajocien: Coeloceras Humphriesi, Rhynchonella quadri-
plicata Ziet. sp
') Diese Jura- und Kreidefauna ist vom Verf. im geolog.-
paläontol. Institut von Leipzig jetzt bearbeitet worden. Einige
stratigraphische Ergebnisse wurden im folgenden Jura- und
Kreideabschnitl mit verwertet.
Bathonien : Oppelia fusca Qu. sp.
Eudesia cardium Lara.
Callovien: Reineckia anceps Rein.
3. Grenzschichten Callovien-Oxfordien als lithographische
Schiefer, nach Bouville.
4. Malm. Petrographisch wie im Dogger.
Oxford; Pholadomyen, Rhynchonelliden.
Korallenfazies des Oxfordien bis Kimmeridgien : Montli-
vaultia, Convexastraea, Lalimaeandra.
Kimmeridge: Isocardia striata d'Orb. , Terebratula bi-
suffarcinata Schi.
5. Hangendes. Nubischer Sandstein als Unterlage der
Oberkreide.
Der Nubische Sandstein. In der eigent-
lichen Sinaihalbinsel bestand Festlandsperiode bis
zur Cenomantransgression, die Kalke und Mergel
mit Cenomantypen zur Ablagerung brachte. Hier
schalten sich zwischen das eingeebnete Grund-
gebirge oder wie z. T. im W der Halbinsel, ober-
halb des Karbon, Sandsteine ein, die als Nubischer
Sandstein bezeichnet werden. Unter diesem Na-
men werden sehr verschiedene Bildungen zusam-
mengefaßt. Den mit Karbonkalkstein verbundenen
Sandsteinserien kommt der Name sicher nicht zu.
Die Bezeichnung „Nubischer Sandstein" wird am
ehesten anzuwenden sein auf die kontinentalen bis
paralischen Bildungen, welche die oberkretazische
Transgression einleiten. Es sind dann diese Ab-
lagerungen nur das Produkt der Verhältnisse, wie
sie durch den Übergang der kontinentalen Be-
dingungen zu den Meeresverhältnissen des vor-
dringenden Kreidemeeres gegeben wurden. Ver-
steht man unter dieser Charakterisierung den Nu-
bischen Sandstein, so ist er die Bezeichnung für
eine bestimmte Ablagerung und es dürfen darunter
nicht so heterogene Dinge zusammengefaßt werden,
wie sie in der Literatur heute gelten. Dem West-
arabischen paläozoischen Sandstein kommt dann
der Name nicht mehr zu.
Im SW-Teil der Halbinsel beginnen die Ab-
lagerungen des Nubischen Sandsteins im S am
Dsch. Hammam Saidna Musa, N von Tor, und
ziehen sich in weiter Ausdehnung nach N im
Dsch. Gabellagebiet. Auch im Dsch. Abu Alaq
ist Nubischer Sandstein abgesetzt und wieder in
größerer Verbreitung am 29.' n. Br. vom Dsch.
Dhabal im O bis Dsch. Sarbut el Gemel im W.
In SO Sinai ist er gering anzutreffen N von Dahab
und N davon. Seine Mächtigkeit ist immer gegen
200 m. Im allgemeinen zerfällt er in weißen oder
verschiedenartig gefärbten Sandstein im oberen
Teil und eisenhaltige Partien an der Basis.
Seine Verbreitung in der Isthmuswüste ist
auch gering; er ist beschränkt auf das Magara-
und Letschmegebiet. Das Alter des Nubischen
Sandsteins läßt sich hier ziemlich gut umgrenzen.
Sein Liegendes wird in den Magarabergen von
jurassischen Schichten gebildet und bei Letschme
überlagern ihn Kalke des Vraconnien. Die Mäch-
tigkeit beträgt wieder ca. 200 m. Dr. Range
beschreibt ihn als einen stark eisenschüssigen,
grobkörnigen Sandstein von fester Beschaffenheit
mit rostbraunen bis grauen, bisweilen auch violetten
N. F. XX. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
213
und gelben Mergeln. Lokal sind auch Mergel-
sandsteine eingeschaltet.
Vraconnien. Der Nubische Sandstein bil-
det die Unterlage der marinen oberkretazischen
Schichten. Den Beginn der Transgression zeigt
das Vraconnien von Letschme in der Isthmus-
wüste an. Der „Letschme- Horizont", Grenz-
schichten oberes Gault — unteres Cenoman be-
steht petrographisch aus eisenschüssigen Kalk-
steinen und Kalksteinen mit Eisenoolithen. Fau-
nistisch wird der Horizont bestimmt durch Cephalo-
poden und Lamellibranchiaten mit auffälligem
Trigonienreichtum. Ihrem Charakter nach zeigt
die Letschme Fauna kein einheitliches Bild ; sie
ist ganz eine Mischfauna. Es seien u. a. genannt:
Knemiceras syriacum v. Buch, Phylloceros Velle-
dae Mich., Puzosia Denisoniana Stol. sp., Trigonia
cf. crenulata Lam., Tr. pseudocrenulata Noetl. usw.
Cenoman-Turon. Von den Ablagerungen
der oberen Kreide sind Cenoman-Turon petro-
graphisch wie faunistisch nicht trennbar und über-
all auf der Sinaihalbinsel entwickelt, wo Sedimente
auftreten. Cenoman besteht als mächtig herr-
schende Stufe ; ihm untergeordet Turon, faunistisch
kaum oder gering zu beweisen. Im SW-Teil der
Halbinsel ist es oft bezweifelt worden. Andeu-
tungen dafür sind aber vorhanden. Das gleiche
gilt für den SO Sinai. In der Isthmuswüste haben
sich Cenoman und Turon auch nicht trennen
lassen, aber Rudisten und Chondrodonten zeugen
für Turon als selbständige Stufe neben dem mäch-
tiger entwickelten Cenoman.
Im SW-Sinai beginnen die Kreideablagerungen
N von Tor; bis zum 29" n. Br. sind sie mehr
auf küstennahe Gebiete beschränkt. Dann kann
man sie aber auch im Innern der Halbinsel an-
treffen. Vom SOSinai ist nur Cenoman bekannt.
Das Hauptverbreitungsgebiet liegt N vom Dsch.
Gunna. In der Isthmuswüste bildet die Cenoman-
^ Turon- Schichtgruppe SW — NO streichende Ge-
birgszüge, z. B. den Dsch. Helal, Dsch. Jellek und
die Magarberge. Petrographisch werden Ceno-
man-Turon charakterisiert durch mehr oder weniger
harte und verschiedenartige Kalke, die z. T. dolo-
mitisch werden können und unten in helle Mer-
gel übergehen. Am reichsten fossilführend sind
die Mergel. Ein typisches Cenomanprofil ist das
am Dsch. Gunna des SOSinai :
Kalksteine mit Austernhorizont (jl, — m
Kalksteine, oben mit Seeigeln, unten mit
Bivalvenschalen 22,5 ,,
Kalksteine mit Austern, darunter grünliche
Mergel mit einer sehr reichen typischen
Cenomanfauna besonders von Seeigeln
und Austern 3,5 „
Lose Sandsteine und Mergel, Austern ein-
schließend 14, — „
Nubischer Sandstein 200, — „
301,— m
Von Fossilien fanden sich oft : Ostrea flabellata
Goldf. , O. conica Sow., O. suborbiculata Lam.,
O. Delettrei Coq., Hemiaster Heberti Coq. , Lin-
thia oblonga d'Orb., Heterodiadema libycum Cott.,
Pecten, Plicatula, Vola; im Cenoman-Turon der
Isthmuswüste: Rudisten, Chondrodonta Munsoni
Hill., Ch. Joannae Chofif. Die Fauna ist von
mediterranem Charakter. Die Austern - Seeigel-
entwicklung des Cenoman reiht sich ganz der
afrikanisch- palästinensischen Fazies des Cenoman an.
Senon ist vertreten im SW-Teil der Halb-
insel und in der Isthmuswüste, hier allerdings in
weiter Ausdehnung. Das im SW Sinai in bezug
auf die Verbreitung für Cenoman-Turon Gesagte
gilt auch für Senon. Es setzt sich von wenigstens
400 m Mächtigkeit zusammen aus Kalksleinen,
kreideartigen Kalksteinen mit Schiefertonen und
Sanden. Fossilien selten : Gryphaea vesicularis
Lam. des Campanien, mittleres Senon. In der
Isthmuswüste wird nach Dr. Range Senon in
erster Linie durch weiße Schreibkreide vertreten.
Lagenweise treten in ihr Kieselknollen auf. Im
Hangenden wird die Kreide lokal überlagert von
gering mächtigem Kalkstein und bis zu 60 m
von Schieferton. Bei Spita ist die Schichtenfolge
nach Dr. Range:
200 m Nummulitenkalk |
10 — 20 ,, Mürbe Mergel mit vereinzelten Num- ' Eozän
muliten )
6-8 ,, Harte Kalkbank mit "Fossilien |
ca. 200 ,, Schreibkreide mit vielen Feuerstein- [ Senon
bänken )
Die Gesamtmächtigkeit des Senon beträgt
200 — 300 m. Fossilien sind wieder selten; z. B.
Ostrea acutirostris Nilss. (Santonien).
Die marinen Kreideablagerungen lassen die
Verhältnisse der Meeresausbreitung erkennen. In
der Isthmuswüste setzte die marine Transgression
ungefähr am 31." n. Br. bereits an der Grenze
oberes Gault-, unteres Cenoman ein mit der
Vraconnienfauna des Letschmehorizontes. Süd-
licher, ungefähr zwischen 28" und 29" n. Br. be-
ginnen marine Ablagerungen auf der Sinaihalb-
insel erst mit Cenoman. Auch in Ägypten und
SO von Palästina, wo die ersten marinen Absätze
von 29" n. Br. Cenoman sind, zeigt sich vom N
nach S die Folge von älteren zu jüngeren Ab-
lagerungen der oberen Kreide. Aus diesen Tat-
sachen geht hervor, daß das transgredierende
Kreidemeer in der Richtung zum In-
dischen Ozean nach SO vorrückte.
Eozän ist aus dem SW-Teil der Halbinsel
und der Isthmuswüste bekannt. An der ersten
Stelle ist Eozän beschränkt auf die Region Ö von
Dsch. Gabella von Tor bis nach N zum Ras
Jehan. Ein isoliertes Vorkommen ist das von
Krer. Untereozän, die Londonstufe oder nach
der Entwicklung in Ägypten auch als Libysche
Stufe bezeichnet, kommt nur an 3 Lokalitäten
vor : am Dschebel Krer, dem Zusammenfluß vom
Wadi Baba und Wadi Schelläl und am Dsch.
Safariat, Aus Kalksteinen oder kreidigem Kalk
werden angegeben u. a.: Operculina complanata,
Defr. var. canaliculata d'Arch., Nummulites Ra-
mondi Defr. Wie in der arabischen Wüste, hat
auch hier Mitteleozän die größte Verbreitung. Es
214
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 14
entspricht dem Parisien oder der ägyptischen
Mokattamstufe. Petrographisch besteht Mittel-
eozän aus weißen kreideartigen Kalksteinen;
häufig ist Nummulites Gizehensis Ehr. Vom
Dsch. el Rigma erwähnt Barron Echiniden und
Austern. Auch Rothpletz führt aus dem Eo-
zän Austern an: Ostrea varilamella Desh. , O.
Fraasi M. E., O. Reisi Fraas. Obereozän besteht
nach Barron im SW-Sinai nur am Wadi Abjad
und zwar handelt es sich um Kalke mit weichen
Lagen, die Nummuliten und andere Foraminiferen
enthalten. Darunter folgen knollige Partien mit
Nummuliten, weißlicher Kalkstein. Blancken-
horn erklärte mehrfach (1900, S. 417, 191, S.
75 — 79) diese Ablagerungen für Miozän. Barron
hält 1907 an seiner Bestimmung fest wegen des
Fehlens von Pecten, Echiniden und Ostreen, die
sich sonst im Miozän finden. Eozän gibt Schür-
mann 1916 zwischen Wadi Eihel und Wadi Me-
talla neben Miozän an, während Barron diese
Ablagerungen fürSenon und Miozän hielt. Schür-
mann fand helle Mergelkalke mit Flintbänken
in den tieferen Schichten, in tonreicheren Lagen
Gipsadern und Schwefel. Nummuliten enthalten
Mergel wie Mergelkalke. Vom Wadi Tayiba bis
Wadi Ethel wurde in verschiedenen Vorkommen
ein Basalt beobachtet von miozänem Alter. Er
hat die Eozänmergelkalke am Kontakt in Fleck-
schiefer und Hornfelse umgewandelt ; die Kontakt-
zone übersteigt selten 2 m. Für Eozän, das nach
Bohrresultaten ca. 525 m beträgt, schlägt Schür-
mann folgende Stratigraphie vor (von oben nach
unten) :
Nummulitenkalkstein.
Gelbbraune und violette dünnschichtige Mergel und
Schiefertone mit Gipsadern.
Kompakter, auf frischem Bruch dunkler Mergelkalk, meist
bituminös mit Flinlbänken und Flintlinsen , Nummuliten
führend.
Dunkler, dünnschichtiger Mergel und Schieferton mit
Gastropoden und Zweischalern.
Kompakter Mergelkalk, bituminös, mit Flintbänken und
reichlich Gips auf Klüften, z. T. Schwefel führend.
Scnon.
In der Isthmuswüste ist Eozän beschränkt auf
2 Lokalitäten von Spita und Chabra I. Es handelt
sich nach den Mitteilungen von Dr. Range hier
upi mürbe Kalksandsteine, die nach oben in feste
Nummulitenkalke übergehen.
Miozän wird vom SW und SO Teil der
Sinaihalbinsel angegeben. Im W-Sinai dehnen
sich weite Miozänablagerungen aus zwischen Tor
und Suez. Petrographisch setzt sich Miozän zu-
sammen aus Kalkstein, kalkigem Grobsandstein,
Sandstein, Mergel, Flintlagen und mergligem
Kalkstein. Die mergligen Schichten enthalten
Gips ; die sandigen Kalke schließen hauptsächlich
Pecten und Ostrea ein. Ins Miozän zu stellen
sind auch Basalte, die die eozänen Mergelkalke
durchdrangen und kontaktmetamorph veränderten.
Die Basalteruptionen sind das Zeichen von Ge-
birgsbewegungen, welche die miozäne Trans-
gression am Golf von Suez hervorriefen. Von
Mittel-
miozän.
Unter-
miozän.
einzelnen Vorkommnissen sei zunächst das vom
Wadi Etthal genannt. Hier befinden sich schiefrige,
bald weiche, bald harte Mergelsandsteine und
Kalke mit Gipsadern. Sie enthalten u. a. Pecten
cristatocristatus Sacco var. Newtoni Blanck. Am
unteren Wadi Tayiba nahm Blanckenhorn
folgendes Profil auf (1901, S. 77):
15 m. Grünlicher, mürber Sandstein und
Mergel mit Gips.
20 m. Flinlkonglomerat, Nummulitenkalk
und einzelnen gerollten Nummumuliten im
Wechsel mit dünnem schiefrigem, grünlichem
Mergelsandstein mit Gipsschnüren. Schalen von
Ostrea sp., Pecten sp. und P. cristatocristatus.
0,60 m. Grüne, mürbe, knollige Tonmergel
mit Manganflecken.
0,50 m. Gefleckter Mergelsandstein.
0,50 m. Grobes Konglomerat.
10 m. Dunkler, äußerlich melaphyrartiger
Basalt mit grünen Drusen, unten in braunroten
Tuff übergehend.
1,20 ra. Schwarzer, feinkörniger Sandstein;
scheinbar durch Kpntakt verändert.
0,50 m. Grauer Sandstein.
I m. Brekzie aus rötlichen und grauen Num-
mulitenkalktrümmern.
Untereozän. Sa. 49,30 m.
Am Golf von Akaba, S von Scherm, fand
H u m e Bänke aus großen Austern mit Ostrea
Virleti Desh. usw. Diese Miozänablagerungen
entsprechen den an Heterosteginen , Korallen,
Austern und Pecten reichen Miozänriffen im
Osten Ägyptens und der SW-Seite des Suez-
golfes und Schichten mit Heterosteginen, Ostreen,
Pecten der W-Seite der Sinaihalbinsel. Werden
nun diese Ablagerungen als Helvetien angesehen,
dann muß diese Altersbestimmung auch für das
Miozän des SO-Sinai gelten. Der Golf von Akaba
war demnach in der Zeit des Helvetien wenigstens
teilweise meeresbedeckt und zwar, wie der Golf
von Suez, von einem Zipfel des Mittelmeeres, das
den Sinai im S umflutete.
Pliozän. Ungewiß ist Pliozän. Angaben
darüber bestehen von W-Sinai. Die Fossilien aus
den hierfür angesehenen Schichten weisen teils
auf Miozän, teils auf Pliozän. Am Wadi Amara
finden sich Kalksteine und sandige Kalke mit
Gips und einigen Zölestinadern. Vom Mittel-
miozän, Helvetien, an bis zum oberen Pliozän war
Land. Im oberen Pliozän drangen mediterrane
Formen wieder in die Erythräische Region ein.
In der Isthmuswüste kommen jüngere Meeres-
ablagerungen, mürbe, sandige Kalke mit einge-
lagerten muschelreichen Schichten in der Nähe
der Küste vor. Blanckenhorn sieht in Palästina
diese Ablagerungen als marines Oberpliozän an.
Die pleistozänen Korallenriffe sind
zuerst eingehend von Walt her 1887 im Golf
von Suez erforscht worden. Entgegen der An-
sicht von W a 1 1 h e r bestehen nach H u m e auch
Riffe im Golf von Akaba von Dahab bis zum
Ras Muhammed. W a 1 1 h e r gliederte die fossilen
Riffe in das jüngere und das ältere RifT. Das
jüngere hielt er für pleistozän, das ältere für plio-
zän. Rothpletz dagegen nahm beide von quar-
N. F. XX. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
215
tärem Alter an, ebenfalls Felix. Hu nie schließt
sich Walther an bei Einteilung der Riffe in ein
älteres und ein jüngeres und hält beide für pleistozän.
Lebende Saumriffe fanden sich an der Küste
der Halbinsel im Golf von Akaba und Suez. Sie
ziehen entlang der Küste, unterbrochen oft; teil-
weise lösen sie sich auch von der Küste ab, um
pelagisch zu werden. Die pelagischen Riffe sind
einander parallel.
I. Das jüngere fossile Riff. Nach
Walt her befindet es sich im Golf von Suez,
ungefähr 10 m über dem Meeresspiegel. In der
Hauptsache besteht der Riffkalk aus Resten von
Muschel- und Schneckenschalen, Seeigelstacheln,
Korallenstücken und einer detritogenen Füllmasse,
aus Kalksand entstehend von Gehäusen und
Schalen. Von Korallen dürfte sich an dieser Bil-
dung in erster Linie Madrepora beteiligen. Ferner
finden sich hier kleine Nester von Lithothamnium
häufig mit gut erhaltener Struktur. In seinem
unteren Teil ist der Riffkalk erfüllt von Hetero-
centrotus mammillatus, Laganum depressum,
Jungia usw. Felix bestimmte aus dem jüngeren
fossilen Riff Mussa corymbosa Forsk. Die Mächtigkeit
des jüngeren, unteren Riffs ist gering, 3 — 6 m.
Bisweilen erscheint sie durch eingeschaltete Kalk-
lagen größer. Der Untergrund ist ohne Einfluß
auf das Riff nach H u m e und entgegen W a 1 1 h e r s
Ansicht. Er kann Granit, Diorit sein, aber auch
Sandstein, Mergel.
2. Das ältere fossile Riff. Im Golf von
Suez fand es Walther am Dsch. Hammam Musa
bei Tor und am Ras Muhammed. Im Akaba
Golf dehnt es sich nach N bis Dahab aus. Der
Korallenkalk dieses älteren Riffs ist hart, körnig,
z. T. dicht und gebräunt, überall stark meta-
morphisiert und in einen Dolomit verwandelt
worden. Von den Korallen sind meist nur Ab-
drücke oder Ausgüsse erhalten. Am Dsch. Ham-
mam Musa erreicht das ältere obere Riff eine Höhe
von 230 m. Zwischen diesem Riff und dem jügeren
fossilen unteren schaltet sich hier, als auch am Ras
Muhammed eine feinkörnige Brekzie ein, von
Walther als Grussandstein bezeichnet. Am Ras
Muhammed findet sich ein teils rein korallenreiches
Gestein mit einem dem Dolomit des Dsch. Ham-
mam Musa sehr ähnlichem Habitus und vielen
Korallenabdrücken, teils aber auch ein hellvioletter
oder hellroter, sehr fester Kalk mit muschligem
Bruch, der ganz aus Korallen zu bestehen scheint.
Am Dsch. Hammam Musa beträgt die Mächtig-
keit des Riffs 2 — 6 m, nach NW bis 15 m; am
Ras Muhammed gegen 7 m. Aus dem älteren
fossilen Riff an der W-Seite der Halbinsel be-
stimmte Felix: Fungia tenuifolia Dana, Flerastraea
Savignyi E. H. usw.
Zur Charakterisierung der Riffe wird am besten
die Schichtenfolge gegeben, wie sie H u m e N von
Scherm im Golf von Akaba fand (von oben nach
unten) :
I. Karernöse Kalke, unten dolomitische Lagen mit Orbi-
cella, Coelaria, Anadora, großen Gastropoden, Nullipora. — l m.
2. Korallen und Milleporenkalke; z. T. in einem hellen
Kalk übergehend mit Bivalven (Venus reticulata). — 4 m.
3. Austern- und Pecten-Schichlen voller Austern, Pecten
Vaselli, Laganum depressum, Chlamys lalissima, den kleinen
Echinus verruculatus.
4. Braune und grüne salzhaltige Mergel.
5. Nulliporagesteine.
6. Kalksteine mit Venus, Cypraea, Tridacna, Trochus.
7. Kalksteine mit viel Gastropoden, Strombus, Conus,
Dentalium ; Stacheln von Heterocentrotus, Goniastraca und
vielen Arten von Jungia.
8. Diese Kalke sind von der Küste getrennt durch zwei
Geröllagen. Die höhere enthält Haliotis und Echinometra
lucunter ohne Stacheln, die untere die kleine Form dieses
Seeigels und mit Stacheln.
Die Schichten i — 4 bilden eine erste Terrasse.
Sie stellen das ältere Korallenriff dar. Schichten
5 — 7 setzen eine zweite Terrasse zusammen und
entsprechen dem jüngeren fossilen Riff. Schicht 7,
am weitesten unten gelegen, ist also jünger als
Schicht I. Die Schicht 8 ist eine rezente Bildung.
Diese Lagerungsverhältnisse erklären sich, da die
Riffe in einer Hebungsregion entstanden sind. So
sind die ältesten Riffe am meisten gehoben worden
und liegen heute zu oberst; die untere Terrasse
bilden jüngere, weniger gehobene Lagen. S von
Scherm beträgt die Hebung der ältesten Schichten
wenigstens 200 m.
Im Akabagolf lassen die Riffe eine besondere
Anordnung erkennen. S der Bucht von Aad und
bei Scherm finden sich Korallenbildungen von
verschiedenem pleistozänen Alter in 2 geneigten
und 2 horizontalen Terrassen. Nördlicher, zwischen
Nebk und der Bucht von Aad fehlen die beiden
geneigten Schichten und nur die beiden horizon-
talen Terrassen sind vorhanden. Sie stellen die
tiefste Terrasse dar und entsprechen dem jüngenen
Riff. Die älteren Riffe bestehen demnach nur im
S im Golf von Akaba.
Der Riffkalk unterliegt nach den Untersuchungen
von Felix einem Umwandlungsprozeß. Das
Korallenskelett verliert dabei seine ehemalige
Faserstruktur und nimmt ein kristallinisch-körniges
Gefüge an. Mit dieser Strukturänderung geht
bisweilen eine chemische vor sich und zwar
handelt es sich um Vergipsung oder Dolomiti-
sierung der Kalke.
Weitere pleistozäne und rezente Ab-
lagerungen. Im SW-Teil der Halbinsel be-
decken diese Ablagerungen in weiter Ausdehnung
die Piain of El Qa'a und N davon Piain of el
Markka. In der El Qa'a-Ebene ist ein nördlicher
Teil von einem anders gestalteten S-Teil zu unter-
scheiden. Die Grenze zwischen beiden zieht von
Tor zum Wadi Schiddiq. In der S-Hälfte sind
wiederum 2 Gruppen von Ablagerungen zu trennen.
Östlich dem Landinnern zu finden sich fluviatile,
lakustre oder marine Absätze, an der Küste nur
marine.
Während S vom Wadi Schiddiq Sandsteine
und Kiese vorkommen, fehlen sie N dieser Grenze.
Der Grund liegt vielleicht in einer Senkung des
Landes im S. Nördlich vom Wadi Schiddiq bis
zur Mündung vom Wadi Geba finden sich Ge-
2l6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 14
rolle von Granit, Dolerit und quarzigem Felsit,
gemischt mit Sand. Vom Wadi Maar gegen die
Mitte der Ebene zu sind F"euersteine und Kaik-
steingeröUe abgesetzt. Zwischen Tor und Dsch.
Saidna Musa breiten sich Sande und salzige Tone
aus. Gerolle, Sande und besonders Mergel spielen
im N-Teil des Piain of El Qa'a eine wesentliche
Rolle. — Über diesem pleistozänen bis rezenten
Absätzen lagern am Wadi Ferän jüngere Bildun-
gen, Eruptivgerölle. Das gleiche gilt von Wadi
Schiddiq und anderen Lokalitäten. Ihnen können
entsprechen Konglomerate, Tone, salzhaltige Tone
mit Gastropoden- und Lamellibranchiatenschalen-
resten. Zu erwähnen sind noch Süßwasser-
ablagerungen, Sande, sandige Mergel, Gerolle,
Mergel, Tone, Mergelkalke mit Pflanzenresten und
Schnecken. Sie kommen vor am Wadi Gharbi,
Wadi el Scheikh, Wadi Ferän, am Fuße des
Dsch. Hadüd.
Im SOSinai werden die oben für den W-Teil
behandelten Bildungen vertreten durch Kiesel-
gerölle (pebble gravels), manganhaltige Gerolle,
„oolithischeTalbildungen" ( W a 1 1 h e r) und
durch Kalk verkittetes Geröllmaterial. Sie fin-
den sich in küstennahen Gebieten im SO. Die
Kieselgerölle kommen vor in den Haupttälern
und besonders da, wo Nebentäler einmünden und
bilden Terrassen, die bisweilen über 20 m er-
reichen können. Fr aas verglich diese Terrassen
mit Moränen. Ihr Alter läßt sich am besten am
Golf bestimmen, wo sie pleistozäne Korallenriffe
überlagern. Die Schotterterrassen können des-
halb nicht älter sein als Pleistozän. Charakteri-
siert sind sie dadurch, daß sie Bruchstücke und
Gesteinsreste und Material der umliegenden Berge
enthalten. Die schwarzen manganhaltigen Konglo-
merate können Schichten bilden bis 4 m Dicke.
Sie sind mariner Entstehung und finden sich an
der Küste. Die unteren Partien sind ockerrot
und lagern über Granit. An der Bucht von
Scherm stellen sie reiche Manganlager dar. —
Oolithische Bildungen und zwar in Form eines
hellen, oolithischen kalkhaltigen Sandsteins finden
sich unterhalb der Berge am Ras Muhammed.
Walt her erwähnt bei Suez und am Rande der
Wüste Ryd oolithische Bildungen und bezeichnet
sie als rezente Bildungen im Status nascendi. —
Über Nubischem Sandstein oder Granit folgen
mitunter Gerolle von rotem Granit, Gneis, Syenit,
Felsit, zusammengehalten durch ein Kalkbinde-
mittel. Auch Travertin kommt als Verkittungs-
material oder allein vor. In der Isthmuswüste stellt
Dr. Range Tonablagerungen des Sirbonischen
Sees, die oft mit Salzausblühungen bedeckt sind,
ins Alluvium. Lößartige Bildungen, i— 20 m
mächtig, über marinem Diluvium oder Kreide,
treten an verschiedenen Stellen auf. Fast der
ganze nördliche Teil der Isthmuswüste wird von
ausgedehnten Sanddünen überlagert von 10 — 80 m
Höhe.
Oberflächengestaltung. Ganz kurz sei
nur auf die Oberflächengestaltung eingegangen.
Eruptive und metamorphe Gesteine bilden Ge-
birgsregionen. Der Granit kann z. T. plateauartig
werden, wie N vom Wadi Nasb. Felsit und
Andesit erzeugen scharf hervortretende Kuppen
und Riffe. Wenn von Sinaireisenden die Sinai-
halbinsel als eines der gebirgigsten und unwegsam-
sten Gebiete der ganzen Erde geschildert wird, so
sind damit die Gebirgszüge im Innern gemeint. Die
höchsten Erhebungen treten im N auf, 2600 m;
von hier an fällt das Land nach S ab bis Ras
Muhammed zur Meeresspiegelhöhe. Der Dsch.
Katherina oder Dsch. Zebir stellt den höchsten
Berg dar, 2606 m. Er ist leicht besteigbar und
bildet am Gipfel ein breites Plateau. Der wir-
kungsvollste Berg ist aber bei weitem der Dsch.
Musa, der „heilige Berg", 2292 m, steil und scharf
aus seiner Umgebung heraussteigend. Nördlich
von ihm liegt das Katherinenkloster. Der Gipfel
des Dsch. Musa stellt ein langes Becken dar, an
seinen Seiten umgeben von einer Reihe von Berg-
zügen und Kuppen. Er besteht aus grauem und
darunter rotem Granit. Gegen 2000 m erreichen
im N der Halbinsel mehrere Berge, über 2000 m
nach Dsch. Serbai 2060 m, Dsch. Um Schomer
2575 m, Dsch. Eth Thebt 2403 m, Dsch. Sab-
bagh 2536 m usw. Diese höchsten Erhebungen
werden alle von Granit gebildet. Im allgemeinen
sind die Berge charakterisiert durch zahlreiche
steile Klippen, spitze, zackige Gipfel oder lange
Kämme; dazwischen schneiden steile Abgründe
und Schluchten tief ein, labyrinthisch durcheinan-
der laufend, gefüllt mit Gesteinsmaterial der um-
gebenden Erhebungen. Der Unterschied zwischen
der Gebirgslandschaft und der von Sedimenten
gebildeten ist scharf. Der Nubische Sandstein
stellt niedrige Plateaus dar mit steilen Abstürzen.
Zu Kuppeln oder Hügeln hat die obere Kreide
Anlaß gegeben; oben können sie plateauartig
werden. Die jüngeren überlagernden Absätze er-
zeugen weite Ebene. In der Isthmuswüste und
in den küstennahen Teilen der Halbinsel dehnen
sich Wüsten aus. — Von wesentlichem Einfluß für
die Gestaltung der Oberfläche sind jedoch die
tektonischen Vorgänge gewesen.
in. Tektonik.
Die Sinaihalbinsel gehört mit Arabien und
Syrien zur großen Saharatafel, deren morphologi-
scher Charakter durch Brüche bestimmt ist. Brüche
haben auch der Sinaihalbinsel ihre heutige cha-
rakteristische dreieckige Gestalt gegeben. Eine
wichtige tektonische Trennungslinie der Bruch-
systeme des W- und OSinai besteht nach H u m e
ungefähr am 34." n. Br. Diese tektonische Grenze
beginnt im Norden am Wadi El Scheikh und
zieht fast genau nach S bis zum Wadi Theman,
wo sie etwas nach W umbiegt. Die Struktur-
verhältnisse des W-Sinai sind insbesondere von
Blanckenhorn und Barron untersucht wor-
den. Barrons Resultate weichen in einigen
Punkten von Blanckenhorns früheren Ergeb-
nissen ab. Sicher ist, daß die geologischen Haupt-
N. F. XX. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
217
linien durch Verwerfungen und Brüche und nicht
durch Faltungen bedingt werden. Unter den
Falten liegt die Achse des dominierenden Falten-
systems im Golf von Suez in NW — SO Richtung.
Das andere System verläuft senkrecht dazu. Bruch-
systeme unterscheidet Barron verschiedene. Sie
laufen parallel dem Golf von Suez. Die wichtig-
ste Verwerfung zieht zwischen den Eruptiven des
Innern und den äußeren Sedimenten am Dsch.
Serbäl hindurch. Dazu kommen noch ihr parallele
sekundäre und Küstenverwerfungen. An Brüchen
ist die Sedimenttafel gegen den Eruptivkern im
Innern der Halbinsel abgesunken. Im tektonischen
N-Teil der Halbinsel sind auch Gräben (rift-valleys)
eingeschnitten in NW — SO-Richtung, also vom
Suez- Typ. — Östlich der tektonischen Grenze am
34." ö. Gr. herrscht ein Bruch- und Grabensystem
des Akabatyp in NO — SW-Richtung. Die größte
Einsenkung ist hier der Akabagraben selbst, dazu
kommen im Innern der Gebirgsregion noch zwei
weitere große Furchen. Die eine verläuft vom
Wadi Schelala zum Um Raiyig, gegen 72 km
lang; eine zweite besteht am Wadi Melhadge;
hier beträgt die Dislokation mindestens 700 m.
Parallel zu diesen Hauptgräben verlaufen noch
einige kleinere, die die gleiche Entstehungsursache
haben wie diese. Vom Akabatyp sind nach
Kober 1919 auch die Brüche im N-Hedschas.
Nach S dehnt sich das Akababruchsystem nur bis
zum 28." n. Br. aus. Südlicher sind die Struktur-
züge augenscheinlich vom Sueztyp. Neben diesen
beiden Längstypen von Gräben besteht noch ein
dritter Transvertaltyp. Die Richtung der Trans-
versaltäler ist NO oder SO im östlichen Sinai,
NW, SO oder SW im westlichen Teil der Halbinsel.
Zusammenfassend kann also gesagt werden,
daß die Hauptstrukturen der Sinaihalbinsel durch
Brüche dreier verschiedener Bruchsysteme bedingt
werden. Darin sind 2 Längsbrüche und zwar
I östlich vom 34." ö. Gr. herrscht der Akabatyp
mit NO — SVV- Richtung, und westlich davon der
Sueztyp in NW — SO-Richtung. Ein dritter trans-
versaler Typ durchzieht diese beiden Längsrich-
tungen. Das Resultat dieser 3 Dislokationsvor-
gänge sind die anscheinend so verworrenen
Kämme und Täler, die für die Sinaihalbinsel so
bezeichnend sind. Das Alter dieser tektonischen
Vorgänge fallt in die Grenze oberes Pliozän,
unteres Pleistozän.
Über die tektonischen Verhältnisse in der
' Isthmuswüste kann nur weniges gesagt werden.
Nach Dr. Range steigt die Kreidetafel nach S
mehr und mehr an. Ihr Steilabfall gegen das alte
Gebirge liegt 100 km südlich von Nakl. Der
Kreidetafel sind einige SW — NO streichende
Faltengebirge vorgelagert, der Dsch. Jellek, 1050 m,
Dsch. Helal, 900 m, die kleineren Bergzüge des
Dsch. Eschriem, Dsch. el Minschera und der in
100 km Ausdehnung sich erstreckende Magarazug,
an dessen Aufbau Jura beteiligt ist. Die Magara-
berge sind auch SW — NO gefaltet; außerdem
treten hier noch Bruchsysteme auf.
Geologische Geschichte.
Auf Grund der Untersuchung des geologischen
Aufbaus und der tektonischen Verhältnisse kann
nun eine Zusammenfassung der geologischen Ge-
schichte der Sinaihalbinsel gegeben werden, ins-
besondere nach den Resultaten von Barron und
Hume.
In alte archäische Gesteine hinein wurden noch
vorpaläozoisch grauer Granit und Diorit intrudiert.
Denudation trug diese Gesteine ab und bildete
das Material für Sandsteine. Verursacht durch
tektonische Bewegungen drangen Eruptive, Gra-
nite und seine Verwandten empor, veränderten
am Kontakt alte Sedimente, schufen metamorphe
Gesteine und der graue Granit erhielt Gneis-
struktur. Diese Gesteine sind wieder von Gängen
von Felsit und Dolorit durchzogen. Alle die
Vorgänge sind vorkarbonisch. Im Karbon sank,
wenigstens im W- Sinai, das Land unter den
Meeresspiegel, Kalke und Sandsteine wurden ab-
gelagert und am Ende des Karbon drangen jüngere,
nun mehr basischere Lavamassen und Dolerite
empor. In tektonischer Beziehung herrscht darauf
Ruhe bis zum Tertiär. Perm, Trias und Jura
fehlen in der ganzen Halbinsel S vom 30.° n. Br.
Dagegen stand die Isthmuswüste im Dogger und
Malm bis Kimmeridge unter Wasser. Das seichte
Jurameer, dessen S-Rand über Syrien, Sinai, N-
Afrika verlief, entsandte im Oxford-Kimmeridge
einen Meeresarm über Westarabien zum Jura des
nördlichen Ostafrika. Mit Ende Jura zog sich das
Meer von der Isthmuswüste wieder zurück. Über
dem Jura der Isthmuswüste z. T. , in der Sinai-
halbinsel S von 30" n. Br. über Karbon, meist
aber auf dem eingeebneten Grundgebirge wurde
der Nubische Sandstein abgesetzt. Die Gänge,
die den Granit so häufig durchziehen, sind in den
Nubischen Sandstein nicht eingedrungen. Seiner
Entstehung nach ist dieser Sandstein eine konti-
nentale bis paralische Bildung und leitet die ober-
kreatzische Transgression ein. Das Kreidemeer
erreicht die Isthmuswüste bereits an der Grenze
oberes Gault- unteres Cenoman, im Vraconnien.
Es rückt von N nach S gegen den Indischen
Ozean vor, denn zwischen 28° und 29" n. Br. sind
die ersten marinen Absätze Cenoman. Vom
Cenoman an bis zum Senon war die ganze Sinai-
halbinsel vom Kreidemeer überflutet. Cenoman
und Turon lagern Kalke und Mergel mit vielen
Fossilien ab, Senon bildet Schreibkreide oder
kreideartige Kalke. Gegen Ende der Kreide
scheint jdas Meer sich zurückgezogen zu haben,
da oberste Kreidebildungen fehlen. Das also
erneut transgredierende Eozänmeer setzt den
nördlichsten Teil der Isthmuswüste und küsten-
nahe Teile des SWSinai unter Wasser. Während
des Oligozän ist die Sinaihalbinsel Festland ge-
wesen wie Syrien und Arabien, während N-Ägypten
in einzelnen Teilen vom Meere bedeckt war. Im
Oligozän und Untermiozän herrschte Denudation.
Während dieser Perioden beginnen bereits die
2l8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 14
ersten einleitenden Vorgänge, die zur Bildung des
Roten Meeres lühren. ^) Weite Senkungen der
betreffenden Gebiete fanden statt und das im
N transgredierende Mittelmeer trat ein. Mit
Ende des Untermiozäns entsandte es eine
zungenförmige Bucht über den Suezgolf und das
Rote Meer, mindestens bis Suakin. Im Mittel-
miozän, dem Helvetien, zog sich das Meer wieder
nach N zurück auf die Ausdehnung des Suez-
golfes. Die Sinaihalbinsel wird an der Suezseite
vom Meere überflutet, aber auch im Golf von
Akaba war im SO Meer des Helvetien. Daß der
Golf von Suez im Miozän ein Meeresarm des
Mediterranmeeres war, beweisen miozäne, medi-
terrane Einschlüsse. Der Golf von Suez bestand
demnach vor dem Roten Meer; wären beide
gleichzeitig vorhanden gewesen, müßte sich eine
mediterrane indische Mischfauna finden. Durch
Gebirgsbewegungen, die im Miozän die Trans-
gressionen im Suezgolf ermöglichten, drangen
Basalte empor. Sie haben die eozänen Mergel-
kalke kontaktmetamorph verändert. Mit dem
Pliozän beginnt eine Hebung des Landes, ausge-
nommen vielleicht in seinen tiefsten Partien.
Denudation und Erosion setzen ein und verarbeiten
obermiozäne Ablagerungen. Die Hebung des
Festlandes wird begründet durch eine erste Phase
der syrisch-arabischen Gebirgsbewegungen. Eine
zweite Phase syrisch- arabischer Bewegungen setzt
im oberen Pliozän ein. Sie bedingen Einsenkungen
des Landes im Suez- und Akabagebiet. Es kommt
zu Brüchen und zwar Hauptbrüchen und sekun-
dären Bruchsystemen, die zur heutigen Begrenzung
der Gräben der Golfe von Suez und Akaba führen.
Um diese Zeit, an der Wende Pliozän-Pleistozän,
entstand auch das Rote Meer und der Persische
Meerbusen als Buchten des Indischen Ozeans. Der
Indische Ozean trat in diese neuen Hohlformen
ein und im Roten Meer mischte sich seine Fauna
vorübergehend mit einer miozänen Mediterran-
fauna, die sich hier in Resten von Reliktenseen
der ehemaligen Miozänmeeresbucht gehalten hatte.
Ehe die oben erwähnten sekundären Brüche aber
eintraten, senkte sich erneut das Land; das Rote
Meer trat in die Depression ein und setzte Strand-
ablagerungen mit erythräischen Formen ab. Nach
diesen Bildungen kam es zu den großen Brüchen.
Es entstanden in ihrer heutigen Form die Gräben
des Golfes von Suez und im spitzen Winkel dazu
des Golfes von Akaba. Durch das Zusammen-
treffen des erythräischen mit dem syrischen Bruch-
systeme erhielt die Sinaihalbinsel ihre heutige
charakteristische dreieckige Gestalt. Es sind also
Brüche, die das Rote Meer bildeten, älter als jene,
die die heutigen Golfe von Suez und Akaba be-
grenzen. Für Bewegungen von weiterem Pleisto-
zän sprechen die Korallenriffe. Teile der Halb-
insel wurden unter Wasser gesetzt und es konnten
') Blanckenhorn, Handbuch. Syrien , Arabien usw.
1914, S. 49. Hier auch eine ausgezeichnete Zusammenfassung
der tektonischen Verhältnisse im Roten Meergebiet und Syrien.
sich pleistozäne bis rezente Gerolle, Konglomerate
und Sande bilden.
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I
+
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
219
Tabelle zum Aufbau der Sinaihalbinsel.
SW-Teil
SO-Teil
Isthmuswüste
Pleistozäne und re-
zente Ablagerungen.
Pleistozän.
Im Norden: Gerolle, Sand, Mer-
gel, Ton, Süßwasserbild.
Im Süden: Sandstein und Kiese.
Pliozän.
Älteres fossiles Riff.
Fungia tenuifolia ,
Savignyi.
Jüngeres fossiles Riff.
Hussa corymbosa.
ca. 10 ra.
Ple.xastraea
3—6 m.
KieselgeröUe, manganhaltige Ge- Alluviale Tonablagerungen des
rolle, oolithische Bildungen, durch Sirbonischen Sees.
Kalke und Travertin verkittetes Sanddünen, Lößartige Bildungen.
Geröllmaterial, Travertin.
Wie im SW-Teil.
Kalksteine und sandige Kalke.
Mürbe sandige Kalke mit einge-
lagerten muschelreichen Schichten.
Miozän.
Unteres und mittleres Miozän.
Kalksteine, Mergel, Sandstein.
Pecten cristatocristatus.
Mittleres Miozän.
Ostrea Virleti.
Austernbänke.
Eozän.
Oberes Eozän: Kalke, Mergel-
kalke mit Flintbänken, Mergel.
Viel Nummuliten.
Mittleres Eozän : (Parisien), weiße,
kreideartige Kalksteine , Nummu-
lites Gizehensis.
Unteres Eozän : (Londonstufe).
Kalksteine, kreidiger Kalk, Nummu-
lites Ramondi, Operculina com-;
planata.
SenoD.
Kalksteine, kreideartigerKalkstein,)
, Schieferton, Sand. Fossilien selten.'
' Gryphaea vesicularis.
Cenoman-Turon.
Vraconnien.
Untere Kreide.
Kalke und Mergel.
I Austern-Seeigelfazies.
Fossilreich,
Wie im 'SW-Teil.
Nubiscber Sandstein.
Nubischer Sandstein
Malm.
Dogger.
Karbon.
Oberer rotbrauner Sandstein.
Kalkstein , dolomitisiert , kri-
stallin oder ockrig-merglig;
Orthis Michelini, Streptorhyn-
cbus, Lepidodendron Mosai-
cum.
An der Basis Eisen-, Mangan-
und Kupfererze.
Unterer Sandstein, Wüstensand-
stein.
Feste Nummulitenkalke.
Kalkstein.
Mürber
Weiße Schreibkreide mit Kiesel-
knollen , Kalkstein , Schieferton.
Fossilien selten. Ostrea acutirostris.
Kalke, Mergel.
Cen.-Tur.-Typen : Rudisten.Chon-
drodonta.
I Cen.-Typen : Austern und Seeigel.
Eisenschüssige Kalksteine, Kalke
mit Eiseneolithen.
I Puzosia Denisoniana, Trigonien.
Nubischer Sandstein.
Petrographisch wie im Dogger.
Kim.: Isocardia ostriata, Tere-
bratula bisuffarcinata.
Korallenfazies des Oxfordien bis
Kimmeridgien.
Oxf.: Pholadomya, Rhynchonella.
Oxf. - Call. : Grenzschichten im
lithographischen Schiefer.
Gelbliche Kalksteine und Mergel.
Call. ; Reineckia anceps.
Bath.: Oppelia fusca.
Bajoc: Coeloceras Humphriesi.
Basisscbichten. Kalkstein, Mer-
gel, Sandstein.
Grundgebirge.
220
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 14
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Peninsula of Sinai. 1868^69. Soulhampton 1869.
Einzelberichte.
Zur Biologie der Wüstenpflanzen.
Svante Murbeck hat jüngst zwei Abhand-
lungen veröffentlicht, in denen er nachweist, daß
in der algerischen und tunesischen Sahara die in
Gegenden mit zusammenhängender Pflanzendecke
so verbreiteten Einrichtungen zur Samenverbrei-
tung sehr zurücktreten, während Organisations-
erscheinungen, die der weiteren Verbreitung ent-
gegenwirken, verhältnismäßig häufig sind. In
diesen Gegenden mit lange dauernder Regenlosig-
keit, wo der Kampf ums Dasein auf dem spärlich
bewachsenen Boden weniger heftig ist, erscheint
es von besonderer Bedeutung, daß die Pflanzen ihre
Samen rasch unter die Bodenoberfläche bringen
oder wenigstens genügend an ihr befestigen kön-
nen, anstatt daß diese zum Spiel der Winde wer-
den und an Stellen mit ungünstigen Keimungs-
bedingungen gelangen.
Eine der Einrichtungen, die zur „Verankerung"
der Früchte und Samen dienen, ist die bei Wasser-
zutritt erfolgende Absonderung von Schleim
aus der Samenschale oder der Fruchtwand. Von
906 untersuchten Arten des nordwestafrikanischen
Florengebietes waren 332, also 36,6 "/p durch
solche Schleimabsonderungen ausgezeichnet. In
Skandinavien fand Murbeck dagegen unter 360
nur 50, also 13,9 7o derartige Pflanzen innerhalb
der gleichen 14 Familien, unter denen die Cruci-
feren, die Labiaten und die Gramineen in erster
Reihe stehen. Für die Gesamtzahl der Phanero-
gamen berechnet er den Prozentsatz der schleim-
absondernden Arten in Nordwestafrika auf 1 1,1 "!„,
in Skandinavien auf 3,1 "/q. Vergleicht man die
nordwestafrikanischen Arten, die nicht außerhalb
des eigentlichen Küstengebiets auftreten, mit der
skandinavischen Wiesen- und Waldflora, so wird
der Unterschied noch auffälliger: dort 19,5 "/oi
hier weniger als I */, schleimabsondernder Pflan-
zen. Die Auffassung, daß der Schleim als Ver-
breitungsmittel diene, indem die Samen oder
Früchte dadurch an Gegenstände angeklebt und
mit ihnen verschleppt werden, lehnt Verf. mit
guten Gründen ab, und die angebliche Bedeutung
des Schleims als Wasserspeicher für die keimende
Pflanze widerlegt er durch den experimentellen
Nachweis, daß bei 20 von 38 Arten, die unter-
sucht werden, der Schleim im Zimmer bei 50 bis
75 "/o relativer Luftfeuchtigkeit in weniger als
einer Stunde sein ganzes Wasser abgibt. Nur bei
zwei mit ungewöhnlich großen Früchten und ge-
waltigen Schleimmassen ausgerüsteten Arten
(Chrysanthemum macrocarpum und Hertia cheiri-
folia) dauerte dies 5 und 5^/3 Stunden. Bedenkt
man, daß in Wüstengebieten der Wassergehalt der
Luft noch geringer ist als bei den angestellten Ver-
N. F. XX. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
221
suchen, so kann von einer irgendwie wesentlichen
Rolle des Schleims als Wasserspeicher nicht die
Rede sein; auch wäre es hierfür zweckmäßiger,
wenn der Schleim nicht aus dem Samen heraus-
treten, sondern innerhalb seiner Hüllen bliebe.
Dagegen ist leicht nachzuweisen, daß Früchte
oder Samen, die bei Wasserzutritt Schleim ab-
sondern, nach Eintrocknen der Schleimmassen
mit großer Kraft an der Unterlage (Filtrierpapier,
Objektträger, Erde eines Blumentopfes) festgehalten
werden. In der Natur werden so die Samen schon
nach dem ersten Regenschauer, selbst wenn er
von ganz kurzer Dauer ist, an der Unterlage ver-
ankert. Dieselbe Wirkung hat auch reichliche
Taubildung. Ferner haften lose Bodenteilchen an
dem Schleimklumpen fest, und nach dem Ein-
trocknen ist der Same ganz von ihnen umgeben.
Die Befestigung des Samens am Boden erleichtert
der Radikula das Eindringen in diesen und er-
möglicht weiterhin das Hinausschieben der Keim-
blätter aus den Samenhüllen.
Damit die Wirkung des Schleimes zur Geltung
kommt, müssen die Samen vor Eintritt der som-
merlichen Trockenperiode reifen und zu Boden
fallen, was in den meisten Fällen auch zutrifft.
Einige Arten blühen so spät, daß die Früchte erst
gegen Anfang des Winters reifen; andere entlassen
die von Mai bis Juni gereiften Früchte erst nach
Ende der Trockenheit, und bei einer dritten Gruppe
öffnen sich die Früchte erst bei reichlicherem oder
mehr anhaltendem Niederschlag, auch wenn dieser
jahrelang auf sich warten läßt (Hygrochasie, z. B.
bei der Jerichorose).
Versuche mit Samen von 50 Arten des Wüsten-
gebiets (Herbarmaterial) zeigten, daß die Keimung,
wie es den Erfordernissen des Klimas entspricht,
zumeist schon bald nach dem Wasserzutrilt er-
folgt. Bei 7 Arten hatte ein kleinerer Teil Samen
schon nach 24 Stunden gekeimt, bei 3 1 (62 "j^)
nach 48 Stunden; bei 44 (88,,/") war Keimung
vor dem Ablauf von 72 Stunden erfolgt. Nach
den Ergebnissen von Versuchen Murbecks
und älteren Untersuchungen von Astrid Cleve mit
insgesamt 72 skandinavischen Arten trat nur bei
5,6 */(, dieser Arten Keimung am Ende des dritten
Tages ein; auch hatten bei zwei Dritteln der
Arten Cleves nach 10 Tagen überhaupt noch keine
Samen gekeimt, während alle nordafrikanischen
Arten, deren Samen sich überhaupt keimfähig er-
wiesen, mit einer Ausnahme im Laufe von
höchstens 10 Tagen zu keimen angefangen hatten.
Diese Ziffern lassen erkennen, wie die Wüsten-
pflanzen in besonderem Maße auf die rasche Aus-
nutzung der oft nur kurzdauernden Niederschläge
eingestellt sind.
Eine weitere bei Wüstenpflanzen sehr häufige
Erscheinung, die Murbeck Synaptospermie
genannt hat, wirkt mindestens der Einzelver-
breitung der Samen entgegen. Sie besteht darin,
daß Samen oder einsamige Früchte beim Abfallen
portionsweise zusammengehalten werden und
noch bei der Keimung fest miteinander verbunden
sind. Die verkoppelten Samen können ein und
derselben Blüte oder mehreren Blüten angehören.
Bezüglich der Einzelheiten muß auf die Abhand-
lung (IIj selbst verwiesen werden. Der Verf. führt
aus, daß das nordafrikanische und orientalische
Wüsten- und Steppengebiet beim Vergleich mit
dem baltischen und subarktischen Europa in hohem
Grade durch seinen Reichtum an synaptospermen
Pflanzenarten ausgezeichnet ist, sowie daß die
Synaptospermie höchstwahrscheinlich auch für
andere Florengebiete mit trockenem und warmem
Klima mehr oder minder kennzeichnend ist und
vielleicht bloß innerhalb solcher eine bedeutendere
Rolle spielt. Ein Nutzen der Einrichtung besteht
darin, daß die Samen besser vor Austrocknung
geschützt sind, wofür Verf. experimentelle Belege
beibringt. Außerdem sind die Koppeln oft sehr
geeignet, die Verankerung an der Unterlage zu
befördern. Dem Vorteil der raschen Verankerung
tritt aber als Nachteil die Schwächung der Ent-
wicklung der einzelnen so nahe beieinander auf-
wachsenden Pflanzen aus einer Koppel entgegen.
Andererseits sind bei etwa 60 % der synaptospermen
Arten die Koppeln mit Einrichtungen zur Ver-
breitung durch Tiere oder den Wind versehen.
Eine bestimmte und allgemeiner gültige biologische
Aufgabe der Synaptospermie ist nicht anzugeben.
(Sv. Murbeck, Beiträge zur Biologie der Wüsten-
pflanzen I, 36 S. (19 19) und II, 52 S. (1920).
Lund und Leipzig (Otto Harassowitz). Aus:
Lunds Universitets Ärsskrift, N. F. Avd. 2. Bd. 15,
Nr. 10 und Bd. 17, Nr. i. Kungl. Fysiografiska
Sällskapets Handlingar N. F. Bd. 30, Nr. lO und
Bd. 32, Nr. I.) F. Moewes.
Über das Wesen und die Entstehung
diastatischer Fermente.
Viele Fermente (vielleicht alle) entfalten ihre
Wirksamkeit erst, wenn sie durch ein „Koferment"
(Komplement) aktiviert werden. So wirkt z. B.
das Pepsin des Magensaftes nur in Gegenwart
von etwa 0,3 % Salzsäure. Für die Diastase des
Mundspeichels und des Bauchspeichels ist bisher
die Notwendigkeit eines Kofermentes nicht be-
kannt gewesen; doch weiß man seit langem, daß
gewisse Neutralsalze die Wirksamkeit der Diastase
wesentlich steigern. Es wurde auch vermutet, daß
die diastatischen Fermente in absolut salzfreier
Lösung völlig unwirksam seien. Da durch Dia-
lyse die Salze einer Diastaselösung kaum restlos
entfernt werden können, so war es ungewiß, ob
wirklich Salze als Kofermente zur Aktivierung von
Diastase zu betrachten sind.
Nun hat W. Biedermann durch eine neue
Methode äußerst salzarme Diastase hergestellt und
hat an dieser die Einwirkung der verschiedensten
Salze untersucht. Biedermann ließ in einem
Reagenzglas Speichel, der auch verdünnt sein
konnte, mehrere Stunden stehen. Nach der Ent-
leerung des. Speichels wurde das Reagenzglas mit
absolut salzfreiem Wasser, welches aus silbernen
222
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX.. Nr. 14
Gefäßen destilliert war, 2- bis 3 mal ausgespült.
Die Glaswand hat dann noch soviel diastatische
Fermente absorbiert, daß in das Reagenzglas ein-
gefüllte „Stärkelösung" bei Anwesenheit der er-
forderlichen Salze in verhältnismäßig kurzer Zeit
(V2 — i'^) gespalten wird. Für die Stärkelösung
ist unbedingt die Amylose der Stärkekörner er-
forderlich, während das Stroma der Stärkekörner,
das Amylopektin, ungeeignet ist. Amylose bildet
mit heißem Wasser dünnflüssige völlig klare Schein-
lösungen, welche durch Jod rein blau gefäibt
werden, während Amylopektin durch Jod violett,
"bei einem Jodüberschuß kastanienbraun wird.
„Eine reine, wasserklare Amyloselösung, wie sie
für alle im folgenden zu erwähnenden Versuche
unbedingt erforderlich ist, verschafft man sich am
besten durch Erhitzen von i g Weizen- oder
Kartoffelstärke mit 100 ccm destilliertem Wasser
im Wasserbad auf nur 80* C und Absetzenlassen
der vorwiegend aus Amylopektin bestehenden
Stromata." i)
Die Reingewinnung von Diastase aus der
fermentbeladenen Reagenzglaswand ist bis jetzt
nicht gelungen; wahrscheinlich handelt es sich
immer nur um außerordentlich kleine Mengen
Substanz, die am Glase haften bleiben.
In einem mit Speicheldiastase beladenen Reagenz-
glas wird eine reine Amyloselösung auch bei
höherer Temperatur (40") entweder gar nicht oder
erst nach vielen Stunden sehr langsam gespalten.
Daher läßt sich leicht nachweisen, daß die Speichel-
diastase wie auch die pflanzliche Diastase nur
durch gewisse Salze aktiviert wird und nur bei
deren Anwesenheit die Stärkelösung hydrolytisch
spaltet. Auch die aktivierende Wirkung ver-
schiedener Salze (Ionen) läßt sich leicht verglei-
chend prüfen. Die Konzentration der Salzlösungen
ist wenig von Bedeutung; Spuren der Salze ge-
nügen und erst Konzentrationen über 5 '^/^ wirken
hemmend.
Biedermann stellte fest, daß die neutralen
Salze (anorganische wie organische) der Leicht-
metalle als Kofermente der Diastase wirken. Am
besten wird die Stärke spaltende Fähigkeit der
Diastase durch Chloride und vor allem durch das
Kochsalz NaCl erregt, außerdem gleich kräftig
nur durch das Rhodankahum KCNS, das sich auch
als normaler Bestandteil im Speichel vorfindet.
An 2. Stelle stehen KCl, KBr, NaBr und NH.Cl,
an 3. Stelle die Chloride von Ca, Mg, Sr und Ba.
Schließlich folgen die Nitrate, die Jodide und end-
lich die Sulfate, welche die geringste aktivierende
Wirksamkeit auf die Diastase haben. Die beste
Wirksamkeit entfaltet die Diastase nur in völlig
neutralen Salzlösungen. Die geringsten Spuren
einer freien Säure oder Base hemmen die Diastase-
wirkung und zerstören schließlich das Ferment.
Auffallig ist nun, daß sauer oder alkalisch rea-
gierende Salze recht gute Aktivatoren sein kön-
nen. So wirken saures Natriumzitrat und sauer
reagierende primäre Alkaliphosphate bis zu einer
Konzentration von 0,3 "/o aktivierend auf salzfreie
Diastase. Schwach alkalisch reagierende NaHCOg
und die sekundären Phosphate (diese noch in i proz.
Lösung) befähigen die Diastase zur hydrolytischen
Stärkespaltung. „Ein neutrales Gemisch von Phos-
phaten entspricht hinsichtlich seiner aktivierenden
Kraft dem Kochsalz als dem bestwirkenden
Chlorid." Setzt man zu einem neutralen Phos-
phatgemisch noch Spuren Kochsalz, so erhält man
Diastasepräparate von stärkster Wirksamkeit,
welche sogar die reine Kochsalzdiastase weit über-
treffen. Ebenso wird die aktivierende Wirkung
des Kochsalzes auf Diastase durch kleine Zusätze
von Na2HP04 nicht nur nicht vermindert, sondern
beträchtlich verstärkt. Diese Ergebnisse gelten
für die Speicheldiastase ebenso wie für die pflanz-
liche Malzdiastase. Aus all den einzelnen Ver-
suchen zieht Biedermann folgenden Schluß:
„Der gemischte menschliche Mundspeichel stellt
eineDiastaselösungdar, deren bei neutraler Reaktion
oft erstaunliche Wirksamkeit im wesentlichen von
der Zusammensetzung des anorganischen Komple-
ments (Kofermentes) abhängig ist."
Weiter hat Biedermann eine Reihe wichtig-
ster und grundlegender Versuche über die Natur
und die Entstehung des Diastaseferments ausge-
führt. Schließlich ist es ihm sogar gelungen „in
einer absolut fermentfreien Amyloselösung die
noch immer so rätselhafte Substanz zu bilden oder
entstehen zu lassen, die wir Diastase nennen."
Bereits im Jahre 1914 fand Biedermann,
daß die diastatische Kraft seines Speichels selbst
durch anhaltendes Kochen nicht völlig zerstört
werden kann ; die Hydrolyse der Stärkelösungen
wurde durch gekochten Speichel zwar stark ver-
zögert, aber durchaus nicht gänzlich aufgehoben.
„Ein Rest diastatischer Kraft, der unaustilgbar
schien, blieb immer erhalten." Bisher hatte man
es charakteristisch für alle Fermente gehalten, daß
sie durch Kochen in wässeriger Lösung zerstört
werden. Es entsteht daher die äußerst wichtige
Frage, ob die Fortdauer der schwachen diasta-
tischen Kraft des gekochten Speichels durch einen
kochfesten Rest des Ferments hervorgerufen wird
oder ob etwa durch die Salze im Speichel eine
Neubildung von diastatischem Ferment aus der
Stärkelösung, der Amylose, erfolgt.
Letzteres ist der Fall, denn Biedermann
konnte zeigen, daß auch eine wässerige Lösung
von Speichelasche ') die Amylose bei längerer
Einwirkung hydrolytisch spalten kann. Speichel-
asche in Wasser stellt eine Lösung geglühter an-
organischer Salze dar. Vom chemischen Stand-
punkt aus ist es höchst unwahrscheinlich, daß
diese anorganischen Salze an sich die Stärke
spalten. Biedermann lieferte aber auch den
zwingenden Beweis, daß die anorganischen Salze
eine Neubildung von Diastase bewirken. Erstlich
nimmt die diastatische Wirksamkeit von Koch-
') Münchener med. Wochenschrift S. 1429 (1920).
') Die Lösungen müssen immer vollständig neutral sein.
N. F. XX. Nr. 14
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
223
Speichel oder Speichelaschelösung erheblich zu,
wenn wiederholt Stärke (Amylose) zugesetzt wird.
Das ist nur möglich, wenn jedesmal bei der
Spaltung der Stärke eine gewisse Menge Ferment
neu gebildet wird. Nur so kann die Zunahme
der Hydrolysegeschwindigkeit erklärt werden, da
der wiederholte Zusatz von Amyloselösung sogar
eine Verringerung der Salzkonzentration bewirkt.
Zweitens geht die neu gewonnene diastatische
Kraft einer Speichelasche-Amyloselösung sofort
verloren, wenn die Lösung auch nur ganz kurze
Zeit gekocht wird. Da die anorganischen Salze
hierbei unverändert bleiben, muß aus der Stärke
neue Diastase entstanden sein, die beim Kochen
zerstört wurde.
Wenn diese Versuche mit gewöhnlichem, hoch-
verdünntem Speichel (i : 1000 bis i : 2000) ange-
stellt werden, findet man die gleichen Ergebnisse.
„Man muß also schließen, daß bei jeder fermen-
tativen Stärkespaltung auch Ferment neugebildet
wird."
Statt mit Speichelasche kann die Neubildung
von Diastase in Amyloselösungen noch besonders
durch diejenigen Salze oder Salzgemische bewirkt
werden, welche die salzfreie unwirksame Diastase
zu aktivieren vermögen. Am besten regen auch
hier neutrale Phosphatmischungen mit reinen
Chloriden die Entstehung des diastatischen Fer-
mentes aus der Stärke an.
Es wurde schließlich die Vermutung ausge-
sprochen, daß es sich bei der hydrolytischen
Spaltung von Stärke durch Speichelasche oder an-
organische Salze gar nicht um die Wirkung von
neu gebildetem Ferment handelt, sondern daß
einfach Spuren von salzfreiem Ferment, welche
den Stärkekörnern von vornherein anhaften könnten,
aktiviert werden. Nun hat aber Biedermann
auch Versuche mit Amylosepräparaten angestellt,
welche nach Bütschlis Verfahren durch Be-
handlung von Rohstärke mit konzentrierter Salz-
säure, Fällen mit Alkohol und Wiederauflösen in
Wasser gewonnen wurden. Dabei wird natürlich
jede Spur etwa anhaftenden Ferments zerstört
und doch waren die Ergebnisse genau die gleichen
wie mit den anderen Amyloselösungen.
Es scheint also nach Biedermanns Unter-
suchungen völlig festzustehen, daß die diastatischen
Fermente durchaus nicht eiweißähnliche Ver-
bindungen sind, sondern daß sie ihrer chemischen
Natur nach eher der Stärke selbst nahestehen.
„Alle weiteren Bestrebungen müssen nun darauf
gerichtet sein, die vermutlich organische Kompo-
nente der Diastasen näher kennen zu lernen."
(Alle Arbeiten Biedermanns erschienen in
der Zeitschrift „Fermentforschung", ein zusammen-
fassender Bericht von Biedermann in der
Münchener med. Wochenschrift S. 1429 — 1431
(1920).) Karl Kuhn.
Die kurzohrige Erdmaus, Microtus subter-
raneus Selys.
Die kurzohrige Erdmaus, Microtus subterraneus
Selys, ist aus Deutschland bisher nur wenig be-
kannt geworden und fehlt daher auch in den
meisten Säugerfaunen. Für Sachsen nennen sie
1855 nur Dehne,*) der die Art wiederholt in
der Lößnitz bei Dresden gefangen hat, und 1857
Blasius-) aus dem sächsischen Vogtland. Seit-
dem lagen aus dem Lande Nachrichten über das
Tier nicht mehr vor. Im Herbst 19 16 nun erhielt
ich ein Exemplar der Maus aus der Muldenaue
bei Rochlitz in Sachsen, das ich, da es mir lebend
gebracht wurde, auch einige Zeit in der Gefangen-
schaft halten und beobachten konnte und über
dessen Gefangenleben ich an anderer Stelle ") aus-
führlicher berichte. Die Maus unterschied sich
auf den ersten Blick von ihren übrigen deutschen
Verwandten (die Überbringer, Knaben eines Land-
mannes, bezeichneten sie schon „als eine ganz
andere Maus"); ihr gedrungener Körperbau, die
mehr als bei anderen Arvicoliden im Pelze ver-
steckten Ohren und vor allem die ungewöhnlich
kleinen, nur stecknadelkopfgroßen Augen sagten
mir sofort, daß ich eine mir bis dahin noch nicht
vorgekommene Art vor mir hatte. Dazu kam
noch ein von allen anderen Mäusen stark ab-
weichendes Verhalten: auf jedes Berühren ant-
wortete die Maus mit einem zornigen, fiependen
Fauchen, das lebhaft an das des Siebenschläfers
erinnerte, und suchte sich seiner noch dadurch zu
erwehren, daß sie sich auf die Seite oder den
Rücken warf und, etwa nach Art der ganz ähn-
lichen Abwehrmaßnahmen junger Raubvögel, mit
den Füßen wütend um sich stieß. Nur mehr aus-
nahmsweise machte sie einmal auch von ihren
Zähnen Gebrauch und biß in die sie berührende
Hand.
In der Gefangenschaft lebte sie mit einer
Arvicola arvalis zusammen und teilte mit dieser
einträchtig das Lager im Moos. Nur am Futter
bekundete sie ihrer Käfiggenossin gegenüber ihre
Unleidlichkeit durch ihr fiependes Fauchen, durch
heftiges Stoßen mit den Hinterbeinen und selbst
durch ein Fortbeißen der Mitkostgängerin. Nach
etwa einhalbmonatiger Gefangenschaft lockerte
sich die bis dahin aber sonst vorhanden gewesene
Eintracht zwischen den beiden Tieren, die Micro-
tus wurde ihrer Genossin gegenüber immer un-
verträglicher, bis nach fast vierwöchiger gemein-
samer Gefangenschaft die Feldmaus tot und von
der Microtus am Bauche angefressen im Lager
lag. — Auffallend an dem Tiere war seine große
Freßgier ; hatte die Maus eben erst eine Mahlzeit
beendet und sich sattgefressen, so erschien sie
doch sofort wieder auf der Bildfläche, wenn man
') AUgem. deutsche Naturhistor. Ztg., N. F. I, 1855
S. 178—179.
2) Naturgeschichte der Säugetiere Deutschlands, Braun-
schweig 1857, S. 387.
") Arch. f. Naturgeschichte (im Druck).
224
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr.
14
neues Futter in den Käfig brachte, und kostete
zum mindesten den neueingebrachten Bissen. Auf
der flachen Hand machte sie schon unmittelbar
nach ihrer Gefangennahme nie einen Versuch, zu
entfliehen, wenn man ihr dabei gleichzeitig Futter
darbot, und — für photographische Zwecke ins
Freie gebracht — benagte sie auch hier sofort
mit der ihr beim Fressen eigenen Hast Halm um
Halm eines kleinen Grasbüschelchens, ohne einen
ernstlichen Versuch zur Flucht zu unternehmen.
Besonders fein scheint der Geruchsinn der Maus
entwickelt zu sein; immer, wenn Futter in den
Käfig gebracht wurde (es geschah dies in dem
dazu bereits einige Zeit vorher geöffneten Käfig
versuchsweise wiederholt mit einer derartigen Vor-
sicht, daß die Wahrnehmung des hereingebrachten
Futters mit einem anderen als dem Geruchsinn
vollständig ausgeschlossen war) kam die Maus so-
gleich aus dem Lager hervor, um das Futter auf
seine Schmackhaftigkeit zu prüfen. —
Es dürfte sich jedenfalls lohnen, wenn man
auf die Maus, über deren Lebensweise bisher ja
nur ganz spärliche Beobachtungen vorliegen und
die ihren Gattungsgenossen gegenüber so auf-
fallende Unterschiede zeigt, künftig schärfer achten
und besonders auch versuchen wollte, ihr heute
noch recht ungenügend bekanntes Vorkommen in
Deutschland klarer zu legen.
Rud. Zimmermann, Dresden.
Bücherbesprechungen.
Doflein, F., Mazedonische Ameisen. Be-
obachtungen über ihre Lebensweise. 74 Seiten
mit 10 Abb. im Text und 16 Abb. auf 8 Tafeln.
Jena 1920, G. Fischer. 14 M.
Die Dofleinsche Schrift bietet nicht allein
dem Ameisenforscher, sondern jedem, der für das
Insektenleben Verständnis und Interesse hat, man-
cherlei Bemerkenswertes, sie dürfte in verschiedener
Hinsicht zum Nachdenken anregen und zeigt wie-
derum, wie viel Unerforschtes und wie viel unge-
löste Fragen es doch immer noch in der Ameisen-
kunde gibt, trotz der ausgedehnten Literatur,
die bereits auf diesem Gebiete vorhanden ist. In
Mazedonien, wo der Verf. während der beiden
letzten Kriegsjahre weilte, spielt sich natürlich das
Ameisenleben zum Teil recht anders als bei uns
ab. So fehlen die in unseren Breiten so charakte-
ristischen oberirdischen Bauten, die „Ameisen-
haufen" im mazedonischen Flachlande, ja selbst
bis zu Höhen von 1200 m hinauf, vollständig. Die
Ameisen sind dort aus klimatischen Gründen zu
einer rein unterirdischen Lebensweise übergegangen,
ein Umstand, der wieder für die erstaunliche An-
passungsfähigkeit dieser Tierchen spricht. Unter
den von D o f 1 ein daselbst gefundenen 46 ver-
schiedenen Arten und Unterarten sind es die
Körnersammler gewesen, die seine Aufmerksam-
keit besonders in Anspruch nahmen und über
deren Lebensweise uns Genaueres mitgeteilt wird.
Wir erfahren, wie die eigentümlichen Ringwälle
an den Nesteingängen während des Frühjahrs
entstehen, wie die Abfallhaufen zustande kommen,
und welche Rolle die Arbeiter und Soldaten in
den Nestkolonien spielen. Schon im Altertum,
ja sogar schon zu Salomos Zeiten, war es be-
kannt, dciß die Körnerameisen Vorräte in ihre
Nester einschleppen, über deren Aufspeicherung
und Behandlung der Autor mancherlei Beobach-
tungen in Mazedonien anstellen konnte. Auch
auf das „Mälzen" der eingetragenen Samen geht
er hierbei ein und möchte die Möglichkeit eines
derartigen Vorgangs, der mit der Behandlung der
Gerste in den Bierbrauereien verglichen worden
ist, nicht durchaus in Abrede stellen, trotzdem
neuere Autoren Bedenken dagegen ausgesprochen
haben. Doflein zufolge ist es immerhin denk-
bar, daß in gewissen Gegenden die Ameisen be-
stimmte Samenarten mälzten, während sie anders-
wo bei dem Fehlen der betreffenden Samen ein
abweichendes Verhalten zeigen mögen. Weitere
Mitteilungen beziehen sich auf den Jahresverlauf
im Nest der Körnerameisen, auf den Hochzeitsflug
und die Gründung neuer Kolonien, sowie auf das
Verhalten der Tiere in künstlichen Nestern. Die
letzten Abschnitte behandeln noch die durch das
Vorhandensein einer deutlich ausgeprägten Sol-
datenkaste interessanten und im ganzen südlichen
Europa weitverbreiteten Ameisenart Pheidole und
bringen endlich Erörterungen allgemeiner Natur
über die Biologie und Psychologie der vom Verf
untersuchten Ameisenarten.
Gewiß kann die vorliegende Schrift auf Voll-
ständigkeit und erschöpfende Behandlung der
einzelnen Fragen keinen Anspruch erheben, es
handelt sich eben um eine Reihe von Beobachtungen,
die von Doflein zum Teil unter recht erschweren-
den äußeren Umständen gemacht worden sind,
die aber jedenfalls vielerlei Beachtenswertes ent-
halten und damit hoffentlich auch wieder zu
weiteren Forschungen auf dem bezeichneten Ge-
biete anregen werden.
R. Heymons.
InliaH: W. Hoppe, Aufbau und geologische Geschichte der Sinaihalbinsel. S. 209. — Einzelberichte: Sv. Murbeck,
Zur Biologie der Wüstenpflanzen. S. 220. W. Biedermann, Über das Wesen und die Entstehung diastatischer Fer-
mente. S. 221. R. Zimmermann, Die kurzohrige Erdmaus, Microtus subterraneus Selys. S. 223. — Bücber-
besprechungen : F. Doflein, Mazedonische Ameisen. S. 224.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der gaoxen Reihe .^6. Band.
Sonntag, den lo. April 1921.
Nummer 15.
Zur Bildung der Braunkohlenflöze und Ökologisches über den
Braunkohlenwald.
Von Dr. R. Potonie, Assistent a. d. Paläobotan. Abteil, der Geolog. Landesanstalt Berlin.
[tTachdiuck verboten.]
Mit I Textfigur.
In der Naturw. Wochenschr. ist im Jahrgang
1920 durch W. Nuß zweimal eine beachtenswerte
Arbeit Teumers*) gewürdigt worden, die den
ersten Teil des durch den Titel vorliegender Ar-
beit gekennzeichneten Gegenstandes berührt.-)
Die Fragen, die in Teumers Arbeit und in
den etwas weitgehenden Ausführungen von Nuß
angeschnitten worden sind, verdienen es, verfolgt
zu werden, um so mehr, als sich im Zusammenhang
damit neueste Forschungen von K raus el^) be-
trachten lassen, die die Ökologie des Braunkohlen-
waldes betreffen.
Die Charakterkoniferen der Braunkohlenwald-
moore waren die Sumpfzypresse, Taxodium disti-
chum, die allgemein als so gut wie identisch mit
der lebenden Art behandelt wird, und die Schwester-
art des Mammutbaums Sequoia Langsdorfi, deren
Holz als TaxodioxylonSequoianum bezeichnet wird.
Ihr rezentes Analogon ist die Sequoia sempervirens.
Auch die Beziehungen des fossilen Ahnen der Sequoia
sempervirens zu dem lebenden Baum sind so eng,
daß man ebenfalls eine Identität annehmen muß.
Unterschiede lassen sich nicht auffinden, so weder
in der Belaubung, noch im Holz, noch im Bau
des Zapfens. Es ist nun außerordentlich wertvoll,
daß es gelungen ist, auf Grund besonderer Merk-
male das Holz der genannten beiden Bäume ana-
tomisch zu erkennen. Das Holz von Taxodium
zeichnet sich durch besonders starke Verdickung
der Querwände der Harzparenchymzellen aus.
GotlTan, der dieses seither mehrfach bestätigte
Merkmal aufgefunden hat, hatte nun auf Grund
davon bereits erkannt, daß nicht wie früher an-
genommen wurde, die Braunkohlenstämme aus-
schließlich aus Taxodiumholz bestehen, sondern
daß mindestens ebensohäufig das Holz der ge-
nannten Sequoia auftritt. Dies war von ihm be-
reits für die Senftenberger Braunkohlenvorkom-
men erkannt worden und wurde später von Kräu-
sel für die autochthonen Braunkohlen der Flözes
von Moys bei Görlitz bestätigt. Gothan hatte
außerdem schon darauf hingewiesen, daß der
') Teumer, Th., Die Bildung der Braunkohlenflöze im
Senftenberger Revier, „Braunkohle" 1920, Nr. 44 (Verlag von
Wilhelm Knapp in Halle a. S.).
*) I.) Kurzes Referat von W.Nuß, N.W. 1920, S. 283.
— 2.) Nufl, W., Die Entstehung der bodenständigen Braun-
kohlenflöze, N. "W., N. F. XIX., Nr. 38, S. 598.
') Kräusel, R. , Paläobotanische Notizen, I — III.
Senckenbergiana Bd. II, Heft 6, S. 198, Frankfurt a. M., den
15. Dezember 1920.
Nachweis von Taxodium in der niederrheinischen
Ville-Braunkohle überhaupt noch aussteht.
Bei dieser Sachlage war es naturgemäß von
großem Interesse, an einem Braunkohlenvorkom-
men mit autochthonen Stämmen, einmal näher
zu untersuchen, in welcher Art und Weise die
genannten beiden herrschenden Koniferen in
den verschiedenen Horizonten ein und desselben
Flözes verteilt sind. Zu diesem Zweck er-
schienen die beiden Flöze der Ilse-Bergbau-A.-G.,
das Unter- und Oberflöz besonders geeignet, und
die Direktion der Grube Ilse brachten, wie gewöhn-
lich, diesen rein wissenschaftlichen Untersuchun-
gen großes Interesse entgegen. In dankenswerte-
ster Weise hat Herr Berginspektor Teumer,
dessen verdienstvolle neueren Studien an den
Senftenberger Braunkohlenvorkommen schon in
dem genannten Artikel von Nuß gewürdigt worden
sind, die Aufsammlung von Holzresten vorgenom-
men. Aus Mangel an Zeit hat Gothan das
Material später an Kräusel abgegeben, der die
Untersuchung in mustergültiger Weise ausführte
und a. a. O. veröffentlicht hat.
Durch den Befund, daß Sequoia und Taxodium
in den Flözen nebeneinander vorkommen, wurde
weiter ein interessantes ökologisches Problem auf-
gerollt, denn das häufige Vorkommen einer Sequoia-
art so sagt Kräusel, steht mit der Vorstellung
eines typischen „swamp" mit vielen offenen Was-
serstellen in Widerspruch. Man hat nämlich bis-
her die Braunkohlenmoore für typische Sumpf-
moore gehalten. — Um nicht nur die den deut-
schen Geologen und Botanikern unbekannteren
Sumpfzypressenmoore des südlichen Nordamerika
zum Vergleich heranzuziehen, sei daran erinnert,
daß man sich die Braunkohlenmoore in ökolo-
gischer Hinsicht etwa so dachte wie die Erlen-
sumpf moore Norddeutschlands beschaffen sind.
Hier steht das Wasser — wenigstens zeitweilig im
Jahre — ziemlich hoch zwischen den Baumstämmen.
— Auch Sequoia sempervirens gedeiht
nun zwar auf feuchtem Untergrund, ist
aber kein ausgesprochener Sumpfbe-
wohner, bevorzugt sie doch heute sogar höhere
Lagen. Zur Erklärung gibt es daher nach Kräu-
sel zwei Möglichkeiten. Betrachtet man Sequoia
sempervirens als den direkten Nachkommen der
fossilen als Sequoia Langsdorfi bzw. Taxodioxylon
sequoianum beschriebenen Form, wofür sämt-
liche morphologischen wie anatomischen Befunde
226
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 15
sprechen, so könnte dieser Formenkreis ja seit
dem Tertiär eine weitgehende Umwandlung seiner
ökologischen Verhältnisse durchgemacht haben.
Das ist aber sehr unwahrscheinlich und würde
allen sonstigen Erfahrungen über die tertiäre Flora
widersprechen. Müssen wir doch, so sei hinzu-
gefügt, bedenken, daß die Gymnospermen bereits
zur Dyaszeit herrschend wurden und daß ihre
Blütezeit bereits zu Beginn der Kreidezeit vorüber
war. Ihre Entwicklung erscheint kurz und gut
in der Tertiärzeit als bereits abgeschlossen. So
bleibt nach Krau sei nur die Annahme übrig,
daß sogar das Liegende zum mindesten mancher
autochthonen Flöze nicht so sumpfig war, wie die
heutigen „swamps". Und dafür spricht auch, daß
sich nirgends in der umfangreichen Literatur der
sichere Nachweis findet, daß man irgendwo die
Atemkniee, Pneumatophoren, der tertiären
Sumpfzypresse nachgewiesen hat. Von diesen
bis I m hohen, festen senkrechten Auswüchsen
der Wurzeln konnte Krau sei trotz sorgfältigen
Suchens keine Spur entdecken. Dagegen fanden
sich sehr zahlreiche Wurzeln mit knotenförmigen,
maserartigen Wülsten, wie sie Taxodium distichum
noch heute auf feuchtem, verhältnismäßig wenig
sumpfigem Untergrund ausbildet. Für die Klärung
gerade dieser Frage schien eine Untersuchung der
vertikalen Verteilung der beiden Hauptbraunkohlen-
bäume einen erfolgreichen Beitrag zu versprechen.
In den Gruben Ilse, Renate, Anna-Mathilde, Eva
und Marga der Ilse A.G. in Senftenberg wurden
daher wie gesagt, und zwar auf Veranlassung von
W. G o t h a n , zahlreiche Holzproben von ver-
schiedenen, möglichst in situ befindlichen alten
Stämmen im Liegenden und Hangenden wie in
der Mitte der Flöze gesammelt.
Sämtliche bestimmbaren Hölzer gehören nach
der Untersuchung von Krause! zu Taxodioxylon
sequoianum bzw. T. taxodii. Die Verteilung der
beiden Holztypen ist aber nicht in allen Schichten
die gleiche. Sicher jedoch läßt sich auch hier
wieder sagen, daß überall beide Nadelbäume, Se-
quoia und Taxodium, gemischt auftreten. Im
Liegenden scheint die Sumpfzypresse zu über-
wiegen, aber selbst hier tritt uns durchaus kein
reiner Taxodiumbestand entgegen. ■ — Im Verein
mit dem Fehlen der schon erwähnten Pneumato-
phoren und im Hinblick auf die allgemeine, enge
Übereinstimmung der miozänen mit der lebenden
Flora, zwingt dies zur Annahme, daß die mio-
zänen Moorwälder des Gebietes doch wesentlich
trockener waren als die heutigen „dismal swamps"
Nordamerikas, so trocken nämlich, daß die der
tertiären, Sequoia sempervirens nahestehende oder
damit identische Sequoia darin noch, Taxodium
aber schon gedeihen konnte, ohne indessen zum
alleinherrschenden Baum zu werden.
Weiter zeigte sich, daß, je höher wir in dem
Flöz von Senftenberg hinaufsteigen, die Beteiligung
der Sequoien an der Waldbildung um so stärker
wird, bis sie schließlich im Hangenden der Flöze
durchaus überwiegen. Dies beweist für K r ä u s e 1 ,
daß parallel mit der Aufhäufung des Moores, das
stets von Wald bedeckt war, eine deutliche Aus-
trocknung erfolgte. Diese Entwicklung fand dann
ein Ende in einer erneuten Wasserbedeckung des
ganzen Gebietes, deren Ablagerungen die beiden
bei Senftenberg vorhandenen Flöze voneinander
trennen. Zwei Flöze liegen nämlich, wie schon
angedeutet, im Senftenberger Revier übereinander.
Für das Oberflöz gilt das gleiche wie für das
Unterflöz. Zweimal, sagt Krau sei, wiederholt
sich also jener Wechsel von Wasserbedeckung
und Austrocknung, für den wohl klimatische Ur-
sachen verantwortlich gemacht werden können.
Ich möchte einwenden, daß man Klima-
schwankungen besser nicht zur Erklärung dieses
Tatsachenbestandes heranzieht.
Die Sequoien, die schon in dem Stubben-
horizont, der sich auf dem Liegenden der Flöze
befindet, 35 — 44 "/o ausmachen, sprechen wie noch
andere Tatsachen dafür, daß die Torf bildung nicht
durch die Verlandung eines Gewässers begonnen
hat, sondern daß sie über dem Grundwasserspiegel
auf verhältnismäßig trockenem Boden ihren An-
fang nahm. Durch säkulare Senkung näherte
sich wahrscheinlich vor Bildung des Unterflözes
die Oberfläche des Gebietes allmählich dem Grund-
wasserspiegel. Hierdurch wurden die Wasserver-
hältnisse schließlich derartige, daß sich nicht nur
Sequoia und Taxodium anzusiedeln vermochte,
sondern auch die Haupttorfbildner, die krautigen
Gewächse. Mit der Entstehung des Torfs und
dessen Anhäufung war aber verbunden, daß die
Oberfläche des Geländes nicht weiter unter den
Grundwasserspiegel sank, denn die säkulare
Senkung muß, wie das ständige Vorhandensein
von Sequoia und das Fehlen von Atemknieen be-
weist, so langsam vor sich gegangen sein, daß
sich die Oberfläche des Torflagers jederzeit über
dem Grundwasserspiegel befinden konnte. Wir
möchten also mit Kräusel in der Tat sagen,
daß jene Braunkohlenmoore nicht echte Sumpf-
moore gewesen sind, nämlich nicht solche Moore,
bei denen sich, wie in den amerikanischen „swamps"
oder in den Erlensumpfmooren Norddeutschlands
der Wasserspiegel über der Torfoberfläche be-
fand. Wir möchten vielmehr annehmen, daß
vielleicht weitere Untersuchungen ergeben könnten,
daß die Braunkohlenmoore nur anfangs und aus-
nahmsweise Sumpfflachmoornatur gehabt haben,
so daß der größte Teil des entstehenden Torfs
vom Charakter eines Standflachmoor- oder
Zwischenmoortorfs war.^)
Wollte man aus den vorläufigen Unter-
suchungen Kräuseis noch einen anderen Schluß
ziehen, so würde es der sein, daß im weiteren
Verlauf der tertiären Torfbildung diese immer
mehr der säkularen Senkung überlegen wurde,
so daß hierdurch die Erhebung des Torfs über
den Grundwasserspiegel und somit die Trocken-
') Vgl. hierzu H. Potonie, Die rezenten Kaustobio-
lilhe, 1908/12.
\. F. XX. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
227
heit immer bedeutender werden mußte. Dies
scheint das allmähliche Überhandnehmen der
Sequoien zu beweisen. Indessen ist nicht gesagt,
daß wirklich so ein kontinuierliches Überhand-
nehmen der Sequoien konstatierbar ist. Kräusel
hat nicht festgestellt, ob sich solches stetige Zu-
nehmen der Sequoien wirklich innerhalb des
ganzen Flözes nachweisen läßt, er hat vorläufig
nur die Mitte des Flözes dem Hangenden und
Liegenden gegenübergestellt und gefunden, daß
sie im Hinblick auf ihre Sequoiahäufigkeit zwischen
Hangendem und Liegendem steht. Weitere Unter-
langsamere Senkung oder auch ein Stillstand des
Senkungsvorgangs, dem dann eine stärkere Land-
senkung folgte, die das IHöz mit Sedimenten
bedeckte.
Wie verhalten sich nun zu diesen Ergebnissen
die Auseinandersetzungen von Teumer.')
Es ist sehr wertvoll, daß Teumer in seiner
Arbeit darauf hingewiesen hat, daß sich Raum-
stümpfe in situ und die dazwischen liegenden
weiteren Holzreste keineswegs im ganzen Höz
gleichmäßig verteilt finden. Vielmehr zeigen sich
deutliche besonders holzreiche Horizonte, die sich
suchungen könnten jedoch ergeben, daß zwar auffällig von darüber und darunter liegenden holz-
dieser Gegensatz zum Hangenden und Liegen-
den wegen der hier vorhandenen besonderen
Verhältnisse besteht, daß aber trotzdem durch
das ganze Flöz hindurch zwar durchschnittlich die
von Kräusel für die Mitte festgestellte Ver-
teilung geherrscht hat, dennoch aber ein Hin-
und Herschwanken nachweisbar ist. Während
H. Potonie der Meinung war, der Grund-
wasserspiegel hätte sich während der ganzen
Torfbildung im allgemeinen über der obersten
Torfschicht befunden, möch-
te ich jetzt, wie schon an-
gedeutet, im Ausbau von
Kräuseis Befund darauf
hinweisen, daß der Wasser-
spiegel wegen dem ständi-
gen Vorhandensein von Se-
quoia und dem Fehlen der
Atemkniee bei Taxodium
durchschnittlich unter der
jeweiligen Torfoberfläche ge-
wesen sein muß. Die Torf-
bildung hinkte also nicht
dem scheinbaren Steigen des
Wasserspiegels nach, sondern
muß ihm, da die Geschwin-
digkeit der Senkung nicht
groß genug gewesen sein
wird, immer so weit wie
möglich vorangegangen sein,
so daß durch das Wachs-
tum des Torfs und die da-
durch bedingte Erhebung
der Mooroberfläche über
den Grundwasserspiegel die
Wasserverhältnisse automa-
tisch so gestaltet wurden, daß sie für die jeweilige
Mooroberfläche zwar schwankten, durchschnittlich
aber ungefähr gleiche blieben.
Wir dürfen hiernach wohl sagen, daß vor allem
die besonders sequoiareichen Bestände, die Kräu-
sel im Hangenden der Flöze nachgewiesen hat,
auf einen gelegentlichen Zustand der Braunkohlen-
moore hinweisen, der etwa unseren trockenen,
mit Kiefern und Fichten bestandenen Zwischen-
mooren entspricht. Den Abschluß der Torf bildung
bildete dann also bei den von Kräusel unter-
suchten Braunkohlenmooren zunächst eine aus
dem besonderen Sequoiareichtum zu schließende
ärmeren Braunkohlenschichten abheben (vgl. unsere
Abbildung). Die Stubbenhorizonte, die beim Ab-
bau der Flöze in deren Hangendem und Liegen-
dem zum Vorschein kamen, waren ja längst be-
kannt, man hat sich jedoch bisher noch niemals
Gedanken darüber gemacht, warum mitten im
Flöz nur an ganz bestimmten Stellen ebensolche
Horizonte vorkommen. An sich hätte man an-
nehmen können, daß die Bedingungen zur Er-
haltung des Holzes während der ganzen Flözbil-
^5if*^,.
Stubbenhorizont im Stoß eines am „Tonberg" befindlichen verlassenen Teiles
der Grube Ilse bei Senftenberg.
Phot. Horst Potonie.
dung stets im gleichen Maße gegeben sein müßten.
Die hier wiedergegebene Photographie zeigt solch
einen Holzhorizont im Stoß eines verlassenen
Teils der Grube Ilse. Seit längerer Zeit ist an
diesem Stoß nicht mehr gearbeitet worden und
so ist durch die Verwitterung der Kohle, deren
Schutt am Fuße des Stoßes sichtbar ist, der Holz-
horizont deutlich herausmodelliert worden. Teu-
mer erklärt sich, wie in der Naturw. Wochen -
sehr. (1. c.) schon eingehender dargestellt worden
ist, die Entstehung dieser Holzhorizonte dadurch,
') Te
Th., a.
O.
228
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 15
daß die für die Flözbildung schon immer ge-
forderte säkulare Senkung von Zeit zu Zeit durch
instantane Senkungen unterbrochen wurde. Diese
plötzlichen schnelleren Senkungen aber sollen be-
dingt haben, daß das dadurch plötzlich steigende
Wasser die Stämme bis zu einer Höhe von durch-
schnittlich 2 m umgab. Das hätte sie freilich
zum Absterben bringen müssen, sie hätten dann
oberhalb des Wasserstandes verwesen und um-
brechen können, worauf ihre Stubben in situ und
der umgestürtzte ins Wasser geratene Stamm,
nunmehr vom Sauerstoff der Luft abgeschlossen,
erhalten bleiben konnten.
Die Vereinigung dieser Ansicht mit den Re-
sultaten Kräuseis bringt Schwierigkeiten mit
sich, und doch müssen die Stubbenhorizonte er-
klärt werden. Zunächst einmal, wie ist der
Stubbenhorizont auf dem Liegenden entstanden?
Über dem Grundwasserspiegel fand ja die erste
Bewaldung mit Sequoien und Sumpfzypressen
statt und der Torf bildete sich nicht durch „Ver-
landung" sondern durch „Vernässung". Nach
T e u m e r müßte sich nun dieses Standmoor plötz-
lich durch Senkung in ein Sumpfmoor verwandeln.
Die Bäume wären hierdurch nicht nur zugrunde
gegangen, sondern hätten dann auch nicht mehr
in dieser Zusammensetzung in solche Umgebung
hineingepaßt. Die Sumpfzypresse hätte bis zur
wieder erfolgten Verlandung des 2 m hoch stehen-
den Wassers herrschend werden müssen. Ihr
nunmehriges Vorherrschen würde sich aber nicht
nachweisen lassen, weil erst wieder durch die
nächste instantane Senkung ein Holzhorizont ent-
stehen konnte.^) Solche instantane Senkung wäre
aber, wie K r ä u s e 1 s Holzuntersuchungen bewiesen
haben, erst dann wieder erfolgt, als die Sequoia
von neuem aufgetreten war, der Torf sich also
schon wieder seit längerer Zeit über den Grund-
wasserspiegel erhoben hatte. Schwer verständlich
ist vor allem, daß z. B. auch gerade immer im
Anfang der Flözbildung die instantane Senkung
genau dann erfolgte, wenn der Sequoia- Taxodium-
wald bis zu einer gewissen Größe emporgewachsen
war. Leichter verständlich wäre jedoch wieder
die Erhaltung des Stubbenhorizontes im Hangen-
den, dessen Bedeckung ja tatsächlich durch eine
stärkere Senkung hervorgerufen worden sein muß.
Noch eine zweite iVlöglichkeit darf nicht außer
Betracht gelassen werden. Weil vor Bildung des
Flözes die Torfbildung mit der nur sehr lang-
samen Annäherung an den Grundwasserspiegel
besonders langsam erfolgte, konnten die Bäume
auf dem Liegenden sehr alt werden, ehe ihr Fuß
vom Torf umschlossen wurde und sie dadurch
zugrunde gehen mußten. Diesen ersten kräftigen
Bestand vermochten nicht weitere ebenso kräftige
zu folgen, weil weitere Generationen sich nicht
wie die auf dem Liegenden kräftigen konnten
') Es sei denn, daß sich über den Horizonten noch spär-
lichere Holzreste finden lassen, die vorwiegend Taxodium an-
gehören.
und daher schon in jugendhcherem Zustande von
dem durch die in gleichem Maße weiterschreitende
Senkung sich bildenden Torf erstickt wurden.
Daher die Holzarmut in den meisten Teilen des
Flözes. Ein Stubbenhorizont innerhalb des Flözes
hätte dann erst wieder entstehen können, wenn
die säkulare Senkung zeitweilig ganz unterbrochen
oder stark verlangsamt wurde. Es erfolgte eine
Erhöhung des Torfs über den Wasserspiegel bis
zum Höchstmaß, ein Aufhören des Torfwachstums
und ein Altern des gerade vorhandenen Wald-
bestandes. Eine Fortsetzung der säkularen Sen-
kung würde dann einen neuen Horizont mit be-
sonderem Holzreichtum erzeugt haben können.
Es ist dies gewissermaßen die Umkehrung der
Teum ersehen Ansichten. Ihr würde nicht so
sehr die Tatsache des ständigen Vorhandenseins
der Sequoia in den Braunkohlenflözen wider-
sprechen. Je nach der wechselnden Geschwindig-
keit der Senkung würden bald für den einen, bald
für den anderen der beiden Charakterbäume des
Braunkohlenwaldes die Bedingungen günstigere
gewesen sein.
Es sei schließlich auch noch auf die oft nicht
minder scharf ausgeprägten Stubbenhorizonte in
rezenten IWlooren Mitteleuropas hingewiesen. Diese
Horizonte haben gar nichts mit Senkungsvorgängen
zu tun, sondern lediglich mit der immer weiter
fortschreitenden Erhebung der Torfoberfläche über
den Grundwasserspiegel und mit der dadurch be-
dingten Änderung des Pflanzenbestandes.
Eine wichtige auch schon berührte Frage ist
nun noch die, wie kommt es, daß wir die Sequoia
im Tertiär als Moorbaum auftreten sehen, während
sie uns heute meist als Gebirgsbaum und nur
noch selten als Moorbaum entgegentritt. Gothan *)
meint, es habe ein Wechsel in der Ökologie
des Baumes stattgefunden. Dies kann mißver-
standen werden. Ich möchte deshalb hinzufügen,
daß man nicht annehmen darf, ein und dieselbe
Art habe damals jene, heute diese Lebensbedin-
gungen gehabt. Die Sequoia wird damals an ihre
Umgebung dieselben Forderungen gestellt haben
wie auch heute und dürfte daher auch schon
damals Gebirgsbaum gewesen sein. Sie konnte
uns freilich von solchen Standorten nicht erhalten
bleiben, weil dort die Bedingungen hierzu
fehlten. Sie ist aber außerdem Moorbaum ge-
wesen und zwar mehr als heute; ähnlich wie wir
heute die Betula pubescens im Moor und auf
trockenem Untergrund auftreten sehen. Heute
dürfte sich die Sequoia in den Mooren deshalb
nicht mehr so gut halten können, weil ihr dort
neue Konkurrenten erwachsen sind, die diesen
Baum der Vorzeit im wesentlichen auf seine heu-
tigen Gebirgsstandorte beschränkt haben.
Zusammenfassung.
Wir müssen uns wegen des Vorkommens von
Sequoiaholz in allen Teilen der Braunkohlenflöze
') Potonie-Gothan, Lehrbuch der Paläobotanik, IQ2I,
S. 3 «7-
N. F. XX. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
229
zu der Auffassung entschließen, daß die Moore,
aus deren Torf die tertiäre Brauukohle entstanden
ist, im Prinzip nicht Sumpfflachmoore, sondern
(wenn wir einen Vergleich mit mitteleuropäischen
Mooren anstellen wollen) Standflachmoore, viel-
leicht zeitweilig auch Zwischenmoore gewesen
sind, d. h. also solche Moore, bei denen der
Grundwasserspiegel sich nicht wie bei den Flach-
mooren über, sondern unter der Oberfläche des
Torflagers befand. Daß vom Liegenden zum
Hangenden das Sequoiaholz zunimmt, hat wohl
seinen Grund nicht in Klimaschwankungen, son-
dern hängt mit der verschiedenen Geschwindig-
keit des Senkungsvorganges und mit Eigentümlich-
keiten des Vertorfungs Vorgangs zusammen.
Daß die Stubbenhorizonte, wie Teumer an-
nimmt, durch instantane Senkung entstanden sind,
ist nicht notwendig. Es könnten auch durch
Stillstandsperioden im Senkungsvorgang Stubben-
horizonte entstehen.
[Nachdruck verboten. ]
Die Dauer der Eiszeit.
Von Dr. K. Olbricht-Breslau.
Mit 2 Textfiguren.
In Heft 2 (Jahrgang 1921) dieser Zeitschrift
berichtet Mötefindt über die interessanten Be-
rechnungen Werths im Anschluß an die Mes-
sungen, die de G e e r und seine Schüler über die
Dauer der Abschmelzzeit vornahmen.
Danach dauerte die Abschmelzphase der letzten
Vereisung seit dem Verlassen Schönens 5000 Jahre.
Für die Ancyluszeit (Mesolithikum) nimmt Werth
etwa 4000 Jahre an, für die Zeit, die seit der
Litorinasenkung verstrich, ergeben die Messungen
Keilhacks an den Dünen der Ostseeküste 7000
Jahre. Zusammen sind also 16000 Jahre ver-
flossen, seit das letzte Inlandeis von Schonen ab-
schmolz.
An dieser Stelle setzen meine neuen Be-
rechnungen der vorher liegenden Abschnitte der
Eiszeit ein.
Die exakten Messungen ergaben, daß in
Schonen das Eis viel langsamer abschmolz, als in
Mittelschweden (50 m gegen etwa 300 m). Der
Grund dafür liegt wohl — abgesehen vom Ab-
klingen des kalten schneereichen Eiszeitklimas —
auch darin, daß das Eis, als es noch über Schonen
lag, ein weit größeres Volumen besaß, als
das mittelschwedische.
Es gilt also auf Grund der Flächenareale,
welche die Eisdecken in den einzelnen Perioden
einnahmen, die ungefähren Volumina zu berechnen
und hieraus rein arithmetisch Annäherungs-
zahlen für die Abschmelzgeschwindigkeit
in den verschiedenen Eisrandlagen zu errechnen.
Als Grundlage benutzte ich meine Übersichts-
skizze (S. 313, Jahrgang 1920 dieser Zeitschrift)
und zwar nur die östliche Abdachung, weil auf
der atlantischen Abdachung das Inlandeis nicht
zur vollen Entfaltung kam, sondern kalbend gegen
den tiefen Ozean abbrach.
Für die einzelnen Zeiten (Mindel, Riß, Wurm
und Bühl) sind die von mir für das Maximum
der jeweiligen Abschnitte berechneten jährlichen
Abschmelzgeschwindigkeiten (in m) eingetragen
und dazwischen die Durchschnittswerte,
die zwischen zwei Phasen (MR, RW usw.) anzu-
nehmen sind.
Mit Hilfe dieser Zahlen, die nur eine Weiter-
ausspinnung der de Geer sehen Berechnungen
sind, läßt sich etwa folgendes aussagen, wobei die
Zahlen erhalten werden, indem man die Ab-
schmelzstrecken durch den Mittelwert divi-
diert !
Für die Zeit zwischen dem Bühlstadium und
dem Schonen- (Skanisches)stadium erhalten wir
13000 Jahre. Diese Zahl ist zu erhöhen, weil
das Eis nicht andauernd abschmolz, son-
dern der Eisrand immerfort hin- und herpendelt,
so die zahlreichen hintereinander geschalteten
Moränenwälle aufbauend. Kann man doch stellen-
weise etwa ein Dutzend Staffeln verfolgen 1 Runden
wir auf annähernd 1 5 000 Jahre ab , so erhalten
wir für die seit dem Bühlstadium vergangene
Zeit 1 5 000 -|- 5000 + 4000 -|- 7000 = 3 1 000
Jahre. Das paßt ausgezeichnet zu der aus dem
Rückschreiten der Niagarafälle — die erst nach
der Bühlzeit eisfrei wurden — berechneten jüng-
sten Zahlen von 30 000 bis 35000 Jahren. Diese
3 1 000 Jahre dürften also seit dem Magdalenien
vergangen sein.
Der Bühlvorstoß folgte in Norddeutschland auf
eine etwas wärmere — wenn auch im allgemeinen
glaziale — kurze Periode, deren Dauer nach Kalk-
ablagerungen auf etwa ein Jahrtausend (Masuri-
sches Interstadial Heß v. Wichdorffs) ge-
schätzt werden kann. Die Zeit, in der das Eis
vom Maximum der Würmeiszeit bis zur Ausdeh-
nung des Bühleises abschmolz, berechne ich auf
13000 Jahre. Zahlreiche hintereinander gereihte
Moränenstaffeln zeigen, daß auch sie um einiges
zu erhöhen ist, sagen wir rund auf 15000 Jahre.
Mit Ausschluß der kurzen Wärmeperiode sind
also seit dem Abschmelzen des Würmeises bis
zur Eisscheide 1 5 000 -j- 1 5 000 -|- 5000 ^35 000
Jahre vergangen. Da das Vorrücken wohl unter
im allgemeinen ähnlichen Bedingungen — die
Endmoränen sind gewissermaßen versteinerte
Obertöne auf den größeren Klimawellen — , so
mag man die Gesamtdauer der Würmeiszeit auf
etwa 2X35000=70000 Jahre berechnen.
Für die Rißeiszeit ergeben sich auf demselben
Wege 2X55000= iioooo Jahre, für die Mindel-
vereisung 2X85000=170000, für die Günzver-
230
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. is
eisung etwa ebensoviel wie für die Würmzeit.
Die Gesamtdauer der Eiszeit muß also
mindestens 420000 Jahre betragen.
Diese Zahl würde genau stimmen, wenn wir
als Eiszeit ein Zeitalter bezeichnen, in welchem
auch in den wärmsten Phasen (Interglazialzeiten)
einige Schneereste in Norwegen vorhanden waren.
Wahrscheinlich gab es aber einen — wenn auch
vielleicht nur kurzen — Zeitabschnitt, in dem in
Mitteleuropa ein sehr trockenes wüstenartiges
Klima mit Manganrindenbildung und ähnlichen
Erscheinungen *) herrschte. Für dieses Maximum
der Mindelrißschichteneiszeit müssen wir viel-
leicht ebenfalls einige Jahrtausende einsetzen. Im
allgemeinen stimmt auch die Mächtigkeit
der Interglazialschichtenim Vergleich mit
denen postglazialer Ablagerungen mit den von
mir angenommenen Zahlen.
Abb. I.
Diese sind natürlich auch nur Annäherungs-
werte, mit denen wir aber sicher exakter arbeiten,
als mit den aus „Denudationsmetern" und ähn-
lichen sehr schwer zu verallgemeinernden Be-
rechnungen gewonnenen Zahlenangaben. Im all-
gemeinen dürfte wohl die Dauer des Eiszeitalters
— was sich auch mit der Mächtigkeit der Lösse
deckt — 500000 Jahre nicht überschritten haben.
Die abgebildete Kurve, in der jedes cm
50000 Jahre bedeutet, zeigt, wie man sich augen-
blicklich etwa den Verlauf des Eiszeitalters vor-
stellen kann. Das Pluszeichen bedeutet das kurze
aber heiße Stadium der Mindelrißinterglazialzeit.
Die Gliederung der Kurve durch Obertöne ist
auch angedeutet.
In die seit dem Wegschmelzen des letzten
Inlandeises vergangenen 1 1 ooo Jahre fallen wahr-
scheinlich drei solcher Oberwellen mit je einer
wärmeren und kühleren Periode (vgl. meinen
oben erwähnten Aufsatz in dieser Zeitschr. S. 315
und 316). Falls diese Angaben sich als richtig
erweisen sollten, ist die Zeit zwischen zwei Kälte-
maximas auf 11000:3 = 3000 Jahre (annähernd!)
anzusetzen. Sollten es die späteren For-
schungen einmal erweisen, daß jeder
Endmoränen wall einer mit den post-
glazialen Kälteperioden äquivalenten
Oberwelle entspricht, würden wir ein
weiteres Hilfsmittel durch Schätzung der Eiszeit
haben. Endlich sind in die Kurve als dicke
schwarze Striche auch die Zeiten der Lößbildung
eingetragen, deren Dauer so ebenfalls genauer
fixiert werden kann.
') Vgl. hierzu meinen Aufsatz : Einige Beobachtungen im
Diluvium bei Görlitz (Jahrbuch der Preuß. geol. Landesan-
stalt, Bd. XL, S. 510 usw.).
Abb. 2.
Ein im Durchschnitt 10 m mächtiger Löß
wie der jüngere Löß ist demnach in einem Zeit-
raum von etwa 20000 Jahren aufgeschüttet worden.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch die Auf-
schüttung jedes Lösses lokal zeitweise einmal aus-
setzen konnte, wodurch lokale Verlehmungszonen
(nicht zu verwechseln mit den regionalen Laimen-
rindenl) wie die Göttinger Zone entstanden.
Auch ist es wahrscheinlich, daß die
Oberwellen nochmals durch sekundäre
Oberwellen gegliedert wurden, als die
wir die Brückner sehen 3 5 jährigen Klimaschwan-
kungen ansehen können. Vielleicht gelingt es
einmal, auch diese in die Eiszeitkurve hineinzu-
arbeiten und damit der Berechnung einen Grad
hoher Exaktheit zu geben.
Einzelberichte.
Das Hirteutüschel in der Medizin.
In den letzten Jahren ist die Einfuhr mancher
Arzneimitteldrogen sehr erschwert und beschränkt
gewesen. Daher hat man nach Ersatz unter den
einheimischen Pflanzen gesucht, deren pharmako-
logische Wirkung zum Teil recht wenig unter-
sucht ist. Noch jetzt ist ein fühlbarer Mangel an
Mutterkorn, Seeale cornutum, vorhanden und da
ist es von Wichtigkeit, daß das überall wild
wachsende Hirtentäschel, Capsella bursa pastoris,
als blutstillendes Mittel anscheinend einen wirk-
samen Ersatz für die Sekalepräparate darstellt.
Schon zur Zeit Neros diente das Täschelkraut als
Abortivmittel ; im Mittelalter wurde es bei äußeren
und inneren Blutungen, vor allem bei Menstruations-
störungen, benützt. Es geriet aber in Vergessen-
heit und wurde erst in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts wieder ausgegraben und ab und zu
angewandt. Im Arzneischatz behauptete sich das
Hirtentäschel jedoch nicht und erst der jetzige
Mangel an Mutterkorn brachte es wieder zu Ehren.
Unter verschiedenen Namen werden nun alko-
holische und wässerige Auszüge von Capsella
\. F. XX. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
231
bursa pastoris hergestellt. Sie können intramus-
kulär oder in Tropfenform per os verabreicht
werden. In der Tübinger Universitätsfrauenklinik
hat Schneider') Hirtentäschelpräparate an 5 2
Frauen mit gutem Erfolg bei Subinvolutio des
Uterus im Wochenbett erprobt. Die Rückbildung
der Gebärmutter machte gute Fortschritte und
die blutigen Ausflüsse hörten auf. Irgendwelche
Nachteile für das Befinden hatte der Gebrauch des
Hirtentäschels nicht. Neuerdings wurden auch
recht befriedigende Erfahrungen bei atonischen
Nachblutungen nach der Geburt durch intramus-
kuläre Injektion von Hirtentäschelpräparaten ge-
macht.
Von pharmakologischer Seite wurde durch
M. Kochmann ') die Wirkung des Hirtentäschels
auf den überlebenden Uterus des IVIeerschweinchens
untersucht. Die Bewegungen des Uterus wurden
bei 37* in Ringerlösung, welche von Sauerstoff
durchperlt wurde, durch einen Schreibhebel auf
einem sich langsam drehenden Kymographion
aufgezeichnet. Wässerige Mazerationen und In-
fuse der getrockneten Pflanze bewirken noch in
Verdünnungen von i : 1000 bis 1 14000 eine starke
Steigerung des Tonus und die einzelnen Kontrak-
tionen des Uterus wurden meistens größer und
zahlreicher. In anderen F'ällen, besonders durch
große Gaben der Capsella, kommt es zur Kon-
traktur und zum Stillstand des Uterus. Nach
näheren Untersuchungen scheint die fördernde
Wirkung, welche Capsellapräparate auf die Uterus-
bewegungen ausüben, auf der Erregung des para-
sympathischen Nervus pelvicus zu beruhen; „der
Stillstand der automatischen Bewegung durch
große Gaben wird durch eine Lähmung der iVIus-
kulatur hervorgebracht".
Auffallend ist Kochmanns Beobachtung,
daß verschiedene Hirtentäschelpräparate, die zum
Teil von selbst gesammelten Pflanzen stammten,
eine sehr schwache oder gar keine mutterkorn-
ähnUche Wirkung auf den Uterus hatten.
Worauf die Wirksamkeit von Capsella beruht,
ist noch nicht sicher festgestellt. W a s i c k y -) ver-
mutet, daß die Wirksamkeit des Täschelkrauts
seinem Kaliumgehalt parallel geht. Kochmann
zeigte aber, daß die Gesamtasche einer genügen-
den Drogenmenge und auch Kaliumchlorid in
I proz. isotonischer Lösung keine Veränderungen
in der Tätigkeit des Uterus hervorrufen. „IVIan
muß vielmehr annehmen, daß an der Wirkung
der Capsella spezifisch wirksame Bestandteile be-
teiligt sind."
Beachtenswert ist die Ansicht von H. Wil-
chowitz^), welcher die spezifisch wirksamen
Substanzen nicht dem Hirtentäschel selbst zu-
schreibt, sondern den Pilzen Cystopus Candidas
oder Peronospora grisea. Diese befallen sehr
häufig die Stengel und Blätter und bewirken eine
') Münchener medizinische Wochenschrift Nr. 50, S. 1439;
Nr. 45, S. 1284; Nr. 51, S. i486 (1920).
■•') Apoth.-Ztg. Bd. 35, S. 277—278 (1920).
•'j M. tn. W. 1. c.
auffallende Entartung der Sprosse des Hirten -
täschchens. Von diesen Pilzen nicht befallene
Pflanzen werden natürlich unwirksame Präparate
ergeben, wie sie Kochmann beobachtete. Auch
chemische Ähnlichkeiten der spezifischen Substanz
von Capsella und des wirksamen Körpers von
Seeale cornutum sind nach Boruttau') und Koch-
mann vorhanden. „Der Geruch der Droge ist
zwar schwächer, aber qualitativ gleich dem des
Seeale, d. h. man kann deutlich den Geruch des
Trimethylamins oder ähnlicher Amine wahrnehmen.
Auch die Tatsache, daß die spezifischen Sub-
stanzen bei der Lagerung verschwinden, also zer-
setzt werden, ist beiden Drogen, sowohl der Cap-
sella wie dem Seeale cornutum, gemeinsam."
Da das Hirtentäschel in Massen zur Verfügung
steht, könnte es vielleicht einmal das Mutterkorn
ersetzen, wenn man erst gleichmäßig wirksame
Drogen herzustellen vermag. Karl Kuhn.
Die Mechauik der physikalischen Auziehnugs-
erscheinungen.
Über dies Thema sprach in der letzten Sitzung
des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg
Oltmanns. Für die Begriffe der Schwerkraft,
der Kohäsion, des Magnetismus, der Elektrizität, der
Wärme usw., vor allem für den Begriff der Anziehung,
fehlt uns jede Erfahrung und logische bildliche
Vorstellung der Vorgänge. Eine unvermittelte
Fernwirkung, ein unkörperhaftes Geschehen, wie
es damit verbunden gedacht wird, ist unseren
Sinnen unzugänglich und darum unvorstellbar.
Deshalb müssen alle Erscheinungen durch Bilder
und Vorstellungen natürlichen Geschehens, d. h.
von Stoff auf Stoff, von Körper auf Körper ge-
deutet werden. Solche Deutung ist aber nur
dann möglich, wenn wir von der Vorstellung des
Druckes als Grundvorstellung allen Geschehens
ausgehen. Jeder Druck ist zugleich erkennbar
durch Formänderung, Bewegung und Wärme.
Die gesamten Erscheinungen sind daher als
Druck- und Bewegungsvorgänge komplizierterer
Art zu deuten.
In seinem Buch „Die Mechanik des Weltall"
entwickelt deshalb Oltmanns die Erscheinungen
der Schwerkraft und der allgemeinen Massen-
anziehung als vorstellbare, körperhafte Bewegungs-
vorgänge. In betontem Unterschied von der
bisherigen und der Einst einschen Lehre, wird
der Begriff des absolut ruhenden, gewichtslosen,
Äthers, als eines in sich durchaus widerspruchs-
vollen Hilfsbegriffs, völlig abgelehnt und an
dessen Stelle das Weltall mit einem wirklich
körperhaften Stoffe erfüllt gedacht. Ein solcher
Stoff muß die Eigenschaften der unendlichen
stetigen Raumerfüllung und äußerster Verdünnung
') Boruttau und Coppenberg fanden in Capsella-
drogen etwa I °o Cholin, an organische Sänre gebunden und
als Acetylcholin, weiter p-Oxyphenyläthylamin (Tyramin) und
eine dritte nikolinähnliche Base. Apoth.-Ztg. Bd. 35, S. Z6l
(1920).
232
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 15
mit denen der Kontinuierlichkeit und Beweglich-
keit verbinden; er muß, wie jeder terrestrische
gasförmige Stoff, aus einzelnen homogenen Teil-
chen bestehen, welche Schwere, Trägheit, Beweg-
lichkeit, Reibung, Elastizität haben müßten. Ein
solcher Stoff ist nur denkbar in der Form von
absolut leeren Hohlkügelchen, deren Wände durch
Ausstrahlung kleinster Stoffteilchen kreisender
seitens der Himmelskörper gebildet werden. Ihre
kugelige Form wird gebildet und erhalten durch
schnellste Kreisung, welche durch die Wechsel-
wirkung der Eigenrotation der Himmelskörper
mit ihrer fortschreitenden Bewegung bewirkt wird,
und stuft sich von den Himmelskörpern mit zu-
nehmender Größe nach dem kubischen Abstand
ab, so daß dieser Stoff im umgekehrten Verhältnis
seines Abstandes sich verdünnt. Nur ein solcher
Stoff, den der Vortragende mit „Kosmium" =
Weltenstoff benennt, kann, wenn er durch die
Eigendrehung eines größeren Himmelskörpers in
schnelle, kreisende Bewegung versetzt wird, durch
die Strömung seiner Masse andere Himmelskörper
mit sich fortreißen und auch diese in kreisende
Bewegung setzen. Jedoch müssen auch diese
durch Ausstrahlung und Bildung eines gleichen
Stoffes und Rotation desselben eine so große
Sphäre und Angriffsfläche um sich bilden, daß
sie durch den Druck und die Strömung der von
den größeren Himmelskörpern ausgehenden Strö-
mung und Strahlung mitgerissen und getragen
werden können. So ist auch bei der Erde ein
derartiges, aus Kosmium bestehendes Rotations-
Sphäroid anzunehmen, dessen Hohlkügelchen je-
doch durch die geneigte Stellung der Rotations-
achse der Erde zu ihrer Fortbewegungsebene
(Ekliptik) eine geneigte Stellung ihrer Drehungs-
achsen zu den Erdradien einnehmen. Durch das
Zusammenwirken aller Kügelchen entsteht eine
Schraubenwirkung von außen nach innen, die
das Herabfallen und die Schwere aller Körper
bewirkt. In gleicher Weise können auch die
Anziehungserscheinungen des Magnetismus und
der Elektrizität nur durch schraubenartige Rota-
tionswirkung geneigt gestellter, kleinster Stoff-
teilchen erklärt werden. Die Schnelligkeit und
Neigung ihrer Rotation muß sich aus ihren Wir-
kungen rechnerisch ableiten lassen und wird zu
denselben Formen und Werten führen, die man
nach der modernen Atomtheorie für einzelne
Atome festgestellt hat; darum scheint der Schluß
berechtigt, daß auch alle Atome der irdischen
Gase Hohlkügelchenstruktur mit einer schnellen
Rotation verbinden. Nur dann wären alle gesetz-
mäßigen Erscheinungen der Gase, z. B. ihre Aus-
dehnung, ihre Drucke und ihre Elastizität einwand-
frei zu erklären. Rückschließend müssen wir auch
bei den von der Sonne ausgehenden und bewegten
Kügelchen eine derartige geneigte Stellung an-
nehmen, welche die Neigung der umkreisenden
Planeten bewirkt. Es muß ferner auch für die
Bahn der Sonne eine zu ihrem Äquator geneigte,
ungeheure Sonnenbahn, gleich einer Ellipse, an-
genommen werden. Die Sonne muß diese Bahn
in der Zeit einer Präzession, also in rund 26000
Jahren, durchlaufen. Da die Geschwindigkeit der
Sonne etwa doppelt so groß ist wie die der Erde,
muß auch die Bahn doppelt so groß, also rund
52000 mal so groß wie die der Erde sein. Um
sich einen Begriff von der ungeheuren Größe
dieser Bahn zu machen, muß man sich vorstellen,
daß die ganze Jahresbahn der Erde nur 1 mm
Durchmesser hätte, wenn wir die Bahn der Sonne,
des Sonnenjahres, mit 52 m Durchmesser auf-
zeichneten. Alle Vorgänge der Himmelsbewegun-
gen lassen sich derart als mechanische Rota-
tions- und Strömungserscheinungen im stofferfüllten
Raum deuten und führen unbedingt zu den
Kepplerschen Gesetzen. Wenn sich nach
dem 3. Kepplerschen Gesetz die Quadrate der
Umlaufzeiten der Planeten verhalten wie die Kuben
ihrer Abstände von der Sonne, so finden wir das
kubische Verhältnis unmittelbar wieder in dem
mit dem kubischen Abstände sich verdünnenden
Kosmium gemäß den Ausführungen des Vor-
tragenden, denn die kinetische Energie einer krei-
senden Gasmasse steht überall in direktem Ver-
hältnis zu ihrer Dichte und im quadratischen
Verhältnis ihres Abstandes vom Mittelpunkt und
ihrer Winkelgeschwindigkeit. Folglich müssen
sich bei einer sich verdünnenden Gasmasse die
Umlaufszeiten mitgerissener Körper stets quadra-
tisch verhalten zu den Kuben ihrer Abstände. Bei
solcher absoluten ausgleichenden Wechselbeziehung
zwischen Trägheitsmoment, d. h. dem Strömungs-
druck der kreisenden Gasmasse, und der Schnellig-
keit der gedrückten Körper ergibt sich ohne
weiteres auch das zweite Gesetz Kepplers,
wonach der Leitstrahl jedes Gestirns in gleichen
Zeiten gleiche Flächenräume bestreicht; es be-
deutet, daß die Bewegung einer Gestirnmasse stets
der gleichen kinetischen Energie der antreibenden
Strömungsmässe unterliegt. — Das erste Kepp-
1 ersehe Gesetz endlich, daß die Planeten (wie
alle Gestirne) sich auf elliptischen Bahnen be-
wegen müssen, ergibt sich überall aus den Nei-
gungen der Rotationskörper zu ihren Fortbewe-
gungen. Dadurch entsteht bei stets gleichbleiben-
der Achsenrichtung ein periodisch wechselnd
starker gegenseitiger Druck, der seinen Ausdruck
in einer Ellipsenbahn finden muß. Durch solche
rein körperhaft irdischen, durch Zeichnung und
Modell anschaulich zu machenden Erscheinungen
werden die Newtonschen Gesetze mit ihrer
Zerlegung der Planetenbewegung in eine ewig
beharrende ursachlose Tangentialbewegung und
ebenso unerklärte Zentralbewegung als unvorstell-
bar, unhaltbar und unnötig erwiesen.
Petersen.
Wie erfolgt die Bestäubung der Mistel?
Nachdem Koelreuter die Mistel (Viscum
album) vor 1 50 Jahren als insektenblütig beschrie-
ben hatte, kam diese Auffassung später in Ver-
N. F. XX. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
233
gessenheit, und man nahm allgemein an, daß die
Pflanze anemophil sei. Vor 30 Jahren rief dann
Ernst Loew die Darstellung Koelreuters
wieder in Erinnerung und brachte sie durch eigene
Beobachtungen zur Geltung. Andere Beobachter
(Kirchner, Lindman) folgten ihm. Vor kur-
zem hat aber Heinricher die Lehre von der
Entomophilie der Mistel wieder erschüttert, indem
er durch Versuche nachwies, daß die Blüten auch
ohne Insektenvermittler Früchte entwickelten und
daß eine Nektarabscheidung nicht stattfinde, auch
ein Nektarium nicht vorhanden sei (siehe Naturw.
Wochenschr. N. F. 19, 1920, S. 139). Nun sind
etwa gleichzeitig von v. Tubeuf Beobachtungen
veröffentlicht worden, wonach an weiblichen
Mistelblüten wiederholte Nektarausscheidung in
Tropfen wahrgenommen wurde; als Sekretions-
organ kam allerdings kein besonderes Nektarium,
sondern die Narbe in F"rage. Diese Angabe ver-
anlaßte Heinricher, im Jahre 1920 von Beginn
der Blütezeit an (Ende Februar) einen Monat lang
mit Unterstützung seiner Assistenten im Botani-
schen Garten zu Innsbruck neue, sorgfältige Be-
obachtungen an zahlreichen Mistelbüschen und
vielen Hunderten von Blüten auszuführen. Das
Ergebnis war folgendes;
Nektarabsonderung erfolgt weder von den
männlichen, noch von den weiblichen Blüten. Alle
diesbezüglichen Angaben beruhen auf Täuschun-
gen; insbesondere ist der von Tubeuf an einer
weiblichen Blüte photographisch aufgenommene
und als Nektar aufgefaßte Tropfen auf atmosphä-
rische Niederschläge zurückzuführen. Der Insekten-
besuch der Mistelblüten ist außerordentlich gering.
Außer den bekannten Besuchern, nämlich Bienen
und Fliegen der Gattungen Pollenia und Spilo-
gaster wurden einmal eine Hummel (Bombus la-
pidarius) und öfters zwei Arten der Fliegengattung
Sepsis auf Mistelbüschen angetroffen ; diese Fliegen
kommen als gelegentliche Bestäuber gewiß in
Betracht, wenn auch den größeren Arten der ge-
nannten Gattungen mehr Bedeutung zukommt.
Bienen und Hummeln besuchten nur die männ-
lichen Blüten, vermitteln daher keine Bestäubung.
Beträchtlich höhere Bedeutung als der Bestäubung
durch Insekten kommt der Windbestäubung zu,
falls überhaupt Pollenübertragung erforderlich ist.
Streng nachgewiesen ist die Windbestäubung
nämlich noch nicht, und es erscheint möglich, daß
sich die früheren Beobachtungen über Frucht-
bildung der Mistel ohne Insektenvermittlung durch
das Vorliegen somatischer Parthenogenese (d. h.
Entwicklung des unbefruchteten Eies ohne vor-
gängige Chromosomenreduktion im Kerne) er-
klären. Daß das Fruchten weiblicher, vor Insekten-
besuch geschützter Stöcke nicht auf Partheno-
karpie (Fruchtbildung ohne Bestäubung und ohne
Samenentwicklung) beruht, hatte Heinricher
schon gezeigt. Weitere Untersuchungen müssen
die Frage entscheiden, ob die Mistel wirklich anemo-
phil oder aber parthenogenetisch ist (Biol. Zentralbl.
Bd. 40, 1920, S. 514—527). F. Moewes.
Über Hermaphroditismus bei verschiedeu-
gesclilechtlichea Zwillingeu des Biudes.
Nach dem „Schweizer Archiv f. Tierheilkunde"
Bd. 62, H. 6 kommen die verschiedengeschlecht-
lichen Zwillinge des Rindes in einem großen
Prozentsatz mit einer Mißbildung des Genitales
beim weiblichen Tiere zur Welt. Diese Anomalie
ist abhängig von dem frühzeitigen Auftreten einer
Gefaßanastomose an den beim Rinde fast ausnahms-
los miteinander verwachsenden Chorionsäcken der
Zwillingsfrüchte, indem auf diese Weise Geschlechts-
hormone des in der Entwicklung vorauseilenden
Hodens das Weibchen treffen und dessen Ge-
schlechtsorgane beeinflussen. Die letzteren ent-
wickeln sich nunmehr im Sinne des blastogenen
Hermaphroditismus. In der Keimdrüse speziell
lassen sich dann männliche und weibliche Elemente
nachweisen, von denen die weiblichen primär,
die männlichen aber sekundär infolge Beeinflus-
sung durch Hormone des zweiten Zwillingsindi-
viduums entstehen. Es handelt sich also um eine
Maskulierung weiblich prädestinierter Geschlechts-
organe.
Der Fall der „Zwicken" — so nennt man
in der Schweiz diese fraglichen Abkömmlinge der
Rinder — gehört zum echten oder blastogenen
Zwitter. Diese Anomalie ist in allen Graden
denkbar vom eben noch normalen Weibchen aus
über die weitaus häufigste Form mit starker Hy-
poplasie der Keimdrüse hinweg, die äußerlich
weder einem Hoden noch einem Ovar gleicht bis
zu jenen Fällen, in denen ein relativ großer, sekun-
där entstandener Hoden das Bild charakterisiert.
Der Grad der Vermännlichung ist abhängig von
der Zeit der Ausbildung der Gefaßanastomose und
von der Intensität der innersekretorischen Tätig-
keit der Hoden im Einzelfalle. Die Hormon-
theorie vermag den wesentlichen Teil der Er-
scheinungen am Genitale der mißgebildeten
Zwillingsweibchen aus verschiedengeschlechtiger
Herkunft in befriedigender Weise zu erklären.
Bei multiparen Tieren ist das Vorkommnis dem-
nach auch leichter möglich als bei uniparen, wie-
wohl auffallenderweise hierüber in der Literatur
noch wenig berichtet wurde. Auch der drastische
Fall eines echten Hermaphroditen bei einem russi-
schen Panjepferd, wie er in der „Berl. Tierärztl.
Wochenschr." beschrieben wurde (vgl. auch Naturw.
Wochenschr. Nr. 10, 1921, S. 152 „Blastogener
Hermaphroditismus"), würde sich in seiner Genese
leicht erklären lassen, wenn man über seine
Provenienz als Zwilling Gewißheit erhalten hätte.
Das Auftreten von Zwischenzellen hetero-
gener, wie homogener Art in den mißgebildeten
Keimdrüsen der erwachsenen Zwicken bedarf
noch der Aufklärung und diese Frage ist, wie die
„Berl. Tierärztl. Wochenschr." zutreffend bemerkt,
an den durch die Steinachschen Operationen
gewonnenen Resultaten zu prüfen. Durch Sam-
meln zahlreicher Fälle der hier behandelten Ano-
malie ist die Frage zu entscheiden, ob morpho-
234
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 15
logisch gleichgeartete Formen der Mißbildung
auch bei einzelgeborenen Tieren des Rinder-
geschlechtes vorkommen.
Die besprochene Mißbildung bei Zwillingen ist
eine — mit Ausnahme eines von Keller bei der
Ziege beschriebenen Falles — nur auf die
Rinderspezies zu beziehende Erscheinung von
spezifischer Art. Unabhängig von ihr sind aber
auch beim Rinde alle anderen Formen des Her-
maphroditismus zu beobachten, die nicht an
Zwitterschwangerschaft gebunden sind, die im
allgemeinen dem falschen Zwitter angehören und
die auch andere Tierarten betreffen. Deshalb
kommen beim Rinde, bei dem Zwillingsgeburten
relativ häufig sind, weit mehr Fälle von Herma-
phroditismus zur Feststellung als bei irgendeiner
anderen Spezies. Reuter.
Aschenbild nnd Pflanzeuverwandtschaft.
(Mit 7 Abbildungen.)
Unter diesem Titel hat Hans Molisch
jüngst ein neues und eigenartiges Verfahren
beschrieben, das in vielen Fällen die syste-
matische Zugehörigkeit einer Pflanze festzu-
stellen erlaubt. Seit langer Zeit schon zieht die
Pflanzensystematik anatomische und mikroche-
mische Merkmale für ihre Zwecke heran. M o -
lisch legt nun dar, daß auch die mikroskopische
Untersuchung der Asche wertvolle Fingerzeige
geben kann. Die Asche der Pflanzen weist näm-
lich unter dem Mikroskop oft sehr bezeichnende
Bilder auf, was entweder darauf beruht, daß die
Membranen stark mit unorganischen Stoffen in-
krustiert sind, oder daß die Zellen derartig zu-
sammengesetzte Inhaltskörper enthalten. Das
Aschenbild oder Spodogramm (oTtodöc =
Asche) „ist für viele Pflanzen oft ebenso charakte-
ristisch wie die Form des Blattes, die Zahl der
Blütenblätter oder der Bau der Samenknospe . . ."
Zwar lassen sich die bezeichnenden Eigentümlich-
keiten auch in dem unverbrannten Gewebe er-
kennen, aber in dem rasch zu gewinnenden Aschen-
bild treten sie mit viel größerer Deutlichkeit und
Übersichtlichkeit hervor. Zur Untersuchung wer-
den die (frischen oder trockenen) Pflanzenteile
(Verf. zieht vorzugsweise die Blätter heran) in
einem offenen Porzellantiegel möglichst bis zum
Weißwerden verascht. Teile der Asche werden
dann behutsam auf den Objektträger gelegt und
mit einem Tropfen Anilinöl oder Phenol be-
handelt, wodurch das Präparat, ohne sonst ver-
ändert zu werden, gut durchsichtig gemacht wird.
Nötigenfalls kann auch Kanadabalsam verwendet
werden.
Abb. I zeigt ein Aschenbild des Blattes von
Strobilanthes isophyllus. Die Pflanze gehört zu
den Acanthaccen, bei denen die eigenartig ge-
stalteten, mit Kalkkarbonat inkrustierten Wandver-
dickungen, die als Z y s t o 1 i t h e n bezeichnet wer-
den, sehr verbreitet sind. Auf dem Bilde sieht
man sie in maiskolbenähnlicher Gestalt (c) dicht
beisammen liegen. Über den Gefäßbündeln sind
sie parallel zu den Längsachsen angeordnet; sonst
liegen sie zumeist quer oder schief zur Längs-
achse des Blattes. Das Aussehen der Asche läßt
die Zugehörigkeit der Pflanze zu den Acanthaceen
erkennen. Ebenso haben die Moraceen und die
Urticaceen durch das massenhafte Auftreten von
Zystolithen besonderer Form ausgeprägte Spodo-
gramme.
Abb. I.
Abb. 2.
Bei verschiedenen Familien spielen bekanntlich
Ka,lkoxalatausscheidungen eine Rolle, die in Form
von Raphiden, von Kristallsand, von Einzelkristallen
oder Drusen auftreten. Für die Iridaceen scheint
der Besitz großer, spießförmiger Kristalle bezeich-
nend zu sein. Eine Vorstellung davon gibt das
Aschenbild von Iris germanica in Abb. 2. Die
zahlreichen Kristallspieße (k), die parallel zur Längs-
achse des Blattes gerichtet sind, sind schon lange
bekannt und werden auch in Gewebsschnitten ge-
sehen, aber erst in der Asche treten sie so deut-
lich hervor.
Abb. 3.
Abb. 4.
Zu den schönsten Aschenbildern gehören die
Kieselskelette, die vielen Pflanzen eigentümlich
sind und in der Asche nach Behandlung mit
2oproz. Salzsäure sichtbar werden. Bei verschie-
denen Farnen z. B. sind die Epidermen verkieselt,
und im Aschenbilde zeigen sich ihre wellig kon-
turierten Zellen, wie in Abb. 3 (Pteridium aqui-
linum). Sehr bekannt sind ja auch die Kiesel-
skelette der Schachtelhalme. Eine ausgedehnte
Verkieselung tritt ferner bei den Gräsern auf und
ist auf der Abb. 4 erkennbar, die das Aschenbild
einer Bambusart darstellt. Das Spodogramm zeigt
N. F. XX. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
235
ein anscheinend unverändertes Bild des Gewebes
mit den eigentümlichen, vierzelligen und reihen-
weis angeordneten Spaltöffnungen (s), den wellen-
förmig konturierten Oberhautzellen (e), von denen
manche (se) mit Kieselsäure völlig erfüllt sind,
und die charakteristischen Kieselkurzzellen (k), die
bei den verschiedenen Gräsern wechselnde Ge-
stalt zeigen. Die Zugehörigkeit des Objekts zu
den Gramineen ist an diesen Elementarorganen
deutlich erkennbar.
Das Spodogramm der Halbgräser (Cyperaceen)
zeigt gleichfalls den welligen Umriß der Epi-
dermiszellen und auch eine ähnliche Bildung und
Anordnung der Spaltöffnungen, aber keine Kiesel-
kurzzellen, sondern statt ihrer eigentümliche
Epidermiszellen mit kegelförmigen, verkieselten
Verdickungen der Innenwand. Man erkennt diese
für die Cyperaceen höchst bezeichnenden „Kegel-
zellen" auf Abb. 5 (Aschenbild von Carex silvatica)
bei k in der Seitenansicht, bei k, in der Aufsicht.
Der Besitz oder der Mangel der Kegelzellen bei
gewissen Gattungen von unsicherer systematischer
Stellung ist bei der Entscheidung der Frage, ob
sie den Cyperaceen zuzuzählen sind oder nicht,
wesentlich ins Gewicht gefallen.
^«^tii
^^!>^^-^-
Abb. ;.
Abb, 6.
Abb. 7.
Bei mehreren Monokotylenfamilien (Orchideen
z. T., Marantaceen, Musaceen, Palmen u. a. m.)
finden sich mit Kieselkörpern erfüllte Zellen, die
den Baststrängen anliegen (Deckplättchen oder
Stegmata), die in der Asche einen guten Anhalt
für die Bestimmung bieten. Abb. 6 zeigt das
Spodogramm von Musa paradisiaca mit Ketten
von Deckplättchen (d) und verkieselten Schrauben-
gefäßen (g).
Auch bei Dikotylen finden sich charakteristische
Kieselaschen. Besonders hübsch ist das nach Be-
handlung mit Salzsäure erhaltene Aschenbild des
Blattes von Deutzia scabra mit den reichlich vor-
handenen sternartigen, verkieselten Haaren (Abb. 7, h;
bei e und m verkieselte Epidermis- und Meso-
phyllstücke).
Nicht selten kann das Spodogramm die Er-
kennung von Drogen, Nahrungs- und Genußmitteln
und anderen Rohstoffen erleichtern. Molisch
teilt auch hierfür eine Anzahl Beispiele mit und
empfiehlt die Schaffung eines Atlasses solcher
Aschenbilder zur Ergänzung und Verfeinerung der
bisherigen Methodik. Auch weist er auf die
Wichtigkeit der mikroskopischen Aschenunter-
suchung bei vorgeschichtlichen Pflanzenresten hin
(Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften
in Wien. Math.-naturw. Kl. Abt.I, Bd. 129, H. 5/6,
S. 261 — 294). F. Moewes.
Geographie des Kiliniandscharogebiets.
Ergebnisse seiner Forschungen am Kili-
mandscharo hat F. Klute jüngst bei Dietrich
Reimer in Berlin veröffentlicht, *) die einen wich-
tigen Beitrag zur Landeskunde des bisherigen
deutsch-ostafrikanischen Schutzgebietes bilden. In
bezug auf den Aufbau des Kilimandscharogebirges
stellt Verf. fest, daß es aus drei einzelnen Vul-
kanen besteht. „Jeder ist für sich entstanden und
nur durch die gegenseitige Überlagerung der
Auswurfsmassen sind sie zu einem Gebirge ver-
schmolzen. Es besteht also kein Basisgebirge, das
allen drei Vulkanen gemeinsam wäre, wie dies
Hans Meyer annimmt, sondern jeder derselben
entspringt einem eigenen Eruptionszentrum und
ist im Aufbau selbständig. Allerdings liegen die drei
Eruptionszentren ungefähr auf einer Geraden, die
fast Ost-West verläuft und einer tektonischen
Linie des Untergrundes entsprechen mag. Die
Eruptionszentren liegen 12 und 16 km voneinan-
der entfernt. Sie hatten allem Anschein nach
diese Lage von Anfang an. Die drei Vulkane
erreichen eine beträchtliche Höhe und damit
großen Durchmesser, so daß trotz des großen
Abstandes voneinander sich ihre Flanken über-
decken und derart ineinandergreifen, daß sie zu
einem Gebirge verwachsen sind." Die Ost-West-
ausdehnung des Gebirges beträgt 90 km, die
Breite 60 km. Von den drei Bergen ist der Kibo
mit 5930 m der höchste; dann kommt der Ma-
wensi mit 5270 m, während der Schira nur etwa
4000 m Höhe erreicht. Der Kibo zeigt „die
edelgeschwungene Kurve eines Schichtvulkans,
dessen Neigung progressiv nach oben wächst und
keinerlei Störungen aufweist, außer solchen, die auf
erosivem Wege entstanden sind. Ein Schnitt von
Ost nach West zeigt dagegen eine Kurve, die
sich schnell verflacht. Das Gefälle wird durch
') VIII u. 136 S., 8 Tafeln, 8 Textfiguren und
phologrammetrische Karte.
236
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 15
die Hänge des Schira und Mawensi aufgehoben."
Der Mawensi ist ein selbständiger Schichtvulkan,
der auf der Westseite, vermutlich durch Über-
lagerung der untersten Kibohänge, seine Neigung
eingebüßt hat und dessen Kegel somit schräg
zur Oberfläche steht. Der Schira erhebt sich nur
wenig über die Basisfläche und erscheint von
unten nicht als selbständiger Berg.
Die Abtragung ist wegen der verschiedenen
Gesteinsbeschaffenheit am Mawensi in der gleichen
Zeit viel bedeutender gewesen als am Kibo. Die
Verwitterung des Bodens ist besonders stark und
tiefgründig in der Urwaldregion. Die Bäche
sind tief eingeschnitten, die mit Wald bestandenen
Hänge der unterschnittenen Tallehnen sind viel-
fach abgerutscht. Die unzerschnittenen Teile der
alten Oberfläche bieten in den tieferen Lagen
Raum für menschliche Siedlungen. Roter Lehm,
zum Teil mit Gesteinsbrocken durchmengt, be-
deckt metertief die Erde. „In der bebauten und
bewohnten Gegend ziehen Wege und Bäche als
rote Linien durch das Grün der Äcker, ziegelrot
in der Trockenheit und scharlachrot nach den
ersten Regengüssen." Im Urwald wird der
Boden „auch in der Trockenzeit dauernd feucht
gehalten. Fallen keine Niederschläge, so gibt die
häufige Nebelbildung immerhin genug Feuchtig-
keit an den Wald ab, und das dichte Blätterdach
schützt fast vollständig vor den austrocknenden
Sonnenstrahlen. Am Boden liegen meterdicke
Baumstämme, von Grün überwuchert, in die der
Fuß einbricht, wenn man über sie hinwegsteigen
will". — Oberhalb der Urwaldzone beginnt das
Gebiet der glazialen Schotter und Mo-
ränen im Süden in rund 3000 m Höhe, im Nor-
den etwa 400 m höher. „Die glazialen Schotter-
und Sandmassen befinden sich teils in ursprüng-
licher Lagerung, teils sind sie vom Wasser ver-
schwemmt. Sie bedecken aber das ganze Gebiet
der früheren Vereisung, soweit nicht der anstehende
Fels zutage tritt." Besonders am Mawensi sind
diese glazialen Ablagerungen sehr mächtig. Der
glaziale Landschaftscharakter ist noch deutlich
ausgeprägt. Die erosiven Kräfte sind verhältnis-
mäßig schwach ; „ein Teil der Niederschläge fällt
schon als Schnee und fließt deshalb langsam ab.
Aber auch der größere Teil, der als Regen fällt,
übt keine große Wirkung aus, da er quantitativ
gering ist. Das Einschneiden der Bäche seit der
Eiszeit ist sehr gering, und die Moränen sind
mehr durch den Wind gestört". Die täglichen
Temperaturschwankungen sind groß, die Ver-
dunstung ist stark ; die Niederschläge sind gering,
doch wird der Abgang teilweise durch starke Tau-
bildung ausgeglichen. Frostwirkung macht sich
geltend. — Ganz allmählich geht die alpine Steppe
in die tropische Wüste über. Eine scharfe
Trennung beider Zonen ist jedoch nicht möglich.
Die erste Wüstenerscheinung ist die Wüstenrinde,
die im Kilimandscharogebiet braun und speck-
glänzend ist. Sie entsteht dadurch, daß der Eisen-
gehalt des Gesteins gelöst an die Oberfläche ge-
bracht wird. Während die Feuchtigkeit rasch
verdunstet, bildet sich aus dem Eisen eine Kruste.
Der Speckglanz entsteht wahrscheinlich durch
den schleifenden Sandwind. Auf starke Wind-
wirkung weisen ferner die Wüstenrillen an der
Unterseite großer Blöcke und die Pilzfelsen hin,
ebenso Gitterstruktur und Wüstentaschen. Auch
die größeren Felsformen, die noch in der Glazial-
zeit ihre Form erhalten haben, sind vom Wüsten-
klima beeinflußt. Sie weisen Löcher und Höhlen
auf und zeigen gerundete Kanten. Andererseits
zersprengen große Sprünge das Gestein. Neben
den Gitterformen des Wüstenklimas treten auch
noch Regenrinnen auf, wie sie an den steilen
Talwänden der Glazialtäler und an Karrückwänden
vorkommen. Als Abtragungsprodukte sind tiefer,
trockener Sand und große Mengen Staub vorhan-
den. Wo „das Gestein in senkrechten Wänden
ansteht, findet Wandverwitterung statt, teils durch
das Wüstenklima, teils durch Frostverwitterung.
An allen Wänden und Türmen kann man an den
Schichträndern Girlanden von Eiszapfen wahr-
nehmen. Besonders gut kann das Wasser ein-
dringen, seitdem in der Schichtenfolge durch
Erosion Lücken entstanden sind. Die Frostver-
witterung ist bis in die höchsten Höhen tätig,
überall, wo der Fels nicht vom Eis bedeckt ist.
Gewaltige Schuttmassen beweisen ihre Wirkung.
Steinschlag ist noch jetzt häufig". Weit größere
Gesteinsmengen als in den Alpen werden zu Tal
befördert.
Neben der Großzügigkeit und Wucht des Kibo
sind es Schnee und Eis, die den Beobachter in
Erstaunen versetzen; sie bringen bei dem klaren
Licht sowohl unter tags als auch in mondhellen
Nächten ihr blendendes Weiß zur Geltung, das
sich bei Sonnenauf- und -Untergang mit einem
zarten Rosa mischt. Der Mawensi trägt nur einen
kleinen Kargletscher auf seiner Südwestseite, der
aber von unten nicht zu sehen ist. Der Eismantel
des Kibo krönt im Norden und Osten nur die
Zinnen des Berges, im Süden dagegen ist die
ganze Front der Erhebung über 4700 m mit Eis
gepanzert und im Westen reicht es ebenfalls bis
zu dieser Höhe herab. Auf diesen beiden Seiten
ist das Ende des Eismantels in einzelne Gletscher
gelappt. Die östliche Barrancowand ist wegen
ihrer Steilheit frei von jeder Vereisung. Klute
bringt eingehende Aufschlüsse über die Verglet-
scherung und auch das Klima des Kilimandscharo
kennzeichnet er ausfuhrlich. Dazu kommen noch
kürzere Abschnitte über die Vegetation sowie über
das Alter des Kilimandscharo. Sein Buch ist ein
sehr schätzenswerter Beitrag zur Geographie un-
serer früheren ostafrikanischen Kolonie.
H. Fehlinger.
N. F. XX. Nr. 15
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
m
Bücherbesprechungen.
Klaatsch, Prof. Dr. H., DerWerdegang der
Menschheit und die Entstehung der
Kultur. Nach dem Tode des Verf. heraus-
gegeben von Dr. med. Adolf Heilborn. 386 S.
mit 317 Abb. und 14 Tafeln. Deutsches Ver-
lagshaus Bong 1920.
„Wenn Gott der Inbegriff der Wahrheit ist,
so muß auch jegliche Erforschung der Wahrheit
als ein Gottesdienst gelten."
Heilborn konnte das Werk seines ver-
storbenen Freundes wohl kaum besser einleiten,
als mit dessen eigenen Worten, die uns wie
ein religiöses Bekenntnis anmuten und zeigen,
was auch ihm Ziel und Endzweck jeder Forschung
war.
Die Einführung bringt einen Lebenslauf
von Klaatsch, der zeigt, wie schwer auch
geniale Forscher, die sich nicht nur als „Schüler"
einer Autorität bezeichnen, sondern versuchen,
eigene von der herrschenden Meinung abweichende
Wege zu gehen, ist, sich durchzusetzen vermögen.
Zum ersten Male entwickelte er 1899 auf dem
Naturforschertage in Lindau seine eigenartigen
Gedanken, gegen die der alte Ranke den Bann-
strahl schleuderte: „Das ist keine Wissenschaft,
sondern Phantasie". Der Mensch, ein Abkömmling
niederster Primaten, diese eine ursprünglich ge-
bliebene (primitive Zähne und handartige, wenig
zu Spezialformen umgeformte Gliedmaßen) nur
an der Wurzel mit den übrigen Säugern zu-
sammenhängende Gruppe derselben, das ist die
Quintessenz der Klaatschschen Entwicklungs-
lehre, die sich erst allmählich in immer weiteren
Kreisen der Wissenschaft durchgesetzt hat. Auf aus-
gedehnten Reisen sucht er Vergleichsmaterial und
erforscht die niederste Menschenrasse, die A u s t r a -
Her. Von Haus er wird er gerufen, sobald es
gilt, in der Dordogne einen neuen Fund des Ur-
menschen geschickt zu bergen. — Dann eine viel-
seitige Tätigkeit in Vorträgen und zahlreichen
Abhandlungen, die sich auch geschickt an einen
breiteren Leserkreis wandten. Und wieviel Be-
lehrung ließ er nicht in selbstloser Weise den
Besuchern seines Breslauer Museums zuteil wer-
den 1 Zu früh starb er im Alter von 52 Jahren
am 5. Januar 1916 an den Nachwirkungen eines
Malariaanfalls, den er sich auf seiner Australien-
reise zuzog. Aber er lebt fort; nicht nur in seinen
Schriften, sondern auch in dem von ihm in Bres-
lau gegründeten Museum, einer der wichtigsten
Fundgruben für jeden Forscher auf dem Gebiete
der Vorgeschichte des Menschen.
Es sind gereifte Gedanken, die er in seinem
letzten Werke vorträgt. Sie werden nie ihre Be-
deutung verlieren, auch wenn man sich seinen
kühnsten Theorien gegenüber ablehnend ver-
halten muß.
Zuerst behandelt Klaatsch „Die Stam-
mesgeschichte der Vormenschheit und
die natürlichen Vorbedingungen der
Kultur".
Besonderes Gewicht legt er auf die Heraus-
bildung der Hand, durch die ja erst der
Mensch zu seiner heutigen Bedeutung gelangte,
während die übrigen Säuger ihre Gliedmaßen er-
heblich umformten, sie in einseitiger Anpas-
sung (Huftiere, Krallentiere usw.) weiter ent-
wickelnd. Von den übrigen Menschenaffen, die
als „mißlungene Versuche der Mensch-
werdung" betrachtet werden, steht wohl der
Gibbon dem ursprünglichen Ausgangsstadium am
nächsten. Dieser erste Abschnitt bringt einen
guten Überblick über die Keimesgeschichte
des Menschen. Zu den vielen Andeuiungspunkten,
die an ein „Meerwasserstadium" erinnern (Kiemen-
bögen, Kiemenspalten, das Blutserum als verdünntes
Salzwasser), kommt die Zusammensetzung der
Knochensalze, die noch heute Spuren von Fluor
und Magnesia, charakteristischen Bestandteilen
des Meerwassers, enthalten.
Ein weiterer Abschnitt bringt „Die Aus-
prägung derMenschenmerkmale und die
Uranfänge der Kultur". Eingehend werden
das Leben der Menschenaffen, die Ausbildung des
Menschenfußes, der Sprache und vor allem die
Sitten der Australier geschildert in ständigen Ver-
gleichen mit den Sitten anderer Naturvölker und
den Höhlenzeichnungen des Jungpaläolithikums,
die er zum Teil für jünger hält, als ihre Entdecker
es annehmen (S. 11 8 Alperahöhle). „D er Mensch
ist ein Herdentier, aus der Herde hat
sich die Horde entwickelt" (S. 150). Zweifel-
los anfechtbar ist es m. E., daß es „schon längst
vor der Eiszeit Menschen in Gegenden gab, die
weit von Europa abliegen" (S. 95) und „die
Verbreitung der heute lebenden Formen uns auf
eine Urheimat hinweist, die ebenso zu Afrika, wie
zu Australien und Asien Beziehungen gehabt haben
muß" (S. 91). Wie ich an anderer Stelle schon
kurz angedeutet habe,i) stimmt dies wahrschein-
lieh nicht, sondern ist ein Trugschluß. Ein Ge-
biet, welches wie die Tropenzone, ein
Verharren altertümlicher Formen be-
günstigt, kann unmöglich einEntwick-
lungszentrum höherer Formen sein.
„Die vorgeschichtliche Menschheit
und ihre Kultur" bringt ein dritter Abschnitt.
Eine farbige Tafel (S. 304) stellt die bisher be-
kannt gewordenen altsteinzeitlichen Menschen-
funde in Europa zusammen. Besonders wichtig
ist die hier zum ersten Male gebotene Darstellung
der wichtigen Funde von Predmost, die durch
das Entgegenkommen von Dr. K. Absolon
möglich wurde und eine Fülle von Originalphoto-
graphien, sowie die Behandlung des von Hauser
entdeckten Micoquien. Eingehend erörtert
') Olbricht, Der erdkundliche Lehrstoff in neuzeitlicher
Gestaltung (Ferdinand Hirt I02i), Karte 14 und 15.
238
Nfaturwissenschaftliche Wochensdirift.
N. N. XX. Nr. 1 5
Klaatsch auch die Entwicklung der Eiszeit-
menschen und die Frage nach der Bleichung
der weißen Rasse. Auf S. 273 bringt er
seinen schon häufig dargestellten „Versuch eines
Schemas zur Erläuterung der Herkunft der Men-
schenrassen und Menschenaffen". Als Entwick-
lungsherd betrachtet er Indoaustralien. Von
diesem gingen nach allen Richtungen Strömungen
aus, die sowohl Menschenaffen, als auch Menschen
liefern. Den primitiven Gibbon vergleicht er mit
dem Heidelbergmenschen, den Orang mit dem
Aurignakmenschen und dem Europäer, den Neger
mit dem Gorilla. Diese auffallenden Ähnlichkeiten
sind ihm ein Beweis dafür, daß — wie schon
F. Melchers annahm — der Mensch nicht
einerWurzel entstammt, sondern aus mindestens
drei verschiedenen (Polyphylie). Abgesehen
davon, daß manche der von Klaatsch durch
Vielstämmigkeit erklärten Eigenarten durch
Konvergenz besser erklärt werden, spricht da-
gegen nicht nur die Fähigkeit aller Menschen-
rassen miteinander Bastarde zu bilden , sondern
auch die Tatsache, daß nach Klaatschs eigenen
älteren Arbeiten z. B. der Neandertaler ein Sa m -
meltypus war, der australoide, negroide und mon-
goloide Charaktere enthielt und aus dem sich erst
später diese Rassen differenzierten. Aber auch
diese irrtümliche Ansicht hat auch wieder in vielen
Einzelheiten so befruchtend auf den Fortschritt
der Wissenschaft eingewirkt, daß sie nicht um-
sonst gedacht worden ist.
Das letzte Werk von Klaatsch wird also
deshalb auch noch für eine weite Zukunft ein
wichtiges Nachschlagebuch und eine Fundgrube
für alle bleiben, die an der Vertiefung der Kennt-
nisse über den Werdegang unseres Menschenge-
schlechtes arbeiten. Dr. K. Olbricht-Breslau.
Kükenthal, W., Leitfaden für das Zoolo-
gische Praktikum. 8. umgearbeitete Auf-
lage. 322 Seiten 174 Abb. im Text. Jena,
G. Fischer. Brosch. 28 M.
Das lebhafte Interesse, dessen sich der Küken-
t h a 1 sehe Leitfaden besonders in den Kreisen der
studierenden Jugend erfreut, hat abermals das Er-
scheinen einer neuen Auflage notwendig gemacht,
nachdem die vorhergehende erst wenige Jahre
zuvor erschienen war. Da über dieses trefTliche
und für die zoologischen Fräparierübungen in der
Tat fast unentbehrliche Buch in dieser Wochen-
schrift (N. F. XVII, Nr. 37, p. 534) schon aus-
führlicher berichtet worden ist, so mag jetzt ein
kurzer Hinweis genügen. Es sei nur noch her-
vorgehoben, daß die neue Auflage eine teilweise
Umgestaltung und Erweiterung der systematischen
Überblicke namentlich für die Gruppen der
Schwämme und Manteltiere bringt.
R. Heymons.
Urban, Ign. , Flumiers Leben und Schrif-
ten nebst einem Schlüssel zu seinen
Blütenpflanzen. „Beihefte zum Repert.
specier. novar. regni vegetabilis von Dr. phil.
P'riedr. Fedde, Band V, 196 S. — Preis 40 M.
= 40 sh = 50 Fr. = 50 Lire = 10 Doli. =
36 skand. Kr. = 25 holl. Gulden usw.
Im Anschluß an seine Werke über die Pflanzen-
welt Westindiens entwirft Urban hier ein Bild
von dem Leben und Wirken eines vorlinneischen
P'orschers, der sich als Erster mit der Flora der
Antillen näher hatte vertraut machen können, und
von dem Schicksal, das dessen Arbeiten gefunden
haben. Charles Plumier nimmt unter den
sog. „Patres" der Botanik nicht nur wegen seiner
sorgfältigen Beobachtungen und der von ihm teils
veröffentlicht teils unveröffentlicht hinterlassenen
hochbedeutsamen umfangreichen trefflichen Tafel-
werke, sondern auch dadurch eine besondere
Stellung ein, daß manche seiner Abbildungen die
Originale darstellen zu Arten und Gattungen von
Linne. Leider aber hat Plumier infolge seines
vorzeitigen Todes (i. J. 1704) nur einen kleinen
Teil seiner Tafeln und IVIanuskripte selbst ver-
öffentlichen können, das Meiste aber, darunter ein
8-bändiges großes P'oliowerk, unveröffentlicht
hinterlassen müssen. Aus diesem hat dann später
Joh. Burman unter dem Titel „Plantarum ameri-
canarum fasciculus primus ( — decimus) , continens
plantas, quas . . . C. Plumierius ... in insul. Antill.
ipse depinxit, etc. Amstelodami 1755 — 60" ein
größeres Abbildungswerk zusammengestellt und
herausgegeben, daß beklagenswerterweise mancher-
lei Irrtümer enthält und auch wegen anderer
Mängel dem Werke PI um iers nicht voll gerecht
wird.
Nach einer kurzen Schilderung von Plumiers
Leben und seinen Reisen unterzieht Urban nun
seine Werke, sowohl die von ihm selbst veröffent-
lichten als auch besonders das von Burman
herausgegebene, einer eingehenden kritischen
Durchsicht und bringt die darin enthaltenen Ab-
bildungen Tafel für Tafel , soweit es sich um
Blütenpflanzen handelt, in Einklang mit der heute
gültigen Nomenklatur, eine überaus mühevolle
Arbeit, die aber besonders von den Monographen
einzelner Pflanzengruppen dankbar anerkannt wer-
den wird, zumal sich ja seit jenen Zeiten die An-
sichten über das Pflanzensystem im allgemeinen
wie im einzelnen so sehr geändert haben. Dabei
ist es aber trotz alledem erstaunlich, wie viele
der uns bekanntesten und geläufigsten Gattungs-
namen letzten Endes bis auf Plumier zurück-
gehen, wie z. B. Baithiuia, Caesalpinia, Clusia,
Commelina, Cordia, Dioscorea, Fuchsia, Gesnera,
Alalpighia, Marania, Rtieüia, Trnnnfetta, Tur-
ne ra u. a.
Außer der soeben angeführten Burman sehen
Ausgabe erfährt von Plumiers eigenen Ver-
öffentlichungen dessen Description des plantes de
l'Amerique avec leurs figures (Paris 1693, folio,
94 S. und 108 Tafeln) eine ausführlichere Be-
sprechung, ein Werk, das späteren Autoren, so
auch Linne bei der Editio L der Species Plant,
von Nutzen gewesen ist.
N. F. XX. Nr. id
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
239
Besonders wertvoll für denjenigen, dem es
nicht möglich ist, diese Tafelwerke selbst einzu-
sehen, sind zwei alphabetische Verzeichnisse, ein
„Index nominum Plumerii" und ein „Index nomi-
num Burmanni", welche die Benutzung von Ur-
bans Arbeit wesentlich erleichtern.
Mangel an Raum verbietet es, näher auf die
verdienstvolle Schrift einzugehen.
Daß Plumiers Lebenswerk bei den nach-
linneischen Botanikern sich einer besonderen
Wertschätzung erfreute, bezeugten schon T r i a n a
und Planchon in einer begeisterten Lobrede auf
ihn, ^) und daß es noch heute unsere Beachtung
verdient, geht schon allein aus der Tatsache her-
vor, daß manche seiner Pflanzen seit damals bis-
her noch nicht wieder aufgefunden sind. Ihm die
wissenschaftliche Würdigung zuteil werden zu
lassen, die er in unserer Zeit verdient, dazu war
allerdings unter den jetzt lebenden Forschern
diesseits und jenseits des Ozeans kein anderer als
Urban in der Lage. Th. Loesener.
Waibel, Leo, Urwald — Veld — Wüste.
208 S., 20 Vollbilder, i Vegetationskarte von
Afrika. Breslau 1921, Hirt. 25 M.
Der Verf. hatte Gelegenheit, 191 1 — 191 2 an
der von Prof Thorbecke geführten Kamerun-
expedition teilzunehmen und anfangs 1914 unter-
nahm er mit Prof. Jaeger eine Forschungsreise
nach Südwestafrika, wo er infolge des Wellkrieges
5V2 Jahre festgehalten wurde. Einen Teil der
reichen Erfahrungen, die auf diesen Reisen ge-
') Ann. d. Sciences nat. 4. ser., vol. XVIII, p. 362.
Wonnen wurden, verwertet Verf. hier, um geo-
graphische Bildung unter dem deutschen Volke
verbreiten zu helfen; denn wenn „unsere Kauf-
leute und Ingenieure, unsere Handwerker und
Bauern nur hervorragende, tüchtige Arbeit leisten,
dann werden ihnen auf die Dauer die Tore des
Auslandes nicht versperrt bleiben können. Eine
Grundbedingung dieser Auslandarbeit aber ist es,
daß wir die Wohnräume dieser Erde, ihre Ein-
richtungen und Bedürfnisse, ihre Wirtschaft und
Produktion genau kennen."
W. gibt anschauliche Bilder vom Tropenwald,
der sich wie ein breiter Gürtel längs der Küste
Kameruns entlangzieht und sich im Süden weit
in den Kontinent hinein erstreckt. Wenn man
ihn durchquert hat, trifft man eine ganz andere
Welt: das Grasland, die Savanne. Es ist eine
neue Natur, die uns da entgegentritt, ein Land
mit wenig Schatten und Schlupfwinkeln, eine Welt
voller Licht und Raum, der größte Gegensatz zum
ewig finsteren Urwald. Gegensätzlich wie die
Landesnatur sind auch körperliche und geistige
Eigenart der Bewohner von Urwald und Savanne.
An wirtschaftlichen Hilfsquellen ist der erstere
reicher, und er ist sogar erstaunlich reich. In
sechs Kapiteln macht uns W. mit der Steppe
Südwestafrikas, ihrem Tierleben, dem Farmerleben,
dem Wandern mit Ochsenwagen, dem Krieg in
Südwest und mit der südwestafrikanischen Wüste
vertraut. Diese Schilderungen sind so plastisch,
daß man sich Selbstgeschautes kaum besser vor-
zustellen vermag. Man merkt, der Verf hängt
mit Liebe an dem rauhen Lande, das Deutsch-
lands erste Kolonie war. H. Fehlinger.
Anregungen und Antworten.
über „Orthogenesis, Mutation, Auslese". Mein unter
diesem Titel in Heft 36 des vorigen Jahrgangs der Naturw.
Wochenschr. erschienener Aufsatz hat im 3. Heft dieses Jahr-
gangs zu einigen Angriffen Anlaß gegeben, auf die ich hier
in wenigen Worten das Nötigste entgegnen möchte.
Herrn Johannes Reichel muß ich ohne weiteres zu-
geben, daß eine völlige Unterdrückung einer rezessiven
Erbeinheit durch die Vererbung allein nicht stattfinden kann,
weil bei freier Kreuzung immer ein gewisser Teil rezessiver
Homozygoten entstehen muß. In der Natur wird also die
Ausrottung der einen Rasse durch die andere immer einen
Wettbewerb, d. h. Auslese, zur Voraussetzung haben.
Herrn W. Peter muß ich entgegenhalten, daß die Nicht-
erblicbkeit rein körperlich erworbener Eigenschaften doch
für eine Anzahl von Versuchen klar bewiesen ist, während
alle versuchten Beweise für die V ere rbbark eit solcher
Eigenschaften noch auf recht schwachen Füßen stehen.
Weiter meint P.: „Daß alle Organismenarten durch irgend-
eine Milieubedingung verändert werden müßten, noch dazu
in gleichem Sinne, hat wohl noch niemand behauptet, Fischers
diesbezügliche Erörterungen sind also übeiflüssig." Für „irgend-
eine" Außenbedingung habe ich diese Bewirkung auch nie-
mandem zugeschoben. Daß aber Artumprägungen so, und
nur so, zustande kommen sollen, das ist ja gerade die Lehre
unserer Lamarckisten. Wenn man, wie O. Hertwig, grund-
sätzlich die Auslese ausschließt, so bleibt ja auch
nichts anderes übrig, als die gleichzeitige Umprägung
der ganzen Sippe. Denn wenn nur ein Teil der Artge-
nossen in erblicher Weise und in zweckmäßiger Richtung ab-
geändert würde, so gäbe es ja unter den Nachkommen teils
mehr teils weniger zweckmäßige, und unter diesen müßte
dann eben Naturauslese einsetzen. Wer also dieser jede
Mitwirkung bei der Artenentstehung abspricht, für den bleibt
nur die gleichzeitige und gleichmäßige Umprägung der Sippen
übrig. Ob jemand diese letztere explicite oder implicite be-
hauptet, ist unwesentlich.
Wenn es aber nur die Auflenbedingungen sein sollen,
welche eine Sippe erblich umgestalten, dann ist und bleibt es
unverständlich, warum die gleiche Ursache (z. B. sehr
trockener Standort) zwei so diametral-entgegengesetzte mor-
phologische Typen sollte schaffen können, wie die Stamm-
und die Blattsukkulenten ; unter den gleichen Bedingungen
hätten die einen ihre Blätter ganz verloren (Kaktusform), die
anderen sie um so mächtiger ausgebildet (Aloii- und Agave-
form). Auch hier versagt der einseitige lamarckistische Er-
klärungsversuch.
,,Die auf den späteren Seiten mitgeteilten Fälle von nicht
nützlichen Merkmalen . . . sind allerdings kaum durch Aus-
lesewirkung zu erklären, weniger sicher sprechen sie gegen
die sog. Vererbung erworbener Eigenschaften." Das verstehe
ich nicht ganz. Wenn eine Blüte mit oberständigem Frucht-
knoten zu Unterständigkeit, oder eine freiblättrige zur Sym-
petalie abändert, kann man denn da von einer „Vererbung
erworbener Eigenschaften" — d. h. körperlich erworbener —
sprechen?
Nun einige Worte über ,,die Frage der Artbastarde, die
allein mit dem einfachen Mendelismus nicht aufzuklären" ist.
P. fragt, was ich unter ,, einfachem Mendelismus" verstehe.
i4o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 15
Nun, das Dominanz- und Spaltungsgesctz, gleichgültig, ob ein
oder hundert Paare von Genen in Wechselwirkung treten.
Obwohl sich auch bei Artbastarden ein regelrechtes, nur viel
verwickelteres Aufspalten zeigt, als bei durch nur wenige Erb-
einheiten unterschiedeneü Rassen der gleichen Art, so scheint
es doch, als ob bei Speziesbastarden auch noch andere Dinge
mit hineinspielen — ein Mit- und Gegeneinanderwirken der
Erbfaktoren, das mit ,, dominant" und ,, rezessiv" noch nicht
erschöpft ist. Leider hat es mir bisher an der Freiheit ge-
mangelt, auf diesem mich seit vielen Jahren beschäftigenden
Gebiet ausführlich zu arbeiten, so daß ich genaueres darüber
auch nicht sagen kann. Es will mir aber scheinen, daß trotz
der beobachteten Mendelspaltungen der Artbastarde doch auch
die Behauptung von der Entstehung konstanter Zwischenformen
nicht ganz unberechtigt sei. Der Unterschied in dem Ver-
halten der Art- und der Rassenbastarde ist vielleicht so zu
verstehen : kreuze ich etwa eine rot- und eine weiflblühende
Rasse, so handelt es sich nicht um die Gene „Rot" nnd
„Weiß", sondern um Vorhandensein oder Fehlen des Genes
für Rot (Presence-Absencetheorie); bringe ich aber zwei mit-
einander fruchtbare Arten zur Kreuzung, so treffen von hier
und von dort zwei gleichgerichtete,') aber doch nicht gleich-
artige Gene zusammen (z. B. für verschiedenerlei Blattgestalt),
die sich zu einem dauernden, nicht wieder aufspaltenden Erb-
faktor vereinigen könnten. Das ist zunächst natürlich nur eine
Vermutung.
Meine Definition der Orthogenesis als „Summe erblicher
Abänderungen, die in gleicher Richtung erfolgen", soll „un-
klar" sein; ich glaubte, es ginge mindestens aus dem ganzen
Zusammenhang hervor, was ich damit meine. Von den in
der Vererbungsforschung nachgewiesenen Tatsachen dachte
ich dabei vor allem an die von Nilsson-Ehle gefundene,
daß es beim Weizen drei verschiedene, selbständig auf-
spaltende Erbeinheiten gibt, welche rote Kornfarbe bedingen.
Da wir ferner im Pfianzensystem der Gegenwart mancherlei
Übergänge finden, z. B. vom ober- zum untersländigen Frucht-
knoten (Fam. Rosaceae), so wäre es wahrscheinlicher, daß in
der Stammesgeschichte die Unterständigkeit nicht mit einem
Male, durch eine einfache Mutation, aufgetreten wäre, sondern
stufenweise durch eine Reihe von Mutationen, welche zusam-
men schließlich zur vollendeten Hypogynie führten. Das
gleiche könnte für die Sympetalie und für andere rein mor-
phologische Merkmale, die mit ,, Zweckmäßigkeit" nichts zu
tun haben, gelten. Eben dieses, ursächlich zunächst nicht er-
klärbare und auch auf Zweckdienlichkeit nicht zurückführbare,
stufenweise Abändern in einer bestimmten Richtung nenne ich
„Orthogenesis".
Zum Schluß meint P. : „Gaitz verfehlt ist endlich der Ver-
such, für die Orthogenesis (im ersten Sinne) den Mendelismus
heranzuziehen, . . ." Da ich ,,im ersten Sinne", wie P. ihn
meint, die Orthogenesis gar nicht aufgefaßt habe, erübrigt sich
eine Entgegnung. Es ist aber nicht einzusehen, warum nicht
ebensogut wie ein einzelner, so auch mehrere gleichgerichtete
Erbfaktoren bei vorkommender Kreuzung sich den Mend ei-
schen Regeln einfügen sollten. Für die Rotfärbung der Weizen-
körner (s. o.) ist solches Verhalten ja nachgewiesen.
Dr. Hugo Fischer, Essen.
Zur Nistweise des Mauerseglers. Aus der Angabe, daß
man im Rokitnogebiet und im Walde von Bialowies den „bei
') D. h. auf das gleiche Organ gerichtete.
uns ganz an menschliche Bauwerke gewöhnten" Mauersegler
im Walde brütend gefunden hat, in der Besprechung der Ar-
beit von V. Franz ,, Ursprüngliches in der warmblütigen Tier-
welt der Kriegsgebiete", Beiträge zur Naturdenkmalpflege 6,
1919, S. 313 — 412 durch F. Pax in der Naturw. Wochen-
schrift 1921, S. 45/46, kann der fernerstehende Leser leicht
den Eindruck bekommen, als ob unser Vogel bei uns nur
ausschließlich an den Bauwerken des Menschen, nicht aber
auch noch im Walde nistet. Dem ist aber nicht so; Cypselus
apus bewohnt auch in Deutschland gar nicht so selten hohle
Bäume des Waldes , größerer Parkanlagen usw. , Klüfte und
Hohlräume in Steinbrüchen, Felsen u. ä. O. m. Auf dem
Rochlitzer Berge (Sachsen) beispielsweise stellte ihn Rieh.
Hey der vor Jahren schon als Baumbewohner fest und ich
selbst konnte ihn dann hier auch noch als Steinbruchsvogel,
als den ich ihn u. a. auch noch aus der sächsischen Lausitz
kenne, bestätigen. In seiner ,,Ornis saxonica", Journal für
Ornithologie 64, 1916, die sich ganz besonders auch auf
eigene, auf regelmäßigen Bereisungen des Landes gesammelte
Erfahrungen und Beobachtungen stützt, sagt Hey der, daß
das Nisten in Baumhöhlen und Felsspalten in Sachsen auch
gar nicht selten geschieht. Aber auch aus dem übrigen
Deutschland liegen zahlreiche, ähnliche Berichte vor; Jäckel
(Vögel Bayerns), Kollibay (Vögel der preußischen Provin«
Schlesien), Hübner (Avifauna von Vorpommern) u. v. a. m.
erwähnen das Nisten des Mauerseglers in Baum- und Fels-
höhlen ebenfalls, und bereits Naumann sagt in seiner Natur-
geschichte der Vögel Mitteleuropas, daß Cypselus apus auch
,,in den hohlen Zacken sehr alter hoher Eichen oder in
Löchern und Ritzen hoher schroffer Felswände" nistet. — Es
scheint, als ob das Nisten der Art in Bäumen, das meistens,
wie ja auch schon aus der erwähnten Angabe Naumanns
hervorgeht, ein recht hohes ist, aus diesem Grunde bei uns
Ott übersehen wird ; das dichte Ast- und Laubwerk verhindern
dabei die Beobachtung des zudem ja auch noch blitzschnell
ein- und ausfliegenden Vogels nur zu leicht.
Rud. Zimmermann, Dresden.
G. H. in E. Die in den agrikulturchemischen Versuchs-
und Kontrollstationen angewandten Verfahren zur Untersuchung
der Dünge- und Futtermittel entsprechen im allgemeinen den
Methoden der analytischen Chemie ; sie sind vom Verband
landwirtschaftlicher Versuchsstationen im Deutschen Reiche
dem besonderen Zwecke entsprechend nur modifiziert. Zu-
sammengestellt sind die Methoden in verschiedenen Büchern,
von denen in erster Linie zu nennen sind :
König, Die Untersuchung landwirtschaftlich und ge-
werblich wichtiger Stoffe. Praktisches Handbuch. Verlag
Parey, Berlin SW, Hedemannstraße 10. Das Buch ist sehr
ausführlich und umfangreich.
Mettge, Laboratoriumsbuch für Agrikulturchemiker.
Verlag Knapp, Halle a. S. 1918. Das Buch kann warm
empfohlen werden.
Krische, Untersuchung und Begutachtung von Dünge-
mitteln, Futtermitteln, Saatwaren und Bodenproben. Verlag
Parey, Berlin 1906. Ist etwas veraltet.
Böhmer, Anleitung zur Untersuchung landwirtschaftlich
wichtiger Stoffe. Verlag Parey, Berlin 1906. Das Buch eignet
sich gut für Anfänger, ist aber leider auch etwas veraltet.
Wieflmann.
Inhalt: R. Potonie, Zur Bildung der Braunkohlenflöze und Ökologisches über den Braunkohlenwald. (l Abb.) S. 225.
K. Ulbricht, Die Dauer der Eiszeit. (2 Abb.) S. 229. — Einzelberlcbte: Schneider und M. Kochmann, Das
Hirtentäschel in der Medizin. S. 230. Oltmanns, Die Mechanik der physikalischen Anziehungserscheinungen.
S. 231. Heinricher, Wie erfolgt die Bestäubung der Mistelf S. 232. Ober Hermaphroditismus bei verschieden-
geschlechtlichen Zwillingen des Rindes. S. 233. H. Molisch, Aschenbild und Pflanzenverwandtschaft. (7 Abb.) S. 234.
F. Kl Ute, Geographie des Kilimandscharogebiets. S. 235. — Bücherbesprecbut]gen: H. Klaatsch, Der Werde-
gang der Menschheit und die Entstehung der Kultur. S. 237. W. Kükenthal, Leitfaden für das Zoologische Prak-
tikum. S. 238. Ign. Urban, Plumiers Leben und Schriften nebst einem Schlüssel zu seinen Blütenpflanzen. S. 238.
Leo Waibel, Urwald — Veld — Wüste. S. 239. — Anregungen und Antworten: Über „Orthogenesis, Mutation,
Auslese". S. 239. Zur Nistweise des Mauerseglers. S. 240. Verfahren zur Untersuchung der Dünge- und Futtermittel. S. 240.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miebe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 17. April 1921.
Nummer 16.
[Nachdruck verboten.]
Pflanze und Elektrizität.
Von Dr. Friedl Weber (Graz).
Galvani machte die Zufallsentdeckung, daß
Zuckungen am Froschmuskel auftreten, wenn er
mit einer Verbindung zweier verschiedener Metalle
in Berührung kommt; damit war die Kontakt-
elektrizität beobachtet, doch glaubte Galvani
einen Beweis gefunden zu haben für das Auftreten
einer von ihm angenommenen tierischen Elektri-
zität; zeitlebens hielt er an dieser Überzeugung
fest und auch Voltas grundlegende Versuche
konnten ihn davon nicht abbringen. Diese hatten
ergeben, daß eine Kombination zweier verschie-
dener Metalle, wenn sie getrennt sind durch einen
Elektrolyten einen Strom liefert und daß bei
Galvanis Versuchen der Froschschenkel die
Rolle eines solchen Elektrolyten, einer Salzlösung
spielt und nicht aus sich selbst als Äußerung
seiner Lebenskraft den Strom erzeugt.
Und doch hatte Galvani recht mit dem
Glauben an eine von den Lebewesen selbst pro-
duzierte Elektrizität; aber erst viel später, vor
allem durch die zahlreichen Arbeiten Du Bois-
Reymonds wurde das Vorkommen der Bio-
elektrizität außer allen Zweifel gestellt. Seine
ganze Lebensarbeit war der Erforschung dieser
elektrischen Erscheinungen gewidmet. Am Muskel
studierte er den „Verletzungsstrom": Bringt man
an einem aus längsgestreckten parallelen Fasern
bestehenden Muskeln Querschnitte an, so zeigt die
natürlich nicht verletzte Oberfläche des Muskels
(auch „natürlicher Längsschnitt" genannt) positive,
der Querschnitt negative Spannung, und es läßt
sich ein Strom ableiten, der im Galvanometer-
kreise vom Längs- zum Querschnitte fließt, im
Muskel selbst vom Quer- zum Längsschnitt. Die
Verletzungsströme oder Längs Querschnittsströme
werden auch als Ruheströme bezeichnet, weil sie
ohne weitere Reizung des Muskels in seinem
ruhenden Zustand ableitbar sind. Es gibt aber
auch sog. Aktionsströme: An einem in Aktion
versetzten gereizten Muskel verhält sich jede
Stelle, die sich gerade in Erregung befindet, ne-
gativ gegen eine ruhende Stelle.
Dies alles sind oft beschriebene Erscheinungen ;
weniger bekannt ist, daß sich auch bei Pflanzen
Aktions- und Ruheströme in ganz analoger Weise
beobachten lassen. Aktionsströme wurden ge-
messen vor allem bei denjenigen Pflanzenarten,
die auf Reize hin mit energischen rasch verlaufen-
den Bewegungserscheinungen reagieren; so bei
Mimosa, der Sinnpflanze, die nach Erschütterung
oder anderen Reizen ihre Fiederblättchen zusam-
menfaltet und ihre Blattstiele senkt, so auch bei
Dionaea, der Venusfliegenfalle, die auf mechani-
sche Reizung der auf der Blattfläche stehenden
Fühlborsten hin ihre Blattflächen zusammenklappt
und zwar so rasch, daß es ihr damit gelingt, In-
sekten zu fangen. Von symmetrischen Stellen
der Blatthälflen einer Dionaea läßt sich, solange
das Blatt in Ruhe ist, kein Strom ableiten, erfolgt
aber eine Reizung, dann ist schon nach 0,04 Sek.
die elektrische Reaktion des Blattes festzustellen,
und zwar nehmen auch bei den Pflanzen — wie
im tierischen Gewebe — die gereizten Teile nega-
tive Spannungen an gegenüber den ruhenden.
Was die Ruheströme bei Pflanzen betrifift, so
sind z. B. an verletzten Stengeln die Querschnitte
negativ gegenüber der Längsoberfläche, also ein
analoges Verhalten wie es der Muskel zeigt.
Schließlich lassen sich auch an unverletzten lebens-
tätigen Pflanzen zwischen ihren verschiedenen
Organen Potentialdifferenzen nachweisen. Beson-
ders an lebhaft wachsenden Keimlingen können
diese relativ beträchtliche Werte erreichen, es ver-
halten sich dabei die Keimblätter positiv gegen-
über den Wurzeln. Zahlreiche Einzelbeobachtun-
gen und Messungen haben ein umfangreiches
Tatsachenmaterial geschaffen nicht nur über die
Verteilung der Potentialdifferenzen und Ströme
an den verschiedensten Pflanzen und Pflanzen-
organen, sondern auch über die Beeinflussung der
Ströme durch Temperatur, 0-Mangel, COj-Assimi-
tion, Narkose usw. *) Doch all dies konnte nur
wenig befriedigen und so hat sich die Elektro-
physiologie der Pflanzen in letzter Zeit geringen
wissenschaftlichen Interesses erfreut.
Dies ist verständlich, da weder die Erklärung
des Zustandekommens der bioelektrischen Ströme
bisher restlos geglückt ist, noch auch man sich
darüber klar werden konnte, welche Rolle die
elektrischen Erscheinungen im Leben der Pflanze
spielen und ob ihnen überhaupt eine lebenswichtige
Bedeutung zuzuschreiben ist. Aber gerade in
allerletzter Zeit hat man sich von verschiedenen
Seiten her bemüht, neue Gesichtspunkte in beider
Hinsicht zu gewinnen.
Bei der Erklärung der bioelektrischen Ströme
hatte die physikalische Forschung bisher mit den
größten Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Hypo-
thesen, durch welche man diese zu meistern ver-
suchte, den derzeitigen Stand der Probleme, die
eigenen einschlägigen beachtenswerten experimen-
tellen Untersuchungen, ihre Ergebnisse und Deu-
•) Literatur bis 1904 darüber in Pfeffers Pflanzenphysio-
logie II. Bd., S. 861—75. Vgl. 1920 L. J. Pech, Les diffe-
rences de Potential en Biologie. Compt. rend. soc. Biologie. 83,
24^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
tung hat R. Beutner 1920 in einer verdienst-
vollen Schrift zusammenfassend dargestellt. Über
einiges daraus soll hier zunächst berichtet werden.
Gleich Du Bois-Reymond stellte sich die
Frage, welche Stoffe denn eigentlich für die Strom-
erzeugung in lebenden Geweben verantwortlich
seien, schon er war bestrebt, ein physikalisches
Modell ausfindig zu machen, das die biologischen
Erscheinungen verständlich erscheinen ließe. Bei
den Voltaketten, die leicht ebenso starke Ströme
wie die biologischen liefern, sind Metalle das
wirksame Moment; diese kommen aber in leben-
den Geweben nicht in Betracht, hier war man
vielmehr geneigt, reine Flüssigkeitsketten anzu-
nehmen. Aber ohne Leiter erster Klasse mit
solchen reinen Flüssigkeitsketten, die sich aus
nebeneinander befindlichen zu einem Kreis ge-
schlossenen wässerigen Elektrolytlösungen zusam-
mensetzen, war es nicht möglich, die Größen-
ordnung biologischer Ströme — 0,08 Volt und
mehr — zu erzielen.
Ein neuer bahnbrechender Gesichtspunkt wurde
erst 1890 von Ostwald eingeführt anläßlich
seiner Studien über die elektrischen Eigenschaften
von semipermeablen Niederschlagsmembranen; er
erkannte, daß diese unter bestimmten Verhält-
nissen der Sitz von Potentialdifferenzen werden
müssen. Solche halbdurchlässige Membranen fin-
den sich auch in tierischen und pflanzlichen Ge-
weben, es sind dies die äußersten Grenzschichten
der einzelnen Protoplasten der Zellen, die sog.
Plasmahäute. Ihnen kommt eine ausschlaggebende
Rolle zu beim Zustandekommen der bioelektrischen
Ströme: In den lebenden Geweben sind nicht nur
die wässerigen Elektrolytlösungen an der Strom-
erzeugung beteiligt, sondern auch die dazwischen-
hegenden wasserunmischbaren Schichten, die
Membranen.
Damit war allerdings das Auftreten bioelek-
trischer Ströme dem Verständnis näher gebracht,
aber noch keineswegs restlos erklärt. Osiwald
selbst stellte zur weiteren Analyse der elektro-
motorischen Membranwirkung die lonenpermea-
bihtätstheorie auf; sie nimmt an, daß durch die
Membran die positiven und negativen Ionen ver-
schieden leicht hindurch gehen und zwar die
positiven leichter, die negativen schwerer; so
mußten Ladungen an den Membranen und da-
durch elektromotorische Kräfte entstehen. Be-
sonders Bernstein hat dann die „Membran-
theorie" weiter ausgebaut und Höber hat in
einer Reihe experimenteller Untersuchungen sie
zu vertiefen gesucht. Einen zur weiteren Er-
forschung wichtigen methodischen Fortschritt
stellen die Arbeiten Cremers dar, der zuerst
biphasischeKetten zusammenstellte; es sind
dies zwar reine Flüssigkeitsketten, aber die neben-
einandergeschalteten Elektrolytlösungen sind nicht
miteinander mischbar: zwischen zwei wässerigen
Lösungen enthalten diese Ketten eine wasserun-
mischbare organische Substanz, die der Einfach-
heit halber als „Öl" bezeichnet wird. Solche 01-
N. F. XX. Nr. 16
schichten verhalten sich im Prinzipe so wie die
Membranen und bieten für vergleichende Mes-
sungen manche Vorteile. Cremer hat den Sitz
der elektromotorischen Kräfte in die Ölphase
selbst hinein veriegt, sie innerhalb der Ölschicht
bzw. der Membran durch verschiedene Beweglich-
keit der Ionen sich entstanden gedacht. Haber
konnte dagegen nachweisen, daß die elektromo-
torischen Kräfte an den Grenzen der beiden Phasen,
also an den Grenzen zwischen Öl (Membran) und
wässeriger Lösung entstehen. Beutner war nun
bestrebt die Grenzphasentheorie einer experimen-
tellen Prüfung zu unterwerfen, er hat eine Reihe
von Modellversuchen durchgeführt, die auch für
die physikalische Forschung von Interesse sind,
neuartige galvanische Elemente aufgebaut „die
statt Metall organische Verbindungen enthalten.
So gelang es, elektrische Lebenserscheinungen
durch synthetische Substanzen künstlich nachzu-
ahmen".
An physiologischen Objekten — Beutner
arbeitete mit Vorliebe mit Früchten z. B. Äpfeln
oder mit lederartigen Blättern — lassen sich
elektromotorische Kräfte erzielen:
I. Bei sog. äußerer Asymmetrie: wenn
ein Gewebe zwischen zwei verschiedenen wässe-
rigen Lösungen eingeschaltet wird ; dabei kann es
sich handeln um zwei gleichkonzentrierte Lösungen
verschiedener Salze oder um zwei Lösungen des-
selben Salzes aber in verschiedener Konzentration.
Im letzteren Falle ist die Kette so aufgebaut:
Gewebe
B. Apfel
+ Verdünnte Lösung eines Salzes
Konzentrierte Lösung desselben Salzes —
Bei solchen Konzentrationsketten wird also der
Strom (der Konzentrationseffekt) geliefert durch
die verschiedene Konzentration ein und desselben
Elektrolyten. Auf Grund eingehender Studien der
Konzentrations wirkung bei physiologischen
Objekten gelang schließlich die künstliche Nach-
ahmung mit „Ölen", also an unphysiologischen
Modellen; und zwar ergab eine systematische
Durchprüfung der verschiedensten Öle „daß nur
eine ganz bestimmte Klasse derselben einen Kon-
zentrationseffekt zeigt, welcher dem physiologischen
ähnlich ist, nämlich die »Öle, die eine Säure gelöst
enthalten." Ein solches Öl fand Beutner im Salizyl-
aldehyd und konnte damit alle Einzelheiten des bis-
her als spezifisch physiologische Erscheinung be-
trachteten Konzentrationseffektes nachahmen. Aber
auch andere Substanzen — wie Mischungen von
Fettsäuren oder Lezithin mit »Ölen« —sind dazu
geeignet, was für die Erklärung des physiologischen
Effektes von besonderer Bedeutung ist, weil die
Annahme berechtigt erscheint, daß in den leben-
den Geweben (Membranen) ähnliche Fettmischungen
vorkommen.
Elektromotorische Kräfte lassen sich aber auch
erzielen
2. bei sog. innerer Asymmetrie. Hier
ist das physiologische Objekt, das selbst asym-
N. F. XX. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
metrisch ist, zwischen zwei völlig identischen
Lösungen eingeschaltet; die eigentlichen elektro-
physiologischen Ströme (Ruhe -Aktionsströme)
sind auf eine derartige Anordnung zurückzuführen.
Beutner ging daran, auch dafür Modellketten
ausfindig zu machen.
Hatte man bisher vornehmlich die biphasischen
Kelten so aufgebaut, daß die zwei qualitativ oder
quantitativ verschiedenen wässerigen Lösungen
durch eine einzige homogene Ölphase getrennt
waren, so experimentierte Beutner nunmehr mit
Ölketten anderer Art „bei denen zwei verschiedene
»Öle« aneinander grenzen, während die beiden
wässerigen Lösungen identisch sind".
Wässerige Lösung j Öl I : Öl II ! wässerige Lösung.
Eine einfache Kette dieser Art ist z. B. so
aufgebaut :
-f Kalomel- j \ r , , 1 Kalomel-
elektrode Kresol I *^e"fa'de- elektrode
mit Vi n- KCl; I "^^ 'mitVin-KCl-
Die Messung ergibt eine Kraft von 0,13 Volt-
Man kann verschiedene Öle zu den Versuchen
heranziehen und es lassen sich die Öle in eine
Spannungsreihe einordnen, so, wie man nach
Volta von einer Spannungsreihe der Metalle
spricht. Gerade solche Ketten mit 2 Ölen oder
mit einer inhomogenen asymmetrischen Ölphase
und zwei identischen wässerigen Lösungen geben
nach B e u t n e r das Modell ab für den Verletzungs-
strom, sind für sein Zustandekommen von Be-
deutung. Versuche mit lebenden Objekten ins-
besondere pflanzlicher Provenienz haben ihn in
dieser Vorstellung bestärkt.
Wie hat man sich auf Grund der bisherigen
Membrantheorie (Bernstein) die Entstehung des
Verletzungsstromes verständlich zu machen ge-
sucht? Man geht aus von der Vorstellung, daß
die Zelle — das ganze Gewebestück verhält sich
im wesentlichen ebenso — einen Hohlkörper dar-
stellt, der umschlossen ist von einer semiperme-
ablen Membran. Innerhalb und außerhalb des
Hohlkörpers, also diesseits und jenseits der Mem-
bran, befindet sich eine Elektrolytlösung. Die
Membran selbst besitzt eine auswählende Durch-
lässigkeit in bezug auf die Ionen der Elektrolyte,
sie verhält sich wie ein lonensieb. Die positiven
Ionen der inneren Flüssigkeit könnten das Plasma-
membransieb passieren, sie werden aber am
weiteren Abdiffundieren gehemmt durch die
elektrostatische Anziehung der im Innern durch
das Membransieb zurückgehaltenen negativen Ionen.
Es bildet sich demnach außen an der Membran
ein positiver Belag, innen ein negativer. Es ent-
steht also „indem die positiven Ionen nach außen
zu wandern streben, aber von den negativen Ionen
im Innern festgehalten werden" an der Membran-
oberfläche eine Polarisation.
Ist die ruhende Zelle intakt, unverletzt, allseits
von der Membran umschlossen, so ist das Mem-
branpotential überall gleich: von der unverletzten
ruhenden Zelle läßt sich kein Strom ableiten.
243
Wird aber die Membran verletzt, ein Quer-
schnitt angelegt, dann wird an der verletzten Stelle
die Wirkung der Membran ausgeschaltet, die vor-
her durch die Membran getrennten Ionen neutra-
lisieren sich, und es tritt an den unverletzten
Stellen die Wirkung der Membran zutage : es ent-
steht der Verletzungsstrom, wenn die unverletzte
Membranlängsseite mit dem Querschnitt verbun-
den wird.
Diese Theorie erklärt den Verletzungsstrom
durch folgendes Schema:
-|- Ableitungs
flüssigkeit auf
der unverletz-
ten Seite
(Physiol.Koch-
Salzlösung)
Für die Theorie ist
Membran
des
Gewebes
Elektrolyt- /^!^f""gs-
lösung flüssigkeit auf
innerhalb (der verletzten
I jg^ I Seite —
Membran (Physiol.Koch-
i Salzlösung)
es natürlich wichtig, eine
Vorstellung von der chemischen Natur der Flüs-
sigkeit innerhalb der Membran zu gewinnen.
Bernstein nahm — ausgehend von den Ver-
hältnissen beim Muskel — irgendein K Salz an
(die Kaliumionen würden dabei zu permeieren
vermögen) andere Autoren eine Säure. Durch
systematische Modellversuche mit Ölketten müßte
sich diese Annahme prüfen lassen. Tatsächlich
ist es möglich, durch Ölkettenkombinationen mit
Säuren oder Kalisalzen Kräfte zu produzieren, die
die Größe des Verletzungsstromes erreichen, ja
sogar übertrefifen ; doch dabei handelt es sich um
Versuche mit reinen KCl- resp. Säurelösungen,
es ist aber ausgeschlossen, daß solche innerhalb
der Zellen vorhanden sind ; dagegen bringen Säfte,
die in Geweben vorkommen — so etwa der Preß-
saft eines Apfels, obwohl er schwach sauer rea-
giert — keine entsprechende elektromotorische
Wirkung hervor. Beutner ist daher von dem
Erklärungsversuch des Verletzungsstromes nach
den Vorstellungen Bernsteins nicht befriedigt
und will in einer Kette mit inhomogener Ölphase,
wie sie oben geschildert wurde, ein besseres Ver-
letzungsstrommodell gefunden haben. Eine solche
Kette ist die Cremersche:
NaCl-Lösungj Nitrobenzol NaCl-Lösung
|mit Säure . . . ohne Säure
Die zur Stromerzeugung nötige Asymmetrie
liegt hier nicht in den wässerigen Phasen; die
wässerigen Lösungen zu beiden Seiten des Öls
(der Membran) sind identisch; sie liegt vielmehr
in der wasserunmischbaren Ölphase (in der Ver-
schiedenheit der Membranen selbst).
Um die Richtigkeit der Annahme, daß die
Cremersche Nitrobenzolkette ein Modell des
Verletzungsstromes sei, zu erweisen, hat Beutner
bei verschiedener Anordnung Messungen von Ver-
letzungsströmen an Äpfeln durchgeführt.
Zunächst war festzustellen die „Abhängigkeit
des Verietzungsstromes eines Apfels von der
Schichtdicke bei fortschreitender Aushöhlung":
Ein Apfel kam in eine mit der Ableitungs-
flüssigkeit gefüllte Schale zu liegen und zwar so,
244
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. i6
daß er nur zum Teil in dieselbe tauchte ; von der
oberen herausragenden Hälfte wurde mit der
gleichen Flüssigkeit abgeleitet; dabei erwies sich
der unverletzte Apfel praktisch als stromlos. Nun
wurde an der oberen Hälfte eine zunächst nur
flache Verletzung, Aushöhlung angebracht, die
Ableitungsflüssigkeit hineingefüllt und der auf-
tretende Verletzungsstrom gemessen. Ergebnis
ca. 0,04 Volt. Hierauf wurde~von oben her mehr
und mehr vom Fruchtfleisch des Apfels abge-
tragen und so rückte die Verletzungsstelle immer
näher an die untere unverletzte Stelle heran, bis
schließlich der Apfel gänzlich ausgehöhlt war und
nichts mehr übrig blieb als die „Rinde". Bei der
nach jeder neuen Abtragung erfolgten Strom-
messung zeigte sich folgendes:
„Gleichgültig ob die Höhlung tief oder flach
ist, die Größe der Verletzungsstromkraft bleibt
unverändert. Erst nachdem man das ganze Frucht-
fleisch bis auf eine V4 cm dicke Schicht abgetragen
hat, sinkt die Kraft in einem wahrnehmbaren Be-
trage. Ist schließlich alles Fruchtfleisch bis zur
inneren Seite der entgegengesetzten Schale ent-
fernt, so sinkt die Kraft nahezu auf Null."
B e u t n e r deutet den Versuch in folgender
Weise: Die äußerste „Schale" des Apfels in sehr
dünner Schicht, die Kutikula entspricht der säure-
reichen Ölphase der Cremerschen Kette, das
gesamte innere Fruchtfleisch der säurearmen Öl-
phase. Die Anordnung der Kette ist also so:
4-Ableitende Säurehaltige Säurearme ; Ab-
Lösung Membran Membran leitende
(Kutikula) (Fruchtfleisch) Lösung —
Bei der Nitrobenzolkette ist die Ausdehnung
der säurefreien Nitrobenzolschicht ohne Einfluß
auf die Kraft der Kette. Beim verletzten Apfel
ist es ebenso: die Dicke der Fruchtfleischschicht
ist belanglos. Wird aber die Aushöhlung des
Apfels, das Abtragen des Fruchtfleisches bis an
die Kutikula heran vorgetrieben, dann liegt eine
symmetrische Kette vor
KCl-Lösung I Kutikula [ KCl-Lösung
und diese muß stromlos sein.
Eine andere unter den weiteren Versuchsreihen
betrifft die elektromotorische Wirkung einer
Quetschung des Apfels. Mit dem Finger wird
auf die Oberfläche des Apfels gedrückt, dann mit
identischen Salzlösungen von der gequetschten
und einer nicht gequetschten Stelle der Rinde ab-
geleitet. Die gequetschte Stelle verhält sich
negativ zu der nicht gequetschten, die Größen-
ordnung des Stromes ist wie bei einer Verletzung.
Beutner erklärt sich das Versuchsergebnis da-
mit, daß beim Zerdrücken der Zellschicht des
Fruchtfleisches, die der Kutikula innen anliegt,
der direkte elektrische Kontakt zwischen Kutikula
und Fruchtfleischmembran unterbrochen wird „in-
dem ein Erguß von Fruchtsaft dazwischen statt-
findet. Es wird also eine wässerige Lösung
zwischen die beiden Membranen geschoben. Durch
diese Einschaltung ändert sich die elektromoto-
rische Gesamtkraft notwendigerweise so, daß eine
Negativität der gequetschten Stelle zustande
kommt". Eine analoge Dazwischenschaltung einer
wässerigen Lösung ruft auch bei dem Modell der
Cremerschen Nitrobenzolkette die gleiche Wir-
kung hervor.
Pflanzenanatomisch sind die Verhältnisse der
erwähnten Versuchsreihen in dieser Schrift leider
nicht völlig eindeutig dargestellt. Die Anatomie
der Pflanzen versteht unter Kutikula nur das die
Außenwand der Oberhautzellen kontinuierlich
überziehende zarte Häutchen. Ob Beutner
dieses oder die ganzen Epidermiszelien unter der
Bezeichnung: harte, elastische äußerste Rinde
meint, ist nicht recht zu entnehmen. Die Kuti-
kula im botanischen Sinne ist tatsächlich eine
wasserunmischbare Membran, deren Charakter von
Fettsäuren bestimmt ist, sie könnte also wirklich
der säurereichen Ölphase der Cremerschen
Kette entsprechen. Weiter fragt sich, ob unter
der säurearmen Fruchtfleischmembran die Zellu-
losemembran zu verstehen ist oder aber die inner-
halb dieser gelegene lipoide Plasmahaut. Kutikula
und Zellulosemembran sind tote Ausscheidungs-
Produkte des lebenden Protoplasten und es würde
sich die neue Auffassung Beutners auch darin
von der bisherigen Auffassung der Membrantheorie
recht wesentlich unterscheiden, daß einem leb-
losen Teil der Zelle die alleinige Rolle am Zu-
standekommen des Verletzungsstromes zugeschrie-
ben wird, während man früher die Beteiligung
der lebenden (oder doch wenigstens der Beein-
flussung durch den lebenden Protoplasten stets
zugänglichen) Plasmahaut (der alleinigen Membran
vieler tierischer Zellen) annahm. Trotz solcher
und anderer Bedenken darf die Bedeutung der
experimentellen Arbeit Beutners nicht unter-
schätzt werden; seine neue Vorstellung von der
Ursache des Verletzungsstromes — die nochmals
mit seinen Worten zusammengefaßt werden soll
— wird sicherlich zu neuen Untersuchungen an-
regen: „Die Ursache des Verletzungsstromes ist
nicht auf die Wirkung eines unbekannten, beson-
ders zusammengesetzten Saftes in oder zwischen
den Zellen zurückzuführen, sondern auf eine Ver-
schiedenheit der Zusammensetzung der Membran
selbst. Es gibt eine äußere säurehaltige und eine
innere säurefreie oder säureärmere Membran, diese
berühren sich direkt, weil sie zusammengewachsen
sind; hiermit ist eine wesentliche Bedingung für
das Zustandekommen des Verletzungsstromes ge-
geben, denn es ist damit gezeigt, daß ein ver-
letztes Gewebestück eine Anordnung darstellt, die
der Cremerschen Nitrobenzolkette analog ist."
Die Bearbeitung desProblemes, wie die Aktions-
ströme entstehen, hat Beutner noch nicht in
Angriff genommen. Hierin kommt zur Erklärung
heute vor allem in Betracht die Membrantheorie
in ihrer Fassung als lonensiebtheorie: Geht eine
Stelle eines Gewebes oder einer Zelle auf Reize
hin aus dem Zustand der Ruhe in den der Akti-
N. F. XX. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
245
vität über, so ist diese Betätigung von einer
Änderung der Membran(Plasmahaut)- Durchlässig-
keit begleitet; jene Stelle verhält sich im Moment
ihrer Betätigung, wie wenn ihre Plasmahaut ein
Loch hätte, das sich beim Übergang in Ruhe von
selbst wieder schließt.." (Höber). Der Aktions-
strom würde also gewissermaßen einer natürlichen,
physiologischen, reparablen Verletzung seine Ent-
stehung verdanken.
Doch wir wollen uns jetzt nicht weiter mit
der Frage beschäftigen, wie die bioelektrischen
Ströme entstehen, wodurch sie verursacht sind,
sondern mit der anderen für die physiologische
Forschung noch weit bedeutungsvolleren , was
diese elektromotorischen Kräfte selbst verursachen,
welche Wirkungen sie nach sich ziehen, ob sie
für das Lebensgetriebe von Bedeutung sind.
Um überhaupt einen richtigen Standpunkt
einnehmen zu können in bezug auf die physiolo-
gische Rolle der bioelektrischen Vorgänge, muß
man sich mit der Vorstellung vertraut machen,
daß nicht etwa nur auf Verletzung und äußere
Reize hin Ruhe- und Aktionsströme an den Or-
ganen und Zellen und zwar nur an deren äußeren
Oberfläche entstehen, daß vielmehr Potentialdifife-
renzen auch im Innern der Zellen zwischen den
Teilen des Protoplasten, zwischen Zytoplasma,
Kern, Vakuolen usw., ja überhaupt an allen inneren
Grenzflächen der lebenden Substanz auftreten
müssen, so daß das Protoplasma dauernd durch-
zogen zu denken ist von einem Netz elektrischer
Ströme. Nach unserer heutigen Vorstellung vom
Baue und der Struktur des Protoplasmas müssen
seine inneren Grenzflächen von ganz enormer
Ausdehnung sein. Unter der Annahme einer
Wabenstruktur würde i ccm plasmatischer Sub-
stanz, das aus würfelförmigen Waben von o,i /.i
(= I X iO~^ cm) Seitenlänge bestünde, eine innere
Oberfläche von 6o qm aufweisen. Diese gesamte
Oberfläche muß der Sitz von elektrischen Poten-
tialsprüngen sein. In einer interessanten Studie
hat Nathansohn die Frage durchdacht, welche
Bedeutung der durch eine derartige große Ober-
flächenentwicklung ausgezeichneten Protoplasma-
struktur in Verbindung mit den sich an ihr ab-
spielenden elektrischen Erscheinungen für die
Lebensprozesse zukommt. Er gelangt zu der
Überzeugung, daß das Auftreten der intrazellularen
elektrischen Potentialsprünge und Ströme bei den
in der lebenden Substanz gegebenen Struktur-
verhältnissen „von elektrolytischer Wasserzer-
setzung begleitet ist, und so durch Erzeugung
naszierenden Wasserstoffs und Sauerstoffs tief in
den fundamentalsten aller Lebensvorgänge , die
physiologische Oxydation eingreift".
Nathansohn gibt damit eine ganz neue, eine
elektrolytische Atmungstheorie. Das
fundamentale Problem der Atmung, um deren
Klärung sich alle Atmungstheorien bemühen, ist
das : Wie kommt es, daß reaktionsträge Substanzen
wie Kohlehydrate, Fette oder deren Spaltungs-
produkte im lebenden Organismus durch den
ebenso trägen Luftsauerstoff oxydiert werden und
zwar mit einer recht beträchtlichen Geschwindig-
keit, außerhalb des Organismus aber eine Ver-
brennung solcher Stoffe nicht oder doch nur mit
wesentlich — nach neuen Versuchen etwa 300 mal
— geringerer Geschwindigkeit stattfindet. Die
Schwierigkeit, die daraus der Erklärung der At-
mung erwächst, hat die herrschende reine Enzym-
theorie nicht völlig zu überwinden vermocht.
Zwar ist eine Reihe von Oxydationsfermenten
bekannt geworden, die zweifellos am Atmungs-
prozeß in besonderer Weise beteiligt sind, doch
hat — zuerst 1913 — Warburg') durch inter-
essante Versuche dargetan, daß die unveränderte
Intensität der physiologischen Oxydation an eine
im wesentlichen ungestörte Struktur der lebenden
Substanz gebunden erscheint : Rote Vogelblutzellen
zeigen nach Gefrieren und Wiederauftauen —
wobei eine Sprengung der Membranen, aber keine
weitgehende Strukturzerstörung vor sich geht —
eine Oxydationsgeschwindigkeit, die ebenso groß
ist wie in intakten Zellen; wird aber die durch
das Gefrieren geschädigte Zellmasse scharfem
Zentrifugieren unterworfen, so daß sich eine struktur-
freie Schicht von einer strukturhaltigen trennt,
dann ist die Atmung in der strukturhaltigen Schicht
im wesentlichen immer noch unverändert, in der
strukturfreien dagegen nur ganz verschwindend
klein. Auch wenn die Struktur lebender Zellen
durch besonders gründliches Zerreiben mit Sand
bis zur Unkenntlichkeit zerstört wird, sinkt die
Atmung im Organbrei ganz enorm. Die Atmung
ist also im wesentlichen an die Strukturteile ge-
bunden. Dasselbe gilt für den Prozeß der Gärung;
durch Zerreibung der Hefezellen erleidet — ob-
wohl die Gärungsfermente selbst dabei nicht zer-
stört werden — die Gärung einen sehr beträcht-
lichen Geschwindigkeitsabfall, die Restgärung ist
relativ sehr gering; dies hat Buchner bei seinen
bekannten Versuchen zu wenig hervorgehoben.
Auch Rubner nimmt an, daß bei der lebenden
Hefe der Gärungsprozeß durch Verknüpfung der
Enzymwirkung mit der Plasmastruktur zustande
kommt. Es fragt sich nur, in welchem Sinne die
Struktur dabei eine Rolle spielt. Warburg
meint durch adsorptive Verdichtung von Ferment
und Substrat an den Oberflächen, Ruhland
durch bestimmte Lokalisation infolge einer chemi-
schen Bindung, Nathan söhn dagegen macht sich
folgende Vorstellung:
Eine experimentelle, am lebenden Objekt selbst
vorgenommene Analyse der dabei ablaufenden
intrazellularen Vorgänge ist derzeit nicht möglich;
um ein Verständnis dieser Lebensprozesse zu ge-
winnen, ist man daher wie so oft darauf ange-
wiesen, in dem reichen Tatsachenschatz der phy-
sikalischen Chemie nach Erscheinungen zu suchen,
die uns als Modell der vitalen Vorgänge dienen
können. Nathansohn geht aus von der ge-
') O. Warburg, Über die Wirkung der Struktur auf
chemische Vorgänge in Zellen. Jena 1913.
246
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 16
wohnlichen elektrolytischen Wasserzersetzung mit
Hilfe von Metallelektroden. Um die Elektrolyse
dauernd in Gang zu erhalten, müssen die Elek-
troden auf eine ziemlich hohe Spannungsdififerenz
gebracht werden (über 1,2 V.). Der Beginn der
Elektrolyse erfolgt aber schon bei viel geringerer
Spannung (0,005 V-)i dabei beladen sich die Elek-
trolyten mit H und O und die Elektrolyse kommt
im wesentlichen rasch zum Stillstand; sie kann
aber weiter in Gang gebracht und dauernd er-
halten werden auf zweifach verschiedene Weise:
entweder durch Erhöhung der Spannung der
Elektroden oder — und dies interessiert hier —
bei gleich nieder bleibender Spannung dadurch,
daß die Elektrolysenprodukte (H und O) rasch
durch einen chemischen Prozeß entfernt werden;
„dazu müssen wir die Anode, an der sich der
Sauerstoff entwickelt, in eine reduzierende, die
wasserstoffbildende Kathode in eine oxydierende
Lösung tauchen. Diese Lösungen verbrauchen die
Zersetzungsprodukte an den Elektroden und sorgen
damit für deren dauernde Depolarisation". So
wird der Fortgang der Elektrolyse ermöglicht.
Dies läßt sich realisieren z. B. beim Eintauchen
von Metallelektroden in eine Lösung Chinhydron
bei einer Klemmspannung von nur 005 V. Es
genügen also so geringe Spannungen wie sie
auch im lebenden Organismus vorkommen können,
um die Elektrolyse dauernd zu erhalten, wenn
nur durch Depolarisation eine Polarisation ver-
mieden wird. Ohne weiteres kann aber dieser
Versuch nicht als Modell der biologischen Vor-
gänge gelten, denn erstens sind dabei Metall-
elektroden in Verwendung und zweitens kommt
die wirksame Spannung ja durch äußere Strom-
zuführung dabei zustande. Diese Schwierigkeiten
sind aber nicht unüberwindlich. Elektrolytische
Zersetzung kann auch — wie zuerst Braun ge-
zeigt hat — ohne Metallelektroden erfolgen und
zwar in kapillaren Systemen. Braun bezeichnete
diesen Prozeß als Stenolyse. ') Schickt man
durch eine poröse Scheidewand „aus Ton oder
von Sprüngen durchsetztem Glas, das z. B. beider-
seits an AgNOg-Lösung grenzt, einen elektrischen
Strom, so erfolgt Elektrolyse, und zwar wird an
der der Anode zugewandten kapillaren Seite Silber
ausgeschieden, während an der entgegengesetzten
Silbersuperoxyd entsteht. Diese Silbersuperoxyd-
bildung ist der Typus einer depolarisierenden
elektrolytischen Oxydation. . ." Analoges erfolgt
auch an anderen kapillaren Systemen wie an
semipermeablen Niederschlagsmembranen. Diesen
Vorgang der Stenolyse hat Coehn als echten
elektrolytischen Prozeß erkannt.
Es fragt sich nun weiter: geht Stenolyse an
kapillaren Membranen auch dann vor sich, wenn
von außen kein Strom zugeführt wird f Dies ist
tatsächlich der Fall, sobald die Membran selbst
zum Sitz der treibenden elektrischen Kräfte wird.
Solche Kräfte treten z. B. an porösen Glaswän-
1) azEPÖs schmal, eng.
den auf, wenn sie in Säuren tauchen und — wie
wir ja schon wissen — an semipermeablen Mem-
branen. Wie aber können die hier realisierten
Spannungsdifferenzen Stenolyse bewirken? Da-
durch, daß sie Veranlassung sind zum Auftreten
lokaler Membranströme : durch die mit Flüssigkeit
erfüllten Kapillaren der Membran wird infolge der
an ihren Grenzflächen herrschenden Spannung ein
elektrischer Strom hindurchgetrieben und in ent-
gegengesetzter Richtung durch die Membran-
substanz selbst. Solche lokale Membranströme
wiederum bewirken wie ein von außen zugeführter
Strom das Auftreten der Stenolyse und diese geht
dauernd vor sich, wenn geeignete Depoiarisatoren
vorhanden sind zur Beseitigung der Stenolyse-
produkte. Zur kontinuierlichen Elektrolyse ist
also unter bestimmten Bedingungen erforderlich :
I. Eine nur geringfügige Spannung, 2. eine kapil-
lare Membran, 3. Depoiarisatoren, welche die
Elektrolyseprodukte chemisch beschlagnahmen.
Nathansohn nimmt an, daß derartige Ver-
hältnisse in den lebenden Zellprotoplasten reali-
siert erscheinen. Spannungen von der erforder-
lichen Stärke treten — wie erwähnt, an den plas-
mati.schen Grenzschichten, die überall mit Elektro-
lytlösungen in Berührung stehen, ganz allgemein
auf. Sind im Protoplasma aber auch die Be-
dingungen gegeben, daß diese Spannungen zur
Auslösung lokaler Membranströme führen können?
Die plasmatischen Membranen müßten kapillare
Struktur besitzen. Dies ist aber gewiß der Fall,
denn jede kolloide Substanz — und nur als solche
ist das Lebenssubstrat zu verstehen — weist kapil-
laren, mehrphasigen Bau auf und speziell für die
Plasmamembran hat Nathansohn eine mosaik-
artige Zusammensetzung aus wasserlöslichen ei-
weißartigen und wasserunlöslichen lipoiden Teil-
chen gefordert. Es sind also alle die Bedingungen
für lokale Membranströme gegeben und die not-
wendige Folge davon ist die Einleitung einer
stenolytisch elektrolytischen Wasserzersetzung.
Wird aber die Stenolyse in der lebenden Zelle
dauernd vor sich gehen können, finden sich ge-
eignete Depoiarisatoren die den entstehenden
Wasserstoff und Sauerstoff ständig beseitigen?
Was geschieht mit dem naszierenden Wasser-
stoff? Es besteht keine Schwierigkeit anzunehmen,
daß er oxydiert wird; schon gelöster Luftsauer-
stoff oxydiert an der Kathode frei werdenden
Wasserstoff zu Wasserstoffsuperoxyd. Geht dies
in der Zelle auch vor sich, so wird HjOj mit der
allgegenwärtigen Katalase zusammentreffen und
dieses Enzym zersetzt H.,02, wobei wieder Sauer-
stoff entsteht, der dann um so energischer den
stenolytisch entstehenden Wasserstoff oxydiert.')
Die Beseitigung des naszierenden Wasserstoffs
wird aber vielleicht auch gefördert durch andere
') Es ist von Interesse, dafi H^Oj die Winterruheperiode
der Pflanzen abzukürzen imstande ist, wobei es sich um eine
Erhöhung der Atmungsintensiiät handeln dürfte. Auch ist der
Gebalt an Katalase bei manchen Organen mafigebend für ihr
Oxydationsvermögen.
N. F. XX. Nr. i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
247
oxydierende Enzyme, sowie durch das ebenfalls
allgemein verbreitete Fe"-Ion. Für die Bedeutung
des Eisens *) für die Oxydationsprozesse spricht
neuerdings ein hübscher Versuch von Warburg:
durch Hinzufügung einer minimalen Eisenmenge
zu zusammengeflossenen Seeigeleiern wurde ihre
Atmung um ca. 75 "/o gesteigert.
Und nun die zweite Frage : Findet auch der
naszierende Sauerstoff seinen Depolarisator ? „Seine
Entfernung, also die anodische Depolarisation, muß
durch organische Substanzen erfolgen." Dabei
kommt vor allem Traubenzucker in Betracht;
durch schwache Oxydationsmittel, wie H^O., -j-Fe,
wird er bereits angegriffen ; auch im Protoplasma
dürfte hier das Eisen wiederum eine Rolle spielen ;
der bei der Stenolyse sich bildende naszierende
Sauerstoff wird den Zucker und seine Spaltungs-
produkte gewiß zu oxydieren vermögen.
') Vgl. N. Sacharoff, Das Eisen als das tätige Prinzip
der Enzyme und der lebendigen Substanz, Jena 1902, und die
grundlegende Schrift von H. Molisch, Die Pflanze in ihren
Beziehungen zum Eisen, Jena 1892.
Alle diese Überlegungen festigen die Über-
zeugung, daß im Protoplasma die Bedingungen
gegeben sind, damit durch Elektrolyse dauernd
Atmungsprozesse unterhalten werden: Große
Oberflächenentwicklung semipermeabler kapillarer
Membransysteme, Anwesenheit von Elektrolyten,
die an jenen Potentialdifferenzen erzeugen, da-
durch ausgelöste lokale Membranströme, die zur
Stenolyse führen und schließlich dauernde durch
Enzyme und die Gegenwart des Eisens geförderte
Beseitigung der Elektrolyseprodukte. So wäre
das Rätselhafte der physiologischen Oxydation
erklärt. Durch die kapillarelektrischen Erschei-
nungen „tritt an Stelle des reaktionsträgen atmo-
sphärischen der naszierende elektrolytische Sauer-
stoff, während jener seinerseits durch naszierenden
Wasserstoff und nicht durch die reaktionsträgen
organischen Substanzen in den Atmungsprozeß
hineingezogen wird".
(Schluß folgt.)
Bücherbesprechungen.
Kuenen, J. P., Die Eigenschaften der
Gase (kmetische Theorie, Zustandsgieichung).
Band 3 des Handbuchs der allgemeinen Chemie
von W. Ostwald und C. Drucker. 44Ö Seiten.
Leipzig 1919, Akademische Verlagsgesellschaft
m. b. H. Brosch. 65 M.
Diese große, den Eigenschaften der Gase ge-
widmete Monographie gibt eine vortreffliche und,
soweit zu sehen, in allen Einzelheiten vollständige
Zusammenstellung unserer gesamten Kenntnis des
gasförmigen Aggregatzustands im wesentlichen
nach dem Stande vom Jahre 191 4, in dem die
Urschrift in den Druck gegeben worden ist.
In außerordentlich klarer Weise reiht sie,
systematisch geordnet, ein ungeheures und in
allen Fällen durch sorgfältige Literaturhinweise
belegtes Tatsachenmaterial aneinander. Dabei
werden Theorie und Experiment im allgemeinen
mit gleicher Ausführlichkeit und in einem Um-
fang behandelt, wie er zum Verständnis sowohl der
besonderen Einzelheiten als der großen Zusam-
menhänge gerade erforderlich erscheint. Mathe-
matische Entwicklungen sind durchweg möglichst
elementar gehalten, und besonderer Wert ist
weniger auf erschöpfende Vollständigkeit und
Strenge der Herleitung, bezüglich welcher vielfach
der Hinweis auf die betreffende Originalliteratur
genügt, als auf deutliche Hervorhebung des physi-
kalischen Inhalts gelegt. In letzterer Hinsicht ist
die Darstellung mustergültig.
Das I. Kapitel gibt einen kurzen Überblick
über die kinetische Theorie der Gase. Die folgen-
den 4 Kapitel behandeln die wichtigen experi-
mentellen Bestimmungen der inneren Reibung,
Wärmeleitung, Diffusion und Transpiration, deren
Auswertung zur Ermittlung der molekularen
Größen sich im 6. Kapitel findet. Daran schließt
sich die Betrachtung der Lichtbrechung, der
Dielektrizitätskonstanten und der Magnetisierungs-
konstanten der Gase, der magnetischen Drehung
der Polarisationsebene und des Zeemaneffekts, wo-
bei sich Verf zum Teil auf kürzere Andeutungen
beschränkt. Ebenso will auch das 12. Kapitel
über das Leuchten der Gase unsere Kenntnis mehr
andeuten als erschöpfend wiedergeben. Um so
befriedigendere Ausführlichkeit besitzt die Dar-
stellung des besonderen Arbeitsgebiets des Verf.,
der Zustandsgieichung und des Theorems der
übereinstimmenden Zustände.
Zu bedauern ist nur, daß die erheblichen Fort-
schritte auf dem Gebiet in der langen zwischen
Drucklegung und Herausgabe des Werks ver-
strichenen Zeit in der Hauptsache nur durch kurze
gelegentliche Einfügungen und nicht durch eine
ihrer Bedeutung entsprechende Durcharbeitung
berücksichtigt werden konnten. Jedenfalls aber
bietet das umfassende Werk dem Lernenden,
Lehrenden und Forscher die sichere Grundlage,
auf der er aufbauen muß, wenn er die Entwick-
lung des Gebiets mit Verständnis weiterverfolgen
bzw. mit Nutzen selbst fördern will.
A. Becker.
Fürth, R., Schwankungserscheinungen in
derPhysik. Heft 48 der „Sammlung Vieweg '.
93 Seiten mit 5 Figuren. Braunschweig 1920,
F. Vieweg u. Sohn. Geh. 4,50 M und Teue-
rungszuschlag.
Ursprünglich als nebensächliche Einzelerschei-
nungen betrachtet, haben die Schwankungser-
248
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XX. Nr. 16
scheinungen in der gesamten Physik neuerdings
eine ständig wachsende Bedeutung erlangt, nach-
dem ihre nähere Untersuchung sie als geeignet
gezeigt hat, allgemein wichtige Einblicke in die
uns bis jetzt nur indirekt zugänghche Atomwelt
zu gewähren. Sind die elementaren physikalischen
Erscheinungen, woran wir nicht mehr zweifeln,
letzten Endes auf diskontinuierliche Struktur ihrer
Träger zurückzuführen, so sind die unmittelbar
beobachtbaren makroskopischen Gesetzmäßig-
keiten als Ausdruck einer sog. statistischen Massen-
erscheinung aufzufassen, deren Einzelereignisse
lediglich dem Zufall unterworfen sind. Dann muß
es ein Gebiet, das sog. mikroskopische, geben, in
dem zwar die zufälligen Einzelereignisse der
Atomwelt nicht zu beobachten sind, in dem aber
infolge der verhältnismäßig geringen Zahl mit-
spielender Atomereignisse die makroskopischen
Parameter nicht mehr die Konstanz der Massen-
erscheinungen besitzen, sondern gewissen unregel-
mäßigen Schwankungen unterworfen sind, die
einerseits von der Wahrscheinlichkeitsrechnung
unter bestimmten Voraussetzungen vorausgesagt,
andererseits durch das Experiment verfolgt wer-
den können, so daß der Vergleich von Therorie
und Beobachtung zur Prüfung jener Voraussetzung
dienen kann.
Die vorliegende Monographie gibt eine vor-
zügliche zusammenfassende Darstellung dieser neu-
artigen Behandlungsweise physikalischer Probleme.
Ihr erstes, umfangreichstes Kapitel bringt zunächst
die mathematischen Grundlagen der Schwankungs-
theorie. Der nicht mit der Wahrscheinlichkeits-
theorie vertraute Leser wird hier die Einfügung
von veranschaulichenden statistischen Zahlenbei-
spielen besonders angenehm empfinden. Die
folgenden Kapitel dienen der Anwendung der
Theorie auf die einzelnen physikalischen. Erschei-
nungen. Der Verf. betrachtet zuerst die Kolloid-
statistik, d. i. dasjenige Gebiet, bei dem sich die
Einzelheiten des Mechanismus im Mikroskopischen
noch direkt verfolgen lassen, und geht dann zu
denjenigen Erscheinungen über, die sich im Ge-
biet des Mikroskopischen nicht mehr in ihre Einzel-
fälle auflösen lassen und sich daher nur noch in-
direkt durch die Beobachtung gewisser makro-
skopischer Zustandsvariablen verfolgen lassen
(thermodynamische, elektrische, magnetische, che-
mische, radioaktive und Strahlungsschwankungen).
An die mathematische Theorie des jeweiligen
Problems schließt sich in jedem Kapitel eine
kurze schematische Skizzierung der experimen-
tellen Methoden, eine Besprechung der Versuchs-
ergebnisse und eine vollständige Zusammenstellung
der einschlägigen Literatur. Eine Reihe von
theoretischen Hinweisen auf noch nicht näher
untersuchte Schwankungserscheinungen bieten dem
experimentierenden Physiker wertvolle Anregungen
zu weiterer Vertiefung der Erkenntnis des Mikro-
kosmos. A. Becker.
Praktikum und Repetitorium der quantitativen
Analyse. III. Teil. Elektroanalyse. Breiten-
steins Repetitorien Nr. 37c. Leipzig 1920, Joh.
Ambrosius Barth. 10,80 (12,75) M. und Teue-
rungszuschläge.
Das mit 27 außerordentlich instruktiven Ab-
bildungen versehene Heft stellt eine ganz vorzüg-
liche Anleitung zu quantitativen Bestimmungen
auf elektrolytischem Wege, wie sie immer mehr
in Anwendung kommen, dar. Im ersten Teil wird
die Theorie der elektrolytischen Dissoziation und
die wichtigsten der der Elektroanalyse zugrunde-
liegenden Gesetze ebenso kurz wie zum Verständ-
nis durchaus hinreichend behandelt. Der zweite
Abschnitt erläutejt die Methodik in für die meisten
Zwecke erschöpfender Weise. Hierauf sind eine
Anzahl für den Unterricht unerläßlicher „Vor-
übungen", sowie schließHch Bestimmungen der
wichtigsten Metalle und einiger Anionen eingehend
und so beschrieben, daß unmittelbar danach ge-
arbeitet werden kann. Im ganzen hat man es
mit einer ganz besonders erfreulichen und auch
formal so gut wie einwandfreien Zusammenstellung
der bewährten elektroanalytischen Methoden zu
tun, die die bekannten größeren Werke über diesen
Gegenstand zwar nicht überflüssig macht, dem
Studierenden jedoch als höchst brauchbare An-
weisung angelegentlich empfohlen werden muß.
Zu Bemerkungen ist kein Anlaß. Nur er-
scheint die Tabelle der „Äquivalentgewichte be-
zogen aufH=i" überflüssig. Ferner möchte bei
einer Neuauflage die Aufnahme eines Kapitels über
die erfahrungsgemäß vorkommenden Störungen
und Schwierigkeiten verschiedener Art nicht un-
zweckmäßig sein. H. H.
Literatur.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin, B. G.
Teubner. Kart. 1,80 M., geb. 3,50 M.
Oppenheim, Prof. Dr. S., Das astronomische Welt-
bild im Wandel der Zeit.
I. Teil: Vom Altertum bis zur Neuzeit.
II. Teil ; Moderne Astronomie. 2. Aufl.
Lüscher, Dr. ing. H., Photogramm etrie (Einfache
Stereo- und Luttphotogrammetrie.)
H a m e 1 , Prof. Dr. G. , Mechanik I : Grundbegriffe
der Mechanik.
Kämmerer, Prof. Dr. H. , Die Abwehrkräfte des
Körpers. Eine Einfährung in die Immunitätslehre.
2. Aufl.
Moser, Prof. Dr. L. , Die Reindarstellung von Gasen.
Ein Hilfsbuch für das Arbeiten im Laboratorium. Mit 70 Abb.
Stuttgart '20, F. Enke. Geh. 36 M.
Bodforss, Dr. S., Die Äthylenoxyde, ihre Darstellung
und Eigenschaften. Stuttgart '20, F. Enke. Geh. 5 M.
Inhalt: Friedl Weber, Pflanze und Elektrizität. S. 241. — Bücherbesprechungen: J. P. Kuenen, Die Eigenschaften
der Gase. S. 247. R. Fürth, Schwankungserscheinungen in der Physik. S. 247. Praktikum und Repetitorium der
quantitativen Analyse. S. 248. — Literatur: Liste. S. 248.
Manuikripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 24. April 1921.
Nummer l^.
Pflanze und Elektrizität.
[Nachdruck verboten.
Von Dr. Friedl
Bis hierher - sind wir den Gedankengängen
Nathansohns ziemlich lückenlos gefolgt, auf
weitere Einzelheiten und anregende Hypothesen
kann nur ganz kurz hingewiesen werden. Zu-
nächst sei hervorgehoben, daß N. sich nicht nur
eine Vorstellung von der qualitativen Seite des
elektrolytischen Atmungsprozesses zu machen sucht,
sondern ebenso darüber, ob seine Erklärung auch
in qualitativer Hinsicht zureichend ist, d. h. ob
auch die Intensität der Gesamtatmung eines Or-
ganismus dadurch verständlich wird, ob also der
ganze Atmungsvorgang als ein „elektrolytisch be-
triebener Oxydationsprozeß" anzusehen ist. Auf
Grund von Berechnungen glaubt er die Frage be-
jahen zu können, obwohl die wirksamen Span-
nungsdifferenzen kaum mehr als 0,1 V. betragen;
entscheidend dabei ist eben die spezifische Struk-
tur des Protoplasmas mit ihrer relativ enormen
Entfaltung der Membranoberfläche.
In einem zweiten Teil seiner Arbeit behandelt
Nathansohn die Bedeutung der Elektro-
osmose für verschiedene „offene Probleme der
physiologischen Energetik" vor allem für Re-
sorptions- und Sekretionsvorgänge. Die Elektro-
osmose gehört zu den elektrischen Erscheinungen
an Grenzflächen. An den Grenzflächen zweier
verschiedener Phasen, also z. B. zweier nicht misch-
barer Flüssigkeiten oder einer IVlembran und einer
Flüssigkeit treten elektrische Ladungen auf, es
bildet sich eine elektrische Doppelschicht : eine + -
und eine Flüssigkeitsschicht liegt einander
gegenüber; die eine, die Benetzungsschicht, haftet
der Membran fest an, ist unbeweglich ; ist sie die
positiv geladene, so besitzt die andere daran-
grenzende bewegliche Flüssigkeitsschicht negative
Ladung. Durch das Potentialgefälle wird die be-
wegliche Schicht verschoben, sie bewegt sich und
nimmt dabei infolge der inneren Reibung die zu-
nächst liegenden Teile der Flüssigkeit mit. Ist
nun aber das Volumen der ganzen Flüssigkeits-
masse gering im Verhältnis zur Grenzschicht, dann
wird durch die sich bewegende Grenzschicht die
Gesamtmasse der Flüssigkeit mitgenommen; dies
ist realisiert, wenn sich die Flüssigkeit in einer
Kapillare befindet oder in einem System von
Kapillaren, in einer porösen Scheidewand.
„Die Folge ist die Entstehung einer Flüssig-
keitsströmung in der Richtung der elektrischen
Strömung: Die Flüssigkeit wird durch die poröse
Scheidewand gedrückt, es tritt elektrische Endo-
mose auf."») Freundlich hat einen einfachen
Apparat konstruiert zum Studium der Elektro-
endosmose. Eine (J-Röhre in der Mitte durch
Weber (Graz). (Schluß.)
eine Tonwand in zwei Teile geteilt wird mit
Wasser gefüllt in jeden Schenkel eine Elektrode
eingeführt und ein Strom hindurchgeschickt. Es
steigt nun das Wasser auf der Kathodenseite und
an einem dort eingefügten Steigrohr kann der
endosmotische Verschiebungsdruck an der Steig-
höhe gemessen werden, genau so wie der osmo-
tische Druck an einem Manometer einer Pfef-
fer sehen Zelle. Die Zu- und Durchleitung eines
Stromes von außen her ist nicht nötig zur elektro-
osmotischen Flüssigkeitsbewegung; wie erwähnt,
setzt ja der von vornherein an der Doppelschicht
auftretende Potentialsprung diesen elektrokine-
tischen Vorgang in Bewegung; der Strom von
außen hilft bloß den Reibungswiderstand der
Flüssigkeitsschichten überwinden und erhält die
Bewegung konstant.
In welcher Hinsicht ist nun die Elektroosmose
an der physiologischen Wasserbewegung beteiligt ?
Zunächst muß sich die Frage aufdrängen, ob denn
nicht rein osmotische Kräfte zur Erklärung der
Wasseraufnahme (Resorption), Wasserfortbewegung
und Wasserabgabe (Sekretion) ausreichend sind.
Gewiß, an diesen Flüssigkeitsbewegungen beteiligen
sich stets rein osmotische Kräfte ; ob sie aber die
allein wirksamen Faktoren sind, ist schwer zu
entscheiden. Wasserbewegung durch Membrane
kann im Organismus auch ohne, ja gegen das
osmotische Druckgefälle vor sich gehen. Ein
schönes Beispiel dafür bietet die Resorptionstätig-
keit der Dünndarmwand; sie treibt Flüssigkeit
von der inneren Hohlraumseite durch die Wand
hindurch nach der äußeren Seite; wird ein Stück
der Darmwand in der Mitte eines mit physiolo-
gischer Kochsalzlösung gefüllten Glasgefäßes aus-
gespannt, so daß sich beiderseits der Darmwand
die gleiche Salzlösung befindet, ein äußeres os-
motisches Druckgefälle also nicht besteht, so tritt
trotzdem von der inneren Schleimhaulseite her
Wasser an die äußere Seite über und zwar so
lange wie das Darmslück überlebt; die Darm wand
muß also der Sitz einer „speziellen Triebkraft"
sein (Hob er). Andererseits muß oft auch bei
Sekretionsprozessen Wasser von der konzentrierte-
ren nach der verdünnteren Lösung gegen das os-
motische Druckgefälle sich bewegen.
Nicht nur im tierischen Organismus bei der
Sekretion von Speichel, Magensaft, Schweiß, Harn
usw. spielt die einseitige Wasserauspres-
sung eine große Rolle, sondern ebenso auch im
•) V. KohlschüUer, Die Erscheinungsformen der
Materie. Leipzig 1907.
250
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 17
pflanzlichen. Sie wird hier äußerlich besonders
auffallend als sog. Tröpfchenausscheidung oder
Guttat ion: Ist der Feuchtigkeitsgehalt der Luft
sehr groß, die Verdunstung stark herabgesetzt —
unter natürlichen Verhäknissen im Freien ge-
wöhnlich in den frühen Morgenstunden — , dann
zeigen sich die Blattränder vieler Pflanzen wie
von Tautropfen besät. Es ist dies aber kein Tau
sondern Wasser, das die Pflanze von innen heraus
aktiv ausgeschieden hat. Die so sezernierten
Flü-sigkeitsmengen sind nicht unbeträchtlich; in
höchster Vollendung fand Molisch diese Wasser-
ausscheidung bei jüngsten Blättern von Colocasia-
Arten ausgebildet ; hier werden die Wassertropfen
direkt herausgeschleudert und zwar mit erstaun-
licher Kraft, sie fliegen nahezu i cm vertikal in
die Höhe und folgen oft so schnell aufeinander,
„daß man kaum imstande ist, die fliegenden
Tröpfchen zu zählen . . . man glaubt einen Spring-
brunnen, eine Art lebender Fontäne zu sehen . . .,
in einer Nacht kann aus einer einzigen Blattspitze
etwa ^/jo Liter ausgeschleudert werden."')
Wie ist nun eine solche einseitige Auspressung
von Wasser zu erklären. Schon Bernstein hat
dazu die Wirkung des Potentialgefälles der Plas-
mamembran in Anspruch genommen: elektro-
osmotische Membrantheorie. Er hat insbesondere
den Wasseraustritt, der bei Reizung von Mimosa-
blättern innerhalb der Blattgelenkpolster erfolgt,
auf die dabei auftretenden Aktionsströme zurück-
geführt. Nathansohn stellt sich die Verhält-
nisse folgendermaßen vor: An den kapillaren
Plasmamembranen treten Spannungsdifferenzen aui
und zwar ist „die Innenseite der Zelle gegen die
äußere positiv geladen". Daher muß eine ein-
wärts gerichtete elektrisch betriebene Wasserbe-
wegung, ein Einströmen von Wasser in die Zelle
erfolgen ; dem entgegen wirkt der Filtrationsstrom,
der durch den Gegendruck der Membran bewirkte
Ausstrom. Ist die Membran allseits mit gleichen
Eigenschaften ausgestaltet, dann geht der Ein-
und Ausstrom ebenfalls gleichmäßig vor sich, eine
einseitige Wasserbewegung kann nicht stattfinden ;
dagegen muß sofort einseitiger Wassertransport
sich einstellen, wenn sich die Eigenschaften der
Membran an irgendeiner Stelle ändern, denn mit
einer solchen Qualitätsänderung der Plasmahaut
muß auch entweder der Filtrationswiderstand
(Ausstrom) oder der elektromotorische Einstrom
ein anderer werden. Ist also an einer Seite der
Zelle die Membranqualität in bestimmter Weise
modifiziert, „so wird ein konstanter Wasserstrom
sich durch die Zelle bewegen und zwar nach der
Richtung, in welcher die Druckfiltration gegen-
über der Elektroosmose stärker gefördert ist".
Damit wäre eine Erklärung für das Phänomen der
einseitigen Wasserauspressung gegeben; Voraus-
setzung ist ein polarer Gegensatz zwischen Außen-
und Innenseite der Zellen und zwar wahrschein-
lich ein ungleichseitiger Filtrationswiderstand.''')
1) H. Molisch, Pflanzenphysiologie als Theorie der
Gärtnerei, III. Aufl., S. 54. Jena 1920.
Die einseitige Wasserauspressung äußert sich
bei Pflanzen nicht nur als Guttation, auf ihr be-
ruht auch das Phänomen des B 1 u t e n s. Wird
vor der Blattentfaltung im Frühling ein Ast eines
Baumes angeschnitten, so tränt oder blutet er,
aus den durch den Schnitt bloßgelegten Wasser-
leitungsröhren, den Gefäßen des Holzes tritt eine
wässerige Flüssigkeit hervor; dies kommt davon,
daß die lebenden Zellen, die an das Wasser-
leitungssystem grenzen, einseitig Flüssigkeit aus-
pressen und zwar in die Leitungsröhren hinein.
Der Blutungsdruck ist recht bedeutend und es
fließen oft beträchtliche Wassermengen (36 1 bei
einer Birke in 8 Tagen) aus. Auch für diesen
Blutungsdruck und sein Zustandekommen gilt
natürlich die Theorie Nathansohns und dieser
berechnet, daß auch die quantitative Seite des
Problems dabei verständlich wird.
Von einer ganz anderen Fragestellung aus-
gehend hat sich 1919 K.Stern zur Aufgabe ge-
macht, den Einfluß der Elektrizität, speziell der
elektroosmotischen Erscheinungen auf Wasser-
aufnahme, -abgäbe und -bewegung genauer ex-
perimentell zu studieren. Den Ausgangspunkt
bildet ein Versuch, den Lemström,-') der be-
kannte Vertreter der Elektrokulturbestrebun-
gen ausgeführt hatte. Über die Frage, ob die
Elektrizität das Pflanzenwachstum zu beeinflussen
eventuell zu begünstigen vermag und ob mit ihrer
Hilfe eine Ertragsteigerung der Kulturpflanzen
erzielt werden kann, besteht eine unübersehbare
und weit zurückreichende Literatur. Bei den
Elektrokulturversuchen wurde in neuerer Zeit die
Elektrizität in der Regel so zugeführt, daß in
einer Entfernung von i m oder mehr vom Boden
isolierte Drahtnetze ausgespannt und mit hoch-
gespannten Strömen beschickt wurden; ein
schwacher elektrischer Strom geht dabei durch
die Luft auf die Pflanze und in die Erde über.
Lemström, dessen Elektrokulturberichte seiner-
zeit viel Aufsehen erregten, will unter günstigen
Verhältnissen 45 "/q Ertragssteigerung im Minimum
erzielt haben. Zur Erklärung dieser vielverheißen-
den Erfolge zog er einen physikalischen Modell-
versuch heran, bei dem es sich um folgendes
handelt: Eine Glaskapillare taucht in ein Gefäß
mit Wasser; von ücm Wasser führt eine strom-
leitende Verbindung zur Erde; in einer mäßigen
Entfernung über der Kapillare befindet sich eine
Metallspitze angebracht ; diese ist in leitender Ver-
bindung mit dem negativen Pol einer Influenz-
maschine. Wird die Maschine in Gang gesetzt,
so daß ein elektrischer Strom von ihr durch die
Luft und die Kapillare zum Wasser geht, dann
steigt das Wasser in der Kapillare nach aufwärts
'') Eine einseitige Verschiedenheit (der Plasmapermeabili-
tät oder des Chemismus) der Zelle hat man auch schon früher
für das Zustandekommen solcher Sekretion verantwortlich ge-
macht. Vgl. Jost, Pflanzenphysiologie, S. So. 1913.
ä) S. Lemström, Elektrokullur. Erhöhung der Ernte-
erträge aller Kulturpflanzen durch elektrische Behandlung. 1902.
N. F. XX. Nr. \^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
251
und tritt am oberen Ende in Tropfen aus. Es
handelt sich dabei jedenfalls um eine elektro-
osmotische Erscheinung, wie sie eben in strom-
durchflossenen Kapillaren vor sich geht. In den
Pflanzen erfolgt das Aufsteigen der von den
Wurzeln aufgenommenen Nährlösung durch ein
Kapillarröhrensystem, die Gefäße des Holzkörpers.
Es muß demnach auch in den Pflanzen bei den
Elektrokulturversuchen eine analoge Wasserhebung
sich einstellen wie bei dem geschilderten Kapil-
larenversuch. Der die Pflanze durchfließende
Strom muß den Wassertransport in den Gefäßen
fördern, dadurch auch die Wasserabgabe (Tran-
spiration 1}) erleichtern und so würde eine reich-
lichere Durchströmung mit Nährsalzen erzielt, wor-
auf nach Lemström der günstige Erfolg der
Elektrokultur beruht.
K. Stern hat hier anknüpfend die Frage
experimentell zu beantworten gesucht: „Findet
wirklich bei einer Versuchsanstellung wie der
Lemströmschen ... eine nachweisbare elektro-
motorische Wasserbewegung statt und wenn, ist
sie von der Größenordnung, daß die durch sie
verursachte Mehraufnahme von Wasser und Nähr-
salzen eine Erklärung für die angeblichen Elektro-
kuhurerfolge abgeben kann."
Die Versuchsanstellung gestaltete sich im
wesentlichen folgendermaßen: Oberhalb der Pflanze
in einer Entfernung von 20 — 200 cm war ein mit
nach abwärts gekehrten Spitzen versehenes Draht-
netz isoliert angebracht; dasselbe stand mit dem
einen Pol einer Influenzmaschine in Verbindung.
Die Versuchspflanze tauchte in einem Potometer
in Wasser; es ist dies ein einfacher Apparat, der
die Wasseraufahme, das Trinken zu messen ge-
stattet. Die IVlessungen ergaben, daß keine merk-
liche Veränderung, Begünstigung der Pflanzen-
saugung zu erkennen war, wenn der Strom durch
die Pflanze geht. Bei dieser der Elektrokultur
im wesentlichen entsprechenden Versuchsanord-
nung ist also ein erkennbarer elektroosmotischer
Effekt innerhalb der Pflanze nicht zu erzielen.
Damit schienen ältere Versuche Engelmanns
nicht in Übereinstimmung zu stehen, wobei mit
pflanzlichen Geweben (Diaphragmen von Kar-
toffeln, Möhrenscheiben) elektroosmotische Was-
serverschiebung erzielt worden war. Stern führte
zur Nachprüfung analoge Diaphragmenversuche
mit Weidenzweigstückchen durch. Tatsächlich
ließ sich dabei die Überführung der Flüssigkeit
nach dem negativen Pol konstatieren. Es stellte
sich aber heraus, daß die elektroosmotisch über-
führte Flüssigkeitsmenge verschwindend klein ist
gegenüber der durch die Transpiration bedingten
Wassersaugung; am Potometer kommt sie daher
'J Die angeblich auf elektrische Behandlung hin sich ein-
stellende Transpirationssteigerung könnte möglicherweise auch
auf eine Förderung der Öffnungsbewegung der Spaltöffnungen
zurückführbar sein; eine solche wiU Fr. Darwin durch
schwache Ströme tatsächlich erzielt haben. Bei Versuchen an
Bohnen konnte Stern unter F.lektrokulturbedingungen kein
Uffnen der Stomata beobachten.
bei der Messung gar nicht zum Ausdruck. Die
Versuche sowohl am lebenden Diaphragma als
auch am Potometer beweisen also übereinstim-
rnend, daß die Lemströmsche Anschauung nicht
richtig ist. „Die Größe der bei der Lemströ m-
schen Versuchsanordnung elektroosmotisch über-
führten Wassermenge ist so minimal, daß sie
keinerlei wachstumsfördernden Einfluß durch ver-
mehrte Wasser- und Nährsalzaufnahme bedingen
kann." Elektroosmotische Vorgänge vermögen
aber auch nach der Ansicht Sterns in anderer
Hinsicht sehr wohl eine Rolle im Pflanzenleben
zu spielen und zwar bei der aktiven Wasseraus-
scheidung; man könne den Versuch mit dem
Weidenzweigstück geradezu als „künstliches Bluten"
bezeichnen. Daß auch das natürliche Bluten auf
diese Weise zustande kommt, dafür sind in den
lebenden Pflanzengeweben die Voraussetzungen
gegeben: Membranen, Potentialdifferenzen, Lokal-
ströme. Die dabei ausgelösten Kräfte sind nach
Sterns Berechnungen von der Größenordnung,
daß sie „wohl zur Erklärung auch der höchsten
Blutungsmengen ausreichen würden". Man sieht,
Stern kommt zu ganz ähnlichen Vorstellungen
wie Nathansohn.
In einer anderen kurzen Mitteilung (1919) er-
örtert Stern die Frage, ob die Erscheinung der
sog. negativen Osmose, die den elektro-
osmotischen Vorgängen zuzurechnen ist, auch in
pflanzlichen Zellen zur Geltung kommen dürfte.
Die Entdeckung des interessanten Phänomens der
negativen Osmose verdanken wir Dutrochet.
Ein mit einer Schweinsblase verschlossenes Osmo-
meter wurde mit Regenwasser gefüllt und in eine
Oxalsäurelösung eingestellt. Nach den Gesetzen
osmotischer Saugung war zu erwarten, daß im
Steigrohr die Flüssigkeit sinken würde; sie stieg
aber; und umgekehrt sank sie, wenn außen reines
Wasser, innen im Osmometer aber sich die Oxal-
säurelösung befand. Solche negative Osmose tritt
auch mit anderen Säuren ein, und zwar bei
schwacher oder mittlerer, nicht aber bei starker
Konzentration; desgleichen hat sie Bernstein
festgestellt an Osmometern mit semipermeablen
Niederschlagsmembranen. Es ist daher möglich,
ja sogar wahrscheinlich, daß auch in pflanzlichen
Zellen, bei denen die Plasmamembran häufig ein-
seitig an sauren Zellsaft grenzt, negative Osmose
auftritt ; dann müßte sie aber auch ein förderndes
oder hemmendes Prinzip abgeben bei Wasserver-
schiebungen und dem Zustandekommen von Innen-
druckverhältnissen. ^)
Bei dem oben kurz geschilderten Elektrokultur-
verfahren fließt nicht nur ein Strom durch Luft
und Pflanze, in der Luft stellt sich ferner auch
die Erscheinung des elektrischen Windes ein und
außerdem erfolgt eine Vermehrung ihrer Ionisation.
Die Erscheinung des elektrischen Windes,
') Vgl. dagegen Collander (1920) (Pflügers Archiv
Bd. 185) und Barte 11 1920 über anomale Osmose. Ber. ge-
samt. Physiolog. 4, 167.
25ä
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. i;
d. i. der Luftbewegung, die entsteht, wenn die
Elektrizität aus Spitzen ausströmt, machte G a ß n e r
für die Erfolge der Elektrokultur und zwar durch
Steigerung der Transpiration verantwortlich. Daß
aber auch die Vermehrung der Ionisation und die
damit im Zusammenhange stehende Erhöhung
der elektrischen Leitfähigkeit der At-
mosphäre^) für das Lebensgetriebe der Pflanzen
nicht bedeutungslos ist, haben die Arbeiten von
Rose Stoppel recht wahrscheinlich gemacht.
Die lonenmenge der Atmosphäre ist u. a. be-
dingt durch ihren Emanationsgehalt. Sollte nun
tatsächlich, wie Stoppel annimmt, die elektrische
Leitfähigkeit der Atmosphäre, die eine Funktion
der lonenmenge darstellt, für viele Lebensprozesse
von Einfluß sein, so müssen durch Erhöhung des
Emanationsgehaltes diese Lebensvorgänge beein-
flußbar sein. Stoppel hat diese Hypothese in
bezug auf die Atmung geprüft. Von den Ver-
suchspflanzen — Zweige von Kastanien und ein-
getopfte Bohnenkeimlinge — wurden stets je zwei
gleichzeitig verwendet, die eine kam in eine nor-
male Atmosphäre, die andere in eine solche, deren
elektrische Leitfähigkeit durch Radiumwirkung
gesteigert war. Bei sonst nach Möglichkeit
gleichartig gestalteten Außenbedingungen kam
also nur als einziger verschiedenartiger Außen-
faktor der Gehalt der Luft an Emanation in Be-
tracht. Obwohl die Versuchsresultate keineswegs
völlig einheitlich ausfielen, so konnte doch ent-
nommen werden, daß bei Aesculus die Atmungs-
intensität zunimmt, wenn durch ein Radium-
präparat der lonengehalt und die Leitfähigkeit der
Luft gesteigert wird. Dadurch ist also festge-
stellt, daß zwischen derLeitfähigkeit der
Atmosphäre und der Atmungsintensität
eine Beziehung besteht. Wie ist diese zu
verstehen ? Stoppel knüpft bei ihrem Erklärungs-
versuch an die besprochene elektrolytische At-
mungstheorie von N a t h a n s o h n an: „Wenn nun
aber der physiologische Verbrennungsvorgang
durch das Vorhandensein elektrolytischen Wasser-
stoffs so gefördert wird, so muß in entsprechen-
der Weise dieser Vorgang auch dadurch erleichtert
werden, daß in der Atmosphäre ionisierter Sauer-
stoff reichlich vorhanden ist, und derselbe leicht
an den Ort des Verbrauches herangeführt wird.
Dies geschieht bei starker Ionisation und guter
Leitfähigkeit der Atmosphäre. Es ist klar, daß
der Energiegewinn für den Organismus ein weit
höherer sein wird, wenn sich der Atmungsvorgang
') Obwohl die Gase zu den besten Isolatoren gehören,
besitzen sie doch ein nicht unmerkliches Leitvermögen; so
kommt es, daß ein geladener Leiter trotz bester Isolierung
durch „Zerstreuung der Ladung in die umgebende Luft" einen
Ladungsverlust erleidet. Die Intensität dieses Ladungsver-
lustes gibt ein Maß ab für das Leitvermögen der Atmosphäre
und dieses wird daher mit Hilfe sog. Zerstreuungsapparate
gemessen. Die Elektrizitätsleitung der Luft beruht auf der
Anwesenheit von Ionen, für das Leitvermögen ist neben der
lonenzahl noch die Beweglichkeit der Ionen maßgebend. Vgl.
Mache und Schweidler, Die atmosphärische Elektrizität.
1919.
als lonenreaktion und nicht in molekularer Form
abspielt." Die Annahme lag weiter nahe, daß
nicht die Atmung allein, sondern unmittelbar oder
mittelbar auch der Ablauf anderer Lebensvor-
gänge durch die Leitfähigkeit der Atmosphäre
und ihre Veränderungen beeinflußt werden dürften.
Die Leitfähigkeit der Atmosphäre ist keines-
wegs zu allen Tages- und Jahreszeiten die gleiche.
Die Jahresperiodiziiät zeigt das Minimum im De-
zember, das Maximum im Juh. Die tages-
periodischen Schwankungen der Leit-
fähigkeit weisen nach den in Davos und Pots-
dam angestellten Beobachtungen das Hauptmaxi-
mum ungefähr morgens um 4 Uhr auf, das Haupt-
minimum vormittags; meist läßt sich ein weiteres
kleineres Maximum zu Mittag und ein ebensolches
Minimum gegen Abend feststellen. Gibt es nun
periodische Erscheinungen im Pflanzenreiche, die
mit dieser Periodizität der elektrischen Leitfähig-
keit der Luft in Zusammenhang gebracht werden
könnten. Stoppel hat dies in einer der eben
besprochenen zeitlich vorangehenden Arbeit für
die Schlafbewegungen der Blätter der
Bohne in Erwägung gezogen.
Die Blätter mancher Pflanzen nehmen tags-
über eine andere Stellung ein als des Nachts, sie
führen periodische Schlaf bewegungen aus; die
Nachtstellung ist dadurch ausgezeichnet, daß sich
die Blätter oder Teilblättchen aus der tagsüber
eingenommenen Lage entfernen und in die verti-
kale Lage übergeführt werden, entweder richten
sie sich dabei nach oben auf oder aber sie wer-
den nach unten geschlagen (z. B. bei der Bohne,
Phaseolus). Diese in regelmäßigem Rhythmus
täglich sich wiederholenden Bewegungen waren
schon seit langem Gegenstand eingehender Unter-
suchungen, insbesondere Pfeffer hat grund-
legende Studien darüber veröffentlicht. Dabei
interessierte vor allem die Frage, ob es sich um
einen autonomen durch innere derzeit unerforsch-
liche Lebensvorgänge bedingten Rhythmus handelt,
der sich auch bei völliger Konstanz aller äußeren
Faktoren einstellt, oder ob äußere periodische Er-
scheinungen der Umwelt den Bewegungsrhythmus
auslösen. Da sich schließlich zeigte, daß für die
zeitliche Fixierung der periodischen Bewegungen
weder das Licht noch Schwankungen der Tem-
peratur, der Luftfeuchtigkeit, des Barometerdruckes
oder der Schwerkraft noch auch eine Festlegung
durch Vererbung verantwortlich zu machen ist,
war man geneigt, die Blattbewegungen als auto-
nom geregelt anzusehen — nur ein einziger unter
den gegebenen Versuchsbedingungen periodisch
sich verändernder Außenfaktor war bisher noch
nicht als dafür verantwortlich in Erwägung ge-
zogen worden, nämlich die Veränderungen in der
Luftelektrizität und zwar des Leitvermögens. *)
') Auch die in der Atmosphäre auftretenden Potential-
differenzen weisen periodische Schwankungen auf; dieser
zweite Faktor der luftelektrischen Erscheinungen kommt jedoch
bei den Versuchsbedingungen in geschlossenen Räumen nicht
in Betracht.
N. F. XX. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
253
r
Die Annahme, daß diese dabei eine Rolle spielen
könnten, mußte zunächst äußerst kühn erscheinen
denn es war auf pflanzenphysiologischem Gebiete
überhaupt noch nichts darüber bekannt, daß dieser
bisher vollkommen übersehene Außenfaktor irgend-
wie in das Lebensgetriebe der Pflanzen einzu-
greifen vermöchte. Die erste Stütze fand die
Vermutung durch den Vergleich der Normalkurve
von Bohnenblättern mit den die Schwankungen
der Leitfähigkeit der Atmosphäre darstellenden
Kurven. Laßt man die etiolierten Blätter einer
unter Konstanz aller bei pflanzenphysiologischen
Untersuchungen im allgemeinen zu berücksichti-
genden Umweltfaktoren gezogenen Bohne (Dunkel-
pflanze) ihre Bewegungen registrieren, so erhält
man charakteristische Kurven, die Stoppel als
Normalkurven bezeichnet. Aus dem Verlauf dieser
Kurven ist ersichtlich : die 24 stündige Periodizität
der Blattbewegungen und daß das Blatt in den
«ruhen Morgenstunden zwischen 3 und 5 Uhr am
häufigsten um 4 Uhr, am tiefsten gesenkt ist,' was
in einem Gipfelpunkt der Kurve zum Ausdruck
kommt. Wir haben bereits erwähnt, daß der
Kulminationspunkt der Leitfähigkeitskurven um
4 Uhr morgens erreicht wird, also genau zur
selben Zeit, in der die Blätter ihren Tiefstand
einnehmen. Der übereinstimmende Verlauf dieser
beiden Kurven spricht sehr für einen Zusammen-
hang der Erscheinungen. Immerhin war es zu-
nächst eine gewagte Annahme einen solchen zu
postulieren. Die Periodizität der Leitfähigkeit war
bisher stets in der freien Atmosphäre unter offe-
nem Himmel gemessen worden ; es fehlte die Er-
mittlung, ob unter Verhältnissen, wie sie bei den
Versuchen mit den Bohnen herrschten, in ge-
schlossenen Räumen bei sonst konstanten Außen-
bedingungen ein solcher rhythmischer Wechsel in
der Leitfähigkeit überhaupt stattfindet. Diese
bedenkliche Lücke in ihrer Beweisführung hat
Stoppel 1919 ausgefüllt durch iVIessung der
r^eitfahigkeit und des lonengehaltes der Atmo-
sphäre im geschlossenen Raum bei konstanten
Licht- und Temperaturverhältnissen. Es ergab
sich, daß die Leitfähigkeit auch unter diesen Ver-
haltnissen, insbesondere bei dauernder Dunkelheil
einem tagesperiodischen Wechsel unterlag; in den
ersten Morgenstunden — meistens zwischen 2 und
6 Uhr — ist sie am größten, im Laufe des Tages
erreicht sie den niedrigsten Wert.
Stoppel hat sich nicht damit begnügt die
auffallende Übereinstimmung der genannten Kur-
ven zugunsten ihrer Annahme zu buchen, sie war
bestrebt, durch verschiedene Versuche den Einfluß
der Elektrizität auf die periodischen Bewegungen
der Bohnenblätter zu erweisen; dabei ging sie
von der Überlegung aus, daß die Pflanze auf einem
Potential sem müsse, das dem der Atmosphäre
nicht völlig gleichkommt. Dafür sprach zunächst
folgende Beobachtung; ein Berühren der Pflanze
oder auch nur ein Anfassen des Topfes hat eine
vorübergehende Störung in der von den Blättern
registrierten Kurve zur Folge; dabei dürfte es sich
jedenfalls um eine Änderung der Ladung durch
Ableitung handeln. Eine Störung der normalen
Blattbewegungen trat auch ein, wenn unter den
Topf ein Glasteller geschoben und so eine Iso-
lierung von der Erdoberfläche bewirkt wurde.
„Der Gang der Bewegungen zeigte alsbald eine
Störung an, die Größe der Ausschläge wurde
stark vermindert." Nach Entfernen der Isolations-
schicht setzte sofort die frühere Bewegungstätig-
keit wieder ein. Eine weitere Versuchsreihe hatte
zum Ziel, die Pflanze von der Luftelektrizität ab-
zusperren ; bis zu einem gewissen Grade war dies
zu erreichen durch isoliertes Aufstellen derselben
innerhalb eines rings geschlossenen feinen (Loch-
weite I mm) mit der Erde verbundenen Draht-
gitters. Sowie das Gitter geerdet wird, macht
sich eine Störung in der Blattbewegung bemerk-
bar, es treten ganz unregelmäßige aperiodische
Bewegungen auf; wird die Pflanze aber aus dem
Gitter herausgenommen, so kommt die frühere
Periodizität wieder zum Vorschein. Diese und
noch andere Versuchsergebnisse sprechen dafür,
daß die periodischen Veränderungen der atmo-
sphärischen Leitfähigkeit die Blattbewegungen
rhythmisch regulieren; allerdings ein entscheiden-
des Experiment steht noch aus: nämlich „durch
ein periodisch wechselndes Herauf- und Herab-
setzen der Leitfähigkeit der Atmosphäre die
Blätter zu dem entsprechenden Bewegungsrhyth-
mus zu veranlassen".
Stoppel vermutet auch für noch andere
periodische Erscheinungen des Pflanzenreiches
einen Zusammenhang mit dem Rhythmus der
elektrischen Lufterscheinungen und hat sich in
theoretischen Erörterungen mit dieser Frage ein-
gehend auseinandergesetzt. Sie weist hio auf die
periodischen Schwankungen des osmotischen
Druckes, bei denen das Minimum in die Morgen-
stunden fällt, auf die rhythmische Häufung von
Kernteilungen, wobei das Maximum bei Zea urn
4 Uhr morgens erreicht wird, ^) auf die Periodi-
zität des Blutungsdruckes der Pflanzen und vieles
andere. Vielleicht übt auch die Jahresperiodizität
der Leitfähigkeit auf das Pflanzenleben einen Ein-
fluß aus. Dabei wäre an das Zustandekommen
der Winterruhe zu denken, die sich als von den
übrigen Außenfaktoren recht unabhängig erwies;
durch Radiumwirkung (Bestrahlung, noch präg-
nanter aber Emanation) läßt sich nach Molisch =)
die Ruheperiode abkürzen; Stoppel erwägt die
Möglichkeit, diese Radiumwirkung könnte bedingt
sein durch Erhöhung der winterlich niederen
Leitfähigkeit auf ein günstiges Maß.
•Auch die normale und pathologische Fhysio-
•) Auch eine Steigerung der Zellteilungsinttnsiläl durch
schwache btrome wurde neuerdings konstatiert: M G St.U-
felt Über die Schwankungen in der Zellteilungsfrequenz bei
, °r ii'/ ''°° ''''"™ sativum, 1919. Svensk Botani.k Tid-
sknft, Bd 13 und ebenda 1920 Bd. 14, Ein neuer Kall von
tagesperiodischem Rhythmus.
'■') "• Molisch, Über das Treiben von Pflanien mittels
Radium. bitz.-Ber. Akad. Wissensch. Wien 1913, Bd. 121.
:54
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 17
logie des Menschen kennt periodische Erschei-
nungen, für die auslösende Faktoren bisher nicht
mit Sicherheit eruiert werden konnten, so die
Schwankungen der Körpertemperatur, der Atmungs-
intensität, der Pulsfrequenz, des Blutdruckes, der
Intensität der Herztätigkeit. „Das Minimum liegt
stets zwischen 2 und 4 Uhr morgens."
Wenn auch in all den referierten Arbeiten das
experimentell ermittelte Tatsachenmaterial in
einem gewissen Mißverhältnis zu dem kunstvoll
aufgetürmten Hypothesengebäude steht, so geht
doch zumindest das eine mit überzeugender Deut-
lichkeit daraus hervor; Für dieElektrophysiologie,die
nach großen anfänglichen Erfolgen lange Zeit keine
ersprießliche Weilerentwicklung mehr gefunden,
scheint nunmehr eine verheißungsvolle neue Periode
anzubrechen. Für den erfolgreichen Ausbau dieses
Wissenszweiges fehlt nach R. Keller ein wich-
tiger Grundstein. Als dringendste Aufgabe der
physikalischen Zellchemie erscheint ihm „eine Er-
forschung der Elektrizitätsverteilung in der leben-
den Zelle, eine Art Zellelektrohistologie", nach
botanischem Sprachgebrauche eine Elektroanatomie
der Zelle und der Gewebe. Als Privatforscher
kämpft Keller mit den verschiedensten Schwie-
rigkeiten, mit seltener Ausdauer ist er bemüht sie
zu überwinden. Um eine Elektrohistologie
zu schaffen benötigt er vor allem eine brauchbare
Methode des mikroskopischen Elektrizitätsnach-
weises an lebenden Zellen. Seine Bemühungen
laufen daher vor allem darauf hinaus eine solche
Methode ausfindig zu machen; er läßt sich dabei
von dem Gedanken leiten, daß die bisherigen
„Lebendfärbungen" ^) von Schnitten nicht rein
chemisch erklart werden dürfen, daß sie vielmehr
stark beeinflußt werden von den elektrischen La-
dungen der Zeilen. Solche rein chemisch gedachte
Färbungen sind z.B. Unnas Methode des Sauer-
stoffortnachweises, Keller deutet sie als reine
Anodenfarbung und MacCallums Kaliumnach-
weis, Keller hält ihn für eine reine Kathoden-
färbung. Bei seinen eigenen Versuchen an pflanz-
lichen und tierischen Gewebspräparaten ein kon-
trastreiches Kaihodenbild zu erzielen, ging K. zu-
nächst in folgender Weise vor: Die Schnitte wer-
den in lOproz. Eisenchloridlösung gebracht, nach
einigen Minuten kurz in Wasser abgespült, hierauf
mit einem Deckglas bedeckt, auf dem sich ein
Tropfen gesättigter Ferrozyankaliumlösung in
Glyzerin befindet. „Die Kathoden des Gewebes
hatten das Eisenkation an sich gezogen, das dann
von dem. Blutlaugensalz als Berlinerblau ausgefällt
wurde." Das Kathodenbild ist zumal bei Pflanzen
„überaus scharf und leicht reproduzierbar". Zu
solchen Versuchen, durch die eine Elektropolarität
der Gewebe ermittelt und mit der Zeit ein quali-
tativer Atlas der Elektrohistologie geschaffen wer-
den soll, verwendet K. von pflanzlichem Material
^) Leider wird der Ausdruck Lebeudfärbung nicht in ein-
deutigem Sinne verwendet; Keller ist allerdings der Über-
zeugung, daß ,, Pflanzenschnitte ihre charakteristischen Lebend-
Indungen ungemein sähe nach dem Absterben festhalten".
mit Vorliebe Stammquerschnitte durch Araucaria,
ferner Blattstielquerschnitte verschiedener Objekte
und Querschnitte von Monokotylenwurzeln. Beim
Araucaria-Stämmchen wird die Ladung des Quer-
schnittsbildes so geschildert : Rinde (primäre ?) und
Bast kathodisch, Holz des letzten Jahresringes
stark, der älteren Jahresringe schwach anodisch,
Mark unelektrisch. Als Anodenbild deutet und
verwendet K. die Färbung, die mit Unnas Ron-
galitweiß-Verfahren zu erzielen ist. Diese Methode
soll bekanntlich darauf beruhen, daß eine durch
die Reduktionskraft des Rongalit farblos gemachte
Meihylenblaulösung an den Sauerstofforten der
Gewebe, also dort, wo sich ein Überschuß an
Sauerstoff befindet, zurückoxydiert wird und wie-
der in Blau umschlägt. ^) Da an den Anoden
freier Sauerstoff auftritt, so deutet K. die U n n a -
sehen Sauerstofforte als Anodenbilder; er hat mit
dem „R.W.- Verfahren" fast alle Teile der Pflanze
behandelt ; eine Iriswurzel z. B. zeigt dabei im Quer-
schnitt die Gefäße und besonders die U-förmig ver-
dickte Endodermis tief blau, im Perizykel und der
primären Rinde sind die Zell wände nicht blau, aber
der Zellinhalt leicht gebläut. Neuestens verwendet
K. auch verschiedene Farbstoffe zur Erzielung von
Kontrastbildern, z. B. Safranin, das er als einen
der bequemsten Übersichtsfarbstoffe bezeichnet,
weil es „in seiner gelbroten kathodischen und
kirschroten anodischen Nuance sehr rasch über
die Hauptpolarität orientiert". Bei all diesen
Tinktionen handelt es sich — wie auch aus den
beigegebenen Abbildungen ersichtlich ist — zum
großen Teil um Membranfärbungen und nicht,
wie bei den eigentlichen Vitalfärbungen pflanz-
licher Objekte, um Farbstoffspeicherung innerhalb
des Zellsaftraumes. ^) K. gibt selbst zu, daß eine
rein elektrostatische Beurteilung mikroskopischer
Färbungen ebensowenig zu verantworten wäre
als eine „nichts als chemische". Er sucht durch
Nachprüfung mit Hilfe elektrischer Meßinstrumente
eine Bestätigung der auf Grund seiner Färbungen
erschlossenen Ladungsverteilung zu erhalten.
Meistens jedoch „sind die Ladungen so fein mikro-
skopisch verteilt, daß es unmöglich scheint mit
den groben Pinselelektroden die gefundenen
Potentialunterschiede nachzuprüfen". Bei Quer-
schnitten durch Araucaria Äste, die ziemlich breite
Flächen gleichnamigen, Potentials darbieten, ge-
lang dies immerhin und es zeigte sich eine ge-
naue Übereinstimmung in bezug auf die mit der
Berlinerblaumeihode erschlossene Ladungsvertei-
lung. K. glaubt daher auf Grund seiner Erfolge
mit dem Rongalitweißverfahren , der Kathoden-
färbung (Gegenprobe) und der Galvanometer-
') Nach „neuen Studien zur Darstellung der Keduktions-
und Sauerstofforte der Pflanzenzelle" von H. Schneider
(Zeitschr. f. wiss. Mikroskopie 31, 1914) scheinen allerdings
zumindest bei pflanzlichen Zellen Sauerstofforte gar nicht zu
existieren.
') Über die KoUe, die bei Vitalfärbungeu der elektrische
Ladungssinn der Farbstoff kolloide spielt, siehe Ruhland,
Berichte deutsch, bot. Ges. 31, 1913.
N. F. XX. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
2SS
nachprüfung „auf recht sicherem Boden" zu stehen
und einen rohen Überblick über die Verteilung
der mikroskopischen Elektrizitätsladungen in Tier
und Pflanze bereits gewonnen zu haben.
Es wäre jedenfalls zu begrüßen, wenn noch
von anderer fachmännischer Seite die Bearbeitung
dieses Gebietes in Angriff genommen würde.
Überhaupt dürfte die vielversprechende bioelek-
trische Forschungsrichtung sehr gewinnen durch
Zusammenarbeiten verschiedener Spezialisten, denn
dem Einzelnen ist es heute nur mehr selten mög-
lich, sowohl auf physikalisch-chemischem als auch
auf biologischem Gebiete sich gleichzeitig die
nötige gründliche Vertrautheit mit dem Fach-
wissen in theoretischer und methodischer Hinsicht
anzueignen.
Literatur.
Bernstein, J., Elektrobiologie. Sammlung Die Wissen-
schaft, H. 44, iqi2.
Beutner, R., Die Entstehung elektrischer Ströme in
lebenden Geweben. Stuttgart 1920.
Eichwald und Fodor, Die physikalisch-chemischen
Grundlagen der Biologie. Berlin 1919.
Höber, R., Physikalische Chemie der Zelle und der
Gewebe. IV. Aufl. Leipzig 1914.
Keller, R., Die Elektrizität in der Zelle. Wien 191S.
Keller, R., Neue Versuche über mikroskopischen Elek-
trizitätsnachweis. Wien 1919.
Keller, R., Elektrohistolog. Unters, an Pflanzen und
Tieren, 1920.
Nathansohn, H., Über kapillarelektrische Vorgänge in
der lebenden Zelle. Kolloidchemische Beihefte. 11, 1919.
Nathansohn, H., Die physiologische Verbrennung als
elektrolytischer O.xydationsprozeß. Naturwissenschaften. 7, 1919.
Stern, K., Über elektroosmolische Erscheinurgen und
ihre Bedeutung für pflanzenphysiologische Erscheinungen.
Zeitschr. {. Botanik. 11, 1919.
Stern, K., Über negative Osmosen. Berichte deutsch,
bot. Ges. ,S7, 1910.")
Stoppel, R., Die Abhängigkeit der Schlaf bewegungen
von Phaseolus multiflorus von verschiedenen Außenfaktoren.
Zeitschr. für Botanik. 8, 1916.
Stoppel, R., Leitfähigkeit und lonengehalt der Atmo-
sphäre . . . Nachr. Ges. Wissensch Göttingen 1919.
Stoppel, R, Die Pflanze in ihrer B- Ziehung zur atmo-
sphärischen Elektrizität. Zeitschr. f. Botanik. 12, 1920.
') Auf eine weitere eben erschienene Arbeit von K.
Stern (1921) über polare elektronastische Erscheinungen (Ber.
d. bot. Ges. 39) kann nur mehr kurz verwiesen werden: Elek-
trische Reizung wirkt auf die Blattgelenke von Mimosa po-
lar verschieden, d. h, es löst der -)-- oder der — Pol eine
Bewegung aus, der andere Pol aber nicht. Mit dem Alter
findet eine Umstimmung der Blätter statt; so lange sie nicht
ganz jung sind zeigen sie -]-- Polarität, später mit zunehmen-
den Alter nehmen sie negative Polarität an.
[Nachdruck verboten.]
Ein neuer Weg der Schädljngsforschnng.
Von Dr. Leonhard Lindinger,
Vorstand der Schädlingsabteilung d.»s Instituts für angewandte Botanik zu Hamburg.
Durch die bekannten Folgen des Friedens-
schlusses für die landwirtschaftliche Anbaufläche
in Deutschland hat die Erforschung und Bekämp-
fung der Schädlinge und Krankheiten der Kultur-
pflanzen erhöhte Bedeutung erlangt.
Das Interesse der Naturwissenschaft an dem im
allgemeinen „Pflanzenschutz" genannten Forschungs-
zweig war von jeher rege. Botaniker und Zoo-
logen waren tätige Arbeiter und wetteiferten zu-
zeiten miteinander. Leider artete dieser Wett-
eifer im Lauf der Zeit in häßlicher Weise aus,
indem die Botaniker den Pflanzenschutz unter der
Begründung für sich in Anspruch nahmen, daß ja
die Pflanze dabei die Haupu ..-iie sei, und indem
sie den im Pflanzenschutz tätigen Zoologen die
dazu erforderliche allgemeine naturwissenschaft-
liche Vorbildung einfach absprachen.
Die Zahl der Pflanzenschutzanstalten nimmt
von Jahr zu Jahr zu. Die Literatur dieses in der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ent-
standenen Forschungszweiges ist kaum noch zu
überblicken. Und doch kann sich der schärfer
zusehende Beobachter des unbehaglichen Gefühls
nicht erwehren, es sei der ganze Pflanzenschutz
auf einem toten Gleis.
Durchblättert man z. B. die jährlichen Ver-
öffentlichungen der in Betracht kommenden An-
stalten, so stößt man, von einzelnen Ausnahmen
abgesehen, immer wieder auf die gleichen An-
gaben, Da und dort ist der und jener Schädling
aufgetreten, ist die und die Krankheit festge-
stellt worden. Der Kartoiifelki ebs breitet sich
aus und die Mäuse vermehren sich. Gegen die
Erdflöhe hat sich das und das Mittel bewährt
oder auch nicht bewährt. Im Winter hat es ge-
froren, im Herbst geregnet, auch liit die eine und
andere Pflanze stark unter Nachtfrösten im Früh-
jahr. Eine bestimmte Anstalt verkündet in allen
möglichen Tageszeitungen und Fachblättern, man
möge auf diesen und jenen Schädling achten und
Material einsenden, da sie eine Untersuchung vor-
bereite, oder ihr Personal vermehrt habe, oder
eine neue Abteilung errichtet habe, die die Schäd-
linge des Holunders z. B. erforschen soll. Die
Berichte der einzelnen Anstalten sind gut aufge-
zogen, die Kulturpflanzen fein säuberlich in Grup-
pen eingeteilt, usw.
Das alles erweckt den Anschein vollen Lebens
und eifriger Tätigkeit. Doch kommen wir auf
diesem Weg tatsächlich auch nur einen Schritt
weiter? Treten denn nicht alljährlich immer wie-
der dieselben Krankheiten und Schädlinge auf, ohne
daß man erfährt, warum ? Hat es wirklich Wert,
stets von frischem festzustellen, daß sich die
Mäuse vermehren?
Wenn fast jede neue Erkenntnis der Botanik
dem Pflanzenschutz dienstbar zu machen gesucht
wird, — ich erinnere an Winklers Vorschlag
der Reblausbekämpfung durch Schaffung einer
Chimäre der Rebwurzel — , so bezeugt das sicher
256
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. NV. 17
t
die allgemeine Erkenntnis von der Bedeutung
der Schädlinge, aber es beweist ebenso sicher die
grenzenlose Planlosigkeit, mit der der Pflanzen-
schutz arbeitet.
Der ganzen Sache fehlt nach meiner Über-
zeugung die sichere Grundlage, auf der zielbewußt
weitergebaut werden könnte. Das geht auch aus
den verschiedenen Bekämpfungsarten und • mittein
hervor, die verfochten und angewandt werden.
Ich nenne die chemisch-technische Methode, die
biologische Methode, die pflanzenschutzlichen
Vogelschutzbestrebungen, die gesetzlichen Verbote.
Daß diese Unsicherheit, die den Pflanzenschutz
kennzeichnet, tatsächlich auch von den in Betracht
kommenden Stellen gefühlt wird, dafür ist das
Entstehen der „Deutschen Pflanzenschutzorgani-
sation" der beste Beweis. Man empfand, daß
etwas Durchgreifendes geschehen müsse, schon
um der mächtig aufstrebenden zoologischen
Schädlingsforschung etwas entgegenstellen zu
können. Man vergriff sich aber in den Mitteln,
indem man die Pflanzenschutzstationen „organi-
sierte", anstatt die Arbeitsmethode einer Prüfung
zu unterziehen und nachzusehen, ob vielleicht darin
etwas nicht in Ordnung sei. Man verkannte voll-
kommen, daß die Forschung sich nicht organi-
sieren und auch nicht zentralisieren läßt (ist es
doch schon soweit gekommen, daß man von
„maßgebenden Stellen im Pflanzenschutz" sprach;
Baunacke, im Prakt. Ratgeber im Obst- und
Gartenbau 1920, Nr. 45). Es ist dringend zu
wünschen, daß dieser Weg so bald als möglich
verlassen werden möge, denn der Pflanzenschutz,
oder wie er neuerdings vorzugsweise genannt
wird, die Schädlingsforschung kann ebensowenig
als irgend ein anderer Forschungszweig in Fesseln
geschlagen werden; persönliche Ansichten und
Rücksichten haben zu schweigen und nur die
Tatsachen gelten.
Ich werde nun in einem Beispiel auf die bis-
herige Arbeitsweise des Pflanzenschutzes bei der
Feststellung von Schädlingen eingehen und dann
mit meinem neuen positiven Vorschag hervor-
treten, denn es genügt nicht, Bestehendes anzu-
greifen; man muß auch etwas anderes an seine
Stelle setzen können, das besseren Erfolg ver-
spricht.
Wenn ich in diesem und anderen, im Lauf
der Betrachtungsweise notwendigen Beispielen die
Schildläuse bevorzuge, so möge man mir das aus
dem Grund gütigst nachsehen, daß ich mich seit
beinahe zwei Dezennien mit der genannten
Schädlingsfamilie besonders befasse und genau
darüber unterrichtet bin, wie viel wir über sie
noch wissen müssen.
Um etwaige persönliche Verstimmungen zu
vermeiden, wähle ich einen fingierten Fall; genau
gleiche tatsächliche sind übrigens in den Berichten
der Pflanzenschutzstationen zu Dutzenden zu finden.
Also: „Im Bezirk Soundso ist im Berichtsjahr
Pulvinaria vitis sehr stark an der Rebe aufgetreten."
Was sagt mir diese Meldung? Nichts! Im
Gegenteil, sie gibt inir eine ganze Reihe von
Fragen auf, deren Beantwortung nach unseren
derzeitigen Kenntnissen, trotz der überaus umfang-
reichen Schädlingsliteratur, unmöglich ist. Um
welches Tier handelt es sich? Wenn die Bestim-
mung richtig ist und keine Verwechslung mit
Lecanium corni vorliegt, ist es Pulvinaria betulae,
die auf zahlreichen Pflanzen leben kann. Die
zweite Frage: Kommt das Tier in der Nachbar-
schaft der befallenen Reben auf anderen Pflanzen
gleichfalls zahlreich vor? Auf welchen? In wel-
cher Meereshöhe? Welche Lage hat der Fund-
ort? Welchen Boden? Wie ist der geologische
Untergrund? Fällt der Fundort aus dem Ver-
breitungsgebiet der Art heraus? usw. usw.
Die künftige Aufgabe der Schädlingsforschung
ist nun nach meiner Ansicht die genaue, syste-
matische Durchforschung Deutschlands auf seine
Schädlinge und die Zusammenstellung der Be-
funde nach Art der Floren. Bei jeder Pflanze
sind sämtliche auf der Art beobachteten Tiere
und Pflanzen (in der Hauptsache ja Pilze) genau
nach der Bodenart getrennt aufzuführen, ist die
Lage der Örtlichkeit hinsichtlich der Himmels-
richtung zu berücksichtigen, die Stärke des Auf-
tretens der einzelnen Schädlinge. Bei Kultur-
gewächsen sind die Schädlinge der zwischen ihnen
vorhandenen Unkräuter genau festzustellen, über-
dies die Düngungsarten, soweit sie sich erfahren
lassen.
Natürlich übersteigt eine solche Aufgabe, die
nichts weniger bezweckt als eine Art allgemeiner
Landeskunde, die Kräfte des Einzelnen wie die
der einzelnen Stationen. Ich denke mir deshalb
dies Unternehmen vornehmlich als eine Aufgabe
der naturwissenschaftlichen Vereine und Gesell-
schaften, welche nur zu häufig sich auf die Ver-
öffentlichung von Floren und Spezialfaunen ohne
Eingehen auf nähere Zusammenhänge beschränken.
In solchen Vereinen sind die besten Vorbedingun-
gen dafür erfüllt: das eine Mitglied ist ein guter
Kenner der Flora oder eines Teiles derselben, der
andere ist Spezialist in Gallen, wieder ein anderer
für Käfer usw. Das Thema kann natürlich in
jeder Weise variiert werden, z. B. kann man sich
auf die Feststellung der Schädlinge einer bestimm-
ten Pflanzenart beschränken, oder einer bestimmten
Bodenart. Ich denke mir solche Feststellungen
als geeignete Untersuchungen für Lehrer, oder
als Dissertationen an Universitäten, die bisher für
die Heimatkunde im allgemeinen und für die
Schädlingsforschung im besonderen nicht viel
übrig gehabt haben.
Um ein Beispiel zu nennen, erwähne ich die
vorzügliche „Flora der Umgegend von Nürnberg-
Erlangen" von A. Schwarz, worin deren Verf.
die Fundorte nach der geologischen Zugehörigkeit
getrennt aufführt. Bei der mit vielen Mitgliedern
der Nürnberger naturhistorischen Gesellschaft ge-
meinsam unternommenen Durchforschung des ge-
nannten Gebietes sind zahlreiche parasitische
Pilze aufgefunden worden, die P. Magnus als
N. F. XX. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
257
„Beiträge zur Pilzflora von Franken" in den Ab-
handlungen der Gesellschaft veröffentlicht hat.
Leider hat er darin die Unterscheidung nach
geologischen Horizonten unterlassen. Auch K.
Harz hat in seiner „Flora der Gefäßpflanzen von
Bamberg" (1914) die geologischen Horizonte be-
rücksichtigt.
Das ist aber noch nicht genug, es müssen
innerhalb der einzelnen Horizonte auch die ver-
schiedenen Bodenarten berücksichtigt werden, denn
z. B. im Keuper finden sich sowohl arme Sand-
ais auch schwere Lehmböden, deren Flora stark
verschieden ist. Man kann wohl annehmen, daß
sich auch das Auftreten von Schädlingen davon
abhängig zeigt, der Beweis dafür ist aber erst zu
erbringen. Ich verweise übrigens auch auf die
lesenswerten Ausführungen H.Schusters in der
naturwissenschaftlichen Monatsschrift „Aus der
Heimat" (33. Jahrg. 1920, Heft 11/12) über die
Schaffung von „Markungsfloren als Grundlagen
botanischer Heimatforschung".
Der Boden ist durchaus nicht gleichgiltig in
bezug auf das Auftreten und die Entwicklung der
Schädlinge. So habe ich z.B. bei der Schildlaus
Physokermes piceae feststellen können, daß sie
auf Lehmboden (bei Eriangen und am 0hl bei
Steinau im Kreis Schlüchtern) in sehr großen,
kräftigen Tieren an gut genährten Fichten lebt,
wogegen die kümmeriichen Fichten in Farmsen
und Alt- und Neu-Rahlstedt bei Hamburg nur
kümmerliche Tiere beherbergen. Nicht das Tier
ist schuld, daß die Fichten hier schwächlich sind,
sondern der ärmliche Boden kann nur schwache
Pflanzen und diese wiederum kleine Tiere ernähren.
Besonderer Wert ist darauf zu legen , daß
möglichst alle an ein und demselben Pflanzen-
individuum vorkommenden Schädlinge festgestellt
werden, um mit der Zeit einen Einblick in den
Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Schäd-
lingen und Pilzkrankheiten zu erhalten, den man
zurzeit stark vermutet. Aus dem gleichen Grund
sind die Gallen zu berücksichtigen; ich erinnere
an die sog. Ambrosiagallen, die Ross und
Neger näher erforscht haben.
Über das Auftreten von Schädlingen je nach
der Meereshöhe liegen ebenfalls noch keine ziel-
bewußten Feststellungen vor. Bei den Schild-
läusen habe ich z. B. bisher nur erkennen können,
daß im allgemeinen von SW nach NO verschie-
dene Arten in immer tieferen Lagen leben, die
Beweise im einzelnen sind aber sehr wenig zahl-
reich und erleiden mancherlei Ausnahmen.
Liegen erst einmal zahlreiche solche Zusammen-
stellungen vor, dann kann man auch daran gehen,
Schlüsse daraus zu ziehen. Das wird dann vor
allem Sache der Schädlingsanstalten und Pflanzen-
schutzstationen sein, ohne natüriich für sie
daraus ein Monopol zu machen. Wenn darauf
gesehen wird, daß innerhalb enger Bezirke mög-
lichst ein und dieselbe Örtlichkeit, womöglich
stets dieselben Pflanzenindividuen kontrolliert wer-
den, können auch wertvolle Aufschlüsse über das
periodische Auftreten einzelner Schädlinge ge-
wonnen werden. Auch mit dem Klima kann der
Zusammenhang hergestellt werden. Der eine wird
sich mehr für das Eine, der andere wieder für
etwas anderes besonders erwärmen; alles zu be-
rücksichtigen übersteigt, wie schon gesagt, die
Kräfte des Einzelnen.
Um nochmal die für solche Durchforschung
in Betracht kommenden hauptsächlich erforder-
lichen Feststellungen zu wiederholen, so ist zu
beachten :
1 . die wissenschaftlich einwandfreie Bestimmung
von Nährpflanze und Schädling,
2. die Einwirkung des Schädlings und seiner
Entwicklungsstände auf die Nährpflanze,
3. die Verbreitung des Schädlings in horizon-
taler und vertikaler Richtung,
4. die Abhängigkeit von Pflanze und Schäd-
ling von Lage, Boden und Klima,
5. die Beziehungen zwischen 'dem Auftreten
der Schädlinge und der Düngung,
6. der Zusammenhang zwischen der Verbrei-
tung des Schädlings und derjenigen seiner Nähr-
pflanzen,
7. das gemeinsame Vorkommen mit anderen
Schädlingen.
Wünschenswert ist es auch, die Beziehungen
von Bildungsabweichungen der Pflanzen, die in
keinen direkten Zusammenhang mit einem Schäd-
ling gebracht werden können, zu berücksichtigen.
Über das Ergebnis dieser Forschungen kann
natüriich gar nichts vorausgesagt werden, das muß
man der Zeit überiassen. Es ist möglich, daß
sie vielleicht ganz unerwartet sind. Aber sie wer-
den auf alle Fälle unanfechtbar sein und die
sichere Grundlage bilden, auf der die Maßnahmen
zur Bekämpfung und vor allem der Vorbeugung
der Pflanzenkrankheiten fußen können. Daß sie
außerdem auch der sog. reinen Wissenschaft kost-
bare Dienste leisten werden, braucht nicht eigens
hervorgehoben zu werden. Da in der ausgeführten
Weise alle Pflanzen, sowohl die wildwachsenden
als auch die kultivierten, in gleicher Weise be-
rücksichtigt werden müssen, wird man künftig
auch über die Heimat wichtiger Schädlinge besser
unterrichtet sein als jetzt, wo man in dieser Hin-
sicht vielfach noch im Ungewissen ist, ich erinnere
nur an die Reblaus und an den Kartoffelkrebs.
Ich kann meinen Anregungen nur noch den
Wunsch mitgeben: Mögen sie auf einen frucht-
baren Boden fallen!
258
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 17
Die xerotherme Ameiseniusel Saint Triphon.
[Nachdruck verboten.]
Von S. Galant.
Die Anhöhe von St. Triphon ') macht sich
schon von weitem her durch den auf einem ihrer
Hügel sich erhebenden Turm von St. Triphon,
ein 20 m hohes Quadrat von 10 cm Seitenlänge,
der stolz in die Landschaft hinausguckt, bemerk-
bar. Diese Anhöhe, die in historischer Hinsicht
sehr interessant ist, da die geschichtliche Rolle,
die sie gespielt hat, weit in die graue Prähistorie
hinaufreicht,-) ist auch naturwissenschaftlich nicht
ohne Interesse, und die wenigen Stunden, die ich
auf der Anhöhe von St. Triphon am 24. April 1920
zubrachte, geben mir den Anlaß zu glauben, daß
genauere und weitgehende Forschungen dieses
Hügels eine reiche naturwissenschaftliche Ernte
ertragen würde. Ich möchte hier über eine xero-
therme Ameiseninsel, die ich auf der Anhöhe von
St. Triphon entdeckt habe, berichten.
Wie erwähnt, besuchte ich die Gegend von
St. Triphon am 24. April 1920. Meine Absicht
war nicht, die St. Triphon-Hügel in allen Rich-
tungen hin zu durchqueren und weitgehende
naturwissenschaftliche Forschungen hier zu unter-
nehmen : es blieb mir keine Zeit dafür übrig. Ich
durchzog das Dorf St. Triphon und gelangte auf
die Straße, die zu St. Triphon -Gare und nach
Monthey (Wallis) führt. Einige hundert Meter
vom Dorf weit verließ ich die Straße, die mich
nach St. Triphon-Gare führen würde und schlug
den Weg durch eine Wiese zu meiner Rechten
ein. Ein enger Steg dieser Wiese führt zu den
südwestlichen Abhängen der St. Triphonhügel, die
unmerklich in die von mir betretene Wiese über-
gehen.
Ich näherte mich den ersten Felsen des Hügels
und bemerkte einen nicht allzu großen sehr porösen
und frisch aussehenden Erdhaufen, der sich von
der umgebenden Erdoberfläche deutlich abhob.
Von vornherein war es schwer zu sagen, um was
für einen Erdhaufen es sich handelt, der Verdacht
aber, es könnte sich um einen Ameisenhaufen
handeln, stieg in mir zu allererst auf. Ich griff
zum Stemmeisen, rührte vorsichtig in dem Erd-
haufen herum und auf die Oberfläche kamen statt-
liche schwarze Ameisen: es waren Camponotus
(Myrmoturba aethiops) Latr. 1
') St. Triphon liegt im Kanton Waadt (Bez. Aigle, Gem.
OUon), 3 km ssö. Aigle und 1,5 km sw. Ollon.
") Die historische Bedeutung der Anhöhe von St. Triphon
rührt daher, daß „dieser Hügel allen den Völkerschaften, die
hier am Eingang zum Rhonetal der Reihe nach aufeinander
gefolgt sind, von jeher als von der Natur gegebene Festung
gedient hat. Man hat Reste aus' der Bronzezeit (prachtvolle
Armringe unter einem erratischen Block, mehrere Gräber am
oberen Rand der Brücke von Le Lessus, eine Gießerei usw.), so-
wie aus der Zeit der Kelten und der Römer aufgedeckt. Die
Stelle war für die Römer ein wichtiger strategischer Punkt an
der Straße von Aventicum (Avenches) über den Col de Jougne
nach dem großen St. Bernhard, die am Fuß des steilen und
schroffen W-Abhanges des Hügels hinzog'' . . . Näheres
über die Geschichte von St. Iriphon ist im Geographischen
Le.\ikon der Schweiz , herausgegeben von Ch. Knapp , M.
Borel und V. Attinger, Bd. IV, S. 348 nachzulesen.
Ich ging weiter die Felsen hinauf und stieß
auf ein mächtiges Nest von Formica sangu-
inea, das sich über einige große Felsen aus-
breitete und weiter oben begegnete ich sehr
kleinen und flinken Ameisen, die sich als Plagio-
lepis pigmaea Latr. herausstellten! Das Nest
der Plagiolepis konnte ich nicht auffinden.
Der Hügel, wo ich den Camponotus Latr.
und die Plagiolepis pigmaea aufgefunden
habe, trug einen rein xerothermen Charakter.
Der Felsboden bildete stellenweise einen nährstoff-
reichen Boden, und der ganze Hügel ist nicht
anders als Felsheide zu nennen. Außer den
gefundenen Ameisen, die von dem xerothermen
Charakter des Hügels zeugen, ist auch seine Flora
rein xerophil und um nur auf ein Beispiel hinzu-
weisen, führe ich den Ruscus aculeatus, der
sich so reizend unter dem mit Dornen versehenen
Gestrüpp hervorhob, an.
* *
An xerothermen Ameiseninseln fehlt es in der
Schweiz nicht; die von mir aufgefundene Insel
dieser Art war aber bisher unbekannt. Forel,
der beste Kenner der geographischen Verteilung
der Ameisen in der Schweiz, berichtet in seinem
bekannten Buche : „Fourmis de la Suisse" ') über
die Fundorte des Camponotus Latr. in der
Schweiz :
„Tres commun dans les parties chaudes de la
Suisse meridionale, soit en Tessin, en Valais, et
sur le versant sud du Saleve. On le trouve de
plus dans le canton de Vaud mais seulement sur
quelques coteaux abrupts, secs, expos^s au midi,
entierement ä l'abri du vent du nord, et ne sc
trouvant que fort peu au dessus du niveau du
Leman. II n'atteint pas les derniers vignobles.
Je ne Tai jamais pris dans le reste de la Suisse, et je
ne crois pas qu'il y existe. II est encore commun
ä Sierre. A Vaux il se trouve sur deux ou trois
cotes qui remplissent les conditions indiquees;
ses nids sont dans un gazon court et sec. C'est
une forme du midi de l'Europe qui atteint chez
nous, de meme que plusieurs autres, sa limite
septentrionale laquelle est nettement tranchee.
Le C. aethiops aime les lieux incultes, les taillis,
les arbustes (specialement les chenes), le soleil,
ainsi que les lieux secs, chauds et rocailleux des
nids mines ou magonnes, le plus souvent sous
les pierres, sont ordinairement assez dissimules;
les 5 se trouvent sur les arbustes oü elles culti-
vent leurs pucerons" (p. 214).
Im Jahre 1915 schreibt ForeP) über das Vor-
kommen des Camponotus Latr. in der Schweiz:
„Im Tessin, Wallis (von Siders bis Mortigny) und
Saleve häufig, sonst nur an xerothermischen Stellen
') Forel, A., Fourmis de la Suisse, Geneve 1874.
') Die Ameisen der Schweiz, analytisch bearbeitet von
Prof. Dr. Aug. Forel. Beilage zu Heft 7/8 der Milteil. dei
Schw. Entomol. Ges. Dübendorf, 1915.
N. F. XX. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
259
wie Vaux, Stein a. Rh. (Dr. Santschi) usw. auf
trockenen Wiesen und warmen Abhängen, auch
unter Steinen."
Über die Ortfunde der Plagiolepis pyg-
maea Latr. in der Schweiz schreibt F'orel (Four-
mis de la Suisse, 1874):
»P- pygmaea. Lieux secs et rocailleux ex-
poses au midi; sous les pierres. Tres commune
sur les dent Saleves, en Valais (Dully, Sierre,
Tourbillon, St. Maurice), et dans tout le Tessin-
Champel pres Geneve (Frey-Gessner). Je Tai prise
aussi dans la partie inferieure de la vallee de
Bregaglia. Enfin j'en ai decouvert quelques four-
miliöres ä Vaux sur un cöteau aride (carriere de
sa ble). Chose curieuse, je n'ai pu la decouvrir
nulle part ailleurs, pas meme dans les lieux oü se
trouvent des Camponotus aethiops et
lateralis" (p. 215).
In den „Ameisen der Schweiz" aus dem Jahre
191 5 gibtForel folgende Fundorte der Plagio-
lepis pygmaea an: Saleve, Wallis, Tessin,
Champel bei Genf, Vaux bei Morges und untere
Bregaglia.
Wie wir sehen, ist die xerothermische Ameisen-
insel St. Triphon in der Literatur unerwähnt ge-
blieben, und diese xerotherme Ameiseninsel ist
gerade darum von besonderem Interesse und ver-
dient deshalb allgemeine Aufmerksamkeit, weil
hier die Plagiolepis pygmaea neben dem
Camponotus (Myrmoturba aethiops) Latr.
lebt, während es nach F'orel bis jetzt nicht ge-
lungen ist, eine xerotherme Ameiseninsel in der
Schweiz aufzufinden, wo die Plagiolepis pyg-
maea und Camponotus Latr. nebeneinander
vorgekommen wären. Es handelt sich also in
meinem Falle nicht nur um eine neue xerotherme
Ameiseninsel, die ich entdeckt habe, sondern um
eine solche, die neben den anderen bekannten ein
Mehr an biologischen Sonderheiten und Merk-
würdigkeiten besitzt.
Einzelberichte.
Kiu neues Mineral in Üeutsch-Südwestafrika.
Einige Mitteilungen über Mineralien
von Tsumeb im ehemaligen Deutsch-Südwest-
afrika, darunter über ein neues Mineral von
diesem Fundort, macht O. Pufahl. Die Lagerstätte
von Tsumeb ist außer durch ihre Bedeutung in wirt-
schaftlicher Hinsicht, die sie für die uns entrissene
Kolonie hat, auch durch die Schönheit und den
Reichtum der dort auftretenden Mineralien in den
letzten Jahren in Mineralogenkreisen bekannt und
berühmt geworden. Die nachfolgenden Mitteilungen
Pufahls (Centralbl. f. Min. usw., 1920, Nr. 17/18,
S. 289—296) werden darum nicht ohne Inter-
esse sein.
Zinkreiches Arsen-Fahlerz.
Dieses Erz fand sich im körnigen, sehr silber-
armen Bleiglanz vom Abbau III, Südost, aus 56 m
Peufe in kleinen Nestern. Es tritt derb auf und
zeigt einen auffallend grünlichen Schein. Dasselbe
Erz fand der Verf. in massiven Bohrkernen, die
bei 12 — 18 m Bohrung zwischen IV. und V. Sohle
gewonnen waren. Auch dieses Erz zeigt starken
Metallglanz mit grünlichem Schein, Muschelbruch,
ist sehr spröde und besitzt die Härte 3,5. Der
Strich ist dunkelkirschrot, das spez. Gewicht 4,61.
Die Analysen der beiden Vorkommen ergaben
eine Zusammensetzung, nach der das Erz dem
von Platt n er (Pogg. Ann., 1846, 67, 422) be-
schriebenen Fahlerz von Freiberg nahe steht. (Ana-
lyse: Hintze, Handb. Mineralogie, I, I, S. 1115,
Nr. XXXVIII.) Der Zinkgehalt beträgt 9,27 und
9,24 "/„. ;j_Bi, Hg, Ni, Co, V und Mo sind nicht in
dem Erz enthalten. Die dokimastische Bestim-
mung des Edelmetallgehaltes ergab einen Silber-
gehalt von 1,1 1 kg, außerdem 125 g (1) Gold in der
Tonne (1000 kg).
M i m e t e s i t.
Dies Mineral gehört zu den häufigeren sekun-
dären Bildungen im Erzkörper von Tsumeb. Es
tritt teils derb, teils in bis über 3 cm langen und
bis 1,5 cm dicken, farblos- lichtgrauen Kristallen,
meistens reinen Prismen, auf. Häufig ist teilweise
oder gänzliche Umwandlung zu hellgrünem und
gelblichgrünem Bayldonit. Das spez. Gewicht der
untersuchten Probe ist 6,98. Die Analyse ergab:
PbO 67,31 "/o; AS.3O, 23.12; PbCI., 9,33 (2,38 Cl);
CuO Spur; Summe 99,76. Die Formel verlangt
90,7 "/o Bleiarsenat und 9,3 % Bleichlorid.
Mottramit.
Dieses, wohl zuerst von Mancher in den
nach Freiberg gelangten Erzsendungen erkannte,
vanadinreiche Mineral ist ein wertvoller Rohstoff
für die Gewinnung von Ferrovanadin, Vanadin-
stahl und Vanadinpräparaten geworden, ebenso
der den Mottramit begleitende Cuprodescloizit.
Da, wie es scheint, bisher noch keine Analysen
des Mottramits von Tsumeb veröffentlicht worden
sind, sei hier das Mittel aus zwei an ausgesucht
reinem Material vorgenommenen Analysen nach
Abzug der Gangart und des hygroskopischen
Wassers wiedergegeben (I).
I II
PbO - 54,31 54,19
CuO 19,24 19,33
ZnO - 0,18 —
20,23 22,11
2,16 —
HjO 3.88 437
100,00 100,00
Die Werte unter Nr. II entsprechen der Formel
.j((Ju,Pb)0 . VjO^ -f- ^HjjO unter Annahme äqui-
valenter Mengen Cu und Fb.
V.,0,
As.,0,
26o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 17
■ üer reine Mottram'it ist dicht bis sehr fein-
körnig und zeigt muscheligen Bruch von schwärz-
licholivgrüner Farbe. Es wurden im Haufwerk
reine IVIassen im Gewicht von über 10 kg festge-
stellt. Die Strichfarbe ist hellgelb, die Härte 3.
Auf dem Platinblech mit KHSO4 erhitzt, gibt er
eine rotbraune Schmelze, die sich in heißer ver-
dünnter HjSOj^ größtenteils auflöst und in der
Lösung nach Zusatz von H^O., starke Vanadin-
reaktion, tief rotbraune Färbung aufweist. In
heißer verdünnter HNOg und HCl ist es löslich.
Cuprodescloizit.
In Gesellschaft des Mottramit findet sich Des-
cloizit, stets in charakteristischen Pyramidenspitzen
(bis 3 mm lang) und von dunkelolivgrüner bis
schwärzlicher Färbung. Die Gangart ist, wie auch
beim Mottramit, verkieselter, häufig eisenschüssiger
Dolomit. Material einer ganz reinen Kristallstufe
zeigte folgende Zusammensetzung nach Abzug
von SiO„ und hygr. H.fi.
I II
PbO = 54.89 . 55.40
CuO -= 16,27 Uq76
ZnO = 3,51 (^^-^^
V,0, = 21,68 lg
As,0, = 1,36 S^^-""
H^O — 2,29 , 2,24
100,00 100,00
Unter Nr. II die Werte entsprechend der For-
mel 4(Cu, Pb) • VgOft • HgO, unter Annahme äqui-
valenter Mengen Cu und Pb. Der Cu- und Zn-
Gehalt zeigen, daß es sich um stark Cu-haltigen
und Zn-armen Descloizit, also Cuprodescloizit
handelt. Das spez. Gewicht ist 6,19, die Härte 3.
Gegen Säuren und schmelzendes KHSO^ verhält
sich das Mineral genau wie Mottramit.
„Duftit", ein neues Blei-Kupfer-Arsenat
von Tsumeb.
Das neue Mineral wurde unter Stufen, die dem
Verf. von dem Bergingenieur Zeleny überbracht
worden waren, aufgefunden. Es bildet Kristall -
aggregate und aufgewachsene Kristalle von i — 2 mm
Länge, die durchweg gekrümmt sind, rauhe Flächen
besitzen und den des Olivenit sehr ähnliche Formen
zeigen. Meßbare Kristalle wurden bisher nicht
aufgefunden. Der Duftit besitzt das spez. Ge-
wicht 6,19 und die Härte 3. Die Strichfarbe ist
blaßapfeigrün oder grünlichweiß. Auf dem Bruch,
vereinzelt auch auf Kristallen zeigt es Glasglanz,
während die Kristallflächen überwiegend matt, rauh,
geriefelt und von etwas dunklerer Färbung sind.
Durch Auslesen von Azuritnadeln vollkommen
befreites Material ergab folgende Zusammen-
setzung (I) nach Abzug von SiO.^ und hygr. H„0:
I II
PbO = 50,46 50,37
CuO = 19,4t) 1
ZuO =
0,46
20,92
CaO =
0,75
As„0, =
26,20
26,00
l I3O =
2,67
2,7'
100,00
100,00
Nr. II zeigt die theoretische Zusammensetzung
nach der Formel
2 Pbg (AsOJ, • Cu3(AsOj2 • 4 Cu(0H)2,
die sich zwanglos aus der Berechnung der Mole-
kularproportionen ergibt.
Das Mineral wurde zu Ehren des jetzigen
Direktors der Otavi-Minen- und Eisenbahngesell-
schaft, des Bergrats G. Duft, benannt. F. H.
Nervöse Erscheiniiiigeu bei Tieren infolge
von Eingeweidewürmern.
Es ist bekannt, daß bei Hunden, die mit Spul-
würmern oder anderen Innenparasiten behaftet
sind, sei es infolge von mechanischer Einwirkung
durch Reizung der Nervenendigungen durch die
Parasiten, sei es infolge der Bildung von Toxinen
Krämpfe, Konvulsionen und andere Reizzustände ent-
stehen können. Die „Deutsche Tierärztl. W." Nr. 30,
S. 351 von 1920 berichtet auch bei einer Kuh von
einer nervösen Erkrankung, die durch Distomum
h e p at. hervorgerufen wurde und nach fünfstündiger
Dauer sogar tödlich endete. Das Tier zeigte,
nachdem es vorher vollkommen gesund war, plötz-
lich klonische Krämpfe aller sichtbaren Muskeln,
auch jener der Augenlider, der Kiefer, des Halses
und der Gliedmaßen. In bestimmten Zwischen-
räumen lief ein Krampf wellenförmig über den
ganzen Körper von vorn nach hinten. Die Glied-
maßen machten dabei mähende Bewegung; dabei
war das Tier anämisch und die Sensibilität er-
höht. Bei der Sektion fanden sich neben einem
leichten Darmkatarrh zahlreiche Exemplare von
Distomen in der Leber und Galle in einer Länge
von 5 — 6 mm vor. Die Leber war zirrhotisch,
Nieren stark hyperämisch. Sonst wurde nichts
Abnormes, auch nicht im Gehirn vorgefunden.
Das Rind hat demnach an akuter Leberdisto
matose gelitten. Typisch sind in diesem Falk
die vermutlich durch Toxämie erzeugten Exzi-
tationserscheinungen, da sie im Gegensatz stehen
zu der von anderen Autoren als Haupterscheinung
bei der Leberegelerkrankung angegebenen De-
pression. Reuter.
Der Dopplerelfelil im Röntgenspektrum und
die Tlieorie der Bremsstraliluug.
Die Zerlegung der Röntgenstrahlen durch
einen Spektrographen mit Kristallgitter zeigt ein
kontinuierliches Spektrum, dem das Linienspektrum
des Antikathodenmetalls überlagert ist. Die Ent-
stehung des Linienspektrums ist durch die auf der
Quantentheorie basierenden Atommodelle aufge-
klärt worden. Das kontinuierliche Röntgenspek-
trum wird nach der alten" Wiechert-Stokes-
schen Ätherstoßtheorie von den Ätherimpulsen
gebildet, die bei der Bremsung der Kathoden-
strahlelektronen an der Antikathode entstehen.
Wenn die negativ geladenen Elektronen mit ihrer
riesigen Geschwindigkeit von vielen tausend Kilo-
metern in der Sekunde beim Aufprall auf die
N. F. XX. Nr. \^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
261
Antikathode plötzlich gebremst werden, so müssen
sie notwendig explosionsartige elektrische Wellen
in den Raum hinaussenden, genau wie durch auf-
schlagende Geschosse Schallwellen entstehen.
In den letzten Jahren wurden aber von D. L.
Webster und J. E. Lilienfeld ganz andere Hypo-
thesen über den Ursprung des kontinuierlichen
Röntgenspektrums aufgestellt. Eine neue experi-
mentelle Untersuchung von G. Z e c h e r ') hat aber
die ältere elektromagnetische Theorie der „Brems-
strahlung" bestätigt. Aus der Theorie der Brems-
strahlung folgt nach W. Wien und A. Sommer-
f e 1 d notwendig, daß eine unsymmetrischeVerteilung
der Intensität *) und Wellenlänge der Bremsstrahlung
in bezug auf die Richtung vorhanden sein muß,
in der die Strahlung die Antikathode verläßt.
Frühere Versuche, durch Absorptionsmessungen
die Bremstheorie zu bestätigen, hatten keine zu-
verlässigen Ergebnisse.
Zecher hat daher gleichzeitig mit 2 Schnei-
denspektrographen von Seemann das kontinu-
ierliche Spektrum einer Glühkathodenröntgenröhre
aufgenommen. Der eine Spektrograph war in
der Nähe der Kathode zu dem Kathodenstrahl
unter einem Winkel von 210" orientiert; die
Kathodenstrahlelektronen liefen also vom Spalt
dieses Spektrographen weg auf die Antikathode
zu, wo sie bei ihrer Bremsung das kontinuierliche
Röntgenspektrum erregten. Der zweite Spektro-
graph in der Nähe der Antikathode bildete mit
den Kathodenstrahlen einen Winkel von 60". Die
Elektronen haben hier eine Richtung schräg auf
den Spektrographenspalt zu, und wenn sie wäh-
rend ihrer Abbremsung in der Antikathode Rönt-
genstrahlen aussenden, so stellen sie während
ihrer Bremszeit eine auf den Spalt des zweiten
Spektrographen zubewegte Strahlungsquelle dar.
Nach Dopplers Prinzip muß daher das konti-
nuierliche Röntgenspektrum im zweiten Spektro-
graphen gegenüber dem gleichzeitig aufgenom-
menen Spektrum im ersten Spektrographen nach
den kürzeren Wellenlängen zu verschoben sein.
') Ann. d. Phys. Bd. 63, S. 28—56 (1920).
'') Nach neueren feinsten Präzisionsmessungeu von E.
Wagner ist dieser von der Theorie geforderte Einfluß der
Emissionsrichtung auf die spektrale Energieverteilung vorhan-
den. Beim Anvisieren der Kathodenstrahlen durch einen
Rönigenspektrographen unter einem Winkel von 150" ist die
Gesamtintensität der Röntgenstrahlen schwächer als bei 90";
auch sind bei 150" die langwelligen Teile des Spektrums re-
lativ stärker vorhanden. Dieser Befund läfit sich nach Wag-
ner auch quantentheoretisch deuten. Phys. Zeitschr. Bd. 21,
y. 621 (1920).
Anscheinend endigte auch in einem Versuch
bei 80000 Volt Röhrenspannung das kontinuier-
liche Spektrum in dem einen Spektrographen bei
0,180 A, ') während es sich in dem zweiten bis
hinab zu 0,162 A erstreckte. Im Mittel ergab
sich das Verhältnis der Endwellenlängen ^) des kon-
tinuierlichen Röntgenspektrums in beiden Spektro-
graphen zu 0,89 i 0,02. Die Wien-Sommer-
feld sehe Theorie erfordert allerdings den Wert
0,69. Aber dies kommt daher, daß wohl nicht
alle Elektronen des Kathodenstrahls wie in der
Theorie auf einer ganz geradlinigen Bahn abge-
brerfist werden. „Eine Reihe Elektronen werden
auf zickzackförmigen Bahnen durch die Atom-
gebilde hindurch und an solchen vorbei ihre Ab-
bremsung erleiden. Die so abgelenkten Elektronen
bringen nur eine abgeschwächte Dopplerwirkung
hervor und der beobachtete Wert ist ein statisti-
scher Mittelwert. Deshalb erreicht der Effekt
nicht den von der Theorie geforderten Wert."
Es ist also der Dopplereffekt des kontinuierlichen
Röntgenspektrums anscheinend erwiesen, wie ihn
die Existenz einer Bremsstrahlung erfordert. „Der
beobachtete Effekt ist nur möglich, wenn sich
der Strahler während des Strahlungsvorganges in
der Richtung des Kathodenstrahls verschiebt."
Zecher hat auch noch interessante Versuche
darüber angestellt, ob das kurzweUige Ende des
kontinuierlichen Röntgenspektrums von der Natur
des Antikathodenmetalls abhängig ist. Zu diesem
Zweck wurden eine Glühkathodenröntgenröhre
mit Wolframantikathode und eine zweite mit
Molybdänantikathode parallel geschaltet und mit
einem großen Induktorium bei gleichen Spannungs-
verhältnissen gleichzeitig betrieben. Das konti-
nuierliche Röntgenspektrum der beiden Röhren
wurde durch zwei Seemannsche Schneiden-
spektrographen aufgenommen. Bei den Versuchen
zeigte sich durchweg, daß bei gleicher Spannung
die Molybdänröhre stets eine härtere Strahlung
wie die Wolframröhre abgab. Ob aber wiiklich
das kurzwellige Ende des kontinuierlichen Röntgen-
spektrums vom Antikathodenmetall abhängt, ist
noch nicht sicher bewiesen, da Nebenerscheinungen
das Resultat beeinträchtigt haben können.
Karl Kuhn.
") I Ä (= Ängström) = 0,0000001 mm.
-) Nach Wagners höchst genauen Messungen sind da-
gegen die Endwellenlängen völlig unabhängig vom Azimut
zwischen Röntgen- und Kathodenstrahlen. Die Bremstheorie
der Röntgenstrahlen ist daher zu ändern oder durch die
Quantentheorie zu ersetzen.
Bücherbesprechungen.
Marzell, Dr. H.,Neues illustriertes Kräuter-
buch. Eine Anleitung zur Pflanzenkenntnis
unter besonderer Berücksichtigung der in der
Heilkunde, im Haushalt und der Industrie ver-
wendeten Pflanzen, sowie ihrer Volksnamen.
Mit Beiträgen von Apotheker Dr. Hugo Ziegen-
speck, Dr. med. K. Kahnt, Prof. Dr. Heinrich
Marzell senior. Mit 32 Farbdrucktafeln und
vielen Abbildungen im Text. 32 M.
Das Buch stellt sich die Aufgabe, den Leser
362
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 17
in möglichst leicht faßlicher Form in die Kennt-
nis der heimischen Pflanzenwelt einzuführen und
ihn mit deren praktischer Verwendung bekannt
zu machen. Es bringt aber keine trockene Be-
schreibung der Pflanzen, sondern geht auch auf
deren Lebensverhältnisse, geographische Verbrei-
tung usw. ein. Die Anordnung der Pflanzen ist
so, daß sich auch der Nichtbotaniker ver-
hältnismäßig leicht zurecht finden kann. Alle
Fachausdrücke werden in der allgemeinen Ein-
führung über „Bau und Leben der Pflanze" er-
klärt. Kein anderes Kräuterbuch enthält so viel
Volksnamen (gegen 6000) aus allen Teilen des
deutschen Sprachgebietes. Die Verwendung unserer
einheimischen Pflanzen in der Heilkunde, im Haus-
halt, in der Industrie usw. wird ausführlich er-
örtert. Ganz besonders eingehend werden die
einheimischen Pflanzen behandelt, die als Ersatz
für teure ausländische Drogen usw. in Betracht
kommen. Auch die einheimischen wildwachsen-
den Pflanzen, die Stärkemehl, Öl, Fett, Harz
liefern, oder sich als Gemüse, Salat usw. für
Nahrungszwecke eignen, werden in einem be-
sonderen Abschnitt gründlich erörtert. Tee-,
Kaffee-, Tabak-Ersatz liefernde Pflanzen werden
in großer Anzahl genannt. Das Buch enthält
32 prächtige Farbentafeln von der Künstlerhand
des als naturwissenschaftlicher Zeichner wohlbe-
kannten Prof Morin (München), außerdem noch
eine große Anzahl Textabbildungen. Die Aus-
stattung ist mit Rücksicht auf die jetzigen Ver-
hältnisse sehr gut. Das Buch ist wertvoll für
jeden Pflanzensammler und Pflanzenliebhaber und
gibt Hinweise auf Pflanzenverwertung und Pflan-
zenanbau.
Hadfield, E. , Among theNatives ofthe
Loyalty Group. XIX u. 316 S. u. 49 Abb.
London 1920, MacmiUan.
Frau Hadfield ist seit mehr als 30 Jahren
im Missionswesen auf den Loyaltyinseln tätig, die
eine Neukaledonien parallel gerichtete von Nord-
west nach Südost verlaufende Reihe bilden, die
aus den drei Hauptinseln Uvea, Lifu und Marc,
sowie mehreren kleinen Eilanden besteht. Die
Eingeborenen weichen in ihrer körperlichen Er-
scheinung von den Neukaledoniern in mancher
Beziehung ab, so namentlich in der Beschaffen-
heit des Kopfhaares, das nicht wie bei diesen
durchweg spiralig gedreht ist, sondern stark vari-
iert, meist aber wellig oder sogar lockig ist. Die
Nase ist weniger fleischig und breit, die Uber-
augenwülste treten weniger stark hervor und die
Sdrne ist höher als bei den Neukaledoniern.
Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Men-
schen um einen melanesischen Grundstock mit
polynesischer Blutbeimischung, durch welche die
groben Körperformen abgeschwächt wurden.
Dem Einfluß der christlichen Missionen er-
wiesen sich die Loyaltyinselbewohner gut zugäng-
lich, was bewirkte, daß von der ursprünglichen
Lebensweise, den Sitten, Gebräuchen, Werkzeugen,
Geräten, Waffen usw. nur mehr spärliche Reste
erhalten sind. Die Verf. aber hatte Gelegenheit,
das kleine \^olk noch im Besitze seiner Eigen-
kultur kennen zu lernen und sie schildert nun,
was sie sah und hörte. Unter anderem gibt sie
Aufschlüsse über die geistigen Fähigkeiten und
Charaktereigenarten, über die soziale Organisation,
die Wohnweise, die Beschaff'ung des Lebensunter-
haltes, Schiffahrt, Himmelskunde, Zeitrechnung,
Sprachen, religiöse Vorstellungen, Kriegführung
und Kannibalismus. Der vergleichenden Völker-
forschung wird damit wertvolles Material geboten,
das zu gewinnen spätere Beobachter nicht mehr
in der Lage sein würden. Für die völkerpsycho-
logische Forschung wertvoll sind auch die beige-
gebenen 32 Eingeborenenerzählungen und eine
Anzahl Sprüche. Die Ausstattung des Buches ist
musterhaft, so wie sie bei uns in Deutschland
wissenschaftlichen Werken leider nur mehr selten
gegeben werden kann. H. Fehlinger.
Marx, E., HandbuchderRadiologie. Bd. I:
Townsend, J. S., Ionisation der Gase;
Geitel, H., Radioaktivität der Erde
und der Atmosphäre. 473 S. mit 66 Fig.
Leipzig 1920, Akademische Verlagsgesellschaft
m.b.H. — Brosch. 72 M.
Unter den 6 Bänden, auf die das Handbuch
der Radiologie berechnet ist, erscheint der jetzt
vorliegende erste Band als einer der letzten. Er
soll die Einleitung und Grundlage des Ganzen
sein, indem er die allgemeinen grundlegenden
Tatsachen auf dem Gebiete der Radiologie, die
Elektrizitätsleitung in Gasen, behandelt.
Den überwiegenden Teil des Bandes, die
„Ionisation der Gase" allgemein, hat der Engländer
Townsend bearbeitet. Er beginnt mit einer
Besprechung der verschiedenen bekannten Me-
thoden der Erzeugung von Elektrizitätsträgern in
Gasen und wendet sich dann den theoretischen
Untersuchungen der Trägerbeweglichkeit und den
Methoden der experimentellen Geschwindigkeits-
messung zu. In folgenden Kapiteln wird die
Diffusion und Rekombination, die Nebelbildung
und deren Auswertung zur Bestimmung der Träger-
ladung besprochen. Einen verhältnismäßig breiten
Raum nimmt die Darstellung der „Ionisation durch
den Stoß" der negativen und positiven Ionen, des
besonderen Arbeitsgebiets des Verf, ein. Die
letzten beiden Kapitel beschäftigen sich schließ-
lich mit der Funken-, Spitzen- und Büschel-
entladung und mit den elektrischen Vorgängen
in Entladungsröhren.
Man muß anerkennen, daß der Verf bestrebt
war, die gesamte Literatur des Gebiets objektiv
zu verarbeiten und dementsprechend auch der
deutschen Literatur möglichst gerecht zu werden.
Er hat dies allerdings nur zu einem Teil erreicht.
Die UnVollständigkeit in der Berücksichtigung
aller vorhandenen Kenntnis erstreckt sich aber
auch auf außerdeutsche Untersuchungen. Sie
wäre für das Ruch und für den Leser weniger
N. F. XX. Nr. 17
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
263
von Nachteil, wenn sich an den entsprechenden
Stellen geeignete Hinweise auf die vorhandenen
tiefergehenden Veröffentlichungen des betreffenden
Teilgebiets fänden. Ref. empfändet diesen Mangel
insbesondere im zweiten Kapitel, wo die häufige
Bezugnahme auf zum Teil mit wenig Kritik aus
der Literatur beliebig herausgewählte Einzelunter-
suchungen ohne Erwähnung der oft zahlreichen
anderen Untersuchungen über den gleichen Gegen-
stand vielfach zu falschen Schlußfolgerungen führen
muß. Im übrigen finden wenigstens die Grund-
lagen eine klare und auch für den wenig vorbe-
reiteten Leser leicht verständliche Darstellung, die
zu einer Einführung in das umfangreiche Wissens-
gebiet als wohlgeeignet zu bezeichnen ist.
Der auf den letzten 57 Seiten des Bandes sich
findende Bericht über die Radioaktivität der Erde
und der Atmosphäre und die damit zusammen-
hängenden elektrischen Vorgänge in der letzteren
ist von dazu besonders berufener Seite geschrie-
ben und ist deshalb auch als wertvolle Bereiche-
rung des Handbuchs zu betrachten, selbst wenn
ein Teil des hier behandelten Gegenstandes bereits
in dem von Rutherford bearbeiteten und schon
erschienenen 2. Bande vorweggenommen wor-
den ist.
Da die Drucklegung des vorliegenden Bandes
ebenso wie diejenige der früher herausgegebenen
Bände schon im Jahre 1914 in Angriff genommen
worden ist und ein Nachtrag fehlt, entspricht der
Inhalt beider Berichte dem Stand unserer vor
6 Jahren vorhandenen wesentlichsten Kenntnis.
Ref. stimmt mit dem Herausgeber in der Auf-
fassung überein, daß dies den Wert des Bandes
als Einführung in das gewaltige Gebiet der Radio-
logie kaum beeinträchtigen dürfte.
Von dem großen Unternehmen steht jetzt nur
noch der sechste Band als letzter aus. Da er
den Theorien der Radiologie gewidmet sein soll,
würde bei ihm eine Nichtberücksichtigung der
neuesten Forschungsergebnisse leicht so schwer-
wiegend werden können, daß er schon beim Er-
scheinen als veraltet zu erklären wäre. Ref.
möchte daher annehmen, daß die bisherige Ver-
zögerung seiner Veröffentlichung sich durch die
Absicht seiner Neubearbeitung erklärt.
A. Becker.
Rüsberg, Dr. F., Einführung in die analy-
tische Chemie. L Theorie und Gang der
Analyse. Mit 15 Fig. — II. Die Reaktionen.
Mit 4 Fig. (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 524
und 525). Leipzig u. Berhn 1920, B. G.Teubner.
Die große Zahl analytischer Hilfsbücher wird
durch die vorliegenden Bändchen weiter vermehrt,
ohne daß damit gerade eine Bereicherung
dieses Teils der chemischen Literatur erzielt wird.
In methodischer Hinsicht verblüfft zunächst, daß
die „Reaktionen" nach dem eigentlichen Analysen-
gange abgehandelt sind : dieser ist doch ohne ein-
gehende Kenntnis jener einfach unmöglich 1 Des
weiteren befremdet, daß zwar die elektrolytische
Dissoziation und die damit zusammenhängenden
Erscheinungen knapp und gut erläutert werden,
daß aber eine durchgehende Anwendung der da-
mit gewonnenen Vorstellungen im übrigen Werk
fehlt. Immer wieder werden Formelgleichungen,
statt der analytisch fast allein interessierenden
lonengleichungen geboten. Und man wundert
sich über Sinn und Zweckmäßigkeit von Dar-
legungen wie z. B. I, 13, wenn man II, 23 die
Oxydation von Ferro- zum Ferrilon in der her-
kömmlichen, nebenbei ganz unpädagogischen,
Weise formuliert findet. Wie denn überhaupt
der Gesamteindruck des Werkchens der einer im
althergebrachten Stile aufgebauten Arbeit ist, an
der die schönen Ergebnisse der modernen anor-
ganischen Chemie fast spurlos vorübergegangen
sind. Gewiß: man kann auch mit diesen Büch-
lein arbeiten. Daß damit dem Geist der wissen-
schaftlichen analytischen Chemie gedient sei, be-
streite ich durchaus.
Alt und eigentlich nicht mehr entschuldbar ist
die Nomenklatur. „Basisches Quecksilberoxyd-
nitrat" u. dgl. durch nichts zu rechtfertigende Be-
nennungen sind die Regel. — Der Gehalt der
Reagenzien ist noch nach Hundertteilen angegeben,
eine pädagogisch wie logisch zu verneinende Will-
kürlichkeit. — Im einzelnen sind eine ganze Reihe
Bemerkungen zu machen. Es seien einige heraus-
gegriffen : Im allgemeinen Teil fehlt Henrys Gesetz
über die Gaslöslichkeit in Wasser. I, 17 ist die
Theorie der Indikatoren infolge Nichtberücksichti-
gung insbesondere der Hantzschschen Arbeiten
nicht ganz vollständig gegeben. — I, 26: lösliche
Kolloide müssen nicht immer Hydrosole sein. —
II, 3 1 wird als Formel der blauen Über c h r o m -
säure HgCrOg genannt. Unter den angegebenen
Bedingungen entsteht jedoch nur die Säure
von Wiede, HCrOß. — 11,33 ist zu betonen,
daß die Wertigkeitsverhältnisse noch ganz unklar
sind, daß insbesondere in Mn^Og das Metall wahr-
scheinlich 3 wertig ist. — II, 40 ist hinter die
Formulierung von Rinmanns Grün ein Frage-
zeichen zu setzen. — Die Existenz von Zinkaten
usw. ist zweifelhaft, ganz sicher aber nicht in
der angegebenen Weise zu formulieren. — II, 9
und 45 ist beide Male die Formel des Dimethyl-
glyoxims verdruckt. Im zweiten Falle ist die
Innerkomplexformel vorzuziehen. — Für die Tech-
nik der Analyse ist mir das Fehlen einer Am-
moniakgruppe vor der Ammonsulfidgruppe auf-
gefallen. Die Erleichterungen einer derartigen
Unterteilung sind erfahrungsgemäß sehr groß.
I, 64 fehlt die Trennungsmethode mittels Chro-
matfällung in essigsaurer Lösung. Auch sie
zeichnet sich durch Einfachheit aus. — I, 67 : vor
Fällung dieser Gruppe müssen die Reste von
Ionen der vorhergehenden Gruppe entfernt wer-
den. — II, 61, 96 und 100 sollte wenigstens ein
Hinweis auf die große Giftigkeit der er-
wähnten Arsenwasserstoff usw. stehen! — I, 28
wäre zweckmäßig ein Filter abgebildet. — S. 35
204
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 17
kann ein M a g n e s i a Stäbchen den teuern Platin-
draht recht gut ersetzen. — Und i, 45 ist es ganz
gewiß besser, zuerst mit verdünnter Salpeter-
säure, dann mit konzentrierter Salzsäure zu lösen
zu versuchen.
Zweckmäßig sind die Konzentrationstabellen
am Schluß des Buches, sowie die Aufnahme von
Lithium in den Analysengang.
Der Druck der Bände ist deutlich, der bro-
schierte Einband nicht haltbar. H. Heller.
Anregungen und Antworten.
Schöngefärbte Tiere. Herrn Dr. F. W.ebel, Mannheim.
— Sie fanden vor etwa 20 Jahren am Rotenfels bei Kreuz-
nach eine schön schwarz und rot gefärbte Spinne und möch-
ten wissen, ob es die mediterrane Gittspinne Lal\h\rodectus tre-
decimguttatus gewesen sein könne. — Es ist nicht leicht, nach
der Beschreibung eines NichtSpezialisten ein Tier sicher zu er-
kennen, zumal wenn diese erst nach 20 Jahren entworfen
wird. Selbst das beste Gedächtnis versagt da. — Im vor-
liegenden Falle stellt sich die Aufgabe allerdings etwas gün-
stiger, da ich selbst wiederholt am Rotenfels, als an einem
Orte besonders warmer Lage in Deutschland, Tiere beobach-
tete und sammelte. — Die von Ihnen gefundene Spinne war
sicher kein Latrodeclus, auch abgesehen davon, daß die Gat-
tung trotz sorgfältigen Sammeins in den verschiedensten Teilen
Deutschlands und auch in den benachbarten, nördlichen Tei-
len anderer Länder bisher noch nicht gefunden wurde: Bei
Latrodeclits sind die Beine ganz schwarz, nicht mit weiflen
Linien geziert , wie Sie schreiben und auch Ihre Angabe
„s amm et schwarz" paflt auf diese Gattung nicht. In einem
Punkte muß ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Der
Hinterleib Ihrer Spinne war nicht schwarz, Unit roten Flecken,
sondern rot, mit vier schwarzen Flecken gezeichnet, wie
es C, W. Hahn und C. L. Koch (Die Arachniden, Fig. 35,
36, 316 — 18 u. 10S7) nach verschiedenen kleinen Abänderun-
gen zur Darstellung bringen, und es kann wohl als sicher
gelten, daß es sich um das Männchen von Eresus nigtr Uijina-
harinus) handelte, einer Spinnenart, die in der Tat im medi-
terranen Gebiet ihre eigentliche Heimat findet und die bei
uns an wenigen , z. T. weit getrennten Punkten besonders
warmer Lage, z. B. bei Berlin (Tegel, Rehberge, Köpenick,
Woltersdorf), im Rheintal usw. vorkommt. — Sie schreiben,
daß Sie die von Ihnen gefundenen Spinnen in ein kleines
Terrarium gesetzt haben. Sie seien aber sehr bald einge-
gangen. — Dazu sei bemerkt, daß das reife Männchen, um
das es sich hier handelt, bei den allermeisten Spinnenarten
nur sehr kurze Zeit lebt. Nach der letzten Häutung, bei der
erst die Sexualcharaktere, auch die sekundären, zur Ausbildung
gelangen, nimmt das Männchen meist gar keine Nahrung mehr
zu sich. — Das Weibchen von unserer Art wurde bisher in
Deutschland weit seltener gefunden als das Männchen. Es
ist zwar größer als das Männchen, aber unscheinbar und un-
bestimmt schwärzlich gefärbt und wird deshalb leicht über-
sehen. Auch das Männchen besitzt vor der letzten Häutung
eine ähnliche unscheinbare Färbung. Es ist also klar, daß
die schöne Farbe hier mit der Paarung in engem Zusammenhang
steht. — Bei der (ebenfalls auffallend gefärbten) mediterranen
Giftspinne {Latrodectus) liegt ein ganz anderer Fall vor. Bei
dieser Art sind Männchen, Weibchen und junge Tiere gleich
auffallend gefärbt. Man kann bei ihr also an Warnfarben
denken. Bei Eresus können schon wegen ihrer Harmlosigkeit
Warnfarben gar nicht in Frage kommen und dies wird durch
das Auftreten der schönen Farbe nur zur Paarungszeit bestä-
tigt. Die lebhafte Färbung muß für diese Art sogar gefähr-
lich sein, sonst könnte man die kurze Dauer dieser Tracht
nicht verstehen. Es zeigt sich hier das allgemein gültige Ge-
setz, daß auffallende Farben bei Tierarten , die nicht irgend-
wie geschützt sind, nur kurze Zeit und zwar nur zur Paarungs-
zeit auftreten, entweder bei beiden Geschlechtern (Maikäfer
usw.) oder nur beim Männchen (Pracht- oder Hochzeitskleid
der Vögel, z. B. der Enten). Langlebige Falter mit schönge-
färbten Flügeln , wie die Vaiiessa-KtXtn es sind , können die
schönen Farben durch Zusammenklappen der Flügel dem
Auge etwaiger Feinde wenigstens zeitweise entziehen. — Man
könnte daran zweifeln , ob Spinnen mit ihren wenig hoch-
entwickelten Augen, die schönen Farben wirklich wahrnehmen
können. Auch in dieser Frage gibt uns der vorliegende Fall
deutliche Fingerzeige: Im mediterranen Gebiet kommt neben
Eresus noch eine zweite, naheverwandte Gattung Stegodypkus
vor, bei der das Männchen fast genau so gefärbt ist wie das
Weibchen. Diese Gattung unterscheidet sich von Eresus da-
durch, daß die vier Mittelaugen einen fast gleichen Durch-
messer besitzen und in einem hohen Trapez stehen, während
kei Eresus die hinteren Mittelaugen sehr groß und der
vorderen Augenreihe sehr nahegerückt sind, so daß die Spinne
also nach vorn viel besser wird sehen können als Stegodyfhus.
— Es fragt sich aber weiter, ob die Natur alles dies nur zur
Freude des Weibchens geschaffen hat. Es würde sich dann
um eine Luxusausgabe der Natur handeln, die sich mit dem
Gesetz der Sparsamkeit nicht vertrüge. Auch in dieser Frage
gibt unser Fall näheren Aufschluß. Die Weibchen der beiden
genannten Gattungen Eresus und Stegodypkus sind in ihrer
Tracht und in ihrem Habitus einander sehr ähnlich und außer-
dem ist ihre Farbe sehr veränderlich, so daß der Systematiker
zur sicheren Entscheidung, um welche Gattung es sich han-
delt, stets die Lupe nimmt und die Augenstellung untersucht.
Daraus geht hervor, daß auch die Spinnen selbst, wenn sie
sich paaren wollen, Schwierigkeit haben könnten, Kreuzungen
zu vermeiden. Der Geruchssinn, der entscheiden könnte,
scheint bei ihnen wenig entwickelt zu sein. So hat denn in
der schönen Farbe des Männchens wenigstens das Weibchen
von Eresus ein sicheres Erkennungsmerkmal und da bei den
Spinnen gerade das Weibchen als der stärkere Teil allein maß-
gebend ist, genügt der auffallende Unterschied des Männchens
vollkommen, um Kreuzungen zu verhindern. Die sonst bei
verwandten Spinnenarten sehr verschieden geformten Kopu-
lationsorgane , die ebenfalls offenbar die Aufgabe haben,
Kreuzungen zu verhindern, sind bei unseren beiden Gattungen
einander sehr ähnlich, so daß in erster Linie der Gesichtssinn
entscheidet. Die hier vorliegende Erfahrung hat wieder im
Tierreich allgemeine Gültigkeit: Bei Arten, die einander
äußerst ähnlich sind, unterscheiden sich wenigstens die Männ-
chen zur Paarungszeit in auffallender Weise, entweder durch
Farbenmerkmale wie z. B. bei der Krick- und Knäckenle
(Anas crecca und querquedula) oder durch eine auffallende
Stimme bzw. den Gesang, wie z. B. bei den Laubvögeln
{Phyllopnetiste') oder durch den Geruch, wie bei vielen Säuge-
tieren. — Der hier vorliegende Fall Latrodectns- Eresus zeigt
uns jedenfalls recht klar, eine wie verschiedene Aufgabe auf-
fallende Farben im Tierreich haben können. — Zum Schluß
sei bemerkt, daß ich für Mitteilung genauer Fundorte dieser
auffallenden und gar nicht zu verkennenden schönen Spinne
in Deutschland sehr dankbar sein würde.
Falkenhagen W, Post Seegefeld.
Prof. Dr. Fr. Dahl.
Inhalt: Friedl Weber, Pflanze und Elektrizität. (Schluß.) S. 249. L. Lindinger, Ein neuer Weg der Schädlings-
forschung. S. 255. S. Galant, Die xerotherme Ameiseninsel Saint Triphon. S. 258. — Einzelbericbte : O. Pufahl,
Ein neues Mineral in Deutsch-Südwestafrika. S. 259. Nervöse Erscheinungen bei Tieren infolge von Eingeweidewürmern.
S. 260. G. Zecher, Der Dopplereffekt im Röntgenspektrum und die Theorie der Bremsstrahlung. S. 260. — Büchor-
besprechungen : H. MarzeU, Neues illustriertes Kräuterbuch. S. 261. E. Hadfield, Among the Natives of the
Loyalty Group. S. 262. E. Marx, Handbuch der Radiologie. S. 262. F. Rüsberg, Einführung in die analytische
Chemie. S. 263. — Anregungen und Antworten: Schöngefärbte Tiere. S. 264.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der gaiuen Reihe 36. Band.
Sonntag, den i. Mai 1921.
Nummer 18.
Eine neue Einteilung der Pflanzengesellschaften.
Nach einem am 7. April 1919 in der Geographischen Gesellschaft zu Wien gehaltenen Vortrage.
[Nachdruck verboten. 1
Von Prof. Dr. Friedrich Vierhapper in Wien.
Die pflanzengeographische Forschung strebt
ihrem Endziele, die Verbreitung der Gewächse auf
unserem Planeten in ihrer Bedingtheit zu verstehen,
auf zwei Wegen, dem ökologischen und histori-
schen, zu. Die ökologische Richtung zieht hier-
bei nur die gegenwärtig auf die Pflanzenwelt ein-
wirkenden Faktoren heran, die historische greift
auch auf die Vergangenheit zurück und berück-
sichtigt vor allem die im Laufe der Zeiten er-
folgten Veränderungen der Faktoren, insbesondere
des Klimas, sowie der Kpnfiguration der Erdober-
fläche, die Pflanzenwanderungen und deren Wege
und Schranken, das Aussterben der alten Sippen
und das Entstehen neuer nach Ort, Zeit und Art,
in welchem Sinne sie auch als genetische Pflanzen-
geographie bezeichnet wird. Die gesamte Pflanzen-
welt hieißt, vom ökologischen Standpunkte aus
betrachtet, Vegetation, vom historischen aus auf-
gefaßt, Flora. Die ökologische Richtung oder
Vegetationsforschung vergleicht die Pflanzen in
erster Linie nach ihrer habituellen Ähnlichkeit,
die vornehmlich in den Vegetationsorganen zum
Ausdruck kommt — weitgehende Übereinstim-
mung im Habitus, als Folge gleicher Beeinflussung
durch die Faktoren, heißt Konvergenz — , die
historische oder Florenforschung nach ihrer Ver-
wandtschaft, die hauptsächlich aus den Sexual-
organen erschlossen wird. Die beiden Richtungen
haben, da sie vom gleichen Objekt, der Pflanze,
ausgehen, begreiflicherweise viele Berührungs-
punkte.
Die historische Pflanzengeographie hat bereits
vor 40 Jahren durch Englers fundamentales
Werk „Versuch einer Entwicklungsgeschichte der
Pflanzenwelt" (1879 — 1882) einen gewissen Höhe-
punkt erreicht. Durch zahlreiche neuere Unter-
suchungen, unter denen die genauere pflanzengeo-
graphische Erforschung bisher wenig bekannter
Gebiete, wie des tropischen Afrika und West-
Chinas, die umfassenden klimatographischen und
paläontologischen Studien über die Quartärzeit
und die subtilen Monographien polymorpher For-
menkreise besonders genannt zu werden verdienen,
und Hypothesen, wie die Annahme eines brasilia-
nisch-äthiopischen Kontinentes im späten Meso-
zoikum und frühen Tertiär und Simroths Pen-
dulationstheorie (1907), wurden Englers An-
schauungen zwar ausgiebig ergänzt, erweitert und
vertieft, ohne daß jedoch die Grundlagen seiner
Lehre wesentliche Veränderungen erfuhren, ge-
schweige denn erschüttert wurden.
Die ökologische Schwesterdisziplin scheint
noch nicht auf einem derartigen Höhepunkte an-
gelangt zu sein, ihm vielmehr erst zuzustreben,
indem sie sich gerade jetzt auf allen Linien in
einem Zustande lebhaftester Weiterentwicklung
befindet. Sie zerfällt in zwei Hauptrichtungen,
die autökologische und synökologische, deren
erstere sich mit der Einzelpflanze, die letztere mit
den Pflanzenvergesellschaftungen beschältigt. Vor-
aussetzung für beide ist die Lehre von den Fak-
toren in ihrer Einwirkung auf die Pflanzen und
Pflanzenvereine.
Die Faktoren gehören teils der unbelebten,
teils der belebten Natur an. Die ersteren scheidet
man zumeist in klimatische — Wärme, Licht,
Luftfeuchtigkeit und -bewegung — und eda-
phische — Boden und überhaupt Medium — , die
letzteren oder biotischen bestehen in der gegen-
seitigen Beeinflussung der Pflanzen, die sich vor
allem als Konkurrenz äußert, sowie in der der
Vegetation durch die Tiere und den Menschen,
sind also phyto-, zoo- oder anthropobiotisch. Der
Unterschied zwischen klimatischen und edaphischen
Faktoren ist in Anbetracht der weitgehenden
Abhängigkeit verschiedener Eigenschaften des
Mediums vom Klima durchaus kein scharfer. Nach
der Art ihrer Wirksamkeit kann man die Fak-
toren in physikalische und chemische einteilen.
Das Studium der Faktoren ist heute ein überaus
reges. In der Natur handelt es sich stets um
einen Komplex von Faktoren, die sich in kom-
plizierter Weise, teils fördernd, teils hemmend,
beeinflussen, so daß es sehr schwierig ist, die
Wirksamkeit des einzelnen und seinen Anteil am
Gesamteffekte richtig einzuschätzen.
1. Die Vegetatiousformen.
Die autökologische Forschung befaßt sich mit
den Pflanzensippen an sich, und zwar sowohl mit
ihrer Erscheinungsform und ihren einzelnen Merk-
malen als auch mit ihrer Verbreitung, soweit sie
durch heute wirksame Faktoren zu erklären sein
mögen. Sie vereinigt Sippen, die, gleichgültig,
ob sie näher oder entfernter miteinander verwandt
sind, in ihrer Tracht, soweit diese im Einklang
steht mit den äußeren Faktoren und mutmaßlich
durch sie bedingt ist, mehr oder weniger über-
einstimmen, als Vegetationsformen. Für die
richtige Beurteilung dieser kommen in erster Linie
Anpassungs- oder epharmotische Merkmale in Be-
tracht, Organisations- oder konstitutionelle Merk-
male nur insoweit, als anzunehmen ist, daß sie
durch Epharmose entstanden sind.
266
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 18
Der Begriff der Vegetationsform ist also zu-
gleich ein physiognomischer und ökologischer,
aber kein phylogenetischer. Die Feststeilung der
Vegetationsformen und ihrer natürlichen Gliederung
ist eine der wichtigsten Aufgaben der Autökologie.
Die bisherigen Auffassungen in dieser Hinsicht
weichen nicht unbeträchtlich voneinander ab, je
nachdem sie das Hauptgewicht mehr auf die
Tracht oder auf deren oder doch einzelner wich-
tiger Merkmale Bedingtheit legen, das heißt mit
anderen Worten, mehr das physiognomische oder
das ökologische Moment in den Vordergrund
stellen. Bei überwiegender Berücksichtigung des
physiognomischen Momentes kann man die Vege-
tationsformen als Wuchsformen, bei einer eben-
solchen des ökologischen als Lebensformen be-
zeichnen. Eine gleichmäßige Beachtung beider
Momente, so zwar daß das erstere durch das
letztere zu erklären versucht wird, scheint mir
der richtige Weg der autökologischen Forschung
zu sein.
Lediglich physiognomische Einteilungen der
Vegetationsformen sind höchstens noch für die
rein deskriptive Geobotanik und Geographie von
Bedeutung. Dies gilt vor allem von der Gliede-
rung Humboldts (1806, 181 1), der denn auch
seine, ohne Vollständigkeit anzustreben, namhaft
gemachten Grundgestalien — Form der Bananen,
Palmen, Baumfarne, Aloe- und Pothosgewächse,
Nadelhölzer, Heidekräuter, Mimosen, Malven, Wei-
den, Myrten, Melastomen, Lorbeergewächse, Reben
(Lianen), Lilien, Kakteen, Kasuarinen, Gräser und
Schilfe, Laubmoose, Blätterflechten, Hutschwämme
— dem Studium der Landschaftsmaler empfahl.
Ähnliches ist auch von Grisebachs, eines Schü-
lers Humboldts, physiognomischer Klassifi-
kation der Pflanzen zu sagen. Dieser Forscher
unterschied zunächst (1872) 54, später (1874) 60
Vegetationsformen und verteilte sie auf 7 Gruppen,
die Holzgewächse, Sukkulenten, Schlinggewächse,
Epiphyten, Kräuter, Gräser und Zellenpflanzen.
Obwohl viele seiner Formen für bestimmte Pflan-
zenklimate bezeichnend sind, wird doch das System,
da es sich zu wenig von konstitutionellen Merk-
malen emanzipiert hat, dem ökologischen Stand-
punkte nicht sehr gerecht.
Rein ökologische Umgrenzungen und Ein-
teilungen der Vegetationsformen haben den Nach-
teil, daß sie der Erscheinungsform, die doch in
erster Linie der sinnlichen Wahrnehmung zugäng-
lich ist, zu wenig Beachtung schenken. Dieser
Vorwurf trifft besonders Gams' Übersicht, bis zu
einem gewissen Grade aber auch Raunkiaers
treffliche Gliederung der Lebensformen.
Raunkiaer (1904, 1907, 1908) versteht unter
einer Lebensform die Gesamtheit der Pflanzen,
welche durch gleiche Art der Anpassung an die
klimatischen Verhältnisse im weitesten Sinne des
Wortes ausgezeichnet sind. Seine Lebensformen
dienen ihm in erster Linie zur Charakterisierung
der Pflanzenklimate. Als oberstes Einteilungs-
moment hat er die Art des Schutzes der Ge-
wächse gegen die ungünstigen Einflüsse der Ruhe-
perioden benützt, die in erster Linie durch das
Vorhandensein oder Fehlen von Überdauerungs-
knospen und in ersterem Falle durch den Ort
ihres Auftretens dem Erdboden gegenüber zum
Ausdruck kommt.
Sein System umfaßt nur die Gefäßpflanzen.
Diese gliedert er in
1. Phanerophyten: Knospen an ausdauernden, aufrechten
Sprossen : Bäume, Sträucher, Zwergsträucher usw.
2. Chamäphyten: Knospen in der Nähe des Erdbodens:
Halbsträucher, Spalier- und Polsterpflanzen usw.
3. Hemikryptophyten: Knospen auf dem Erdboden oder
innerhalb seiner Laub- oder Moosdecke: Stauden mit Aus-
schluß von 4.
4. Kryptophyten; Knospen im Erdboden: Zwiebel-,
Knollenstauden usw.
5. Therophyten : Dauerknospen fehlend ; Überdauerung
nur durch Samen: Kräuter.
Später hat er noch die beiden Gruppen der
Stammsukkulenten und Epiphyten hinzugefügt,
die Phanerophyten in Mega-, Meso- und Nanö-
phanerophyten und die Kryptophyten, je nach-
dem sie Erd- oder Wasserbewohner sind, in Geo-
phyten beziehungsweise Helo- und Hydrophyten
(Sumpf- und Wasserpflanzen) getrennt.
Was die Beziehungen zum Klima anlangt, so
überwiegen die Phanerophyten in den tropischen
Gebieten mit nicht zu geringen Niederschlägen,
die Therophyten in den Winterregengebieten der
subtropischen Zonen, die Hemikryptophyten im
größten Teile der gemäßigten und kalten Zone,
während die Chamäphyten vornehmÜch in letzte-
ren herrschen.
Besonders originell durch sehr starke Betonung
des ökologischen Momentes bei gleichzeitiger
Zurückstellung des physiognomischen ist Gams'
(1918) Versuch einer Übersicht über die Lebens-
formen des gesamten Pflanzen- und Tierreiches.
Es wird hier die gesamte Organismenwelt nach
dem verschiedenen Verhalten ihrer Angehörigen
zu Lebensraum und Standort, das heißt nach ihrer
„Ortsgebundenheit", in drei Hauptgruppen einge-
teilt, welche sind:
1. Der adnate Typus = Ephaptomenon, die Ge-
samtheit der dem Substrat anhaftenden oder in
dasselbe eingesenkten Pflanzen und Tiere;
2. der radikante Typus = Rhizumenon, umfaßt
die wurzelnden Organismen, also fast nur Pflanzen;
3. der errante Typus = Planomenon, vereinigt
alles, was einer Ortsveränderung fähig ist, das
sind die passiv und aktiv schwimmenden und
kriechenden Pflanzen und alle frei beweglichen
Tiere.
Ihrer systematischen Zugehörigkeit nach sind
die Pflanzen des ersten Typus fast nur Algen, Pilze
und Flechten, des zweiten in weitaus überwiegen-
der Menge Gefäßpflanzen und Moose, des dritten
vornehmlich Algen und Bakterien nebst relativ
wenigen Gefäßpflanzen und Moosen.
Das Ephaptomenon zerfallt, je nachdem die
Formen haftend, und zwar aquatisch, amphibisch
oder aerisch oder eingesenkt sind, in vier Sub-
N. F. XX. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
267
typen. Von Pflanzen gehören zu den beiden erst-
genannten, den Nereiden Warmings (1895), das
Gros der haftenden Algen nebst wenigen Moosen
und Blütenpflanzen {Podostemoitaceae), zum dritten
die Mehrzahl der Flechten sowie die Sporenträger
der Pilze und einfach gebaute Algen, zum vierten
nur Sporenpflanzen. Die Gliederung der Subtypen
erfolgt nach der Art der Ernährung, ob sie auto-
oder heterotroph und ob sie in letzterem Falle
saprophytisch oder parasitisch ist.
Das Rhizumenon, das fast nur aus Gefaß-
pflanzen besteht, wird im Sinne Raunkiaers ge-
gliedert. Die wichtigsten Abweichungen von diesem
bestehen in der Miteinbeziehung von radikanten
Sporenpflanzen und in der Unterordnung der
Therophyten unter die Kryptophyten. Raun-
kiaers Stammsukkulente und Epiphyten werden
nicht als eigene Klassen anerkannt. Die Phanero-
phyten zerfallen, je nachdem sie selbständig, stütz-
bedürftig oder parasitisch sind, in Stammpflanzen,
Holzlianen und Holzparasiten; die Chamäphyten
nach der Art der Wasseraufnahme, ob vorwiegend
ober- oder unterirdisch oder beides, in Bryo-
chamäphyten, Euchamäphyten und Polsterpflanzen;
die Hemikryptophyten nach der Blaltform in die
schmalspreitigen Grasartigen (Poiodea) und in
breitspreitige und diese wieder, je nachdem sie
nur Rosetten- oder Stengelblätter oder beiderlei
besitzen, in Basi-, Thyrso- und Basithyrsophylla;
die Kryptophyten schließlich nach dem Lebens-
raume der Vegetationsorgane, ob aquatisch, am-
phibisch oder terrestrisch, in Hydrokryptophyta,
Amphikryptophyta und Geophyta und diese wie-
der, je nachdem sie autotroph, und zwar mit
Bodenruhe aus Wassermangel oder aus anderen
Gründen, oder aber heterotroph sind, in Xero-, Eu-
und Heterogeophyta und letztere nach der Er-
nährung in Sapro- und Parageophyta.
Innerhalb des Planomenon gehören die Pflanzen
nur zum ersten Subtypus, dessen „Bewegung vor-
wiegend passiv" ist. Sie verteilen sich auf 4 Klas-
sen: I. Plankton, in offenem Wasser treibend,
2. Pleuston, auf der Oberfläche des Wassers
schwimmend, 3. Kryoplankton, in oder auf Schnee
oder Eis lebend und 4. Edaphon, im Bodenwasser
vegetierend. Das pflanzliche Plankton und Kryo-
plankton besteht größtenteils aus einzelligen
Algen, das Edaphon aus ebensolchen und Bak-
terien, das Pleuston zum Teil aus Algen, zum
Teil aus höheren Pflanzen. Das Plankton wird
weiter nach der Ernährung in Phyto-, Sapro- und
Paraplankton eingeteilt, das Pleuston in das nur
im Oberflächenhäutchen lebende Mikropleuston
und das über oder unter dieses Häutchen ragende
Makropleuston, das mit Warmings (1895) Hy-
drochariten identisch ist.
Gams' Übersicht scheint mir nebst vielen Vor-
zügen auch manche Schwächen aufzuweisen, so
vor allem die gemeinsame Behandlung der Tiere
und Pflanzen, die zu einer so unnatürlichen Gruppe
führt, wie es das Planomenon ist, und meines
Erachtens höchstens im Bereiche der Protisten
erfolgreich durchführbar wäre; ferner, vom rein
geobotanischen Standpunkte aus, die allzu große
Hintansetzung des physiognomischen Momentes
zugunsten des ökologischen, wie sie in der Auf-
teilung der Thallophyten unter die Kormophyten,
der Vereinigung der Therophyten mit den Kryp-
tophyten, der Wertung „phänologischer" Merk-
male, wie Dauer des Laubes, als rein konstitutio-
neller, in der Auffassung ausgesprochener Biozö-
nosen oder „Synusien" wie Plankton oder Pleuston
als Klassen von Lebensformen usw. zum Ausdruck
kommt, und schließlich in der doch nicht ganz
konsequenten Beibehaltung des ökologischen Prin-
zipes, indem unter den Hemikryptophyten von
den dikotylen Stauden die mehr physiognomisch
als ökologisch abweichenden Grasartigen als Poi-
odea getrennt werden.
Von Einteilungen der Vegetationsformen, die
einen zwischen dem physiognomischen und öko-
logischen Extrem vermittelnden Standpunkt ein-
nehmen, seien nur die Drudes (zuletzt 191 3),
Diels' (1917) und Warmings (zuletzt 1918)
genannt. Drude neigt mehr dem physiogno-
mischen, Warming dem ökologischen Stand-
punkte zu, Diels hält die Mitte zwischen beiden.
Drude behandelt die Zellpflanzen gesondert
von den Gefäßpflanzen, die er in Aerophyten und
Hydrophyten (einschließlich Hygrophile), d. h. in
Land- und Wasserpflanzen, trennt. Die Zellen-
pflanzen zerlegt er in 11, die Gefäßpflanzen in
44 Gruppen von Lebensformen, von denen 38
auf die Aerophyten, 6 auf die Hydrophyten ent-
fallen. Diese Lebensformen, die er selbst als
physiognomische bezeichnet, stimmen zum nicht
geringen Teil mit denen Grisebachs überein.
Diels gliedert die Pflanzen in Autotrophe und
Heterotrophe und zerlegt erstere in Wasser- und
Landpflanzen, die er den letzteren als gleichwertige
Gruppen gegenüberstellt. Die Wasserpflanzen
sondert er in i. Schwimmende — Mikro-, Kryo-,
Makroplankton und Hydrochariten — , 2. Fest-
sitzende — Nereiden, Podostemonazeen und Mikro-
benthos — und 3. Wurzelnde — Enhaliden des
Meeres und* Limnäen des Süßwassers; die Land-
pflanzen in I. Flechten — Krusten- und Strauch-
typus — , 2. Moose und 3. Gefäßpflanzen — und
diese wieder in Holzpflanzen — Wipfel- und
Schopfbäume, Sträucher, Halbsträucher, Stamm-
sukkulente — , Stauden — permanente und redi-
vive — und Kräuter . — Sommer- und Winter-
annuelle und Bienne; die Heterotrophen schließ-
lich in Bakterien, parasitische und saprophytische
Pilze und heterotrophe Gefäßpflanzen.
Warming sondert zunächst die heterotrophen
Pflanzen, Holoparasiten und -Saprophyten, ferner
die Flechten, die Wasserpflanzen, Moosartigen und
Lianen als eigene Gruppen von den autotrophen
selbständigen terrestren Gefäßpflanzen ab. Diese
teilt er, je nachdem sie einmal oder öfter blühen,
in Hapaxanthe — Sommer- und Winterannuelle,
Bienne und pleiozyklische (mehrjährige) Kräuter
— und Pollaxanthe ein und letztere zunächst
26a
NätürwissfenScllaftiiche Wochenschrift,
N. F.- XXv Nf.- rö
in solche mit aufrechten, orthotropen und in
kriechende mit liegenden, plagiotropen Laub-
sprossen. Die Orthotropen zerfallen in krautige
Gewächse (Stauden), Halbsträucher, Polsterpflanzen,
Weichstammgewächse, Stammsukkulente und
echte Gehölze; die Stauden in solche mit schmalen,
grasartigen und mit breiten Blättern und diese
wieder, je nachdem die Blätter an oberirdischen
Langtrieben oder einzelnen unterirdischen Trieben
entspringen oder zu einer Rosette vereinigt sind,
in L^ng-, Blatt- und Rosettenstauden; die Lang-
stauden werden nach der Art der Bestückung ein-
geteilt in solche ohne Wandersprosse und unter-
irdische Speicherorgane, mit ober- oder unter-
irdischen Ausläufern, mit kriechenden dicken
Wurzelstöcken, Knollen oder Zwiebeln ; die echten
Gehölze in dikotyle und monokotyle Sträucher
und in Wipfel- und Schopfbäume. Die Kriech-
pflanzen endlich sind teils krautig, teils Halb-
sträucher oder Gehölze.
Ein Kompromiß zwischen einer rein ökologi-
schen und physiognomischen Einteilung, mit öko-
logischen Haupt- und physiognomischen Unter-
gruppen hat H. Reiter (1ÖÖ5) geschlossen. Er
unterscheidet :
A) Assimilierende Chlorophyllpflanzen. AA. Wurzellose
Lagerpflanzen. 1. Algen. — 11. Moose. a) Schorfmoose:
Marchantien- und Zetrarienform. b) Laubmoose: Sphagnum-
und Polytrichumform. — BB. Wurzeltragende Stammpflanzen.
I. Landpflaozen. a) Kräuter. 1. Wurzelstockgewächse. «) Stau-
den: Spiräen- , Gnaphalium- , Distel, Melden-, Chenopodien-
und Lythrumform ; ß) Gräser: Ruchgras-, Tbyrsa-, Hirse- und
Rohrgrasform; ;■) Rosetten: Pteris-, Bromelien-, Agaven-, Arum-,
Pisang- und Ingwerform. 2. Zwiebelgewächse, b) Holzge-
wächse. I. Kronenträger. «) Sträucher. a' Immergrüne;
Oleander-, Oschur- und Erikenform; ß' Periodisch belaubte:
Rhamnus- und Sodadaform; y' Laublose: Spartiumform;
S' Dorntragende : Tragakanthenform ; ß) Wipfelbäume, a' Immer-
grüne : Lorbeer-, Eukalypten-, Fichten-, Mimosen- und Man-
groveform; ß' Periodisch belaubte: Buchen- und Sykomoren-
form; y' Laublose: Kasuarinenform. 2. Rosettenträger.
«) Zwergpalmen, ß) Hochpalmen, a' Schmalspreitige : Dra-
zänen-, Vellosien-, Aloe- und Pandanusform; ß' Breilspreitige:
Balantium-, Palmen- und Aralienform. 3. Büschelträger;
Bambusenform. c) Sukkulente: Kaktusform. — II. Wasser-
pflanzen, a) Stabile: Binsen- und Simsenform, b) Flutende:
Elatinen- , Myriophyllum-, Nymphäen- und Kastelnavienform.
— III. Luftwurzelgewächse. — Bj Chlorophyllose Schmarotzer.
I. Haustoriumpflanzen : Neottien- und Orobanchenform.' —
U. Myzeliumpflanzen.
Die folgenden Zeilen enthalten einen neuen
Versuch einer Feststellung und Klassifizierung der
natürlichen Hauptgruppen der Vegetationsformen
des Pflanzenreiches auf physiognomisch- ökologi-
scher Grundlage.
A) Punktpflanzen {Punciiformes), Einzellige Wasser-
oder Landpflanzen: Fast nur Algen und Bakterien.
I, Autotrophe. a) Schwimmende, kriechende und schwe-
bende, b) Haftende und eingewachsene. — II. Heterotrophe.
a) Saprophytische. b) Parasitische.
B) Schleimpflanzen {Mucilaginosae). Plasmodien der
Schleimpilze. Heterotroph, landbewohnend.
C) Fadenpflanzen [Filiformes). Wasser- und Land-
pflanzen, deren Zellen, nach einer Richtung des Raumes an-
einandergereiht, Fäden bilden: Algen, Myzelien der Pilze;
Protonemata vieler Moose.
I. Autotrophe. a) Schwimmende, b) Haftende, c) Wur-
zelnde. — II. Heterotrophe. a) Saprophytische. b) Parasitische.
D) Pilzpflanzen [Fungosae). Sporenkörper der echten
Pilze und Schleimpilze. Heterotroph, landbewohnend.
E) Flechtenpflanzen (Lichenosae). Durch Symbiose
autotrophe Landpflanzen.
I. Emgewachsene ; Endolithische und hypophlöodische
Flechten. — II. Angewachsene und wurzelnde; Krusten-,
Laub- und Sirauchflechten.
F) Lagerpflanzen [Tkallosae). Autotrophe, meist haf-
tende, seilen wurzelnde oder schwimmende Wasserpflanzen
mit durch Anordnung nach zwei oder allen drei Richtungen
des Raumes zu Lagern vereinten Zellen : Die meisten Braun-
algen und viele Rot- und Grünalgen.
l. Kugelige. — II. Laubartige. — III. Sproßartige.
G) Laubp flanzen (Frondosae). Autotrophe, wurzelnde
Landpflanzen mit laubartigem Assimilationskörper: Die meisten
frondosen Lebermoose und viele Pteridophyien-Prothallien ;
auch gewisse Laubflechten, wie Peltigera , erinnern an diese
Form.
H) Moospflanzen [Muscosae). Autotroph, wurzelnd
oder haftend, mit sproßartigem Vegetationskörper. Wasser-
aufnahme allseitig: Laubmoose und beblätterte Lebermoose.
1. Wassermoose. — 11. Torfmoose. — III. Landmoose.
J) Sproßpflanzen [Germinosae). Fast stets autotroph,
mit echten Wurzeln und aus Stamm und Blättern bestehendem
Assimilationskörper. Nahrungsaulnahme zumeist nur durch
die Wurzeln: Farn- und Samenpflanzen.
I. Landbewohner, a) Holzgewächse, b) Halbsträucher.
c) Stauden, d) Kräuter. — II. Wasserbewobner. a) Wur-
zelnde, b) Schwimmende, c) Haftende [PodosUmonaciae).
Bei dieser Übersicht leitete mich vor allem
das Bestreben, die große Formenmannigfaltigkeit
der Zellenpflanzen, die ja nicht nur in phylogene-
tischer, sondern auch in ökologischer und physio-
gnomischer Hinsicht größere Gegensätze aufweisen
als die Gefäßpflanzen, wenn dies auch infolge
ihrer meist viel geringeren Größe nicht so in die
Augen springt, mehr zum Ausdruck zu bringen
als dies bisher der Fall war. Die Abtrennung der
Zellenpflanzen von den Gefäßpflanzen ist aber
nicht nur physiognomisch, sondern auch ökolo-
gisch gerechtfertigt. Denn während diese großen-
teils klimatisch bedingt, sind jene vom Klima
weniger als vom Substrate abhängig, was sie auch
für ein System, das in erster Linie zur Charakte-
risierung der Klimate dient, wie dasRaunkiaers,
entbehrlicher macht. Gleich der Absonderung
der Zellenpflanzen erscheint mir auch ihre Gliede-
rung in mehrere Haupttypen nicht nur physio-
gnomisch, sondern auch ökologisch gerechtfertigt.
Während für die Unterteilung der Haupttypen
der Zellenpflanzen als wichtigste Momente die
Art der Orisgebundenheit und Ernährung in Be-
tracht kommen, spielt bei der der Gefäßpflanzen
speziell letztere eine viel geringere Rolle. Diese
werden vielmehr naturgemäß zunächst nach dein
Lebensorte in Wasser- und Landbewohner einge-
teilt. Die ersteren sind gleich den meisten Zellen-
pflanzen hauptsächlich edaphisch, die letzteren
größtenteils vorwiegend klimatisch bedingt. Nur
beim Zustandekommen sehr extremen Bodenver-
hältnissen — Salzreichtum, Fels-, Schutt-, Sand-
böden usw. — ausgesetzter Formen, wie Halo-
phyten, Chasmophyten, Schuttwanderer, Sand-
festiger usw., können auch hier edaphische Ein-
flüsse ausschlaggebend sein.
Die weitere Gliederung der landbewohnenden
Gefäßpflanzen wird verschieden ausfallen, je nach-
N. F. XX. Nr. 18
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
269
dem sie rein ökologisch oder ökologisch-physio-
gnomisch sein will. Ein Muster in ersterem Sinne
ist Raunkiaers Einteilung. Sie wäre nur durch
Hervorhebung aller edaphisch bedingten Formen
neben den klimatischen zu ergänzen. Treffliche
Systeme der zweiten Art sind die schon genannten
Drudes und Warmings.
Eine lediglich physiognomische Gruppierung
kann nur von deskriptiver Bedeutung sein. Als
wichtigstes Einteilungsmoment käme in dieser
Hinsicht meines Erachtens das Verhältnis zwischen
Blättern und Stamm des Sprosses, ob erstere oder
letzterer überwiegen oder sich beide gleichmäßig
am Aufbau der Triebe beteiligen, sowie des
Sprosses zur Wurzel in Betracht. Bei konsequenter
Anwendung dieses Momentes lassen sich folgende
physiognomische Hauptgruppen der Wuchsformen
der terrestrischen Sproßpflanzen unterscheiden,
wobei jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit
erhoben wird.
A) Blattpflanzen. I. Karnblattypus : Farne, Zykadeen.
— 11. Scheidenblallypus: die meisten Monokotyledonen und
IVtlwiischia. a) Gras-, b) Binsen-, c) Schwerte!-, d) Palmen-,
e) Arajeen-, f) Pisang-, g) Amaryllideen-, h) Aloe-, i) Bro-
melieniypus.
Bi Blattstammpflanzen. I. Nadel- und Scbuppen-
blatlypus: Lykopodiazeen, Koniferen, Erikazcen usw. —
II. Flachblatlypus : Die meisten Dikoiyledonen, wenige Mono-
kotyledonen, Gnelum. — III. Dornblaltypus ; Astragalus, Acan-
iholimon usw. — IV. Dickblattypus: Dikotyle Blaitsukkulente.
C) Stammpflanzen. I. Rutenstammtypus: Eipiisitum,
Ephedra, Casuannu, Spuitium usw. — II. Flachstammtypus:
Phyltocaclus usw. — 111. Dornstammtypus: Dornbüsche. —
IV. Dickstamratypus: Stammsukkulente. — V. Bleicbslamm-
typus : Heterotrophe wie Orobancitr, A'eotlhi, Cuscuta.
D) W u r z e 1 p f 1 a n z e n. Tacniophyllum.
Die aquatischen Sproßpflanzen zerfallen bei
analoger Einteilung nur in Blatt- und Blattstamm-
pflanzen. Unter den ersteren könnte man haupt-
sächlich einen Band- und Schwimmblattypus, unter
den letzteren einen Lineal- und Schlitzblattypus
auseinanderhalten.
Was die Verbreitung der Sippen anlangt, so
sucht die Autökologie vor allem die Vegetations-
linien festzustellen, das sind Verbreitungsgrenzen,
welche lediglich ökologisch, und zwar klimatisch
bedingt sind und daher mit klimatischen Kurven
zusammenfallen. Da aber die Verbreitung jeder
Sippe durch einen ganzen Komplex von Faktoren
bedingt ist, sind reine Vegetationslinien, wenn es
überhaupt welche gibt, jedenfalls sehr selten.
Die synökologische Pflanzengeographie ist die
Lehre vom Zusammenvorkommen der Pflanzen,
von den Vegetationsgebieten und -formationen.
Vegetationsgebiete sind Abschnitte der Erdober-
fläche, welche infolge einheitlicher ökologischer,
vor allem durch das Klima, und zwar auf dem
Lande in erster Linie durch Wärme und Feuchtig-
keit, bedingter Verhältnisse einen einheitlichen
Vegetationscharakter besitzen. Die größten Vege-
tationsgebiete sind die Vegetationszonen. Sie
fallen mit den geographischen Wärme- und
Trockengürteln zusammen. A. De Candolle
(1874) teilt die Sippen, ohne wie Raunkiaer
auf ihre Physiognomie Rücksicht zu nehmen,
lediglich nach ihren Ansprüchen an Wärme und
Feuchtigkeit in fünf Gruppen, deren jede für eine
Vegetationszone bezeichnend ist, und zwar:
1. Hydromegathermen. Mit dem größten Bedürfnis nach
Wärme und Feuchtigkeit: Tropische Regenwaldgebiete.
2. Xerothermen Brauchen viel Wärme und ertragen
andauernd große Trockenheit: Subtropische Wüsten- und
Steppengebiete.
3. Mesotheimen. Verlangen ziemlich viel Wärme und zu
gewissen Zeiten reichliche Niederschläge : Hartlaubgebieie der
subtropischen und warmgemätigten Zonen.
4. Mikrotbermen. Mit geringerem Wärmebedürfnis, je-
doch gleichmäßig verteilte Niederschläge verlangend: Wald-
und Wiesengebiete der gemäßigten Zonen.
5. Hekistothermen. Mit den bescheidensten Wärmean-
sprüchen: Tundren- und Eisgebiete der kalten Zonen.
Die infolge der Wärmeabnahme mit steigen-
der Meereshöhe vertikal übereinander liegenden
Vegetationsgebiete nennt man Vegetationsstufen.
Die Angehörigen der höchsten dieser Stufen sind
gleich denen der Polargebiete Hekistothermen.
In äquatorialen Hochgebirgen kann man eine Auf-
einanderfolge von Sippen verschiedener Wärme-
ansprüche von Hydromegathermen bis zu Hekisto-
ther-men beobachten. Durch klimatische Ver-
schiedenheiten innerhalb der größten Vegatations-
gebiete, der Zonen und Stufen, werden kleinere,
Provinzen, Bezirke usw., bedingt. Gleich den Kli-
maten, von denen sie abhängig sind, gehen diese
Gebiete entweder, z. B. in Ebenen, allmählich in-
einander über, oder sind, wie an der Sonnen- und
Schattenseite einer ost-westlich streichenden Ge-
birgskette, mehr oder weniger scharf geschieden.
Im Wasser, wo die edaphischen Einflüsse über-
wiegen, ist die klimatische Gliederung der Vege-
tation in Gebiete im großen und ganzen nicht so
ausgesprochen wie auf dem Festlande. Eine ver-
tikale Abstufung wird vornehmlich durch Licht-
differenzen hervorgerufen.
2. Die Yegetationsforniationeu.
Innerhalb der klimatisch bedingten Gebiete ist
die Vegetation in erster Linie infolge abweichen-
der Bodenbeschaffenheit der Standorte, also aus
edaphischen Ursachen, in physiognomisch ver-
schiedene Pflanzengesellschaften, Formationen, ge-
gliedert. Das Volk kennt solche schon lange und
hat sie mit eigenen Namen, wie Wald, Wiese,
Steppe, Macchia, Phrygana, Scrub usw. belegt. In
die Wissenschaft wurde der Formationsbegriff durch
Grisebach (1838) eingeführt: „Ich möchte eine
Gruppe von Pflanzen , die einen abgeschlossenen
physiognomischen Charakter trägt, wie eine Wiese,
ein Wald usw., „eine pflanzengeographische For-
mation" nennen. Sie wird bald durch eine einzige
gesellige Art, bald durch einen Komplex der vor-
herrschenden Arten derselben Familie charakteri-
siert, bald zeigt sie ein Aggregat von Arten. . .
Diese Formationen nun wiederholen sich überall
nach lokalen Einflüssen. .." Grisebach legt
also in seiner Definition das Hauptgewicht auf die
270
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. i8
Physiognomie, spricht aber auch von der Bedingt-
heit — durch „lokale Einflüsse" — und deutet
sogar an, daß es sich um etwas Abgeschlossenes
handelt. Die von Grisebach betonten Momente
finden sich auch in den späteren Definitionen
wieder. Während aber Grisebach auch auf die
Zusammensetzung der Formationen aus Arten,
also auf ein floristisches Merkmal, Bedacht nahm, .
wurde später hiervon abgesehen und die Forma-
tion nur mehr durch die Vegetationsformen, also
rein ökologisch, gekennzeichnet. So sagt Schrö-
ter (1902): „Eine Formation umfaßt sämtliche
Bestandestypen der ganzen Erde, welche in ihrer
Physiognomie (d. h. ihren Lebensformen) und in
den Grundzügen ihrer Ökologie übereinstimmen,
während die Artenlisten gleichgültig sind"; und
Drude (1905): „Als Vegetationsformation gilt
jeder selbständige, einen natürlichen Abschluß in
sich selbst findende Hauptbestand gleichartiger
oder durch innere Abhängigkeit unter sich ver-
bundener Vegetationsformen auf örtlich veranlaßter
Grundlage derselben Existenzbedingungen." Das
Abgeschlossensein hat besonders Beck (1902) als
bezeichnend für die Formation hervorgehoben, in-
dem er von jeder Pflanzenformation verlangt, „daß
sich bestimmte Vegetationsformen, d. h. Pflanzen,
deren äußere Form sowohl wie deren Leben sich
bestimmten Lebensbedingungen angepaßt hat,
überall gesellig vereinen und in ihrer Vereinigung
einen längere Zeit dauernden Abschluß finden",
durch welchen jede Formation „das ihr eigentüm-
liche physiognomische Gepräge" erreicht. Als ab-
geschlossene Gesellschaften sind in diesem Sinne
nicht etwa nur Klimaxformationen, sondern alle
jene zu verstehen, deren Komponenten in einem
den jeweilig herrschenden ökologischen Bedingun-
gen entsprechenden Gleichgewichtszustande als
Resultat ihres Konkurrenzkampfes sich befinden.
„Jede Pflanzenformation ist also nur so lange als
bestehend zu erachten und zu unterscheiden, als
die Lebensbedingungen ihrer Bestandteile die
gleichen bleiben. Eine Formation, die nicht nur
physiognomisch- ökologisch, durch ihre Vegetations-
formen und deren Abhängigkeit von den Stand-
ortsfaktoren, sondern auch floristisch, durch ihren
Artbestand, charakterisiert wird, heißt Assoziation.
In diesem Sinne die Definition Flahaults und
Schröters (191 o): „Eine Vegetationsformation
ist der gegenwärtige Ausdruck bestimmter Lebens-
bedingungen. Sie besteht aus Assoziationen, welche
in ihrer floristischen Zusammensetzung verschieden
sind, aber in erster Linie in den Standortsbedin-
gungen, in zweiter Linie in ihren Lebensformen
übereinstimmen." Während die Formation vor-
wiegend ökologisch, ist die Assoziation auch histo-
risch bedingt.
Die wichtigsten Momente für die Charakteri-
sierung und Einteilung der Formationen sind
deren Physiognomie und ökologische Bedingtheit.
Bei der Bewertung einer Pflanzengesellschaft als
Formation ist stets deren Entwicklungsstadium in
Betracht zu ziehen.
Die nächstfolgenden Zeilen enthalten einige
Angaben über Physiognomie, Ökologie und Ent-
wicklung der Formationen, soweit diese Momente
für eine natürliche Gliederung derselben von Be-
deutung sind.
1. Die Physiognomie. Sie ist es, welche
sich zunächst den Sinnen offenbart und auf Grund
derer der Mensch schon seit langem die Forma-
tionen unterschieden und benannt hat. Die Phy-
siognomie der Formationen kommt zustande:
a) Durch die Art der sie zusammensetzenden
Vegetationsformen und deren Mengenverhältnis.
Das Aussehen der Formationen ist ein sehr ver-
schiedenes, je nachdem einzelne Vegetationsformen,
wie Bäume, Sträucher, Grasartige, Moose, Flechten
usw., den Ton angeben oder mehrere an
ihnen ungefähr gleichen Anteil haben. So be-
ruht beispielsweise der physiognomische Unter-
schied zwischen einem Hoch- und Niedermoor
vielfach darauf, daß in ersterem Sphagnen allein
dominieren, in letzterem aber sich Grasartige mit
Moosen in die Vorherrschaft teilen. Zur Fest-
stellung der quantitativen Anteilnahme der einzel-
nen Sippen an der Zusammensetzung von Asso-
ziationen wurden verschiedene Methoden mit teils
größerem, teils geringerem Erfolge angewendet.
b) Durch die Schichtung. Nach der Zahl der
Schichten kann man ein- und mehrschichtige
Formationen unterscheiden. So ist z. B. nach
Kern er (1863) in einem Fichten walde ein Gefilz
von Moosen als untere, ein Geblätt von Farnen
als mittlere und das Gehölz der Fichten als obere
Schichte ausgeprägt. Hierzu kommt noch als
unterste Schichte das „Gefäde" der den Boden
durchspinnenden Pilzmyzelien nebst den zum Eda-
phon gehörigen Bodenbakterien. Am reichsten
geschichtet ist jedenfalls der tropische Regenwald.
— Diese Schichten entsprechen, soweit sie aus
Angehörigen einer einzigen Lebensform zusammen-
gesetzt sind Gams' (1918) Synusien 1. und 2.
Grades, worunter dieser Forscher Gesellschaften
von Pflanzen — und Tieren — versteht, deren
selbständige — nicht abhängige — Komponenten
der gleichen Art bzw. verschiedenen Arten der
gleichen Klasse von Lebensformen angehören.
Diese Synusien sowie die dritten Grades, die aus
verschiedenen durch feste Korrelationen miteinan-
der verbundenen Synusien i. und 2. Grades be-
stehen, sind nach Gams rein synökologische Ein-
heiten. Die Formation in unserem Sinne dagegen
ist ihm eine topographische Einheit — „Phyto-
zönose" — , welche die an einen Standort gebun-
dene Vegetation umfaßt, gleichgültig ob sie öko-
logisch einheitlich ist oder nicht, und in der Regel
aus mehreren in mehr minder inniger Abhängig-
keit voneinander stehenden Synusien und Einzel-
organismen („Clans") aufgebaut ist. „Die ver-
schiedenen Schichten der Wälder sind als getrennte
Synusien zu betrachten, die nur durch ziemlich
schwache Korrelationen verbunden und daher
einer weitgehenden Alternanz fähig sind." Glei-
ches gilt von denen vieler Sümpfe usw. Während
N. F. XX. Nr. 18
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
271
für den Geographen die Kenntnis der Formationen
im Vordergrunde des Interesses steht, ist es auch
Aufgabe des Ökologen, die Zusammensetzung der
Synusien festzustellen und ihre Ökologie zu unter-
suchen. Es obliegt ihm auch zu erkunden, inwie-
weit die Synusien einer Formation nur durch den
Standort zusammengehalten, inwieweit enger mit-
einander verknüpft sind. Je enger diese Ver-
knüpfung, desto mehr ist es gerechtfertigt , auch
die Formation als eine rein ökologische Einheit
zu bezeichnen. Mit Garns' Synusien i. und 2.
Grades stimmen auch Drudes(i9i9) Elementar-
assoziationen, abgesehen davon, daß dieser Forscher
das floristische iVIoment stärker in den Vorder-
grund stellt, gut überein. Von den gewisser-
maßen horizontal geschichteten „Mosaikformatio-
nen" wird noch die Rede sein.
c) Durch den Grad des Zusammenschlusses.
Die eine Formation zusammensetzenden Individuen
sind entweder einander so sehr genähert, daß sie
den Boden vollkommen bedecken, oder durch
mehr minder große Zwischenräume getrennt, auf
denen die Unterlage zutage tritt. In ersterem
Falle spricht man von einer geschlossenen, in
letzterem von einer offenen Formation. Die bei-
den Extreme sind durch viele Zwischenstufen ver-
bunden. Offene Pflanzengesellschaften sind ent-
weder Anfangsstadien geschlossener Formationen
oder aber, unter andauernd ungünstigen klimati-
schen oder edaphischen Verhältnissen Endstadien
in der Entwicklung der Vegetation. In offenen
Formationen kämpfen die Pflanzenindividuen nur
oder doch vornehmlich gegen die Unbilden von
Klima und Boden, in geschlossenen befinden sie
sich überdies in gegenseitigem Wettbewerb.
d) Durch die Aspekte. Unter Aspekt versteht
man das Aussehen einer Formation zu einem be-
stimmten Zeitpunkte des Jahres. Der Grund für
die gesetzmäßige Änderung des Aspektes einer
Formation im Verlaufe einer bestimmten Zeit liegt
in der Periodizität ihrer Konstituenten. Ver-
schiedene Formationen bieten im allgemeinen in-
folge der verschiedenen Periodizität ihrer Ange-
hörigen zur gleichen Zeit verschiedene Aspekte.
Außer den Vegetationsformen und ihrem Mengen-
verhältnis ist nichts in so hohem Grade wie die
Aspekte geeignet, die Beziehungen einer For-
mation zu den Faktoren, vor allem dem Klima,
besser zu veranschaulichen als die Aspekte. In
jüngster Zeit hat Gams (1918) zur Darstellung
der Lebensformen und Aspekte von Formationen
— durch sog. „phäno-ökologische Spektra" —
eine, wie mir scheint, sehr glückliche Methode
angewendet.
2.Die Ökologie. Gleich den Vegetationsformen
werden auch die von diesen aufgebauten For-
mationen in erster Linie durch das Medium —
Land oder Wasser — bestimmt. Auf dem Fest-
lande sind jene vor allem von klimatischen Fak-
toren, wie Licht, Luftfeuchtigkeit und bewegung,
und nur in geringerem Grade vom Boden und
zwar hauptsächlich von seiner Konsistenz, ob er
felsig, schotterig, sandig usw., weniger von seiner
chemischen Beschaffenheit — Salzgehalt! — ab-
hängig; diese hingegen, wenigstens innerhalb eines
bestimmten Vegetationsgebietes, umgekehrt vor-
nehmlich durch edaphische Momente bedingt,
unter denen Feuchtigkeit und Nährstoffgehalt des
Bodens eine mindestens ebenso große Rolle spielen
wie sein Zusammenhalt. Im Wasser ist für beide
die Art des Lebensraumes besonders maßgebend ;
ob die Individuen sich im freien Wasser aufhalten
oder an das Ufer gebunden sind; und ob sie in
ersterem Falle auf der Oberfläche schwimmen oder
in tieferen Schichten schweben, in letzterem an
festem Gestein festgewachsen sind oder in losem
wurzeln ; ferner der Bewegungszustand des Wassers,
ob es steht, fließt oder brandet, und sein Gehalt
an Nährstoffen.
Sind so die Formationen vom Substrate ab-
hängig, so beeinflussen sie es andererseits, indem
sie es durch mehr oder weniger unvollständige
Zersetzung der absterbenden Individuen oder doch
derer Organe in höherem oder geringerem Grade
mit organischer Substanz bereichern. Durch eine
derartige allmähliche Veränderung der edaphischen
Verhältnisse kann sich eine Formation gewisser-
maßen selbst das Grab graben und den Boden
für eine anders geartete Nachfolgerin, ein Folge-
stadium, vorbereiten. Von diesen Sukzessionen
ist später noch die Rede.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für
die Ausgestaltung der Formationen sind die Tiere.
In erster Linie sind es die Bodenbewohner, deren
Wirksamkeit mit dem Gedeihen der Formationen
so innig verknüpft sein kann, daß sich beide zu
Lebensgemeinschaften höherer Ordnung, „Bio-
zönosen" ergänzen. Auf dem Festlande kommen
vor allem Regenwürmer, in geringerem Grade
auch Myriopoden, Insektenlarven usw. in Betracht.
Insbesondere die ersteren sind es, welche den
Boden durchlüften, düngen, seine Partikelchen
vermischen und so seine physikalischen und che-
mischen Eigenschaften wesentlich verändern. Nicht
zu vergessen sind auch die terrikolen Feinde der
genannten Tiere, wie Maulwürfe, Ameisen usw„
die auch nicht ohne Einfluß auf die Beschaffen-
heit der Formationen sind. Im Meeresboden
spielen Arten von Arenicola usw. eine der der
Regenwürmer analoge, wenn auch bescheidenere
Rolle. In zweiter Linie sind die Weidetiere zu
nennen, welche bei ihrem Weidegange die For-
mationen teils durch mechanische Schädigung in
ihrer Physiognomie, teils durch Düngung öko-
logisch verändern können.
In gleichem Sinne wie die Tiere, jedoch viel
intensiver, weil bewußt, beeinflußt der Mensch die
Formationen. Er wirkt einerseits durch die Tiere,
indem er viele Pflanzenvereinigungen seinen Herden
zur Beweidung überläßt, und andererseits direkt,
indem er durch Ackern, Einbringen der Ernte und
Düngung die physikalische Beschaffenheit und den
Nährstoffgehalt des Bodens erheblich modifiziert
und durch den Schnitt der Sense und Sichel eine
272
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. N. XX. Nr. i8
Auslese der Vegetationsformen hervorruft. In-
wieweit die menschliche Tätigkeit Sukzessionen
veranlaßt, soll später noch erörtert werden.
Die eben betonte Abhängigkeit der Formationen
von edaphischen Verhältnissen, die insbesondere
Seh im per (1898) durch seine Definition „Man
nennt die durch die Bodenqualiläten bedingten
Pflanzenvereine Formationen" hervorhebt, läßt sich
vor allem aus der Tatsache erkennen, daß im all-
gemeinen unter sonst gleichen Umständen an
Stellen mit gleicher Bodenbeschafifenheit eine und
dieselbe Formation, an edaphisch verschieden-
artigen dagegen verschiedene Formationen sich
finden. Beobachtet man nun aber die Bodenquali-
täten innerhalb einer Pflanzengesellschaft, die man
ihrer einheitlichen Gesamtphysiognomie wegen als
einer einheitlichen Formation zugehörig ansprechen
muß, wie etwa in einer Sumpfwiese oder einem
Nadel walde, so zeigt es sich, daß dieselben durch-
aus nicht immer in allen Teilen die gleichen sind,
sondern vielmehr oft erheblich voneinander ab-
weichen. Daß schon auf kleinstem Räume die
edaphischen Verhältnisse sehr verschieden sein
können, hat G. Kraus (1911) in überaus ein-
gehender Weise dargetan. Er gelangte zu dem
Resultate, „daß der Natur(Wild-)boden im Gegen-
satz zum Kulturboden nirgends gleichartig, sondern,
wie man sich am einfachsten vorstellt, aus einem
über jede Erwartung mannigfaltigen Mosaik che-
misch und physikalisch verschiedenster Boden-
flecke besteht. Es ist auf kleinstem Raum in
der Natur eine unendliche Mannigfaltigkeit che-
misch und physikalisch verschieden gebauter
.Standorte' gegeben. Die Einheitlichkeit einer
Formation vermögen aber derartige Unterschiede
der Faktoren auf kleinstem Raum nicht zu beein-
trächtigen. Sie bedingen höchstens den Arten-
reichtum einer jungen Formation im Gegensatze
zur Armut einer älteren mit mehr ausgeglichenen
Bodenqualitäten."
Anders liegen die Dinge, wenn es sich um
edaphische und klimatische Unterschiede auf
größerem Raum handelt, wie etwa in einer trocke-
nen felsigen Alpenmatte, in der die dominierende
Grasflur vielfach unterbrochen ist von den auf
ihrer glatten Oberfläche Lithos (Vierhapper
1918) und in ihren Spalten eine Chasmophyten-
vegetation tragenden kleinen Felsköpfen, an deren
Schattseite in feuchten Klüften usw. oft noch
einzelne Schneetälchenpflanzen oder andere mehr
minder hygrophile Typen sich als Formations-
fragmente i) aufhalten. Eine solche Matte ist, um
einen von DuRietz (1918) geprägten Ausdruck
zu gebrauchen, als Formationskomplex, oder, wenn
man auch auf die floristische Zusammensetzung
Rücksicht nimmt, als Assoziationskomplex zu be-
zeichnen. Analog, wenn auch in gewissem Sinne
umgekehrt, indem der Lithos der nackten Flächen
über die Grasflur- oder Gehölzformationen der
') Nach Du Rietz' (1907) Assoziationsfragmente.
humusreichen Bänder das Übergewicht hat, ver-
hält sich die Vegetation vieler Felsen. Besonders
typische Formaiionskomplexe sind jene Hoch-
moore, in denen Kolke mit flutenden Sphagnen
wie Sphagnum cuspidatum und recurvum und
anderen Moosen wie Hypnum fluitans, ferner mit
Utriciilaria-hxr.&n, vielen Desmidiazeen und ande-
ren Planktonten usw., Schienken mit Sphagnum
papillosum und anderen Arten, die einen mittleren
F"euchtigkeitsgrad lieben, Moosen wie Hylocotumm
Schreberi, Aulacomnium palustre und Blüten-
pflanzen wie Drosera- ?s.xX.^i\ , Scheiichseria palu-
stris, Carex liniosa und Bülten mit Legtöhre,
Vaccinium myrtülus, uUginosum und vitis idaea,
Calluna vulgaris, Eriophoruni vaginatmn, relativ
trockene Standorte bevorzugenden Sphagnen und
anderen Moosen usw. miteinander abwechseln. Es
sind dies in lebhafter Weiterentwicklung begriff'ene
Vergesellschaftungen, die einem bestimmten End-
stadium zustreben, das je nach den sonstigen
Umständen ein Sphagnum-, Heide- oder Kiefern-
moor sein kann. In ähnlichem Sinne sind auch
Wiesenmoore mit Weiden- oder Erlengebüschen,
Laubwiesen usw. wohl vielfach als Formations-
komplexe zu bewerten, die im Laufe der Zeit zu
einfachen Formationen werden können. Anderer-
seits sind Grasfluren, deren homogener Charakter
nur durch die abweichende Vegetation von Maul-
wurfshügeln unterbrochen wird, unbestreitbar, da
letztere mit ihnen organisch verknüpft sind, als
einheitliche Formationen oder, wenn man die
Tiere dazurechnet, als Biozönosen, anzusprechen.
Auch möchten wir Wälder, deren Unterwuchs an
verschiedenen Stellen infolge verschiedener Boden-
beschaffenheit, Belichtung oder anderer Faktoren
ein abweichender ist, wie z. B. in Fichtenwäldern
bald Erikazeen, bald Moose vorherrschen, und an
anderen Orten gar kein Unterwuchs vorhanden
ist, insolange als einheitliche Formationen auf-
fassen, als die Gesamtphysiognomie durch Vor-
herrschen des gleichen Baumtypus die gleiche
bleibt und dann die durch den Unterwuchs sich
unterscheidenden Teile als lokale „Varianten"
(Du Rietz 1917, 1918) derselben bezeichnen;
wenn sich dagegen an den verschiedenen Stellen
der Baumtypus ändert, indem z. B. die Fichte
durch die Grauerle ersetzt wird, diese Vereinigun-
gen nur dann als Bestandteile einer einzigen For-
mation auffasssen, wenn der eine Typus sehr über-
wiegt und eine vollzählige Begleitvegetation auf-
weist, während die anderen als Formationsfrag-
mente nur kleinere Enklaven mit unvollständiger
Begleitung bilden, bei gleichwertiger Ausbildung
der einzelnen Typen dagegen die Vereine ver-
schiedenen Formationen zuweisen.
3. Die Sukzessionen. Die von uns als
Vegetationsformationen zusammengefaßten Pflan-
zengesellschaften sind niemals unwandelbare
Größen, sondern stets einer Veränderung und Um-
prägung in neue Formationen fähig. Je nachdem
diese Wandlungen der Formationen durch diese
selbst erfolgen oder durch äußere Umstände ver-
N. F. XX. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
373
anlaßt werden, kann man sie als autonom oder
heteronom bezeichnen.
Die autonomen Veränderungen lassen sich am
besten beobachten, wenn man von einer durch
äußere Einwirkungen ungestörten Besiedelung
jungfräulichen Bodens in einem Waldgebiete aus-
geht. Auf solchem, wenn er nicht von Wasser
bedeckt ist, sei er nun felsig, schotterig, sandig
oder sonstwie, tritt stets zuerst Lithos auf, be-
stehend aus Algen oder Flechten, und leitet die
Humusbildung ein; dann kommen oft Moose da-
zu und später, bei fortgesetzter Humusanreiche-
rung, bei der auch Bodenbakterien, Pilze und
terrikole Tiere eine Rolle spielen, grasartige und
krautige Stauden und Holzgewächse, mit deren
Überwiegen der Entwicklungsprozeß gewöhnlich
sein Ende erreicht. Die Anfangsstadien einer
solchen Entwicklungsreihe (Sukzession) sind stets
offen und nähern sich im weiteren Verlaufe des
Prozesses mehr und mehr geschlossenen Vereinen,
bis schließlich, vorausgesetzt, daß es das Klima
zuläßt, solche, und zwar in der Regel Gehölze
oder Grasfluren, den Abschluß bilden. Neben
dem Anfangsstadium kann man also eine größere
oder geringere Zahl von Übergangsstadien und
ein Endsiadium einer Sukzession unterscheiden.
Als Klimax bezeichnet man dasjenige Stadium,
welches unter gegebenen klimatischen Verhält-
nissen das üppigste, mit größter Stoffproduktion
ist.*) Der Boden verliert im Verlaufe solcher
Umwandlungen fortgesetzt an mineralischen Eigen-
schaften und nimmt in gleichem Maße, innerhalb
der durch das Klima gebotenen Grenzen, an
Humusgehalt zu. Die Individuen kämpfen, solange
die Vereine offen sind, nur oder vorwiegend gegen
die äußeren Faktoren und treten, je mehr sich
erstere schließen, desto heftiger miteinander in
Wettbewerb. Dje Veränderungen der einander
ablösenden Vereine sind zunächst, weil hauptsäch-
lich vom floristischen Momente der Zuwanderung
abhängig, mehr oder weniger zufälliger Art, wer-
den aber um so gesetzmäßiger, je mehr der Kon-
kurrenzkampf der Sippen in seine Rechte tritt.
Einer ähnlichen Aufeinanderfolge verschiedener
Vereine wie auf dem Lande begegnet man bei
der Verlandung von Gewässern. In einer stehen-
den Wasseransammlung folgen auf das Plankton
des freien Wassers in zentripetaler Richtung die
konzentrisch angeordneten Gesellschaften der Was-
serpflanzen und der Sumpfvegetation und auf diese
die geschlossenen Wiesenmoore, Erlbrüche, Hoch-
und Heidemoore. Auch hier handelt es sich um
eine fortschreitende Entmineralisierung und Humi-
fizierung des Substrates. Auch hier werden offene
durch geschlossene Vereine abgelöst.
Stets, ob nun der Entwicklungsprozeß vom
Lande oder vom Wasser seinen Ausgang nimmt,
kann man beobachten, daß im Verlaufe einer der-
artigen Sukzession die Vegetation mehr und mehr
den Sieg über die mineralischen Qualitäten des
') Nach Lüdi 1919.
Bodens davonträgt, bis das Endstadium erreicht
ist, das, von den edaphischen Verhältnissen mög-
lichst unabhängig, der getreueste Ausdruck des
herrschenden Klimas ist. Das Anfangsstadium
emer Sukzession ist vorwiegend edaphisch, das
Endstadium klimatisch bedingt, die Übergangs-
stadien verhalten sich intermediär. Die Endstadien
bedeuten eine Art Ausgleich zwischen den mo-
mentan herrschenden ökologischen Faktoren einer-
seits und der Expansionskraft der Vegetation und
dem Konkurrenzkampfe der Sippen andererseits.
Da sie vornehmlich vom Klima abhängig sind,'
können sie der tonangebende Verein eines ganzen
Vegetationsgebietes sein. Sie entsprechen S c h i m -
p e rs (1898) klimatischen oder Gebietsformationen,
im Gegensatze zu den edaphischen, die als An-
fangs- oder höchstens Übergangsstadien von Suk-
zessionen noch in mehr oder weniger höherem
Grade vom Boden abhängig sind als vom Klima.
Würden die die Pflanzengesellschaften beein-
flussenden Faktoren immer die gleichen bleiben,
so würden erstere, nachdem sie ungestört ein be-
stimmtes Endstadium erreicht, in diesem Zustande
verbleiben, vorausgesetzt, daß sie sich nicht durch
Bodenermüdung oder sonstwie selbst erschöpfen
können, und auch keine floristischen Einflüsse,
wie Hinzukommen neuer Sippen und dergleichen,
möglich sind. In Wirklichkeit bleiben aber die
Faktoren niemals auf die Dauer die gleichen,
ändern sich vielmehr über kurz oder lang und
beeinflussen so die Vereine in ihrem normalen,
autonomen Entwicklungsgange, ja vernichten sie
oft vollkommen, so daß die Vegetation in ihren
Wandlungen nie zu einem dauernden Stillstande
gelangt. Die Veränderungen der Faktoren er-
folgen entweder plötzlich oder allmählich und
demgemäß ist die Wirkung auf die Vereine eine
katastrophale oder sukzessive. Je nachdem die
Sukzessionen gefördert oder gehemmt werden,
kann man von einem progressiven oder retro-
gressiven Einflüsse sprechen. Im Gegensatze zu
den im Wesen der Gesellschaften selbst be-
gründeten autonomen kann man, wie schon gesagt,
solche von außen hervorgerufene Veränderungen
als heteronome bezeichnen. Von Faktoren kom-
men alle in Betracht, von denen die Vereine ab-
hängen, also Boden und Klima, Tiere und der
Mensch. Die Einwirkungen sind entweder direkt
oder indirekt.
Am schwerstwiegenden und stets von direktem
Einflüsse sind die edaphischen Veränderungen.
Sie stellen sich plötzlich oder allmählich ein.
Katastrophal wirken beispielsweise Vulkanaus-
brüche, Steinstürze, Vermurungen und Versan-
dungen, Lawinen und Gießbäche, Stürme usw.
Derartige Ereignisse vernichten die Pflanzenvereine
entweder vollkommen oder schädigen sie doch
sehr schwer und schaffen, akkumulierend oder
erodierend, neuen Boden für neue Sukzessionen.
Die allmählichen Veränderungen, wie langsames
Sinken oder Steigen des Grundwasserspiegels,
konstante Zufuhr kleiner Mengen mineralischer
274
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. i8
Stoffe durch langsame Sedimentierung in stehen-
den Gewässern, durch kontinuierliches Nachrutschen
des Materiales auf Steilhängen oder durch fortge-
setzte Überschwemmungen an Flußbetten, Aus-
süßung salzhaltigen Bodens, rückweichende Glet-
scher usw., veranlassen allmähliche Umprägungen
der betreffenden Formationen in pro- oder retro-
gressivem Sinne oder schaffen die Bedingungen
für Neubesiedelungen. Selbstverständlich gibt es
zwischen katastrophalen und sukzessiven Wand-
lungen alle Übergänge.
Schwankungen des Klimas erfolgen stets all-
mählich und veranlassen die Umwandlung ganzer
Vegetationsgebiete, indem sie sukzessive den
Charakter aller ihrer Formationen verändern. Sie
wirken auf diese indirekt ein, durch Vermittlung
des Bodens, dessen Qualitäten, insbesondere
Feuchtigkeit und Nährstoffgehalt, sie durch Be-
einflussung des Grundwasserstandes und der Hu-
musbildung bei Änderung der Niederschlags- und
Wärmeverhältnisse modifizieren.
Tiere erzeugen insoweit heteronome Verände-
rungen, als sie außerhalb der Formationen stehen,
d. h. nicht mit ihnen zu Biozönosen verbunden
sind. Sie bringen durch massenhaftes Auftreten
katastrophale Wirkungen hervor, wie dies Heu-
schreckenschwärme, Borkenkäfer usw. tun, durch
spärliches allmähliche, wie Weidetiere durch Fraß
und Düngung. Im allgemeinen ist die Bedeutung
der Tiere in diesem Sinne keine allzu große.
Um so mehr die des Menschen, der, bewußt
vorgehend, einerseits durch Brände, Fällen und
andere rapide Eingriffe katastrophale Verände-
rungen hervorruft und andererseits durch Düngung,
künstliche Bewässerung und Entwässerung den
Boden sukzessive umgestaltet. Sein Einfluß ver-
mag sich sogar indirekt auf das Klima zu er-
strecken, wenn er beispielsweise durch großzügige
Entsumpfungen weite Gebiete nicht nur edaphisch,
sondern auch klimatisch trockener macht.*) Schließ-
lich veranlaßt er auch das Entstehen neuer For-
mationen, wie der Ruderal- und Segetalvereine,
wobei er, unbewußt oder bewußt, nicht nur als
ökologischer, sondern auch als floristischer Faktor
in Tätigkeit tritt. Die vom Menschen veranlaßten
Sukzessionen kann man als sekundäre den natür-
lichen, primären gegenüberstellen.
Durch die Lehre von den Sukzessionen hat die
Auffassung des Formationsbegriffes eine wesent-
liche Vertiefung erfahren. Es wäre aber verfehlt,
wenn man den Wandlungen der Pflanzenvereine
so große Bedeutung beilegen wollte, daß man,
wie man aus manchen Definitionen folgern könnte,
nur die Endstadien der Sukzessionen als Forma-
tionen gelten läßt. Denn der Begriff des End-
stadiums ist bis zu einem gewissen Grade ein
relativer, und es kann eine und dieselbe Pflanzen-
vereinigung, wie etwa eine Erikazeenheide, in
einem Gebiete ein Endstadium sein und in einem
anderen nicht. Es genügt jedenfalls, nur einen
,, zeitweilig andauernden natürlichen Abschluß" als
Bedingung für die Wertigkeit eines Pflanzenver-
eines als Formation gelten zu lassen, gleichgültig
ob dieser ein Anfangs-, Übergangs- oder Endstadium
einer Sukzession repräsentiert, wenn er nur eine
bestimmte Physiognomie hat, während man phy-
siognomisch unausgesprochene besser als Misch-
und Übergangstypen bezeichnet.
Das Studium der Sukzessionen nach modernen
Gesichtspunkten hat von Amerika ^) seinen Aus-
gang genommen und wird jetzt auch in Europa*)
aufs eifrigste gepflegt. Es hat auch bereits zu
einer reichen Nomenklatur und verschiedenen
Klassifikationsversuchen geführt.
') So seinerzeit in Ungarn nach Kerner (1863).
2) So vor allem von Cowles, Clements u. a.
') Zuletzt Lüdi (I9I91-
(Schluß folgt.)
Einzelberichte.
Eine uene Theorie der Gletsclierbewegung.
Im Neuen Jahrbuch für Mineralogie, Geologie
und Paläontologie (1920, Beilageband XLIII, S.
439 — 556) stellt H. Philipp (Greifswald) auf
Grund langjähriger eigener Beobachtungen eine
neue Theorie der Gletscherbewegung auf, die in-
sofern gegenüber den bisher bestehenden An-
schauungen über das Wesen der Gletscherströmung
etwas vollkommen Neues bietet, als sie mit dem
Mechanismus der Bewegung zugleich die Ent-
stehung der sog. Blaublättertextur des Gletscher-
eises erklärt. Die zurzeit das größte Ansehen
genießende mathematische Theorie der Gletscher-
bewegung von Finsterwal der erklärt nicht das
Wesen und die wirkliche Lagerung der Blaublätter,
die nach Philipp mit der Bewegung des Gletscher-
eises aufs innigste verknüpft ist.
Die wichtigste, auf gründliche Beobachtungen
gestützte Feststellung ist die des Auftretens der
„Gl et seh er risse", die bisher in der glaziolo-
gischen Literatur noch fast gar nicht beschrieben
worden sind. Diese treten unabhängig von den
Spalten auf und verlaufen immer in der Längs-
richtung des Gletschers, am häufigsten in der Nähe
des Randes. Sie sind keine bloße Oberflächener-
scheinung, sondern setzen durch den ganzen
Gletscher hindurch und passen sich in ihrem Ver-
lauf dem Gletscheruntergrunde an, so daß also
eine solche einzelne „Riß fläche" die Form eines
Troges hat. Der ganze Gletscher besteht dem-
nach aus einer Anzahl ineinandergeschachtel-
ter Tröge. Daß die Rißflächen, die am Rande
des Gletschers steil einfallen, an der Basis horizon-
tal liegen, läßt sich besonders deutlich an den
terminalen Steilabstürzen arktischer Gletscher be-
N. F. XX. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
275
obachten, die ja gewissermaßen Querschnitte durch
die Gletscher darstellen.
Schleppungen der Blaubänder und Verschie-
bungen der Eismassen an diesen Rissen lassen auf
eine abscherende Funktion dieser Rißflächen
schließen. An Querbrüchen läßt sich beobachten,
daß ein hangender Eistrog in der Bewegungs-
richtung des Gletschers über einen liegenden Trog
um einige Zentimeter hinwegragt.
Mit diesen Abscherungs flächen in ge-
netischer Beziehung stehen die Blaublätter, die
den Rißflächen parallel oder subparailel gelagert
sind, also gleichfalls die Form von Trögen be-
sitzen, welche dem Verlauf des Gletscherbettes
angepaßt sind. Diese Vorstellung der halb-
zylindrischen Lagerung der Blaublätter steht im
Gegensatz zu der löffeiförmigen Anordnung der
Blättertextur, wie sie von H. Heß gedacht wird
oder der fächerförmigen Stellung, wie sie H. C ram-
mer annimmt. Diese beiden letzten Lagerungs-
formen werden als Ausnahmefalle bezeichnet, ihre
Allgemeingültigkeit aber abgelehnt. Das Erken-
nen der trogförmigen oder halbzylindrischen Lage-
rung der Blaublätter in den Alpen wird dadurch
erschwert, daß hier infolge der starken Ablation
die Gletscheroberfläche die Blaubläiter in Bogen
schneidet, die talabwärts konvex gekrümmt über
den Gletscher hinweg verlaufen.
Besonders eingehend wird das Kapitel über
das Wesen und die Entstehung der Blättertextur
behandelt. Es wird dargelegt, daß Tyndalls
Behauptung einer Analogie zwischen Blaubände-
rung und Druckschieferung unhaltbar ist. Agas-
siz, Heß und Gramm er sehen in der Bände-
rung die ursprüngliche Firn- bzw. Schneeschichtung.
Demgegenüber wird nun nachgewiesen, daß die
Blaublätter nicht aus der Firnschichtung ent-
standen sein können, da einwandfrei vielfach
Durchkreuzungen der Blaublätter be-
obachtet worden sind. Bei der Sedimentation des
Firnschnees kann wohl diskordante Lagerung oder
Kreuzschichtung auftreten, nicht aber ein Sich-
durchdringen der einzelnen Schichten. Die Blau-
blätter entstehen unabhängig von der Schichtung
durch Aufreißen und Wiedervernarben von Ab-
scherungsflächen. Durch die Zertrümmerung und
Reibungsverflüssigung des luftreichenweißen
Eises bei der Abscherungsbewegung eines Eis-
troges entsteht an der Stelle der Rißfläche beim
Wiedergefrieren des Schmelzwassers ein mehr
oder weniger luft freies blaues Eisblatt, ein
Blaublatt. Durch fortgesetztes Aufreißen an
anderen Stellen schieben sich immer neue Blau-
blätter ein, so daß eine dichte Bänderung ent-
steht. Schneiden infolge Änderungen der Glet-
scherbettform neueAbscherungsflächen ältere Blau-
blätter, so werden nach der Vernarbung Durch-
kreuzungen vorhanden sein. Die älteren Blätter
werden mit der Zeit verschwommen und unscharf.
Der Bewegungsmechanismus eines Gletschers
wirkt nun derart, daß die einzelnen ineinanderge-
schachtelten Eiströge infolge der in der Richtung
der Neigung wirkenden Schwerkraft längs der be-
schriebenen Abscherungsflächen übereinander hin-
weggleiten. Die Geschwindigkeit in der Gletscher-
masse muß dann einerseits vom Untergrunde nach
der Oberfläche und andererseits von den Rändern
nach der Mitte der Gletscheroberfläche zunehmen
(da ja der höchstgelegene Trog die größte Ge-
schwindigkeit besitzt), was der Beobachtung in
der Natur vollkommen entspricht. Regelation
und Translation werden natürlich von Philipp
nicht abgelehnt, sind aber nur in untergeordnetem
Maße an dem Bewegungsmechanismus des Glet-
schers beteiligt.
Auch die Schichtung im Firn ist im wesent-
lichen ein Ausdruck der Bewegung. Der Firn
gleitet gleichfalls auf ähnlichen Abscherungs-
flächen, die dem Verlauf des Untergrundes ange-
paßt sind, talabwärts. Erich Stach.
Altsteinzeitliche Funde im Siuaigebiete.
Das während des Weltkrieges unter Leitung
von Theodor Wiegand arbeitende deutsch-
türkische Denkmalschutzkommando hat während
der drei ersten Kriegsjahre, als die Tatkraft des
Generals Freiherrn Kreß von Kressenstein,
des Führers des i. Expeditionskorps, dem Vor-
dringen der weit überlegenen englischen Truppen-
macht am Kanal erfolgreichen Widerstand ent-
gegensetzte, im Operationsgebiet des Sinai zahl-
reiche wertvolle Aufnahmen der seit dem Araber-
einfall von 635 n. Chr. verlassenen frühchristlichen
Festungen, Klöster, Städte und landwirtschaftlichen
Anlagen veranlaßt. Bei diesen Aufnahmen wurde
auch eine altpaläolithische Fundstätte bei Kuseime
entdeckt, deren Bearbeitung dann später Prof. Dr.
E. Werth übertragen wurde. Über die Ergeb-
nisse dieser Bearbeitung berichtet jetzt Werth
in den „Wissenschaftlichen Veröffentlichungen des
deutsch - türkischen Denkmalschutzkommandos",
Heft I, Sinai (Berlin 1920), S. 121 — 135.
Die Fundstätte Kuseime befindet sich etwa
75 km SSW. von Beersaba, ungefähr 10 km jen-
seits der alten türkisch-ägyptischen Grenze, damit
geographisch in dem Grenzgebiet zwischen Palä-
stina und der Sinaihalbinsel. Der Fundort selbst
liegt östlich der Station Kuseime, und zwar kom-
men einmal ein doppelgipfliger Hügel und da-
neben eine Stelle in der Nähe desselben in Frage.
An diesen beiden Fundorten wurden durch Major
von Ramsay zahlreiche Artefakte gefunden, die
aber bei der Aufsammlung leider nicht nach beiden
Fundorten getrennt gehalten wurden. Die meisten
dieser Artefakte zeigen eine auffallend schoko-
ladenbraune Patina („Wüstenlack"); diese Patina-
bildung ist deshalb besonders interessant, weil
diese hier, da es sich um völlig frei liegende Ober-
flächenfunde handelt, nicht durch Einwirkungen
umgebender löslicher Mineralsubstanzen, sondern
lediglich durch Witterungsverhältnisse (Zersetzung
durch die intensiven Lichtstrahlen) bedingt sein
kann. Bei der großen Mehrzahl der Fundstücke
276
Naturwissenschaftliche Wochenschrift
N. F. XX. Nr. i8
fehlt jede Randbearbeitung (Retusche), nur wenige
Stücke zeigen eine solche. Eine Flächenbearbeitung
liegt überhaupt bei keinem Stück vor. Von den
Stücken ohne Randbearbeitung ist die Mehrzahl
als Klingen zu bezeichnen. Die Mannigfaltigkeit
dieser Klingenformen ist sehr groß. Neben kurzen
stumpfen Klingen mit dachförmigem Rücken
stehen solche zierlicher Form, die jedoch verhält-
nismäßig selten sind. Reichlicher sind ziemlich
große, breite Klingen. Überhaupt überwiegen
rohe, ungleichmäßige Klingenformen, unter ihnen
befinden sich solche mit deutlich ausgeprägter
Stichelspitze, aber auch breite schaberartige Klingen
und Bohrer. Unter den Stücken mit Randbe-
arbeitung sind gleichfalls zwei Klingen vorhanden,
daneben kommen Klingenkratzer, Messerchen und
Hohlschaber vor. Alle Instrumente sind mehr
oder weniger flach und länglich, mit zwei an-
nähernd parallelen Seitenkanten gestaltet. Sie
sind nie aus dem Ganzen heraus gearbeitet, sondern
stets durch einen Abschlag hergestellt und durch
eine einheitliche flache Unterseite mit Schlag-
zwiebel, Wellenringen usw. und einem aus mehreren
Längsfazetten gebildeten Rücken ausgezeichnet.
Die Gesamtindustrie ist also eine typische Klingen-
industrie.
Bezüglich ihrer Datierung sind wir lediglich
auf typologische Erwägungen angewiesen, da sich,
wie bei jedem Oberflächenfunde, geologisch nichts
sagen läßt. Nach der Typologie dürfte es sich
um ein Jungpaläolithikum handeln, weil sowohl
die Leittypen des Altpaläolithikums wie des Meso-
lithikums fehlen. Welche Kultur des Jungpaläo-
lithikums jedoch in Frage kommt, ist nicht so
leicht zu entscheiden. Die bisher bekannten jung-
paläolithischen Funde wurden übereinstimmend
als Aurignacien gedeutet, während Magdalenien
noch nicht nachgewiesen war. Trotzdem möchte
sich Werth in dem vorliegenden Falle für das
letztere entscheiden; diese Zuweisung hat ent-
schieden manches für sich, ist jedoch noch keines-
wegs gesichert. Immerhin ist schon der Nach-
weis eines mutmaßlichen Magdaleniens für die
Vorgeschichte Palästinas von nicht geringer Be-
deutung. Das Paläolithikum Palästinas ist allge-
mein ziemlich gut erforscht. Chelleen- und
Acheulleenfundstätten sind — ungerechnet der
Fundstätten aus Nordsyrien — deren 19 bekannt.
Mousterien hegt von 10 Stationen vor. Das Jung-
paläolithikum ist jedoch nur durch drei Stationen
vertreten, zu denen nun neuerdings noch Kuseime
hinzutritt. Dieses Jungpaläolithikum hatte man
bisher lediglich als Aurignacien angesehen, sämt-
liche späteren Kulturen würden dann aber völlig
gefehlt haben, und dieses Fehlen müßte zum
mindesten irgendwie begründet gewesen sein.
Eine derartige Begründung glaubte Karge
(Rephaim. Paderborn 1917) in der Annahme eines
rascheren und früheren Überganges zur neolilhi-
schen Kultur als in Europa gefunden zu haben,
und diese Übergangskultur selbst vermeinte dann
Bayer (vgl. diese Zeitschr. iq, 1920, S. 731 ff.)
in der Umgebung von Gaza beobachten zu kön-
nen, wo er in Oberflächenfunden alt- und jung-
paläolithische Typen zusammen antraf, die er des-
halb als Campignien deuten wollte; aus diesem
Campignien sollte sich dann direkt das Neolithi-
kum in Palästina entwickelt haben, während
andererseits das Campignien Europas lediglich
eine Fortentwicklung dieses auf dem Boden
Afrikas vor sich gegangenen Überganges darstellen
sollte. All diesen Deutungen und Erklärungen
gegenüber macht jetzt Werth einmal darauf auf-
merksam , daß viele der dem Chelleen oder
Acheuleen zugerechneten P'unde Palästinas, so-
weit sie lediglich auf der Oberfläche aufgelesen
wurden, den Eindruck eines Mesolithikums oder
Neolithikums machen. Nach den Abbildungen zu
urteilen scheint in diesen Oberflächenfunden typo-
logisch kein reines Altpaläolithikum vorzuliegen,
und als Oberflächenfunde sind sie chronologisch
in keiner Weise zu verwerten. Andererseits scheint
Kuseime selbst auf ein Magdalenien hinzuweisen.
Man dürfte deshalb zunächst einmal gut tun, mit
bestimmten chronologischen Zuweisungen für das
palästinensische Paläolithikum noch sehr zurückzu-
halten, und alle Erklärungen, die für Palästina
einen anderen Gang in der Entwicklung der
ältesten menschlichen Kulturen annehmen, als wir
ihn sonst kennen gelernt haben, erscheinen zum
mindesten als recht verfrüht.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Der Meteorstein von Forsbach.
Diesen neuen deutschen Meteoriten beschreibt
R. Brauns in den Verh. d. Naturh. Ver. d. preuß.
Rheinlande u. Westfalens,. 75. Jahrg. J918, Borin
1919. Der Meteorit wurde Brauns 1914 zum
Kaufe angeboten. Er erwarb ihn für die Samm-
lung der Bonner Universität und konnte nach
mannigfahigen Bemühungen die irdische Geschichte
des Steines feststellen. Danach ist mit Sicherheit
erwiesen, daß der Stein am 12. Juni 1900 um
2 Uhr nachmittags bei Forsbach, 5 km ssö.
von Bensberg auf der rechten Rheinseite, 24''52'
östl. L. V. Ferro, so^Sö' n. Br., gefallen ist. Bens-
berg liegt 10 km östl. von Mülheim a. Rh. Das
Gewicht des Steines beträgt 220 g. Der Fall
war begleitet „von einem Geräusch, als ob ein
Vogel daherfliege". Die Form des Steines ist
etwa die eines quadratischen Prismas mit der
Basis. Die Flächen der Brustseite sind durch
Abschmelzung vollständig geglättete Primärflächen.
Die Rückseite wird von Sekundär- oder Tertiär-
flächen gebildet, die zahlreiche Vertiefungen auf-
weisen. Die größte Länge des Steines beträgt
60 mm. Breite und Dicke 40 mm. Die Schmelz-
rinde ist matt und braunschwarz. Die frische
Bruchfläche erscheint gefleckt durch den Wechsel
von weißen und grauen Partien. Diese bilden
gewissermaßen die Grundmasse , in der die
weißen Stücke mit scharfen Kanten und Ecken
eingesprengt sind, wodurch in hohem Grade
N, F. XX. W. i^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
277
der Eindruck einer breccienartigen Beschaffen-
heit hervorgerufen wird. Der Stein ist seiner
Beschaffenheit nach ein intermediärer Chon-
drit, Ci. Er ähnelt am meisten dem Meteorit
von Saint Mesmin. Die Bestimmung des spezifi-
schen Gewichtes ergab 6 = 3,70 (4) bei ib" C.
Die z. T. makroskopisch, z. T. nur mikroskopisch
erkennbaren ihn zusammensetzenden Mineralien
sind: Nickeleisen, sehr spärlich Schwefeleisen,
Olivin, Bronzit, monokliner Pyroxen (sehr unter-
geordnet), dazu tritt Glas und eine schwarze, un-
durchsichtige Masse. Der Olivin bildet große
rissige Körner ohne wahrnehmbare Kristallumrisse
oder feinst zerteilte Bruchstückchen. Bisweilen
bildet er auch kleine monosomatische Chondren
mit kreisrundem Durchschnitt, 0,3 mm Durch-
messer. Der kreisrunde Umriß dieser Chondren
ist da gestört, wo sie an ein Korn Nickeleisen
anstoßen. Als Einschluß führt der Olivin schwarze
undurchsichtige Körner wohl von Chromit, dazu
solche von Glas. Die kleinen Olivinkörner bilden
mit der dunklen Substanz vermengt die Grund-
masse des Steins. Die Oiivinchondren sind im
Vergleich zu den Olivinkörnern offenbar eine
jüngere Bildung und anscheinend erst entstanden,
als die Massen zum Stein angehäuft wurden. Der
Bronzit läßt schon eher Andeutungen von Kri-
stallumgrenzungen erkennen. Er ist z. T. farblos
durchsichtig, z. T. trüb und zeigt scharfe Spalt-
risse. Viel häufiger als der Olivin bildet der
Bronzit Chondren aller Art, monosomatische und
polysomatische, solche mit kreisförmigem Durch-
schnitt und andere mit beliebig gerundeten Um-
rißformen. Außerhalb der Chondren tritt der
Bronzit gegen den Olivin stark zurück. Der
Augit ist monoklin und gehört anscheinend zwei
verschiedenen Arten an. Das Nickeleisen
bildet unregelmäßige zackige Körner. Es macht
etwa 10% des Meteorsteins aus. Schwefel-
eisen ist nur in staubförmig feinen Teilchen und
in sehr geringer Menge wahrzunehmen. Die
opake Substanz, welche die dunkle Farbe der
Grundmasse bewirkt, scheint dieselbe Beschaffen-
heit wie die Rindensubstanz zu haben. Sie hat
wahrscheinlich zehlich und genetisch dieselbe Be-
deutung wie die Adern in anderen Steinen und
wie die Schmelzrinde selbst, und die breccien-
artige Beschaffenheit wäre z. T. eine Folge dieser
Durchdringung des Steins mit Schiackenkörnchen
und fiele in die kurze tellurische Periode, während
die Bildung der Chondren in die kosmische Zeit
fällt.
Im Anschluß an die Beschreibung des Fors-
bacher Meteoriten gibt R. Brauns noch eine
kurze Übersicht über die Vermehrung der Bonner
Meteoritensammlung in den letzten Jahren. Durch
Kauf oder durch Schenkung konnte eine große
Anzahl neuer, vielfach hervorragend schöner und
charakteristischer Meteoriten erworben werden.
Bei der Übernahme der Direktion des Mineralogi-
schen Institutes der Universität im Jahre 1907 war
der Bestand:
98 Fallorte, 272 Stück im Gewicht von 1 10 467 g.
Ende Oktober 1918 dagegen enthielt die
Sammlung :
258 Fallorte, 673 Stück im Gewicht von 448424 g.
F. H.
Hansen, Dr. Adolph, Prof. an der Universität
Gießen, Goethes Morphologie (Metamor-
phose der Pflanzen und Osteologie). Ein Bei-
trag zum sachlichen und philosophischen Ver-
ständnis und zur Kritik der morphologischen
Begriffsbildung. Gießen 1919, Verlag von
Alfred Töpelmann.
Diese sehr interessante Schrift des kürzlich
verstorbenen Verf.s, in der versucht wird, Goeth es
Bedeutung für die Entwicklung der Morphologie
gegen seine immer wieder auftauchenden Wider-
sacher zu verteidigen, wäre fast nicht erschienen,
weil ein Verleger nicht gefunden werden konnte.
Nur mit Unterstützung der Oberhessischen Gesell-
schaft für Natur- und Heilkunde konnte das Werk
gedruckt werden, das jeden, der für wissenschafts-
geschichtliche Fragen Interesse hat, erfreuen wird,
zumal der Stil, wie immer beim Verf., klar, flüssig
und angenehm lesbar ist. — Trotzdem der Verf.
erst 1907 ein Werk über Goethes „Metamor-
phose der Pflanzen" verfaßt hat, fühlt er sich zu
einer neuerlichen Publikation veranlaßt durch die
Darstellung der „Metamorphose" durch W. Be-
Bücherbesprechungen.
necke in der Kultur der Gegenwart und durch
das Erscheinen eines Buches von Kohlbrügge,
das Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten als
rninderwertig oder gar schädigend hinstellt. Da
sich dieses Buch besonders mit der Osteologie
beschäftigt, zieht Hansen auch diese in den
Kreis seiner Betrachtung. — Bekanntlich hat
Sachs sich dahin ausgesprochen, daß Goethe
die „Metamorphose" nicht im modernen realisti-
schen Sinne aufgefaßt habe, und diese Ansicht
wird auch von Benecke vertreten. Hansen
hingegen sucht zu beweisen, daß Goethe wirk-
lich angenommen habe, die Laubblätter verwan-
deln sich im Laufe der Ontogenese in Kelch-,
Blumen-, Staub- und Fruchtblätter. Ref. muß
zugeben, daß es dem Verf. gelungen ist, ihn da-
von zu überzeugen, daß sehr vieles für seine An-
nahme spricht, besonders wenn man berücksich-
tigt, daß Goethe sogar versucht hat, in experi-
mentell-morphologischer Richtung zu arbeiten,
worauf übrigens Hansen gar nicht aufmerksam
macht. Goethe schreibt an einer Stelle: „..."
und brachte zugleich einen ganzen Sommer mit
278
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 18
einer Folge von Versuchen hin, die mich belehren
sollten, wie durch Übermaß der Nahrung die
Frucht unmöglich zu machen, wie durch Schmä-
lerung sie zu beschleunigen sei." . . . „die Phäno-
mene des Abbleichens und Abweißens beschäf-
tigten mich vorzüglich; Versuche mit farbigen
Glasscheiben wurden gleichfalls angestellt" (Coita-
sche Ausgabe, S. 18). Wer in dieser „Klebs-
schen" Richtung arbeitet, dem kann man auch
zutrauen, daß er die Blütenblätter für „reale" Um-
wandlungen von Laubblättern hält, zumal wenn
er einjährige Pflanzen seinen Beobachtungen zu-
grunde legt, worauf Goethe großes Gewicht
legt. Indessen muß es doch einen Grund haben,
wenn Goethe von seinen Zeitgenossen und
späteren Autoren immer wieder anders verstanden
wird. Wenn man Goethes Metamorphose ganz
unvoreingenommen liest und seine Darstellung
z.B. mit der C. F. Wolffs vergleicht, so begreift
man sehr wohl, daß Sachs zu seiner Auffassung
kommen konnte, denn an Wolffs Darstellung
gemessen muß man Goethes Ausdrucksweise
zum mindesten für unzureichend erklären. Wenn
daher Hansen Benecke gewissermaßen vor-
wirft, er hätte Goethe nicht gelesen, sondern
nur Sachs wiederholt, so ist das ein Vorwurf,
der durch nichts gerechtfertigt wird.
Weniger glücklich scheint dem Ref. die Be-
weisführung gelungen zu sein, daß Kaspar
Friedr. Wolff eine völlig andere Auffassung
von der Metamorphose gehabt habe als Goethe
und die neueren Morphologen und daß von
Wolffs Priorität eigentlich keine Rede sein
könne. Es wirkt recht gequält, wenn der Verf.
ins Feld führt, daß „modifizierte" Blätter etwas
ganz anderes seien als „metamorphosierte" und
wenn er weitläufig auseinandersetzt, daß „anstatt"
eine ganz andere Bedeutung habe als „an der
Stelle", oder wenn immer wieder darauf hinge-
wiesen wird, daß Wolff die Blattanlagen für
flüssige Tropfen erklärt habe. Goethe selbst
ist es gar nicht in den Sinn gekommen, in bezug
auf die Deutung der Metamorphose an Wolff
Kritik zu üben. Was Goethe Wolff zum Vor-
wurf macht, ist der Umstand, daß er, dessen ent-
wicklungsgeschichtlich mikroskopische Methode
zwar vortrefflich sei, nicht gesehen habe, daß
sich das Organ, wenn es sich an Volum verringere,
es sich zugleich veredle und daß das Zusammen-
ziehen der Organe mit einer Ausdehnung ab-
wechsle. Da zudem Goethe das Wort Modi-
fikation an einer Stelle gleichwertig mit Metamor-
phose gebraucht, was übrigens von Hansen be-
stritten wird, so scheint er gar nicht den Wert
auf die „reale" Umbildung gelegt zu haben, wie
man das heute tut. Wie andere Goethe Ver-
ehrer über den Fall Wolff denken, lehren u. a.
einige Bemerkungen Schopenhauers, die auch
deswegen interessant erscheinen, weil hier Goethe
sogar des Plagiats beschuldigt wird. „Die sog.
Metamorphose der Pflanzen", sagt Schopen-
hauer, „ein von Kaspar Wolff leicht hinge-
worfener Gedanke, den, unter dieser hyperbolischen
Benennung, Goethe als eigenes Erzeugnis pomp-
haft und in schwierigem Vortrage darstellt, ge-
hört zu den Erklärungen des Organischen aus der
wirkenden Ursache", und an anderer Stelle: „Es
muß höchlichst betrüben, wenn wir Köpfe ersten
Ranges einer Unredlichkeit verdächtigt finden, die
selbst denen des letzten zur Schande gereicht";
„. . . daher will ich zu jenen Fällen noch als
drittes Seitenstück anführen, daß die Grundge-
danken der „ „Metamorphose der Pflanzen" " von
Goethe bereits 1764 ausgesprochen waren von
Kaspar Friedrich Wolff in seiner „„Theorie
von der Generation"" S. 148, 229, 243 usw. (Welt
alsWilleu.Vorst.il, S. 391 u. S. 65 der Reclam-
schen Ausg.). Obwohl Hansen Schopen-
hauer erwähnt, scheinen ihm diese Stellen ent-
gangen zu sein, da anzunehmen ist, daß er sonst
dagegen Stellung genommen hätte. Die „Meta-
morphose" erschien 1790, und 18 17 schreibt
Goethe, daß er seit mehr als 25 Jahren von
und an K. F. Wolff gelernt habe, woraus natür-
lich nicht folgt, daß Goethe erst durch Wolff
auf den Metamorphosengedanken gebracht worden
sei. — Hansen legt übrigens auf die Prioritäts-
frage ein größeres Gewicht als die meisten Bota-
niker, denen es wohl mehr darauf ankam, zu
zeigen, daß die entwicklungsgeschichtliche Rich-
tung in der Morphologie früher zur Geltung ge-
kommen wäre, wenn Wolffs Verdienste nicht
durch Goethe gewissermaßen in den Schatten
gestellt worden wären. Etwas anderes meint
auch wohl im Grunde genommen Schieiden
nicht, wenn er sagt: „Den allein richtigen Weg
zur Durchführung dieser Lehre (Metamorphose)
schlug C. F. Wolff (theoria generationis 1764) ein,
indem er zuerst das Studium der Entwicklungs-
geschichte auch in der Botanik als das wahre
Prinzip geltend machte" (2. T. Grundzüge, 3. Aufl.
1850, S. 241).
Auf die Kritik Hansens an dem Buch von
Kohlbrügge soll hier nicht eingegangen wer-
den, da es dem Ref. nicht bekannt ist; ebenso
mag hier unerörtert bleiben, was der Verf. über
„Begriffe", „Ideen" und andere Termini sagt, die
fast von jedem Autor in anderem Sinne gebraucht
werden. Man mag mit dem Verf. übereinstim-
men oder nicht, jedenfalls wird man ihm das
Zeugnis ausstellen können, daß er es verstanden
hat, seine Leser durch die Leidenschaftlichkeit,
mit der er seine Ansichten vertritt, zu fesseln und
anzuregen. Wächter.
Perzynski, F., Von Chinas Göttern. 261 S.
und 80 Tafeln. München 1920, Kurt Wolff.
Das Buch Perzynskis bringt lebensvolle
Schilderungen von Landschaften und Menschen in
China und von den Menschenwerken, namentlich
taoistischen und buddhistischen Heiligtümern, die
der Gegenwart aus alten Zeiten erhalten blieben,
nun aber anscheinend rascher Vernichtung und
Zerstreuung anheimfallen, denn verständnislos
N. F. XX. Nr. i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
»79
stehen die Chinesen unserer Tage den Denkmälern
aus vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden
gegenüber. Der kulturelle Verfall ist namentlich
in Nordchina schon recht weit gediehen. In den
ersten Abschnitten gibt P. ein Bild Pekings, der
Stadt abenteuerlicher Sehnsucht, die anziehende
und abstoßende Eigenarten wie keine andere
Stadt des Ostens in sich vereinigt. Dann folgen
wir dem Verf. auf einer Reise durch Honan nach
Ichou mit den Kaisergräbern der letzten Dynastie
(Hsiling), dann nach den Kultstätten von Jehol
und Yünkang, nach Hangchou und endlich nach
dem Süden, Kanton und Makao. Die Südchinesen
haben sicherlich weit mehr Lebens- und Schaffens-
kraft bewahrt, als die des Nordens; der Süden
birgt noch den Willen und die Kraft zur Er-
neuerung.
P.s Buch ist keine alltägliche Reisebeschreibung,
die an Oberflächlichem haftet, sondern es ist aus-
gezeichnet durch tiefes Eingehen in die Wesens-
art des chinesischen Volkes und seiner Kultur-
schöpfungen. H. Fehlinger.
Much, Prof. Dr. H., Pathologische Biologie
(Immunitätswissenschaft). 3. Aufl. IMit
6 Tafeln und 7 Textabb. Leipzig 1920, Ka-
bitzsch. 45 M.
Die Bedeutung der Immunitätswissenschaft für
die gesamte Biologie ist keineswegs zu unter-
schätzen, obwohl sie von den meisten Biologen
noch als ein Stiefkind aus der anderen Fakultät
angesehen zu werden pflegt. Wie eng aber diese
noch junge Wissenschaft mit der Gesamtheit der
^^ragen des Lebens zusammenhängt, zeigt hier
der bekannte Verf., der es verstanden hat, die
leider noch allzu geringen Ergebnisse in klarer
Form zusammenzufassen. Es liegt hier ein Werk
vor uns, das dazu berufen sein dürfte, wenn es
richtig gelesen und verstanden wird, weithin re-
formierend zu wirken. Die Medizin, die nicht nur
Heilkunde, sondern vor allen Dingen auch „Heil-
kunst" sein sollte, kann so manche Anregung
daraus ziehen, denn in der Tat sieht der junge
Mediziner auf der Universität viel zu viel totes
Material, das lebende wird stiefmütterlich be-
handelt und mit Schweigen übergangen. Es ist
auch schwer zu verstehen, warum die „allgemeine
Biologie" wenig für die Immunitätslehre übrig
hat, daß man in den großen Lehrbüchern nur
kurze Hinweise und Randbemerkungen finden
kann. Und gerade hier ist noch beinahe alles
zu tun.
Die Probleme sind in dem vorliegenden Werke
schön herausgemeißelt, und man kann klar er-
kennen, wo unser bisheriges Forschen hat Halt
machen müssen und wo noch riesige Gebiete aus-
zubauen sind. Der Hauptwert des Werkes liegt
aber darin, daß der Verf., ein Reformator in der
Medizin, in wärmster Weise und mit überzeugen-
der Logik für die Lehre des „Wechselspiels in
der Natur" eintritt. Hiermit ist ein Programm
gegeben, an dessen Ausführung die nächsten
Generationen wohl ihre besten Kräfte wagen
dürften. Bei dem Eindringen in den immerhin
nicht leichten Stoff kommt der glänzende, man
möchte fast sagen expressionistische Stil Muchs
dem Leser in weitestem Maße entgegen.
Collier, Frankfurt.
Fehlinger, H., Das Geschlechtsleben der
Naturvölker, Monographien zur Frauen-
kunde und Eugenetik, Sexualbiologie und Ver-
erbungslehre. Herausgegeben von Dr. Max
Hirsch, Berlin. Nr. L Mit 9 Abb. im Text.
Leipzig 192 1, Verlag von Curt Kabitzsch.
Der Verf. gliedert seinen interessanten Stoff
in folgende Kapitel : Das Schamgefühl der Natur-
völker. Voreheliche Freiheit und eheliche Treue.
Werbesitten. Die Ehe. Geburt und Kindesab-
treibung. Unkenntnis der Zeugung. Verunstal-
tungen der Geschlechtsorgane. Geschlechtsreife
und Verfall. — Unter Verarbeitung einer umfang-
reichen Literatur wird dem Leser ein anschau-
liches Bild von dem Geschlechtsleben der unzivili-
sierten Völker gegeben; leider wird aber kein
Versuch gemacht, die Fülle des Materials irgend-
wie soziologisch zu verarbeiten wie das z. B.
F. Müller-Lyerin seinen Büchern „Formen der
Ehe", „Phasen der Liebe" und „Die Familie"
(Verlag von Albert Langen, München) getan hat,
wodurch die Mannigfaltigkeit des Liebes- und
Ehelebens der Naturvölker unserem Verständnis
wesentlich näher gebracht wird, worauf Cunow,
den der Verf auch zitiert, eindringlich hinweist
(Neue Zeit, 33- Jg-, 12. Febr. 1915). In dem Lite-
raturverzeichnis des Verf. fehlt der Name Müller-
Lyer überhaupt, was um so bedauernswerter ist,
als der Verf, nach einigen Bemerkungen zu ur-
teilen, in manchen Punkten zu einer anderen Auf-
fassung zu kommen scheint. — Wer sich für die
dargestellte Materie interessiert, wird aus dem
klar und ernst-sachlich geschriebenen Hefte mancher-
lei Anregung und Belehrung schöpfen können.
Wächter.
Naturschutz in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Der unter dieser Überschrift in Nr. 4 der Naturwissenschaft-
lichen Wochenschrift vom 23. Januar 192I, S. 55 erschienenen
Bericht von H. Fehlinger kann zu Mißverständnissen Anlaß
geben, da der Verf. die amerikanischen Ausdrücke „National
Park'- und „National Monument" durch deutsche Bezeich-
nungen wiedergegeben hat, die sich mit jenen nicht decken.
Das deuUche „Naturschutzpark" kann, auf Amerika an-
Anregungen und Antworten.
gewendet, bedeuten: i.Von der Zentralregierung zu Washington
eingerichtete Naturschutzgebiete (federal reservalions) ; sie
werden eingeteilt in „National Parks" und „National Monu-
ments". 2. Gebiete, die von den einzelnen Bundesstaaten
eingerichtet worden sind — State Parks oder Reservations.
Die National Parks werden durch Gesetzerlaß des Kon-
gresses geschaffen und sind im allgemeinen große Gebiete, die
vornehmlich wegen ihrer landschaftlichen Eigenart, mit der
286
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. i8
auch herTorragende naturwissenschaftliche Werte verknüpft
sind, unter Schutz gestellt werden. National Monuments wer-
den durch Proklamation des Präsidenten der Vereinigten
Staaten geschaffen, sind teils Gebiete, die in erster Linie
wegen ihrer historischen oder prähistorischen Denkmäler zur
Erhaltung bestimmt worden sind, teils aber solche, die her-
vorragende Naturdenkmäler enthalten und daher in demselben
Sinne wie die Nationalparke Naturschutzgebiete darstellen.
Von den 34 jetzt bestehenden National Monuments gehören
20 zu dieser zweiten Gruppe, während nur 14 archäologische
oder geschichiliche Reservate sind (vgl. auch Ahrens, Die
Nationalparke der Vereinigten Staaten. Naturdenkmäler, Vor-
träge und Aufsätze Heft 22, Berlin 1919, Gebrüder Born-
traeger).
Im Anfang des erwähnten Berichtes wird nun von den in
Amerika bestehenden „Naturschulzparken" gesprochen. Ge-
meint sind aber nur die 19 jetzt bestehenden National Parks.
Alsdann spricht Verf. von 33 „kleineren Naturdenkmälern",
womit er die (jetzt 34) „National Monuments" meint. V^'ie
aber eben gezeigt wurde, sind ein großer Teil von diesen
archäologische oder historische Reservate. Natürlich kann
in einem solchen Schutzgebiet zugleich auch die Natur er-
halten werden ; das ist z. B. der Fall beim Mesa Verde Na-
tional Park. Die Ruinenstälte „Casa Grande" kann jedoch
nicht, wie Verf. es tut, als „Naturdtnkmal" bezeichnet
werden, da dieses Nationalmonument durchaus archäologisch
ist. Es besteht aus ausgedehnten Trümmern, die mitten in
der Wüste liegen. Dagegen ist der erwähnte „Teufels-Turm"
ein echtes Naturdenkmal, da er aus einer großartigen, turm-
förmigen Basaltmasse besteht, und das große „Devil's Tower
National Monument" wäre daher als Naturschutegebiet zu be-
trachten. Diesen Ausdruck aber auf das Ruinenleid von Tu-
macacori anzuwenden, wie es in dem Berichte geschieht, ist
wiederum verfehlt, da es sich hier um ein ausgesprochen ar-
chäologisches Reservat handelt.
Hiernach scheint es mir empfehlenswert, in deutschen
Berichten über Am-rika die dort gebräuchlichen Namen
Nationalparke und Nationalmonumente beizubehalten,
■ Dr. Tb. G. Ahrens,
Mitarbeiter der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalp6ege
in Preußen.
Kettenbildung zum Zwecke der Flußübersetzung bei
Ameisen. Kritische Bemerkungen zu dem Bericht über Wander-
ameisen von M. Schips, Zürich (in Nr. 39 des vorigen Jahr-
gangs). In diesem Berichte wird eine „Beobachtung" wieder-
gegeben, welche der Romanschriftsteller N Jacques nicht
nur in einem Roman verwertet, sondern auch in einer Notiz
der Züricher Zeitung mitteilt, wo er versichert, daß er sie
selbst am Ufer des Itajahi in Südbrasilien gemacht habe. Herr
Schips teilt diese „Beobachtung" mit als Beweis, „wie raffi-
niert es die Tiere oft anstellen, um über Schwierigkeiten
Herr zu werden", wenn er auch weiterhin etwas einschränkend
bemerkt; ,,so merkwürdig dieser Bericht erscheinen mag, so
braucht er doch nicht ohneweiters in das Gebiet der Fabel
gewiesen zu werden". Was mir allerdings aus inneren Grün-
den notwendig zu sein scheint, wenn man auch (gewöhnlich
ist es nicht der Fall) Romane und Zeitungsnotizen als Quellen
für wissenschaftliche Mitteilungen gelten lassen wollte.
Es handelt sich „wahrscheinlich" um einen Zug der sog.
Besuchsameisen, die bis 3 cm lang werden. Sie sollen
an dem 12 — 14 m breiten Flusse eioe Kette gebildet haben.
,,Jede hatte sich mit den Vorderbeinen in den Hinterleib des
Vordertieres eingekrallt, und so schoben sie sich in die
Strömung hinein, während sich die unterste (dem Flußlaufe
nach) am Ufer festhielt. Die ganze Kette machte sich starr
wie ein Stecken und wurde so, durch die Strömung langsam
um die unterste Ameise gedreht, über den Fluß geschoben."
Dort hielt sich die letzte fest, dann ließ die erste los und so
gelangte die ganze Kette durch die Strömung auf die andere
Seite.
Mich erinnerte diese Mitteilung sofort an die Fabel von
der Kettenbildung der Affen, um einen Fluß zu übersetzen,
oder gar eine Art Brücke über diesen zu bilden, wobei nur
der Unterschied obwaltet, daß die durch das erste Individuum
an einem hohen Baum eines Ufers festgehaltene Kette sich in
Schwingungen versetzt und so das jenseitige Ufer erreicht. Zu
Gunsten dieser Affengeschichte kann übrigens die Überlegungs-
fähigkeit der genannten hochstehenden Säugetiere ins Feld
geführt werden, was von der Ameise nicht gilt Von ihnen
heißt es weiter: „Diese Kettenbildung der Ameisen liegt
durchaus im Bereiche des Möglichen wegen gewisser Starr-
zustände, die bei Insekten nicht selten sind, so bei den Ge-
spenstheuscbrecken, aber auch bei unseren Spannerraupen, bei
welchen sie freilich „im Bereiche der Lebensgewohnheiten
dieser Tiere liegen", während es sich bei den Ameisen „um
eine spontane Äußerung handeln würde, welche die höhere
Entwicklung des Instinkts bei den gesellig lebenden Tieren
iii ein neues Licht stellt". Aber mit einem willkürlichen
Sich-starr-machen wäre es ja noch gar nicht getan. Es wird
hier den Ameisen ein komplizierter Gedankenprozeß unter-
schoben, der sich wohl durch Instinkt nicht erklären läßt, auch
wenn man wie Herr Schips geneigt ist, die höhere Ent-
wicklung desselben bei gesellig lebenden Insekten gelten zu
lassen. Endlich ist es auch technisch nicht denkbar, daß eine
12 — 14 m lange Kette (I) von wenn auch noch so großen
Ameisen durch Ineinanderkrallen einen steifen Körper bildet.
Wie soll denn dieses Ineinanderkrallen geschehen sein? An
den BerühruDgsstellen hätte denn doch die Beweglichkeit er-
halten bleiben müssen, da ja nur die Vorderbeine in den
(übrigens harten und glatten!) Hinterleib der anderen Ameise
eingekrallt gewesen sein sollen. Mir ist das Ganze, sowie
jede Einzelheit im höchsten Grade unglaublich I
Wien. Prof. Dr. E. Witlaczil.
Die im Jahre 1912 gegründete Gesellschaft für positi-
vistische Philosophie ist jetzt der Kantgesellscbaft beigetreten
und wird dort eine besondere Gruppe für positivistische
Philosophie bilden (Gruppenschrififührer Dr. R. Potonie,
Berlin W, NoUendorfstr. 31/32). J. Petzoldt,
Druckfeblerberichtigung.
In Nr. 9 dies. Jahrg. der Naturw. Wochenschr. muß auf
Seite 142 der Name des Verfassers R, Ulbricht und der des
Verlegers R. Oldenbourg heißen, statt K. Ulbricht und
K. Oldenbourg.
Literatur.
J e 11 i n e k , Prof. Dr., Das Weltengeheimnis. Stuttgart '30,
Ferdinand Enke.
Moszkowski, Einstein. Einblicke in seine Gedanken-
welt. Hamburg '20, Hoffmann & Co.
Schneider, I., Das Raum-Zeit- Problem bei Kant und
Einstein. Berlin '20, Julius Springer.
Die Naturwissenschaften. Wochenschrift, Heft 30, 8. Jahr-
gang. Sonderheft zur Feier der Entdeckung der Röntgen-
strahlen vor 25 Jahren. Berlin '20, Julius Springer.
Stock, A., Ultra-Strukturchemie. 2. Aufl. Berlin '20,
Julius Springer.
B ö h m i g , Prof., Die Zelle (Morphologie und Vermehrung).
Inlialt: Fr. Vierhapper, Eioe neue Einteilung der Pflanzengesellschaften. S. 265. — Binzelbericbte: H. Philipp,
Eine neue Theorie der Gletscherbewegung. S. 274. Werth, Altsteinzeitliche Funde im Sinaigebiete. S. 275.
R. Brauns, Der Meteorstein von Forsbach. S. 276. — Bücberbesprecbungen: A. Hansen, Goethes Morphologie.
S. 277. F. Perzynski, Von Chinas Göttern. S. 278. H. Much, Pathologische Biologie (Immunitätswissenscbaft).
S. 279. H. Fehlinger, Das Geschlechtsleben der Naturvölker. S. 279. — Anregungen und Antworten: Natur-
schutz in den Vereinigten Staaten von Amerika. S. 279. Kettenbildung zum Zwecke der Flußübersetzung bei Ameisen.
S. 2S0. Gesellschaft für positivistische Philosophie. S. 280. — Druckfehlerberichtigung. S. 280. — Literatur: Liste. S. 280.
Manuakripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Guitav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Npue Folpe 10. Band;
der ganxen Reih© 36. Band.
Sonntag, den 8. Mai 1921.
Nummer 19.
Eine neue Einteilung der Pflanzengesellschaften.
Nach einem am 7. April 1919 in der Geographischen Gesellschaft zu Wien gehaltenen Vortrage,
[Nachdruck verboten.l Von Prof. Dr. Friedrich
3. Einteilung der Formationen.
Um nun zu einer Klassifikation der Formationen
zu gelangen, wie sie den natürlichen Verhältnissen
in möglichst weitgehendem Maße gerecht wird,
ist es nötig, auf alle Momente, die für die Cha-
rakterisierung der Formationen in Betracht kom-
men, also vor allem auf die Physiognomie, Öko-
logie und Entwicklungsgeschichte, Rücksicht zu
nehmen. Je gleichmäßiger dies geschieht, desto
natürlicher wird die Einteilung sein, und umge-
kehrt um so künstlicher, je mehr ein einziges
Moment in den Vordergrund gestellt oder eines
vernachlässigt wird.
Während das Volk die Formationen nur nach
der Physiognomie unterscheidet und bezeichnet,
wie Wald, Au, Wiese usw., hat die Pflanzengeo-
graphie schon seit langem erkannt, daß Physio-
gnomie und Ökologie zwei unzertrennbare Merk-
male jeder Formation sind. Schon Grisebach
(1872), der Begründer des Formationsbegriffes,
sagt : „Die Anordnung der Pflanzenformen zu den
physiognomischen Abschnitten der Landschaft
oder den Formationen ihrer Vegetation hängt im
allgemeinen vom Boden, von seiner Mischung und
Feuchtigkeit ab." Demgemäß sind die meisten
Einteilungen der Formationen physiognomisch-
ökologisch, wobei eines der beiden Momente, ent-
weder die Physiognomie oder die Ökologie, als
Haupteinteilungsmerkmal benützt wird.
So ist von Drudes Einteilungen die im
„Handbuch der Pflanzengeographie" (1890) in
Wald-, Gebüsch- und Gesträuch-, Grasflur- und
Stauden-, Moos- und Flechten-, Binnengewässer-,
ozeanische und schließlich unzusammenhängende
Formationen vorwiegend physiognomisch, während
die in der „Ökologie der Pflanzen" (191 3) unter-
schiedenen zwölf Vegetationstypen nach physio-
gnomisch-ökologischen Gesichtspunkten gebildet
und größtenteils auch benannt sind. Sie heißen:
I. Immergrüne Tropenwaldungen; 2. Tropisch-regengriine
Waldungen; 3. Subtropisch-immergrüne HarUaubwaldungen ;
4. Etesial-boreale sommergrüne Laub- und frostharte Nadel-
waldungen; 5. Immergrüne und periodisch belaubte Nieder-
holzformationen aus Gebüsch und Gesträuch ; 6. Hochgras-
steppen, Baumsteppen und Savannen ; 7. (Immergrüne) Gras-
wiesen und Grasmoore ; 8. Xerophytensteppen und Wüsten-
steppen ; 9. Chamäphyten, Moose und Flechten auf saurem
Boden ; 10. Süßwasserbestände und limnische Uferformalionen ;
II. Halophytische Küstenförmationen ; 12. Submerse Halo-
phytenformationen.
Auf rein ökologischer Basis, nach dem Wasser-
haushalt, sind E. Warmings (1896, 1902) Klassen
der Hydro-, Xero-, Halo- und Mesophytenvereine
Vierhapper in Wien. (Schluß.)
begründet. Gleichfalls auf ökologischer Basis, mit
Benützung des Nährstoffgehaltes des Bodens als
Haupteinteilungsmoment, hat Graebner (1903)
die Formationen Norddeutschlands gegliedert Er
unterscheidet Vegetationsformen :
A) Auf nährstoffreichem Boden. I. Mit übermäßiger An-
reicherung auch tierischer organischer Stoffe : Ruderalstellen.
II. Ohne übermäßige Anreicherung von Nährstoffen, a) Trok-
kener Boden. I. Unkultivierter Boden: a) Mergelhaitiger
Boden: Sonnige Hügel, Abhänge; ß) Sandboden: Binnen-
dünen; 2. Kultivierter Boden: Weinberge, Obstplantagen
b) Mäßig feuchter, selten nasser Boden : Wälder oder künst
liehe Wiesen, Äcker; c) Wenigstens zeitweise nasser Boden
in Niederungen. I. Ohne übermäßige Anreicherung pflanz
licher Reste, also mit schwach humosem oder stark humosem
dann aber noch ziemlich lufthaltigem , also lockerem Boden
fast stets an mehr oder weniger fließendem und sickerndem
Wasser. «) Ohne Überschwemmung von Flüssen und Eisgang
Erlenbrüche; ß) Mit Überschwemmung großer Flüsse, ohne
Eisgang: Auenwälder; y) Mit Überschwemmung und Eisgang
Natürliche Wiesen; 2. Der ganze Boden aus schwammigem
in geringer Tiefe bereits luftarmem, naß schmierigem, trocken
hartem oder pulverigem, schwarzem Humus bestehend : Wiesen
moore; d) Wasser: Landseen, Flüsse. — B) Auf nährstoff-
armem Boden; I. Sehr trockener Boden: Sandfelder. II. Trok
kener bis mäßig feuchter, zeitweise auch nasser Boden : Hei
den. III. Nasser Boden: Heidemoore. — C) Auf salzhaltigem
Boden : I. Trockener, sandiger Boden : Stranddünen. II. Feuch
ter Boden: Salzwiesen. III. Nasser Boden: Salzsümpfe
IV. Wasser: Meere, Salzgewässer.
Vorwiegend ökologisch charakterisiert, mit ge-
ringem Einschlage des physiognomischen Momentes,
sind auch die Hauptgruppen in Warmings und
Graebners dritter Auflage des Warming-
schen Lehrbuches der ökologischen Pflanzengeo-
graphie (1918). Es sind:
I. Halophytenvereine ; 2. An süßes Wasser gebundene
Vereine ; 3. Mesophile und hygrophile Formationen ; 4. For-
mationen auf Torf böden ; 5. Kältewüsten ; 6. Vereine der
Stein- und Sandböden ; 7. Hartlaubformationen ; 8. Subxero-
phile Formationen mit Grasböden; 9. Vereine der ariden Ge-
biete (Einöden).
Als ökologisch-physiognomische Einteilung ver-
dient auch die Di eis' (1908, 1910) hervorgehoben
zu werden. Seine „Typen der Vegetationsge-
staltung" sind :
I. Hydatophytia, im Wasser: Thalassium (Meeres-), Lim-
nium (See-), Potamium (Flußformationen). — II. Mesophytia,
von mittlerer Wasserbilanz: Tropodrymium (Savannenwald),
Therodrymium (Sommerwald), Conodrymium (Nadelwald),
Mesothamnium (Hartlaubgesträuch) , Mesopoium (Savanne),
MesopUorbium (Matte). — III. Hygrophytia, von hochwertiger
Wasserbilanz : Halodrymium (Mangrove) , Hygrodrymium
(Regenwald), Hygropoium (Wiese), Hygrophorbium (Flach-
moor), Hygrosphagnium (Hochmoor). — IV. Xerophytia, von
niederer Wasserbilanz: Xerodrymium (Trockenwaldj, Xero-
thamnium (Dornbusch usw.), Xeropoium (Steppe), Xerophor-
bium (Trift).
3S3
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 19
Den Entwicklungsgedanken hat zuerst Schim-
per (1898) zur Grundlage einer großzügigen
Klassifikation der Vegetationsformationen gemacht,
die auch dem ökologischen und physiognomischen
Standpunkte gerecht wird. Er trennte, wie schon
gesagt, diejenigen Formationen, welche in einem
Gebiete als Endstadien von Sukzessionen am
meisten vom Boden sich emanzipiert haben und
um so mehr vom Klima abhängen, dessen physio-
gnomischer Ausdruck sie gewissermaßen sind, als
klimatische oder Gebietsformationen von den
edaphischen, die als Anfangs- oder Übergangs-
stadien mehr unter der Herrschaft des — stets
in bezug auf Feuchtigkeit oder Nährstoffgehalt
extrem ausgebildeten — Bodens als des Klimas
stehen. Die klimatischen Formationen teilt er
nach dem ökologischen Gesichtspunkte der Be-
schaffenheit des Klimas in die auch physiogno-
misch verschiedenen Haupttypen der Gehölze,
Grasfluren und Wüsten. Jeder derselben ist durch
ein eigenes Klima bedingt. Das Gehölzklima ist
durch warme Vegetationszeit, beständig feuchten
Untergrund bei verschiedener Verteilung der
Niederschläge und feuchte und ruhige Luft,
namentlich im Winter, das Grasflurklima durch
häufige, wenn auch nur schwache, die Feuchtig-
keit des Obergrundes erhaltende Niederschläge in
der Vegeiaiionszeit und gleichzeitig mäßige Wärme,
das Wüstenklima durch extreme Kälte oder
Trockenheit gekennzeichnet. „Gehölzklima führt
zum Sieg des Gehölzes, Grasflurklima zum Sieg
der Grasflur. In Übergangsklimaten entscheiden
edaphische Einflüsse den Sieg. Stärkere Ab-
weichungen vom Gehölzklima und vom Grasflur-
klima rufen die Wüste hervor." Die edaphischen
Formationen gliedert er in durch Bodenwasser
bedingte, wie Galeriewälder und Sümpfe, und dem
Bodenwasser mehr minder entrückte auf nacktem,
festem oder losem Gestein, wie die Fels- und Sand-
fluren. Durch Sukzessionen verschiedener Art ver-
mögen edaphische in die dem betreffenden Klima ent-
sprechenden klimatischen Formationen überzugehen.
Vom rein genetischen oder besser dynamischen
Standpunkte aus betrachtet, können, wie schon
erwähnt, die Formationen Anfangs-, Übergangs-
oder Endstadien einer Entwicklungsreihe (Serie)
eines Veränderungs(Sukzessions-)prozesses sein.
Das eingehende System, welches der Amerikaner
Clements (1916) von diesen Serien gegeben
hat, indem er einfache und zusammengesetzte
(seres und coseres) unterscheidet, die ersteren in
Primär- und Folgeserien (Priseres und Subseres)
gliedert, deren jede er wieder, je nachdem sie
naß (hydrarch) oder trocken (xerarch) beginnt,
in Hydroseres und Xeroseres spaltet, von den
letzteren die klimatisch bedingten als Cliseres und
von diesen die einer geologischen Periode ange-
hörigen als Eoseres und alle zusammen als Geo-
seres zusammenfaßt usw., kommt für unsere Ein-
teilung, die neben dem dynamischen auch das
statische IVIoment berücksichtigen will, als zu ein-
seitig nicht weiter in Betracht.
Ein anderes Prinzip der Einteilung der Forma-
tionen auf ökologisch- genetischer Grundlage ist die
Absonderung der durch den Menschen geschaffenen
Formationen als sekundäre, anthropogene oder
Kulturformationen von den ursprünglichen, die
man als primäre oder Naturformationen bezeichnen
kann. Die IVIitte zwischen beiden Extremen halten
die Halbkulturformationen. Bernätsky (1904)
unterscheidet in dieser Hinsicht:
A) Natürliche Formationen. I. Unangetastete, II. Beein-
flußte Urformationen; III. Infolge tiefgreifender Einwirkung
umgewandelte Formationen mit natürlicher Erhaltung durch
regelmäfliges Abmähen oder Abweiden; IV. Kulturellen Ein-
griffen ausgesetzt gewesene, nun von neuem dem Urzustände
überlassene Formationen ohne nennenswerte Veränderung des
Bodens oder mit solcher. — B) Kulturformationen. V. Eigent-
liche Kulturfelder; VI. Kulturformationen mit natürlichem Zu-
wachs. — C) Natürlicher Ausbildung überlassene Kulturforma-
tionen an Stelle einstigen Kulturlandes. VII. Echte Ruderal-
formationen; VIII. Übergangsformationen; IX. Endformationen,
a) von der Urformation verschieden, b) dem Urzustände glei-
chend.
Eine ökologisch - physiognomische Einteilung,
deren erste drei Hauptgruppen mit Schimpers
klimatischen Formationstypen übereinstimmen, und
zu denen noch als vierte das Phytoplankton
kommt, haben Brockmann- Jerosch (1912)
und Rubel (1912, 1913, 1915) durchgeführt. Die
Unterteilung erfolgt auch nach physiognomischen
und ökologischen, und zwar zum Teil klimatischen,
zum Teil edaphischen IVIerkmalen. Dieses System
hat folgende Gestalt:
I. Lignosa (Gehölze). I. PluvnUgnosa (Regengehölze);
a) /'/«z'»(V;7j'a<! (Regenwälderl, b) Pluvüfruticeta (Regengebüsche) ;
2. Laurihgnosa (Lorbeergehölze) : a) Laurisilvae (Lorbeerwäl-
der), b) Laurifrutueta (Lorbeergebüsche) ; 3. Duribgnosa (Hart-
laubgehölze) ; a) Dttrhilvae (Hartlaubwälder), b) Diirifrutiata
(Hartlaubgebüsche); 4, EruUignosa (Heidegehölze): Erici-
Jruticeta (Heiden) ; 5. Decidtälignosa (Fallaubgehölze) : a) Aesta-
tisilvae (Sommerwälder), b) Aestatifruticeta (Sommergebüsche),
c) Hicmhilvae (Monsunwälder), d) Hicmifrutketa (Monsun-
gebüsche); 6. Acictililigiiosa^) (Nadelgehölze): a) Aciculisilvat-^)
(Nadelwälder), b) Acicultfruticcta ') (Nadelholzgebüsche). —
II. /"ra/ö (Wiesen). l.Terriprata (Bodenwiesen): 3.) Duripiatn
(Hartwiesen), b) Sempcrvirentiprata (Immergrüne Wiesen),
c) A'itoherbiprata (Hochstaudenwiesen); 2. Aquiprata (Wasser-
wiesen); a) Emersipiata (Eraerse Wasserwiesen), b) Submersi-
prata (Submerse Wasserwiesen), c) Spkagnioprata (Hochmoore).
— III. Deserta (Einöden). I. Siccideserta (Steppen) ; 2. Siccis-
simideserla (Wüsten); t,. Frigorideserta (Kälteeinöden); ^. Lila-
rideserta (Sirandsteppen) ; 5. Mobilideserta (Wandereinöden). —
IV. Phytoplankton.
Die mit römischen Ziffern bezeichneten Kate-
gorien nennen die Verfasser Vegetationstypen, die
mit arabischen Ziffern Formationsklassen, die mit
Buchstaben Formationsgruppen. Ein eigenes Ka-
pitel und eine schematische Karte haben sie der
Darstellung der klimatischen Anordnung ihrer
Formationsgruppen gewidmet. Als wichtigste
klimatische Momente kommen in dieser Hinsicht
die Wärmeverhältnisse und der Klimacharakter
in Betracht. Die ersteren werden vor allem durch
die geographische Breite, der letztere hauptsäch-
lich durch das Verhältnis der Lage eines Ortes
') Kübel (1915) statt Conilignosa, Conisilvae, Conifruti-
ceta Brockmann-Jerosch und Rubel (1912).
N. F. XX. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
283
zu den großen Land- und Wasserflächen in Ver-
bindung mit der herrschenden Windrichtung be-
dingt. Im einen Sinne gibt es tropische, ge-
mäßigte und arktische, im anderen ozeanische,
mittlere und kalte Klimate. Es kann also das
Klima eines Ortes tropisch- kontinental, gemäßigt-
ozeanisch usw. sein. Den ozeanischen Klimaten
entsprechen in den tropischen Gebieten die
Pluviisilvae, in den subtropischen die Laurisilvae,
in den gemäßigten die Ericilignosa und in den
subarktischen die Sempervirentiprata ; den konti-
nentalen vom Äquator gegen die Pole die Siccis-
simideserta und Aciculisilvae ; den mittleren in
gleicher Reihenfolge, zwischen die Formations-
gruppen der ozeanischen und kontinentalen einge-
schaltet und sie miteinander verbindend, die Hiemi-
silvae, Durisilvae und Aestatisilvae und zwischen
allen diesen drei Gruppen und den Siccissimi-
deserta die Siccideserta. In den ozeanischen Ge-
bieten herrschen die immergrünen Pflanzengesell-
schaften mit frischgrün gefärbtem Laube, in den
mittleren und kontinentalen laubwechselnde oder,
wenn immergrün, mit trübgrüner Färbung. Die
Polargrenzen der ersteren biegen sich mit der
Entfernung von den Küsten äquatorwärts, die der
letzteren polwärts. Der Gegensatz zwischen
ozeanischem und kontinentalem Klima wird mit
abnehmender Wärme, also gegen die Pole zu
immer geringer und um diese herum hat eine
eigene Formationsgruppe, die Frigorideserta,
allenthalben die Alleinherrschaft. Im großen und
ganzen sind sowohl die Trockenwüsten als auch
die Kältewüsten von den Wäldern durch Gras-
fluren, und zwar die ersteren durch die Steppen,
die letzteren durch die „immergrünen" Wiesen
getrennt. Durch das Vorhandensein von Gebirgen,
Passatwinden usw. erleidet dieses Schema in Wirk-
lichkeit ganz bedeutende Modifikationen. Mit
steigender vertikaler Höhe erfolgt ein ähnlicher
Wechsel der Formationsgruppen wie mit zu-
nehmender geographischer Breite.
Die übrigen Formationsgruppen, das sind die
Aquiprata, Litorideserta, Mobilideserta und der
Vegetationstypus des Phytoplankton, konnten, da
hauptsächlich edaphisch bedingt, in dieser Dar-
stellung begreiflicherweise keine Aufnahme finden.
Ich habe die Einteilung Brockmann-Je-
roschs undRübels zur Grundlage einer neuen
Klassifikation gemacht (Vierhapper 1918).
Gleich diesen beiden Forschern halte ich eine
möglichst innige Verbindung des ökologischen
Momentes mit dem physiognomischen zur Be-
gründung der Hauptgruppen für unumgänglich
nötig und glaube, daß eine besondere Betonung
des letzteren gerade für den Geographen von Be-
deutung ist. Daneben soll aber auch der ent-
wicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt stark in den
Vordergrund treten. Aus ökologischphysiogno-
mischen Gründen wird die Vegetation des Wassers
mit seinen ganz anderen Standortsverhältnissen
von der des Landes getrennt, aus genetischen
werden innerhalb der drei ersten Haupttypen der
Landvegetation die edaphischen Gruppen von den
klimatischen gesondert, während auf die vor-
wiegend physiognomische Unterscheidung der
Wälder (silvae) und Gebüsche (fruticeta) innerhalb
der Gehölze (lignosa) weniger Gewicht gelegt
wird. Aus ökologisch- physiognomischen und ge-
netischen Gründen wird als vierter Haupttypus
der Landvegetation der Lithos abgesondert. Er
ist gleich der gesamten Wasservegetation in erster
Linie edaphisch bedingt. Der entwicklungsge-
schichtlichen Auffassung gemäß werden neben den
klimatischen und edaphischen die spezifisch anthro-
pogenen Gruppen separat hervorgehoben.
Die Deciduilignosa, die die Schweizer als eigene
Formationsklasse führen, werden in die beiden
Klassen der Hiemilignosa und Aestatilignosa ge-
trennt. Von den Prata der Schweizer Autoren
werden die Submersiprata zur Wasservegetation
gestellt, die Emersiprata aber in Aquiprata s. s.
(Sümpfe) und Paludiprata (Sumpfwiesen) geteilt.
Die Altoherbiprata werden, in etwas erweitertem
Umfange aufgefaßt, als Herbiprata bezeichnet und
infolge ihrer vorwiegend edaphischen Bedingtheit,
indem sie sich beispielsweise als Quellfluren an
fließendem Wasser, als Karfluren meist auf Rutsch-
flächen, als Läger auf überdüngten Plätzen finden,
mit den Aqui- und Paludiprata zur edaphischen
Formationsklasse der Prata vereinigt. Von den
Sempervirentiprata werden die Frigidiprata (Alpen-
matten) und Musciprata (Moostundren) als eigene
Formationsklassen abgetrennt. Die Siccideserta
werden zu den Prata gezogen und in Calidiprata
(Savannen) und Sicciprata (Steppen) getrennt, die
Duriprata zu letzteren geschlagen. Die Felsvege-
tation, welche die Schweizer nicht als eigene Klasse
bewerten, wird, soweit sie die Chasmophyten um-
faßt, in Anbetracht der großen Zahl spezifischer
Typen unter diesen als eigene, den Mobilideserta
gleichwertige edaphische Formationsklasse ge-
führt, soweit sie aber aus epi- und endolithischen
Algen und Flechten besteht, gemeinsam mit den
„kryptogamen Pionieren" auf losem Gestein zum
Vegetationstypus des Lithos vereinigt. Die Unter-
teilung der Wasservegetation erfolgt im Sinne
Warmings, Diels' und anderer Pflanzengeo-
graphen.
In Abweichung von meiner erster Zusammen-
stellung teile ich nun, einer Anregung Schröters
(Zürich) folgend, dem Kryoplankton einen höheren
Rang zu, stelle ihm das eigentliche Plankton als
Hydroplankton gegenüber und streiche das Sapro-
plankton als rein anthropogene Formationsklasse.
Den Rest der Sempervirentiprata der Schweizer
stelle ich, soweit es sich nicht um anthropogene For-
mationen handelt, als Litoriprata zu den edaphi-
schen Wiesen und vermehre diese noch um die
Areniprata, sowie die früher als klimatisch be-
zeichneten Sphagniprata und Musciprata. Als
Prata anthropogener Herkunft führe ich nun auch
die Foeniprata und Segetalia auf. Den Namen
Hiemilignosa ändere ich als unzutreffend, da er
besagen soll, daß diese Gehölze im Winter grün sind,
284
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 19
während in Wirklichkeit ihre Vegetationsperiode
mit dieser Jahreszeit nicht zusammenfallt, in Sic-
cilignosa, wodurch angedeutet wird, daß sie haupt-
sächlich durch Trockenheit beeinflußt werden und
auch durch diese ihr Laub verlieren. Statt
Aciculilignosa sage ich nun wieder Conilignosa,
Nektobenthos wird in Haptobenthos umgeändert.
Es gestaltet sich also meine Einteilung folgen-
dermaßen :
Vegetationshaupitypus A : Vegetation des Landes.
Vegetationstypus I. Lignosa (Gehölze).
a) Klimatische Formationsklassen : I. Pluviilignosa (Regen-
gehölze); 2. Laurilignosa (Lorbeergebölze) ; 3. Durilignosa
(Hartlaubgehölze) ; 4. Siccilignosa (Monsumgehölze) ; 5. Aesta-
tilignosa (Sommergehölze); 6. Conilignosa (Nadelgehölze);
7. Ericilignosa (Heidegehölze).
b) Edaphische Formalionsklassen. 1. Marilignosa (Man-
grovegebölze); 2. Fluviilignosa (Augehölze) ; 3. Paludilignosa
(Bruchgehölze).
Vegetationstypus II. Prala (Wiesen).
a) Klimatische Formationsklassen. I. Calidiprata (Sa-
vannen) ; 2.S icciprata (Steppen) ; 3. Frigidiprata (Matten).
b) Edaphische Formalionsklassen. I. Sphagniprata (Hoch-
moore); 2. Musciprata (Moostundren); 3. Paludiprata (Sumpf-
\yiesen) ; 4. Aquiprata (Sümpfe); 5. Litoriprata (Strandwiesen) ;
6. Areniprata (Sandwiesen); 7. Herbiprata (Staudenfluren).
c) Anthropogene Formationsklassen. I. Foeniprata (Mäh-
der); 2. Pinguiprata (Fettwiesen); 3. Segetalia (Felder).
■Vegetationstypus III. Deserta (Einöden).
a) Klimatische Formationsklassen. 1. Siccissimideserla
(Trockenwüsten) ; 2. Frigidideserta (Kältewüslen).
b) Edaphische Formationsklassen. I. Saxideserta (Fels-
fluren) ; 2. Mobilideserta (Wanderfluren) ; 3. Litorideserta (Salz-
fluren).
c) Anthropogene Formationsklasse. I. Ruderalia (Rude-
ralvegetation).
Vegetationstypus IV. Lithos (Gesteinsvegetation).
Edaphische Forraationsklassen. I. Xerolithos (Flechten-
überzüge) ; 2. Hygrolithos (Algenüberzüge).
Vegetationshaupttypus B : Vegetation des Wassers.
Vegetationstypus I. Kryoplankton (Klebevegetation).
Edaphische Formationsklasse. I. Kryoplankton (Eis-
kleber).
Vegetationstypus II. Hydroplankton (Schwebevegetation).
Edaphische Formationsklassen. 1. Haloplankton (Meeres-
schweber); 2. Limnoplankton (Süfiwasserschweber) ; 3. Sapro-
plankton (Morastschweber).
Vegetationstypus 111. Pleuston (Schwimmvegetation).
Edaphische Forraationsklassen. I. Mikropleuston (Klein-
schwimmer) ; 2. Sargasson (Sargassovegetation) ; 3. Hydro-
chariteon (Grofischwimmer).
Vegetationstypus IV. Haptobenthos (Haftvegetation). -
Edaphische Formationsklassen. I. Mikrobenthos (Klein-
hafter) ; 2. Halobenthos (Meereshafter) ; 3. Limnobenthos (Süß-
wasserhafter).
Vegetationstypus V. Rhizobenthos (Wurzelvegetation).
Edaphische Formationsklassen. I. Enhalideon (Seegräser);
2. Limnaeon (Laichkräuter).
Die Vegetationstypen der Lignosa und Prata
umfassen nur geschlossene Formationen. In den Lig-
nosa sind stets Holzgewächse die herrschende Vege-
tationsform. Die Pluviilignosa sind die üppigste
aller Formationsklassen, mit dem größten Stoff-
umsatz; ihre Gehölze sind größtenteils immer-
grün; die Laurilignosa sind eine abgeschwächte
Form, die Durilignosa überdies mehr an Trocken-
heit angepaßt; die Holzgewächse der Siccilignosa
verlieren in den Trockenzeiten, die der Aestati-
lignosa im Winter ihr Laub; die Coni- und Eri-
cilignosa sind durch nadel- oder schuppenformige.
meist immergrüne Blätter ihrer Gehölze ausge-
zeichnet. Die Marilignosa sind immergrün und
den Pluviilignosa ähnlich, die Fluvii- und Palu-
dilignosa, den Klimaten entsprechend, teils im-
mer-, teils sommergrün. — In den Prata herrschen
Gräser, seltener Moose oder krautige Gewächse.
Die Savannen sind die üppigste Formationsklasse
mit vorherrschenden Hochgräsern; in den Sicci-
prata und Frigidiprata überwiegen Horstgräser,
die ersteren sind in den Trockenzeiten dürr und
beherbergen viele Kräuter, die letzteren sind an
solchen arm und meist immer frisch; in den
Sphagniprata dominieren Sphagnen, in den Musci-
prata Laubmoose, in den Paludiprata Grasartige
und Moose, in den Aquiprata Rohrgräser, Binsen
usw., in den Litoriprata rasige, in den Areniprata
Ausläufer treibende Gräser, in den Herbiprata
Stauden, in den Foeniprata Horst- und Rasen-
gräser, in den Pinguiprata letztere und in den
Segetalia einjährige Gräser oder krautige Ge-
wächse. — Die Deserta umfassen nur offene For-
mationen mit holzigen und krautigen Pflanzen.
Die Siccissimi- und Frigidideserta haben den Be-
sitz von Polsterpflanzen gemein, erstere enthalten
oft auch dornige Vegetationsformen, letztere
Spaliergehölze; in den Saxideserta spielen horst-
förmige oder dichtrasige, in den Mobilideserta
wandernde Gräser und Stauden, in den Litori-
deserta saftstrotzende Halophyten die Hauptrolle.
— Der Lithos besteht nur aus thallophytischen
Gewächsen, und zwar der Xerolithos hauptsäch-
lich aus Flechten, der Hygrolithos aus Algen. —
Das Kryoplankton ist aus haftenden, das Hydro-
plankton aus schwebenden und aktiv schwimmen-
den, vorwiegend einzelligen Algen zusammenge-
setzt. Das Pleuston umfaßt die passiv schwim-
menden Typen des Wassers, und zwar das Mikro-
pleuston hauptsächlich Fadenalgen, das Sargasson
losgerissene Halobenthosformen und das Hydro-
chariteon Blütenpflanzen und Farne. Vom Hapto-
benthos, der haftenden Vegetation des Wassers,
besteht das Mikrobenthos aus Fadenalgen, das
Halobenthos vornehmlich aus kugeligen, laub- und
sproßartigen Algen, das Limnobenthos aus ge-
wissen Moosen [Fonfinalis usw.) und Podostemo-
nazeen ; vom Rhizobenthos endlich, der aquatischen
Wurzelvegetation, das Enhalideon hauptsächlich
aus bandblättrigen Monokotyledonen, das Limnaeon
außer aus solchen auch aus anders gebauten Mono-
und Dikotyledonen.
Die klimatischen Formationsklassen gedeihen
über trockenem bis mäßig feuchtem Boden, in
dem der Humus mehr oder weniger über die
mineralischen Bestandteile überwiegt; die eda-
phischen im Wasser, auf mehr oder weniger nas-
sem Boden, auf trockenem aber nur dann, wenn
er ein ausgesprochenes Übergewicht an minera-
lischen Bestandteilen aufweist. Die klimatischen
Formationsklassen sind natürlich auch edaphisch
mitbedingt, wie umgekehrt auch die edaphischen
in größerem oder geringerem Grade vom Klima
abhängig sind ; die anthropogenen sind entweder
N. F. XX. Nr. 19
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
285
durch die Tätigkeit des Menschen entstanden oder
werden doch durch sie erhalten und wesentlich
beeinflußt.
Die klimatischen Formationsklassen sind in
besonders hohem Grade für bestimmte Klimate
bezeichnend, und zwar die Pluviilignosa für ein
tropisch-ozeanisches, die Siccilignosa und Calidi-
prata für ein tropisch-mittleres, die Siccissimide-
serta für ein tropisches bis gemäßigtes kontinen-
tales, die Laurilignosa für ein subtropisch- bis
warmgemäßigt-ozeanisches, die Durilignosa für ein
subtropisch- bis warmgemäßigt - mittleres , die
Sicciprata für ein subtropisches bis gemäßigtes
kontinentales, die Ericilignosa für ein subtropisch-
ozeanisches bis arktisches, die Aestatilignosa für
ein gemäßigtes ozeanisches bis mittleres, die
Conilignosa für ein gemäßigtes mittleres bis kon-
tinentales, die Frigidiprata und Frigidideserta für
ein arktisches.
Unter den edaphischen Klassen sind die Mari-
lignosa an den Meeresstrand der Tropen, die
Fluviilignosa an fließende, die Paludilignosa an
stehende Süßwässer gebunden. Die Sphagniprata
finden sich auf feuchtem ,nährstofifarmem, von ihnen
selbst gebildetem Substrate in ozeanischen Kli-
maten, die Paludiprata auf feuchten mineralreichen
Böden, die Musciprata auf feuchten Böden speziell
in Gebieten arktischen Klimas, die Aquiprata sind
in besonders hohem Grade vom Wasser abhängig,
die Litoriprata treten im Überflutungsgebiete des
Meeres (Marschen) und der Flußläufe auf; die
Areniprata sind für Sandboden bezeichnend; die
Herbiprata finden sich auf feuchten Rutschflächen
und, in anderer Form, auf überdüngten und quel-
ligen Stellen. Die Saxideserta sind an festes, die
Mobilideserta an loses Gestein, die Litorideserta
an salzreichen Boden gebunden. Der Xerolithos
bekleidet trockenes, der Hygrolithos feuchtes festes
oder loses Gestein. Von der Vegetation des
Wassers gedeiht das Kryoplankton auf Eis und
ewigem Schnee, das Haloplankton und Sareasson
im offenen Meere, das Halobenthos auf den Felsen,
dasEnhalideon im Sande und Schlamme der Küsten
des Meeres, letzteres auch im Brackwasser, das
Limnoplankton, Mikropleuston und Hydrochariteon
in stehendem, das Limnobenthos in fließendem Süß-
wasser; Mikrobenthos findet sich sowohl im Meere
als auch im Süßwasser; Saproplankton ist für an
organischen Stoffen überreiche Wässer bezeichnend
und so zum Teil anthropogener Herkunft. — Von
den edaphischen Formationsklassen kommen die
Marilignosa, Sphagniprata und Musciprata den
klimatischen zunächst, während ihnen der Lithos
am fernsten steht.
Unter den anthropogenen Formationsklassen
werden die Foeniprata nur gemäht, die Pingui-
prata gedüngt und gemäht, seltener auch gebaut,
dieSegetalia stets gebaut, gedüngt und geschnitten.
Alle drei verlangen nährstoffreichen Boden. Die
Ruderalia finden sich auf durch den Menschen
direkt oder indirekt mit Nährstoffen, insbesondere
Nitraten, überreicherter Unterlage. Vom Klima
sind die genannten anthropogenen Klassen in
mittlerem Ausmaße abhängig.
In genetischer Hinsicht sind die klimatischen
Formationsklassen im allgemeinen die Endstadien
progressiver Sukzessionen, während unter den
edaphischen Lithos und Plankton, und zwar ersterer
bei xerarcher, letzteres bei hydrarcher Entwicklung,
Anfangsstadien, die anderen aber Übergangsstadien
sind. Im Verlaufe von xerarchen Sukzessionen
folgen, wenn die Serie geschlossen ist, in Gebieten
mit Gehölzklima auf den Lithos ein Desertum,
auf dieses ein Pratum und auf dieses ein Ligno-
sum, in solchen mit Grasflurklima kommt das
Lignosum, in solchen mit Wüstenklima auch das
Pratum in Wegfall; bei hydrarcher Entwicklung
folgen, wenn der Verlauf ein typischer, dem Hy-
droplankton Benthosformationen und eventuell
auch Pleuston, diesen aquatisch-edaphische Aqui-
und Paludiprata und eventuell auch Sphagniprata
und diesen erst die dem betreffenden Klima ent-
sprechenden klimatischen Endstadien.
Die Formationsklassen können nach verschie-
denen Gesichtspunkten in Formationsgruppen ge-
teilt werden. Von den Klassen der Lignosa, mit
Ausnahme der Ericilignosa, unterscheiden die
Schweizer auf hauptsächlich physiognomisch- öko-
logischer Grundlage je zwei Gruppen, die sie als
Silvae und Fruticeta bezeichnen. Mir erscheint
es hingegen mehr angebracht, deren mehr, und
zwar je nachdem die dominierenden Lebensformen
Bäume, Sträucher, Halb-, Zwerg- oder Spalier-
sträucher sind, Silvae, Fruticeta, Suffruticeta, Nano-
und Prostratofruticeta auseinanderzuhalten. Die
Flechtentundren der Arktis und der Hochgebirge
schließen sich an die Spalierstrauchformations-
gruppe (Prostratofruticeta der Ericilignosa — Loi-
seleurietum usw. — an. Ähnliche Beziehungen
bestehen wohl zwischen den Moostundren und der
Spalierweidenformation (Salicetum reticulatae, her-
baceae usw.), eines zwergigen Paludilignosum der
gleichen Gebiete. Auch eine Unterteilung der
Klassen der Prata ist sowohl nach physiognomi-
schen — z. B. der Aquiprata, Herbiprata — , als
noch mehr nach ökologischen und genetischen
Momenten sehr erwünscht. Besonders naheliegend
ist eine solche der Klassen der Deserta in physio-
gnomischer Hinsicht, je nachdem Polsterpflanzen,
Sukkulente, Dornbüsche usw. überwiegen. Inner-
halb der Klassen des Lithos wären, vor allem
nach der Konsistenz und der chemischen Be-
schaffenheit des Gesteines, ob es fest oder lose,
kalkarm oder -reich, salzhaltig usw., Gruppen zu
bilden; innerhalb derer des Wassers nach dessen
Nährstoff- und Sauerstoffgehalt, Temperatur usw.
Es liegt, um so mehr als es sich um keine
stabilen Größen handelt, in der Natur der Sache,
daß es zwischen den verschiedensten der Kate-
gorien unseres Systems der Pflanzengesellschaften
sowohl in physiognomischer und ökologischer als
auch genetischer Beziehung eine Menge Übergangs-
formen gibt, die^ oft die Erkennung der Typen
sehr erschweren. So vor allem zwischen den
286
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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klimatischen, edaphischen und anthropogenen
Formationsklassen. Wie schwer ist es doch oft
zu beurteilen, inwieweit irgendein Wiesentypus
auf die eine oder andere Weise bedingt ist. Zwi-
schen der Vegetation des Wassers und Landes
vermitteln beispielsweise die Aquiprata, zwischen
den Siccilignosa und Calidiprata der Tropen die
Baumsavannen ebenso wie zwischen den Coni-
lignosa und Frigidiprata an der Baumgrenze un-
serer Alpen die aus Narduswiesen und Ericifruti-
ceta mit zerstreut wachsenden Bäumen bestehenden
Vereine der Kampfzone. Auch diese Bindeglieder
sind entweder edaphisch,- wie im ersten, klima-
tisch und zum Teil wohl auch anthropogen, wie
im zweiten und dritten Beispiele, bedingt. Die
Calidiprata sind nicht nur mit den Siccilignosa,
sondern auch mit den Sicciprata und diese beiden
— durch die „Halbwüsten" — mit den Siccissi-
mideserta, sowie auch die Frigidiprata mit den
Frigidideserta durch Übergänge verbunden. Das
Kryoplankton ist eine Art Mittelding zwischen
dem Hydroplankton und dem Hygrolithos. Viele
Bindeglieder sind nur vom genetischen Stand-
punkte aus zu erklären, als Intermediärformen
zwischen zwei Stadien einer Sukzession, wie die
Übergangsmoore zwischen Paludi- und Sphagni-
prata in vielen hydrarchen Sukzessionen. Schwierig
ist es oft auch, an irgendeinem Übergangsstadium
festzustellen, ob es einer pro- oder retrogressiven
Sukzession angehört.
Wollte man statt der Formationen die Asso-
ziationen zu klassifizieren versuchen, so käme für
die Wertung und Einreihung der einzelnen Typen,
für die Erklärung ihres Werdeganges und Zusam-
menhanges neben dem physiognomischen , ökolo-
gischen und genetischen auch noch das phyletische
und historische IVIoment in Betracht. Hierauf ein-
zugehen wäre in Anbetracht der Komplexität der
Zusammenhänge eine noch viel schwierigere Auf-
gabe, besonders für den floristisch nicht geschulten
Geographen. Ich bin mir aber wohl bewußt, daß
auch ohne an sie heranzutreten mein Klassifikations-
versuch ein unzureichender ist. Sind mir doch
viele der genannten Formationsklassen nicht aus
eigenem Anschauen bekannt. Wenn ich ihn dessen-
ungeachtet veröffentliche, so geschieht es nur um
allgemein anregend zu wirken und nicht um einen
starren Rahmen zu schaffen, in den, wie Grad-
mann (1900) es tadelt, alles, was da noch kommt,
hineingezwängt werden soll. Denn ich bin gleich
dem Genannten und DuRietz (1917) vom großen
Werte der induktiven JVIethode der Forschung
vollauf überzeugt und auch davon , daß es dem
einzelnen Forscher frei stehen soll, die Pflanzen-
vereine eines bestimmten Gebietes nach eigenem
Ermessen einzureihen und zu benamsen, wie er
es für gut hält. Doch sehe ich keinen Anlaß
dazu, mit einer Gesamtklassifikation zu warten
bis alle Vereine der Erde bekannt und benannt
sind. Der richtige Weg liegt vielmehr meines
Erachtens in einem zielbewußten Zusammenarbeiten
der deduktiven und induktiven Methode, und ich
glaube sogar, daß ein und derselbe Forscher
beide Wege mit Erfolg betreten kann, den induk-
tiven, indem er die einzelnen Pflanzengesell-
schaften, soweit sie ihm zugänglich sind, so genau
als möglich und streng realistisch zu verstehen
und zu unterscheiden sucht, und den deduktiven,
indem er dem idealen Ziele eines natürlichen
Systemes der P'ormationen und Assoziationen
näher zu kommen trachtet.
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Bücherbesprechungen.
Lehmann, J., Die Ornamente derNatur-
und Halbkulturvölker mit einem Bei-
trag zur Entwicklung der Ornamente
und ihrer Verwertung für Kunstge-
werbe und Architektur. i6i S., davon
61 Tafeln. Frankfurt a. M. 1920, Jos. Bär & Co.
In langjährigen Studien hat der Direktorial-
assistent am Völkermuseum zu Frankfurt a. M.,
Dr. J. L e h m a n n, ein umfangreiches iVIaterial über
die Ornamentik der Natur- und Halbkulturvölker
gesammelt, das er in dem vorliegendem Buche
zu einem Überblick über die Entwicklung der
Ornamente und ihre Verbreitung verarbeitete. Es
war ein glücklicher Gedanke von dem Verf., da-
bei von vornherein auf eine umständliche gelehrte
Beschreibung zu verzichten, dafür aber um so mehr
Abbildungen zu bieten und durch diese die Orna-
mente selber sprechen zu lassen. Die zahlreichen
Abbildungen, die nach guten Federzeichnungen
angefertigt wurden, sind nach zwei Gesichtspunkten
angeordnet. Ihr erster, allgemeiner Teil will einen
Überblick über die Entwicklung der Ornamente
geben, während ein zweiter spezieller Teil geo-
graphisch geordnet das Vorkommen der Orna-
mente in den einzelnen Ländern zeigt. Eine am
Schluß angefügte farbige Tafel läßt erkennen, wie
sich aus diesen einfachen Ornamenten durch far-
bige Ausführung für Kunstgewerbe und Architektur
ungemein dekorativ wirkende Zierformen gewin-
nen lassen. Der Text umfaßt außer der Einlei-
tung nur 10 Seiten, er handelt im wesentlichen
von der Klassifikation der Ornamente, ihrer Ent-
stehung und Entwicklung, und ihren verwandt-
schaftlichen Beziehungen untereinander. Ein sorg-
fältig ausgewähltes Literaturverzeichnis will allen
denen, die eingehendere Studien machen wollen,
ein Führer durch die umfangreiche Literatur sein.
Das Buch selbst dürfte einmal all den Kreisen,
die sich mit der Völkerkunde oder der Geschichte
der Kunst beschäftigen, im Hinblick auf die schier
unerschöpflichen Variationen, in denen die primi-
tive Kunst mit den einfachsten Mitteln immer
wieder neue Gebilde zu gestalten weiß, einen
Einblick in die primitive Kunst überhaupt ge-
währen, daneben aber auch für unsere Kunstge-
werbler eine wertvolle Materialsammlung mit im-
mer neuer Anregung zu ornamentalem Schaffen
sein.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Oppenheimer, Prof. Dr. phil. et med. Carl,
München, Kleines Wörterbuch der Bio-
chemie und Pharmakologie. Veits
Sammlung wissenschaftlicher Wörterbücher.
228 S. Berlin und Leipzig 1920, Vereinigung
wissenschaltlicher Verleger, Walter de Gruyter
u. Co. Geb. 16 M.
Dieses kleine außerordentlich praktische Buch,
in das die Bezeichnungen der menschlichen Or-
gane, Sekrete, Fermente, aller biochemisch und
pharmakologisch wichtigen Stoffe aufgenommen
wurden, zeichnet sich durch große Vollständig-
keit aus, wovon sich Ref. durch eine Reihe von
Stichproben überzeugen konnte. Fehlt doch nicht
einmal die in Lavendelblüten ihr trockenes Da-
sein fristende Eidechse Stincus marinus, die nur
noch in alten Apotheken zu finden ist. Das Werk
kann vor allem den Ärzten und Apothekern für
den täglichen Gebrauch empfohlen werden, wird
aber auch vielen anderen Interessenten, denen
keine größeren Werke zur Verfügung stehen, als
Nachschlagebuch gute Dienste leisten. Eine Reihe
von Druckfehlern, die bei der Reichhaltigkeit des
Gebotenen fast unvermeidbar sind, mögen bei der
sicher bald zu erwartenden zweiten Auflage kor-
rigiert werden. Hier sei nur erwähnt, daß „Der-
matol" fehlt, obwohl bei dem Stichwort Bismutum
darauf hingewiesen wird. S. 16 wird als Syn.
von Andira Geoffraia angeführt, S. 79 wird Goffrea
geschrieben; nach Linne heißt die Pflanze
Geoffraea, nach anderen Autoren Geoffroya.
Wächter,
288
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
t<. F. XX. Nr. ig
Jagow, Dr. K. , Kulturgeschichte des
Herings. Langensalza 1920, Wendt und
Klauwell. 13 M.
Der Verf. hat mit sehr anerkennenswertem
Fleiß und großer Gründlichkeit alles über diesen
volkstümlichsten aller Fische zusammengetragen
und ansprechend dargestellt, was in kulturge-
schichtlicher Hinsicht von Interesse ist. Er er-
örtert die Etymologie der Heringsnamen, schildert
die Geschichte der Heringsfischerei, insbesondere
die Heringszölle und -abgaben und verweilt dann
bei der Rolle, die der Hering im Sprichwörter-
schatz der verschiedenen heringsfangenden Völker
spielt. In den folgenden Kapiteln werden volks-
tümliche Anschauungen über den Hering, das
Auftreten und Verschwinden der Züge, die Wun-
derheringe, die Fischerregeln und -silten, aber-
gläubische Vorstellungen behandelt. Dann ist
dem bekannten angeblichen Entdecker der Kon-
servierung der Heringe, Wilhelm Beukels,
ein besonderes Kapitel gewidmet. Der Verf.
zeigt, daß es sich um eine Sage handelt, die sich
um einen Ratsherrn dieses Namens in der flan-
drischen Stadt Biervliet gebildet hat. Schließlich
wird die Rolle dargestellt, die der Hering in der
Volksmedizin und in der Heraldik spielt. Das
letzte Kapitel bringt Sagen und Anekdoten über
den Hering. Sehr schätzenswert sind die umfang-
reichen literarischen Nachweise, die in einem An-
hange gegeben werden. Miehe.
Lorentz, H. A., Einstein, A., Minkowski, H.,
Das Relativitätsprinzip. Eine Samm-
lung von Abhandlungen. Heft 2 der „Fort-
schritte der mathematischen Wissenschaften in
Monographien" ; herausgegeben von O. Blumen-
thal. Dritte, verb. Aufl. 146 S. Leipzig und
Berlin 1920, B. G. Teubner. Geh. 16 M.
Es ist sehr zu begrüßen, daß durch die vor-
liegende Zusammenstellung die in der Literatur
zerstreuten grundlegenden Untersuchungen über
das Relativitätsprinzip nun mühelos im Original
zugänglich werden. Es handelt sich um die bei-
den ältesten Veröffentlichungen von H. A. Lo-
rentz aus den Jahren 1895 und 19O4, um den
wichtigen Vortrag von Minkowski über Raum
und Zeit aus dem Jahre 1908 und um 7 Unter-
suchungen Einsteins aus den Jahren 1905 bis
1919, in denen die Entwicklung der Relativitäts-
theorie von der speziellen zur allgemeinen Theorie
und zu den jüngsten daran anschließenden noch
weiter auszubauenden Gedankengängen gegeben
wird. Die Sammlung wird um so willkommener
sein, je mehr der Streit der Meinungen neuerdings
zu intensiverem Eindringen in diese besondere
Gedankenwelt anregt und nötigt. A. Becker.
Reuter, M., Bezirkstierarzt a. D., Nürnberg, Hy-
gienische Beurteilung farbstoffhalti-
g e n F 1 e i s c h e s. gr. 8 ". 48 S. Sonderabdruck
aus der „Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin
und öffentl. Sanitätswesen", 3. Folge, 59. Bd.,
2. Heft.
In der Schrift sind zunächst die Bestimmungen
der Fleischbeschaugesetzgebung über die Beurteilung
farbstoffhaltigen Fleisches erörtert. Da diese nur
Schwarz-, Braun- und Gelbfärbung als Anomahen
kennt, seit der mächtigen Entwicklung der Anilin-
therapie aber auch Grün-, Blau- und Orange! ärbungen
in den genießbaren Teilen der Schlachttiere ange-
troffen werden, müssen die einschlägigen Gesetzes-
bestimmungen als unzureichend erklärt werden.
Außerdem werden das Wesen des Dunkelleuchtens
von Fleisch und Wildbret, dessen hygienische und
forense Beurteilung auf Grund des Nahrungsmittel-
gesetzes, sowie das fluoreszierende Stoffe und Fluores-
zenskörper in der Latenz enthaltende Fleisch unter
Bezugnahme auf die Theorie von Schanz, die
Buchweizenkrankheit, die Lupinose und die durch
Eosin hervorgerufenen Veränderungen beim leben-
den, wie geschlachteten Tiere näher besprochen.
Reuter.
Literatur.
Frankfurter Broschüren, 40. Band, Heft 1/3. Hamm '20,
Breer & Thiemann:
Kleinschrod, Dr., Das Lebensproblem und das
Fositivitätsprinzip in Zeit und Raum und das Ein-
steinsche Kelativitätsprinzip in Kaum und Zeit.
Oesterreich, Der Okkultismus im modernen Weltbild.
Dresden 20, Sibyllenverlag.
Reiche, Die Quantentheorie, ihr Ursprung und ihre
Entwicklung. Berlin '20, Julius Springer.
Sammlung Goschen. Berlin '20, Vereinigung wissenschaft-
licher Verleger.
Schmidt, H., Problem der modernen Chemie in allge-
meinverständlicher Darstellung. Mit 9 Textabbildungen.
Hamburg '21, L. Friedrichsen. 15 M.
K a m m e re r , P., Über Verjüngung und Verlängerung des
persönlichen Lebens. Mit lo Textabb. Stuttgart u. Berlin
'21, Deutsche Verlagsanstalt. 7,50 M.
Laue, Prof. Dr. M. v., Die Relativitätstheorie, i. Bd.:
Das Relativitätsprinzip der Lorentztiansformation. 4. Aufl.
Braunschweig '21, Fr. Vieweg. 16 M.
Noelling, Dr. Fr., Die kosmischen Zahlen der Cheops-
pyramide, der mathematische Schlüssel zu den Einheitsgesetzen
im Autbau des Weltalls. Stuttgart '21, E. Schweizerbarth.
26 M.
Lämmel, R., Wege zur Relativitätstheorie. 4. Aufl.
Stuttgart, Kosmos-Verlag. 5,20 M.
Frobenius, L., Paideuma. München '21, C. H. Beck.
Seidlitz, Prof. Dr. W. v., Revolutionen in der Erd-
geschichte. Eine akademische Rede. Mit 3 Textabb. und
I Tabelle. Jena '20, G. Fischer. 6 M.
Ohmann, O. , Leitfaden der Chemie und Mineralogie.
7. Aufl. Berlin '21, Wmckelmann u. Sohne. 9 M.
Pirquet, Prof. Dr. Gl., System der Ernährung. 4. Teil.
Mit 180 Textabb. Berlin '20, J. Springer.
Inhalt: Fr. Vierhapper, Eine neue Einteilung der Pflanzengesellschaften. (Schlu6.) S. 281. — Bücherbesprecbungen :
J. Lehmann, Die Ornamente der Natur- und Halbkulturvölker. S. 2S7. C. Oppenheimer, Kleines Wörterbuch
der Biochemie und Pharmakologie. S. 287. K. Jagow, Kulturgeschichte des Herings. S. 288. H. A. Lorentz,
A. Einstein, H. Minkowski, Das Relativitätsprinzip. S. 288. M. Reuter, Hygienische Beurteilung farbsto6f-
haltigen Fleisches. S. 288. — Literatur: Liste. S. 288.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miebe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 4a, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 3o. Band;
der ganxen Reibe 36. Band,
Sonntag, den 15. Mai 1921.
Nummer ^0.
Die Grundtypen der gesetzmäßigen Vererbung.
Von Heinrich Prell, Tübingen.
[Nachdruck verboten.] Mit 4 Abbild
Die Merkmale, welche das Aussehen der In-
dividuen in der belebten Natur bestimmen, sind
in doppelter Weise bedingt, nämlich einereits
durch eine gewisse spezifische Struktur und ande-
rerseits durch das Milieu, in welchem sich diese
Anlagen realisieren. Die Gesamtheit der Merk-
male, welche das Aussehen eines Individuums
gleichsam zusammensetzen, bezeichnet man als
seinen Erscheinungstypus oder Phänotypus.
Die Gesamtheit der lür die spezifische Struktur
charakteristischen Entfaltungsmöglichkeiten oder
Anlagen, welche das Individuum besitzt, ist sein
Anlagentypus oder Genotypus. Die Gesamt-
heit der Milieueinwirkungen bildet schließlich den
Gestaltungstypus oder Plastotypus. Der
Phänotypus entsteht also durch die Reaktion eines
materiellen Substrates auf den immateriellen Geno-
typus und den ebenfalls immateriellen Plastotypus.
Verschiedenheiten des Phänotypus beruhen auf
Veränderungen sei es des Genotypus, sei es des
Plastotypus (oder ihrer Träger).
Kehrt ein Merkmal, also ein Teil des Phäno-
typus, der Eltern bei ihren Sprößlingen wieder,
so liegt das vor, was man gewöhnlich als eine
Vererbung bezeichnet. Man pflegt nun oft
kurz von einer Vererbung des betreffenden Merk-
males zu sprechen. Diese Ausdrucksweise ist
irreführend, denn das Merkmal ist ja nicht ein-
heitlich bedingt. Die beiden Bedingungen dafür
verhalten sich aber in bezug auf die Vererbung
verschieden.
Der Genotypus ist fest mit dem materiellen
Substrate verknüpft und stellt gleichsam dessen
Reaktionsnorm dar ; der Plastotypus ist unabhängig
vom materiellen Substrat und wirkt darauf nur
auslösend und eine der im Genotypus schlum-
mernden Möglichkeiten realisierend.
Durch den Vergleich einer Individuenfolge kann
man sich über die Beteiligung des Genotypus und
des Plastotypus am Zustandekommen des allein
der Untersuchung unmittelbar zugänglichen Phäno-
typus dann Aufklärung verschaffen, wenn man
jeweils den einen von beiden Faktoren konstant
erhält und den anderen variiert.
Nimmt man eine höhere Pflanze als Objekt
und stellt von ihr Stecklinge her, so gewinnt man
von ihr Nachkommen, die, unter normalen Ver-
hältnissen, sicher ihr genotypisch gleich sind.
Eine solche auf, ungeschlechtlichem Wege ent-
stehende Individuenfolge heißt ein Klon. Einzelne
Individuen eines Kienes unter verschiedene Be-
ungen im Text.
dingungen gebracht, etwa im Hellen oder Dunkeln
gezogen, reichlich oder schwach genährt u. a.,
entwickeln dann Verschiedenheiten des Phäno-
typus, welche auf den Verschiedenheiten des
Plastotypus beruhen.
Bleibt die Veränderung des Plastotypus er-
halten, so können mehrere aufeinander folgende
sicher genotypisch gleiche Individuen abweichend
von der Ausgangstorm aussehen. Man spricht
dann von einer Scheinvererbung. Dabei ist
es von untergeordneter Bedeutung, ob der ge-
samte Plastotypus unverändert bleibt (eigentliche
Scheinvererbung) oder ob durch das äußere Milieu
geänderte Bedingungen innerhalb des Organismus
noch nach Aufhören der äußeren Reize die Merk-
malsentfaltung beeinflussen (Nachwirkung).
Für das Folgende möge im Gegensatze dazu
ganz allgemein gelten, daß die gesamten Umwelt-
bedingungen dauernd die gleichen bleiben, daß
also der Plastotypus konstant erhalten wird. Unter
diesen Umständen wird dann der Phänotypus
allein durch den Genotypus bestimmt. Bei einer
Individuenfolge, in welcher dauernd der gleiche
Phänotypus auftritt, wird man dann mit einiger
Wahrscheinlichkeit sagen dürfen, daß sie geno-
typisch einheitlich ist. Das kann einerseits bei
ungeschlechtlich oder parthenogenetisch sich ver-
mehrenden Organismen der Fall sein, wie im
Klon, andererseits aber auch bei geschlechtlich
sich fortpflanzenden. Eine Individuenfolge, welche
durch Selbstbefruchtung von solchen genotypisch
einheitlichen Zwittern, wie etwa den meisten
Pflanzen, erhalten wird, nennt man eine reine
Linie; wird sie durch Kreuzbefruchtung von Ge-
schwistern bei getrenntgeschlechtigen, sonst aber
ebenfalls genotypisch einheitlichen Organismen,
also wie etwa bei der Mehrzahl der Tiere, er-
halten, so ist es eine reine Kette.
Die Abhängigkeit des Phänotypus vom Geno-
typus läßt sich dann ohne weiteres erkennen,
wenn man den Genotypus ändert. Das ist mög-
lich, wenn man Individuen zweier „reiner Rassen"
miteinander kreuzt. Die Phänotypen der Nach-
kommen sind dann durch ein Gemisch der Geno-
typen der beiden Eltern bedingt. Die Wieder-
kehr der Merkmale in einer solchen Individuen-
folge gilt als eine Folge des Vorganges, welchen
man als echte Vererbung bezeichnet; sie
beruht also auf einer Weiterleitung von Anlagen.
Daraus ergibt sich dann als Definition des Begriffs
Vererbung :
290
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 20
Vererbung ist die Weiter-gabe von
Anlagen der Vorfahren an die Nach-
kommen.
II.
Der erste, welcher exakte Versuche zur Er-
mittlung einer Gesetzmäßigkeit bei der Vererbung
wirklich durchführte, war Mendel. Durch seine
klassischen Untersuchungen an verschiedenen
Erbsenrassen gelang es ihm, die Verteilung von
bestimmten elterlichen Anlagen auf die Nach-
kommen, auf die einfachen Gesetze der Kombi-
nationsrechnung zurückzuführen. Diese übersicht-
liche Art der Vererbung wird heute ganz allge-
mein nach ihrem Entdecker als Mendelsche Ver-
erbung bezeichnet, und den Vorgang des Ver-
erbens nach diesem Typus nennt man Mendeln.
Mendel. hat es nun unterlassen, die Grund-
charaktere der von ihm entdeckten Vererbung als
kurze Regeln zu formulieren. Die Folge davon ist
der weitverbreitete Brauch, jegliche Art von gesetz-
mäßig spaltender Vererbung als M e n d e 1 sehe Ver-
erbung zu bezeichnen, und im Laufe der Zeit hat
das zu allerlei Mißständen geführt. Angesichts
des bereits überaus reichen Materiales an Ver-
erbungsexperimenten erscheint es daher jetzt nicht
nur berechtigt, sondern sogar dringend erforder-
lich, an eine scharfe Unterscheidung der verschie-
denen Vererbungstypen heranzugehen, und den
Namen der Mendel sehen Vererbung auf das zu
beschränken, wofür er ursprünglich gegeben wurde.
Es kann hier nicht darauf eingegangen werden,
welche Einzelheiten von Mendels Resultaten
späteren Forschern so wichtig und charakteristisch
erschienen, daß sie dieselben als besondere Regeln
faßten. Es genüge nur ein kurzer Überblick über
die Regeln, nach welchen man gegenwärtig
Mendels Ergebnisse präzisieren kann.
Mendel nahm auf Grund seiner Versuchs-
ergebnisse an, daß für jedes Merkmal in der
Erbsenpflanze zwei Anlagen vorhanden seien. Von
diesen gelange nur eine in die Geschlechtszellen,
und durch die Vereinigung zweier Geschlechts-
zellen bei der Befruchtung würden dann wieder
die Doppelanlagen für die nächste Erbsenpflanze
gebildet. Bei einer reinen Rasse von Erbsen sind
nun die beiden Anlagen für ein Merkmal gleich
(AA), und werden bei Reinzüchtung stets wieder
gleich zusammengestellt werden. Kreuzt man
dagegen zwei reine Rassen (AA und aa), die sich
nur in einem, wie man jetzt sagt, allelomorphen
Anlagenpaare, also phänotypisch in einem Merk-
male, unterscheiden, so werden in der ersten
Sprößlingsgeneration (Fj), dem Bastard, je eine
Anlage des einen und des anderen Elters zusam-
mentreten (Aa). Je nachdem, wie sich die beiden
zusammengelegten Anlagen zueinander verhalten,
kann dann das phänotypische Resultat verschieden
sein. In der Regel wird die eine oder die andere
der Anlagen das Merkmal bestimmen oder dominant
sein (A), während die reziproke sich nicht mani-
festieren kann oder rezessiv ist (a). Züchtet man
die Bastarde (Aa) unter sich weiter, so findet
man, daß sie zweierlei Geschlechtszellen (A und a)
bilden. Und wenn diese sich vereinigen, so können
dabei in der zweiten Bastardgeneration (Fj) vierer-
lei Möglichkeiten realisiert werden (AA, Aa, aA,
aa), von denen zwei dem Verhalten des primären
Bastards entsprechen (2Aa), zwei aber auf das
Verhalten der Großeltern zurückspringen (AA und
aa), also resurgent sind.
Etwas verwickelter werden die Dinge, wenn
man von Rassen ausgeht, welche in zwei Merk-
malen differieren (AABB und aabb). Hier fand
Mendel, daß der Bastard je eine Anlage für
jedes Merkmal von jedem Elter erhielt (AaBb).
Bei Weiterzüchtung dieses dihybriden Bastardes
ergab sich dann, daß er Geschlechtszellen bildete,
welche in beliebiger Kombination je eine Anlage
aus jedem Anlagenpaar erhielten. Diese verschie-
denen Sorten von Geschlechtszellen wurden alle
in gleichem Verhältnis gebildet, also galt für sie
die Proportion:
AB : Ab : aB : ab = i : i : i : i.
Da sie sich außerdem beliebig miteinander ver-
einigen können, so ließ sich ein Überblick über
die zu erwartenden Kombinationen an einem
Schachbrettschema ohne weiteres ablesen:
P
Fl
AABB X aabb
(AB) (ab)
AaBb
(AB) (Ab) (aB) (ab)
AB
AB
Ab
AB
aB
AB
ab
AB
AB
Ab
Ab
Ab
aB
Ab
ab
Ab
AB
aB
Ab
aB
aB
aB
ab
aB
AB
ab
Ab
ab
aB
ab
ab
ab
(AB)
(Ab)
(aB)
(ab)
Die Zahlenverhältnisse, welche sich dabei er-
geben, und welche man meist als Mendelsche
Zahlenverhältnisse bezeichnet, sind bei Dominanz
in den einzelnen Anlagenpaaren relativ einfach
und übersichtlich. Bei zwei Anlagenpaaren findet
sich dann das Verhältnis
I. Phänotypen mit beiden Dominanten 9
II. „ „ der einen „ 3
III. „ „ der anderen „ 3
IV. „ „ keiner „ i
Versucht man diese Befunde in feste Form zu
kleiden, so kommt man dazu, die folgenden
Regeln anzunehmen:
I. Die Unabhängigkeitsregel oder Re-
gel von der unabhängigen Trennung der ver-
schiedenen Anlagen: Für die Bildung der Ge-
schlechtszellen trennen und verteilen sich die
einzelnen Anlagen unabhängig voneinander; in
den Geschlechtszellen können sie dabei in be-
liebiger Kombination zusammentreten.
IL Die Spaltungsregel oder Regel von
der Spaltung der allelomorphen Anlagepaare : Für
N. F. XX. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
291
die Bildung der Geschlechtszellen spalten sich die
allelomorphen Anlagenpaare in die Anlagen, durch
deren Konjugation sie entstanden waren; in jede
der entstehenden Geschlechtszellen gelangt dabei
stets und nur je ein Paarung eines jeden Anlagen-
paares.
III. Die Äquiproportionalitätsregel
oder Regel von der gleichartigen Verteilung der
verschiedenen Anlagen: Für die Bildung der Ge-
schlechtszellen kombinieren sich die einzelnen
Anlagenpaarlinge nach den Gesetzen der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung miteinander; die vorkom-
menden Sorten von Geschlechtszellen entstehen
also (primär) in gleicher Anzahl.
Der Mendelschen Vererbung folgen
heißt also, der Unabhängigkeitsregel,
der Spalt \ingsregel und der Äquipro-
portionalitätsregel folgen.
Von den drei Mendelschen Regeln gibt die
Unabhängigkeitsregel die allgemeine Grundlage,
welche bei allen Vererbungstypen wiederkehrt,
während die anderen beiden Kinschränkungsregeln
darstellen, welche bei anderen Vererbungstypen
durch andere Einschränkungen abgelöst werden.
Die materiellen Träger der Erbanlagen werden
in den Chromosomen erblickt. Man hat also das
Verhalten der Erbanlagen bei der Mendel sehen
Vererbung mit dem Verhalten der Chromosomen
beim Geschlechtsvorgang, bei Reduktion und Ko-
pulation, in Beziehung zu bringen. Dabei ergibt
sich eine überraschende Gleichartigkeit.
Die Trennung verschiedener Anlagen findet
danach ihr Gegenstück in der unabhängigen Ver-
teilung der einzelnen Chromosomen. Die Spaltung
der Anlagen bei der Gamelenbildung steht in
Parallele zu dem Auseinandergehen homologer
Chromosomen bei der Reduktion. Die Äquipro-
portionalität der Gametenbildung entspricht der
allein vom Zufall bestimmten Zusammenstellung der
von den Eltern erhaltenen Chromosomen zur
Bildung der Gameten bei der Fihalgeneration. Das
beigegebene Schema der Chromosomenverteilung
bei M e n d e 1 scher Vererbung (Abb. i) gibt einen
Überblick über das hier in Betracht kommende
Verhalten.
Sucht man auf Grund des Verhaltens der
materiellen Grundlagen, also der Chromosomen,
die Mendelsche Vererbung zu definieren, so
wird man sagen dürfen:
Mendelsche Vererbung findet dann statt,
wenn der Umfang der Chromosomengarnituren
gewahrt bleibt und wenn Störungen in der Ein-
heitlichkeit und Unabhängigkeit der Chromosomen
nicht nachweisbar sind.
ra.
Unmittelbar nachdem die Mendelschen Ent-
deckungen in ihrer Bedeutung erkannt und ge-
würdigt waren, stellte es sich heraus, daß die
Mendelschen Regeln nicht für alle Erbgänge
sich ohne weiteres anwenden ließen. Von größerer
Bedeutung war es nun, daß unter anderen, welche
verkappt den Mendel sehen Regeln folgten, auch
solche Erbgänge ermittelt wurden, bei welchen
tatsächlich andere Regeln sich als gültig erwiesen,
bei denen also keine Mendelsche Vererbung
vorlag.
Der erste selbständige Vererbungstypus, welcher
hier zu nennen ist, wurde von B a t e s o n und
Punnett entdeckt und aufgeklärt. Hierbei
handelte es sich darum, daß die Nachkommenschaft
(F,) eines dihybriden Pflanzenbastards besondere
zahlenmäßige Eigentümlichkeiten aufwies. Nach
F,
Abb. I. Schema der ChromosomenTerteilung bei Mendel-
scher Vererbung.
Hier wie) in allen anderen Schemata bedeutet abgerundet
stets Zugehörigkeit zu dem Chromosomenpaare , welches das
allelomorphe Anlagenpaar A, a trägt, eckig zu dem Chromo-
somenpaare mit den Anlagen B und b; weiß bedeutet das
Vorhandensein des dominanten (A oder B), punktiert das
Vorhandensein des rezessiven Paarlings (a oder b). Die Buch-
staben r, s, t, u bezeichnen die relative Häufigkeit der Ga-
meten, sofern sie von I abweicht. Die römischen Ziffern
geben die Zugehörigkeit der Zygoten zu den 4 Phänotypen
an; die relative Häufigkeit der Phänotypen ergibt sich als
Produkt der relativen Häufigkeiten der beteiligten Gameten.
dem Verhalten der einzelnen Anlagen (A und a,
oder B und b) betrachtet, wies die zweite Filial-
generation jeweils Mendelsche Zahlenverhält-
nisse auf. Berücksichtigte man aber beide An-
293
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. P. XX. Nr. 20
lagenpaare gleichzeitig, so ergaben sich Resultate,
welche von den bei Mendelscher Vererbung zu
erwartenden weit abwichen. Dieser Widerspruch
des Verhaltens zeigte schon, daß hier besondere
Beziehungen zwischen den beiden Anlagenpaaren
vorliegen müßten. Es ist das bedeutungsvolle
Verdienst von Bateson und Punnett, diese
Beziehungen erkannt zu haben.
Bateson und Punnett nahmen an, daß von
den vier Gameten, welche bei einem Dihybriden
in Betracht kommen, die mit homodynamen An-
lagen (bei denen also zwei dominante oder zwei
rezessive Anlagenpaarlinge vereinigt waren) in
anderer Anzahl gebildet werden, als die mit hetero-
dynamen Anlagen (also einer dominanten und
einer rezessiven Anlage). Die geltende Proportion
für die Gameten wäre also:
AB:Ab:aB:ab = r:s:s:r.
Indem sie die Häufigkeit des einen Paares der
Variablen gleich i setzten, also r:s = n=i:m,
erhielten sie dann die Gametenhäufigkeiten :
AB : Ab : aB : ab = n : I : I : n = i : m : m : i.
Mit dieser Hilfsannahme konnten sie die Zahlen-
verhältnisse der Phänotypen der Fj-Generation in
der Tat aufklären. Die Anwendung des Schach-
brettschemas ergab auch hier Zahlenwerte, welche
den im Versuch erhaltenen entsprachen. Das
Verhältnis der Phänotypensorten ist dann folgendes :
I. Phänotypen mit beiden Dominanten 3n^+4n+2
II. „ „ der einen „ 2n+i
m. „ „ „ anderen,, 2n-i-i
IV. „ „ keiner „ n^
Weitere Untersuchungen haben die Richtigkeit
dieser Überlegungen vollauf bestätigt. Dieser Ver-
erbungstypus sei daher als Batesonsche Ver-
erbung bezeichnet.
Ähnliche Verhältnisse fand IVIorgan später
bei getrenntgeschlechtlichen Tieren. Hier tritt
die ungleiche Gametenbildung in beiden Ge-
schlechtern verschieden auf, indem beim einen
die Dinge sich so gestalten, wie bei der B a t e -
sonschen Vererbung, beim anderen aber die
beiden selteneren Sorten von Gameten ganz aus-
fallen (und zwar entweder die mit homodynamen
oder die mit heterodynamen Anlagen). Die Zahlen-
verhältnisse der zweiten Bastardgeneration weichen
dann auch weit von den M e n d e 1 sehen Zahlen
ab. Dieser Vererbungstypus sei als M o r g a n s c h e
Vererbung bezeichnet.
Die Sachlage ist hier also die, daß von beiden
Geschlechtern verschiedenartige Gametentypen ge-
bildet werden, und zwar vom einen Geschlecht
AB : Ab : aB : ab = n : I : I : n oder = i : m : m : i
und entsprechend vom anderen
AB : Ab : aB : ab = I : o : o : I oder = o : i : i : o.
Auf die Batesonsche Vererbung zurückge-
führt würde das besagen, daß im einen Geschlechte
der Vermehrungsfaktor n = oo geworden sei.
Es hat sich nun herausgestellt, daß alle vier Ga-
metentypen nur in dem Geschlechte auftreten,
welches homogametisch ist, welches also in be-
zug auf die Geschlechtsbestimmung gleichartige
Anlagen hat. Das gilt bei der Fliege Drosophüa
(Morgan) und anderen Tieren (viele Arthropoden,
Würmer?, Säugetiere, Mensch) und den getrennt-
geschlechtigen Pflanzen für das weibliche Ge-
schlecht; bei dem Seidenspinner (Tanaka) und
anderen Tieren (Vögel, Amphibien?, Stachelhäuter?)
gilt es für das männliche Geschlecht; bei zwittrigen
Pflanzen (Bateson) gilt das Auftreten aller vier
möglichen Gametenbildungen dementsprechend
für beide Geschlechter.
Daraus ergibt sich von selbst, daß Bateson sehe
und Morgansche Vererbung eng zusammen ge-
hören. Aus Gründen, welche sich weiterhin er-
geben werden, mögen sie daher unter dem Namen
der Kro§ Vererbung vereinigt werden.
Es wäre nun noch zu erörtern, welche Regeln
für diese Kroßvererbung charakteristisch sind. Auch
hier gelten wiederum drei Regeln:
I. Die Unabhängigkeitsregel wie bei
der Mendel sehen Vererbung.
II. Die Spaltungsregel wie bei der Men-
del sehen Vererbung.
III. DieDisproportionalitätsregel oder
Regel von der gesetzmäßig ungleichartigen Ver-
teilung der verschiedenen Anlagen: Für die Bil-
dung der Geschlechtszellen kombinieren sich die
einzelnen Anlagenpaarlinge nach besonderen, im
Einzelfalle feststehenden Beziehungen; die vor-
kommenden Sorten von Geschlechtszellen ent-
stehen dabei (primär) in verschieden zahlreichen
Paaren gleich häufiger Gameten. (Bei zwei An-
lagenpaaren beträgt die Zahl der möglichen
Gametenkonstitutionen vier.)
Der Kroß Vererbung folgen heißtalso
der Unabhängigkeitsregel, der Spal-
tungsregel und der Disproportionali-
tätsregel folgen.
Im Hinblick auf die Verschiedenheit der
Geltungsweise, welche die Disproportionalitäts-
regel bei den als Kroßvererbung zusammen ge-
faßten Vererbungstypen besitzt, ist noch zu er-
gänzen :
Der Batesonschen Vererbung folgen
heißt, vererben unter beidergeschlechtig gleich-
artiger gesetzmäßiger Disproportionalität der
Gametenbildung, wobei die Gameten in bezug auf
zwei Paare allelomorpher Anlagen im Verhältnis
n : I : I : n gebildet werden.
Der Morganschen Vererbung folgen
heißt, vererben unter beidergeschlechtig ungleich-
artiger gesetzmäßiger Disproportionalität der
Gametenbildung, wobei in einem Geschlechte
Disproportionalität nach dem Verhältnis n : i : i : n,
im anderen nach dem Verhältnis i:o:0:i, also
Ausfall der Minderheitswerte, vorliegt.
Fälle vom Auftreten beidergeschlechtig un-
gleichartiger Disproportionalität der Gametenbil-
dung, wobei im einen Geschlecht Disproportiona-
lität nach dem Verhältnis n : i : i : n , im anderen
nach dem Verhältnis n':i:i:n' erfolgt, scheinen
noch nicht beschrieben zu sein. Immerhin darf
N. F. XX. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
293
mit dem Vorkommen einer solchen Komplikation,
insbesondere bei primär zwittrigen Diözisten (ähn-
lich wie BoiieU'id) und vielleicht auch schon bei
monözischen Organismen, gerechnet werden, da er-
fahrungsgemäß Milieudifferenzen auf das Zahlen-
verhältnis der Disproportionalität Einfluß besitzen
können.
Fand die Mendelsche Vererbung ihre voll-
ständige Aufklärung erst durch ihre Zurückführung
auf den Mechanismus der Chromosomenverteilung,
so ist es für die Kroßvererbung ebenso erforder-
lich, die mechanischen Unterlagen zu suchen. Es
war Morgan, welchem es gelang, das Wesen
der Kroßvererbung auf die Folgen eines Aus-
0(D®(D
rn sx SK rx
® (D (D d)
(D.
Abb. 2. Schema der Chromosomenverteilung bei Krofivererbung
(allgemeiner Typus oder Batesonsche Vererbung).
tausches von Chromosomenteilen zurückzuführen.
Allelomorphe Faktorenpaare, welche auf ver-
schiedenen Chromosomenpaaren gelegen sind,
werden vollkommen nach dem Zufall verteilt und
kombiniert, so daß bei ihnen Äquiproportionalität
der Kombinationen, also auch der Gameten, ent-
steht. Allelomorphe Faktorenpaare dagegen,
welche auf den gleichen Chromosomen gelegen
sind, können nur gemeinsam vererbt werden, es
sei denn, daß zwischen homologen Chromosomen
ein Austausch stattfinden könne. Erfolgt ein sol-
cher Austausch, so wird gleichsam ChröniosöSien-
material übers Kreuz ausgewechselt. Der Aus-
tausch kann daher zweckmäßig als Krossung (cross-
over), der Vorgang des- Austausches als Krossen
(crossing-over) bezeichnet werden.
Die Beibehaltung der ursprünglichen Lagerurig
auf einem Chromosom ist der häufigere Fall, der
Austausch der seltenere. Im Beispiele mögen die
beiden Faktorenpaare (Aa und Bb) auf einem
Chromosomenpaar so gelegen sein, daß A und B sich
auf dem einen, a und b auf dem anderen befinden
(Abb. 2 u. 3). Wenn nun in r+s Reduktionsteilungen
r mal die alte Zusammengehörigkeit gewahrt wird,
und s mal Krossungen entstehen, so ergibt sich
für die Gameten das Verhältnis:
AB : Ab: aB : ab = r: s: s: r = n : i : t: n,
das heißt also, daß die ursprünglichen Kombir
nationen (AB und ab) jetzt r : s = n mal so häufig
auftreten, als die Krossungen (Ab und aB), wo-
bei n die Vermehrungsziffer der einen Gameten-
sorte ist. Mit anderen Worten ausgedrückt, würde
rx sx sx fx
®(D
sx
(B) (D (D ®^=«
(E)
(D
Abb. 3. Schema der Chromosomenverteilung bei Krofivererbung
(spezieller Typus der Morganschen Vererbung).
in s von r-f-s Fällen ein Krossen stattgefunden
haben, oder, in Prozente der Gesamtzahl umge-
rechnet, in p ^ loos : (r -|- s) = 100 : (n -f i) Fällen.
Die Berechnung des Prozentsatzes p der
Krossungen, und somit auch von n, aus den ge-
fundenen Werten läßt sich unschwer ausführen,
insbesondere dann, wenn die Zahlenwerte für die
Phänotypen von Fj nicht aus einer fortschreiten-
den Kreuzung, sondern aus einer Rückkreuzung
gegen den doppelt rezessiven Elter entnonupen
werden können.
294
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 20
Es fragt sich nun, ob ein solcher Austausch
zwischen Chromosomenteilen mechanisch denkbar
ist. Hierfür liegen drei Möglichkeiten vor.
Am Abschluß der Prophase für die Reduktions-
teilung im Zustande der Geminibildung beobachtete
schon, ehe die Vererbungstheorie etwas Ent-
sprechendes verlangte, Janssens, daß gelegent-
lich, wenn die Chromosomen eines Paares sich
überkreuzen, sie an der Überkreuzungsstelle Bruch-
spalten aufweisen. Er nahm daher an, daß hier
an den präformierten (I) Bruchstellen durch falsche
Verbindung eine Auswechslung von Chromosomen-
teilen erfolgen könne und nannte diesen Vorgang
Chiasmatypie.
Sodann findet während desStrepsinemastadiums
der Prophase eine Umschlmgung der homologen
Chromosomen in Doppelspiralen statt. Bei der
engen Aufwicklung ist vielleicht ebenfalls mit
einem Abdrehen und falschem Wiederverkleben
zu rechnen.*) Eine Bezeichnung hat diese Mög-
lichkeit des Austausches nicht erhalten.
Schließlich kommt es vor, daß Chromosomen,
welche bei den generativen Teilungen einheitlich
sind (Sammelchromosomen oder Holochromo-
somen), bei den vegetativen sich in Teilchromo-
somen oder Merochromosomen auflösen. Diesen
Vorgang des Chromosomenzerbrechens , bei wel-
chem Fragmentation und Syzygie der Chromo-
somen im Laufe der Zellteilungen alternieren,
kann man wohl als Rhegmatypie bezeichnen.
Beim Zusammenschluß der Merochromosomen zu
Holochromosomen vor der Tetracytie kann eben-
falls eine Vereinigung genetisch ungleicher Teile
stattfinden. Das verschiedene Zahlenverhältnis be-
ruht in diesem Falle auf dem verschiedenenVerhalten
bei der Syzygie, also auf dem Verhältnis zwischen
syzygischer Koppelung und syzygischer Abstoßung.
Es steht dahin, welcher der drei möglichen
Wege, oder welcher weitere etwa, für das Krossen
tatsächlich eingeschlagen wird, oder ob bei ver-
schiedenen Objekten verschiedene in Betracht
kommen. Jedenfalls kann man sagen, daß es der
Wege genug gibt, durch welche ein Krossen
mechanisch möglich gemacht werden kann.
Kroßvererbung findet also dann statt, wenn
Umfang und Gliederung der Chromosomengarni-
turen zwar gewahrt bleibt, dagegen die Einheit-
lichkeit der Chromosomen gestört wird.
IV.
Das phänotypische Resultat einer Kreuzung
kann allein betrachtet nur einen Hinweis darauf
liefern, daß irgendein bestimmter Vererbungs-
typus vorliegt. Erst die genauere Untersuchung
vermag dann aufzuklären, ob die Dinge tatsäch-
lich so liegen oder ob vielleicht sich etwas an-
deres dahinter verbirgt.
') Die Frage, bis zu welchem Grade es möglich ist, aus
der Häufigkeit des Krossens die relative Lage der Faktoren
zueinander auf den Chromosomen zu ermitteln, wie es die
Morgansche Schule versucht, gehört nicht unmittelbar hier-
her und darf daher beiseite gelassen werden.
So kann es auch geschehen, daß phänotypisch
bei einem Erbgange das gleiche Bild hervorge-
bracht wird wie bei der Kroßvererbung, und daß
doch für diese Erscheinung keine Auslegung nach
den bei der Kroßvererbung bekannt gewordenen
Prinzipien möglich ist. Versuchsresultate, welche
sich in dieser Weise verhielten, wurden von
Bridges bei der Obstfliege {Drosophila melano-
gaster = antpelophüd) erzielt. Der von Bridges
beschriebene Erbgang stellt bloß einen Spezialfall
dar von einem neuen fundamentalen Vererbungs-
typus, welche der Mend eischen und der Kroß-
vererbung gleichwertig ist. Durch seine geistvolle
Interpretation des Verhaltens bei seinen Experi-
menten hat Bridges die Unterlage für die Auf-
klärung dieses interessanten Vererbungstypus ge-
schaffen, welcher aus später sich ergebenden Grün-
den als Wechselvererbung bezeichnet werden
mag.
Das Grundprinzip der Wechselvererbung be-
ruht darauf, daß es sich bei ihr nicht um die
Verteilung homologer Anlagenpaare handelt, son-
dern um die Verteilung homologer Anlagen-
quartette. Dabei ist vielleicht zweckmäßig darauf
hinzuweisen, daß man besser nicht von Anlagen
schlechthin, sondern besser von festen Anlagen-
komplexen oder kurz von Komplexen spricht.
Es ist also bei der Wechselvererbung von „Di-
plonten" auszugehen, welche in bezug auf die zur
Rede stehenden allelomorphen Anlagen oder Kom-
plexe nicht wirklich diploid sind, sondern pleo-
ploid, und zwar im allgemeinsten Falle tetraploid.
Bei einem Diplonten von der faktoriellen Kon-
stitution AaBb würde dann eine dreifache Gameten-
bildung bei der Reduktion eintreten, welche zu
sechs Gametentypen führen würde, nämlich AB
und ab. Ab und aB, sowie Aa und Bb. Von
diesen sind die ersten beiden Paare dieselben,
welche bei einfacher Mendelscher Vererbung
entstehen müßten. Die letzten beiden aber sind
Ausnahmekombinationen, wie sie die Mendel -
sehe Vererbung nicht kennt, und deren Auftreten
überhaupt erst die Entdeckung des ganzen Ver-
erbungstypus ermöglicht hat.
Finden, wie es die Versuchsergebnisse erweisen,
die verschiedenen Arten der Gametenbildung ver-
schieden häufig statt, so ergibt sich für die Häufig-
keit der auftretenden Gametensorten die Proportion :
Aa : AB : Ab ; aB : ab : Bb = o : p : q : q : p : o.
Das Verhältnis der Phänotypen läßt sich daraus
mit Hilfe eines Schachbrettschemas mühelos ab-
leiten und läßt an Verwickeltheit nichts zu wün-
schen übrig.
Nur die vollständige Schreibung des Gameten-
verhältnisses läßt die volle Komplikation dieses
Vererbungstypus erkennen, welcher nicht statt
der Zahlenverhältnisse der Gameten der Kroß-
vererbung , sondern neben derselben (da sie ja
in den Mittelwerten verborgen liegen) noch wei-
tere Möglichkeiten aufweist.
Die Fassung der Wechselvererbung in feste
N. F. XX. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
295
Formen führt dazu, die folgenden Regeln dafür
abzuleiten :
•I. Die Unabhängigkeitsregel wie bei
der M e n d e 1 sehen Vererbung.
II. Die Spaltungsregel, formell wie bei
der M e n d e 1 sehen Vererbung geltend, da auch
hier zusammentretende Paare von Anlagen wieder
getrennt werden. Da es aber auch möglich ist,
daß vom gleichen Elter stammende Anlagenpaar-
linge zusammentreten, wird äußerlich eine Durch-
brechung der Spaltungsregel vorzuliegen scheinen.
Dieser Wechsel der Anlagenkonjugation ist es,
aufweichen sich die Bezeichnung dieses Vererbungs-
typus als Wechselvererbung aufbaut.
III. Die Superdisproportionalitäts-
regel oder Regel von der gesetzmäßig doppelt
ungleichartigen Verteilung der verschiedenen An-
lagen: Für die Bildung der Geschlechtszellen
kombinieren sich die einzelnen Anlagenvierlinge
des gleichen Anlagenquartetts nach bestimmten,
im Einzelfall feststehenden Beziehungen; die auf-
tretenden Sorten von Geschechtszellen entstehen
dabei (primär) in verschieden zahlreichen Paaren
gleich häufiger Gameten. (Bei zwei Anlagenpaaren
beträgt die Zahl der möglichen Gametenkonsti-
tutionen sechs.)
Der Wechselvererbung folgen heißt
also, der Unabhängigkeitsregel, der
STiperdisproportionalitätsregel und
einer modifizierten Spaltungsregel
folgen.
Da bislang anscheinend noch kaum der Versuch
gemacht worden ist, die Wechselvererbung rein
faktorentheoretisch auszudrücken, ist es verständ-
lich, daß ihre Bedeutung als eigener Grundtypus
der Vererbung einer entsprechenden Würdigung
sich entzogen hat. Um so wichtiger erscheint es,
jetzt diesen Gesichtspunkt besonders zu betonen.
Über den chromosomalen Mechanismus der
Wechsel Vererbung liegen exakte Untersuchungen
von Bridges vor, aus welchen hervorgeht, daß
sie auch chromosomal auf Pleoploidie beruht. Für
die faktorentheoretische Auswertung ist es dabei
von geringem Belang, ob es sich um totale Pleo-
ploidie handelt, bei der vier homologe Chromo-
somen als Träger bestimmter Faktoren in Betracht
kommen, oder um partielle Pleoploidie, bei wel-
cher nur die besonders hervortretenden Chromo-
somen vielfältig vorhanden sind. Im letzteren
Falle ist es auch ohne weitere Bedeutung, ob
Triploidie oder Tetraploidie vorliegt, da bei Tii-
ploidie stets das Fehlen des Partners als anta-
gonistischer Faktor angesehen werden kann, man
also von verdeckter Tetraploidie sprechen könnte, i)
Ein allgemeines Schema des chromosomalen
Verhaltens vermag die Vorgänge bei der Wechsel-
') Unter dem Gesichtswinkel ist es auch möglich, die
von Bridges als non-disjunction, also „Spaltungsverzug" oder
„Nichtauseinanderweichen" (Gold Schmidt), gedeutele Er-
scheinung theoretisch als verdeciite Tetraploidie mit zwei
fehlenden Faktoren anzusehen, was einem „Ausfall der Syn-
dese" als Erklärungsprinzip entsprechen würde.
Vererbung vielleicht am besten zu klären (Abb. 4).
Ausgegangen sei dabei von dem tetraploiden Bastard
AaBb, über dessen Herkunft keine Erwägungen
angestellt sein. Wenn dieser Bastard in das Sta-
dium der Prophase bei der Gametenbildung ge-
langt ist, so erfolgt bei ihm die Syndese der
homologen Chromosomen. Diese kann in drei
F,
Syndese
(H) (o|) @
t+u s+t s+u
s+u s+t
Abb. 4. Schema der Chromosomenverteilung bei Wechselvererbun
F"ormen erfolgen : I. Indem jedes Chromosom mit
seinem speziellen Antagonisten der Partnergarnitur
konjugiert; II. Indem jedes Chromosom mit dem
anderen homologen Chromosom der Partnergarnitur
konjugiert; III. Indem jedes Chromosom mit dem
homologen Chromosom der eigenen Garnitur
konjugiert.
Der erste Fall ist der typische, welcher 2smal
29&
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 20
stattfinden möge ; die beiden anderen sind aty-
pisch, und zwar möge der eine (IT) 2t mal , der
andere (III) 2u mal stattfinden. Dann entstehen
die Gameten in dem Verhältnis, wie es die theo-
retische Ableitung verlangt, nämlich:
Aa : AB : Ab : aB : ab : bB =
(t + u) : (s + t) : (s + u) : (s + u) : (s + 1) : (t + u).
Im Anschluß an die allgemeine Form der
Wechselvererbung darf vielleicht noch kurz auf
den Spezialfall hingewiesen werden, welcher durch
Bridges aufgedeckt wurde. Hierbei handelt es
sich darum, daß in der diploiden Chromosomen-
garnitur einer bestimmten Rasse von Drosopliüa
ein überzähliges Chromosom auftritt. Woher das-
selbe stammt, bzw. daß dasselbe vermutlich durch
Spaltungsverzug (non-disjunction) in die Garnitur
gelangt ist, kann hier ohne Berücksichtigung
bleiben. Jedenfalls kann jetzt bei der Konjugation
der Chromosomen eine Verschiedenheit auftreten,
indem das überzählige Chromosom bald als
Supernumerärchromosom von der Syndese aus-
geschaltet und beliebig verteilt wird, bald aber
auch mit einem der ihm homologen „normalen"
Chromosomen konjugiert und dann das andere
„Normal"- Chromosom dazu zwingt, sich als
Supernumerärchromosom zu verhalten. In dem
typischen Falle ist nun das Supernumerärchromo-
som zugleich ein geschlechtsbestimmendes (Weib-
chen bestimmendes) Chromosom, und mit diesen
Geschlechtschromosomen sind weiter je ver-
schiedene Anlagen für somatische Eigenschaften
(Augenfarbe) verknüpft. Es würde hier zu weit
führen, wenn der ganze Erbgang im einzelnen
genau wiedergegeben werden sollte. Es genüge
daher der Hinweis auf die einschlägigen Lehr-
bücher. •) Erwähnt sei nur, daß die Bezeichnung
als „sekundäres Nichtauseinanderweichen", welche
für diesen Erbgang üblich ist, nicht den Kern-
punkt seines Charakters trifft. Es handelt sich
hier nicht um Spaltungsverzug, wie bei der Ent-
stehung der partiell pleoploiden Rasse, sondern
um syndetische Koppelung und Abstoßung, also
um ein ganz anderes Prinzip. -)
Eine scharfe Umgrenzung der Untertypen der
') Vgl, Gold Schmidt, R., Einführung in die Ver-
erbuDgswissenschaft, III. Aufl., 1920, S. 276. — In dem dort
wiedergegebenen Versuche entspricht beim 9 A = B=Xv
(= X-Chromosom mit den Anlagen für Zinnoberäugigkeit und
9-Bestimmung), a= Y-Chromosom, b = o (fehlend) ; der dritte
Typus der Syndese findet am häufigsten statt (2u = 84 %),
die anderen sind nicht unterscheidbar (2s-)- 2t = 16%); so
resultieren die Gametentypen XyX» : XyY : X» : Y ^(s-j- 1) :
(s + f + 2u):(s + t-|-2u):(s-l-t) = 4:46:46:4. Beim er*, das
in diesem Versuche nur diploid ist (also ohne B u. b) ent-
spricht A'^ Xv (= X-Chromosom mit Anlagen für Normal-
äugigkeit und 9-Bestimmung), a = Y ; so resultieren die Ga-
metentypen Xv : Y = I : I. Äußerlich sind hier also die Ga-
meten^erhältnisse ähnlich, wie bei Morgan scher Vererbung,
und auch das phänotypische Resultat der Kreuzung scheint zu-
nächst auf eine solche hinzuweisen.
') Nur wenn man, wie es vorher angedeutet wurde, nicht
Spaltungsverzug, sondern Hemmung der Syndese als Ursache
für die Entstehung der partiell pleoploiden Form ansieht,
kann man diesen Entstehungsvorgang mit dem typischen
Bridge sschen Erbgange in nähere Beziehungen bringen.
Vererbung, welche als Wechselvererbung zusam-
mengefaßt sind, ist gegenwärtig noch nicht mög-
lich. Jedenfalls darf aber zunächst schon der Ver-
lauf des Erbganges bei der Kreuzung eines partiell
pleoploiden mit einem diploiden Individuum, wie
ihn Bridges beschrieb, als typisch für die
Bridgessche Vererbung angesehen werden;
eine genaue Definition für diesen Vererbungstypus
wird sich aber erst geben lassen, wenn mehr
darauf bezügliche Tatsachen bekannt sein werden.
Ebenso bedarf das Verhalten bei der Selbstbe-
fruchtung von total tetraploiden Organismen wie
es die von Gregory mit Priniula sinensis an-
gestellten Versuche zeigen, eines weiteren Aus-
baues, ehe es möglich sein wird, den hierfür
charakteristischen Untertyp der Wechselvererbung
klar zfu formulieren.
V.
Mit der M e n d e 1 sehen Vererbung, der Kroß-
vererbung und der Wechselvererbung ist die Zahl
der Vererbungstypen erschöpft, welche man als
Typen der regulären oder gesetzmäßig spaltenden
Vererbung bezeichnen kann. Daß es außer ihnen
vielleicht noch mehr reguläre geben könnte, welche
uns gegenwärtig noch nicht bekannt sind, soll
damit nicht in Abrede gestellt werden. Sicher
ist, daß es neben diesen regulären Vererbungs-
typen noch eine ganze Anzahl von irregulären
gibt. Da man aber nur die gesetzmäßig ver-
laufenden Vererbungsweisen als eigentliche Typen
der Vererbung bezeichnen darf, konnten und
mußten die irregulären Erbgänge mit ihren durch
das Auftreten von unvorhergesehenen Ausnahmen
Dedingten Komplikationen hier ganz außer dem
Rahmen der Betrachtung bleiben.
Für die Ableitung der Regeln für die drei
Grundtypen der gesetzmäßigen Vererbung wurden
nun ohne besondere Erörterung eine Reihe von
Voraussetzungen gemacht, welche vielleicht einer
zusammenfassenden Hervorhebung bedürfen.
Die erste Voraussetzung bezieht sich auf die
Natur der einzelnen Anlagenpaare. Grundsätzlich
wurde angenommen, daß die Anlagenpaare das
reine Dominanzverhältnis aufwiesen. — Es be-
darf keiner besonderen Betonung, wieviel kompli-
zierter alle phänotypischen Ergebnisse wären,
wenn die Kombinationen mit zwei Dominanten
(AA) und mit einer Dominanten (Aa) phänotypisch
verschieden wären.
Die zweite Voraussetzung kommt für das Ver-
hältnis der Anlagenpaare zueinander in Betracht.
Grundsätzlich waren die Anlagenpaare als ganz
voneinander unabhängig gedacht. Es sind aber
Fälle genug bekannt, daß die einzelnen Anlagen-
paare Beziehungen zueinander aufweisen. Es sei
nur daran erinnert, daß es vorkommt, daß ein
Merkmal nicht in Erscheinung treten kann, wenn
ein anderes bereits vorhanden ist (Kryptomerie),
daß die Auswirkungen zweier Anlagen sich zur
Ausgestaltung eines Merkmales vereinigen (Poly-
merie in ihren zahlreichen Unterformen), und daß
N. F. XX. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
297
beide Anlagen vollkommen in gleicher Richtung
wirken können (Homomerie). — Das Auftreten
eines solchen Verhaltens ist beim Mendeln mit
einer gewissen Schwierigkeit zu verfolgen, führt
aber bei den anderen Typen zu Verwicklungen,
die äußerst unübersichtlich werden.
Die dritte Voraussetzung betrifft die Zahl der
beteiligten Anlagenpaare. Grundsätzlich wurde
überall nur das Vorhandensein zweier Anlagen-
paare (Aa und Bb) angenommen, welche nur ver-
schieden gelagert gedacht waren. — Es bedarf
keiner Hervorhebung, daß die Zahl der Anlagen-
paare, welche sich bei einem Erbgange bemerk-
bar machen, auch größer sein kann. Bei rein
Mendel scher Vererbung bleiben dann die Ver-
hältnisse noch recht klar und übersichtlich. Bei
reiner Kroßvererbung verwickelt sich das Ganze
bereits erheblich, so daß eine formelle Darstellung
schwer hält, und für die Wechselvererbung schließ-
lich gilt dasselbe in noch außerordentlich viel
größerem Maßstabe, insbesondere bei Triploiden.
Die vierte Voraussetzung besteht in der
Annahme, daß alle Typen von Gameten (Ha-
plonten) und Zygoten (Diplonten) tatsächlich
zustande kommen. Wir kennen aber schon reich-
lich Fälle, bei welchen gewisse Gametentypen oder
Zygotentypen nicht lebensfähig sind und zugrunde
gehen; dann handelt es sich um das Eingreifen
von_ Elimination. In anderen Fällen finden
gewisse Haplontenvereinigungen nicht statt, ob-
wohl die Haplonten an sich vollwertig sind ; dann
handelt es sich um Prohibition. — Es ist
selbstverständlich, wie schwer die Übersichtlich-
keit von Erbgängen leidet, wenn durch Elimina-
tion und Prohibition gewisse Phänotypen ausge-
schaltet werden. Ist aber die Aufklärung von
reinen Mendelfällen dann schon schwierig, so
gilt das naturgemäß bei den anderen Vererbungs-
typen in noch viel höherem Maße.
Die letzte Voraussetzung schließlich war, daß
in einem Erbgang jeweils nur ein Vererbungs-
typus in Erscheinung tritt. — Der gleichzeitige
Ablauf verschiedener Vererbungstypen nebenein-
ander muß stets zu größerer Unübersichtlichkeit
führen.
Man kann sich nun sehr wohl vorstellen, daß
diese Voraussetzungen nicht oder nicht alle zuzu-
treffen brauchen. Ist das aber der Fall, so leuchtet
es ein, welche außerordentliche Schwierigkeiten
die Analyse eines gegebenen Erbganges bieten
kann, der auch nur einigermaßen kompliziert
ist. Insbesondere ist dabei zu bedenken, daß bei
der Analyse eines neuen Erbganges ja nicht die
Faktoren und ihre Wirkungsweise schon bekannt
sind, sondern daß sie erst aus den Daten des
Versuchs abgeleitet werden sollen. Und außerdem
ist oft genug die Zahl der vorliegenden Phäno-
typen zu gering.
Darauf ausdrücklich hinzuweisen erscheint nicht
überflüssig im Hinblick auf die schwerwiegenden
Anforderungen, welche besonders von medizinischer
Seite an die Vererbungslehre gestellt werden. In
der Regel ist das Tatsachenmaterial, welches über
Vererbungsverhältnisse beim Menschen vorgelegt
werden kann, aus Gründe.n, die „in der Biologie
des Objektes" zu suchen sind, so unbefriedigend
in bezug auf Umfang und Einheitlichkeit, daß ein
klarer Erbgang kaum zu erwarten ist, und wenn
er auftritt, geradezu als Besonderheit gelten kann.
Zum Schluß darf noch ein Wort über die Be-
zeichnung der drei Grundformen der Vererbung
angeschlossen werden. Selbstverständlich ist es
möglich, dieselben als Mendelsche Vererbung
zusammenzufassen und als Unterabteilungen der-
selben zu bezeichnen. Da aber Mendel von drei
Grundtypen der gesetzmäßig spaltenden Vererbung
nur die erste und einfachste, welche auch heute von
manchen Seiten noch als die einzig vorkommende
angesehen zu werden scheint, bekannt war, so tut
man der Bedeutung Mendels vielleicht kein Un-
recht, wenn man auch nur diese ihm bekannte
Vererbungsform nach ihm benennt und die beiden
anderen als Nicht- Mendelsche Vererbung scharf
davon abtrennt.
Einzelberichte.
Zur Theorie chemischer Umsetzungeu.
(Neue Beiträge zur Theorie der elektrolytischen
Dissoziation.)
Auf Grund der Theorie der elektrolytischen
Dissoziation werden Reaktionen in Lösungen, vor
allem im Wasser, heute im allgemeinen als solche
der Ionen aufgefaßt. Jeder Umsetzung zweier
oder mehrerer Moleküle gehe also ein Zerfall der
Reaktionsteilnehmer voraus ; erst die Bruchstücke,
die Ionen, setzen sich sekundär um. Für die
Salzbildung durch Neutralisation von Säure und
Base ist im Sinne dieser Auffassung das Wesent-
liche also die primäre Bildung von Wasserstofif-
und Hydroxylion, die sekundär zum undisso-
ziierten Wasser zusammentreten, das schließlich
noch mit dem gebildeten Salz zum Hydrat zu-
sammentreten kann. Diese in ihren theoretischen
Voraussetzungen gut begründete und heute eigent-
lich allgemein angenommene Vorstellung beginnt
in letzter Zeit aber doch verschiedenen Einwürfen
ausgesetzt zu werden. Zunächst einmal gehen
chemische Umsetzungen bekanntlich auch in
n i c h t dissoziierenden Mitteln vor sich. Die Ioni-
sation ist also zum mindesten keine notwendige
Voraussetzung für den Prozeß. Und für die weit-
aus überwiegende Mehrzahl der organischen Ver-
bindungen kommt eine Ionisation überhaupt nicht
in Frage.
Nun weiß man andererseits seit langem, daß
29S
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 20
in wasserfreiem Äther, worin eine Dissoziation
nicht oder nur in geringem Grade statthat, nicht
allein Säuren und Basen, sondern auch andere
reaktionsfähige Verbindungen besonders leicht
Additionsverbindungen geben, und zwar
in der Regel nur solche. So fand schon Vau-
bel,*) daß eine Addition von Kaliumhydroxyd
KOH an Azeton CHg-CO-CHg stattfindet, die die
wohlgekennzeichnete Verbindung (CHj)., • CO • KOH
liefert. Ein Gegenstück hierzu ist die Addition
von Bromwasserstofif an den gleichen Stoff, die
die Additionsverbindung (CHj), • CO • HBr ergibt.")
Hier reagiert also derselbe Stoff mit zwei elektro
chemisch völlig entgegengesetzten Stoffen
in genau der gleichen Weise. Eine Erklärung
gibt die lonisationstheorie hierfür nicht,
schon deshalb nicht, weil die beschriebenen Um-
setzungen nicht augenblicklich, sondern langsam
verlaufen. Gerade schnelle Umsetzung aber ist
das Kennzeichen für I o n e n reaktionen. Vergegen-
wärtigt man sich ferner die Additionen an „basi-
schen Sauerstoff" , die Collie und T i c k 1 e ,
Baeyer und Villiger untersucht haben» so er-
scheint es zum mindesten ganz berechtigt, auch
Umsetzungen in wässerigen Lösungen als pri-
märe Additionen zu formulieren.
Diesen bemerkenswerten Schluß ziehen in der
Tat Will. M. Dehn und R. Merling») (Was-
hington) auf Grund experimenteller Untersuchun-
gen, die im nachstehenden kurz beschrieben seien.
Sie formulieren die oben genannten Umsetzun-
gen durch das folgende Schema:
/Br
RjCO^-fHBr ^ R2C0=:BrH ->R2C— OH,
und
R2C
,/'
OK
0+ KOH -> R.2CO = OK • H ^ R„C— OH.
Das Primäre dieses Vorgangs wäre also
nicht eine Dissoziation, sondern Assoziation. Diese
Auffassung wird gestützt durch folgenden Ver-
«H,CO,H
mit
such. Bringt man Benzoesäure
festem Kaliumkarbonat KoCOg in wasserfreiem
Äther zusammen, so treten Umsetzungen ein, die
durch die folgenden Formeln versinnbildlicht
werden :
2C8H5CO2H ^ QH^-C-O-C-CeH, -»
+ 2 KOH y\ II
(a) HO OHO
(b)
CeH.-C-0-C-C«H5 +H3O ->
HO OK HO OK
(c)
2C«H5— CO2K + 2H„0.
(d)
Von diesen Zwischenstufen ist bewiesen die
Assoziationsverbindung (b) durch die Messungen
von Beckmann.^) Aber auch die Verbindung
') Journ. f. prakt. Chem. 43, S. 599, 1891.
A Journ. of the Amer. Chem. Soc. 34, S. 1286, 1912.
^) Ebenda 39, S. 2646, 1917.
*) Zeitschr. f. phys. Chem. 3, S. 603, 1889. — 6, S. 457, 1890.
(c) konnte nachgewiesen werden. Dehn und
Merling isolierten sie als ein gelbliches in
Äther unlösliches wohlgekennzeichnetes Produkt.
Solche und ähnliche Niederschläge konnten ana-
lysiert werden; damit waren also die Assozia-
tionsvorgänge messend verfolgbar. Nun ergab
sich weiterhin, daß nicht nur Benzoesäure, sondern
auch ihr Anhydrid das gleiche Produkt lieferte.
Und zwar nahmen die Anhydrid- Addi-
tionsverbindungen kein Wasser aus
einer ätherischen Lösung desselben
aufl Dieser Versuch beweist also, daß Wasser
als ionisierendes Mittel nicht die unumgängliche
Voraussetzung für den Verlauf dieser Umsetzung
sein kann. Denn die Bildung der Additions-
verbindung schließt das aus, ja, ihre Indifferenz
gegen Wasser scheint im Gegenteil zu beweisen,
daß die Ionisation überhaupt keine, nicht einmal
eine sekundäre Rolle spielt.
Dieser wichtige Befund wird nun weiter da-
durch gestützt, daß, wie die genannten Forscher
fanden, nicht nur Säuren, sondern alle organischen
Verbindungen, die CO-Gruppen enthalten, ganze
Moleküle von KOH addieren. So z. B.
Aldehyde nach dem Schema:
R.CO-H -> R.COK.H(OH)
Ketone nach dem Schema:
R2CO -> R3C0K.(0H)
Ester nach dem Schema:
R-COOX -> R.COK-OX(OH)
Amide nach dem Schema:
R.CO-NH, -> R.COK.NH3-(OH) usw.
Wichtig ist I.: all diese KOH-Verbindungen
sind Salze, 2.: die gewohnten auf Grund der
Dissoziationstheorie gebildeten Definitionen von
„Säure" sind nicht genügend zur Erklärung dieser
Salzbildung, 3.: diese findet vielmehr statt nach
dem Schema
: CO -h K -^ : C— OK.
O" -^OH
Man kann die Säuren hiernach als trihydroxy-
liert, die Aldehyde als d i hydroxyhert auffassen.
Das sind aber offenbar nur mehr graduelle
Unterschiede. Die Aldehydreaktionen verlaufen
ziemlich rasch, wenn auch langsamer als die der
Säuren. Noch langsamer verlaufen die Umsetzun-
gen der aromatischen Ketone, diejenigen mit
Azeton sogar sehr langsam fortschreitend. Da
nun Azeton mit Äther in allen Verhältnissen
mischbar ist, so ist seine Löslichkeit für die
Umsetzung darin also nicht verantwortlich zu
machen. Die Löslichkeit aber ist ein wesentlicher
und ihn erst bedingender Bestandteil des loni-
sationsvorgangs. Auf der anderen Seite ist die
Formulierung der aus Äther ausfallenden amorphen
Produkte gestützt durch die zahlreich bekannten
eingangs erwähnten Oxoniumsalze.
Zu Schlüssen, die in gleicher Weise wie eben
geschehen zu deuten sind, führen weiterhin Ver-
suche, die L. S. B a g s t e r und G. C o o 1 i n g *)
') Journ. of the Chem. Soc. London 117, S. 693, 1920.
N. F. XX. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
299
machten. Sie elektrolysierten Bromwasserstoff in
flüssigem Schwefeldioxyd. Dieses wirkt nach
früheren Befunden insbesondere Waldens dem
Wasser ganz ähnlich, also auch als lonisations-
mittel. Bagster und Cooling fanden nun,
daß völlig wasserfreie Lösungen von Bromwasser-
stoff in Schwefeldioxyd den Strom nicht leiten.
Es können mithin keine Träger der Elektrizität,
d. h. keine Ionen vorhanden sein. Erst nach
Zusatz von Wasser, das selbst nichtleitend ist,
trat Stromdurchgang ein. Ionisation kann
diesen also nicht bedingen, denn dann wäre
Elektrolyse schon im wasserfreien System zu
erwarten gewesen. Der einzig mögliche und im
Sinne der vorstehenden Mitteilungen auch ganz
wahrscheinliche Schluß hieraus ist also, daß auch
hier anscheinend eine Additio ns Verbindung
HjO-HBr gebildet wird. Die Verff. formulieren
auch diese nach dem Schema einer Oxonium-
verbindung
Br
H
H
/H
O
+ Br'
Die primär gebildete Oxoniumverbindung bil-
det also erst sekundär etwas , was mit Ionen
im herkömmlichen Sinne bezeichnet werden kann.
Die Verflf. folgern daraus weiter, daß die gleichen
Verhältnisse auch in wässeriger Lösung ob-
walten.
Dies sind nur einige besonders kennzeichnende
Arbeiten der letzten Zeit. Aus ihnen geht aber
zum mindesten wohl hervor, daß die lonisations-
theorie zwar keineswegs als unhaltbar anzusehen
ist; wohl aber wird man sie auf keinen Fall in
der bisher gewohnten einfachen Weise auszu-
drücken haben. Ebenso dürfte die ihr ehedem
zugewiesene beherrschende Rolle bei chemischen
Umsetzungen mehr noch als dies bereits zuweilen
geschehen ist auf gewisse wenige Reaktionen be-
schränkt werden müssen. Für diese Folgerung
sprechen in deutlicher Weise auch Versuche von
A. Hantzsch über die Konstitution der Säuren,
über die in einem besonderen Aufsatz gehandelt
werden soll. H. Heller.
Atomgewicht vou Wismut. (Nachtrag.)
Der von Hönigschmid gefundene Wert
Bi = 209 wird soeben bestätigt durch A. Clas-
s e n und O. N e y , ^) die durch Zersetzen von
Wismuttriphenyl Bi(QHJg den gleichen Wert
Bi= 209 finden. Damit dürfte der Streit zugunsten
des höheren Wertes entschieden sein. H. H.
Das Maikäferproblem iu der Schweiz.
Professor M. Decoppet, Oberforstinspektor
im eidgenössischen Departement des Innern, hat
in einem kürzlich erschienenen Werke (Le Han-
neton. Biologie, Apparition, Destruction. Un
') Ber. d. d. ehem. Gesellsch. 53, S. 2267, 1920.
siöcle de lutte organisee dans le canton de Zürich.
Experiences recentes. Lausanne et Geneve 1920,
Payot & Cie.) die in den vierziger }ahren des
vorigen Jahrhunderts abgeschlossenen Studien des
bekannten Schweizer Entomologen Oswald Heer
fortgesetzt und das Problem der Maikäferflugjahre
in der Schweiz, insbesondere im Kanton Zürich,
fast restlos geklärt und kartographisch festgelegt.
Nach einer einleitenden anschaulichen Schilde-
rung der Lebensgeschichte des Maikäfers gibt der
Verf. eine kurze Beschreibung der Verbreitung
und der Kennzeichen der europäischen Melolon-
thiden, die durch eine im Anhang mitgeteilte und
von Figuren erläuterte Bestimmungstabelle der
Engerlinge (nach Perris) vervollständigt wird.
Im zweiten Kapitel erörtert der Autor ein-
gehend das Problem der Flugjahre und wendet
sich gegen die Behauptung vieler Forscher, daß
die Flugjahre abhängig seien von der Witterung
und den Lebensbedingungen, unter denen sich
die Engerlinge entwickeln, und daß man deshalb
keine bestimmte Regel für ihre Wiederkehr auf-
stellen könne. Nach Decoppets Beobachtungen
besteht im Gegenteil in jeder Gegend ein ganz
bestimmter Entwicklungszyklus ; der ursprüngliche
und am weitesten verbreitete scheint der drei-
jährige zu sein. Abweichungen von ihm, wie die
vierjährige Generationsdauer in einigen Alpen-
tälern, in Norddeutschland, Dänemark und Eng-
land oder die fünfjährige Entwicklungsperiode von
Melolontha hippocastani in Nordeuropa können
den Anschein erwecken, als ob sie durch Tempe-
ratureinfluß hervorgerufen werden. Nach der An-
sicht des Verf. ist aber dieser Einfluß der Tempe-
ratur nur relativ : nicht die Kälte verlangsamt die
Entwicklung, sondern die Kürze der Vegetations-
periode. In der Schweiz findet sich allein der
dreijährige Entwicklungszyklus, der auch durch
kalte Jahre keine Veränderung seiner Regelmäßig-
keit erleidet und nur in einigen hochgelegenen
Alpentälern (Inntal, Münstertal, Vorderrheintal,
Distrikt Schams und Puschlav) der vierjährigen
Periode Platz macht. Diese Regionen, in denen
die Entwicklung immer vier Jahre dauert, sind
scharf von denjenigen mit dreijähriger Entwick-
lungsperiode getrennt. Es haben sich nach D e -
coppets Ansicht zwei biologische Rassen aus-
gebildet, eine Rasse der Ebenen und eine Rasse
der Hochtäler, die mindestens für eine bestimmte
Zeit erhalten bleiben, selbst wenn das Insekt neuen
klimatischen Bedingungen unterworfen wird. Mit
Ausnahme der genannten Hochtäler lassen sich
in der Schweiz drei Gebiete feststellen, von denen
jedes sein bestimmtes Flugjahr hat, das alle drei
Jahre wiederkehrt. Nach dem Vorgange Heers
werden diese Flugjahre nach der Gegend, in der
ihr Hauptauftreten liegt, benannt: i. Basler Flug-
jahr („Regime bälois", Jahreszahl genau durch
drei teilbar: 1917,« 1920, 1923). 2. Berner Flug-
jahr („Regime bernois", Flugjahre durch drei ge-
teilt bleibt I Rest: 191 8, 1921, 1924), 3. Urner
Flugjahr („Regime uranien", Jahreszahl durch drei
300
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
geteilt bleibt 2 Rest: 1916, 1919, 1922). Berner
und Urner Flugjahr sind bereits seit dem 17. Jahr-
hundert, das Basler seit dem 18. Jahrhundert be-
kannt, woraus Decoppet schließt, daß das in
einem bestimmten Gebiet herrschende Flugjahr
viel zu konstant ist, als daß es unter dem Einfluß
des Klimas stehen könne. Eine Gegend kann
allerdings in seltenen Fällen das Flugjahr wechseln ;
doch setzt diese Veränderung immer voraus, daß
das vorher herrschende Flugjahr verschwunden
ist, das betreffende Gebiet eine Zeitlang von Mai-
käfern freibleibt und deshalb einem neuen Flug-
jahr gestattet, festen Fuß zu fassen. Zwei oder
gar drei Flugjahre finden sich äußerst selten in
einer Gegend und zwar nur an der Grenze zweier
Gebiete mit verschiedenen Flugjahren. Sonst
kommt stets in einem Gebiet auch nur ein Haupt-
stamm vor, denn die Engeriinge des Hauptzyklus
scheinen die Entwicklung der ein oder zwei Jahre
jüngeren Larven zu verhindern, vielleicht weil sie,
zahlreicher und beweglicher, den jüngeren und
schwächeren Larven der beiden übrigen Gene-
rationen die Nahrung fortnehmen.
Im dritten Kapitel geht der Verf auf Grund
der im Kanton Zürich seit fast 75 Jahren plan-
mäßig angestellten Erhebungen auf die in diesem
Gebiet herrschenden Flugjahre des näheren ein.
Begünstigt wird er hierbei nicht nur durch seine
langjährigen Beobachtungen, sondern auch durch
die dank der Initiative Heers äußerst vollkom-
mene Organisation der Berichterstattung und Be-
kämpfung. In jeder Gemeinde sind die Ein-
wohner verpflichtet, in Flugjahren ein bestimmtes
Maß (in Litern) von Maikäfern zu sammeln, wo-
bei Prämien für fleißiges und Strafen für nach-
lässiges Sammeln festgesetzt sind. Jede Gemeinde
hat außerdem in einem Formular das genaue Maß
von Maikäfern anzugeben, das in jeder Woche
der Flugzeit gesammelt wurde. Ebenso muß die
Polizei, die das Einsammeln zu überwachen hat,
Berichte liefern über den Umfang des Fluges, über
den Zeitpunkt des Auftretens und des Ver-
schwindens der Käfer und über das Wetter
während der Flugzeit. Seit dem Jahre 1807 haben
nun im Kanton Zürich folgende Veränderungen
stattgefunden: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts
(1807, 18 10) herrschte das Berner Flugjahr. Gegen
1840, als Heer seine Untersuchungen begann,
war es fast völlig durch das Urnerjahr ersetzt.
Letzteres erreichte sein Maximum im Jahre 1910
und begann dann wieder abzunehmen ; behauptete
zwar anfangs noch das Zentrum und den Osten
des Kantons, wich aber auch hier immer mehr
zurück und ist heute wieder fast im ganzen Kanton
durch das Berner Jahr verdrängt. Für diesen
Wechsel der Flugjahre lassen sich mehrere Er-
klärungen finden, von denen Decoppet folgende
am wahrscheinlichsten dünkt: Die 1807 und 18 10
angewandten Bekämpfungsmittel und späterhin
die nassen Jahre 18 13 bis 1817, welche das
Schwärmen hinderten und Käfer und Engerlinge
für Epidemien disponierten, vernichteten das Ber-
N. F. XX. Nr. 20
ner Flugjahr fast völlig. In den wärmeren und
geschützteren Gegenden war die Vernichtung
nicht vdllständig, weshalb hier sehr schnell der
Berner Zyklus wieder einsetzte. Im Zentrum da-
gegen war das Berner Jahr völlig verschwunden,
so daß die Käfer der Urner Periode, bis dahin in
latentem Zustand, durch klimatische Verhältnisse
begünstigst oder während der ungünstigen Zeit
besser geschützt, sich vermehren und bald wirk-
liche Flugjahre bilden konnten. Wie schon Heer
betont hat, darf man deshalb unter keinen Um-
ständen die Käfer der intermediären Jahre ver-
nachlässigen, sondern muß auch sie energisch be-
kämpfen, um zu einer völligen Vernichtung der
Plage zu gelangen.
Ein weiteres Kapitel ist den einzelnen Flug-
jahren im Kanton Zürich gewidmet, deren Umfang
auf Grund der Sammelergebnisse besprochen wird.
Sodann behandelt der Autor den Einfluß des Bo-
dens und des Klimas auf die Entwicklung der
Maikäfer. Am günstigsten für dieselben sind
trockene, fruchtbare, leicht gewellte Gegenden
ohne abschüssige und zu stark bewaldete Hügel;
sie fehlen dagegen in feuchtem, sumpfigem Ge-
lände, an Stellen, wo das Grundwasser nahe der
Oberfläche liegt, an hochgelegenen (im Kanton
Zürich oberhalb 800 m) und stark bewaldeten
Örtlichkeiten. Dichte Waldbestände werden des-
halb gemieden, weil hier durch die Vegetations-
decke der Boden feucht und kalt gehalten wird
und daher für die Entwicklung der Engerlinge
ungünstig ist. Gegen vorübergehende Feuchtig-
keit, selbst Überschwemmungen, und Kälte sind
jedoch die Engeriinge durch ihre unterirdische
Lebensweise und die Fähigkeit, in ungünstigen
Zeiten tief (bis fast i m) in die Erde einzudringen,
ziemlich geschützt. Auch die schon entwickelten,
aber dem Boden noch nicht entstiegenen Käfer
vermögen sich tiefer in die Erde einzugraben, so
einem Kälterückschlag zu entgehen und den zum
Ausfliegen günstigsten Zeitpunkt abzuwarten, der
bei einer Temperatur von etwa 15" liegt. Da-
gegen beeinträchtigen Kälte und Regen während
der Flugzeit das Schwärmen und die Kopulation
sowie die normale Eiablage der Weibchen und
führen so eine Schwächung des Hauptstammes
herbei, die sich im nächsten Flugjahre durch ge-
ringes Auftreten der Käfer bemerkbar macht.
In einem Kapitel über die Biologie des Mai-
käfers werden Untersuchungen über die Zeit des
Auftretens, die Kopulation, die Eiablage, das Aus-
schlüpfen der Engerlinge aus dem Ei und über
die verschiedenen Bodentiefen, in denen sich letz-
tere während ihres Larvenlebens aufhalten, mit-
geteilt. Als Eriäuterung hierzu gibt eine Farben-
tafel im Anhang ein sehr anschauliches Bild der
dreijährigen Entwicklungsperiode.
Die Bekämpfung der IVlaikäfer und Engerlinge
wird in zwei Kapiteln besprochen und die eigenen
Versuche des Verf. in der Pflanzschule Farzin in
einem besonderen Abschnitt dargelegt. Zur Ver-
hinderung der Eiablage hat sich einigermaßen die
N. F. XX, Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
301
Bedeckung des Bodens mit Teerstaub oder Ast-
werk bewährt. Gegen die Engerlinge ergab
Schwefelkohlenstoff die besten Erfolge, zumal
dieser nach Decoppets Versuchen, in kleinen
Mengen angewandt, auch die Bodenfruchtbarkeit
hob. Zur Bekämpfung der Käfer kommt nach
des Verf. Ansicht allein das Einsammeln in Be-
tracht, das während der ganzen F'lugzeit durch-
zuführen ist und nicht nur wie üblich in den
beiden ersten Wochen; denn die Versuche De-
coppets ergaben, daß selbst im Juh noch die
Weibchen normalerweise zur Eiablage schreiten.
Hinsichtlich der natürlichen Bekämpfung kommt
Decoppet zu dem Ergebnis, daß Vögel und
Kleinsäuger wohl eine Maikäferplage nicht ver-
hindern können, aber doch wertvolle Bundesge-
nossen sind, die mit allen Mitteln gehegt werden
sollen. Bekämpfungsversuche mit Pilzen und
Bakterien, die gelegentlich als Krankheitserreger
bei Maikäfern gefunden wurden, ergaben bisher
noch keine Erfolge.
Ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis be-
schließt den Hauptteil, dem eine Reihe von An-
lagen folgt, die Verordnungen zur Bekämpfung
der Maikäfer und das von den Gemeinden aus-
zufüllende Formular wiedergeben. Im Anhang
finden sich Tabellen über die Sammelergebnisse
in den einzelnen Gemeinden des Kantons Zürich
seit 1867, Abbildungen zur Anatomie des Mai-
käfers, sowie 41 Karten, die für den Kanton
Zürich den Umfang jedes Flugjahres seit 1867,
die Veränderungen während dieser Zeit in der
Verbreitung der Berner und Urner Periode und
die Ausdehnung der drei Flugjahre in der ganzen
Schweiz veranschaulichen.
Wie in der Schweiz ist es auch in Nieder-
österreich dank den langjährigen Arbeiten Zwei-
gelts (vgl. F. Zw ei gelt. Der gegenwärtige
Stand der Maikäferforschung, Zeitschr. für ange-
wandte Entomologie, Bd. V, 1918, S. i — 33) ge-
lungen, die Maikäferflugjahre genau festzulegen,
wogegen bis heute noch für die meisten Gegen-
den Deutschlands genauere Angaben über Auf-
treten und Verbreitung der Maikäfer fehlen. Nur
durch planmäßige Beobachtung und Berichterstat-
tung während einer Reihe von Jahren kann es
erreicht werden, daß wir auch in Deutschland für
jedes Gebiet, in dem die Maikäfer als Schädlinge
auftreten, das Eintreten eines Flugjahres voraus-
sehen und eine planmäßige Bekämpfung organi-
sieren können. Zu diesem Zweck ist bereits im
vorigen Jahre von der Biologischen Reichsanstalt
für Land- und Forstwirtschaft eine Maikäferumfrage
veranstaltet worden, die viele Antworten ergab
und in diesem und den nächsten Jahren wieder-
holt werden soll. Zur Klärung des Maikäferpro-
blems in Deutschland sollte jeder, der Aufzeich-
nungen oder Beobachtungen über Auftreten und
Biologie der Maikäfer gemacht hat, durch Aus-
füllung eines Fragebogens beitragen.
Dr. H. Sachtleben, Berlin-Dahlem.
Biologische Reichsanstalt.
Oeologie und Miiieralschätze Angolas.
Die Mineralschätze dieses Landes haben schon
seit langem die Aufmerksamkeit der Portugiesen
erregt, ohne daß ihnen jedoch größere Erfolge in
deren Ausbeutung beschieden gewesen wären.
Am geologischen Aufbau des Landes beteiligen
sich nach P. Range (Zeitschr. f. prakt. Geologie,
XXVIII, 1920, 181 — 187) folgende Formationen:
I. Primärformation.
Gneise und kristalline Schiefer, durchsetzt von
großen Granitmassiven, bauen das westafrikanische
Randgebirge auf. Das Auftreten der einzelnen
Gesteinsarten in den verschiedenen Landesteilen
ist jedoch meistens ganz unbekannt. Von sicher
bekannten Granit vorkommen seien hier erwähnt:
der Fetischfelsen bei Borna am Kongo, der Pfeiler
von Muserra, eine Bergkette im Distrikt Duque
de Braganza, im Süden im Shellagebirge. Gneis
bildet westlich von Pungo Andango sehr charakte-
ristische Bergformen und tritt auch sonst noch
mehrorts auf. Von kristallinen Schiefern werden
noch Turmalinquarzite, Glimmerschiefer, Quarz-
phyllite u. a. m. mehrorts erwähnt.
II. Namaformation.
Die alten kristallinen Schiefer und Gneise wer-
den in einzelnen Teilen von weniger metamorphen
Sedimenten überlagert, die zweifellos den in Süd-
westafrika und in Britisch-Südafrika eingehend
untersuchten Horizonten der von Range als
Namaformation bezeichneten Schichten entsprechen.
Genaueres über die Schichtenfolge wissen wir
noch nicht.
III. Karooformation.
Schichten die wahrscheinlich zu dieser For-
mation gehören, werden mehrorts erwähnt, z. B.
aus der Gegend zwischen Cambambe und Dondo,
wo die oberen Horizonte flach liegen und geringe
Kohlenspuren zeigen. Die Farbe des Schiefertones
ist braungrau.
IV. Kreideformation.
Weit besser als die bisher erwähnten For-
mationen ist die im Küstengebiet auftretende
Kreide untersucht, da sie infolge ihres Fossilreich-
tums seit langem die Aufmerksamkeit und das
Interesse der Forscher erregte. An der Basis
dieser Kreideformation treten bituminöse Schiefer
auf, mit denen gleichaltrig vielleicht die Sand-
steine von Dombe sind, welche Kupfer, Schwefel
und Gips enthalten. Darauf folgt die fossilführende
Kreide mit mergeligen, oolithischen und glauko-
nitischen Kalken, Dolomiten und Sandsteinen, alle
von heller Farbe. Nach Choffat gehören die
unteren Horizonte ins Albien und Gault, die oberen
ins Cenoman.
V. Tertiär.
Das Tertiär ist von mehreren Punkten nahe
der Küste bekannt, teilweise mit reicher Fossil-
führung, die es erlaubt diese Horizonte ins ältere
Eozän und ins Miozän zu stellen.
VI. Jüngere Eruptivgesteine.
Von diesen sind bekannt geworden: Trachyt,
302
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 20
Basalt, Nephelinbasalt, Liparit, Leptynit, Nephelin-
syenit, Tinguait und Nephelinphonolit.
VII. Oberflächenbildungen.
Im Bereiche des Kongo- und Sambesigebietes
finden sich Rotlehme, im Südosten des Landes
auch vielfach rote Sande. Warme Quellen werden
aus dem Distrikt Novo Redondo erwähnt, eine
Schwefeltherme von Luxillo, iVlineralquellen von
IVIutipa und Quipupa.
Nutzbare Mineralien.
I. Gold.
Im Distrikt Loanda befindet sich die gold-
führende Zone von Lombige, die schon seit dem
Begin des 19. Jahrhunderts bekannt ist. Bei ihrem
geringen Goldgehalt dürfte ein gewinnbringender
Abbau aber auf Schwierigkeiten stoßen. Im
Distrikt Benguella findet sich die Goldzone von
Cassinga. Die Seifen sollen dort angeblich 8 — 9 g
Gold auf die Tonne ergeben haben. Jetzt ist der
Bergbau dort anscheinend wieder zum Erliegen
gekommen. Auch die übrigen Goldvorkommen
haben sich bislang als unbedeutend und unabbau-
würdig erwiesen.
II. Silber.
Silbererze werden unter anderem im Distrikt
Loanda gefunden, doch sind die Vorkommen ganz
unbedeutend.
III. Kupfer.
Kupfer ist seit längerer Zeit in Angola be-
kannt. Bis zum Jahre 1875 wurde es von den
Eingeborenen in verschiedenen Gegenden gewon-
nen, an portugiesische Händler verkauft und nach
Europa verschifft. So wurden von dem Malachit
von Bembe früher 200 — 300 Tonnen jährlich aus-
geführt. Das Hauptkupfererz scheint der Malachit
zu sein, der mehrfach als Imprägnationsmittel von
Kalksteinen, Sandsteinen und Konglomeraten der
Kreide auftritt. Die Kupfererze kommen haupt-
sächlich vor in den Distrikten Mossamedes, Ben-
guella und Loanda.
IV. Eisen.
An Eisenerzen ist das Land reich; und zwar
treten sie auf als Roteisen-, Brauneisen- und Mag-
neteisenerze. Sie wurden vielfach schon von den
Eingeborenen ausgebeutet. Wirtschaftliche Be-
deutung haben sie nur, wenn es sich um sehr
ausgedehnte, hochprozentige Lagerstätten handelt,
die billig abgebaut werden können und günstige
Verschififungsverhältnisse haben.
Von weiteren Metallvorkommen sind zu er-
wähnen: Blei, Mangan, Wolfram, Zinn und
Antimon. Diese haben bis jetzt keinerlei wirt-
schaftliche Bedeutung. Das gleiche gilt von den
Diamant-, Graphit- und Kohle vorkommen.
V. Bitumina.
Bitumina sind aus Angola seit zwei Jahr-
hunderten bekannt, sie wurden früher als Petro-
leum bezeichnet. Am bedeutendsten sind die
Vorkommen im Distrikt Loanda nordöstlich von
Libungo, wo ein leicht zerreibbarer Sandstein so
mit Bitumen imprägniert ist, daß es aus den
Schichtfugen austritt. Auch Erdgas und halb-
flüssiges Ol wurden an einigen Stellen erbohrt.
Im Distrikt Mossamedes kommt Asphalt vor.
Alle diese Vorkommen beweisen, daß Anzeichen
für Petroleum im Küstengebiet von Angola vor-
handen sind. Eingehende Untersuchungen sind
aber bisher noch nicht angestellt worden, und es
ist zweifelhaft, ob Petroleum in wirklich gewinn-
barer Menge dort auftritt.
VI. Kopal.
Kopal wird zurzeit hauptsächlich in Nordost-
angola von den Eingeborenen gewonnen in ge-
ringer Tiefe im Boden. Er stammt wahrschein-
lich von einer Trachylobiumart und wird im
wesentlichen nach Portugal exportiert und dort
zu Firnis verarbeitet.
VII. Salz.
Kochsalz ist in Angola ein bedeutender Han-
delsartikel. Es findet sich sowohl im Innern wie
nahe der Küste, wo die Lager allein größere
wirtschaftliche Bedeutung haben. Besonders häufig
sind sie im Distrikt Mossamedes. Die bedeutend-
sten Lager finden sich an der Nordseite des Co-
roca, wo das Salz etwa 2 Dezimeter dick auf der
Oberfläche liegt. Die Jahresproduktion soll 3000 t
betragen. Der Lokalbedarf ist beträchtlich, da
aus dem Distrikt Mossamedes gesalzene Fische in
erheblicher Menge exportiert werden.
Außer den angeführten Mineralien kommen in
Angola noch vor: Guano, Phosphorit, Ba-
ryt und schöner Marmor. F. H.
Die Wii'kuug der Sprenggrauaten uud Minen
auf Terschiedene Bodenarten.
Wie K. Neynaber (Dissertation Danzig 19 18)
feststellte, erzeugen brisante Artilleriegeschosse und
Wurfminen mit A.Z. (Aufschlagzünder) flache Erd-
trichter. Mit V.Z. (Verzögerungszünder) haben
sie größere „Eindringungstie f e", die ziemlich
unabhängig davon ist, ob das Geschoß in Flach-
bahn- oder Steilfeuerschuß verfeuert wird. Gra-
naten mit V.Z. erzeugen bis 18 cm Kaliber tiefe,
sehr steile Trichter; bei größerem Kaliber Hohl-
räume mit kleinen Durchbruchskratern (Flaschen-
formen); von etwa 28 cm Kaliber an unregel-
mäßig kugelförmige Hohlräume im Erdinnern, an
der Erdoberfläche nur eine sanfte Bodenwölbung
mit einigen Spalten (entsprechend den „Quetsch-
minen" im Minenkrieg; Ref.). Wurfminen mit
V.Z. haben geringere Eindringungstiefe und er-
zeugen daher selbst bei großen Kalibern nur tiefe
steile Trichter.
Im nächsten „Zerschmetterungsum-
kreis" des brisanten Geschosses wird der Boden
vollkommen zerrissen, zertrümmert und zerpulvert.
Bei Granaten und Wurfminen mit A.Z. ist dieser
Umkreis ungefähr gleich der „Trichtertiefe";
bei Granaten mit V.Z. ist der Zerschmetterungs-
halbmesser in Sandboden und Kreide etwa gleich
der halben, in Lehm- und Tonboden ungefähr
gleich % der „Eindringungstiefe". Wurfminen
N. F. X^. Nr. 20
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
303
mit V.Z. haben einen Zerschmetterungshalbmesser
in Sand und Kreide gleich etwa % der Ein-
dringungstiefe, in Lehm und Ton gleich % der-
selben. Darüber hinaus, in der gleichfalls kugel-
förmigen „Zerstörungszon e", bleibt die Boden-
gestaltung erhalten, der Boden widersteht der
zerschmetternden Gewalt, leitet aber den Gasdruck
als heftige Druckwelle weiter, die u. U. Stollen
und andere künstliche Hohlbauten in dieser Zone
zerquetscht. Der Übergang zwischen Zerschmet-
terungs- und Zerstörungszone ist allmählich ohne
scharfe Grenze, ebenso schwächt sich die Druck-
welle nach außen hin allmählich soweit ab, daß
sie in der angrenzenden „ungefährlichen
Zone" einfach ausgezimmerten Hohlräumen nicht
mehr gefährlich werden kann. Im nahezu un-
elastischen Sandboden und in Kreide wird die
Druckwelle sehr bald abgeschwächt, bei Lehm
und Ton liegen die Verhältnisse ungünstiger. Für
brisante Granaten und Wurfminen mit A.Z. be-
ginnt in Sand und Kreide die ungefährliche Zone
etwa bei dreifacher, in Ton oder Lehm erst bei
der vier- bis fünffachen Tiefe des Trichters unter
der Erdoberfläche; bei V.Z. beginnt die ungefähr-
liche Zone in Lehm-, Ton-, Sandboden und Kreide
im Umrkeis von etwa i Va Eindringungstiefen von
der Granate; in Sand-, Lehm- und Tonboden ist
der Zerstörungshalbmesser der Wurfminen gleich
etwa der 2,5 fachen, in Kreide gleich der doppel-
ten Eindringungstiefe. Im Kreideboden kommen
beträchtliche Abweichungen vor, je nachdem das
Gestein frisch oder mehr weniger verwittert ist-
die Werte der Tabelle gelten für „gewachsenen
Fels, der etwa 30 cm unter der Erdoberfläche
ansteht und mit dünner Ackerkrume und ver-
witterter Kreide bedeckt ist. Für weniger günstige
Verhältnisse müssen Zuschläge gemacht werden,
die erst nach eingehender Prüfung der Boden-
verhältnisse ermittelt werden können. Bei gänz-
Hch verwitterten Kreidefelsen nähern sich die
Werte denjenigen des Sandbodens". Im übrigen
zeigt die Tabelle beobachtete Maximalwerte:
er
Sand
m
Ton und Lehm
1 "*
Kreide
m
Kalib
cm
Trichtertiefe
A.Z.
Cd
Zerstörungs-
halbmesser
V.Z.
Ungef. Zone
V.Z. unter
Erdoberfläche
'S .
SN
■s<
H
a 3
Cd
Zerslörungs-
halbmesser
V.Z.
Ungef. Zone
V.Z. unter
Erdoberfläche
ä ■
•0 ü
a s
Zerstörungs-
halbmesser
V.Z.
ä, u
a u M
Granate
7,5
0,30
0,50
0,80
1,30
0,20
0,60
0,90
1,50
0,20
0,40
0,60
1,00
•
10
0,40
0,90
1,40 2,30
0,30
1,00
1,50
2,50
0,30
0,70
1,10
1,80
I
13
OiSo
1,30
2,00 3,30
0,40
1,40
2,10
3,50
0,40
1,00
1,50
2,50
•
'S
0,65
2,00
3,00 ! 5,00
0,50
2,10
3,20
5,30
0,50
1,30
2,00
3,30
'
18
0,80
2,80
4,20
7,00
0.65
2,90
4,40
7,30
0,60
1,70
2,60
4,30
t
21
1,00
3.50
S,30
8,80
0,85
3,70
S,6o
9,30
0,75
2,10
3,20
5,30
'
28
1,50
4,40
6,60
11,00
',35
4,80
7,20
12,00
1,20
2,70
4,10
6,80
»
30,5
1,90
5,00
7,50
12,50
«.75
5,50
8,30
13,80
1,40
3,00
4,5°
7.50
I
38
42
2,50
3.00
nicht
beobachtet
2,25
2,6o
nicht
beobachtet
1,70
2, 10
nicht beobac
htet
Wu
rfmin
= 25
1.30
2.30
6,00
8,30
1,15
2,60
6,50
9,10 '
1,00
1,60 ;
3,20
4,80
Die Mindesttiefe der „ungefährlichen Zone"
unter der Erdoberfläche errechnet sich also für
die verschiedenen Kaliber mit V.Z. aus der betr.
„Eindringungstiefe" + „Zerstörungshalbmesser"
(V.Z.). Diese Erddecke schützt gegen einzelne
Volltreffer. Wenn sie vielen Volltreffern des betr.
Kalibers widerstehen soll,*) muß man noch eine
A.Z.-„Trichtertiefe" und außerdem die halbe Breite
des zu schützenden Hohlraums hinzufügen, weil
') Neynaber bezeichnet das als , .bombensicher"
und unterscheidet „Schußsicherheit" gegen Einzeltrefl'er sowie
„Bombensicherheit" gegen viele Treffer leichter, mittlerer,
schwerer und schwerster Geschosse. Die maßgebenden deut-
schen Vorschriften kannten jedoch nur Schußsicherheit gegen
Dauerfeuer aus 15 cm, Bombensicherheit gegen Dauerfeuer
aus 22 cm-Gesc'nutzen, schweren Minenwerfem und Einzel-
treffer noch schwererer Geschütze,
dessen Gesteinsdach im Querschnitt etwa eines
Halbkreises als tote Last über der Auszimmerung
liegt und auch ohne Beschuß allmählich herunter-
fallen würde. Man wird deshalb tunlichst schmale
Schutzstollen usw. nach Möglichkeit in der „bom-
bensicheren" Zone des schwersten zu erwar-
tenden Kalibers anordnen. Wo der Grundwasser-
stand oder andere Gründe das verhindern, muß
die Sicherheit durch Betonschutz erreicht werden.
Die kriegstechnischen Schlußfolgerungen und
sonstigen Ergebnisse Neynabers entsprechen
z. T. den maßgebenden deutschen Vorschriften,
z. T. enthalten diese auf Grund älterer und um-
fassenderer Erfahrungen Besseres. Ich habe aber
um so weniger Veranlassung, darauf einzugehen,
als dies unter den gegenwärtigen Umständen
keinen Zweck hat. W. Kranz, Stuttgart.
304
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 20
t'occidiiim bigeniiunm Stiles bei Füchsen.
Nach dem „Journ. of comp. Path. and Therap."
wurde bei zwei verendeten Füchsen eine ausge-
sprochene hämorrhagische und ulzerative Darm-
entzündung als Todesursache festgestellt. Da in
den Darmveränderungen sehr zahlreiche Zysten
von Coccidium bigeminum festgestellt wurden,
wurden die Kokzidien als Todesursache ange-
sprochen, trotzdem Coccidium bigeminum bei
Katzen, Hunden, Frettchen und Füchsen öfters
als zufälliger Befund ohne krankhafte Verände-
rungen angetroiTen wird. Reuter.
Erkraukuugen der Pankreasdrüse bei Tieren.
Trotz seiner wichtigen Bestimmung ist der
Pankreas bei Menschen wie bei Tieren selten Sitz
einer Erkrankung. Um so auffälliger ist eine Mit-
teilung von Herbert Fox im „Journ. of comp.
Path. and Therap." über „Pancreatitis in Wild
Animals", nach welcher der Verf. unter 3567 Au-
topsien innerhalb 1 1 Jahren 28 Fälle von Pankrea-
titis festgestellt hat. Die Diagnose bei Lebzeiten
zu stellen ist nicht möglich. Es kommt lobäre
und lobuläre Pankreasentzündung vor. Die In-
fektion findet meist durch die Pankreasgänge vom
Duodenum her statt. Die Veränderungen sind
degenerativ oder • hämorrhagisch, auch nekrotisch
oder fibrinös. Akute hämorrhagische Pankreatitis
scheint mehr bei Säugetieren vorzukommen,
während die chronische Entzündung mehr bei
Vögeln beobachtet wird. Verf. glaubt, daß bei den
Säugetieren eine Sensibilisierung der Pankreas-
entzündung durch die Galle zustande kommt,
während bei den Vögeln durch die Anlage der
Pankreasgänge eine Infektion durch die Gänge
vom Darme direkt aus in Frage kommt. „D.
Tier. Wochenschr." v. 1920. Reuter.
Verbreitung von Ankylostomum unter den
Tierbeständen.
Nach dem „Journ. of comp. Path. and Therap.",
191 5 wurde unter den Tieren eines zoologischen
Gartens öfters Ankylostomiasis beobachtet. In
den meisten Fällen handelte es sich um Anky-
lostomum trigonocephala und Ankylostomum ste-
nocephala. Beide Arten müssen als pathogen für
Tiere angesehen werden. Äußerlich zeigten die
Tiere, ähnUch wie bei der Leberegelkrankheit,
starke Anämie. Bei der Sektion wurden die Er-
scheinungen eines schleimigenDarmkatarrhes,außer-
dem entzündliche Herde der Darmschleimhaut in
Form von Petechien festgestellt, wie sie auch bei
der Darmkokzidiose angetroffen werden.
Reuter.
Literatur.
G e b i e n , H., Käfer aus der Familie Tenebrionidae, ge-
sammelt auf der „Hamburger deutsch -südwestafrikanischen
Studienreise". Hamburg '20, L. Friedrichsen u. Co. 36 M.
Lampert, Prof. Dr. K., Entwicklung und Brutpflege im
Tier- und Pflanzenreich. Mit 1 1 Tafeln. Leipzig '20, Ph.
Reclam. 4,50 M.
Arnold, Fr., Einheimische Slubenvögel. I. Bd. In-
sektenfresser. Ebenda.
Dacque, Prof. Dr. E., Geologie II, Straligraphie. Samm-
lung Göschen.
Heilborn, Dr. A., Entwicklungsgeschichte des Men-
schen. 2. Aufl. Mit 61 Abb. Leipzig u. Berlin '20, B. G.
Teubner.
Kämmerer, Prof. Dr. H., Die Abwehrkräfte des Kör-
pers. 2. Aufl. Mit 32 Textabb. Ebenda.
Schnippenkötter, Dr. J., Der entropologische Gottes-
beweis. Bonn '20, A. Marcus. 15 M.
Voigt, Prof. Dr. A., VVasservogelleben. Leipzig '21,
Quelle u. Meyer. 5 M.
Sohns, Fr., Unsere Pflanzen. Ihre Namenerklärung usw.
6. Aufl. Leipzig-Berlin '20, B. G. Teubner. 16 M.
Hoffmann, Prof. Dr. B., Führer durch unsere Vogel-
welt. 2. Aufl. Ebenda. 17,20 M.
Schlesinger, Prof. Dr. L., Raum, Zeit und Relativitäts-
theorie. Ebenda. 5,60 M.
Abraham, Dr. M., Theorie der Elektrizität. 2. Band:
Elektromagnetische Theorie der Strahlung. 4. Aufl. Ebenda.
44 M.
B e h r e n d , Dr. Fr. , Die Kupfer- und Schwefelerze von
Osteuropa. Ebenda. 14 M.
Gans, Prof. Dr. R. , Einführung in die Vektoranalysis.
4. Aufl. Ebenda. 18,80 Mk.
Mühlen, Dr. L. von zur, Die Ölschiefer des europäischen
Rufllands. Ebenda. 6 M.
Kräpelins Leitfaden für den Botanischen Unterricht.
9. Aufl. Mit 318 Abb. Ebenda. 24 M.
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salza '20, Wendt u. Klauwell. 13 M.
Schmidt, Prof. Dr. J., Kurzes Lehrbuch der organischen
Chemie. 2. Aufl. Mit 16 Abb. Stuttgart '20, F. Enke. 150M.
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Quantitative Analyse. 7. Aufl. Mit 56 Abb. Ebenda. 72 M.
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abnormen Vogeleier. Berlin '20, W. Junk. 15 M.
Euler, Prof. Dr. H. , Chemie der Enzyme. I. Teil.
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J. F. Bergmann. 56 M.
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Einführung in die Sexualpädagogik. Acht Vorträge. Ber-
lin '21, E. S. MitUer. 25 M.
Handbuch der Entomologie. Herausgegeben von Chr.
Schröder. 5. Lief. (Bd. III, Bogen 8 — 13.) Jena '20, G.
Fischer. 12 M.
Inbalt: H. Prell, Die Grundtypen der gesetzmäßigen Vererbung. (4 Abb.) S. 289. — Einzelberichte: Zur Theorie che-
mischer Umsetzungen. S. 297. A. Classen und O. Ney, Atomgewicht von Wismut, (Nachtrag.) S. 299. M. De-
coppet, Das Maikäferprobleiii in der Schweiz. S. 299. P. Range, Geologie und Mineralschätze Angelas. S. 301.
K. Neynaber, Die Wirkung der Sprenggranaten und Minen auf verschiedene Bodenarten. S. 302. Coccidium bige-
minum Stiles bei Füchsen. S. 304. H. Fox, Erkrankungen der Pankreasdrüse bei Tieren. S. 304. Verbreitung von
Ankylostomum unter den Tierbeständen. S. 304. — : Literatur: Liste. S. 304.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Guatav Fischer in Jena.
Druck der G. Päti'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neu© Folge 20. Band;
der ganxen Reihe 36. Band,
Sonntag, den 22. Mai 1921.
Nummer 31.
Hundert Jahre Phytopaläontologie in Deutschland.
Nach einem in der Berliner Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin
gehaltenen Vortrag.
tNachdnick verbotea.] Von Julius Schuster.
In der Geschichte der Wissenschaften werden
die Geburtstage bahnbrechender Leistungen selte-
ner gefeiert als die Geburtstage der bahnbrechen-
den Persönlichkeiten. Der große Name lebt be-
greiflicherweise noch in aller Mund, wenn die
große Tat längst Gemeingut geworden ist. Und
die alten privilegierten Wissenschaften der Natur
und des Geistes bedürfen ja für sich selbst einer
Säkularerinnerung nicht mehr so sehr als die noch
um ihre Anerkennung und Selbständigkeit ringen-
den Disziplinen, bei denen solcher Rückblick nicht
nur Geschichte, sondern auch Lehre sein soll.
Der Fall, daß eine Wissenschaft in Deutsch-
land ihre Grundlegung und seitdem nur durch
einzelne Personen freie Förderung fand, ist gewiß
nicht häufig, aber eben deshalb nicht bloß von
historischem, sondern auch allgemeinem Interesse.
Dieser Fall aber trifft für die Phytopaläontologie
und ihre Entwicklung in Deutschland seit hundert
Jahren zu.
Im antiken Weltbild spielt die Beobachtung
von Versteinerungen, die auch schon gemäß dem
vielen Menschen innewohnenden Sammeltrieb als
Merkwürdigkeiten aufbewahrt wurden, keine Rolle ;
in naiver vorurteilsfreier Empirie ziehen die grie-
chischen und römischen Schriftsteller aus dem
Vorkommen von versteinerten marinen Organis-
men den selbstverständlichen Schluß auf frühere
Veränderungen in der Verteilung von Wasser und
Land. Daran konnte die christliche Weltauffassung
leicht anknüpfen, indem sie die Versteinerungen
einfach als Überbleibsel der Sintflut erklärte. Aber
es entging den Theologen nicht, daß manche
Versteinerungen ganz anders aussehen als die
Pflanzen und Tiere, die noch jetzt leben. Da
man sich in wörtlicher Auslegung des mosaischen
Schöpfungsberichtes die Organismen so geschaffen
dachte, wie sie jetzt sind, schien zwischen Be-
obachtung und Bibel ein Widerspruch, der eine
Erklärung im Sinne der letzteren notwendig
machte. Nun hatte schon der berühmte aus
Persien stammende Avicenna (geb. 980) die
seltsame Hypothese hinterlassen, daß ein Gestal-
tungstrieb (vis plastica) im Schöße der Erde die
Versteinerungen schaffe. Diese Ansicht, durch die
nicht das Geringste erklärt und nur ein geheim-
nisvoll mystischer Begriff eingeführt wird, fand
bei den Scholastikern einen fruchtbaren Boden.
Überall entstanden eifrige Verfechter des Gestal-
tungstriebs oder der versteinernden Kraft (vis
Lapidibus, herbis, verbis.
lapidificata), die mit ihrem leeren Wortspiel die Ver^
Steinerungen lediglich als Naturspiele (lusus naturae)
oder Figurensteine (lapides figurati) erklärten,
welche mit oder ohne Mitwirken der Gestirne
in den anorganischen Stoffen organische Formen
nachahmen. Nahezu drei Jahrhunderte wurden
mit Streitigkeiten und Mönchsgezänke über diese
Frage vergeudet. In Deutschland sah F. Chr.
Lesser noch 1735 in seiner „Lithotheologie oder
NatürUchen Historie und geistlichen Betrachtung
der Steine" in den Figurenstein'en Beweise für die
Allmacht, Weisheit, Güte und Gerechtigkeit des
Schöpfers, trotzdem ein L e i b n i z in der Protogaea
von 1680 gegen die Anzweifler der organischen
Natur der Versteinerungen entschiedene Verwah-
rung eingelegt hatte. Wie verhängnisvoll die
Lehre von den Naturspielen für die Wissenschaft
war, zeigt der tragikomische Fall des Würz-
burger Prof. Johann Bartholomaeus Adam
Beringer. Ein Jesuit namens Rodrik
hatte künstlich Versteinerungen hergestellt, um
Beringer auf die Probe zu stellen. In der Tat
ließ B e r i n g e r 1 726 die Falsifikate als These unter
seinem Präsidium durch Hueber, einen jungen
Doktor, verteidigen. 1737 trat Johann Chri-
stian Kundmann aus Breslau gegen Beringers
„Lithographia Wirceburgensis" auf. Beringer
erkannte den Possen, den man ihm gespielt, zog
alle Exemplare seines Buches, deren er habhaft
werden konnte, zurück und bewahrte sie bei sich.
Beringer und sein Irrtum würden heute ganz
vergessen sein, hätte nicht ein spekulativer Buch-
händler in Leipzig die zurückgelassenen Exemplare
gekauft und 1767 mit einem neuen Titelblatt
unter dem Namen des echten Verfassers erscheinen
lassen.^)
Diese Verirrungen mußten notwendigerweise
in sich selbst zusammenbrechen. Das schöne und
mutige Wort Joh. Jakob Scheuchzers aus
Zürich gegen die Verteidiger der Naturspiele 1708:
„Die Natur muß ihr selbst eigener Advokat und
eine jede auch ungestudierte Vernunfft der Richter
sein", gewann immer mehr Nachfolger, aber noch
■) Wer sich näher für dieses Kulturkuriosum interessiert,
sei auf die Naturw. Wochenschr. 1917, S. 719 verwiesen.
Vgl. auch Kundmann, Seltenheilen der Natur und Kunst
Breslau und Leipzig 1737, S. 102 und 103. Ein mir im
Original vorliegendes Albumblatt Beringers vom 4. Oktbr.
173z lautet „Melior est mors quam vita amara et re<iuies
aeterna quam languor perseverans."
3o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
wurde die Sintflut für alles verantwortlich gemacht.
Dazu kam die Entwicklung des Bergbaus und des
Hüttenwesens, durch die das Vorkommen der
Versteinerungen in den verschiedenen Gesteins-
schichten mehr und mehr bekannt wurde. Für
die Sammler von Merkwürdigkeiten der Natur
gab es eine reiche Ausbeute, mit wahrem Bienen-
fleiß bemühte man sich namentlich in Deutsch-
land, Versteinerungen in Naturalienkabinetten zu
vereinigen und „zur Gemüts- und Augenergötzung"
in Kupferstich • Folianten zu veröfifentlichen. Die
vier Foliobände, von denen der Sammler und
Künstler Georg Wolfgang Knorr 1755 den
ersten, die übrigen nach dessen Ableben der
Jenenser Professor Johann Ernst Immanuel
Walch 1768 — 69 herausgab, übertrafen alles bis-
her Erschienene an Güte der Abbildungen, wäh-
rend der Text eine zwar sehr schätzenswerte, aber
keine neuen Gedanken enthaltende Kompilation
darstellt. Wurden so in rein beschreibender Be-
ziehung auf dem Gebiete der Versteinerungskunde
wie der Erdgeschichte vortreffliche Werke ge-
schaffen, so konnte man doch noch um 1780
in bitterer Ironie behaupten, daß die Geologen
gleich den römischen Auguren sich nicht begegnen
könnten, ohne zu lachen, und Voltaire spottete :
„Chacun fit son Systeme, et leurs doctes legons
Sembloient partir tout droit des petites maisons."
Noch fehlte der Versteinerungskunde, um als
Wissenschaft auftreten zu können, die Methode.
Zwar hatte schon der große Experimentator
Robert Hooke, der Rival Newtons, dessen
posthume Werke 1705 erschienen, es für möglich,
wenn auch für sehr schwierig gehalten, eine Chro-
nologie der Versteinerungen herzustellen; man
könne sich denken, daß ebenso, wie Münzen mit
dem Bildnis eines Regenten eben dadurch die
Epoche ihrer Prägung genau zu bestimmen ge-
statteten, durch den Vergleich zweier in den
Schichten A und B entdeckter Versteinerungen
die Frage, ob A oder B früher abgesetzt worden
sei, der Entscheidung zugeführt werden könne.
Freilich sollte sich dies nur auf den Zwischen-
raum zwischen dem ersten Schöpfungstage und
der Sintflut beziehen. Was Hooke angedeutet
hatte, sprach der geniale Bu ff on 1778 rücksichts-
los aus, indem er den biblischen 6000 Jahren
entgegentrat, aber von dem Zusammenhang der
chronologischen Entwicklung der Versteinerungen
mit der Aufeinanderfolge der geschichteten Ge-
steine hatte auch Buffon noch keine richtige
Vorstellung. Zu dieser Einsicht bedurfte man
der bahnbrechenden Arbeit des Mannes, der 191 8
an seinem hundertjährigen Todestag als der Be-
gründer der modernen Geologie gefeiert werden
durfte, Abraham Gottlob Werner an der
Bergakademie zu Freiberg, der die Lagerungsver-
hältnisse der verschiedenen Gesteinsschichten zuein-
ander und ihre Altersfolge studierte und be-
gründete. Den Versteinerungen freilich schenkte
Werner nur wenig Beachtung.
Vor Werners Lehrkanzel zu P'reiberg, von
der aus zum ersten Male die neue Wissenschaft
der Geologie einer Schar begeisterter Schüler,
darunter Alexander von Humboldt, Leo-
pold von Buch, d'Aubuisson deVoissins,
verkündet wurde, saß 1791 Ernst Friedrich
Freiherr von Schlotheim. Obwohl Schlot-
heim später der Jurisprudenz sich zuwandte —
er wurde 181 7 Präsident des Kammerkollegiums
in Gotha — blieb in ihm doch das Interesse für
Geologie lebendig, und er bemerkte beim Sammeln
von Versteinerungen in Thüringen bald, daß die
verschiedenen Gesteinsschichten besondere Ver-
steinerungen enthalten und daß die gleichen For-
men stets in der nämlichen Schicht wiederkehren,
auch wenn die Gesteinsbeschaffenheit sich ändert.
Die Versteinerungen oder Fossilien sind daher von
größter Wichtigkeit für die Altersbestimmung und
Identifizierung der Schichten. Diese wichtige Er-
fahrungstatsache sprach Schlotheim schon 1 8 1 3
aus und beschrieb das geologische Vorkommen
von über 1000 Arten durch lateinische Gattungs-
und Artnamen nach dem Prinzip von Linne, der
allerdings die Fossilien zum Steinreich gerechnet
und so die Entwicklung dieses Zweiges der be-
schreibenden Naturwissenschaften kaum gefördert
hatte. Schlotheim ergänzte seine wegen der
stürmischen Zeitereignisse 1804 unvollendet ge-
bliebenen Beiträge zur Flora der Vorwelt 1820
durch seine Petrefaktenkunde auf ihrem jetzigen
Standpunkte.
Mit diesem Werk war gerade vor hundert
Jahren für die Erforschung der Pflanzen der geo-
logischen Perioden das Fundament und die Methode
einer Wissenschaft gewonnen, die, wie Alexander
von Humboldt vortrefflich sagt, der Lehre von
den starren Gebilden der Erde wie durch einen
belebenden Hauch Anmut und Vielseitigkeit ver-
leiht. Die Methode der neuen Wissenschaft, für
die 1821 in Frankreich die Bezeichnung Paläonto-
logie aufkam, ist für das Teilgebiet, das sich mit
den Pflanzen beschäftigt, der Phytopaläontologie,
die systematisch-botanische und die historisch-
geologische Untersuchung. Eine unmittelbare,
praktisch verwertbare Folge des Fortschrittes
dieser Wissenschaft war die durch das Studium
der fossilen Pflanzen und Tiere gegebene Mög-
lichkeit der Beurteilung, ob man über oder unter
dem Horizont eines zu erzielenden nutzbaren
Produkts, z. B. Kohle, sei, einen Gesichtspunkt,
den auch A. v. Humboldt geltend machte, als
die Schlotheimsche Sammlung 1832 vom
preußischen Staat für Berlin erworben werden
sollte, wo sie sich jetzt im Museum für Natur-
kunde in der geologisch-paläontologischen Samm-
lung befindet.
In ähnlicher Weise wie Schlotheim wandte
sich gleichfalls ein hochgebildeter und begabter
Dilettant, Kaspar Maria Graf von Stern-
berg, derartigen Studien zu. Ursprünglich zum
geistlichen Stande bestimmt, wurde er 1803, als
das Bistum Regensburg dem Fürst-Primas Karl
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
307
von Dalberg zugeteilt worden war, von diesem
zur Leitung der Geschäfte nach Regensburg be-
rufen. Seit 1795 war Sternberg von seinem
Freund Graf Bray für Naturstudien, namentlich
botanischer Richtung, gewonnen worden. Für die
Fhytopaläontologie erwachte bei S t e r n b e r g ein
spontanes und dauerndes wissenschaftliches Inter-
esse 1805 in Paris, wo er durch Humboldts
Vermittlung den Naturforscher FaujasdeSaint-
Fonds kennen lernte. Eine nur wenige Seiten
umfassende Notiz dieses Gelehrten über fossile
Pflanzen von Rochesauve führte die beiden Män-
ner zusammen, als hätten sie schon auf einem
anderen Planeten miteinander gelebt. Faujas
ließ sich von Sternberg die erste Abteilung
des 1804 erschienenen Werkes von Schlot-
heim über die Flora der Vorwelt übersetzen,
und Sternberg war fonan für die Phytopaläon
tologie gewonnen. Ihr widmete er sich, als er
nach Errichtung des Rheinbundes auf seine Stelle
resigniert und sich auf sein Gut zu Biezina bei
Prag zurückgezogen hatte, ganz, und die Frucht
war das ausgezeichnete Werk „Versuch einer
geognostisch- botanischen Darstellung der Flora der
Vorwelt" 1825—1838, das nur durch das gleich-
zeitig, aber unabhängig von Sternberg er-
schienene, leider unvollendet gebliebene Werk von
Adolphe Brongniart „Histoire des vegetaux
fossiles" 1828 — 1844 durch jene Klarheit der Ein-
teilung und elegante Einfachheit des Stils über-
troffen wird, welche Brongniarts Werk zur
ältesten grundlegenden Quelle der wissenschaft-
lichen Phytopaläontologie macht. Dieses Werk
eines Gelehrten, der jeder Zoll ein Naturforscher
war, ist würdig des Mannes, der die Widmung
annahm: Cuvier, durch dessen Untersuchungen
über die fossilen Knochengebilde für die Zoologie
eine neue Ära begann, wie die Forschungen
Brongniarts und seiner Vorgänger in Deutsch-
land, auf die sich jener ausdrücklich beruft und
stützt, die neue Wissenschaft der Phytopaläonto-
logie begründeten.
Indes die Phytopaläontologen hatten gegenüber
den Zoologen einen großen Nachteil mit in Kauf
zu nehmen: die Unvollständigkeit der fossilen
Pflanzenreste. Die weitgehenden und exakten
Folgerungen, zu denen die Zoologen seit Cuviers
meisterhaftem Werk aus dem Studium der fossilen
Knochen und Zähne gelangt sind, lassen sich aus
den pflanzlichen Fossilien in weit geringerem
Maße und mit viel weniger Sicherheit ableiten.
Man kann daher mit Recht sagen, daß das Mikro-
skop der Phytopaläontologie eine neue Welt er-
schlossen hat. Das Verdienst, das fossile Material
der mikroskopischen Untersuchung zugänglich ge-
macht zu haben, gebührt dem englischen Optiker
Nicol, der zuerst von fossilem Holz, Kohlen und
anderen Pflanzenresten mit erhaltener Struktur
kleme, in bestimmter Richtung orientierte Scheiben
bis zur Durchsichtigkeit unter dem Mikroskop ge-
schliffen und poliert hat, um sie dann in gleicher
Weise wie lebende Organismen mikroskopisch zu
untersuchen. Das klassische Werk, in dem zu-
erst für die Phytopaläontologie das Götterge-
schenk des zusammengesetzten Mikroskops zu
exakter Beobachtung und bildlicher Darstellung
angewendet wird, ist Henry Witham's of
Lartingtoni833 erschienene Monographie „The
internal structure of Fossil Vegetables".
Schon vorher hatte in Deutschland 1832
Bernhard von Cotta, ein Sohn des berühmten
Tharandter Forstmannes, die Sammlung seines
Vaters von mehr als 500 geschhffenen Hölzern
aus Chemnitz mit Hilfe des einfachen Mikroskops
in seinem ErstUngswerk „Die Dendrolithen in Be-
zug auf ihren inneren Bau" untersucht. Cottas
in ihrer Art einzige Sammlung kam später in das
Berliner geologisch-paläontologische Institut, wo
sie eine noch lange nicht erschöpfte Fundgrube
für exakte Untersuchungen bildet. Von bedeuten-
den Sammlern ist noch der bayerische Regierungs-
direktor Georg Graf zu Münster (f 1844) zu
nennen, ein hochbegabter Dilettant, dessen Privat-
sammlung, 1841 von Ludwig L von Bayern er-
worben, den Grundstock der Münchener Staats-
sammlung lieferte ; ferner der vielseitige Breslauer
Botaniker Heinrich Robert Goeppert (11884),
dessen überaus reichhaltige Kollektion fossiler
Pflanzen einen der wertvollsten Bestandteile der
Breslauer geologisch-paläontologischen Sammlung
bildet. Für die Historiker der Medizin mag es
interessant sein, daß der berühmte Beriiner Kliniker
S c h ö n 1 e i n , der selbst so spärliche literarische
Spuren hinteriassen hat, auf seinem Ruhesitz zu
Bamberg der fossilen Flora Frankens lebhaftes
Interesse schenkte, eifrig sammelte und die Ver-
steinerungen vortrefflich zeichnen Heß; nach seinem
Tode gab sie der Botaniker August Schenk
1806 heraus. Ein Berliner Zeitgenosse Schön -
leins, Christian Gottfried Ehrenberg,
wurde, von der Schönheit und Mannigfaltigkeit
der Kieselalgen oder Diatomeen in ähnlicher Weise
gefesselt wie später Haeckel von den Radio-
larien, so daß er die teilweise in Massen als Ge-
steinsbildner (Kieselgur) auftretenden fossilen so-
wie die lebenden Diatomeen zu seinem Lieblings-
und Lebensstudium erkor und in einem prächtigen
Werk, der Mikrogeologie, 1854 in Wort und Bild
festhielt. Einer gewissen Berühmtheit erfreut sich
namentlich in populären Darstellungen das Dia-
tomeenlager unterhalb Beriins, bei dem es sich
indes nur um fossile Diatomeen enthaltende
Schlammablagerungen handelt.
Diese Männer und ein kleiner Kreis von Mit-
arbeitern verschiedener Länder hatten sammelnd
und beschreibend, mikroskopierend und zeichnend
das empirische Material sowohl nach der bota-
nischen wie nach der geologischen Seite hin nicht
wenig gefördert, aber nur einzelne wagten schüch-
tern über das bloße Beschreiben, das gelegentlich
zu einer geistlosen Artenkrämerei herabsank, zu
allgemeineren, nomothetischen Gesichtspunkten
vorzudringen. Da steht im Vordergrunde das Er-
gebnis, daß die Lebewelt der geologischen Ver-
3o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
gangenheit nicht durch eine riesige Flut oder
Katastrophe anderer Art vernichtet wurde, sondern
zu wiederholten Malen. Wie sie mehrmals unter-
ging, erstand sie auch mehrmals von neuem,
durch Neuschöpfung oder Nachschöpfung. Nicht
alle Forscher verstanden darunter einen Schöpfungs-
akt Gottes. C u V i e r nahm an, daß nach der
Vernichtung einer bestimmten Organismenwelt
eine neue von irgendwoher einwanderte. Da-
gegen erkennt Schlotheim, der Vater der
Phytopaläontologie, zwar einige wenige Erdrevo-
lutionen an, bestreitet aber ganz entschieden, daß
die Schöpfung gleichsam ein abgetanes Geschäft
in einem kurzen bestimmten Zeitraum sei, sondern
ins Unendliche fortwirkt und alles Mögliche und
Notwendige nach unveränderlichen Gesetzen in
den günstigsten Augenblicken hervorruft, verändert
und umbildet. Es war fast zum Dogma ge-
worden, daß jede Art einen besonderen Schöpfungs-
akt voraussetze und als unveränderliche konstante
Einheit von allen sonst noch so nahe verwandten
Formen streng geschieden sei. Feilich erkannte
schon um die Zeit des Geburtsjahres der Phyto-
paläontologie O k e n , daß sich während der
tierischen Entwicklungsgeschichte aus den Keim-
blättern die Organe durch morphologische und
anatomische Sonderung entwickeln ; Goethe
lehrte, daß sich durch Metamorphose ein Organ
in ein anderes umwandeln kann ; EtienneGeof-
froy Saint-Hilaire vollends glaubte die Ein-
heit des Bauplans aller Tiere bewiesen zu haben.
Alle diese Männer ließen der Phantasie und
Spekulation mehr die Zügel schießen, als einem
Naturforscher erlaubt ist; sie alle waren in diesem
Sinne Dichter, und ihre Übertreibungen konnten
von den Gegnern leicht widerlegt werden. Für
ihre Idee gab es zwar einzelne Tatsachen, aber
die folgerichtige Aneinanderreihung fehlte. Goethe,
der doch mit dem Grafen Sternberg befreundet
war und mit ihm in umfangreichem wissenschaft-
lichen Briefwechsel stand, suchte seine Urpflanze
in Sizilien, nicht etwa in der Steinkohlenperiode.
Es schien wirklich so, als treffe das bekannte
Wort, man lerne aus der Geschichte nur, daß
man aus ihr nichts lernen könne, auch auf die
geologische Geschichte der Organismen zu.
Glücklicherweise ist dies nicht der Fall. Dies
gezeigt zu haben, ist das unsterbliche Verdienst
Darwins. Nach seiner Abstammungslehre kön-
nen die Versteinerungen nichts anderes als die
Ahnen der jetztlebenden Organismen sein, das
natürliche System kann nur das ihrer Verwandt-
schaft, ihrer Herkunft, ihrer Abstammung sein.
Die paläontologische Entwicklung muß daher das
natürliche System zeitlich begründen und die
vorhandenen Lücken zeitlich ausfüllen. Indem die
Paläontologie die Beziehung der ausgestorbenen
Organismen zu ihrer Umwelt erforscht und mit
den noch jetzt im Experiment untersuchbaren
Einflüssen der äußeren Faktoren auf die gegen-
wärtigen Organismen vergleicht, sucht sie indirekt,
aber induktiv die mechanischen Ursachen jener
Umänderung festzustellen. Ihre wissenschaftliche
Aufgabe ist somit eine biologische und historische
zugleich, eine kausale und eine genetische.
Was hat die Phytopoläontologie zur Lösung dieser
schwierigen Fragen beigetragen?
Alle natürlichen Systeme schließen mit den
Abteilungen der Pteridophyten oder Farnpflanzen,
den Gymnospermen oder Nacktsamigen und end-
lich den Angiospermen oder Bedecktsamigen.
Aber zwischen diesen Abteilungen besteht, wenn
man nur die jetzt noch lebenden Pflanzen in Be-
tracht zieht, eine bedeutende Kluft, die anzeigt,
daß hier ganze Abteilungen von Vorfahren aus-
gestorben sein müssen, wenn dieses natürliche
System richtig sein soll. Diese Lücke vermag
die Phytopaläontologie in der Tat im Sinne der
Abstammungslehre auszufüllen. Durch sehr geist-
reiche mikro- und makroskopische Untersuchungen
namentlich der englischen Phytopaläontologen hat
sich herausgestellt, daß gewisse in der Steinkohlen-
formation seit längerem unter verschiedenen Na-
men bekannte Stämme mit Holzkörper, Rinden,
Blattstiele, von Farnblättern nicht zu unterschei-
dendes Laub zusammengehören und den Cycadeen
oder Farnpalmen ähnliche Samen getragen haben
müssen , in denen selbst die eingedrungenen be-
fruchtenden männlichen Samenzellen mehrfach
unter dem Mikroskop noch nachgewiesen wurden.
Der Beweis der Zusammengehörigkeit der Samen
mit den vegetativen Organen wurde von Oliver
und Scott 1904 dadurch erbracht, daß sie die
Übereinstimmung der Struktur der Samen tragen-
den, mit Drüsen besetzten Stiele und der die
Samen umgebenden, Drüsen tragenden Hülle so-
wohl unter sich als auch mit der Struktur der
Blattstiele mikroskopisch einwandfrei festeilen
konnten. Man bezeichnet diese eigenartigen fos-
silen Pflanzen als Lyginodendren und hat eine
ganze Anzahl anderer hierher gehöriger, wenn-
gleich noch nicht so gut bekannter Typen kennen
gelernt, wie die schon von Cotta untersuchten,
jetzt MeduUosen genannten Dendrolithen. Es
wurde klar, daß hier eine sehr reich entwickelte,
ausgestorbene Abteilung der Nacktsamigen ans
Licht getreten war, die den Farnen sehr viel
näher steht als alle lebenden Vertreter, und sich
unter den Nacktsamigen am nächsten an deren
primitivste Familie, die Cycadeen oder Farnpalmen,
anschheßt. Der Name Cycadofilices , der sich
dem verstorbenen Berliner Phytopaläontologen
Potonie 1897 für die Gruppe aufdrängte, bringt
diese Beziehungen vortrefflich zum Ausdruck.
Eine weitere Lücke zeigt das natürliche System
zwischen den Nacktsamigen und Bedecksamigen
an. Die bedecktsamigen Blütenpflanzen erscheinen
nach den paläontologischen Funden erst in der
Formation der unteren Kreide. Wo kommen sie
her, wer waren ihre Vorfahren ? Diese Frage
hat die Phytopaläontologie zwar noch nicht ent-
schieden, aber wichtiges empirisches Material zu
ihrer Entscheidung in die Diskussion werfen
können. Es ist dies die Entdeckung der ersten
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
fossilen zwitterigen Blüte, bei der die männHchen
und weibhchen Geschlechtsorgane angeordnet sind
wie bei vielen Blütenpflanzen, z. B. den Magnolien.
Diese Entdeckung, die bedeutendste der Phyto-
paläontologie überhaupt, gelang dem amerikani-
schen Paläontologen G.R. Wieland 1899 durch
die mikroskopische Untersuchung strukturhaltiger
Pflanzen, bei denen alle Teile einschließlich der
Bluten noch im Zusammenhange waren. Seitdem
hat Wieland an 1000 derartiger Pflanzen unter-
sucht, aber kein schöneres Beispiel dieser ausge-
storbenen Gruppe gefunden als jenes so lange
unbeachtet gebliebene Exemplar im Zwinglr-
Museum zu Dresden, das Walch 1771 für die
Krone einer Palme gehalten hatte. Daß diese
fundamentale Entdeckung einem Amerikaner zu-
fiel, daran tragt der Umstand mit Schuld, daß
man das Dresdener Fossil um jeden Preis äußer-
lich unverletzt erhalten wollte und so die ungleich
wichtigeren Aufschlüsse über die inneren Verhält-
nisse nicht gewinnen konnte, ein Grundsatz der
jetzt hoffentlich auch in Deutschland einem ver-
gangenem Zeitabschnitt der Paläontologie ange-
hört. Die Forschungen über diese Pflanzengruppe,
die Bennettitales, sind gegenwärtig im vollen
t'luß. Aber so viel ist sicher, daß diese Gruppe
sich in vieler Beziehung enger an die Bedeckt-
samigen anschließt als alle anderen Nacktsamigen
und auch zeitlich erlischt, wo die ersteren auf-
treten.
,.. Nicht Geringeres hat die Phytopaläontologie
für die Präge der Herkunft der einzelnen Floren
geleistet. Darwin vertrat die Ansicht, daß wäh-
rend der Eiszeit mit dem Vorschreiten der skan-
dinavischen Gletscher eine arktische Flora nach
den mitteleuropäischen Ebenen und Gebirgsländern
vordrang und hatte darin eine einfache Erklärung
für das Vorkommen so vieler arktischer Arten in
den Alpen finden woller. Diese Hypothese hatte
24 Jahre existiert, als A. G. Nat hörst 1870 auf
Schonen die ersten fossilen Glazialpflanzen ent-
deckte, unter denen besonders Zwergbirken und
Zwergweiden eine große Rolle spielen. Seitdem
ist die Glazialflora in Europa an den verschieden-
sten Orten im Bereiche der einstigen Vereisung
nachgewiesen worden. Die Lagerstätten von
Pflanzenresten der Eiszeit sind für die Frage nach
deni Wechsel der Vergletscherungsperioden mit
Zwischeneiszeiten von größter Wichtigkeit, da die
Zusammensetzung der fossilen Flora am ehesten
^■^.„'"^^^^^"f ^^^ Klima der betreffenden Schichten
zulaßt. So wuchs nach den phytopaläontologischen
Untersuchungen des Wiener Botanikers R v Wett-
stein während der letzten Zwischeneiszeit in der
Umgebung von Innsbruck das pontische Rhodo-
dendron, das heute im Gebiet des Schwarzen
Meeres vorkommt. Sehr interessant ist auch der
Nachweis, daß in solchen zwischeneiszeitlichen
Ablagerungen Pflanzen auftreten, die gegenwärtig
in Europa nicht mehr vorkommen, wohl aber in
Nordamerika. Die Beziehungen der Flora der den
Eiszeiten vorausgehenden Tertiärperiode werden
309
erst dann zuverlässiger begründet sein, wenn dem
kritischen Lauterungsprozeß, den der verstorbene
Leipziger Botaniker AugustSchenk auf diesem
Gebiete . begonnen hat, eine Untersuchung mit
neuen Methoden und Fragestellungen folgt. Dabei
werden die von A. G. Nathorst seit etwa 190;
inaugurierte Mazeration von kohlig erhaltenen
Pflanzenresten sowie die von den Italienern
L. Buscalioni und Vinassa deRegny 1901
eingeführte mikroskopische Untersuchung von
Kollodiumhäutchen fossiler Organismen ebenso
wichtige Aufklärungen geben wie sie diese Me-
thoden schon bisher an zweifelhaften fossilen Fun-
den geliefert haben. Es würde den Rahmen einer
historischen Untersuchung überschreiten, wenn
hier auf die vielen und schönen gesicherten Er-
gebnisse der modernen Phytopaläontologie einge-
gangen würde. Nur der Anteil deutscher For-
scher auf diesem Gebiete sei kurz angeführt. An
erster Stelle steht der bedeutendste deutsche
Phytopaläontologe, der 1914 verstorbene Botaniker
Hugo Graf zu Solms-Laubach. Obwohl
dieser Forscher in der Phytopaläontologie keine
Schuler besaß, hat doch seine grundlegende Ein-
leitung in die Phytopaläontologie 1887 in Eng-
land Schule gemacht und dort an den glänzenden
Fortschritten dieser Wissenschaft mitgewirkt
Nach der geologischen Seite hin hat zuerst die
Preußische Geologische Landesanstalt und Berg-
akademie der Bedeutung der Phytopaläontologie
durch Schaffung eines paläobotanischen Instituts,
bisher des einzigen in Deuschland, unter dem
19 13 verstorbenen Henry Potonic Rechnung
getragen; Potonies Schüler und Nachfolger
W. Gothan hat jetzt in der zweiten umge-
arbeiteten Auflage des Lehrbuches seines Lehrers
eine dem gegenwärtigen Standpunkt der Wis-
senschaft entsprechende kritische Übersicht des
Gesamtgebietes in systematischer Anordnung
gegeben. Von Potonie ging auch 19 12 die
Gründung einer paläobotanischen Zeitschrift aus
und 1914 der Plan einer Internationalen Paläo-
botanischen Gesellschaft in Verbindung mit einem
Paläobotanischen Zentralblatt aus; beides läßt sich
jetzt nicht ausführen. Dagegen kann der gelehrte
Berliner Antiquar W. Junk, der sich schon
durch einen Neudruck von Brongniarts klassi-
scher Histoire des vegetaux fossiles den Dank der
Phytopoläontologen erwarb, seinen Fossilium Ca-
talogus, ein wissenschaftliches Verzeichnis aller
bekannten fossilen Organismen, weiter erscheinen
lassen.
Den Schleier, der über den ältesten präkam-
brischen Bewohnern der Erde liegt, vermochte
mein verstorbener Lehrer Rothpletz, der her-
vorragende Vertreter der Geologie der Alpen
noch nicht zu lüften; das Urtier Eozoon erwies
er gleich früheren Forschern und damit für immer
als chemisch entstandene Konkretionen in Gneis
— die Urpflanze Eophyton hatte sich als Schlepp-
spur von Medusenarmen der unterkambrischen
Zeit entpuppt. Doch hat R o t h p 1 e t z wenigstens
3IO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
die Kenntnis der Bedeutung der Kalkalgen für
die Entstehung von Kalkgesteinen wesentlich
fördern können. In bescheidenerem Rahmen be-
wegte sich Leben und Forschen eines anspruchs-
losen Gelehrten und Sammlers, des gleichfalls
verstorbenen Sterzel, der in dem schönen
König Albert-Museum und dem versteinerten
Wald sich selbst das schönste Denkmal und der
Stadt Chemnitz ein unvergängliches Wahrzeichen
geschaffen hat: die bis 20 m hohen versteinerten
Riesenbäume, deren Struktur an die der Araukarien
erinnert, sind dem Phytopaläontologen ebenso
merkwürdig wie die reiche Sammlung von Me-
dullosen, jener für die Stammesgeschichte der
Nacktsamigen so bedeutsamen Pflanzengruppe, an
der, vor hundert Jahren, die Heroen der Phyto-
paläontologie vergeblich ihren Scharfsinn versucht
hatten.
Aber nicht nur in Deutschland haben deutsche
Forscher und Sammler fossile Pflanzen gesammelt,
auch aus den Tropen haben sie der Wissenschaft
neues Material zugeführt: an erster Stelle unser
Georg Schwein furth, der Altmeister der
Afrikaforschung, der die Proben der berühmten
versteinerten Wälder von Ägypten mitbrachte,
welche Max Blanckenborn und Ernst
V. Stromer, Zittels Spuren aufnehmend, er-
folgreich ergänzten, so daß zu erwarten steht,
dieses Desidorat der ägyptischen wie der allge-
meinen Paläontologie werde noch gelöst werden;
Gottfried Merzbacher füllte durch die bei
seiner Erforschung des Tian-Schan gemachten
fossilen Pflanzenfunde eine Lücke in der Phyto-
paläontologie Asiens aus ; Lenore Selenka zog,
auf den Spuren des Pithecanthropus, zu Trinil auf
Java nicht nur die Tierwelt, sondern auch die
Pflanzenwelt, mit der zusammen jene menschen-
ähnliche Übergangsform hauste, ans Licht; Hans
Reck, bei den Ausgrabungen am Tendaguru in
Deutsch- Ostafrika vom Kriege überrascht, hat
durch die großartigen Funde jener Expedition aus
dem Lande, das uns der Krieg nahm, der Wissen-
schaft eine neue Provinz erobert und neben vielen
unbekannten ausgestorbenen Tieren Reste ge-
waltiger fossiler Wälder mitgebracht, die noch
der Untersuchung harren.
So waren Deutsche seit hundert Jahren für
die Wissenschaft der Phytopaläontologie tätig,
die den meisten kaum dem Namen nach bekannt
ist und als Lehrgegenstand an unseren Hoch-
schulen nicht existiert. Könnte sich die Not-
wendigkeit ihrer Einführung besser beweisen lassen
als durch die beispiellose Entwicklung, die diese
im Verhältnis zur Botanik junge Wissenschaft in
hundert Jahren genommen hat? Hat nicht ein
Deutscher vor hundert Jahren die neue Epoche,
in der die Phytopaläontologie Wissenschaft wurde,
als Pionier eröffnet? Haben nicht Deutsche auf
die Entwicklung dieser Wissenschaft im Ausland
unbestrittenen Einfluß ausgeübt? Birgt nicht
Deutschland in seinen Sammlungen und in seinem
Boden noch ungehobene Schätze, die für jede
phytopaläontologische Frage urkundliches Material
liefern ? Hat nicht das zum Aufbau doppelt nötige
Schürfen nach Brennstoffen und nutzbaren Boden-
produkten die Dienste der Phytopaläontologie
nötiger denn je? Gibt es für die Abstammungs-
lehre, die, kritisch getrieben, mit der Religion
niemals in Konflikt kommen kann, ein lohnenderes
Feld als die Paläontologie auch der Pflanzen?
Darf der Volksbildner, dem es mit seiner ebenso
schwierigen wie schönen Aufgabe wahrhaft ernst
ist, an diesem Vergangenheit und Gegenwart,
Geologie und Botanik so harmonisch verknüpfen-
den Band noch vorübergehen? Endlich sollte
nach dem Jammer und der Barbarei des Krieges,
während dessen Dauer wir den Verlust nahmhafter
Phytopaläontologen nicht nur in Deutschland zu
beklagen haben, auf die Wenigen, die das Gebiet
pflegen, dieses nicht vereinigend wirken.^ Darum
bin ich der Meinung, nicht dem Verfall geweiht,
wie in übertriebenem Pessimismus ein öster-
reichischer Kollege glaubt, sondern erhobenen
Hauptes kann, ja muß die Phytopaläontologie
hintreten vor den Vorsitzenden der Notgemein-
schaft für die Wissenschaft und diejenigen, welche
den Lebensnerv aller Wissenschaft im Staate zu
hüten berufen sind, und fordern, wozu sie durch
hundertjährige Erprobung als selbständige Wissen-
schaft legitimiert ist: freiwillige Förderung,
freiwillige Anerkennung. Die Männer alle, von
Schlotheim bis auf unsere Tage mögen durch
ihr Werk Zeugnis ablegen für eine so notwendige
wie bedeutsame Aufgabe ; sie alle sollen durch ihr
Beispiel auf uns wirken, ihnen zu folgen, so weit
wir es vermögen, ja sie noch zu übertreffen —
eingedenk des Dichterwortes, das ein nach dem
Höchsten ringender und sich aufzehrender Mensch,
das Schiller uns als ewiges Vorbild hinter-
lassen hat:
„Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet,
Rauscht der Wahrheit tief versteckter Born ;
Nur des Meifiels schwerem Schlag erweichet
Sich des Marmors sprödes Korn."
[Nachdruck verboten.]
Über den Kreislaufprozeß des Wassers.
Von Prof. Dr. Fr. Nölke, Bremen.
In Nr. 6 der Naturw. Wochenschr. spricht Herr den ungeheuren darüber lastenden Druck bestän-
Prof W. Halb faß die Vermutung aus, daß der dig Wasser in die den Boden bildenden Gesteins-
Wasservorrat der Erde sich stetig verringern schichten hineingepreßt, und ferner, weil durch
müsse, einmal weil am Boden der Ozeane durch unausgesetzt sich vollziehende Kristallisationsvor-
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
gange in der Natur Wasser chemisch gebunden
werde. Da aber der Wasservorrat der Erde
wenigstens in den letzten 2000 Jahren sich nicht
merklich verringert habe, kommt er zu dem
Schlüsse, daß irgendeine Quelle kosmischen Cha-
rakters vorhanden sein müsse, aus der sich das
verschwindende Wasser beständig erneuere und
weist darauf hin, daß möglicherweise der von
Hör biger und Fauth in ihrer Glazialkosmo-
gonie angenommene kosmische Eiszufluß diese
beständig fließende Quelle sei.
An dieser Stelle kann es nicht unsere Aufgabe
sein, die Grundlagen und Schlußfolgerungen der
blazialkosmogonie kritisch zu prüfen. Wenn der
„Wissenschaft" aber von einem Manne, der doch
selbst wohl als einer ihrer Vertreter angesehen
und geachtet zu werden wünscht, daraus ein Vor-
wurf gemacht wird, daß sie der Glazialkosmogonie
gegenüber eine reservierte oder ablehnende Stel-
lung einnimmt, so halten wir es für unsere Pflicht
die Wissenschaft in Schutz zu nehmen. Eine
Rechtfertigung derselben ist nicht nur deswesen
unerläßlich, weil der Vorwurf in einer wissen-
schaftlichen Zeitschrift erhoben wird und in den
Augen des Lesers zu Recht bestehen würde, wenn
er kerne Zurückweisung erführe, sondern auch
deswegen, weil die Urheber der Glazialkosmogonie
die Wissenschaft, auf der sich ihre Untersuchungen
doch, wie der pompöse Titel ankündigt, aufbauen
soll, einfach ignorieren, wo sie ihnen nicht genehm
ist, und die fast kindlich zu nennende Dreistig-
keit, mit der dies geschieht, und mit der die Ver-
fasser ihre eigenen Phantasien an die Stelle völlig
gesicherter wissenschaftlicher Ergebnisse setzen
den unbefangenen, mit den Einzelheiten der
wissenschaftlichen Disziplinen nicht genügend ver-
trauten Leser gefangen nehmen und sein Urteil
leicht bestechen könnte.
Uni ein Urteil über den wissenschaftlichen
Wert der glazialkosmogonischen Erörterungen zu
gewinnen, ist es nicht erforderlich, das umfang-
reiche Hauptwerk selbst zu studieren. Ein Aus-
zug aus seinem meteorologischen Teil, der aus
der Feder Hörbigers stammt, i) gibt eine völlig
genugende Probe. Wir wollen jedoch unser Ziel
noch naher stecken und uns auf das in dem Auf-
satze des Herrn Prof Halb faß behandelte Pro-
blem der Entstehung der Hagelwetter und hoch-
schwebenden Cirruswolken beschränken.
Nach Hörbiger-Fauth entstehen die Hagel-
wetter durch Eindringen von mächtigen Eiskörpern
in die Erdatmosphäre, die Cirruswolken durch kos-
mischen Feineiszufluß. Dazu ist folgendes zu be-
merken :
I. Während kleine meteorische Massen (die
Sternschnuppen), deren Gewicht nur einige Gramm
oder weniger beträgt, beim Eindringen in die
Erdatmosphäre sich gänzlich in Dampf verwan-
311
dein, gelangen größere Massen (die Meteore) viel-
fach bis in die tieferen Atmosphärenschichten und
fallen endlich, meistens in Bruchstücken, auf die
Erdoberflache. Ein solcher Meteorfall ist stets mit
einer gewaltigen Lichterscheinung und donner-
ahnhchem Krachen verbunden. Wenn die Hagel-
massen eines Hagelwetters, bei deren einem auf
I qm Bodenflache i Zentner Eis fiel, einem Eis-
korper entstammten, so müßte dieser also von
bedeutender Größe sein. Wenn nur wenige Kilo-
gramm schwere Meteore mit donnerähnlichem
Krachen niederstürzen, so müßte der Fall einer
solchen Masse ein jede Vorstellung übersteigendes
Getose verursachen. In Wirklichkeit sind aber
die Hagelwetter nur gelegentlich mit den Licht-
und Schallerscheinungen normaler Gewitter ver-
bunden.
2. In die Erdatmosphäre eindringende Meteore
besitzen eine durchschnittliche Geschwindigkeit
von 30 km/sec und mehr. Das Hagelwetter
welches Rußland am 24. Mai 1830 vom Baltischen
bis zum Schwarzen Meere in einer Ausdehnung
von 15 Längengraden und 10 Breitengraden ver-
wüstete, hätte also in der Stunde nicht mit 94 km
Geschwindigkeit fortschreiten können, sondern
wurde diese Strecke schon in wenigen Sekunden
durchlaufen haben.
3. Eine auseinanderbrechende große Eismasse
wird, was auch die Bruchstücke aufgefundener
Meteormassen erkennen lassen, in Teile sehr ver-
schiedener Größe zerfallen. Die Hagelkörner haben
aber durchschnittlich gleiche Größe.
4- Die mikroskopische Struktur der Hagel-
korner laßt erkennen, daß sie von innen nach
außen wachsen. Bruchstücke einer großen Eis-
masse können kein zentrisches Gefüge besitzen.
5. Die aufgefundenen Meteore enthalten stets
mehrere irdische Elemente oder chemische Ver-
bindungen, meistens Eisen, Nickel und Silikate
aber in verschiedener Mischung. Es wäre daher
zu erwarten, daß auch die kosmischen Eismeteore
mit Metallen oder Gesteinsmassen verbunden vor-
kamen d. h. man müßte bei Hagelwettern zwischen
dem Eis gelegentlich auch meteorischen Staub
antreffen. Davon aber wird nirgends berichtet.
6. Horbiger schätzt die durch Versickerune
eintretende jährliche Erniedrigung des mittleren
Ozeanspiegels auf 30 cm (a. a. O. S. 8). Hiernach
wurde der Erde jährlich als Ersatz eine Wasser-
menge aus dem Welträume zufließen müssen
welche die ganze Erde 20 cm hoch bedeckte
Nehmen wir nur 13 cm an, so käme auf die Zeit
emes Mondumlaufs um die Erde (27 V3 Tage) eine
Niederschlagsmenge von i cm. Nun ist die Um-
laufszeit eines Satelliten bei veränderlicher Masse
des Zentralkörpers dem Quadrate dieser Masse um-
gekehrt proportional.') Da die Masse einer die
M,r.l ^ 'v^'j'^^^ Wetterstürze, Hagelkatastrophen und
Marskanal- Verdoppelungen, von H. Hör biger, Kaysers Ver-
lag, Kaiserslautern 1913.
) Bedeutet k die Gravitationskonslante, M die Zenlral-
rZ' •^.<^"= ''"«"« Geschwindigkeit des Satelliten in seiner
Bahn r den Bahnradius, so ergibt sich aus den Gleichungen
des Zweikorperproblems das Integral c^ = kM : r Bezeichnet
man mit dem Index o die für den Anfang der EnSung
312
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
ganze Erde bedeckenden Wasserschicht von i cm
Höhe den i 200000000. Teil der Erdmasse be-
trägt, so müßte sich hiernach die Umlaufszeit des
Mondes bei jedem Umlauf um den 600000000.
Teil verkürzen. Der Gesamtbetrag der bei n Um-
läufen erfolgenden Verkleinerung der Umlaufs-
zeitensumme wächst dann mit dem Faktor n(n + 1 ) : 2.
In 100 Jahren, d. h. während 1330 Mondumläufen,
würde sich daher die Umlaufszeitensumme um
665-1331:600000000 = 0,00147, d. i. rund um
den 700. Teil der ursprünglichen Umlaufszeit ver-
ringern. Da diese 27 Vg Tage beträgt, so erhält
man für die Strecke, um die der Mond bei seinen
1330 Umläufen in seiner Bahn über den Punkt,
wo er sich im Falle gleichbleibender Erdmasse
befinden würde, vorausgeeilt wäre, eine Zeitdifife-
renz von 3300 Sekunden. Nun besitzt der Mond
tatsächlich eine als Störungswirkung nicht zu
deutende, meistens durch die Annahme einer
Rotationsverzögerung der Erde erklärte Be-
schleunigung der mittleren Bewegung. Diese be-
trägt aber nur 10 Sekunden im Jahrhundert. Wenn
man sie auf eine Vergrößerung der Erdmasse
durch kosmischen Eiszufluß zurückführen wollte,
so würde also folgen, daß dieser nur den 330. Teil
des angenommenen Wertes, d. h. jährlich noch
nicht 0,4 mm betragen könne.
Ein noch wesentlich kleinerer Wert ergibt sich
auf folgende Weise. Der Querschnitt der Erde
macht den 2000000000. Teil der Sphäre aus.
geltenden Werte und beachtet, daß gemäß dem Flächensatze
der Mechanik die von dem Radiusvektor in der Zeiteinheit
beschriebene Fläche unverändert bleibt, also er = Cor,, ist, so
folgt aus der angegebenen Gleichung Mr = M^Tß. Bezeichnet
n>an die Umlaufszeit des Satelliten mit t und setzt in der
ersten Gleichung c = 2r;r : t, so folgt t- : 1^^ = r'M„ : ro'M
und hieraus ergibt sich bei Berücksichtigung der Beziehung
Mr = M^rj, die neue Gleichung t : t(, = M^" : M*.
deren Mittelpunkt die Sonne und deren Radius
der Erdbahnhalbmesser ist. Wenn die der Erde
jährlich zufließende Menge kosmischen Wassers
eine Höhe von 20 cm erreicht, so berechnet sich
hieraus die in einem Jahre auf die Sonne stürzende
Eismasse zu rund 35 Erdmassen. ^) Infolge der
vergrößerten Anziehung der Sonne würde dann
die Jahresdauer von einem Jahre zum folgenden
sich um rund 2 Stunden verkürzen. Es steht je-
doch fest, daß die Dauer eines Jahres sich jähr-
lich noch nicht um den Bruchteil einer Sekunde
ändert, woraus umgekehrt folgt, daß von den
jährlichen Niederschlägen der irdischen Atmo-
sphäre noch nicht 0,03 mm dem Welträume ent-
stammen kann.'^)
Diese Überlegungen genügen, um den wissen-
schaftlichen Wert der H ö r b i g e r sehen Hypothese
eines kosmischen Eiszuflusses zur Erde in die
richtige Beleuchtung zu setzen. Und wie bei
diesem Teilproblem, so liegt es bei allen anderen,
die in der Glazialkosmogonie ihre Lösung finden.
Es ist zuzugeben, daß eine seltene Kombinations-
gabe die Urheber der Kosmogonie auszeichnet
und sie befähigte, die entferntesten Probleme
kosmogonischer, geologischer und meteorologischer
Art miteinander zu verknüpfen; aber die gewaltige
Arbeit ist nutzlos vertan, da sie mit unzulänglichen
Mitteln unternommen ist.
') Bei einer jährlichen Zunahme der Sonnenmassc um
35 Erdmassen würde die Sonne nur 9000 Jahre gebraucht
haben, um ihre ganze Masse zu sammeln, und die durch Um-
wandlung der kinetischen Energie der Fallbewegung ent-
stehende Wärme würde rund 3000 mal so groß als die von
der Sonne gegenwärtig ausgestrahlte sein I
'^) Am Boden der Ozeane findet wahrscheinlich nur ein
verschwindend geringer Verlust von Wasser statt, da die die
Ozeane unlerlagernden Gesteinsschichten mit Wasser längst
gesättigt sind.
[Nachdruck verboten.]
Zur Ausgestaltung der Schädlingsbekämpfung.
Von Prof. Dr. J. Wilhelmi,
wiss. Mitgl. d. Landesanstalt f. Wasserhygiene, Berlin-Dahlem.
Ein Kapitel aus der Geschichte der Versäum-
nisse könnte man den deutschen Entwicklungs-
gang der Schädlingsbekämpfung nennen. Wohl
hat die deutsche Forschung auf dem Gebiete des
Schädlingswesens gute Erfolge zu verzeichnen,
aber ungenügende Arbeitsmöglichkeit und besonders
die Unzulänglichkeit der Mittel haben nur eine
weit hinter den gesundheitlichen und wirtschaft-
lichen Bedürfnissen zurückbleibende Betätigung
auf dem Gebiete des Schädlingswesens gestattet.
Namentlich gilt dies für die praktische Durch-
führung der Schädlingsbekämpfung. Hier ist
Deutschland gegenüber den Vereinigten Staaten
von Amerika ins Hintertreffen geraten und zwar
sowohl hinsichtlich der Organisation der Schäd-
lingsbekämpfung als auch bezüglich der Anwen-
dung wirksamer Bekämpfungsmittel. Mit der
unter Führung von Prof. Dr. K. Escherich,
München, im Jahr 191 3 erfolgten Begründung der
Deutschen Gesellschaft für angewandte Entomolo-
gie wurde für ein Hauptgebiet des Schädlings-
wesens, nämlich für die praktische Insektenkunde,
eine wertvolle Zusammenfassung der bei uns gar
nicht spärlichen wissenschaftlichen Arbeitskräfte
geschaffen. Die Gesellschaft zeigte in Kürze ihre
Leistungsfähigkeit durch die neu begründete und
schnell aufblühende Zeitschrift für angewandte
Entomologie, welche die einlaufenden Veröffent-
lichungen kaum fassen konnte, sowie durch die
als Beihefte erscheinenden Monographien zur an-
gewandten Entomologie, ferner durch die Flug-
schriften und -blätter, sowie durch die Schädlings-
tafeln. Der Krieg veränderte auch hier die Ver-
hältnisse beträchtlich. In der Schädlingsbe-
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
313
kämpfungsbewegung geriet manches ins Stocken.
Anderes wurde in der Entwicklung gefördert.
Besonders zu erwähnen ist die Tätigkeit des dem
Kriegsministerium angegliederten Technischen
Ausschusses für Schädlingsbekämpfung (Tasch),
der mittels des bisher in Deutschland nicht ge-
bräuchlich gewesenen Verfahrens der Blausäure-
durchgasung Magazine, Kasernen, Mühlen, Schiffe
usw. von Ungeziefer befreite, und nunmehr nach
dem Kriege unter Erweiterung .der Arbeitsver-
fahren in die Deutsche Gesellschaft für Schäd-
lingsbekämpfung m. b. H. (Frankfurt a. M.) über-
gegangen ist. Mehr als Teilorganisationen hat
uns der Krieg jedoch nicht gebracht und heute
erschweren die Nachwirkungen des Krieges und
der Revolution den Ausbau der Schädlingsbe-
kämpfung, der gegenwärtig in Hinsicht auf die
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
Deutschlands notwendiger als je erscheint. Er-
freulich immerhin ist die — dank dem in Wort
und Schrift für die Entwicklung der Schädlings-
bekämpfung geführten Kampfe — doch bereits
in weitere Kreise des Volkes eingedrungene Er-
kenntnis des Wertes der Schädlingsbekämpfung.
So erschien nunmehr die im Jahre 1920 erfolgte
Ernennung eines Reichskommissars für Schäd-
lingsbekämpfung verheißungsvoll, wenn auch seine
Zuständigkeit einstweilen auf die Pflanzenschäd-
linge beschränkt sein sollte. Von diesen Gesichts-
punkten aus habe ich die Ziele und Wege der
Schädlingsbekämpfung in einem Vortrag auf der
86. Versammlung deutscher Naturforscher und
Ärzte in Nauheim im September 1920 skizziert
(Veröffentl. a. d. Medizinalabt. d. Wohlfahrts-
ministeriums H. 2, 1921, R. Schötz, BerHn). Wenn
nun inzwischen (gegen Ende 1920) die Stelle des
Reichskommissars wieder gestrichen worden ist,
so halte ich dies — ohne die Notwendigkeit des
Abbaues staatlicher Überorganisation zu verkennen
— für Kurzsichtigkeit und für Sparsamkeit am
falschen Orte.
Da es sich bei den Schädlingen um tierische
und pflanzliche Organismen handelt und da die
Schadwirkung sich auf unsere Nutztiere und
-pflanzen und die aus diesen gewonnenen Pro-
dukte, sowie auf den Menschen selbst erstreckt,
so charakterisiert sich das Schädlingsbekämpfungs-
wesen als wirtschaftliche und hygienische Biologie.
Wenn ferner die Bionomie, d. h. die Lehre von
den Beziehungen der Organismen untereinander
und wechselseitig nach Artfremdheit zueinander,
wie überhaupt zur Umwelt einschließlich des
Menschen, die Grundlage der Schädlingsbekäm-
pfung darstellt, so charakterisiert sich letztere als
Teilgebiet der praktischen Bionomie oder, wie
man auch sagen könnte, als Teilgebiet der Hygiene
der Nutzpflanzen, der Nutztiere und des Menschen.
Wirksame und einwandfreie Schädlingsbekämpfung
erscheint daher nur im Rahmen der praktischen
Bionomie ausführbar.
Andererseits darf uns der rein subjektive Nütz-
lichkeits- und Schädlichkeitsbegriff anthropozen-
trischer Auffassung nicht hinwegtäuschen über
die Harmonie der Natur, welche der Mensch als
Teilglied der Natur — gewissermaßen selbst nur
Organ im Organismus der Natur — nicht unge-
straft stört. So fügt sich in die wirtschaftliche
und hygienische Biologie notwendigerweise die
ethische Betrachtungsweise ein, die uns letzten
Endes erst die kulturelle Berechtigung zum an-
thropozentrischen Standpunkt verleiht. Somit
fallen auch diese, im Naturschutz ihren Ausdruck
findenden Bestrebungen, in enger Verknüpfung
mit dem Schädlingsbekämpfungswesen, in das Ge-
biet der praktischen Bionomie.
Massenentwicklung bestimmter Organismen er-
folgt in der Natur immer nur unter Einfluß opti-
maler Existenzbedingungen, bzw. bei Reduzierung
ihrer Feinde oder Parasiten. Gerade die Massen-
Kultivierung von Nutztieren und -pflanzen bietet
also Schädlingen von vornherein ein Ernährungs-
optimum. Sind dann auch die übrigen Existenz-
bedingungen für den Schädling im wesentlichen
erfüllt, so ist der Fall der „Schädlingsplage" ge-
geben.
Nach den Objekten, bzw. nach den Örtlich-
keiten der Schadwirkung werden unter den Schad-
organismen folgende Hauptgruppen unterschieden :
I. Haus- und Speicherschädlinge, 2. Obst- und
Weinbauschädlinge, 3. Gemüse- und Zierpflanzen-
schädlinge, 4. Feldfruchtschädlinge, 5. Forstschäd-
linge, 6. Schädlinge der wechselwarmen Nutztiere
des Landes (und des Wassers), 7. Schädlinge der
sog. warmblütigen (homöothermen) Nutztiere und
des Menschen. Auch hier sehen wir wirtschaft-
liche und hygienische Interessen eng miteinander
verknüpft, denn die Bekämpfung der der Er-
nährungswirtschaft schädlichen Organismen dient
durch Mehrung der Nahrungsmittelproduktion,
gleichzeitig auch der Volksgesundheit, und um-
gekehrt steht die Bekämpfung gesundheitlicher
Schädlinge des Menschen, welche, wie z. B. manche
stechende Insekten, die Wirtschaftlichkeit ganzer
Gegenden in Frage stellen können, auch im Dienste
der Volkswirtschaft. Interessiert an den Schad-
objekten bzw. -Organismen in landwirtschaftlicher
Hinsicht sind besonders Ackerbau, Obst- und
Weinbau, Gemüsebau, Schrebergärtnerei, Zier-
gärtnerei, Forstwirtschaft, Haus-, Klein- und F"eder-
viehwirtschaft, Imkerei, Molkereiwirtschaft, Pferde-
zucht und -Sport, Jagdwesen, Hundezucht und das
gesamte Fischereiwesen (weiteren Sinnes), in in-
dustrieller Hinsicht die Leder-, Knochen-, Hörn-,
Pelz-, Haar-, Feder- und Textilindustrie, Holz- und
Korkindustrie, Mühlen-, Fleischmehl- und Kon-
servenindustrie und in hygienischer Hinsicht Kom-
munen, F"abrikbetriebe, Schulen, Krankenhaus- und
Heilstättenverwaltungen und jeder einzelne Mensch.
An dieser Stelle auch nur einen dürftigen
Überblick über die Wirkungen der Schadorganis-
men zu geben, ist ausgeschlossen. Hinsichtlich
der Pflanzenschädlinge mag die folgende Noel-
sche Zusammenstellung (nach Stellwaag 1920)
für sich sprechen. Es wurden festgestellt
314
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
auf l6o Obstarten
„ 28 Gemüsearten
1671
704
Scbädlingsarten
„ 21 Getreide- und Futlerstoffarten
988
„ 14 Waldbäumen
„ 38 Ziersträuchern und -bäumen
4637
II09
'•
„ 84 sonstigen Zierpflanzen
„ 81 offizinellen Pflanzen
1029
1870
»t
Für das kleine Gebiet der Rheinpfalz ist (nach
Stellwaag 1920) die durchschnittliche Schä-
digung des Weinbaues durch den Heu- und Sauer-
wurm bis 191 5 auf jährlich 3^4 Millionen IVIark
berechnet worden; im Jahre 19 10 betrug der im
Weinbau der Pfalz durch Schädlinge bewirkte
Ernteausfall mehr als 25 Millionen Mark, zu einer
Zeit, in welcher der Jahreshaushalt der Regierung
der Pfalz, wie vergleichsweise angeführt sei, etwa
3 Millionen Mark betrug.
Bezüglich Pferde und Rinder sei auf den
enormen Schaden, den die durch Milben bewirkte
Räude in den letzten Kriegsjahren verursacht hat
und noch verursacht, ferner an die Viehschäden,
die in zunehmendem Maße durch die Kriebel-
mücken hervorgerufen werden , ferner an die
Fleisch- und Milchverluste und die Entwertung
des Leders, welche durch die Dasselfliegen ver-
anlaßt werden, hingewiesen. Stechmücken- und
Fliegenplage betreffen Mensch und Vieh in gleicher
Weise. Auch an die Zunahme des Ungeziefers
des Menschen und der Haustiere, daß bei der
Übertragung von Infektionskrankheiten eine Rolle
spielen kann, sei erinnert.
Gewaltig sind also die gesundheitlichen, wirt-
schaftlichen, sozialen und kulturellen Werte, die
der Staat durch Ausgestaltung der Schädlingsbe-
kämpfung gewinnen kann. In wirtschaftlicher
Hinsicht dürfte der erzielbare Jahresgewinn mit
einer Milliarde Goldmark kaum zu hoch veran-
schlagt sein.
Wie wir bereits bei einigen Schadorganismen,
z. B. Dasselfliegen, Stechfliegen und -mucken,
sahen, erstreckt sich ihre Schadwirkung zugleich
auf industrielle und ernährungswirtschaftliche Ge-
biete oder auch noch auf das menschliche Gesund-
heitswesen. Es wäre daher verkehrt, wenn alle
Gruppen von Schädlingsinteressenten und die
einzelnen Behörden getrennt vorgehen wollten
und so Zeit, Arbeit und Geld für die getrennte
Ermittlung und Durchführung der geeigneten Be-
kämpfungsverfahren vergeuden würden, denn oft
genug kommt für Schädlinge ganz verschiedener
Objekte die gleiche Methode der Bekämpfung in
Betracht.
Zur Bekämpfung der Schädlinge stehen uns
zahlreiche Methoden der Vernichtung und der
zuweilen genügenden Fernhaltung bereits zur Ver-
fügung und zwar i. mechanische Vernichtungs-
bzw. Fernhaltungsverfahren, z. B. durch Aufsam-
meln, unter Zuhilfenahme von Fallen, Klebstoffen
und Ködern u. a. m., 2. chemische und physika-
lische Vernichtungs- und Fernhaltungsverfahren
mittels fester, flüssiger und gasförmiger Chemi-
kalien, ferner durch Licht- oder Hitzewirkung, bei
Wassertieren durch Strömungs- oder Stauungs-
erzeugung, und 3. biologische Bekämpfungsver-
fahren unter Nutzung der Feinde und Parasiten
der Schädlinge. Je mannigfacher die Beziehungen
der Schadorganismen zur Umwelt sind, um so
spezifischer muß das Bekämpfungsverfahren für
den betreffenden Schädling sein. Oft wird man
auch kombinierter Verfahren bedürfen. Das gilt
z. B. für die Bekämpfung von Ratten und Mäusen
mittels sog. Mäusetyphusbazillen, bei welchem
Verfahren die infolge Immunität überlebenden
Individuen nur mittels nachfolgender Anwendung
eines spezifischen Giftpräparates (Meerzwiebel) er-
faßt werden können. In ähnlicher Weise läßt sich
vielleicht die Blausäurebekämpfung der Mehlmotte,
unseres namhaftesten Mühlenschädlings biologisch
ergänzen durch Verwendung spezifischer Bakterien,
welche bei den Mottenraupen die sog. Schlaff-
sucht erzeugen.
Abwehr- und Fernhaltungsmaßnahmen haben
im allgemeinen nur einen bedingten Wert, sind
aber da unumgänglich notwendig, wo es sich da-
rum handelt, an und für sich nützliche Tiere von
Geländen bestimmter Bewirtschaftung zu vertrei-
ben. Auch Vernichtungsverfahren stellen im
ganzen lediglich Hilfsmaßnahmen dar, welche nur
so lange Wert haben werden, bis es gelingt, gegen
Schädlinge gefeite Nutzpflanzen und -tiere zu
züchten oder auch Produkte tierischer und pflanz-
licher Herkunft gegen Schadorganismen dauernd
„fest" zu machen, welche Ziele freilich kaum je-
mals vollkommen zu erreichen sein werden. Er-
innert sei hier an „reblausfeste" Reben und an
den amerischen Flußkrebs, der gegen die „Krebs-
pest" gefeit ist. Zwischen allen Schädlingsfragen,
seien sie nun auf Schädling, Schadobjekt, Schad-
wirkung wirtschaftlicher oder gesundheitlicher
Art gerichtet, besteht also, wie wir gesehen haben,
eine so enge Verknüpfung, daß eine Zusammen-
fassung des gesamten Schädlingswesens in organi-
satorischer Hinsicht aus praktischen Gründen, ins-
besondere aus Gründen der Sparsamkeit, geboten
erscheint.
Als wissenschaftliche Aufgaben der Schädlings-
bekämpfung müssen die Erforschung der im ein-
zelnen sehr variabelen Ursachen des Massenauf-
tretens von Schädlingen, die Ermittlung einer für
die Praxis brauchbaren und einwandfreien Methodik
der Bekämpfung, der Schädlingsfernhaltung, bzw.
Erzielung der Festigung des belebten oder unbe-
lebten Schadobjektes gegen Schädlinge gelten, —
also Aufgaben, die durchaus im Rahmen der
praktischen Bionomie liegen. Trotz vieler guter
Forschungsergebnisse auf dem Gebiete des Schäd-
lingswesens in Deutschland bleibt die Zahl der
ihrer Bearbeitung harrenden Aufgaben Legion.
In wissenschaftlicher Hinsicht decken sich hier
die Aufgaben der Human- und Veterinärmedizin
vollständig. Bezüglich der menschlichen Parasito-
logie sei an das neuerdings vermehrte Auftreten
der Madenwürmer (Oxyouren), deren Biologie und
pathogene Bedeutung noch nicht genügend sicher-
gestellt sind, erinnert. Ferner, der Kinderspul-
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
3«5
wurm, eine Ascaris-Art, die vielleicht mit dem
Schweinespulwurm identisch ist, scheint nach
neueren Untersuchungen im Larvenzustand Leber,
Blutgefäße, Lunge und Schlund zu durchwandern
und somit ein gar nicht so harmloser Parasit, für
den man ihn früher hielt, zu sein. Die Fraßformen
der an menschlichen Leichen in Wohnungen und
Friedhofshallen häufig vorkommenden Insekten,
z. B. Ohrenkerfe, Kellerasseln und Fliegenmaden,
sind uns ziemlich unbekannt. Nur so war es
noch in unserer Zeit möglich, daß an Leichen
festgestellte Hautdefekte, die durch die chemische
Analyse irrtümlich als Säurewirkungen gedeutet
wurden, einen Unschuldigen ins Gefängnis bringen
konnten. Die Malaria, welche außer durch opera-
tive Bluttransfusion nur durch die bei uns sehr
verbreitete Stechmücke Anopheles übertragbar ist,
scheint, im Zusammenhang mit den durch den
Krieg geschaffenen Verhältnissen, wieder einmal
eine Welle über Deutschland zu senden. Bezüg-
lich der großen Gefahr der Verbreitung bzw.
Verschleppung krankheitübertragender Insekten sei
hier nur auf die mit der Eröffnung des Panama-
kanals erfolgte Näherrückung Europas an die
westamerikanischen Küstengebiete und ihre Krank-
heiten erinnert. Von veterinärhygienischen Fragen
erwähnen wir bereits die Kriebelmücken- und
Dasselfliegenplage. Unsere Hilflosigkeit in der
Bekämpfung der Stechmücken- und Fiiegenplage
ist dem Stadtbewohner wie dem Landwirt wohl-
bekannt. Hat der Laie wohl im eigenen Haus-
halt die Mißlichkeit des Mottenfraßes an Wolle-,
Pelz-* und Federwaren erfahren, so ahnt er doch
selten, welche wirtschaftliche Bedeutung den
Motten überhaupt, z. B. auch den Mehl-, Kork-,
Tapeten- und Honigmotten zukommt, und welche
wirtschaftswissenschaftlichen Aufgaben hier noch
zu lösen sind. Gleichgroß sind, trotz vieler Er-
folge, die Aufgaben der Bekämpfung der Obst-
und Forstschädlinge, von denen einer der wichtig-
sten, nämlich der Schwammspinner, erst nach
seiner Einschleppung nach Amerika von den
Amerikanern gründlich erforscht wurde. Von
Feldfruchtschädlingen seien nur die Rübennema-
toden, deren wir noch nicht Herr sind, erwähnt.
Bei der Bekämpfung der Rebstockschädlinge hapert
es weniger hinsichtlich der Kenntnis ihrer Lebens-
weise als bezüglich der der Giftstoffe benötigen-
den Bekämpfungsmethodik. Wird zur Bekämpfung
der Peronospora das Kupfervitriol, ohne gesund-
heitliche Nachteile für den Menschen zu bringen,
gebraucht, so sollte man auch einer geregelten
Anwendung arsenhaltiger Präparate, deren wir in
Ermangelung des Nikotins zur Bekämpfung des
Heu- und Sauerwurmes benötigen, nicht zu skep-
tisch gegenüberstehen.!) Freilich muß überall, wo
Gifte — seien es nun unbelebte Stoffe, wie arsen-
haltige Präparate, oder, wie bei der Ratten- und
Mäusebekämpfung, Bakterienkulturen — für die
•) Einen wesentlichen Fortschritt dürften nach Stell-
waag (1921) und Es eher ich (Mitt. d. D. Landw. Ges. 1921,
Nr. 14) die Elhardtschen Grüntafeln bedeuten.
Schädlingsbekämpfung in Frage kommen, die Ver-
wendungsmöglichkeit durch die Human- und
Veterinärhygiene genügend geprüft werden. Sollen
größere Leistungen auf den gesamten Gebieten
der Bekämpfung wirtschaftlicher und gesundheit-
licher Schädlinge erzielt werden, so bedarf es der
Erhöhung der Arbeitsmöglichkeit in Forschungs-
stätten. Die Reichsbiologische Anstalt für Land-
und Forstwirtschaft in Dahlem, die sich vorwiegend
rnit den Pflanzenschädlingen befaßt, ist, auch hin-
sichtlich der Begründung von Zweigstellen, in er-
freulicher Ausgestaltung begriffen. Zu wünschen
wäre auch die Ausgestaltung der erst 1919 in
kleinerem Umfang eröffneten Forschungsanstalt
fiir angewandte Zoologie in München. Ein spe-
zielles Institut für tierische Parasiten des Menschen
und der Nutztiere, wie es selbst kleinere Staaten
besitzen, fehlt uns in Deutschland, ließe sich aber
wohl im Reichsgesundheitsamt durch Erweiterung
des Protozoenlaboratoriums zu einer Abteilung für
Zooparasitologie schaffen. Nicht unerwähnt soll
freilich bleiben, daß außer im Gesundheitsamt auch
in dem Institut für Infektionskrankeiten „Robert
Koch" und in dem Institut für Schiffs- und Tropen-
krankheiten in Hamburg Versuche mit tierischen
Parasiten und krankheitsübertragenden Insekten in
gewissem Umfang angestellt werden. Es bedarf
hier jedoch der Heranziehung der Zoologen in
weit größerem Maße als es bis jetzt der Fall ist.
Auch mit der Lehre der praktischen Bionomie in
medizinisch- hygienischer und wirtschaftlicher Hin-
sicht ist es an unseren Hochschulen, im Gegen-
satze zu denen Amerikas noch dürftig bestellt;
nur eine einzige Universitätsprofessur für ange-
wandte Zoologie haben wir in Deutschland und
zwar in München.
Wenn es auch möglich erscheint, durch Bezug
der Mittel zur Schädlingsbekämpfung auf genossen-
schaftlichem Wege sich vor minderwertigen oder
gar schwindelhaften Geheimmitteln zu sichern, so
würde damit noch nicht der Schaden beseitigt sein,
der durch die Schuld der Säumigen erwächst. Sind
doch Maßnahmen der Schädlingsbekämpfung, wenn
sie nur in kleinen Teilgebieten erfolgen, meist von
nur geringem Wert. Sowohl aus diesem Grunde
wie vor allem auch mit Rücksicht auf die Frage
der Gesundheitsgefährdung des Menschen dürften
wir in der Schädlingsbekämpfung nicht ohne be-
hördliche Regelung auskommen. Eine Über-
wachung der Schädlingsbekämpfung ist im Grunde
genommen nur im Rahmen der Einzelstaaten
möglich. Ein Schädlingsgesetz wird in den Län-
dern früher oder später notwendig werden, und
schließlich auch im Reich. Wenn wir im Reich
einstweilen auch mit Einzelbestimmungen aus-
kommen werden müssen, so scheint doch schon
jetzt eine einheitliche Leitung des gesamten
Schädlingswesens durch eine fachwissenschaftlich
beratene Zentralstelle geboten. Ob man den
Leiter dieser Zentralstelle nun als Reichskommissar
für Schädlingsbekämpfung oder anders benennen
will, ist belanglos. Auch die Frage, welchem
3i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
Reichsministerium, Reichsministerium des Inneren,
Reichsministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft oder Reichswirtschaftsministerium, diese
Zentralstelle angegliedert werden müßte, verliert
an grundsätzlicher Bedeutung, wenn man die
einschlägige Bildung einer Reichsministerialkom-
mission vornimmt.
Die Hauptaufgaben der Schädlingsbekämpfung
fallen natürlich den Interessenten selbst zu. Alle
Interessentenorganisationen müßten daher zusam-
mentreten zu einem Verein bzw. zu einer Zentral-
genossenschaft für Schädlingsbekämpfung, die
ihren Mitgliedern (Einzelpersonen wie Körper-
schaften) die zur Anwendung zu empfehlenden
Mittel und Verfahren zugänglich machen würde.
Die Vorstandsmitglieder dieses Vereins, unter
denen auch wissenschaftliche Organisationen, wie
die Deutsche Gesellschaft für angewandte Ento-
mologie, Reichsgesundheitsrat u. a. m. vertreten
sein müßten, könnten auch vom Reichswirtschafts-
rat (nach Artikel 8 der Verordnung über den
vorläufigen Reichswirtschaftsrat) als Sachverständige
gehört werden.
Vorbedingung für den Erfolg der Schädlings-
bekämpfung ist vielfach die rechtzeitige Ermittlung
der Schädlingsarten selbst. Es wird daher nötig
sein, möglichst zahlreiche, z. T. spezialisierte und
auf die Eigenart der benachbarten Schadgebiete
zugeschnittene Institute (Zweigstellen der Bio-
logischen Reichsanstalt, Untersuchungsstellen bei
den Landwirtschaftskammern und sämtliche bio-
logischen und hygienischen Institute) zur Ver-
fügung zu haben, zum mindesten zur Beratung,
bzw. bei Unzuständigkeit zur baldigen Weiter-
leitung des Untersuchungsmateriales an die ge-
eignete Stelle. Auch die Mitwirkung von Schäd-
lingsinspektoren, sowie Wanderrednern und ge-
gebenenfalls Eingreifen wissenschaftlicher Feld-
stationen wird nötig sein. Anfange hierzu, freilich
nur sporadisch und ohne größeren Organisations-
plan, sind ja bereits vorhanden.
Die praktische Durchführung der Schädlings-
bekämpfung wird in manchen Fällen, wie im
Obst- und Weinbau, sowie z. B. bei harmlosen
Verfahren gegen Parasiten oder Belästiger des
Menschen und der Nutztiere, seitens der Inter-
essenten selbst erfolgen können. Bei komplizierten
oder gefährlichen Verfahren werden die Maß-
nahmen nur durch geschultes Personal, je nach
ihren Umfang etwa durch größere Organisationen,
wie z. B. die Deutsche Gesellschaft für Schäd-
lingsbekämpfung m. b. H., städtische Desinfektions-
anstalten und Kammerjäger, für welche staatliche
Konzessionierung erforderlich sein müßte, ausge-
führt werden können. Auch Organisation des
Pressedienstes, Lehrkurse in bestimmten Schad-
gebieten und Aufnahme von Belehrungsfilmen
durch die Lichtspielbühnen scheinen erwünscht.
Gewaltige gesundheitliche und volkswirtschaft-
liche Werte, die zurzeit durch mangelnde Organi-
sation der Schädlingsbekämpfung verloren gehen,
lassen sich, wie ich zu zeigen versucht habe, mit
verhältnismäßig geringen Unkosten retten, jähr-
lich gewinnen, dauernd nutzbar machen nur durch
Zusammenarbeit von Gesundheits- und Wirtschafts-
wissenschaft, Schädlingsinteressentenkreis und Be-
hörde, ohne Überorganisation.
Schädlingsbekämpfung und praktische Biono-
mie gehören zusammen wie Reiter und Roß. In
diesem Zusammenhange ist es gewiß keine Pro-
fanierung eines Bismarckschen Wortes, wenn wir
es für eine das Wohl des Vaterlandes betreffen-
den Aufgabe dahin variieren:
Man setze die Schädlingsbekämpfung, so zu
sagen, in den Satteil Reiten wird sie schon
können.
Einzelberichte.
Neue Miueralieii.
Lei fit ist der Name eines neuen Minerales,
das O. B. Böggild in der Zeitschr. f. Kristallo-
graphie, 55. Bd., S. 424 — 429, 1920 beschreibt.
Das Mineral wurde bei Narsarsuk in Grönland
gesammelt und ist benannt nach dem Entdecker
Amerikas, Leif dem Glücklichen, dem Sohn Erik
des Roten, dessen Wohnung Brattalihd nahe der
Lokalität Narsarsuk lag. Die Kristalle sind hexa-
gonal, doch sind sie stets recht unvollkommen
ausgebildet. Als einzige Form wurde ein hexa-
gonales Prisma gefunden. Die Kristalle zeigen
oft garbenförmige Aggregationen , ähnlich wie
behn Desmin. Die Größe der Kristalle wechselt
von wenigen Millimetern bis zu 2 cm Länge. Sie
sind vollkommen farblos oder höchstens schwach
violett gefärbt. In einigen Fällen sind sie klar
und durchsichtig, in anderen mehr weißlich. Die
Härte ist 6, das spez. Gewicht des reinsten Mate-
rials 2,565 — 2,578. Spaltbar ist das Mineral nach
demselben Prisma, von dem die Kristalle begrenzt
sind, der Querbruch ist dagegen muschlig. Der
Glanz ist Glasglanz, die Brechungskoeffizienten
sind t = 1,5224 und w = 1,5177. Die Analyse
ergab folgende Resultate: SiO^ =67,55 »/o, ALOg
= 12,69, MnO = 0,41, Na^O = 15,47, F = 4.93.
HjO = 0,77; Sa. = 101,82; davon ab O = F =
2,08. Aus diesem Analysenergebnis berechnet
der Verf. die Formel: NajAl.jSiyOao, 2NaF. Da-
bei wurde das Fluor mit dem Natrium verknüpft.
Es ist natürlich nicht anzugeben, ob dies wirklich
der Fall ist, und die Formel könnte vielleicht
ebensogut geschrieben werden:
Na,(AlF)„Si(,022.
Beim Erhitzen im geschlossenen Rohr gibt
das Mineral Wasser ab. In der Flamme des
Bunsenbrenners schmilzt es außerordentlich leicht
unter starkem Aufblähen und erstarrt zu einem
farblosen Glase. Es wird nicht von Säuren zersetzt.
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
31;
Das Narsarsukvorkommen darf wohl am ehe-
sten als eine Pegmatitbildung im Augitsyenit be-
trachtet werden. Als Begleitmineralien treten auf
in der Hauptmasse Feldspat, und zwar Mikroklin,
ganz selten Albit, und Aegirin, mehr untergeordnet
Zinnwaldit und kleine Kalkspatkristalle.
Ein zweites neues Mineral aus Freiberg i. Sa.
wird von V. Rosicky und J. öterba-Böhm
am gleichen Ort, S. 430—439, beschrieben und
nach seiner chemischen Konstitution Ultrabasit
benannt. Das neue Mineral kam zusammen mit
Quarz, Dialogit, Bleiglanz und Proustit in der
Grube Himmelsfürst in Freiberg vor. Es bildet
rhombische, pseudotetragonale, dick säulenförmige
Kristalle, die in der Prismenzone vertikal gestreift
sind. Die Kristallgröße beträgt etwa 8 mm Länge
und 5—6 mm Breite und Dicke. An der Ober-
fläche sind die Kristalle bunt angelaufen. Als
Achsenverhähnis wurde gefunden:
a:b:c = o,988: 1 : 1,462.
Die Farbe und der Strich des Minerals ist schwarz;
der Glanz ist metallisch. Spaltbarkeit ist nicht
vorhanden; der Bruch ist schalig; die Härte ist
H =: 5. Die Dichte des Minerals beträgt bei
15
0
6,025.
Die qualitative Analyse ergab außer den
Hauptbestandteilen Blei, Silber, Antimon und
Spuren von Eisen und Kupfer, Germanium in
wesentlichen Mengen. Wir haben es also mit
einem neuen Vertreter der so seltenen
Germaniummineralien zu tun. Nach der
quantitativen Analyse besteht das Mineral aus-
Sb = 4,6o'*/„; Ag = 22,35;Pb= 54,15 ;Cu = o,47;
be = o,25; Ge = 2,20; 5=15,15; Sa= 100,18%.
Die empirische Formel lautet demnach: 2SbS-
1 1 AgS ■ 28 PbS • 3 GeS. Der Schwefelüberschuß
= 1,6. Wie ersichtlich, handelt es sich um ein
ultrabasisches Salz, wonach das Mineral seinen
Namen bekommen hat.
Im G r o t h sehen System gehört der Ultrabasit
an das Ende der Gruppe der Sulfogermanate. Er
vermehrt die Reihe der germaniumhaltigen Mine-
ralien auf vier. p j^
Die Farben von Mineralien und anorganischen
Stoifen bei tiefen Temperaturen.
Zur Kenntnis dieser Frage stellten M. Bam-
berger und R. Grengg (Centralbl. f. Miner. usw.,
1921, 3, S. 65— 74) eine größere Anzahl von Ver-
suchen an. Die Versuchsanordnung war eine sehr
einfache. Die Proben kamen entweder in eine
Pinzette geklemmt, auf Draht oder in gewöhn-
lichen Eprouvetten in flüssige Luft. Sie verblieben
darin so lange, bis das Absieden der flüssigen
Luft aufhörte, d. h. die Abkühlung auf — 190»
erreicht war. Sofort nach dem Herausziehen aus
der flüssigen Luft wurde die abgekühlte Substanz
auf etwaigen Farbenumschlag womöglich unter
Vergleich mit dem gleichen, aber bei Zimmer-
temperatur (+15") verbliebenen Material geprüft.
Von den zahlreichen untersuchten Substanzen seien
nur einige hier angeführt.
Schwefel
Zinnober
Realgar
Rauchquarz
Amethyst
Edelopal
Mennige
Diopsid
Topas
Türkis
Polyhalit
Aramonium-
chromalaun
FeSO^ +7H2O
künstlich
Spanien
Kapnik
Tawetsch
Botani Bay
künstlich
Zillertal
Brasilien
Persien
Iscbl
künstlich
künstlich
Farbe bei Zim-
mertemperatur
gelb
rot
morgenrot
hellbraun
violblau
lebhaftes Far-
benspiel
morgenrot
hellgrün
honiggelb
blaugrün
ziegelrot
dunkelviolett
hellgrün
smaragdgrün
dunkelrot
hyazinthrot
orangerot
morgenrot
hellgrün
gelb
Farbe bei
— 190"
weiß emailart.-
undurchsichtig
orangegelb
orangegelb
hell rötlichbr.
etwas heller
violblau
Farbenspiel
verdüstert
gelb
intensiver hell-
grün
hellhoniggelb
intensiver
blaugriin
orangegelb
hellkirschrot
grünlichweiß
trübe
hellblau trübe
hellgelbrot
graugelb
hellgelb
honiggelb
hellblaugrUn
hellgelb
bräunlichrot gelb
NiSOj+yH^O künstlich
C0SO4+7H2O künstlich
Roibleierz Beresowsk
KjCräO, künstlich
Wulfenit Arizona
Schweinfurter künstlich
Grün
Gelbes Blut- künsUich
laugensalz
Rotes Blut- künstlich
laugensalz
Keine Verfärbung bei —190" zeigten unter
anderen Gold (Blattgold), Pyrit, Markasit (Schem-
nitz), Magnetkies (Bodenmais), Kupferkies, Zink-
blende (Spanien), Auripigment (Mazedonien),
Saphir (natürlicher und künstlicher), Rubin (natür-
licher und künstlicher), Rosenquarz, Heliotrop,
Zirkon (Frederiksvaern), Hämatit (Platten), Mala-
chit (Sibirien), Azurit (Chessy), Doppelspat (Is-
land), Bronzit, Rhodonit (Katharinenburg), Lasur-
stein, Disthen, Turmaline (verschieden gefärbt und
von verschiedenen Fundorten), Almandin (Ost-
indien), Beryll, Smaragd (Ural), Vesuvian, Biotit
(Rußland), Titanit (Zillertal), Apatit (Ural), Pyro-
morphit, Türkis (Mexiko), Cölestin (Kairo), Gips,
Kupfervitriol, Steinsalz (dunbelblau), Flußpat (von
verschiedenen Farben und verschiedenen Fund-
orten), Bernstein.
Bemerkenswert ist das verschiedene Verhalten
von kristallwasserhaltigen Substanzen. Während
z. B. Gips und Kupfersulfat keine für das unbe-
waffnete Auge wahrnehmbare Veränderungen in
Farbe und Aussehen zeigen, ändern z. B. Chrom-
alaun und andere auffällig die Farbe, aber ohne
merkbare Störung des Kristallbaues. Bei gewissen
Salzen bewirkt das Ausfrieren des Kristallwassers
zu mindestens eine starke Trübung und damit zu-
sammenhängend bei gefärbten Substanzen ein
Lichterwerden der ursprünglichen Farbe. Aus
den Versuchen ergibt sich, daß sowohl Substanzen
mit Eigenfarben als auch dilut gefärbte bei tiefen
Temperaturen Umfärbungen zeigen. Bei dilut ge-
färbten Stoffen könnte die Ursache der Verfärbung
sowohl in der Änderung der Größenordnung und
Entfernung der Pigmentteilchen infolge von Kälte-
kontraktion als auch in molekularen Umlagerungen
3i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 31
gesucht werden. Die Farbenumschläge bei Körpern
mit Eigenfarbe, die kein Kristallwasser enthalten,
deuten auf Änderungen des Feinbaues hin.
F. H.
Zur Pflanzengeographie der inneren Sahara.
Unter diesem Titel gibt H. Freiherr Geyr
V. S c h w e p p e n b u r g in Peterm. Mitt., 66, S. 260
bis 264, eine Übersicht über die pflanzengeo-
graphischen Ergebnisse seiner 191 3/14 in die
Sahara unternommenen Reise, die besonders der
Erforschung des Tuaregberglandes diente. Schon
Di eis, der auch die Sammlungen dieser Reise
bearbeitete, hatte auf starke Beziehungen des Ge-
bietes nach Süden hingewiesen, obwohl sich eine
ganze Anzahl nördlicher Elemente in ihm vor-
findet. Immerhin war die Grenze zwischen palä-
arktischem und äthiopischem Pflanzengebiet noch
unsicher. Verf. glaubt nun, obwohl es sich um
ein Mischgebiet handelt, eine einfache Grenze fest-
legen zu können.
D r u d e s Grenze ( 1 884) liegt zu südlich, während
Ad. Engler durch Acacia tortilis, die er als
äthiopische Leitpflanze benutzt, verleitet wird, die
Grenze zu weit nach Norden zu verschieben. Der
Verf hat auf der Reise die Nordgrenze folgender
südlichen Holzgewächse festgestellt: JVlaerua cras-
sifolia (27" 25'), Acacia seyal (desgleichen), Bala-
nites aegyptiaca (26" 50'), Calotropis procera
(26* 30') und Leptadenia pyrotechnica (27").
Die Anschauungen desVerf.s, der den 28. Breiten-
grad für die ganze Sahara als Grenze zwischen
paläarktischen und äthiopischen Gebiet vorschlägt,
decken sich mit den Ausführungen von Diels.
Überdies paßt diese Begrenzung ziemlich gut zu
einer älteren, provisorischen Ad. Englers (1882).
Diese Grenze, im W an der Wadi Draa- Mün-
dung beginnend, läßt die Oasen von Tuat und
Tidikelt südlich, verläuft am Rande der kretazei-
schen Hammaden über Temassinin, die N Grenze
von Maerua und Acacia seyal etwas nördlich, die
S-Grenze von Retama raetam und einiger Salz-
sträucher nicht weit nördlich lassend. Im Süden
geht die Grenze in ca. i" Abstand am Standort
der tropischen Salvadora persica — bei Afara-n-
Wechchran — vorbei. Sie durchschneidet das
ehemalige Mutassarat Fessan, Mursuk und Nach-
baroasen südlich lassend. Im O tritt der 28. Breiten-
grad nördlich Kufra in die Wüste ein, verläuft
nördlich der Oase Taiserbo (Salvadora) zwischen
den Oasen Beharich und Farafrah hindurch, hier
mit E n g 1 e r s Südgrenze der mediterranen Sahara
zusammenfallend. Östlich des Nils stimmt diese
Grenze gut mit Schwein furths N Grenze der
thebaisch-nubischen Region (1868) überein. Der
Djebel Gareb mit Salvadora bleibt nördlich. Der
Sinai, dessen Südspitze zur äthiopischen Region
gehört, wird bei El Tor erreicht. Weiter nach 0
wird der 28." als N-Grenze besser aufgegeben.
Die Tatsache, daß im nördlichen Afrika die
Grenze zweier großer Florengebiete so gerad-
linig verläuft, ist durch zwei Umstände bedingt.
Einmal gestattet die Pflanzenarmut des Gebietes
und das Fehlen höherer Gebirge eine gerade
Linienführung, ohne den floristischen Tatsachen
Abbruch zu tun. Zweitens scheint der Verlauf
der 23" Jahresisotherme maßgebend zu sein, wenn
auch der 28. Breitengrad teilweise etwas nördlich,
teilweise etwas südlich gelassen wird.
Im Tuareggebirge scheinen die zeitweilig unter
o" C liegenden Wärmeminima auf Dattelpalmen
und viele äthiopische Hochgewächse einen merk-
würdig geringen Einfluß zu haben. So litten
z. B. im Januar 19 14 bei Gasi Abu Retama raetam
und Randonia africana nicht an ihren Blüten, ob-
wohl die Temperatur — 9" C betrug. Eine direkte
Anpassung an diese Temperaturen hält Verf. nicht
für wahrscheinlich, zumal sich z. B. Acacia albida
und Calotropis des Tuaregberglandes nicht von
denen des weißen Nils unterscheiden. Am Nicht-
gefrieren der oberirdischen Organe haben wohl
z. T. das salzhaltige Zellwasser der Halophyten,
vor allem aber der geringe Wassergehalt und die
Trockenheit der Wüstenluft Anteil.
Über den Einfluß der Berghöhen auf die ver-
tikaje Verteilung besonders der Holzgewächse
konnten nur wenige Beobachtungen angestellt
werden. So wurde Acacia seyal bis 1200 m,
A. albida an geschütztem Standort bis 1400 m
Höhe beobachtet. Acacia tortilis fand sich nicht
selten in der Umgebung von Ideles mit Ficus
teloukat und Cocculus pendulus. Hoch hinauf
steigen Tamarix articulata und Geyrii, Ephedra
altissima, Capparis spinosa, Rhus oxyacantha und
Nerium. Die Salzsträucher Atriplex halimus,
Salsola foetida und Anabasis articulata wurden
bei Ideles beobachtet. Bei der Quelle Tahart
findet sich Myrtus Nivelii, ca. 100 m höher
stehen dicht beieinander Acacia tortilis, Ficus
teloukat, Myrtus Niv. und Capparis spinosa. Im
Wadi Oahat wächst die mediterrane Globularia
alypum unterhalb Acacia seyal, tortilis und albida,
Gymnosporia senegambensis , zeigen sich Ficus
teloukat, Calotropis und wenige Meter höher die
mediterrane Osyris alba. Alle diese Arten schienen
mit Rhus oxyacantha, Tamarix Geyrii und Cap-
paris spinosa durch die relativ günstigen Wasser-
verhältnisse auf so engem Raum vereinigt zu sein.
Ob Olea Laperrini mit O. europaea oder der
afrikanischen O. chrysophylla näher verwandt, ist
nicht bestimmt zu sagen.
». Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob
eine alpine oder desertische ^) Höhengrenze für
die baumartigen Gewächse vorliegt. Acacia seyal,
Balanites aegiptiaca und Maerua scheinen schon
bei Ideles die Nordgrenze zu erreichen. Das Hoch-
plateau der Kondia im Ahaggargebirge scheint
für sämtliche von Natur im Tuareggebirge vor-
kommende Holzgewächse schon ziemlich weit
jenseits der alpinen Baumgrenze zu liegen.
S.
') Für Brockmann-Jerosch: kontinental.
N. F. XX. Nr. 21
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
319
Der Bergbau in Mexiko.
Der Bergbau in Mexiko, der von jeher der
wichtigste Zweig der mexikanischen Volkswirt-
schaft war, hat, wie H. Fehlinger in der Zeit-
schrift f. prakt. Geologie, XXVIII, S. 176 be-
richtet, trotz der politischen Wirren, auch in den
letzten Jahren Fortschritte gemacht. Neben der
Silberproduktion hat vor allem die Kupferproduk-
tion zugenommen, so daß Mexiko in dieser Be-
ziehung an zweiter Stelle in der Welt steht. In
den Jahren 1916 — 191 8 gestalteten sich die Mengen
(Kilogramme) der gewonnenen mineralischen
Bodenschätze wie folgt:
1916 1917 1918
Gold II 748 23558 25314
Siber 926142 1306987 1942968
Blei 19970986 64124752 98837154
Kupfer 28 41 1248 50985923 70223454
Antimon 828767 2646544 3 268 54O
Zinn 292 9214 13537
Wolfram 12250 187637 149486
Zink 37449226 14 757 333 20698995
Graphit 470343 420046 6 190 849
Quecksilber — 33 132 163 598
Mangan — 73387 2878383
Arsenik — 1284 820 1881 Ol i
Die wertvollsten Bodenschätze Mexikos sind
seine Erdölvorräte. Die Mächtigkeit der ölführen-
den Schichten am Golf von Mexiko wird auf
mehrere 1000 m geschätzt. Die Petroleumgewin-
nung belief sich 1919 auf 92,4 Millionen Barrels.
F. H.
Die deutsche Schabe.
Die deutsche Schabe kann heute als Kosmo-
polit betrachtet werden (vgl. Joh. Wille, Biolo-
gie und Bekämpfung der deutschen Schabe (Phyl-
lodromia germanica L.), Beiheft zur Zeilschrift für
angewandte Entomologie, 1920). Sie ist haupt-
sächlich auf Räume mit konstanter Temperatur
von ca. 20" beschränkt. Tags über sitzen die
Tiere in den Verstecken gegen das helle Licht
geschützt. Sie nehmen dabei eine ganz typische
Ruhe- oder Lauerstellung ein, die Fühler schräg
nach vorn oben. Ais Spaltweite, die den Tieren
noch als Versteck oder als Durchschlupf dienen
kann, wurde für Larven ca. i mm, für erwachsenen
Tiere ca. 1,5 mm, für Weibchen mit Kokon
ca. 3—4 mm gefunden. — Mit Einsetzen der
Dunkelheit suchen sie die Futterplätze auf. Die
Zeiten besonderer Beweglichkeit sind 5 bis 7*"
nachm. und 6'"' bis 7 vorm. Der Beweglichkeits-
quotient Q ist ca. 0,15.1) Der Schabe stehen
drei Bewegungsarten zur Verfügung: Laufen,
Springen, Flattern. Der bei den Schaben allge-
mein bekannte Schnellauf, bis 30 cm/sek., findet
sich nur bei der Flucht, sonst ist es ein langsamer
Lauf. Weitere charakteristische Bewegungen für
die Schabe sind die Putzbewegungen. Antennen
und Beine werden meist mit den Mundwerkzeugen,
') Q ^ Bewegungszeit dividiert durch Ruhezeit.
alle übrigen Teile des Körpers aber mit den
Beinen geputzt. Als Ursache der Putzbewegung
ist, abgesehen von mechanischer Beschmutzung,
die Einwirkung von Riechstoffen und Gasen an-
zunehmen. • — Die Nahrungsstoffe, die die Schaben
mit ihren beißenden Mundwerkzeugen aufnehmen,
sind sehr mannigfaltig. Gibt es zwar eine ganze
Zahl, die verweigert werden, z. B. Fleisch, Ge-
treide, Leder, Gewebe, so gibt es doch keine
Nahrung, die die Schaben unbedingt jeder ande-
ren vorziehen. Besonders interessant sind nun
die durch die außerordentliche Scheuheit der
Tiere sehr erschwerten Beobachtungen der Kopu-
lation. Dieser voraus geht ein Liebesspiel, das
I — I Vs Stunden dauert. Das ^ betrillert mit den
Antennen dem $ gegenüberstehend dessen An-
tennen. Nach I Min. etwa erhebt das (J die
Flügel, macht eine Kehrtwendung und bringt so
seinen Hinterleib möglichst nahe an den Kopf
des $. Die freigelegte Rückendrüse wird vom $
berochen, und dann das Sekret aufgeleckt, wobei
sich das Abdomen des ^ mehr und mehr streckt,
bis es die 2. Bauchplatte des $ erreicht. Dann
beginnt der eigentliche Kopulationsakt. „Das ^
schnellt sich, einige schnelle Schritte rückwärcs
machend, nach hinten — die Trillerbewegung
wird wieder aufgenommen — , die Enden beider
Abdomina liegen jetzt unmittelbar übereinander."
Gleichzeitig werden die männlichen Sexualorgane
ausgestoßen. „Der Titilator greift von unten her
zangenartig an die Subgenitalplatte des $ an, zieht
diese nach unten, und macht so den Weg für die
Einführung des Penis in die Vagina frei. Der
Penis — biegt sich von hinten unten nach vorn
oben — um, und wird in die Vaginalöffnung
hineingeschoben."
Etwa 1 1 Tage nach der Kopulation beginnt
die Bildung des Kokons. Zunächst dehnt sich
der Querschnitt der Hinterleibsmitte, in dorso-
ventraler Richtung stark ausgebuchtet, aus. Dann
tritt zwischen den Hautfalten der Subgenitalplatten
die Spitze des Kokons hervor. Das zunächst auf
der Schmalseite stehende Kokon dreht sich dann
um 90" nach rechts auf die Breitseite. Den Bil-
dungsstoff liefern Drüsenschläuche, die an den
Gonapophysen ausmünden. Durch das Anschwel-
len der Hautfalten der Subgenitalplatte wird nach
innen ein Hohlraum abgeschlossen. An der In-
nenseite desselben erhärtet das Drüsensekret zu
einem Häutchen, der ersten Kokonkammer, die
durch die Form des Hohlraumes ihre charakte-
ristische Gestalt aufgeprägt bekommt. Nun tritt
aus dem Eileiter ein Ei. Dies wird mit seinem
Kopfende nach dem Rücken des Muttertieres zu
aufgerichtet, an die Wand des Kokons angelegt,
und durch neues Sekret in ein Eifach abgeschlos-
sen. Darauf kommt das nächste Ei. Die Eier
stellen sich immer alternierend rechts und links
an die Seite des Kokons, wodurch in der Mitte
die zickzackförmige Scheidewand entsteht. Dabei
kommen die Eier des rechten Ovars auf die linke
Seite, die des linken Ovars auf die rechte Seite
320
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 21
des Kokons zu Hegen. Nach 24 Tagen wird das
Kokon abgelegt, und eine halbe Stunde später
schlüpfen die ersten Larven heraus; der Kokon
platzt dabei entlang der Zähnchennaht auf. Die
Larven machen 6 Häutungen durch und brauchen
vom Ausschlüpfen bis zur Ausbildung zur Imago
ca. 170 Tage. .
Die Beeinflussung der Tiere und ihrer Ent-
wicklung durch äußere Reize ist ziemlich gering.
Licht und Feuchtigkeit sind fast bedeutungslos.
Wesentlich sind nur die Temperatureinflüsse. Das
motorische Minimum liegt bei -\- 4" (Maximum
+ 40"). Die Kältestarre tritt ein bei + 2" (Wärme-
starre -I-42''). Das vitale Minimum ist bei — 5"
(Maximum 4-45'')- Besonders wirkt die ver-
schiedene Temperatur beschleunigend oder ver-
zögernd auf die Entwicklung. Sehr empfindlich
ist die Schabe auch gegen Luftströmungen (physik.
Reiz). Gegen Hunger ist sie ziemlich widerstands-
fähig. Die (J sterben nach ca. 15, die $ nach
30 — 40 Tagen.
Als Bekämpfungsmittel kommt neben Fraß-
giften besonders Blausäuredurchgasung in Betracht.
Berlin-Dahlem. H. Hofifmann.
Bücherbesprechungen.
Pirquet, Cl., System derErnährung. IV. Teil.
Berlin 1920, Springer.
Abhandlungen Pirquets und seiner Mit-
arbeiter aus dem Gebiete der praktischen Ernäh-
rungslehre und der Kinderheilkunde. Pirquet
bespricht die Kontrolle des Nährwertes gekochter
Speisen, den Nährwert der Kondensmilch, die
Bestimmung des Fettgehaltes der Speisen und die
Kontrolle des Backprozesses. Von den übrigen
Arbeiten seien erwähnt: Trockensubstanzbestim-
mungen in fertigen Speisen (Wagner), Bestim-
mung des Nemwertes aus dem spezifischen Ge-
wicht (Hecht), sowie verschiedene Ernährungs-
studien an Säuglingen und kranken Kindern von
Schick, V. Gröer, Zillich und Nobel.
Brücke, Innsbruck.
ganz gelegentlich auf eine zureichende Erklärung
der alchimistischen Rezepte einlassen kann. Man
hat beim Lesen des Buches oft den Wunsch nach
ausführUcherer Darstellung, was immerhin eine
Seltenheit bei Büchern ist. Wächter.
Bein, Dr. Willy, DerStein derWeisen und
die Kunst Gold zu machen. Irrtum und
Erkenntnis in der Wandlung der Elemente, mit-
geteilt nach den Quellen der Vergangenheit
und Gegenwart. Mit 10 Abb. Voigtländers
Quellenbücher Bd. 88. Leipzig, Voigtländers
Verlag.
An der Hand von Auszügen aus den Quellen
aller Zeiten gibt der Verf. ein übersichtliches Bild
über die Ziele und Entwicklung der Alchimie.
Im Vorwort wie im Schlußkapitel „Auf dem
Wege zur Verwirklichung der Stoffumwandlung"
wird auf die neuen umwälzenden Entdeckungen
in der Chemie hingewiesen, und diese werden in
anregender Weise in Zusammenhang mit den
alchimistischen Bestrebungen gebracht.
Der Inhalt des Buches bietet sehr viel Inter-
essantes, und man muß nur bedauern, daß wegen
des beschränkten Raumes manches manchem un-
verständlich bleiben muß, da sich der Verf. nur
Loele, W., Hubertusburg, Die Phenolreak-
tion (A Idaminreaktion) und ihre Be-
deutung für die Biologie. Leipzig 1920,
W. Klinkhardt.
Im Anschlüsse an histologische Beobachtungen
über eine elektive Färbung einzelner Gewebsele-
mente mit Reagenzien, welche die Gegenwart
Phenol-bindender Substanzen in tierischen und
pflanzlichen Zellen nachweisen sollen, stellt der
Verf allerhand Theorien auf, die jeglicher Grund-
lage entbehren. Brücke, Innsbruck.
Lodge, Sir Oliver J. , Raymond ou la vie
et la mort. 299 S. Paris, Payot. 7,50 Frs.
Lodge versucht durch spiritistische Experi-
mente (Tischrücken, automatisches Sprechen und
Schreiben des Mediums im Trancezustand) aus
dem „Jenseits" Dinge zu erfahren, die allen An-
wesenden unbekannt sind und später verifiziert
werden können. Die so gesammelten Tatsachen
sind samt und sonders banal. Die Geister wären
demnach keineswegs auf einer höheren Wissens-
stufe als wir. Die Verifikationen sind häufig ge-
künstelt, nicht immer überzeugend. Auch ist in
den meisten Fällen die Möghchkeit nicht ausge-
schaltet, daß die vom Geist gemeldeten Tatsachen
doch im Unterbewußtsein den Teilnehmern bekannt
waren. In dieser Hinsicht ist Lodge nicht ge-
nügend kritisch. Warum unterhält er sich mit
seinem gefallenen Sohn nicht über physikalische
Probleme ?
E. L Gumbel (Berlin).
Inbalt: J. Schuster, Hundert Jahre Phytopaläontologie in Deutschland. S. 305. Fr. Nölke, Über den Kreislaufprozeß
des Wassers. S. 310. J. Wilhelmi, Zur Ausgestaltung der Schädlingsbekämpfung. S. 312. — Einzelberichte: O. B.
Böggild, Neue Mineralien. S. 316. M. Bamberger und K. Grengg, Die Farben von Mineralien und anorgani-
schen Stoffen bei tiefen Temperaturen. S. 317. H. Frhr. Geyr v. Schweppenburg, Zur Pflanzengeographie der
inneren Sahara. S.318. H. Fehlinger, Der Bergbau in Mexiko. S. 319. Joh. Wille, Die deutsche Schabe. S. 319.
— Bücherbesprechungen: Cl. Pirquet, System der Ernährung. S. 320. W. Bein, Der Stein der Weisen und die
Kunst Gold zu machen. S. 320. W. Loele, Die Phenolreaktion (Aldaminreaktion) und ihre Bedeutung für die Bio-
logie. S. 320. Sir Oliver J. Lodge, Raymond ou la vie et la mort. S. 320.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag Ton Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d.S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der gaiuen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 2g. Mai 1921.
Nummer äS.
Der Farbensinn des Menschen und seine angeborenen Störungen.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. W. Klingelhöffer, Augenarzt, Offenburg i. B.
Lassen wir durch einen ganz schmalen Spalt
in ein dunkles Zimmer Sonnenlicht eindringen, so
erscheint es an der gegenüberliegenden Wand als
heller Streif. Halten wir nun ein keilförmiges
Stück Glas, ein sog. Prisma, hinter den Spalt, so
entsteht vor unseren Augen eine der glänzendsten
Erscheinungen der ganzen Optik. Der farblose,
helle Streifen verschwindet, aber etwas seitlich von
ihm breitet sich herrlich leuchtend, in den Farben
des Regenbogens ein Band, das Spektrum. Wir
erklären uns das bekanntlich so : Das Sonnenlicht
ist ein Gemisch elektromagnetischer Wellen der
verschiedensten Länge. Bei dem Durchtritt durch
den optisch dichteren Glaskeil vermindern alle
ihre Geschwindigkeit, alle werden daher gebrochen
und nach der Basis des Prismas abgelenkt, aber
je kürzer ihre Wellenlänge, um so stärker, so daß
sie sich nun genau nach der Wellenlänge geordnet,
gefächert, wie Oswald sich ausdrückt, neben-
einander lagern. Von diesen Wellen vermag nun
unser Sehapparat die zwischen den Längen von
rund 400 — 800 Millimikra voneinander zu unter-
scheiden als verschiedene Seheindrücke, die wir
Farben nennen. Wallace hat recht, wenn er
sagt, daß dieses Sehen der Farben die erstaun-
lichste und unbegreiflichste von allen Sinnes-
wahrnehmungen ist. Wie gering auf der einen
Seite die Unterschiede in den Wellenlängen. Es
handelt sich ja nur um Tausendstel von Tausendstel-
millimetern. Wie groß auf der andern die Gegen-
sätze und Verschiedenheiten zwischen den im
Sehapparat ausgelösten Wahrnehmungen.
Der langwelligste Teil des sichtbaren Spek-
trums löst einen Eindruck aus der Farbe gleich,
die der farbentüchtige Mensch als Rot bezeichnet.
Daran schließen sich unter Abnahme der Wellen-
länge: Orange, Gelb, Gelbgrün, Grün, Blaugrün,
Cyanblau, Indigo und Violett. Über das Rot hin-
aus setzt sich das Spektrum für uns unsichtbar
noch weiter fort. Diese ultraroten Strahlen wer-
den als Wärme empfunden. Man hat sie nach-
gewiesen bis zu einer Wellenlänge von 0,342 mm.
Dann schließt sich ein unerforschtes Stück an.
Mit einer Wellenlänge von 2 mm beginnend fol-
gen danach die elektrischen Wellen, deren längste
von den modernen Großstationen ausgesendete
10 000 m hat. Auf das violette Ende folgt zu-
nächst noch ein unter günstigen Bedingungen
sichtbarer lavendelfarbiger Teil, dann kommen die
chemisch stark wirkenden ultravioletten Strahlen,
bis zu 60 Millimikra. Auch hier klafft wieder
eine unbekannte Lücke bis zu den längsten Röntgen-
strahlen mit 1,2 Millimikra Wellenlänge.
An jedem Ende des sichtbaren Spektrums
gibt es einen Abschnitt, die sog. Endstrecke,
in welcher sich der Farben ton nicht mehr ändert,
sondern nur noch die Helligkeit. So sieht der
Farbentüchtige am langwelligen Ende von 656 bis
760,4 ein immer dunkler werdendes Rot, am an-
dern von 431 bis 397 ein immer dunkler werden-
des Violett. Die hellste Stelle des Spektrums
überhaupt sieht der Farbentüchtige in der Gegend
des Gelb bei Wellenlänge 580. Bringt man zwi-
schen Prisma und Auffangeschirm einen ent-
sprechend schmalen Spalt, so kann man eine ein-
zelne Farbe aus dem Spektrum für sich allein
darstellen. Läßt man sie durch ein weiteres
Prisma gehen, so tritt keine weitere Zerlegung
mehr ein, sondern nur eine Ablenkung. Wir
haben eben eine sog. spektrale Farbe vor uns, ein
reines Licht von einer Wellenlänge und -Art.
Derartige reine spektrale Farben sind aber in der
Natur äußerst selten. Was wir an Farben um
uns sehen, die Pigmentfarben, setzen sich durchweg
aus Strahlengemischen zusammen. Beide aber,
spektrale und Pigmentfarben können in unserm
Sehapparat genau die gleiche Empfindung aus-
lösen. Während unser Ohr ein Tönegemisch in
seine einzelnen Bestandteile aufzulösen vermag,
ist unser Auge nicht imstande, aus einem Licht-
gemisch die einzelnen verschiedenen Wellenlängen
gesondert zu empfinden. Eine Summe von Reizen
vermag also in ihm einen einfachen Eindruck
hervorzurufen, worüber Goethe in seinen Ar-
beiten über Farbensinn strauchelte.
Man hat Apparate konstruiert, welche ge-
statten, mit einer aus dem Spektrum herausge-
nommenen beliebigen Strahlenart die Hälfte einer
Scheibe zu beleuchten, während die andere durch
ein willkürlich zu änderndes Gemisch von zwei
oder drei Strahlenarten getroffen wird. Nun hat
man versucht eine Mischung zu finden, die dem
eingestellten reinen Licht genau gleich war. Es
ergaben sich dabei mehrere Mischungsgesetze.
1. Mischt man zwei im Spektrum nahe zu-
sammenliegende Strahlenarten, so gleicht die
Mischung einer im Spektrum dazwischen liegenden
Farbe. So gibt z. B. ein Gemisch von Rot der
Lithiumlinie (670) und Gelbgrün der Thalliumlinie
(526) ein Gelb, das etwa dem der Natriumlinie
(89) gleicht. Diese sog. Ray leighsche Gleichung
müssen wir uns merken, denn sie spielt bei der
Untersuchung der Farbensinnstörungen eine große
Rolle.
2. Nimmt man Strahlen aus dem kurzwelligen,
violetten und aus dem langwelligen, roten Ende,
322
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
so ergibt das Gemisch eine neue Farbe, die im
Spektrum nicht vorhanden ist, aber gleichsam ein
Bindeglied zwischen seinen beiden Enden darstellt,
die Purpurfarbe. Nun kann man einen Farben-
kreis bilden, in welchem immer eine Farbe in die
andere übergeht. Z. B. Rot durch Orange in
Gelb, dieses durch Gelbgrün in Grün, dann folgt
Grünblau, Blau, Violett und Purpur, das wieder
in Rot übergeht. Es lassen sich natürlich noch
weit mehr Farbentöne herauszählen, nach König
sollte der Mensch i6o im Spektrum unterscheiden
können. Nehmen wir zu diesen bunten Farben
noch die von O s t w a 1 d als unbunte bezeichneten
Schwarz und Weiß mit ihren Übergängen durch
Grau, so haben wir alle für unsern Sehapparat
unterscheidbaren Farbenarten und können sie auf
einem Doppelkegel anbringen, so daß der Farben-
kreis einen Ring um die gemeinsame Grundfläche
bildet. Auf dem einen Kegelmantel wären die
dunkelklaren Farben, d. h. die Übergänge der
Farben zu dem an der Kegelspitze liegenden
Schwarz, auf dem andern die hellklaren, d. h. die
Übergänge zum Weiß der Spitze anzuordnen. Die
Kegelachse würde die Graureihe zeigen, während
auf den Kegelschnitten die trüben Farben, d. h.
die Mischungen der bunten Farben mit Grau
lägen.
Jede Farbe des Farbenrings geht nach zwei
Seiten in eine andere über, z. B. Blau in Grün
und Rot. Zwischen zwei gegenüberliegenden
aber gibt es keine Übergänge. Es gibt kein
rötliches Grün und kein gelbliches Blau.
Mischt man zwei derartige sog. Ergänzungs-
oder Gegenfarben im Mischapparat, so erhält man
— und das ist das dritte Mischungsgesetz, das
wir uns merken wollen — , ein farbloses weißes
Licht. Hinzufügen muß ich, daß nur spektrale
Gegenfarben sich so verhalten. Pigmentfarben
vereinigen sich als Ergänzungsfarben nur zu einem
unreinen Grau.
Zu erwähnen sind ferner noch die vier sog.
Urfarben: ein Blau und ein Gelb, die kein Rot
oder Grün enthalten und ein Rot und Grün ohne
Blau und Gelb.
Aus den Mischungsversuchen hat sich nun er-
geben, daß sich alle Farbentöne, welche unser
Auge im Farbenkreis zu unterscheiden vermag,
herstellen lassen, wenn wir im Mischapparat drei
Lichter verschiedener Wellenlänge in verschie-
denen Verhältnissen miteinander vermengen. Es
lassen sich also drei Aichkurven festlegen, für jede
der verwendeten Strahlenarten eine. Nach diesem
Ergebnis nennt man den Farbensinn des farben-
tüchtigen Menschen einen trichromatischen,
einen dreifarbigen; nur deshalb, nicht etwa wegen
der ähnlich lautenden Young-Helmholtz-
schen Farbentheorie.
Diese Trichromasie gilt aber nicht für alle
Teile unseres Sehapparates. Wenn wir mit klei-
nen Stückchen farbigen Papiers eine Gesichtsfeld-
aufnahme machen, so finden wir, daß ein urrotes
oder urgrünes an einer bestimmten Stelle der
Peripherie uns auf einmal weiß erscheint. Urgelb
und Urblau behalten ihre Farbe noch etwas länger,
gehen aber dann ebenfalls in Weiß über. Wir
haben also in der Peripherie unseres Gesichts-
feldes eine ringförmige Zone, in der nur Blau
und Gelb unterschieden wird. In ihr wären also
nicht mehr drei, sondern nur zwei Lichter nötig,
um alle erkennbaren Farben hervorzurufen. Und
in dem daranstoßenden Bezirk, in dem auch Blau
und Gelb farblos wurden, genügt sogar e i n Licht.
Das Farbensystem ist also aus einem trichroma-
tischen zuerst dichromatisch, dann monochroma-
tisch geworden.
Etwas Ahnliches, wie das, was wir eben in der
Gesichtsfeldperipherie jedes Auges festgestellt
haben, kommt nun auch angeboren vor über das
ganze Gesichtsfeld verbreitet als Farben-
blindheit.
Treten wir von einer hellerleuchteten Straße
in einen dunklen Raum, so sehen wir zuerst gar
nichts. Gar bald aber wird es heller und heller
um uns, ohne daß sich die Beleuchtung des
Raumes irgendwie geändert hätte. Es ist viel-
mehr eine Steigerung der Empfindlichkeit unseres
Sehapparates eingetreten, die sog. Dunkeladap-
tation, welche nach lo — 15 Minuten das 50 fache
des Ausgangswertes erreicht. Ist die Dunkelheit
eine völlige, so erhöht sich die Adaptation noch
weiter im Laufe von ^/j — ^U Stunden, bis auf das
500 fache. Diese zweite Steigerung macht aber
der gelbe Fleck nicht mit. Darauf hat Pari-
naud die Theorie der Doppelnetzhaut aufgebaut,
indem er annahm, daß den Zapfen das Sehen im
Hellen und die Farbenempfindung zukäme,
während die weit empfindlicheren Stäbchen das
Dämmerungssehen vermittelten. Da in den Außen-
gliedern der letzteren sich der rote, am Licht
bleichende Sehpurpur findet, so hat man seine
Neubildung als Ursache des zweiten Stadiums der
Dunkeladaptation auffassen wollen.
Blicken wir nun in einem dunklen Zimmer mit
einem dunkeladaptierten Auge nach einem ganz
lichtschwachen Spektrum, so sehen wir kein Farben-
band mehr, sondern einen farblosen Streifen,
dessen einzelne Teile verschieden hell sind.
Nun wird aber, wie uns Hering gezeigt hat,
die Helligkeit einer farbigen Empfindung bestimmt
durch den farblosen, sowie durch Art und Größe
des farbigen Empfindungsanteils. Rot und Gelb
wirken erhellend, Grün und Blau verdunkelnd auf
die Helligkeit der Gesamtempfindung, um so mehr
je stärker der farbige gegenüber dem farblosen
Empfindungsanteil hervortritt. Fällt nun der farbige
Anteil fort, so muß sich auch die Verteilung der
Helligkeit im Spektrum ändern. Die hellste Stelle
liegt jetzt daher nicht mehr in der Gegend des
Gelb bei 580, wo sie das helladaptierte Auge
im farbigen Spektrum sieht, sondern im Gelbgrün
bei 530.
Ferner erscheint das langwellige Ende am
dunkelsten und ist erheblich verkürzt. Es besteht
also eine sehr deutliche Herabsetzung der Emp-
N. F. XX. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
323
findlichkeit für langwelHge Strahlen. Wir können
sie noch durch eine weitere Erscheinung nach-
weisen. Machen wir das Spektrum etwas licht-
stärker, so daß Farben gerade noch sichtbar wer-
den, so erscheint Rot uns viel dunkler als Blau,
während bei Helladaptation das umgekehrte der
Fall ist. Man bezeichnet dies als Purkinj esches
Phänomen.
Diese drei Eigenschaften, die das farben-
tüchtige Auge bei Dunkeladaptation
aufweist, hat das völlig farbenblinde Auge
bei jedem Zustand. Ihm erscheint die Welt wie
ein Bromsilberdruck, grau in grau oder vielleicht
in verschiedenen Abstufungen von bläulich. Farben
gibt es für ein solches Auge nicht, nur Hellig-
keitsunterschiede, aber diese erkennt es weit
besser, als das farbentüchtige. Also auch dem
völlig Farbenblinden kommen die einzelnen Far-
bentöne keineswegs gleich vor, sondern erheblich
verschieden, aber n u r in der Helligkeit. Er
kann sie aber niemals unterscheiden von der
Grauabstufung, welche für ihn mit der vorgelegten
Farbe gleiche Helligkeit hat. So konnte ein in-
telligenter Musiker, an welchem Hering die
ersten grundlegenden Feststellungen über die
vöUige Farbenblindheit machte, aus Papieren, von
denen man ihm gesagt hatte, daß sie farbig
wären, das rote herausfinden, „weil es am
dunkelsten wäre", dagegen war er niemals dazu
imstande, es von einem bestimmten Grau heraus
zu suchen.
Völlig farbenblinde Menschen haben meist
herabgesetzte Sehschärfe, manchmal zeigt auch
gerade die dem gelben Fleck entsprechende zen-
trale Stelle des Gesichtsfeldes einen Ausfall. Oft
bestehen Augenzittern und Brechungsfehler. Helles
Tageslicht blendet den Monochromaten, dagegen
sieht er in der Dämmerung besser. Ob ihm, wie
es Parinauds Theorie verlangt , die Zapfen
fehlen, ließe sich nur durch mikroskopische Unter-
suchung eines völlig farbenblinden Auges nach-
weisen.
Während der Monochromate ein hohes wis-
senschaftliches Interesse hat, kommt den Dichro-
maten eine sehr große praktische Bedeutung zu.
Dichromaten (Zweifarbner) sind Leute, bei
denen schon zwei aus den beiden Enden des
Spektrums gewählte Lichter genügen, alle für
sie unterscheidbaren Farbentöne auszulösen. Sie
haben also nur zwei Farbentöne, die sie mit
der Schwarzweißreihe kombinieren können. Man
hat am Mischapparat für jeden einzelnen Farben-
ton, den der Dichromat unterscheidet, festgestellt,
welche Lichter zu nehmen und in welchem Ver-
hältnis zueinander sie zu mischen sind. Dabei
ließen sich drei Arten von Dichromaten unter-
scheiden, von denen jeder eine der beiden Aich-
kurven mit einem anderen gemeinsam hat. Mit
anderen Worten dürfen wir wohl sagen: jedem
dieser drei fehlt von den 3 Aichkurven
desTrichromaten eine andere, dem ersten,
dem Protanopen (die erste nicht sehend), die im
roten Teil des Spektrums gelegene, dem zweiten,
dem Deuteranopen, die im Grün und dem dritten,
dem Tritanopen, die im Blau. Die letzte Form,
die Blaugelbblindheit, kommt sehr selten zur Be-
obachtung, wird vielleicht auch oft übersehen, da
sie infolge der gebräuchlichen Signalordnung der
Eisenbahnen bedeutungslos ist. Vom Spektrum
wird nur Rot und Grün gesehen, die gegenein-
ander verlaufen, so daß da, wo wir Gelb sehen,
eine farblose Stelle liegt.
Um so wichtiger sind die beiden anderen
Formen. Wir fassen sie zusammen unter dem
Namen der angeborenen Rotgrünbhndheit. Den
Protanopen, der eine hochgradige Unterempfind-
lichkeit für Rot hat, als Rotblinden, den Deute-
ranopen als Grünblinden zu bezeichnen, wie es
noch häufig geschieht, halte ich nicht für zweck-
mäßig, da ich aus Erfahrung weiß wie sehr diese
Namen zu Irrtümern verführen. Beide, der
Protanop und der Deuteranop, sehen Rot und
Grün nicht so, wie es der Farbentüchtige sieht.
Bei 3 Vi^/o der Männer wird diese Störung ge-
funden, bei Frauen dagegen nur ganz ausnahms-
weise. Viele stellen sich, wie ich oft in der
Sprechstunde zu hören bekomme, vor, daß ein
Farbenblinder etwa sagt: „Denken sie sich, ich
sehe alles, was rot ist, grün." Eine solche Auf-
fassung ist natürlich ganz falsch.
Es hat rechte Mühe gekostet, dahinter zu
kommen, wie der Farbentüchtige die Farben-
empfindungen des Farbenblinden benennen würde.
Dieser selbst kann darüber nichts aussagen. Da
sein Fehler ein angeborener ist, und er infolge-
dessen nie andere Farbeneindrücke empfangen
hat, fehlt ihm jede Vergleichsmöglichkeit. Aus
den Untersuchungen am Mischapparat, mit Ver-
wechslungsfarben und namentlich aus den Aus-
sagen der seltenen Fälle einseitiger FarbenbUnd-
heit, haben wir aber doch jetzt sicher festgestellt,
daß der Rotgrünblinde anstatt der Fülle der
Farbentöne des Farbentüchtigen nur zwei im
Spektrum sieht, einen „warmen" auf der lang-
weUigen Seite, der unserem Gelb entspricht, und
einen „kalten" blauen auf der kurzwelligen. Beide
werden nach der Mitte zu immer blasser bis zu
einer farblosen Stelle, dem neutralen Punkt, um
495 herum, wo der Farbentüchtige blaugrün sieht.
Die hellste Stelle liegt auch für den Rotgrün-
bUnden im Gelb, und zwar beim Deuteranopen,
wie beim Farbentüchtigen bei 600, für den Pro-
tanopen aber bei 570. Von hieraus nach der
langwelligen Seite zu sieht der Rotgrünblinde
anstatt gelb, orange, rot nur ein immer dunkler
werdendes Gelb. P'ür den Protanopen ist dieses
Gelb infolge seiner bedeutenden Unterempfind-
lichkeit für langwellige Strahlen in der Gegend
von Rot sehr stark mit schwarz verhüllt. Sein
Spektrum hört auch schon bei 770 auf sichtbar
zu sein, während es für den Farbentüchtigen und
Deuteranopen bis über 800 hinaus reicht. Nach
der kurzwelligen Seite zu sehen die Rotgrün-
bUnden anstatt gelb, gelbgrün und grün, ebenfalls
324
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
gelb, das immer blasser wird, bis in der Gegend
des Blaugrün völlige F"arblosigkeit eingetreten ist.
Dann setzt ein zartes Blau ein, das zunächst
immer stärker, danach gegen das Spektrumende
dunkler wird. Nehmen wir an Stelle des Spek-
trums Pigmentfarben, so sieht der Deuteranop
Rot als Dunkelgelb, der Protanop empfindet es
etwa 5 mal dunkler, schwarzgelb. Das im für
ihn fehlenden Teil des Spektrums gelegene Dunkel-
rot sieht er als schwarz. Pigmentblaugrün ist für
beide grau, für den Protanopen aber dunkler.
Sehr schön kann man sich die Art der Far-
benempfindung der Rotgrünblinden am Anomalo-
skop vor Augen führen. Bei diesem vorzüglichen,
von Nagel angegebenen Instrument wird die
untere Hälfte einer Scheibe mit spektralem Gelb
der Natriumlinie (89) erleuchtet, dessen Helligkeit
sich durch Drehen einer Schraube abstufen läßt.
Die obere Hälfte erhält je nach der Stellung einer
Schraube rotes spektrales Licht der Lithiumlinie
(670) oder spektrales Grün der Thalliumlinie (526).
Es läßt sich aber auch durch Vermischung dieser
beiden Strahlenarten Gelb hervorrufen. Der Unter-
suchte muß nun durch Verstellung beider Schrau-
ben zu erreichen suchen, daß die obere und
untere Hälfte der Scheibe für ihn genau gleich
gefärbt und gleich hell wird. Dabei zeigt sich,
daß für die Rotgrünblinden sowohl zwischen Rot
und Gelb, als auch zwischen Grün und Gelb eine
Gleichung herstellbar ist.
Das Spektrum der Rotgrünblinden und des
Farbentüchtigen muß jeder im Gedächtnis be-
halten, der sich mit Farbenprüfungen beschäftigt.
Nur so wird es ihm gelingen, und zwar ziemlich
leicht, sich ein Verständnis der Verwechslungs-
farben zu erringen. Einige Beispiele mögen es
verdeutlichen :
Für den Farbentüchtigen wird aus Rot und
Gelb Gelbrot. Der Rotgrünblinde sieht Rot als
Dunkelgelb, ebenso empfindet er Gelbrot.
Für den Farbentüchtigen wird aus Grün und
Gelb Gelbgrün. Der Rotgrünblinde sieht Grün
als Dunkelgelb, ebenso empfindet er Gelbgrün.
Er kann also ein Gelbrot mit einem Grüngelb
verwechseln, wenn beide für ihn gleiche Hellig-
keit haben, da beide ihm Dunkelgelb erscheinen.
Grün und Blau gibt für den Farbentüchtigen
Blaugrün. Der Rotgrünblinde sieht Grün als
Dunkelgelb. Gelb und Blau sind Gegenfarben
und ergeben als Pigmentfarben Grau.
Rot und Blau gibt für den Farbentöchtigen
Purpur. Für den Rotgrünblinden ist Rot =
Dunkelgelb. Blau und Gelb ergeben Grau als
Gegenfarben. Der Rotgrünblinde kann also Blau-
grün, Purpur und Grau verwechseln. Deshalb
wurde dieser Namen für ihn vorgeschlagen.
Braun ist ein Gemisch von Rot, Gelb und
Schwarz, Oliv von Grün, Gelb und Schwarz.
Setzen wir an Stelle von Rot und Grün
Dunkelgelb, so wird es erklärlich, warum Braun
und Oliv Verwechslungsfarben sind.
Wieviel geht doch dem Rotgrünblinden an
ästhetischem Genuß verloren. Wie eintönig ist
für ihn ein Blumengarten. Nur Blau und Gelb,
dazwischen Grau, Weiß und Schwarz. Das ist
alles. Goethe hat recht, wenn er sagt, daß der
Rotgrünblinde die Landschaft stets im Herbst-
kleide sähe.
Wie ist es aber nun möglich, daß die meisten
Rotgrünblinden von dieser Armut ihrer Farben-
empfindung gar nichts merken, ja daß sie auf
ihren Defekt aufmerksam gemacht, sich oft schwer
davon überzeugen lassen ? Einmal fehlt ihnen,
wie ich schon sagte, jede Vergleichsmöglichkeit,
sodann aber sind sie mit einer ganz ungemein
feinen Empfindung für Helligkeitsunterschiede
begabt.
Ganz geringfügige Verschiedenheiten in der
Helligkeit und Sättigung der Farben, die der
Farbentüchtige nicht empfindet, zum wenigsten
nicht beachtet, geben für sie wichtige Anhalts-
punkte zur Beurteilung und zur Benennung der
Farben. Und nun kommt das, was den Unkun-
digen verwirren muß, was ihn an unserer Diagnose
der Farbenblindheit stets wieder zweifeln läßt.
Er hört nämlich Leute, die wir ihm als Rotgrün-
blind vorstellen und von denen wir ihm gesagt
haben, daß sie Rot und Grün nicht als solches,
sondern als Gelb sähen, dennoch z. B. die Erd-
beeren rot und ihre Blätter grün nennen. Wie
soll er aber glauben können, daß eine Person, die
eine Farbe so wie er bezeichnet, sie nicht auch
wie er empfindet? Dann würde sie doch, so
schließt er, ihr auch einen anderen Namen geben
müssen. Er vergißt dabei nur eins. Die Farben-
blindheit ist ja angeboren. Wenn das Kind den-
ken lernt, hört es, daß die Blätter grün, die Erd-
beeren rot sind. Da es natürlich keine Ahnung
hat, daß seine Farbenempfindung von der der
anderen IVIenschen abweicht, bezeichnet es mit
diesen gehörten Namen die Farbeneindrücke, die
es davon bekommt. Es fallt ihm gar nichts da-
bei auf, als daß es die Erdbeeren so sehr viel
schlechter findet als seine Kameraden. Im Laufe
der Jahre lernen viele Rotgrünblinde die Farben
Rot, Orange, Gelb, Grün usw. aus Helligkeits-
und Sättigungsunterschieden so fein voneinander
unterscheiden, daß es ihnen unter Umständen ge-
lingt, vorgelegte farbige Stoff- oder Papiermuster
völlig richtig mit Namen zu benennen, namentlich
dann, wenn sie ihren Defekt kennen und verheim-
lichen wollen. Deshalb die alte Regel, daß man
niemals während einer Prüfung auf Farbensinn
mit den Wahlproben die Farben mit Namen
nennen soll, um dem Prüfling keine Anhalts-
punkte zu geben, nach denen er sich richten kann.
Also auch ein Rotgrünblinder kann Farben,
trotzdem er sie anders als ein Farbentüchtiger
empfindet, mit denselben Namen belegen, wie
dieser. Er kann, er muß aber nicht. Legen
wir ihm einmal einen gelbroten Gegenstand vor,
oder geben wir ihm, wie dies bei einer Farben-
sinnprobe gemacht wird, einen gelbroten Bleistift
in die Hand und fordern ihn auf^ den Namen der
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
325
Farbe des Stiftes aufzuschreiben. Ist er unbeein-
flußt, so wird er wohl dunkelgelb schreiben, weil
er die Farbe so empfindet. Aber es können auch
allerlei Überlegungen hineinspielen. Das wird
namentlich der Fall sein, wenn es sich um einen
Eisenbahnbediensteten handelt, der seinen Fehler
verheimlichen möchte. Dann wird er „Rot"
schreiben, oder aber, wenn er im Raten daneben
haut, „Grün", da ja beide Farben für ihn eine
Abstufung von Gelb sind. Das gleiche gilt, wenn
wir ihm einen gelbgrünen Stift geben. Blaugrün
empfindet der Rotgrünblinde als mehr oder we-
wiger dunkles Grau. Er kann demnach als Stift-
farbe „Grau" schreiben, aber ebensogut auch aus
den oben erwähnten Gründen : Rot oder Grün,
da Purpurrot und Blaugrün für ihn grau aussehen.
Das gleiche gilt für einen bläulichroten Stift. Bei
einem dunkeln Rot steht dem Protanopen die
Wahl frei zwischen Schwarz oder Rot. Für welche
der angegebenen Benennungsmöglichkeiten er sich
entscheiden wird, läßt sich nicht voraussagen, das
hängt von allerlei Umständen ab, die teils in
Überlegungen und Stimmungen und Erinnerungs-
bildern des Untersuchten, teils in Beleuchtung
oder in der P'arbe der Umgebung begründet sind.
Legt man z. B. ein dunkles und helles Gelb neben-
einander, so kann er auf die Vermutung kommen,
das dunkle sei rot, ein helles Rot neben einem
dunklen könnte er dagegen für Gelb halten.
Als roten Faden in all diesen Wirrnissen müssen
wir uns immer wieder das Spektrum vor Augen
halten, wie es der Farbentüchtige und wie es der
Rotgrünblinde sieht, das wird uns der beste Weg-
weiser sein.
Es gab vor Jahren eine Probe für das Fahr-
personal auf der Strecke am Signalmast. Man
hielt sie allseitig für besonders zweckmäßig, weil
sie gerade die Anforderungen des Dienstes an den
Farbensinn so recht deutlich und einwandsfrei
wiederzugeben schien. Im Fahrdienst werden
verwendet die Glaslichter: Rot, Grün, Blau und
Gelb. Die beiden letzteren sieht der Rotgrün-
blinde wie der Farbentüchtige, also Blau und Gelb.
Das als Signal gebrauchte Rot empfindet er als
mehr oder weniger dunkles Gelb, das gebräuch-
liche Grün als weißlich, da es in der Nähe des
neutralen Punktes liegt. Diese vier Lichter sind
demnach auch für viele Rotgrünblinde verschieden
genug voneinander, um sie an einem freistehen-
den Signalmast bei der angestrengten Aufmerk-
samkeit, die der Prüfling aufwenden wird und
auch bei der Kürze der Untersuchung aufwenden
kann, zu unterscheiden und fehlerlos zu benennen,
zumal es sich nur um 4 handeln konnte. Für
den Kundigen sagt also ein Bestehen dieser Sig-
nalprobe gar nichts über den Farbensinn des
Prüflings aus. Ganz anders urteilt der Laie und
mit ihm leider auch immer noch eine Reihe von
Ärzten. Sie sagen: „In der Unterscheidung der
Hauptfarben ist der Untersuchte sicher". Der
weitere Schluß liegt nahe. „Da er die im Dienste
vorkommenden farbigen Signallichter richtig zu
unterscheiden vermag und Mischfarben (gewöhnlich
von ihnen als Nebenfarben bezeichnet) nicht ver-
wendet werden, so ist er recht wohl imstande,
die Anforderungen des Dienstes zu erfüllen."
Stellen wir uns einmal in der Dunkelheit auf eine
Rampe, welche einen Überblick über einen großen
Bahnhof gestattet. Eine Unmenge von Lichtern
schimmern uns entgegen. Grell leuchten die einen,
andere sind dunkler und wieder andere nur kleinste
Lichtpünktchen ganz in der Ferne. Die einen
sind gelb, andere haben einen mehr weißlichen
Schein. Aber von allen heben sich mit prächtiger
Klarheit für den Farbentüchtigen die roten und
grünen Signallaternen ab. Rauch- und Staub-
wolken oder Nebelstreifen können sie ihm wohl
auf einen Augenblick verdunkeln oder ungesättigt
erscheinen lassen, aber ihr Rot bleibt immer für
ihn Rot, ihr Grün bleibt Grün. Nun wollen wir
einmal einen Rotgrünblinden an seine Stelle
bringen. Er soll die roten und grünen, also die
für ihn gelben und weißen Lichter aus der Fülle
der anderen, ebenfalls weißen und gelben Lichter
herausfinden noch dazu, wenn er nicht weiß, wo
er sie zu suchen hat. So ganz leicht, sollte ich
meinen, dürfte diese Aufgabe nicht für ihn sein.
Wird nicht jede Staub- und Rauchwolke, jeder
Nebel, welche die Sättigung des Lichtes ändern,
seine mühsam errungene Anschauung wieder
völlig umzustoßen imstande sein? Und wie wird
es gar erst aussehen, wenn er sich in eiliger Fahrt
dem Bahnhof nähert? Vergessen wir doch nie:
das Farbensehen der Farbenblinden erfordert
geistige Arbeit, ist ein ewiges Erwägen, Bedenken,
Vergleichen, Vermuten und Schließen. Wo aber
bedacht, erwogen, verglichen, vermutet und ge-
schlossen wird, da ist auch ein Irren möglich.
Das Farbenerkennen des Farbentüchtigen dagegen
ist ein automatisches, unfehlbares, absolutes. Es
ist völlig unmöglich für ihn Rot und Grün zu
verwechseln. Wie die Lider sich automatisch
schließen beim Nahen eines Gegenstandes gegen
das Auge, wie die Hand unwillkürlich zurück-
zuckt, wenn ihr ein glühendes Eisen naht, so zuckt
reflektorisch die Hand des eingefahrenen, farben-
tüchtigen Lokomotivführers, zur Stellung der Ma-
schine auf langsame Fahrt, wenn seine Netzhaut
die Strahlen eines roten Lichtes treffen.
Es wäre recht schön, wenn die Rotgrünblind-
heit die einzige Farbensinnstörung wäre, welche
für den Bahnbetrieb von Wichtigkeit ist. Aber
nun kommt noch das schwierigste Kapitel von den
anomalen Trichromaten, die erst in den letzten
Jahrzehnten vor allem durch Nagels Arbeiten
bekannt geworden sind.
Anomale Trichromaten brauchen, wie
der Farbentüchtige, drei Lichter zur Auslösung
aller für sie unterscheidbaren Farbentöne, jedoch
in anderen Mischungsverhältnissen, auch müssen
die Unterschiede größer sein, wenn sie eine andere
Farbenempfindung auslösen sollen. Die Zahl der
Farbentöne, die der Anomale im Spektrum sieht,
ist deshalb eine geringere. Den meisten kommt
326
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
ihr Fehler während ihres ganzen Lebens nicht
zum Bewußtsein. Nur, wer von ihnen Farben-
umschläge bei chemischen Reaktionen z. B. Blau
und Violett bei. Magensaftuntersuchungen, das Auf-
treten des Rot beim Titrieren mit Phenolphthalein,
oder zarte Töne in mikroskopischen Präparaten
erkennen soll, merkt etwas davon. Auch die
Unterscheidung des zarten Braun und Grün auf
Landkarten macht Schwierigkeiten. Aber größere
Farbenflächen z. B. die Wollbündel bei der H o Im -
g r e e n sehen Wahlprobe werden fehlerlos erkannt.
Nehmen wir aber die Farben unter kleinen Ge-
sichtswinkeln, wie die Nag eischen Täfelchen sie
in der aus diesem Grunde vorgeschriebenen Ent-
fernung von 70 cm bieten, dann zeigt sich der
Fehler. Es besteht ferner eine Verlangsamung
der Auffassung, so daß nur für einen Augenblick
auftauchende farbige Lichter nicht in ihrer Farbe
erkannt werden. Am Anomaloskop wird ein Rot-
grüngemisch als Gelbgleichung eingestellt, das
dem Farbentüchtigen deutlich Grün beim Deutero-
anomalen, deutlich Rot beim Protanomalen er-
scheint. Letzterer hat auch eine Unterempfind-
lichkeit für Rot, wie der Protanop, so daß als
gleich ein sehr dunkles Gelb gewählt wird. Sehr
wichtig ist , daß alle Einstellungen am
Anomaloskop höchst schwankend er-
folgen. Was aber der Anomale eben als richtig
angegeben, verwirft er im nächsten Augenblick.
Vieri ing, dem wir ausgezeichnete Arbeiten über
diesen Gegenstand verdanken, sah Anomale, die
ohne daß die Einstellung am Anomaloskop über-
haupt geändert wurde, beim Hineinblicken fort-
während andere Farben angaben, als ob das In-
strument eine selbsttätige Vorrichtung zum Far-
benwechsel besäße.
Das beruht zum einen Teil auf der sehr
leichten Ermüdbarkeit des Sehapparates
beim Anomalen. Daher kann es kommen, daß
derselbe Untersuchte bei guter Stimmung und
Aufmerksamkeit und guter Beleuchtung fast dem
Farbentüchtigen gleichkommt, während er ermüdet
und verstimmt Fehler macht, daß dem Unter-
suchenden die Haare zu Berg stehen. Zum
anderen Teil kommen sie von einer zweiten Eigen-
schaft, der gesteigerten Kontrastempfin-
dung. Beim Farbentüchtigen wird der Eindruck
einer Farbe bekanntlich wesentlich beeinflußt durch
die Umgebung. So erscheint ihm z. B. ein rotes
Papier auf grünem Grunde besonders leuchtend,
ein Schwarz dunkler auf weiß. Frauen, die sich
zu kleiden verstehen, haben für diese Kontrast-
wirkung ein sehr feines, instinktives Gefühl. Bei
den anomalen Trichromaten ist diese Kontrast-
empfindung ganz bedeutend gesteigert. Stellt
man z. B. am Anomaloskop nebeneinander Rot
und Gelb ein, so erklären sie das Gelb für Grün.
Die braunen Punkte der Tafeln von Abteilung B
bei Nagel empfinden sie neben den roten eben-
falls als Grün. Neben Grün kann Gelb als Rot
angesprochen werden. Stehen mehrere farbige
Lichter von gleicher Farbe, aber ungleicher
Helligkeit nebeneinander, so täuschen sie oft ver-
schiedene Farben vor.
Wenn es schon Schwierigkeiten macht, selbst
Ärzte von der Gefährlichkeit der Rotgrün blinden
für den Fahrdienst zu überzeugen, wie schwer
wird es erst sein Laien, z. B. Betriebsräten, die
ja jetzt in Preußen zu den Wiederholungsprüfungen
beanstandeter Beamten hinzugezogen werden müs-
sen, nachzuweisen, warum selbst Anomale ge-
ringen Grades für den Betrieb höchste Gefahr
bedeuten. Gewiß kann der anomale Lokomotiv-
führer im täglichen Leben alle Farben richtig er-
kennen. Aber denken wir nur an das Nebenein-
ander verschieden farbiger, verschieden heller
Lichter auf der Strecke, an die wechselnden F"arben
des Hintergrundes, z. B. des Himmels, namentlich
um Sonnenauf- und -Untergang, bei IVlorgen- und
Abendrot, denken wir, daß in 1000 m ein Signal-
licht unter einem Gesichtswinkel von 20" er-
scheint, das wäre gleich einem Punkte von 0,04 mm
Durchmesser in 40 cm; dazu die Verlangsamung
des Erkennens und die leichte Ermüdbarkeit, dann
ist der Standpunkt derjenigen Augenärzte ver-
ständlich, den auch ich teile, die jede, selbst ge-
ringe Anomalie aus dem Fahrdienst entfernt wis-
sen wollen.
Fast bei jeder Nachuntersuchung werden noch
Leute festgestellt, die jahrelang im Fahrdienst
waren und mehrere Kontrolluntersuchungen un-
entdeckt überstanden haben. Und das sind nicht
etwa nur Anomale geringen Grades, sondern sogar
ausgesprochen Rotgrünblinde. Wie ist so etwas
möglich? Zum geringsten liegt es am Unter-
suchten. Er wird natürlich, da es sich für ihn
um eine Lebensfrage handelt, seine Aufmerksamkeit
aufs höchste anspannen, um Anhaltspunkte zu
finden, die ihm die Unterscheidung ermöglichen
könnten und mit mehr oder weniger Glück sich
aufs raten legen. Ich habe auch schon einen ge-
troffen, der sich die Stillin gschen Proben, trotz-
dem sie nicht im Handel sein sollten, verschafft
und sie auswendig gelernt hatte. Man darf sie
also nicht der Reihe nach vorzeigen. Von einem
anderen hörte ich, der sich auf die Na gelschen
Tafeln eingeübt hatte. Es gibt sogar in großen
Städten sog. Simulantenschulen, die Unterricht in
allen diesen Proben erteilen. Es ist selbst mög-
lich am Anomaloskop sich die Gradeinstellung
der Schrauben zu merken. Erwähnen will ich
noch, daß auch das Gegenteil vorkommt, ein
Vortäuschen von Farbenblindheit, um vom Fahr-
dienst wegzukommen. Die Überführung eines
solchen Simulanten erfordert oft sehr genaue
Kenntnis des Farbensehens.
Die Ursache kann auch am untersuchenden
Arzt liegen. Es gibt immer noch Ärzte, welche
die Anforderungen der Proben für übertrieben
halten, und die deshalb geneigt sind ein Auge
zuzudrücken. So berichtet Vierling von einem,
der den Farbensinn durch Vorhalten farbiger
Arzneimittelschachteln zu prüfen pflegte. Ganz
abgesehen von der ungeheuren Verantwortung,
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
327
die durch ein solches Vorgehen der Unter-
sucher auf sich lädt — es handelt sich ja
um das Wohl und Wehe zahlloser Menschen und
um MilHonenwerte, tut er auch dem Prüfling
einen sehr schlechten Dienst. Eine Abweisung
bei der ersten Untersuchung ist ja gewiß unan-
genehm für den betreffenden Bewerber, aber er
hat ja noch das Leben vor sich und kann sich
einen anderen Beruf auswählen. Was aber, wenn
er kurz vor der Anstellung später doch noch ent-
deckt wird? Alles Geld für die Ausbildung, alle
Zukunftsaussichten sind verloren. Wenn auch
Frau und Kinder weinend und bittend zu dem
Bahnaugenarzt kommen, er muß seine Pflicht tun
und die Existenz des Mannes schädigen. Wer
prüft, soll die Proben genau nach Vorschrift
ausführen, anscheinend unwichtige Änderungen
haben oft die schwersten Folgen. Wer z. B. die
Nageischen Täfelchen dem Prüfling in die Hand
gibt, anstatt die vorgeschriebenen 70 cm Abstand
einzuhalten, darf sich nicht wundern, wenn ihm
so und so viel Anomale durchschlüpfen.
Zum dritten kann die Ursache an den Proben
selbst liegen. Der zweckmäßigste Apparat zur
Prüfung des Farbensinns wäre natürlich das Ano-
maloskop, weil es mit spektralen variabelen Lich-
tern arbeitet. Aber es ist zu teuer, als daß seine
Anschaffung jedem Bahnarzte zugemutet werden
könnte. Wir müssen uns deshalb mit den billige-
ren Pigmentproben für auffallendes Licht behelfen.
Früher verwendete man von diesen die Holm-
greenschen Wahlproben, bestehend aus einem
mit möglichst viel Verwechslungsfarben ausge-
statteten Wollsortiment von tunlichst gleichmäßiger
Beschaffenheit des Fadens. Man legt dem Prüf-
ling zuerst ein hellgrünes Bündel vor und läßt
ihn dazu solche von gleicher, wenn auch etwas
hellerer oder dunklerer Farbe hinzusuchen. Eine
Benennung der Farben muß von selten des Arztes
peinlichst vermieden werden. Der Rotgrünblinde
wählt als gleichfarbig graubraune, graurötliche und
graue aus. Zu dem zweiten Probebündel, hellrosa,
fügt der Protanop blaugraue und blaugrüne, vio-
lette und blaue, der Deuteranop blaugraue und
graue. Ein Vorlegen von Bräunlichgrau beschließt
die Prüfung. Meist wird dazu als gleichfarbig
grün angegeben. Die Probe ist sehr gut, solange
man nur Farbenblinde damit feststellen will,
zur Erkennung der Anomalen müssen ungesättig-
tere Farben in größerer Anzahl unter kleinem
Gesichtswinkel geboten werden. Zur Zeit sind
von der Behörde die Nageischen Täfelchen vor-
geschrieben, auf welchen als Verwechslungsfarben
bläulichrote, bläulichgrüne und graue Punkte von
sehr verschiedener Helligkeit zu Kreisen ange-
ordnet sind. Der Prüfling muß in 70 cm Ab-
stand (!1) die roten Punkte, danach die gleich-
farbigen Ringe auffinden. Einige weitere Tafeln
dienen zur Feststellung der abnormen Kontraste.
Vierling hat in letzter Zeit vorgeschlagen, diese
Probe zuerst vorzunehmen, da es mit ihr gelingt,
82 % der Rotgrünblinden , 64 der Anomalen so-
fort festzustellen. Schon vorher hatte S tillin g
seine auf gleichem Prinzip beruhenden pseudoiso-
chromatischen Tafeln angegeben. Bei ihnen sind
auf einem mit verschiedenfarbigen verschieden
hellen Tupfen bestehenden Grund aus anders-
farbigen, ebenfalls verschieden hellen Tupfen zu-
sammengesetzte Zahlen angebracht, die der
Farbentüchtige anstandslos erkennen kann, wäh-
rend sie sich den P'arbenuntüchtigen mit den
Verwechslungsfarben des Grundes verwischen und
unlesbar werden. Ebenso ist es bei den Podesta-
schen Tafeln, nur daß anstatt der Zahlen einfar-
bige Worte gewählt sind, mit denen sich ein
anderes Wort durchsetzt. Nur dieses ist für den
F^arbenuntüchtigen lesbar, das Grundwort nicht.
Da der Untersuchte auf jeden Fall ein Wort liest,
glaubt er, daß er die Prüfung bestehen wird und
verliert den Mut nicht. Gegen jede der auf dem
gleichen Prinzip der Verwechslungsfarben beruhen-
den fixen Pigmentproben im auffallenden Licht
läßt sich ein grundsätzliches Bedenken erheben.
Die Farbe des gelben Flecks ist nicht nur bei
den einzelnen Menschen verschieden, sondern kann
es auch für beide Augen von einem sein. Die
Linse bekommt eine immer mehr zunehmende
Gelbfärbung, die bei beiden Augen und noch
mehr bei verschiedenen Menschen schwankt.
Nach Heß wird mit 27 Jahren ^lo bis V«. mit
55 Jahren aber -/a des blauen Lichtes durch sie
aufgesaugt. Das wird sich natürlich bei der Be-
trachtung von Farben äußern. Dazu kommt noch
die Verschiedenheit der jeweiligen Belichtungs-
farbe, die abhängig ist von der Farbe und Be-
wölkung des Himmels, von der Beschaffenheit der
Wände und Decke des Zimmers. Sie ist anders
am Fenster, anders in der Zimmermitte. Um
diesen wechselnden Verhältnissen entgegenzuarbei-
ten, sodann auch, weil doch eine genauste Gleich-
heit der Farben mit der Vorlage und in den ein-
zelnen Exemplaren technisch nicht durchzuführen
wäre, hat man bei den Tafeln sehr große Ab-
wechslungen in der Lichtstärke vorgenommen, um
so zu erreichen, daß möglichst viele Farben-
untüchtige eine für sie passende Gleichung finden.
Trotzdem wird es aber doch ab und zu bei einem
Fall nicht erzielt werden und ein Versager ein-
treten.
Ein Stück graues Papier auf eine farbige Unter-
lage gelegt und mit Florpapier bedeckt, erscheint
in der Gegenfarbe. Darauf fußt die jetzt kaum
mehr angewandte Methode der Farbensinnprüfung
von Pflügger, bei der graue Buchstaben ver-
schiedener Größe auf verschiedenfarbigen Unter-
grund gedruckt, von ein oder zwei Florpapieren
bedeckt werden. Rotgrünblinden werden die
Buchstaben in roten und grünen Kontrastfarben
nicht lesbar sein. Danach gab C o h n sein pur-
purrotes Täfelchen bedruckt mit E in verschiedener
Stellung heraus. Mit Florpapier überdeckt, sind
dieselben von den meisten Rotgrünblinden und
Anomalen nicht zu entziffern, doch kommen auch
entgegen Cohns Angabe Versager vor. Unge-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
mein belehrend über das Studium der Ver-
wechslungsfarben ist die Farbstiftprobe, nament-
lich in der Verbesserung durch Vi erlin g. Der
Prüfling muß mit farbigen Stiften, die ein unge-
färbtes Holz besitzen, einen Probestrich machen
und daneben schreiben, wie er dessen Farbe be-
nennt. Bevor der nächste Stift genommen wird,
ist das Vorhergeschriebene zu verdecken. Sogar
die Kontraste der Anomalen lassen sich so ur-
kundlich festlegen. Gerade diese Niederschriften
mit ihren fehlerhaften Bezeichnungen der Farben
wirken auf Laien weit überzeugender, als sogar
das Anomatoskop. Ich habe sie seit vielen Jahren
deshalb gerne angewendet.
Ein vorzügliches Instrument ist auch die von
Vierling verbesserte Nage Ische Lampe. Vor
einem Auerbrenner lassen sich in einer Recoß-
schen Scheibe eingesetzte runde Gelatinefolien
drehen, teils einfarbige, teils solche, die auf der
einen Hälfte rot, auf der anderen gelb, oder grün
und gelb, oder blaugrün und grau sind. Durch
Veränderung der Helligkeit gelingt es selbst für
geringe Anomalien Gleichungen herzustellen. Auch
diese Probe ist besonders geeignet, um Laien zu
überzeugen. In neuster Zeit hat v. Heß -Mün-
chen, der ja durch seine schönen Arbeiten über
den Farbensinn der Tiere bekannt ist, einen neuen
Weg beschritten, in dem er sich variabeler Lichter
bediente, die durch farbige Glaskeile erzeugt wer-
den. Es gelingt mit einem einfachen Apparat
ein Rot von gelbrot, durch reines Rot nach blau-
rot überzuführen. Durch Übereinanderschieben
eines blaßgelben und blaßblauen Keils kann Gelb-
grün durch Gelb zu Blaugrün abgeändert werden.
Diese Keile werden durch ein kleines Loch be-
trachtet. Durch Verschieben und gleichzeitiger
Änderung der Belichtung lassen sich zwischen
ihrer Farbe und der Fläche, in welcher sich das
Loch befindet, Gleichungen herstellen. Der neue
Apparat gestattet ferner noch die Prüfung des
Lichtsinnes, sowie Untersuchungen des Gesichts-
feldes auf Farbengrenzen. Heß neuste Arbeiten
künden noch viele hochwichtige und interessante
Ausblicke an.
Es gibt auch eine objektive Methode zur
Untersuchung des Farbensinns, die aber nur wis-
senschaftlichen Wert hat. Bekanntlich hat unsere
Pupille einen ungemein feinen Muskel- und Nerven-
apparat, der sie bei Zunahme der Helligkeit ver-
engert, bei Abnahme erweitert. Sachs gelang
es die „motorische Valenz" der verschiedenen
Lichter auf die Pupillenweite festzustellen. Heß
hat diese Untersuchungsart ausgebaut und im
Dififerentialpupilloskop ein Instrument angegeben,
welches gestattet im raschen Wechsel farbige
Lichter und meßbar variabele der Graureihe auf
die zu untersuchende Pupille wirken zu lassen.
Er konnte so die Verringerung des Reizwertes
vom Rot bei Protanopen (0,7) und bei Total-
farbenblinden (unter 0,055) gegen 5 bei Normalen
und Deuteranopen objektiv nachweisen. Blau
hatte bei Totalfarbenblinden einen viel höheren
Reizwert.
Die Untersuchung auf Farbensinn ist meiner
Ansicht nach etwas sehr Schwieriges, das viel
Kenntnis und Übung erfordert. Ich würde es
nie wagen, aus dem Ergebnis einer Pigment-
probe ein Gutachten abzugeben. Und deshalb
bin ich seit langem der Ansicht, daß jeder, der
in den Fahrdienst eintreten will, sofort bei der
ersten Untersuchung mit äußerster Strenge und
von einem geübten Bahnaugenarzt mit mehreren
Proben zu prüfen ist, und daß der Bewerber bei
dem geringsten Zweifel abgewiesen werden muß.
Der Passus, daß der Farbensinn ■ zwar nicht ganz
normal ist, aber für den Dienst genügt, muß ver-
schwinden.
Wir haben zurzeit Überfluß an Menschen, wir
dürfen deshalb, wir können streng sein. Ge-
rade jetzt, wo eine einheitliche Untersuchungs-
ordnung für das ganze Reich ausgearbeitet wird,
wäre der richtige Zeitpunkt zu dieser Änderung
gegeben. Mit ihrer Einführung garantieren wir
die größtmöglichste Sicherheit des Betriebs. Wir
vermeiden jede Härte. Es fallen die strittigen
Grenzfälle weg, die der eine als noch genügend
beurteilt, der andere als untauglich, und damit die
ärgerlichen Prozesse mit ihren Anschuldigungen
der Ärzte und Einmischungen der politischen
Faktoren. Es fallen die Simulantenschulen, da es
sich nicht rentiert einen jungen Menschen ein-
paucken zu lassen, vor allem wenn er noch gar
nicht weiß, daß er eine Farbensinnstörung hat.
Und schließlich , die Bahnaugenärzte bleiben in
ständiger Übung. In der sonstigen augenärztlichen
Tätigkeit kommen ja Untersuchungen auf Farben-
sinn fast nie vor. Was nützt aber das größte
Interesse, was nützen die vielen Proben und Appa-
rate, wenn nur alle Monat höchstens eine Farben-
sinnprüfung vorzunehmen ist ? Wo soll, wo kann
die nötige Erfahrung herkommen.^
Zur Wüuschelnitenfrage.
[Nachdruck verboten.] Von Dr. Axel Schmidt,
Das Streben und oft geäußerte Verlangen
der Wünschelrutengänger, ebenso wie sonstige
freie Berufsarten durch ein amtliches Befähigungs-
zeugnis anerkannt zu sein, um sich gegen die
wilden, nicht „amtlich beglaubigten" Rutengänger
Landesgeologe in Stuttgart.
ZU schützen, die auf Dummheit und Leichtgläubig-
keit bauend, den Säckel ihrer Mitmenschen zu
ihrem eigenen Vorteil erleichtern, dürfte wohl in
absehbarer Zeit in Deutschland kaum erfüllt wer-
den. In dieser Erkenntnis haben auch die im
i
N. F. XX. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
329
„internationalen Verein der Wünschelrutenforscher"
vereinigten Rutengänger für sich eine Prüfung ein-
geführt, nach deren Bestehen der Prüfling seitens
des Vereins ein Patent erhält, in dem ihm be-
kundet wird, daß er „auf Wasser geprüft" oder
„für alle Forschungen anerkannt" ist. Unter diesem
,,alle" verstehen die Rutengänger alle die Stoffe,
welche nach ihrer Meinung die Rute zu beein-
flussen vermögen, also etwa Stein- und Braunkohle,
Erdöl, Salz, Kali, Mineralquellen und das große
Heer der Erze.
Ein weiteres Verlangen der Rutengänger geht
dahin, auch von der Wissenschaft anerkannt zu
werden und nicht von ihr mit Achselzucken, Spott
und Hohn unter völliger Brüskierung abgetan zu
werden und unbeachtet zu bleiben. Namentlich ver-
langen die Rutengänger von der Geologie als
derjenigen Wissenschaft, in deren Forschungsbe-
reich sie sich bisher am meisten betätigt haben,
Anerkennung oder mindestens Beachtung. Sie
verkennen aber hierdurch den P'orschungsbereich
dieser Naturwissenschaft, die wohl über Erfolg
oder Mißerfolg einer Rutenansage, über die Mög-
lichkeit, ob an einer von der Rute bezeichneten
Stelle oder in einer vom Rutengänger angegebenen
Tiefe bestimmte Stoße lagern können, ein Urteil
zu fällen vermag, aber nie über den Wert oder
Unwert der Rutenansage im allgemeinen. Am
allerwenigsten vermag der Geologe über den
einzelnen Rutengänger ein Urteil abzugeben oder
sich gar darüber zu äußern, welche Eigenschaften
den Menschen zur Rutengängerei befähigen und
welcher Mensch diese befähigenden Eigenschaften
besitzt oder nicht.
Diese letzten Punkte unterliegen der Entschei-
dung des Mediziners, des Neurologen, bzw. des
Psychiaters. Es war daher auch mit Freuden zu
begrüßen, daß anläßlich des Nürnberger Ruten-
gängertages ein Vertreter der Erlanger medizini-
schen Fakultät, Privatdozent Oberarzt Dr. G.Ewald,
erschienen war. Dieser äußert sich über seine
Eindrücke und Beobachtungen jetzt in der
Münchener medizinischen Wochenschrift — 192 1,
Nr. 4 vom 28. Jan. — und sagt am Schluß : „Wenn
man an das Wünschelrutenproblem von selten der
Wissenschaft nicht recht heran mag, so liegt dies
keineswegs nur an einem dogmatisch starren
Standpunkt, an einem Nichtwollen der Wissen-
schaftler. Die größere Schuld liegt bei
den Rutengängern selbst,') die durch ihre
oft unbewußt übertriebenen, so grotesken Re-
aktionen (natürlich auch durch ihre schauderhafte
psychopathische Gefolgschaft) den exakten Wissen-
schaftler abschrecken müssen. Sieht er, daß ihm
immer wieder die Psyche des Rutengängers in
die Parade fährt und exakte Beobachtungen stört,
so wird die Freude an wissenschaftlicher Be-
schäftigung mit dem Problem stets eine sehr ge-
ringe bleiben."
Diese Ablehnung ist im Interesse der Sache
') Vom Verfasser jicht gesperrt.
bedauerlich, aber verständlich, wenn man den Be-
richt des Herrn Dr. Ewald gelesen hat. Da
aber der Geologe, der nur die Erfolge oder Miß-
erfolge einer Rutenansage zu prüfen hat, sich
weniger um die Psyche des Rutengängers zu
kümmern braucht, ja die Person des Rutengängers
völlig unbeachtet lassen kann, so hat sich die
völlige Ablehnung der Wünschelrute seitens der
Geologie in den letzten Jahren gewendet und
selbst die preußische geologische Landesanstalt,
die noch vor wenigen Jahren von „Rutenwahn"
und „Unfug" durch ihre Beamten sprechen ließ,
hat ihren ablehnenden Standpunkt aufgegeben
und jetzt nicht nur in den von sämtlichen deut-
schen geologischen Landesanstalten bearbeiteten,
aber von ihr herausgegebenen, offiziellen, jähr-
lich erscheinenden „Geologischen Literaturbericht"
einen besonderen Abschnitt „Wünschelrute" auf-
genommen, sondern hat sich sogar jüngstens an
einer Prüfung von Rutengängern amtlich beteiligt.
Die geologische Wissenschaft Deutschlands
steht also damit der Wünschelrute nunmehr nicht
mehr feindlich und ablehnend, sondern teils kühl
und unparteiisch prüfend, teils sogar anerkennend
und zustimmend, gegenüber, je nach den Er-
fahrungen des einzelnen und der Gelegenheit, die
er hat, bzw. gehabt hat, in seinem eigenen Ar-
beitsgebiet Rutengängern zu begegnen oder ihre
Ansagen nachprüfen zu können. Dies wird be-
sonders bei denjenigen Geologen der Fall sein,
welche im norddeutschen Flachlande arbeiten.
Denn dort treten die Rutengänger vornehmlich
auf, während sie in den Mittelgebirgslandschaften
Mittel- und Süddeutschlands sich, bisher wenigstens,
weniger betätigt zu haben scheinen. Vielleicht
mögen die großen und allseits bekannten Mißer-
folge des bekannten, verstorbenen Rutengängers
von Bülow-Bothkamp im Eichsfelde sie ab-
schrecken, ihre Rutenkunst im Gebirgslande zu
versuchen. Die gegenüber anderen Tagungen
geringere Besuchszififer der Nürnberger Versamm-
lung spricht für mich auch aus, daß namentlich
weniger erfahrene Rutengänger das Gebirgsland in-
stinktiv meiden. Auch bewies mir bei den auf dieser
Tagung veranstalteten Vorführungen und Prüfungen
die Unzahl der gewünschelten Stoffe (z. B. Kali,
Steinkohle I), die gerade von weniger erfahrenen
Rutengängern gewünschelt wurden, daß sie im
Gebirgslande noch wenig Erfahrung besitzen.
Auffallend war auch bei den Vorführungen am
Dutzendteich und in Schweinau, daß sehr viele
norddeutsche Rutengänger, offenbar verleitet durch
die Ähnlichkeit der Landschaftsform und des
Vegetationsbildes der Nürnberger Keuper(Burg-)-
sandsteinlandschaft (öde Kiefernforsten mit Heide-
krautbeständen) mit einer norddeutschen Land-
schaft, etwa einer märkischen Heide, Grundwasser-
verhältnisse und -Tiefen des norddeutschen Flach-
landes vor sich zu haben glaubten und demge-
mäß fast durchweg zu geringe Tiefenangaben
machten.
In Mittel- und Süddeutschland liegen auch die
330
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
Verhältnisse für eine Betätigung der Rutengänger
auf ihrem bisherigen Hauptbetätigungsgebiet, dem
des Wassersuchens wenig günstig. Denn die Ge-
steinsschichten, die Wasser führen und Quellhori-
zonte sind, kennt nicht nur der örtlich bekannte
Brunnenbauer, sondern auch der Eingesessene, der
seine Scholle selbst bebaut, sehr genau und weiß,
ob und wo er mit der Möglichkeit rechnen kann,
Wasser anzutreffen. So sind Fälle, wo Ruten-
gänger sich in Württemberg betätigt haben, nur
recht spärlich, und wo sie abweichend von den
bisherigen Erfahrungen Wasser gefunden zu haben
glaubten , haben Bohrungen und Aufgrabungen
nach ihren Angaben m. W. stets zu Mißerfolgen
geführt (z. B. Horb a. N. beim Josephskäppelle,
Sulz a. N. beim Viehhaus und am Pfauhof, Korn-
thal, Feuerbach). Ein Fall sei aber ausführlicher
besprochen, weil er zeigt, daß selbst gewiegte und
erfahrene Rutengänger den Ausschlag ihrer Rute
falsch deuten: In R., einer Stadt am Fuße der
Alb, brauchte Herr Fabrikbesitzer F. zur Ver-
größerung seines Betriebes reichlich Wasser, und
zwar von weicher Beschaffenheit. Der herbeige-
zogene Rutengänger bezeichnete nach Bericht des
Herrn F. in Fabriknähe neben anderen besonders
zwei Stellen als geeignet, wo in 38 — 40 m Tiefe
Wasser vorhanden sein sollte. Man bohrte, traf
aber in den in der angegebenen Tiefe anstehen-
den Liasthonen und -Schiefern keinen Tropfen
Wasser an. Auf Anraten des nochmals herbei-
gezogenen Rutengängers, der wieder an den
gleichen Stellen besonders kräftige Reaktionen
hatte, bohrte man zunächst bis auf etwa 65 m.
Auf eine erneute briefliche Anweisung des Ruten-
gängers bohrte man noch weiter und stellte die
Bohrung erst in 126 m ohne Erfolg ein. Die
Bohrung stand in dieser Tiefe in den untersten
Knollenmergeln des Keupers. Um Wasser, und
zwar hartes Wasser zu erhalten, hätte man nur noch
den dort etwa 25 — 30 m mächtigen Stubensand-
stein durchsinken müssen. Die Angabe der Rute
ist also ein glatter Versager auf Wasser gewesen,
was mir auch Dr. P. Beyer, der jetzige Vor-
sitzende des Vereins der Wünschelrutenforscher
bestätigte, war aber an sich vielleicht nicht unbe-
gründet. Denn die Bohrung hat, wie ich aus den
Meter für Meter aufgeholten und aufbewahrten
Bohrproben ersehen konnte, in der angegebenen
Tiefe von 38 m die Ölschiefer des Lias a durch-
sunken. Die Rute hat also möglicherweise auf
das Bitumen des Olifex-Schieferhorizontes reagiert,
und der Rutengänger kann aber diese Reaktion
auf Wasser gedeutet haben ! Eine Anfrage meiner-
seits an den Rutengänger, ob er diese Verwechs-
lung der Deutung seiner Rutenausschläge bei sich
für möglich halte, blieb in diesem Hauptpunkt
bezeichnenderweise unbeantwortet.
Damit komme ich zu einem nicht unwichtigen
Punkt für die Bewertung der Rutenansage, näm-
lich, daß die Reaktionen namentlich weniger er-
fahrener Rutengänger echt sein können, daß sie
aber falsch gedeutet werden. Dazu ein weiteres
Beispiel: Ein Rutengänger erbot sich 1903, für
ein Bad im schlesischen Gebirge eine neue
Mineralwasserquelle nachzuweisen und fand eine
— Süßwasserquelle mit seiner Rute, und zwar
auf der östlichen Randspalte eines kleinen Graben-
bruches von Rotliegendem, das zwischen Granit
im NO, Phyllit im SW eingesunken ist. Aber
nicht die gewünschelte NO-Randspalte, sondern
die z. T. von transgredierender Kreide verhüllte
SW - Randspalte ist Träger der Mineralquellen.
In diesem Fall hat sich ofifenbar der Rutengänger
durch den Farbenwechsel der Verwitterungsböden
des Granites und des Rotliegenden autosuggestiv
beeinflussen lassen. Denn ganz allgemein läßt
sich nachweisen, daß die Rutengänger auf Ver-
werfungen besonders gut reagieren, nicht aber auf
das auf solchen Verwerfungen eventuell zirku-
lierende Wasser, oder auf die auf ihnen ausge-
schiedenen Erzmassen. Erkannt werden die Ver-
werfungen als solche aber höchst selten.
Zum Schluß noch wenige Worte über Ruten-
erfolge an sich. Im Gegensatz zum Rutengänger,
der jede Ansage als Erfolg bezeichnet, wenn an
der gewünschelten Stelle der gewünschelte Stoff
überhaupt vorhanden ist, kann und muß die All-
gemeinheit nur dann den Erfolg anerkennen,
wenn der Stoff an der gewünschelten Stelle in
einer derartigen Menge und solcher Beschaffenheit
vorhanden ist, daß seine Erschließung zweck-
mäßig, seine Gewinnung möglich und
ökonomisch ist. Ernsthafte Ruten-
gänger machen aber über Menge und Be-
schaffenheit grundsätzlich ketne An-
gaben. Daher ist es unbedingt erforderlich, daß
nach, bzw. neben dem Rutengänger der Geologe
befragt wird , der in sehr vielen Fällen zwar die
Richtigkeit der Rutenansage an sich bestätigen,
aber gleichzeitig durch seine Angaben über eine
für den vorbesprochenen Fall ungenügende Menge
oder ungeeignete Beschaffenheit des gewünschelten
Stoffes vor kostspieligen, zwecklosen und über-
eilten Bohrungen und Aufschlußarbeiten wird
warnen können. Hinsichtlich der Bewertung einer
Rutenansage stehe ich auf einem anderen, etwas
günstigerem Standpunkt, wie der der Rute als
günstig gesinnt von den Rutengängern angesehene
Prof. Dr. M. Weber- München , der sich mir
gegenüber kürzlich dahin äußerte: „Erfolg im
einzelnen verblüffend, für die Praxis aber im
ganzen und großen wertlos". Ich erkenne viel-
mehr Erfolge der Rute (z. B. an der Tambacher
Sperre, bei Brüx, auf dem Kaliwerk Riedel, in
Hildesheim) vollkommen und rückhaltslos an, muß
aber vor allzu optimistischer Auffassung und
kritikloser Benutzung und Auswertung
dringend warnen und möchte namentlich
stets Bestätigung durch einen in der Gegend oder
mit den Gebirgsschichten gründlich vertrauten
Geologen oder Bergmann fordern.
Dafür, wie ein Rutenausschlag zustande kommt,
sind die Mediziner, der Neurologe, Psychiater,
vielleicht auch der Physiologe zuständig. Sie
N. F. XX. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
331
werden aber an die Lösung dieses Problems mit
Erfolg erst herantreten können, sobald die Phy-
siker, bzw. Geophysiker zu einem greifbaren Er-
gebnis darüber gelangt sind, daß die einzelnen,
die Wünschelrute beeinflussenden Stoffe Strahlen
o. dgl. aussenden, und daß diese Strahlen für die
einzelnen Stoffe spezifisch verschieden sind. Erst
wenn die Physiker die Natur dieser Strahlen rest-
los erkannt haben, kann der Neurologe oder
Psychiater sagen, wie sie auf den Menschen ein-
wirken, ob und welche Menschen als Rutengänger
brauchbar sind, und wer als Charlatan es nur auf
den Geldbeutel seines gutgläubigen lieben Näch-
sten abgesehen hat.
Einzelberichte.
Der Farbstoff des grüueu Eiters.
In der Medizin sind gewisse Geschwülste be-
kannt, die den Namen „Chlorom" tragen und von
einem grünen bis gelbgrünen Aussehen sind, das
auf einen Farbstoff unbekannter Herkunft zurück-
zuführen ist. Man wußte bisher lediglich, daß er
identisch sei mit dem Farbstoff, der dem grünen
Eiter infizierter Wunden seinen Farbcharakter
leiht. Die Reaktionen beider Farben waren die-
selben. A. K o s s e 1 und G. G i e s e *) machen
nun die Mitteilung, daß es sich bei beiden Er-
scheinungen um die Farbe des Ferrosulfids,
FeS, handele. Den Beweis dafür glauben die
Forscher dadurch erbracht, daß die Farbe an der
Luft verschwindet, was auf Oxydation durch den
Luftsauerstoff beruhe. Der Farbstoff ist ferner
völlig unlöslich in siedendem Alkohol. Auch
stimmt der analytisch ermittelte Eisengehalt mit
der Berechnung gut zusammen. Eisensulfid
ist also derFarbstoff des grünen Eiters.
Das Sulfid kommt noch in einer schwarzen Form
vor. In dieser ist es nach den genannten For-
schern ebenfalls im pathologischen Organismus
vorhanden ; und zwar bildet es alsdann den Farb-
stoff der Pseudomelanose. Beide Erschei-
nungen verdanken also ihre Farbe dem gleichen,
bemerkenswerterweise anorganischen Farb-
stoff H. H.
Die quantitative Gruudlage von Vererbung
und Artbildung.
Bei seinen Untersuchungen über diesen Gegen-
stand geht Richard Goldschmidt-') aus von
der Vererbung des Geschlechtes ; denn die beiden
Geschlechter eines Organismus können alle Diffe-
renzen aufweisen, welche die Physiologie der Ver-
erbung zweier Rassen, Arten oder Gattungen auf-
weist. Das erste hier zu lösende Problem, näm-
lich die Frage nach der mechanischen Ursache,
welche die Nachkommenschaft eines Elternpaares
in zwei oft so verschiedene Formen: Männchen
und Weibchen trennt, ist seit der Entdeckung der
») Chetniker-Ztg. 45, S. 8, 1921.
'^) Gold Schmidt, R., Die quantitative Grundlage der
Vererbung und Artbildung. Heft 24 der Vorträge und Auf-
sätze über Entwicklungsmechanik der Organismen. Heraus-
gegeben von Wilhelm Roux. Berlin, Verlag Springer, 1920;
163 S.
Geschlechtschromosomen aufgeklärt. Diese Er-
kenntnis „mag mit der Kenntnis des Schienen-
strang- und Weichensystems einer Eisenbahn-
station verglichen werden, dessen Aufgabe es ist,
die Züge in verschiedene Richtung zu lenken.
Aber es wäre verfehlt, daraus Schlüsse auf das
Material, die Ladung, die bewegende Kraft der
Züge zu ziehen" (S. 9). Ähnlich folgt auch hier
auf das gelöste Problem des Mechanismus der Ge-
schlechtsverteilung die Frage: was wird durch
diesen Mechanismus verteilt. Um diese Frage
quantitativ zu prüfen geht G. von den In-
sekten aus, weil bei ihnen die Geschlechtsdiffe-
renzierung unabhängig ist von einer etwaigen
inneren Sekretion der Geschlechtsdrüsen. — Bei
intersexuellen Individuen z. B. des Schwamm-
spinners {Symanira dispar L.) ergab dabei die
Analyse, daß hier die Differenzierung bis zu einem
bestimmten Punkt „unter der Kontrolle der einen
Geschlechtssubstanz vor sich ging, dann aber
plötzlich nach dem entgegengesetzten Geschlecht
umschlug, unter die Kontrolle der anderen Ge-
schlechtssubstanz geriet" (S. 15). Im Falle weib-
licher Intersexualität sind alle Merkmale, die sich
vor dem Zeitpunkt der „Drehung" differenzierten,
weiblich, die später differenzierten männlich, solche,
deren Entwicklung sich über den ganzen Zeitraum
ausdehnte, in ihrem Anfangsstadium weiblich, nach-
her männlich. Das Maß der Intersexualität ist
also ein Ausdruck für die zeitliche Lage dieses
Drehpunktes. Die Geschlechtsdeterminanten sind
also Stoffe, welche eine Reaktion bedingen, deren
Geschwindigkeit der Quantität dieser
Stoffe proportional ist; sie haben somit den Cha-
rakter von Enzymen. Diese Ansicht, welche in
der hormonischen Intersexualität der Wirbeltiere,
besonders der Säugetiere und Vögel eine weitere
Stütze findet, wird nun von Goldschmidt auf
das Gesamtphänomen der Vererbung übertragen:
der Vererbungsvorgang besteht hiernach einfach
darin, „daß, entweder innerhalb der Einzelzellen
oder in den Säften des Körpers zur rechten Zeit
die formativen Hormone produziert werden, die,
ein identisches Substrat vorausgesetzt, die weitere
Differenzierung mit Notwendigkeit in eine be-
stimmte Richtung lenken" (S. 19). Dieses Ge-
setz bringt Goldschmidt S. 32 selbst auf die
Formel: „Das Massen gesetz der Reaktions-
geschwindigkeiten ist ein es der Grund-
gesetze der Vererbung" und prüft es in
332
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
seiner Anwendbarkeit auf die Tatsachen des mul-
tiplen Allelomorphismus, der geographischen
Variationen und der Selektion. Wir müssen es
uns versagen, hierauf näher einzutreten; nur der
letzte Punkt, welcher die Selektion betrifft, möge
kurz beleuchtet werden. Mag auch die Qualität
des „Erbenzyms" testgelegt sein, so ist doch ihre
Quantität veränderlich und variiert ceteris paribus
mit den Außenbedingungen. Daraus folgt, daß
„die Bereitstellung der Faktorensubstanzen in den
Geschlechtszellen, zu welchei" Zeit sie auch statt- -
finden mag, ein Vorgang ist, der zu einer quanti-
tativen Variation um das typische Mittel führen
muß" (S. 129). Es kann nun die Selektion eine
Plus- oder Minusvariante auswählen; die Auswahl
wird dann erfolgreich sein, wenn die betreffende
Variante den relativen und absoluten Geschwindig-
keiten aller übrigen an der Differenzierung be-
teiligten Prozesse koordiniert ist. Es läßt sich
dies am besten durch das folgende von G o 1 d -
Schmidt angeführte Beispiel erläutern: Die
Schwammspinnerraupen überwintern in der Ei-
schale. Die Zeit des Ausschlüpfens wird bestimmt:
a) durch die Geschwindigkeit eines ererbten Re-
aktionsablaufes; diese Geschwindigkeit folgt dem
„Massengesetz" und ist der Quantität des ent-
sprechenden Enzyms proportional; b) durch die
Außenbedingungen (besonders Temperatur). Die
erste Bedingung ist nur innerhalb bestimmter
Grenzen durch die zweite beeinflußbar: auch auf
Eis schlüpft die Larve nach einer bestimmten Zeit
aus. Erhaltungsfähig sind natürlich nur diejenigen
Individuen, bei denen die zeitlichen Bedingungen
a) und b) koordiniert sind, d. h. bei denen das
Ausschlüpfen nicht früher erfolgt, als bis die kli-
matischen Bedingungen eine Ernährung der Raupe
ermöglichen. Die Zahl solcher Beispiele läßt sich
leicht vermehren und sicher wäre es von be-
sonderem Interesse, dem „Zeit"faktor in der Ent-
wicklung der Lebewesen besondere Aufmerksam-
keit zu schenken.
Was nun im besonderen die quantitative Er-
klärung der Vererbungstatsachen auf Grund von
Vererbungs e n z y m e n betrifft, so müßte doch
wohl der Versuch gemacht werden, solche Enzyme
nachzuweisen. Solange eine derartige Unter-
suchung mit positivem Ergebnis nicht vorliegt
— und bei den technischen Schwierigkeiten einer
solchen „Chemie in kleinstem Räume" dürfte dies
nicht so rasch möglich sein — , ist dieser Er-
klärungsversuch als Hypothese zu bewerten. Ihre
Bedeutung liegt vor allem darin, daß hier in das
mystische Dunkel, in welches sich die Artbildung
vor uns verhüllt, ein Vorstoß auf Grund quanti-
tativer Versuche gewagt wird. So erhält das
ganze Problem überhaupt erst eine naturwissen-
schaftliche Grundlage; denn in dieser Auffassung
ist ein Erbfaktor „nicht eine platonische Idee oder
aristotelische Entelechie oder ein mystisch-undefi-
nierbares Gen, sondern ist eine bestimmte Quanti-
tät einer bestimmten aktiven Substanz, wahr-
scheinlich eines Enzyms, die allen physikalischen
und chemischen Gesetzen für solche Substanzen
unterworfen ist" (S. 128).
Zürich. M. Schips.
Einige besoudere geologische Erscheiiniugen
iu den oligozänen Pechkohleuflözen Ober-
bayerus.
Die Pechkohlen Oberbayerns verdienen in
bergmännischer wie in geologischer Hinsicht ganz
besondere Beachtung. Einige Besonderheiten be-
schreibt O. Stutzer in der Zeitschr. f. prakt.
Geologie, XXVIII, S. 172—175.
1. Einlagerungen von Muschelresten
und Schneckenschalen in reiner Pech-
kohle. In Hausham und Pensberg sind Muscheln
(Unio, Cyrena) und Schnecken (Planorbis, Helix)
ohne die Spur eines Begleitgesteines in reiner
Kohle eingeschlossen und zwar sowohl vereinzelt
wie auch in vielen Exemplaren nebeneinander.
Da in Humuskohlen Tierreste äußerst selten zu
finden sind, bieten die oberbayerischen Pechkohlen
also etwas Besonderes. Stutzer ist der Meinung,
daß diese Tiere keine regulären Bewohner der
damaligen Waldmoore waren, sondern daß sie
durch Überflutung eingeschwemmt wurden, zu
Boden sankeii und später von dem nach dem
Rückzug der Überflutung wieder weiter wachsen-
den Waldmoore begraben wurden.
2. Einige Wirkungen des alpinen
Gebirgsdruckes im Kohlenflöz. Ihren
Eigenschaften und Aussehen nach steht die ober-
bayerische Pechkohle der Steinkohle näher als der
Braunkohle. Sie ist eine durch die Kräfte des
alpinen Gebirgsdruckes veredelte Braunkohle. Von
den Wirkungen dieses Druckes bespricht der Verf.
einige besondere Strukturen, Lagerungen und
Druckerscheinungen. Die durch den Druck her-
vorgerufenen textureilen Umwandlungen der Kohle
sind entweder rupturelle, die zu Zertrümmerung
führen, oder plastische, die zu einer Stauung ohne
Zerreißung führen. Ein Übergang zwischen bei-
den Strukturen ist die sog. Knetstruktur.
Ganz dünne Lagen von eingeschaltetem, hellem
Kalkstein lassen in den oberbayerischen Pechkohlen-
flözen diese Knetstruktur besonders deutlich er-
kennen. Eine weitere Erscheinung ist die in
Kohlenflözen äußerst seltene diskordante
Faltung, die hier wiederum durch die Kalk-
steinlagen sehr deutlich sichtbar gemacht wird.
Während das Liegende oder Hangende oder auch
der hangende und liegende Teil des Flözes regel-
mäßig fortstreicht, ist der mittlere Teil des Flözes
äußerst gestört und oft gekröseartig durcheinander
geknetet. Zu den weiteren Eigentümlichkeiten
der oberbayerischen Pechkohlenflöze gehören die
Gebirgschläge und Gebirgs Spannungen,
die, da sie oft Unglücksfälle hervorrufen und auch
in wirtschaftlicher Hinsicht von großer Bedeutung
für den Bergbau sind, eine stetige Beachtung des
Bergbautreibenden erfordern. Übersteigt der
Druck eine gewisse Grenze nicht, so ist er für
N. F. XX. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
333
den Abbau günstig. Er bewirkt dann, daß die
Kohle „arbeitet" und „lebendig" ist. Nimmt die
Spannung weiter zu, wird die Kohle hart, so
kann die Auslösung oft plötzlich und unheilvoll
erfolgen. Einlagerungen von weichen Schichten
heben ebenso wie weiche Schichten im Hangen-
den oder Liegenden stärkere Spannungen auf. In
Hausham hat der Gebirgsdruck auf die Abbau-
leistung und damit auf die Rentabilität einen
großen Einfluß. Dort stellte sich heraus, daß
von den beiden vorhandenen Flözen das schwächere
obere nur dann mit Nutzen abgebaut werden
kann, wenn der Abbau vor dem des darunter-
liegenden 2. Flözes erfolgt, wodurch auch gleich-
zeitig das untere entspannt und gefahrloser ab-
gebaut werden kann. F. H.
Der neiieutstelieiide Magiiesitbergban am
Galgenberg bei Zobten in Schlesien.
L. von zurMühlen berichtet darüber in der
Zeitschr. f. prakt. Geologie, XXVIII, 1920, S. 155
bis 158. Der Galgenberg bildet eine vom Haupt-
zobtenberge getrennte Anhöhe. Seine tiefsten
Teile bestehen aus Serpentin und teilweise noch
aus dessen Muttergestein, dem Peridodit. Die
Grenzen des Serpentins gegen die in der Nach-
barschaft auftretenden Gesteine ist überall durch
eine diluviale Decke verschleiert und nirgends
wahrzunehmen. Der Serpentin des Galgenberges
beschränkt sich nicht allein auf die orographisch
ihm zuzurechnende Höhe, sondern ist im SO an
der Hand einzelner künstlicher Aufschlüsse über
die Zobten-Marxdorfer Chaussee hinaus bis in die
Nähe des Bahnhofs zu verfolgen. Durch Prof.
Finckh wurde im südlichen Teile des Galgen-
berges, etwa 100 m nördlich der Ströbel-Zobtener
Straße ein flach nach SW einfallender und an-
nähernd in ostwestlicher Richtung streichender,
den Serpentin durchsetzender Quarz-Chalcedon-
gang festgestellt. Südlich dieses Ganges ist
der Serpentin mehr oder weniger tief in einen
teilweise milden erdigen, teilweise mehr oder
weniger verkieselten braunroten Boden, das „Rote
Gebirge" verwittert. Das Material des Ganges
bestand hauptsächlich aus einem porösen,schwamm-
artigen, an den Außenflächen braungefärbten Opal,
teilweise wurden auch Hornstein und Chrysopras
beobachtet. Dieser ist jedoch ebenfalls porös-
brecciös entwickelt und daher als Schmuckstein
nicht zu verwerten. Das Rote Gebirge, eine Ver-
witterungsform, die auf die durch Tageswässer
zurückzuführende Auflösung und Fortführung der
leichtlöslichen Magnesiasilikate unter Zurücklas-
sung der Eisenverbindung beruht und den Serpen-
tin am Galgenberge bis zu 7 m Teufe umgewandelt
hat, zeigt, dem unregelmäßiger! Charakter des
Verwitterungsvorganges entsprechend, in seiner
Mächtigkeit größere Unbeständigkeiten und greift
laschen-, mulden-, nest- und astförmig in den
liegenden Serpentin ein. Eine scharfe Grenze
zwischen beiden Gesteinen ist nicht zu ziehen.
Das Rote Gebirge ist ein Gel und bildet eine
zellige Kieselsäuremasse, deren Hohlräume teil-
weise mit Eisenoxydhydrat ausgefüllt sind. Gleich-
zeitig bei diesem Bildungsprozeß ging das in dem
Serpentin fein verteilte Nickel in Lösung und
konzentrierte sich in den unteren Lagen der Ver-
witterungsrinde. Zur Bildung von kolloidalen
Nickelmineralien oder von „Grauerz", wie in
F"rankenstein zu beobachten ist, ist es jedoch nicht
gekommen, vielmehr durchtränkt das Nickel in
geringen Mengen hauptsächlich den unteren Teil
des Roten Gebirges. Nach einer Reihe von Ana-
lysen schwankt der dort festgestellte Nickelgehalt
von 0,3 1 bis 0,87 "/ß Ni, liegt also weit unter der
abbauwürdigen Grenze.
Das häufigste und verbreitetste von allen im
Serpentin des Galgenberges auftretenden Mine-
ralien ist der dichte Magnesit. Er findet sich so-
wohl im Verbreitungsgebiete des Roten Gebirges,
wo er am beträchtlichsten entwickelt ist, als auch
in dem von der Verwitterung verschonten nörd-
lichen Abschnitt des Galgenberges. Überall er-
scheint er in regellosen, maschenartigen, gang-
förmigen Spaltausfüllung und Trümern, die sich
in den seltensten Fällen über weite Strecken hin-
aus verfolgen lassen, in ihrer Mächtigkeit im
Streichen und Fallen großen Schwankungen unter-
worfen sind und zahlreiche Abzweigungen und
gangförmige Verästelungen aufzuweisen haben.
Am bemerkenswertesten ist ein allerdings sehr
unregelmäßig ausgebildeter, bisher in ca. 40 m
Länge nachgewiesener Magnesitgang im Gebiete
des Roten Gebirges. Seine Mächtigkeit schwankt
von ^/j bis I m. Der Serpentin war vereinzelt
in der Nähe der Gänge als Faserserpentin aus-
gebildet.
Seiner Entstehung nach wird der dichte Mag-
nesit als aus kolloiden Lösungen ausgeschieden
und später in einen feinkristallinen Zustand über-
gegangen aufgefaßt. Durch die Tätigkeit der
Atmosphärilien gelangten die leicht löslichen
Magnesiaverbindungen des Serpentins in Lösung
und schieden sich in den Spalträumen oder in-
folge metasomatischer Verdrängung in den tieferen
Lagen des Gesteins aus, während die schwerer
löslichen Nickel-, Eisen- und Kieselsäureverbin-
dingen mehr oberhalb zurückbleiben. Der Prozeß
der Auslaugung und Anreicherung der Magnesia-
verbindungen setzte nach des Verf.s Meinung an-
scheinend bereits vor der eigentlichen Bildung
des Roten Gebirges ein, muß aber während der
Entstehung desselben seinen Höhepunkt erlangt
haben. Die Magnesitbildung ist also im Gegen-
satz zu F"rankenstein keineswegs älter als die
Bildung des Roten Gebirges.
Im Sommer 1919 war von einer Breslauer
Firma der Magnesitabbau am Galgenberge mit
einem kleinen Betriebe begonnen worden. Seit
dem Januar 1920 sind diese Gruben in den Be-
sitz einer Hamburger Gesellschaft übergegangen,
die unter der Firma „Schlesische Magnesitgruben"
mit bedeutend vergrößertem Betriebe arbeitet.
334
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
An Stelle des Tagebaues ist überall Tiefbau ein-
geführt worden, zu welchem Zwecke 14 Schächte
von im Maximum 21 m Tiefe abgeteuft worden
sind. Das Bergwerk beschäftigt 76 Arbeiter. Die
Menge des geförderten Magnesits schwankt von
kaum einem bis zu fünf Eisenbahnwagen in der
Woche, je nach der Mächtigkeit der erschlossenen
Gänge. Hervorzuheben ist, daß die Magnesitgänge
mit zunehmender Tiefe immer weniger Serpentin-
einschlüsse führen und teilweise sogar frei davon
sind. Zugleich gewinnt das Mineral an Dichte
und Festigkeit und liefert somit das gesuchteste
und hochwertigste Material. F. H.
Fliegenlarven , die «las Blut vou Nestvögeln
sangen.
Während die meisten Fliegenlarven in orga-
nischen Abfällen leben und sich von ihnen nähren,
gibt es einige, welche Blut saugen. So fand
Leon Dufour schon vor geraupier Zeit an
jungen Schwalben in Frankreich blutsaugende
Larven, die zu der Calliphorine Lucilia dispar ge-
hörten, und später sind noch mehrere andere aus
Amerika bekannt geworden, die junge Vögel an-
fallen, und aus Afrika gar solche, welche das Blut
von Wirbeltieren saugen, so das von Erdferkeln,
Warzenschweinen, ja von Menschen. O. E. Plath
(University of California Publications in Zoology
Vol. 19, 1919, S. 191) hatte nun Gelegenheit, das
Vorkommen und die Lebensweise dieser blut-
dürstigen Muscidenlarven an einer großen Zahl
von Vögeln zu beobachten und macht darüber
folgende Angaben. Die etwa 1,5 cm langen,
gelblichweißen Larven finden sich in den Nestern
verschiedener Vögel, so des Nuttall sparrow (Zono-
trichia leucophrys nuttalli), California purple finch
(Carpodacus purpureus californicus), Greenbacked
goldfinch (Astragalinus psaltria hesperophilus),
California linnet (Carpodascus mexicanus frontalis),
Willow goldfinch (Astragalinus tristis salicamans)
und des Californian brown towhee (Pipilo crisalis
crisalis). Sie heften sich nachts an die jungen
Vögel, und zwar nur an diese, und saugen sich
so voll Blut, daß sie prall davon erfüllt sind. Das
Blut wird in einer Aussackung des Oesophagus
aufgespeichert und hält für eine geraume Zeit
vor. Da die Larven keine anderen organischen
Stoffe fressen, sind sie ganz auf das Blut ange-
wiesen. Im Versuch vermochten sie jedoch auch
einem Ochsenknochen etwas Blut zu entziehen.
Die Verpuppung findet in dem Schmutz auf dem
Boden des Nestes statt ; aus den Puppen schlüpfte,
Protocalhphora azurea, eine dunkeli)laue , metal-
lisch glänzende Fliege, aus. Die jungen Vögel
werden durch den Aderlaß sehr geschwächt, eine
beträchtliche Zahl pflegt sogar davon zugrunde
zu gehen. Trotzdem die Fliege bisher als selten
galt, fanden sich die Larven in 39 Nestern von
insgesamt 63 daraufhin geprüften. Miehe.
Bücherbesprechungen.
Karsten, Dr. George, o. ö. Professor an der Uni-
versität Halle a. S. und Benecke, Dr. Wilhelm,
o. ö. Professor an der Universität Münster i. W.,
Lehrbuch der Pharmakognosie. Dritte,
vollständig umgearbeitete Auflage von G. Kar-
stens Lehrbuch der Pharmakognosie. Mit 544
z. T. farbigen Abbildungen im Text. Jena 1920,
Verlag von Gustav Fischer.
Für die neue Auflage dieses bekannten Lehr-
buches hat Prof. Karsten Prof. Benecke an-
statt Prof Oltmanns als Mitarbeiter gewonnen.
Prof. Be necke bearbeitete besonders die Roh-
stoffe, die Drogenpulver und die chemischen Be-
standteile der Drogen. Da sich das Buch aus-
schließlich an Apotheker und Studierende der
Pharmazie wendet, so erübrigt sich ein näheres
Eingehen auf den Inhalt an dieser Stelle. Die
Ausstattung ist wieder vollkommen friedensmäßig,
so daß die durchwegs schönen Abbildungen aus-
gezeichnet herauskommen. Wächter.
V. Wasielewski, Waldemar, Telepathie und
Hellsehen. Versuche und Betrachtungen über
ungewöhnliche seelische Fähigkeiten. 276 S.
Mit Abbildungen. Halle a. S. 192 1, Verlag von
Carl Marhold. Brosch. 24 M.
v. Wasielewski gibt in vorliegender Schrift
eine zusammenfassende Übersicht seiner Experi-
mente mit einem Fräulein v. B. in bezug auf be-
wußte oder unbewußte Gedankenübertragung
(Telepathie) und Hellsehen. Daß Mißliche bei
der ganzen Sache ist, daß eine wissenschaftliche
Nachprüfung nicht möglich erscheint, da sich die
besonderen Fähigkeiten des Fräulein v. B. jetzt
vollständig verflüchtigt haben, ohne daß eine An-
gabe erfolgt, auf Grund welcher — wohl zweifel-
los vorhandenen — physiologischen oder psycho-
logischen Einwirkungen bzw. Veränderungen dieses
völlige Versagen zurückzuführen sein dürfte. Im
übrigen erhalten wir ein sehr interessantes Tat-
sachenmaterial über die okkulten Fähigkeiten der
Versuchsperson, und man muß dem Verf. zuer-
kennen, daß er außerordentlich vorsichtig, skep-
tisch gegen sich und andere, in gewissenhaftester
Weise experimentiert hat. Mit allzugroßer Be-
sorgnis sind die telepathischen und die hell-
seherischen Experimente getrennt gehalten, ob-
gleich wir beiden Fähigkeiten auf naturwissen-
schaftlichen Grundlagen nicht näher zu kommen
vermögen und es vorerst ganz gleichgültig er-
scheint, ob die in den allermeisten Fällen günstigen
Resultate, so oder so gewonnen wurden. Hier-
bei ist natürlich von einem dritten Wege, nämlich
dem der absichtlichen Täuschung und des Be-
N. F. XX. Nr. 22
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
335
truges abzusehen, denn dann wäre eine Diskussion
überhaupt ausgeschlossen. Vorausgesetzt, daß wir
es hier in der Tat mit besonderen Fähigkeiten zu
tun haben, will es also nebensächlich erscheinen,
ob die eine oder die andere Ursache wirksam
war, denn wie v. Wasielewski am Schlüsse
seiner Schrift selbst betont, sind „Telepathie und
Hellsehen sehr wahrscheinlich nur zwei verschiedene
Betätigungen einer und derselben seelischen Fähig-
keit, die man als ,direkte Wahrnehmung' oder
Panästhesie bezeich nen kann". Diese Panästhe-
sie erstreckt sich nach den Versuchen mit Fräu-
lein V. B. auf die Gebiete sämtlicher Sinnesorgane,
und wir erhalten Beweise panästhetischer Fähig-
keiten im Bereiche des Sehens, Hörens, Fühlens,
Riechens und Schmeckens usw. Hier ein Beispiel
über sog. kryptoskopische Versuche. Der Verf.
besorgt sich aus Messingblech gestanzte Buch-
staben des „großen lateinischen Alphabets", jedes
Stück drei Zentimeter lang und die Zahlen i — 9
in gleicher Größe und aus demselben IVlaterial.
Sie wurden jedes Stück einzeln in gut schließende
Kästchen mit Schiebedeckeln verpackt, die alle
mit demselben Papier bezogen waren. Beim Hin-
einlegen der Buchstaben oder Zahlen in die Käst-
chen wird nicht zugesehen, so daß v. W. nicht
weiß, wie der Inhalt beschaffen ist. Alle ganz
gleich aussehenden Kästchen werden in einen Korb
getan. Von einer oder mehreren der anwesenden
Personen wurde eines oder mehrere herausge-
nommen, sogleich ein jedes einzeln in ein Papier-
säckchen getan, das nur so lang war, daß es das
geschlossene Kästchen gerade aufnahm (um ein
Aufschieben unmöglich zu machen) und das Säck-
chen versiegelt. Als Siegel wurden Knöpfe mit
Phantasiemustern benutzt, die v. W. kurz vor den
Versuchen in größerer Anzahl gekauft und bis
zum Versuchsbeginn, ohne sie jemand zu zeigen,
aufbewahrt hatte. Der hier angeführte Versuch
fand in der Wohnung eines Freundes des Ver-
fassers, des Chirurgen Dr. R. in Frankfurt a. M.,
statt, dessen skeptische Haltung Frl. v. B. bekannt
war. „Wahrscheinlich war dies die Ursache, daß
der Versuch sich ziemlich in die Länge zog. Er
dauerte mit mehrfachen kurzen Pausen gegen
*/^ Stunden, so daß auf jedes der drei Kästchen
an 15 Minuten kamen." Die Kästchen waren von
Dr. R. und v. W. ausgewählt und eingesiegelt
worden. Es ist anzunehmen,, daß Frl. v. B. sich,
wie sie es sonst zu tun pflegte (eine besondere
Angabe fehlt bei diesem Versuch), auf ein Liege-
sofa ausstreckte und die Kästchen abwechselnd
auf die Stirn oder auf die Brust legte, dabei
zeichnete sie den Inhalt der Kästchen getreu
nach Form und Größe mit geschlossenen Augen
auf ein Stück Papier. „Frl. v. B. blieb mit
den eingesiegelten Kästchen im Anfang des Ver-
suchs allein, bis sie uns selbst aus dem Neben-
zimmer rief und um unsere Anwesenheit bat. Sie
sagte darüber, bei der diesmaligen längeren Dauer
störe sie der Gedanke mehr, daß wir erwartungs-
voll nebenan säßen, als unsere Anwesenheit. Der
Versuch endete übrigens mit vollständigem Ge-
lingen. Die nach Prüfung der Siegel geöffneten
Kästchen enthielten in Übereinstimmung mit den
Zeichnungen von Frl. v. B. die Buchstaben O A L.
Originale und Frl. v. B.s Zeichnungen stimmten
wiederum in Gestalt und Größe überein."
Es würde zu weit führen, aus den zahlreichen
Versuchen (137), deren Durchführung im Laufe
verschiedener Jahre vor sich ging, da Frl. v. B.
aus verschiedenen Gründen nur stets vorüber-
gehend zur Verfügung stand, eingehenderes an-
zuführen. So sei nur bemerkt, daß u. a. auch
Lesen aus geschlossenen Briefen, Auffinden ver-
borgener Gegenstände, Fernsehen, Hellsehen sehr
kleiner Dinge (mikroskopische Präparate), Hell-
sehen in die Vergangenheit usw. versucht wurden
und daß die Resultate meistens — nach v. W.s
Angaben — eine zutreffende Lösung ergaben.
Erschwerend fällt bei der Beurteilung ins Ge-
wicht, daß so gut wie niemals Namen genannt
werden. Es ist verständlich, daß die meisten sich
scheuen, da es sich um sehr umstrittene Gebiete
handelt, in eine öffentliche Diskussion hinein-
gezogen zu werden aber es ist andererseits die
Folge, daß die Kritik eine Zurückhaltung bewahren
muß, die einer Förderung dieser Probleme hem-
mend in die Wege tritt.
Jedenfalls kann an der sehr vorsichtig und
kritisch abgefaßten Schrift v. Wasielewskis
bei der Behandlung okkulter Phänomene nicht
vorübergegangen werden. Sie dürfte bei allen
Interessenten volle Würdigung finden.
V. Buttel-Reepen.
France, R. H., Die Pflanze als Erfinder.
Mit zahlreichen Abbildungen. 9. Aufl. Stutt-
gart 1920, Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde.
Geschäftsstelle : Frankhsche Verlagshandlung.
Verf. weist in der ihm eigenen journalistisch
gewandten Manier auf die Bedeutung des tech-
nisch vollendeten Baues des Pflanzenkörpers hin
und versucht durch Vergleich des Aufbaues der
Organismen, hier besonders der Flagellaten, Peri-
dineen und Diatomeen mit den Schöpfungen der
Ingenieurkunst eine neue Wissenschaft, die Bio-
tecknik, zu begründen. Das vorliegende Büchlein
soll nur in groben Umrissen für das Laienpubli-
kum die Gedanken des Verf. wiedergeben, wäh-
rend er „die Grundlagen einer wissenschaftlichen
Begründung der Biotechnik" in einer umfang-
reicheren Schrift: Die technischen Leistungen der
Pflanzen, Leipzig 19 19, niedergelegt hat. Die
Gedanken des Verf. können fraglos fruchtbringend
wirken, und es wäre zu begrüßen, wenn die Tech-
niker angeleitet würden, sich mit dem Studium
der Organismen in Hinsicht ihres rationellen
Baues zu beschäftigen. Die Bedeutung der Bota-
niker an den technischen Hochschulen würde eine
ganz andere sein, wenn sie als „Biotechniker" eine
engere Fühlung zu den rein technischen Wissen-
schaften gewinnen könnten als das bisher der
Fall war. Die Theorie des Verf. gipfelt in dem
336
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 22
Satz: „Die Technik der Natur (der Zellen, der
Pflanze, der Tiere) und die des Menschen ist näm-
lich einheitlich auf eine im Bau der Welt be-
gründete Tatsache zurückgeführt." Diese „Tat-
sache" besteht darin, daß „die Gesetze des ge-
ringsten Widerstandes und der Ökonomie der
Leistung" es erzwingen, daß „gleiche Tätigkeiten
stets zu den gleichen Formen führen", daß auf
der ganzen Welt einheitlich alle Prozesse stets im
Rahmen der sieben Grundformen alles Seins
(Kristallform, Kugel, Fläche, Stab, Band, Schraube
und Kegel) ablaufen müssen". Also auch der
Mensch kann in seinen Erfindungen nicht über
dies Gesetz hinaus, und er muß sozusagen zwangs-
läufig das erfinden, was die Natur bereits in den
Organismen vorerfunden hat.
Das kleine Buch liegt bereits in neunter Auf-
lage vor und das ist wieder ein Beweis für die
beispiellose Popularität des Verf. Der Stil und
die Darstellungsart des Verf. müssen also dem
großen Publikum gefallen, womit nicht gesagt ist,
daß die Kritik nun überflüssig geworden sei. Vor
allem ist es die Art der Darstellung, gegen die
mancherlei einzuwenden ist. Nach der Auffassung
des Ref. gehört es zu den Aufgaben des popu-
larisierenden Schriftstellers, dem bildungshungrigen
Volk zu zeigen, wem es die wissenschaftlichen
Erkenntnisse zu danken hat. Ein naiver Leser
des Franc eschen Buches gewinnt den Eindruck,
daß er es hier ausschließlich mit den Forschungen
des Verf. zu tun hätte und ihm wird nicht offen-
bar, daß die Forschungen Schwendeners, den
der Verf. als „älteren Vorläufer des biotechnischen
Gedankens" abtut, der nicht wagte, die Folgerungen
aus seinen epochemachenden Entdeckungen zu
ziehen, denn doch mehr bedeuten, als bloß die
Basis für den biotechnischen Gedanken abzugeben.
— Und wenn der Verf. als wichtigsten Satz der
„technischen Formenlehre" aufstellt, daß sich stets
aus der Gestalt die Tätigkeit, die Ursache der
Form, erschließen läßt, so vermißt man den Hin-
weis auf Goebel und Spencer und auf das
seit langem diskutierte Problem „Form und Funk-
tion" der Organe. — „Die Gesetze unserer Technik
liegen in der Natur vor unseren Augen", „Niemand
hat das je gesagt", ruft der Verf. emphatisch
aus. Aber, wer, wie der Verf., Schopenhauer
studiert hat, wird nicht umhin können, den Scharf-
sinn dieses Philosophen zu bewundern, wenn er
sich an diese Stelle erinnert: „Also schon die
untersten Naturkräfte selbst sind von jenem selben
Willen beseelt, der sich nachher in den mit In-
telligenz ausgestatteten, individuellen Wesen, über
sein eigenes Werk verwundert, wie der Nacht-
wandler am Morgen über das, was er im Schlafe
vollbracht hat." Wächter.
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I. Teil. Berlin '21, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger.
Handbuch der Entomologie, herausgegeben von Prof. Dr.
Schröder, Berlin. Lfg. VI. Jena '21, Gustav Fischer. 15 M.
lubalt: W. KUngelhöffer, Der Farbensinn des Menschen und seine angeborenen Störungen. S. 321. Axel Schmidt,
Zur Wünschelrutenfrage. S. 32S. — Einzelberichte: A. Kossei und G. Giese, Der Farbstoff des grünen Eiters.
S. 331. R. Goldschmidt, Die quantitative Grundlage von Vererbung und Artbildung. S. 331. O. Stutzer, Einige
besondere geologische Erscheinungen in den oligozänen Pechkohlenflözen Oberbayerns. S. 332. L. vonzurMühlen,
Der neuentstehende Magnesitbergbau am Galgenberg bei Zobten in Schlesien. S. 333. O. E. Plath, Fliegenlarven,
die das Blut von Nestvögeln saugen. S. 334. — Bücherbesprechungen: G. Karsten und W. Benecke, Lehrbuch
der Pharmakognosie. S. 334. W. v. Wasielewski, Telepathie und Hellsehen. S. 334. R.H.France, Die Pflanze
als Erfinder. S. 335. — Literatur: Liste. S. 336.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe 36, Band.
Sonntag, den 5. Juni 1921.
Nummer ä3.
Christian Gottfried Nees von Esenbeck als Naturforscher und Mensch. ')
Vortrag in der zoolog.-botan. Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur.
[Nachdruck verbotcn.l Von Prof. Dr. Hubert Winkler, Breslau.
Dem weiten Kreise der Gebildeten ist Nees deutendsten Systematiker seiner Zeit"*) gemacht
vonEsenbeck als Goethes Freund bekannt; Bei seinen ersten naturgeschichtlichen Studien
mancher weiß vielleicht noch, daß der Brief- lenkte er sein Augenmerk auf die Tier- und
Wechsel beider naturwissenschaftliche, hauptsäch- Pflanzengruppen, die ihrer Unscheinbarkeit wegen
hch botanische Gegenstände betraf. Botaniker oder aus anderen Gründen bis dahin vernachlässigt
war Nees freilich in erster Linie, wenn wir sein worden waren. So arbeitete er mit Graven-
staatliches Amt in Betracht ziehen, aus dem er
nach 34jährigem Dienste nicht mit freiem Willen
geschieden ist. Nur wenige aber wissen, wie viel-
seitige Arbeit im Dienste der Kultur dieser aus-
nahmsweise begnadete Mann geleistet hat.
Nees vonEsenbeck war, wie so viele be-
deutende Vertreter unseres Faches, von der Me-
dizin zur Botanik gekommen, in der Batsch
sein Lehrer war. Und die Lehre ist gut gewesen
hörst zusammen über die Ichneumoniden; von
dieser und den nächst verwandten Familien kam
1834 eine monographische Bearbeitung heraus.
Seine älteste botanische Arbeit behandelt „Die
Algen des süßen Wassers nach ihren Entwicklungs-
stufen dargestellt",'^) die folgende „Das System
der Pilze und Schwämme".") In beiden Arbeiten
mischt sich mit guter Beobachtung aber noch all-
zuviel philosophische Spekulation. Die Überschrift
Denn wahrend im Gegensatz zu der in Frankreich des XXI. Kapitels des „Systems" lautet • Vege-
betriebenen Botanik in Deutschland Linne als tative Schwere. Reich der Wiederkehr" zum
mißverstandene Autorität bei kleinlichen Nach- mütterlichen Sqhoße. — Fruchtknotenleben" • und
tretern ein behagliches Weiterspinnen veranlaßte, Abschnitt 190 dieses Kapitels: „Diese neue Sphäre
war Batsch einer der wenigen deutschen Bota- wird die Elemente des Schwammlebens, Zellen-
niker des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der peridie und wachsende Basis, als produktive
Jussieus Verdienste um den Ausbau des natür- Einheit darstellen, d. h. die Substanz selbst
liehen Pflanzensystems zu würdigen wußte. Er wird in die Form ihres produktiven Prinzips, die
hatte selbst eine „Tabula affinitatum regni vege- Peridie , umschlagen , und die freye Zelle ' von
tabihs" mit Charakteristik der Familien und höheren Ascodoli/s im Urmomente der Entwicklung aus
Gruppen verfaßt. Diesen tüchtigen Sinn für das sich darstellen."
Notwendige und Wesentliche der botanischen Hier sei auch gleich die „Bryologia germanica
Wissenschaft übertrug Batsch auf seinen außer- oder Beschreibung der in Deutschland und in der
gewöhnlich begabten Schüler. Nees vonEsen- Schweiz wachsenden Laubmoose" erwähnt, die er
beck hat sich sehr genau Rechenschaft gegeben im Verein mit Hornschuch und dem Zeichner
einerseits über die Berechtigung der Linneschen
analytischen Methode, die seinerzeit zur Be-
wältigung der aus Europa und anderen Weltteilen
auf Linne einstürmenden Masse von Formen eine
Notwendigkeit war, andererseits über die zusam-
menfassende Vergleichung, die die Einzelarten zu
Gattungen und diese zu höheren Gruppen zu ver-
einigen strebt. In seiner Arbeit „Über die Gattungen
Maranta und Thalia"") spricht er sich darüber
aus. Schon während seiner ersten akademischen
Lehrtätigkeit in Bonn hat er in dem hauptsäch-
lich auf sein Betreiben gegründeten Seminarium
für die gesamten Natur wissensch aften
einen Vortrag Fuhlrotts über dieses Thema
veranlaßt, der 1829 mit Vorwort von Nees als
umfangreiche Arbeit gedruckt worden und sicher
auf die Einführung der natürlichen Pflanzensysteme
in Deutschland von nicht geringem Einfluß ge-
wesen ist.^)
Die eben erörterte gesunde theoretische An-
schauung verbunden mit ausdauernder Arbeit
haben Nees von Esenbeck zu „einem der be-
') An biographischen Notizen und kurzen Biographien
liegen vor: drei von Nees' eigener Hand, nämlich in
Nowacks Schles. Schriftsteller-Lexikon I, 1836.
Für freies religiöses Leben, Zeitschrift, herausgegeben von
Hofferichter und Kampe, IL Bd., Breslau 1849.
Die Verbrüderung, Nr. 52, 1849.
Ferner
Schideck, Nees von Esenbeck. Ein Lebensbild für
seine Freunde. Breslau 1851.
Anonym (Ferd. Cohn), Christian Gottfried Daniel Nees
von Esenbeck. (Illustrierte Zeitung, Leipzig, Jahrg. 1858.)
D. G. Kieser, Lebensbeschreibung des am 16. März
1858 verstorbenen Präsidenten der Kaiserlichen Leopoldinisch-
Carolinischen deutschen Akademie der Naturforscher, Dr.
Christian Gottfr. Dan. Nees von Esenbeck. (Nov. Act. XXVII
1860.) ^
F. Pax in Festschrift zur Feier des loojährigen Bestehens
der Universität Breslau, 191 1.
') Linnaea VI (1831).
''■) Carl Fuhlrott, Jussieus und de CandoUes natür-
liche Pflanzensysteme nach ihren Grundsätzen entwickelt und
mit den Pflanzenfamilien von Agardh, Batsch und Linne, so-
wie mit dem Linneschen Sexualsystem verglichen. Bonn 182Q
*) Pax 1. c.
^) Bamberg 1814.
") Würzburg 1817.
338
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
Sturm herausgab.') Der systematische Teil um-
faßt 64 Gattungen. Außerdem ist alles zusammen-
getragen, was damals in anatomischer und physio-
logischer Hinsicht über die IVIoose bekannt war;
auch die geschichtliche Entwicklung der Moos-
forschung von Theophra'st bis auf die neueste
Zeit wird dargestellt.
Später beschäftigte sich Nees auch mit zahl-
reichen Phanerogamen-Familien. Seinen ersten Zu-
hörern in Erlangen 1818 widmet er seine „Synopsis
specierum generis Asterum herbacearum","') eine
Gattung, die er 1833 noch einmal monographisch ■'')
bearbeitet hat. Er benutzte dazu nicht nur alle
ihm zugänglichen Herbarien, sondern kultivierte
auch manche Arten, offenbar auch einige von
Goethe erhaltene, über deren herrliches Blühen
er diesem in einem Briefe berichtet. Für seinen
Freund Martius hat er mehrere Familien in
der „Flora brasiliensis" bearbeitet, für englische und
holländische Veröffentlichungen eine Anzahl in-
disch-malayischer und kapensischer Familien. Bei
den Gramineen, Cyperaceen, Piperaceen, Laura-
ceen, Solanaceen, Äcanthaceen, Astereen stößt
man wieder und wieder auf Nees abEsenbeck
als Autornamen. In Gemeinschaft mit Weihe
hat er sich auch der schwierigen Gattung Riibus
angenommen und „Die deutschen Brombeer-
sträuche" in 10 Heften mit 52 Tafeln dargestellt.*)
Noch in späteren Jahren ist er öfter zu seiner
ersten Liebe, den Kryptogamen, zurückgekehrt,
besonders als er durch seine Berufung nach Bres-
lau mit dem Riesengebirge und mit F 1 o t o w be-
kannt wurde, der außer Flechten auch Leber-
moose eifrig sammelte und mit glückhcher Hand
kultivierte. Nees von Esenbecks „Erinne-
rungen aus dem Riesengebirge" bieten als erste
4 Bändchen „Die Naturgeschichte der europäischen
Lebermoose". '')
Als ein besonderes Verdienst für die damalige
Zeit muß man den Nees sehen systematischen Ar-
beiten die Berücksichtigung der pflanzengeogra-
phischen Verhältnisse anrechnen. In diesem Punkte
hatte er von Rob. Brown besonders gelernt.
So hoch verehrte er diesen genialen englischen
Botaniker, den Goethe als den größten seiner
Zeit bezeichnete, daß er dessen Schriften bis zu
den kleinsten Fragmenten herab mit Hilfe von
Fachgenossen in einer deutschen Übersetzung zu-
sammenstellte.*)
Wir sehen also, daß Nees von Esenbeck
mit Treue eine gewaltige Masse minutiöser Klein-
arbeit leistete. Er hatte aber ein zu tiefes philo-
sophisches Bedürfnis, um an diesen Einzelstudien
ganz Genüge zu finden. Merkwürdigerweise haben
ihn jedoch seine ausgebreiteten systematischen
Kenntnisse nicht dazu geführt, den theoretischen
') Nürnberg 1823 — 1827.
2) Erlangae :8i8.
3) Norimbergae MDCCCXXXIII.
*) Elberfeld 1822— 1827.
») Berlin 1833 u. 1S36, Breslau 1838.
") Nürnberg 1834.
Ausbau des natürlichen Pflanzensystems zu fördern.
Schon während seiner Studienzeit in Jena war er
mit den naturwissenschaftlichen Bestrebungen
Goethes bekannt geworden, und später, nament-
lich in den Jahren 1816 — 1820, hat er brieflich
und mündlich viel mit ihm verkehrt. 1822 widmete
er mit Martius zusammen ihm eine neue
brasilianische Malvaceen-Gattung: Goethea. Die
Anziehungskraft ging besonders von Goethes
Metamorphosenlehre aus, die die ideelle Beziehung
von Form zu Form, die stufenweise Abänderung
von einer zur anderen und vom Allgemeinen zu
den Einzelformen durch die Idee des Typus über-
sehbar und begreiflich machen soll.*)
Goethe hatte zunächst versucht, einen solchen
Typus für das Skelett der Vierfüßer aufzustellen.
Später hat ihn die Konstruktion des pflanzlichen
Typus, der Urpflanze, lange auf das lebhafteste
beschäftigt. Es ist klar, daß ein Geist wie Nees
von Esenbeck, dessen tiefstes Bedürfnis es war,
jede Sache durch begriffliche Klärung ins hellste
Licht des Bewußtseins zu erheben, von diesen
Goethe sehen Ideen angezogen werden mußte.
Er hat daher neben seinen speziellen systematischen
Arbeiten, in denen er, je länger um so mehr, die
strengste Einzelbeobachtung walten ließ, die all-
gemeine Morphologie auf dieser Goe theschen
Grundlage in zwei dicken Bänden '^) dargestellt,
die er auch „Seiner Exzellenz dem Geheimenrath
von Goethe" widmete. „Die Quelle ist frei-
lich durch Sie aufgeschlossen worden", sagt er in
der Widmung, „aber sie rinnt in diesem Buch in
allzuviele Bächlein untereinander." In der Tat,
der eine mächtige Strom der Idee, die Goethe
hauptsächlich an dem Beispiel der Blätter erläutert,
wird hier auf etwa 600 Seiten bis zum einzelnen
durchgeleitet. Von den Zellen und Gefäßen fangt
er an, handelt dann von Wurzel, Stengel, Knospe,
Blättern, Blüte, Frucht und Samen. Und jedes-
mal findet sich ein Kapitel „Metamorphosengang",
a) im Individuum, b) durch die Stufen des Ge-
wächsreichs; d. h. jeder Pflanzenteil unterliegt
einer doppelten Betrachtung. Die Metamorphose
der Knospe z. B. wird folgendermaßen dargestellt :
Im Pflanzenindividuum gibt es eine vor- und eine
rückschreitende Knospenmetamorphose. Jene ist
ausgedrückt durch die Bezeichnungen Stock-
knospe, Stengelknospe, Blumenknospe;
rückschreitend im Pflanzenindividuum wird die
Knospe zu einer Knospenknolle, wie bei
Dejifaria bidbifera. Der Metamorphosengang der
Knospe durch das ganze Gewächsreich ist ge-
geben als Fortschreiten der nackten zur be-
deckten Knospe. Dieser Fortschritt wird in
einer zutreffenden ökologischen Betrachtung mit
dem Jahreszeitenwechsel in Verbindung gebracht.
Durch diese Methode werden manche morpho-
logischen Beziehungen in glücklicher Weise dar-
gestellt. Vieles wird aber durch die hineinspielende
') Naef, Idealist. Morphol. u. Phylogenetik. Jena 191g.
*) Handbuch der Botanik, Nürnberg 1820 u. 1821.
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
339
Naturphilosophie des Verfassers verdunkelt. So
tritt mehrmals ein Kapitel „Horologie" auf, das
das Verhalten der Organe gegenüber Tag und
Nacht hehandelt und uns wunderlich anmutet.
Über die Farbe der Pflanze wird gesagt: „Grün,
die Farbe des Pflanzenreichs, liegt in der IVIitte
der sieben prismatischen Farben, bezeugt die
Ausgleichung des Streites des Lichts mit der or-
ganischen Materie und entspricht darum der Idee
des Pflanzenreichs und thut dem Auge so wohl."
Eine große Rolle spielt auch die alte naturphilo-
sophische Idee der abwechselnden Ausdehnung
und Zusammenziehung der Teile. Auch in Nees'
ersten systematischen Arbeiten spuken noch solche
Gedankengänge. In seiner Arbeit ,,Uber die bart-
mündigen Enzianarten" z. B. unterscheidet er eine
Entwicklungsreihe mit konthrahierter und
eine mit expandierter Stengelform; und die-
selbe Unterscheidung kehrt beim Blatt, dem Kelch
und der Krone wieder.
Wenn wir Nees von Esenbecks natur-
wissenschaftliche Schriftstellerei betrachten, so
müssen wir auch einen Blick auf seine mittelbare
Wirksamkeit in dieser Beziehung werfen, d. h.
auf seine Verdienste um die Drucklegung fremder
Werke. Solche hat er sich im höchsten iVlaße
erworben durch seine überaus erfolgreiche, un-
eigennützige Tätigkeit als Präsident der Kaiserl.
Leopoldinisch - Carolinischen deutschen Akademie
der Naturforscher, deren Gründung 165 1 erfolgt
war. Seit 18 16 war Nees v. Esenbeck Mit-
glied der Akademie; bald darauf wurde er Ad-
junkt und am 3. August 18 18, nach v. Wendts
Tode, zum Präsidenten gewählt, ein unbezahltes
Ehrenamt, das er bis zu seinem Tode mit größter
Hingebung versah. Nees schreibt selbst im
Jahre 1852 in dem Vorwort zum Katalog seiner
Bibliothek, ^) den er zum Zwecke einer Auktion
aufgestellt hatte: „Die Wiederbelebung und Fort-
bildung der alten Kaiserl. Akademie verbunden
mit den Pflichten gegen die neue Universität Bonn,
nahmen seit 1818 meine ganze Wirksamkeit in
Anspruch, und besonders war die Geschäftsleitung
bei der Akademie von solcher Art, daß sie alle
von meinen Amtspflichten im engeren Sinne freie
Zeit ganz ausfüllte und ich weder in Bonn noch
später in Breslau jemals eine der einträglichen
Universitätsstellen, das Rektorat oder Dekanat
übernehmen konnte, also auch hier meiner Nei-
gung, mich selbst im Wirken für andere oder für
das Allgemeine zu vergessen, folgen konnte, ja
folgen mußte." Jenes alte ehrwürdige Reichs-
institut, das das Leben des alten Reiches über-
dauert hatte, war mit dessen Untergang aber
auch altersschwach geworden. Vor allem mußte
die Frage entschieden werden, welcher von den
Bundesstaaten sich seiner annehmen werde. Da
sein Präsident nach Bonn übersiedelte, erklärte
') Breslauer Bücher-Auktion, den I. März 1852. Citalogus
Bibliothecae Chr. Godofr. Nees ab Esenbeck Dr. . . Mit einer
Vorrede von Nees von Esenbeck und der Übersicht seines
gleichfalls verkäuflichen Herbarii.
sich Preußen auf Nees' Antrag unter Garantie
der alten PVeiheiten der Akademie bereit, für die
Zeit ihres Aufenthalts in den Kgl. Preußischen
Staaten einen jährlichen Zuschuß von 1200 Talern
aus Staatsfonds zur Herausgabe ihrer Schriften zu
leisten. Achtzehn Bände der Verhandlungen (Nova
Acta) kamen unter Nees' Präsidentschaft heraus,
d. h., da jeder 2 Abteilungen umfaßt und auch
noch Supplemente erschienen : 47 Quartbände mit
486 Abhandlungen und 1480 Kupfertafeln und
Lithographien. In seinem Eifer, recht viele Ar-
beiten möglichst gut ausgestattet herauszubringen,
ließ er oft die finanziellen Kräfte der Akademie
unberücksichtigt, so daß sich bei seinem Tode
eine nicht unbeträchtliche Schuldenlast angesam- '
melt hatte. Sein Nachfolger auf dem Präsidenten-
stuhl und langjähriger Freund, der Mediziner
Kieser, sagt in seinem Nachruf: „Mag dies in
seinem unermüdlichen Eifer, die Ehre und Wirk-
samkeit des deutschen Instituts zu fördern, eine
Entschuldigung finden."
Neben dieser Förderung der Naturforschung
lag Nees von Esenbeck die Verbreitung
naturwissenschaftlicher Kenntnisse im Volke und
die Einführung eines ausreichenden naturkund-
lichen Unterrichts in den Schulen sehr am Herzen.
Er fand Gelegenheit, diese Bestrebungen dadurch
wirksam zu machen, daß sein Landsmann und
Gönner, der Unterrichtsminister v. Altenstein,
der ihn auch an die neugegründete Universität
Bonn berufen hatte, seine gutachtliche Äußerung
über die Reform des naturwissenschaftlichen Unter-
richts an den Gymnasien einforderte. In diesem
1833 erstatteten Gutachten will Nees die An-
schauung, vermittelt durch Sammlungen , als
Grundlage des Unterrichts angesehen wissen, da-
mit der Schüler selbsttätig zur Erkenntnis der
Natur gelange. Die Schüler sind daher ebenfalls
zum Sammeln anzuleiten. Der Lehrer muß des-
halb in den Stand gesetzt werden, mit den
Schülern Exkursionen zu unternehmen. Schon
1833 stellt Nees auch die Forderung nach bota-
nischen Schulgärten aufl Im Winter müsse statt
der Exkursionen von Quarta ab wöchentlich ein
halber Tag zur Beschäftigung im Zimmer unter
Aufsicht des Lehrers bestimmt sein. Sollen die
Naturstudien als Bildungsmittel auf dem Gymna-
sium Kraft gewinnen, so müssen sie mit dem
Stempel der Ebenbürtigkeit sich den übrigen
Lehrgegenständen beigesellen, und zwar bis zur
I. Klasse. Geschieht das nicht, so gewöhnt sich
der Schüler nach seiner Versetzung in die höheren
Klassen, in denen die Naturgeschichte wegfällt,
auf diese als auf Untergeordnetes herabzublicken
oder sich wohl gar als in diesem Fache vollständig
ausgebildet zu betrachten.
Neben diesem dienstlichen Gutachten unter-
nahm es Nees noch, durch Aufsätze in wissen-
schaftlichen Zeitschriften und in Tageszeitungen
die öffentliche Meinung für diesen Gegenstand
lebhaft zu interessieren. 1839 wurde er vom
Minister v. Altenstein aufgefordert, „einen Ent-
340
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
wurf zu dem noch zu erlassenden Reglement für
die Prüfung der Kandidaten in den zum Unter-
richt in der Naturwissenschaft erforderlichen
Kenntnissen und Fertigkeiten" zu verfassen. Im
Dezember desselben Jahres erschien dann ein
Ministerialreskript, das eine obligatorische Prüfung
in den Naturwissenschaften für die Kandidaten
anordnete, die solchen Unterricht in den Gymna-
sien, Real- oder höheren Bürgerschulen erteilen
wollten. Nees vonEsenbeck wurde in Bres-
lau der erste Examinator für Naturkunde in der
wissenschaftlichen Prüfungskommission, erhielt
allerdings sofort nach Berufung Eichhorns zum
Kultusminister den Prof. Göppert zum Nach-
folger. Ein weiterer Erfolg von Nees' Bemühun-
gen war, daß Altenstein zu der Überzeugung
kam, „daß er sich nicht eher einen für den Unter-
richt ersprießlichen Erfolg verspreche, als bis auf
sämtlichen Universitäten regelmäßig Vorlesungen
über allgemeine Naturgeschichte in ihrer Anwerr-
dung auf den Gymnasialunterricht gehalten wer-
den". Er freue sich, daß sich Nees aus eigenem
Antriebe zu einer solchen entschlossen habe.
Auch in dem „wissenschaftlichen Verein",
dessen Seele er wohl war • — einem Verein von
Breslauer Universitätsprofessoren, mit der Auf-
gabe, wissenschaftliche Vorträge für einen größeren
Kreis gebildeter Zuhörer zu halten — bestätigte
sich Nees von Esenbeck eifrig und erhielt
dafür vom Minister einen Dank.
Neben naturwissenschaftlichen Fragen beschäf-
tigten Nees, der nach seinem Universitätsstudium
eine Zeitlang medizinische Praxis betrieb, damals
medizinische Probleme lebhaft; er hat eine Reihe
medizinischer Schriften rezensiert. Mit Über-
zeugung hing er dem Mesmerismus an, der Lehre
vom tierischen Magnetismus. In Hufelands
„Neuem Journal für praktische Arzneikunde" und
in Kiesers „Archiv für den tierischen Magnetis-
mus", bei dem er seit 1820 als Mitherausgeber
auftrat, schrieb er mehrere mesmeristische Auf-
sätze: „Traumdeutung, ein Fragment" — „Ein
blindes Mädchen sieht mit den Fingerspitzen" —
„Auch einige verwirrte Gedanken über die tierisch-
magnetischen Erscheinungen". 1820 veröffent-
lichte er in Vorlesungsform eine — Kies er ge-
widmete — Schrift „Entwicklungsgeschichte des
magnetischen Schlafs und Traums", ^) in der er
die Frage mit ganz einwandfreier naturwissen-
schaftlicher Methode behandelt. Die i. Vorlesung
z. B. bietet eine klare und anschauliche Darstel-
lung der Phasen des gewöhnlichen körperlichen
Einschlafens und Erwachens. In der 2. und 3. Vor-
lesung behandelt er ebenso das magnetische Ein-
schlafen und Erwachen, was wir heute etwa Hyp-
nose nennen würden; weiter das Verhalten der
Sinne beim magnetischen Schlafen und Wachen,
das Hellsehen, schließlich die Heilkraft des tieri-
schen Magnetismus. Um so wunderbarer mutet
es an, wenn wir mitten in den nüchternen wissen-
schaftlichen Auseinandersetzungen folgenden Satz
finden: „Der Schlaf erscheint uns als der Aus-
druck der einen Achsendrehungshälfte der Erde,
durch welche sie sich vor der Sonne, vor der
Beziehung und Rückbildung ins Allleben ihres
Systems verbirgt."
Damit kommen wir zu — schon berührten
— Tendenzen im Denken Nees von Esen-
becks, die wir von unserem heutigen Standpunkt
meist nicht als wissenschaftlich zu bezeichnen
pflegen, Tendenzen, die ihm nicht allein eigen
sind, die den ganzen Geist seiner Zeit bewegten,
die er als Student in Jena von dem Haupte dieser
Richtung selbst, Schelling, in sich aufgenom-
men hatte: der Naturphilosophie. Dieser Geist
jenes Zeitalters ist die Einheitstendenz. „Der
Zug nach Einheit und Universalität war damals
der mächtigste, er hatte alle Lebensgebiete er-
griffen und trieb alle bewegenden Kräfte der
geistigen Welt in seine Richtung" sagt Kuno
Fischer in seinem großen Werk über Schel-
ling.') „Der Zug nach dem Alleinen hatte sich
der Geister in Wissenschaft und Kunst, in Philo-
sophie und Dichtung bemächtigt. Die Welt-
anschauung aus einem Stück, die Erkenntnis aus
einem Prinzip war seit Kant Aufgabe und
Thema der deutschen Philosophie." Und „unsern
großen Dichtern galt die Kunst nicht als ein
vereinzeltes Schaffen, sondern wurde ihnen die
Seele der Welt, der Weltbetrachtung, der Menschen-
erziehung, die gestaltende und vollendende Macht
der Natur und Bildung". Was das christliche
Mittelalter in seiner einheitlichen Weltanschauung
besessen, die es zu einer großartigen Kultur-
leistung befähigte, das sucht die denkende Mensch-
heit doch immer wieder zu gewinnen, wenn es
ihr abhanden gekommen ist. So war es zu den
Zeiten der idealistischen Naturphilosophie, die in
der Romantik so gern an das Mittelalter anknüpfen,
so ist es heute wieder. Wie oft hören wir die
Klage, daß unsere Wissenschaft an zu großer
Spezialisierung und Zersplitterung leide, daß wir
wieder einer umfassenden Synthese bedürften.
Und das, was wir heute wieder Monismus nennen,
ist ja nichts weiter als das Streben nach einer
einheitlichen Auffassung der Welt. Die Zeiten
der Vereinzelung und Zersplitterung des Denkens
freilich wissen solches Streben nicht zu würdigen.
Und so hat sich denn auch die deutsche Natur-
philosophie harte Urteile gefallen lassen müssen
und muß es noch heute. Daran war sie selbst
nicht ganz schuldlos. Seh ellin gs umfassende
Formeln bilden den Abschluß, die konzentrierte
Darreichung entwickelter Gedankenreihen; bei
vielen seiner Anhänger treten öde und mystische
Formeln jedoch an Stelle der Gedanken. Aber die
großen Meister selbst haben oft, wo die exakte
Wissenschaft ihren Spekulationen noch keine ge-
nügende Grundlage bot, durch Konstruktionen
') Bonn 1820.
•) Schellings Leben, Werke und Lehre. 2. Aufl. Heidel-
berg 1899.
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
341
auch in Einzelheiten ihr Streben und ihre Lehre
bei den Naturforschern in Mißkredit gebracht.
Gewiß mußte es unsinnig erscheinen, wenn
Hegel beweisen wollte, daß es nur 7 Planeten
geben könne. Ja selbst die Lehre, daß die Fix-
sterne einen Hitzeausschlag des Himmels dar-
stellen, tauchte wieder auf. So kam es denn, daß
man den hohen Standpunkt und das umfassende
Erkenntnisstreben der allgemeinen Wissenschaft,
der Philosophie, allmählich gänzlich ablehnte und
immer mehr an krassem Mechanismus und Mate-
rialismus sein Genügen fand. Der Hauptvertreter
der deutschen Naturphilosophie, Schellin g,
denkt aber in seinen Kerngedanken merkwürdig
naturwissenschaftlich. „Seine naturphilosophischen
Gesichtspunkte sind sämtlich bestimmt durch den
Gedanken einer durchgängigen Einheit aller Natur-
erscheinungen, weil jeder Dualismus den Zusam-
menhang der Dinge und damit deren Erkennbar-
keit aufhebt. In der unorganischen Natur war
Schellings Gesichtspunkt auf die Einheit der
physikalischen Kräfte gerichtet und sah dort das
Ziel, wo die heutige Physik ihren erreichten
Höhepunkt erblickt." Schelling erklärte noch
vor Erfindung der Voltaschen Säule grundsätz-
lich die Einheit der elektrischen, chemischen und
magnetischen Erscheinungen. Dieses Thema
seiner Naturphilosophie, die Einheit der Natur-
kräfte fand sich dann durch den folgenden Ent-
deckungsgang der Physik durchaus bestätigt. Und
bei Betrachtung der organischen Natur forderte
er die Identität von Materie, Magnetismus, Elek-
trizität, chemischem Prozeß, Leben, Organisation,
Intelligenz und Bewußtsein; eine Forderung, die
kein moderner Monist überbieten kann. Den
Vitalismus lehnte er durchaus ab.
Wir sehen also, daß sich der idealistischen
deutschen Naturphilosophie, wenigstens in ihren
maßgebenden Vertretern, doch Ideen abgewinnen
lassen, die auch dem Naturforscher nicht ganz so
unsinnig erscheinen, wie sie oft hingestellt worden
sind ; und daß es die Naturphilosophie kaum nötig
hat, sich selbst auf Erkenntnistheorie zu be-
schränken, wie die meisten Naturforscherphilo-
sophen es heute tun.
Von diesen Ideen also wurde Nees von
Esenbeck schon als Student aufs stärkste an-
gezogen. Sein ganzes Leben lang, in vielen seiner
Schriften, tritt seine naturphilosophische Grund-
stimmung, gelegentlich zutage. Und gegen Ende
seines Lebens hat er es noch unternommen, ein
„System der spekulativen Philosophie" zu schreiben,
von dem 1841 als erster Band die „Naturphilo-
sophie" *) herauskam. Einen Fortschritt des philo-
sophischen Gedankens scheint diese Schrift nicht
zu bedeuten. Nees von Esenbeck war zwar
geistreich und zweifellos auch ein spekulativer
Kopf, der sich in die verschlungenen Gedanken-
wege anderer hineinzufinden wußte, aber doch
nicht gerade genial auf diesem Felde, um Größeres
') Glogau 1841.
als seine großen Lehrer bieten zu können. Eine
Bestätigung dieser Auffassung sehe ich darin, daß
ich Nees von Esenbeck nirgends in den Ge-
schichten der Philosophie verzeichnet finde. Er-
wähnenswert ist es, daß Nees trotz seiner ent-
schiedenen Neigung zur Spekulation dieser doch
in seinen späteren Jahren keinen Einfluß mehr
auf seine exakten naturwissenschaftlichen Unter-
suchungen einräumte, wodurch er sich vorteilhaft
von manchem anderen Naturforscher der damaligen
Zeit unterscheidet.
Meine zweite Aufgabe, Nees von Esenbeck
als Menschen zu schildern, ist erheblich schwieriger,
aus äußeren (die Quellen fließen sehr spärlich)
und inneren Gründen. Ich möchte voran zwei
gegensätzliche Tatsachen stellen: i. Nees wurde
unter Teilnahme von 10 000 Menschen oder, wie
wir wohl ruhig im wahrsten Sinne des Wortes
sagen können , Trauernden zu Grabe geleitet.
2. In seinem Nachruf auf den verstorbenen Präsi-
denten der Leopoldinisch Karolinischen Akademie
sagt sein Nachfolger und langjähriger Freund
Kieser: „Der zwischen mir und dem verstorbenen
Präsidenten Dr. Nees von Esenbeck seit länger
als 40 Jahren bestandene und nur selten unter-
brochene Verkehr bewegte sich einzig und
allein in der Sphäre der Wissenschaft, während
dessen persönliches ThunundTreiben und
alle seine Lebensbeziehungen, welche nicht die
Naturwissenschaften betrafen, nie in demselben
besprochen wurden und dem Unterzeichneten eine
nur durch unzuverlässige Nachrichten erläuterte
terra in cognita blieben", die in dem Nachruf
unberücksichtigt bleiben solle. Eine ähnliche Be-
tonung wird nochmal wiederholt, und man fühlt
heraus, daß sie ein deutliches Abrücken von
Nees von Esenbeck als Mensch bedeutet.
Wohl selten ist das Bild eines Menschen durch
das in gewohnheitsmäßigem Denken und Fühlen
sich bewegende Urteil seiner Mitwelt ärger ver-
zerrt worden als das seinige. ■ — Doch zunächst
seinen Lebensgang. Nees von Esenbeck wurde
am 14. Februar 1776 auf dem Reichenberge bei
Erbach im Odenwalde geboren, in einem den
Grafen von Erbach gehörigen Bergschlosse, in
deren Dienste sein Vater als Rentmeister stand.
Er war der älteste von fünf Geschwistern, drei
Brüdern und zwei Schwestern, von denen der
jüngste, Theodor Friedrich Ludwig, später
sein Mitarbeiter und Amtskollege in Bonn wurde,
wo er aber schon 1873 starb. ^) Leider wissen
wir von unseres Nees von Esenbeck Jugend
zu wenig, um überall seine späteren Neigungen
und Betätigungen in Anlage und Erziehung einzeln
begründet zu finden. Soviel berichtet er selbst,
daß er bis zu seinem 16. Jahre zu Hause eine
sorgfältige, aber nichts weniger als pedantische
Erziehung genoß, die schon früh in dem Knaben
') Nees von Esenbeck, Theodor Friedrich Ludwig
Nees von Ksenbeck. Zur Erinnerung an den 26. Juli 1787
und den 12. Dezember 1837 den Freunden des Verstorbenen
gewidmet. Breslau 1838.
342
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
die beiden Lebensrichtungen weckte, die wir den
Mann und Greis verfolgen sehen: die Liebe zur
Natur und die Liebe zum Volke. Die freie, heitere
Lage der Burg, die nahen Fluren, Wälder und
wasserreichen Auen gaben viel Gelegenheit zu
frohem Naturgenuß, aus dem bald ein Streben
nach Naturerkenntnis ward, während die stämmigen,
rüstigen Gebirgskinder des Odenwaldes den Knaben
in das Leben des Volkes hineinzogen, mit dem
Volke befreundeten und es liebgewinnen ließen.
Lebhaft in Anspruch nahmen ihn die gewaltigen
Ereignisse von 1789, die französische Revolution,
ein Interesse, das auch sein Vater beim abend-
lichen Lesen der Zeitungen mit ihm teilte. In
seinem 16. Jahre kam er nach Darmstadt auf das
Gymnasium. In seinen Zukunftsplänen neigte er
anfangs zum Studium der Theologie, obwohl er
die Franzosen in Schutz nahm, als sie den lieben
Gott absetzten. Später gewann sein Interesse die
Medizin, die er neben Philosophie und Botanik
von 1 796— 1 799 in Jena unter Hufeland, Loder,
Stark, Suckow studierte. Im Jahre 1800 pro-
movierte er in Gießen als Doktor der Medizin und
begab sich dann zum Praktizieren nach seiner
Heimat. In dieser Berufstätigkeit als Arzt „hatte
ich fast ausschließlich den leidenden Kranken vor
Augen, mich selbst betrachtete ich als Nebensache.
Ich bekam so nie eine einträgliche Praxis." Die
erste Kranke, die er mit Anwendung des mag-
netischen Heilverfahrens aus anscheinender Leberjs-
gefahr rettet, wird seine Frau, stirbt aber schon
nach einjähriger Ehe im Wochenbett und hinter-
läßt ihm ein Gütchen, Sickershausen bei
Kitzing am Main. Hier verlebt er nun als Privat-
mann in engster Seelengemeinschaft mit seiner
zweiten geistvollen Frau, einer geb. von M e t -
tingh, Jahre des schönsten Genusses und reichster
Tätigkeit. Auf zahlreichen Exkursionen bringt er
eine bedeutende Vogel- und Insektensammlung
zusammen. Seine ersten zoologischen und bo-
tanischen Arbeiten stammen aus dieser Zeit. Durch
den französischen Krieg gerieten die Verhältnisse
des Gutes in Verfall, und N e e s sah sich genötigt,
eine Staatsstellung anzunehmen. Nach kurzem
Wirken als Professor der Botanik an der Univer-
sität Erlangen 1818, geht er noch in demselben Jahre,
von Altenstein berufen, an die neugegründete
Universität Bonn, obwohl ihn Goethe schon
viel früher gern nach Jena gebracht hätte. „Es
ist eine — schreibt er über ihn — von den
gründenden Naturen, die wir jetzt so nötig brauchen
als irgend eine Akademie, die erst entsteht." In
Bonn richtete Ne es den botanischen Garten beim
Schlosse Poppeisdorf ein und entfaltete eine leb-
hafte Lehrtätigkeit. An seinem Bruder Theodor
Friedrich und dem Gartenkünstler Linning
fand er schätzenswerte Gehilfen. 1830 tauschte
er aus persönlichen Gründen die Professur mit
Treviranus in Breslau wo er ebenfalls den
botanischen Garten nach künstlerischen Gesichts-
punkten neu anlegte. Als sich mit dem Ober-
gärtner Lieb ig nicht mehr auskommen ließ, ver-
anlaßte er die Beförderung seines Sohnes Carl
zum Garteninspektor. Als akademischer Lehrer
in Breslau hatte er keinen besonders großen Er-
folg. Wie in seinen Schriften, so war er auch in
seinen Vorlesungen nicht leicht verständlich.
Schließlich fand er nach seiner eigenen Angabe
nur noch wenige Zuhörer. Aber er hatte auch
in seinen letzten Lebensjahren kein rechtes Inter-
esse mehr für seine botanischen Vorlesungen, weil
ihn anderes mit Leib und Seele beschäftigte. Es
war ja auch längst in Göppert ein ausge-
zeichneter Ersatz vorhanden. Jenes andere, was
ihn bewegte, war die Philosophie und in späteren
Jahren immer mehr die Politik. Schon seit 1839
las er an der Universität regelmäßig spekulative
Philosophie und soziale Ethik. In den vierziger
Jahren suchte er dann seine sozialen und politischen
Überzeugungen in die Tat umzusetzen. 1852, in
seinem ']6. Lebensjahre, wurde er aller seiner
Ämter entsetzt und ohne Pension entlassen, nach-
dem er schon jahrelang durch Polizei und Ge-
richte schikaniert worden war. Da er gänzlich
ohne Vermögen war — er hatte für wissenschaft-
liche Zwecke und bedürftige Menschen stets ein
warmes Herz und eine offene Hand gehabt —
mußte er seine wertvolle Bibliothek und sein
80000 Bogen umfassendes Herbar verschleudern
und eine ärmliche Dachwohnung beziehen. Aber
seine letzte Fahrt am Vormittag des 19. März 1858
aus dieser Dachwohnung am Lehmdamm nach dem
Friedhof der christkatholischen Gemeinde ge-
staltete sich zu einer großartigen anerkennenden
Kundgebung. Eine große Zahl Studenten, mit
Trauerschleifen an den bunten Mützen, gingen
dem Sarge voraus, der mit den Wappenschildern
der Akademie, deren Präsident er bis zuletzt ge-
wesen, behängt und mit einer Immortellenkrone,
mit Palmenzweigen, einem Lorbeerkranz und
weißen Rosen geschmückt war. Tausende der
verschiedensten Stände, besonders viele Arbeiter,
folgten, und auf dem dreiviertel Meilen langen
Wege bis zum Friedhof hatte, trotz des strömen-
den Regens und eines heftigen Sturmes, eine teil-
nehmende Menge ein ununterbrochenes Spalier
gebildet.
Nees' Entlassung war in Wahrheit erfolgt
wegen seiner radikalen religiösen und politischen
Tätigkeit. Das Ministerium schützte aber sein
Privatleben vor: offiziell wurde er entlassen wegen
Konkubinats.
Nees von Esenbeck hatte sich allmählich
über die Ehe seine eigenen Anschauungen gebildet,
die er auch in einer Schrift „Das Leben der Ehe
in der vernünftigen Menschheit und ihr Verhältnis
zum Staat und zur Kirche" ') niedergelegt hat.
Wenn die dort auseinandergesetzten Auffassungen
vom Wesen und Zweck der Ehe auch nicht be-
friedigen, ernst und ethisch hochstehend sind sie
im höchsten Maße. Und darin hat er zweifellos
recht, daß staatliche und kirchliche Assistenz bei
') Breslau 1845.
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
343
der Eheschließung mit dem sittlichen Verhältnis
der Ehe nicht das geringste zu tun haben. Diesen
Standpunkt, den Nees theoretisch vertreten hat,
betätigte er, wie so viele seiner berühmten und
berühmtesten Zeitgenossen, auch im späteren
Leben, indem er seine letzte, musterhafte Ehe, die
er im Alter mit einer einfachen Frau aus dem
Volke, einer Weberstochter aus Warmbrunn, schloß,
bürgerlich und kirchlich nicht sanktionieren ließ.
In einer öffentlichen „Erklärung" über seine Ent-
lassung, die die Dinge ungeschminkt bespricht,
sagt er, daß sie einen Professor von einer Hoch-
schule entlassen, weil sie ein solches Verhältnis
unsittlich nennen, und weil nach dem Freuß. AU-
gem. Landrecht Beamte, die sich „durch nieder-
trächtige Aufführung" verächtlich machen,
ihres Amtes entsetzt werden sollen. „Wenn ich
aber eine im vollen Lichte ihrer Vernunftmäßig-
keit erkannte Lehre zwar niedergeschrieben und
zum Druck befördert, im eigenen Leben jedoch
aus F'eigheit verleugnet hätte, dann hätte ich
allerdings verdient, aus dem Lehramt gejagt zu
werden." Wie man diese Verhältnisse in Nees
von Esenbecks Leben auch beurteilen mag,
soviel steht fest: mit einer schlüpfrigen, aber auch
mit einer prüden Formel ist das Rätsel nicht zu
lösen. Wer Nees von Esenbecks sonstiges
Leben kennt, ist überzeugt, daß sein Verhältnis
zum Weibe niemals von einem Hauch von Frivoli-
tät berührt worden ist.
Dies war der Hauptgrund für seine in den
letzten Lebensjahren weitgehend bestehende ge-
sellschaftliche Ächtung. Die „Gesellschaft" übt
ja auch heute noch auf diesem Gebiete ihre hart-
näckigste Intoleranz. Dagegen ist es unter an-
ständigen Menschen, wenigstens in der Theorie,
üblich, niernand wegen seiner religiösen oder
politischen Überzeugung zu richten und zu ver-
dammen. Diesen Standpunkt kann der Staat
nicht einnehmen. Er muß gegen gewisse, je nach
der Zeitlage wechselnde, politische, unter Um-
ständen auch religiöse Überzeugungen oder wenig-
stens Betätigungen unduldsam sein, aus Selbst-
erhaltungstrieb. So war auch der eigentliche
Grund für Nees von Esenbecks Verfolgung
durch den Staat sein religiöses und politisches
Bekenntnis, das er ebenfalls aufs eifrigste und mit
Hintansetzung aller persönlichen Rücksichten be-
tätigte.
Die Ausstellung des ungenähten Rockes Christi
durch den Bischof Arnoldi von Trier, die in
50 Tagen mehr als eine Million Pilger angezogen
hatte, veranlaßte im Osten Deutschlands eine
Los-von-Rom-Bewegung, die in Schlesien durch
einen radikalen Priester, Johannes Ronge,
in Westpreußen durch den gemäßigteren Johann
Cserski eingeleitet wurde. Wie sich so oft in
der Geschichte religiöse und politische Umwäl-
zungen verbunden haben, so auch hier. Schon
Ronges offener Brief, in dem er gegen das
Götzenfest der Hierarchie protestierte und zur
Gründung einer freien Nationalkirche aufrief, ent-
hielt einen deutlichen demokratischen und sozia-
listischen Einschlag. Die neuen Gemeinden sollten
von gewählten Männern geleitet sein. Die
Religion sollte geläutert, die Kirche zu ihrem
wahren Berufe geführt werden, den die Bedürf-
nisse der Völker, der Geist der neuen Zeit ihr
auferlegt, nämlich auszusöhnen den hohen und
niedrigen, den gebildeten und unwissenden, den
armen und reichen Teil der Menschheit; auszu-
söhnen die Nationen und die Völker der Erde durch
Vervollkommnung, durch Veredlung, durch Liebe
und Freiheit aller. Durch agitatorische Rund-
reisen Ronges gewann die Bewegung auch im
übrigen Deutschland Boden, so daß sich das Be-
dürfnis nach Zusammenschluß herausstellte. Aber
schon auf der ersten allgemeinen Konferenz in
Leipzig kam es zu Streitigkeiten wegen des Be-
kenntnisses, und bald verquickte sich die freiheit-
liche Kirchenbewegung mehr und mehr mit den
liberalen politischen Tendenzen des Bürgertums.
Die Regierungen, die dem Deutsch-Katholizismus
anfangs entgegengekommen waren, wurden spröde,
zuerst Bayern. Schon 1845 erklärte die bayerische
Regierung, daß die „neue Sekte" nicht eine Reli-
gion, sondern Radikalismus und Kommunismus
sei, und daß die Teilnahme an ihr als Hochverrat
zu behandeln sei.
Die erste Gründung einer Gemeinde unter
dem Einfluß Ronges erfolgte in Breslau. Sie
bestand zumeist aus kleinen Leuten der Mittel-
klassen, nicht nur ehemaligen Katholiken, sondern
auch Protestanten; sogar Reformjuden wurden
aufgenommen. Nees vonEsenbeck trat bald
der Gemeinde bei, und zwar weder aus rein reli-
giösen noch zunächst aus politischen Motiven,
sondern lediglich, um sich eine Möglichkeit zu
verschaffen, seine humanen Ideale in die Tat um-
zusetzen. Wie schon erwähnt, saß seit seiner
Jugend, die er unter den Bauern des Odenwaldes
verlebte, die Liebe zum Volke in seinem Herzen.
Er schreibt selbst : ^) „Ich verließ Bonn und kam
1830 — kurz vor der Revolution — nach Breslau.
Durch meine Stellung an die Gleichgestellten, die
Bureaukratischen und Gelehrten gewiesen, fühlte
ich mich lange noch einsamer als in Bonn. Im
Volke war es überall, wo ich nur hinblickte, noch
stiller. Aus der tiefen Ruhe des gleichgiltigen
Volkslebens trieb es mich nicht selten ins Riesen-
gebirge, auf dessen Höhen ich einheimisch wurde,
wo unter den Webern und kleinen Landbesitzern,
die man Gärtner nennt, mir ein heimlich-heimat-
liches Bewußtsein aufblühte, wie die Verwirk-
lichung frühester Erinnerungen. Das treuherzig-
kluge Volk des Riesengebirges von diesseits und
von jenseits öffnete mir einen Blick in die Zu-
stände unsrer Arbeiter überhaupt, in die Natur-
bildung derer, die man, als wären es Fremdlinge,
mit dem besonderen Namen des Volks von
denen der bureaukratisch und aristokratisch Hoch-
gestellten, die sich den Staat nennen, unter-
') Für freies religiöses Leben, 11. Bd. Breslau 1849.
344
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
scheidet. Ich verbrüderte, ich vermählte mich
dem Volke, und fühlte mich von Stund an auf
dem Wege zu einem nochmaligen letzten Ge-
sunden." Der „Christkatholizismus", wel-
chen von den vielen Namen der Ronge- Csers-
kischen Bewegung er mit Vorliebe anwendet,
sollte das Feld der Betätigung seiner Liebe zum
Volke abgeben. Nees wurde Vorsteher der
christkatholischen Gemeinde in Breslau und blieb
es trotz aller Verfolgungen, die diese Gemeinde
und ihn später trafen, bis an sein Ende. Obwohl
er seit 1848 seine Tätigkeit auch über die Ge-
meindegrenzen hinaus auf das politische Feld
ausdehnte und die Seele der Arbeiterbewegung
in Breslau wurde: seine beste humane Wirksam-
keit von Menschen zu Menschen hat er doch wohl
im Zusammenhang mit der christkatholischen
Gemeinde ausgeübt. 1846 begründete er den
Du-Verein, der durch Einführung des „brüder-
lichen Du" die Verschmelzung aller Stände vor-
bereiten sollte. Welche Anhänglichkeit, Ver-
ehrung und Liebe sich „Vater Nees", wie er all-
gemein hieß, durch seine stille Tätigkeit im
Dienste der Mühseligen und Beladenen erwarb,
davon zeugen außer der Teilnahme an seinem
Begräbnis, wie Breslau noch nie eins gesehen, die
jährlichen Geburtstagsfeiern, die ihm vom Volke
veranstaltet wurden. Arbeiterdeputationen, Ge-
sangvereine, die Kinder der christkatholischen
Gemeinde kamen in corpore; 1851 zu seinem
75. Geburtstage erschien auch ein großer Teil
der Studentenschaft, um ihn durch Gesang und
Überreichung einer Adresse zu feiern. Nach seiner
Amtsentsetzung, als er selbst in größte Not ge-
raten war, wurden ihm von vielen Seiten reiche
Geschenke übersandt.
Auch schriftstellerisch hat Nees von Esen-
beck seine Auffassung von der Wirksamkeit des
Humanismus im Rahmen einer religiösen Ge-
meinde dargelegt. 1848 erschien „Die Wahrheit
des positiven Christentums im Christkatholizis-
mus", ^) worin der Satz vorkommt : „Das Prinzip
des Gemeindelebens ist die Liebe in dem Sinne,
wie wir dieses Wort von Jesus gebraucht finden:
tätige Bruderliebe." Und in seinem 1853 erschie-
nenen Büchlein „Das Leben in der Religion", 2)
einer Art Katechismus, in Form von Frage und
Antwort, lautete eine einem Kinde in den Mund
gelegte Antwort : „Die Gottheit wird im einzelnen
Menschen offenbar als Liebe (All-Liebe)." — Noch
eine ganze Reihe von Zeitschriften-Aufsätzen ver-
dankt die christkatholische Literatur Nees von
Esenbeck. Aber nicht nur im persönlichen
Raten und Geben bewies Nees vonEsenbeck
seine Liebe zum Volke, sondern auch durch or-
ganisatorische Gründung gemeinnütziger Unter-
nehmungen. Er war Mitbegründer des noch
heute bestehenden Gesundheitspflegevereins, der
der ärmeren Bevölkerung gegen eine geringe jähr-
liche Einzahlung in Erkrankungsfällen Arzt und
Medizin garantiert : also einer Krankenkasse. Auch
die sog. Assoziationswerkstätlen förderte er mit
reger Anteilnahme.
Neben seiner friedlichen Betätigung humaner
Menschenliebe entzog sich Nees aber nicht der
praktischen Verfolgung politischer Ziele, die da-
mals dem liberalen Bürgertum und dem auf-
strebenden vierten Stande vorschwebten. Auch
die deutsche naturphilosophische Richtung in der
Wissenschaft beschränkte sich durchaus nicht auf
philosophische Gedankengänge, sondern man muß
in ihr eine Manifestation des erwachenden deut-
schen Nationalbewußtseins sehen. Während des
18. Jahrhunderts war die geistige Führerschaft
bei Frankreich; noch im 19. Jahrhundert war
Alexander vonHumboldt, einer der Führer
der deutschen Wissenschaft, mehr Franzose als
Deutscher, auch Goethe war von den Franzosen
nicht unbeeinflußt gebUeben. Erst Kant stellte
die deutsche Wissenschaft auf ihre eigenen Füße.
Fichte, der der Kantschen Lehre eine offene
naturphilosophische Wendung gab, richtete das
deutsche Volk auf, als es unter der Napoleonischen
Herrschaft seufzte. Oken, der Hauptrepräsen-
tant der biologischen Naturphilosophie, war radi-
kaler Politiker; er verfaßte poHtische Broschüren
und unterstützte durch seine Zeitschrift „Isis"
radikal- nationale Strömungen. Wegen seines
Kampfes für deutsche Einheit und für Preßfreiheit
wurde er, wie Nees von Esenbeck, seiner
Professur entsetzt. Der Patriotismus der Natur-
philosophen war radikal gefärbt; sie haßten das
Spießbürgertum, das politische wie das wissen-
schaftliche; sie haßten den öden französischen
Materialismus; sie haßten Kirchentum und Kasten-
wesen. ^)
Nicht erst 1848 trat auch Nees von Esen-
beck in offener politischer Betätigung auf. Nach-
dem sich seine jugendliche Sympathie für Frank-
reich abgekühlt hatte, wendeten sich in seiner
Sickershausener Zeit alle seine Hoffnungen auf
Deutschland. Deutschland sollte vom Druck des
französischen Despoten errettet werden, sollte ge-
rettet werden „unter die Fittige des preußischen
Adlers; Preußens König mußte deutscher Kaiser
werden". Neben dem „Tugendbund", aber in Ver-
bindung mit ihm, wirkte Nees unter Lebensge-
fahr für diese Idee, die durch eine Verschwörung
im Rücken der Franzosen realisiert werden sollte.
Als Nees von Esenbeck vierzig Jahre
später wieder in der politischen Arena erschien,
hatten sich die Verhältnisse und seine An-
schauungen gründlich geändert. Die Abneigung
des mit den Jahren immer verdrießlicher werden-
den Königs Friedrich Wilhelm III. gegen
jede Neuerung hatten seiner Popularität im hohen
Grade Eintrag getan. Und als auch sein Nach-
folger Friedrich Wilhelm IV., auf den man
•) Wohlau 1848.
^) Rastenburg 1853.
') E. Rad 1, Geschichte der biologischen Theorien, II. Teil,
Leipzig 1909, S. 87.
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
345
große Hoffnungen gesetzt hatte, unter steter Be-
rufung auf sein ihm von Gott verHehenes Sou-
veränitätsrecht jedes Gesuch auf Bewilligung auch
nur bescheidener Teilnahme des Volkes an den
Staatsangelegenheiten als dreisten Angriff auf
seine Person beharrlich zurückwies, da begann die
Unzufriedenheit und die Neigung für liberale Be-
strebungen sich immer weiter zu verbreiten und
selbst in solchen Kreisen Anhänger zu gewinnen,
die sonst streng monarchistisch und absolutistisch
gesinnt waren. Neben dem liberalen Bürgertum
machte sich allmählich, ganz leise ein F"aktor
geltend, von dem man bisher kaum eine Ahnung
gehabt hatte, das erwachende Arbeitertum; aber
von Anfang an nicht als gern gesehener Bruder.
Den Ressourcen und Kränzchen der liberalen
Bürger gingen die Lesevereine der Arbeiter
parallel. Wie jene sich an der Lektüre Heine-
scher und Börnescher Schriften ergötzten, so
hatten diese an sozialistischen und kommunistischen
Schriften, die sie sich aus der Schweiz und Frank-
reich verschafften, ihre Freude.
Die Märzrevolution fand auch Nees von
Esenbeck willig und vorbereitet, sich an den
Bestrebungen unmittelbar zu beteiligen, die einen
neuen Zustand der Dinge in Staat und Gesell-
schaft herbeiführen sollten. Im März 1848 hat er
bei der Stiftung des Breslauer Arbeitervereins tätig
mitgewirkt und den deutschen Arbeitern den Plan
eines Arbeiterministeriums gewidmet, das „das
humane Wohl aller Arbeiter zum Wohl " des
Ganzen und als Folge desselben" begründen sollte.
Er wurde zum Abgeordneten für die preußische
konstituierende Versammlung gewählt und begab
sich mit seiner ganzen jungen Familie nach Berlin.
Und es dauerte nicht lange, daß er sich in der
Arbeiterbevölkerung Berlins ebenso heimisch fühlte
und dasselbe Ansehen genoß wie in Breslau. Nur
selten fehlte er in einer der Arbeiterversammlungen,
in denen die Tagesfragen beraten wurden ; um so
öfter aber in den Parteiversammlungen der äußersten
demokratischen Linken, der er sich angeschlossen
hatte. Trotz seiner politischen Neigungen war
Nees von Esenbeck nach dem Urteil seiner
eigenen Freunde und Parteigenossen nichts weniger
als ein Politiker, wegen seiner idealistischen und
souveränen Beurteilung auch der allergewöhn-
lichsten Dinge des Lebens. Nicht selten spielte
er sozusagen das enfant terrible in seiner Partei
und rief namentlich Waldecks Unmut wach,
wenn er gegen jede Parteidisziplin unangemeldet
im Plenum Reden hielt oder Anträge stellte, die
sich schwer mit den Ansichten der Partei verein-
baren ließen. So erregte namentlich sein Ver-
fassungsentwurf, den er der Berliner Nationalver-
sammlung am I.Juli 1848 vorlegte, bei der Linken
ein wahres Entsetzen. § 10 des Entwurfs lautet:
„Das Volk ist Herr und der Begriff des Unter-
thanen ist aus dem Leben des Staates für ewige
Zeiten getilgt."
Recht wohl hat er sich in der konstituierenden
Versammlung nie gefühlt; er meinte, „es sei in
ihr sehr viel Verstand, besonders viel juridischer,
aber die Idee bettle vor der Thür des Schau-
spielhauses; das Volk, das da herumstehe, sehe
es mit seinen hellen, lichten Augen und werde
darob sehr ungnädig". — Auf dem Berliner Ar-
beiterkongreß (August 1848), dem er präsidierte,
gründete er die deutsche Arbeiterverbrüderung.
Die Verfolgungen Nees von Esenbecks
durch seine vorgesetzte Behörde reichen bis zum
Wechsel des Kultusministeriums zwischen dem
vernünftigeren Altenstein und dem entschieden
reaktionären Eichhorn, 1S40, zurück. Wir
hatten schon gehört, daß Eichhorn Nees so-
fort aus der wissenschaftlichen Prüfungskommission
entfernte und durch Göppert ersetzte. Nach
seinem offenen religiös politischen Auftreten in
den vierziger Jahren suchte man jede Gelegenheit
auszuspionieren, ihm disziplinarisch beizukommen.
Die Universitätsbehörde selbst, Rektor und Senat,
standen ihm in der Wahrung der Freiheit der
Lehre nicht zur Seite. Dieser Mann, der selbst
in seinen öffentlichen, also sagen wir agitatorischen.
Reden vor Arbeitern auf einem so hohen speku-
lativen Niveau stand, daß er seinen Zuhörern oft
unverständlich bleiben mußte, wird sich gewiß in
seinen akademischen Vorlesungen nur in wissen-
schaftlich begründeten Gedankengängen und sicher
nicht in demagogischen Formen bewegt haben.
Dennoch suchte Rektor und Senat 1851 seine
Vorlesung über ,, Enzyklopädie der spekulativen
Philosophie" unmöglich zu machen. Einen nicht
sehr taktvollen Vorstoß unternahm dieselbe Uni-
versitätsbehörde schon 1849. Auf eine unkontrollier-
bare Zeitungsnotiz hin zog sie den alten Nees in
einem feierlichen Schreiben zur Verantwortung,
weil er bei einem Arbeiterbankett sich eine rote
Jakobinermütze aufgesetzt hätte, die dann auf die
Köpfe der anderen Teilnehmer gewandert wäre.
„Solche Zeitungsberichte über ein Mitglied unsrer
Universität können uns im Interesse der Universität
nicht gleichgiltig sein; deshalb ersuchen wir Eure
Hochwohlgeboren , uns davon in Kenntnis zu
setzen, ob die Nachricht über jene an Ihrer Person
vorgenommene Schaustellung eines Sinnbildes der
roten Republik in der Wahrheit begründet ist
oder nicht." Nees von Esenbeck konnte die
Wächter der akademischen Würde darüber be-
ruhigen, daß jener Report über das übrigens „sehr
frugale Bankett" vollständig aus der Luft gegriffen
sei. Im übrigen enthält er seinen Kollegen seine
Meinung nicht vor, wie man den Fall hätte er-
ledigen sollen.
Ende Januar 1849, als Abgeordneter zur
Nationalversammlung, wurde er „wegen gefähr-
licher sozialer Bestrebungen" aus Berlin ausge-
wiesen. Ich will nicht alle Haussuchungen und
Maßreglungen, mit denen man ihn weiter ver-
folgte, aufzählen. Sie endigten 1852 mit seiner
Amtsentsetzung ohne jede Pension.
Wenn wir uns heute ein Urteil über Nees
von Esenbeck bilden wollen, so wird es anders
ausfallen müssen als viele Urteile seiner Zeit.
346
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
Schon Ferd. Cohn sagt in seinem Nekrolog in
der „Leipziger Illustrierten Zeitung": ^) „Wir glau-
ben nicht, daß die jetzige Zeit schon befähigt sei
mit Ruhe und Gerechtigkeit über sein religiös-
politisches und soziales Wirken abzuurteilen."
Heute, da so manches von dem verwirklicht ist,
was er und nicht die Schlechtesten seiner Zeit
erstrebten, da wir auf dem Wege sind, den alten
Machtstaat zum Volksstaat auszubauen, erkennen
wir, daß er recht hatte, wenn er sich einmal
einen Seher nennt. Nees von Esenbeck wird
stets zu denen gerechnet werden, die die Mensch-
») Jahrg. 1858, S. 34fi.
heit auf eine hohe und lichte Bahn zu führen ge-
dachten.
Zum Schlüsse möchte ich die Bitte aussprechen,
mich für eine eingehendere Lebensbeschreibung
Nees von Esenbecks durch Hinweise auf
literarisches und handschriftliches Material zu
unterstützen. Leider ist durch die wiederholten
Haussuchungen, die bei ihm gehalten wurden, viel
zerstört worden, so daß sein literarischer Nachlaß,
der im Breslauer Stadtarchiv liegt, viel zu wün-
schen übrig läßt. Ich würde daher für die ge-
ringste Mitteilung dankbar sein. Adresse : Breslau 9,
Göppertstraße 4.
Einzelberichte.
Holmgrens Arbeiten über die Parietalorgane
und ihre Inneryation bei Fischen.
Mit 3 Abbildungen im Text.
Bekanntlich besitzen die Neunaugen, Petro-
myzon, zwei hinter- oder öfter übereinander unter
der Haut liegende, recht große Parietalorgane
oder „Scheitelaugen". Bei den meisten übrigen
Wirbeltieren bleibt nur das hintere erhalten und
stets wesentlich kleiner: die sog. Zirbel oder Epi-
physis oder das Pinealorgan, welches nebst der
benachbarten Hirngegend bei Knochenfischen und
zwar Ellritzen durch K. v. Frisch*) experimen-
tell lichtempfindlich befunden wurde, während es
bei den Säugetieren und dem Menschen noch
unbekannter drüsenartiger Funktion ist. Dagegen
bleibt den Reptilien das vordere Organ, die Para-
physis oder das Parapinealorgan, erhalten als das
sog. Scheitelauge, dessen Lichtempfindlichkeit man,
obwohl es gleichfalls unter der Haut liegt, nicht
bezweifeln wird, seitdem Nowikoff^j an ihm
bei Beleuchtung eintretende Pigmentverlagerungen
gefunden hat. Die Kenntnisse vom Bau der
Zellen der Parietalorgane, zumal bei wasserlebigen
Wirbeltieren, waren immer noch wenig befriedi-
gend. Tretjakoff, ^) der bei Petromyzon die
Zellen der Parietalorgane mit Methylenblau dar-
stellte und darunter viele Sinnes- und Ganglien-
zellen fand, mußte dennoch betonen, daß bei die-
sem Tier die Lichtempfindlichkeit der Organe,
obwohl wahrscheinlich, noch nicht erwiesen ist,
und daß diesen Organen ferner auch sekretorische
Funktion, wohl gar als die hauptsächlichste, zu-
komme.
Nun bringt eine Arbeit von NilsHolmgren*)
') K. V. Frisch: Beiträge zur Physiologie der Pigment-
zellen in der Fischhaut. Archiv f. d. ges. Physiol., Bd. 138, 191 1.
-) M. Nowikoff: Untersuchungen über den Bau, die
Entwicklung und die Bedeutung des Parietalauges bei Sauriern.
Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 96, 1910.
') D. Tretjakoff; Die Parietalorgane von Petromyzon
fluviatilis. Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. I13, 1915.
*) Nils Holmgren; Zum Bau der Epiphyse von Squa-
lus acanthias. Arkiv för Zoologi, Bd. II, Nr. 23, 28 S., 2 Taf.
beachtenswerte Ergebnisse. Er untersuchte die
Epiphyse eines Haies, Acanthias, die die keulen-
förmige Endanschwellung eines dauernd hohl
bleibenden Epiphysenstiels darstellt, und benutzte
die Methylenblau- und gewöhnliche Schnitt- und
Färbemethoden. Die das Lumen auskleidenden
spindelförmigen Zellen betrachtet er sämtlich als
Sinneszellen, weil Methylenblau sie samt ihren
Ausläufern, in die sie sich basal verlängern, färbt.
Jede Zelle ragt in das Lumen mit einem zapfen-
artigen Endstück hinein, und dieses zerfällt meist
in „Innenglied" und „Außenglied"; letzteres liegt
zu innerst, jenes weiter außen, und die umgekehrte
Bezeichnungsweise lehnt sich an die bei den Seh-
zellen des Seitenauges, das bekanntlich invertiert
ist, an. Die sehr verschiedenen Bilder von den
Sinneszellen in den Schnittserien erklären sich
durch sekretorische Tätigkeit. Sie geschieht bei
den Zellen des Epiphysenstiels oft in folgender
Weise: Auf einem Anfangsstadium ist nur das
Abb. I.
Innenglied vorhanden : Abb. I a. Auf ihm ent-
steht eine kleine Sekretvakuole, nimmt Kegel- und
Schlauchgestalt an : b — c, und läßt in ihrem Innern
einen Spiralfaden erkennen : d. Er schwindet wieder,
das Außenglied quillt blasig auf und löst sich
selbst auf fe) durch Entsendung von Bläschen in
das Lumen, schwindet also, und auch das Innen-
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.'
347
glied scheint davon in Mitleidenschaft gezogen
zu werden (f); es regeneriert sich aber wieder,
wahrscheinlich mit Hilfe der unter ihm liegenden,
in a sichtbaren Körnchenzone. — In anderen
Fällen wird jedoch das Innenglied zu einer keulen-
förmigen Anschwellung mit Ellipsoid: Abb. 2 a,
es erhält ein Außenglied in Form einer Spitze
mit Körnchen-, Faden- und schließlich deutlicher
Spiralfadenstruktur (b). Das Außenglied fällt ab
und löst sich in Körnchen auf, wahrscheinlich
ähnlich das Innenglied. — Wieder etwas anderes
als im Epiphysenstiel verläuft der Vorgang meist
in der Epiphysenblase, Abb. 3 : neben dem Außen-
glied bildet sich eine große Blase, Abb. 3a, in
welche hinein auch das Außenglied, meist bis auf
geringe Reste, aufgelöst wird: Abb. 3b, worauf
die Blasen platzen.
Abb. 2.
Abb. 3.
Sehr ähnliche Vorgänge dürften, wie Verf. be-
tont, bei Petromyzon stattfinden, wo nur eine
Teilung in Innen- und Außenglied nicht vorkommt,
und sie dürften die dort namentlich von Stud-
n i c k a ^) entworfenen Bilder erklären. Entfernter,
aber auch durchführbar ist der Parallelismus mit
den Scheitelaugen von Reptilien. Offenkundig ist
die nahezu vollendete Homologie zwischen den
Sinneszellen der Epiphysis von Acanthias und den
Sehstäbchen in den Seitenaugen der Wirbeltiere,
zumal auch in diesen gleichartige Spiralfasern vor-
handen sind (Ritter 1891, Krause 1892, 95,
Hesse 1904 und andere).
Allerdings kommt bei den Epiphysenzellen die
sezernierende Funktion hinzu, und demnach, führt
H o 1 m g r e n aus, wird unsicher, ob sie heute noch
lichtempfindlich sind. Mögjich ist es. „Die voll-
ständige morphologische Übereinstimmung der
Epiphysenstäbchen mit den Augenstäbchen scheint
aber zu beweisen, daß beide einst die gleiche
Funktion gehabt haben müssen. Daß diese eine
photorezeptorische war, dürfte als sicher gelten
können."
Auch horizontale Ganglienzellen mit oft sehr
langen Neuriten sind in Epiphyse und Stiel von
Acantias vorhanden. Wesentlich diese Neuriten,
aber kaum die kürzeren der Sinneszellen, bilden
den Nerven der Epiphyse. Neurogliazellen leugnet
der Verf. für Acanthias durchaus. Eizelne Sinnes-
zellen werden ganz in das Lumen abgestoßen und
beteiligen sich dann an der Bildung der als Glas-
körper und von St udniöka als Synzytium aufge-
faßten Innenmasse.
Ähnliche Verhältnisse wie bei Acanthias fand
Holmgren') bei Rana in der Epiphyse und ihrer
oberen Fortsetzung, dem Stirnorgan dieses Tieres.
Er bezeichnet hier wie dort die Körnchenzone
basal vom Innenglied als Ersatzellipsoid und läßt
sie aus dem Kern, den Spiralfaden aber aus dem
Ellipsoid hervorgehen, so daß zwischen den intra-
zellulären Organellen genetische Kontinuität her-
gestellt wird. Auch sollen die Sinneszellen zu
Pigmentzellen werden können, indem das Ersatz-
ellipsoid sich in Pigment verwandelt.
Wichtig ist ferner die Frage nach der Endi-
gungsweise der Nerven der Parietalorgane. Nach
bisherigen Angaben soll der Nervus pinealis aus
der die beiden Mittelhirndachhälften vorn oben
verbindenden Commissura posterior, der Nervus
parapinealis aus dem etwas weiter vorn gelegenen
linken Ganglion habenulae kommen ; ausführlichere
Angaben sind weniger bekannt, auch umstritten.
Ho Imgren teilt in mehreren Arbeiten folgendes
mit. I. Petromyzon:^) Der Nerv des Pinealorgans
macht in der Commissura posterior nicht halt,
sondern dringt weiter ins Mittelhirn vo/ und ver-
bindet sich wahrscheinlich mit motorischen Kernen
der Medulla oblongata, wie das Johnston auch
schon für die Kommissurenfasern wahrscheinlich
gemacht hat. Der Nerv des Parapinealorgans ver-
hält sich sehr kompliziert; wichtig sind Bündel
zum linken und zum rechten Ganglion habenulae,
wobei auch diese Bündel wenigstens zum Teil
diese Ganglien nur durchsetzen und in die beiden
Nuclei subhabenulares und das dahinter gelegene
Mittelhirndach verfolgbar sind. 2. Acanthias:*)
Obwohl nur das Pinealorgan vorhanden, enthält
dessen Nerv nicht nur „Commissura-posterior-
Fasern", die unter Kreuzung („Decussatio epi-
physeos") in die Co. post. und von da wiederum
meist tiefer ins Gehirn eindringen, sondern auch
„Habenularfasern", die in beiden Ganglia habenulae
teils endigen, teils sie durchziehen. Ähnlich beim
Stör nach Johnston 1901. 3. Knochenfische:
Beim Stint (Osmerus)*) tritt der Epiphysennerv
wesentlich nur mit dem Mittelhirndach und dem
Ursprungskern des dorsalen Längsbündels des
Rückenmarks, der auf der Grenze zwischen Mittel-
hirn und Oblongata unter dem Hirnventrikel liegt,
in Verbindung. Mancherlei Variationen jedoch
kommen vor, so auch das Durchziehen der Ganglia
habenulae unter Umwegen ohne Faserabgabe dort-
selbst. Ähnlich diesem Verhalten ist wieder das
') Studnicka, Parietalorgane, ia Oppels Lehrbuch d.
vgl. mikr. Anat, d. Wirbeltiere.
') Nils Holragren: Zur Kenntnis der Parietalorgane
von Kana temporaria. Arkiv för Zoologi, Bd. 11, Nr. 24,
II S., I Taf.
^) Derselbe: Zur Innervation der Parietalorgane von
Petromyzon fluviatilis. Zoolog. Anzeiger, Bd. 50, Nr. 3/4,
1918, S. 91—98. -^
') NilsHolmgren, am angegebenen Orte (Arkiv Nr. 23).
*) Derselbe ; Zur l-rage der Epiphyseninnervation bei
Teleostiern. Folia neurobiologica Bd. X, Sommer-Ergänzungs-
beft 1917, S. X— 15.
348
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
von Clupea.i) Rana:-) Habenularnerven fehlen
vollständig. — Demnach ist anzunehmen, daß nach
Schwund des vorderen Organs der Habenularnerv
dem hinteren zufiel, so bei Acanthias. Bei Knochen-
fischen hat er sich bezüglich der zentralen Endi-
gungsweise dem alten Nerven des hinteren Or-
gans angeschlossen, erinnert aber durch seine Um-
wege noch oft an die frühere Endigungsweise. —
Ontogenetisch zeigt diesen Vorgang noch der
Ganoidfisch Amia calva (nach Kingsbury und
Brookover, laut H o 1 m g r e n , Fol. neurob.) :
Embryonen von 13 mm Länge entsprechen wesent-
lich Petromyzon, Vorderblase mit Habenular-,
Hinterblase mitCo.-post.-Nerven; beim erwachsenen
Tier aber ist das vordere Organ geschwunden,
das hintere hat einen linken Habenularnerven und
Co.- post.- Verbindungen. V. Franz (Jena).
Der Nervus teriuiualis bei Knochenfischeu.
Neben dem ersten Gehirnnerven, dem Nervus
olfactorius, haben viele niedere Wirbeltiere noch
einen kleinen eigenen Nerven, den „Nervus termi-
nalis". Er scheint nur den Cyclostomen zu fehlfen
und wurde seit 1894 zuerst bei Ganoidfischen,
dann bei Dipnoern, Selachiern, Teleostiern und
Amphibien, schließlich auch bei Säugetieren und
dem Menschen bekannt als ein die Riechschleim-
haut medial vom Riechnerven verlassendes und
meist gesondert ins Gehirn vorn eintretendes
Bündel, das jedoch keinen Riechnerventeil dar-
stelle, da es nicht mit den Endigungen des Riech-
nerven, den knäuelförmigen Aufpinselungen oder
„Glomeruli olfactorii" im vordersten Gehirnab-
schnitt, dem Bulbus olfactorius, in Verbindung
tritt, sondern diese nur durchzieht oder, wie bei
Selachiern und Dipnoern, sie sogar außerhalb des
Gehirns an der Medialseite umgeht. Über seine
zentrale Endigungsweise ist mancherlei bekannt,
doch wenig Übereinstimmendes und nichts Ent-
scheidendes für seine Funktion. Neuerdings fand
jedoch Nils Holmgren,^) daß die Fasern dieses
Nerven bei den Teleostiern nach Durchtritt durch
die Riechglomeruli großenteils gleichfalls wirkliche
Glomeruli, und zwar im Gebiet des Corpus prae-
commissurale vor der bekannten Commissura
anterior des Vorderhirns, bilden. Einige Fasern
kreuzen in dieser Kommissur und endigen somit
in Glomeruli der Gegenseite. Verf. schloß daraus
1917, daß der Nerv Riecheindrücke oder chemi-
sche Eindrücke auf verkürztem Wege zentralwärts
•) Derselbe : Über die Epiphysennerven von Clupea
sprattus und harengus. Arkiv för Zoologi, Bd. 11, Nr. 25,
1908, 5 S.
') Derselbe, a. a. O. (Arkiv Nr. 24).
^) Nils Holmgren, Zur Kenntnis des Nervus termina-
lis bei Teleostiern. Folia neurobiologica, Sommer-Ergänzungs-
hefl 1917, S. 16—38.
Derselbe; Zur Anatomie und Histologie des Vorder- und
Zwischenhims der Knochenfische, Acta zoologica 1920,
179 Seiten. (Eine sehr ausführliche, für die Zukunft grund-
legende Arbeit über die in ihrer Überschrift genannten Teile.
Ref.).
führt. „Wir müssen nämlich Glomeruli als be-
sondere für Riecheindrücke differenzierte Assozia-
tionsanordnungen auffassen : daß sie wirklich not-
wendige Riechnervenattribute sind, geht besonders
daraus hervor, daß bei allen Tieren, denen ein
wirklicher Riechnerv zukommt, ähnlich gebaute
Glomeruli vorkommen (Peripatus, Insekten, Myria-
p.oden, Crustaceen, Limulus [Holmgren 1916])."
— Einige Fasern des Nerven haben noch ander-
weitige Endstellen im Vorder- und Zwischenhirn,
einige ziehen auch aus dem Gehirn zentrifugal
in den Sehnerven unter Verzweigung, wobei un-
gewiß bleibt, wie weit sie diesem Nerven folgen.
Einige Terminalisfasern endlich zweigen, wie Verf.
1920 mitteilt, auch schon im Bulbus olfactorius
Kollateralen ab, die teils dortselbst sich aufsplittern
oder in eigentümlichen kurzen Endkörbchen endi-
gen, teils mit zentrifugaler Richtung im Nervus
olfactorius zurückkehren, teils zu den oben er-
wähnten Terminalis-Glomeruli hinziehen, teils mit
Verzweigungen oder mit großen Riechglomeruli
im Bulbus olfactorius selbst endigen. „Wenn
Terminalisfasern mit notorischen Riechglomerulen
assoziieren, so kann dies nichts anderes bedeuten,
als daß die Funktion derselben mit derjenigen der
notorischen Riechfasern, wenn auch nicht iden-
tisch, so wenigstens gleichartig ist."
V. Franz (Jena).
Kurland.
Die Landesnatur, Bevölkerungs- und Wirt-
schaftsgeographie Kurlands behandelt Dr. F.
Mager im zweiten Heft der Veröffentlichungen
des geographischen Instituts der Albertus Univer-
sität zu Königsberg („Kurland". Eine allgemeine
Siedlungs-, Verkehrs- und Wirtschaftsgeographie.
Hamburg 1920, Friedrichsen. 48 M.). Als Grund-
lage der Darstellung dienten neben der vorhan-
denen Literatur und einigem Aktenmaterial der
deutschen Besetzungsbehörden kulturgeographische
Untersuchungen, die der Verf. im Lande selbst
ausführte. Sein heutiges Oberflächenbild verdankt
Kurland in der Hauptsache der Eiszeit. Der Kern
der Höhenschwellen wird von Schollen älterer
Formationen gebildet, aber der Untergrund der
glazialen Ablagerungen tritt nicht in größeren
Flächen zutage. Umfangreiche Teile der Moränen-
decke sind umgestaltet worden, und zwar nicht
nur durch fluviatile, sondern vorzugsweise durch
marine Vorgänge; teilweise haben auch beide
zugleich an den Veränderungen mitgewirkt. Der
Moränengürtel, der ein Glied des großen west-
russisch-baltischen Endmoränenzuges bildet, tritt
noch bei Dünaburg ziemlich nahe an die Düna
heran, aber er entfernt sich flußabwärts immer
weiter von ihr und macht einer sich in derselben
Richtung verbreiternden und aus Schwemmland
bestehenden Ebene Platz, zu der die Schmelz-
wasser beim Rückzug des Eises und später der
Dünaurstrom das Material geliefert haben. Die
vielerorts höchst unruhige Topographie Kurlands,
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
349
das häufige Vorkommen von größeren und
kleineren regellosen Hügelgruppen, läßt darauf
schließen, daß es sich hier um einen ausgedehnten
Akkumulationsgürtel handelt, der durch das be-
ständige Oszillieren eines vielfach' gezackten Eis-
randes entstanden ist.
Das Hauptmerkmal des Klimas Kurlands ist
seine Unbeständigkeit, die mit der wechselnden
Lage der Zugstraßen der nordatlantischen Minima
im engsten Zusammenhang steht. Diese Schwan-
kungen, die durchaus unregelmäßig und bald in
kürzeren, bald in längeren Intervallen erfolgen,
sind unberechenbar und zwingen den Landwirt,
heute unter kontinentalen, morgen unter maritimen
Klimaverhältnissen zu arbeiten. Die weite Er-
streckung Kurlands von W nach O bedingt eine
Veränderung der klimatischen Verhältnisse in
derselben Richtung. Während der Westen noch
einen ozeanischen Einschlag besitzt, nimmt das
Klima, je weiter man nach Osten gelangt, einen
mehr kontinentalen Charakter an, der sich vor
allem in steigenden Temperaturgegensätzen zwi-
schen Sommer und Winter äußert. Auch die
Temperaturen des Frühlings und des Herbstes
zeigen in Kurland je nach der Lage des Beobach-
tungsortes ein abweichendes Verhalten. In der
Nähe der See geht im Frühling die Erwärmung
langsamer vor sich als weiter landeinwärts, wäh-
rend dafür im Herbst in den östlichen Landes-
teilen die Abkühlung rascher erfolgt als in den
westlichen.
Ursprünglich war Kurland überwiegend von
Wäldern bedeckt, aber heute nimmt der Wald
nur noch 30 "/o der Bodenfläche ein, sein größter
Teil ist also von dem Menschen verdrängt wor-
den, der das Rodeland fast ausschließlich zu land-
wirtschaftlichen Zwecken verwendet und natur-
gemäß dem Walde die wertvollsten Böden ent-
zogen hat. Von baumlosen Vegetationsformationen,
die auf natürlichem Wege entstanden sind,
kommen vor: Callunaheiden, Hochmoore, Grün-
landsmoore, Quellsümpfe, Anwiesen, Meerstrand-
wiesen, Röhricht- und Schilfformationen und
Sandfluren.
Unter der Bevölkerung wiegen die Letten
stark vor; an zweiter Stelle kommen die Deut-
schen (vor dem Krieg etwa 8 "/o)» ^^ dritter
Stelle die Juden. M. sagt: Der Rasse nach steht
der Lette zwischen dem Germanen und dem
Slawen, ist aber bei einem mehr zu dem germa-
nischen Typus hinneigenden Äußern dem Cha-
rakter nach wieder dem Slawen ähnlicher. Wäh-
rend der Lette einerseits recht schätzenswerte
Eigenschaften zeigt und intelligent, sehr wirtschaft-
lich und fleißig, anpassungsfähig, gastfrei und
liebenswürdig ist, besitzt er andererseits einen un-
zuverlässigen und verschlagenen Charakter und
ist als undankbar bekannt.
Das Einzelhofsystem ist die charakteristische
Siedlungsweise. Man muß die Abneigung gegen das
Zusammenwohnen in Dörfern als einen äußerst wich-
tigen Zug des lettischen Volkscharakters ansehen.
Das Anwachsen von Dörfern wurde auch von
den meist aus Niedersachsen stammenden Guts-
herren nicht begünstigt. Die Zahl der Dörfer
blieb gering und man darf sie sich nicht nach
der Art der reichsdeutschen dörflichen Haupt-
typen vorstellen, dazu fehlt ihnen in erster Linie
jede Geschlossenheit. Erheblich geändert haben
sich die Siedlungsverhältnisse seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Handel und
Gewerbe Boden gewannen, setzte ein stärkeres
Wachstum der Städte und Flecken ein, und neue
fleckenähnliche Ortschaften entstanden, es kam
zu einer Verschiebung der Bevölkerung zugunsten
der Städte. Die Städte und Flecken des Kurlandes
weisen je nach Alter und Entstehung einen sehr
verschiedenen Grundriß auf. Die Siedlungsdichte
steht mehr oder weniger mit der Verteilung des
Waldes im Zusammenhang, so daß die Waldkarte
des Landes gewissermaßen das Negativ der Sied-
lungskarte sein dürfte. So heben sich als dichter
besiedelt folgende waldärmeren Gegenden hervor:
Der mittlere Strich des Kreises Friedrichstadt
zwischen Alt-Selburg-Sezzen und Nerft-Ellern, der
südliche Teil der Kreise Bauske und Doblen, die
Gegenden von Talsen, Saßmacken (Kr. Talsen),
Frauenburg (Kr. Goldingen), Niederbartau, Ober-
bartau und Durben (Kr. Grobin), Hasenpoth, der
Landstrich zwischen Stadt Windau und Pilten u. a.
M. gibt ferner Aufschluß über die verkehrs-
geographischen Verhältnisse Kurlands, die Kultur-
formen des Bodens und seine Bewirtschaftung
sowie die Gewerbe. Eine Übersichtskarte, sowie
eine glazialgeologische und eineorohydrographische
Karte und zahlreiche Bilder sind der wertvollen
Abhandlung beigegeben. H. Fehlinger.
Erb Veranlagung und soziale Tüchtigkeit.
Zur Klärung des Problems der Einwirkung
erblicher psychischer Mängel auf die soziale
Tüchtigkeit führte Wilhelmine E. Key vom
CarnegieTnstitut zu Washington eine Untersuchung
über die Schicksale der Nachkommen eines Ehe-
paares R. aus, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts
nach dem westlichen Pennsylvanien einwanderte.*)
Der Mann war ehrlich, tatkräftig, ausdauernd,
mutig und weitschauend, die Frau war treu und
arbeitsam, aber es mangelte ihr der Sinn für
Ordnung, Maß und Zahl. Körpermängel bestanden
anscheinend bei beiden Ehegatten nicht. Von
ihren sieben Nachkommen blieb eine schwach-
sinnige Tochter unverheiratet und eine andere
verlor durch Fortzug den Zusammenhang mit der
Familie; von den übrigen fünf Nachkommen
waren vier schwachsinnige Söhne und einer war
geistig normal. Von insgesamt 1822 Personen,
über welche die Verf. Angaben erhielt, stammte
nahezu die Hälfte in direkter Linie von dem be-
') Wilhelmine E. Key, Ph. D. : Heredity and Social
Fitness. 102 S., 2 Stammtafeln. Washington 1920, Carnegie
Institution.
350
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
zeichneten Ehepaare ab, die übrigen gehörten
Familien an, die in die Nachkommen dieses Paares
einheirateten.
In zwei Linien des Geschlechtes R., die auf
geringgradig schwachsinnige Väter zurückgehen,
ist die nachteilige Erbveranlagung der Stammuttter
— von einem Fall der Kreuzung mit einer
defekten Linie abgesehen — nicht mehr aufge-
treten, was die Verf. darauf zurückführt, daß
Heiraten mit anderen erblich belasteten Familien
unterblieben. Eine dritte Linie, jene des einzigen
vollkommen normalen Sohnes, blieb von jeder
sozialen Untüchtigkeit frei. Ein weiterer mäßig
schwachsinniger Sohn des Ehepaares R. heiratete
in eine Familie, in der sexuelle Vergehen, Trunk-
sucht und Verbrechensneigung herrschten. In den
folgenden Generationen kamen Kreuzungen mit
sehr verschieden veranlagten Stämmen vor und
die Nachkommenschaft bietet ein buntes Bild, in
dem aber sozial untüchtige Menschen stark her-
vorstechen. Die fünfte Linie endlich geht von
dem hochgradig schwachsinnigen jüngsten Sohn
des Ehepaares R. aus. Fünf Generationen hin-
durch werden stets wieder Ehen mit psychisch
defekten Personen eingegangen und alle Glieder
dieser Linie scheinen mehr oder minder geistig
unternormal gewesen zu sein; bei einigen war
die Mangelhaftigkeit bis zum Blödsinn gesteigert.
Frl. Key untersuchte auch die Erbveranlagung
und die Schicksale zweier weiterer Geschlechter,
in die Nachkommen der letzterwähnten Linie des
Geschlechtes R. einheirateten. In dem einen
dieser beiden auf zwei Schwestern zurückgehenden
Geschlechter waren die Verhältnisse wegen oft
vorkommender außerehelicher Kinder schwer zu
klären; festgestellt wird häufiges Auftreten von
Blödsinn, Überspanntheit und anti-sozialem Ver-
halten. In dem anderen Geschlecht fallt besonders
die außergewöhnlich langsame Geistesentwicklung
auf. Durch Heiraten mit Angehörigen normaler
Familien wurde der Grad der Anomalie verringert.
Die weibliche Fruchtbarkeit hat im Laufe der
Beobachtungszeit in allen von der Untersuchung
erfaßten Familien abgenommen, jedoch bei ihren
sozial befähigten Gliedern etwas mehr als bei den
übrigen. Weit bedeutungsvoller aber ist die Fest-
stellung, daß das Verhältnis der am Leben ge-
bliebenen Kinder zur Gesamtzahl der Ge-
borenen in den tüchtigen Familien von
Generation zu Generation zunahm, während in
den geistig unternormalen Familien dieses Ver-
hältnis zurückging, so daß die Beseitigung der
Untüchtigen durch natürliche Auslese wieder ein-
mal bekräftigt ist.
Eingehend untersucht wird in der Schrift
Frl. Keys die Vererbung der Fähigkeit des
Rechnens, die der Stammutter des Geschlechtes
R. anscheinend völlig abging. In den Familien,
in welchen Heiraten mit Unternormalen unter-
blieben, bUeb der stammütterliche Mangel aus, in
den anderen Familien aber trat er oft wieder auf.
In bezug auf die Vererbung eines Defizits von
Tatkraft und Ausdauer ergaben sich ähnliche
Resultate.
Bemerkenswert ist ferner, daß die Angehörigen
der normalen Linien große Wanderlust be-
kundeten; von den noch lebenden Gliedern der-
selben befanden sich nahezu 200 in Orten, die
von dem Stammsitz ihres Geschlechts weit ab-
liegen, 42 wohnten im Umkreis von 50 Meilen
von dem Stammsitze und nur 3 lebten noch am
ursprünglichen Niederlassungsorte. Dagegen be-
fanden sich von den lebenden Gliedern der beiden
entarteten Linien bloß drei in weiter Ferne
vom Ausgangsort des Geschlechts, 16 waren 50
bis 80 Meilen davon entfernt, alle übrigen aber
waren in der Gegend geblieben, wo die Stamm-
eltern sich niedergelassen hatten und eine ansehn-
liche Zahl von ihnen fallt der öffentlichen Ver-
sorgung zur Last.
Das Studium der Umweltverhältnisse der sozial
untüchtigen Familien führte zu dem Ergebnis, daß
die Abweichungen der Befähigung, die sich inner-
halb dieses Personenkreises offenbarten, in der
Hauptsache nicht auf Gunst oder Ungunst der
Lebensbedingungen zurückzuführen sind, sondern
vielmehr in der erblichen Veranlagung begründet
sein müssen. Die beiden ersten Geschlechtser-
folgen konnten unter den schwierigen Verhält-
nissen ihrer Zeit ohne fremde Hilfe auskommen.
Erst von der dritten Geschlechterfolge an trat
Unterstützungsbedürftigkeit auf. Von dem ur-
sprünglichen Grundbesitz des Geschlechtes R. ist
kaum mehr der vierte Teil sein Eigen und dieser
Rest ist so schlecht bebaut, daß er praktisch
nichts einträgt. Die drei Familien, die auf dem
stammväterlichen Grundbesitz ihre Heimstätten
haben, leben in so ärmlichen Verhältnissen, daß
man sich ihrer vor einem Jahrhundert geschämt
haben würde.
In ihren Einzelheiten erbringt die Schrift
Frl. Keys eine Menge beachtenswerten Materials
zum Studium der Vererbung beim Menschen.
H. Fehlinger.
Die Desinfektionskraft von Fornialdehyd-
präparat E. p. und Kresolpräparat Nr. 72.
Beide Präparate, Formaldehyd Alpha und das
Kresolpräparat Nr. 72 , Beta zeigten nach der
Inaug.-Diss. Hannover 191 9 von M. J. Brudeck
selbst in hochkonzentrierten Lösungen gegenüber
den für die Feststellung benutzten pathogenen
Bakterien eine äußerst geringe bakterizide Wir-
kung. Trotz der sonstigen guten Eigenschaften
beider Präparate (leichte Löslichkeit in Wasser,
relative Ungiftigkeit und Unschädlichkeit, kräftige
desodorisierende Wirkung, indifferentes Verhalten
auf Haut und Schleimhäute) könnten beide Prä-
parate zur Einführung in die Praxis der Bekämp-
fung infektiöser Tierkrankheiten nicht empfohlen
werden. Reuter.
N. F. XX. Nr. 23
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
351
Bticherbesprechimgen.
Hager, Dr. Hermann, Das Mikroskop und
seine Anwendung. Handbuch der prakti-
schen Mikroskopie und Anleitung zu mikro-
skopischen Untersuchungen. Nach dessen Tode
vollständig umgearbeitet und in Gemeinschaft
mit den Professoren Dr. O. Appel, Dr. G. Bran-
dis, Dr. P. Lindner und Dr. Th. Lochte neu
herausgegeben von Dr. Carl Mez, Professor
der Botanik in Königsberg. 12. umgearbeitete
Auflage. Mit 495 Textfiguren. Berlin 1920,
Verlag von Julius Springer. Geb. 38 M.
Es ist kein Wunder, daß das alte „Hager-
sche Mikroskop", das ursprünglich von dem Alt-
meister der Pharmazie für seine jungen Fachge-
nossen geschrieben war, sich immer noch großer
Beliebtheit erfreut bei allen denen, die in ihrem
praktischen Beruf zu mikroskopieren haben. Der
Herausgeber hat es verstanden, durch seine eigenen
Erfahrungen und durch Heranziehung von Ge-
lehrten, die mit der Praxis in engster Fühlung
stehen, das Werk den modernsten Forderungen
anzupassen. Das Buch wird als Handbuch be-
zeichnet und nicht als Einführung in die Mikro-
skopie, es kann also großes Gewicht auf die zu
untersuchenden Objekte legen und braucht diese nicht
lediglich nach pädagogisch-didaktischen Gesichts-
punkten auszuwählen. Trotzdem wird auch der
Anfanger und der Autodidakt das Werk mit Vor-
teil benutzen können, da auf 85 Seiten in ele-
mentarer Weise die Theorie des Mikroskopes,
seine Einrichtung, Prüfung, Behandlung und sein
Gebrauch ausführlich behandelt werden. Die
pflanzlichen Untersuchungsobjekte nehmen natur-
gemäß den breitesten Raum ein, während die
tierischen Objekte, einschließlich der menschlichen
Ausscheidungen (Sputum, Harn usw.), den kleineren
Teil umfassen. Daß unter den Objekten aus dem
Tierreich auch einige pathogene Bakterien aufge-
nommen sind, erklärt sich wohl daraus, daß die
Einheitlichkeit des Kapitels über Blutuntersuchung
nicht gestört werden sollte. — Im Vorwort be-
tont der Herausgeber, daß er sich verpflichtet ge-
fühlt hätte, den früheren Anschauungen in Handel
und Wandel wieder zum Siege zu helfen, denn
die im Kriege notwendig gewordenen Ersatzmittel
unserer Nahrungsmittel müßten wieder als Ver-
fälschungen charakterisiert werden. — Das Kapitel
über die Stärke ist wohl noch nicht ganz diesem
Gedanken angepaßt worden, da noch von Dekla-
rationszwang beim Vermischen des Brotmehles
mit Kartoffeln die Rede ist. Die Ausstattung
des Buches ist lobenswert und alle Autotypien
sind sauber und klar wiedergegeben. Wächter.
Wagner, Georg, Die Landschafts formen
von Württembergisch-Franken, mit
besonderer Berücksichtigung des Muschelkalk-
gebiets. (Erdgeschichtliche und landeskundliche
Abhandlungen aus Schwaben und Franken,
herausgegeben vom Geol. und Geogr. Institut
der Universität Tübingen, Heft i). 95 S. mit
32 Abbildungen und Kartenskizzen. Ohringen
1920, Rau. Geh. 4,20 M.
Der „Geologischen Heimatkunde von Württem-
bergisch-Franken", die an dieser Stelle schon ihre
Würdigung erfahren hat, und die seither bereits
in zweiter Auflage (3. u. 4. Tausend) vorliegt, hat
der treue Vorkämpfer der natürlichen Schönheiten
seiner fränkischen Heimat eine Ergänzung nach
der mehr geographischen Seite hin folgen lassen,
die gleichfalls um 5 volle Kriegsjahre verspätet
erscheint. Eine Anzahl erläuternder Zeichnungen
sind von dort herübergenommen, doch treten auch
wieder neue hinzu. Darunter befindet sich ein
sehr instruktives Kärtchen der Flußgebiete Kocher,
Jagst, Tauber.
Deutlichst werden die mancherlei Einflüsse des
geologischen Untergrunds auf Berg- und Talformen,
auf die Gesamtgestaltung des Landschaftsbildes
wie auf die Besiedelung herausgearbeitet. Dabei
ist manche hübsche Feinbeobachtung eingestreut,
vieles bedeutet Ablesen allgemeiner giltiger
Gesetzmäßigkeiten aus einem Sonderfall. Histo-
risch interessante Bemerkungen sind eingestreut.
Mit Hingebung und didaktischem Geschick wer-
den die einzelnen Flußläufe regional eingehend
geschildert.
Doch ist auch den Erscheinungen aus dem
rein geologischen Stoff der Gebirgsbildung bzw.
der Struktur des Landes ein eigener Abschnitt
gewidmet und gerade hier finden sich zahlreiche
schöne neue Beiträge zu unserer bisherigen Kennt-
nis. Dahin gehört der Nachweis einer WSW —
ONO streichenden leichten Einmuldung, der
„Fränkischen Furche". In Störungen des Einfallens
und auch landschaftlich macht sie sich bemerkbar.
Bei Vellberg wird ein umgekehrtes Verhalten der
verschobenen Schollen aufgezeigt wie es bisher in
der geologischen Karte Südwestdeutschlands von
Regelmann angegeben worden war. Die Zahl
der Verwerfungen ist auch in der fränkischen
Platte nicht gering, ihr Einfluß auf die Wasser-
führung der Flüsse in einem Kalk- und Karst-
gebiet zuweilen erheblich. Kommen doch an
der Heldenmühle unterhalb Crailsheims in der
Jagst Versickerungen zustande, die ein würdiges
Parallelbeispiel zu denen der Donau bei Immen-
dingen bieten I
Zum Hauptthema führt der in den Bewegungen
des Bodens begründete Kampf um die Wasser-
scheide im Schlußabsatz zurück. Die Deutung
der Muschelkalk- bzw. Lettenkohlenfläche, der die
Keuperberge aufgesetzt, die Flußtäler eingefurcht
sind, als alte fluviatile Einebnungswirkung wird
dabei mit guten Gründen abgelehnt.
Die Arbeit leitet mit ihren beiderseitigen Be-
ziehungen aufs glücklichste eine neue Folge von
Abhandlungen aus dem Gebiete der Geographie
und Geologie ein, die das weite schöne Schwaben
und Franken zum Gegenstand haben sollen und
352
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 23
in weiteren Kreisen auf Interesse und Verständnis
hoffen dürfen. Edw. Hennig.
Thormeyer, Paul, Philosophisches Wörter-
buch. 2. Aufl. (Teubners kleine Fachwörter-
bücher. Nr. 4.) 222 Seiten. 5 M.
Das kleine Wörterbuch, das schon nach zwei
Jahren eine neue Auflage erlebt, enthält außer
kurzen, sachlichen Erklärungen der philosophischen
Fachausdrücke gedrängte Übersichten der philo-
sophischen Richtungen und Systeme. Der Verf.
liebt dabei die schematische Darstellung. Die
neueren Philosophen werden z. B. meist nur durch
die Stichworte der philosophischen Richtungen,
welche sie vertreten, charakterisiert. Mancher
Philosoph mag sich in dem Prokrustesbett des
Schemas unbehaglich fühlen, wie z. B. Ziehen,
wenn er schlechthin unter die Psychologisten
versetzt wird; doch dient das Schema im allge-
meinen vortrefflich dem Zweck einer schnellen
Orientierung und dazu, nicht zu einem gründ-
lichen Studium der Philosophie, ist ja das Büch-
lein bestimmt. Die zweite Auflage ist, obgleich
alle psychologischen Fachausdrücke, für die ein
besonderes Fachwörterbuch erscheint, ausge-
schieden sind, von 96 auf 222 Seiten erweitert
und durch die Aufnahme zahlreicher neuer Stich-
wörter vervollständigt worden. Manche ältere
Fachausdrücke, denen man in der Literatur noch
immer begegnet, wie Quidditas, Proprietates in-
trinsecae usw. vermißt man freilich auch jetzt.
Vor allem hätte wohl auch Einstein und die
Relativitätstheorie, wie Steiner, der Hauptver-
treter der deutschen Theosophie aufgenommen
werden sollen. Doch sind das nur unbedeutende
Ausstellungen. Im ganzen ist das Wörterbuch
gerade Naturwissenschaftlern zur schnellen philo-
sophischen Orientierung auf das wärmste zu
empfehlen. Kranichfeld.
Ruska, Prof. Dr. Julius, Methodik des mine-
ralogisch-geologischen Unterrichts.
Mit 35 Textabbildungen und einer Bildtafel.
520 S. gr. S". Stuttgart 1920, Verlag von
F. Enke.
Das Werk beschränkt sich nicht auf eine
Methodik, was einen Umfang von 520 Druckseiten
kaum rechtfertigen würde, sondern es bringt auch
das Wesentlichste des mineralogisch geologischen
Lehrstoffs. Es beansprucht daher nicht etwa nur
das rein pädagogische, sondern auch das allge-
mein-naturwissenschaftliche Interesse. Das be-
weisen schon die Kapitelüberschriften. Aus dem
reichen Inhalt sei nur folgendes hervorgehoben:
Allgemeine Mineralogie (75 Seiten). — Allgemeine
Geologie (30 Seiten). — Historische Geologie
(50 Seiten). — Geologische Sammlungen. — Mine-
ralogische und geologische Arbeitsausrüstung. —
Geologische Karten und Profile usw.
Auch die kurzen Rückblicke auf die geschicht-
liche Entwicklung der beiden Wissenschaften, die
Angabe der literarischen Hilfsmittel, die Be-
trachtungen über die volkswirtschaftliche Bedeutung
und manches andere sind für die Allgemeinheit
nicht weniger wichtig als für die Schule.
Das Buch ist einer reichen Erfahrung ent-
sprungen. Schon im Jahre 1908 hat Ruska sich
um die Geologie durch seine „Geologischen Streif-
züge in die Umgebung Heidelbergs" verdient ge-
macht. Daß er trotz der außerordentlichen Viel-
seitigkeit, die er entfaltet, zum Verf. des vor-
liegenden Werkes berufen war, das den fünften
Band der Norrenbergschen Handbücher des
naturwissenschaftlichen Unterrichts bildet, beweist
das eindringendere Studium des Buches. Hervor-
gehoben sei noch, daß dieses durch seine für die
heutige Zeit geradezu glänzende Ausstattung auf-
fallt. Dannemann.
Literatur.
Monographien zur angewandten Entomologie. Berlin '21,
Paul Parey.
Heft 5: Wille, Biologie und Bekämpfung der
deutschen Schabe.
Heft 6: Stellwaag, Die Schmarotzerwespen als
Parasiten. 24 M.
Fröhlich, Grundzüge einer Lehre vom Licht- und
Farbensinn. Ein Beitrag zur allgemeinen Physiologie der
Sinne. Jena '21, Gustav Fischer. 15 M.
v.Drygalski, Deutsche Südpolarexpedition igol — 1903.
XVI. Band. Zoologie VIII. Band, Heft IV. Berlin '21, Ver-
einigung wissenschaftlicher Verleger.
Czapek, Friedrich, Dr. phil. et med., Biochemie der
Pflanzen. 2. Aufl. Bd. III, 852 S. Jena '21, Gustav Fischer.
HO M.
Köhler, Dr. A., Mitteilungen für Studierende an der
Universität Leipzig W.-S. 1920/21. Leipzig '21, Alfred Lorenz.
Schöne, Dr. Walter, Die wirtschaftlich^ Lage der
Studierenden an der Universität Leipzig. Sonderdruck der
Akademischen Nachrichten. Leipzig '20, Alfred Lorentz. 3,80 M.
Abderhalden, Prof. Dr., Das Recht auf Gesundheit
und die Pflicht, sie zu erhalten. Leipzig '21, S. Hirzel. 6 M.
Michaelis, Prof. Dr. med. Leonor, Praktikum der
physikalischen Chemie, insbesondere der Kolloidchemie für
Mediziner und Biologen. Berlin '21, Julius Springer. 26 M.
Langenbeck, Prof. Dr. R., Landeskunde von Elsaß-
Lothringen. (Sammlung Göschen.) Berlin '20, Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger. 2,10 M.
Semon, Richard, Die Mneme. 4. u. 5. Aufl. Leip-
zig '21, W. Engelmann. 18 M.
Inhalt: H. Winkler, Christian Gottfried Nees von Esenbeck als Naturforscher und Mensch. S. 337. — Einzelberichte:
Holmgrens Arbeiten über die Parietalorgane und ihre Innervation bei Fischen. (3 Abb.) S. 346. N. Holmgren, Der
Nervus terminalis bei Knochenfischen. S. 348. F. Mager, Kurland. S. 34S. Wilhelmine E. Key, Erbveranlagung
und soziale Tüchtigkeit. S. 349. M. J. Brudeck, Die Desinfektionskraft von Formaldehydpräparat K. p. und Kresol-
präparat Nr. 72. S. 350. — Büchetbesprecbungen: H. Hager, Das Mikroskop und seine Anwendung. S. 351. G.
Wagner, Die Landschaftsformen von Württembergisch-Franken. S. 351. P. Tliormeyer, Philosophisches Wörter-
buch. S. 352. J. Ruska, Methodik des mineralogisch-geologischen Unterrichts. S. 352. — Literatur: Liste. S. 352.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 12. Juni 1921.
Nummer S4<
Über die Geschichte und die neuesten Fortschritte der Kenntnis
der Kakteen.
[Nachdruck verboten.] Von Alwin Berger,
Unter den vielen Wunderdingen, welche die
Entdeckung Amerikas den Bewohnern der alten
Welt enthüllte, waren gewiß die Kakteen eines
der merkwürdigsten. Etwas von diesem Fremden,
Eigenartigen und Wunderbaren empfinden wir
auch heute noch, wenn wir eine gesunde, wüchsige
Kakteenkolonie in unseren Gärten zu besichtigen
Gelegenheit haben.
Für die Pflanzenfreunde sind die Kakteen im-
mer eine kleine Wunderwelt für sich gewesen,
der man sich mit besonderem Eifer hingegeben
hat. Die Geschichte der Kakteenpflege ist eines
der interessantesten Kapitel des Gartenbaues und
der Botanik, die sich hier auf das engste be-
rühren.^)
Zu Herbarpflanzen im gewöhnlichen Sinne
eignen sich Kakteen wenig. Für den Fflanzen-
sammler waren sie also undankbare Objekte. Sie
zu pressen und zu konservieren war zeitraubend,
wenn nicht ganz unmöglich. So kam es, daß sie
in den Herbarien nur sehr schwach vertreten
waren und sie somit bei der Mehrzahl der syste-
matischen Botaniker von Linne an, etwas in
den Hintergrund traten. Zu ihrem Studium be-
nötigte man lebendes Material, ohne dieses wäre
auch heute kein Fortschritt zu erreichen.
Schon in der vorlinneischen Zeit besaßen die
Gärten neben den afrikanischen Sukkulenten auch
amerikanische, namentlich Kakteen. Die Botaniker
jener Zeit unterschieden bereits einige der größeren
Gattungen, welche sich durch ihren Habitus kennt-
lich machen, wie Cereus, welche schon Her-
mann 1698 zugeschrieben wird, Feireskia wurde
von Plumier 1703, Opuntia durch Tournefort,
17 16 und Tuna durch Dillenius 1732 aufge-
stellt. Warum Linne später dieselben unter
„Cactus" vereinigte, ist nicht verständlich.
Philip Miller dagegen, der im Physic
Garden in Chelsea bei London mit diesen Ge-
wächsen in direkte Berührung kam, stellte in
seinem Dictionary of Gardening (8. Aufl. 1768
mit linneischer Nomenklatur) die alten Gattungen
wieder her und gab ausgezeichnete Erläuterungen
dazu. Er kannte im ganzen 27 Arten. Auf
Miller folgte in England Adrian Hardy
H a w o r t h , dessen botanische Arbeiten sich auch
auf die Kakteen erstreckten, die mehr und mehr
aus Amerika herübergebracht wurden. Er stellte
') Man vergleiche auch : K.Schumann, Die Verbreitung
der Cactaceae im Verhältnis zu ihrer systematischen Gliede-
rung (Berlin 1899).
Wilhelma, Cannstatt.
die Gattungen Mamillaria und Epiphyllen auf.
Ihm gesellte sich in Frankreich Pyrame DeCan-
d o 1 1 e zu mit seinen, von R e d o u t e gezeichneten
„Plantes grasses" (1799 — 1829) und der „Revue
des Cactees" (1828).
Von den nun zahlreicher werdenden Autoren
ragen von jetzt ab zwei Deutsche besonders hervor,
der Fürst Joseph zu Salm-Reifferscheidt-
Dyck (1773 — 1869), der frühzeitig durch seine
Reisen nach Paris mit De Candolle und Re-
doute bekannt wurde und auch mit Haworth
in Verbindung stand, und der Arzt Dr. L. Pfeiffer
in Cassel (1805 — 1877). Durch die Bemühungen
dieser beiden Männer und solcher wie A. v. H u m -
boldt, Kunth, Martins, Meyen, Link,
Otto, Sellow, Karwinsky, Zuccarini,
Scheidweiler, Lehmann, Ehrenberg usw.
wurden ganz enorme Fortschritte gemacht und
durch sie ist es gekommen, daß die Kenntnis der
Familie der Kakteen eine spezifisch deutsche Do-
mäne wurde. Dr. L. Pfeiffer hatte 1837 als
junger Mann eine vorzügliche Arbeit veröffent-
licht, Enumeratio diagnostica Cactearum usw., die
heute noch gute Dienste leistet. Bis zu dieser
Zeit waren die Gattungen auf lO gestiegen,
darunter die von ihm aufgestellte Lepismium. Die
letzte größere zusammenfassende Arbeit des Fürsten
Salm, Cacteae in Horto Dyckensi cultae anno
1849, erschien 1850. Das hier .entwickelte System
kommt nun auf 20 Gattungen, von denen drei
von ihnen selber stammen. Salm beherrschte
fast souverän die Kenntnis der Familie. Seine
Studien stützten sich auf seine eigene umfangreiche
Sammlung lebender Pflanzen, neben der er sich
auch eine solche getrockneter Kakteenkörper an-
gelegt hatte, die leider aus Unverständnis nach
seinem Tode verloren ging. Sie würde heute
von unschätzbarem Werte sein, da sie die Typen
seiner Arten enthielt.
In Belgien und Frankreich war fast gleichzeitig
Charles Lemaire (1801 — 1870) tätig, der sich
namentlich um die Neueinführungen der auf-
blühenden belgischen Handelsgärtnereien bemühte
und darunter den Kakteen, besonders auch der
großen Privatsammlung Monville's, seine
spezielle Hinneigung schenkte. Ihm lag nament-
lich daran Klarheit über die Gattungen zu ge-
winnen. Das suchte er durch Absplittern kleinerer
Gruppen aus den großen Sammelgattungen zu
erreichen.
Aber diese Bestrebungen fanden bei seinen
Zeitgenossen wenig Anklang. Noch lange be-
354
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 24
herrschte Salms System die Lage. Es trat nun
auch ein gewisser Niedergang in der Kakteen-
liebhaberei ein, das Interesse an diesen Pflanzen
nahm in Deutschland ab und fast wäre der Faden
der Tradition abgerissen.
Da erstand in St. Louis, Mo. in dem Arzte
Dr. Georg Engelmann (1804 — 1884), einem
geborenen Frankfurter, ein ganz vorzüglicher neuer
Arbeiter auf unserem Gebiete. Er bearbeitete
1848 eine Samrnlung Kakteen aus Nordmexiko
und stellte hier *) die neue Gattung Echinocereus
auf, welche Salm indessen nicht gelten ließ und
wieder mit Cereus vereinigte, während sie heute
als eine der bestumschriebenen angesehen wird.
Salm und Engelmann blieben in Verkehr.
Engelmanns spätere Arbeiten waren z. T. von
prächtigen Abbildungen begleitet.
Mit Engelmann stand in enger Beziehung
Dr. Albert Weber (1830— 1903), ein in Straß-
burg unter französischer Herrschaft geborener
Deutscher und später Generalarzt der französischen
Armee. Er hatte sich von früher Jugend an mit
dem Kakteenstudium befaßt und kam mit der
französischen Okkupationsarmee nach Mexiko. Er
war einer der schärfsten Kenner dieser Pflanzen.
In Deutschland nahm nun Prof. Dr. K. Schu-
mann (185 1 — 1904) am Botanischen Garten in
Berlin die Familie wieder auf. Ihm erwuchs in
der Deutschen Kakteengesellschaft, welche das
Interesse an diesen Pflanzen von neuem erweckte
und zu lebhaften Neueinführungen aus bisher
wenig erforschten Gebieten anregte, eine starke
Hilfe. Er bearbeitete die Kakteen für die Flora
brasiliensis und gab später eine Monographie ^)
sowie eine Anzahl kleiner Schriften heraus. Seine
Nachfolger, auch als Vorstände der Deutschen
Kakteengesellschaft, waren Prof. Dr. Gurke und
jetzt Prof. Dr. Vaupel. Beide haben viele neue
Arten bekannt gemacht. Für die gründliche Be-
arbeitung der Cereen usw. hat nach Schumann
W. Weingart ganz Hervorragendes geleistet
und viele Irrtümer aufgeklärt. Für Mamillaria
war L. Q u e h 1 erfolgreich tätig.
Weber und Schumann hielten fast konser-
vativ am Salm-Dyckschen Systeme fest, nament-
lich an den großen Sammelgattungen, wenn sie
es auch in verschiedener Richtung ausbauten und
verbesserten.
Es zeigte sich indessen, daß auch hier erwei-
terte Kenntnis wiederum Bewegung in die Sache
brachte. Mir war bei meinen Studien, die ich
neben meinen Sukkulentenarbeiten gern betrieb,
in La Moitola und anderen Gärten der Riviera
eine Reihe von Beobachtungen über Blüten- und
Fruchtbildung möglich, die ich 1905 veröffent-
lichte. ^) Es ergaben sich innerhalb der Sammel-
gattung Cereus eine Reihe von deutlichen, bisher
unbekannten Verwandtschaftsgruppen, welche bei
jeder anderen Pflanzenfamilie allgemein als „gute"
Gattungen anerkannt worden wären. Bei den
Kakteen war aber auf die große Zahl der Lieb-
haber Rücksicht zu nehmen, die jede Nomen-
klaturveränderung schroff abgelehnt haben würden.
So begnügte ich mich, diese Gruppen als Unter-
gattungen anstatt als selbständige Gattungen auf-
zustellen. Um aber über meine Anschauungen
über die Bewertung derselben keinen Zweifel auf-
kommen zu lassen, degradierte ich die bisher
sanktionierten Gattungen Cephalocereus, Pilocereus
und Echinocereus zu bloßen Untergattungen von
Cereus. Wollte man diese als Gattungen gelten
lassen, so mußten auch die neuen als solche be-
trachtet werden. Indessen hat niemand den Sinn
dieser erweiterten Fassung von Cereus verstanden ;
vielleicht wäre es deutlicher geworden, wenn ich
wie Pfeiffer auch noch die Gattung Phyllocactus
mit eingeschlossen gehabt hätte.
Während man nun in Deutschland weiter an
den alten Sammelgattungen festhielt, erhoben
1909 Riccobono in Palermo und Dr. N. L.
Britton in New- York und Dr. J. N. Rose in
Washington die neuen Untergattungen zu Gattun-
gen und schufen neue dazu.
Britton und Rose hatten seit 1904 das
Studium der Kakteen mit großer Energie aufge-
nommen, nachdem ihnen die Carnegie-Stiftung zur
Erforschung dieser typisch amerikanischen Pflanzen-
familie die reichlichen Mittel erschlossen hatte,
welche erforderlich waren, um die Sache groß-
zügig ins Werk zu setzen, Mittel wie sie uns auch
unter den glänzendsten Verhältnissen nie zur Ver-
fügung gestanden hätten. Nicht nur war es ihnen
dadurch möglich, die bedeutendsten Sammlungen
und Spezialisten in Europa kennen zu lernen,
sondern sie hatten auch das Glück fast das ganze
wärmere Amerika zu bereisen, die Kakteen an
ihren Standorten aufzusuchen und reichliche Samm-
lungen mit nach Hause zu nehmen. Auf diese
Weise wurde ein ungeahnte Menge neuer Arten
entdeckt und wichtige Beiträge zur Kenntnis der
älteren gesammelt.
Das Ergebnis dieser Studien erscheint nun in
einem prachtvoll illustrierten und auch mit zahl-
reichen, sehr naturgetreu ausgeführten bunten
Tafeln ausgestatteten Werke in drei Bänden, von
denen Band I und II jetzt vorliegen.')
Der erste Band umfaßt die Peireskien und die
Opuntieen. Bei den ersteren bleibt es wie bisher
bei einer Gattung, die jetzt 19 Arten umfaßt.
Die Opuntieen zerfallen in 7 Gattungen, statt
4 bei Schumann: Peireskiopsis B r. u. R. ( =
Peireskopuntia Web.) 10 Arten; Pterocactus
') Engelmann in Wislizenus Tour Northern Mexico,
p. 91 (1848)-
') K. Schumann, Gesamtbeschreibuug der Kakteen
(Monographia Cactacearum). Neudamra 1898, hierzu Nach-
träge 1903.
') A syslematic revision of the genus Cereus; in Annual
Report, Missouri Pot. Garden XVI. (1905) pp. 57—86, plate
1 — 12.
') N. L. Britton und J. N. Rose, The Cactaceae. —
Descriptions and illustrations of plants of the Cactus Family.
— The Carnegie Institution of Washington. — Washington
1919 u. 1920..
N. F. XX. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
355
K. S c h u m. (4 Arten) ; Nopalea Salm (8 Arten) ;
Tacinga Br. u. R. (l Art); Maihuenia Phil.
(S Arten); Opuntia Mill. (254 Arten) und Gtu-
sonia Br. u. R. (i Art).
Ein sehr eigenartiges Gewächs muß die in
den Catingas (Dornbuschwälder) von Bahia vor-
kommende Tacinga funalis B r. u. R. sein. Sie
wird i^ — 12 m lang bei etwas kletterndem Habitus
und hat fast stielrunde, bleistiftstarke Jahrestriebe.
Die Areolen sind mit Unmengen von Glochiden
(feine, mit Widerhaken versehene, nur bei den
Opuntieen vorkommende Stacheln) besetzt, welche
bei der leisesten Berührung in wahren Schauern
herabfallen 1 Die Blüte besitzt wie Nopalea lang
hervorragende Staubfäden, aber die spärlichen
Blütenhüllblätter sind zurückgerollt und sitzen
einem trichterigen, im Längsschnitt fast an Pilo-
cereus erinnerndem Schlünde auf, in welchem die
Staubfäden in verschiedener Höhe eingefügt sind.
Zwischen Staubfäden und Blütenhüllblättern steht
eine Reihe von Haaren.
Die Gattung Opuntia umfaßt den weitaus
größeren Teil des ersten Bandes. Sie zerfällt in
drei Untergattungen mit zusammen 29 Reihen.
Gute Schlüssel und zahlreiche Abbildungen, Feder-
zeichnungen, Habitusbilder vom Standort und vor-
zügliche bunte Tafeln erleichtern das Zurecht-
finden in dieser außerordentlich großen und
schwierigen Gattung. Bei uns in Deutschland
kommen Opuntien mit wenigen Ausnahmen nicht
zur Blüte. Auch ihre vegetative Ausbildung bleibt
bei den nicht winterharten eine vergeilte und un-
natürliche. Man kann von ihnen keine richtige
Vorstellung gewinnen. Eine solche Gattung kann
mit Erfolg nur im Süden studiert werden, wo
die Pflanzen im freiem Grunde ihre Lebensbe-
dingungen finden. In den Vereinigten Staaten
hatte das die botanische Abteilung des Ackerbau-
ministeriums unternommen. In La Mortola hatte
ich zu diesem Zwecke gleichfalls eine große
Opuntienpflanzung angelegt und dazu von nament-
lich von Dr. Weber in Paris und anderen Kakto-
logen wertvolle Zuweisungen erhalten. Beide
Sammlungen sind von den Verfassern ausgiebig
benutzt worden.
In Italien wachsen selbst tropische Opuntien
gut. Es ist schade, daß dort außer Console
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts sich nie-
mand auf ein solches, allerdings viel Platz er-
forderndes Studium eingelassen hat. Gutge-
wachsene Opuntien sind außerdem vorzügliche
Zierpflanzen der südlichen Gärten.
Diese Bearbeitung der Opuntien enthält unge-
heuer viel Neues und Interessantes, nicht zum
wenigsten auch über die Verbreitung und Her-
kunft der Arten. Leider verbietet der Raum auf
einzelnes einzugehen. Schumanns Monographie
mit Nachträgen kannte 146 Arten. Auch der rätsel-
hafte Cactus moniliformis L. (Spec. Plant (1753)
S. 468) findet seine Aufklärung als proliferierende,
dabei sterile Fruchtknoten einer baumartigen
Opuntia, O. moniliformis Br. u. R. n. sp., von
San Domingo usw. Solche zur vegetativen Ver-
mehrung dienende Kurztriebe kommen auch sonst
bei Opuntien nicht selten vor.
Gegenüber der Unterfamilie der Opuntieae,
die eine ziemlich gleichförmige Entwicklung ge-
nommen hat, erreicht die Unterfamilie der Cereeae
eine viel weiter gehende Zergliederung. Ziemlich
in Anlehnung an Schumann geben ßritton
und Rose folgende Einteilung derselben: i. Cere-
anae, 2. Hylocereanae, 3. Echinocereanae, 4. Echino-
cactanae, 5. Cactanae, 6. Coryphanthanae, 7 Epi-
phyllanae, 8. Rhipsalidanae.
Wir sehen also hier die Säulenkakteen (Cere-
anae) von den kletternden und aus den Stämmen
wurzelnden bereits als Subtribus (Hylocereanae)
getrennt. Jeder dieser beiden Subtribus zerfallt
wiederum in eine Anzahl Gattungen, die nach dem
Aufbau von Blüte, Frucht und Habitus unterschieden
werden. Britton und Rose unterscheiden 38
Genera bei den ersten und 9 Genera bei den zweiten.
Also 47 Gattungen an Stelle der alten Gattung
Cereus 1 Das wird entschieden Widerspruch
herausfordern. Wenn man aber Gattungen wie
Echinocereus, Phyllocactus , Pfeififera, Nopalea,
Hariota, Wittia, Echinopsis und Pelecyphora aner-
kennt, wie das jetzt geschieht, kann man auch
keiner dieser 47 eine Berechtigung absprechen.
Ob es möglich sein wird hier und da doch einige
dieser neuen Gattungen einzuziehen, kann ich
ohne eingehende Prüfung nicht sagen; das wird
die Zeit lehren.
Diese Gattungen sind zu einem Teil auf
Lemaires und auf meine eigenen Abteilungen
begründet. Die Unvollkommenheit der letzteren
fühlte ich wohl, allein bei dem dürftigen Material,
das mir damals zur Verfügung stand, war vorerst
nicht mehr zu erreichen. Eine von mir längst
geplante Revision der übrigen Kakteengattungen
konnte leider wegen anderweitiger Inanspruch-
nahme nicht ausgeführt werden. Ich war voll-
ständig überzeugt, daß das System der Kakteen,
mit der Zeit eine Erweiterung erfahren mußte.
Das ist nun jetzt geschehen. Man darf wohl an-
nehmen, daß die F"amilie der Kakteen nunmehr
in ihren großen Zügen ziemlich scharf umrissen
ist. Daß trotzdem noch vieles Neue und selbst
manche Überraschung kommen kann, ist bei der
lokalen Verbreitung der einzelnen Arten, die auch
diese große Arbeit bestätigt, nicht ausgeschlossen.
Als Gattung i) Cereus nehmen Britton und
Rose meine Sektion Piptanthocereus und führen
darunter 24 Arten auf, von denen Cereus peruvianus
Mill. der bekannteste ist. Bei allen diesen fällt
die verwelkte Blume über dem Fruchtknoten glatt
ab, wobei der Griffel stehen bleibt. Die Frucht
ist nackt, d. h. fast ohne Schuppen und ohne alle
Haare und Stacheln. Beim Trocknen werden die
Blüten schwarz. Die Gattung ist verbreitet von
West-Indien bis Argentinien, aber nicht in Mexiko
oder jenseits der Anden. Die kleineren Cereen
mit glatter Frucht, bei denen die Reste der
Blütenhülle nicht abfallen, bilden die Gattung
3S6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. K. XX. Nr. 24
2) Monvillea, z. B. M. Cavendishii Br. u. R., M.
Spegazzinii Br. u. R. usw., im ganzen 8 Arten
aus Südamerika.
Unter 3) Cephalocereus vereinigen Britton
und Rose alles was wir bisher als Cephalocereus
und Pilocereus unterschieden. Mir scheint, daß
man diese Trennung besser doch beibehalten
sollte und daß die Cephalocereus sich durch ihre
kleinen Blumen, den nach unten verschmälerten,
Mamillaria ähnlichen Früchten gut unterscheiden.
Leider kommen bei uns solche Pflanzen nie zur
vollen Entwicklung. Eine gute Darstellung einiger
solcher, „Pseudocephalien" genannter Blütenstände
wäre sehr willkommen gewesen.
Auf die übrigen Gattungen kann ich hier nicht
genauer eingehen. Ich führe sie daher nur
namentlich auf unter Angabe der Artenzahl und
eines Beispieles mit der alten Nomenklatur:
4) Espostoa (i Art: Cactus lanatus H. B. K.)
5) Browningia (i Art: Cereus candelaris Meyen)
6) Setsonia (i Art: Cereus Coryne Salm); 7) Es
contria ( i Art : C. chiotilla Web.); 8) Corryo
cactus (3 Arten, z. B. Cereus melanotrichus K
Schum.); 9) Pachycereus (10 Arten, z. B. Cer
Pringlei Wats.), diese Gattung umfaßt die in
Mexiko von Sonora bis Yucatan beheimateten
Riesen; 10) Leptocereus (8 Arten, z. B. Cereus
assurgens Griseb.); il)Eulychnia (4 Arten, z.B.
Eul. breviflora P h i 1.). ; 1 2) Lemaireocereus (2 1 Arten,
z. B. Cer. stellatus Pfeiff.); 13) Erdisia (4 Arten,
z. B. Cereus squarrosus Vaupel); 14) Bergero-
cactus (i Art: Cereus Emoryi Engelm.);
15) Leocereus (3 Arten, z. B. Cer. melanurus K.
Schum.); 16) Wilcoxia (4 Arten, z. B. Cereus
(Echinocereus) tuberosus Pos.); 17) Peniocereus
(i Art: Cer. Greggi Engelm.); 18) Dendrocereus
(i Art: Cer. nudiflorus Engelm.); 19) Machaero-
cereus (2 Arten, z. B. Cereus eruca Brand.);
20) Nyctocereus (5 Arten, z. B. Cer. serpentinus
DC); 21) Brachycereus (i Art: Cer. Thouarsii
Web.); 22) Acanthocereus (7 Arten, z. B. Cereus
peentagonus H a w. , ' C. baxaniensis K a r w.) ;
23) Heliocereus (5 Arten, z. B. Cer. speciosus
Cav.); 24) Trichocereus (19 Arten,, z. B. C. Spa-
chianus Lem.); 25) Jasminocereus (i Art: C.
galapagensis Web.); 26) Harrisia ( 1 7 Arten, z. B.
Cer. tortuosus Forb.); 27) Borzicactus (8 Arten,
z. B. Cer. sepium Db.); 28) Carnegia (i Art:
C. giganteus Engel m.) ; 29) Binghamia (2 Arten,
z. B. Cephalocereus melanostele Vaupel); 30)
Rathbunia (2 Arten, z.B. Cer. sonorensis Runge);
31) Arrojadoa (2 Arten, z. B. Cer. rhodanthus
Gurke); 32) Oreocerus (i Art: Cer. Celsianus
Berger); 33) Facheiroa (1 Art: F. publiflora
Br. u. R.); 34) Cleistocactus (3 Arten, z. B. Cer.
Baumannii Lern.); 35) Zehntnerella (i Art: Z.
squamulosa Br. u. R.); 36) Lophocereus (i Art:
Cer. Schottii Engelm.); 37) Myrtillocactus (4 Ar-
ten, z. B. Cer. geometrizans Mart.); 38) Neorai-
mondia (i Art: Pilocereus macrostibas K. S c h u m.).
Die Hylocereanae zerfallen in die folgenden
Gattungen: i) Hylocereus (18 Arten, z. B. Cactus
triangularis L.); 2) Wilmattea (i Art: Cereus mi-
nutiflorus Vaupel); 3) Selenicereus (16 Arten,
z. B. Cereus grandiflorus Mill.); 4) Mediocactus
(2 Arten, z. B. Cer. setaceus Salm); 5) Deamia
(i Art: Cer. Testudo Karw.); 6) Weberocereus
(3 Arten, z. B. Cer. tunilla Web.); 7) Werckleo-
cereus (2 Arten, z. B. Cer. Tonduzii Web.); 8)
Aporocatus (5 Arten, z. B. Cactus flagelliformis
L.); 9) Strophocactus (i Art: Cer. Wittii K.
Schum.). — Zusammen 267 Arten gegen 176 in
Schumanns Monographie und Nachträgen.
Hiermit schließen die ersten beiden Bände.
Leider ist es mir unmöglich Einzelheiten, so wichtig
sie auch sind, weiter auszuführen. Daß auch die
Kritik Raum zur Betätigung finden wird, ist offen-
bar, z. B. werden manche Synonyme auch bei
weiter Fassung der Spezies nach unseren Begriffen
abzutrennen sein. Auch in der Deutung und Ver-
wendung alter Namen kann man mitunter anderer
Meinung sein. Über den Inhalt des IIL Bandes
werde ich später berichten. Ohne die großzügige
Unterstützung durch das Carnegieinstitut wäre die
Arbeit nicht ausführbar gewesen. Das Institut
und die Verfasser haben sich um die Erforschung
dieser schönen amerikanischen Pflanzenfamilie
große Verdienste erworben.
Die küustliche Parthenogenese des Froscheies.
[Nachdruck verboten.]
Außer der normalen Parthenogenese, die zu-
erst 1 762 von dem Genfer Naturforscher B o n n e t
bei der Blattlaus beobachtet wurde, kennt man
jetzt durch die experimentell-biologischen For-
schungen der letzten Jahrzehnte noch eine künst-
liche. Von künstlicher Parthenogenese spricht
man, wenn reife, unbefruchtete Eier, die normaler-
weise ihre Entwicklung nur durch das Eindringen
eines Spermiums beginnen, durch chemische oder
physikalische Mittel zur Entwicklung gebracht
werden.
Die ersten Untersuchungen über die künstliche
Von Hermann Voß.
Parthenogenese wurden 1886 von Tichomiroff)
an den Eiern des Seidenspinners (Bombyx mori)
gemacht, von denen ein Teil sich parthenogene-
tisch entwickeln kann, der größere Teil aber der
Befruchtung bedarf. Durch Anwendung eines
mechanischen — Reiben der Eier mit einer Bürste
— oder chemischen Reizes — Eintauchen der
Eier in Schwefelsäure — versuchte Tichomi-
roff den Prozentsatz der sich parthenogenetisch
') Tichomiroff, Die künstliche Parthenogenesis bei
Insekten. Arch. f. An. u. Pbys. iS86.
N. F. XX. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
357
entwickelnden Eier zu vergrößern. Es folgten
dann die genialen Experimente. J. Loebs,') der
durch chemisch-physikalische Reize die Entwick-
lung unbefruchteter Echinideneier bis zum Pluteus-
stadium und darüber hinaus anzuregen vermochte.
Auch bei anderen Tierklassen wurde die künst-
liche Parthenogenese mit mehr oder weniger Er-
folg versucht. Bei den Wirbeltieren, und zwar
beim Haushuhn, wurde der erste Versuch einer
künstlichen Parthenogenese von D. Barfurth")
(189s) gemacht. Die Keimscheibe virginaler Eier
vom Haushuhn wurde mit einer Stahlnadel ange-
stochen und dann künstlich bebrütet. Barfurth
erzielte aber damit nur eine „Fragmentierung des
Dotters", die er auf Gerinnung oder Wasserver-
lust zurückführte. Bessere Erfolge hatte der fran-
zösische Forscher Bataillon, als er im Jahre
1910 diese IVIethode Barfurths bei Amphibien-
eiern, und zwar bei denen des Landfrosches
(Rana fusca) in Anwendung brachte. Bataillon'')
entnahm reife, unbefruchtete Eier dem Uterus eines
in Copula befindlichen Weibchens und stach sie
mit einer feinen Glas- oder Platinnadel von 30 bis
80 fi Dicke an. IWit dieser einfachen IVIethode
gelang es B a t a i 1 1 o n nicht nur, die Entwicklung
der Eier in Gang zu bringen, sondern sogar frei-
schwimmenden Kaulquappen aus solchen ange-
stochenen Eiern zu züchten.
Dieses, zunächst so unglaublich erscheinende
Resultat Bataillons wurde in den nächsten
Jahren von einer ganzen Reihe von Forschern
bestätigt. Ich will hier nur die Namen derselben
anführen, ohne auf ihre Untersuchungen im einzelnen
einzugehen: Brächet,*) Mac Clendon,*) De-
horne,*) Henneguy,") Herlant,*) Levy*)
und J. Loeb und Bancroft.*"),
Auch ich selber") habe im Jahre 19 16 auf
Veranlassung meines Lehrers, Geheimrat Barfurth,
') J. Loeb, Die chemische Entwicklungserregung des
tierischen Eies. Berlin 1909, Springer.
-) D. Barfurth, Versuche über die parthenogenetische
Furchung des Hühnereies. Arch. f. Entw.-Mechanik Bd. 11, 1895.
^) Bataillon, L'embryogenese complcte provoquee
chez les .\mphibicns par piqüre de l'oeuf vierge de Rana
fusca. Compt. rendus de l'Acad. de Sc. Paris T. 150, 19 10.
*) Brächet, Les localisations germinales dans l'oeuf
parthenogenetique de Rana fusca. Arch. de Biologie Bd. 26,
1911.
') Mac Clendon, Artificial parthenogenesis in verte-
brates. Americ. Journ. of Physiology Bd. 29, 1912.
*) Dehorne, Le nombre des chromosomes chez les
Batraciens et chez les larves parthcnogenctiques de Grenouille.
Compt. rend. de l'Acad. d. Sc. Bd. 150, Paris 1910.
') Henneguy, Sur la Parthenogenese experimcntalc
chez les Amphibiens. Compt. rend. de l'.^cad. d. Sciences
Bd. 152, 1911.
*) Herlant, Etüde sur les bases cytologiques du meca-
nisme de la Parthenogenese experimentale chez les Amphibiens.
Archives de Biologie Bd. 28, 1913.
') Levy, Über künstliche Entwicklungserregung bei
Amphibien. Arch. f. mikr. Anatomie Bd. 82, 1913.
">) J. Loeb und Bancroft, The Sex of a Partheno-
genetic Tadpole and Frog. Journal of exper. Zoology Bd. 14,
1913-
") Voß, Die experimentelle Herstellung von partheno-
genetischen Froschlarven durch Anstich des Eies mit einer
Glasnadel. Dissertation. Rostock 1919.
mich mit Bataillon sehen Anstichversuchen be-
schäftigt und durch Wiederholung derselben in
jedem F'rühjahr einige Erfahrungen über die
Methode und die Ergebnisse solcher Versuche ge-
wonnen.
Noch mehr fast als die Tatsache der weit-
gehenden parthenogenetischen Entwicklung eines
Wirbeltiereies muß die Einfachheit der Methode
in Erstaunen setzen. Nichts von komplizierten
chemischen Lösungen, wie sie Loeb anwandte,
oder von elektrischen Strömen, mit denen man
auch bisweilen eine parthenogenetische Entwick-
lung in Gang bringen konnte; nur eine leichte
Verletzung des Eies mit einer recht feinen Glas-
nadel, und die Entwicklung kann in den günstig-
sten Fällen zu Stadien führen, die mit den anderen
erwähnten Methoden kaum erreicht werden!
Da ist es nun sicherlich von Interesse zu er-
fahren, wie Bataillon auf die Idee kam, daß ein
einfacher Anstich mit einer feinen Nadel genügen
müsse, um die Entwicklung eines unbefruchteten
Froscheies zu bewirken, denn — um das gleich
mit den eigenen Worten Bataillons vorauszu-
schicken — „diese Versuche wurden nicht auf
gut Glück gemacht".
Bataillon hatte die Eier von Bufo calamita
mit Spermien von Triton alpestris befruchtet und
gefunden, daß eine Entwicklung der mit dem art-
fremden Sperma befruchteten Eier eintritt, ohne
daß es zu einer Vereinigung der beiden Kerne,
des Ei- und des Samenkernes, kommt. Bataillon
schloß nun aus dieser Tatsache, daß also nur die
rein mechanische Wirkung des in das Ei ein-
dringenden Spermiums die Ursache für den Be-
ginn der Entwicklung sei, und daß man dann
diese Wirkung des Spermiums durch ein An-
stechen mit einer möglichst feinen Nadel müsse
ersetzen können. „Das Resultat war erstaunlicher
als ich erwartete, da ich nur an eine beschränkte
Furchung gedacht hatte" (Bataillon).
Die Technik solcher Bataillonscher „An-
stichversuche" ist bis auf die Herstellung von
Glasnadeln mit genügend feiner Spitze recht ein-
fach, und ich will sie hier ganz kurz angeben.
Trennung eines in Kopulation befindlichen
Froschpärchens. Bestreichen des Weibchens mit
desinfizierenden Flüssigkeiten (Jodtinktur oder
Sublimat) an der Bauchseite und in der Umgebung
der Kloake, um alle ihm etwa anhaftenden Spermien
abzutöten. Decapitieren. Eröffnung der Bauch-
höhle und des Uterus mit sterilisierten Instrumenten
(durch Erhitzen 1).
Herausnehmen der Eier mit einem Hornlöfifel-
chen und Verteilen derselben auf einem Objekt-
träger. Anstich mit einer 10 — 20 j.i dicken Glas-
nadel und Einlegen der Objektträger in mit Was-
ser gefüllte Glasschälchen.
Wie verhalten sich nun solche „angestochene"
Eier ? Zunächst fast ganz so wie normalbefruchtete.
Jedes von der Nadel verletzte Ei beginnt sich zu
entwickeln; nach ^/, — 1 Stunde haben alle Eier
den hellen Pol nach unten gedreht und nach
358
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 24
372 — 4 Stunden tritt, wie auch bei den Kontroll-
eiern, die erste Furche auf, aber nur bei einem
Teil der Eier. Die anderen furchen sich später
oder auch gar nicht.
Hier beginnt sich nun also schon ein wesent-
licher Unterschied zwischen parthenogenetisch sich
entwickelnden uhd befruchteten Eiern bemerkbar
zu machen; denn befruchtete Eier erreichen im-
mer alle gleichzeitig das 2-, 4-, 8-Zellenstadium.
Aber die Furchung verläuft bei den angestochenen
Eiern nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich un-
regelmäßig. Es treten Teilungen in 3 Elastomeren
oder ganz unregelmäßig verlaufende Furchen, sog.
„Barockfurchungen" auf.
Ferner ist zu erwähnen, daß einige Zeit nach
dem Anstich aus der Anstichstelle eine mehr oder
minder große Masse des Eiinhaltes austritt und
das „Extraovat" bildet, welches zuerst von W. R o u x
bei seinen entwicklungsmechanischen Versuchen
beobachtet wurde.
Form und Größe des Extraovates ist, wie ich
festgestellt habe, von der Dicke der zum Anstich
verwandten Glasnadel abhängig. Bei den feinen
Nadeln von 10 ti Dicke, wie ich sie in meinen
letzten Versuchen immer benutzte, ist es so un-
bedeutend, daß es die Entwicklung der Eier wohl
kaum in dem Grade stören dürfte, wie man bis-
her angenommen hat.
Wenn wir nun in der Schilderung des Ent-
wicklungsganges der Ansticheier fortfahren, so ist
weiter zu sagen , daß es bei den Eiern in den
verschiedensten Stadien der Entwicklung zu einem
Stillstand derselben kommt.
Nur wenige Prozent bilden sich bis zur Morula
aus ; der kritischste Punkt aber ist die Gastrulation.
Nur wenige von Hunderten von Eiern überstehen
sie und werden zur Neurula. Von diesen sind
dann noch die meisten mißgebildet und gehen
bald zugrunde. Auf tausend Eier habe ich bei
meinen Untersuchungen in den Jahren 1916 — 19
durchschnittlich 4 freischwimmende Froschlarven
erzielt. Es ist mir aber nie gelungen, eins dieser
Tierchen bis zur Metamorphose und darüber hin-
aus aufzuziehen. Alle bekamen nach einigen
Wochen eine immer stärker werdende Auftreibung
des Bauches, eine Art „Bauchwassersucht", an der
sie dann rettungslos zugrunde gingen.
Daß es aber möglich ist, richtige Fröschchen
aus angestochenen Eiern zu gewinnen, ist durch
F". Levy und durch die amerikanischen Forscher
J. Loeb und Bancr oft bewiesen worden. Levy
gibt in seiner oben erwähnten Arbeit eine gute
Abbildung von einem parthenogenetischen Frosch,
der die Metamorphose überstanden hat. Inter-
essant ist die Tatsache, die auch aus der erwähnten
Abbildung deuthch hervorgeht, daß dieses Tier-
chen nur halb so groß ist wie das gleichaltrige
Kontrolltier.
Es hängt dies ohne Zweifel damit zusammen,
daß diese parthenogenetischen Tiere ja nur aus
einer Zelle, nämlich der Eizelle, entstanden sind,
und daß infolgedessen die Chromosomenzahl, —
und als F"olge davon — die Größe jeder einzelnen
Zelle nur die Hälfte von der bei normalen Tieren
beträgt.
Von großer Bedeutung ist es ferner, das Ge-
schlecht solcher parthenogenetischer Frösche fest-
zustellen, da in diesem Falle ja der vielleicht ge-
schlechtsbestimmende Einfluß der männlichen
Samenzelle fortfällt. Soweit mir bekannt, liegt
darüber bisher nur eine einzige Angabe vor.
Loeb und Bancr oft haben 191 3 das Geschlecht
eines bis zur Metamorphose aufgezogenen Frosches
als weiblich bezeichnet.
Soviel über das Schicksal eines „angestochenen"
Froscheies! Zum Schluß möchte ich nun noch
kurz auf einige weitere bedeutungsvolle Tatsachen
hinweisen , die Bataillon bei seinen späteren
Anstichversuchen festgestellt hat.
Bataillon beobachtete, daß Eier, die bei der
Herausnahme aus dem Uterus zufällig mit Blut
oder Lymphe benetzt wurden, eine weit bessere
Entwicklung zeigten als solche, bei denen dies
nicht der Fall war. Er stellte nun systematische
Versuche in folgender Weise an. Ein Teil der
Eier eines Weibchens wird vor dem Anstich mit
Blut bestrichen, ein anderer Teil desselben Tieres
nicht.
Es ergab sich nun, daß der Teil der Eier, der
mit Blut bestrichen war, regelmäßig eine weit
bessere Entwicklung zeigte als der andere. Bei
letzterem kam es niemals zu einer so weitgehen-
den Entwicklung wie wir sie oben beschrieben
haben.
Will man also aus angestochenen Eiern Frosch-
larven gewinnen, so ist es geradezu eine P'orde-
rung der Technik, die Eier vorher mit Blut oder
anderen organischen Substraten, die zelluläre Ele-
mente enthalten, zu bestreichen.
Diesen wichtigen Faktor der künstlichen Par-
thenogenese des Froscheies durch Anstich bezeich-
nete Bataillon als „inoculation", da nach seiner
Meinung beim Anstich mit der Spitze der Nadel
irgendwelche Zellen oder Zelltrümmer in das
Innere des Eies hineingerissen, „eingeimpft" wer-
den, die dann eine günstige Einwirkung auf die
künstlich hervorgerufene Entwicklung des Eies
entfalten.
In weiteren Versuchen ') konnte Bataillon
feststellen, daß nicht nur arteigene, sondern auch
artfremde Organsubstanzen, z. B. Blut anderer
Amphibien, Blut des Meerschweinchens, Organbreie
von Milz und Hoden der Ratte oder des Meer-
schweinchens, und ferner auch abgetötetes Sperma
vom Karpfen auf angestochene Froscheier, die-
selbe, die Entwicklung verbessernde Wirkung
haben. Das Wesentliche in allen diesen eben
erwähnten Substanzen sind die zellulären Elemente,
denn, wie schon Bataillon festgestellt hat und
') Bataillon, L'cmbryogenese provoquee chez l'oeuf
vierge d'Amphibiens par inoculation de sang on de sperme
de Mammifere. Compt. rend. de l'Acad. d. Sc. 1911, Bd. 152.
N. F. XX. Nr. 24
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
359
ich es im vorigen Frühjahr bestätigen konnte, sind
die zellfreien Extrakte von Organen und auch das
Blutserum in dieser Beziehung wirkungslos.
Man muß sich also mit Bataillon vorstellen,
daß beim Anstich aus diesen organischen Sub-
straten Zellteile mit der Glasnadel ins Innere des
Eies hineinbefördert werden und daß diese ge-
formten Elemente Substanzen enthalten, deren
Einwirkung auf das Ei eine bessere Entwicklung
derselben bedingt. Welcher Art nun diese be-
treffenden Substanzen sind, darüber kann man
Tatsächliches noch nicht vorbringen, und auf die
darüber aufgestellten Hypothesen will ich hier
nicht weiter eingehen, sondern nur ganz kurz er-
wähnen, daß es sich m. E. hier um Fermente
handelt.
Jedenfalls verdienen diese sonderbaren Tat-
sachen eine weitere Durchforschung und Ergrün-
dung.
Sollte es mir gelungen sein, den Leser durch
diese kurzen, skizzenhaften Ausführungen auf eins
der interessantesten Gebiete der experimentellen
Biologie — das es verdiente, auch bei uns in
Deutschland mehr als bisher beachtet zu werden
— aufmerksam zu machen, so ist der Zweck
dieser Zeilen erfüllt.
Bücherbesprechungen.
Donath, Prof. Ed. und Lissner, Dr. A., Kohle
und Erdöl. (Sammlung chemischer und che-
misch-technischer Vorträge XXVI, 2/4.) Stutt-
gart 1920, Ferdinand Enke.
Der schlichte Titel kennzeichnet bei weitem
nicht die Fülle des in diesem Buche der bekannten
Sammlung Gebotenen. Auf 108 Seiten werden
darin behandelt: „Die Entstehung und chemische
Beschaffenheit von Kohle und Erdöl", sodann in
eingehender und vorzüglich unterrichtender Art
„Die Gewinnung von Erdölprodukten aus Kohlen,
deren Eigenschaften und technische Verwertung".
Im ersten, mehr wissenschaftlichen Absichten
dienenden Abschnitt wird der Werdegang beider,
für unser Wirtschaftsleben so unendlich wertvollen
Stofte geschildert, wobei, der Natur der Verf. ent-
sprechend, die Theorie Potonies der Kohleent-
stehung abgelehnt wird, statt dessen man die
wesentlichen chemischen Unterschiede der ver-
schiedenen Kohlearten betont findet. Noch wert-
voller erscheint mir der mehr technologisch
gehaltene zweite Teil, der eine erschöpfende
Übersicht über die derzeit vorliegenden Arbeiten
zur Tieftemperaturverkokung, zur Ver-
flüssigung der Kohle und zu ihrer rationellsten
Verwertung bringt. iVIan muß von Herzen wün-
schen, daß alle, die in irgendeiner Weise mit der
Verwertung der Kohle, eines unserer kostbarsten
Rohstoffe, zu tun haben, der Frage der zweck-
mäßigsten und volkswirtschaftlich ertragsreichsten
Ausnutzung der Rohkohlen ihr ganzes Bemühen
widmen möchten 1 Kommt es für Deutschland
doch mehr denn je darauf an, mit eigenen Mitteln
Höchstes zu leisten, um dem wirtschaftlichen
Erdrosselungsbestreben unserer Feinde erfolgreich
zu begegnen. Einer der Wege hierzu ist die
neuartige Kohleverwertung, die gestattet, unbe-
schadet der sonstigen Verwendung der Kohle als
Heizmittel, uns mit Benzol, Benzinen, Schmierölen
und anderen bisher nur vom Auslande erhältlichen
Stoffen zu versorgen. Donaths Buch ist gerade
darum so wertvoll und zu empfehlen, weil es eine
Übersicht gibt über die wissenschaftlich gesicher-
ten Möglichkeiten bei der Verfolgung der ange-
deuteten Ziele. Chemie und Technologie der
Kohleverwertung sind in gleich guter und klarer
Weise, z. T. durch instruktive Abbildungen unter-
stützt, dargestellt. (Nicht ganz klar bleibt ledig-
lich der Einfluß der Teerentziehung auf den Wert
des Generatorgases für den Martinofenbetrieb
S. 66/67.) Wi"" besitzen also in dem vorliegenden
Buche den Führer in diesem Teil des Wieder-
aufbauplanes der deutschen Wirtschaft, zugleich
einen sehr ansehnlichen Beitrag zur angewandten
Naturwissenschaft.
Durch Zusammenstellung der Fußnoten und
Literaturhinweise an den Schluß ist die Lesbar-
keit unverkennbar erhöht. Der Druck ist ausge-
zeichnet. — Ein sinnstörender Fehler findet sich
S. 29, 13 V. o. : es muß heißen „mehrringiger".
Berichterstatter wünscht dem Buche weitest-
gehende Verbreitung! H. Heller.
Herz, Prof. Dr. W., Leitfaden der theore-
tischen Chemie. 2. durchgesehene und
vermehrte Auflage. Mit 32 Textabbildungen.
Stuttgart 1920, Ferdinand Enke.
Das Buch kann als „kleiner N e r n s t" be-
zeichnet werden; stellt es doch in der Tat einen
selbständigen und geschickten Auszug aus dem
größeren Werke dar, der im Gegensatz zu diesem
vom Durchschnittschemiker wirklich „ohne
Schwierigkeit gelesen werden kann". EinNacli
teil scheint mir nur aus dem N ernst übernom
men worden zu sein: daß nämlich die Thermo
dynamik, wenn auch kurz genug, an den An
fang gestellt wurde. Erfahrungsgemäß pfleg'
dieser Umstand den Schüler nicht einzuladen
Dazu kommt die wegen der absichtlich fehlenden
mathematischen Ableitung negative Prädizierung
des dritten Hauptsatzes, der dadurch nicht ganz
plausibel erscheint. Sehr störend ist auch, daß in
den meisten Fällen „Körper" statt „Stoff" gesagt
wird; eine erhebliche Unklarheit in der Begriffs-
bildung I Des weiteren ist die Definition der
„Lösung" S. 8 einfach unmöglich. — Auch ohne
die Theorie der. Isotopen ist es nicht richtig zu
sagen, die Atome seien „vollständig gleich" (S. 10).
36o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 24
Es dürfte sich auch empfehlen, die „reale Existenz"
der Atome vor den logischen Extrapolationen
darauf wenigstens grundsätzlich abzuhandeln (S. 12).
— Van der Waals' Theorie wird ebenfalls
besser im Anschluß an S. 18 gebracht. — S. 42
fehlt das Maß für die Kompressibilität. — S. 88
ist ein veralteter Wert für die Beweglichkeit des
Wasserstofifions eingesetzt.
Diese Anmerkungen sollen keineswegs gegen
das Buch im ganzen sprechen. Nur scheint es
mir, als seien die grundlegenden Begriffe
und Vorstellungen nicht immer mit der nötigen
Sorgfalt und Schärfe zum Ausdruck gebracht. Im
übrigen ist es einfach mustergültig, wie der
Verf. es verstanden hat, mit einem sehr be-
scheidenen Aufwand an höherer Mathematik selbst
schwierige Beziehungen darzulegen. Vorzüglich
sind auch, im Gegensatz zum „Nernst" die
Kapitel über Kolloidchemie und über den Atom-
bau auf Grund der Röntgen- und der Radio-
aktivitätsforschung. Betone ich noch, daß das
Ganze in einem schlichten, immer klaren Stil ge-
schrieben ist, so ist es berechtigt, das Buch allen
denen angelegentlich zu empfehlen, die sich über
irgendein Kapitel der theoretischen Chemie rasch
und so unterrichten wollen, daß ihnen ein Ein-
dringen in Teilprobleme möglich ist. Dem letzten
Zweck dient die reichliche Angabe von Autoren-
namen.
Erwünscht scheint dem Berichterstatter eine
noch größere Anwendung schematischer Abbil-
dungen, so z. B. beim Kapitel „Lösungsdruck"
usw. Und etwas Stilistisches : warum ist an dem
alten sprachwidrigen Wort „Anomalie" bzw.
„anomal" hängen geblieben? Der Gegensatz
zu „normal" ist doch wohl zweifellos „a- nor-
mal" ? H. Heller.
Sohns, Franz, Unsere Pflanzen. Ihre
Namenerklärung und ihreStellung in
der Mythologie und im Volksaber-
glauben. 6. Aufl. 218 S. Leipzig und Berlin
1920, B. G. Teubner. Geb. 16 M.
Man darf wohl behaupten, daß auf wenig Ge-
bieten der Volkskunde soviel Unrichtiges, Unbe-
wiesenes und Unbeweisbares geschrieben wird,
wie auf dem Gebiet der volkskundlichen (folk-
loristischen) Botanik. Zusammenfassende Dar-
stellungen auf diesem Gebiet, die auf wirklich zu-
verlässige Quellen zurückgehen und sie mit Kritik
ausschöpfen, gibt es nicht. Auch Sohns' Buch
macht hier keine Ausnahme, was bei seiner großen
Verbreitung gerade in Lehrerkreisen sehr zu be-
dauern ist. Auf diese Weise werden die Irrtümer
statt zu verschwinden immer wieder aufgewärmt.
In der vorliegenden 6. Auflage sind zwar eine
Reihe von Irrtümern, die der Ref. s. Z. bei einer
Besprechung der 5. Auflage (Mitt. zur Gesch. der
Medizin und der Naturwissensch. 12 [1912], 43 f)
namhaft machte, verbessert, immerhin enthält das
Buch deren noch eine ganze Menge. Daß dem
Gotte Donar „so ziemlich alle Pflanzen und Tiere
heilig waren, deren Äußeres gelblich-rote Färbung
trägt" (S. 176), ist völlig unerwiesen. Ganz gewiß
trifft es nicht zu für den aus Asien stammenden
Bocksdorn (Lycium), der den Germanen sicher
unbekannt war. Die Erklärung, daß der Bocks-
dorn wegen der roten Blüten und Früchte dem
Donar „geweiht" war, daß an die Stelle des
Donars dann der Teufel trat (daher soll der Strauch
den Namen „Teufelszwirn" führen) und daß der
Bocksdorn nach dem Bocke, dem Tiere des Donar
(Teufel), benannt wurde, klingt ja dem Uneinge-
weihten recht hübsch, ist aber nicht richtig.
Bocksdorn dürfte aus Buchsdorn wie Lycium bei
Tabernaemontanus (Kräuterbuch 1731, 1463) heißt,
entstanden sein, hat also wohl mit Bock über-
haupt nichts zu tun. Die Bezeichnung Gundel-
kraut für den Quendel hat nichts mit ahd. gund
^ Eiter zu tun, sondern ist eine Verdeutschung
des griech.-lat. cunila. Die geographischen Be-
zeichnungen sind meist recht unzuverlässig, weil
eben der Verf seine Quellen nicht kritisch be-
trachtet. Das Inhaltsverzeichnis ist nicht zuver-
lässig wie einige Stichproben (Godeskraut, Süß-
holz) ergaben. Immerhin muß zugegeben wer-
den, daß das Buch von den vorhandenen Dar-
stellungen des Stoffes verhältnismäßig am besten
unterrichtet und daß die Darstellung eine flüssige
ist Dr. Marzell, Gunzenhausen.
De Haas, Rudolf, Im Schatten afrikani-
scher Jäger. Bilder aus den Steppen am
Kilimandscharo. Berlin 192 1, Scherl.
Ein feinsinniger Naturbeobachter erzählt in
diesem Buche von den ostafrikanischen Steppen
und ihrem Tierleben. Er führt den Leser durch
das Pori, die mit seltsam geformten Euphorbien,
Mimosen, eigenartigen Leberwurstbäumen usw.
bestandene Wildnis, und dann in die baumlose
Buga, das schier endlose, völlig übersichtliche
Grasmeer. In wechselreicher Folge ziehen Tier-
und Jagdbilder an uns vorbei, und wir erhalten
überdies Einblicke in das arbeitsreiche Leben der
deutschen Kulturpioniere in dem fernen Lande.
Auf afrikanischem Boden wurde das Buch ge-
schrieben. Wer es liest, wird verstehen, daß die
Schönheit Deutsch -Ostafrikas in den Herzen derer,
die es kennen, unvergänglich weiterlebt.
H. Fehlinger.
Inhalt: A. Berger, Über die Geschichte und die neuesten Fortschritte der Kenntnis der Kakteen. S. 353. H. Vofi,
Die künstliche Parthenogenese des Froscheies. S. 356. — Bücherbesprechungen: Ed. Donath und A. Lissner,
Kohle und Erdöl. S. 359. W. Herz, Leitfaden "der theoretischen Chemie. S. 359. Fr. Sohns, Unsere Pflanzen.
Ihre Namenerklärung und ihre Stellung in der Mythologie und im Volksaberglauben. S. 360. R. De Haas, Im
Schatten afrikanischer Jäger. S. 360.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der g;anxeo Reihe 36. Bood.
Sonntag, den 19. Juni 1921.
Nummer ä5.
Empirie und Wirklichkeit
mit besouderer Rücksicht auf die Bezieliiingeu zwischen Physik iiud Biologie.
Ein Beitrag zur naturwissenschaftlichen Theorienbildung.
Von Dr. Adolf Meyer (Göttingen).
[Nachdruck verboten.]
Das Problem der Erfahrung (Empirie) ist
keineswegs identisch mit dem sog. Realitätspro-
blem. Gerade aus der Vermengung und Gleich-
setzung beider Probleme entsteht eine Fülle der
gröbsten erkenntnistheoretischen Irrtümer und
Mißverständnisse. Das zeigte sich mir unlängst
noch wieder in besonders drastischer Weise ge-
legentlich einer wissenschaftlichen Diskussion über
die philosophischen Grundlagen der Relativitäts-
theorie, die kürzlich hier in Göttingen stattfand.
Die Philosophen sprachen von Wirklichkeit und
meinten empirische Dinge und die Physiker spra-
chen von Erfahrung und meinten die Wirklich-
keit. Es sei daher gestattet, im folgenden eine
Klärung dieses für jede naturwissenschaftliche
Theorie so eminent wichtigen Begriffspaares zu
versuchen.
Den logischen Höhepunkt in jeder Naturwissen-
schaft stellt ohne Frage die Bildung einer Theorie
des bestimmt abgegrenzten Gebietes dar. Die
unendliche Fülle der elektromagnetischen und
•optischen Erscheinungen meistert die Maxwell-
sche Theorie, und aller organischen Phänomene
sucht die Biologie heute durch die physiologisch
interpretierte Zelltheorie Herr zu werden. Es
kann gar kein Zweifel bestehen: Die Theorien-
bildung ist die höchste logische Funktion aller
Wissenschaft.
Jede naturwissenschaftliche Theorie aber sagt
irgendetwas aus über wirkliche Dinge und Ver-
hältnisse. Dieses Aussagen ist keineswegs im
Sinne eines „Abbildens" der Wirklichkeit in irgend-
einer Form gemeint. Ob die Naturwissenschaft
die Wirklichkeit beschreibt, um sie abzubilden
oder um sie theoretisch zu beherrschen wie wir
meinen, das ist eine zweite Frage, auf die wir
nacher noch zu sprechen kommen werden. Einst-
weilen wollen wir festhalten: Jede Theorie ist
eine Aussage über Wirkliches. Ja, wir wollen
diesen Satz auch umkehren und definieren:
Naturwissenschaftlich wirklich ist alles
das, was aus richtigen, d. h. sich in das
jeweilige System der Naturwissen-
schaften widerspruchslos einfügenden
naturwissenschaftlichen Theorien rein
logisch erschlossen werden kann. Von
„naturwissenschaftlich"wirklich ist deshalb ge-
sprochen, weil von vornherein jede Übertragung
dieses Wirklichkeitsbegriffes auf inadäquate Gebiete,
wie Ethik oder Kunst, in denen ja auch von
„Wirklichkeit" gehandelt wird, abgewehrt werden
soll. Andererseits soll damit aber auch gesagt
werden, daß für diejenigen Gruppen von Wirk-
lichkeiten, die wir gemeinhin „Natur" nennen,
niemand anders als die Naturwissenschaften zu-
ständig sind. So etwas wie eine „Metaphysik der
Natur", die über Naturwirklichkeit Gültiges aus-
sagen will, ist unmöglich. Soweit sind wir strenge
Positivisten im Sinne von Machs „Antimeta-
physik", ohne uns damit auf Machs Lehre vom
Empirischen, dem, was er „Elemente" oder weni-
ger gut „Empfindungen" nennt, festzulegen. Seine
Ablehnung jeder Metaphysik im Gebiete der
Wissenschaft jedoch teilen wir völlig. Damit ist
aber auch wieder nicht gesagt, daß nun Meta-
physik nicht in anderem Sinne sinnvoll, ja not-
wendig sei. Nur eine Metaphysik der Natur gibt
es nicht. Wohl aber eine „Logik der Natur-
wissenschaft", mit der sich ja das, was Kant
unglücklicherweise „Metaphysik der Natur" genannt
und damit allen im Gebiete der Naturwissenschaft
absolut unberechtigten philosophischen Speku-
lationen (Schelling und seine Schule) einen
Schein von Recht verliehen hat, großenteils deckt.
Gegen die oben gegebene Definition von Wirk-
lichkeit, die wir allen unseren folgenden Erörte-
rungen zugrundelegen wollen, ist wohl zweierlei
eingewendet worden. Zunächst kann man meinen,
eine solche Bindung der Wirklichkeit an den je-
weiligen Zustand des Systems der Naturwissen-
schaft bedeute, daß sie nichts Dauerndes, stets
mit sich Identisches, Eleatisch-Starres, kein „an
sich" sei, sondern etwas ständig Veränderliches,
eine Funktion des Fortschritts der Naturwissen-
schaften. Wir haben darauf weiter nichts zu er-
widern, als daß wir dem völlig zustimmen. In
der Tat, so ist es. Was ich zurzeit von „der
Natur" wissen kann, das sagen mir die Natur-
wissenschaften. Was sie mir nicht sagen können,
das kann mein Verhalten auch weiter nicht be-
einflussen, braucht mich also nicht zu stören.
Noch etwas anzunehmen, was in eleatischer Ge-
mütsruhe als ein „an sich" hinter dem, was wir
zurzeit wissen, throne, ist völHg belanglos. Man
wende hier nicht ein, daß eine solche Auffassung
jeden Fortschritt der Wissenschaften ertöte, der
doch nur daher komme, daß wir eine ideale
Wirklichkeit postulieren, von der die gegenwärtige
Wissenschaft nur ein schwaches Abbild sei, wie
die Schatten in der Höhle Platons von den
wirklichen Gestalten, denen sie zugehören. Allein
so ist es nicht, von einem prinzipiell unerkenn-
302
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
baren X kann mir auch keinerlei Anregung kom-
men. Jeder Fortschritt in den Wissenschaften
beruht auf Dissonanzen von Theorien. Das „ein-
heitliche System der Naturwissenschaften" ist eben
nur idealiter vorhanden. Die verschiedenen Theo-
rien über die verschiedenen „Bereiche der Wirk-
lichkeit" stimmen eben nicht widerspruchslos zu-
sammen, sondern hinterlassen Dissonanzen oder
besser Kontingenzen und Widersprüche, die wir
zu beseitigen bestrebt sind. Daraus allein ent-
springt aller Fortschritt in der Naturerkenntnis. Also
die Wirklichkeit wandelt sich. Was dem
primitiven IVlenschen, der in jedem Bache, in jedem
Baume ein ihm freundlich oder feindlich gesinntes
Wesen sah, wirklich war, das ist ein für allemal
dahin, mögen wir nun, wie Schiller in den
Göttern Griechenlands darüber Trauer empfinden
oder uns dessen freuen. Ein gleiches gilt vom
Ptolemäischen Weltbild oder dem Euklidischen
Raum. Das waren WirkUchkeiten. Solange die
naturwissenschaftlichen Theorien nicht konstant
sind, solange ist es die Wirklichkeit auch nicht.
Das eleatische Weltbild und seine vielen Nach-
fahren sind nur Konstruktionen, die aus dem
Streben stammen, die Kontingenzen der Theorien
zu überwinden, keinesfalls aus einem Vergleich
der Welt an sich mit der der Erscheinungen, d. h.
der jeweiligen Lage der Wissenschaft. Von den
Theorien also müssen wir ausgehen,
wenn wir wissen wollen, was wirklich ist.
Nicht ebenso befreunden können wir uns je-
doch mit dem zweiten Einwand, den man gegen
die von uns verteidigte Auffassung erhoben hat.
Wenn nur das wirklich sei, was die Theorien
aussagen, dann müsse, so meint man, die Wirk-
lichkeit nicht nur veränderlich sein, sie müsse auch
subjektiv sein, da alle Theorien subjektiven Ur-
sprungs seien, ja es müsse deshalb dann vor der
Wissenschaft ja gar keine Wirklichkeit gegeben
haben. Dagegen ist zu sagen : Gewiß ist jede
Theorie subjektiven Ursprungs, weil sie von einem
menschlichen Individuum erfunden ist. Aber das
Was, das darin gedacht wird, das ist alles andere
als „subjektiv". Was ist denn an dem Inhalt der
Maxwell sehen Gleichungen subjektiv ? Offenbar
gar nichts. Und doch ist es eine Theorie. Und
ferner : Wenn wir es für absurd halten, eine Wirk-
lichkeit vor dem Auftreten des Menschen zu
läugnen, so doch nur deshalb, weil unsere gegen-
wärtigen Theorien von der Wirklichkeit es so
verlangen, weil sie uns sagen, daß ein Verständ-
nis der Wirklichkeit bei solcher Annahme un-
möglich ist. Hier spielt der Zeitbegriff hinein.
Wie vorsichtig man in diesen Fragen zu Werke
gehen muß, das mag die bekannte Bemerkung
Einsteins lehren, daß ein Mensch, der sich
tausend Jahre mit Lichtgeschwindigkeit im Welt-
all herumbewegt habe und dann wieder auf seine
alte Stelle auf der Erde zurückkomme, auf dieser
keinen Tag älter geworden sei. Ob es auch in
einer Welt von lauter Steinen „Wirklichkeit" gibt,
das ist für uns eine völlig müßige Frage, da wir
sie einfach nicht entscheiden können. Wohl aber
ist das, was unsere chemischen und mineralogischen
Theorien über unorganische Systeme aussagen,
wirklich. Das ist alles, was wir verlangen können.
Halten wir also fest: Wirklich ist für uns
nur das, was unsere naturwissenschaft-
lichen Theorien inhaltlich aussagen.
Also wohlgemerkt: Nicht die naturwissen-
schaftliche Theorie als solche ist wirklich. Jede
Theorie als solche ist natürlich nur ein objektives,
logisches Gebilde, ein Logisma, wie ich alle
logischen Gegenstände ganz allgemein zu nennen
vorgeschlagen habe,') das unter gewissen Voraus-
setzungen gilt, ebenso wie alle Sätze der Mathe-
matik, die ihrem Wesen nach auch Logismen sind.
Wirklich hingegen ist nur das, was eine natur-
wissenschaftliche Theorie sachhch aussagt.
Zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer
mathematischen Theorie besteht also ein be-
merkenswerter, sachlicher Unterschied. Eine mathe-
matische Theorie muß nie, kann höchstens etwas
über Wirkliches aussagen. Jeder naturwissen-
schaftlichen Theorie ist es dagegen wesentlich,
über Wirkliches Aussagen zu machen. Die ver-
schiedenen Geometrien sind mathematisch alle
gleich richtig, den wirklichen Raum hingegen be-
schreibt jeweils nur eine von ihnen, soweit unsere
Instrumente das zu prüfen gestatten. Früher war
in dieser Beziehung die Euklidische, jetzt ist
die R i e m a n n sehe Geometrie als solche ausge-
zeichnet. Welche einmal in ferner Zukunft diese
Rolle spielen wird, das kann uns solange gleich-
gültig sein, als unsere empirischen Messungen
innerhalb der „erlaubten" Fehlergrenzen mit den
auf Grund der Riemannschen Geometrie er-
rechneten Größen zusammenstimmen. Diese Zu-
sammenstimmung theoretisch errechneter mit
empirisch gemessenen Größen ist keineswegs ein
„Abbilden" im Sinne jener philosophischen Theorien.
Denn die Vergleichung solcher Zahlen, die, da sie
bekanntlich niemals ein genau identisches Ergebnis
liefert, schon deshalb keine Abbildung ist, ge-
schieht keineswegs, um die Natur zu photogra-
phieren, sondern lediglich, um die Brauchbarkeit
einer Theorie für die theoretische (Wissenschaft)
und praktische (Technik) Beherrschung der
Wirklichkeit festzustellen. Das letzte Ziel
aller Naturwissenschaft istja, mit jedem
gewünschten Grade von Genauigkeit
vorausberechnen zu können, welche
und vor allem wie große Veränderungen
irgendein Eingriff — künstlicher oder
natürlicher Art — in einem bestimmten
System hervorruft. Diese Vorausberechnung
kann nur mit dogmatischer Voreingenommenheit
ein Abbilden genannt werden. Der Terminus
„theoretische und praktische Beherrschung" kenn-
zeichnet sie meines Erachtens deutlicher.
') Man vergleiche : „Die mechanistische Idee in der mo-
dernen Naturvpissenschaft". Diese Zeitschrift Jg. J920, Nr. 50.
— Ferner die Einleitung meiner alsbald erscheinenden „Logili
der Biologie".
N. F. XX. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
363
J e d e T h e o r i e ist als solche, das ist nun
wohl definitorisch klar, einLogisma. In solcher
Formulierung kann man dann die rein mathe-
matischen und logischen Theorien dadurch scharf
von den naturwissenschaftlichen scheiden, daß man
sie als einheitliche, d. h. widerspruchlos ineinander
gefügte Komplexe von Theorismen bezeichnet,
während sich die naturwissenschaftlichen
Theorien dann als logischeVerbindungen
— sit venia verbo ! — vonTheorismen und
Empirismen darstellen. Empirismen nenne
■ ich dann alle j ene Mo tive in einer natur-
wissenschaftlichen Theorie, die einmal
logisch unreduzierbar und zum anderen
kontingent sind. Hinsichtlich ihrer logischen
Unreduzierbarkeit stimmen sie mit den Axiomen
überein, die aber nicht auch kontingent, sondern
vielmehr „evident" sind. Ihre exakteste Formu-
lierung haben die Empirismen dann erreicht, wenn
sie in Gestalt von Messungen vorliegen. Ihnen
gegenüber gibt es aber natürlich auch qualitative
Empirismen, wie in den morphologischen Diszi-
plinen der Biologie und in der Psychologie. Auch
hier geht fraglos das Streben dahin, diese morpho-
logischen Empirismen (= Gestalten im Sinne
Köhlers') und der Psychologen) so bald wie
möglich meßbar zu machen (Konstanten), bio-
logisch gesprochen: zu physiologisieren.
Nun erst sind wir in der Lage, die Begriffe
Empirie und Wirklichkeit mit der erforderlichen
Schärfe gegeneinander abzugrenzen. Wirklich
ist alles das, was, wie gesagt, eine natur-
wissenschaftliche Theorie als Ganzes,
als diese besondere logische Verbindung von Em-
pirismen und Theorismen aussagt, Empirie
hingegen bedeutet nur den Komplex
von den jeweiligen Empirismen (oder
das Empirisma), die der bestimmten
Theorie zugrunde liegen. Das Empirische
ist also, lax gesprochen, nur ein, wenn auch sehr
wesentlicher Teil des Wirklichen.
Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse zu-
sammen, so können wir folgendes sagen. Allen
Wissenschaften von der Logik bis zur Soziologie
ist der theoretische Charakter gemeinsam. Die
Theorienbildung ist ihnen allen eigen. Aus
diesem Rahmen heben sich aber zwei verschiedene
Typen von Theorienbildung deutlich ab, die lo-
gisch-mathematische und die naturwissenschaftliche.
Ferner sind nicht alle naturwissenschaftlichen
Theorien logisch vom gleichen Range. Hier treten
vielmehr zwei Untertypen, wie wir noch sehen
werden, deutlich hervor. Wohl aber dürfen wir
von der mathematisch- logischen Theorienbildung
sagen, daß sie überall logisch vom gleichen Range
ist. Von verschiedenen Rangstufen wollen wir
nämlich dann sprechen, wenn wir Theorien bilden,
von denen wir ganz genau wissen, daß sie logisch
genommen noch nicht vollkommen sind, daß sie
') W. Köhler: „Die physischen Gestalten im Raum und
im stationären Zustand". Braunschweig 1920.
nur ein Provisorium darstellen für künftige exakte
Theorien. So sind alle morphologischen Theorien
in der Biologie nur ein Provisorium, das mög-
lichst bald durch physiologisch fundierte Theorien
ersetzt werden muß. Alle Morphologie ist „noch
nicht Physiologie" (Goebel).') Etwas Derartiges
kann man von der logisch-mathematischen Theo-
rienbildung aber nicht sagen. Bewußte logische
Provisoria gibt es hier nicht. Es gibt wohl falsche
Theorien, hier wie überall, aber keine von denen
man schon a priori weiß, daß sie nur ein logisches
Provisorium darstellen. Die neue' „richtige" Theorie
ist hier, logisch genommen, stets vom gleichen
Rang, wie die abgewirtschaftete alte Theorie.
Der naturwissenschaftlichen Theorienbildung
gegenüber ist die logisch-mathematische durch
den Mangel an Empirismen charakterisiert. Sie
vollzieht sich in reinen „Theorismen". Theorismen
sind Axiome, Definitionen, Syllogismen, mathe-
matische Sätze, Zahlen, Hypothesen, Theorien als
solche usw., soweit sie natürlich nicht Benennungen
von Empirismen sind, also alle Logismen, von
denen Dedekinds^) Wort von den „freien
Schöpfungen des menschlichen Geistes" gilt, zu
denen die Empirismen offenbar nicht gehören, die
man zwar auch Schöpfungen des menschlichen
Geistes in einem bestimmten Sinne, aber keines-
wegs freie nennen kann. Die Theorismen unter-
scheiden sich von den Empirismen dadurch, daß
sie nicht kontingent sind. Kontingenz ist ein
logischer Grundbegriff, der daher durch Worte
und Beispiele nur verdeutlicht, nicht definiert
werden kann, da diese zu ihrer erschöpfenden
Definition den Begriff der Kontingenz bereits
voraussetzen. Die Worte „Zufälligkeit", „Faktizi-
tät", „Nichtnotwendigkeit" umschreiben nur sehr
ungenau das Gemeinte. Am nächsten kommt ihm
noch der Begriff der logischen Irreduzibilität.
Aber dieser ist wider für die Kontingenz zu weit,
denn auch rein theoristische Axiome sind irredu-
zibel, ohne doch auch kontingent zu sein. Hier
muß der Begriff der definitorischen Willkürlich-
keit zu Hilfe kommen, der „freien Schöpfung",
wodurch sich die theoristischen Axiome von den
kontingenten scheiden. Empirismen sind nicht
willkürlich definierbar. Kontingenzen gibt es nur
im Gebiet naturwissenschaftlicher Theorienbildung,
der Theorien also, die aus Empirismen und Theo-
rismen sich zusammensetzen, und die ich daher
„komplexe Theorien" nennen möchte. Nun
ist es aber auch nicht so, daß die Begriffe „Em-
pirisma" und „Kontingenz" identisch sind. Hier
ist wieder der Begriff der Kontingenz der um-
fassendere. Zwar kann man von Kontingenzen
nur da reden, wo irgendwie Empirismen im Spiele
sind, nicht aber sind die Kontingenzen an die
Empirismen allein gebunden. Auf diese diffizilen
Dinge werden wir anderen Orts zurückkommen.
') „Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorpholo-
gie". Biolog. Centralbl. Bd. 25, 1905, Nr. 3.
') „Was sind und was sollen die Zahlen?" 3. Aufl.
Braunschweig 191 1. Vorwort.
364
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
Hier genügt es festzuhalten, daß alle Empirismen
auch kontingent sind und daß es im Gebiet der
rein theoristischen Wissenschaften Empirismen
nicht gibt, sondern nur die mit ihnen logisch ver-
wandten Axiome.
In diesem Zusammenhange ist es von Inter-
esse, darauf hinzuweisen, daß Emil Boutroux^)
auch im Gebiete der Logik und Mathematik, der
„apriorisch - deduktiven Disziplinen" also, deren
Theorienbildung wir als rein theoretisch zu cha-
rakterisieren versuchten, Kontingenzen nachweisen
zu können geglaubt hat. Er meint, im Begriffe
des Infinitesimalen, des Unendlichen überhaupt,
jenes logische Novum aufgefunden haben, das es
erst in der Mathematik, aber noch nicht in der
Logik gibt, durch das beide Wissenschaften sich
als gegeneinander kontingent erweisen, das also
prinzipiell verhindert, jemals eine Brücke zwischen
ihnen zu schlagen. Ich glaube nicht, daß dies
Argument, so geeignet es auch sein mag, auf die
in manchem Betracht verschiedene logische Struktur
beider Gebiete aufmerksam zu machen, auf die
Dauer das von Boutroux im Interesse seiner
Metaphysik der Freiheit Gewünschte zu leisten.
Denn gerade die grundlegenden Untersuchungen
Georg Cantors u. a. auf dem Gebiete der
Mengenlehre, die man mit gleichem Recht sowohl
zur Logik wie zur Mathematik rechnen kann,
haben doch die von Boutroux für unmöglich
gehaltene Brücke zwischen beiden Disziplinen ge-
schlagen. Indem die Mengenlehre den Begriff
des Unendlichen aus den Verstrickungen meta-
physischer Antinomien und — trotz Vai hinger
und seiner Schule I ■ — logischer Fiktionen befreit
und zu einem mathematisch brauchbaren Werk-
zeug umgestaltet hat, hat sie ihm zugleich den
Charakter des Kontingenten im Sinne B o u t r o u x's,
d. h. eines keiner weiteren definitorischen Analyse
Fähigen, nun einmal nur hinzunehmenden aus
der Metaphysik der Freiheit geborenen logischen
Novums genommen. Er ist, wie der Zahl- und
Raumbegriff (im Sinne der Metageometrien),
zu einem rein logisch - theoristisch - definierbaren
Instrument der Forschung geworden, dem nichts
Metaphysisches mehr anhaftet, der daher nicht
mehr dazu benutzt werden kann, zwischen Logik
und Mathematik eine Kontingenz aufzurichten.
So steht es mit allem, was ins Gebiet der aprio-
risch-deduktiven Wissenschaften, der reinen Ma-
thematik und Logik, der Wissenschaften von den
Theorismen und reinen Theorismenkombinationen,
des Reichs der „freien Schöpfungen des Geistes",
fällt. Kontingenzen gibt es hier nicht, sondern
höchstens Axiome, die mit den Kontingenzen
zwar die logische Irreduzibilität gemeinsam haben,
sich aber durch ihre definitorische logische Frei-
heit von ihnen wesentlich unterscheiden. Zwar
') „De la contingence des lois de la nature." 4. ed,
Paris igoz. — „De l'idee de loi naturelle dans la science et
la Philosophie contetnporaines." Paris 1895. Beide bedeut-
samen Bücher sind auch in guten Übersetzungen bei E. Die-
derichs in Jena erschienen.
gibt es auch hier Probleme, die auf das Vorhan-
densein von Kontingenzen zu deuten scheinen,
wie ja Boutroux das Unendlichkeitsproblem,
wie wir soeben gesehen haben, auf diese Weise
lösen zu können vermeint hat — ohne solche
Probleme hätte ja die Forschung jeden Anreiz
verloren — , aber es bedeutet in diesen Wissen-
schaften allemal nur eine Scheinlösung, wenn man
sich bei der Feststellung von Kontingenzen und
Fiktionen beruhigt. Hier kann und darf man
nicht eher rasten, als bis man der vermeintlichen
Kontingenzen durch geeignete, „frei geschaffene"
Definitionen und Axiome in logisch völlig befrie-
digender Weise Herr geworden ist. Denn hier
ist absolute Rationalität möglich.
Ganz anders liegen die Dinge im Gebiete der
Naturwissenschaften, der Wissenschaften von den
komplexen Theorien, den Theorismen und Empi-
rismen. Hier gibt es echte Kontingenzen. Zwar
gibt es auch hier apriorisch-logische Deduktionen,
und der Sinn ihrer „Mathematisierung", der „me-
chanistischen Idee", ^) besteht gerade darin , das
Vorkommen solcher apriorisch -deduktiven, von
Mathematik und Logik zu diesem Zweck ausge-
arbeiteten und bereitgestellten Methoden möglichst
zu vermehren. Denn Mathematisierung der Natur-
wissenschaften bedeutet eben dieses : Angleichung
ihrer logischen Struktur an die streng rationale,
apriorisch deduktive, theoristische der Mathematik,
soweit das möglich ist, keineswegs nur eine bloße
Benutzung mathematischer Rechnungsoperationen.
Der Zusatz, „soweit das möglich ist" ist hier be-
sonders wichtig. Denn in so vollendet rationaler
Form, wie in der Mathematik, ist die Mathemati-
sierung der Naturwissenschaft eben nicht mög-
lich. Das verhindern die in allen Empirismen
zum Ausdruck kommenden Kontingenzen. Ein
modernes Beispiel möge das Gemeinte erläutern.
Niemand wird leugnen, daß die Gravitationstheorie
Einsteins einen gewaltigen Fortschritt derjeni-
gen Newtons gegenüber bedeutet, soweit die
Mathematisierung der ganzen Physik in Frage
steht. Ja, man wird die Worte Hilberts, ") daß
es auf diese Weise noch einmal möglich sein
wird, die physikalischen auf mathematische Kon-
stanten zu reduzieren, nicht für überschwänglich
halten, wofern man wenigstens nicht mehr in sie
hineinlegt, als sie besagen wollen, wofern man
nämlich nicht vergißt, daß es sich bei diesen
„mathematischen Konstanten" um geometrische,
und zwar nicht um rein rationale metageometri-
sche, sondern um wirklichkeitsgeometrische, „welt-
geometrische" Konstanten handelt, physikalische
Konstanten also, die in der augenblicklich von
der Wirklichkeit geltenden Riemannschen Geo-
metrie durch Messung ermittelt werden können.
Darüber darf man sich keineswegs täuschen, auch
die Einst einschen Gravitationspotentiale sind
^) Vgl. meine a. a. O. zitierte Arbeit. Diese Zeitschrift
Jahrg. 1920, Nr. 50.
^) Nachrichten von der Ges. d. Wiss. Göttingen. Math,
phys. Kl. Jahrg. 1915.
I
N. F. XX. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
365
physikalische Größen, Empirismen, Messungen,
also Kontingenzen. So wertvolle Anregungen die
Relativitätstheorie der Wissenschaft von
den Theorienbildungen in den Wissenschaften,
der „Wissenschaft von der Wissenschaft" (H u s -
serl,^)) der modernen Logik also, gegeben hat,
man wird ihr doch nur schaden, wenn man ver-
gißt, daß sie eine rein physikalische Theorie ist,
die mit physikalischen Messungen steht und fällt.
Worin besteht nun aber das logisch Wertvolle,
das uns die Relativitätstheorie wenn auch
nicht gerade neu gelehrt, so doch in ganz beson-
ders glänzender Weise wieder bestätigt hat ? Nun
in nichts anderem als darin, daß sie uns aufs
deutlichste die Richtung aufzeigt, die die Verwen-
dung der Empirismen in den Naturwissenschaften,
zunächst in der Physik, nimmt. Es ist näm-
lich unverkennbar, daß in den Natur-
wissenschaften die Tendenz besteht,
mit möglichst wenig Empirismen aus-
zukommen. Darin besteht unverkennbar der
theoretische Fortschritt der Einstein sehen
Physik gegenüber der Galilei- New tonschen,
daß sie im ganzen mit weniger, voneinander u n -
abhängigen Empirismen (physikalischen Kon-
stanten, Messungen) auskommen kann als die alte
klassische Physik, die diese in zwei unvereinbare,
auf besondere und gesonderte Gruppen von Em-
pirismen aufgebaute Teile, die Mechanik und die
Thermodynamik auseinanderriß. Ich glaube, daß
dies Prinzip des Minimalgebrauchs von
voneinander unabhängigen Empirismen
auch das in logisch einwandfreier, also von keiner
pragmatistischen Metaphysik mehr getrübten Form
wiedergibt , was Ernst Mach-) in psycholo-
gistischer Terminologie mit seinem so außerordent-
lich fruchtbaren Prinzip der Denkökonomie
gemeint hat. Also die Entwicklung der
Naturwissenschaften geht dahin, mög-
lichst viele der im System der Natur-
wissenschaften gebrauchten Empiris-
men als voneinander abhängig und da-
durch auch exakt ableitbar aufzuweisen
und möglichst wenig Empirismen zu-
rückzubehalten, die, da sie voneinander
unabhängig sind, als empiristische
Axiome (Messungen) neben den rein
rationalen Axiomen der Logik und Ma-
thematik verwandt werden müssen, um
in aprio risch - deduktiven Thorien —
komplexer Art also — die verschiedenen
Bereiche der Natur beherrschen zu
können.
Ganz ohne Empirismen wird es also in den
Naturwissenschaften nie gehen. Selbst in dem
idealsten Falle, daß es gelänge, alle physischen
Empirismen in einer einzigen „mathematischen
Weltkonstanten" im Sinne Hilberts, die es in
') Vgl- »Logische Untersuchungen" Bd. I, 2. Aufl., 1913
^) Vgl. besonders „Die ökonomische Natur der physi-
kalischen Forschung". Populärwiss. Vorles. 4. Aufl. Leipzig
1910. Nr. 13.
beschränkten Bereichen wohl geben wird, zusam-
menzufassen, würden wir doch noch ein Empirisma,
eine Messung, vor uns haben. Interessant ist in
diesem Grenzfalle nur, daß unser Empirisma dann,
aber nur dann, seine Kontingenz verloren hat. Es
ist aus einer kontingenten Messung zu einer reinen,
unbenannten Zahl geworden. Denn wie alle
unabhängigen Empirismen in dem Augenblick
ihre Kontingenz verlieren, wo sie sich als ab-
hängig, also von anderen unabhängigen exakt ab-
leitbar erweisen, wie z. B. die Newtonsche
Gravitationskonstante durch einfache mathema-
tische Setzung aus den Einstein sehen ableitbar
ist, so muß auch unser fingiertes allein übrig
bleibendes Universalempirisma inkontingent sein,
da es gestattet, alle nur gewünschten Empirismen
rein rational, also mathematisch-logisch, mit ab-
soluter Genauigkeit aus ihm abzuleiten und da-
mit so souverain wie möglich die Natur zu be-
herrschen. In ihm wäre die definitive Welt-
formel gefunden.
Physik und Biologie.
Versuchen wir nun noch, aus den dargelegten
Anschauungen die Konsequenzen für eine exakte
Formulierung der Beziehungen von Physik und
Biologie zu ziehen, deren Verhältnis bekanntlich
m der verdienstvollen modernen positivistischen
Erkenntnistheorie eine große Rolle spielt.
Mach und ihm nahestehende Philosophen
lehren bekanntlich, daß das letzte Gegebene, die
„Elemente", auf die letztlich alles Wirkliche redu-
ziert werden könne, die „Empfindungen" seien,
wobei natürlich unter Empfindung etwas beträcht-
lich Allgemeineres verstanden wird, als die Psycho-
logie damit meint. Aufgabe aller Wissenschaft
ist es dann, diese letzten elementaren Qualitäten
möglichst „ökonomisch" so zu verknüpfen, daß die
gewonnenen Regeln uns in die Lage setzen, jede
beliebige reale Situation mit jeden gewünschten
Grade von Genauigkeit zu „beschreiben". Das
leisten am besten die „funktionalen" Beziehungen
der Mathematik. Zu diesem Zwecke werden alle
Empfindungen in drei große, relativ selbständige
Gruppen zerlegt, in deren Bearbeitung sich dann
die drei verschiedenen Gruppen von Naturwissen-
schaften teilen. Werden mit ABC . . . alle die-
jenigen Komplexe von Empfindungen bezeichnet,
durch die uns — in gewöhnlicher Terminologie
gesprochen — diejenigen Gegenstände vermittelt
werden, die außer uns sind und unabhängig von
uns wirken, die physische Natur also, so haben
wir in ihnen das Gebiet charakterisiert, dessen
ökonomisch funktionale Bearbeitung Sache der
Physik ist. Außerdem gibt es aber noch zwei
weitere Empfindungskomplexe, abc . . . nämlich
und aßy . . . Die abc . . . sind die wieder relativ
selbständigen Empfindungskomplexe, die unseren
„Leib" konstituieren und aßy endlich diejenigen,
die unser „Seelenleben" zu beschreiben gestatten.
Das alles sind aber keine absolute „Substanzen",
sondern bis zu einem gewissen Grade willkürliche,
366
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
künstHche Scheidungen, Logismen also, die sich
aber für die beherrschende und beschreibende
Bewältigung der Wirklichkeit als sehr „praktisch"
herausgestellt haben, die zudem in den engsten
Beziehungen zueinander stehen. Und zwar stehen
nicht nur aßy ... in Abhängigkeit von abc . . ., was
ja jedem geläufig ist, sondern auch von ABC . . .,
ferner besonders auch abc . . . von ABC . . . usw.
Die Erforschung der Beziehungen von a, b, c . . .
untereinander und zu ABC . . . und aßy ... ist
dann die spezifische Aufgabe der Biologie, während
die Psychologie ihrerseits die Beziehungen der aßy . . .
unter sich und zu abc . . ., sowie auch zu ABC . . .
erforscht. Man sieht, alle drei Gruppen von
Naturwissenschaften durchdringen sich in den
Grenzgebieten auf das innigste.
Diese geniale Konzeption enthält eine Fülle
von Wahrheiten und bedeutsame Anregungen für
jede weitere vergleichend logische Forschung. Be-
sonders treffend charakterisiert sie meines Er-
achtens weite Gebiete der heutigen Biologie und
Psychologie. Der Vorwurf des Sensualismus, den
man ihr oft gemacht, wiegt aber doch wohl zu
leicht. Von Sensualismus kann man doch nur
dann sprechen, wenn man zuvor den Begriff
„Empfindung" in einseitig psychologischer Weise
festgelegt und dann eben alles Sensualismus nennt,
was den Empfindungsbegrifif in anderem Sinne
verwendet. Den Mach sehen Positivismus, der
ausdrücklich einen ganz anderen als nur psycho-
logischen Empfindungsbegrifif verwendet, trifft
man damit nicht. Ziehen') hat daher, weil er
voraussah, daß solche rein terminologische Diffe-
renzen den oberflächlichen Kritikern den Blick
für die Sache trüben würden, vorgeschlagen, gar
nicht von „Empfindungen" oder „Elementen" zu
reden und den von ihm gebildeten neutralen Aus-
druck „Gignomene" zu verwenden. Wenn Ziehen
und vor ihm Avenarius in ihren termino-
logischen Neuschöpfungen auch wohl etwas zu
weitgehen, darin, daß unsere hergebrachte Ter-
minologie in keinem Falle mehr ausreicht, das
logische Rüstzeug der modernen Naturwissen-
schaften zu beschreiben, wird man ihnen unbe-
dingt beipflichten müssen.
Trotzdem ich also die positivistischen Kon-
zeptionen über das Verhältnis von Physik und
Biologie außerordentlich hoch bewerte und sogar
glaube, daß die hier von Mach zum ersten Male
begangene Methode einer vergleichend logischen
Analyse der empirischen Momente unserer natur-
wissenschaftlichen Erkenntnis die allein zum Ziele
führende ist, kann ich doch den gewonnenen Re-
sultaten nicht vollauf zustimmen. Ich meine, daß
sie das Ergebnis eines zwar sehr begreiflichen,
aber doch allzu voreiligen Abschlusses der so
verheißungsvoll begonnenen Analyse sind. Man
wird noch viel vorsichtiger und in weit größerem
Umfange die Theorienbildung in Physik und Bio-
') „Erkenntnistheorie auf psychophysiolog. und physi-
kalischer Grundlage". Jena 191 3.
logie vergleichend logisch analysieren müssen, ehe
man es wagen darf^ bestimmte, für beschränkte
Zeit gültige Schlüsse daraus zu ziehen. Unsere
folgenden, nur noch kurzen Bemerkungen, haben
daher auch noch nicht den Zweck, diese Analyse
für unser derzeitiges naturwissenschafthches Theo-
retisieren zu leisten, sondern nur die Ansatzpunkte
klarer herauszustellen, von denen eine solche künftig
wird mit Aussicht auf Erfolg ausgehen können.
Fragen wir uns zunächst einmal, welche logi-
sche Rolle die Mach sehen „Empfindungen" und
„Elemente" und die „Gignomene" Ziehens im
Aufbau der Wissenschaften spielen, was für
Strukturelemente sie darstellen. Sind es in unserer
Terminologie Empirismen oder Wirklichkeiten ?
Unzweifelhaft sind es Empirismen, denn sie stellen
doch die letzten logisch nicht weiter analysier-
baren Elemente alles Wirklichen dar. Das un-
analysierte Wirkliche enthält also unzweifelhaft
ein Mehr gegenüber den Empirismen, mag das
Mehr auch in weiter nichts als einer spezifischen
Kombination, Komplexheit von Empirismen be-
stehen. Ist aber diese jeweilige besondere Kom-
bination von Empirismen wirklich, dann führt es
zu Widersinnigkeiten, jedes darin vorkommende
Empirisma (Empfindungsdatum nach Mach) in
gleichem Sinne wirklich zu nennen. Es ist doch
erst durch die logische Analyse erschlossen. Aus
dieser Verwechslung der letzten Data der Positi-
visten mit dem Wirklichen sind eine Reihe von
Mißverständnissen des Positivismus entstanden.
Wenn nur Empfindungen und solche Gegenstände,
die unter ganz bestimmten Bedingungen als Emp-
findungen auftreten können, wirklich sind, dann
sind Elektronen, Energiequanten, Atome, manche
Sternsysteme usw., die prinzipiell niemals als
Empfindungen auftreten können, deren Wirklich-
keit nur als Ergebnis richtiger Theorien erschlossen
werden kann, eben nicht wirklich. Tatsächlich
haben sich ja auch manche Positivisten (Ost-
wald) in eigentümlicher Verkennung des eigent-
lich logischen Charakters ihrer Thesen zu solchen
Konsequenzen entschlossen. .Und doch fällt alles
Nebelhafte sofort von diesen Deduktionen, wenn
wir uns einmal darüber klargeworden sind, daß
die Data der Positivisten logisch Empirismen und
keine Wirklichkeiten sind. Atome, Elektronen
usw. verlieren ihren Wirklichkeitscharakter durch-
aus nicht, wenn wir uns mit den Positivisten auf
den Standpunkt stellen, sie nicht für Empirismen
zu halten. Wirklich war ja nach unseren obigen
Ausführungen alles, was aus richtigen Theorien
erschlossen werden kann und muß, während die
Empirismen nur einen bestimmten logischen Teil
jeder Theorie ausmachen. Aber nicht darum sind
die Data der bisherigen Positivisten (Empfindungen,
Elemente, Gignomene usw.) falsch, weil sie offen-
bare Wirklichkeiten nicht als — Empirismen an-
erkennen können, sondern weil sie nicht die ihnen
in der modernen naturwissenschaftlichen Theorien-
bildung zugedachte Rolle als Empirismen spielen
können.
N. F. XX. Nr. 2q
Naturwissenschaftliche Woclienschrift.
367
Prüfen wir, um das zu erhärten, nun noch
kurz einige wirkliche Empirismen der Physik
und Biologie daraufhin, ob sie mit den positivisti-
schen Daten übereinstimmen. Zunächst in der
Physik. Es ist gar kein Zweifel möglich da-
rüber, daß die Empirismen der Physik
Messungen sind. Darin hat Planck') unbe-
dingt Recht. Auf Messungen beruht letzten Endes
das gesamte Gebäude der experimentellen und
theoretischen Physik. Der Gang jeder Theorien-
bildung in der modernen Physik ist doch kurz
dieser: Die Aufgabe ist, einen bestimmten
physikalischen Erscheinungskomplex „aufzuklären",
d. h. nach unserer Meinung, ihn unter Einführung
möglichst wenig neuer Kontingenzen so zu be-
schreiben, daß seine universale theoretische und
praktische Beherrschung möglich ist. Zu diesem
Zwecke wird dann eine Hypothese ersonnen,
die nach Lage der Dinge imstande sein könnte,
das Gewünschte zu leisten. Aus dieser Hypothese
werden dann rechnerisch bestimmte, sich in exakten
Zahlen darstellende Konsequenzen ermittelt, deren
Messung experimentell möglich ist. Stimmt dann
die errechnete Maßzahl mit der wirklich gemesse-
nen in den erlaubten Fehlergrenzen überein, so
gilt die Hypothese als verifiziert, d. h. sie hat den
logischen Rang einer Theorie des betreffen-
den Gebietes errungen. Wirklich heißt dann
nach unserer Logik der durch die betreffende
Theorie beschriebene Sachverhalt, keinesfalls die
einzelne Messung. Diese ist vielmehr das
Empirisma, auf das die Theorie sich
stützt. Ein Empirisma rein für sich
betrachtet ist gar nichts, es gewinnt
logischen Sinn erst im Hinblick auf die
Theorie, zu der es gehört. Aber, so wer-
den nun vielleicht die Positivisten Mach scher
Richtung erwidern, das bestätigt ja vollauf unsere
Lehre von den Empfindungen als den letzten
„Empirismen"; denn was ist eine physikalische
Messung anders als eine Empfindung, zumeist
eine optische? In der Tat, diese Konsequenz er-
scheint auf den ersten Blick ebenso bestechend,
wie unausweichlich. Und doch ist sie falsch.
Denn die Rolle des.Empirismas spielt in
unserem Falle die gemessene Zahl. Die Ge-
sichtsempfindung hat nur die völlig nebensächliche
Aufgabe, ihre Übereinstimmung mit der errech-
neten festzustellen. Wie gleichgültig sie dabei
ist, das erhellt schon daraus, daß man von ihr
den denkbar sparsamsten Gebrauch macht, weil
man ihre Unzuverlässigkeit kennt, weshalb man
die Apparatur so baut, daß die Fehlerquellen der
Empfindung so weitgehend wie möglich ausge-
schaltet sind, und weshalb man das Ergebnis
durch möglichst viele Augen feststellen läßt, um
auch hier alles Individuelle möglichst durch das
Normale zu überwinden. Man sieht, die Emp-
findung spielt hierbei eine ganz untergeordnete
Rolle. Wären Traummitteilungen ein physikalisch
anerkanntes Kontrollmittel, man würde sich die
Übereinstimmung beider Zahlen, um die Empfin-
dung zu meiden, noch lieber durch eine Traum-
mitteilung bestätigen lassen. Es bleibt dabei:
In der Theorienbildung der heutigen
Physik spielt nicht die Empfindung,
sondern die Messung die Rolle des
Empirisma s.
Welche Rolle spielen die Empirismen nun in
der Biologie? Lassen sich die positivistischen
Thesen hier vielleicht mit größerem Recht be-
haupten, als in ihrem Ursprungsland, der Physik?
In der Tat scheint es so. Die Arbeiten vieler
ausgezeichneter Forscher, wie Verworn, Jen-
sen, Ziehen, auch Winterstein scheinen
dahin zu zielen. ') Ja , man kann Avenarius
System geradezu als einen grandiosen Versuch
deuten, Physik und Psychologie hinsichtlich ihres
Theoretisierens von der Physiologie her anzu-
packen. Auch das Ökonomieprinzip Machs ent-
hält ein bedeutsames biologisches Motiv. Gleich-
wohl ist es ein verfehltes Beginnen, die biologi-
schen Wissenschaften logisch über einen Kamm
zu scheren. Das Theoretisieren in der Biologie
läßt sich noch nicht auf einen einzigen General-
nenner bringen wie in der Physik. Die verschie-
denen biologischen Wissenschaften, wie Physio-
logie und Entwicklungsmechanik, die morphologi-
schen und systematischen Disziplinen sind logisch
von zu verschiedener Struktur. Die einen nähern
sich der Physik, während die andern noch meilen-
weit davon entfernt sind und noch tief in histo-
rischer Logik, ') dem Gegenpol der mathemati-
schen, stecken. Infolgedessen sind auch die von
den verschiedenen biologischen Theorienbildungen
verwendeten Empirismen, die uns hier allein
interessieren, logisch von verschiedenem Rang.
Wir können uns an dieser Stelle ") nicht auf das
ganze weitschichtige Problem einlassen, wir wollen
nur an einigen markanten Theorien aufzeigen, um
was es sich handelt, und wir hoffen nachweisen
zu können, daß auch hier die Dinge nicht ganz
so einfach liegen, wie die derzeitigen Positivisten
uns glauben machen wollen.
Nach der herrschenden positivistischen Lehre
umgrenzen die Empfindungskomplexe a, b, c . . .
und ihre Beziehungen zu den A, B, C . . . und
a, iS, y . . . das den biologischen Wissenschaften
eigentümliche Gebiet. Damit kann zweierlei ge-
sagt sein. Einmal, daß die Empfindungen a, b,
c ... das Wirkliche darstellten, dessen mög-
lichst ökonomische Beschreibung Sache der Bio-
') Vgl. u. a. „Acht Vorlesungen über Theoretische Phy-
sik". Leipzig 1910. Erste Vorl.
') Verworn, , .Kausale und konditionale Weltanschau-
ung". Jena 1912. Dazu die gleichnamige Polemik Roux's.
— Jensen, „Erleben und Erkennen". Jena 1919. Ferner:
Anatom. Hefte 1. Abt., H. 179 (59. Bd., H. 3) 1921. —
Winterstein, Ebd., I. Abt., lyi'/lTS. H. (Bd. 57) 1919.
*) Vgl. u. a. Rieh. Kroner, „Das Problem der histo-
rischen Biologie". Abhandlungen z. theoret. Biologie. H. 2.
Berlin 1919.
') Näheres darüber in meiner oben angekündigten „Logik
der Biologie".
368
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
logie sei. Die Biologie würde dadurch letzten
Endes zu einer umfassenden Kombinatorik der
a, b, c . . . Elemente. Zweitens kann mit jenem
„Gebiet umgrenzen" gemeint sein, daß die a, b,
c . . . Empfindungen die Empirismen dar-
stellten, die in jeder biologischen Theorie vor-
kämen. Beide Behauptungen werden in den posi-
tivistischen Systemen, und zwar meist nicht ge-
sondert, vertreten. Prüfen wir diese Thesen nun-
mehr an drei verschiedenen, grundlegenden Theo-
rien der modernen Biologie, der Deszendenz-,
Zelltheorie und dem Mendelismus.
Die Deszendenztheorie ist die beherr-
schende Theorie aller morphologischen Wissen-
schaften der Biologie. Nach der positivistischen
These müßte sie also entweder Aussagen machen
über die a, b, c . . . Empfindungen oder sie müßte
diese bei ihrem Aufbau als Empirismen benutzen
oder beides zugleich tun. Die Deszendenztheorie
ist letzten Endes logisch als eine historische
Theorie zu charakterisieren. Ihr Ziel ist, die tat-
sächliche Entstehung und weitere Entfaltung alles
Organischen im Räume überhaupt und besonders
auf der Erde, mit anderen Worten also die Ge-
schichte dieses Organischen zu schildern. Um
das kausale Wesen dieses Organischen selbst ist
es der Deszendenztheorie zunächst nicht zu tun.
Mit dessen Aufhellung beschäftigt sich vielmehr
die Physiologie. Da diese nun darnach strebt,
das Organische einmal irgendwie physikalisch-
chemisch zu definieren, so ist die Deszendenz-
theorie in dem Augenblick, wo die Physiologie
diesem ihrem Ziel einigermaßen nähergekommen
ist, zur Geschichte eines physikalisch - chemischen
Systems, das allerdings von ganz besonderer Be-
deutung ist, geworden. In diesem Grenzfalle wer-
den also die Empfindungen in ihr keine andere
Rolle spielen, als auch sonst in der Physik und
Chemie, womit für diesen Grenzfall beide positi-
vistischen Thesen abgelehnt sind.
Nun ist aber die Deszendenztheorie zur Zeit
noch nicht die Geschichte eines physikalisch-
chemischen Systems, sondern einstweilen nur die
organischer Formen. Wie verhält sie sich nun
in dieser ihrer augenblicklichen Situation zu den
positivistischen Thesen? Die Deszendenztheorie
enthält ohne Frage Aussagen über Wirkliches,
denn was Gegenstand einer Geschichte sein kann,
ist wirklich oder doch einmal wirklich gewesen.
Dieses Wirkliche kann aber nicht als Verknüpfung
von a, b, c . . . Elementen schlechthin ge-
deutet werden. Denn wir sahen, daß die Ge-
schichte des Organischen logisch von seiner kau-
salen Deutung unabhängig ist. In dem Augen-
blick, wo das Organische kausal als physikalisch-
chemisches System definiert werden kann, ist
seine Geschichte, die Deszendenztheorie, ohne
Frage keine Verknüpfung von Empfindungs-
elementen mehr. Es ist daher nicht angängig,
das Wesen der Deszendenztheorie überhaupt als
Verknüpfung von a, b, c . . . Empfindungen auf-
zufassen. Mit mehr Recht könnten die Positivisten
aber meines Erachtens behaupten, daß die Des-
zendenztheorie zur Zeit, als Geschichte der or-
ganischenFormen also, den obigen positivistischen
Thesen Genüge leiste. Das leitet uns hinüber
zur Prüfung der Empirismen, die der Deszendenz-
theorie zugrunde liegen. Denn obschon Empi-
rismen und Wirklichkeit nicht identisch sind, wie
wir wohl zur Genüge auseinandergesetzt haben,
stehen sie doch in engster funktionaler Beziehung
zueinander derart, daß sie beide ähnlichen
logischen Charakter haben. Bestehen die Empi-
rismen aus Empfindungen, so ist naturgemäß auch
die aus ihnen aufgebaute (durch die Theorismen)
Wirklichkeit eine Verknüpfung von Empfindungen.
Nun meinen wir, daß die Deszendenztheorie, so-
lange sie Geschichte organischer Formen ist,
aber nur solange, eine Verknüpfung von Empfin-
dungselementen ist. Ihre Empirismen sind in
diesem Falle organische Formen, denn sie bilden
das Material, das theoretisch verknüpft wird.
Formen aber sind, wie alle qualitativen Empirismen
überhaupt, letzten Endes nur auf Empfindungs-
elemente reduzierbar. Jede organische Form hat
eine bestimmte Gestalt und Farbe, übt einen be-
stimmten Druck aus usw. Als Form ist sie nur
empfindungsanalytisch zu charakterisieren. Über-
wunden werden diese Empfindungsqualitäten und
damit alles „Formale" erst dann, wenn sie durch
exakte Messungen ersetzt werden können, wenn
eine einzige Empfindung nur noch ganz flüchtig
und unter allen Kautelen dazu benutzt wird, um
eine Messung mit einer Rechnung zu vergleichen.
Als Resultat dürfen wir also buchen : Solange die
Deszendenztheorie eine Geschichte der organischen
Formen ist, kann man sie im Sinne des Positivis-
mus als eine Verknüpfung von Empfindungsele-
menten betrachten. Sowie man aber aus dieser
Not eine Tugend macht, wie es ebenfalls die
Positivisten tun, begibt man sich aufs Glatteis.
Dieser positivistische Zustand der Deszendenz-
theorie ist vielmehr nur etwas Vorübergehendes,
möglichst bald physikalisch - chemisch zu Er-
setzendes.
Haben somit die positivistischen Thesen für
die logische Analyse der Deszendenztheorie nur
bedingte Geltung, so gilt auch das nicht mehr für
die höchstentwickelte Theorie, die die Biologie
aufzuweisen hat, für die Theorie der Ver-
erbung, den zytologisch fundierten Medelismus.
Empfindungsanalytisch ist den Genen nicht mehr
beizukommen, das ist nur noch, worauf auch die
Enzymhypothese Goldschmidts ^) hinweist, phy-
sikalisch - chemisch , oder biologisch gesprochen :
physiologisch möglich. Die Gene sind ebenso
ein Gegenstand exakt quantitativer Forschung wie
die Atome, denen sie logisch am ehesten ver-
gleichbar sind, und wenn sich die Ergebnisse der
Morganschule werden verallgemeinern lassen,)
scheint für die Biologie der Vererbung eine ähn-
') „Die quantitative Grundlage von Vererbung und Art-
bildung". Roux's Vorträge II. 24. 1920.
N. F. XX. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochensclirift.
369
liehe Periode anzubrechen, wie sie die organische
Chemie seit der genialen Konzeption Kekules
erlebt hat.
Logisch in der Mitte zwischen Deszendenz-
und Vererbungstheorie steht die dritte große uni-
versale Theorie der Biologie, die Zelltheorie.
Soweit sie eine rein morphologische Theorie ist,
d. h. soweit sie behauptet, daß alles Organische
aus Zellen besteht oder aus solchen entstanden
ist und nur dieses tatsächliche Gesehen und seine
Geschichte aufdecken will, ist sie logisch vom
gleichen Rang wie die Deszendenztheorie. In
diesem Falle sind auch die Zellen organische
Formen, Qualitäten also, die empfindungsanalytisch
erfaßbar sind, obschon hier praktisch nur zwei
Empfindungsgruppen in Frage kommen, Gestalt
und Farbe. Soweit die Zelltheorie aber physio-
logisch fundiert ist, d. h. soweit sie alles organische
Geschehen auf solches in der Zelle und den Zell-
systemen, den Organen, zurückführen will, soweit
sie also physikalisch-chemische Analyse des Or-
ganischen treibt, soweit — und das ist fraglos ihr
tieferer Gehalt, dem ihre Zukunft gehört — , eignet
die Zelltheorie durchaus jenem höheren logischen
Komplex von Theorienbildung, dem auch die
Theorie der Vererbung und die Atomtheorie zu-
zurechnen sind. Hier kann von irgendwelchem
Empfindungspositivismus keine Rede mehr sein.
Aber dieser von den Empfindungen ausgehende
Positivismus ist nicht der allein mögliche. Be-
zeichnet doch selbst Husserl, der in dieser Hin-
sicht gewiß nicht belastet ist, sich einmal als
einen „ächten Positivisten".*) Die eigentliche
Tendenz des Positivismus geht unseres Erachtens
auch tiefer. In der Ausschaltung alles Meta-
physischen aus der Naturphilosophie und in ihrer
Beschränkung auf eine rein logische Analyse der
naturwissenschaftlichen Theorien sehen wir den
eigentlichen, letzten Sinn des Positivismus, welcher
Tendenz auch wir von Herzen zustimmen. Der
Empfindungspositivismus ist nur eine wenn auch
notwendige und bedeutsame, so doch nur eine
historische Etappe auf diesem Wege. Er hat die
logische Analyse vorschnell abgebrochen. „Auf
dem Wege zum Dauernden" ^) wird es noch viel
mehr vergleichendlogischer Analyse der natur-
wissenschaftlichen Theorienbildung bedürfen. End-
gültig wird die Analyse ebensowenig jemals ab-
geschlossen sein wie die Entwicklung der Natur-
wissenschaften selbst, deren Echo sie ja nur in
der Logik ist.
') „Logos". Bd. I, H. 3, 1911. „Philosophie als strenge
Wissenschaft".
'-) Untertitel des 2. Bandes von Petzoldts „Einführung
in die Philosophie der reinen Erfahrung". Leipzig 1904.
Einzelberichte.
Zuui Detei'ininatiouspi'obleni.
Neue Beiträge zum Determinationsproblem *)
bringt eine Arbeit von Hans Spemann und
Hermann Falkenberg,-) welch letzterer
schon 1916 auf dem Felde der Ehre sein Leben
ließ. Es handelt sich um Versuche an Triton-
larven, welche Tiere Spemann ja schon früher
zu Betrachtungen über das Determinationsproblem,
die Frage, unter welchen Bedingungen und von
wann ab die Entwicklung der Teile des Eies
determiniert sei, verwendet hatte. Tritonkeime,
auf dem Blastula- oder früherem Stadium oder
zu Beginn der Gastrulation median durchtrennt,
ergeben stets gleichgeschlechtliche Zwillinge oft
asymmetrischen Baues, nämlich mit stark verküm-
merter ursprünglicher Innenseite. Bei verschiedener
Größe der zusammengehörigen Zwillinge infolge
ungleicher Größe der Teilstücke ist der kleinere
Zwilling gegen den größeren in der Entwicklung
zurück und holt den Vorsprung im Laufe des
Wachstums nicht ein, sondern der Abstand ver-
größert sich noch. Dies muß also auf einer
dauernden Benachteiligung des kleineren Zwillings
') Vgl. Naturw. Wochenschr. 1918, S. 677.
'') H. Spemann und H. Falkenberg, Über asymme-
trische Entwicklung und Situs inversus viscerum bei Zwillingen
und Doppelbildungen. Archiv für Entwicklungsmechanik
Bd. XLV, Heft 3, 1919, S. 371—422, 3 Taf.
beruhen, die irgendwie mit seiner geringen Größe
zusammenhängt. Dasselbe ist an den kleineren
Beinchen der inneren Seite gegenüber den größeren
der Außenseite zu beobachten und ist hier wohl
ebenso zu erklären. Der Kopf der Larven erreicht
einen viel höheren Grad von Symmetrie als Rumpf
und Schwanz, was der schon von Roux gemach-
ten, von anderen, wie Spemann, bestätigten
Beobachtung entspricht, daß die Ergänzung der
fehlenden Seite vorn einsetzt und nach hinten
fortschreitet. Die beachtenswerteste unter Spe-
manns neuen F"eststellungen ist aber wohl die
folgende : bei solchen Zwillingen oder bei Doppel-
bildungen, wie sie durch bloße Einschnürung des
Eies erzielt werden, hat in der Regel das linke
Wesen normale Lage von Herz und Darm, das
rechte dagegen nicht selten einen typischen Situs
invertus viscerum, also Vertauschung von
Rechts und Links an diesen Eingeweiden. Dies
beweist , führt Spemann aus , daß die nor-
male Asymmetrie des Eingeweidebaues
schon sehr früh in der Keimesgeschichte
veranlaßt ist, „sie muß selbst im befruchteten
Ei schon vorhanden sein" und wohl gleichzeitig
mit der allgemeinen bilateralen Symmetrie im
Augenblick der Befruchtung (Befruchtungsmeridian
= Medianebene beim Froschei) entstehen oder
festgelegt werden, „und zwar infolge einer Pola-
rität und Asymmetrie des Spermatozoons oder
370
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
einer bilateral - asymmetrischen Mikrostruktur des
Eiplasmas um die Eiachse herum". Die Inversion
des Situs könnte dann in den oben erwähnten
Fällen auf eine durch den künstUchen Eingriff
hervorgerufene Inversion einer Mikrostruktur zurück-
gehen. V. Franz, Jena.
Das Muttergestein des Serpentins im sächsi-
schen Granulitgebirge.
Zu der Frage, aus welchen Gesteinen die
Serpentine im sächsischen Granulitgebirge ent-
standen sind, nimmt W. Bergt im Zentralbl. f.
Mineralogie usw., 1920, Heft 23/24, S. 422—429,
Stellung. Bei seinen eingehenden Untersuchungen
der zahlreichen Serpentinvorkommen im sächsi-
schen Granulitgebirge kam E. Dathe 1876 zu
dem Ergebnis, daß die Granatserpentine aus einem
Granatolivingestein, die Bronzitserpentine aus
einem Bronzitolivingestein hervorgegangen sind.
Diese Angaben Dath es liegen den Darstellungen
der betreffenden Serpentine in den Erläuterungen
zu den entsprechenden Blättern der I. Aufl. der
geologischen Spezialkarte Sachsens zugrunde. In
den gleichen Erläuterungen der II. Aufl. dieser
Karte ist dagegen der Olivin als Gemengteil der
Serpentine gänzlich verschwunden, es heißt viel-
mehr: „Sämtliche Serpentine des Granulitgebirges
sind aus der Umwandlung von Pyroxengesteinen
hervorgegangen. Als Muttergesteine des Granat-
serpentins ist ein neben Augit und Enstatit noch
Granat in wechselnder Menge führender Pyroxen-
fels nachgewiesen . . ., wogegen das Urgestein des
granatfreien Bronzitserpentins vorwiegend aus
Enstatit und Bronzit bestand." Auf Grund er-
neuter Dünnschliffuntersuchungen kommt der Verf.
zu folgendem Ergebnis : die Darstellung der II. Aufl.
der genannten Erläuterungen, wonach i. die Ser-
pentine des sächsischen Granulitgebirges nicht
aus Olivin-, sondern aus Pyroxengesteinen hervor-
gegangen, 2. die hier und da angetroffenen Pyroxen-
felse die Reste des (olivinfreien oder äußerst olivin-
armen) Muttergesteines dieser Serpentine sein
sollen, muß in beiden Punkten als falsch bezeichnet
werden. Denn i. enthalten die Serpentine neben
Diopsid reichlich Reste von Olivin, und die vor-
handene Serpentinsubstanz ist zum allergrößten
Teil aus Olivin, nicht aus Pyroxen entstanden,
und 2. sind die Pyroxenfelsvorkommen in unserem
Gebiet keineswegs Reste des Serpentinmutter-
gesteins. Sie liefern im Gegenteil einen ausge-
zeichneten Beweis dafür, daß Pyroxen auch hier
weit seltener und schwerer der Serpentinisierung
anheimfallt als der Olivin.
Von den untersuchten Schliffen war besonders
einer bemerkenswert, der von einem Serpentin
von Chursdorf (Blatt Penig-Burgstädt) stammte.
Auf der 27 mm langen Diagonale des Schliffes
zeigen sich 12 Serpentin- und 12 Pyroxenlagen,
also 24 in der Mineralzusammensetzung verschiedene,
abwechselnde Lagen oder Bänder. Die Serpen-
tinlagen enthalten reichlich Olivinreste in kleinen
isolierten Körnern, zeigen Maschenstruktur und
reichliche Ausscheidung von Erz. Der Zusam-
menhang des ursprünglichen Olivinkörneraggre-
gates ist durch die Serpentinisierung vollständig
aufgelöst. Im Gegensatz dazu haben die Pyro-
xenlagen ihren Zusammenhang vollkommen be-
wahrt. Die Serpentinisierung dringt hier und da
leicht in sie hinein, hat aber gegen den Pyroxen
nicht viel auszurichten vermocht. Die Verhält-
nisse führen sehr anschaulich vor Augen, wie
leicht der Olivin, wie schwer dagegen der Pyroxen
der Serpentinisierung verfällt. Ferner wiederholen
sie im kleinsten Maßstab die Art, wie Olivinge-
stein (Serpentin) und Pyroxenfels häufig auch im
großen miteinander verbunden sind. Auch die
größere Widerstandsfähigkeit des Kelyphits, den
man in den angeführten Gesteinen recht häufig
begegnet, gegen die Serpentinisierung springt
überall in die Augen.
Auch ein Vergleich der Analysen der in Frage
kommenden Gesteine — soweit die geringe Zahl
von nur zwei Analysen einen Schluß zuläßt —
im Osannschen Dreieck weist darauf hin, daß in
den beiden untersuchten Gesteinen Olivin als
Gemengteil vorhanden ist. Nach des Verf.s Über-
zeugung sind also die Pyroxenfelse zu Unrecht in
den Verdacht gekommen, hier das Muttergestein
der Serpentine zu sein. Sie sind nur räumlich
innigst mit dem Serpentin verknüpft und genetisch
nur- insofern, als beide, Olivingestein (Serpentin)
und Pyroxenfels, verschiedene Pole der Diffe-
renzierung des gleichen Gabbro-Peridotitmagmas
darstellen. Diese Pyroxenfelse sind keineswegs
die unveränderten Reste" des Serpentinmutterge-
steins, sondern die Vertreter eines ganz anderen,
mit diesem vergesellschafteten, gegen die Serpen-
tinisierung aber viel widerstandsfähigeren Ge-
steins. F. H.
Ausbildung der nieuschlicheu Gliedmaßen.
Eine Ableitung der den Menschen auszeichnen-
den Körperbildungen von den entsprechenden
Bildungen seiner nächsten Verwandten im zoolo-
gischen System, den Anthropoiden, ist nicht mög-
lich. Zeugnisse der Stammes- und Individual-
geschichte weisen vielmehr dahin, daß der Mensch
und die Anthropoiden zwar auf eine gemeinsame
Ahnenform zurückgehen, sich aber nach verschie-
denen Richtungen hin weiter entwickelten. Für
diese Auffassung trat namentlich Hermann
Klaatsch stets eifrig ein und in seinem nach-
gelassenen Werk über den Werdegang der Mensch-
heit und ihrer Kultur ^) sind die Ergebnisse seiner
diesbezüglichen Forschungen zusammengefaßt.
Einer der Grundgedanken Klaatschs ist,
daß der Mensch Körperbildungen bewahrt hat,
wie sie bei den ursprünglichen Säugetieren ange-
legt waren und von denen sich die heutigen Ver-
') Klaatsch, Der Werdegang der Menschheit und die
Entstehung der Kultur. Berlin 1920, Deutsches Verlagshaus
Bong & Co.
N. F. XX. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
371
treter dieser Klasse im Laufe jahrtausendelanger
Entwicklung mehr oder weniger entfernt haben.
Die im System dem Menschen am nächsten
stehenden Tiere, die Anthropoiden, weisen Merk-
male der Rückbildung von Vorfahrenformen auf,
die menschenähnlicher gewesen sind. Bei jungen
Anthropoiden finden sich z. B. Kopfgrößen und
schöne Scheitelwölbungen, die sich nur wenig
vom menschlichen Zustand entfernen. Die Vier-
händigkeit, die auch dem Vormenschen eigen
war, haben alle Affen bewahrt, aber durch die
Rückbildung des Daumens ist ihre Hand zu einem
Kletterwerkzeug geworden, während die Menschen-
hand ein vielseitig verwendbares natürliches Werk-
zeug bildet, ohne das es nie ein künstliches Werk-
zeug hätte geben können. Durchaus eigenartig
menschlich ist der Fuß, der in der Säugetierreihe
nirgends wieder vorkommt. Er ist wohl auf einen
Urzustand des „Handfußes" zurückzuführen, wie
ihn der Gorilla noch besitzt. Die Ahnen des
Menschen müssen Lebensbedingungen unterworfen
gewesen sein, welche eine Verstärkung der hinte-
ren Gliedmaßen und eine Umwandlung des Hand-
fußes in einen Stützapparat erforderten (wogegen
die Umwelt der Anthropoiden Verlängerung der
Arme und Verkürzung der Beine begünstigte).
Die Meinung, der Menschenfuß sei erst nach
erfolgtem Übergang zur aufrechten Körperhaltung
entstanden, ist nicht zutrefifend. Man muß einen
mechanischen Faktor finden, der aus dem Greif-
fuß den Stützfuß hat hervorgehen lassen. Der
weitestgehende anatomische Unterschied zwischen
beiden liegt in der großen Zehe, die noch bei so
manchen farbigen Rassen in ihrer Stellung und
Beweglichkeit an die Vorfahrenverhältnisse erinnert.
Das Heranrücken der Großzehe an die übrigen
und ihre Verstärkung erklärt Klaatsch als
Folge der Anpassung an einen Klettermechanismus,
wie er gegenwärtig noch bei Naturvölkern be-
obachtet werden kann, beispielsweise bei den
Australiern: Ein biegsamer Zweig wird um den
Stamm geworfen und immer höher und höher
hinaufgeschoben, indem der Eingeborene die
Schlinge mit beiden Händen hält und die Füße
fest gegen den Stamm setzt. Ein solcher Kletter-
mechanismus kam für die Urmenschenafifen oder
Uraffenmenschen, wie wir die gemeinsamen Ahnen
dieser Formen nennen können, im weitesten Um-
fange in Betracht, namentlich beim Wohnen außer-
halb der Urwälder. Die Muskelmassen der Schulter,
die bei solcher Art des Ersteigens von Bäumen
zum Emporziehen des Rumpfes dienen, sind beim
Menschen (im Vergleich mit den Anthropoiden)
besonders stark entwickelt, ebenso die zum Nach-
schieben des Körpers dienenden Muskeln des
Gesäßes. Dieselben Muskeln aber sind es auch,
die sich für die Haltung der Wirbelsäule
in aufrechter Stellung am besten bewähren,
sowie für die Rückwärtsziehung der
Schultern, wodurch der Kopf seine freie Be-
wegung gewinnt. So hat das bezeichnete Er-
steigen der Bäume die eigenartige Bildung des
Menschenfußes und die aufrechte Körperhaltung
zugleich begünstigt. Die Individuen, bei denen
eine der menschlichen ähnliche Bildung der Groß-
zehe und eine starke Entwicklung der Schulter-
und Gesäßmuskeln spontan auftrat, waren im
Vorteil und diese Eigenschaften mußten sich im
Daseinskampfe häufen und gesteigert werden.
Die Fähigkeit des aufrechten Ganges zog viele
weitere wichtige Umbildungen nach sich.
H. Fehlinger.
Die Wandernngen der Secschwalben.
Vogelberingungen auf Mellum, dem kleinen
Werder an der Wesermündung, haben nach und
nach zu einigen beachtenswerten Ergebnissen ge-
führt, über die H. W e i g o 1 d - Helgoland unter
dem Titel „Im Weltkrieg von der Mellumplate
nach dem Kapland" berichtet.^) Seit 1912 wurden
die Vögel dort durch einen Wärter vor Eierraub
geschützt. Schwere Rückschläge folgten leider im
Kriege. 191 3 und 19 14 beringten W e i g o 1 d und
ArnoMarx 1293 Jungvögel, darunter 676 Brand-
seeschwalben , 618 Fluß- und möglicherweise
Küstenseeschwalben, 27Zwergseeschwalben. Nahe-
zu 50 wurden seither zurückgemeldet, weitere
Meldungen sind leider nicht zu erwarten, da die
Aluminiumringe inzwischen sich durchgescheuert
haben, während die Vögel viel älter werden.
Herangewachsen, tummeln sich die Vögel auf
dem Meer, im August ziehen die Brandseeschwalben,
Sterna cantiaca, südwärts, und zwar in I4tägiger
Reise nach Portugal, wo einige überwintern,
während andere nach Afrika ziehen, wo im Früh-
jahr ein einjähriger Vogel knapp 10 Monate nach
der Beringung am Kap Sierra Leone in Westafrika
erlegt wurde. Im Mai fand sich sogar einer dicht
bei Kapstadt im äußersten Südafrika, vier Jahre
und elf Monate nach der Beringung, und einer,
wiederum einjährig, elf Monate nach der Be-
ringung, zwischen Loanda und Benguela in Portu-
giesisch Angola.") Die Rückwanderung beginnt
wohl meist schon im April, so daß die letztge-
nannten Fälle sich auf „Nachzügler", wie Verf.
sagt, beziehen.^) Wohl zu % suchen sie wieder
die Heimatkolonie zum Brüten auf. — Von der
Flußseeschwalbe, Sterna fluviatilis, liegen Rück-
meldungen bis aus Portugal vor, ähnlich von
Zwergseeschwalben, Sterna minuta, bis aus Süd-
spanien. V. Franz (Jena).
Hydroperoxyd als Lösungsmittel II. *)
R. H a 11 e r '') ließ 30 proz. Hydroperoxyd
(Merck) auf die verschiedensten pflanzlichen Ge-
') Ornithologische Monatsschrift, XLV. Jahrgang, De-
zember 1920, S. 225 — 241.
-) Ähnliche Rückmeldungen von Seescbwalben, wenn
auch nicht gerade aus so weit südlichen Gebieten wie Kap-
stadt, haben auch bereits die Holländer mit ihren Beringungen
zu verzeichnen.
^) Es ist aus den Angaben nicht ersichtlich, daß alle
Vögel zum Brüten zurückwandern.
■*) Vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. XIX, S. 538, 1920.
*) TextU-Forschung 2, S. 79, 1920.
372
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
spinstfasern wirken. Er erhielt den gleichen Be-
fund wie in der ersten Mitteilung hierzu angegeben
wurde: nach einiger Zeit werden die meisten
Fasern zunächst desorganisiert. Je nach ihrer
chemischen Natur zerfallen sie in Bruchstücke ver-
schiedenster Art, um schließlich unter Bildung
von Glukose in Lösung zu gehen. Als Zwischen-
stufe dieses Zerfalls tritt stets Zelluloseper-
oxyd auf, das die charakteristischen Färbungen
mit Kaliumjodid-Stärke gibt. Auf die Geschwin-
digkeit des Zerfalls sind manche Baumwollfärbun-
gen von bemerkenswertem Einfluß, ohne daß
irgendwelche Gesetzmäßigkeit mitgeteilt wird.
Mit Chromoxyd gebeizte Baumwolle zerfallt ver-
hältnismäßig rasch, Aluminiumoxyd verzögert den
Vorgang. Für die Praxis glaubt der Verf. schließen
zu dürfen, daß Imprägnation der Wäsche mit
Aluminiumoxyd die Faser vor dem Angriff per-
oxydhaltiger Waschmittel schützen werde.
H. H.
Bücherbesprechungen.
Ziehen, Th., Lehrbuch der Logik auf posi-
tivistischer Grundlage mit Berück-
sichtigung der Geschichte der Logik.
VIII und 866 Seiten. Bonn 1920. 47,50 M.
Die Logik des hervorragenden Vertreters der
Philosophie an der Universität Halle erhält auch
für den Leser, welcher auf einem anderen philo-
sophischen Standpunkt als der Verf. steht, da-
durch ein besonderes Interesse, daß der Unter-
suchung der logischen Probleme und der Dar-
stellung der formalen Logik im ersten Hauptteil
(S. 17 — 240) eine bis auf die Gegenwart fortge-
führte Geschichte der Logik vorausgeschickt ist.
Auch die Logiken von Rabus und Ueberweg
geben kurze Übersichten derselben, doch um-
fassen diese nicht mehr den Zeitraum der letzten
50 Jahre. Die große Geschichte der Logik von
Prantl reicht aber überhaupt nur bis zur Zeit
der Reformation. In dem der Geschichte der
Logik folgenden zweiten Hauptteil (S. 241 — 414)
behandelt Ziehen die erkenntnistheoretische,
psychologische, sprachliche und mathematische
Grundlegung der Logik. Von Wichtigkeit ist
nach Ziehen vor allem die erkenntnistheoretische
und psychologische Grundlegung.
Wenn die Lehren der formalen Logik „auch
unabhängig von diesem oder jenem erkenntnis-
theoretischen Standpunkt als solche zu recht
bestehen", so hat der Logiker doch „das Recht
und die Pflicht" eine erkenntnistheoretische Grund-
legung der Logik zu versuchen, dabei muß er
sich freilich immer dessen bewußt bleiben, „daß
jede solche Grundlegung hypothetisch ist". Wenn
er einer bestimmten den Vorzug gibt, so kann
das nur „unter allen Vorbehalten und ohne
Bindung" geschehen.
Der von Ziehen gewählte Standpunkt ist
der des positivistischen Binomismus.
Der Positivismus läßt ausschließlich das „Ge-
gebene" gelten. Gegeben sind nach ihm nur die
Empfindungen, die Erinnerungsbilder und die Vor-
stellungen. Dazu kommen noch die „hypothe-
tischen Dinge an sich" oder die „Reduktionsbe-
standteile" nach der Bezeichnungsweise Ziehens.
Aus der Analyse des Gegebenen resultieren nach
Ziehen (S. 250) zwei Hauptarten gesetzlicher
Beziehungen — daher die Beziehung seines be-
sonderen Standpunktes als „Binomismus" — :
1. Die Kausalgesetze, die mit den sog. Naturge-
setzen zusammenfallen — ihre Untersuchung ist
die Aufgabe der Naturwissenschaften — und
2. die sog. „Parallelgesetze". Letztere „beziehen
sich im einfachsten Falle z. B. auf die Zuordnung
einer bestimmten Sinnesqualität zu einer be-
stimmten Hirnrindenerregung, die ihrerseits von
einem bestimmten z. B. optischen Reiz abhängt
(Gesetz der spezifischen Sinnesenergien)". All-
gemein begreifen die „Parallelgesetze", die sich
im Gegensatz zu den Kausalgesetzen auf nach
unserer Beobachtung „weglose und instantane"
Wirkungen beziehen, i. die gesetzliche Zuordnung
der Empfindungen zu den Hirnrindenerregungen
(den „Reduktionsbestandteilen"), ferner 2. die ge-
setzliche Zuordnung der Erinnerungsbilder zu den
Empfindungen und rückwärts zu den Hirnrinden-
erregungen, 3. die gesetzliche Zuordnung der Vor-
stellungen zu den Erinnerungsbildern und rück-
wärts zu den Empfindungen bzw. den Hirnrinden-
erregungen und endlich 4. die gesetzliche Zu-
ordnung der verschiedenen Vorstellungen zuein-
ander. Die Untersuchung dieser parallel-gesetz-
hchen Beziehungen ist Aufgabe der Psychologie.
Ziehen will, wie es der Neopositivismus
überhaupt tut, den Gegensatz von Materie und
Psyche eliminieren. Wenn er daher die Worte
materiell und psychisch noch gebraucht, so ge-
schieht dies nur aus Bequemlichkeitsrücksichten
und verwendet er sie dabei nicht in der gewöhn-
lichen Bedeutung. „Psychisch" bezeichnet bei ihm
„nicht ein besonderes psychisches Etwas"; viel-
mehr nennt er ebendasselbe Gegebene, das
er, wenn es in bezug auf seine kausalgesetzlichen
Beziehungen betrachtet wird, als „materiell" be-
zeichnet, „psychisch", wenn er es unter dem Ge-
sichtspunkt der Parallelgesetze untersucht.
Innerhalb der psychischen Prozesse, welche
Untersuchungsgegenstand der Psychologie sind,
verlaufen die Denkprozesse nach besonderen
Parallelgesetzen. Sie sind das Objekt der Logik.
Insofern die Logik psychische Prozesse behandelt,
hat sie Beziehungen zur Psychologie. „Sie kann
ihre Arbeit nicht beginnen, ohne wissenschaftlich
untersuchtes und geordnetes psychologisches
Material" zugrunde zu legen. Ziehen stellt das-
N. F. XX. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
373
selbe sehr ausführlich S. 316—402 zusammen.
Doch die Logik geht über die Psychologie hinaus.
Letztere untersucht nur den tatsächlichen, stets
wechselnden Verlauf des psychischen Geschehens
ohne Rücksicht auf Richtigkeit und Falschheit
des Denkergebnisses und ohne Bewertung des-
selben; ebensowenig „zieht sie praktische Folgen
(praktische Denkregeln) aus ihren Untersuchungs-
ergebnissen". Die Logik stellt dagegen unver-
änderlich gedachte Normalvorstellungen (Begriffe,
Urteile) au^ sie untersucht das Denken ausschließ-
lich mit Bezug auf seine Richtigkeit und Falsch-
heit, soweit dieselbe von den formalen Denk-
akten abhängt, sie macht einen Wertunterschied
zwischen Richtigkeit und Falschheit, sie gibt end-
lich auf Grund ihrer Untersuchungen praktische
Denkregeln im Sinne von Normen. Diese vier
Momente verleihen der Logik nach Ziehen trotz
ihrer psychologischen Grundlage eine Sonder-
stellung gegenüber der Psychologie. Nach Kant
abstrahiert die reine Logik von allen empirischen
Bedingungen. Sie hat es „mit lauter Prinzipien
a priori t\x tun". Die neueren Logizisten (Husserl)
wollen die Kantsche Auffassung der Logik
streng durchführen. Ziehen lehnt die logizistische
„reine" Logik ab. Rein ist sie nach ihm nur in-
sofern, als sie die zufälligen psychologischen Be-
dingungen nachträglich eUminiert und Normalvor-
stellungen konstruiert. Aber ebenso lehnt er die
psychologistische Richtung der Logik ab, die mit
dem psychologisch gegebenen Denken ohne Kon-
struktion von Normalvorstellungen auskommen will.
Da so die Logik nach Ziehen nicht die
Lehre von dem Denken schlechthin ist — danh
wäre sie nur ein Abschnitt der Psychologie — ;
sie das Denken vielmehr nach einer ganz spezi-
fischen Richtung untersucht, muß ihr noch eine
besondere Grundlegung gegeben werden, in der
allgemein dargelegt wird, wie sie imstande ist,
die ihr gestellte spezifische Aufgabe zu erfüllen.
Es geschieht dies in der „autochthonen Grund-
legung" Ziehens im 3. Hauptteil (S. 417 — 451).
Der 4. Hauptteil endlich behandelt die formale
Logik (S. 459 — 829). Ziehen teilt sie ein in die
Lehre von den Bagrififen (S. 4^9 — 599), die Lehre
von den Urteilen (S. 600 — 709), die Lehre von
den Schlüssen (S. 710 — 796), die Lehre von den
Beweisen (S. 797 — 817) und die Lehre von den
Wissenschaften (S. 818—829). Er steht insofern
im Gegensatz zu der neueren , von Windel-
band u. a. vertretenen Richtung, welche die
Logik eigentlich nur noch als Urteilslehre ange-
sehen wissen will, da der Begriff im Grunde ge-
nommen nichts ist als das Resultat oder der
Niederschlag synthetischer Urteile und der Schluß
nichts als die Begründung eines Urteils durch
andere schon geltende Urteile. Ebenso steht
Ziehen aber auch im Gegensatz zur Einteilung
der älteren Logik, indem bei ihm Schluß, Beweis
und Wissenschaft als selbständig koordinierte
Glieder neben Begriff und Urteil auftreten. Eine
noch stärkere Abweichung von der jetzt üblichen
Einteilung der Logik ist dadurch gegeben, daß
bei Ziehen die Trennung von reiner und ange-
wandter Logik fehlt. Die angewandte Logik (die
Methodenlehre) untersucht das logische Denken
unter den besonderen Bedingungen der einzelnen
Wissenschaften. Ziehen stellt die wichtigsten
Tatsachen der angewandten Logik nicht, wie es
Wundt u. a. getan haben in einem besonderen
Teil der Logik, neben der Methodenlehre zu-
sammen, sondern fügt sie in die entsprechenden
Kapitel der reinen Logik ein.
Die Logik Ziehens bildet in der Form, in
welcher er sie dargestellt hat, einen integrierenden
Teil seines ganzen philosophischen Systems, des
positivistischen Binomismus. Infolgedessen war er
genötigt, auf die logischen Probleme zum Teil
tiefer einzugehen, als es im Interesse der Leser
liegt, welche die Logik nur zur Hand nehmen,
um sich über die Technik der formalen Logik zu
unterrichten. Dagegen wird der Naturforscher,
welcher auf positivistischem Standpunkt steht, bei
Ziehen das finden , was ihm andere Logiken
nicht bieten können. Die Begründer sowohl des
älteren Positivismus (Comte), wie des Neo-Posi-
tivismus (Avenarius, Mach) sind der Wissen-
schaft eine Logik von ihrem Standpunkte aus
schuldig geblieben. Schuppe hat diese Lücke
wohl ausgefüllt; doch hält er einerseits an dem
positivistischen Standpunkt nicht streng fest,
andererseits ist es ihm auch nicht gelungen, die
großen Schwierigkeiten, welche dem Positivismus
gerade auf logischen Gebiete begegnen, zu heben.
Sie kommen bei dem positivistischen Bionomismus
Ziehens zum Teil in Wegfall. Zur Empfehlung
dient der Ziehenschen Logik außerdem, daß die
Darstellung selbst bei der tiefer gehenden Be-
handlung der logischen Probleme klar und faßlich
bleibt. Die Aufstellungen werden stets durch
Beispiele erläutert; die wichtigeren Probleme da-
durch in ein helleres Licht gesetzt, daß die Be-
handlung, welche sie im Laufe der geschichtlichen
Entwicklung von den verschiedenen philosophischen
Richtungen erfahren haben, eingehend dargestellt
ist. Ein Rest ungelöster Schwierigkeiten bleibt
freilich auch für den binomistischen Positivismus
Ziehens bestehen. Auf eine Kritik der Stellung,
welche er zu den einzelnen logischen Problemen
einnimmt, wie auf das philosophische System
selbst kann jedoch hier nicht eingegangen wer-
den; nur das möchte ich hervorheben, daß auch
bei ihm der Gegensatz von Materie und Psyche
nicht, wie er will, ausgeschaltet, sondern nur
zurückgeschoben ist. Bei seiner „parallelgesetz-
lichen" Beziehung der Empfindung zu dem „hypo-
thetischen Ding an sich" taucht das alte Sphinx-
rätsel wieder auf. Kranichfeld.
Laue, M. v., Prof. f. theoret. Physik an der Uni-
versität Berlin , Die Relativitätstheorie.
I. Bd. : Das Relativitätsprinzip der Lorentztrans-
formationen. 4. verm. Aufl. Braunschweig
192 1, Fr. Vieweg u. Sohn.
374
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
Schlesinger, Ludwig, ord. Prof. d. Mathematik
a. d. Universität Gießen, Raum, Zeit und
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B. G. Teubner.
Engelhardt, Dr. Victor, Dozent an der Hum-
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Lämmel, Rudolf, Wege zur Relativitäts-
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der Reichsuniversität zu Leiden. Berlin 1920,
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Ripke-Kühn, Dr. phil. Leonore, Kant contra
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Isenkrahe, Prof. Dr. C, Zur Elementarana-
lyse der Relativitätstheorie. Braun-
schweig 192 1, Fr. Vieweg u. Sohn. Sammlung
Vieweg, Heft 51.
Mach, Dr. Ernst, weil. o. Prof. der Universität
Wien. 8. Aufl. Mit einem Anhang „Das Ver-
hältnis der Machschen Gedankenwelt zur Rela-
tivitätstheorie" von Joseph Petzold. Leipzig
192 1, F. A. Brockhaus.
Gei^ler, Fr. J. Kurt, Gemeinverständliche
Widerlegung des formalen Relativis-
mus (von Einstein und verwandten) und zu-
sammenhängende Darstellung einer grund-
wissenschaftlichen Relativität. 76 S.
Leipzig 192 1, Otto Hillmann.
Die Relativitätstheorie Einsteins steht nach
wie vor im Mittelpunkt der Erörterung, und so
erklärt es sich, daß für die grundlegende Dar-
stellung, die V. Laue im Jahre 191 1 heraus-
gegeben hat, nunmehr bereits eine vierte Auflage
erforderlich geworden ist. Daß das Werk seiner
Aufgabe, eine Zusammenstellung der wichtigsten
Untersuchungen über das Thema zu geben, im
vollen Maße gerecht wird, ist allgemein anerkannt.
Da es somit zweifellos eine der besten wissen-
schaftlichen Darstellungen der Relativitätstheorie
darstellt, mag es hier zum Ausgangspunkt einiger
kritischer Betrachtungen gewählt werden. Die
Form, die v. L a u e dem Relativitätsprinzip (S. 48)
gegeben hat, lautet:
„Man kann aus der Gesamtheit der Natur-
erscheinungen durch immer weiter gesteigerte
Annäherung immer genauer ein Bezugssystem
X, y, z, t bestimmen, in welchem die Naturgesetze
in bestimmten, mathematisch einfachen Formen
gelten. Dies Bezugssystem ist aber durch die
Erscheinungen keineswegs eindeutig festgelegt.
Vielmehr gibt es eine dreifach unendliche Mannig-
faltigkeit gleichberechtigter Systeme, welche sich
gegeneinander mit gleichförmigen Geschwindig-
keiten bewegen."
Gegen diese sehr abstrakte Formulierung lassen
sich die folgenden Bedenken des gesunden Men-
schenverstandes geltend machen. Eine gleich-
förmige Bewegung durch den Raum kann nur
dann ohne Einfluß auf den Ablauf der Erschei-
nungen sein, wenn der Raum selbst keinerlei
substantielle physikalische Eigenschaften besitzt;
nun ist aber der größte Teil der Physik, nämlich
die ganze Physik des Äthers, auf der Idee auf-
gebaut, der leere Raum besitze solche substan-
tiellen Eigenschaften. Es gibt drei Möglichkeiten
für eine Physik des Raumes. Die Äthersubstanz
kann sich erstens in absoluter Ruhe befinden —
das ist die Auffassung von Lorentz. Sie wider-
spricht eigentlich jeder vernünftigen Vorstellung
und den älteren Anschauungen. Der Äther könnte
sich zweitens aber auch selbst in Bewegung be-
finden und die Loren tzsche Theorie braucht
dann nur in erster Annäherung zu gelten. Das
ist offensichtlich von vornherein das wahrschein-
lichste und entspricht der berühmten Ätherwirbel-
theorie Lord Kelvins (dargestellt u.a. in Lodge,
Der Wehäther, Braunschweig 1911). Drittens
kann man noch annehmen, der Äther existiere
überhaupt nicht, wie es Einsteins ursprüngliche
Idee gewesen ist und wie sie auch in dem vor-
liegenden Buche V. Laues noch vertreten wird.
Es muß nun hervorgehoben werden, daß bei der
Annahme eines bewegten Äthers der Fall ein-
treten kann, daß der Einfluß des Äthers auf die
bewegten Körper sich infolge gegenläufiger, wir-
belnder Bewegungen gerade heraushebt. Für
diesen Spezialfall stimmen die Ergebnisse der
Ätherphysik dann natürlich mit dem angeführten
Relativitätsprinzip überein. Der Fall hat insofern
eine allgemeinere Bedeutung, als nach der Äther-
wirbeltheorie ja auch die Materie nichts als ein
Bewegungszustand des Äthers ist, eine gewisse
Harmonie also stets vorhanden sein muß. Die
Relativitätstheorie leitet also von dem unhaltbaren
Standpunkt von Lorentz wieder zur alten Äther-
wirbeltheorie zurück, und borgt dabei ihr Licht
von der Ätherphysik, wie der Mond das seinige
von der Sonne.
Diese Auffassung erklärt ohne weiteres, wie
die Relativitätstheorie in manchen Fällen große
Erfolge haben konnte, im allgemeinen aber mit
den einfachsten Grundlagen der Logik in Wider-
spruch geraten mußte. Man erkennt dies am
besten an der Deutung des Versuchs von Michel-
son. Dieser hatte ergeben, daß das Licht bei
seiner Ausbreitung einen Einfluß der absoluten
Erdbewegung nicht erkennen ließ. Der Äther
oder die Kraftfelder, die die Lichtausbreitung
vermitteln, nehmen also offenbar an der Erd-
bewegung teil. Eine entsprechende Theorie ist
auch von Stokes aufgestellt. (Vgl. die 3. Aufl.
von D r u d e s Optik, bearb. von G e h r c k e , Leip-
zig 191 2; ferner die Arbeiten Silbersteins,
Phys. Berichte, 1920, S. 1515)- Die oft ausge-
sprochene Behauptung, diese Theorie vom mitbe-
wegten Äther stehe mit anderen Versuchen,
namentlich dem von Fizeau im Widerspruch,
N. F. XX. Nr. 25
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
375
entbehrt der Begründung. Bei der Erdbewegung
verschieben sich natürlich ganz andere Kraftfelder,
als im fließenden Wasser. Einstein verallge-
meinerte das Ergebnis des Michelsonschen
Versuches nun in ungeheuerlicher Weise, indem
er behauptete, die Lichtgeschwindigkeit sei relativ
zu allen beliebig bewegten Beobachtern
konstant. Dieses sog. „Prinzip von der Konstanz
der Vakuumlichtgeschwindigkeit" steht natürlich
mit der gewöhnlichen Logik im Widerspruch,
denn ein bestimmter objektiver Bewegungsvorgang,
wie das Licht, kann nicht ganz verschiedenen
Bewegungen gegenüber gleich schnell verlaufen.
Einstein hat den logischen Widerspruch bekannt-
lich durch seine Lehre von der Relativität der
Zeit zu überwinden versucht. Der Schluß, eine
Erscheinung, die bei der Erdbewegung auftritt,
müsse auch bei der Bewegung eines jeden Be-
obachters auf der Erde in der gleichen Weise ver-
laufen, ist aber doch wohl eine unberechtigte
Verallgemeinerung. Einstein hätte zum minde-
sten einen Versuch mit auf der Erde bewegten
Beobachtern angeben müssen. Auf diese große
Lücke macht v. Laue m. E. nicht genügend auf-
merksam und hebt auch die wirklich mit bewegten
Beobachtern angestellten Versuche, wie denjenigen
von Sagnac ihrer grundsätzlichen Bedeutung
nach nicht genügend hervor. Dieser Versuch
hat bekanntlich für den Äther entschieden, be-
zieht sich jedoch nur auf rotierende Bewegungen
und wird daher nicht für entscheidend gehalten.
In dem Buche v. Laues wird die Relativitäts-
theorie Einsteins noch als ein neues umfassen-
des Weltprinzip der Äthervorstellung gegenüber-
gestellt. Dagegen möchte ich die Auffassung ver-
treten, daß das Prinzip nur gelten kann, wenn
sich der Einfluß des Äthers zufällig heraushebt.
Den besten Beweis für die Richtigkeit dieser An-
schauung erblicke ich darin, daß Einstein selbst
in seiner allgemeinen Relativitätstheorie neuerdings
mit aller Kraft versucht, den Anschluß an die
Äthertheorie wieder zu finden. Über diesen
Rückzug Einsteins habe ich bei v. Laue noch
nichts gefunden.
Die drei Bücher von Schlesinger, Engel-
hard t und Lämmel stellen Versuche dar, die
Ideen Einsteins dem gebildeten Laien verständ-
lich zu machen und werden dieser Aufgabe auch
in durchaus anerkennenswerter Weise gerecht.
Leider vermisse ich in allen drei Darstellungen
den Hinweis darauf, daß Einsteins Deutung
des Michelsonschen Versuchs durchaus nicht
die einzig mögliche ist und daß seine kühne Ver-
allgemeinerung des Ergebnisses auf alle bewegten
Beobachter jeder experimentellen Grundlage ent-
behrt. Den Gegensatz zwischen dem Äther und
der Relativitätstheorie betont vor allem Lämmel;
er sagt sogar : „Ich will freilich bemerken, daß ich
nicht begreifen kann, wie es kommt, daß so viele
gescheite Leute an den Äther geglaubt haben.
Ich habe (vor dem Aufkommen der Relativitäts-
theorie) die Existenz des Äthers nie „geglaubt".
L ä m m e 1 bespricht auch die Vorstellung vom
bewegten Äther und meint, daß derselbe an ver-
schiedenen Teilen des Planetensystems ganz ver-
schiedene Bewegungen haben müsse. „Wie in
einem zwar lautlosen, aber doch wildbewegten
iVleere müßten die Weltströmungen, den tragen-
den Sternen folgend, durcheinanderwirbeln." Viel-
leicht betrachtet Lämmel einmal den Fixstern-
himmel mit seinen Spiralnebeln 1 Von einer
Ätherwirbeltheorie, aus der Kepler und Des-
cartes einst die Planetenbewegungen ableiteten,
scheint er nie etwas gehört zu haben. Merk-
würdig ist sein Einwand: „Geht nun ein aus dem
weiten Weltraum kommender Lichtstrahl durch
diesen mit bewegtem Äther erfüllten Sonnenraum
hindurch, so würde er einen nach wechselnder
Richtung von einer Geraden abweichenden Weg
beschreiben." Lämmel vergißt, daß eine solche
Ablenkung gerade durch Einstein wirklich ent-
deckt worden ist — wieder ein Beweis dafür, daß
Einsteins Theorie zur Ätherwirbeltheorie zu-
rückführt I
Unter diesem Gesichtspunkt ist Einsteins
Rückkehr zum Äther in seinem Leidener Vortrag
über „Äther und Relativitätstheorie" vom größten
Interesse. Man sieht dabei jedoch, wie Einstein
an der Ätherwirbeltheorie noch vollständig ver-
ständnislos vorbeigeht. Daß die Auffassung des
Äthers als eines festelastischen Körpers sich mit
seinem Flüssigkeitscharakter zwanglos in Über-
einstimmung bringen läßt, wenn man ihm eine
molekulare Wirbelstruktur zuschreibt, erwähnt er
nicht und scheint ihm unbekannt zu sein. Daß
die mechanische Deutung der Max well sehen
Gleichungen sehr schwerfällig ausfiel, ist durch-
aus kein durchschlagender Einwand gegen dieselbe.
Die Natur macht vor mathematischen Schwierig-
keiten nicht halt, und die Eleganz der Grund-
gleichungen ist meist nur die Folge von geschickt
durchgeführten Vernachlässigungen. Wenn
Einstein nun weiter ausführt, die Theorie von
L o r e n t z hätte dem Äther als einzige mechanische
Eigenschaft die Unbeweglichkeit gelassen und die
Relativitätstheorie hätte ihm auch diese Eigen-
schaft genommen, so sieht man, wie Einstein
die naheliegende Lösung — nämlich dem Äther
die ihm von Lorentz unberechtigterweise ge-
nommene Beweglichkeit wieder zurückzugeben
— gar nicht beachtet. Auf die seltsamen theo-
retischen Vorurteile näher einzugehen, die Ein-
stein von dem natürlichen Wege ablenken, ver-
bietet leider der Raummangel. Statt den Wider-
spruch zwischen Äther und Relativitätsprinzip
einfach auf die Überspannung des letzteren zum
unhaltbaren Prinzip von der Konstanz der Vakuum-
lichtgeschwindigkeit zurückzuführen und seine
Theorie dementsprechend einzuschränken, läßt er
nach alter Methode den Widerspruch ruhig be-
stehen und sucht ihn durch Dialektik zu über-
winden. Er behauptet, es ließen sich „ausge-
dehnte physikalische Gegenstände denken, auf die
der Bewegungsbegrifif keine Anwendung finden
376
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 25
kann. Sic dürfen nicht als aus Teilchen bestehend
gedacht werden, die sich einzeln durch die Zeit
hindurch verfolgen lassen. Das spezielle Relativi-
tätsprinzip verbietet uns, den Äther als aus zeit-
lich verfolgbaren Teilchen bestehend anzunehmen,
aber die Ätherhypothese an sich widerstreitet der
speziellen Relativitätstheorie nicht". Es fragt sich
nur ob das Verbot des Relativitätsprinzips oder
das des substantiellen Äthers auf die Dauer mehr
Bedeutung haben wirdi
Glücklicherweise hat nun auch die „Denk-
empörung" gegen die hemmungslosen Abstraktionen
und Verallgemeinerungen Einsteins mit Kraft
eingesetzt. Die Arbeit von Frau Dr. Ripke-
Kühn führt die Kritik vom Standpunkt der
Kan tischen Philosophie aus durch und kommt
auch hier zu dem Ergebnis, daß Einstein ur-
sprünglich richtige Ideen in vollständig unzu-
lässiger Weise verallgemeinert habe. Es ist zu
hoffen, daß nicht nur die philosophischen, sondern
auch die physikalischen Grundlagen nunmehr
einer systematischen Kritik unterzogen werden.
Allerdings hat die Abwehrbewegung gegen die
Übertreibungen Einsteins gerade bei den
Physikern noch nicht die nötige Ausdehnung ge-
wonnen, weil die herrschende Äthertheorie von
Lorentz kosmischen Problemen gegenüber ver-
sagt und man sich noch nicht überall entschließen
kann, zur Ätherwirbeltheorie zurückzukehren. —
C. Isenkrahe will die Relativitätstheorie in
ihre Letztbestandteile zerlegen. Zu einem solchen
Werk will sein Buch allerdings zunächst nur die
Einleitung liefern. Es behandelt eine Reihe
unumgänglicher Vorfragen und sucht sie sachlich
zu erörtern. Als Leitfaden dient Weyls „Raum,
Zeit, IVIaterie". Ein bestimmtes, abschließendes
und klarstellendes Urteil über die Relativitäts-
theorie habe ich in dem Buche nicht gefunden,
vielleicht holt der Verf. dieses in späteren Ver-
öffentlichungen nach. —
Machs Mechanik enthält bekanntlich Be-
trachtungen, die für E i n s t e i n s Relativitätstheorie
von grundlegender Bedeutung geworden sind. So
hat das Buch nicht nur klassische Bedeutung,
sondern auch — in dem Abschnitt über Newton
— höchst aktuelle. Die neue Auflage enthält
einen Anhang, in dem J. Petzoldt die Be-
ziehungen Machs zur Relativitätstheorie behandelt.
Dieser Anhang beschäftigt sich vor allem mit
einer Erörterung der philosophischen Probleme;
die kühnen Deutungen der physikalischen Experi-
mente durch Einstein werden ziemlich kritiklos
wie erwiesene Tatsachen behandelt.
Kurt Geißler, der durch zahlreiche Ver-
öffentlichungen auf dem Gebiete der Philosophie,
der Mathematik, besonders der Lehre vom Un-
endlichen, sowie der Pädagogik bereits weiteren
Kreisen bekannt sein dürfte, beleuchtet und unter-
sucht das Problem des Relativismus eingehend
von allen Seiten. Er gelangt überall zu einer Ab-
lehnung der Ein st einschen Ideen, denen er ein
eigenes System gegenüberstellt. Aus den durch-
weg sehr klar und verständlich gehaltenen Aus-
führungen seien die Kapitel „Die Lobpreisung"
und „Die Verödung der Physik durch die rein
formale Behandlung" besonders hervorgehoben.
Fricke.
Rehmke, J., DieSeele desMenschen. 5. Aufl.
1920. 128 Seiten. (Aus Natur und Geistes-
welt. 36. Bändchen.)
Die kleine Schrift orientiert nicht allgemein
über den gegenwärtigen Stand der psychologischen
Forschung, sondern legt nur kurz dar, wie vom
Standpunkt des objektiven Idealismus, welchen
Professor Rehmke (Greifswald) vertritt, das
Wesen der Seele und das Seelenleben aufgefaßt
wird. Die Beweisführung des Verfs ist deduktiv,
insofern er von allgemeinen Sätzen seiner Grund-
wissenschaft ausgeht. Der naturwissenschaftliche
Beweis, welchen er auf S. 32 für die Möglichkeit
der vorausgesetzten psychophysischen Kausalität
bei Aufrechterhaltung der Geltung des Energie-
gesetzes zu führen versucht, ist unzulänglich. Eine
psychophysische Kausalität wird naturwissenschaft-
lich stets unerkennbar bleiben. Eine entfernte
Analogie haben wir für sie nur in der Teleologie
des biologischen Geschehens, wie sie Driesch
u. a. auffassen. Kranichfeld.
Literatur.
Barth, Technischer Selbstunterricht. Vorstufe. I. Brief,
Berlin '21, Oldenburg. 6 M.
Eckardt, Dr. W. R., Meervögel. Mit 32 Abbildungen.
Leipzig '20, Th. Thomas. 3 M.
Engler, A., Das Pflanzenreich. 75. Heft. Leipzig '21,
W. Engelmann. 128 M.
Hering, Ewald, Fünf Reden. Leipzig '21, \V. Engel-
mann. 14 M.
Gothan, Prof. Dr. Walter, Paläobotanik. (Sammlung
Göschen.) Berlin '20, Vereinigung wissenschaftlicher Ver-
leger. 2,10 M.
Bergens Museums Aarbok. 1918 — 1919. I. Heft. Natur-
widenskabelig Raekke. Bergen '21 , A. S. John Griegs
Boktrykkeri og N. Nielsen & Sohn.
Droste, Robert, Das Verhältnis der Geschlechtsbil-
dung auf der Erde und die Geschlechtsbestimmung. Leipzig '21,
Xenien-Verlag.
Giesenhagen, Lehrbuch der Botanik. 8. Aufl. Leip-
zig, B. G. Teubner. 18 M.
Inhalt: A. Meyer, Empirie urd Wirklichkeit. S. 361. — Einzelb erlebte: H. Spemann und H. Falkenberg, Zum
Determinationsproblem. S. 369. W. Bergt, Das Muttergestein des Serpentins im sächsischen Granulitgebirge. S. 370.
H. Klaatsch, Ausbildung der menschlichen Gliedmaßen. S. 370. H. Weigold, Die Wanderungen der Seeschwalben.
S. 371. R. Haller, Hydroperoxyd als Lösungsmittel II. S. 371. — Bücherbesprechungen: Th. Ziehen, Lehr-
buch der Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik. S. 372. Relativitäts-
theorie. S. 373. J. Rehmke, Die Seele des Menschen. S. 376. — Literatur: Liste. S. 376.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InTalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reibe 36. Band.
Sonntag, den 26. Juni 1921.
Nummer 26«
[Nachdruck verboten.]
Erblichkeit und Nicht-Erblichkeit.
Von Priv.-Doz. Dr. F. Alverdes, Halle a. S.
Beim Vererbungsvorgang werden nicht Eigen-
schaften, sondern lediglich A n 1 a g e n zu solchen
von den Eltern auf die Nachkommen übermittelt.
Der seit dem Jahre 1900 erstandenen experi-
mentellen Erblichkeitsforschung ver-
danken wir es, wenn wir diese beiden Begriffe
scharf unterscheiden lernten. Die Eigenschaften,
welche das Individuum besitzt, nennen wir mit
Johannsen seinen Phänotypus, mit Siemens
sein Erscheinungsbild; dieses letztere ent-
steht während der persönlichen Entwicklung auf
Grund der Erbanlagen, welche das betreffende
Geschöpf von seinen Vorfahren ererbt hat.
Die Anlagen allein tun's jedoch noch nicht, es
muß vielmehr noch ein Zweites hinzutreten, um
die Entstehung eines Individuums und seiner
Eigenschaften zustande zu bringen, das ist eine
passende Lebenslage. Was nützt ein Korn
der besten Weizenrasse, wenn der Landmann es
auf den nackten Fels aussät, was nützt ein Reis
der edelsten Obstsorte, wenn es ungenügend mit
Wasser versorgt wird, und was nützt die größte
musikalische Begabung, wenn jede Möglichkeit
fehlt, dieselbe zu pflegen! In allen drei Fällen
ist eine ungeeignete Lebenslage schuld, daß vor-
handene Anlagen nicht zur Entwicklung kamen.
Aber nicht allein darüber fällt der Lebenslage ein
Anteil der Entscheidung zu, ob überhaupt etwas
entsteht, sondern mehr oder minder weitgehend
kann die äußere Umgebung auch darüber mitbe-
stimmen, in welcher Weise die vorhandenen An-
lagen entwickelt werden. Besonders deutlich zeigt
sich dies z. B. bei der Blütenfarbe der chinesi-
schen Primel {Priviida sinensis), welche eine
gewisse Berühmtheit erlangt hat, nachdem Baur
auf diesen interessanten Fall aufmerksam machte.
Wenn wir Primelpflanzen einer bei Zimmertempe-
ratur rotblühenden Rasse einige Wochen, bevor
sie blühen, in Warmhaustemperatur von 30 — 35"
versetzen, so erscheinen bei ihnen ausschließlich
weiße Blüten, während ihre in Zimmertemperatur
belassenen Geschwister nur rote Blüten hervor-
bringen.
Nicht eindringlich genug kann es betont wer-
den, daß es aber nicht auf die Lebenslage allein
ankommt, denn keine Macht der Welt vermag
durch äußere Beeinflussung bei einer Art oder
einem Individuum etwas zu erzeugen, was nicht
auch in der Anlage vorhanden ist; so ist es un-
möglich, etwa an einem Rosenstock eine himmel-
blaue Blüte oder bei einer Kaninchenrasse ein
Rehgehörn zu erzüchten oder ein gänzlich un-
musikalisches Kind mit musikalischer Begabung
auszustatten. Wir müssen also sagen: damit bei
einem Individuum eine Eigenschaft zustande
kommt, ist zweierlei erforderlich: i. die betreffende
Anlage und 2. eine entsprechende Lebenslage,
In der Sprache der neueren Forschung be-
zeichnen wir das, was wir hier bisher die „An-
lagen" nannten, wohl auch als Erbfaktoren
oder Gene; dieselben stellen den Genotypus
(Johannsen) oder das Erbbild (Siemens)
dar. Es wird, wenn wir den Einfluß der äußeren,
in der Lebenslage (im Milieu) gegebenen
Faktoren kennzeichnen wollen, gesagt, die Erb-
faktoren reagieren in dieser oder jene Weise
auf die Faktoren der Lebenslage; das Reaktion s-
produkt sind dann die sich ergebenden Eigen-
schaften des Individuums oder sein Phänotypus,
sein Erscheinungsbild; die Grenzen, innerhalb
welcher dem Individuum ein Variieren möglich
ist, sind ihm durch seine Reaktionsnorm
(Woltereck) gezogen. Beim Vererbungsvor-
gang werden also Erbfaktoren übertragen, welche
mit einer ganz bestimmten Norm ausgestattet
sind, auf die eine Lebenslage so, auf die andere
so zu reagieren. Bei den verschiedenen Tier- und
Pflanzenarten sind die Anlagen selbstverständlich
mehr oder weniger weitgehend verschieden; aber
auch schon von Individuum zu Individuum schwankt
die Veranlagung; um uns dies vor Augen zu
führen, brauchen wir uns nur in der menschlichen
Gesellschaft umzusehen.
Diese Erkenntnis, daß stets die Anlagen und
eine entsprechende Lebenslage zusammenzuwirken
haben, um irgendeine Eigenschaft oder Fähigkeit
zur Entfaltung zu bringen, ist von größter Be-
deutung sowohl für den praktischen Züchter wie
für den Mediziner, den Pädagogen, den Ethno-
logen und den Biologen. Es gibt keine Eigen-
schaften, die nur vermittels der Lebenslage ohne
Anlage oder allein durch Anlagen ohne Mit-
wirkung einer Lebenslage entstanden sind. Dies
gilt sowohl für körperliche wie für geistige Merk-
male, doch liegen die Verhältnisse gerade hin-
sichtlich der letzteren ganz besonders kompliziert
Bei der Entscheidung, ob ein Mensch ein ihm
angeborenes Talent zur vollen Entfaltung bringt
oder nicht, spielt neben dem Umstände, in welches
Milieu er durch Geburt oder infolge sonstiger Er-
eignisse gerät, auch die Frage eine wichtige Rolle,
ob er die nötige Energie aufbringt, die ihm ver-
liehene Gabe in der richtigen Weise zu pflegen.
Die bei verschiedenen Individuen ganz verschieden
ausgebildete Willensstärke ist ihrerseits wieder
ein Produkt der Wechselwirkung von Veranlagung
37«
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
hierzu und IVIilieu, wobei allerdings nicht aus dem
Auge verloren werden darf, daß die eine Persön-
lichkeit sich von außen her sehr viel mehr beein-
flussen läßt als die andere. An diesem Beispiel,
bei welchem der Wille auf die Ausgestaltung
einer besonderen Fähigkeit von hervorragender
Bedeutung sein kann, sehen wir bereits, wie weit-
gehend im Individuum die verschiedenen Anlagen
in ihren Auswirkungen Einfluß aufeinander ge-
winnen können.
Der Mensch vermag sich bewußt diejenige
Lebenslage zu schaffen, welche er zur Ausge-
staltung seiner Fähigkeiten für die geeignetste
hält, und auch seine Mitmenschen sind bemüht,
ihn von Kindheit auf in einer für ihn selbst wie
für die Allgemeinheit nützlichen Weise zu beein-
flussen. Es hängt von seiner Gesamtveranlagung
ab, wie er auf das dargebotene Milieu „reagiert".
In der Lebenslage des Menschen ist die T r a d i t i o n
(im weitesten Sinne gefaßt) von größter Be-
deutung. Was würde aus der menschlichen Ge-
sellschaft, wenn die Tradition plötzlich aufhörte,
wenn also die Jugend nicht mehr in der Sprache,
in den Handfertigkeiten und täglichen Verrich-
tungen unterwiesen und zu einem Berufe heran-
gebildet würde 1
Daß bei Tieren und Pflanzen Eltern und Nach-
kommen stets wieder der gleichen Art ange-
hören, daß also z. B. aus dem Ei eines Haus-
sperlings stets wieder ein solcher hervorgeht, er-
schien, weil tausendfältig beobachtet, dem Menschen
als selbstverständlich. Demgegenüber wurde die
Weitervererbung bestimmter Eigentümlichkeiten
(z. B. einer weißen Haarlocke oder eines Mutter-
mals) als ein besonderer Übertragungsvorgang
aufgefaßt. Nicht aber das für uns oft so erstaun-
lich wirkende Wiedererscheinen dieses oder jenes
Merkmals in späteren Generationen bedarf in
erster Linie der Aufklärung, sondern vor allem
muß zunächst einmal das Problem gelöst werden,
wodurch die Konstanterhaltung der Arten und
Rassen gewährleistet ist. Bei der Besprechung
des Vererbungsbegriffes ist ganz besonders her-
vorzuheben, daß das, was im täglichen Leben
„erben" genannt wird (also die soziale Ver-
erbung), eine Übertragung von Lebenslage-
faktoren ist und sich damit als das genaue
Gegenteil der biologischen Vererbung dar-
stellt, bei welcher es sich um eine Übertragung
von Erbfaktoren handelt. Mit Recht weist
Johannsen darauf hin, daß aus diesem Grunde
für die biologische Vererbung eigentlich ein neuer
Begriff zu schaff"en sei.
Verschiedenheiten zwischen den Individuen
einer bestimmten Rasse oder Art können beruhen
1. darauf, daß dieselben sich in einer verschiedenen
Lebenslage befinden oder zeitweise befanden,
2. auf Unterschieden in ihren Erbanlagen und
3. auf den beiden genannten Umständen gleich-
zeitig. Dieselben Ursachen liegen vor, wenn wir
die Verschiedenheiten zwischen Eltern und Kindern
betrachten: entweder wirkten auf sie verschieden-
artige Lebenslagen ein oder sie sind verschieden
veranlagt oder — und letzteres wird wohl meist
der Fall sein — Lebenslage und Anlagen sind
gleichzeitig irgendwie verschieden.
Jedes Individuum erhält seine Anlagen von
den Vorfahren; die geschlechtliche Vermehrung
bringt es mit sich, daß immer wieder neue Kom-
binationen von Erbanlagen gebildet werden. Nicht
immer vermögen die Erbfaktoren ihre Anwesen-
heit durch Ausbildung entsprechender äußerer
Eigenschaften zu manifestieren, weil einerseits
andere Erbfaktoren, andererseits aber auch manche
Lebenslagefaktoren sie daran hindern können. Dies
haben die zahlreichen in den letzten 20 Jahren
an Tieren und Pflanzen durchgeführten Vererbungs-
versuche kennen gelehrt (vgl. hier das Beispiel
der chinesischen Primel, bei der Wärme
die Ausbildung roten Blütenfarbstoffes unterdrückt).
Besitzen Eltern und Kinder verschiedenartige
Erbanlagen, so haben sie damit eine verschiedene
Reaktionsnorm; sie werden also auch auf die
gleiche Lebenslage mehr oder weniger verschieden
reagieren müssen I Die meisten Verschiedenheiten
hinsichtlich der Reaktionsnorm bei aufeinander-
folgenden Generationen erklären sich durch die
infolge der geschlechtlichen Vermehrung ein-
tretende Neukombination von Erbanlagen; ge-
legentlich ereignet sich jedoch auch eine andere
Form der Reaktionsnormänderung, welche wir
Sprungvariation oder Mutation nennen
und bei welcher die Reaktionsnorm plötzlich eine
sprungartige Veränderung erleidet. Die Nach-
kommen solcher mutierter Individuen erlangen
nicht etwa die alte Reaktionsnorm wieder, sondern
behalten die neue bei.
„Rückschläge" und Atavismen sind wohl stets
dadurch zu erklären, daß sich in den betreffenden
Fällen Erbfaktoren generationenlang nicht mani-
festieren konnten, weil sie hierzu nur bei Zu-
gegensein anderer Erbfaktoren imstande sind oder
weil sie durch die Wirksamkeit anderer Erbfaktoren
überdeckt wurden oder weil die erforderliche
Lebenslage fehlte.
Durch Kombination von Erbfaktoren können
unter Umständen Neuheiten entstehen, welche
weder bei den Eltern noch bei den weiteren Vor-
fahren vorhanden waren; wir nennen dieselben
Kreuzungsnova. Am bekanntesten sind die
Neuheiten, welche bei Bastardierung verschiedener
Mäuserassen entstehen können. Cuenot
kreuzte z. B. eine wildfarbene mit einer weißen
Maus; in der Enkelgeneration zeigten sich dann
neben den großelterlichen Typen schwarze Tiere.
(Wegen weiterer Einzelheiten siehe meine jüngst
erschienene Schrift: „Rassen- und Artbildung",
Abhandlungen zur theoretischen Biologie, Heft 9,
Berlin 1921, woselbst die hier berührten Fragen
im Zusammenhang mit den Problemen der Des-
zendenzlehre eingehend diskutiert werden.)
Für den Züchter ist eine Erscheinung von
größter Bedeutung, welche Baur als Nach-
wirkung bezeichnet. So geht bei Haustierrassen
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
379
infolge schlechter Ernährung manches Merkmal,
wie z. B. Frühreife (worunter beschleunigtes, früh-
zeitig abgeschlossenes Wachstum zu verstehen ist)
für mehrere Generationen verloren. Eine solche
Nachwirkung ist naturgemäß für die Züchtung
domestizierter Rassen von hervorragender Wichtig-
keit. Nur durch sie ist nach Kronacher die
oft außerordentliche Steigerung der Haustierrassen
möglich. Nach den neueren Anschauungen be-
ruhen auch die physiologischen Rasseeigenschaften
(wie z. B. Milchleistung) auf besonderen Erb-
faktoren. Der Ausbildungsgrad derselben ist je-
doch stark abhängig von der Lebenslage. Die
Leistungsfähigkeit des Individuums hängt nicht
nur ab von den Einflüssen, welche dieses selbst
trafen (z. B. Aufzucht, Haltung, Fütterung und
Übung), sondern auch von denjenigen, welche sich
bei den Vorfahren Geltung verschafften. Früher
nahm man an, daß die Eigenschaften einer be-
stimmten Rasse in allen Lebenslagen konstant
bleiben und daß man von dem Vorhandensein
des einen Merkmals stets auf das andere schließen
dürfe. Durch Erfahrungen höchst unangenehmer
Natur ist man jedoch von dieser Anschauung
zurückgekommen. Denn wenn sich in dem einen
Milieu ein für uns gleichgültiger morphologischer
Charakter zusammen mit einer Nutzungseigen-
schaft voll entwickelt, so ist damit noch nicht ge-
sagt, daß dies auch in einem anderen Milieu un-
bedingt geschehen muß. Vielleicht wirkt das
letztere gerade der Ausbildung der Nutzungs-
eigenschaft entgegen, so daß wir in diesem Falle
den morphologischen Charakter allein auftreten
sehen. Derartiges geschah des öfteren, wenn
Haustiere von dem einen Klima, unter welchem
sie gediehen, in ein anderes, völlig davon ver-
schiedenes überführt wurden.
Die Tätigkeit des Züchters besteht darin, daß
er I. die in gewünschter Richtung reagierenden
Rassen isoliert oder durch bewußte Kreuzung
schafft und 2. auf eine Generation wie die andere
eine gleich günstige Lebenslage einwirken läßt,
um durch Nachwirkung verstärkte optimale Re-
aktionen aus seinem Material herauszuholen. Denn
es ist nicht nur von Bedeutung, eine Rasse mit
günstiger Reaktionsnorm zu besitzen, sondern man
muß auch eine Lebenslage herstellen, auf welche
diese Rasse in der erwünschten Weise reagieren
kann. Es genügt dabei nicht, daß das Individuum
selbst unter zweckentsprechenden Verhältnissen
aufwächst und lebt, sondern schon die vorauf-
gehenden Generationen müssen sich in einem
förderlichen Milieu befunden haben.
Die Schwankungsbreite der physiologischen
Eigenschaften ist also durch die Erbfaktoren fest-
gelegt; der individuelle Ausbildungsgrad dieser
Eigenschaften wird jedoch durch die auf das Einzel-
tier sowohl wie durch die auf seine Vorfahren ein-
wirkende Lebenslage bestimmt. Die Angehörigen
verschiedener Rinderrassen liefern nach Kro-
nachereinen jährlichen Milchertrag von 550 — i lool
resp. 1200 — 2600 1, 1500 — 3500 1, 2000 — 7000 1
usw. Die Rassenunterschiede bleiben bestehen
auch unter der gleichen Lebenslage. Trotz bester
Pflege und strengster Auswahl der zur Weiterzucht
verwendeten Tiere ist es unmöglich, über die
Variationsgrenze der Rasse hinauszuzüchten. Ganz
allgemein gesprochen wird man Individuen von
mittlerer Leistungsfähigkeit einerseits dann er-
halten, wenn die Anlagen mittelgute waren, die
Pflege jedoch, welche aufgewendet wurde, eine
sehr sorgfältige war; andererseits werden sich
selbst bei vortrefflichen Anlagen ebenfalls nur
Durchschnittsleistungen erzielen lassen, wenn die
Lebenslage eine wenig günstige war. Um ein
Beispiel aus dem menschlichen Leben zu geben:
Derjenige, welcher viel Fleiß auf die Pflege eines
kleinen Talentes verwendet, bringt es weiter als
ein Genie, das seine Gaben verkommen läßt.
Da, wie wir sahen, nicht Eigenschaften, son-
dern nur „Anlagen" (Erbfaktoren, Gene) bei der
Vererbung übertragen werden, so ist es eine
höchst unglückliche Fragestellung, ob es eine
„Vererbung erworbener Eigenschaften"
gibt oder nicht. Zudem war von jeher eine
Quelle des Mißverständnisses der Umstand, daß
die Autoren unter dem Begriffe der „Vererbung"
ganz verschiedene Dinge verstanden. Die einen
bezeichneten als Vererbung allein schon eine
Übereinstimmung in den Eigenschaften (eine
phänotypische Übereinstimmung), andere er-
kannten als solche nur das Vorhandensein der
gleichen Reaktionsnorm (eine genotypische
Übereinstimmung) an, wieder andere forderten
das gleichzeitge Zugegensein desselben Phänotypus
und desselben Genotypus.
Eltern und Nachkommen weisen die gleiche
äußere Erscheinung (den gleichen Phänotypus) auf,
wenn Anlagen und Lebenslage die gleiche ist;
ein durch viele Generationen konstant bleibendes
Milieu kann durch Vermittlung der Nachwirkung
den Phänotypus festigen und sichern. Ebenso
wird der Phänotypus gelegentlich gleich ausfallen,
trotzdem die Anlage für das eine oder andere
Merkmal oder die Lebenslage nicht völlig iden-
tisch ist. Eine vorhandene Nachwirkung kann es
unter Umständen mit sich bringen, daß die äußere
Erscheinung sich noch generationenlang unver-
ändert hält, trotzdem die Lebenslage wechselte.
Unter besonderen Umständen wird es vielleicht
auch geschehen, daß trotz vorhandener Differenzen
bezüglich einiger Erbfaktoren und trotz verschie-
dener Lebenslage das Erscheinungsbild sich den-
noch gleich gestaltet. Alle solchen Fälle erscheinen
bei rein phänotypischer Beurteilung als Erblich-
keit.
Von Nicht-Erblichkeit eines Merkmals
sprechen manche Autoren dann, wenn der Phäno-
typus bei Eltern und Nachkommen ein verschie-
dener ist. Dieser Erscheinung können differente
Vorgänge zugrunde liegen : entweder änderte sich
die Reaktionsnorm oder die Lebenslage oder beides.
Wird bei „Erblichkeil" vorausgesetzt, daß
Phänotypus und Reaktionsnorm gleichzeitig sich
38o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
ändern muß, so können diejenigen Abänderungen
nicht mehr als „erblich" anerkannt werden, welche
lediglich darauf beruhen, daß ein Milieuwechsel den
Phänotypus verwandelte; sondern es können nur
mehr solche Phänovariationen zugelassen werden,
die auf Verschiebungen der Reaktionsnorm beruhen.
Schalten wir bei der Beurteilung, ob Erblichkeit
oder Nicht- Erblichkeit vorliegt, das Erscheinungs-
bild ganz aus und betrachten nur mehr das Ver-
halten der Reaktionsnorm, so muß man, um kon-
sequent zu sein, auch solche Änderungen „erblich"
nennen, die sich äußerlich bei einer gegebenen
Lebenslage gar nicht manifestieren können, sondern
die nur in der Erbmasse gelegen sind und sich
dann gelegentlich hier und dort einmal bei späte-
ren Generationen unter anderen Lebenslagen oder
bei besonderen Faktorenkombinationen dokumen-
tieren.
Die dargelegten verschiedenartigen Auffassungen
der Begriffe Erblichkeit und Nicht-Erblichkeit haben
es mit sich gebracht, daß eine Einigung über sie
sich bisher nicht erzielen ließ. Denn wie soll
eine solche möglich sein, wenn der eine Autor
unter Erblichkeit bereits eine jede phänotypische
Übereinstimmung ohne Ansehung der Erbanlagen,
der andere eine Identität der Reaktionsnorm ohne
Berücksichtigung des Erscheinungsbildes und ein
dritter nur ein gleichzeitiges Übereinstimmen der
Phänotypen und Genotypen versteht? Auf jeden
Fall aber sind die beiden Begriffe nur beschrei-
bende Vergleichungen sei es von Phänotypen, sei
es von Genotypen aufeinanderfolgender Genera-
tionen; sie enthalten keine Aussage über die Zu-
stände der Erbsubstanzen selbst und über die-
jenigen Prozesse, welche sich während der indi-
viduellen Entwicklung bei ihrem Zusammenwirken
untereinander und mit den Faktoren der Lebens-
lage abspielen.
Das Bild einer „Vererbung erworbener Eigen-
schaften" kann bei rein phänotypischer Betrach-
tungsweise auf verschiedenem Wege zustande
kommen; i. kann sich die Reaktionsnorm ändern,
wodurch auch das Erscheinungsbild verändert
wird; eine so „erworbene Eigenschaft" hält sich
dann ungezählte Generationen hindurch bei jenem
IVlilieu, in welchem sie erschien, und vielleicht in
manchem anderen auch. Eine Reaktionsnorm-
änderung bedeutet stets eine tatsächliche Um-
prägung der Rasse oder Art; hier ist also etwas
wirklich Neues entstanden. 2. Eine Lebenslage-
änderung kann eine Veränderung des Phänotypus
mit sich bringen, ohne daß die Reaktionsnorm
davon berührt wird ; eine solche „erworbene Eigen-
schaft" verschwindet, sowie die Lebenslage wieder
die ursprüngliche wird, es sei denn, daß durch
Nachwirkung sich der neue Phänotypus noch
während einiger Generationen hält. Nachwirkung
ist noch keine dauernde Umprägung der Art, da
sie keine Veränderung der Reaktionsnorm dar-
stellt ; denn selbst dort, wo sich nach Verschwin-
den der veränderten Umweltsbedingungen eine
Nachwirkung über zahlreiche Generationen er-
strecken kann (wie den Untersuchungen von
Jollos zufolge bei einem Infusorium: Paraviae-
ciuni), ist ein schließliches Abklingen derselben
doch stets feststellbar.
Eine weitere Form der „Vererbung erworbener
Eigenschaften" ist bisher noch nicht aufgezeigt
worden; das Bestehen einer solchen wird jedoch
von denjenigen Autoren behauptet, welche eine
Nachwirkung bereits für eine Verschiebung der
Reaktionsnorm halten; sie wäre, wenn sie be-
stünde, die interessanteste. Durch IVIilieuänderung
müßte bei ihr im Erscheinungsbild ein neues
Merkmal auftreten; diese Änderung des Phäno-
typus hätte die Reaktionsnorm aller weiteren
Generationen in der Weise zu verschieben, daß
die phänotypische Änderung beibehalten würde,
selbst wenn die Lebenslage die alte würde. Man
verwechsle ein solches (zunächst nur in der
Theorie vorhandenes 1) Vorkommnis nicht mit
einem solchen, bei dem sich primär die Reaktions-
norm und dadurch sekundär der Phänotypus der
betroffenen und aller später folgenden Generationen
verschiebt. In unserem Falle müßte vielmehr die
phänotypische Abänderung das Primäre und die
Änderung des Genotypus das Sekundäre sein.
Dies sind keine bloß dialektischen Unterschiede;
sie sind vielmehr nach unseren bisherigen Erfah-
rungen sehr wohl darin begründet, daß die Reak-
tionsnorm der in den Keimzellen gelegenen Erb-
faktoren von den an den Eltern sich abspielenden
rein phänotypischen Vorgängen unberührt bleibt.
Als lediglich durch Nachwirkung entstanden
müssen wir nach Jollos die interessanten Erschei-
nungen auffassen, welche Kammerer für den
Feuersalamander mitgeteilt hat. Junge, unregel-
mäßig gefleckte Tiere, auf gelbem Lehm gehalten,
zeigten starke Vermehrung des gelben Pigments;
bei solchen, die auf schwarzer Erde lebten, ver-
mehrte sich das schwarze Pigment. Eine derartige
Behandlung zeigte ihre Wirkung auch bei den
Nachkommen; wurden die letzteren denselben
Bedingungen unterworfen, so verstärkte sich die
Abänderung der Färbung. In indifferentem oder
entgegengesetztem Milieu trat ein allmähliches
Abklingen der Wirkung auf. Bei weiteren Ver-
suchen verwendete Kammerer verschiedene
Rassen, welche teils aus der Natur stammten, teils
in der angegebenen Weise künstlich erzüchtet
waren. Bei Eierstocksüberpflanzung von Weib-
chen der einen Rasse auf solche einer anderen
und darauffolgender Kreuzung zeigte es sich, daß
nur von den Tieren der Kunstrassen eine Beein-
flussung der Nachkommenschaft in Form einer
Nachwirkung ausging, nicht von Angehörigen einer
Naturrasse. Daraus jedoch, daß bei den Kreuzun-
gen im Laufe der Generationen immer wieder eine
mehr oder minder rasche Rückkehr zu den Natur-
rassen eintrat, ist zu schließen, daß bei den expe-
rimentell erzeugten Kunstrassen nicht die Re-
aktionsnorm verändert wurde, sondern daß nur
eine Nachwirkung vorlag. Eine solche von der
durch Kammerer konstatierten Dauer , welche
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
381
mehrere Generationen in Anspruch nimmt und
sogar übergepflanzte fremde Eierstöcke in Mit-
leidenschaft zieht, ist von höchster Bedeutung.
Die Erscheinung, daß ein Merkmal sich meh-
rere Generationen hindurch zeigt (solange nämlich
die betreffenden Tiere und Pflanzen sich unter
dem Einfluß einer veränderten Lebenslage befin-
den), hat man wohl falsche Erblichkeit oder
Scheinvererbung genannt. Jedoch auch die
extremsten, als „nicht erblich" bezeichneten Va-
riationen müssen durch irgendwelche Anlagen be-
gründet sein ; denn sie würden nicht erscheinen
können, wenn sie nicht innerhalb der Reaktions-
norm lägen. Hierher sind auch Vorkommnisse
zu rechnen, wo durch einen Parasiten eine krank-
hafte Abänderung erfolgte. Gallenbildung bei
Pflanzen gilt als ein „nichterbliches Merkmal".
Es reagieren aber nur gewisse Pflanzenarten durch
eine solche und zwar nur auf den Stich gewisser
Insekten. Andere Arten weisen keine solche Re-
aktionsmöglichkeit auf. Die Fähigkeit, einen be-
stimmten Reiz durch Gallenbildung zu beantworten,
ist somit bei den betreffenden Arten eine durch
ihre Reaktionsnorm festgelegte Eigentümlichkeit;
ob die Reaktion erfolgt oder nicht, hängt von
dem Auftreten des entsprechenden äußeren Fak-
tors (des Insektenstiches) ab. Andererseits ist
das Nicht-Beantworten eines solchen Reizes, wel-
ches bei denjenigen Arten zu finden ist, die zur
Gallenbildung nicht instandgesetzt sind, eine für
diese charakteristische Eigentümlichkeit. Die
Differenz zwischen den gallenbildenden und nicht
gallenbildenden Pflanzenarten ist also ein Unter-
schied in der Reaktionsnorm; das Wesen der
Sache wird weniger durch die Aussage gekenn-
zeichnet, daß Gallen, (ein „äußeres Merkmal") im
einen Falle vorhanden sind, im anderen fehlen.
Denn dieses Merkmal fehlt ja auch denjenigen
Individuen gallenbildender Arten, welche zufallig
nicht von einem Insekt gestochen wurden. Es
kann also das Merkmal : „nicht gallenbildend" her-
vorgerufen werden entweder durch Fehlen einer
entsprechenden Reaktionsnorm oder trotz Vor-
handenseins einer solchen durch Fehlen des aus-
lösenden äußeren Faktors (des Insektenstichs).
Der Begriff der Scheinvererbung ist daher zu be-
schränken auf die Übertragung eines reizsetzenden
äußeren Faktors, also z. B. eines Parasiten von
einer Generation auf die andere, wie dies bei
manchen Krankheiten vor sich geht.
Eine umkehrbare Ventilrölire.
Von Prof. Dr. H. Greinacber (Zürich).
[Nachdmck verboten.] Mit I Abbildung.
Die Verwendungsweise der Ventilröhren ist Wendung der Ventilröhren zur Entfernung des
eine zweifache. Einmal kann man damit hoch- „Schließungslichts" ist namentlich in der Röntgen-
gespannten Wechselstrom in Gleichstrom um- technik eine ausgedehnte.
Abb. I a.
Abb. Ib.
wandeln; dann aber läßt sich der Sekundärstrom
eines Induktors, der an sich schon polare Eigen-
schaften hat, durch Abdrosselung der Schließungs-
induktion noch völlig gleichrichten. Die Ver-
Bei vielen der im Handel vorkommenden
Ventilröhren läßt sich nun die Ventilrichtung nicht
unmittelbar erkennen. Als Leitregel zur Er-
kennung der durchgelassenen Stromrichtung kann
382
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
zwar der Umstand dienen, daß die größere, frei
in der Glaskugel angebrachte Elektrode Kathode,
die kleine, meist in einem engen Fortsatz ange-
brachte Elektrode Anode wird. Allein, selbst der
Fachmann wird diese Art der Polbestimmung ge-
legentlich lästig finden. Will man ferner die
Stromrichtung umkehren, sei es, daß falsch ver-
bunden wurde, oder, daß man Versuche mit
Stromumkehr machen will, so wird man jeweils
die Zuleitungsdrähte umwechseln müssen.
Die neue Röhre ist nun so eingerichtet, daß
man die Verbindungsdrähte beliebig anlegen kann
und daß man nachträglich die Stromrichtung nach
Belieben wählen, auch den Strom während des
Versuchs kommutieren kann. In einem Metall-
zylinder (Abb. I a) befindet sich ein Aluminium-
kügelchen. Dieses verbindet den rechten Stift
metallisch mit dem Hohlzylinder. Da sich an
diesem (außen) das negative Glimmlicht unge-
hindert ausbreiten kann, so wirkt er als Kathode.
Der Strom fließt leichter vom Stift links nach
dem rechts. Dreht man aber die Glaskugel
mittels des Scharniers am Holzstatif etwas, so daß
das Kügelchen nach links rollt (Abb. i b), so ist
die Rolle der Elektroden vertauscht, und der
Strom fließt von rechts nach links. Man bemerkt,
daß der Strom immer von der höher gelegenen
Elektrode (wie es der Bedeutung des Wortes
Anode entspricht), nach der tiefer gelegenen
Elektrode fließt; ein Irren scheint ausgeschlossen.
In Wirklichkeit muß die Röhre (nicht wie in
der Skizze) nur um ein weniges gekippt werden,
um die Umschaltung vorzunehmen. Es lassen
sich mit der Röhre eine Reihe hübscher Wechsel-
stromversuche ausführen, die um so wirkungs-
voller ausfallen, als man der Ventilröhre äußerlich
gar nichts von ihrer Umkehrbarkeit ansieht. Die
neue Röhre wird von der Glasinstrumentenfabrik
Emil Gundelach in Gehlberg (Thüringen) ge-
liefert.
Notiz über Stentor igneus Ehrenl). als Ursache auffallender Wasserverfärbung.
[Nachdruck verboten.]
Von Josef Gicklhorn.
(Aus dem pflanzenphysiologischen Institut der Universität in Graz.)
Die Massenentwicklung von Algen und Flagel-
laten kann unter bestimmten Bedingungen in
freier Natur derartige Dimensionen annehmen, daß
die betreffenden Standorte verschiedene Farben-
änderungen zeigen, die durch die volkstümlichen
Ausdrücke „Wasserblüte, roter Schnee, Blutsee
usw." allgemein bekannt sind. In einigen Fällen
ist es nur die Oberfläche von Wasser oder Schnee,
in anderen aber die ganze Wassermasse,
welche eine Farbenänderung erleidet. Die Zahl
der bisher untersuchten und mitgeteilten Beispiele
ist ganz beträchtlich; aus einem Überblick ergibt
sich vor allem, daß sehr verschiedene Gattungen
und Arten von Algen, bzw. Flagellaten sich an
diesen immer recht auffallenden Verfärbungen
des Wassers beteiligen können. Mit Ausnahme
der im Frühjahr als „Schwefelregen" zu beobach-
tenden Gelbfärbung der Wasseroberflächen
durch ungeheure Mengen von verwehtem und auf
dem Wasserspiegel von Seen, Teichen und Tüm-
peln abgelagertem Pollen von Koniferen
sind es wohl durchgehends Organismen, wel-
che eine oft überraschend schnell einsetzende
Umfärbung unserer Binnenwässer verursachen.
Die normale Färbung größerer und kleinerer
Wasserbecken, Flüsse und Bäche in grünlichen,
gelblichen oder bläulichen Tönen wird bekannt-
lich aber nicht durch Organismen, sondern durch
rein physikalische Faktoren bestimmte (Aufseß).
Indem ich im einzelnen auf die zusammen-
fassenden Berichte von Zacharias (l, 2), Klaus-
ner und Thomas (i, 2) verweise, will ich hier
nur zur Übersicht eine kleine Zusammenstellung
der häufigsten und charakteristischsten Farben-
änderungen und ihrer Erreger geben. Grün-
färbung verursachen: Chlorella vulgaris, Scene-
desmus-, Euglena- und Chlamydomonasarten, die
Volvocineen Eudorina, Volvox und Gonium pec-
torale, in seltenen Fällen selbst die Desmidiacee
Cosmarium silesianum. Microcystis und Aphani-
zomenonarten, ebenso Rivularia echinulata bewir-
ken einen schmutzig grünen oder grünblauen
Farbenton der Wasseroberfläche. Gelbfärbung
wird hervorgerufen durch Diatomeen, Ceratien
und Peridineen. Rotfärbung tritt auf bei
Massenentwicklung von Euglena sanguinea und
Eu. haematodes, der Purpurbakterie Chromatium
Okeni; ferner wird oft Schnee und Eis verfärbt
durch Haematococcus pluvialis und ebenso können
Oscillatoria rubescens und bestimmte Peridineen
den Anstoß für auffallenden Farbenwechsel zu
roten Tönen geben. Bemerkenswerterweise lösen
sich verschiedene Algen am gleichen Standort
in ihrer Massenentwicklung als „Wasserblüte" ab;
so bildete im großen Plönersee nach Untersuchun-
gen im Jahre 1901 von Juli bis August Rivularia
echinulata eine Wasserblüte, auf welche Micro-
cystis aeruginosa vom Oktober bis November folgte.
Die von Alpinisten und Polarfahrern als „roter
Schnee" beschriebene Verfärbung der Schnee-
flächen und Gletscher wird nach Chodat, Wille,
v. Lagerheim, Wittrock u.a. (siehe 0 1 1 -
manns, S. 213 — 219) vor allem durch Chlamydo-
monaden verursacht, am häufigsten durch Sphae-
rella nivalis; doch werden bisher nicht weniger
als 50 Organismenarten als Erreger des „Blut-
schnees" genannt (Oltmanns S. 187). Nach
Simony wird der „schwarze Schnee" oder die
Gletscherschwärze durch Protococcus nigricans
hervorgerufen.
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
383
Mit dieser Notiz möchte ich auf einen
bisher nie erwähnten Fall aufmerksam
machen, in dem eine auffallende Fär-
bung, bzw. Umfärbung des Wassers
durch einen Ciliaten und zwar Stentor
igneus Ehren b. verursacht wurde. Den
ganzen Sommer und Herbst 1920 über und in
einer allerdings schwächeren Entwicklung während
der folgenden milden Wintermonate beobachtete
ich in einem kleineren Tümpel im Stiftingtal bei
Graz die Massenvegetation dieses Ciliaten. Stentor
igneus kommt hier in solchen Mengen vor, daß
der Wasserspiegel, Pflanzenteile und die am Rande
eingelassenen Pfosten ganz rotbraun erscheinen.
Es handelt sich bei diesem Tümpel, der am Nord-
abhang der Ries im Stiftingtal an einem Fahrweg
liegt, anscheinend um einen wegen des derzeit
verschmutzten Wassers aufgelassenen Tränkplatz
für Zug- und Weidetiere. Bei oberflächlichem
Betrachten ähnelt der Farbenton des Wasser-
spiegels und der Uferränder dem einer reich ent-
wickelten Diatomeenvegetation, nur ist der Farben-
ton nicht so ausgesprochen braun oder hellgelb,
sondern mehr rotbraun oder oft tief dunkelrot.
Bei ruhigem Wetter erweist isich bei genauerem
Zusehen die Wasseroberfläche wie übersät mit
zahllosen Pünktchen, die eben ausschließlich kon-
trahierte Stentoren sind. Diese sonst nicht häu-
fige Art ist bekanntlich durch einen einfach ellip-
soidischen Kern ausgezeichnet, führt reichlich
Zoochlorellen und lagert in den äußeren Plasma-
schichten zahllose winzige K a r o t i n (= Hämato-
chrom-)Körnchen ab. Die Größe schwankt
zwischen 300 und 400 fi und je nach dem Zu-
stand, ob kontrahiert oder ausgestreckt, variiert
der Farbenton von einem schwachen Karminrot
bis zu einem Dunkelrot. Durch Verlagerung
undBallung der Karoti nkörnchen kann
die grüne Farbe der Zoochlorellen sich
derart geltend machen, daß Stentor
igneus ebenso einen täglichen Farben-
wechsel erleiden kann, wie Euglena
haematodes, welche nach Lemmermann
(S. 486) die Gewässer am Tage zinnoberrot, gegen
Abend infolge Umlagerung des Karotins grün
färbt. Bei meinem Material habe ich diesen
Farbenwechsel gleichfalls verfolgen können.
Die Farbenänderung, welche durch die Massen-
vegetation von Stentor igneus an dem ge-
nannten Fundort hervorgerufen wird, ist besonders
bei stillem Wetter auffallend, bei bewegtem
Wasser oder nach starker Verunreinigung durch
zugeführtes Schmutzwasser nach Regen verschwin-
det die braune Farbe des Tümpels und macht
einer durch die suspendierten Lehmteilchen be-
dingten ockergelben Färbung Platz. Nach dem
Sedimentieren kommt zuerst die auffallende rot-
braune Farbe der Wasseroberfläche , und erst
später bemerkt man die festsitzenden Stentoren
an Wasserpflanzen und den Rändern des Tümpels.
Nebenbei erwähne ich, daß Stentor viridis,
St. polymorphus und St. caeruleus an
dieser Lokalität fehlten, während in einem Tümpel,
nur wenige Minuten von dem früher genannten
entfernt, besonders Stentor viridis lockere
Detritusflocken intensiv grün durchfärbte. Ver-
einzelt kamen auch Stentor caeruleus und St.
polymorphus hier vor.
In diese Notiz möchte ich die weitere Beobach-
tung aufnehmen, nach der Stentor igneus
während der Wintermonate 1921 knapp
unter dem Eis in Wasser bei Tempera-
turenvon i — s'C überNullsich ingroßer
Menge lebend erhalten hat. Einmaliges,
auch nur kurz dauerndes Einfrieren,
haben die beobachteten Stentoren nie
überlebt. Ganz in Übereinstimmung mit älteren
Literaturangaben bei Ehrenberg (zit. nach
Bütschli) beobachtete ich ein Zerfließen der
vorher kontrahierten Stentoren.
Literatur.
Aufseß, O. V., Die Farbe der Seen. Ann. d. Physik.
1904. 4. Folge.
Bütschli, O., Protozoa. Bronns Klassen und Ordnun-
gen des Tierreiches. II. Bd. III. Abt. 1889. S. 1814.
Cohn, F., I. Haematococcus pluvialis. Jahresber. d,
schles. Ges. f. vaterl. Kultur. 1881. S. 318.
Ders. , 2. Untersuchungen über Bakterien. II. Beitr. z.
Biol. d. Pflanzen. 1. Bd. 1875. S. 164.
Klausner, C, Die Blutseen der Hochalpen. Internat,
Rev. d. ges. Hydrobiol. I. Bd. 190S — 1909. S. 359.
Lemmermann, E., Kryptogamenflora der Mark Bran-
denburg. III. Bd. Algen I. 1910. S. 29 u. 486.
Oltmanns, Fr., Morphologie und Biologie der Algen.
II. Bd. 1905. S. 187. Daselbst weitere Literatur S. 213—219.
Plümecke, O. , Beitrag zur Ernährungsphysiologie der
Volvocaceen, Gonium pectorale als Wasserblüte. Ber. d. D.
Bot. Ges. 32. Bd. 1914. S. 131.
Rostafinski, Vorläufige Mitteilungen über den roten
und gelben Schnee usw. Ref. in Justs Jahresber. 8, I. T.
Simony, Über den schwarzen Schnee oder die Gletscher-
schwarze. Protococcus nigricans. Deutsch. Alpenzeitg. 1881.
Thomas, Fr., I. Ein neuer durch Euglena sanguinea
erzeugter kleiner Blutsee in der baumlosen Region der Bündner
Alpen. Mitteil. d. thüring. bot. Ver. 1S97. Bd. 10. S. 28.
Ders. , 2. Die Aroser- und andere Blulseen. Ebenda
Bd. 15. 1900.
Zacharias, O., I. Über die ErgrUnung der Gewässer
usw. Biol. Zentralbl. 1902. Bd. 22. S. 700.
Ders., 2. Über Grün-, Gelb- und Rotförbung der Ge-
wässer usw. Forschungsber. a. d. biol. Station zu Plön. T. X,
1903. S. 296 — 303. Daselbst Literatur.
Faläoklimatologisches im Lichte der Paläobotauik.
[Nachdruck verboten,] Von Dr. Robert Potoni^, Geologische Landesanstalt Berlin.
Von H. Potonie *) wurde das Klima, in dem gedacht, das neben beträchtlicher Feuchtigkeit
die Karbonmoore entstanden sein sollen, als tro- >) Potonie, H., Die Entstehung der Steinkohle,
pisch bezeichnet. Hierbei wurde an ein Klima s. 1521?.
1910,
384
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
eine Durchschnittstemperatur aufweist, wie sie
heute im Bereich des Äquators in den Ebenen
vorhanden ist.
Die Gründe hierfür waren für H. P o t o n i e in
einer Reihe von Eigenschaften der Karbonpflanzen
gegeben, die sich entsprechenden Eigenschaften
heutiger Tropenpflanzen an die Seite steilen lassen.
So wies er u. a. auf die Kauliflorie gewisser
Karbonpflanzen hin, und weiter auf ihre Jahres-
ringlosigkeit, auf Baum- und Kletterfarne usf. —
Mag man zu dieser Anschauung H. Potonies
stehen wie man will, eines ist sicher, die Stein-
kohlenpflanzen zwingen uns zu der Annahme, daß
sie in einem außerordentlich gleichmäßigen, feuch-
ten und frostfreien Klima aufgewachsen sind.
Überall auf dem Erdball, wo sich in den
Schichten der Steinkohlenzeit Pflanzenreste vor-
finden , die die genannten Eigenschaften zeigen,
da müßte also nach H. Potonie zu jener Zeit
ein tropisches Klima geherrscht haben. Solches
Klima wäre dann aber für weite Teile des Erd-
balls zu fordern, weil, wie nachher genauer ange-
deutet werden soll, eine Steinkohlenflora von
mitteleuropäischem Habitus in einem Bereich ge-
funden worden ist, der nahe am Nordpol beginnt
(Unterkarbon) und nicht weit nördlich des
Äquators endet (Mittelkarbon), so die ganze nörd-
liche Erdhalbkugel umspannend. Man müßte sich
vielleicht sogar sagen, daß auch im Gebiet der
heutigen Eisbedeckung einst eine tropische Flora
gegrünt hat und zwar deshalb, weil „tropisch"
anmutende Pflanzenreste in so großer Nähe der
Eiskalotte gefunden worden sind.
Mancherlei Einwände sind nun der Annahme
eines karbonischen „Tropenklimas" gemacht wor-
den.
So äußert Gothan in der neuen Auflage von
„Die Entstehung der Steinkohle" 1920, S. 153,
das größte Hindernis für die Annahme eines tro-
pischen Klimas für die Karbonmoore liege zweifel-
los in der Verbreitung der heutigen wichtig-
sten Steinkohlenbecken, die sich in einem ähn-
lichen Gürtel und in ähnlichen Breiten um die
Nordhemisphäre herumzogen, wie die heutigen
Moore der temperierten Zonen. Zu Gothans
Einwand ist zu sagen : Die wichtigsten Steinkohlen-
becken befinden sich nicht deshalb im Bereich
der heutigen Hauptmoorgebiete, weil dort die
Steinkohlenflora besonders zu Haus gewesen wäre,
sondern deshalb, weil mächtige Kohlenlager Hand
in Hand mit Gebirgsbildungen entstehen. So
sind in Europa die Hauptkohlenbecken an das
Gebiet der armorikanisch - varistischen Gebirgs-
bildung geknüpft, jener Gebirgsbildung, die durch
Karbon- und Permzeit wirkte. Nicht deshalb
finden sich hier besonders viele Karbonpflanzen-
reste, weil hier die klimatischen Bedingungen be-
sondere gewesen sind, sondern deshalb, weil hier
die Erhaltungsbedingungen günstigere waren. Die
Verbreitung der Karbonpflanzen und somit auch
das Klima, das sie brauchten, reicht weit über die
Hauptkohlenvorkommen hinaus, was ja schon
erwähnt wurde.
Gegen die Tropennatur der Karbonmoore
ließe sich aber vielleicht folgendes sagen. Unsere
heutigen Flachmoore der gemäßigten Zone zeigen
ebenfalls Charaktere, die zu den Tropen weisen.
Man könnte daher auch von der Vergangenheit
annehmen, schon damals hätte die Vegetation
der Flachmoore einen Habitus gehabt, der süd-
licher gestimmt war als der der Pflanzen ihrer
Umgebung, und man müßte hieraus schließen,
das Klima der Karbonzeit sei ein weniger warmes
gewesen als die Pflanzen der karbonischen Flach-
moore vermuten lassen.
Wir finden nämlich in deutschen Flachmooren
u. a. folgende zum Süden weisende Pflanzen:
Alnus glutinosa,
Carex riparia;
Cladium mariscus,
Convolvulus sepium,
Humulus lupulus,
Limnanthemum nymphaeoides
Lonicera periclymenum,
Oryza claudestina (blüht bei uns schlecht),
Phragmites (bekommt in Kanada keine
Früchte, während Linnaea Früchte
trägt, was bei uns nicht der Fall ist),
Solanum dulcamara.
Auch die Farne und vor allem die Farnbäume
des Steinkohlenwaldes weisen darauf hin, daß die
Karbonmoore vielleicht doch nicht in einem rein
tropischen Klima entstanden sind, d. h. in einem
Klima, das der in der Einleitung gegebenen Defi-
nition entspricht. Jedenfalls pflegen heutzutage
die Farnbäume der Tropen nicht im Flachlande,
sondern namentlich in den kühleren aber feuchten
Schluchten von Gebirgen zu wachsen. Hierzu
möchte ich auf H. Chris ts Geographie der Farne
(Jena, 1910) verweisen. Es heißt da(S. 42): „Man
würde irren, wenn man sich vorstellen wollte, als
ob im äquatorialen Regenwald das Maximum der
Entwicklung und die Zahl der Farne mit der
Ebene, mit dem Meeresniveau oder mit der höch-
sten Temperatur beginnen würde. Im Gegenteil.
Erst in gewisser Höhe, erst mit Beginn der Ge-
birge und sogar erst in einer namhaften Höhe
beginnt das Leben der Farne sich zu einer höch-
sten Energie zu entfalten, und zwar deshalb, weil
eben die Farne nicht das absolute Maximum von
Wärme und von Feuchtigkeit verlangen, sondern
weil ihnen eine mäßige aber gleichmäßige Wärme,
eine nicht in übermäßigen Güssen gespendete,
sondern eine sanfter verteilte Regenmenge kon-
genial ist." Und weiter äußert sich Christ
(S. 52) in Anlehnung an Colenso über die ge-
waltige „Entfaltung der vermeintlich ausschließlich
tropischen Baumfarne" in Neuseeland, d. h. „im
gemäßigten Regenwalde der SHemisphäre". Und
bemerkt: „In diesem tiefen Süden zeigt es sich,
daß vor allem Luft- und Bodenfeuchtigkeit weit
mehr als hohe Temperatur wesentliche Bedingung
für die Farnbäume ist, und daß ihnen gelegent-
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliclie Wochenschrift.
38S
licher Frost nicht schadet. D i e 1 s führt an, daß
beschneite Farnkronen auf Tasmania kein seltener
Anblick sind, und daß in WNeuseeland die Farn-
bäume dicht an die Gletscher herangehen."
Die Farnbäume sind also ein schlechter Be-
weis für das „Tropenklima" der Karbonzeit. Den-
noch muß man sich mit Christ (S. 50) folgendes
vergegenwärtigen, um zu verstehen, daß anderer-
seits diese Pflanzen auf keinen Fall Bewohner ge-
mäßigter Zonen sind : „Die südlichsten Punkte,
wo noch Farnbäume auftreten, sind Tasmania und
die Südinsel Neuseelands mit Auckland. In Süd-
Brasilien geht die Dicksonia Sellowiana und Also-
phila procera bis St. Paulo; in N Argentinien bis
Misiones; im Kapland ist Hemitelia capensis die
letzte Etappe nach Süden.
Einleuchtend tritt hier die Gleichheit der
Temperaturkurve und die hohe Feuchtigkeit der
SHemisphäre als begünstigende Ursache hervor,
wie ja auch die kleinen und entfernten ozeanischen
Inseln: St. Helena, die Sandwichsinseln ihre Cya-
theaceen haben, bis zu den Kanaren hinauf, nicht
zu reden von Polynesien, wo alle Inselgruppen
wahre Herde endemischer Farnbäume sind."
Nach alledem wäre also nicht unbedingt eine
hohe Temperatur für den Farnwald der Stein-
kohlenzeit zu fordern, wie dies H. Potonie getan
hat. Denn besonders hohe Temperatur und Luft-
feuchtigkeit faßte er ja unter dem Begriff „tro-
pisch" zusammen.
Endgültig entschieden ist aber die Frage noch
nicht, ob die Karbonpfllanzen wirklich nirgends als
Tropenpflanzen aufgetreten sind, denn dann könnte
es, wie wir sehen werden, in der Vorzeit so gut wie
überhaupt kein tropisches Klima gegeben haben.
Nehmen wir nämlich an, daß tatsächlich die
Steinkohlenpflanzen kühlere aber gleichmäßig
temperierte und feuchte Standorte bewohnt haben,
was die Paläontologen als subtropische Standorte
zu bezeichnen pflegen, so müssen wir notgedrungen
zugeben, daß solche Standorte ungemein weit
verbreitet waren.
Man könnte nun darauf hinweisen, daß dennoch
Klimazonen vorhanden gewesen sein könnten, da
eine bestimmte Vegetation ihre Bedingungen je
nach der Klimazone in verschiedener Höhe über
dem Meeresspiegel findet. Wir wissen jedoch,
daß die Reste der Vorzeitpflanzen, soweit sie uns
überkommen sind, fast alle etwa in Höhe des
Meeresspiegels eingebettet wurden , also auch in
dieser Höhe gewachsen sind. Nur an solchen
Stellen waren die Bedingungen zur Erhaltung ge-
geben. Dies zeigt, daß die Farnbäume der Vor-
zeit wohl doch nicht an Standorte gebunden
waren, die gänzlich den Standorten rezenter Farn-
bäume entsprechen. — Daß aber die Pflanzenreste
der Vorzeit, soweit sie uns erhalten blieben, so
gut wie alle aus der Ebene stammen, führt uns
zu folgender Anschauung: Man muß sich allmäh-
lich deutlich auf den Standpunkt stellen, daß, so-
weit vorhandene Pflanzen in den einzelnen geo-
logischen Abschnitten ein Urteil erlauben, während
der Vorzeit vom Karbon bis mindestens zur
Kreide das Klima auf unserem Erdball im großen
und ganzen immer gleich gewesen ist und daß
vor allen Dingen dieses Klima während dieser
ganzen Zeit von beiden Polen bis zum Äquator
dasselbe oder doch mindestens ein sehr ähnliches
gewesen sein muß.
In dieser krassen Form ist dieser Schluß noch
nicht gezogen worden. Freilich finden sich Äuße-
rungen, die zu dieser Ansicht hinüberleiten können,
aber diese Äußerungen werden nur demjenigen
verraten, was denn eigentlich der Kern der Sache
ist, der schon vorher versucht hat, sich in der
angegebenen Richtung über die Dinge klar zu
werden. Wer sich dagegen bisher gezwungen
fühlte anderer Ansicht zu sein, der wird bei dem
geringen Nachdruck, mit dem man bisher diese
Folgerungen aus den paläophytogeographischen
Tatsachen vorgebracht hat, zu der Überzeugung
kommen, die Paläobotaniker seien noch nicht in
der Lage, einen klaren Schluß zu ziehen.
Eine Äußerung, die uns zeigt, in welcher
Richtung man der Wahrheit über das Klima der
Vorzeit entgegengeht, finden wir in der neuen
Auflage des Potonieschen Lehrbuchs der Paläo-
botanik (S. 476). Sie stammt von W. Gothan
und lautet:
„Eine für uns außerordentlich schwer verständ-
liche Erscheinung beginnt vom Karbon an sich
durch viele geologischen Formationen hindurch
einzustellen; das Auftreten polnaher Vegetation
von einer Art, die sich von der höherer Breiten
nicht viel oder gar nicht unterscheidet. Mit der
oberdevonischen und kulmischen Flora beginnt
dies erstmalig in Erscheinung zu treten und taucht
in derselben oder ähnlicher Form im Jura, der
unteren (und oberen) Kreide und auch im Tertiär
noch wieder auf. Selbst wenn man für die ter-
tiären Floren von Spitzbergen, Grönland, Grinnel-
land, Neu-Sibirien , Ellesmere-Land ein etwa alt-
tertiäres Alter annimmt, verliert die Erscheinung
nichts von ihrem Befremdenden. Wir haben zu-
nächst in Grönland und Spitzbergen eine kulmische
Flora, die sich eng an die schottische altkarboni-
sche Flora anschließt; dieselben Formen, anschei-
nend auch Zuwachszonenlosigkeit der Holzge-
wächse sind zu beobachten wie bei uns. Da das
Problem, wie gesagt, in den späteren Perioden
in derselben Form auftaucht und sich erst in der
unteren Kreide Anzeichen einer nennenswerten
stärkeren Abkühlung am Pol einzustellen scheinen,
so bleibt nichts weiter übrig, als in diesen Ge-
bieten ganz ähnliche Vegetationsbedingungen an-
zunehmen, wie in den höheren Breiten ; so schwer
es uns auch fällt, im Rahmen der heutigen Ver-
hältnisse das zu verstehen, ') so müssen wir uns
doch zu der Vorstellung relativ gleich günstiger
') Anmerkung von Gothan: Die Polarnacht scheint
noch die geringste Rolle bei dieser Frage gespielt zu haben,
da im Tertiär sonst nicht wie in unseren Breiten dort Mag-
nolien, Sequoien, Taxodien ebensogut existiert haben könnten,
unter offenbar nicht ungünstigen Bedingungen.
386
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
Bedingungen für die Vegetation in verschiedenen
Breiten bequemen. Auch die früher öfter ge-
machten Annahmen der Polverlegungen helfen
uns aus dieser Klemme nicht heraus u-nd man
kommt wohl immer mehr von der Hypothese
weitgehender Änderung der Pollage ab ;
auch wir setzen bei unseren Betrachtungen diese
Hypothese beiseite."
Wie ersichtlich folgert Gothan aus einer
großen Fülle von Einzeltatsachen, daß während
des bei weitem größten Teils der geologischen
Vergangenheit „relativ gleich günstige Bedingungen
für die Vegetation" geherrscht haben müssen.
Gleich günstig also in der Nähe der Pole und in
der Nähe des Äquators. Abgesehen wird dabei
von Erscheinungen wie die Permische Eiszeit sie
mit sich gebracht hat. Erscheinungen, die sich
um so weniger schon heute übersehen lassen, als
auch damals die Pflanzenwelt in ihrer weiteren
Verteilung darauf hinweist, daß abgesehen von
den eigentümlichen „lokalen" Vereisungen die
zitierten Worte Gothans für diese Zeit eben-
falls ihre Geltung haben.
Durch den Ausdruck „gleich günstige Be-
dingungen" ist jedoch nicht voll und ganz er-
schöpft, was sich als logische Folgerung aus den
paläobotanischen Tatsachen ergibt. Dieser Aus-
druck könnte sich auch speziell auf Boden-, Nieder-
schlags- usw. Verhältnisse beziehen und wird auch
so verstanden, wie Unterhaltungen ergeben haben,
die ich namentlich mit Geologen über diese Dinge
gehabt habe. Kurz und gut, man wird aus dieser
Ausdrucksweise folgern müssen, es sei hier ge-
meint, die verschiedenen Bedingungen, die für
das Leben der Pflanze notwendig sind, sie hätten
zur Vorzeit von den Polen bis zum Äquator in
einem günstigen Wechselverhältnis gestanden.
Etwa so, daß z. B. da, wo hohe Temperatur eine
starke Verdunstung bedingte, reichere Nieder-
schläge vorkamen, die das wieder gut machten.
Wenn wir zusehen (und dies sei für den Geo-
logen gesagt), wie heute die Pflanzenwelt auf dem
Erdball verteilt ist, so bemerken wir, daß diese
Verteilung ganz außerordentlich abhängig ist von
der Temperatur. Ja, man möchte fast sagen in
erster Linie von der Temperatur. Man beachte
nur einmal die verschiedenen Vegetationsgrenzen
beim Besteigen eines Gebirges. Man könnte ein-
wenden, daß gewisse Gewächse wärmeren Klimas,
so z. B. die Magnolien sogar in den Gärten Nord-
deutschlands noch zu gedeihen vermögen. Aber
eben nur in den Gärten und durch die Pflege des
Gärtners. Von solchen mehr südlichen Gewächsen,
wie auch Ginkgo, Tulpenbaum usw. welche sind,
die sich unter der Pflege des Gärtners bei uns
wohl fühlen, wäre weiter zu sagen, daß sie sofort
zugrunde gehen würden, wenn der Gärtner ihnen
nicht den Platz von Konkurrenten frei hielte, für
hinreichendes Wasser sorgte oder dergleichen.
Nur derartiges vermag solchen Pflanzen die ihnen
in ihrer Heimat gebotenen Verhältnisse zu ersetzen.
Betrachten wir nun einmal etwas eingehender
die Verteilung der Pflanzen der Vorwelt auf dem
Erdball, so bemerken wir, daß seit jener Zeit,
die uns zuerst in größeren Mengen Pflanzenreste
hinterlassen hat, d. h. seit dem Karbon, in der
Nähe des Pols auch weiterhin häufig dieselben
oder doch nahe verwandte Arten auftreten wie
in Äquatornähe. Die Unterschiede, die sich
zwischen den Südlichsten und nördlichsten Vor-
kommen feststellen lassen, sind zu geringe, um
auf andere Standortsverhältnisse zu deuten. Das
südlichste Vorkommen der Karbonflora beschreiben
Douville und Zeiller.^) Es zeigt durchaus
den europäischen Typus und liegt im südlichen
Oran in Nordafrika bei 29" nördl. Breite. Das
Becken von Eregli am Schwarzen Meer zeigt
ebenfalls eine rein europäische Karbonflora hier
sogar mit denselben Horizonten wie sie z. B. in
Oberschlesien auftreten. Weiter findet sich eine
normale Karbonflora in Spanien.
Für das Unterkarbon ist zu sagen, daß seine
europäische Flora sehr ähnlich der argentinischen
und peruanischen ist und sie sich auch durchaus
derjenigen Spitzbergens an die Seite stellen läßt.
Die nördlichste dieser unterkarbonischen Floren
haben wir auf dem 81" nördl. Breite.
Besonders aufklärend in unserer Frage wirkt
die Betrachtung der Gondwanaländer.
Wo sich in diesen Gebieten eine Kulmflora
nachweisen läßt, ist sie wieder ohne weiteres
unserer europäischen Kulmflora an die Seite zu
stellen. Höheres Karbon ist aus diesen Arealen
unbekannt. Erst mit der Wende der Karbon- zur
Permzeit sind dann wieder Pflanzenreste führende
Schichten nachweisbar, die Überreste der be-
rühmten Gondwana- oder Glossopterisflora auf-
weisen.
Diese Flora ist charakterisiert durch eine
Anzahl von Leitformen, die sich mehr oder
weniger zahlreich überall an jenen Orten ge-
funden haben, deren Gesamtgebiet nach dieser
Flora bezeichnet wird. Der Name Gondwanaflora
stammt von einer ostindischen Lokalität, der
andere von einem fast überall zahlreich vor-
handenen Pflanzentypus, der farnartigen Glosso-
pteris. Als Leit- und Charakterformen dieser
Flora sind zu nennen i. die Glossopteriden (Glosso-
pteris und Gangamopteris) und deren Rhizome
(Vertebraria), 2. „Neuropteridium" validum Feist-
mantel, ziemlich große, einmal fiedrige, in der
Blattform an Cardiopteris und Sphenopteridium
dissectum erinnernde Wedel, 3. ist von den Equi-
setales zu erwähnen die Schizoneura (gondwa-
nensis) und die Phyllotheka-Arten, 4. die meist
mit Ginkgophyten in Verbindung gebrachten
Rhipidopsis-Arten, sowie einige andere z. T.
seltenere Formen wie Belemnopteris , Ottokaria,
Arberia u. a.
Die Glossopterisflora stellt also einen Typus
') Douville et Zeiller, Sur le terrain houiller du
Sud Oranais, Compt. rend. d. seances d. l'Acad. d. Sciences,
t. CXLVI, S. 732.
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
387
für sich dar. Indessen tritt sie nicht überall in
reiner Form auf. Vielmehr zeigen sich hier und
da europäisch - amerikanische Einschläge. So sei
nur an Südbrasilien erinnert und weiter sei darauf
hingewiesen, daß die Glossopterisflora an der
Dwina zusammen mit einer echten europäischen
Permokarbonflora vorkommt. Diese letzteren Tat-
sachen beweisen, daß das Klima nicht nur in den-
jenigen Gegenden überall ein verwandtes gewesen
sein dürfte, in denen wir die Glossopterisflora auf-
treten sehen, es dürfte dieses gleichartige Klima
sich über die Glossopterisgebiete hinaus auch
über die Gebiete mit typischer Permokarbonflora
erstreckt haben. Diese Permokarbonflora wieder-
um beweist durch ihre Zusammensetzung, daß sie
ein gleiches Klima beansprucht wie die Floren
des vorangegangenen Karbons.
Wir können somit die zwar zeitlich außer-
ordentlich voneinander getrennten Floren von
Unterkarbon, Oberkarbon und Rotliegendem alle
als ein und demselben Klima entstammend be-
trachten und daher für alle Gebiete, in denen sich
in den in Rede stehenden Formationen Pflanzen-
reste finden, ein gleichartiges Klima annehmen.
Wie gleichmäßig das Klima zur Vorzeit auf dem
ganzen Erdball gewesen sein muß, folgt also
namentlich aus der Betrachtung der Pflanzen-
verteilung um die Wende vom Karbon zum Perm.
Es geht, dies sei zum Schluß noch einmal
betont, nicht an, zu behaupten, die Pflanzen hätten
zur Vorzeit im weitgehendsten Maße die Fähig-
keit besessen, sich den verschiedensten klimati-
schen Verhältnissen anzupassen. Zwar sehen wir
heutzutage, daß hier und dort abgehärtete Formen
einer Art hervorgebracht werden können, was
jedoch heute nur ausnahmsweise stattfindet, das
kann man für die Vorzeit doch schlecht als Regel
gelten lassen.
Einzelberichte.
Die Elektrizitätsleitiiiig in festeu
kristallisierten Stoffen.
Über die Elektrizitätsleitung in Lösungen sind
wir dank den Untersuchungen seit Hittorf und
anderen Forschern, wie Ostwald, gut unter-
richtet. Sie geschieht so, daß in jedem Quer-
schnitt des Elektrolyten gleichzeitig ganz bestimmte
Mengen positiver und negativer Elektrizität sich
bewegen. Die Träger dieser Bewegung sind die
entgegengesetzt geladenen Ionen. Ihr A n t e i 1 an
der Leitung ist, wie man weiß, ganz verschieden.
Das ergibt sich aus den Konzentrationsänderungen
der verschiedenen Ionen, die durch die sog.
Überführungszahlen unmittelbar gemessen
werden können.
Bei festen einheitlichen Stoffen ist eine Be-
stimmung von Überführungszahlen offenbar weit
schwieriger, wenn überhaupt möglich, weil hier
keine Änderungen der Konzentration gemessen
werden können. So ist bisher nur einmal eine
derartige Bestimmung versucht worden. War-
burg und Tegetmeier^) elektrolysierten er-
hitzten Quarz, sowie Glas, beides ja definierte
chemische Verbindungen. Dabei fanden sie eine
„Konzentrationsänderung" nur für Natrium,
das sich in beliebiger Menge durch die betreffen-
den Stoffe hindurchelektrolysieren ließ. Das Sili-
kation des Glases dagegen nahm an der Strom-
bewegung offenbar überhaupt keinen Anteil. Es
ergab sich also die sehr merkwürdige und in alle
Lehrbücher eingegangene Tatsache, daß nur das
Kation, nicht aber auch das Anion in festen
kristallisierten Stoffen wandere.
Dieser allerdings nur auf spärliche Versuche
') Wiedemanns Anoalen 21, S.' 622, 1884 und 35,
S. 455. »888.
gestützte Schluß ist jedoch, wie neueste Unter-
suchungen von C. Tubandt*) beweisen, in der
bisher üblichen Fassung nicht aufrecht zu erhalten.
Tu b an dt fand vielmehr, daß sehr wohl auch
A n i o n e n fester Systeme wandern können.
Für diese experimentell schwierigen Unter-
suchungen kam eine neue Methodik in Anwen-
dung. Es wurden kleine Zylinder aus den zu
elektrolysierenden Stoffen gepreßt und diese fest
aneinander haftend dem Stromdurchgang ausge-
setzt. Aus einer etwaigen Gewichtsveränderung
ließ sich dann die Konzentrationsänderung er-
mitteln. Dafür war aber nötig, daß die Zer-
setzungsprodukte der Elektrolyse in fester Form
und so abgeschieden wurden, daß die in Lösung
statthabenden störenden sekundären Umsetzungen
nach Möglichkeit ausgeschaltet wurden, so daß
eine quantitative Bestimmung der Elektrolysen-
produkte stattfinden konnte. Zu diesem Zweck
mußte beispielsweise die Kathode (auf Grund
früherer Erfahrungen) mit einem Zylinder aus
Silberjodid kombiniert werden, weil sonst die ab-
geschiedenen Metalle feinste aderähnliche Durch-
wachsungen der festen Stoffe bildeten, so daß sie
schließlich die Stromleitung allein übernahmen,
das eigentliche Bild also fälschten. Schaltete man
schließlich zwischen die unmittelbar an die Elek-
troden anschließenden Zylinder noch einen oder
mehrere Zwischenzylinder, so hatte man
damit ein Medium geschaffen, das dem Wasser
bei der Elektrolyse von Lösungen entsprach. Es
mußte der neutrale Zwischenzylinder also ge-
wichtskonstant bleiben. Geschah dies, so war
ein Meßfehler ausgeschlossen. Man hatte also
eine Apparatur, die die Bestimmung von Über-
'] Zeitschr. f. anorg. Chemie 115, S. 105, 1921.
388
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
führungszahlen im festen Zu stände gestattete.
Unter der Annahme völliger Dissoziation des
festen Stoffes kann man mithin auch die Wande-
rungsgeschwindigkeit im festen Stoff be-
rechnen.
Wir geben im folgenden eines der ver-
schiedenen Versuchsergebnisse Tubandts aus-
führlich wieder, um die Brauchbarkeit und Ver-
trauenswürdigkeit seiner bemerkenswerten Mes-
sungen darzulegen. Bei diesem Versuch betrug
die Höhe der Zylinder einige Zentimeter (höch-
stens 30 mm), der Durchmesser 10 mm. Selbst-
verständlich handelte es sich um tadellos reine
Präparate, deren Preßformen sorgfältig poliert
waren. Die Anode war ein Silberblech von
12 mm^, die Kathode ein Platinblech, Das
Ganze befand sich in einem heizbaren Porzellan-
rohr, außerdem war in den Stromkreis ein Coulo-
meter zwischengeschaltet. Bestanden die Zylin-
der aus festem, regulären Silberjodid, so
fand man folgende Zahlen:
Temperatur 150" 150" 300"
Stromstärke in Milliampere 5 40 20
Im Coulometer abgeschie-
denes Silber " 0,8337 0,5871 0,2906g
An Kathode abgeschiedenes
Silber 0,8339 0,5874 0,2908 g
Gewicht der Zylinjler vor 1 in allen Zylindern un-
und nach dem Versuch / verändert I
Gewichtsabnahme der
Silberanode 0,8338 0,5874 0,2910
Die quantitative Übereinstimmung der durch
das Coulometer einerseits, durch den Stromdurch-
gang an der Kathode andererseits abgeschiedenen
Silbermengen beweist, daß das Gesetz von Fara-
day auch für die Elektrizitätsleitung in festen
kristallisierten Stoffen streng gültig ist. Durch
jeden Querschnitt des festen Stoffes müssen mit-
hin Silber i o n e n gehen, die der jeweils passieren-
den Elektrizitätsmenge genau äquivalent sind, in
Richtung des positiven Stromes. Das Jod, also
das Anion, nimmt an der Überführung über-
haupt keinen Anteil, so daß hiernach der War-
burgsche Befund nicht berührt erscheint. Aber
Versuche mit Bleichlorid PbClg ergaben ein
zwar grundsätzlich, nicht aber dem Sinne nach
gletches Ergebnis. Hier nämlich waren die nega-
tiven Chlorionen die Träger des Stromdurchgangs,
während die positiven Bleiionen an feste Lage ge-
bunden erschienen. Auch Bleifluorid erwies
sich als rein elektrolytischer Leiter, aber wiederum
wandern nur die negativen Fluorionen.
Aus diesen und anderen Versuchen geht her-
vor, daß feste kristallisierte Stoffe immer ein-
seitig überführen, aber es sind nicht nur die
Kationen, sondern beide lonenarten, die jeweils
den Stromdurchgang ermöglichen.
Aus den von Tubandt und Lorenz^) be-
stimmten Leitfahigkeitswerten läßt sich weiterhin
die absolute Wandern ngsgeschwindig-
') Zeitschr. f. physik. Chemie 87, S. 523, 1914.
keit der Silberionen im festen Jodid berechnen.
Sie ist bei 145 Grad 0,55 10-^ cm/sec, ein Wert,
der der Geschwindigkeit der Silberionen i n W a s -
ser bei 18 Grad etwa gleich isti Ein auffallend
hoher Wert ließ sich für die Beweglichkeit des
Silberions im Silbersulfid berechnen: oberhalb
179 Grad betrug er 0,11 cm/sec, war also etwa
200 mal so groß als der für das gleiche Ion i n
Wasser von 18 Grad.
Die Untersuchungen Tubandts sind von Be-
lang für die heutige Auffassung der Gitterstruktur
der kristallisierten Stoffe. Man hat sich vorzu-
stellen, daß die Ionen der einen Art in Form
eines Gerüstes angeordnet sind, das in seinen
Zwischenräumen Kraftfelder aufweist, vermöge
deren die Ionen der anderen Art gehalten wer-
den, doch so, daß ihre Beweglichkeit kaum be-
einträchtigt ist. Daraus würde sich die große
Wanderungsgeschwindigkeit, d. h. geringe Reibung,
erklären. Hans Heller.
Naturschutz in Holland.
Wegen der Seltenheit der meisten Reiherarten
in unserem Lande und im Hinblick auf unsere in
Zukunft wohl enger werdenden Beziehungen zu
dem Nachbarlande Holland sei auf dortige präch-
tige Reiherbrutstätten und die Tätigkeit der „Ver-
eeniging tot Behoud van Natuurmonumenten in
Nederland" hingewiesen. Von letzterer liegen
mir mehrere Druckschriften vor. Das 1906 in
Amsterdam erschienene dünne Heftchen behandelt
die Gründung des Vereins und seine Ziele. Hier
wird unter Hinweis auf die Beispiele Amerikas
und Deutschlands — Conwentz 1904 — für
die Sache geworben und der Ankauf von Natur-
monumenten seitens der Vereinigung als das für
holländische Verhältnisse wichtigste Mittel zum
Ziele hingestellt. Der schon umfangreichere Be-
richt von 1910 bringt außer Persönlichem und
Geschäfthchem auch schon biologische Beobach-
tungen aus den inzwischen erworbenen Schutz-
gebieten. Unter diesen steht das „N a a r d e r -
meer" bei Naarden unweit Amsterdam und
Utrecht an erster Stelle.
Das Naardermeer ist, wie ich aus eigener An-
schauung erwähne, eine etwa 25 qkm große Süß-
wasser- und Sumpffläche, ehemals von Kanälen
durchzogenes „Polder"land, das man, nachdem es
als Ackerland wenig ertragreich war, mit der den
Holländern eigenen Kunst der Wasserstands-
regulierung jetzt tiefer unter Wasser gesetzt und
dadurch für die Fischerei, besonders Aalfischerei,
ertragreicher gemacht hat. Ein natürHcher Zufluß
aus dem in Holland weit verzweigten Rhein und
eine Wasser herauspumpende Windmühle regu-
lieren zu den verschiedenen Jahreszeiten den
Wasserstand je nach Bedarf Zum Besuch ist
Mitgliedschaft erforderlich oder besondere Erlaubnis
seitens des Vorsitzenden der Vereinigung für
Naturdenkmäler-Erhaltung, Herrn J. Th. Oude-
mans in Putten up de Veluve. Das Boot fährt
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
389
der Baas des Naardermeers, der an dessen West-
ende wohnhafte einzige Pächter der Fischerei.
Trotz der vorgerückten Jahreszeit — denn es war
um Herbstanfang, somit die Brutzeit der Vögel
längst vorüber, und viele bemerkenswerte Arten
waren schon fortgezogen — war die mehrstündige
Fahrt ein großer Naturgenuß schon wegen der
prächtigen, mit Laubbäumen und Gebüsch durch-
setzten Sumpf- und Wasserpflanzenwildnis, die
man durchquerte. Nur flüchtige Anblicke ge-
währten die scheuen Wasserhühner, Wildenten,
Lachmöwen, Rohrweihen und Bartmeisen. Übri-
gens durchquert auch die Eisenbahn das Gebiet,
und vor dem heransausenden Zug scheuen die
besonders zahlreichen Wasserhühner nicht.
Nach dem holländischen Bericht von 1910
kommt der Löffelreiher oder Löff 1er, Platalea
leucerodia L. , der prächtige schneeweise, breit-
schnäbelige große Reihervogel, der dort und im
„Schwanenwasser" bei Helder seine einzigen Brut-
plätze in ganz Nord- und Mitteleuropa hat, jährlich
im Naardermeer mit Brut auf etwa 1 50 Stück, die
natürlich nicht alle zugleich sichtbar werden und
spätestens im September das Gebiet verlassen.
Auch. der noch etwas größere Purpurreiher,
Ardea purpurea L., brütet gleichzeitig dort gleich-
falls in Röhricht, nicht immer an genau denselben
Stellen, in stattlicher Anzahl. Außerhalb Hollands
hat auch er keine Brutstätten in Nord und Mittel-
europa. Genauere Angaben über die Zeit der
Eiablage und des Schlüpfens dieser Vögel über-
gehe ich. Weitere Mitteilungen handeln über
eine kleine Lachmöwenkolonie, 4 Nester der Rohr-
weihe, über die bei uns nicht brütende Bartmeise.
Eine Anzahl Löffel- und Purpurreiher würden be-
ringt. Als bemerkenswertes Säugetier wurde der
Fischotter festgestellt.
Der Bericht von 191 2 bringt eine vollständige
Liste der Vögel des Naardermeers, 71 Namen,
darunter 34 Brutvögel. Daß unter diesen auch
der Graureiher (Blauwe Reiger, Ardea cinerea L.)
nicht fehlt, ist insofern fast selbstverständlich, als
man ihn in Holland sehr häufig auf den Wiesen
sieht. Bemerkenswert ist aber, daß auch er hier
nicht wie gewöhnlich auf Bäumen, sondern im
„Riet" nistet. Auch die große Rohrdommel ist
Brutvogel. Ein beringter Purpurreiher wurde von
Calais zurückgemeldet. Weitere Mitteilungen han-
deln über den „Staart" auf Texel, der seit seinem
Ankauf 1910 247, 191 1 360 und 19 12 478 Nester
mittelgroßer Sumpf- und Wasservögel barg, sowie
über zwei weitere neuangekaufte Gebiete, den
„Leuvenomsche Bosch" und das Landgut „Hagenau".
Endlich berichtet das Heft 1913 — 1917 über
dieselben und abermals über drei neue Schutz-
gebiete, den „Putten" auf Texel, mit Brutplätzen
des uns von Hiddensee und derpommerschen Küste
als Naturdenkmal bekannten Säbelschnablers,
Recurvirostra avosetta L., die „Noordwestplaat bij
Rottum"und ein Gebiet bei Oisterwijk (Südholland).
Jetzt werden aus dem Naardermeer Rohrdommel,
Rohrweihe und Bartmeise auch als überwinternd
gemeldet, nebst den beiden Wasserhuhnarten.
Dieses Heft bringt eine Aufzählung der Pflanzen
von Oisterwijk, den eingehendsten Bericht über die
Vögel des Naardermeers, ferner eine geologische
Arbeit von E. Dubois „Wie entstanden die
Moore von Oisterwijk?" und eine Arbeit von W.
G. N. van der Sleen „Die Mollusken des
Naardermeers", mit 3 Tafeln, doch ohne irgend
überraschende Ergebnisse, endlich Mitteilungen
von J. Drijver über das unbewohnte Inselchen
Griend, im Wattenmeer unweit Terschelling, und
seine Vögel. — Der Ankauf weiterer Schutz-
gebiete ist geplant.
Demnach ist der Naturschutz in Holland in
besten Händen, und er kommt mancher Vogelart
zugute, die in Deutschland viel seltener und nicht
Brutvogel ist. V. Franz (Jena).
In Stein bohrende Asseln.
Isopoden, welche in Holz und Stein Löcher
bohren, waren gelegentlich schon an verschiedenen
Küsten gefunden worden, so von Fritz Müller
in Brasilien. A. Barrows (University of Cali-
fornia Publications in Zoology, Vol. 19, 1919,
S. 299) hat einen solchen kleinen Steinbohrer,
Sphaeroma Pentoden, eine Assel von etwa 3 cm
Länge und 0,5 cm Breite, an der Küste der Bucht
von San Francisco genauer beobachtet. Das Tier
beißt mit seinen starken Mandibeln kleine Stein-
fragmente ab und höhlt sich auf diese Weise einen
Gang aus, in welchem es sich verbirgt. Der
weichere Tuff wird leichter bearbeitet wie der
Sandstein. In diesem sind dann nur die lockeren
Schichten durchlöchert, während der Tuff überall
von Löchern durchsetzt ist. Durch die Tätigkeit
der kleinen Bohrer wird eine umfängliche Ero-
sion der Gesteine in der Flutzone bewirkt, die
Tiere werden somit gelegentlich einen gewissen
Anteil an der Verwitterung von Gesteinen haben.
Miehe.
Bücherbesprechungen.
Niggli, Paul, Lehrbuch der Mineralogie.
694 Seiten. Mit 560 P'iguren im Text. Berlin
1920, Gebr. Borntraeger. Preis 80 M. (ohne
Aufschläge).
Das vorliegende Buch gehört nicht zu jenen
neuen Lehrbüchern, die nur verbesserte und er-
gänzte Neuauflagen älterer Vorbilder darstellen.
Es unterscheidet sich bewußt von solchen, sowohl
durch die Art der Darstellung, wie durch
die Auswahl des Stoffes. Auf allen Gebieten
390
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 26
werden vor allem die neuesten Forschungsmetho-
den und -ergebnisse in großzügiger Weise berück-
sichtigt. Dadurch wird das Buch zwar weniger
dem Anfänger, um so mehr aber dem Fortge-
schritteneren zu einem wertvollen und anregenden
Führer bis zum heutigen Stande der
Wissenschaft. Der Verf. hat es als seine
Aufgabe betrachtet, den vielfach vermißten Kon-
takt mit den der Mineralogie von heute dienenden
Hilfswissenschaften, d. i. Mathematik, Physik, Phy-
sikalische Chemie, Chemie und Geologie möglichst
überall herbeizuführen. Dazu eignet sich aller-
dings nur die „allgemeine Mineralogie" im engeren
Sinne und die „allgemeine Lehre von der Ent-
stehung, dem Vorkommen und dem Zusammen-
vorkommen der Mineralien". Dem Buche fehlt
daher auch die ganze spezielle Physiographie usw.
der Mineralien, die sonst den breitesten Raum
einnimmt. Eine Mineralbestimmungstabelle wird
deswegen als Ergänzung empfohlen. Ebenso
sollen die vielfach atlasartig zusammengestellten
Kristallbilder der wichtigsten Mineralien, eine
nach chemischen Gesichtspunkten geordnete Über-
sichtstabelle derselben und schließlich ein Mineral-
verzeichnis im Nachschlageteil diesen Mangel aus-
gleichen. Dies wird für viele Bedürfnisse, wohl
aber nicht für alle , ausreichen. Dadurch , daß
Morphologie, Optik, Chemismus, Paragenese eines
Minerales an verschiedenen Stellen gesucht wer-
den müssen, ist dem Schüler ein Überblick über
dessen gesamte Eigenschaften erschwert. Bei der
Unmöglichkeit, das Buch noch umfangreicher zu
gestalten, war aber wohl an eine andere Lösung
dieses Problems nicht zu denken. Das Werk ist
somit eigentlich ein Lehrbuch der „allgemeinen"
Mineralogie. Es bietet als solches gerade gegen-
über den bisherigen Lehrbüchern den eigentlichen
im Unterricht verwertbaren Stoff dieser Wissen-
schaft in einer Form, die entschieden als großer
Fortschritt zu bezeichnen ist. Im folgenden sei
kurz auf einige bemerkenswerte Einzelheiten auf-
merksam gemacht.
Der Verf. der „geometrischen Kristallographie des Dis-
kontinuutns" geht natürlich in der geometrischen Kristallo-
graphie, dem ersten Hauptabschnitt des Buches, aus von dem
Begriff des Kristalles als eines reellen homogenen Diskonti-
nuums. Es ergeben sich dadurch als Symmetrieelemente auch
Schrauben-Achsen und Gleitspiegelungsebenen und mit ihnen
die 32 Kristallklassen einschließlich der zugehörigen 230 Raum-
systeme. Sehr abweichend vom bisherigen Gebrauch ist die
Zusammenfassung der gesamten einfachen Kristallformen zu
Ein-, Zwei-, Drei-, Vier-, Sechs-, Acht-, Zwölf-, Sechzehn-,
Vierundzwanzig- und Acbtundvierzigflächnern. Didaktisch hat
ihre Ableitung aus der stereographischen Projektion manches
für sich. Zunächst geht aber dem Schüler dadurch der Über-
blick über die in den einzelnen Kristallklassen möglichen
Formen und ihre Kombinationen verloren. Ob die darauf
folgende zusammenfassende Tabelle und die Folge von Kristall-
bildern der wichtigsten Mineralien diese Schwierigkeit ganz
beheben können, ist durch den praktischen Unterricht zu ent-
scheiden. Zu begrüßen sind die allgemeineren durch die
.Strukturlehre bedingten Gesichtspunkte in dem Kapitel über
Pseudosymmetrie und Zwillingsbildung. — Aus dem Haupt-
abschnitt über Kristall ph ysik sei als zweckmäßig die Ein-
führung in die Kristalloptik hervorgehoben, die sich auf den
Begriffen Strahlengeschwindigkeit, Normalengeschwindigkeit
und Brechungsindex aufbaut und mit Hilfe der Indikatrix als
universellster Bezugsfläche anzukommen trachtet. Dankenswert
empfinden wird der Anfänger besonders auch die Bilder der
zweiachsigen Mineralien mit eingezeichneter optischer Orien-
tierung. — Ein Kapitel über Kristalloptik der Röntgenstrahlen
unter Angabe des Laue-, Bragg- und Debye-Scherrer-
Verfahrens schließt sich, dem heutigen Stande der Forschung
entsprechend, hier an. — Der letzte Hauptabschnitt des
I. Teiles ist der Kristallchemie gewidmet. Wo irgend an-
gängig, wie bei Polymorphismus, Isomorphismus, Morphotropie
und Isotypie, werden hier physikalisch-chemische Betrachtungs-
weise neben den Beziehungen, die sich aus der Struktur-
forschung ergeben, verwertet. Begrüßenswert sind ausführ-
lichere Zusammenstellungen der hierhergehörigen Verhältnisse
der besonders wichtigen gesteinsbildenden Mineralien. Ein
.Abschnitt über die Beziehungen zwischen chemischer Zusam-
mensetzung, Molekularkonstilution und Kristallstruktur versucht
die außerordentlich aussichtsreiche W er n ersehe Lehre von
den Koordinationsverbindungen und ihre Anwendungen be-
sonders auf die Silikatchemie zum ersten Male für den
Unterricht allgemein dienstbar zu machen. — Die Unter-
suchungen van Bemmelens, Cornus u. a. werden in dem
Kapitel über die „sogenannten amorphen Mineralien" gebührend
berücksichtigt. — In dem letzten Teil des Buches über, .Entstehung
und Zusammenvorkomnien der Mineralien" tritt die Geologie
in Beobachtung und Experiment mehr in den Vordergrund.
Zweckentsprechend ist die Behandlung der Pseudomorphosen
unter dem Gesichtspunkt des Massenwirkungsgesetzes. Die
Phasenregel als beschränkendes Gesetz der verschiedenen
möglichen Mineralassoziationen wird entsprechend berücksich-
tigt. Unterschieden werden zunächst intra-, peri- und apo-
magmatische Mineralgesellschaften. Dann folgen die Ver-
witterungs- und sedimentären Minerallagerstätten, gegliedert in
klastisch-sedimentäre, ausscheidungssedimentäre, rückstands-,
zementations- und akzessorischsedimentäre Mineralbildungen.
Van t'Hoffs Forschungen über ozeanische Salzablagerungen
und besonders auch Forschungsergebnisse der Bodenkunde
geben hier das erforderliche moderne Gewand. Den Schluß
bilden die metamorphen und zu Metamorphen gehörigen
Mineralassozialionen. Es versteht sich, daß hier Gruben-
manns und Königsbergers Arbeiten in vollem Umfange
berücksichtigt wurden. — Eine beigegebene Zusammenstellung
der wichtigsten Fachliteratur mag willkommen sein, wenn
weitere Orientierung in irgendeiner Frage gewünscht wird.
Kurz: Kein leichtfaßlicher Grundriß zur Ein-
führung für den Anfänger, aber ein Lehrbuch im
besten Sinne, wenn auch über Einzelheiten in der
Bearbeitung die Meinungen geteilt sein mögen.
Wer in die modernen Aufgaben, Methoden und
Ziele der allgemeinen Mineralogie sich Einblick
verschaffen will, der lasse sich die Mühe des
Studiums nicht verdrießen. Spangenberg.
Seidlitz, W. v., Revolutionen in der Erd-
geschichte. Akademische Rede. 42 Seiten.
Jena 1920, G. Fischer.
W. V. Seidlitz untersucht das schon öfter
und mit verschiedenem Ergebnis erörterte Ver-
hältnis von Revolutionen und Evolutionen in der
Erdgeschichte. Wie die Geschichte der Menschen
zeigt auch die der Erde einen Wechsel von Wer-
den und Vergehen. Kontinente tauchen auf und
sinken in die Tiefe; Gebirge wölben sich auf und
Meere treten über ihre Ufer und wandern. Von
ihnen abhängig ist das tierische und pflanzliche
Leben. Von seinen ersten Spuren bis zur heutigen
Flora und Fauna läßt sich ein steter Wechsel
durch die Zeitalter erkennen. Ruhige Abschnitte
wechseln jedoch mit solchen stärkerer Umwand-
lung und Veränderung. Zeiten konzentrierter
Entwicklung und schneller Aufeinanderfolge der
N. F. XX. Nr. 26
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
391
Ereignisse bilden die Grenzen der Zeitalter der
Erde. Auf die Revolution mit ihren katastro-
phalen Ereignissen folgt die Evolution.
Georg Cuvier war es, der vor einem Jahr-
hundert den Begriff der Revolution mit seiner
„Kataklysmentheorie" in die Geschichte der Erde
einführte — im Gegensatz zu Charles Lyells
„Aktualismus", der alle Erscheinungen der Erde
mit den heute auf ihr waltenden Kräften zu er-
klären versuchte. Cuvier kam zu der Über-
zeugung, daß die tierische Bevölkerung der __Erde
mehrmals gewechselt habe, und auf diese Über-
zeugung begründete er die Annahme, daß die
Tierwelt zu verschiedenen Malen durch mehr oder
weniger plötzliche revolutionäre, aber lokal be-
grenzte Umwälzungen vernichtet worden sei. Von
Neuschöpfungen nach solchen Ereignissen dagegen
hat er niemals gesprochen. Spätere Übertreibun-
gen seiner Theorie — so stellte d'Orbigny 27
nacheinander folgende Schöpfungsakte auf —
fallen ihm nicht zur Last. In der modernen Geo-
logie und Paläontologie spielt die Kataklysmen-
theorie noch eine gewisse Rolle. So hat Salo-
m o n darauf hingewiesen , daß scharfe , über
größere Gebiete verfolgbare Formationsgrenzen
auf Ereignisse zurückzuführen sind, die in gewissem
Sinne katastrophal gewirkt haben.
Seidlitz untersucht nun nach einer histori-
schen Einführung an bestimmten Erscheinungen
aus Geologie und Paläontologie in einer Reihe
von Kapiteln (Veränderungen im Laufe der Erd-
geschichte; Rhythmus in der Erdgeschichte;
Zyklen und Diastrophen ; Entwicklung des orga-
nischen Lebens), ob wir heute noch den unbe-
dingten Aktualismus Lyells anerkennen können,
oder ob nicht auch zeitweilige Perioden der Um-
wälzung den rascheren Wandel der Lebensformen
und die Häufung und Steigerung der Erscheinun-
gen — nach dem heute vorliegenden Material —
besser zu erklären vermögen. Er kommt zu fol-
gendem Schlüsse. Wenn wir auch noch an Ver-
änderungen des Weltbildes und an die Umbildung
der Tierwelt besonders an den Grenzen der
großen Epochen festhalten können, so hat uns
doch die Kenntnis der allgemein geologischen
Veränderungen periodische Folge und rhythmi-
schen Wechsel gezeigt, wodurch die sog. „Revo-
lutionen" an den Grenzen der Zeitalter mit fort-
schreitender Erfahrung immer mehr zu gesetz-
mäßigen Faktoren im Entwicklungsgang der Erd-
oberfläche werden, die an regelmäßig sich wieder-
holende Erscheinungen geknüpft sind. Den Grund-
satz des Aktualismus können wir nicht ganz ent-
behren, aber nicht im Sinne Lyells, sondern in
dem beschränkteren Sinne, wie ihn von Hoff
uns zeigt, der die Grenzen dieser Theorie klar
erkannte und darauf aufmerksam machte, daß die
gegenwärtig auf der Erde wirkenden Kräfte nicht
zur Erklärung aller Erscheinungen genügen. Ob-
gleich überall der Fluß der Entwicklung herrscht,
braucht die wissenschaftliche Bildersprache der-
artige Vorstellungen wie „Revolutionen" und
Katastrophentheorie, wenn auch ihre geologische
Bedeutung mit dem nach dem allgemeinen Sprach-
gebrauch üblichen Sinne dieser Worte nicht über-
einstimmt und sie heute gemildert erscheinen im
Gewände der „Diastrophen" und „Paroxysmen".
Manche bisher noch anscheinend als Unterbrechun-
gen, weil vereinzelt, auftretende Erscheinungen
werden sich immer mehr nur als Höhepunkte in
den gesamten Entwicklungsgang einfügen, und der
jetzt noch durch unsere lückenhaften Kenntnisse
berechtigte Begriff der Diastrophe als Umwälzung
oder Revolution wird dadurch an Bedeutung
stetig verlieren. E. Krenkel.
Abraham, M., Theorie der Elektrizität.
IL Band: Elektromagnetische Theorie
der Strahlung. 4. Aufl. 394 Seiten mit
II Abbildungen im Text. Leipzig und Berlin
1920, B. G. Teubner. Geh. 44 M.
Die rasche Folge von Neuauflagen zeigt, wie
sehr das Abrahamsche Werk in ständig
wachsendem Maße zum unentbehrlichen Führer
auf dem Gebiet der reinen Elektrodynamik ge-
worden ist.
Es handelt sich im vorliegenden um einen
nahe unveränderten Abdruck der 3. Auflage des
zweiten Bandes, auf die ich vor einigen Jahren
in dieser Zeitschrift (15. Band, S. 199, 1916) hin-
weisen konnte. Es wird hierin der gegenwärtige
Stand der elektronentheoretischen Kenntnis der
Konvektionsstrahlung und der Wellenstrahlung
soweit erschöpfend behandelt, als dies ohne Be-
zugnahme auf quantentheoretische Vorstellungen
möglich ist. Der reiche Inhalt möge hier kurz
nochmals erwähnt werden :
Der erste Abschnitt bezieht sich auf das Feld
und die Bewegung des einzelnen Elektrons. Er
beginnt mit der Darlegung der physikalischen und
mathematischen Grundlagen der Elektronentheorie,
wendet sich dann dem Feld und der Strahlung der
beliebig bewegten Punktladung zu und betrachtet
dann die Mechanik des Elektrons allgemein und
mit besonderer Berücksichtigung der Magnetonen.
Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den
elektromagnetischen Vorgängen in wägbaren
Körpern. Zuerst werden die Erscheinungen der
Dispersion der elektromagnetischen Wellen, der
magnetischen Drehung der Polarisationsebene, der
Magnetisierung und der Elektrizitätsleitung in
ruhenden Körpern behandelt. Daran schließt sich
die Elektrodynamik bewegter Körper, die Me-
chanik des Strahlungsdrucks und schließlich ein
kurzer Abriß der speziellen Relativitätstheorie.
Verf. zeigt hierin insbesondere, daß sich das
Postulat der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
nicht aufrecht erhalten läßt, da es dem Postulat
von der Schwere der Energie widerspricht.
Allen Entwicklungen liegt die der Max well -
sehen Theorie eigentümliche Vorstellung von der
Kontinuität des Äthers und des elektromagnetischen
Feldes zugrunde. Da diese, wie neuerdings immer
wahrscheinlicher wird, nur für summarische Be-
392
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX.- Nr. 26
trachtungen derWirklichkeit genügend nahe kommen
dürfte, bleibt es erstaunlich, daß trotzdem auch
für das einzelne Elektron bisher kein Widerspruch
mit der Erfahrung erkennbar wurde.
Einer besonderen Empfehlung bedarf das vor-
treffliche Werk nicht mehr. A. Becker.
Voigt, A., Wasservogelleben. Ein Führer
zum Strande. Wissenschaft und Bildung.
Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des
Wissens. 109 Seiten mit 29 Figuren im Text.
Leipzig 1921, Quelle u. Meyer. 5 M.
Wie die Tierwelt des Wassers überhaupt, so
zeigt auch das Leben der Wasservögel viele
interessante und bemerkenswerte Züge, die in
dem vorliegenden kleinen Büchlein eine reizvolle
und fesselnde Darstellung gefunden haben. Der
Verf , einer unserer besten Kenner des heimischen
Vogellebens, hat bei der Bearbeitung überall auch
die Ergebnisse der neueren Forschung mit heran-
gezogen, selbst solche, die weiteren Kreisen bis
jetzt wohl noch unbekannt geblieben sein dürften.
So sind beispielsweise außer den verschiedenen
Beobachtungen von E. Hesse auch die inter-
essanten Mitteilungen von O. Heinroth über
das Familienleben der Entenvögel verwertet
worden. Jedem Naturfreunde, der an der Meeres-
küste oder an einem Binnengewässer das Tun
und Treiben der verschiedenartigen Wasser- und
Ufervögel beobachtet und sich darüber näher
unterrichten will, wird die kleine Schrift sicher
ein willkommener Führer sein. R. Heymons.
Anregungen und Antworten.
Zum Kreislaufprozeß des Wassers. Der Aufsatz von
Prof. Halbfaß ,,Zum Krei'slaufprozeß des Wassers" (Naturw.
Wochenschr. "d. Js., S. 86) darf nicht ganz ohne Widerspruch
bleiben, weil bei einer so bestimmten Sprache ein der Sache
Fernstehender die Mängel der Beweisführung nicht merkt.
Schon der Ausgangssatz, der die Wahrscheinlichkeit der
Zufuhr voQ Wasser aus dem Welträume beweisen soll, ist sehr
zweifelhaft. Die fortdauernde Abnahme der Wassermenge
auf der Erdoberfläche ist nur soweit wahrscheinlich, als ihr
eine fortschreitende Änderung in den Bedingungen, z. B. in
der Temperatur der Erdkugel entspricht. Daß, weil der
Wasserdruck am Boden des Wellmeers bis zu 900 kg/cm^ be-
trägt, in die darunter liegenden Erdschichten ,, fortwährend
Wasser abfließen" müsse, ist ganz unbegründet für einen längst
bestehenden Ozean.
Die Hagelwetter haben ihren sehr bestimmten Platz in
den wandernden Niederdruckgebieten und könnten also nur
kosmischen Ursprungs sein, wenn auch diese letzteren selbst
es wären. Nun hat zwar das Entstehen und Vergehen der
atmosphärischen Depressionen noch sehr viel Rätselhaftes,
aber nichts darin deutet auf ein Eindringen mit planetarischer
Geschwindigkeit begabter Massen von außen in die Atmo-
sphäre. Von ,, Eisblöcken" in Höhen von ,,150 km" weiß
man gar nichts. Auch die Frage, warum die starken Ge-
witterregen , die in so vielen Tropengegenden nachmittags
auftreten, nicht in der kühleren Nacht als Regen niederfallen,
zeugt von großer Unbekanntschaft mit der Meteorologie, denn
es ist sehr leicht einzusehen, daß in der Nacht die Schichtung
der Atmosphäre stabiler zu sein pflegt. Die Tatsache, daß in
anderen Teilen der Tropen zu gewissen Jahreszeiten die
Nachtregen ein starkes Übergewicht haben, bedarf viel mehr
erner besonderen Erklärung. W. Koppen.
Die Wisente im Plesser Tiergarten. In seinem Aufsatze
„Das Ende des Wisents" (Naturw. Wochenschr. 13. Febr. 1921)
äußert sich Zimmermann auch über die Wisentherde im
Plesser Tiergarten. Da seine Angaben nicht ganz zutreffend
sind, darf ich vielleicht auf meine Ausführungen in meiner
„Tierwelt Schlesiens" (Gustav Fischer, Jena 1921) hinweisen,
die sich auf eine Mitteilung des Fürstlich Plessischen Forst-
amts vom 6. November 1920 stützen. Zu diesem Zeitpunkte
zählte der Wisentbestand noch 22 Stück. Im Herbst 1918
waren 74 Wisente vorhanden; die Tiere wurden von Wild-
dieben abgeschossen, die, zu Banden zusammengerottet und
mit den besten Waffen ausgerüstet, die Wälder durchstreiften.
Außer dem Wildererunwesen droht der Erhaltung der Wisente
keine Gefahr. Sie sind gesund, und ihre Vermehrung war
bisher gut. F. Fax.
Nochmals zum Keilhackschen Disjunktionsproblem. Aut
meine in dieser Zeitschrift (Bd. 35, S. 828) über dieses Thema
geraachten Mitteilungen hin erhielt ich von Dr. J. Meixner,
Graz eine Zuschrift, in der ich auf die Verbreitung gewisser
Turbellarien aufmerksam gemacht werde, Acrorhynchus
neocomensis z. B. bewohnt einerseits den Neuenburger
See und Lage maggiore, andererseits den Lunzer Mittersee.
vielleicht ordnen sich auch gewisse Dalyellen, Dalyellia
fusca und D. ornata diesem Gesichtspunkt unter. Ferner
übersah ich in meinem vorigen Bericht, daß ich selbst bereits
einmal in dieser Zeitschrift (Bd. 32, S. 52) die Verbreitung
des Käfers Lesteva Villardi und der Höhlenspinne
Paraleptoneta mit unserem Problem in Zusammenhang
gebracht habe. Hierzu gesellen sich nun noch folgende
weitere Beispiele: Viets wies vor kurzem aus den Dauphinfe-
Alpen die bisher nur aus der Tatra bekannte Wassermilbe
Feltria kulezinskii Schechtel nach. Aus der Dar-
stellung, die Müller in der Rabenhorstischen Kryptogamen-
fiora von der geogr. Verbreitung der Lebermoose gegeben
hat, ist ersichtlich, daß P rasant h us suecicus aus Salzburg
und Frankreich bekannt ist, Arnellia fennica aus Steier-
mark und Kärnthen einerseits und den penninischen Alpen
andererseits; die nordischen Marsu pell a -Arten conden-
sata, sparsifolia, nevicensis, emarginata tauchen
an den beiden Alpenflügeln auf und M. pygmaea bildet
insofern ein schönes Beispiel, als sie nur von einer Stelle in
Steiermark und vom Puy de Dome bekannt ist.
Dr. V. Brehm, Eger.
Inhalt: F. Alverdes, Erblichkeit und Nicht-Erblichkeit. S. 377. H. Grein acher, Eine umkehrbare Ventilröhre. (l Abb.)
S. 381. J. Gicklhorn, Notiz über Stentor igneus Ehrenb. als Ursache auffallender Wasserverfärbung. S. 382.
R. Potonie, Paläoklimatologisches im Lichte der Paläobotanik. S. 383. — Einzelberichte: C. Tubandt, Die
Elektrizitätsleitung in festen kristallisierten Stoffen. S. 387. Naturschutz in Holland. S. 3S8. A. Barrows,
In Stein bohrende Asseln. S. 389. — Bücherbesprechungen: P. Niggli, Lehrbuch der Mineralogie. S. 389. W.
V. Seidlitz, Revolutionen in der Erdgeschichte. S. 390. M.Abraham, Theorie der Elektrizität. S. 391. A.Voigt,
Wasservogelleben. Ein Führer zum Strande. S. 392. — Anregungen und Antworten : Zum Kreislaufprozeß des Wassers.
S. 392. Die Wisente im Plesser Tiergarten. S. 392. Nochmals zum Keilhackschen Disjunktionsproblem. S. 392.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der gaoceo Reihe 36. Baod.
Sonntag, den 3. Juli 1921.
Nummer 27.
Über die kosmischen Bewegungen des Äthers.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. K. Vogtherr, Berlin-Schöneberg.
Der Naturforscher muß jede Spur einer Unstimmig-
keit, wo er sie nur vorfindet, eifrigst festhalten und
verfolgen. Denn diese Spuren sind seine Zukunfts-
hoffnung; sie haben bisher immer die Wege zu neuen
Erkenntnissen gezeigt, die dann, einmal erfaßt, in der
Tat auch den einfachen Verstand zur Befriedigung ge-
bracht haben. Lenard.
Das Fundament, auf dem der Einsteinsche
Neubau der Physik errichtet werden soll, ist be-
kanntlich die Annahme, daß der F i z e a u - Versuch
die Unmöglichkeit einer Mitführung des Äthers
durch die bewegte Erdatmosphäre beweise. Diese
Annahme mag richtig sein, jedoch ist dadurch
offenbar nicht zugleich die Möglichkeit ausge-
schlossen, daß Äther und Erdatmosphäre aus
irgendeinem anderen Grunde gemeinsam gleiche
Bewegungen machen. Es können ja noch andere
als die Reibungskräfte bewegter Luft auf den
Äther ihre Wirkung ausüben, es könnten Magne-
tismus und Elektrizität, Gravitation und Trägheit
eine Rolle spielen. Diese Möglichkeiten sind
offenbar bisher noch wenig bedacht worden.
Dem Fize au -Versuch soll angeblich der
Michelson- Versuch widersprechen, indem er
aussagt, daß Erde und Erdäther die gleiche
Relativbewegung gegenüber der Sonne aus-
führen, oder daß zum mindesten die Geschwin-
digkeit ihrer wechselseitigen Bewegung nicht
größer als ein Sechstel der Geschwindigkeit der
Erde in ihrer Bahn um die Sonne sein kann. Er
steht dabei in Übereinstimmung mit anderen
Versuchen, *) welche ergaben, daß ein Einfluß der
Erdbewegung auf den Ablauf eletromagnetischer
Vorgänge an der Erdoberfläche sich nicht nach-
weisen läßt, obwohl er nach der Theorie vom
ruhenden Weltäther zu erwarten wäre. Nun sind
aber Fizeau- und Michelson- Versuch hin-
sichtHch der für unser Problem aus ihnen
zu ziehenden Schlüsse keineswegs gleichwertig.
Sofern man nämlich nicht mit H. A. Lorentz
oder A. Einstein weit hergeholte und ge-
künstelte Annahmen machen will, beweist der
Michelson- Versuch durch direkten Augen-
schein, daß Erde und Luftäther relativ zueinander
sich nahezu oder völlig in Ruhe befinden. Der
Fizeau- Versuch dagegen beweist keineswegs
direkt das Gegenteil. Sondern nur, wenn man
von der Voraussetzung ausgeht, daß der
Äther im Welträume ruhe und die Erde sich
durch ihn hindurchbewege, beweist er, daß die
bewegte Erdatmosphäre dem in ihr befind-
lichen Äther nicht die eigene Geschwindigkeit zu
erteilen vermag, und auch das nur, wenn man die
Verhältnisse in der Röhre des Versuchs und in
der freien Atmosphäre als äquivalent ansieht, bzw.
ihrer Verschiedenheit keinen Einfluß auf die Mög-
lichkeit der Mitführung einräumt. Letzteres ist
nur zulässig für den Fall, daß der Äther reibungs-
los ist, oder wenigstens keine erhebliche innere
Reibung der bewegten Teilchen und äußere
Reibung gegenüber der gewöhnlichen Materie be-
sitzt. Denn eine in einer Röhre befindliche, zu-
nächst ruhende Flüssigkeit von bestimmter Vis-
kosität erfährt durch gleichmäßig bewegte und
gleichmäßig durch sie in genügender Dichtigkeit
verteilte feste Körperchen eine um so größere
Strömungsbeschleunigung, je größer der Durch-
messer der Röhre ist, senkrecht zu welchem sich
die festen Partikel bewegen. Bei genügend großem
Querschnitt und Länge der Röhre und bei ge-
nügend langer Dauer der Einwirkung der be-
wegten Körper würde im Zentrum eine fast
völlige Mitführung der Flüssigkeit eintreten, die
zu einer völligen und allgemeinen würde, wenn
auch die Röhrenwandung mit der gleichen Ge-
schwindigkeit mitbewegt würde. An die Stelle
der Flüssigkeit tritt nun im Fizeau- Versuch der
Äther und an die der bewegten festen Körper
treten die Luftmoleküle.^) Überträgt man nun die
Versuchsverhältnisse auf die der freien Atmo-
sphäre, so findet man einen Röhrenquerschnitt
von der Höhe derselben und auch drei Seiten
der Röhrenwand, welche durch die angrenzenden
Luftschichten und die Erdoberfläche vorgestellt
werden, sind hier mitbewegt, nur die vierte nicht,
wo der bewegte Luftäther in den ruhenden Welt-
äther übergehen würde.
Diese Vorstellung führt aber zu nichts, denn
die Versuche von O. Lodge, welcher eine Ver-
änderung der Geschwindigkeit eines zwischen zwei
in gleichem Sinne rasch rotierenden Stahlscheiben
') Man könnte sich vorstellen, daß auch der nach
Fresnel nicht mitbewegte Teil des Äthers, unabhängig von
eine Mitbewegung machte, welche im Versuch selbst
(-^}
') von Röntgen, Rayleigh, Brace, Troutonund
Noble.
noch unterhalb der Fehlergrenze liegt, aber mit der Dauer
der einwirkenden Beschleunigung durch die Luftmoleküle an
Geschwindigkeit zunimmt.
394
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 27
hindurchgesandten Lichtstrahls nicht feststellen
konnte, *) haben gezeigt, daß der Äther keine
oder nur sehr geringe Viskosität besitzt. Da nun
der Fi zeau- Versuch mit Messingröhren ange-
stellt wurde, und man annehmen kann, daß Mes-
sing sich im vorliegenden Falle wie Stahl verhält,
so ist im Fizeau -Versuch eine Reibung des
Äthers an der Röhrenwand und gegenüber dem
nicht in Mitbewegung versetzten Äther nicht an-
zunehmen.
Richtiger wäre es also gewesen zu sagen:
man kann die Mitbewegung des Äthers an der Erd-
oberfläche, für die der Michelson-Versuch und
andere Versuche sprechen, durch den Einfluß der
bewegten Erdatmosphäre und auch sonst auf keine
Weise erklären. Man wollte sich jedoch damit
nicht zufrieden geben und erfand die bekannten
Hypothesen, die darauf angelegt sind, das den
Theoretikern unbequeme Ergebnis des Mi c h eis on -
Versuches aus der Welt zu schaffen.
In folgendem soll versucht werden, einen
anderen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu
finden. Zunächst ist ja di.e Voraussetzung, daß
der die Erde umgebende Äther deren Bewegung
mitmache, ebenso berechtigt, wie die entgegen-
gesetzte. Anstatt zu fragen, welche Einflüsse ver-
möchten es, den ruhenden Weltäther zur Mitbe-
wegung in der Erdatmosphäre zu zwingen, läßt
sich also das Problem auch am anderen Ende an-
packen. Man frage sich: gibt es Einflüsse,
welche den aus irgendeinem Grunde
mitbewegten Erdäther zur Ruhe bringen
würden? Sollten solche Einflüsse nicht unbe-
dingt als die unvermeidliche Folgerung aus be-
kannten Tatsachen und Beobachtungen anzu-
nehmen sein, so wäre damit offenbar viel gewonnen.
Denn das Problem der Ursache der Mitbewegung
des Äthers würde dann auf den Uranfang der
Erdbewegung und damit aller Bewegungen im
Sonnensystem verschoben, also in einen Zustand
der Materie verlegt, der viele uns unbekannte
Möglichkeiten in sich bergen mag.
Die Einflüsse, welche den mitbewegten Erd-
äther zur Ruhe brächten, können nun offenbar
nicht von selten des bewegten Erdballs selbst
ausgehen. Wir müssen hier kosmische Wirkungen
ins Auge fassen. Da, wie die Versuche ergaben,
der Äther als reibungslos oder nahezu reibungs-
los zu betrachten ist, so kommen Reibungswider-
stände des bewegten Erdäthers gegen den ruhen-
den Weltäther nicht in Betracht, sehr wohl je-
doch der aus Undurchdringlichkeit und Trägheit,
den nie fehlenden Grundeigenschaften alles Stoff-
lichen, sich ergebende Trägheitswiderstand. Nach
D i r i c h 1 e t ist zwar der Trägheitswiderstand
einer geradlinig- gleichförmig bewegten festen Kugel
in einer idealen Flüssigkeit gleich Null, jedoch
') O. Lodge: Der Weltäther, Braunschweig 191 1 und
Phil. Trans. 184 A, 727, 1893. Man könnte vielleicht gegen
den Versuch den Einwand erheben , daß ein Scheibenabstand
von 2,5 cm zu groß ist, um die Reibung wahrnehmbar zu
machen.
handelt es sich im vorliegenden Falle um Ver-
hältnisse, die sich nicht mit denen einer bewegten
festen, sondern mit denen einer in einer Flüssig-
keit bewegten flüssigen Kugel vergleichen ließen,
wobei Kugel und Medium aus gleichem Stoffe
bestehen, abgesehen davon, daß die Bewegung
nicht streng geradlinig ist. Aus Gründen des Träg-
heitswiderstandes würde also der mit Erdge-
* schwindigkeit bewegte Erdäther durch den um-
gebenden Weltäther bald zur Ruhe gebracht
werden, wenigstens in der Atmosphäre, da die
Luft, wie der Fizeau- Versuch zeigt, sich der
Relativbewegung des Äthers nicht widersetzen
würde. ') Es gibt hier nur einen Ausweg :
Der die Erde weiterhin umgebende
Weltäther ist selbst mit Erdge-
schwindigkeit in der Bahn um die
Sonne mitbewegt. Damit nun aber die
gleiche Schwierigkeit nicht von neuem in ver-
größertem Maßstabe entsteht, müßte der mit-
bewegte Weltäther in einem Ring in der gleichen
Bahn wie die Erde um die Sonne kreisen. Diese
Vorstellung hat nichts Verlockendes, sie bekommt
aber sofort ein natürliches Aussehen, wenn auch
die übrigen Planeten derartige Ätherringe besitzen
und auch der Raum zwischen ihnen durch be-
wegten Äther ausgefüllt ist, derart, daß der
Äther des Sonnensystems umdieSonne
kreist mit genau der Geschwindigkeit,
welche für jeden Radius das Newtonsche
Gravitationsgesetz vorschreibt, also mit
vom Zentrum zur Peripherie abnehmender Ge-
schwindigkeit. Und da das Sonnensystem selbst
eine Bewegung von etwa 20 km/sec besitzt, so
schließen wir aus dem gleichen Grunde weiter,
daß auch es im ganzen von einer Strömung des
Äthers getragen wird. Wir gelangen so zu der
Annahme, daß auch der Äther im Fixsternsystem
nicht ruht, sondern in Strömungen begriffen ist,
welche nach Geschwindigkeit und Richtung der
Eigenbewegung der Fixsterne im allgemeinen ent-
sprechen.-) Die Fixsterne (mit dem evtl.
sie umkreisenden Äther) ruhen also im all-
gemeinen relativ zum Äther ihrer weiteren
Umgebung, sie lassen sich gewissermaßen von seiner
') Das gleiche gilt nicht mit Sicherheit auch für das Erd-
innere. Durchsichtige Medien führen den Lichtäther bekannt-
lich mit einem durch den Fresnelschen Mitführungskoef-
fizienten I ;- bestimmbaren Bruchteil ihrer eigenen Ge-
n''
schwindigkeit mit sich. Für undurchsichtige könnte man den
Brechungsexponenten annähernd durch die Quadratwurzel aus
der Dielektrizitätskonstante ersetzen (die Beziehung gilt streng
nur für Gase). Nun ist die Dielektrizitätskonstante der Leiter
gleich unendlich, also n^ = oo, und der Fresnelsche Mit-
führungskoeffizient würde in diesem Falle gleich I ; die Mit-
führung wäre also vollkommen. Da man wegen der hohen
Dichte des Erdballs annimmt, daß sein Inneres aus Eisen be-
steht, so würde also im Erdinnern der Äther trotz des Träg-
heitswiderstandes von Seiten eines ruhenden Weltäthers mit-
geführt werden. Vgl. dazu A. Michelson u. E. W. Mor-
ley, Am. Journ. of Sc. 34, 334, 1887.
'') Die seltenen Sterne mit verhältnismäßig großer Eigen-
bewegung — es wurden solche von mehr als 200 km/sec be-
obachtet — , mögen davon eine Ausnahme machen.
N. F. XX. Nr. 2^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
395
Strömung wie schwimmende Körper treiben. Diese
Auffassung steht auch mit der Tatsache in Ein-
klang, daß es Gruppen relativ nahe beieinander
befindlicher Fixsterne gibt, die eine gemeinsame
Bewegung zeigen.*)
Der Äther bewegt sich also so, wie die großen
und schweren Massen der Sonnen und Planeten
sich bewegen, während die Meteore, Kometen,
jedenfalls auch Monde auf ihrer Bahn ihn durch-
streichen. Dies legt die weitere Vermutung nahe,
daß auch der Äther der Gravitation unterliegt
und auch für ihn träge und schwere Masse gleich
sind. Es ist also nicht nötig, anzunehmen, daß
der Äther den Anstoß zu den Bewegungen, die
er im Weltenraume ausführt, von der gewöhn-
lichen Materie erteilt bekommen hat. Jedoch ist
es auch möglich, daß in diesen Ätherströmungen
nicht eine Folge, sondern die Ursache oder eine
Begleiterscheinung der Gravitation zu sehen ist
und daß hier der Ausgangspunkt für eine spätere
Erklärung der Schwerkraft vorliegt.
Der Ausdruck „Mitführung" leitet auf falsche
Spur. Genau wie alle sonstigen Körper an der
Erdoberfläche, wie z. B. ein frei an einem Faden
hängendes Gewicht oder wie die atmosphärische
Luft, ist auch der Äther in der Bahn um die
Sonne nicht „mit geführt", sondern mit be-
wegt. Das hängende Gewicht macht die Erd-
bewegung ja nicht mit infolge Reibung an der Luft
oder infolge eines Zuges des Fadens, sondern weil
es genau wie die Erdkugel selbst den Gesetzen
der Gravitation und Trägheit gehorcht.
Da der Äther völlig oder nahezu reibungslos
ist, so macht die Unveränderlichkeit derartiger
Rotationen und Strömungen in ihm innerhalb
beobachtbarer Zeiträume keine Schwierigkeiten,
auch findet so der trotz des im Räume vor-
handenen Äthers widerstandslose Lauf der Planeten
um die Sonne eine einfache Erklärung.
Die hier vorgetragene Annahme steht, soviel
mir bekannt, mit keiner astronomischen Beobach-
tung in Widerspruch. Das Doppler sehe Prinzip
macht offenbar keine Schwierigkeiten. Denn die
Veränderung der Wellenlänge, wenn der Äther
') Eine solche gemeinsame Bewegung findet sich z. B.
im Sternbilde der Plejaden, wo von 51 Sternen 45 die gleiche
Eigenbewegung besitzen wie Alkyone, der hellste, mittlere
Plejadenstern, während 6 Sterne still stehen, sich also nur auf
jene Stelle des Himmels projizieren, ohne dem System der
Plejaden anzugehören. Auch die Bewegung in der Gesichts-
linie hat sich bei jenen Sternen, soweit sie darauf untersucht
werden konnten, als nahe gleich herausgestellt.
Eine über aoo Quadratgrad sich ausbreitende Gruppe
von Sternen im Stier, zu denen auch mehrere Hyadensterne
gehören, streben, wie L. Bofi aus ihren Eigenbewegungen ge-
funden hat, nach einem bestimmten Punkt des Himmelsge-
wölbes hin. Die Konvergenz ist nur eine scheinbare durch
die Perspektive vorgetäuschte, in Wirklichkeit laufen die
41 Sterne parallel. Der Durchmesser des mächtigen Stem-
schwarmes beträgt nach Boß über 30 Lichtjahre.
Gemeinsame Eigenbewegungen sind ferner an 5 Sternen
des großen Bären und an 16 Heliumsternen im Perseus fest-
gestellt worden. — Siehe O. Knopf: Das Fixsternensystem,
Handwörterbuch d. Naturwissenschaften , herausgegeben von
Korscheit u. a. 1913,
auf dem Wege der Lichtstrahlen eine Beschleuni-
gung oder Verzögerung erfährt, wird durch die
Änderung der Relativbewegung zwischen Äther
und Beobachter wieder ausgeglichen. — Die Er-
scheinung der Aberration derFixsterne ist
unter der Annahme eines reibungslosen in der Erd-
atmosphäre mitbewegten Äthers von G. G. S t o k e s
erklärt worden,*) der die Ansicht, daß die Erde
mit ihrer ganzen ungeheuren Masse den Äther
ohne Störung passiere, eine „rather startling hypo-
thesis" nennt. Es wird zugegeben, daß die Theorie
von Stokes richtig ist, wenn der Äther als
wirbelfreie, i. e. reibungslose Flüssigkeit betrachtet
werden kann, die ein Geschwindigkeitspotential
besitzt.^) Stets gibt also der die Lichtquelle
direkt umgebende Äther das Bezugs-
system für die Richtung der relativ zu
diesem System stets geradlinig fort-
schreitenden Lichtstrahlen ab und der
Aberrationswinkel ist nur von der transversalen
Komponente der Relativbewegung Erde — Stern ab-
hängig, wobei es gleichgültig ist, wie viele ver-
schiedene Ätherströmungen dazwischen liegen. D i e
Erscheinungen des Dopplereffekts und
der Aberration bleiben also unbeein-
flußt von irgendwelchen zwischen
Lichtquelle und Beobachter vorhande-
nen gleichförmigen oder ungleichför-
migen Bewegungen des Mediums (wenig-
v .
stens soweit nicht höhere Potenzen von - in
c
Betracht kommen). Denn die Schwingungszahl
ausgesandter Lichtwellen wird durch Bewegungen
des Äthers nicht beeinflußt, ebensowenig wie
(nach Stokes) ihre Richtung. Beeinflußt wird
nur die Fortpflanzungsgeschwindigkeit und damit
die Wellenlänge, welche, wenn der Strahl aus
dem (relativ) ruhenden Äther in in der Fort-
pflanzungsrichtung bewegten Äther eintritt, von
ersterem aus betrachtet eine Veränderung erleiden.
Sieht man sich nach einer Möglichkeit um, die
vorgetragene Hypothese durch Beobachtung zu
prüfen, so denkt man sogleich an die Berechnung
') Math, and Physic. Papers, Vol. I, Cambridge l88o,
S. 140 ff.
2) Vgl. A. H. Lorentz, Arch. Neerl. 21, 1887 und O.
Lodge, Phil. Trans. 184 A, 1893. Letzterer sagt: ,,lhe line
of vision in fact always depends on the motion of the ob-
server , not at all on the motion of the ether so long as it
has a velocity Potential. Hence nothing can be simpler
than the theorie of aberration, if this condition is
satisfied. ... A ray is straight, whatever the mo-
tion of a medium, unless there are eddies and according-
ly no irrotational currents of ether can divert a ray. But if
the observer is moving, the apparent ray will not be the true
ray and accordingly the line of vision will not be the true
direction of object". (S. 750).
Dies ist das vollständige Aberrationsgesetz,
wenn hinzugefügt wird : die Bewegungen von Lichtquelle,
Medium und Beobachter sind zueinander relativ, es bleibt
also gleichgültig, ob Lichtquelle, Medium (an einem bestimmten
Ort) oder Beobachter als ruhend angenommen wird — und
wenn der Aberrationswinkel als der Winkel zwischen schein-
barer und wahrer Richtung des Sterns zur Zeit der Be-
obachtung definiert wird.
^9^
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 2^
der Lichtgeschwindigkeit nach Römer. Der
dabei sich ergebende Wert für die Verzögerung
des Eintritts der Verfinsterung der Jupitermonde
müßte, wenn sie richtig ist, eine Veränderung
erfahren. Diese würde jedoch sicher nicht mehr
als Vio Sek. betragen, während der wahrschein-
liche Fehler dieses Wertes nach den neuesten
Messungen von Glasenapp noch i Sek. be-
trägt. *) Es scheint also leider nicht möglich zu
sein, die Hypothese durch Beobachtung der Ver-
finsterung der Jupitermonde zu prüfen.
Bevor A. Einstein den Äther beseitigte
(oder von ihm mit Rücksicht auf die Undulations-
theorie noch den Namen beibehielt, was auf das
gleiche hinausläuft) , ^) herrschte in der Physik
von Fresnel bis Lorentz die Lehre vom
absolut bewegungslosen Äther, gegründet vor
allem auf das Experiment von Fizeau. „Man
hat diesen Versuch während eines halben Jahr-
hunderts als den direkten experimentellen Beweis
für die Existenz eines die Körper durchdringenden,
aber doch stets ruhenden Äthers angesehen." ^)
Diese Vorstellung war jedoch im Grunde genom-
men äußerst unbefriedigend. Denn wie kommt
man dazu, irgendeinem materiellen Etwas einen
Zustand absoluter Ruhe zuzuweisen? Dieser Be-
griff ist ebenso unmöglich, wie der der absoluten
') Siehe Winke 1 mann: Handb. d. Physik, 6, 473, 1906.
^) A. Einstein sagt: „Man kann die Existenz eines
Äthers annehmen; nur muß man darauf verzichten, ihm einen
bestimmten Bewegungszustand zuzuschreiben, d. h. man mufl
ihm durch Abstraktion das letzte mechanische Merkmal nehmen,
welches ihm Lorentz noch gelassen hatte". Äther- und
Relat.-Theorie, Vortrag, Berlin 1920. S. 9.
Der Äther soll also ein physikalisches Etwas sein, aber
gegenüber Körpern weder einen Zustand der Bewegung, noch
auch der Ruhe haben. Ein solcher Äther ist aber das reine
Nichts, der leere Raum, von dem auch Einstein konse-
quenterweise behauptet, daß ihm „physikalische Eigenschaften
zukommen", d. h. also doch wohl soviel, als daß er physi-
kalische Wirkungen ausüben könne (p. 1 1 ibid.).
') M. Laue: Das Relativitätsprinzip, Braunschweig 191 1,
S. II.
Bewegung. Bezieht man aber den Ruhezustand
des Äthers auf bestimmte Himmelskörper, z. B.
auf die Sonne oder das Fixsternsystem, so ist
man dadurch noch nicht aus der Verlegenheit.
Aus welchem Grunde sollten denn unsere Sonne
oder drei Fixsterne, indem sie die Achsen eines
Koordinatensystems festlegen, vor allen anderen
Sonnen und Fixsternen den Vorrang haben, den
Ruhezustand des unendlich ausgedehnten, in sich
bewegungslosen Äthers für den ganzen Weltraum
zu bezeichnen? Offenbar ist die Annahme des
absolut im Räume oder relativ zum Sonnensystem
ruhenden Äthers nichts anderes als ein Ausdruck
dafür, daß wir über den Bewegungszustand des
Weltäthers im ganzen oder seiner einzelnen Ge-
biete zueinander bisher nichts wußten. Daß der
Äther zum Sonnensystem in Ruhe ist, ist (solange
nicht Beobachtungen entgegenstehen) eine zu-
lässige Annahme, die aber absurd wird, sobald
man diesen Ruhezustand auf den ganzen Welten-
raum ausdehnen will. Somit war eigentlich schon
in der früheren Auffassung die Vorstellung von
Strömungen im Weltäther implicite enthalten.
Die Hypothese eines gesetzmäßig im Welt-
räume bewegten Äthers verlangt nichts Unmög-
liches von unserem physikalischen Denken, im
Gegenteil, sie stimmt mit der allgemeinsten Er-
fahrung überein, die uns kein Ding in der Natur
als bewegungslos und keine Bewegung als gesetz-
los zeigt. Ist der Äther ein Ding im physikalischen
Sinne, ein Etwas, das physikalische Wirkungen
ausüben kann, so hat er auch einen Bewegungs-
zustand. Daß dieser Bewegungszustand nicht
überall im unendlichen Raum der gleiche sei, ist
schon a priori wahrscheinlich, man konnte ihn
aber bisher nicht erkennen. Der Fizeau- und
Michelsonversuch imVerein geben uns
zum ersten Male eine Andeutung, daß
auch da, wo man bisher nichts von Be-
wegung wußte und deshalb' sich Ruhe
dachte, gesetzmäßig geordnete Be-
wegung herrscht.
Einzelberichte.
Nene Beiträge zur Theorie und Praxis kata-
lytisclier Hydrierungen.
Platinmohr, kolloidales Platin, Palladium und
Nickel vermögen bekanntlich in hohem Grade
katalytisch zu wirken, d. h. die Geschwindig-
keit zahlreicher chemischer Umsetzungen stark zu
erhöhen. Die bekanntesten Anwendungen, die
man von dieser Fähigkeit der genannten Stoffe
macht, sind einerseits Oxydationen, bei denen
die Stoffe Sauerstoff leicht und in beliebig
zu wählender Menge übertragen, andererseits
Hydrierungen, die die Übertragung von
Wasserstoff bewirken. Die sog. „Fetthärtung"
beruht auf derartigen Hydrierungen. Man führt
dabei Öle, also flüssige Fette, in gesättigte und
alsdann feste Fettsubstanzen über. Die Theorie
aller dieser Umsetzungen hat sehr zahlreiche Ar-
beiten seit den Tagen der Entdeckung der Metall-
katalysatoren gezeitigt. Jedoch ist die Frage nach
dem inneren Grund der erwähnten Wirkungen
bis heute nicht befriedigend beantwortet worden.
Ein wichtiges Ergebnis hatte die Untersuchung
der Oxydationskatalysen: viele von ihnen
gehen nur vor sich, wenn das dabei verwendete
Platin sauerstoffhaltig ist. Insbesondere die Ar-
beiten von Engler und Wo hier machten es
wahrscheinlich, daß das Platin, wenn es Sauer-
stoff absorbiert, diesen chemisch bindet und
zwar in Form eines Superoxydes. Diese Auf-
N. F. XX. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
397
fassung war ein erheblicher Fortschritt für die
Theorie; sie hat sich in vielen Fällen bewährt.
Experimentell ist sie leicht zu begründen: Platin-
schwarz bläut Kaliumjodid-Stärkepapier deutlich,
es muß also ein Peroxyd enthalten. Aus diesem
Befund ist nun kein Schluß gezogen worden auf
die Theorie der Hydrierungen.
Deren Theorie ist vor allem von Sabatier
begründet und dahin ausgesprochen worden, daß
sich aus Metall und Wasserstoffgas außerordentlich
schnell ein instabiles Hydrid bilde, das in-
folgedessen rasch wieder zerfalle. Hierbei soll
der Wasserstoff atomistisch werden und dadurch
seine große Wirksamkeit auf sonst schwer an-
greifbare Verbindungen erlangen.
Diese Vorstellung über das Wesen der kata-
lytischen Hydrierung wird in einer soeben er-
schienenen Arbeit von R. Willstätter und
E. Waldschmidt-Leitz widerlegt.*) In ihren
Untersuchungen wird nämlich nachgewiesen, daß
die anzunehmenden Zwischenglieder nicht Hy-
dride von Metallen, sondern Wasserstoff und
Sauerstoff enthaltende Stoffe sind, daß Wasser-
stoffubertragungen überhaupt nur stattfinden,
wenn der Katalysator Sauerstoff enthält!
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen schon K. A.
Hofmann und seine Mitarbeiter.^) Auch sie
fanden, daß die Schnelligkeit, mit der ein Platin-
kontakt wirkt, sehr von der vorausgehenden Gas-
beladung abhängt, und zwar erhöhte Sauerstoff-
beladung viel mehr als solche mit Wasserstoff.
Die Schlüsse jedoch, die daraus gezogen werden,
sind mit den Befunden Will statt ers nicht ver-
einbar. Nach Hofmann soll nämlich der Was-
serstoff alsbald den Sauerstoff entfernen und sich
selbst atomistisch anlagern in je nach dem
Alter des Präparats verschiedener
Weise. Diese wie alle früheren Ansichten finden
in den nachstehend kurz zusammengefaßten Ver-
suchsergebnissen Willstätters keine Stütze.
Nach den besten Methoden hergestellter Platin-
mohr wurde im Exsikkator mittels Hochvakuum-
pumpe vollkommen trocken gemacht. Nach einigen
Tagen zeigte sich im Exsikkator die Bildung von
Wasser. Mithin muß selbst sehr trockener
Platinmohr Wasserstoff und sauerstoffhaltig ge-
blieben sein. Der Wasserstoff kann mithin nicht
atomistisch gebunden vorliegen. Die Reaktionen
völlig sauerstofffreien Platinmohrs waren über-
raschend. Er erwies sich als unfähig zu irgend
einer Hydrierung; selbst solche Stoffe, die als
typisch ungesättigt gelten, wie Äthylen usw.
blieben völlig unangegriffen. Sobald jedoch der
Mohr wieder mit Sauerstoff beladen war, ging die
Hydrierung in der gewöhnlichen Weise vor sich!
Ein Zahlenbeispiel:
0,1 g Platinmohr in 10 ccm Eisessig suspen-
diert wurde 30 Stunden in Wasserstoffatmosphäre
geschüttelt. Nach dieser Behandlung war der
') Berichte d. d. Chem. Gesellsch. 54, S. 113 — 138 (1921).
') Ebeoda 49, 2369 (1916) und 53, S. 298 (1920).
Mohr völlig sauerstofffrei. Wurden nunmehr im
Stickstoffstrom 3,0 g Benzol in 3 ccm Eisessig
hinzugefügt, so trat innerhalb einer halben Stunde
nicht der geringste Verbrauch an Wasserstoff ein,
die Hydrierung des Benzols fand also nicht statt !
Hierauf wurde 10 Minuten lang Luft, also
Sauerstoff zugelassen. Dieser wurde durch Was-
serstoff verdrängt und dann von neuem ge-
schüttelt. In den ersten 30 Minuten wurden nun-
mehr 145 ccm Wasserstoff verbraucht! Dieser
eine von vielen Versuchen beweist ganz offen-
kundig, daß erst die Anwesenheit selbst geringer
Mengen von Sauerstoff die Hydrierung hervorzu-
rufen imstande ist. Das gleiche ist auch der
Fall für Palladium schwarz, dessen Adsorptions-
vermögen für Wasserstoff bekanntlich noch größer
ist. Auch die kolloidalen Metalle, die vor
allem Paal zur Hydrierung benutzte, enthalten
Sauerstoff, der erst die Hydrierung bedingt. Sauer-
stofffreie Kolloide hydrierten nicht.
Nun ist folgende Beobachtung ungemein wert-
voll und wichtig. Ebenso wie Platinmohr für sich
allein in Eisessig durch Wasserstoff allen Sauer-
stoff verliert (s. o.), so geschieht dies auch in
allen Fällen, wenn Platin als Hydrierungskataly-
sator wirkt. Dies bedeutet, daß die „Aktivität"
eines jeden Katalysators der beschriebenen Art
abnehmen wird. Die Hydrierungsgeschwin -
digkeit muß also kleiner werden und schließ-
lich aufhören. Bei diesem Punkt angelangt
bläut der Mohr kein Kaliumjodidstärkepapier,
d. h. er enthält keinen Sauerstoff mehr ! Beispiel :
0,1 g Platinmohr mit Sauerstoff gesättigt
wurden zur Hydrierung von 3 g Benzol verwendet.
Die Absorption von Wasserstoff kam in 26 Stunden
nach Aufnahme von 1320 ccm zum Stehen!
Wurde nunmehr neue Luft, d. h. Sauerstoff, zuge-
führt, so ging die Absorption in der gleichen
Geschwindigkeit wie vorher weiter.
Dieser Sachverhalt gibt eine Erklärung für die
bisher so rätselhafte Erscheinung, daß Kataly-
satoren „ermüden" können. Die Ursache da-
für ist, zum mindesten in diesem Falle, die Auf-
zehrung des im Platin vorhandenen Sauerstoffs,
der zur Hydrierung unbedingt nötig ist, bei dessen
Fehlen also die Kontaktwirkung aufhören muß.
Eine ähnliche Deutung findet eine andere merk-
würdige Erscheinung , die der „Vergiftung" von
Katalysatoren. Sie wird bewirkt in erster Linie
durch leicht oxydierbare anorganische Stoffe, wie
Blausäure, Schwefelverbindungen usw. und beruht
nach Willstätters Versuchen wenigstens z. T.
darauf, daß dem Platin durch die „Gifte" der zur
Hydrierung nötige Sauerstoff entzogen wird,
in ähnlicher Weise, wie das bei dem eben gege-
benen Beispiel schon in gewöhnlichen Verhält-
nissen früher oder später immer der Fall ist.
Es gelingt aber die Vergiftung zu überwinden
entweder durch vermehrte Zufuhr von
Sauerstoff oder durch Vermehrung der
Katalysatorenmenge. Die Wichtigkeit dieses
Befundes für die gesamte Praxis der Fetthärtung
398
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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usw. bedarf keiner Erläuterung. Gleichzeitig aber
ist damit die einwandfreie Messung der Ge-
schwindigkeit katalytischer Hydrierungen
möglich geworden, die nach den Untersuchungen
von Böesekeni) mit ziemlich viel Unsicherheit
behaftet schien. Jede Hydrierungsgeschwindigkeit
namlich stellt sich dar als die Resultante von
eigentlicher Hydrierungsgeschwindigkeit und
Abnahme der Katalysatormenge, denn
der Katalysator wird während der Hydrierung zu
unwirksamem Hydrid reduziert. Man kann auf
Grund dieser einander entgegen laufenden Vor-
gange drei Klassen wasserstoffaufnehmender Stoffe
unterscheiden. Solche, bei denen die Hydrierung
so rasch veriäuft, daß die „Ermüdung" praktisch
nicht bemerkbar ist; dann solche, bei denen die
Hydrierung schwerer erfolgt, die also sehr wohl
meßbaren Geschwindigkeitsabfall zeigen; endlich
diejenigen Stoffe, die erst nach der W i 1 1 s t ä 1 1 e r -
sehen Aktivierung der Hydrierung überhaupt fähie
werden.
Was für Platin und Palladium gilt, trifft in
ganz der gleichen Weise zu auch für das bei der
Fetthärtung allgemein angewendete Nickel
Während Sabatier starr an der Meinung fest-
hielt, daß nur das reine Metall hydrieren
könne, vertraten Erdmann und Suida im
Gegenteil die Auffassung, daß gerade das Nickel-
oxyd ul die Fetthärtung beträchtlich begünstigte.
Dem hinwiederum traten M e i g e n und F r e r i c h s
im Sinne der Sabatierschen Theorie entgegen.-)
Dieser vielfach ausgefochtene Streit scheint nun
durch Willstätter endgültig zugunsten der
Oxydkatalyse entschieden. Völlig sauer-
stofffreiesNickel wirkte ganz und gar nicht
hydrierend, aber schon die geringsten Mengen
Sauerstoff brachten die Wasserstoffaufnahme in
Gang.
Die letzte zu ergründende Frage ist natüriich
wie denn nun der Sauerstoff im Kataly-
sator gebunden ist? Willstätter neigt
der Annahme zu, daß ein Su peroxydh vdrid
.0— OH ^
der Formel Pt
OH
entstünde. Es leuchtet
ein, daß ein derartiger Stoff zwar denkbar ist
aber nur geringe Stabilität besitzen kann. Auf
dem durch seinen Zerfall bedingten Wechsel
zweier Wertigkeitsstufen des Platins beruht also
die Wasserstoffübertragung. Eine exakte Beweis-
führung hierfür ist mit heutigen Mitteln freilich
schwer und zunächst nicht zu erwarten. Die mit-
geteilten Befunde sind aber an sich wertvoll ge-
nug. Bringen sie doch die endgültige Klärune
der verwickelten Hydrierungsvorgänge durch die
anscheinend paradoxe Erkenntnis, daß Sauer-
stoff der eigentliche Wasserstoffüberträger ist.
H. Heller.
) Vgl. Fahrion, Die Härtung der Fette. Braunschweig.
Über die deutschen Hydren.
Über die deutschen Hydren hat neben zahl-
reichen anderen Autoren, wie Haase, Wachs
und anderen, namentlich Paul Schulze in letzter
Zeit Bemerkenswertes veröffentlicht. 1914 gab er
eine Bestimmungstabelle der deutschen Hydra-
arten, in der er nicht weniger als acht Arten
unterschied.!) Eine solche Vielzahl schwer unter-
scheidbarer Arten könnte (Zusatz des Ref) wohl
im Sinne der Auffassung sprechen, daß Hydra ein
rückgebildetes Endglied der Hydrozoenreihe sei,
welche Ansicht denn auch heute diejenige der
meisten Kenner ist, obgleich man mit Kühn
noch sagen darf, „notwendig ist sie nicht". —
Eine zweite Arbeit behandelt die Bedeutung der
kleinen „interstitiellen Zellen" im Hydraektoderm.'')
Sie dienen zum Ersatz einzelner Zellen, besonders
der Nesselzellen, ferner vornehmlich zur Knospen-
und Geschlechtszellenbildung, und der Verf. findet
auch hier die Auffassung begründet: „zugleich
lehren die besprochenen Verhältnisse aufs neue,
daß die Süßwasserpolypen nicht primitive, sondern
hochspezialisierte Organismen sind". Eine dritte,
umfangreiche Arbeit, „Neue Beiträge zu einer
Monographie der Gattung Hydra", mit eingehen-
dem Literaturverzeichnis, im Archiv für Biontolo-
gie IV, 1917, S. 29—109, mit dem Untertitel
„Zugleich 3. Beitrag zur Kenntnis tierischer Körper
der Karotin-Xanthophyllgruppe", bringt u. a. Bei-
trage zur Frage der Längs- und Querteilung: bei
den meisten anscheinenden Längsteilungen dürfte
es sich um Regulationserscheinungen zum Zwecke
der Trennung oder Wiedertrennung von Mutter-
tier und Knospe nach abnormer Verschmelzung
ihrer basalen Teile handeln. In anderen Fällen
konnten äußere Verietzungen den Anlaß bilden,
so das Einreißen des oralen Poles beim Ver-
schlingen ungewöhnlich großer Beute, wie z. B.
großer Chironomuslarven. Etwas anders scheint
es sich mit der Querteilung zu verhalten, die z. B.
nach ganz leichter Umschnürung mit einem Faden,
also vermutlich auch zwischen Algenfäden, ein-
t^W- — Auch wird im Zusammenhang hiermit
erwähnt, daß mitunter Hydren einander ver-
schlingen. Obwohl hierzu geringe Neigung be-
steht, kann es namentlich beim Streit um ein
Beutetier zufällig geschehen. Schon Roesel
vonRosenhof war das bekannt. Das gefressene
Tier kann lebend oder tot wieder ausgespieen
werden, es kann aber auch durch seine Nessel-
kapseln den Fresser töten. — Der Hauptanreiz
für die Bildung der Geschlechtsprodukte wird nicht
m Ernährungsschwankungen, sondern mit Hert-
wig, Krapfenbauer und Frischholz im
Vorhandensein eines Temperaturoptimums er-
blickt. —
1
) Schulze: Bestimmungstabelle der deutschen Hydra-
arten. Sitzungsbericht d. Gesellsch. naturf. Freunde. Berlin 1914.
2) Derselbe: Die Bedeutung der interstitiellen Zellen fllr
die Lebensvorgänge bei Hydra. Ebenda, Jahrgane igi8,
Nr. 7, S. 252-277. j s t. ^ ,
N. F. XX. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
399
Zur Systematik der Hydren ergab sich
folgendes: „Hydra" zerfällt in drei Gattungen,
Chlorohydra, Hydra und Pelmatohydra. Erstere,
mit Chlorohydra viridissima (viridis), dem „Grünen
Süßwasserpolypen", führt Zoochlorellen und bildet
eine stachellose, aus fünf- bis sechsseitigen pris-
matischen Säulen zusammengesetzte, daher in Auf-
sicht gefeldert erscheinende Eischale (Embryothek).
Unter den grauen Polypen unterscheidet sich
Pelmatohydra von Hydra vornehmlich durch das
Vorhandensein eines histologisch differenzierten
Stieles. Hydra bildet 5 meist neue Arten, dar-
unter die alte Hydra vulgaris Pallas, voneinander
unterscheidbar zum Teil durch die verschieden
ausgebildeten Nesselkapseln. Zu unterscheiden
sind nämlich folgende vier Arten von Nessel-
kapseln: I. große birnförmige Nesselkapseln,
„Stilettkapseln" oder „Penetrantes", mit stacheln-
besetztem Faden zum Durchschlagen glatter Chitin-
flächen, 2. kleine birnförmige Nesselkapseln,
Wickelkapseln oder „Volventes", zum Umwickeln
der Borsten der Beutetiere, 3. große meist
zylindrische Kapseln oder „große (streptoline)
Glutinanten" mit biegsamem, und 4. kleine
zylindrische oder „kleine (stereoline) Glutinanten"
mit starrem Klebfaden, beide zum Festhaften beim
Kriechen dienend. Nun ist Hydra circumcincta
nov. spec. nur '/a c^ l^ngi Tentakel nur von
'/s Körperlänge, alle anderen sind größer, H. stel-
lata n. sp. hat birnförmige Streptolinen, Hydra
vulgaris einen nicht gegen die Basis verdickten
Körper, Hydra attenuata Pallas, mit 3 Unterarten,
die einzige getrenntgeschlechtliche Art, einen dort
verdickten; die plumpe Hydra oxycnida nov. sp.^)
aber kennzeichnen nach oben stark verjüngte
Penetranten.^) Auf ähnliche Weise läßt sich Pel-
matohydra in die zwei Arten P. oligactis (Pallas
1 766) (fusca) und P. braueri Bedot (polypus Brauer)
scheiden, erstere getrenntgeschlechtlich, letztere
zwitterig, jene mit zylindrischen, diese mit birn-
fbrmigen Streptolinen. — Die Gattung Chloro-
hydra soll aus gegenwärtigem Mangel an Material
später genauer behandelt werden.
Der Verf bittet um weiteres Hydramaterial,
besonders mit Geschlechtsprodukten. Man saugt
die Tiere in einer Glasröhre hoch, verhindert
durch leichtes Drehen das Festsetzen und läßt
sie, sobald die Tentakeln sich ausstrecken, in
40proz. Formaldehyd fallen. Aufbewahrung in
zweiprozentigem.
Verfütterung von Blattläusen, grünen Chiro-
nomus u. dgl. an graue Hydren macht diese zu
scheinbar grünen, mit grüngefärbten Körpern im
Entoderm. Rote Polypen, die überall vorkom-
') Geschlechtsprodukte dieser Art noch nicht bekannt.
") Eine weitere, also sechste Art, von Biitzow i. M., be-
schreibt Boeker im Zool. Anzeiger 1920, Bd. 51, Heft II,
S. 250 — 256. Sie ist Hydra stellata ähnlich, hat aber nicht
birnenförmige, sondern ovale bis iitronenfdrmige Streptolinen.
Derselbe Autor erwähnt noch, bei Wittenberg Hydren einer
wahrscheinlich siebenten, neuen Art gesehen zu haben. Sie
trugen die Tentakeln in sanftem Bogen zurückgeschlagen, der
Unterlage anliegend, von der sich die Enden wieder abhoben.
men können, entstehen durch Aufnahme von rotem
Karotinoid mit den durch dieses rot gefärbten
Kopepoden oder Ostrakoden. Der Farbstoff wird
zunächst verdaut, alsdann sammelt sich in den
Darmzellen neues fettreiches gelbliches oder röt-
liches kolloidales Karotinoid in Form von Kügel-
chen als Speicherstoff, der allmählich unter Bräu-
nung abgebaut wird. Mitunter geht das Karotinoid
auf die Hoden und Eier über. Bei Regenerationen
wird es im Entoderm zu den Verbrauchsstellen
transportiert. V. Franz, Jena.
Nachtrag. Vgl, auch: E. Bolker, Zur Kenntnis der
Hydra oxycnida, Zool. Anz. Bd. 52, Heft 5, 1921.
Weiteres über die „ältesten Laudpflauzeu".
Zu dem Artikel „Die ältesten Landpflanzen"
von Herrn Dr. Potonie (diese Zeitschrift vom
26. Dezember 1920, S. 822) möchte ich im folgen-
den einige weitere Ergänzungen und Betrachtungen
geben. Bei dem großen prinzipiellen Interesse,
dem sowohl vom geologischen als vom botanischen
Standpunkt aus jede genauere Nachricht von den
ältesten Landpflanzen begegnen muß, erscheint
ein weiteres Eingehen darauf auch in einer popu-
lären Zeitschrift durchaus angebracht. In dem
genannten Aufsatz (S. 823) war schon die damals
noch nicht genauer bekannte Pflanze Asteroxylon
Mackiei erwähnt worden im Zusammenhang mit
den damit zusammen vorkommenden Psilophyten
bzw. Rhynia- und Hornea- Arten. Über diese (Aster.)
ist inzwischen durch die ebenfalls bereits genannten
Verff. Kids ton und Lang Näheres bekannt ge-
worden (Transact. Roy. Soc. Edinb. Bd. 55, 1920).
Außerdem findet sich in der neuen 3. Auflage
der „Studies in fossil Botany von D. H. Scott"
bereits Einiges darüber. Diese Pflanze unter-
scheidet sich von den früher genannten Rhynia
und Hornea in verschiedener Beziehung. Ihre
Konstruktion ist entschieden im allgemeinen kom-
plizierter und fortgeschrittener als die der genann-
ten Formen. Sie findet sich jedoch nicht in den
jüngeren Horizonten der Pflanzenhornsteinschichten
(chert-bed), von denen dort die Rede war, sondern
speziell in den unteren Horizonten. Die Pflanze
ist im ganzen größer als die beiden anderen. Sie
besteht aus den eigentlichen Luftstämmchen, die
beblättert waren, den blattlosen Rhizomen und
einer Übergangsregion. Während der Zusammen-
hang dieser drei Teile durch die Funde klar be-
wiesen wird, werden von dem Verf noch andere
ebendort gefundene Pflanzenteile dazu gerechnet,
nämlich einmal Stengelorgane eigener Art, viel-
leicht Sporangienträger, und ferner Sporangien
selbst. Die Rhizome sind etwa i —5 mm dick
und meist gabelig verzweigt. Eigentliche Wurzeln
sind nicht vorhanden und auch Rhizoiden, wie
sie bei Rhynia angegeben werden, fehlen hier.
Gewissermaßen einen Ersatz dafür bilden feinere
Auszweigungen des Wurzelstocks, die nach Wurzel-
art auch in tote Gewebe abgestorbener Pflanzen
hineingekrochen sind. Die innere Beschaffenheit
400
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 27
des Wurzelstocks ähnelt der von Rhynia. Die
eben genannte Übergangsregion zeigt von der
Form des einfachen zylindrischen Leitbündels des
Wurzelstocks bereits Abweichungen und dieses
nimmt allmählich einen mehr sternförmig ge-
lappten Querschnitt an, dessen Form in dem
eigentlichen Stammteil darüber zur definitiven
sternförmig - lappigen Ausbildung kommt. Die
Oberfläche zeigt hier schuppige Blätter, zu denen
sich besondere Leitbündel von dem Zentralbündel
hin erstrecken. Die beblätterten Sprosse, die die
eigentliche charakteristische Region der Pflanze
ausmachen, unterscheiden sich besonders stark
von den bedeutend einfacheren der früher genannten
Psilophyten (Rhynia usw.). Die Sprosse sind i cm
bis unter I mm dick, wobei die verschiedene
Dicke wahrscheinlich in Beziehung zu der Region
des Stämmchens steht, indem die äußersten die
dünnsten waren. Die Blätter, von einfacher Ge-
stalt, mit eiförmigem Querschnitt, sind etwa ^/j cm
lang und geben den Sprossen etwa das Aussehen
eines Lycopodiumstengels. Außerordentlich be-
merkenswert ist, daß zwar zu jedem Blatt eine
Blattspur hinläuft, die jedoch nicht
in das Blatt selbst eintritt, so daß also
diese Blätter ähnlich wie die Anhängsel oder
Dörnchen der Psilophyten Adern bzw. leit-
bündellos bleiben. Das Leitbündel (die Stele)
des Stengels hat nunmehr durchaus sternförmige
Gestalt angenommen und ähnelt einerseits dem
mancher fossilen Farne (Zygopterideen), anderer-
seits demjenigen gewisser lebender Arten von
Lycopodium. Merkwürdig genug ist, daß die
gesamten Tracheiden des Leitbündels spiralverdickt
sind, während man bei sonstigen Farngewächsen
mindestens zum Teil Treppentracheiden zu finden
gewohnt ist. Ohne auf die weiteren Einzelheiten
der Struktur der Stele einzugehen, betrachten wir
noch kurz die Rinde. Diese besteht aus drei
Zonen, von denen die mittlere besonders auffallt
durch ihre lakunöse Struktur, die dadurch hervor-
gerufen wird, daß senkrecht gestellte Gewebe-
platten in radialer Richtung angeordnet erscheinen,
zwischen denen die genannten Lücken stehen
bleiben. Die Blätter sowohl wie die Stämmchen
dienten der Assimilation, wie an beiden vorkom-
mende Spahöffnungen beweisen, die etwas in die
Oberfläche eingesenkt waren.
Die weiter vorn genannten Achsenteile, die sehr
wahrscheinlich Träger von Sporangien darstellen
und Sporangien selbst wurden in so enger Ver-
bindung mit den Stammorganen von Asteroxylon
gefunden, daß die Verff. an einem Zusammenhang
nicht zweifeln. Wir wollen die Struktur des
Sporangiumträgers , die von der der Hauptachsen
abweicht, nicht näher besprechen, dagegen den
Sporangien noch ein paar Worte widmen, die von
denen von Rhynia und Hornea ganz abweichen.
Sie sind etwa i mm lang, bohnenförmig und
öfiTneten sich entgegen denen der anderen Psilo-
phytalen durch einen Spalt am breiteren Ende.
Die Wandzellen waren wie bei Farnsporangien
stark verdickt, außer an der Öffnungsstelle, und
die Sporen hatten das Aussehen von normalen
Pteridophytensporen, stehen z. T. in Tetraden.
Die eben kurz beschriebene Pflanzenform zeigt,
daß in dem Hornstein außer den sehr einfach
organisierten Psilophyten (Rhynia usw.) auch schon
etwas kompliziertere Pflanzen vorhanden waren,
die allerdings in mancher Beziehung noch an sie
erinnern, und deswegen auch von den Verff. als
zu derselben Gewächsreihe gehörig betrachtet
werden. Höchst befremdlich bei dem genannten
höher organisierten Typus Asteroxylon erscheint
insbesondere das Verhalten der Blattspuren, die
gewissermaßen an der Blattbasis halt machen und
die Blätter ähnlich wie die kleinen Anhängsel der
Psilophyten und auch der Moose als außerordent-
lich primitiv erscheinen lassen. Primitiv erscheint
auch die Struktur der Rhizome, die Abwesenheit
von Wurzeln und die alleinige Anwesenheit von
spiralisch verdickten Tracheiden in dem Holzteil.
Pteridophytenähnlich ist aber das Sporangium,
spez. farnähnlich mit seinen verdickten Wand-
zellen; Sporophylle haben aber auch hier gefehlt.
Was die Vegetationsbedingungen dieser Pflanzen
anlangt, so muß schon nach dem Zusammenvor-
kommen mit den anderen genannten angenommen
werden , daß sie mit diesen gleiche ökologische
Bedingungen hatten und also auf sumpfigem zum
Teil nassem Boden vegetierten. Und hierauf
weist gerade besonders die lakunöse Struktur
der Rinde hin. Obwohl von den früher beschrie-
benen Formen der Psilophyten in mehrererlei Be-
ziehung erheblich abweichend, kann man diese
Pflanze doch bei anderen bekannten lebenden
oder fossilen Pflanzentypen noch weniger unter-
bringen, und so kann man zunächst den Verff.
wohl recht geben, wenn sie diese Pflanze in die-
selbe Reihe mit Rhynia, Hornea, Psilophyton, also
zu den Psilophytalen stellten.
Die ältere Devonflora gibt uns im Vergleich
zu dem nächst jüngeren und den jüngeren Floren
überhaupt Veranlassung und Fingerzeige, wie sich
die Entwicklung der Landflora in den ältesten
Perioden überhaupt vollzogen haben wird. Es
darf und soll keineswegs angenommen werden,
daß diese altdevonischen Pflanzenformen etwa
wirklich die ältesten Landpflanzen gewesen sind,
die es gegeben hat. Man darf wohl annehmen,
daß z. B. im Silur bereits eine Landflora von
z. T. ähnlicher oder noch primitiverer Art
existiert haben wird, als uns diese Devon-
pflanzen nahelegen. Ein Hinweis in dieser
Richtung hat uns vor kurzem ein Fund in dem
Obersilur von Gotland gegeben, der von Halle
(Svensk Bot. Tidskrift 1920, S. 258) bekannt ge-
macht wurde. Es ist ein zwar nicht bedeutender
Fund, der aber immerhin erkennen läßt, daß es
sich um eine Landpflanze handelt, die nach ihrem
äußeren Habitus zu schließen, im großen und
ganzen den Eindruck der devonischen Psilophyten
macht, und Halle hat sie deswegen auch mit
dieser Gattung in Verbindung gebracht. Bei der
N. F. XX. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
401
Frage der Entwicklung der einfachsten und ältesten
Landpflanzen hat u. a. schon H. Potoni^ in Ver-
bindung mit seiner Perikaulom-Hypothese die
Meinung aufgestellt, daß die Landpflanzen von
Wasserpflanzen abstammen und zwar von größeren
gabelteiligen Algen, vom Habitus der Tange
(Fukaceen) oder dgl. Indem durch gewisse äußere
Umstände solche Formen aufs Land gelangten
und sich schließlich dem Landleben anzupassen
genötigt waren, wahrscheinlich über eine Stufe
amphibischen Daseins, traten an sie gänzlich neue
Bedingungen und Anforderungen heran, die wesent-
lich durch das Leben in dem neuen Medium, der
Luft, hervorgerufen wurden. Das Wasser spielt
für die Wasserpflanzen nicht nur die Rolle des
nährenden, sondern auch eines tragenden Elements.
Wir finden daher bei den Wasserpflanzen festigende,
tragende Skelett- oder Holzkörper gar nicht oder
nur untergeordnet ausgeprägt. Stellt man sich
auf den Boden dieser Vorstellung, so wird man
sich die ersten Landpflanzen vorstellen können
als kriechende niedrige Gewächse, die erst all-
mählich ihre Organe höher in ihr neues Lebens-
element, die Luft, emporzurecken versuchten. Es
erwies sich nun für die Pflanzen nach länger an-
dauerndem Luftleben als praktisch und durchaus
nötig, schon um in Form verschieden hoher Ge-
wächstypen den Luftraum besser auszunutzen,
ihren Körper allmählich immer weiter in die
Höhe zu recken, d. h. allmählich das Aussehen
von größeren krautigen und schließlich strauchigen
und baumförmigen Gewächsen anzunehmen. Bei
der Annahme der Abstammung von algenartigen
Gewächsen wird ursprünglich noch keine Diffe-
renzierung in Stengel- und Blattorgane anzunehmen
sein, sondern die im ganzen in Form von mehr
oder weniger nackten Stengeln ausgebildete Pflanze
wird die Ernährung, Atmung und Assimi-
lation von den Stengelteilen haben besorgen
lassen, die zugleich als Träger der Gesamt-
pflanze dienten. Im Laufe der Zeit wird sich dann
eine Arbeitsteilung bemerkbar gemacht haben.
Gemäß ihrem Charakter wird den stengelig aus-
gebildeten Organen die Tätigkeit des Tragens zu-
zugewiesen worden sein, während für die Assimi-
lation besondere Anhangsorgane ausgebildet
wurden, die zugleich die der Luft dargebotene
Oberfläche vergrößerten. *) Diese Primiüvblätter
werden vielleicht zunächst klein und schuppig
oder ähnlich gewesen sein, und erst später werden
größere Blattflächen differenzierter Art aufgetreten
sein, wie wir sie etwa bei den Farnen, den Laub-
bäumen usw. kennen. Beim Höherwachsen der
Stengelorgane und bei der stärkeren Ausbildung
des Blatt-, Blüten- und Fruchtsystems wird die
Beanspruchung der tragenden Stengelteile eine
allmählich immer stärkere geworden sein und die
Pflanze wird dadurch genötigt worden sein, die
') Auch bei den Wasseralgen selbst bemerkt man ja mu-
tatis mutandis eine ähnliche Tendenz, indem manche Tange,
Braun- und Rottange, eine Art Sonderung des Körpers in
Stengel- und blattartige flächige Organe eintreten lassen.
Tragfähigkeit der Stengel insbesondere der Haupt-
stengel entsprechend zu verstärken und diese in
entsprechender Weise auszurüsten, zu konstruieren.
Wir können hierbei in der Pflanzenwelt zur Er-
reichung dieses Zieles einen doppelten Weg er-
kennen, der sich nach der Beschaffenheit der Ge-
samtstengelstruktur oder, wie wir jetzt sagen
können, Stammstruktur, richtet. Der eine Weg
bestand darin, daß ähnlich wie es bei den Farnen,
den Monokotylen usw. der Fall, ist ein System
von einzelnen getrennten Leitbündeln im Stamme
bestehen blieb und der Stamm einen ständigen
nachträglichen Dickenzuwachs nicht erhielt. In
diesem Falle erreichte die Pflanze ihren Zweck,
indem sie für die senkrecht stehenden tragenden
Organe genau wie der Ingenieur das System der
hohlen Säule wählte und die eigentlich festigenden
Skelettelemente an die Peripherie des Stengels
legte. Der andere Weg, der ja ebenfalls wohl
bekannt ist, ist der, daß, wie noch jetzt bei den
meisten Nadel- und Laubbäumen, ein nachträglich
in die Dicke wachsender Holzkörper gebildet
wurde, der, wie aus der Botanik bekannt sein
dürfte, durch ein konzentrisch gelegenes, ständig
nach außen sich verschiebendes Bildungsgewebe
erzeugt wird, das nach innen Holzzellen, nach
außen Rinden zellen abscheidet.
Auf die weiteren Komplikationen, die nun
ihrerseits im Laufe der Entwicklung die weiteren
Einzelorgane der Pflanze erlitten haben, wollen
wir uns hier nicht weiter einlassen, sondern uns
wesentlich darauf beschränken, nunmehr nachzu-
sehen, inwieweit sich die eben angestellten, meist
theoretischen Betrachtungen in der Praxis durch
die fossilen Funde bestätigt finden. Aus der
früheren Darstellung von R. Potonie ersieht
man, daß so gut wie sämtliche bekannt ge-
wordenen älteren Devonpflanzen verhältnismäßig
klein, niedrig, krautig waren; es war auch dort
bereits genügend hervorgehoben worden, wie
außerordentlich primitiv und einfach z. B. die
Stengelstruktur der Psilophyten gewesen ist.*)
Keinerlei festigende Skelettelemente, keinerlei
Blätter oder wenn man diese als einen Anfang
davon ansehen will, höchstens die kleinen dornigen
Anhängsel an dem Stengel erinnern an etwas
Blattartiges, während andere Pflanzen, wie das
genannte Asteroxylon, schon eine Art von primitiver
Beblätterung aufweisen. Zu einem ähnlichen Bilde
kommt man, wenn man die in der böhmischen
Devonflora vertretenen Formen einer Durchsicht
unterwirft. Indessen zeigen sich hier schon An-
fänge der Ausbildung einer eigentlichen Blatt-
spreite und einzelne Gewächse erreichen bereits
eine Höhe von über i m. Ganz ausnahmsweise
scheinen auch bereits mehr baumförmige Formen
im Mitteldevon vorgekommen zu sein, worauf ein
merkwürdiger Stamm im ' Nationalmuseum in
') Ein englischer Forscher hat diese Psilophytales sogar
noch als Algen, Phallophytcn, angesehen, ein indes offenbar
unmöglicher Standpunkt. Es sind die einfachsten Ptrido-
phyten, die man kennt.
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 27
Washington nach Whites Beschreibung hinweist.
Verhältnismäßig klein und krautig scheinen auch
noch die Gewächse des späteren Mitteldevons ge-
wesen zu sein. Indes bemerkt man bei diesen
auch schon Ansätze zur Ausbildung einer mit
richtiger Aderung versehenen Blattspreite, die bei
dem von Potonie auch erwähnten (S. 825)
Psygmophyllum Kolderupi. Auch sonst sind in
der kleinen Flora von Hyen in Norwegen bereits
weitere Fortschritte in der Pflanzenorganisation
zu bemerken, auf die von Potonie ebenfalls
schon hingewiesen wurde, auf die wir hier aber
nicht näher eingehen wollen. Alles in allem er-
weist sich unseren vorn gemachten theoretischen
Forderungen entsprechend die älteste bekannte
Landflora als im ganzen klein, krautig, mit nur
wenigen oder keinen Festigungselementen ver-
sehen und mit außerordentlich gering dififeren-
tiierter Beblätterung. Ein ganz anderes Bild ge-
winnen wir von der oberdevonischen Flora.
Potonie hatte diese Verschiedenheiten auch
durch die Aufnahme der Bezeichnung von L i g n i e r
charakterisiert, indem er von einer älteren mikro-
phyllen und einer jüngeren makrophyllen Flora
sprach. Anders ausgedrückt: der Gegensatz der
jüngeren oberdevonischen Flora gegen die ältere
ist ein ganz eminenter. Im Oberdevon treten
schon eine ganze Reihe von Pflanzen auf, die be-
reits eine Beblätterung und eine Ausbildung der
Blattspreite hoch entwickelter Art etwa wie bei
Farnkräutern zeigen, und ein weiterer Schritt der
Arbeitsteilung, wie wir sie vorn theoretisch uns
gedacht hatten, ist vollzogen. Auch was die
Komplikation der Stengelstruktur, die Ausbildung
der Stengelorgane zu besonderen Trageorganen
anlangt, scheint im Oberdevon bereits in dem
beiderseitigen Sinne vollzogen zu sein, wie wir
vorn betrachtet hatten. Durch einzelne Funde
wissen wir einmal, daß schon im Oberdevon sich
Gewächse mit echtem großem Holzkörper gefun-
den haben, der nur durch einen nachträglichen
Zuwachs von der Art verstanden werden kann,
wie ihn heute noch die meisten unserer Bäume
zeigen. Aber auch der andere Weg, die Ver-
legung von Skelettelementen an die Peripherie
der Stengelorgane, muß bereits mindestens im
Oberdevon in ausgiebigem Maße vollzogen ge-
wesen sein , da uns aus der unmittelbar darauf-
folgenden Kulmflora eine ganze Menge von Ge-
wächsen bekannt sind, die diese Art Stengelbau
zeigen. Sowohl die Größe einzelner im Ober-
devon charakteristischer Pflanzengruppen als auch
die genannten gefundenen großen Holzstämme be-
weisen ferner, daß große mehr oder weniger baum-
förmige Gewächse damals bereits nicht selten waren.
Fassen wir die großen Züge dieses Entwicklungs-
bildes zusammen, so läßt sich nicht leugnen, daß
nach den gemachten Funden die Entwicklung der
Landpflanze von der Wasserpflanze sich etwa in
dem Sinne vollzogen zu haben scheint, wie wir
es vorn angenommen hatten, und es erscheint
durchaus verständlich, wenn der verstorbene eng-
lische Paläobotaniker E. A. N. Arber durch die
neueren Funde in den Devonfloren dazu begeistert
wurde, in einem besonderen 1920 erschienenen
Buch sowohl die Einzelergebnisse der Erforschung
der Devonfloren zusammenzufassen als auch die
theoretische Ableitung der Kormophyten, d. h.
der mit einem besonderen Stamm als Tragorgan
versehenen Gewächse in Zusammenhang mit den
Verhältnissen der Devonflora zu beleuchten. Auch
er greift dabei auf einen Teil der Anschauungen
zurück, die H. P o t o n i e in seiner Perikaulomhypo-
these bereits früher entwickelt hatte. Auch von
einem neueren englischen Verfasser sind theo-
retische Ableitungen veröfifentlicht worden, die
sich mit der Abstammung der Landpflanzen von
den Wasseralgen befassen (Church, Thalassio-
phyta and the Subaerial Transmigration Botanical
Memoirs No. 3, Oxford University Press, 1919).
Dieses Buch ist mir noch nicht zu Gesicht ge-
kommen, nach Scotts Mitteilungen sollen sich
indes die spekulativen Annahmen des Verf. weit-
gehend mit den tatsächlichen Befunden der älteren
Landflora decken, von denen, wohlgemerkt,
Church selbst keine Vorstellung gehabt haben
soll.
Man könnte noch manche interessanten Be-
trachtungen an diese alten einfachen Landfloren
knüpfen, z. B. die Frage der Entwicklung des
Blattsystems von den einfachsten Anfängen zu
den vollendeten Formen, indes mag es hier an
den prinzipiellen Zügen genügen.
W. Gothan.
Die diluvialen Skelettfunde von Oberkassel
bei Bonn.
Zu Beginn des Jahres 191 4 wurden bei Ober-
kassel bei Bonn zwei fast vollständig erhaltene
Menschenskelette entdeckt. Beide Skelette ent-
stammen einmal einer intakten Fundschicht, deren
geologische Altersverhältnisse vollkommen klar
liegen, und weiterhin wurden neben den Skeletten
noch einige sehr wertvolle Beigaben gefunden,
welche die Kulturstufe, der die Skelette ange-
hören, unzweideutig bestimmen. Funde unter
derartig günstigen Umständen sind selbst in den
an paläolithischen Fundorten so reichen Gebieten
Südfrankreichs verhältnismäßig selten. Dazu
kommt, daß die beiden Oberkasseler Skelette den
ersten Aufschluß über die Körperbeschaffenheit
der diluvialen Bewohner der Ufer des Nieder-
rheins geben. Bisher kannte man von solchen
nur zwei Zähne und sieben Rippenbruchstücke
eines Kindes (Martinsberg bei Andernach). So
verdient der Fund von Oberkassel eine ganz be-
sondere Beachtung.
Die Skelette kamen in dem Basaltbruch des
Herrn Peter Uhrmacher in der Rabenlay
bei Oberkassel gelegentlich der Abbauarbeiten
zum Vorschein und wurden von den Arbeitern
unter möglichst großer Schonung freigelegt und
dann geborgen. Bald nach der Auffindung wurden
N. F. XX. Nr. 2;
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
403
die Professoren Verworn und Bonnet von
der Auffindung in Kenntnis gesetzt, die sofort
die Funde bargen und die Fundstelle sicherstellten.
Nach den Feststellungen dieser beiden Forscher
haben die Skelette in einer ziemlich dicken
Schicht von Rötel in vollkommen gestrecktem Zu-
stande auf der Sandschicht gelegen, ob in
Rücken- oder Seitenlage war nicht mehr zu er-
mitteln. Dagegen waren beide Skelette mit ihrer
Längsrichtung in derselben Himmelsrichtung orien-
tiert. Bedeckt waren beide Skelette nach Angabe
der Arbeiter mit größeren, flachen Basaltblöcken
und ringsherum lagen ebenfalls größere und
kleinere Basaltschotterstücke. An der Fundstelle
der Skelette wurde von den genannten Forschern
eine kleine Probegrabung angestellt, die noch
einige, von den Arbeitern übersehene Skelettstücke
in situ auffinden ließ, im übrigen aber nur den
Nachweis brachte, daß die Fundstelle mit diesen
beiden Skeletten wohl erschöpft ist.
Die gesamten Funde konnten von der Uni-
versität Bonn erworben werden, die sie vorläufig
dem anatomischen Institut der Universität über-
wies. Dort hat B o n n e t die Skelette konserviert,
zusammengesetzt und sich dann ihrer eingehenden
wissenschaftlichen Bearbeitung unterzogen. Die
Ergebnisse seiner Forschungen liegen jetzt in
einer umfangreichen Publikation vor, die auch
äußerlich der Bedeutung des Fundes entspricht
(Der diluviale Menschenfund von Oberkassel bei
Bonn. Bearbeitet von M. Verworn, R. Bonnet
und G. Steinmann. Wiesbaden 1919, J. F.
Bergmann. 193 S., 28 Tafeln und 42 Textab-
bildungen). Sie bildet eine Ehrengabe der
rheinischen Gesellschaft für wissenschaftliche
Forschung zum hundertjährigen Bestehen der
Universität Bonn. In dieser Publikation hat Stein-
mann das geologische Alter der Funde darzu-
stellen unternommen. Dann beschreibt Bonnet
eingehend die Skelette, und vergleicht sie mit
den bisher bekannten diluvialen Menschenfunden.
Endlich hat Verworn einen kurzen Fundbericht
beigesteuert und die Darstellung der Beigaben
übernommen.
Das geologischeAlter derFundstelle
ist nach Steinmann völlig gesichert. Sie liegt
an der Basis der Basaltschotterschicht, die auf
einer breiten Sandschicht ruht. Diese Sand-
schicht gehört nach Steinmann zu der Hochter-
rasse des Rheintales. Zusammen mit den Skeletten,
dann aber auch in der Nähe derselben wurden
einige Tierreste aufgefunden, von denen sich zwei
ausgesprochene Diluvialtiere, der Höhlenbär und
das Renn, bestimmen ließen. Dadurch ist die
Fundstelle als jungdiluvial gesichert. An der
Fundstelle selber liegt leider keinerlei Lößbildung
vor, während diese östlich und südöstlich der
Basaltbrüche als eine geschlossene Decke auftritt
und den vulkanischen Tuff und den Bereich der
Hochterrasse überkleidet. Daß die Lößbildung
hier fehlt, erklärt sich wohl nur durch die steile
Neigung des Abhanges des Rabenlay an dieser
Stelle. Näher als jungdiluvial läßt sich die Fund-
stelle geologisch nicht datieren.
Wohl aber gestattet uns die geologische
Forschung noch, ein Bild davon zu entwerfen,
wie die Fundstelle zu der Zeit aussah, als die
diluvialen Menschen hier ihre Toten bestatteten.
Über den Skeletten fand sich eine sehr mächtige
Schicht von basaltischem Hängeschutt. Die
Mächtigkeit dieser Schicht beweist, daß die Fund-
stelle am Fuß einer steilen Basaltwand gelegen
haben muß, von der reichliche Brocken sich ab-
gelöst und in der Form eines Schuttkegels
angehäuft haben. Die P'undstelle hat also allem
Anschein nach abriartigen Charakter gehabt. Das
Fehlen von Löß auf und in diesem Schuttkegel
spricht dafür, daß seine Bildung in eine spätere
Zeit fällt als die Ablagerung des jüngeren Lösses.
Die Skelette selbst sind ebenso wie auch
die Schädel überraschend gut erhalten, und bis
auf wenige, unwichtige Teile vollständig. Sie ge-
hören zu zwei Individuen von verschiedener Größe,
von verschiedenem Lebensalter und verschiedenem
Geschlecht. Das weibliche Skelett dürfte einem
etwa 20—25 Jahre altem Individuum angehören,
während das männliche Skelett ein Lebensalter
von mindestens 50, wahrscheinlich aber von über
60 Lebensjahren hat. Durch dieses verschiedene
Lebensalter und durch die Zugehörigkeit zu ver-
schiedenen Geschlechtern wird der Wert des
Oberkasseler Fundes nur noch erhöht.
Das etwa 172 cm lange Skelett des alten
Mannes zeigt unverkennbar ancestrale Merkmale.
Sein Schädel hat die ansehnhche Kapazität von
1500 ccm und gehört an die untere Grenze der
Dolichocephalie. An dem hoch und gleichmäßig
gewölbtem Stirnbein erscheint als Besonderheit ein
von dem einen Processus jugalis bis zum anderen
reichender Überaugenwulst, der zwar ziemlich
schmal und niedrig ist und sich mit der analogen
Bildung an den Schädeln der Neandertalrasse bei
weitem nicht messen kann, sich aber doch ganz
anders abgrenzt wie der Arcus superciliaris bei
den rezenten Menschen. Auch arn Skelettbau
finden sich noch manche andere Ähnlichkeiten
bzw. Übereinstimmungen mit der Neandertalrasse,
z. B. in der Plumpheit der Rippen, Ähnlichkeiten
an den Ober- und Unterschenkelknochen usw.
Bonnet möchte diesen Befund als Folgen der
Vererbung und nicht als Konvergenzerscheinung
deuten, während er andere Ähnlichkeiten bzw.
gleiche Befunde mit anderen ungefähr derselben
Zeit angehörigen Skeletten (namentlich Cromagnon
und z. T. auch noch Chanzelade) durch die An-
nahme von bereits damals vorhandenen Kreuzun-
gen erklären möchte. Die scharf ausgeprägte
und eigenartige Verbindung gewisser auffallender
Eigentümlichkeiten, so das gleichzeitige Vorhanden-
sein des Überaugenwulstes mit auffallend recht-
eckigen Augenhöhlen und einem äußerst promi-
nenten Kinn, das Mißverhältnis, das namentlich
in der enormen Breite des brutalen Gesichts-
schädels zum verhältnismäßig schmalen Stirnteil
404
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 27
des Hirnschädels zum Ausdruck kommt, das
riesige Jochbein , das kurze Gesicht bei einem
Dolichocephalen und die im Verhältnis zur Länge
auffallend weite Schläfengrube, das eigentümliche
Verhältnis der im Vergleich zu den Oberarm- und
Oberschenkelbeinen langen Unterarm- bzw. Unter-
schenkelknochen, die plumpe, stumpfkantige, dicke
und gerade, seitlich zusammengedrückte Tibia, die
dicke Fibula, die merkwürdige Richtung des kurzen,
fast gerade nach hinten gerichteten Trochanter
minor kennzeichnen nach Bonn et dieses Skelett
eines alten Mannes als eine bisher unbekannte
und neue Form des diluvialen Menschen.
Das weibliche, etwa 142 cm lange, durch
feineren Knochenbau und den sehr stark dolicho-
cephalen Schädel auf den ersten Blick von dem
männlichen abweichende Skelett zeigt bei näherer
Untersuchung eine solche Menge Ähnlichkeiten
und Übereinstimmungen mit diesem, daß man es
unter Berücksichtigung des Geschlechtsdimorphis-
mus als mit ihm blutsverwandt bezeichnen muß.
So das beiden gemeinsame Vorhandensein eines
mittleren Stirn- und Scheitel wulstes, die gleiche
Modellierung der Scheitelbeine, ferner die bei dem
weiblichen Skelette ebenfalls nicht unbeträchtliche
Jochbreite, die sehr kräftige Kieferentwicklung,
das Fehlen der Fossa canina, die große Schädel-
kapazität, die Kürze des Gesichts bei ausge-
sprochenen Langschädeln, die eingezogene Nasen-
wurzel, die schmalen Nasenbeine usw. Die Ver-
einigung besonderer Merkmale gibt auch dem
weiblichen Skelett ein ganz bestimmtes, nament-
lich bezüglich des Schädels, an das Skelett von
Chanzelade erinnerndes Gepräge. Nach B o n n e t
führt auch der Schädel dieses weiblichen Skelettes
neben den angegebenen ancestralen Eigentümlich-
keiten zu gewissen neolithischen Formen hinüber.
B o n n e t möchte überhaupt beide Skelette
als einen besonderen, bisher noch nicht bekannten,
zu gewissen neolithischen Skeletten hinüberführen-
den Übergangstypus betrachtet wissen. Für diese
Ansicht dürfte jedoch Bonnet schwerlich An-
hänger finden. So hat auch bereits Szombathy
sich ablehnend ausgesprochen und seinerseits die
Oberkasseler Skelette unbedenklich als typische
Vertreter der Cromagnonrasse erklärt (Mitteilungen
der anthropologischen Gesellschaft Wien L, 1920,
Sitzungsberichte S. 60 ff.). Auch mir persönlich
erscheint diese Zuteilung als die einzig richtige.
Bei den Skeletten fanden sich einige wenige
Beigaben. Einmal ein aus Knochen verfertigtes
Glättinstrument, das oben in einem geschnitzten
Tierkopf endigt. Auf den beiden Schmalseiten
dieses Glättinstrumentes sind bis nach dem unteren
Ende hin Reihen von schrägen Querstrichen in
Abständen eingekerbt. Derartige Tierkopfschnitze-
reien als Endbekrönungen an langgestreckten
Knochengeräten sind von paläolithischen Fund-
orten Südfrankreichs mehrfach bekannt geworden,
sie entstammen alle dem unteren Magdalenien.
Das zweite Fundstück stellt gleichfalls eine
Knochenschnitzerei dar, und zwar eine flache, aus
einem großen Röhrenknochen plastisch heraus-
geschnitzte Darstellung eines Pferdes oder Rhino-
zeros. Ähnliche plastisch geschnitzte Tierköpfe
haben sich in nicht gerade geringer Zahl an ver-
schiedenen Fundorten Südfrankreichs gefunden.
Auch diese Stücke gehören sämtlich dem Magda-
lenien an, und zwar gewöhnlich den älteren
Schichten. Sie weisen also gleichwie das oben
beschriebene Glättinstrument auf das ältere Magda-
lenien.
Außer diesen beiden Knochenschnitzereien
wurden noch einige unbearbeitete Bruchstücke
von Tierknochen gefunden, von denen eins mög-
licherweise als Werkzeug gedient haben mag.
Schließlich fand sich auch noch ein Feuerstein-
splitter, der durchaus nichts Charakteristisches an
sich hat und erst nachträglich an der Fundstelle
aus dem Lehm herausgeschlemmt wurde.
Die bereits oben ausgesprochene Vermutung,
daß die beiden Skelette dicht an einem Abri,
vielleicht in diesem selbst bestattet seien, wird
dadurch um so wahrscheinlicher, als die französi-
schen Funde durchweg zeigen, daß die Begräbnisse
an den Wohnstätten selbst stattgefunden haben.
Die paläolithischen Skelette finden sich fast allge-
mein direkt in die Kulturschicht eingebettet.
Letzteres war allerdings in Oberkassel nicht der
Fall, denn sonst hätten sich mehr Kulturreste als
nur die spärlichen Beigaben in der unmittelbaren
Nähe der Skelette finden lassen müssen. Eine
Kulturschicht existiert zweifellos in Oberkassel
unmittelbar an Stelle des Begräbnisses selbst nicht.
Um so weniger wird man in der Annahme fehl-
gehen, daß der ursprüngliche Lagerplatz in näch-
ster Nähe lag und nur durch den Steinbruchsbetrieb
in den letzten Jahrzehnten zerstört worden ist,
denn nur wenige Meter von der Fundstelle fällt
heute der Rand des Steinbruches steil in die Tiefe
ab. Auch, der nachträgliche Fund des kleinen,
oben erwähnten Feuersteinsplitters spricht für die
Annahme, daß sich ursprünglich ein Lagerplatz
in der Nähe der Fundstelle befand.
In der Bepuderung mit rotem Farbstoff haben
wir eine typische Funeralsitte des Paläolithikums
vor uns. An keinem Knochen der beiden Skelette
finden sich Schnitt- oder Schabspuren, wie sie
bei der Zerlegung, Entfleischung und nachträg-
lichen Färbung mit Roteisenstein sich hätten
finden müssen. Die Leichen sind also unzerlegt
mit der roten Farbe eingepudert oder bestreut
worden, und die Knochen haben sich erst all-
mählich mit der roten Farbe durchtränkt.
Nach alledem kann kein Zweifel mehr darüber
sein, daß wir in dem Oberkasseler Skelettfund
einen Begräbnisfund vor uns haben. Die Leichen
sind nach dem üblichen Ritus mit rotem Farb-
stoff bestreut, mit Beigaben versehen und mit
größeren Steinen bedeckt worden, und ein glück-
licher Zufall hat ihre Skelette in erfreulichem Er-
haltungszustande bis auf unsere Tage gerettet.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
N. F. XX. Nr. 27
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
40s
Psychische Veranlagung und Yolkscharakter.
In seinem kürzlich erschienenen Buch über
Massenpsyche sucht Wm. McDougall^) unter
anderem festzustellen, ob ererbte psychische Unter-
schiede im nationalen Leben der Völker eine
wesentliche Rolle spielen, oder ob sie von den
Umwelteinflüssen zurückgedrängt werden; ferner
ob die Beständigkeit solcher Unterschiede von
langer oder kurzer Dauer ist. Es ist kein Zweifel,
daß infolge des Wechsels der Lebensbedingungen
im Verlaufe der Menschheitsentwicklung nicht nur
körperliche, sondern auch psychische Unterschiede
auftraten, die ebenso wie jene Bestand haben und
wie die augenfälligen persönlichen Abweichungen
von der normalen geistigen Veranlagung, deren
Vererbung viele Generationen hindurch festgestellt
werden konnte.
Wenn die großen somatischen Gruppen der
Menschheit betrachtet werden, die weiße, die gelb-
braune und die schwarze Rasse, so fallen Eigen-
arten der Psyche auf, die gewiß nicht durch
gleichartige Einwirkung der Umwelt auf jede
Generation zu erklären sind. Aber die anthropo-
logische Forschung hat bisher diese Rassenunter-
schiede noch nicht hinreichend erforscht. Die
geistigen Eingenarten der Neger beispielsweise
sind gut ausgeprägt, jedoch schwer zu beschreiben ;
auffallend ist beim Neger namentlich sein sorg-
loses Wesen, die Hemmungslosigkeit seiner
Emotionen und seine Willensschwäche, im tro-
pischen Afrika wie im Bereich der Hochkultur
amerikanischer Städte. Die semitische Rasse zeigt
ebenfalls trotz ihrer weiten Zerstreuung gewisse
psychische Besonderheiten und unter nahe ver-
wandten Zweigen der weißen Rasse kann trotz
ähnlicher Kultur der Bestand psychischer Eigen-
tümlichkeiten nicht bestritten werden. McDougall
weist hin auf die Gegensätze im Temperament
des Engländers und Irländers, der Bretonen und
Normanen, die auf nichts anderem als verschiedener
natürlicher Artung beruhen können. Selbst in
bezug auf den Intellekt scheinen nicht bloß grad-
mäßige, sondern ebenso artmäßige Unterschiede
zu bestehen. Die logisch-deduktive Denkweise
des Franzosen und die empirisch-induktive des
Engländers sind wahrscheinlich in der Erbveran-
lagung begründet. Selbstverständlich bewirkt die
Tradition Häufung und stärkere Betonung solcher
Abweichungen von Geschlecht zu Geschlecht.
Den besten Beweis bestehen bleibender erb-
licher Unterschiede der Psyche erblickt McD, in
den Abweichungen und Ähnlichkeiten, die im
Völkerleben zum Ausdruck kommen und sonst
nicht zu erklären wären. Die gemeinsamen Züge
treten um so deutlicher hervor, je höher organi-
siert das Gemeinschaftsleben eines Volkes ist,
während individuelle Abweichungen im selben
Maße zurücktreten. Ein Teil der Gemeinschafts-
') Wm. McDougall, „The Group Mind". 16 u. 304 S.
Cambridge 1920. Universily Press.
kultur beruht überall auf fremder Geistesleistung,
bei jedem Volk Europas wahrscheinlich der größere
Teil. In die Gemeinschaftskultur gehen aber nur
solche eigene wie fremde Elemente ein, die der
ererbten geistigen Eigenart der Mehrzahl der
Volksgenossen entsprechen. Andere neue Ge-
danken vermögen sich nicht allgemein durchzu-
setzen. Kulturelemente, die zwar Fuß faßten, aber
dem Volkscharakter nicht angepaßt waren, werden
wieder ausgemerzt. Die soziale Umwelt wird auf
diese Weise durch einen Auslesevorgang gestaltet,
welcher der natürlichen Auslese ähnlich ist : durch
fortdauernde Begünstigung gewisser Kulturelemente
und Ablehnung anderer. Die selektive Kraft ist
in diesem Fall die ererbte Geistesverfassung des
Volkes. In Anpassung an die Änderungen der
Lebensbedingungen findet eine langsame Wand-
lung jeder besonderen Kultur statt. Die Tradition
kann auf diesen Vorgang ebenso wie auf die
natürliche Auslese hemmend einwirken. Als ein
Beispiel, welches zeigt, daß nur dem Volks-
charakter entsprechende fremde Kulturelemente
weithin übernommen werden, führt McD. den
auf dem Grundsatz unbedingter Fügung in
den Willen Gottes (oder der weltlichen Obrigkeit)
beruhenden Islam an. Er entspricht der psychischen
Artung, dem Fatalismus der meisten asiatischen
Völker, mit Ausnahme der chinesisch-japanischen
Völkergruppe, und vermochte deshalb im größten
Teile Asiens Eingang zu finden. Die Verbreitung
des protestantischen und des katholischen Be-
kenntnisses in Europa scheint ebenfalls nicht Zu-
fallssache zu sein, sondern sich im allgemeinen
mit der Verbreitung des nordischen Rassentypus
einerseits und des alpinen sowie mittelländiscnen
andererseits zu decken. Soweit Deutschland in
Betracht kommt, ist diese Annahme wohl nicht
zutreffend; zur psychischen Eigenart der Nord-
völker paßt allerdings der Protestantismus besser
als der Katholizismus. Auch der Auffassung
möchte Ref. nicht zustimmen, daß in bezug auf
das politische Leben „bloß jene europäischen
Völker, unter denen der nordische Menschen-
schlag überwiegt, individualistische Formen der
sozialen Organisation entwickelten, während unter
den übrigen eine deutliche Neigung besteht, sich
auf die oberste Autorität des Staates zu verlassen,
von der man Anregung und Führung erwartet,
ebenso eine Neigung zu zentralisierter und patri-
archalischer Verwaltung; dabei ist es gleich, ob
die Staatsform monarchisch oder republikanisch
ist". Wir haben beispielsweise in Italien ein
durchaus demokratisches Gemeinwesen und ein
Volk mit stark individuahstischen Tendenzen, das
in einem auffallenden Gegensatz zu dem sprach-
lich ihm recht nahverwandten Franreich steht.
Das größte Maß von Selbstverwaltung und De-
zentralisation hat das typisch alpine Schweizer
Volk erreicht, dessen Individualismus außer jedem
Zweifel steht. In allen diesen Fällen hatten Um-
weltsverhältnisse die ausschlaggebende Rolle bei
den nationalen Gestaltungen. McD.s Auffassung
4o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 27
scheint allzusehr von der Gobineau-Cham-
be riain sehen Schule beeinflußt zu sein.
Hingegen ist der Autor im Recht, wenn er
sagt, daß kein Volk eine ihm völlig fremde Kultur
aufnehmen und aus eigenem bewahren kann;
weder die Neger von Haiti noch die zahlreichen
Völker Britisch-Indiens behalten ohne Zwang die
ihnen aufgezwungenen Elemente europäischer
Kultur; sie entledigen sich ihrer, sobald die Mög-
lichkeit dazu gegeben ist. Bei so weitgehenden
Unterschieden, wie sie zwischen Europäern und
etwa Negern bestehen, ist es nicht zu verwundern,
wenn auch die psychische Veranlagung und ihr
Ausdruck, die Kultur, wesentlich verschieden und
nicht nach Belieben wandelbar ist.
Das Verhalten der Kulturvölker des Ostens
wie der Naturvölker gegenüber den Versuchen
des Aufzwingens europäischer Kulturt lehrt über-
dies, daß die psychische Erbveranlagung ebenso
beständig ist wie die körperliche. Diese psychischen
Unterschiede sind in langsamer Entwicklung ge-
worden, die in den einzelnen Teilen der Erde
ungleich gerichtet war, sie sind ein Ergebnis jahr-
tausendelanger Differenzierung, das nicht willkür-
lich zunichte gemacht werden kann. Wie wenig
gleiche Umweltzustände die einmal festgelegte
psychische Artung zu beeinflussen vermögen, zeigt
das von M c D. gewählte Beispiel der austro-
malayischen Inselwelt, wo Angehörige einer
negroiden Rasse (Papua, Melanesier) und der
mongoloiden (gelbbraunen) Rasse unmittelbar
nebeneinander wohnen, aber augenfällig ver-
schiedenen Kulturbesitz haben. Immerhin ist an-
zunehmen, daß der Wechsel der Lebensbedingungen
die psychische Artung nicht unberührt läßt, sondern
Auslesevorgänge und durch sie langsam vor sich
gehende Änderungen veranlaßt.
H. Fehlinger.
Bticherbesprechungen.
Walther, J., Geologie Deutschlands. Leip-
zig 192 1, Verlag von Quelle u. Meyer. Preis
geb. 40 M.
Gegenüber der ersten, vor 10 Jahren erschie-
nenen Auflage ist die vorliegende dritte wesent-
lich erweitert. Als Einführung in die Geologie
der Heimat, die nicht streng fachwissenschaftliche
Ziele verfolgt, sondern das Interesse weiterer
Kreise auf geologische und geologisch-wirtschaft-
liche Probleme lenken will, verdient sie Beachtung
und Empfehlung; um so mehr als es bis heute
an einer vollständigen und modernen Geologie
Deutschlands fehlt, da bekanntlich Lepsius'
Geologie Deutschlands durch den Tod des Verf.
nicht zum Abschluß gelangte. Hoffentlich wird
diese überall sehr schmerzlich empfundene Lücke
bald eine Ausfüllung erfahren.
Der erste Teil des Werkes bespricht die „ge-
staltenden Kräfte", in die Kapitel über Gelände-
formen, Abtragung, Gleichgewicht der Erdrinde,
Erdbeben, Vulkanismus, geologische F'ormationen
eingereiht sind. Es handelt sich hier meist um
die kurze, allgemeinverständliche Einführung in
Vorgänge der allgemeinen Geologie, die vielleicht
nicht unbedingt in einer Geologie Deutschlands
ihren Platz finden müßte.
Der zweite Teil bringt eine Darstellung der
„geologischen Geschichte" Deutschlands unter
Berücksichtigung seiner Nachbargebiete. Nach
einer Betrachtung über den Gesamtbau Deutsch-
lands werden die wichtigsten Züge von Tektonik
und Stratigraphie (z. B. Dokumente der Urzeit,
mitteldeutsches Faltenland, Kohlensümpfe, bunte
Sandwüste, Bildung der tertiären Gebirge, die
große Schneezeit die ältesten Menschen) be-
sprochen.
Der dritte Teil bringt die Charakterisierung
der einzelnen geologischen Landschaften. Unter-
schieden werden als „Geländeformen" Ebenheiten
(ausgefüllte Senken, abgetragene Tafelländer,
Rumpfländer), die Stufenländer (tektonische und
abgetragene Stufen, Terrassen) und die Bergländer
(aufgeschüttete Berge, Faltengebirge, Horste, Ab-
tragungsgebiete). Die deutschen Einzellandschaften
werden in drei Gruppen eingeordnet : in die nord-
deutschen Senken (z. B. Nordsee, Kölner Bucht),
die mittleren Bergländer (z. B. Rheinisches Schiefer-
gebirge, Mainzer Becken, Sudeten) und in die
Alpenlandschaften. Die Schilderung der Einzel-
landschaften erregt mancherlei Bedenken. So
wäre, um ein Beispiel anzuführen, bei der Schilde-
rung des Erzgebirges, der Sächsischen Schweiz,
der Alpenlandschaften durch genauere Berück-
sichtigung wichtiger neuer Arbeiten ein zutreffen-
deres tatsächliches Bild ihres Baues zu gewinnen
gewesen.
Die beigegebene geologische Karte im Maß-
stab I : 2 Millionen wird besonders erläutert. Bei
der kartographischen Darstellung sind nur die
wichtigsten geologischen Zusammenhänge zum
Ausdruck gebracht und das Kartenbild so verein-
facht, daß auch der im Kartenlesen Ungeübte
ohne weiteres die grundlegenden Elemente in
Deutschlands Landschaftsbilde verfolgen kann. In
einer bunten „Zeittafel" sind die Schichtfolgen
Deutschlands genetisch dargestellt. —
Aufmerksam zu machen wäre hier gleichzeitig
auf Johannes Walthers Geologische Struktur-
karte von Deutschland (Wandkarte) im Maßstab
I : 800000 mit Erläuterungen. E. Krenkel.
Wilhelm Biltz, Ausführung qualitativer
Analysen. II. u. III. Aufl. XI und 150 S.
mit 13 Abb. im Text und i Tafel. Leipzig
1920, Verlag der Akademischen Verlagsgesell-
schaft m. b. H.
N. F. XX. Nr. 2;
Maturwissenschaftliche Wochenschrift.
407
Das vorliegende Buch nimmt unter den Lehr-
büchern der qualitativen Analyse eine ganz be-
sondere Stellung ein. Das zeigt schon das sehr
lesenswerte Vorwort, in dem es u. a. heißt:
„Über den Stil läßt sich schwer rechten, und
wenn ich in Nachfolgendem einen Versuch mache,
dem Stil des Analysierens, den ich vor mehr als
zehn Jahren bei Clemens Winkler kennen
gelernt habe, eine möglichst weite Verbreitung
zu verschaffen, so will ich damit durchaus nicht
über andere Stilarteri des Analysierens den Stab
brechen. Jedem das Seine. Aber wenn es die
Aufgabe ist, diesen Stil nach IVIöglichkeit einheit-
lich und rein zur Durchführung zu bringen, so
geht das ohne harte Ausmerzung alles Fremd-
artigen nicht an.
„Es ist mit dem Stil des Analysierens ab-
sonderlich gegangen. Früh hatte man erkannt,
welcher unermeßliche erzieherische Wert für den
werdenden Naturforscher im analytischen Arbeiten
liegt. Aber man glaubte wohl späterhin, nun
auch vieles andere, was erzieherisch wertvoll ist,
dem Lehrgange der analytischen Chemie einver-
leiben zu müssen. So entstanden ausgezeichnete
Bücher, die aber vielleicht mehr dazu bestimmt
waren, „den Anfänger in die Chemie einzuführen",
als ihn analysieren zu lehren. Im folgenden wird
ein Versuch gemacht, den Stil der qualitativen
Analyse dadurch zu reinigen, daß man sie einmal
von all' dem befreit, was ihr aus pädagogischen
Gründen beigesellt wird, und daß man nur ihr
Ziel im Auge behält, die Zusammensetzung eines
Stoffes aufs sicherste, genaueste und schnellste zu
ermitteln".
Die Wahrheit dieser Worte kann der Unter-
zeichnete aus seiner eigenen Erfahrung, die sich
auf die analytisch- chemische Ausbildung an einer
Universität Mitteldeutschlands, auf sechsjährige
Tätigkeit an dem von WilhelmBiltz geleiteten
Laboratorium der Bergakademie Clausthal und auf
eine nunmehr fast siebenjährige Tätigkeit an
eineni staatlichen Institut erstreckt, in dem die
praktische analytische Arbeit eine ungemein wich-
tige Rolle spielt, nur bestätigen. Der Unterricht
in der analytischen Chemie, so wie er heute zu-
meist geübt wird, bildet keine Analytiker heran,
weil die analytische Chemie in den Universitäts-
laboratorien nur Mittel zum Zwecke des «Unter-
richts in der anorganischen und der organischen
Chemie ist. WilhelmBiltz hat sich daher mit
seinem Buche, in dem er das eine Ziel verfolgt,
zu lehren, „die Zusammensetzung eines Stoffes
aufs sicherste, genaueste und schnellste zu er-
mitteln", ein großes Verdienst erworben. Dem
schönen Buche ist nicht nur weiteste Verbreitung
in den Kreisen der Studierenden zu wünschen,
auch Freunde der praktischen Chemie, wie z. B.
Lehrer, werden an ihm ihre Freude haben.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Neunzig, K., Die fremdländischen Stuben-
vögel. (Zugleich 5. Auflage des Dr. Karl
Rußschen Handbuchs für Vogelliebhaber, Bd. 1.)
89s S. mit 400 Bildern im Text und 42 Tafeln
in Farbendruck. Magdeburg 1921, Creutzsche
Verlagsbuchhandlung. 95 M.
Haltung und Pflege der lieblichen gefiederten
Fremdlinge, die vor dem Kriege in bunter Fülle
aus fernen Gegenden zu uns kamen, ist infolge
der traurigen Zeitverhältnisse leider schon fast zur
Unmöglichkeit geworden. Trotzdem dürfte es
Viele geben, die das Erscheinen des prächtigen
Vogelbuchs von K. Neunzig lebhaft begrüßen
werden. Es ist das beste was auf diesem Ge-
biete vorliegt und wird jedem Vogelfreunde, der
sich Sinn und Verständnis für die ausländische
Vogelwelt bewahrt hat, eine Quelle des Genusses
und reicher Belehrung werden. Nicht weniger
als 1450 Arten fremdländischer Vögel finden sich
darin behandelt, eine wohl vollständige Zusammen-
stellung überhaupt aller Arten von Käfigvögeln,
die bisher nach Europa eingeführt worden sind|
und von denen man viele auch schon in Deutsch-
land hat zur Fortpflanzung bringen können. Jede
einzelne Art ist unter Angabe ihrer besonderen
Merkmale genau gekennzeichnet worden, ihre
Heimat und sonstigen Eigentümlichkeiten finden
sich vermerkt. Ebenso sind das Verhalten in der
Freiheit und die natürlichen Lebenserfordernisse
geschildert, und praktische Winke und Ratschläge
für Zucht und Pflege gegeben. Überall zeigt sich
das sachkundige Urteil, denn der Verf. konnte
hierbei aus eigenen reichen Erfahrungen schöpfen
und war außerdem in der Lage seine gründliche
Kenntnis der Literatur auf diesem Gebiete in aus-
gezeichneter Weise verwerten zu können. Die
Ausdrucksweise ist durchweg klar und knapp.
Besondere Anerkennung verdient die reiche Aus-
stattung mit Abbildungen. Die vielen Textfiguren
veranschaulichen die charakteristischen Merkmale
in trefflicher Weise, während die schönen Farben-
tafeln allen Ansprüchen hinsichtlich der Natur-
wahrheit ebenso wie in künstlerischer Beziehung
genügen und nahezu vollendetes bieten. So sei
das Werk allen Interessenten angelegentlich
empfohlen, und wir wollen mit dem Verf. nur
wünschen, daß die Zeiten, welche auch dem Minder-
bemittelten die Haltung fremdländischer Vögel
ermöglichen, nicht gar zu fern sein mögen.
R. Heymons.
Yvonne Boveri-Boner, Beiträge zur ver-
gleichendenAnatomiederNephridien
niederer Oligochäten. 8». 52 S., 3 Taf.
Jena 1920, G. Fischer. Preis 8 M.
Die Arbeit behandelt die Nierenorgane der
in unseren Gewässern vorkommenden niederen
Süßwasserringelwürmer Aeolosoma, Chaetogaster,
Stylaria, Tubifex, Lumbriculus und Haplotaxis.
Sie bringt neue Beispiele für die aus diesem Ge-
biet nicht mehr ganz unbekannte erhebliche
histologische Verschiedenheit der mor-
phologisch offenbar gleichbedeutenden
Organe. Weder in der Trichterbildung noch
408
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
U. F. XX. Nr. 27
im Bau der Schlingen des Kanälchens noch in
seiner Peritonealbekleidung fand die Verfasserin
bei ihrem Material einen einheitlichen Charakter,
und die Veränderungen in diesen Teilen gehen
nicht parallel , so daß man keine auf- oder ab-
steigende Reihe bilden kann. Der Trichter, mit
welchem das Nierenorgan innen anfängt, scheint
bei Aeolosoma, Stylaria und Tubifex ausschließ-
lich aus Nephridialgewebe gebaut, bei Lumbri-
culus und Haplotaxis gesellt sich zu seiner Bil-
dung noch Peritonealgewebe; Chaetogaster besitzt
überhaupt keinen Trichter, sondern hat geschlossen
beginnende Nierenorgane, doch ohne Solenocyten,
jene langgestreckten eingeißeligen Wimperhohl-
zellen, welche bisher nur bei manchen meerbe-
wohnenden Formen an geschlossen beginnenden
Nierenorganen gefunden wurden und, wie mit
Recht hinzugefügt wird, den weiteren Vergleich
mit den vielgeißeligen Wimperflammenzellen im
Wassergefäßsystem der Plattwürmer , also der
niedersten Mesodermtiere, ermöglichen. Verf.
läßt die Frage, ob Chaetogaster einst Solenocyten
besaß, offen, erwähnt aber noch, zum Teil nach
Hescheler, daß bei manchen sonstigen niederen
Oligochäten der Nierenkanal ampullenartige Er-
weiterungen und in ihnen Wimperflammen ent-
halten kann, während er im übrigen unbegeißelt
ist, so auch bei Stylaria.
Erwähnt sei noch, daß bei den kleineren,
durchsichtigen Formen die Nierenorgane erfolg-
reich am unverletzten lebenden Tier studiert wur-
den. Näheres im Original.
V. Franz, Jena.
Wilhelm Ostwald, Die chemische Litera-
tur und die Organisation der Wissen-
schaft. Handbuch der allgemeinen Chemie,
herausgegeben von Wilhelm Ostwald und Carl
Drucker, Bd. I. 120 S. in gr. 8". Leipzig 1919,
Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H.
Es gibt wohl keinen Zweig der Naturwissen-
schaft, der in den letzten Jahrzehnten durch Be-
reicherung des Tatsachenmaterials eine so unge-
heure Entwicklung erfahren hat wie die Chemie.
Demgemäß ist auch in der Chemie früher und
entschiedener als in allen anderen Gebieten der
Naturwissenschaft die grundsätzliche Frage aufge-
treten, wie das gewaltige und von Tag zu Tag
wachsende Tatsachenmaterial zu ordnen, und
ferner, wie die Anhäufung weiteren Materials, die
jetzt in der Regel noch mehr oder minder zu-
fällig erfolgt, zu organisieren sei. Das große Ver-
dienst, die grundsätzliche Bedeutung dieser Frage
am klarsten erkannt und in zahlreichen Veröffent-
lichungen wieder und wieder betont zu haben,
kommt dem großen Organisator der allgemeinen
Chemie Wilhelm Ostwald zu, und in dem
vorliegenden Eingangsbande zu dem auf eine
große Zahl von Bänden veranschlagten „Hand-
buch der allgemeinen Chemie", das er in Ge-
meinschaft mit seinem Schüler Carl Drucker
und unterstützt von vielen anderen Fachgenossen
herauszugeben begonnen hat und das als Ersatz
für sein bekanntes, großes, nie ganz zum Abschluß
gelangtes „Lehrbuch der allgemeinen Chemie"
dienen soll, legt er seine Gedanken und Vor-
schläge dazu dar.
In sehr übersichtlicher Anordnung bespricht
Ostwald in seinem Buche zunächst einige all-
gemeinere Themata und gibt dann eine sehr inter-
essante Darstellung der Geschichte des chemischen
Lehrbuchs. Dann behandelt er die Systematik
der Chemie und — in einem sehr umfangreichen
und wichtigen Schlußkapitel — das ihm am
meisten am Herzen liegende Problem der organi-
satorischen Technik. Seine Darlegungen, deren
grundsätzliche Wichtigkeit nach Ansicht des Re-
ferenten nicht genug betont werden kann, bilden
ein in sich geschlossenes Organisationssystem. Sie
sind ungemein fesselnd zu lesen und sollten von
einem jeden, der die allgemeine Entwicklung der
Wissenschaft mit offenen Augen verfolgt, beachtet
werden. Besonders für unser Vaterland, das jetzt
unter so entsetzlich schwere Existenzbedingungen
gestellt ist, ist die Frage der Organisation von
ungemeiner Wichtigkeit, denn Organisation be-
deutet Ersparnis von Arbeit und damit von Geld.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Literatur.
Wiener, O., Physik und Kulturentwicklung. Leipzig '21,
B. G. Teubner. 6 M.
Teubners kleine Fachwörterbücher. Leipzig '21, B. G.
Teubner.
Bd. 7: G lesen, Fr., Psychologisches Wörterbuch.
Geb. 7 M.
Bd. 6: Schmidt, C. W., Geologisch • mineralo-
gisches Wörterbuch. Geb. 8 M.
Bd. 8: Kende, O., Geographisches Wörterbuch.
Geb. 9 M.
Mathematisch- Physikalische Bibliothek Bd. 40: Kirch-
berger, P., Mathematische Streifzüge durch die Geschichte
der Astronomie. Leipzig '21, B. G. Teubner. 2 M.
Kohlrausch, Friedrich, Lehrbuch der praktischen
Physik. 13. Aufl. Leipzig, B. G. Teubner. 30 M.
Inhalt: K. Vogtherr, Über die kosmischen Bewegungen des Äthers. S. 393. — Einzelberlcbte : R. Willstätter und
E. Waldschmidt-Leitz, Neue Beiträge zur Theorie und Praxis katalytischer Hydrierungen. S. 396. P. Schulze,
Über die deutschen Hydren. S. 398. W. Gothan, Weiteres über die „ältesten Landpflanzen". S. 399. M. Verworn,
R. Bonnet, G. Steinmann, Die diluvialen SkeleUfunde von Oberkassel bei Bonn. S. 402. Wm. McDougaU,
Psychische Veranlagung und Volkscharakter. S. 405. — Bücherbesprechungen: J. Walther, Geologie Deutsch-
lands. S. 406. W. Billz, Ausführung qualitativer Analysen. S. 406. K. Neunzig, Die fremdländischen Stuben-
vögel. S. 407. Yvonne Boveri-Boner, Beiträge zur vergleichenden Anatomie der Nephridien niederer Oligo-
chäten. S. 407. W. Ostwald, Die chemische Literatur und die Organisation der Wissenschaft. S. 408. — Literatur:
Liste. S. 40S.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 4a, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. PäU'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganten Reihe 36. Band.
Sonntag, den lo. Juli 1921.
Nummer 28.
[Nachdruck verboteo.]
Die Entstehung von Roterden und Laterit.
Von Dr. A. Eichinger, Regierungsrat, Pforten N.-L.
Eine der merkwürdigsten Naturerscheir>ungen,
die den menschlichen Geist schon lange be-
schäftigt, ist die Tatsache, daß im Bereich des
tropischen und teilweise auch subtropischen
Klimagürtels eine Bodenbildung von äußerlich
sehr gleichartiger Art auf riesigen Flächen statt-
gefunden hat, die Bildung von Roterden und
Laterit. Ungeheure Gebiete in allen Kontinenten
sind mit Roterden bedeckt, man denke nur an
die riesigen Flächen in Südamerika, Afrika, Asien,
wo oft Tausende von Quadratkilometer in der
Hauptsache diese Bodenart aufweisen. Während
man eine Zeitlang versuchte, die Ursache der
Entstehung der tropischen Roterden in der Art
ihres Muttergesteins zu suchen, hat sich aber bei
der Betrachtung der Tatsache, daß sie eigentlich
auf jedem Gestein zu entstehen vermögen und
daß ihre Verbreitung auf bestimmte klimatische
Zonen beschränkt bleibt, bald die Anschauung
Bahn gebrochen, daß sie rein klimatische Bildungen
sind und durch das Muttergestein nur in unter-
geordneter Weise beeinflußt werden. Vielfach
hat man früher alle Roterdebildungen mit dem
Namen „Laterit" bezeichnet. Dieser Name war
zunächst nur für eine Art Roterde gedacht, die
Bestandteile enthielt, die gebrannten Ziegeln ähn-
lich sahen. Gegenwärtig bezeichnet man damit
nur Roterden, die auf der letzten Stufe ihrer
chemischen Verwitterung stehen. Meist, aber
durchaus nicht überall, sind sie gekennzeichnet
durch das Vorkommen mehr oder weniger harter
schlackiger Eisenkonkretionen, die in ganz ver-
schieden großen Körnern, Brocken auftreten und
sich unter Umständen zu mächtigen Felsgebilden
zusammenschließen können. Ein besonderes Kenn-
zeichen des Laterits ist ferner seine Unfruchtbar-
keit, die ihn als Kulturboden ungeeignet macht
und beweist, daß die chemische Zersetzung seiner
Bestandteile sehr weit fortgeschritten ist und daß
er keine für die Pflanzenernährung notwendigen
Basen usw. abzugeben vermag.
Will man die Entstehung des Laterits ver-
stehen, so ist es notwendig, über die Entstehung
der Roterden, aus denen er ja hervorgegangen
ist, klar zu sein. Das, was bei den Roterden am
meisten auffiel und was zu ihrer Benennung führte,
ist ihre rote Farbe, die durch die Anwesenheit
größerer Mengen von Eisenhydroxyd bedingt ist.
Bald aber erkannte man und zwar besonders durch
die Arbeiten von Baur, daß auch Aluminium-
hydroxyd ein integrierender Bestandteil der Rot-
erden ist. Dahingegen konnte man wahrnehmen,
daß Kieselsäure und Basen in weit größerem
Maßstabe, als man das in heimischen Böden be-
merken konnte, der Auswaschung und Fortfuhr
unterliegen, so daß man annehmen mußte, daß
die Silikate des Bodens einer weitgehenden Zer-
setzung unterworfen sind. Kurzum es wurde klar,
daß in den tropischen Böden die chemische Ver-
witterung eine ganz besonders starke Rolle spielt,
daß eine starke Wegfuhr der Bestandteile der
Silikate vor sich geht, daß hingegen die Eisen-
und Tonerdehydrate sich im Boden ansammeln.
In der Tat zeigt nun auch das Endprodukt der
Bodenbildung, der Laterit, eine starke Anhäufung
von Eisen- und Tonerdehydrat, eine Abfuhr von
Kieselsäure und Basen, welche letztere oft nur
noch in Spuren wahrnehmbar sind.
Daß diese Art der Bodenbildung lediglich
klimatischen Ursachen zuzuschreiben ist, bewies
besonders schlagend Ward, der einen sowohl in
England als auch in Indien vorkommenden Dolerit
gleichen geologischen Alters und die jeweils unter
den verschiedenen klimatischen Faktoren daraus
entstandenen Böden untersuchte. Die Analysen
ergaben folgendes in Gewichtsprozenten:
England Indien
Gehalt an: Dolerit Boden Dolerit Boden
Kieselsäure 49,3
47,0
50,4
0,7
Aluminiumoxyd 17,4
i8,s
22,2
50,S
Eisenoxyd 2,7
14,6
9,9
2.3,4
Basen 19,2
9,5
12,6
Die Anhäufung von Eisen- und Aluminium-
hydroxyd, die Wegfuhr von Kieselsäure und Basen
im tropischen Indien ist mit aller Deutlichkeit
ersichtlich.
Während im gemäßigten Klima die Zersetzung
der Silikate nur bis zur Kaolinbildung geht, wo-
bei die ausgeschiedene Kieselsäure gewöhnlich
zurückbleibt, unterliegen im tropischen Klima
auch noch die kaolinartigen Verbindungen einer
weiteren Zersetzung, wobei die Kieselsäure weg-
geführt wird, während nur Eisen- und Aluminium-
hydroxyd zurückbleiben.
Diese weitgehende chemische Zersetzung der
Silikate im tropischen Klima führte man früher
hauptsächlich auf den Kohlensäuregehalt der Luft
zurück, der bei der üppigen Vegetation in den
Tropen besonders hoch sein sollte. Beweise hier'
für konnte man allerdings bis jetzt nicht einwand-
frei erbringen. Der Durchschnitt der Luftanalysen
aus tropischen Gegenden zeigt, daß die Luft
keineswegs mehr an Kohlensäure enthält wie im
gemäßigten Klima. Abgesehen davon lehnt eine
ganze Anzahl von Gelehrten den großen Einfluß
4IO
ISiatur wissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
der Kohlensäure bei der Zersetzung von Silikaten,
wie man das anderwärts annimmt, ganz im all-
gemeinen ab. Vielfache Versuche haben einwand-
frei ergeben, daß schon chemisch reines Wasser
imstande ist, Silikate zu zersetzen. Und zwar
führt man diese Erscheinung auf die hydrolytische
Wirkung des Wassers zurück. Sie beruht darauf,
daß ein Teil der Wassermoleküle in Wasserstofif-
und Hydroxylionen elektrisch dissoziiert ist. Diese
Ionen sind natürlich stark aktiv. Zwar ist ihre
Menge in der Einheit Wasser nicht groß, sie
steigert sich aber ganz beträchtlich mit Zunahme
der Temperatur. Wenn man nun bedenkt, daß
in den Tropen die Temperaturdurchschnitte be-
trächtlich höher sind und zwar durch das ganze
Jahr hindurch , daß weiterhin eine meist viel
größere Regenmenge fällt und den Boden durch-
sickert, so wird ohne weiteres klar, daß die An-
zahl der den Boden durchsickernden freien Ionen
relativ sehr viel höher ist, als im gemäßigten
Klima und damit dürfte eine genügende Erklärung
für die größere Intensität der chemischen Ver-
witterung in tropischen Böden ohne weiteres er-
wiesen sein.
Unerklärt bleibt dabei aber folgendes:
Die Wegfuhr der aus der Verwitterung der
Silikate frei gewordenen Basen ist leicht zu
deuten. Sie gehen mit der Bodenkohlensäure und
anderen Säuren wasserlösliche Verbindungen ein,
die ausgewaschen werden. Nun erweist es sich,
daß in den Roterden die Kieselsäure auch weg-
geführt wird, während Eisen- und Aluminium-
hydroxyd zurückbleiben. Sowohl Kieselsäure, wie
die genannten Hydroxyde, sind in Wasser unlös-
lich. Die zahlreichen Theorien, mit deren man
diese merkwürdige Tatsache zu erklären versuchte,
möchte ich hier nicht aufführen. Wesentlich
näher brachte Vageier die Sache einer Deutung,
als er die Ergebnisse der Forschung der Kolloid-
chemie auf das Problem anwendete. Bei der
Spaltung der Silikate ist es wohl sicher anzu-
nehmen, daß sowohl Kieselsäure, wie auch die
Hydroxyde in so feiner Zerteilung auftreten, daß
sie in Wasser kolloid gelöst sind und in dieser
Form als Sole ohne weiteres beweglich und aus-
waschbar sind. Wenn man dies annimmt und
diese Annahme ist sicherlich gerechtfertigt, so er-
gibt sich aus den Tatsachen die Schlußfolgerung,
daß das Kieselsäuresol im Boden stabil ist (denn
es wird ja ausgewaschen !), während die Hydroxyd-
sole aus irgendwelchen Gründen ständig der
Ausfallung oder Gerinnung unterliegen (denn die
Hydroxyde häufen sich tatsächlich im Boden an-
dauernd an!). Vageier sucht nun zu beweisen,
daß die Stabilität des Kieselsäuresols auf der
relativ starken Konzentration der Bodenlösung
beruht, da das Kieselsäuresol nach experimentellen
Forschungen tatsächlich bei gesteigerter Alkali-
konzentration nicht ausgefällt wird, während es
bei relativ schwacher Alkalikonzentration durch
Elektrolytwirkung ausgefällt wird. Dahingegen
sind nach Vageier Eisenhydroxyd- und Alu-
miniumhydroxydsol gegen Elektrolytwirkung
außerordentlich empfindlich und werden schon
bei geringen Konzentrationen ausgefällt. Diese
Erklärung ist aber für das Verhalten dieser drei
Sole in den Roterden nicht ausreichend. Sie setzt
eine mehr oder weniger gleichmäßige Konzen-
tration der Bodenlösung über ungeheuere, klima-
tisch und geologisch sehr verschiedenartige Ge-
biete voraus. Wenn man nun weiter berücksichtigt,
daß bei der Ausfällung der Sole nicht nur die
Konzentration, sondern auch die Zusammensetzung
der Bodenlösung unbedingt noch eine Rolle spielt,
da die Kieselsäure als negatives Sol von den
Kationen, das Aluminium- und Eisenhydroxyd
aber als positive Sole besonders von den Anionen
der Bodenlösung beeinflußt werden und zwar in
beiden Fällen die Wirksamkeit der Kationen oder
Anionen mit ihrer höheren Wertigkeit steigt, so
dürfte darin noch ein sehr schweres Bedenken
gegen die Annahme Vagelers beruhen.
Auch andere Forscher haben mit Anwendung
der Kolloidchemie das verschiedene Verhalten
der Sole zu erklären versucht. Ehrenberg
glaubt z. B. , daß schon das bei der Zersetzung
der organischen Substanz im Boden entstehende
Ammoniak genügt, um die positiven Sole (Eisen-
und Aluminiumhydroxyd) auszufällen. Diese Er-
klärung genügt aber deshalb nicht, da tief unter
der Oberfläche des Bodens sich die gleichen Vor-
gänge abspielen, wie an der Oberfläche, in Tiefen,
wo sicher kein Ammoniak mehr gebildet wird. Auch
die Theorien von Gedroiz u. a. können eine
befriedigende Erklärung nicht geben.
Im Verlauf meiner langjährigen Untersuchungen
von Roterden während meiner Tätigkeit am land-
wirtschaftlich-biologischen Institut Amani (Deutsch-
Ostafrika) bin ich zu folgender Theorie gelangt,')
die die Anhäufung von Aluminium- und Eisen-
hydroxyd, die Wegfuhr von Kieselsäure unge-
zwungen erklärt.
Wie bekannt, werden in einem Sol die kolloid-
gelösten Teilchen durch ihre gleichsinnige Ladung,
die positiv oder negativ sein kann, vor der Aus-
fällung oder Gerinnung geschützt. Wird ihnen
die Ladung genommen, so vereinigen sie sich zu
größeren Komplexen und fallen aus der Lösung
aus. Darauf beruht z. B. die Elektrolytwirkung.
Kationen mit ihrer positiven Ladung fällen nega-
tive Kolloide, Anionen mit ihrer negativen Ladung
fällen positive Kolloide aus. Natürlich kann auch
durch Zufuhr anderer geeigneter Elektrizität Aus-
fällung erreicht werden. Läßt man z. B. ein
positives Kolloid in einer genügend engen Kapil-
lare steigen, so wird es ausgefallt. Dies beruht
darauf, daß das Dispersionsmittel (Lösungsmittel)
durch Strömungsströme (H e 1 m h 0 1 1 z) eine nega-
') Düngungsversuche in den Deutschen Kolonien, Heft 6.
Bericht über die in den Jahren 19 11 — 19 15 am Biolog. landw.
Institut Amani, Deutsch-Ostafrika, ausgeführten Gefäfldüngungs-
versuche. Beiträge zur Kenntnis ostafrikanischer Roterden
und Laterite. 1920. Die Arbeit kann gegen Porto (60 Pfg.)
vom Verfasser an Interessenten abgegeben werden.
N. F. XX. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
411
tive Ladung erhält, die ausfällend auf das positive
Kolloid wirkt. Es ist klar, daß negative Kolloide
nicht ausgefällt werden. In der Tat kann man
sich durch einen sehr einfachen Versuch von
dieser Tatsache überzeugen. Läßt man z. B. ein
positives Kolloid wie Eisenhydroxydsol in einem
Filtrierpapierstreifen aufsteigen, so wird man die
Wahrnehmung machen, daß das Eisenhydroxyd
fast unmittelbar an der Eintauchstelle ausgefällt
wird und das Papier stark braun färbt, während
das Lösungsmittel bis 20 cm und höher steigt.
Dahingegen steigen negative Kolloide (z. B. Gold-
sol) ungehindert hoch, ohne ausgefällt zu werden.
Wendet man diese Tatsache, die durch verschie-
dene Autoren oftmals untersucht wurde, auf die
Entstehung der Roterden an, so ergibt sich mit
einfacher Logik der Schluß: Das Kieselsäuresol
kann als negatives KoUoidsol die Kapillaren des
Bodens durchlaufen, während Aluminium- und
Eisenhydroxydsole als positive Kolloidsole in den
Kapillaren des Bodens durch die Wirkung der
entstehenden negativen Strömungsströme ausge-
fällt werden und daher im Boden ein unbeweg-
liches Element darstellen. Damit dürfte die An-
häufung beider Hydroxyde in den Roterden und
Lateriten genügend erklärt sein.
Man könnte nun fragen, warum nur in den
Tropen und Subtropen Eisen- und Aluminium-
hydroxyde sich so allgemein anhäufen, nicht aber
in den gemäßigten Zonen. Zunächst ist, wie
schon erläutert, die chemische Verwitterung in
den Tropen viel intensiver, wie im gemäßigten
Klima, es werden daher unvergleichlich viel mehr
Gesteinmassen chemisch zersetzt und schon daher
rührt die größere Menge der zurückbleibenden
Hydroxyde. Weiterhin hat im gemäßigten Klima
der Humus eine eigenartige Wirkung. Humus
und insbesondere ungesättigter Humus (Humus-
säuren) bildet sich im gemäßigten Klima unend-
lich viel mehr, als im tropischen Klima, wo die
Pflanzenreste sehr schnell in ihre Grundelemenfe
zerlegt werden , so daß man oft auch im üppig-
sten Urwald nicht die geringste Humusanhäufung
feststellen kann. Der ungesättigte Humus kann
nun mit Wasser kolloide Lösungen bilden, die
negativ geladen sind. In diesen Lösungen tritt
er als Schutzkolloid auf und erteilt dem geschützten
Kolloid seine Ladung. Humus vermag so mit
Eisen- und Aluminiumhydroxyd kolloide Kom-
plexe zu bilden, die nach obigem negativ ge-
laden sind und damit die Kapillaren des Bodens,
ohne ausgefällt zu werden, durchlaufen können.
Und in der Tat sieht man in dieser Form Eisen-
und Aluminiumhydroxyd im Boden als sehr leicht
bewegliches Element. Im gemäßigten Klima, wo
die Entstehung von ungesättigtem Humus (Humus-
säuren) sehr begünstigt ist, sieht man daher im
Gegensatz zum tropischen Klima oft eine Ver-
armung der Böden an Eisen- und Aluminium-
hydroxyd eintreten (Bleichsand), weiterhin zeigt
vielfach das Auftreten von Schwarz wässern, in
denen der Kolloidkomplex Humus-Aluminium-
Eisenhydroxyd enthalten ist und dem sie ihre
schwarze Färbung verdanken, schon an, wie sehr
beweglich diese Hydroxyde unter dem Einfluß
von ungesättigtem Humus sind. Es sei erwähnt,
daß auch in den Tropen der genannte kolloide
Humuskomplex vorkommt und sogar zur Boni-
tierung der Roterden herangezogen werden kann,
doch würde die Erklärung dieser Tatsache den
Rahmen dieses Aufsatzes übersteigen und ich ver-
weise auf meine oben zitierte Arbeit.
[Nachdruck verboten.]
Die Eückbilduug der Hüftbeine bei Seekühen.
Von Ernst Stromer (München).
Mit II Textfiguren.
Schon seit längerer Zeit ist man über die
Rückbildung der Hüftbeine in der einen Familie
der Seekühe, der Halicoridae im weitesten Sinne,
durch die Arbeiten von van O ort (1903), Lorenz
von Liburnau (1904), Schmidtgen(i9i2) und
vor allem von Abel (1904 usw.) in wesentlichen
Zügen unterrichtet und vielfach sieht man die
Reihe der Beckenrückbildung bildlich dargestellt.
Untersuchungen noch unbeschriebener Fundstücke
im Vergleich mit den schon bekannten erlaubten
nun den Schreiber dieser Zeilen einiges zu be-
richtigen und vor allem die Reihe wesentlich zu
ergänzen. Es lohnt sich wohl, eine Abbildung
davon zu geben und einige Bemerkungen hinzu-
zufügen. Denn sie bietet insofern ein besonderes
Interesse, als sie die Folgen der Anpassung
ursprünglich landbewohnerder Säugetiere an eine
ganz andere Lebensweise , wesentlich Schwim-
men mit Hilfe einer Schwanzflosse, in sehr
starker Rückbildung eines wichtigen Organs, der
ganzen hinteren Extremitäten, wenigstens teilweise
zeigt, während die so bekannte Reihe der Füße
der Equidae nur die Umbildung von Gehfüßen in
Lauffüße vorführt, also eine viel geringfügigere
Umänderung.
Das älteste uns bekannte Hüftbein eines
Halicoriden, das von Eotherium aegyptiacum
Owen, einer noch mit vollständigem Gebiß und
mit Zahnwechsel versehenen Seekuh, stammt aus
dem unteren Mitteleozän Ägyptens (unterste Mo-
kattam-Stufe). Es ist dem primitiver Landsäuge-
tiere im wesentlichen noch gleich, hat ein unge-
fähr stabförmiges Ilium (Darmbein), ein wohlaus-
gebildetes Acetabulum (Gelenkpfanne für den
Oberschenkel), was beweist, daß hier noch ein
nicht sehr kleiner Oberschenkel frei beweglich vor-
handen war, und ein mäßig weites vom Ös pubis
und Ischium (Scham- und Sitzbein) umrandetes
412
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
Foramen obturatum (Hüftloch). Sicherlich war
das Hüftbein noch mit einem oder zwei Kreuz-
beinwirbeln in ziemlich fester Verbindung und
wahrscheinlich war eine, wenn auch kurze Sym-
ptiyse (mittlere Verbindung) der beiderseitigen
Schambeine vorhanden.
Zwischen diesem Hüftbeine und dem nächst-
jüngeren aus dem oberen Mitteleozän (obere
Pariser Stufe) Norditaliens, das wohl zu Proto-
therium veronense de Zigno gehört, klafft noch
eine gestaltliche Lücke. Hier sehen wir nämlich
wesentliche Rückbildungen eingetreten: das Hüft-
gelenk ist etwas unvollkommener, das Hüftloch
ist sehr stark verkleinert und die Schambeinsym-
physe jedenfalls aufgehoben.
äußeren Grübchen und dann völlig rückgebildet
wird. Darin liegt also ein neuer Beleg für den
neuerdings in seiner Bedeutung mehrfach be-
strittenen Parallelismus von Ontogenie und Phylo-
genie vor.
Von dem mitteloligozänen (Rupel-Stufe) Hali-
therium Schinzi Kaup kennt man speziell aus
der Gegend von Mainz so zahlreiche Reste, daß
sich u. a. eine sehr starke Variabilität des Hüft-
beins feststellen ließ. Die Norm schließt sich gut
an Eosiren an, indem das Hüftgelenk erheblich
seichter und unregelmäßiger geworden und das
Hüftloch völlig verschwunden ist. Das Scham-
bein ragt wie bei jener als Eck mehr oder weniger
stark ventralwärts vor und das Ischium bleibt
Reihe der Hüftbeine von Halicoridae.
Abb. I. Eotherium aegyptiacum Owen, unteres Mitteleozän, Ägypten.
Abb. 2. Prototherium veronense de Zigno, oberes Mitteleozän, Norditalien.
Abb. 3. Eosiren libyca Andrews, Obereozän, Ägypten. 3a jung, 3b fast ausgewachsen.
Abb. 4. Halitherium Schinzi Kaup, Mitteloligozän, Rheinhessen.
Abb. 5. Metasytherium Krahuletzi Deperet, Untermiozän, Niederösterreich.
Abb. 6. Metaxytherium Pelersi Abel, Mittelmiozän, Niederösterreich.
Abb. 7. Miosiren Kocki DoUo, oberstes Miocän, Belgien.
Abb. 8. Felsinotherium Serresi Gervais, oberes Ünterpliozän, Südfrankreich.
Abb. 9. Halicore australis Owen c/', Gegenwart, Australien.
Abb. 10. Halicore dugong Lac. (/', Gegenwart, Rotes Meer.
Abb. II. Rhytina gigas Zimm., Gegenwart, Behringsmeer.
(Abb. I, 5, 6 und 10 nach Abel 1904, Abb. 2, 3 nach Stromer 1921, Abb. 4' nach Originalstück, Abb. 7 nach Dollu
in Stromer 1921, Abb. S abgeändert nach Deperet und Roman 1920, Abb. 9 und II nach Lorenz v. Liburnau 1904.)
Abb. I — 10 in '/o °^'- Gr., Abb. II in '/lo °^'- Gr., a Crista lateralis des Iliura , b Acetabulum oder dessen Rudiment,
c Foramen obturatum oder dessen Rudiment, d Os pubis oder dessen Rudiment.
Das im Alter sich eng anschließende Hüft-
bein von Eosiren libyca Andrews aus dem Ober-
eozän Ägyptens (Qasr es Sagha-Stufe) kennen wir
nun im jugendlichen bis zum ausgewachsenen
Zustande. Es zeigt das Hüftgelenk zwar kaum
kleiner als bei Prototherium und offenbar noch
gut funktionsfähig, die Ansatzstellen der zum
Oberschenkel ziehenden Muskeln sind jedoch
schwächer als bei den besprochenen Formen. Vor
allem aber ist das Hüftloch in völligem Schwinden
begriffen, indem es zwar noch in der Jugend als
ganz enger Kanal den Knochen schräg durch-
setzt, mit höherem Lebensalter jedoch zu einem
eine Platte, die sich nur etwas streckt. Seltene
Varianten aber wiederholen bald frühere Zustä-nde,
indem z. B. das Hüftloch sogar noch in ähnlicher
Weise vorhanden ist wie bei Prototherium, oder
greifen vor, indem das Schambein zu einem ganz
kurzen Eck rückgebildet ist. Wir haben hier aber
wohl nicht nur die besonders starke Variabilität
eines funktionslos werdenden Organs vor uns,
sondern es könnten auch Geschlechtsunterschiede
mitspielen, insofern als das Schambeineck bei
männlichen Tieren, wo Schwellkörper und Muskeln
des Begattungsorganes an ihm entspringen, wo es
also nicht ganz funktionslos ist, weniger rückge-
N. F. XX. Nr. 28
Naturwissenschaftliichc Wochenschrift.
413
bildet sein mag als bei weiblichen. Bei Hali-
therium Schinzi kennen wir übrigens auch das
Femur (Oberschenkelbein) und wissen, daß es
schlank, klein, aber an beiden Enden mit wohl-
ausgebildeten Gelenken versehen war, daß der
Oberschenkel also noch beweglich am Hüftbein
und mit dem wohl stark reduzierten Unterschenkel
gelenkte.
Ein nächstes Stadium führt uns IVIetaxytherium
vor, von dem man aus dem Unter- und Mittel-
miozän (i. und 2. IVlediterran-Stufe) Deutschöster-
reichs Hüftbeinreste zweier Arten kennt. Hier ist
die Rückbildung vor allem insofern weitergegangen,
als das eigentliche Hüftgelenk sehr klein und flach
und von Rauhigkeiten umgeben, statt regelrecht
umrandet ist und als das Schambein höchstens
noch als ganz kleines Eck vorragt.
Im geologischen Alter folgen dann unvoll-
kommen bekannte Hüftbeine von Miosiren Kocki
Dollo aus dem obersten Miozän (Bolder-Stufe) von
Antwerpen und von Felsinotherium Serresi aus
dem obereren Unterpliozän (PlaisanceStufe) von
Montpellier in Südfrankreich. Bei ihnen scheint
die Verbindung des Ilium mit der Wirbelsäule
schwächer zu sein als bei den bisher beschriebenen
Formen ; das Hüftgelenk ist bei ersterem nur noch
durch rauhe Höckerchen, bei letzterem gar nicht
mehr angedeutet und das Schambein ist bei
ersterem als ganz stumpfes Eck an dem hier un-
gewöhnlich breiten Sitzbein vorhanden. (Bei
Felsinotherium sind beide noch nicht beschrieben.)
Bei den lebenden Formen endlich ist der Zu-
sammenhang des Hüftbeins mit einem Kreuzbein-
wirbel nur noch durch ein Band gewahrt und
das Hüftbein ein schlanker Stab. Bei der tropischen
Halicore (Dugong) ist sein Hinterende mehr oder
weniger gering verbreitert und von dem jenseitigen
weit getrennt. Nur ganz ausnahmsweise ist an
der etwas verdickten Mitte noch ein winziges
Hüftgelenk angedeutet und offenbar entspricht
der Knochen nur dem Ilium und Ischium. Auch
bei der im 18. Jahrhundert ausgerotteten, voll-
ständig zahnlosen Rhytina Stelleri L. (S t e 1 1 e r sehe
Seekuh) ist das der Fall, nur ist der Stab hier
noch einfacher gestaltet.
So wenig die hier kurz vorgeführte Reihe einer
wirklichen geschlossenen Stammesentwicklung
entspricht, schon weil die Hüftbeine von Proto-
therium, Miosiren, Felsinotherium und Rhytina
sich in mancher Beziehung nicht in sie einfügen,
und so groß die Lücken darin noch sind, so zeigt
sie doch in allen wesentlichen Zügen die all-
mähliche Rückbildung eines wichtigen Organes
in regelmäßiger, wenn auch nicht ununterbrochener
Zeitenfolge.
Das Ilium bleibt demnach stets ein lang ge-
streckter Knochen, der bald stab- bald keulen-
förmig ist, aber stärkere Muskelansatzstellen
(Leisten, Kanten und Rauhigkeiten) verliert und
zuletzt sehr schlank wird und den festeren Zu-
sammenhang mit dem Querfortsatze eines Kreuz-
beinwirbels einbüßt. Das Ischium verändert sich
gleichfalls nicht stark, es verliert aber bald seine
Ecken (Spinae), streckt sich etwas und wird zu-
letzt schmal. Das Os pubis dagegen schwindet
schon zur Mitteltertiärzeit so gut wie völlig, nach-
dem schon im Eozän das Hüftloch durch Ver-
kleinerung und schließlich durch Zuwachsen ver-
loren gegangen ist. Die Hüftpfanne endlich wird
bald kleiner, seichter und unregelmäßiger und ist
vom Obermiozän an nur noch angedeutet oder
durch Rauhigkeiten ersetzt.
Offenbar verläuft gleichzeitig eine Rückbildung
der freien Hinterextremität. Sie kann bei der
ältesten bekannten Form im unteren Mitteleozän
noch eine, wenn auch geschwächte Funktion ge-
habt haben, war aber dann sicher rudimentär,
wenn auch noch bis zum Oligozän frei beweglich.
Danach waren aber, ähnlich wie bei manchen
rezenten Walen, wohl nur im Fleisch steckende
Reste von ihr vorhanden, deren Femur durch
Bänder am Hüftbein befestigt und kaum mehr
zu Eigenbewegungen befähigt war.
Schließlich kommt noch das Verhältnis der
Größe des Hüftbeins zur Gesamtgröße des Tieres
in Betracht. Letztere ist bei Rhytina mit 8 — 9 m
Skelettlänge am größten; bei Halicore beträgt sie
etwa 2,5 m, bei Felsinotherium und Miosiren war
sie gewiß erheblich größer als bei ihr, bei Hali-
therium etwas größer, bei den anderen Formen
aber kleiner. Leider wissen wir nur bei Hali-
therium Schinzi, daß sie bis etwa 3 m betrug.
Dessen Hüftbeinlänge schwankt nun zwischen
22,5 und 25,5 cm, die größte Breite am Os pubis
zwischen 4 und 6 cm. Wenn wir demgegenüber
sehen, daß die entsprechenden Maße der Hüft-
beine bei Halicore 18 — -22 bzw. 1,5 — 2,5 cm sind
und bei Rhytina 4,5 bzw. 3,5 cm und die Schlank-
heit der ganzen Knochen ansehen, so haben wir
den Beweis, daß die Hüftbeine auch in ihrer Ge-
samtgröße im Verhältnis zur Körpergröße seit
dem Alttertiär trotz der oben erwähnten Streckung
des Ischium zurückgingen.
Zum Schlüsse ist zu erwähnen, daß bei der
anderen Familie der Seekühe, den Manatidae, nach
der lebenden Form zu schließen, die Rückbildung
des Hüftbeins wesentlich anders verlaufen ist als
bei den Halicoridae. Bei den Zahn- und Barten-
walen, sowie bei den Urwalen aber sind ganz
ähnliche Rückbildungsstadien zu beobachten wie
bei diesen, doch sind wir noch weit entfernt da-
von, die morphologischen Stadien in der zeitlichen
Reihe verfolgen zu können, was allein beweisenden
Wert in stammesgeschichtlicher Beziehung hat.
414
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
Zur Ameisengeographie von Mitteleuropa.
[Nachdruck verboten. 1
Der Triashügel von Saint Triphon im Rhone-
tal, den S. Galant in Nr. 17 dieser Zeitschrift
als xerotherme Ameiseninsel schildert, nimmt
keine so ungewöhnliche Stellung ein, wie diese
Darstellung vermuten läßt. Bevor man aus dem
milden, insubrischen Klima des Genferseeufers die
trockenwarme Caldera des mittleren Wallis er-
reicht, die sich von Martinach und den Follateres
bis gegen den Deischberg ausdehnt, durchquert
man eine ungewöhnlich mannigfaltige Folge ver-
schiedener Klimate. Während an den Hängen
des Grammont subalpine und alpine Arten zwischen
der Porte du Sex und Vionnaz tief zu Tal steigen
und ein mildes, feuchtes Klima verraten, haben
die Hänge von Aigle bis Bex, zwischen welchen
Städten St. Triphon liegt, ausgesprochen xero-
thermen Charakter. Die Niederschläge nehmen
außerordentlich rasch ab — Aigle hat kaum mehr
Regen als Martinach — , um dann ebenso rasch
wieder bei Bex und dem Engpaß von Saint
Maurice anzusteigen, worauf dann die gleichmäßige
Abnahme bis zum Steppenklima der Innerwalliser
Föhrenregion ^) einsetzt. Daß die Umgebung von
Aigle eine ganze Reihe von Arten aufweist, die
dann erst wieder im Mittelwallis auftreten, ist
längst bekannt, so von Pflanzen die Sfipa-hritn,
Ononis natrix, Asfragalus monspessjilanus, Scor-
zoicra austriaca u. a. Dazu kommt das im In-
nerwallis fast ganz fehlende Oitosma ccinoidcs subsp.
vaiidcnsc und der nur bis zur Pissevache und
Dorenaz reichende Ruscus aculcafus^ eine freilich
nichts weniger als typisch xerophile, sondern aus-
gesprochen hygrothermophile Pflanze des Mittel-
meergebiets. Von Insekten seien z. B. Älmifis
religiosa, Cicada orui und SisypJuis Sclu'iffcri ge-
nannt. Es ist somit nicht verwunderlich, daß die
im ganzen Mittelwallis sehr gemeinen Ameisen
Pla«!okpts pyn i/iaca L^tr. und Caiiipo)iotus aethiops
Latr. auch hier auftreten. Daß diese beiden Arten
in der Schweiz sonst nicht zusammen vorkommen,
entspricht nicht den Tatsachen, wie übrigens schon
aus den Angaben Foreis hervorgeht {Plagiolepis
bei St. Maurice, FuUy, Sitten, Siders, Cavipoiwfus
am Genfersee und von Martigny bis Siders). Am
Südhang der Alpen, z. B. im Tessin kommt dazu
eine ganze Reihe dem Schweizer Rhonetal fehlen-
den Ameisen, wie Mcssor barbarus (L.) For. ssp.
structor (Latr.), Plicidole pallidula Nyl., Crcmasto-
gaster scntellaris Ol. und Formica ga^atcs Latr.
Die Erdnester der letztgenannten Art, die von
Spanien bis Kleinasien und zum Himalaya, in
Mitteleuropa bis in die Umgebung von Paris,
Piemont, Südtirol, Krain, Niederösterreich und
Ungarn vorkommt, traf ich in großer Menge in
Von Dr. H. Garns.
') Vgl. über diese, ihr Klima und ihre Florengeschicbte
H. Christ: Die Visp-Taler Föhrenregion im Wallis. Bulletin
de la Murithienne Bd. XL (1916 — 18), Sion 1920. Eine aus-
führlichere Darstellung der Vegetation im Unterwallis bereitet
der Verf. des vorstehenden Artikels vor.
den Kastanien-, Eichen- und Hopfenbuchen- ( Oj'/'ri'a'-)
Gehölzen des Mendrisiotto (Kanton Tessin).
Viel bemerkenswerter als das Vorkommen von
Plagiolcpis und Cniipoiiotus aethiops in der
Gegend von Aigle scheint mir ein anderes zu
sein, das ich im folgenden behandeln möchte:
dasjenige einer nahen Verwandten der Formica
gagates, der Formica picea Nyl. Beide Arten, die
von manchen Autoren nur als Rassen der ge-
meinen F. fusca bewertet worden und vielfach
verwechselt worden sind, müssen auf Grund ihrer
grundverschiedenen Lebensweise und Verbreitung
trotz großer morphologischer Ähnlichkeit scharf
auseinander gehalten werden.')
Formica picea ist, wie Bonner darlegt, eine
ausgesprochen nordische Moorbewohnerin, die erst
1846 von Nylander aus Finnland beschrieben
worden ist. Von 1852 bis 1909 wurde die Art
entweder mit F. gagates identifiziert oder als
neue Art beschrieben, so von Saunders aus
England, von Nassonow aus Transkaukasien
und von Forel aus Santschön in China. Erst
1919 stellten Emery und Bondroi t aufs neue
die Unterschiede der beiden Arten fest. Nach
Emery, Bonner und Wasmann reicht das
Areal der Moorameise von der Mongolei und dem
Kaukasus bis Skandinavien (1860 von Me inert
und 191 2 von Bonner bei Kopenhagen, von
anderen auch in Jütland, von A d 1 e r z in Schweden
und Norwegen und wohl auch auf Öland ge-
funden), England, Holland, zum Hohen Venn (wo
sie schon 1850 durch A. Förster bei Aachen
festgestellt worden ist), den Ardennen und Luxen-
burg. Aus Deutschland wurde sie auch noch als
„gagates" von Elberfeld und Regensburg ange-
geben, von diesem bisher einzig bekannten
bayerischen Fundort durch Herrich-Schäfer.
Die ziemlich zahlreichen Angaben über F. gagates
in Österreich dürften sich größtenteils wirklich
auf diese Art beziehen, doch verstand G. Mayr
[Formicina austriaca 1855, Die europäischen For-
miciden 1861) unter diesem Namen auch F. picea
und selbst einzelne Campouotus- und Lasius- KrX^n.
Sicher kommt picea im Böhmerwald und in den
Sudeten (Altvater) vor. In den Alpen wurde
sie zum erstenmal durch A. Förster für die
Seiseralpe in Tirol festgestellt. Forel fand sie
später im Rhonetal : in den Streuriedern zwischen
Roche und Yvorne, etwa eine Stunde von St. Tri-
phon entfernt. Damit ist jene Gegend um ein
hochinteressantes Glazialrelikt reicher geworden.
') Vgl. hierüber insbesondere W. Bonner, Formica fusca
picea eine Moorameise. Mit Scblußbemerkung von E. Was-
mann. Biol. Zentralbl. Bd. XXXlV. 1914. Nr. I.
Derselbe, Die Überwinterung von Formica picea und an-
dere biologische Beobachtungen. Ebenda Bd. XXXV. Nr. 2.
Aug. Forel, Die Ameisen der Schweiz. 1915.
H. Kutter, Myrmikologische Beobachtungen. Biol. Zen-
tralbl. Bd. XXXVII. 1917. Nr. 9.
N. F. XX. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
415
Als pflanzliches Gegenstück sei auf Hierochloc
borealis verwiesen, die F. O. Wolf am See von
Taney, also am Roche gegenüberliegenden Hang
entdeckt hat. Auch sonst ist das „Walliser
Chablais" reich an ähnlichen Gegensätzen: Gciiti-
aiiii lutea steigt noch bei St. Maurice und Dorenaz
bis 500 m hinunter, Piiius Coiibra und Paradisia
liliastriiii! bis looo m, wogegen nur wenige Kilo-
meter entfernt Qucrciis scssüiflora und piibcscens
Höhen von 1700, ja 1800 m erreichen und Stipa
pcniiata bis 2100 m steigt!
Den dritten Fundort von Fon)üca picea in den
Alpen entdeckte mein Freund HeinrichKutter
19 16 am Calmot bei Tschamut am Oberalppaß.
Die Ameise baut hier in etwa 1800 m im Gegen-
satz zu allen übrigen bisher näher untersuchten
Fundorten keine Haufennester aus zerbissenem
Torfmoos, sondern Erdnester. Auch dieser Fall
hat manches botanische Gegenstück: viele Moor-
pflanzen gedeihen in den Alpen ausgezeichnet auf
mineralischem Boden, so TncJioplwrum caespito-
sHiii, Viula palustris, Sphagiiuin compadum und
andere Torfmoose, während umgekehrt so charakte-
ristische Felspflanzen der Alpen wie Prinnila
Anricula, Saxifraga oppositifolia und Siatice
Armeria subsp. vwntaiia im nördlichen Alpen-
vorland Quellmoore (die Aurikel um München,
die Staticc in der var. purpurca [Koch] bei Mem-
mingen) und Seeufer {Saxifraga am Boden- und
Untersee, Staticc am Untersee) bewohnen, bzw.
sich nur an diesen Standorten erhalten konnten.
Die Moore der Schweiz sind verhältnismäßig
arm an lebenden „Glazialrelikten". Salix myrtil-
lüides kommt lebend nur noch im oberen Toggen-
burg, Betula huniilis bei Abtwil, Bctula nana am
Stoß, bei Einsiedeln, in den Berner und Freiburger
Voralpen und in den großen Juramooren vor.
Daß sie und andere Arten (Salix rctusa und
kcrbacea, Dryas octopctala u. a.) früher weiter ver-
breitet waren, beweisen die Fosilfunde in der
Gyttja und im Glazialton („Dryaston") im Liegen-
den zahlreicher Torfmoore. Reicher an nordischen
Arten sind die Moore Oberbayerns, wo die 3 erst-
genannten Arten noch ziemlich verbreitet sind.
So kann es nicht allzusehr verwundern, daß auch
unsere nordische Moorameise, Formica picea, da-
selbst weiter verbreitet ist als bisher bekannt war.
Im Sommer 1920 fand ich ein Nest im Kirch-
seeoner Filz, einem Zungenbeckenmoor im Bereich
des alten Inngletschers zwischen München und
Rosenheim, und weiter einzelne Exemplare der
glänzendschwarzen Ameise im Moor am benach-
barten Kastensee. Wie mir Regierungsrat Dr.
H. Paul mitteilte, hat er wiederholt Nester dieser
Art in den Chiemseemooren beobachtet.') Wahr-
scheinlich hat also die Ameise in den Mittelgebirgen
von Belgien bis zu den Sudeten und bis nach
Mittelasien die Eiszeiten überdauert und ist aus
1) Aom. während des Druckes. Im Juni 1921 fand sie
mein Freund E. Schmid auch im Bockuseegebiet: im Moor
am Biichelweiher bei Lindau.
diesen Refugien den zurückweichenden Gletschern
nach Fennoskandien und in die Alpen gefolgt.
Das Kirchseeoner Moor wird vielleicht auch
sonst noch interessante biogeographische Auf-
schlüsse bieten. Die heutige Vegetation und da-
mit die Moorameise werden leider infolge der
fortschreitenden Entwässerung und Abholzung in
wenigen Jahren verschwunden sein , aber die be-
reits angelegten Entwässerungsgräben gewähren
dafür einen prächtigen Einblick in die Genese des
Moores. Ganz wie in dem durch Nathorst,
Schröter, Neuweiler u. a. berühmt gewor-
denen und gleichfalls in diesen Jahren gänzlich
abgetorften Krutzelried im Bereich des alten
Linthgletschers (östlich von Zürich) folgt auch
hier über der Grundmoräne Glazialton und Gyttja
Ob auch hier eine „Dryasflora" darin enthalten
ist, müssen weitere Untersuchungen lehren), Leber-
torf (Dy, in den bisher aufgeschlossenen Rand-
partien etwa '/a n^ mächtig) und Moostorf. Inter-
essant ist eine konkordante Einlagerung in die
aus Sand und kristallinem Geschiebe bestehende
Grundmoräne von einer dünnen Torfschicht mit
Stämmen und Zapfen von Pinus silvestris L., die
hier also schon vor Ablagerung des „Dryastons"
am Gletscherrand wuchs.
Die Formica picca-Ntsier von Kirchseeon traf
ich mitten im sehr nassen Zwischenmoor, in
großen aus Spliagnum aciififolium gebildeten und
mit Politriclnoii st riet um und Carex- hx\.fa. be-
wachsenen Hochmoorbülten. Im übrigen stimmen
sie völlig mit den von Bonner aus dem Lyngby-
Moor in Dänemark beschriebenen und abgebildeten
Nestern überein, so daß ich auf diese Beschreibung
verweisen kann. Bemerkenswert ist das bei dieser
Art wohl noch nicht konstatierte Vorkommen
von Puppen der Syrphidengattung Microdon.
Ein Stück des Nestes, das ich samt Brut und
einer Königin mitnahm und frei im Zimmer stehen
hatte, blieb dauernd nahezu unverändert und
wurde von den Ameisen trotz ihrer bei warmem
Wetter großen Lebhaftigkeit nicht verlassen. Die
Nester dieser Art sind u. a. durch die großen,
weißlichen Anhäufungen von zerbissenem Spliag-
num auf den von zahlreichen Gängen durchzoge-
nen Büken kenntlich.
Ähnlich verhalten sich die Nester der zweiten
in Mooren (allerdings in Mitteleuropa häufiger in
Wäldern) lebenden Formica Art , der F. cxsecta
Nyl., deren Moornester Nils Holmgren be-
schrieben hat. Außerdem traf ich aber in den
schweizerischen und bayerischen Mooren noch sehr
regelmäßig einige andere Ameisen als Bewohner
von Hochmoorbülten, so vor allem Alyrmica ru-
bra L., Lasiusßavus F. und iimbratus Nyl., seltener
und nur in trockenerem Torf auch den gemeinen
Lasius nigcr L. und Tapinoma crraticuni Latr.
Sahlberg beschreibt aus Finnland und Bon-
droit aus Belgien gemischte Moornester von
F'ormica sanguinca und picea (diese als Sklaven
jener). Die Nester der vorwiegend bis ausschließlich
unterirdisch lebenden lMSius-h.x\.zn sind von außen
4i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
höchstens durch das Vorkommen myrmekochorer
Pflanzen (z. B. Viola-Artcn, auf trockenen Moor-
wiesen sehr regelmäßig Thyviiis Serpyllum) zu
erkennen. Ich gewann durch die Beobachtungen
der letzten Jahre den Eindruck, daß die meisten,
wenn nicht alle, größeren Hochmoorbülten wenig-
stens in gewissen Stadien von Ameisen bewohnt
werden und daß diesen somit, neben dem Wachs-
tum der Torfmoore und Frostwirkungen eine ganz
hervorragende Bedeutung bei der Entstehung der
Hochmoorbülten und vielleicht auch anderer, doch
sicher nicht aller „Höckerlandschaften" zukommt.')
Die „Ameisenhöcker' sind in manchen Gegenden
so häufig, daß für sie sogar besondere Volks-
namen bestehen, so im Waadtländer Jura „teu-
mons" (nach Ch. Meylan) und in Litauen „küp-
stas" (nach Abromeit, Flora von Ost- und
Westpreußen, 1898, S. 548).
') Vgl. J. Sahlberg, Om förekomsten af Kormica ga-
gates hos en röd-myrart. Meddel. Soc. pro launa et flora fen-
nica I. 1876.
Th. Kuhlgatz, Vorstudien über die Fauna des Belula
nana-Hochmoores im Culraer Kreis in Westpreußen. Nord.
Wochenschr. N. F. I. 1902.
Nils Holmgren, Ameisen als Hügelbildner in Sümpfen.
Zool. Jahrb. System. Bd. XX. 1904.
R. Stäger, Höckerlandschaften. Mitt. Naturf. Ges.
Bern 1913.
Derselbe, Erlebnisse mit Insekten. Rascher, Zürich 1919.
W. Höhn, Moosdünen und Höckerbildungen auf schwei-
zerischen Mooren. Natur und Technik Bd. II, 1921, Nr. 12.
Einzelberichte.
Das Variiereu der morphologischen iiud
physiologischeu Merkmale der Meüschen.
Die beschreibende Anthropologie stellt zahl-
reiche körperliche Merkmale der menchlichen
Rassen fest, sie zeigt hier Ähnlichkeiten, ja Über-
gänge, dort mehr oder weniger starke Abweichun-
gen. Auf Grund dieser Merkmale werden dann
einzelne morphologische Rassen unterschieden
und die einander ähnlichen zu Rassengruppen ver-
einigt. Die biologische Seite der Rassenmerkmale
wurde jedoch bisher zu wenig studiert. Mit
Recht betont Prof. E u g e n Fischer') die Wich-
tigkeit der Unterscheidung einerseits der in An-
passung an bestimmte Umweltfaktoren durch
natürliche Zuchtwahl entstandenen „Idiovariationen"
und andererseits der sog. „Paravariationen", die
nicht erblich sind und lediglich die Einwirkung
der peristaltischen Faktoren (Klima, Nahrung,
chemische und physikalische Einflüsse) auf den
Körper zum Ausdruck bringen. Die Tiergeo-
graphie und die Haustierforschung zeigen, welche
starke Einflüsse die Versetzung in eine fremde
Umwelt ausübt. So wird z. B. ein von reinen
Rassenzuchttieren, etwa Stier und Kuh Olden-
burger oder Simmentaler Zucht, im trockenen
hochgelegenen Südwestafrika geborenes Tier an
Größe, Form, Proportionen ganz anders als die
Eltern waren. Es ist klar, daß Domestikations-
einflüsse neue „Paravariationen", d.h. nicht erb-
liche Änderungen (z. B. Fettablagerung, gesteigerte
Körpergröße usw.) bewirken können; erbliche
Rassenmerkmale sind das aber nicht. Ob im
Domestikationszustand auch die Erbmasse (das
„Keimplasma") wirklich fallibel wird, ob leichter
und öfter echte Keimesvariationen auftreten, ist
strittig. Es wäre schon denkbar, sagt F., aber
andererseits ließe sich die Fülle der beobachteten
Variationen auch erklären durch die Annahme,
daß „spontan" auftretende Variationen in der
') Zur Frage der Domestikationsmerkmale des Menschen.
Zeitschrift f. Sex.-Wissensch., Bd. S, Heft i.
Domestikation leichter erhalten, auch biologisch
schädliche beschützt und gezüchtet werden können.
Als Paravariationen des Menschen, denen echte
Erblichkeit beim Wechsel der Umwelt nicht eigen
ist, betrachtet F. die Abweichungen der Haarform
von straff bis eng spiralgedreht, die Skala der
Färbung von Haar, Haut ') und Iris (Albinismus,
Melanismus, Rutilismus), die wechselnde Körper-
größe (Pygmäen und besonders Großwüchsige),
die Proportionsverschiedenheiten, den Wechsel der
Nasen-, Lippen- wie überhaupt der Gesichts-
formen, die Faltenbildungen am Auge, die Stea-
topygie und vieles andere. Diese Eigenschaften
werden als Domestikationsfolgen aufgefaßt. Das
Auftreten von Paravariationen infolge willkürlicher
Gestaltung der Fortpflanzungs- und Ernährungs-
verhältnisse macht es in vielen Fällen unmöglich,
zu entscheiden, ob zwei gleiche oder ähnliche
Rassenmerkmale auf eine genealogische Zusammen-
gehörigkeit oder auf selbständiges Auftreten als
spontane Domestikationsmerkmale zurückzuführen
sind. Eine Reihe physiologischer Erscheinungen
dürften ebenfalls Domestikationswirkungen sein;
daß z. B. die „Dauerbrust" des menschlichen
Weibes ähnlich wie das sich nicht zurückbildende
Euter eine Haustiereigenheit darstellt gegenüber
den stets nach der Säugezeit sich stark involvie-
renden Zitzen der Wildformen, hat schon Frie-
denthal (1908) ausgesprochen. F. fügt hinzu,
daß man wohl auch die dauernde Bereitschaft
der Frau zur Schwängerung, also das Fehlen
echter Brunstzeiten, die dauernde Ovulation, als
Domestikationswirkung auffassen kann. Zwar
gibt es einige Angaben über Beobachtungen in
zoologischen Gärten, wonach Schimpansen ganz
regelmäßig alle 28 Tage menstruieren, genau wie
ein menschliches Weib. Aber dem steht die
Meldung der Beobachter des Freilebens der Schim-
') Bei den Negern in Nordamerika haben sich jedoch die
charakteristische Haarform, wie die Pigmentierung, trotz des
Wechsels der Umwelt durchaus konstant erhalten.
N. F. XX. Nr. 2i
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
417
pansen gegenüber, daß es nur zu bestimmten
Zeiten Junge gibt. Die Brunst aller anderen
Tiere, auch der niederen Affen, ist physiologisch
und nach ihren anatomischen Unterlagen (Uterus-
schleimhaut, Ovar) nicht identisch mit der mensch-
lichen Menstruation. Auch das männliche Tier
ist im Freileben nur zu bestimmten Zeiten sprung-
bereit und sexuell libid, der Zuchthengst, der
Haushund und der menschliche Mann immer. Die
Erklärung der verschiedenen Verhaltens ist in
Domestikationseinflüssen zu suchen.
H. Fehlinger.
Ein vergessener Botaniker des 16. Jahr-
Ininderts.
Euricius Cordus (? i486 — 1535) ist als
Botaniker so gut wie vergessen. In Sachs'
„Geschichte der Botanik" (1875) wird nicht ein-
mal sein Name genannt. Um so mehr ist August
Schulz dafür zu danken, daß er uns nach seiner
Studie über Cordus den Sohn, über „Valerius
Cordus als mitteldeutschen Floristen",*) den Vater
Cordus als botanischen Forseher und Lehrer in
einer Schrift schildert, die man als botanikohisto-
risches Kabinettstück bezeichnen darf.-')
Euricius Cordus veröffentlichte sein jetzt
so selten gewordenes „Botanologicon" in Köln 1534,
d. h. zwei Jahre vor dem Erscheinen des 3. (Schluß-)
Bandes von B r u n f e 1 s ' „Herbarum vivae eicones".
Sein Lebenslauf ist voll des menschlich Inter-
essanten.-') Er führte zunächst das bewegte Leben
eines humanistischen Literaten und Pädagogen.
In Erfurt, der Zentrale des eleganten späteren
deutschen Humanismus, verbrachte er lange Jahre
') August Schulz, Valerius Cordus als mitteldeulscher
Florist. In; Mitteilungen des Thüringischen botanischen Vereins,
N. F., Heft 33 (Weimar 1916), S. 37—66. (Vgl. mein Referat
in den Mitteilungen zur Geschichte der Medizin u. d. Natur-
wissenschaften XVI, 1917, S. 192 f.)
'') August Schulz, Euricius Cordus als botanischer
Forscher und Lehrer. (Abhandlungen der Naturforschenden
Gesellschaft zu Halle a. d. S., N. F., Nr. 7), Halle a. d. S. Im
Selbstverlage der Gesellschaft. In Kommission L. Nebert.
1919. gf- S". 32 S. — Kurz wies schon F. W. E. Roth auf
„Euricius Cordus und dessen liotanologicon 1534" (in: Archiv
f. d. Geschichte d. Naturwissenschaften u. d. Technik, I, 1909,
S. 279 — 281) hin, was Schulz wohl übersehen hat.
') Zu der von Schulz auf S. 7 (Anm. 3) zusammenge-
stellten biographischen Literatur seien u. a. hinzugefügt: C.
Krause, Vom Namen des Dichters Euricius Cordus. —
Neue Untersuchungen über den Namen und die Schuljahre des
Dichters Euricius Cordus. In: Hessenland 1891, S. 152 — 154,
306—309, 318—320 und 1892, S. 2—5. — Friedrich
Küch, Ein unbekannter Brief von Euricius Cordus. In: Zeit-
schrift d. Ver. f. hessische Geschichte und Landeskunde, N. F.
XXX (1907), S. 158— 161. — Robert Sommer, Familien-
forschung und Vererbungslehre (Leipzig 1907), S. 160 — 163;
Euricius Cordus, der Reformationsdichter, ein Soldan [Zu
diesem genealogischen Irrtum vgl. man aber: Carl Knetsch,
Goethes Ahnen (Leipzig 1908), S. 28 und — unabhängig da-
von — Hermann Dieraar, Die Chroniken des Wigand
Gerstenberg von Frankenberg (Veröffentlich, d. Histor. Kom-
mission f. Hessen u. Waldeck, VII, l), (Marburg 1909), S. 479
Anm. 5]. — Weitere Kleinliteratur schließlich im Systemati-
schen Inhaltsverzeichnis zur Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch.
u. Landesk. Bd. I — 45, bearb. v. Hans Legband (Kassel
1912), S. 68.
des Studierens, Dichtens und Lehrens. Nächst
Helius Eobanus Hessus, dem „König" des
Erfurter Kreises, meisterte er wie keiner das Epi-
gramm. Aber leben konnten er und seine Fa-
milie davon nicht. So begann er Medizin als
spätes Brotstudium. Und da mußte ihn Italien
locken. Nicolo Leoniceno und Giovanni
Manardo in Ferrara pflanzten in ihn die Liebe
zur scientia amabilis. 1527 wurde Cordus von
seinem inzwischen eingenommenen Braunschweiger
Stadtarztposten *) als Medizinprofessor an die neu-
gegründete Marburger Universität berufen. Doch
der alte, ewig junge Kollegenzank — ■ Cordus
blieb in deren Augen der unwissende Poet! —
verleidete ihm bald diese akademische Stellung,
und schon 1534 folgte er einem Rufe nach Bremen
als Stadtarzt und Lehrer am akademischen Gym-
nasium. Aber im nächsten Jahre starb er.
Sein „Botanologicon" vom Jahre 1534") ver-
dient nach Schulz vor allem deswegen unsere
Beachtung, weil wir aus ihm Form und Inhalt
des Unterrichts in der „reinen" Botanik ah einer
deutschen Universität der ersten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts kennen lernen. Wir sehen, wie dieser
Unterricht aus einem mit Demonstrationen und
Bestimmungsübungen verbundenem Kolloquium
bestand, das in der Wohnung des Professors, im
„botanischen Garten" und auf „botanischen Ex-
kursionen" abgehalten wurde. Denn wenn auch
das im „Botanologicon" dargestellte botanische
Gespräch ofTenbar nur fingiert ist, so dürfen wir
wohl annehmen, daß die darin geschilderten Ver-
hältnisse der Wirklichkeit entsprachen und
Euricius Cordus in der dargestellten Weise
„Botanik" zu lehren pflegte.
Das Kolloquium zwischen Cordus und seinen
Begleitern — es wird von Schulz zum Teil
unter kommentiertem Originalabdruck durchge-
sprochen ^) — beschäftigt sich fast ausschließlich mit
■) Für die Braunschweiger Zeit führe ich noch zwei un-
beachtet gelassene Arbeiten von Friedrich Cunze an:
Ein Brief des Euricius Cordus aus Braunschweig (1523). In:
Jahrbuch d. Geschichtsvereins f. d. Herzogtum Braunschweig,
I (1902), S. 103 — 107. — Der Humanist Euricius Cordus in
Braunschweig. In: Braunschweigisches Magazin, X (1904),
S. Sg-96.
-) Das „Botanologicon" erschien dann nochmals : in Paris
1551, nachdem schon vorher 1^49 in Frankfurt a. M. in
Jean Ruelles lateinischer Dioskur ides- Übersetzung im
Anhange ein kurzer Auszug (Index et quasi epilogus seu epi-
tome) abgedruckt worden war. — Ich persönlich konnte bis
jetzt nur die Kölner Ausgabe erlangen.
') Angefügt sei, dafi die auf S. 24 unten von Cordus
angezogene Schrift des Hubertus Barlandus folgenden
genauen Titel führt: Huberti Barlandi Philiatrii Medici Namur-
censis Velitatio cum Arnoldo Nootz Medicinae apud Louanienses
doctore, qua docelur non paucis abuti nos uulgo Medicamini-
bus simplicibus, ut Capillo Veneris . . . [Endet:] Anluerpiae
ex aedibus Henrici Petri. Middelbur. Anno. M. D. XXXII.
(Exemplar der Sachs. Landesbibl. zu Dresden: Pharmacol.
spec. 252). — Leider sind auch einige Druckfehler stehen ge-
blieben, die indessen der kundige Leser selbst verbessern
wird. Zu begrüßen wäre es, wenn Schulz in ähnlichen
künftigen Arbeiten die volkstümlichen Pflanzennamen
irgendwie durch den Druck auszeichnen könnte, um dem
Ethnobotaniker die Aufgabe zu erleichtern.
4i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
der Bestimmung von mehreren hundert Phanero-
gamen- und Kryptogamenformen, die sie in den
zwei Cord US gehörigen Gärten und auf dem
Wege von dem einen zu dem anderen antreffen.
Es handelt sich um angebaute oder wildwachsende
Pflanzen oder um solche, die zu diesen in irgend-
einer Beziehung stehen. Der Dioskuridische
Pflanzenschatz spielt natürlich die Hauptrolle. Man
merkt hier den Einfluß der beiden italienischen
Lehrer. Doch ehrtCordus die für die damalige
Zeit ganz vereinzelt dastehende Meinung, man
könne durchaus nicht alle von den botanischen
Schriftstellern der Antike und ihren humanistischen
italienischen Kommentatoren aufgeführten Formen
in Deutschland erwarten.
So sehen wir also durch Schulz' Bemühungen
Euricius Cordus als botanischen Forscher
und Lehrer auf dem Hintergrunde seiner Zeit.
Die Geschichtsschreibung der biologischen Natur-
wissenschaften wird an der schönen Studie nicht
vorbeigehen.
Dresden. Rudolph Zaunick.
Eine einfache Torriclitnng zur Darstellung
Ton beliebigen Kristallstrukturniodellen.
Die Notwendigkeit, die weitgehenden und tief-
greifenden Ergebnisse der theoretischen wie ex-
perimentellen Kristallstrukturforschung im Unter-
richt leicht zugänglich zu machen, hat die Kon-
struktion von räumlichen Modellen erforderlich
gemacht, da diese sowohl für Vorlesungen an
Hochschulen, wie auch, soweit angängig, im
Unterricht an höheren Lehranstalten, die beste
und anschaulichste Vorstellung dessen vermitteln,
was mündlich vorgetragen wird. Die Struktur-
modelle, die heute vielfach zu diesem Zwecke
verwendet werden, sind nun Modelle, die nur eine
bestimmte Strukturart darstellen und die nicht
verändert werden können. Bei den heutigen
Herstellungskosten ist diese Starrheit ein Nachteil,
da die verfügbaren Mittel vielfach nicht ausreichen,
für jeden Strukturfall ein besonderes Modell an-
fertigen zu lassen. Etwas vorteilhafter sind in
dieser Beziehung schon die Modelle, die zuerst
L. Sohncke (Entwickl. einer Theorie d. Kristall-
struktur, Leipzig 1879, S. 179 — 180), später H. L.
Bowman (Note on the construction of the Mo-
dels to illustrate theories of crystal structure, Min.
Mag. 16, 1911, S. 51 — 54) und neuerdings H. L.
Whitlock (A Model for Demonstrating Crystal
Structure. Americ. Journ. Sei. (IV), 49, 1920, S. 259
bis 264) vorgeschlagen haben. Bei diesen Mo-
dellen ist die Vornahme von teils einer, teils
zweier Translationen ausführbar.
Eine Vorrichtung, die billig und einfach her-
zustellen ist und die die gewünschten drei Trans-
lationen leicht auszuführen gestattet, gibt K.
Spangenberg im Centralbl. f Mineral, usw.
192 1, Heft 9, S. 229 — 233 an. Die Stäbe, auf
denen einfach durchbohrte Holzkugeln, gegebenen-
falls in verschiedenen Farben, angebracht werden
sollen, bestehen aus 4 mm starkem Eisendraht
und werden zweckmäßig etwa 75 — 80 cm lang
gewählt. Als Fußgestell dient eine quadratische,
I mm starke Eisenblechplatte von 6 cm Seiten-
länge, deren mittlerer Teil kreisförmig eingebeult
und durchbohrt wird. In diese Durchbohrung
wird das eine Ende des Eisenstabes gesteckt und
darauf Stab und Platte gut vernietet. Diese Be-
festigungsart erwies sich als genügend stabil und
dauerhaft. Im Notfall kann sie leicht repariert
werden. Die Halbkugeln von 2,5 cm Durch-
messer, deren Bohrung der Stabdicke von 4 mm
möglichst genau anzupassen ist, lassen sich in
der Regel ohne weiteres an jeden beliebigen Ort
des Stabes verschieben ohne herabzugleiten. Sollte
dies doch eintreten, so genügt es, am unteren
Pol der Kugeln etwas Wachs oder Plastilina an-
zubringen, und die Kugel wird am gewünschten
Ort festgehalten. Mit etwa 150 Stäben und 250
weißen und 250 roten Kugeln wird man selbst
beim gleichzeitigen Aufbau von mehreren recht
kompliziert zusammengesetzten Strukturmodellen
in den meisten Fällen auskommen.
Man kann mit diesen verstellbaren Stäben
nicht nur alle Raumgittertypen herstellen, sondern
durch entsprechendes, wirkliches Ineinanderstellen
von gleichartigen Raumgittern lassen sich natür-
lich alle Sohnckesche regelmäßigen Punktsysteme
schnell aufstellen. Dabei erlaubt die Verschieb-
barkeit der Kugeln in vertikaler Richtung beim
Übergang zu Schraubungsachsen die notwendige
Translation leicht während des Unterrichtes aus-
zuführen, wodurch das Verständnis dieser Opera-
tion und der dadurch entstehenden Punktsysteme
sehr erleichtert wird. Auch Gleitspiegelungs-
ebenen und damit alle Schön flies-Fedorow-
schen „Raumgruppen zweiter Art" lassen sich
während der Verlesung aufbauen, wenn man die
Kugeln durch Befestigung einer leicht sichtbaren
Marke genügend asymmetrisch gestaltet. Natür-
lich können ebenso leicht die bisher experimentell
ausgewerteten viel einfacheren speziellen Struktur-
modelle aufgebaut werden. Bestimmte Baugruppen
(z. B. CO3 in den rhomboedrischen Karbonaten,
TiO., bei Rutil usw.) können durch kleinere Kugeln,
mit dünnen Drahtstäben an einer größeren be-
festigt, dargestellt werden.
Schließlich bietet sich noch die Möglichkeit,
die Studierenden alle Modelle mit dem gleichen
billigen Vorrat an Stäben und Kugeln gelegent-
lich bei Übungen selbst ausführen zu lassen.
F. H.
Die Entstehung der artikulierten Sprache.
Nachdem aus dem Vormenschen durch Er-
langung des aufrechten Ganges der Mensch her-
vorgegangen war, wurde die Kluft zwischen diesem
und den Menschenaffen erst recht vergrößert durch
die Erfindung des Feuermachens, die den Menschen
die Ausbreitung über die ganze Erde ermöglichte.
Diese Erfindung kann beim Schlagen der Feuer-
N. F. XX. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
419
Steinwerkzeuge ebenso gemacht worden sein, wie
bei der Holzbearbeitung; sie ist zweifellos allent-
halben Zufallssache gewesen, nicht das Werk eines
grübelnden Urzeitgenies. Ein hochentwickeltes
Gemeinschaftsleben konnte aber erst nach der
Ausbildung der artikulierten Sprache entstehen
und dieses Gemeinschaftsleben gab wieder dem
Kulturfortschritt bedeutende Anregungen. Nach
dem anatomischen Befund müßte der Kehl-
kopf der Säugetiere ebensogut zu einer kompli-
zierten Lautgebung befähigt sein wie der mensch-
liche. Aber die stete und ausschließliche In-
anspruchnahme der Mundwerkzeuge für die Nah-
rungsaufnahme führte dazu, daß die Kiefer vor-
geschoben und ihre Hälften einander stark genähert
wurden, wodurch der Raum eingeengt und die
Beweglichkeit der Zunge beschränkt wurde. ') Die
weite Krümmung der menschlichen Kiefer ist als
ursprünglicher Zustand bestehen geblieben. Außer
der Bildung der Mundhöhle ist bei den Säuge-
tieren die geringe Gehirnentwicklung an der Ein-
schränkung der Lautgebung schuld. Beim Men-
schen entsprang die Lautsprache, wie bei den
Tieren, Lust- und Unlustäußerungen. Die Quellen,
aus denen die einzelnen Laute und später Worte
geflossen sind, sind gewiß recht verschiedener
Art. Ob Nachahmung von Geräuschen der Um-
welt in bedeutendem Umfang bei der Ausbildung
der Sprache mitwirkte, ist fraglich. Klaatsch
glaubte das annehmen zu müssen, während es
Wilhelm Wundt (Völkerpsychologie) entschie-
den bestritten hat. H. Fehlinger.
Beziehungen zwischen Nebennieren
und Keimdrüsen.
Man hat wiederholt versucht, die Beziehungen
zwischen den Nebennieren und den Keimdrüsen
aufzudecken. Es war jedoch bisher noch nicht
gelungen, einwandfreie Resultate zu erzielen. So
hat man nach Kastration eine Hypertrophie der
Nebennierenrinde beobachtet. Ferner sind Fälle
bekannt einerseits von Hypoplasie der Nebenniere
mit Unterentwicklung der Testikel (Tandler),
bzw. verzögerter Entwicklung der Sexualcharaktere
(Wiesel), andererseits von Nebennierentumoren
mit prämaturer Geschlechtsentwicklung (von Neu -
rath zusammengestellt). Ja, Harms wagt so-
gar, den Charakter der Nebenniere mit dem eines
sekundären Geschlechtsmerkmals zu vergleichen.
Doch fehlt allen bisherigen Beobachtungen „eine
sichere anatomische Basis". Diese versucht L e u -
pold in seiner Untersuchung über die „Be-
ziehungen zwischen Nebennieren und männlichen
Keimdrüsen" ^) zu schaffen.
Dem Hauptteil seiner Arbeit liegen Beobach-
tungen zugrunde, die er an 100 Männern und
Knaben gemacht hat. Von besonderer Bedeutung
') Klaatsch, Werdegang der Menschheit usw.
'') Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Kriegs- und
Konstilutionspathologie. Band 1, Heft 4, 1920. Gustav Fischer,
Jena.
sind die Resultate seiner Wägungen, die er
aus den 100 Fällen gewonnen hat. Zunächst
macht er auf die Bedeutung der Körpergröße für
die absoluten Gewichte von Nebennieren und
Hoden aufmerksam. Dagegen ist das Körperge-
wicht für das Gewicht der beiden Organe be-
langlos. Ferner bewirken konsumierende Krank-
heiten eine Atrophie der Testikel, während die
Nebennieren unbeeinflußt bleiben. Die Grundlage
für alle weiteren Beobachtungen bildet die Tat-
sache, daß sich unter den 100 Fällen 52 mit dem
Gewichtsverhältnis Hoden : Nebennieren = 2,5 : i
befinden. Interessant ist nun, daß in der Regel
bei akuten Krankheiten dieses Verhältnis gewahrt
bleibt, während bei chronischen das Gewicht der
Testikel in den meisten Fällen zu leicht ist.
Ferner stellt Leu pold in allen Fällen, in denen
ein Thymus nachweisbar ist, auch ein abnorm
niedriges Nebennierengewicht fest. In diesen
Fällen also weicht das Gewichtsverhältnis von der
Norm ab. Wenn man von dem Einfluß der
chronischen Krankheiten auf die Testikel und von
der Beziehung zwischen Thymus und Nebenniere
absieht und vor allem berücksichtigt, daß abnorm
niedriges Nebennierengewicht mit abnorm niedrigem
Hodengewicht verbunden ist, und neben zu schweren
Testikeln zu schwere Nebennieren gefunden wer-
den, so erkennt man schon eine gewisse Be-
ziehung zwischen beiden Organen. Es bleibt nur
der einseitige Einfluß konsumierender Krankheiten
auf die Hoden zu erklären. Leu pold zieht aus
diesem Verhalten den Schluß, „daß ein gegen-
seitiges Abhängigkeitsverhältnis oder vielleicht
auch ein bestimmender Einfluß, den das eine
Organ auf das andere ausübt, in der Entwicklungs-
periode, in der Zeit des Wachstums besteht, in
der Zeit aber nach abgeschlossenem Wachstum
(oder vielleicht auch nach der Pubertät) nicht
mehr vorhanden ist." Dieser Schluß ist durch die
Untersuchung kindlicher Organe bestätigt worden.
Während der Pubertätsentwicklung wächst die
Nebenniere zunächst sehr schnell, zeigt dann aber
bald ein definitives Gewicht. Die Entwicklung
der Testikel geht langsamer vor sich, d. h. die
Hoden benötigen für die völlige Reifung längere
Zeit. So ergeben sich die verschiedensten Ge-
wichtsverhältnisse in der Jugend, während sich
im Pubertätsalter das Verhältnis dem der Er-
wachsenen, also 2,5 : I, nähert. Danach scheinen
also die Testikel in einer gewissen Abhängigkeit
von den Nebennieren zu stehen. Ob die Neben-
nieren allein einen Einfluß auf die Ausbildung
der Hoden haben, ist fraglich. Eine große Rolle
— wenn auch vielleicht nicht auf direktem Wege
— scheint der Thymus zu spielen. Die Wägungen
haben also ergeben, daß ein konstantes Gewichts-
verhältnis zwischen Nebennieren und Testikeln
besteht. Abweichungen vom Durchschnittswert
rufen einerseits die Atrophie der Hoden (bei kon-
sumierenden Krankheiten), andererseits die Hyper-
plasie der Hoden, bzw. Hypoplasie der Neben-
nieren (Persistenz des Thymus) hervor. Während
420
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
der Entwicklung ist für die Größe der Testikel
die definitive Größe der Nebennieren maßgebend,
während später ein solcher Einfluß nicht mehr
möglich ist, wie die Wirkungen konsumierender
Krankheiten zeigen.
Diese Ergebnisse werden durch die mikro-
skopischen Untersuchungen Leupolds gestützt.
Hoden und Nebennieren werden auf ihren Fett-
gehalt hin verglichen. Leupold hält die
„funktionelle Bedeutung" der Zwischenzellen des
Hodens für „noch nicht klargestellt". Trotzdem
läßt er sich verschiedentlich von der Anschauung
leiten, daß die Zwischenzellen als trophische Hilfs-
organe zu betrachten seien. Die wichtigen Argu-
mente, die Tandler und Groß für die An-
schauung lieferten, daß die Zwischenzellen für die
innere Sekretion verantwortlich zu machen seien,
hat Leupold anscheinend dabei ganz außer acht
gelassen. Doch hat die Frage, ob das Fett von
den Zwischenzellen an die Samenepithelien ab-
gegeben oder von anderen Zellgruppen gebildet
wird, keine so weitreichende Bedeutung für die
weiteren Untersuchungen Leupolds, daß eine
Entscheidung unbedingt nötig wäre. Zunächst
ergibt sich, daß im allgemeinen der Grad der Ver-
fettung in den Nebennieren dem der Hoden ent-
spricht. Weiterhin schließt Leupold aus der
verschiedenen absoluten Menge doppeltbrechender
Substanz, daß die Nebennieren den Testikeln im
Fettstoffwechsel übergeordnet sind. Wichtig ist,
daß dieses Abhängigkeitsverhältnis erst von der
Pubertät an besteht, wie aus besonderen Unter-
suchungen Leupolds hervorgeht.
Die mikroskopischen Untersuchungen bestätigen
und ergänzen also die makroskopischen Beobach-
tungen. Doch halte ich die Ergebnisse für keine
„sichere anatomische Basis" — ganz abgesehen
von dem Fehlen einer chemischen Bestimmung
des Lipoidgehaltes in den untersuchten Organen.
Immerhin sind wir durch die mühsame Arbeit
Leupolds in der Erforschung der Beziehungen
zwischen Nebennieren und Keimdrüsen einen
großen Schritt vorwärts gekommen. Vor allem
spricht das von Leupold angenommene Ab-
hängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Organen
gegen eine einseitige Überschätzung der Keim-
drüsen, bzw. der Pubertätsdrüse in bezug auf ihre
inkretorische Tätigkeit.
Dresden. Gustav Zeuner.
Keine Bestätigung der Relativitätstheorie.
Im Jahresbericht der Carnegie Institution für
1920 findet sich auf S. 226 folgende sehr be-
achtenswerte Mitteilung.
„Nach der Meinung von Einstein und der
Anhänger der allgemeinen Relativitätstheorie ist
die Verschiebung aller Sonnenlinien
nach Rot eine notwendige und grundlegende
Bedingung für die Annahme dieser Theorie. Ein
endgültiges Ergebnis würde also von großer
Wichtigkeit sein, und es ist von allerlei Gesichts-
punkten aus zu wünschen. Im Jahresbericht für
1917 sind die Ergebnisse einer Untersuchung von
St. John über das Verhalten der Linien des
Cyanogen-Bandes bei X = 3883 gegeben. Diese
waren ungünstig für die Einstein sehe Hypo-
these. Zu diesem negativen Ausfall mag nun das
Ergebnis der Untersuchungen der dreifachen
Magnesiumlinie im Grün hinzugefügt werden, in
Angströmeinheiten.
Sonnenmitte 5167,336 5172,699 5183,619
Bogenspektrum 336 696 6i8
Sonne — Bogen 0,000 0,003 0,001
Band — Mitte 0,002 0,001 0,001
Die von der Hypothese verlangte Verschiebung
ist = 0,011. Bei der Wichtigkeit der Frage
sollen noch weitere und umfassendere Unter-
suchungen angestellt werden."
Diese Zahlen zeigen zunächst die große Ge-
nauigkeit der Messungen, die den gesuchten Be-
trag um das 10 fache übertrifft, so daß dieser,
falls vorhanden, sich hätte zeigen müssen. Die
Bedeutung dieser Ergebnisse liegt darin, daß der
Nachweis aus den Messungen bei der Sonnen-
finsternis nicht gelingen kann, hier verdecken sich
die Refraktion, der Dopplersche, der Courvoisier-
und der Einstein-Effekt derartig, daß sie nicht von-
einander zu trennen sind, so daß die Ergebnisse
nicht eindeutig sind. Ebenso die Verschiebung
des Merkurperihels ist auch auf andere Weise zu
erklären; wenn man sie aber nach Einstein
erklärt, dann ergibt die Anwendung der Formel
auf die anderen Planeten falsche Werte, so daß
hier noch Widersprüche aufzudecken sind, wie
W. Mewes gezeigt hat. Von der Rotver-
schiebung sagt Einstein selber, daß mit ihr
die Theorie stehe und falle. Sie kann
jederzeit rein beobachtet werden, sie ist das ein-
zige wirkliche Beweismaterial, und sie
ist immer negativ ausgefallen. Damit fällt
nach Einstein jeder Grund hin, seine Theorie
noch als ein naturwissenschaftlich irgendwie in
Frage kommendes Theorem zu betrachten. Be-
ruhend auf der Forderung, ein falsch gedeutetes
Experiment mit einem scheinbar widersprechen-
den zu vereinigen, ist die Relativitätstheorie als
ein Irrweg anzusehen, der nur zu einer heillosen
Verwirrung geführt hat. Riem.
Die Helligkeitsänderungen der Sonne.
Schwankungen der Helligkeit der Sonne lassen
sich bei ihrer großen Intensität nicht direkt nach-
weisen, wohl aber ist es möglich, daß sich der
Lichtwechsel in der Helligkeit der Planeten
spiegelt, deren Größe um meßbare Beträge
schwanken kann. Zwei Ursachen kann die Ver-
änderlichkeit haben, die Sonne kann selber die
Helligkeit ändern, was bei ihrer Größe kaum
wahrscheinlich ist, oder sie kann von einer wolken-
artig zerrissenen Schicht umgeben sein, die die
Sonnenenergie an verschiedenen Stellen verschieden
stark durchläßt. Dies ist bei Hinblick auf die
N. F. XX. Nr. 28
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.'
421
unsymmetrische Gestalt der Korona sehr wahr-
scheinlich. Dann aber werden nicht die Planeten
gleichzeitig die gleichen Schwankungen ihrer
Helligkeit zeigen, sondern nacheinander, in dem
Maße, wie durch die Umdrehung der Sonne die
verschiedenen Planeten durch die gleiche Stelle
der Sonne bestrahlt werden. Unter Berück-
sichtigung dieses Umstandes findet sich dann in
der Tat, daß die Größe der Sonne um einige
hundertstel Größen schwankt, wie Beobachtungen
von Guthnick in Babelsberg und solche in
Chile ergeben. Auch aus den Beobachtungen der
Sonnenkonstanten hatte man geschlossen, daß die
Sonnenenergie um 0,10 Größen schwankt, und
zwar bisweilen innerhalb weniger Tage um 0,03
Größen. Aber auch die Konstante, die die Son-
nenstrahlung auf den qcm und die Minute in
Kalorien angibt, zeigt bisweilen seltsame Sprünge.
Während sie an mehreren Stationen gleichmäßig
mit 1,933 bestimmt war, 1902 — 19 12, war anzu-
nehmen, daß in der gleichen Phase der wieder-
kehrenden Fleckenperiode die gleichen Werte sich
ergeben würden. Dies war aber nicht der Fall.
Von Juli 1919 bis März 1920 finden sich Werte,
die in verblüffender Weise schwanken, bis zu 8 "/o-
Die Strahlung nimmt erst langsam ab, macht
dann im November einen starken Sprung nach
oben, und im Dezember ebenso, und hält sich
dann mehrere Monate auf einer Höhe, wie in
den ganzen 15 Jahren der Beobachtung sonst
niclit. Abbot meint, daß diese außergewöhnlich
starke Strahlung sich in einer ungewöhnlich starken
Bewölkung und großen Kälte im Winter in Süd-
amerika gezeigt habe. Auch die auffallend große
Fleckentätigkeit der Sonne im März 1920 wird
nebst den starken erdmagnetischen Störungen
hiermit in Verbindung gebracht. (Proc. N. A. S.
of Un. St. Am. 1920, November.) Riem.
Der Ring des Saturn.
Bekanntlich bereitet uns in diesen Tagen der
Saturn den nur alle 30 Jahre wiederkehrenden
Anblick, daß sein Ring in eine feine Linie aus-
gezogen wird, und auf wenige Stunden selbst in
großen Fernrohren verschwindet, weil wir zurzeit
gerade auf die unbeleuchtete Kante sehen, denn
wir gehen durch die Ebene des Ringes. Dieser
Moment ist nach den Beobachtungen von Graff
am großen 6o-cmRefraktor in Hamburg im Laufe
des 22. Februar eingetreten, nachdem dies starke
Instrument am 18. und 21. Februar keine Spur
der feinen Lichtlinie mehr zeigte, während am
Abend des 22. der Übergang der Erde auf die
Sonnenseite des Ringes schon erfolgt war. Diese
wichtige Zeit hat nun Meyermann in Göttingen
benutzt, am dortigen großen Heliometer den
Planeten zu beobachten. Am 22. Februar be-
obachtete er den Ring von 1 1 ^/j Uhr an, und sah
ihn um 12 Uhr 20 Min. als eine feine Lichtlinie,
die sich auch quer über den Planeten hinzog, und
zwar in einer bisher unbekannten Weise. Längs
der ganzen Linie schienen feine Pünktchen aufzu-
leuchten, wohl infolge einer geringen Unruhe der
Luft. Am 23. Februar erschien der Strich wieder
in der gleichen Weise, und die Messung ergab,
daß er dem doppelten Ringdurchmesser gleich-
kam. Der eigentliche Ring erschien schon als
ein heller kräftiger Strich, deutlich verschieden
von der hellen Linie, und diese überragt den Ring
nach beiden Seiten. Am 24. Februar war diese
Erscheinung ebenfalls noch wahrnehmbar, später
nicht mehr. Während also der bekannte Ring
als die helle Linie mit 22 Sek. Radius erschien,
war die längere feine Linie ein Außenring mit
etwa 40 Sek. Radius, und der Beobachter meint,
daß er aus so kleinen und weitläufig verteilten
Körperchen besteht, daß er sonst nicht wahrnehm-
bar ist, und nun sichtbar wurde, wo wir ihn in-
. folge der Projektion auf eine Linie so verstärkt
sehen. Es ist dies eine höchst bedeutungsvolle
und für die Physik des Ringes sehr wichtige Be-
obachtung. (Astr. Nachr. Nr. 5090.) Riem.
Spiralnebel mit auffallend großen
Geschwindigkeiten.
Slip her stellte solche an dem großen Nebu-
larspektrographen der Lowell-Sternwarte in Ari-
zona fest. Der Nebel N. G. C. 584 von der
9,7 Größe hat einen scharf begrenzten Kern von
spiraliger Nebelmasse umgeben. Eine Belichtung
von 28 Stunden in den Nächten des Januar hat
eine so starke Verschiebung der Linien ergeben,
daß nach dem Doppl ersehen Prinzip daraus
eine Bewegung von 1800 km in der Sekunde
von uns weg folgt. Der andere Nebel ist eben-
falls ein Spiralnebel, N. G. C. 936, er hat einen
deutlich begrenzten Kern, und sieht im ganzen
etwa aus wie Saturn mit wenig geöffnetem Ring,
mit etwa 85 Sek. Durchmesser, während der
ganze Nebel Durchmesser von 2,5 und 3,5 Minuten
hat. Hier hat die 34 stündige Belichtung eine
Verschiebung der Linien gezeigt, die auf eine
Bewegung von 1300 km schließen läßt, ebenfalls
von der Sonne fortgerichtet. Diese beiden Be-
wegungen sind ohne Beispiel, und man muß
fragen, ob denn hier die Linienverschiebung in
der Tat durch das Doppler sehe Prinzip zu er-
erklären ist. Wir wissen, daß sonst die jüngsten
Gebilde am Himmel die am langsamsten sich
bewegenden sind. Ferner hat schon Courvoi-
sier darauf aufmerksam gemacht, daß alle diese
Nebel immer große und von der Sonne wegge-
richtete Bewegungen zeigen, was kosmogonisch so
unwahrscheinlich ist, daß man in der Tat die
Linienverschiebung auf andere Weise erklären
muß, durch anomale Dispersion oder durch ioni-
sierte Gase. (Harvard Coli. Bull. 739 und Lowell
Obs. Circ. 1921, Januar 17.) Riem.
422
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 28
Bücherbesprechungen.
Gebien, H., Käfer aus der Familie der
Tenebrionidae, gesammelt auf der „Ham-
burger deutsch -südwestafrikanischen Studien-
reise 191 1". 168 Seiten mit 2 Tafeln und
6 Kartenskizzen sowie 69 Abbildungen im Text.
Hamburgische Universität. Abhandlungen aus
dem Gebiet der Auslandskunde (Fortsetzung
der Abhandlungen des Hamburgischen Kolonial-
instituts) Band 5. Reihe C Naturwissenschaften
Band 2. Hamburg 1920, L. Friederichsen & Co.
36 M.
Die Arbeit wendet sich in erster Linie an die
Kreise der Entomologen und behandelt die im
südwestafrikanischen Faunengebiete vorkommenden
Tenebrioniden oder Schwarzkäfer, eine Gruppe,
der ja auch unser allgemein bekannter Mehlkäfer
(Tenebrio molitor) angehört. Den Laien dürfte
wohl besonders die in der G ebien sehen Schrift
geschilderte Formenfülle fesseln und wird es
interessieren zu erfahren, daß von dieser einen
Käferfamilie bis jetzt schon nicht weniger als
12000 verschiedene Arten beschrieben worden
sind. Hochinteressant sind die Mitteilungen, die
der Verf. über die Anpassungserscheinungen macht,
die bei vielen der besprochenen Arten zu be-
obachten waren. So zeigen manche der auf
hellem Wüstensande im blendenden Sonnenschein
vorkommenden „Schwarzkäfer" ein schneeweißes
Aussehen, andere haben Einrichtungen, die das
Versinken im lockeren Sande verhindern oder das
Austrocknen in der brennenden afrikanischen
Sonnenglut verhüten sollen. Auch in faunistischer
Hinsicht hat sich manches interessante ergeben,
wie überhaupt die Tenebrioniden für zoogeo-
graphische Studien sehr geeignete Objekte sind.
Der Verf. hat für seine Untersuchungen nicht nur
die von der Hamburger Studienreise mitgebrachte
Ausbeute verwendet, sondern hat auch Material
verschiedener deutscher Museen zur Verfügung
gehabt. Als Mangel muß dagegen bezeichnet
werden, daß hierbei die großen Schätze des Ber-
liner Zoologischen Museums ganz unbenutzt ge-
blieben sind. Wären auch sie mit herangezogen
worden, so würde die vorliegende Studie an
wissenschaftlichem Werte wesentlich gewonnen
haben. R. Heymons.
Friedrich Li§mann, Eine Sammlung seiner
Werke. 6 Lieferungen (Mappen) mit je
12 Blatt. Hanseatischer Kunstverlag Hamburg
(Holstenplatz 2). Preis des einzelnen Blattes
3 M., jeder Mappe 25 M. Einzelne Mappen
sind nicht käuflich, auch ist eine Erhöhung des
Preises für das Gesamtwerk nach Erscheinen
der letzten Mappe vorgesehen.
Es ist das Lebenswerk eines talentvollen der
Kunst allzufrüh verloren gegangenen jungen Malers,
das der Öffentlichkeit hiermit zugänglich gemacht
wird. Mitten in seiner vollen Schaffenskraft ist
Friedrich Lißmann durch den Krieg heraus-
gerissen worden und mußte ihm leider auch zum
Opfer fallen. Im Jahre 191 5 hat er noch nicht
35Jährig den Heldentod erlitten. Als Mensch wie
als Künstler ist Lißmann seinen eigenen Weg
gegangen. Äußere Anerkennungen und Ruhm
waren ihm völlig gleichgültig. Um so mehr zog
ihn die Natur an, und waren ihm die Liebe zur
Tierwelt und ein feinsinniges künstlerisches Emp-
finden eigen. In unvergleichbarer Weise kommt
dies auch in seinen Bildern zum Ausdruck und
gewährt diesen ihren ganz eigenartigen Reiz.
Wunderbar ist es Lißmann beispielsweise ge-
lungen, die einsamen von Wasser- und Sumpf-
vögeln bevölkerten nordischen Landschaften in
ihrem schwermütigen Charakter wiederzugeben,
oder uns die großartigen Naturschönheiten Islands
vor Augen zu führen oder mit staunenswerter
Echtheit Seepapageien oder anderes Getier mit
ihrem eigentümlichen Gebahren zur Darstellung
zu bringen. Die Lebenswahrheit und die natur-
warme feine künstlerische Auffassung sind es, die
uns überall fesseln und die in trefflicher Weise
auch in den nichtfarbigen vom Verlage jetzt heraus-
gegebenen Reproduktionen seiner Werke zum
Ausdruck kommen. Kunstsinnige Naturfreunde
seien daher hiermit auf die Sammlung Lißmann
aufmerksam gemacht. R. Heymons.
Fricke, H., Der Fehler in Einsteins Rela-
tivitätstheorie. 28 Seiten. Wolfenbüttel
1920, Heckners Verlag. — Geh. 5,10 M. und
Teuerungszuschlag.
Derselbe, Die neue Erklärung der Schwer-
kraft. 24 Seiten. Wolfenbüttel 1920, Heck-
ners Verlag. — Geh. 3,30 M. und Teuerungs-
zuschlag.
Verf. sieht den Grundfehler der Einstein-
sehen Relativitätstheorie darin, daß in ihr alle
Körperbewegungen ohne Rücksicht auf das
Zwischenmedium, den Äther, untersucht werden.
Wenn es auch richtig ist, daß jede Frage nach
dem Mechanismus eines physikalischen Vorgangs
ohne die Einführung eines Zwischenmediums uns
gegenwärtig unlösbar erscheint, so übersieht er
jedoch, daß die Relativitätstheorie ihrer Natur
nach auf den Mechanismus der von ihr zu be-
herrschenden Erscheinungen überhaupt nicht ein-
gehen muß. Das „Prinzip von der Konstanz der
Vakuumlichtgeschwindigkeit" glaubt Verf auf ein
völliges Verkennen der Ergebnisse der Experi-
mentalphysik durch Einstein zurückführen zu
müssen. Er setzt an dessen Stelle ein „Prinzip
von der Konstanz der Zeit", dessen Sinn dem
Ref. nicht klar geworden ist.
Wie alle Erscheinungen an bewegten Körpern,
insbesondere die wichtigen Beobachtungen von
Fizeau, Michelson u.a., seiner Meinung nach
ohne jede Schwierigkeit auf der Grundlage eines
gewissen Äthermechanismus erklärbar werden,
sucht Verf. mit der Einführung einer eigenen Vor-
N. F. XX. Nr. 28
N aturwissenschaftliche Wochenschrift.
423
Stellung von der Konstitution des Schwerkraftfelds
zu zeigen. Diese Vorstellung wird in der an
zweiter Stelle genannten Schrift, die als Auszug
aus einer früher veröffentlichten umfassenderen
Darstellung erscheint, näher dargelegt. Die
Schwerkraftlinien werden als Strömungslinien des
Äthers angesehen, die den Massen Energie zu-
führen, welche teilweise in einer Erwärmung, teil-
weise in der Energie der fortschreitenden Be-
wegung der Gesamtmasse sich wiederfinden soll.
A. Becker.
Dacquö, Edgar, Geologie II (Stratigraphie).
Sammlung Göschen, Vereinig, wiss. Verleger.
56 Abb., 7 Tafeln. Berlin Leipzig 1920.
Dem letzthin hier angezeigten ersten Bändchen
ist das zweite schnell gefolgt. Es ist durch gleiche
Zuverlässigkeit und Gediegenheit ausgezeichnet.
Nicht auf einen vorübergehenden Eindruck auf
bloße „Leser" ist abgestellt, sondern auf nach-
haltige Beeinflussung Derer, die inneren Anteil
am Stoffe zu nehmen beabsichtigen. Fertige oder
vermeintliche Ergebnisse des derzeitigen Wissens-
standes treten zurück gegenüber bleibenden Me-
thoden. An Beispielen wird ihre Anwendung
erläutert. Das ganze Bändchen zielt auf das ideale
Endziel des wahren Lehrers hin : sich selbst beim
Schüler überflüssig zu machen.
Den Gesteinsablagerungen, der historischen
Folge geologischer Ereignisse, den einzelnen Zeit-
altern einschließlich der ältesten noch versteine-
rungslosen sind die vier Hauptabschnitte gewidmet.
Die eingebürgerten Bezeichnungen werden zum
Schluß in ihrer Bedeutung erklärt. Auch von
den Illustrationen kann in jeder Hinsicht Gutes
gesagt werden. Die Fossiltafeln sind nach den
Abbildungen des bewährten Zitt eischen Lehr-
buchs zusammengestellt. E. Hennig.
Eckstein, K., Die Schmetterlinge Deutsch-
lands mit besonderer Berücksichti-
gung ihrer Biologie. 3. Band. Spezieller
Teil, Fortsetzung. 3. Die eulenartigen Falter.
96 Seiten mit 16 Farbendrucktafeln. Schriften
des Deutschen Lehrervereins für Naturkunde
35. Band. Stuttgart 1920, K. G. Lutz. 15 M.
Den bisher erschienenen Bänden des Schmetter-
lingswerks, in denen die Tagfalter, Schwärmer
und Spinner behandelt wurden, reiht sich der vor-
liegende dritte Band über die Eulenschmetterlinge
würdig an. Die Farbentafeln, auf denen außer
den Faltern auch jedesmal die zugehörigen Raupen
und zum Teil auch noch die Puppen unserer ein-
heimischen Eulen dargestellt sind, können als
trefflich gelungen bezeichnet werden. Der Text
ist mit Sorgfalt bearbeitet. Bei jeder Art findet
sich neben der wissenschaftlichen Benennung auch
ein deutscher Name angegeben, ebenso sind kurze
Angaben über die Lebensweise oder über sonstige
Eigentümlichkeiten beigefügt. Möge das Buch,
dessen Anschaffung durch den billigen Preis er-
leichtert wird, eine weite Verbreitung finden und
dazu beitragen, daß auch in der gegenwärtigen
trüben Zeit die Freude am Sammeln und Be-
obachten unserer heimischen Schmetterlinge nicht
erlischt. R. Heymons.
Reicheno w, Prof. Dr. Anton, DieKennzeichen
der Vögel Deutschlands. Schlüssel zum
Bestimmen, deutsche und wissenschaftliche Be-
nennungen, geographische Verbreitung, Brut-
und Zugzeiten der deutschen Vögel. Zweite,
zeitgemäß umgearbeitete Auflage. 8*. 158 S.
81 Abbildungen. Neudamm, J. Neumann. Geb.
13 M., geh. 10 M. und Teuerungszuschlag.
Das bekannte, bei aller Kürze sehr exakt
durchgearbeitete Büchlein Reichenows wird
auch in dieser zweiten Auflage, die in manchem
Punkte ergänzt ist, sich alle die zu Freunden
machen, denen es um genaue faunistische Angaben
und um genaue Kenntnis der unterscheidenden
Organisationsmerkmale der in Deutschland stän-
dig oder gelegentlich beobachteten Vögel zu tun
ist. V. Franz, Jena.
Leick, A. und W., Physikalische Tabellen.
Zweite, neubearbeitete Auflage. 96 S. Samm-
lung Göschen 1920.
Das vorliegende handliche Bändchen enthält
eine kurze tabellarische Zusammenstellung ausge-
wählter mathematischer, astronomischer, geophysi-
kalischer und namentlich physikalischer Zahlen-
werte, die vornehmlich Lehrer und Studierende
zu rascher Orientierung gern zur Hand haben
werden. Die nicht behandelte Frage nach der
Genauigkeit der mitgeteilten Beobachtungswerte
wird beim Schulgebrauch im allgemeinen zurück-
treten. Immerhin ist es zu begrüßen, daß die
Verf. einige Literatur angeben, aus der im Be-
darfsfall nähere Einzelheiten zu entnehmen wären.
A. Becker.
Anregungen und Antworten.
Allerletzter Nachtrag zu meinen „historischen Bemerkun-
gen über die Singzikaden". — Wenn ich nach Jahren aber-
mals auf dasselbe bereits in der ,,Naturw. Wochenschr." und
in der „Leopoldina" behandelte Thema zurückkomme , so
bitte ich das damit erklären zu wollen, daß mir seit Jahr-
zehnten zum ersten Male Goethes „Italienische Reise" wieder
in die Hand fällt und mich durch ihre ewige Jugend, die
diesem Werke und seinem Verfasser beschieden ist, erfreut.
Ich stoße da auf die von mir in der „Leopoldina" (Heft LIII,
Nr. 17, Sept. 1917, S. 80) nach meinem Jenaer Kollegen V.
Franz zitierten Worte, zu denen Goethe bei seinem Eintritt
ins südliche Tirol veranlaßt wird und die ich bei meiner Nieder-
') Goethes Werke, 14. Band, S. 360 ff. , herausgeg.
von Karl Heinemann. Leipzig und Wien, Bibliographi-
sches Institut.
424
bJaturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F.'XX. Nr. 28
Schrift nicht im Zusammenhange mit dem Originale nachgelesen
hatte. Dabei gewinne ich die feste Überzeugung: wie ich mit
meiner Behauptung , die mich seinerzeit zur Veröffentlichung
der „Bemerkungen über die Singzikaden" veranlaßt hat,
Goethe habe in den bekannten Worten Mephistos im „Prolog
im Himmel" (Faust) versehentlich von Zikaden statt von
Heuschrecken gesprochen, im Recht zu sein beharre, so kann
ich mit genau dem gleichen, völlig zweifellosen Rechte be-
haupten, unser Reisender habe bei seinem Erlebnisse nicht daran
gedacht, von Zikaden, sondern von H euschreck en, wie
er sie nennt, zu berichten. Man höre, wie seine Worte lauten :
,,Das Glocken- und Schellengeläute der Heuschrecken ist aller-
liebst, durchdringend und nicht unangenehm; lustig klingt es,
wenn mutwillige Buben mit einem Feld solcher Sängerinnen um
die Wette pfeifen ; man bildet sich ein, daß sie einander wirklich
steigern. Auch der Abend ist vollkommen milde wie der
Tag."
Ich habe damals, ohne, wie gesagt, im Originale nach-
zulesen und im Zusammenhange mit Franzs Schilderung,
keinen Zweifel haben können, daß er hier die ,, Heuschrecken"
Goethes für Zikaden angesehen hat, und hinzugefügt ,,dann
sehe ich darin, daß er [Goethe] ganz im Banne der südlichen
Sonne stand und in schönen Tönen das noch schönere Italien
vorausempfand, daß er mit einem Worte mit den Sinnes-
organen des berauschten Jünglings empfand und Größeres
seiner Zukunft ahnte". Jetzt, wo ich die Schilderung unseres
Dichters selbst nachlese, sehe ich, daß er gar nicht daran
denkt, Zikaden zu hören, sondern eben wirklich das, was er
nennt: Heus ci recken und zwar Laubheuschrecken, die
auch bei uns zu Lande ganz besonders bei Eintritt des Abends
und in der Nacht, sofern es Männchen sind, dem stummen
anderen Geschlechte Gelegenheit bieten, sich den Sängern ,,in
die Arme" zu werfen. Für den Laien muß ich hinzufügen:
Goethe reiste im Herbste (im September), wo Zikaden nicht
mehr lärmen, was sie überhaupt nur beim heißesten Sonnen-
schein") bei Tage tun, während die Heuschrecken im
Frühjahre aus den Eiern schlüpfen und die längste Zeit ihres
Daseins als Larven sich die nötigen Vegetabilien suchen, mit
denen sie sich ernähren und die sie dem geschlechtsreifen
Zustande zuführen. Ihre durch Reibung der einen Flügel-
decke auf der anderen über ein ,, Schrillfeld" erzeugten
Töne haben einen durchaus nicht unangenehmen Klang,
sofern er den Menschen nicht etwa im Schlafe stört, wie
das in ganz ähnlicher Weise erzeugte Zirpen des nahe ver-
wandten Heimchens, in dessen Nähe ich nicht am heimischen
Herde sitzen möchte! Doch das sind Geschmackssachen, über
*) Der Italiener hat ein Sprichwort, aus dem die Zeit
des „Zikadengesanges" leicht zu entnehmen ist, ein Wort, das
beiläufig bemerkt, nicht ganz ohne sexuellen Beigeschmack
ist, den aber nur der ,, Kenner" versteht, namentlich auch
der Kenner eines an äquivalen Worten so unglaublich reichen
Dialekts, wie es der des neapolitanischen Volkes ist. Das
diätetische Sprichwort lautet „Quando canta la ciga, s'attacchi
al vino e lasci la — fica", zu deutsch : ,,wenn die Zikade
singt, nämlich in den Monaten Juni , Juli und August, halte
dich an den Wein und laß ab von der Feige". Im Deutschen
hat man einen ähnlichen Ratschlag, der aber wohl nur durch
mündliche Überlieferung bekannt ist.
die sich bekanntlich nicht streiten läßt. Genug, es genügt
für unsere Zwecke, daß Goethe Zikaden nicht gemeint
hati Q. e. d. Q. Taschenberg.
Woher stammt der Name Keppernickel ? Zum volkstüm-
lichen Namen „Keppernickel",' (Naturw. Wochenschr. XX,
Nr. 12, S. 191) für Bärwurz (Meum athamanticum) liest man
in Carus Sterne, Herbst- und Winterblumen: „Die mit
einem dichten braunen Haarschopf gekrönte, wie ein Borsten-
pinsel aussehende, und wie Angelika oder Liebstöckel duftende
Wurzel wurde früher bei Frauenkrankheiten angewandt und
deshalb Mutterwurz oder einfach Muttern genannt." Bärwurz
bedeutet also Gebärwurz. „Gebär" wandelte der Volks-
münd in ,,Keber" oder auch „Kepper". So nennt man auch
im hiesigen Orte die Schlüsselblume (Primula elatior) ,,Kälber-
glöckel"; der Name ist aus „gelbe Glöckchen" entstanden.
Noch ein weiteres Beispiel hierzu: Die Wallfahrtskirche auf
der „Kahlen Höhe" beim Dorfe Reichstädt i. Erzgeb. nannte
das Volk „Gallikirche". Die Kirche war aber nicht, wie
manche vermuteten, dem heil. Gallus geweiht, sondern sie
hieß eigentlich „Kahl'-Hieh'-Kirche", daraus entstand „Galli-
kirche". Hier ist k in g, in den beiden vorher genannten
Fällen aber g in k gewandelt worden. — Nickel, d. i. Racker,
nannte das Volk den Keppernickel , darin stimme auch ich
Kiengel zu, weil Meum athamanticum eine wertlose Futter-
pflanze ist im Gegensatze zur Alpenbärwurz (Meum Mutellina),
einer weniger stark duftenden und schmeckenden Abart. „Diese
soll als Weidekraut besonders zur Güte der Alpenmilch bei-
tragen, und auch die Gemsen fressen sie mit Vorliebe; auch
sollen die im Mittelalter als Arzneimittel hochberühmten
„deutschen Bezoar- oder Gemskugeln" (Aegogropilae) , die
man im Magen der Gemsen findet, nach Martins wesentlich
aus den zusammengeballten unverdaulichen Schopffasern der
Bärwurzel bestehen."
Obl. Zimmermann, Pretzschendorf i. Sa.
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fa ien, Käfer aus der Familie der Tenebrionidae. S. 422. Fr. Lißmann, Eine Sammlung seiner Werke. S. 422.
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Geologie II (Stratigraphie). S. 423. K. Eckstein, Die Schmetterlinge Deutschlands mit besonderer Berücksichtigung
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Physikalische Tabellen. S. 423. — Anregungen und Antworten: Allerletzter Nachtrag zu meinen „historischen Be-
merkungen über die Singzikaden". S. 423, Woher stammt der Name Keppernickel? S. 424. — Literatur: Liste. S. 424.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Guatav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganxen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 17. Juli 1921.
Nummer 29.
Wilhelm Ostwalds Forschungen zur Farbenlehre.
II. Farbuovmen, Farbeuvereine ; der Farbentag in München.
Von Hans Heller.
[Nachdruck verboten.]
Mit 4 Abbildungen.
Die neue psychologische Grundlegung der
Farbenlehre durch W. Ostwald') ergab als
natürliche Ordnung der reinen oder Voll-
farben den Farbkreis. Er besteht aus 100
Stufen, die von Zitronengelb ausgehend über Kreß,
Rot, Veil, Ublau, Eisblau, Seegrün, Laubgrün nach
Gelb zurückkehrend eine geschlossene Folge dar-
stellen, innerhalb deren zwei benachbarte Farb-
töne den für das normale Auge noch eben er-
kennbaren Unterschied besitzen.^) Der Farben-
kreis stellt die wissenschaftliche Grundlage dar,
auf die eine jede künftige messende Farbbe-
zeichnung sich zu beziehen haben wird. Die
praktische Verwendung gemessener Farben,
wie sie in der Webindustrie und vielen anderen
Zweigen des mit Farben in Berührung kommen-
den Gewerbes in Frage kommt, bedarf der feinen
und mannigfaltigen Hundertteilung jedoch nicht.
Für sie kommt es darauf an, aus der Fülle der
möglichen Farben, von der der Farbenatlas (I)*)
eine Vorstellung verschafft, eine begrenzte Anzahl
der gebräuchlichsten Töne und ihrer Abkömm-
linge herauszuheben und für den allgemeinen Ge-
brauch bereitzuhalten. Auch der Unterricht in
der neuen Lehre erfordert eine Einschränkung
des Kreises, um zumal den jugendlichen Schüler
nicht durch Unübersichtlichkeit der Farbenfülle zu
verwirren und ihm damit die Lust zum Farben-
studium zu nehmen. Aus solchen Erwägungen
heraus erwuchs die Forderung, die Farben zu
normen, d. h. ihrer täglichen Verwendung ein
abgekürztes Schema von gemessenen und leicht
wiederzugebenden Tönen zugrunde zu legen. Ganz
ähnlich, wie es die meisten Industrien, besonders
nach dem Kriege, mit ihren häufigst gebrauchten
Erzeugnissen zu tun begonnen haben; es sei an
die Normung von Gewinden, Glasgeräten usw.
erinnert.
Für die Normung der Farben kommen zu-
nächst die dem Beschauer ohne weiteres in die
Augen fallenden Hauptfarben des hundertteiligen
Kreises in Betracht. Es sind deren acht, die
oben bei der kurzen Kennzeichnung des Kreises
bereits genannt worden sind. Sie sind die sich
') Vgl. den ersten Aufsatz vom Verf., Naturw. Wochenschr.
N. F., XIX, S. 129, 1920.
*) KreßOrange, Veil- Violelt. Die Einwendungen von
Seitz{XVII) gegen diesen guten deutschen Namen sind nicht
stichhaltig.
') Die römischen Ziffern verweisen auf die Literatur-
zusammenstellung.
zunächst anbietende Grundlage einer Normung.
Aber sie reichen offenbar nicht aus, da die „Sprünge"
zwischen ihnen zu groß sind. Ostwald macht
darum eine Unterteilung in je 3 Stufen, so daß
man erhält ein erstes, zweites, drittes Gelb und
so fort. Er ergeben sich mithin 3 X 8 := 24 Stufen
(Abb. i). Diese sind die Stufen des genormten
Farbenkreises, also die Grundlage der praktischen
Selb
Seegrün
Eisblau
Kress
Rot
Ublau'-^^^^t^- ■^Veil
Abb. I. Der 24 teilige Farbkreis.
Farbkunde. Hier ergibt sich nun eine erste Un-
ebenheit in der Farbnormung überhaupt. Der
hundertteilige wird auf einen 24 teiligen Kreis
eingeschränkt, aber beide Zahlen stehen nicht im
Verhältnis eines einfachen, geraden Vielfachen zu-
einander. Drückt man die 24 Stufen in den da-
zugehörigen Ziffern des großen Kreises aus, so
sind mithin die jeweiligen Unterschiede (rein
zahlenmäßig I) nicht gleich, wie aus der folgen-
den Tabelle zu ersehen ist.
Es entsprechen den 24 Stufen die folgenden
24 Farbtöne des hundertteiligen Kreises:
L IL III. I. II. III.
Gelb
00
04
08
Ubläu
50
S4
58
Kreß
1.3
17
21
Eisblau
63
67
71
Rot
25
29
.33
Seegrün
7S
79
83
Veil
38
42
46
Laubgrün
88
92
96
Den genormten Farbenkreis dieses Aussehens
findet man bildlich dargestellt, allerdings in durch
die mangelhafte Drucktechnik bedingter unvoll-
kommener Weise, z. B. in der „Einführung" (II),
sowie in der „Farbenlehre" von v. Bezold-
S e i t z (XVII). Es ist zu beachten, daß dieser ge-
normte Kreis nur Voll färben enthält. Durch
426
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XX. Nr.
die mannigfache Teilmöglichkeit von 24 dürfte er
in der Tat die beste Grundlage der Farbnormung
darstellen, auch deshalb, weil er sich zwanglos an
die vier Grundempfindungen der Farbe im Sinne
der Theorie von Hering anschließt. Wenn darum
T r i 1 1 i c h (IX) das an sich doch geringfügige Miß-
verhältnis 24:100 (s. o.) als „Vergewaltigung" be-
zeichnet, so muß dieser sonst einsichtige Kritiker
gefragt werden, in welcher Weise eine Normung,
deren Wünschbarkeit und Notwendigkeit nicht
bestritten wird, denn anders vorgenommen wer-
den kann (vgl. XX).
Nun besteht jeder farbige Aufstrich außer aus
der reinen Farbe aus einem Anteil Weiß und
Schwarz. Jeder dieser beiden Anteile kann
innerhalb bestimmter Grenzen die beliebigsten
Werte annehmen. Beide mischen sich psycho-
logisch zum neutralen Grau. Es sind mithin
von jedem reinen Farbton des 24 teiligen Kreises
die folgenden Gruppen von Abkömmlingen mög-
lich: I. die Mischungen des reinen Farbtons mit
Weiß, die hellklaren Farben, 2. die Mischungen
der Vollfarbe mit Schwarz, die dunkelklaren
Farben, endlich 3. die Mischungen der Vollfarbe
mit neutralem Grau, die t r ü b e n Farben. Graphisch
stellt sich die Gesamtheit dieser Abkömmlinge
eines gegebenen Farbtons dar in einem gleich-
seitigen Dreieck, an dessen Ecken Vollfarbe, Weiß
und Schwarz stehen (Abb. 2). Die nächste Forde-
rung der Farbnormung ist damit gegeben. Es
handelt sich einfach daruiji, die Mannigfaltigkeit
der neutralen Grau töne innerhalb der Grenzen
Schwarz und Weiß einzuschränken.
Abb. 2. Farbtongleiches Dreieck.
Der Leitgedanke, nach dem dies zu geschehen
hat, ist ein wenig anders als für die bunten Farben.
Diese sind geordnet nach dem unmittelbaren
psychischen Eindruck, der (wenigstens bei nor-
maler Beleuchtung und mit hier nicht in Betracht
kommenden geringfügigen Ausnahmen) einzig
durch den Ton bestimmt ist, da sich ihm ja
keine weitere Komponente beigesellt. Anders bei
den unbunten Farben. Sie liegen graphisch auf
einer Geraden, an deren Enden das reine Weiß
einer-, das reine Schwarz anderseits stehen. Be-
kanntlich besteht nun die Tatsache, daß wir
zwischen beiden Grenzen nicht unendlich viele,
sondern nur eine begrenzte Zahl von Stufen zu
unterscheiden vermögen, deren Größe man als
„Schwellenwert" in der Psychologie oft behandelt
hat. Und zwar ist für unser Empfinden ein
gleicher Abstand jener Stufen innerhalb der Grau-
reihe dann vorhanden, wenn der Quotient der
jeweiligen Weiß- und Schwarzanteile der gleiche
ist. Eine für unser Empfinden gleichabständige
oder arithmetische Reihe der unbunten Farben
liegt also dann vor, wenn die Weißanteile im
geometrischen Verhältnis sich verändern, d. h.
so, daß der Quotient je zweier aufeinander folgen-
der Glieder der Reihe derselbe ist. Diese Be-
ziehung bildet nur einen Sonderfall des Weber-
Fee h n e r sehen Gesetzes. Will man die unbunten
Farben also normen, so hat man eine geometrisch
gestufte Teilung der sie symbolisierenden Geraden
vorzunehmen. Dies ist in Abb. 3 veranschaulicht,
deren Bedeutung man ohne weiteres erkennt.^)
Die geometrischen Mittelwerte der auf der hier
W (
3 00
Abb. 3. Psychisch gleichabständige Graureihe.
abgebildeten Geraden abgeschnittenen Stücke sind
mit Buchstaben bezeichnet. Diese stellen die
für unser Auge gleichabständigen Grau-
werte ziffernmäßig dar; beispielsweise ist a ein
Grau mit 89 Weiß, also mit li Schwarz, wenn
100 = absolutem Weiß angenommen wird. Nun
zeigt sich, daß man in der Praxis nicht die in
der Abbildung ausgedrückten engen Graustufen
benötigt, sondern auch auskommt, wenn die je-
weils zweit folgende Stufe ausgelassen wird.
Die alsdann verbleibende Graureihe liegt den ge-
normten Grau zugrunde. Ostwald bricht sie
willkürlich bei / ab, obwohl diese Stufe mit 3,6
Weiß und 96,4 Schwarz offensichtlich noch nicht
das absolute Schwarz darstellt. Dies geschieht
wiederum aus der praktischen Erfahrung heraus,
daß alle bekannten und gemessenen schwarzen
Pigmente einen gewissen Weißanteil enthalten.
Ja, schon die Stufe p wird nicht eben oft erreicht.
Doch macht andererseits Krüger (X) darauf auf-
merksam, daß für die bildende Kunst die /i-Stufe
eine Beschränkung darstelle, die gelegentlich über-
schritten werde. Ich lasse das dahingestellt. Für
unser Thema ergibt sich jedenfalls aus der Normung
der Graureihe eine Folge von 8 für das Empfinden
gleichabständigen Stufen. Wie haben wir die ge-
normten Grau den reinen Farben zuzuordnen?
Diese letzte Aufgabe der Normung erledigt sich
fast von selbst.
Wir tragen im farbtongleichen Dreieck (Abb. 4)
auf der Seite SW, die ja die unbunte Graureihe
symbolisiert, die Folge der soeben gewonnenen
8 Graunormen acegilnp ab und ziehen durch
die erhaltenen Punkte zu RS und RW die Paral-
lelen. Dann stellen die gewonnenen rautenför-
migen Felder die Gesamtheit der (genormten)
Abkömmlinge eines Farbtons dar. Längs RW
liegen die (optischen) Mischungen des reinen
Tons mit Weiß, die hellklaren Farben, längs RS
*) Bildliche Wiedergaben einer Graureihe siehe z. B.
in II. „Grauleitern" mit den 8 unbunten Normen sind auch
käuflich zu haben.
N. F. XX. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
427
die dunkelklaren Farben, inmitten befinden sich
die trüben Farben. Bricht man mit Ostwald
die Graureihe mit / ab, so gewinnt man mithin
von jedem reinen Ton des 24tei!igen Farbkreises
28 Abkömmlinge. Wenn man schließlich sämt-
lich 24 farbtongleichen Dreiecke so anordnet, daß
ihre SW-Seiten zusammenfallen, ihre Flächen aber
strahlenförmig nach den verschiedenen Richtungen
im Raum auseinanderlaufen derart, daß die Voll-
farben sich kreisförmig um die Schwarz - Weiß-
Achse ordnen, so hat man den genormten
Farbkörper, der der Veröffentlichung Ost-
walds zugrunde liegt, mit insgesamt 680 Farben
Abb. 4. Genormtes farbtongleiches Dreieck.
Nun ist noch zu erörtern, wie die Bezeichnung
der genormten Abkömmlinge jedes Farbtons
zu geschehen hat. Zweckmäßig so, daß man der
Farbtonnummer den Buchstaben des jeweiligen
Graugehalts anfügt. Nach dem von Beginn der
neuen Lehre an befolgten Grundsatz ist die Reihen-
folge im Namen der drei Farbkomponenten : Voll-
farbe, Weiß-; Schwarzgehalt, R + W + S (vgl. »)).
Demgemäß enthalten die genormten Farben zwei"
Ziffern für den Farbton, einen Buchstaben für den
Anteil an Weiß, einen für den Schwarzanteil.
Für Hellklaren würden Ziffer und ein Buchstabe
ausreichen, da ein Schwarzanteil ja fehlt. Doch
ist Ostwalds Vorschlag bequemer und deut-
licher, auch hier den Buchstaben des Schwarz-
anteils zu nennen. Das Zeichen 16 ga nämlich
läßt sofort erkennen, daß wir es mit einer Farbe
des geringsten Schwarzgehaltes, also mit einer
hellklaren Farbe zu tun haben. So bekommt
demnach jede genormte Farbe an Stelle der für
den 100 teiligen Kreis gebräuchlichen „Kennzahl"
em „Farbzeichen" aus zwei Ziffern und zwei
Buchstaben. Diese Farbzeichen sind in das Drei-
eck der Abbildung eingefügt. Über seinen Sinn
wird man sich sofort klar, wenn man sich die
ihm zugrunde gelegte Bezifferung der Grauleiter
nochmals vorstellt. Hier ist a ein Grau mit dem
höchsten Weiß, also mit dem geringsten
Schwarz. Mit dem alphabetischen Fortschreiten
also nimmt Weiß ab, Schwarz zu. Hohem Weiß
entspricht unter allen Umständen ein niedriges
Schwarz, dessen Betrag nie über die Ergänzung
des Weißanteils zu 100 gehen kann. Im Farb-
zeichen muß mithin der dem Schwarz ent-
sprechende Buchstabe immer kleiner, d. h. im
Alphabet dem ersten voranstehend sein. ^) Farb-
zeichen mit In sind nicht möglich. Endlich ist
für die Kenner bzw. Benutzer der früheren Ver-
öffentlichungen Ostwalds darauf aufmerksam
zu machen, daß die Farbzeichen des Atlas mit
denen der genormten Farben nicht übereinstimmen,
da jene ein Gebiet, diese einen bestimmten
Wert ausdrücken. Bedauerlicherweise ist auch
die Herstellung des Farbkörpers unter etwas
anderen als den hier mitgeteilten Voraussetzungen
erfolgt, so daß die Normen hier und dort nicht
völlig übereinstimmen (vgl. IV). Völlig im Sinne
dieser neuen Normen sind dagegen alle mit einer
entsprechenden Bezeichnung versehenen Ver-
öffentlichungen der Energie werke G.m.b.H.,
Groß-Bothen, zurzeit die einzige Stelle, die unter
ständiger Aufsicht Ostwalds alle ihre Erzeug-
nisse den Normen so genau anpaßt, als es nur
irgend möglich ist. Von den zahlreichen Lehr-
und Lernmitteln sei u. a. genannt eine Anzahl
sog. „Farborgeln", die eine Sammlung genormter
Farbstoffe bzw. Tünchen in Pulvern und Wasser-
tünchen darstellen.
Die Vorteile, die eine durchgängige Anwen-
dung der quantitativen Farbbezeichnung für alle
mit der Erzeugung farbiger Gegenstände beschäf-
tigten Industriezweige mit sich bringen würde,
brauchen nicht geschildert zu werden. Es ver-
hält sich damit ähnlich wie mit genormten Gegen-
ständen der Eisen-, Glas-, Holzbearbeitungs- und
Bauindustrie. Vielleicht nicht jede Fabrik als
solche, aber doch die Gesamtheit, ganz sicher aber
die Verbraucher der genormten Erzeugnisse
werden bald der vielfältigen Segnungen jener ver-
meintlichen Einschränkung inne. Vor allem
für uns Deutsche muß zudem immer wieder be-
tont werden, daß wir uns den Luxus aller be-
liebigen Willkürlichkeiten in unseren Erzeugnissen
jetzt nicht mehr gestatten dürfen! Je schlichter
und übersichtlicher wir das Heer unserer farbigen
Erzeugnisse gestalten, auf je weniger reine Farb-
töne bekannten Gehaltes wir uns beschränken,
um so größer ist notwendigerweise die Ersparnis
an kostbarer Zeit und Materialien, die heute durch
langwieriges Ausmustern, Probefärben usw. ver-
loren gehen (vgl. VII, S. 39). Möchten unsere
Farbenhersteller solcherlei Gesichtspunkte anstelle
des Bestrebens, ständig „aparte Neuheiten" auf
den Markt zu bringen, walten lassen.
Etwas anderes kommt hinzu. Mit Hilfe der
genormten gemessenen Farben glaubt Ostwald
eine wissenschaftlich begründete Harmonie-
lehre der Farben aufstellen zu können, in ähn-
licher Weise wie dies H e 1 m h o 1 1 z für die musi-
kalischen Harmonien gelungen ist (V). Kaum ein
Teil der Ostwald sehen Lehre, hat derart häufige
und hartnäckige Angriffe erfahren wie dieser erste
Versuch einer rationell begründeten Farbenhar-
») Demgemäfl ist ein Beispiel wie 17 ai falsch, das sich
in einer Besprechung in der „Tägl. Kundschau" 40, Nr. 244
1920, vorfindet. ^^
428
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 29
monik (vgl. z. B. XVIII). Der Verf. muß auf Grund
seiner Kenntnis der Forschungen Ost walds, auf
Grund eigener iVIessungen und nach Kenntnis-
nahme der gegnerischen Abhandlungen allerdings
bekennen, daß wohl selten über ein Thema derart
aneinander vorbeigeredet wird wie hier. Es liegt
außerhalb des Rahmens dieser Zeitschrift, diese
Auffassung näher zu begründen. Das Wesentliche
ergibt sich aus dem Folgenden ohnehin.
Betrachtet man den 24 teiligen Kreis der Voll-
farben, so ist ohne weiteres gegeben, daß ihm die
grundsätzlich gleichen Symmetrieverhältnisse inne-
wohnen wie dem loo teiligen Kreis. Für diesen
war nun schon in den ersten Abhandlungen be-
merkt worden, daß er in die beiden Hauptgruppen
der „warmen" und „kalten" Farben geschieden
werden kann, eine Erkenntnis, die sich jedem
einigermaßen Sachverständigen aufdrängt, ohne
daß eine Willkür oder Absicht das Empfinden
dabei etwa täuschte. Ein gleich unmittelbarer
Gefühlswert wohnt nun aber auch gewissen Zu-
sammenstellungen einzelner Farben des Kreises
inne. Und zwar sind es Zusammenstellungen
solcher Vollfarben , die im Kreise gleich-
abständig liegen; insbesondere empfinden wir
sehr viele Gegenfarben als „zueinander pas-
send" (VI). Allerdings muß streng darauf ge-
achtet werden, daß man solchen Beziehungen die
richtige Grundlage gibt: nicht jeder beliebige
Farbenkreis weist die soeben beschriebenen Ver-
hältnisse auf, sondern eben nur der auf exak-
ter iVIessung beruhende (genormte) Kreis.
Wir wollen die Ursachen der so sich gewisser-
maßen selbsttätig einstellenden „harmonischen"
Empfindungen unerörtert lassen; genug, daß über-
haupt gewisse Farbenzusammenstellungen als be-
sonders „angenehm" festzustellen sind. Aber wir
dürfen nunmehr auch umgekehrt schließen, daß,
wenn wir zueinander passende Vollfarben suchen,
wir sie am sichersten und leichtesten dann
finden werden, wenn wir gleichabständig gelegene
Stufen des genormten Kreises auswählen. Nie-
mand, der VoUfarbenharmonien sucht, ist durch
das Bestehen eines genormten Kreises ver-
pflichtet, seine Bemühungen dadurch abzu-
kürzen, aber andererseits sollte es niemandem
verwehrt sein, sich jenes gewissermaßen mecha-
nischen Mittels zu bedienen. Durch die Nicht-
anerkennung dieses dem Außenstehenden beinahe
selbstverständlichen Satzes seitens vieler Künstler
ist der O st wald sehen Farbenharmonielehre das
erste und gewichtigste Hindernis erwachsen. An
dieser Stelle kann naturgemäß nicht Partei er-
griffen werden, da der Leser das Beweismittel der
Farben selbst nicht vorgeführt bekommt, und es
muß zu diesem Zweck auf die einschlägigen Ver-
öffentlichungen (III, I) verwiesen werden. Nur sei
berichtet, daß auf Grund des vor allem bei der
Farbentagung in München (31. Jan. bis 2. Febr.
1921) aufgetretenen Widerspruchs solcher Leute,
die „Harmonien" lieber intuitiv schaffen mögen,
Ost wald den Ausdruck „Farbenharmonien" auf-
gegeben hat und statt dessen den Begriff „Farben-
verein" einführte. Und es gilt nun im allge-
meinen die Beziehung, daß Farbenvereine eine
harmonische Wirkung ausüben. Damit ist nicht
gesagt, daß nur solche Harmonien ästhetisch
wertvoll seien; wie in der Musik arbeitet man
auch in der Malerei zuweilen mit bewußt emp-
fundenen Disharmonien, die dennoch durchaus
ästhetisch zu wirken vermögen.
Bisher handelte es sich nur um vollfarbige,
also bunte Farbenvereine. Die hierfür gültigen
Betrachtungen lassen sich jedoch auch auf die
Gesamtheit aller anderen Farben übertragen. Für
die unbunten Farbenvereine benötigt man
natürlich drei Stufen zur einfachsten Harmonie,
die wiederum gleich sein müssen. Also beispiels-
weise cg l (vgl. Abb. 2). Um Farbenvereine unter
den trüben Farben herauszuheben , betrachte
man das farbtongleiche Dreieck. Hier enthalten
die in Richtung RW liegenden Felderreihen den
gleichen Anteil an Schwarz, wir heißen sie darum
auch die Schwarzgleichen, die RS parallelen
Felderreihen stellen dementsprechend die Weiß -
gleichen dar, und die parallel WS liegenden Felder-
reihen besitzen den gleichen Gehalt an reiner
Vollfarbe , es sind die Reingleichen, oder,
da in ihnen allen der gleiche bunte Farbtonanteil
von wechselnden Mengen Grau getrübt oder be-
schattet ist, so kann man sie auch Schatten -
reihen nennen. Farbtongleiche Vereine liegen
nun in allen gleichabständigen Abkömmlingen
jeder der drei Arten von Reihen vor, z. B. inner-
halb der weißgleichen pReihe: pa, pg, pn. In
der mit ca beginnenden Reingleichen: ca, g e, li,
pn. Aber auch schon die nichtgeteilte Reihe
wirkt infolge der gleichmäßigen Veränderung
„harmonisch", wie am einfachsten aus dem Be-
trachten einer Graureihe oder Grauleiter hervor-
geht.
Nun gewährleistet einzig und allein die Farben-
messung eine eindeutige und immer wiederhol-
bare Kennzeichnung irgendeines Farbtons. Und
die (an dieser Stelle allerdings nicht demonstrier-
bare) Erfahrung lehrt, daß die auf Grund der
Messung bzw. Normung zu gewinnenden Farben-
vereine von besonderem ästhetischen Wert sind.
Es ist darum nur zu verständlich, daß Ost wald
von seinen Ergebnissen reiche Befruchtung auch
der Kunst erhofft, nicht im Sinne einer Be-
kehrung derjenigen Maler, bei denen neben der
Farbe die F"orm ein wesentlicher Bestandteil
ihrer Werke ist. Vielmehr in der Richtung einer
reinen Farbkunst, die nur Farben, farbige
Harmonien und zeitlich aufeinander folgende
Farbeindrücke zum Mittel ästhetischer Genüsse
nimmt. In den Erzeugnissen der farbenfrohesten
Expressionisten sieht er Vorläufer jener „reinen
Farbkunst". Sie liegt außerhalb des Rahmens
dieser Betrachtung. H. L. Stoltenberg hat
ihr eine besondere Schrift gewidmet (VIII). —
Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf
die praktische Wirkung und den Ausbau der Ost-
N. F. XX. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
429
w aidschen Forschungen und Lehren. Ihre viel-,
seitige Anwendbarkeit zeigt eine große Anzahl inT^
Fachzeitschriften erschienener Aufsätze, von denen
am Schluß eine Zusammenstellung gegeben wird.
Der Verbreitung der Lehre dienen die Farben-
tagungen, deren bereits in mehreren Groß-
städten abgehalten wurden. Hervorzuheben ist
davon die Tagung in München, da bei ihr die
meisten Angriffe gegen die Lehre geschahen, die
zur Klärung der Sachlage wesentlich beitrugen (VII).
Viele Einwürfe trafen nicht das Wesen der
Sache. Dies ist und bleibt die Messung der
Farbe I Will man aber die quantitativen Ergeb-
nisse solcher Messung demonstrieren, so ist
eine Abbildung gemessener Farben nötig. Nun
sind eine große Anzahl gerade der reinsten, also
grundlegenden Farben z. Z. n u r durch Aufstriche
von Teerfarbstoffen abzubilden. Die aber
sind nicht sehr lichtecht. Die Künstlerschaft be-
ansprucht aber mit Recht nur echtes, beständiges
Material. Darum jedoch die pädagogisch heut
einfach unersetzlichen und nötigen Teerfarbstoffe
abzulehnen und damit die Lehre ihres Ausdrucks-
mittels zu berauben, ist anmaßlich und mir nicht
verständlich. Man scheide grundsätzlich zwischen
Kunst 1er färben und Lehr färben, rechne den
ersten nur echte Tünchen, den zweiten auch
minderbeständige Materialien zu, so ist bei doch
leicht nachzuprüfender Gewissenhaftigkeit der Farb-
stoffindustrie ein ernsthaftes Mißverständnis
so gut wie ausgeschlossen. — Auch die Harmo-
nien mag der Künstler auf sich beruhen lassen.
Das ist kein Grund, daß die Industrie sich ihrer
nicht mit Vorteil bediene, wie das Beispiel der
Meißner Porzellanmanufaktur beweist. Bei dieser
Gelegenheit sei übrigens betont, daß Ostwald
einen inhaltlichen Vergleich von Färb- und
akustischen Harmonien sehr richtig ablehnt; sind
sie doch in der Tat wesensverschieden.") —
Endlich ist gegenüber manchen Seiten zu be-
merken, daß die Einführung der Farbenlehre in
den Schulunterricht schon heut möglich ist, wenn
man sich auf den Vortrag eines abgekürzten
Systems beschränken würde. Ein solches erläutert
Ostwald selbst (IV, 6); es würde sich aufbauen
auf die genormte Graureihe aein. Eine Er-
leichterung und Verbilligung bedeutet es auch,
daß man bunte Farben nach einem sehr eigen-
artigen Gedanken Ostwalds mit jedem Schreib-
material stenographieren kann (IV, 7). Es
wird hierbei jeder der 8 Hauptfarben des Farb-
kreises eine besondere Strichlage zugeordnet,
ähnlich wie es in der Wappenkunde schon üblich
") Trillich (IX, S. 78) kritisiert also etwas, was Ost-
wald selbst entschieden ablehnt. Auch die kürzlich von
O. Hartmann im „Kosmos" mitgeteilten Beziehungen zwischen
Farben und Tönen müssen lediglich als feuilletonistische Be-
merkungen bewertet werden.
ist. Die Deutsche Tusche wird uns in ge-
wissen Grenzen von den teuern und oft sogar
minder guten Erzeugnissen des Auslandes unab-
hängig machen.
Ich fasse mich dahin zusammen: der heutige
Stand der Farbenlehre erlaubt ihre allgemeine An-
wendung in industrieller und zum Teil auch in
künstlerischer Absicht, sowie in gewissen Grenzen
im Schulunterricht. Aus volkswirtschaftlichen
Gründen ist die Normung aller Farbstoffe der In-
dustrie notwendig, der des Künstlers er-
wünscht. Es bleibt die Aufgabe der wissen-
schaftlichen Forschung, die Theorie des Farben-
sehens überhaupt, die der Kontrasterscheinungen
im besonderen zu erkennen. Aufgabe der Farb-
stoffindustrie ist die Auffindung und Herstellung
von Stoffen größter Reinheit bei größtmöglicher
Beständigkeit. Als Mittelstelle dieser vielfältigen
Arbeit hat bis auf weiteres die Werk st eile für
Farbkunde in Dresden zu gelten (XII).
Literatur.
I. W. Ostwald, Der Farbenatlas. 2500 Farben auf 103
Tafeln. Leipzig 19 18.
II. — — , Einführung in die Farbenlehre. Leipzig 1920.
Reclam.
lü. — — , Der Farbkörper. 12 Tafeln mit Text. Leip-
zig 1919.
IV. , Die Farbe. Sammelschrift für alle Zweige
der Farbkunde. Leipzig. Nr. 8, 1921.
V. — — , Die Harmonie der F'arben. 2./3. gänzlich um-
gearbeitete Auflage. Leipzig 1921.
VI. , Welche Farben passen zueinander? Textil-
ber. über Wissensch., Industrie u. Handel, I, S. 256, 1920.
VII. Farbentagung in München. Bayerisches Industrie-
u. Gewerbeblatt, 1921, S. 32, 41.
VIII. Stoltenberg, Reine Farbkunst in Kaum und Zeit.
Leipzig 1920. (Erwägung „bunter Filmfarbspiele" u. ä.)
IX. H. Trillich, Farbenlehre und Farben-Normung.
Zeitschr. f. öpfentl. Chemie, 27, S. 75, 1921.
X. F. A. O. Krüger, Farbnormen in der Praxis. Die
Farbe, Nr. 2, 1921.
XI. W. Ostwald, Zur Dreifarbenfärberei. Monatsschr.
f. Textilind., 35, S. 109, 1920.
XII. — — , Die Werkslelle für Farbkunde. 4. Aufl.
Leipzig 1920.
XIII. — — , Die neue Farbenlehre und ihre praktische
Anwendung. Verhandl. d. Ver. z. Beförderg. d. Gewerbe-
fleifies, 1920, S. 132.
XIV. P. Krais, O.s Farbenlehre in der Textilindustrie.
Textilforschung, 2, S. 87, 1920.
XV. R. Hünlich, Anwendung der Farbenlehre in der
Weberei. Monatsschr. f. Textilind., 25, S. 29, 1920.
XVI. R. Fischer, Die O.sche Farbenlehre und die Buch-
und Steindruckfarbenfabrikation. Zeitschr. f. angew. Chemie,
33, I, S. 299, 1920.
XVII. V. Bezold-Seitz, Die Farbenlehre im Hinblick
■auf Kunst und Kunstgewerbe. Braunschweig 1921.
XVIII. Ctitz, Gibt es für den Künstler verbindliche Ge-
setze der Farbenwahl? Deutsche Kunst u. Dekoration. XXIV,
S. 335, 1921.
XIX. Georg Gach, Die Farbenlehre von W. Ostwald
in der Färberei. Zeitschr. f. d. ges. Textilindustrie 1920,
S. 296; 1921, S. 3, 138, 148.
XX. H. Heller, Farbenlehre und Farbennormung. Zeit-
schrift f. öffcntl. Chemie, 27, S. 112, 1921.
430
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 29
Äther und Relativitätstheorie.
Von Gerd Nickel.
Mit 4 Abbildungen im Text.
Einstein auf Grund seiner keren Bewegungsänderung der näher am Energie-
[Nachdruck verboten. 1
Bekanntlich ist
Relativitätstheorie zu der Auffassung gelangt, daß
der Äther als Träger der Licht- usw. -Ausbreitung
abzulehnen sei. Im Folgenden möchte ich nun
ganz kurz zeigen, daß es auch bei Annahme des
Äthers möglich ist, verschiedene wichtige Ergeb-
nisse der Relativitätstheorie und noch anderes
darüber hinaus zu erklären.
Nach der bekannten Vorstellung nehme ich
an, daß der Äther existiert als ein äußerst dünner,
kontinuierlicher unzerreißbarer Stoff von sehr
großer, aber endlicher Elastizität. Weiter setze
ich voraus, daß in diesem Äther, den ich mir
unseren ganzen Raum zunächst gleichmäßig er-
füllend denke, Trägheit besitzende Energiezentren
vorhanden sind, deren Energie sich darin äußert, daß
sie die Fähigkeit haben, den Äther um sich her-
um zu verdichten. Diese Energiezentren identi-
fiziere ich mit den „Elektronen". Ein Elektron
ist also weiter nichts als eine Verdichtung des
;\thers.
Zentrum liegenden Ätherteile. Bewegt sich das
Energiezentrum aber mit größerer Geschwindig-
keit, so erreicht die Bewegungsänderung des
Äthers in einem viel größeren Raum um das
Energiezentrum einen merkbaren Betrag und diese
bedeutend größere jetzt in Bewegung befindliche
Äthermenge macht nun die Masse des Elektrons
aus,' d. h. die Masse des Elektrons wächst mit
seiner Geschwindigkeit.
Ich betrachte nun die Bewegung eines Äther-
punktes a (Abb. 3) bei langsamer Annäherung eines
Energiezentrums e. Der Ätherpunkt a möge seine
Ruhelage bei i haben, wenn sich das Energiezentrum
e im Unendlichen befindet. Ist e bis 2' gekom-
men, so wird a etwa bis 2 gekommen sein usw.
Ist schließlich e bis f gekommen, so ist a bis in
die allernächste Nähe von e gerückt, entsprechend
der Elastizität des Äthers, denn in e herrscht ja
immer die ganz bestimmte Ätherdichte des Elek-
trons. Analog ist die Bewegung von a bei Ent-
fernung von e. Im ganzen wird a also eine ge-
schlossene Kurve beschreiben.
Abb. I. Abb. 2.
e ^ Energiezentrum Graphische Darstellung der ,\ther-
und Mittelpunkt des dichte in der Umgebung eines
Elektrons und Punkt Energiezentrums,
größler Ätherdichte.
Die Kreise sind Linien
gleicher Ätherdichte
um e (ruhendes Elek-
tron).
Wenn sich nun ein Elektron bewegt, geschieht
das dadurch, daß das Energiezentrum fortschreitet,
während der Äther, der das Elektron bildet, fort-
während wechselt. Bei der Bewegung eines Elek-
trons ist der Vorgang also der, daß der Äther
von allen Seiten herbeiströmt zum ankommenden
Energiezentrum — denn um dasselbe herrscht ja
immer die spezifische Ätherdichte des Elektrons
— und wenn das Energiezentrum vorüber ist,
wieder fortströmt.
Ein ruhendes — oder besser ein unendlich
langsam sich bewegendes Elektron — hat dann,
da wir die Masse ja durch eine Bewegungsände-
rung messen, nur die Masse der in nächster Nach-
barschaft des Energiezentrums liegenden Äther-
menge, weil die Bewegungsänderung der entfernter
liegenden Teile zu gering ist, um einen meßbaren
Beitrag zu liefern gegenüber der bedeutend stär-
Abb. 3.
Nehmen wir nun an, daß e mit größerer
Geschwindigkeit als vorher vorübereilt, so wird a
nicht mehr dieselbe Kurve beschreiben, sondern,
infolge der endlichen Elastizität des Äthers eine
flachere Kurve, etwa die gestrichelte. Ist nun die
Geschwindigkeit von e noch größer, so wird
schließlich bei einer bestimmten, von der Elasti-
zität des Äthers abhängigen Geschwindigkeit das
Teilchen a nur noch in einer geraden Linie senk-
recht zur Fortbewegungsrichtung von e schwingen.
Denke ich mir nun die Geschwindigkeit von
e noch größer, so wird a — infolge der end-
lichen Elastizität des Äthers — in der Zeit, die e
vom Unendlichen bis 7' braucht, gar nicht mehr
bis 7 gelangen können, sondern nur etwa bis zum
Punkte P kommen, d. h. die zur Bildung eines
Elektrons nötige Äthermenge wird nicht in 7 zu-
sammenkommen, es wird also in 7 kein Elektron
vorhanden sein. Für die Bewegung eines Elek-
trons wird es also eine ganz bestimmte Grenz-
geschwindigkeit geben, das ist eben die Licht-
geschwindigkeit c. Die Lichtgeschwindigkeit
N. F. XX. Nr. 29
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
43«
selbst ist bestimmt durch die endliche Elastizität
des Äthers.
Nach unserer Annahme ist ein Elektron —
negative elektrische Ladung — weiter nichts als
eine durch ein Energiezentrum hervorgerufene
Verdichtung des Äthers. Denken wir uns nun
ein Elektron in einem sehr kleinen Kreise rotie-
rend mit sehr großer Geschwindigkeit, so ist in-
folge der dauernden Schwingung des Äthers im
Mittelpunkt des Kreises der Äther ständig weniger
dicht als normal — wir wollen das im Gegensatz
zur Atherverdichtung eine Ätherverdünnung nennen.
Wenn wir oben gesehen haben, daß sich uns eine
Ätherverdichtung als negative Elektrizität bemerk-
bar gemacht hat, wird uns jetzt die Ätherver-
dünnung als positive elektrische Ladung entgegen-
treten. Ein Elektron war ohne merkliche Masse
vorstellbar, weil wir es uns unendlich langsam
bewegt denken konnten. Das Bestehen einer
Ätherverdünnung ist aber nur möglich, wenn um
sie herum eine bestimmte größere Äthermenge,
angeregt durch ein oder mehrere kreisende Elek-
tronen, sich in schwingender Bewegung befindet.
Diese ganze in Bewegung befindliche Äthermenge
wird nun als Masse der Ätherverdünnung in Er-
scheinung treten.
Wir haben eben zwei Eigenschaften einer
Ätherverdünnung festgestellt, nämlich das Be-
haftetsein mit einer positiven elektrischen La-
dung und einer gegen ein ruhendes Elektron
sehr großen Masse. Dies aber sind zwei bedeut-
same Eigenschaften eines Atomkerns. Daraus
leiten wir die Berechtigung her, unsere Äther-
verdünnung als Atomkern zu identifizieren. Je
mehr Elektronen kreisen, desto stärker wird die
Ätherverdünnung — d. h. die positive Ladung
des Kerns — und desto größer ist die an der
Schwingung teilnehmende Äthermenge — d. h.
die Masse des Atomkerns. Aus diesen Betrach-
tungen folgen ohne weiteres die bekannten Er-
gebnisse der Atomphysik, wie die elektrische
Neutralität der Atome und die Zunahme der
Masse mit der Ordnungszahl.
Doch wir wollen die in Kreisbahnen schwin-
genden Elektronen noch eingehender betrachten.
Wir nehmen den Atomkern als ruhend an, und
der einfacheren Betrachtung halber nur ein
schwingendes Elektron — das wäre also ein
Wasserstoffatom. Das Elektron kehrt dann nach
einer Schwingung wieder auf seinen ursprüng-
lichen Platz zurück. Infolgedessen wird jedes
Ätherteilchen in der Nähe des Elektrons gleich-
artige periodische Schwingungen ausführen. An
den Umkehrpunkten der Schwingung ist die Be-
wegungsgröße jedes Ätherteilchens am geringsten
und die Richtung der Bewegung senkrecht zum
Radius der Elektronenbahn im Drehungssinn des
Elektrons. Auch ist an diesen Umkehrpunkten
die durchschnittliche Ätherdichte am größten.
Der geometrische Ort für alle Umkehrpunkte mit
größter Ätherdichte ist ein Kreis, in derselben
Ebene und konzentrisch mit dem Rotationskreis
des Elektrons. Wenn nun noch ein anderes
Elektron um den Atomkern kreist, dann kann es
infolge der eben betrachteten Bewegungszustände
des x-'ithers nur in der Bahn E — wo schon das
erste Elektron kreist — oder in der Bahn Q der
Abb. 4 sich bewegen. Das bedeutet aber, daß die
Elektronen nicht in beliebigen Entfernungen um
den Atomkern kreisen können, sondern daß ihre
Bahnen ganz bestimmte Radien haben, deren Größe
abhängig ist von der Anzahl und Geschwindigkeit
der kreisenden Elektronen und der Elastizität des
Äthers (Plancksche Quantenbahnen). Je mehr
Elektronen kreisen, desto kleiner werden natürlich
die Schwingungen des Äthers, d. h. desto geringer
die Abstände der Quantenbahnen.
Abb. 4.
K = Atomkern. E ^ Bahn des Elektrons.
S = Schwingungen des Äthers.
W = Wendepunkte der Schwingung eines Älherteilchens.
Q = 2. Quantenbahn.
Aus unserer Betrachtung folgt, daß um jeden
Atomkern herum in dauernder, durchschnittlich
zum Atomkern radialer Richtung Atherschwingun-
gen bestehen. Ist ein zweiter Atomkern in der
Nähe, so werden sich die Schwingungen beider
zusammensetzen. Ein Gleichgewicht zwischen
ihnen wird aber erst dann vorhanden sein, wenn
sich die Schwingungen konzentrisch zusammen-
setzen. Das kann aber nur möglich sein, wenn
die Atomkerne zusammenfallen. Die Atome wer-
den also, um das Gleichgewicht ihrer Schwingun-
gen herzustellen, aufeinander zustreben, d. h. sie
ziehen sich an (Gravitationskraft).
Um jedes Atom ist der Äther dichter als nor-
mal, da ja bei jedem der kreisenden Elektronen
die Ätherdichte von der spezifischen Atherdichte
des Elektrons selbst abfällt. Da nun die Fort-
pflanzung des Lichtes eine Bewegung des Äthers
ist, muß notwendig das Licht in der Nähe eines
Atoms eine Ablenkung von seiner geraden Bahn
erfahren, scheinbar infolge der Gravitationskraft
(Einst ein -Effekt). Sind sehr viele Atome bei-
sammen (Körper) so ist die Ätherdichte zwischen
den Atomen noch bedeutend größer und das
432
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 29
Licht wird noch stärker von seiner Bahn abge-
lenkt (Brechung).
Wie wir schon oben sahen, fällt die Äther-
dichte um jedes Elektron herum bis zur normalen
Ätherdichte (im Unendlichen) ab. Den Dichte-
abfall des Äthers nennen wir „elektrisches Feld".
Die Änderung des elektrischen Feldes in der Zeit
heißt „magnetisches Feld". Ein Elektron ist dann
im Gleichgewicht, in Ruhe, wenn die Ätherdichte
rings herum in gleicher Entfernung vom Elek-
tronenmittelpunkt gleich groß ist. Das ist z. B.
für 2 Elektronen aber erst dann der Fall, wenn
sie unendlich weit voneinander entfernt sind. Das
bedeutet aber, daß Elektronen sich gegenseitig
abstoßen.
Durch den hier kurz ausgeführten Gedanken-
gang scheint es mir möglich zu sein, die Äther-
theorie mit der Relativitätstheorie und deren
wichtigsten Folgerungen zu vereinbaren. Ob die
mathematische Behandlung dieser Betrachtungen
befriedigende Resultate liefert, bleibe dahingestellt.
Anschaulich jedenfalls scheint sich hierdurch eine
Brücke zwischen verschiedensten bisher ungeklärten
physikalischen Begriffen schlagen zu lassen.
Bücherbesprechungen.
Valentiner, S., Die Grundlagen der Quan-
tentheorie in elementarer Darstellung.
Dritte erweiterte Auflage. Heft 1 5 der „Samm-
lung Vieweg". 92 Seiten mit 8 Abbildungen.
Braunschweig 1920, F. Vieweg u. Sohn. Geh.
5 M. und Teuerungszuschlag.
Das Erscheinen der vorliegenden Neuauflage
gibt uns eine willkommene Gelegenheit, auf diese
vortreffliche elementare Darstellung der wichtigsten
Probleme und bisherigen Ergebnisse der quanten-
theoretischen Forschung erneut empfehlend hin-
zuweisen. Gegenüber der erst vor einem Jahre
erschienenen zweiten Auflage (siehe diese Zeitschrift
N. F. Bd. XIX, S. 335, 1920) sind, abgesehen von
der Hinzufügung eines kurzen Namen- und Sach-
registers, nennenswerte Änderungen nicht erfolgt.
A. Becker.
Hoffmann, B., Führerdurch unsereVogel-
welt. 2. Aufl. (4.— 6. Tausend). 216 S. Klein 8".
Mit 300 Notenbildern. Bildschmuck von Karl
Seffel. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner.
17 M. -f 20%.
Die zweite Auflage ist rasch der ersten ge-
folgt. Die Zahl der erwähnten Vogelarten ist um
8 vermehrt, der Gesamtumfang der gleiche ge-
blieben, abgesehen davon, daß zwei leere Noten-
blätter angefügt sind, der Preis auf mehr als das
Vierfache erhöht. Immer noch könnte man einige
wichtigere Vogelarten unter den Raubvögeln, Eulen,
Sumpf- und Schwimmvögeln vermissen. Das
Büchlein erfreut sich mit Recht offenbar großer
Beliebtheit bei den Wanderburschen, denen er,
wie schon bei der ersten Auflage (Naturw. Wochen-
schr. 1919, S. 725) hervorgehoben wurde, viel
Anregung, Freude und Auskunft gibt. V. Franz.
Das Büchlein ist einer Frau gewidmet. Richtig!
Ein Damenbuch. Höchst angenehm zu lesen,
teilweise gänzlich literarisch (so in den völlig
überflüssigen Seiten 9 — 18), am Ende eine noch-
malige „Erklärung" benutzter Fachausdrücke : dem
Untertitel „Plaudereien" ist alle Ehre gemacht.
Sicher eine achtunggebietende Leistung. Aber:
glaubt der Verf wirklich, „weitere Kreise" mit
— nicht etwa den Ergebnissen, sondern sogar den
Problemen der heutigen Chemie bekannt ge-
macht zu haben? Vielleicht in dem Sinne, daß
der Leser nunmehr mit„plaudern" kann. Mehr
keinesfalls! Dazu ist der Stoff denn doch zu
spröde. „Popularisierung" ist gewiß ein lobens-
wertes Ziel. In Fällen wie dem vorliegenden
führt sie zu dem gleichen unheilvollen Dilettanten-
tum, wie es die Popularisierung von Philosophie,
Politik usw. leider zwar, aber doch wohl not-
wendigerweise hervorgebracht haben. Übrigens
ist selbst in diesem Büchlein noch viel unklar
geblieben ; so fehlt eine Verdeutlichung des grund-
legenden Energiebegriffes, und die Gleichung
Masse ^= Energie dürfte selbst Vorgebildeten durch
die Sätze auf S. 75 — 77 nicht verständlich ge-
worden sein. S. 85 steht das veraltete zu niedrige
Atomgewicht des Wismuts.
Wer sich mit dem im Titel Genannten ver-
traut machen will, lese zunächst nicht dieses an
sich außergewöhnlich fleißig und gewandt ge-
arbeitete Buch, sondern vertiefe sich mit Ge-
wissenhaftigkeit in die einschlägigen Lehrbücher:
alsdann wird er auch von der vorliegenden
Arbeit Gewinn haben. H. Heller.
Schmidt, Dr. Harry, Probleme der moder-
nen Chemie in allgemeinverständ-
licher Darstellung. Mit 9 Abb. im Text.
Hamburg 1 92 1 , L. Friederichsen & Co. Preis 1 5 M.
Literatur.
Beck, Richard, Über Protothamnopteris Baldaufi
Nov. Sp., einem neuen verkieselten Farn aus dem Chemnitzer
Rotliegenden. Des VI. Bandes der Abhandlungen der Mathe-
matisch-Physischen Klasse der Sachs. Akademie der Wissen-
schaften Nr. V. Mit 8 Abbildungen im Text und 2 Tafeln.
Leipzig '20, B. G. Teubner. 1,60 M.
Inhalt: H Heller, Wilhelm Ostwalds Forschungen zur Farbenlehre. (4 Abb.) S. 425. Gerd Nickel, Äther und Rela-
tivitätstheorie. (4 Abb.) S. 430. — Bücberbesprecbungen: S. Valentiner, Die Grundlagen der Quantentheorie in
elementarer Darstellung. S. 432. B. Ho ff mann, Führer durch unsere Vogelwelt. S. 432. H. Schmidt, Probleme
der modernen Chemie in allgemeinverständlicher Darstellung. S. 432. — Literatur: Liste. S. 432.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der gaiuen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 24. Juli 1921.
Nummer 30,
[Nachdruck verboten,]
Das Leuchten der Tiere.
Von Dr. phil. nat. et med. Andre Pratje.
Mit 5 Abbildungen.
Wer je die Erscheinung des Meerleuchtens mit
eigenen Augen in einer schönen warmen Sommer-
nacht schauen durfte, dem wird sie unvergeßlich
bleiben. Das Meer erschien dann über und über
mit weißen Streifen, den leuchtenden Wellen-
kämmen bedeckt. Wenn ein Boot die Wasser-
oberfläche durchfurcht, so bildet sich an seinem
Bug eine glitzernde und schimmernde Welle und
jeder Ruderschlag scheint wie in flüssiges Silber
getaucht.
Die Reisenden haben begeisterte Schilderungen
dieser Erscheinungen gegeben. Früher machte
man sich über das Zustandekommen des Meer-
leuchtens die eigenartigsten Vorstellungen. Heute
wissen wir, daß es auf lebende Organismen zurück-
zuführen ist.
Ich will nicht sämtliche bisher bekannten
leuchtenden Organismen aufzählen, sondern mich
darauf beschränken, nur an einigen Beispielen das
Zustandekommen der Lichterzeugung der Orga-
nismen zu erläutern, um dann auf einige allge-
meinere Fragen einzugehen, auf die Theorie der
Lichterzeugung und ihre Bedeutung für die Or-
ganismen.
Bei den leuchtenden toten Fischen und dem
leuchtenden Fleisch handelt es sich nicht um
Lichterscheinungen der Tiere, ihr Leuchten ist
vielmehr auf die Anwesenheit von Leuchtbakterien
zurückzuführen, mit denen wir uns hier nicht
näher befassen wollen.
Unter den Protozoen findet man den Haupt-
erreger des Meerleuchtens in unseren nordischen
Meeren in Gestalt der kleinen Cystoflagellate
Noctihica miliaris. Es handelt sich um kleine
bläschenförmige Tierchen, die einen Durchmesser
von etwa '/j mm besitzen.
Nehmen wir uns einmal ein Glas Meerwasser
von der Meeresoberfläche, in dem sich fast stets
eine Anzahl Noktiluken befinden, vom Strande
mit nach Hause, um es abends in unserem Zim-
mer zu betrachten. Wenn wir ins dunkle Zim-
mer hineinkommen und das Glas ruhig dasteht,
bemerken wir gar nichts. Sowie aber durch die
Erschütterung des Bodens oder durch Stoßen an
den Tisch das Wasser in leichte Bewegung gerät,
so sehen wir mehr oder weniger einzelne Licht-
blitze über die Wasseroberfläche hinweghuschen,
um dann wieder zu verschwindep. Wir sehen
also, daß die Noctihica im ruhenden Zustande
nicht leuchtet, sondern nur auf mechanische
Reizung hin, durch Erschütterung usw. einzelne
Lichtblitze aussendet. Aber auch durch anders
geartete Reize kann man die Erscheinung des
Leuchtens hervorrufen. Läßt man chemische Stofife
einwirken, von denen man die verschiedenartigsten
Substanzen ausprobiert hat, so tritt in den meisten
Fällen ebenfalls ein Aufleuchten der Tiere ein.
Die gleiche Erscheinung kann man durch elek-
trische Reizung hervorrufen.
Die Farbe des ausgesandten Lichtes ist bläu-
lich bis grünlich oder erscheint bisweilen weiß-
lich. Die Angaben über die Farbe widersprechen
sich in der Literatur ziemlich erheblich, was wohl
meist darauf zurückzuführen ist, daß die Be-
obachtungen nicht mit vollständig dunkel adap-
tierten Augen vorgenommen wurden und dem
entsprechend die Helligkeitswerte verschieden er-
schienen. Ein Autor unterschied sogar nach der
Farbe des Lichts verschiedene Arten von Noctihica,
was aber sicher nicht berechtigt ist. Die Inten-
sität der ausgestrahlten Lichtes ist nicht sehr er-
heblich, genaue Messungen liegen nicht vor, doch
kann man bei ihrem Schein in einigen Zentimeter
Entfernung das Zifferblatt der Uhr noch erkennen.
Betrachten wir nun einmal eine leuchtende
Noctihica unter dem Mikroskop (Abb. i), was
keineswegs leicht ist, da die Tiere nur auf
Reizung hin leuchten und es mit Schwierigkeiten
verknüpft ist, die Individuen gerade in diesem
Augenblicke unter das kleine Gesichtsfeld des
Mikroskopes zu bringen. Nun sehen wir, daß das
diffuse Licht, welches die einzelne Noctihica dem
unbewaffnetem Auge auszustrahlen scheint, aus
zahlreichen einzelnen Lichtpünktchen zusammen-
gesetzt ist. Es leuchtet die ganze Körperober-
fläche; aber noch mehr: bisweilen sieht man auch
einen größeren stärker leuchtenden Fleck, welcher
der Stelle des Zentralplasmas entspricht. Das
Licht wird manchmal an der Einsenkung, die zum
Cytostom hinabführt, deutlich reflektiert. Das ge-
samte Protoplasma, bzw. die in ihm enthaltenen
Einschlüsse vermögen also zu leuchten. Bisweilen
leuchten einzelne kleine Fleckchen besonders stark
auf, die bei näherer Betrachtung sich wieder aus
mehreren einzelnen Pünktchen zusammengesetzt
erweisen.
Werden die Noktiluken in ihrer Lebenstätig'
keit gestört, so senden sie ein ziemlich gleich-
mäßiges Licht aus, welches nicht sofort wieder
erlischt. Durch die infolge des Absterbens ein-
tretende Zusammenziehung des Protoplasmas,
wird ein sehr erheblicher langdauernder mecha-
nischer Reiz ausgeübt. Die Intensität des Lichtes
dieser absterbenden Individuen ist allerdings nicht
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so groß, wie die der einzelnen Lichtblitze nor-
maler Tiere. Mit den Fingern zerriebene Nokti-
luken leuchten noch zwei Minuten hinterher.
Diese Auflösung des Lichtes der Noctiluca bei
stärkerer Vergrößerung in einzelne kleine Pünkt-
chen legt die Vermutung nahe, daß diese Pünkt-
chen den zahlreichen von uns bei Tages-
licht beobachteten im Protoplasma zerstreut
liegenden, stärker lichtbrechenden Tröpfchen ent-
sprechen. Ich habe nun diese Tröpfchen sowohl
mit den verschiedenen Lösungsmitteln, als auch
mit den bekannten Fettfärbemethoden näher unter-
sucht und festgestellt, daß es sich bei ihnen um
echte Neutralfette handelt. Die einzelnen Tier-
chen sind bisweilen dicht mit ihnen angefüllt.
Neuerdings habe ich nun auch noch den Fettge-
halt dieser Tiere makrochemisch, quantitativ be-
stimmt; er hat die ansehnliche Höhe von 1270
der Trockensubstanz. Außer echten Neutralfetten
sind auch noch Cholesterine und phosphorhaltige
Verbindungen vorhanden. Wir werden später
noch sehen, mit welchem Recht man diese ver^
schiedenen Substanzen mit dem Leuchtvorgang
in Beziehung bringt. Ein absoluter Beweis dafür
liegt allerdings bis heute noch nicht vor, doch
konnte ich beobachten, daß Individuen mit zahl-
reichen Fetttröpfchen besonders hell aufleuchteten.
Neben den Noktiluken gibt es auch noch einige
andere Protozoen, die Leuchtvermögen besitzen,
besonders in der nah verwandten Gruppe der
Dinoflagellaten. Auch in unseren deutschen Meeren
kommen leuchtende Ccratiiivi- und Peridiniuni-
Arten vor.
Auf die Coelenteraten will ich nicht näher
eingehen, es gibt eine ganze Anzahl von leuchten-
den Medusen, ich erwähne nur die schöne Pclagia
noctiluca, auch verschiedene leuchtende Polypen-
kolonien, besonders Campanularien sind beschrieben
worden.
Unter den Tunikaten verdanken die Pyrosomen
ihrem Leuchtvermögen ihren Namen : Feuerwalzen.
Die leuchtenden Würmer und Seesterne lasse
ich unerwähnt und wende mich gleich zu den
Weichtieren. Unter den Muscheln verdient die
in den europäischen Meeren ziemlich weit ver-
breitete Bohrmuschel Pholas daciyhis besondere
Beachtung. Denn bei ihr haben wir ein Leuchten,
welches außerhalb des Tieres, außerhalb der
lebenden Zelle stattfindet. Die Bohrmuschel
sondert nämlich ein Leuchtsekret ab, das be^
sonders aus der Öffnung des Atemrohres hervor-
gepreßt wird. Ein Schüler von Chun, Förster
hat in einer kurz vor dem Kriege erschienenen
Arbeit die Leuchtorgane von PJiolas daciylits
näher untersucht. Es sind 5 verschiedene Leucht-
organe vorhanden, und zwar in der Gegend des
Atemrohres und am Mantel, alle liegen auf der
inneren Mantelfläche. Die Leuchtorgane bestehen
aus zahlreichen einzelnen Drüsen, bei denen man
zweierlei Arten, Schleim- und Leuchtdrüsen, unter-
scheiden kann, welche ihr Sekret durch schmale
Ausführungsgänge in den Mantelraum entleeren.
Das Sekret der Leuchtdrüsen besteht aus einer
Flüssigkeit und darin eingebetteten Körnchen; es
wird durch Umwandlung des homogenen Inhaltes
der Drüsenzellen gebildet. Diese selbst zerfallen
dabei nicht, sondern regenerieren sich immer
wieder von neuem. Eine reiche Blutgefäß- und
Nervenversorgung konnte nachgewiesen werden.
Durch Kontraktion von Muskeln wird das Sekret
herausgepreßt. Es leuchtet auf, sobald es mit
dem Wasser in Berührung kommt. Der gleich-
zeitig gebildete Schleim dient dazu, die einzelnen
Leuchtkörnchen mit einem Schleimmantel zu um-
geben und nach Möglichkeit zu isolieren, wodurch
die Verteilung im Wasser gewährleistet wird. In
diesem Falle ist das Leuchten also nicht an die
lebende Zelle gebunden, sondern das von ihnen
ausgeschiedene tote Sekret vermag noch lange
hinterher zu leuchten.
Unter den Schnecken gibt es nur wenig
leuchtende Formen, während sich in der dritten
Gruppe der Weichtiere, unter den Tintenfischen
ganz typische Leuchttiere entwickelt haben; ge-
hören zu ihnen doch die zahlreichen leuchtenden
Tiefseeformen, mit denen uns die wissenschaft-
lichen Ergebnisse der Deutschen (Valdivia) Tief-
see-Expedition unter Chun bekannt gemacht
haben. Bei einigen Formen, welche noch lebend
mit dem Tiefennetz heraufkamen, konnte Chun
im lebenden Zustande in der Dunkelkammer den
Leuchtvorgang direkt beobachten und sogar eine
photographische Aufnahme davon herstellen. Eine
Zeichnung nach einer solchen Aufnahme zeigt
uns Abb. 2. Es handelt sich um Thamiiafolavipas
diadciiia. Sie zeichnet sich durch eine außer-
ordentliche Vielgestaltigkeit der einzelnen Leucht-
organe aus. Sie besitzt im ganzen 22 Leucht-
organe, die nach nicht weniger als 10 verschiedenen
Prinzipien gebaut sind. Das Licht der verschiedenen
Leuchtorgane besitzt eine verschiedene Farbe, die
mittleren Augenorgane sind prachtvoll ultramarin-
blau, das mittlere der 5 Bauchorgane strahlt him-
melblau und die beiden am After befindlichen
Organe sind rubinrot gefärbt. Dieser rote Glanz
wird durch die vor den Organen befindlichen
Spindelzellen erzeugt, die wie eine rote Scheibe
vorgeschaltet sind.
Trotz der Kleinheit dieser Gebilde besitzen
sie doch einen recht komplizierten Bau. Abb. 3
zeigt uns einen Schnitt durch ein Hautorgan von
Abraliopsis Morisü. In der Mitte liegt die eigent-
lich leuchtende Substanz, die bei verschiedenen
Arten verschieden aufgebaut ist und meist aus
stark lichtbrechenden Zellen besteht, welche aber
verschmelzen können, so daß schließlich nur noch
ein stark lichtbrechender streifiger Körper vor-
handen ist. An diesen Leuchtkörper lagert sich
nach innen ein reflektrierendes Tapetum an,
welches einen perlmutterartigen Glanz besitzt. Bei
unserer Form besteht der Reflektor aus einer An-
zahl konzentrisch ineinander geschachtelter La-
mellen. Er besteht aus einem mittleren und zwei
seitlichen Teilen. Bedeckt wird dieser Reflektor
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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nach innen von einer dichten Pigmenthülle, welche
aus einzelnen großen Chromatophoren besteht.
Ganz nach innen liegen noch zahlreiche große
Blutgefäßräume, welche die Hinterfläche und die
Seitenwandungen des Organs umgeben. Die
Lichtstrahlen, welche vom Leuchtkörper ausgehen,
müssen zunächst noch eine Linse passieren, die
hier einen deutlich faserigen Bau besitzt. In ihr
kann man unregelmäßig gestaltete kleine Kerne
erkennen. An der Seite treten stärkere und feinere
Fasern an die Linse heran. Die äußere Haut vor
dem Leuchtorgan ist durchsichtig geworden und
zu einer Art Kornea umgestaltet. Wir sehen also,
daß es sich um recht komplizierte Gebilde handelt,
die die meisten Elemente eines Auges erkennen
einen optischen Teil unterscheiden. Dieser
optische Teil hätte nun aber gar keinen Sinn,
wenn das Leuchten nicht auch innerhalb des
Leuchtorganes stattfände. Es konnte aber im
Leben im Aquarium beoachtet werden, daß das
Tier bei Reizung eine Wolke leuchtenden Se-
kretes ausspritzt. Das in viele einzelne Tropfen
und F"äden zerteilte Sekret leuchtet bei Berührung
mit dem Meerwasser hell auf und liefert ein
grandioses Feuerwerk. So sehen wir bei den
Tintenfischen zwei grundverschiedene Prinzipien
der Leuchtfunktion verwirklicht. Auf ihre Be-
deutung kommen wir noch später zurück.
Ähnlich kompliziert gebaute Leuchtorgane wie
bei den Tintenfischen finden wir bei einigen pela-
Abb. I. Leuchtende Noctiluca (nach Pratje).
lassen, nur statt der lichtempfindlichen Elemente
haben wir lichterzeugende vor uns.
Wir müssen annehmen, daß die Lichtproduktion
bei den Tintenfischen im Innern der Leuchtorgane
stattfindet und zwar höchstwahrscheinlich inner-
halb der Zellen, indem wir uns hier vorzustellen
haben, daß der Leuchtkörper aus Drüsenzellen
besteht.
Aber nicht alle Tintenfische besitzen ein Leuchten
innerhalb der Zellen. Denn bei dem im Mittel-
meer vorkommenden Heterothciäis ist ein großes
drüsiges Leuchtorgan beschrieben worden, welches
in der Gegend des Tintenbeutels sich befindet.
Dieser letztere ist fast ganz verdrängt und rück-
gebildet worden. Er funktioniert hauptsächlich
noch als Pigmentschicht für das Leuchtorgan. Am
Leuchtorgan selbst kann man einen drüsigen und
Abb. 2. Tiefseetintenfisch :
Thaumatolampas diadema
(nach C h u n).
gischen Krebsen, während andere in Drüsen ein
Leuchtsekret hervorbringen.
Unter den Insekten begegnen wir wieder
einigen allgemein bekannten Leuchttieren; denn
unseren Johanniskäfer wird wohl fast jeder schon
einmal zu Gesicht bekommen haben. In Deutsch-
land gibt es hauptsächlich zwei verschiedene Arten,
den großen Johanniskäfer, Lainpyris iiociiluca,
deren vollständig flügellose Weibchen unter dem
Namen der Glühwürmchen bekannt sind, und den
kleinen Johanniskäfer, iMmpyris splendidula, wel-
cher nach neuerer Nomenklatur als Pliansis splen-
didula bezeichnet wird. Bei ihm besitzen die
Weibchen im Gegensatz zur ersten Art noch
schuppenförmige Stummel als Flügelrudimente.
Das kleine Johanniswürmchen bekommt man
häufiger zu Gesicht, da die Männchen massenhaft
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schwärmen und eine stärkere Leuchtfähigkeit be-
sitzen als die großen Johanniskäfer. Die Männ-
chen fliegen des Nachts an baumbewachsenen,
etwas feuchten Orten, während die Weibchen an
der Erde oder an niederen Gewächsen sitzen. Die
Leuchtkäfer sind ebenso wie ihre Larven ausge-
sprochene Nachttiere. Sowohl die erwachsenen
Tiere, Männchen wie Weibchen, als auch die
Nymphen, Larven und Eier haben die Fähigkeit
Licht zu erzeugen, allerdings in verschiedenem
Maße. Das Männchen von Lampyris splciididiila
besitzt zwei große Leuchtorgane an der Bauch-
seite der beiden letzten Hinterleibsringe. Sie sind
Blutraume
BlutgefaS
Reflektor
Plgmentmantel
'(Ghromatophoren)
-. a
Leuchlkörper
Abb. 3. Schnitt durch ein Hautleuchtorgan eines Tiefsee-
tintenfisches (Abraliopsis Morisii) (nach Chun).
Dorsal-
schichi
als weiße Stellen in der unge-
färbten Chitinwand sichtbar. Das
Weibchen besitzt dagegen 14 ver-
schiedene Leuchtorgane, die im
einzelnen allerdings etwas kleiner
gestaltet sind; das größte liegt
an /der Bauchseite des letzten
Hinterleibsringes, dann noch ver-
schiedene kleinere knollenförmige
Organe, besonders an der Seite
der ersten Hinterleibsringe und in
der Mitte des 3. und 5. Ringes.
Das Leuchten ist vom Rücken
des Tieres aus zu sehen. Ähnlich
sind die Leuchtorgane bei dem
großen Johanniskäfer verteilt,
doch sind sie bei dem Männchen
sehr viel schwächer entwickelt
und bei dem Weibchen nur von der Bauchseite
aus zu sehen, weshalb sich diese auf den Rücken
zu legen pflegen oder sich an hohe Grashalme
anhängen, damit ihr Licht gesehen werden kann.
Während unsere einheimischen Leuchtkäfer zu der
Familie der Caiitharideii oder Malacodcrmaia,
d. h. Weichhäuter gehören, findet man in den
Tropen verschiedene leuchtende Arten unter den
Elaterideji, den Schnellkäfern. Besonders der
Cucujo, Pyrophoriis Hoctüucus, welcher in Brasilien
und in anderen Teilen Südamerikas vorkommt,
ist allgemeiner bekannt geworden. Während wir
bisher Einzelheiten fast nur von unseren ein-
heimischen Leuchtkäferarten kannten, befaßt sich
eine während des Krieges erschienene Arbeit von
Geipel, eines Schülers von Chun, eingehend
auch mit der Anatomie der Leuchtorgane tro-
pischer Käfer.
Die Leuchtorgane der Lampyriden bestehen
aus zwei verschiedenen Zellschichten, einer Dorsal-
und einer Ventralschicht (Abb. 4). Die Dorsal-
schicht liegt unmittelbar dem Fettkörper an und
sieht weiß und undurchsichtig aus. Sie besteht
aus großen eng aneinander gedrängten Zellen
vom Charakter eines Piattenepithels. Darunter
befindet sich die Ventralschicht, welche der eigent-
liche Sitz des Leuchtens ist, weshalb man auch
von der Leuchtzellenschicht spricht. Sie ist gelb-
lich gefärbt und besteht aus einzelnen Parenchym-
zellen. Diese Zellen sind kleiner als die Dorsal-
schicht und sind angefüllt mit einer Menge mikro-
skopisch kleiner Körnchen. Diese Schicht ist nur
durch eine feine Epithelschicht von dem Chitin
getrennt, welches an dieser Stelle durchsichtig
ist. Die Haupttracheen geben zahlreiche Neben-
ästchen ab, die sich baumartig in der Dorsal- und
in der Ventralschicht verzweigen. Die letzten,
feinsten Tracheen führen zu den sog. Tracheen-
endzellen. Diese sind in 6 — 7 Fortsätze ausge-
zogen, in die je eine Kapillare eingebettet ist.
Die Frage, ob die Fortsätze der Tracheenendzeilen
miteinander in Verbindung stehen, ist noch unent-
schieden, ebenso wird die Frage, ob die Fortsätze
Kern der Dorsalzelle
Kern der Endzelle
Tracheenendzelle
Abb. 4. Querschnitt durch das Leuchtorgan eines tropischen Lampyriden
(Photinus) (nach Geipel).
in das Plasma der Leuchtzellen eindringen ; wahr-
scheinlich verlaufen sie aber zwischen den Zellen.
Sowohl an den Tracheen wie an den Endzellen
kann man Nervenäste nachweisen.
Die weiße Dorsalschicht löst sich in Kalilauge
auf, ihre chemische Zusammensetzung ist noch
nicht näher untersucht, wahrscheinlich handelt
es sich um Harnsäure- und Guaninkristalle. Auch
über ihre Bedeutung sind die Ansichten getrennt.
Die älteren Autoren hielten sie für ein Zerfalls-
produkt der Ventralschicht, während heute die
Anschauung immer allgemeinere Geltung findet.
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welche in dieser Uratschicht eine Art Reflektor
sieht, welcher dazu dient, die Intensität des
Lichtes zu erhöhen.
Die Leuchtzellen kann man wohl als einzellige
Drüsen ohne Ausführungsgang betrachten, wofür
auch das Vorhandensein der zahlreichen kleinen
Körnchen im Plasma spricht. Die zahlreichen zu
ihnen verlaufenden Tracheen mit ihrer reichen
Verästelung sind imstande, die Drüsen reichlich
mit Sauerstoff zu versorgen, welcher dann durch
die Wandungen der Tracheenkapillaren in die
Zelle hinein diffundieren kann, um dort Oxyda-
tionsprozesse durchzuführen. Wir werden noch
sehen, daß durch die Oxydation eines Leucht-
stoffes der Leuchtvorgang am besten erklärt wird.
Interessante Aufschlüsse über die Natur und
die Herkunft der Leuchtorgane von Lampyris
haben uns neuere entwicklungsgeschichtliche
Untersuchungen von R. V o g e 1 gegeben, welcher
zeigen konnte, daß der eigentliche Leuchtkörper
entweder embryonal oder bei anderen Organen
erst im Larvenstadium aus dem Fettkörper her-
vorgeht. Die Einschlüsse der Fettkörperzellen
bestehen nun aber nicht, wie man anzunehmen
geneigt ist, in der Hauptsache aus Fetttröpfchen,
sondern vielmehr aus Eiweiß- bzw. Dotterkügel-
chen. Diese letzteren sollen allmählich zerfallen
in immer feinere Körnchen und so den eigent-
lichen „Leuchtstoff" liefern.
Nun wollen wir uns noch den Wirbeltieren
zuwenden, bei denen eigentlich nur unter den
Fischen leuchtende Formen bekannt geworden
sind, während die Beobachtungen von leuchtenden
Vögeln usw. wohl auf Irrtümern beruhen. Aber
gerade unter den Knochenfischen finden wir eine
große Vielgestaltigkeit der Leuchtorgane, wie sie
nur die Tiefsee hervorzubringen vermochte. Die
deutsche Tiefsee-Expedition an Bord der „Valdivia"
unter Chun hat uns mit einer ungeheuren und
teilweise direkt phantastischen Formenmannig-
faltigkeit bekannt gemacht. Die treffliche Be-
arbeitung der Tiefseefische durch Brauer mit
zahlreichen Farbentafeln gibt uns einen schwachen
Abglanz von den dort in der Tiefe herrschenden
Formen und Farben:
Unter den Leuchtorganen der Fische herrscht
eine ähnliche, wenn nicht sogar noch größere
Mannigfaltigkeit, als unter den Leuchtorganen der
Tintenfische und wir finden alle Übergänge zwi-
schen kleinen, einfach gebauten, pigmentlosen Or-
ganen, die nur aus einem Häufchen Drüsenzellen
bestehen, bis zu ganz komplizierten Gebilden, die
mannigfache Hilfsapparate aufweisen. Ich will
nicht alle diese verschiedenen Typen beschreiben,
sondern lediglich das in Abb. 5 dargestellte Organ
von Gonostoina clüngatum näher schildern. Die
Hauptmasse des Leuchtorgans besteht aus Drüsen-
zellen, die ein Epithel von Schläuchen bilden, welche
ihrerseits radiär um einen Hohlraum angeordnet
sind. Dieser Hohlraum mündet durch einen Kanal
nach außen, während er bei anderen Formen
blind endet oder gar nicht ausgebildet wird. Dem
Drüsenkörper anliegend findet sich ein Maschen-
werk von Zellen, das als Reflektor gedeutet wird.
Außerhalb davon ist noch eine sog. Gallertschicht
vorhanden. Nach innen ist das Leuchtorgan von
einem Pigmentmantel umgeben. Einzelne Blut-
gefäße sind vorhanden, während Nervenfasern nur
in den seltensten Fällen nachgewiesen werden
konnten. Die Leuchtorgane anderer Tiefseefische
weisen außer den bereits beschriebenen Hilfs-
apparaten noch stärker lichtbrechende Körper auf,
die als Linsen gedeutet werden. Die Drüsen
selbst sind mit Sekretkörnern dicht erfüllt, und
es kann nicht bezweifelt werden, daß diese Drüsen-
zellen das Licht hervorbringen, also Leuchtzellen
darstellen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es
sich um geschlossene Drüsen, bei denen sich der
Leuchtvorgang innerhalb der Zellen abspielen
muß. Bei dieser von uns betrachteten Form
münden die Drüsen durch einen Kanal an die
Außenwelt, so daß hier das Sekret in das um-
gebende Wasser entleert werden könnte. Wahr-
scheinlich ist es jedoch nicht so, da dann die
Hilfsapparate, wie Reflektor und Pigmentmantel
nicht recht verständlich wären. Vielleicht werden
nur die Zersetzungsprodukte nach außen entleert.
Nachdem wir so an einigen Beispielen gesehen
haben, wie der Vorgang des Leuchtens in der
Tierwelt seine Verwirklichung gefunden hat und
wie vielerlei komplizierte Apparate für die Ver-
stärkung der Erscheinung geschaffen worden sind,
wollen wir uns jetzt noch zwei allgemeineren
Fragen zuwenden , der Frage nach dem Wesen
der Lichterzeugung und der Frage nach der Be-
deutung des Leuchtens für die Tierwelt.
AusfOhrungsgang
Abb. 5. Leuchtorgan von Gonostotna elongatum (Tiefseefisch)
(nach Brauer).
Man war schon seit alter Zeit bestrebt, für die
so auffällige Erscheinung des Leuchtens der Tiere
eine Erklärung zu finden, und die alten Beobachter
dieses Phänomens machten sich die eigenartigsten
Vorstellungen darüber. Auf alle diese älteren
Theorien will ich nicht eingehen, sondern nur
kurz die Ansichten darstellen, die heute im all-
gemeinen vertreten werden.
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Man ist sich darüber einig geworden, daß es
sich bei den Leuchtvorgängen der Organismen
um chemische Prozesse handeln muß, ganz abge-
sehen von der Frage, ob diese chemischen Vor-
gänge an die lebende Zelle gebunden sind oder
auch an totem Material vor sich gehen können.
Gerade verschiedene ältere Autoren, unter ihnen
besonders auch Pflüger, hielten das Leuchten
für eine unmittelbare Lebensäußerung der leben-
den Substanz; Pflüger brachte es in Zusammen-
hang mit der Atmung. Ahnliche Vorgänge wie
beim Leuchten sollen bei jedem Lebensprozeß
dauernd vor sich gehen, vielleicht nur nicht so
intensiv, so daß sie äußerlich nicht sichtbar wer-
den. Aber schon aus den wenigen Beispielen,
die ich habe anführen können, kann man ersehen,
daß die Frage gar nicht so allgemein zu lösen
ist, daß sie sich gar nicht so scharf auf ein Ent-
weder — oder zuspitzt. Denn einerseits haben
wir Formen kennen gelernt, bei denen der Leucht-
vorgang an die Zelle gebunden zu sein scheint ;
ich erinnere nur einerseits an die einzelligen
Lebewesen, an die Bakterien und an Noctüuca,
und andererseits an die Fülle von höheren Tieren,
bei denen wir Drüsen ohne Ausführungsgang als
Leuchtorgane finden, bei denen der Vorgang sich
innerhalb der Zelle abspielen muß ; in allen diesen
Fällen sprechen wir vom intrazellulären Leuchten.
Im Gegensatz hierzu haben wir aber auch
einige Formen kennen gelernt, bei denen ein Se-
kret an die Außenwelt abgesondert wird, welches
erst außerhalb des Tierkörpers zu leuchten be-
ginnt. Ich erinnere an das Leuchten der Bohr-
muscheln und die ähnlichen Erscheinungen bei
Ostrakoden und Copepoden ; aber auch bei einigen
höheren Formen, bei einzelnen Tintenfischen und
vielleicht sogar bei einigen Knochenfischen kann
man die gleiche Erscheinung beobachten. Diesen
Vorgang bezeichnet man als extrazelluläre Lumi-
neszenz. In allen diesen Fällen leuchtet also das
an sich tote, außerhalb des Organismus sich be-
findende Sekret ; doch dürfen wir nicht vergessen,
daß es doch seinerseits von der lebenden Tierzelle
produziert worden ist. Und auch umgekehrt
müssen wir sagen, daß die Stoffe, welche sich in
der lebenden Zelle befinden und das Leuchten
erzeugen, nicht unbedingt selbst lebend zu sein
brauchen ; im Gegenteil zahlreiche Versuche weisen
sogar darauf hin, daß die Leuchtfunktion dieser
Substanzen nicht an das Leben geknüpft ist, daß
sie vielmehr auch nach dem Absterben des Tieres,
bzw. der Zellen ihre Leuchtfähigkeit noch längere
Zeit behalten können. Ich erwähnte bereits, daß
mit den Fingern zerriebene Noktiluken noch zwei
Minuten hinterher leuchten. Nach Harvey sollen
sollen über CaCij getrocknete, also tote Bakterien
aufleuchten, wenn sie mit Oj-haltigem Wasser
befeuchtet werden. Ebenso verhalten sich die
Leuchtorgane zahlreicher Metazoen, die aus dem
Tierkörper herausgeschnitten, noch mehrere Stun-
den hinterher zu leuchten vermögen, wie Ver-
suche an unseren Johanniskäfern beweisen. So
kommen wir zu dem Schluß, daß der Leucht-
vorgang selbst nicht an die lebende Zelle ge-
bunden ist, sondern vielmehr an Stoffe, die
außerhalb der lebenden Zelle Leuchtfahigkei
besitzen; daß aber andererseits diese Stoffe von
lebenden Zellen produziert werden und so doch
indirekt mit dem Lebensvorgang im Zusammen-
hang stehen.
Zur weiteren Klärung der Vorgänge, die sich
beim Leuchtprozeß abspielen, sind von ganz be-
sonderer Bedeutung zahlreiche Beobachtungen,
welche immer wieder von fast allen Autoren bei
den verschiedensten Tieren gemacht und durch
zahlreiche Experimente noch erhärtet worden
sind. Es handelt sich um die Tatsache, daß in
den meisten Fällen die Gegenwart von freiem
Sauerstoff eine notwendige Vorbedingung für die
Lichterzeugung darstellt. Hierdurch werden aber
auch viele anatomische Einrichtungen verständlich,
die wir im Bau der einzelnen Leuchtorgane kennen
lernten, wie z. B. die reiche Blutgefäßversorgung
bei zahlreichen Leuchtorganen oder die starke
Tracheenverästelung in den Leuchtorganen der
Leuchtkäfer.
Andererseits hat man aber doch zeigen können,
daß dieser Sauerstoffverbrauch mit der Sauerstoff-
atmung selbst direkt nichts zu tun hat. Die Not-
wendigkeit der Sauerstoffzufuhr spricht mit sehr
großer Wahrscheinlichkeit dafür, daß es sich bei
den Leuchtprozessen um einen Oxydations-
vorgang handelt, und damit haben wir eine der
wichtigsten heutigen Anschauungen über das
Wesen des Leuchtvorganges der Organismen. Die
Tatsache, daß es sich bei dem Licht der Organis-
men um kaltes Licht handelt, bei dem man eine
wesentliche Wärmezunahme nicht feststellen kann,
spricht nicht dagegen, da auch physikalisch-
chemisch derartige Erscheinungen verständlich
sind. Das Licht der Organismen ist außerordent-
lich rationell; denn während bei unseren mensch-
lichen Lichtquellen der größte Teil der Energie
in Wärme umgesetzt wird, hat man bei dem
tierischen Licht festgestellt, daß sogar 96 " „ Aus-
nützung stattfindet.
Die Oxydationshypothese hat also große Wahr-
scheinlichkeit. Nun fragt es sich aber noch, was
für Stoffe werden denn oxydiert? Und da müssen
wir leider feststellen, daß wir trotz der unge-
heuren Zahl von Arbeiten über das Leuchten der
Tiere heute noch nichts Sicheres über diese Frage
wissen. „Doch eben wo Begriffe fehlen, da stellt
ein Wort zur rechten Zeit sich ein"; man be-
zeichnet diese Stoffe ganz allgemein als Photo-
gene. Doch immerhin wissen wir, wie wir uns
derartige Stoffe vorstellen können und zwar durch
den Vergleich mit organischen, nicht organisierten
Substanzen. Es war vor allem der Chemiker
Radcziczewski, welcher bereits im Jahre 1888
darauf hinwies, daß eine große Anzahl organischer
Substanzen leuchten, wenn man sie im alkalischen
Zustande mit aktiven Sauerstoff zusammenbrachte.
So leuchten fast alle ätherischen Öle, die aro-
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matischen Kohlenwasserstoffe, die fetten Öle und
ihre Bestandteile, diejenigen Alkohole, welche
mehr als vier Kohlenstoffatome besitzen, Chole-
sterine, Gallensäuren, Protagon, Lezithin, Trauben-
zucker und die Aldehyde und ihre Derivate. Nach
Radcziczewski sind noch eine Anzahl von
guten Arbeiten über die Oxylumineszenz che-
mischer Substanzen gemacht worden. Besonders
Trautz hat sich mit diesem Problem befaßt, in
den letzten Jahren noch Blanchetiere, Ville
und Derrien und Heller. Es handelt sich
meist um Glyoxalderivate und andere Abbau-
produkte des Abbaues stickstoffhaltiger Verbin-
dungen. Eine ganze Anzahl von diesen Stoffen
kommen in der lebenden Zelle vor und manche
finden wir auch gerade in den lichtproduzierenden
Zellen und Organen. Ich erwähnte bereits, daß
die Trockensubstanz der Nodüiica zu 1 2 "/^ aus
fettartigen Substanzen besteht, aus echten Fetten,
Cholesterinen und Phosphatiden. Diese Tatsache
gewinnt unter jenem Gesichtspunkt eine neue
Bedeutung. Auch in den Leuchtsekreten zahl-
reicher Metazoen sind Fetttröpfchen und ähnliche
Substanzen gefunden und als „Leuchtstoffe" ange-
sehen worden. Auch die Abstammung der Leucht-
organe der Leuchtkäfer aus dem Fettkörper schien
auf die gleiche Tatsache hinzuweisen. Jedoch
waren hier die Zelleinschlüsse hauptsächlich Ei-
weiß und Dottersubstanzen. Mir scheint es auch
durchaus nicht nötig zu sein, daß ein und der-
selbe Stoff in all den verschiedenen Tiergruppen
die Ursache des Leuchtens darstellt; die große
Mannigfaltigkeit deutet vielmehr auch auf eine
Verschiedenheit der ursächlichen Bedingungen.
Auch Trojan nimmt an, daß der Chemismus
des Leuchtvorganges' mit Umsetzung von Eiweiß-
körpern zusammenhängt, bei welchen Purinbasen
und Harnsäure gebildet werden.
Der Franzose D u b o i s behauptet aus dem
Leuchtsekret der Bohrmuschel zwei verschiedene
Extrakte hergestellt zu haben, die er als Luci-
ferin und Luciferase bezeichnete, von denen die
letztere ein oxydaseartiges Ferment darstellen
soll. Die Luciferase kann man durch Kalium-
permanganat, Bleisuperoxyd oder sauerstoffhaltiges
Wasser ersetzen.
Harvey hat aus Leuchtkäfern und aus der
leuchtenden Crustacee Cypridina ähnliche Sub-
stanzen gewonnen, eine wärmebeständige, das
„Photophelein" und eine durch Wärme zerstör-
bare Substanz, das „Photogenin". Später hat er
hierfür die Bezeichnungen von Dubois „Luci-
ferin" und „Luciferase" mit Vorsetzen des Tier-
namens angenommen. Das Q'/^/i;'/-'''« - Luciferin
wird zu Oxyluciferin oxydiert. Der Vorgang kann
auch in entgegengesetzter Richtung vor sich
gehen, es handelt sich um einen reversiblen
Prozeß. Die Luciferase ist ein Eiweißkörper, und
zwar ein Albumin, mit allen Eigenschaften eines
Enzyms. Die chemische Natur des Luciferins
konnte nicht ganz sicher festgestellt werden, es
hat einige Ähnlichkeit mit Peptonen. Bei Leucht-
bakterien, einem Ringelwurm, einem Tintenfisch
und einem Knochenfisch, sowie bei Noctiluca ge-
lang es nicht, diese zwei verschiedenen Substanzen
zu isolieren.
Daß bei dem Leuchtvorgang Enzyme mit-
wirken, darauf scheinen auch die allerneuesten
Untersuchungen von Gerretsen an Leucht-
bakterien hinzudeuten. Er schreibt das Entstehen
des Leuchtstoffes der Tätigkeit der „Photogenase"
zu und die Oxydation dieses Leuchtstoffes soll
durch eine Oxydase erfolgen.
Zum Schluß wollen wir jetzt noch die Frage
erörtern, welche Bedeutung die Lichterzeugung
der Organismen im Haushalte der Natur, insbe-
sondere für die Tiere selbst hat. Die große
Mannigfaltigkeit, die wir in den Leuchtvorgängen
und den Leuchtorganen kennen gelernt haben,
läßt uns von vornherein vermuten, daß durchaus
nicht alle den gleichen „Zweck" verfolgen, nicht
durch das gleiche Prinzip erklärt werden können.
Handelt es sich denn aber überhaupt um zweck-
mäßige Einrichtungen oder handelt es sich viel-
leicht nur um Vorgänge, die als Begleiterschei-
nungen irgendwelcher anderer Vorgänge statt-
finden, etwa als Oxydationsprozesse irgendwelcher
Stoffwechselprodukte oder dergleichen ? Eine ganze
Reihe von Organismenlicht ist sicher auf diese
Weise zu erklären. Denn bei dem Leuchten der
Protozoen, der Noctiluca und der Peridiueen,
können wir ebensowenig wie bei den Leucht-
bakterien irgendeinen Zweck finden, mit dem
Leuchtvorgang dieser Organismen verknüpft sein
sollte. Wenn wir aber die meisten Metazoen be-
trachten mit ihren außerordentlich kompliziert ge-
bauten Leuchtorganen, mit den mannigfaltigen
Hilfseinrichtungen, wie Reflektoren, Pigmentmantel,
Linse usw., so würden uns alle diese Einrichtungen
doch gänzlich unverständlich bleiben, wenn wir
nicht annehmen, daß der Leuchtvorgang für das
Tier selbst und sein Fortkommen von irgend-
welcher Bedeutung ist. Und man kann auch
mancherlei Vorteile feststellen, die die Licht-
produktion für die Tiere mit sich bringt.
Betrachten wir zunächst den Nutzen, den die
Tiere selbst von ihren Leuchtorganen haben
können. Viele der Leuchttiere leben in voll-
ständiger Dunkelheit, in den Tiefen des Welten-
meeres, in die kein Lichtstrahl mehr hinabdringt.
Dadurch wird es verständlich, daß manche der
dort lebenden Tiere selbst einen Lichtkegel er-
zeugen, bei dessen Schein sie sehen können mit
ihren manchmal stark entwickelten Augen. Nun
ist es ihnen möglich sich zu orientieren, sie können
ihrem Nahrungserwerb nachgehen und ihre Feinde
erkennen.
Interessante Versuche hat der Fürst von
Monaco gemacht, welcher elektrische Lampen
in die Tiefe des Meeres hinabließ, um welche
sich dann eine große Anzahl von Frischen und
Krebstierchen ansammelten. Das führt zu der
Auffassung, daß die Leuchtorgane in manchen
Fällen zur Anlockung der Beute dienen können.
440
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 30
Noch größere Bedeutung haben aber die
Leuchtorgane ohne Zweifel für die Erkennung der
Artgenossen, besonders zur Auffindung des ande-
ren Geschlechts. Bei den Leuchtkäfern scheint
das Leuchten hierbei eine wesentliche Rolle zu
spielen, wie zahlreiche Beobachtungen gezeigt
haben. Man kann deutlich sehen, daß die fliegen-
den Männchen durch die an der Erde sitzenden
Weibchen angelockt werden. Daß nicht etwa
der Geruch es ist, der die Anlockung vollbringt,
in ähnlicher Weise, wie es z. B. bei Schmetter-
lingen der Fall ist, bei denen die Männchen auf
viele Kilometer Entfernung die Weibchen durch
den Geruch wahrnehmen,, zeigten Versuche, bei
denen man die Johanniskäferweibchen in durch-
löcherte Pappschachteln setzte, worauf sie von den
Männchen nicht mehr gefunden wurden. Auch
das Gebahren der Weibchen des großen Johannis-
käfers, sich auf den Rücken zu legen od«- den
Hinterleib emporzuhalten, so daß die Leuchtorgane
sichtbar werden, gibt einen Hinweis auf die Be-
deutung dieser Organe.
Auch in der Tiefsee spielen die Leuchtorgane
für die Auffindung., der Geschlechter sicher eine
Rolle. Sieht man sie doch bei Tiefseefischen
und Tintenfischen meist in ganz charakteristischer
Anordnung und oft noch dazu in verschiedenen
Farben erstrahlen, so daß man unwillkürlich zu
der Auffassung geführt wird, daß dort unten in
den Tiefen des Weltenmeeres die Leuchtorgane
eine ähnliche Rolle spielen wie droben am Tages-
licht die mannigfachen Färbungen und Zeichnun-
gen der Tiere.
In vereinzelten Fällen mag vielleicht das tieri-
sche Licht als Schreck- oder Warnlicht aufzufassen
sein oder wenigstens dazu dienen, den Feind irre
zu führen. Besonders die schon erwähnte Be-
obachtung an Tintenfischen spricht dafür, welche
ein Sekret ausspritzen, das im Wasser eine leuch-
tende Wolke erzeugt, welche sicher ebenso wie
die Entlehrung des Tintenbeutels dazu geeignet
ist, das Tier den Blicken des Verfolgers zu ent-
ziehen.
Es gibt also eine ganze Reihe von Erklärungs-
möglichkeiten, ohne daß wir aber in jedem ein-
zelnen Falle mit Sicherheit entscheiden könnten,
welche Bedeutung das Leuchten für das betreffende
Tier besitzt. So bleiben trotz der zahlreichen
Arbeiten auf dem so interessanten und anziehen-
den Gebiet der leuchtenden Tiere auch heute
noch eine große Reihe von ungelösten Problemen.
Literaturverzeichnis.
In fofgenden Schriften findet man ausführlichere Literatur-
angaben :
Dittrich, R., Über das Leuchten der Tiere. Wissen-
schaft!. Beilage zum Programm d. Realgymnasiums am Zwinger
zu Breslau. Breslau 1888.
Mangold, E., Die Produktion von Licht. In: Handb.
der vergl. Physiol. von H. Winterstein. Bd. 3, 2. Hälfte,
S. 225 — 392. Jena 1910.
Pütter, A., Leuchtende Organismen (Sammelreferat). In;
Zeitschr. f. allgem. Physiol. Bd. 5, S. 17 — 53, 1905.
Später erschienene, benutzte Literatur :
Blanchetiere, Oxydation et lumlnescence. In: C. R.
Acad. Sei. Paris. Bd. 157, S. 118—121, 1913.
Förster, J., Über die Leuchtorgane und das Nerven-
system von Pholas dactylus. In : Zeitschr. f. wiss. Zool.
Bd. 109, S. 349—392, 1914-
Geipel, E., Beiträge zur Anatomie der Leuchtorgane
tropischer Leuchtkäfer. In: Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 112,
S. 239—290, 19 1 5-
Gerretsen, F. C, Über die Ursachen des Leuchtens
der Leuchtbakterien. In: Centralbl. f. Bakt. usw. II. Abt.,
Bd. 52, S. 353—373. i920.
Harvey, E. N. , Studies on bioluminescence I — XII:
In: Amer. Journ. of. Physiol. Bd. 37 — 41; Journ. of biol.
Chem. Bd. 31 ; und Journ. of general Physiol. Bd. I — 2.
1915 — 1920.
Harvey, E. N. , The nature of animal light. „Mono-
grapbs on exper. Biol." Philadelphia 1920.
Heller, R., Biolumineszenz und Stoffwechsel. In:
Intern. Zeitschr. f. pbysik.-chem. Biol. Bd. 3, S. lo6ff., 1917.
Pratj e, A., Noctiluca miliaris Sur. Beiträge zur Morphol.,
Physiol. u. Cytologie I. In: Arch. f. Frotistenkunde. Bd. 42,
S. I — gS, 1921.
Trautz, M., Studien über Chemolumineszenz. In: Zeit-
schr. f. physik. Chemie. Bd. 53, S. I ff., 1905."
Trojan, E., Die Lichtentwicklung bei Tieren. In:
Intern. Zeitschr. f. pbysik.-chem. Biol. Bd. 3, S. 94ff., 1917.
Vogel, K., Zur Topographie und Entwicklungsgeschichte
der Leuchtorgane von Lampyris noctiluca. In : Zool. Anz.
Bd. 41, S. 325—332, 1913-
Einzelberichte.
Das Problem der Uubefruchtbarkeit.
(Mit 2 Abb.)
Es ist eine bekannte Tatsache, daß es nicht
stets möglich ist, durch Verbindung beliebiger
Eltern eine Nachkommenschaft zu erhalten, son-
dern daß in vielen Fällen der Versuch dazu er-
folglos verläuft.
Dieses negative Ergebnis ist dann die Regel,
wenn es sich um Eltern handelt, welche mehr
oder weniger weitgehend voneinander verschieden
sind. Daß dann morphologische Eigentümlich-
keiten der Gameten ihre Vereinigung unmöglich
machen, oder daß zwischen den Keimzellen sol-
cher einander fernstehender Eltern nur geringe
oder keine Affinitäten bestehen, und daß ihr etwa
zustande kommendes Verschmelzungsprodukt oft
ein zur Weiterentwicklung ungeeignetes Reaktions-
system darstellt, ist leicht zu verstehen, und bietet
theoretisch nur geringeres Interesse.
Um so bemerkenswerter ist es, daß manche
geplante Eiterverbindungen keine oder nur mangel-
hafte Nachkommenschaft ergeben, nicht nur „trotz-
dem", sondern sogar gerade „weil" die beteiligten
Eiterorganismen nahe miteinander verwandt sind.
Zweierlei Gründe lassen sich für das Fehlen
oder die Einschränkung der Fortpflanzungsfähig-
keit als unmittelbare Ursachen heranziehen. Einer-
N. F. XX. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
441
seits kommt es vor, daß zwar eine Vereinigung
der beiden Keimzellen stattfindet, daß aber die
entstehende Zygote mangelhaft ist und früh zu-
grunde geht oder sonst für die Erhaltung der
Art ausscheidet. In diesem Falle handelt es sich
um zygotische Unfruchtbarkeit. Andererseits
kömmt es vor, daß eine Verschmelzung der Keim-
zellen, obwohl dieselben sonst dazu geeignet er-
scheinen, nicht stattfindet. Hier unterbleibt also
schon die Empfängnis (Syllepsis), wodurch es zur
aposylleptischen Unfruchtbarkeit kommt. Von der
Möglichkeit, daß eines der beiden zur Kreuzung
verwendeten Eiterindividuen etwa überhaupt keine «
oder nur teilweise brauchbare Gameten hervor-
bringt, daß also gametische Unfruchtbarkeit oder
echte Sterilität vorliegt, darf in diesem Zusammen-
hange abgesehen werden.
Die folgenden Erörterungen sollen sich nur auf
eine Nachkommenlosigkeit oder mangelhafte Fort-
pflanzung infolge von Störungen in der Empfäng-
nis, also im Anschluß an partielle oder totale
Unbefruchtbarkeit (Aposyllepsis) beschränken. Da-
bei wird sich von selbst die Möglichkeit ergeben,
einige recht verschieden erscheinende biologische
Tatsachen unter einheitlichen Gesichtspunkten
zusammenzufassen.
Am übersichtlichsten liegen die Verhältnisse
der Unbefruchtbarkeit bei vielen, in haploider
Phase Mycelien bildenden Pilzen.
Bei den Phycomyceten wurde zuerst festge-
stellt (Blakeslee 1904), daß nicht stets beliebige
Mycelien oder Teile der gleichen Mycelien von
Mucorineen, wie das bei Sporodiuia grandis der
P'all ist, sich miteinander geschlechtlich vereinigen,
sondern daß es innerhalb mancher Arten zweierlei
Mycelien gibt, + -Mycelien und Mycelien, von
denen jede Gruppe in sich nicht zur Coenozy-
gotenbildung schreitet, während zwischen Myce-
lien beider Gruppen es mit großer Lebhaftigkeit
zu Kopulationsvorgängen kommt. Spätere Unter-
suchungen an Pliycomyces nifei/s zeigten dann
(Burgeff 1915), daß die Eigenschaft, als +- oder
— Mycel zu reagieren, sich erblich wie jedes be-
liebige andere von mendelnden Anlagen bedingte
Merkmal verhält.
Ganz ähnliche Resultate ergaben sich bei den
Basidiomyceten. Neben Arten ohne eine erbliche
Spezialisierung in bezug auf die Befruchtbarkeit
{Hypockiins tcrrcstris Kniep 191 3, Collybia
conigena Kniep 1917) fanden sich andere Arten,
bei welchen wiederum zweierlei Typen zu unter-
scheiden waren. Bei dem Antherenbrand {Usfi-
lagu violacca) liegen die Verhältnisse sehr ähnlich,
wie bei Pliycomyces, nur außerordentlich viel klarer,
da die Zygoten hier nicht vielkernig sind, wie die
Coenzygoten oder besser die daraus entstehen-
den Keimsporangien, sondern durch die einkerni-
gen Brandsporen repräsentiert werden, deren
haploide Nachkommen, also die Sporidien, einzeln
geprüft sich zu je einer Hälfte dem +■ und
Typus angehörig erwiesen (Kniep 191 1).
Nun ist es bekannt, daß die meisten Organismen -
arten zweierlei verschiedene haploide Gameten-
sorten hervorbringen, und daß diese wohl wechsel-
weise miteinander kopulieren, nicht aber männ-
liche mit männlichen oder weibliche mit weib-
lichen. Traten also auch bei den Pilzen zwei
Typen von Haplonten bzw. Gameten auf, so lag
es außerordentlich nahe, diese Differenzierung in
zwei durch Sexualsymbiose verknüpfte Mycelsorten
als eine Vorstufe der geschlechtlichen Differen-
zierung anzusehen. Da eine morphologische Ver-
schiedenheit der beiden Mycelsorten nicht festzu-
stellen war, mußte eine physiologische Geschlechts-
differenzierung angenommen werden.
Daß die sonst bekannte geschlechtliche Diffe-
renzierung der Haplonten in Makrogameten und
Mikrogameten rein phänotypisch ist'), während es
sich hier um eine genotypische Verschiedenheit
handelt, ist demgegenüber ganz besonders hervor-
zuheben. Dies Verhalten dürfte zu schweren
Zweifeln an einer Homologisierbarkeit der bei
anderen, in Haplophase befindlichen Organismen
vorkommenden geschlechtlichen Differenzierung
mit der Differenzierung der Pilzmycelien in -f-
und Typen berechtigen. Dazu kommt dann
noch ein weiteres Bedenken.
Die Prüfung des Basidiomyceten Schizophyllum
covunnue ergab nämlich (Kniep 1919), daß der-
selbe nicht nur in zwei Sorten von haploiden
Mycelien vorkommt, sondern in einer ganzen An-
zahl von solchen. Diese stehen zueinander in
ganz verschiedenen Beziehungen, so daß etwa das
Mycel a mit c und d zusammentritt, b dagegen
wohl mit c, aber nicht mit d usw. Daß ein sol-
ches Verhalten mit der überraschenden Einheitlich-
keit bei der ditypen geschlechtlichen Differenzie-
rung kaum harmoniert, liegt auf der Hand. Und
dabei handelt es sich nicht um einen Sonderfall,
sondern um eine auch bei anderen Basidiomyceten
(Kniep 1919) und bei Mucorineen (Burger
1919) vorkommende Erscheinung.
Einen Weg der Erklärung findet man dann,
wenn man an die Erfahrungen über die zygotische
Unfruchtbarkeit anknüpft.
Bei der Frage der zygotischeru Unfruchtbarkeit
ist es möglich gewesen, durch die Annahme be-
sonderer Letal faktoren zu einem gewissen
Einblick in die recht verwickelten Verhältnisse zu
gelangen. Unter Letalfaktoren werden dabei Erb-
anlagen verstanden, welche im heterozygotischen
Zustande ohne weitere Bedeutung sind, dann aber,
wenn sie homozygotisch auftreten, das Gleich-
gewicht in der Zygote soweit stören, daß dieselbe
entweder früher oder später zugrunde geht (oder
gelegentlich auch bloß nicht mehr zur Ausbildung
normaler Keimzellen befähigt ist) '-), oder daß
') Das bei der Moosgattung Sphaeroctiipiis beobachtete
Vorkommen von chromosomaler Differenz zwischen männlichen
und weiblichen Haplonten stellt eine isoliert stehende Aus-
nahme sekundärer Art dar („totale" Heterogametie der Di-
plonten).
''■) Daß es auch Letalfaktoren gibt, in deren Gegenwart
die Haplonten nur im einen oder anderen Gametengeschlecht
442
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 30
sie besonders empfindlich ist und daher in ver-
hältnismäßig größerem Maßstab allerlei Zufällig-
keiten der Umwelt erliegt. Durch die Heran-
ziehung solcher Letalfaktoren (Morgan) als Er-
klärungsprinzip gelang es, den Ausfall oder die
zahlenmäßige Verminderung gewisser, nach den
Vererbungsregeln zu erwartender diploider Phäno-
typen bei Bastardierungsversuchen durch Elimi-
nation zwanglos abzuleiten. Die entwicklungs-
mechanische Seite des Problems, nämlich die
Frage danach, worauf die charakteristische Wir-
kung der Letalfaktoren beruht, konnte bei dieser
rein vererbungstheoretischen Behandlung beiseite
gelassen werden ^).
Elimination
faktoren seien dabei Faktoren verstanden, welche
auf ihresgleichen eine abstoßende Wirkung aus-
üben ^). Der Erfolg dabei sei, daß Zellen, welche
gleichnamige Oppositionsfaktoren tragen, sich
nicht oder nur mehr oder weniger ungern mit-
einander vereinigen lassen, und daß auch sonst
die Gegenwart von gleichartigen Oppositions-
faktoren störend wirkt. Auch in diesem Fall
darf die entwicklungsmechanische Seite des Pro-
blems, die Frage nach der Kausalität der Oppo-
sition, zunächst außer acht gelassen bleiben, da
für die vererbungstheoretische Behandlung nur
das konditionale Verhalten von Bedeutung ist.
Durch die Heranziehung der Oppositionsfaktoren
(f) (ö) (Ü)
I I I
D) m (m:
Prohibition
F.®
(I) (Ö) (D)
1 1 U
(ffi) (m @
Für die Frage der Unbefruchtbarkeit erscheint
es nun möglich, durch die Annahme besonderer
Oppositions faktoren ein einheitHches Er-
klärungsprinzip zu schaffen. Unter Oppositions-
soll nur versucht werden, die Beeinträchtigung des
Auftretens gewisser vererbungstheoretisch zu er-
wartender diploider Phänotypen durch Prohi-
bition abzuleiten '-).
existieren könne (gametic lethals) kann hier aufler Betracht
bleiben, da dies auf das Gebiet der gametischen Sterilität
führt. Dagegen ist vielleicht zu erwähnen, dai3 das alleinige
Auftreten eines Letalfaktors ohne ein normales Allelomorph,
wie das bei geschlechtsgebundenen Letalfaktoren im hetero-
zygotischen Geschlechte in Betracht kommt, ebenfalls zum
Ausfall der betreffenden Kombination führt.
') In manchen Fällen kennt man die Wirkungsweise des
LetaUaktors, so bei dem Faktor für Gclbblättrigkeit bei Antiy-
rhiitum, der homozygotisch die für die Assimilation erforder-
liche Chlorophyllbildung ganz unterbindet. In anderen Fällen
ist über die Phänogenese der Letalität nichts bekannt.
') Der Vergleich eines Oppositionsfaktors mit einer elek-
trisch geladenen Elektrode, die gleichnamig geladene Elek-
troden abstößt, gibt wohl ein Bild vom Charakter der Oppo-
sitionsfakloren, ohne sie jedoch erklären zu können, zumal
eine Anziehung zwischen ungleichen Oppositionsfaktoren nicht
anzunehmen ist. Vielleicht handelt es sich um die Fähigkeit
zur Abgabe wachstumshemmender Stoffwechselprodukte , wie
sie auch von Bakterien bekannt sind.
*) Den Unterschied von Elimination und Prohibition kann
man sich leicht an einem Beispiele klarmachen, n Eizellen
der Sorte a werden im Überschuß besamt mit Samen, der zu
gleichen Teilen a- und b-Zellen enthält, Es werden also zu-
N. F. XX. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
443
Nimmt man das Vorhandensein von solchen
Oppositionsfaktoren an, so findet man keine
Schwierigkeiten für das Verständnis der Dinge
bei den Pilzen. Bei Pliycomyccs, Ustilago violacca
und anderen muß man dann voraussetzen, daß
zwei solche Oppositionsfaktoren im Spiele sind,
die allelomorph sind, also in homologen Chromo-
somen liegen. Träger des gleichen Oppositions-
iaktors werden dann durch die Wirkung der Oppo-
sition, entgegen der trotzdem selbstverständlich
noch vorhandenen wechselweisen zygotaktischen
(Blakeslee) Anziehung, an der Verschmelzung
verhindert.
Die Verhältnisse bei Schisopliylkim liegen dem-
gegenüber so, daß wohl mehrere Oppositions-
faktoren vorhanden sind, bei denen erst durch
ausgedehntere Vererbungsversuche zu ermitteln
wäre, ob und in welchem Umfange sie paarweise
allelomorph sind oder Gruppen multipler Allelo-
morphe darstellen. Jedenfalls lassen sich unter
dieser Annahme ähnlich komplizierte Systeme von
Affinität und Antagonismus ableiten, wie sie bis-
her (Kniep) bekanntgegeben sind. Sehr wichtig
für die Beurteilung der Sachlage in diesem Sinne
ist die Feststellung, daß aus ganz entfernten
Gegenden stammende Mycelien von Schizophylluin
am ausgiebigsten miteinander verschmelzen. Sie
wird durch die Annahme von Oppositionsfaktoren,
die bei fernstehenden Formen selten gleich sein
werden, ohne weiteres verständlich gemacht; die
Vorstellung dagegen, daß paarweise vereinbare
Haplonten zueinander gleichsam komplementäre
Faktoren besäßen, versagt in solchen Fällen. Da-
mit dürfte die schon als selbstverständlich hinge-
stellte Unabhängigkeit der Oppositionsfaktoren von
der stets vorhandenen isogametischen Attraktion
verschiedener Mycelien erwiesen sein ^).
Auch die merkwürdigen Befunde über die Be-
ziehungen zwischen den parasitischen und den
von ihnen befallenen Mucorineen, nämlich daß
nächst im Mittel gleich oft Verbindungen aa und ab möglich
sein. Findet nun eine Elimination der aa-Zygoten statt , so
resultieren nur n/2 Nachkommen der Konstitution ab; findet
eine Prohibition der aa-Zygotenbildung statt, so werden die
für a- Samenzellen zuständigen a- Eizellen nachträglich auch
von b befruchtet ; es resultieren also n Nachkommen der
Konstitution ab. Die beiden beigegebenen Schemata zeigen
dasselbe für einen einfachen Mendelfall. Links ist der hetero-
zygotische zwittrige Elter angegeben, dann folgen die ge-
schlechtsdimorphen Gametangien ($ und 0-"'); Samenzellen (er)
seien doppelt so viel vorhanden als Eizellen (9) ; das ange-
kreuzte Chromosom trage bei Elimination den Letalfaktor, bei
Prohibition den Oppositionsfaktor, und gelange in die Hälfte
der Gameten jeder Sorte. Die punktierten Gameten kommen
unter den Umständen nicht zur Befruchtung, die punktierte
Zygote geht zugrunde. Das Verhältnis der Heterozygoten (ab)
und Homozygoten (bb) ist dann bei Elimination 2:1, bei
Prohibition 3 : I (oder auch > 3 : I , wenn eine nennenswerte
Ablenkung der normalen Gameten erfolgt, wodurch wiederum
die Befruchtung normaler Eizellen von Prohibitionsgameten
begünstigt wird).
') Zu erwarten wäre unter den Umständen, daß eine
Schwächung des Oppositionsfaklors durch die Lebenslage
auch die Vereinigung homologer Mycelien ermöglichen würde
— eine Vermutung, welche anscheinend ausnahmsweise im
Verhalten alternder Kulturen eine Bestätigung findet.
meist nur -f -Parasiten auf — Wirten parasitieren
können und umgekehrt (Burgeff 1921) stehen
gut im Einklang mit der Annahme von Oppo-
sitionsfaktoren. Es liegt kein Grund dagegen vor,
daß verwandtschaftlich nicht einmal allzu ver-
schiedene Pilzarten einander gleiche oder ähnliche
Oppositionsfaktoren aufweisen können. Die Be-
trachtung des Parasitismus selbst als eines rudi-
mentären Geschlechtsvorganges (Burgeff) wird
dadurch natürlich in keiner Weise berührt.
Alles in allem bietet die Einführung von Op-
positionsfaktoren, also die Annahme einer geno-
typischen Opposition, einen unschwer gangbaren
Weg zur Ableitung der Besonderheiten beim Ge-
schlechtsvorgange der Pilze. Unter den Um-
ständen stellt dann die Stufenleiter von Ver-
schiedenheiten beim Sexualakt der Pilze zum Teil
nur eine Reihenfolge von Fortpflanzungstypen
ohne oder mit verschiedenartigen Oppositions-
faktoren dar, hat aber mit der sonst vorkommen-
den Geschlechtsdifierenzierung nichts zu tun.
Wenn man trotzdem auch hier von „geschlecht-
licher" Differenzierung sprechen will, so muß man
jedenfalls im Auge behalten, daß es sich um einen
dritten Typus derselben (Aethogametie) handelt,
welcher von der phänotypischen Anisogametie ^)
der Haplonten (die oft auch auf den Diplonten
übergreift) und der genotypischen Heterogametie
der Diplonten grundsätzlich zu unterscheiden ist
(Prell 1921).
Analoge Erscheinungen, wie bei den Pilzen,
finden sich überraschenderweise auch bei höheren
Pflanzen und bei Tieren. Dabei handelt es sich
um eine Spezialisierung, die neben der gameten-
geschlechtlichen einhergeht und sich dadurch ohne
weiteres als unabhängig davon erweist. Zuerst
beobachtet wurde dieselbe bei zwittrigen Organis-
men, also solchen, bei welchen die zur Vereini-
gung vorgesehenen Gameten sich von der gleichen
Zygote herleiten können, und daher stammt
auch die unglücklich gewählte Bezeichnung als
Selbststerilität. Obwohl es sich dabei nicht
um echte (gametische) Sterilität handelt, sondern
um Unbefruchtbarkeit, und obwohl dabei nicht
bloß eine Unbefruchtbarkeit durch eigene Ge-
schlechtszellen in Betracht kommt (also individuelle
Identität der zu verbindenden Eltern), sondern
eine solche durch Geschlechtszellen von gewisser
genotypischer Struktur oder Herkunft, dürfte es
praktisch aussichtslos sein, den fest eingeführten
Namen durch einen anderen, wie etwa Selbst-
unempfänglichkeit (Sirks), zu ersetzen.
Die Tatsache, daß die Narben zwittriger Blüten
manchmal mit dem Blütenstaub der gleichen Blüte
nicht fruchtbar bestäubt werden können, ist der
pflanzenzüchterischen Praxis schon sehr lange be-
kannt; entsprechend der ebenso bekannten Tat-
sache, daß diese Unbefruchtbarkeit sich auch auf
') Bei manchen Mucorineen (Zygorrhyiichus), bei welchen
verschieden gestaltete Seitenäsle des gleichen Mycels mitein-
ander Zygosporen bilden, scheint auch echte Anisogametie
vorzukommen (Blakeslee 1904).
444
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 30
die übrigen Blüten des gleichen Stockes erstreckt,
konnte dasselbe Verhalten auch für die Blüten
vegetativ davon gewonnener Sprößlinge ermittelt
werden {Lüiiim hiilbiferiti)i).
Wesentliche Fortschritte brachte dann der Ver-
such, die Erblichkeitsverhältnisse der Selbststerilität
aufzuklären. Bei verschiedenen Pflanzen, besonders
klar bei Vcronica syriaca (Lehmann 19 19), stellte
sich einheitlich heraus, daß in der Nachkommen-
schaft zweier selbststeriler Pflanzen vier Gruppen
von Sprößlingen aufzutreten pflegen, welche jede
in sich nicht fortpflanzungsfähig sind, wechselweise
verbunden, aber Nachkommenschaft liefern. Eine
Erklärung für dies merkwürdige Verhalten konnte
bisher noch nicht gegeben werden, nachdem die
ursprünglich vorgenommene Faktorenanalyse sich
als nicht ausreichend erwiesen hatte. Die soeben
an den Pilzen erprobten Hilfsannahmen ermöglichen
es jetzt, dem Problem näher zu kommen. Auch
in diesem Falle liegt es nahe, den Hauptwert
nicht auf die Tatsache des vorkommenden Zu-
sammenpassens, sondern auf die des gelegentlichen
Nichtzusammenpassens zu legen. Es wäre dann
also nicht mit dem Vorhandensein besonderer,
gleichsam komplementärer, Stimulantia (Jos t 1907)
für das Pollenwachstum zu rechnen, sondern mit
Hemmungsstoffen (Correns 191 3), welche sich
der normalen zygotaktischen Attraktion bzw. der
normalen Stimulation des Pollenwachstums durch
chemische Substanzen der Narbe widersetzen.
Die Arbeitshypothese vom Vorkommen von
Oppositionsfaktoren läßt nun in der Tat das
sonderbare Verhalten der Nachkommen selbst-
steriler Pflanzen mühelos ableiten. Geht man
von der Voraussetzung aus, daß ein Satz von vier
Oppositionsfaktoren beteiligt sei, welche als mul-
tiple AUelomorphe auf homologen Chromosomen
gelegen seien, so ergibt sich ohne weiteres, daß
aus der Verbindung der Eltern Oj O2 und O3 O^
die Sprößlinge Oj O3, Oj O^, Oo O3 und Og O4 her-
vorgehen müssen, also die verlangte Tetratypie
der Nachkommenschaft zustande komtnt*).
Eine große Schwierigkeit für das ganze Pro-
blem bedeutet es, daß es sich bei der Selbst-
sterilität nicht um das Verhalten von Haplonten
zueinander handelt, wie bei den Pilzen, sondern
um das Verhalten von Haplonten zu Diplonten.
Erfolgt eine Selbstbestäubung, also gelangt etwa
der Pollen mit dem Faktor O, auf die Narbe
seiner IMutterpflanze Oj Og , so wird seine Ent-
wicklung selbstverständlich durch die diploiden
Zellen derselben gestört, weil diese auch den
Faktor Oj enthalten. Ob dabei der Pollenschlauch
gar nicht in die Narbe eindringen kann (Carda-
') Erwähnt sei, daß es unter sonst selbststerilen Pflanzen
gelegentlich auch solche gibt, die selbstfertil sind. Hierbei
ist jedenfalls anzunehmen, dafi die Empfindlichkeit für Oppo-
sitionsfaktoren von besonderen Sensibilationsfaktoren bestimmt
wird, welche gegen die Faktoren für Unempfindlichkeit rezessiv
sind. Bei Kreuzung der fertilen gegen die selbststerilen Sippen
ergibt sich dann für fertil : steril das Verhältnis 3 : 1 (Reseda
nach Comp ton) oder 15:1 bei Homomerie der Sensibila-
toren (Antirrh'mttm nach Baur).
mine) oder nicht weit oder nicht rasch genug
[Ociwfliera), ist von sekundärem Iifteresse, weist
aber schon auf verschiedene Intensität des dem
normalen Pollenwachstum widerstrebenden Oppo-
sitionsfaktors hin.
Die Opposition bleibt im Prinzip die gleiche,
wenn derselbe Pollen Oj auf eine andere Pflanze
der gleichen Klasse Oj Og gelangt; immerhin
scheint hier gelegentlich der Widerstand des Op-
positionsfaktors vom Pollenwachstum überwunden
werden zu können, so daß unerwartete Befruchtung
eintritt (Klasse i bei Cardamiiic nach Correns).
Verwickelter werden die Dinge dann, wenn
man den Kreuzungsmöglichkeiten der vier Spröß-
lingstypen untereinander und mit den beiden
Eltern, kurz also der sechs möglichen Paarkombi-
nationen zwischen den vier Oppositionsfaktoren,
nachgeht. Die Versuche ergaben bei Cardamine
und ? "(VYw/'tv?, daß die vier Sprößlingstypen wechsel-
weise miteinander fertil sind; bei Liuaria (Cor-
rens 1916) fand sich auch eine individuelle Aus-
nahme davon. Die Rückkreuzungen führten bei
Cardaviiiic zu dem Resultat, daß im wesentlichen
einer der Sprößlingstypen (O, O^) mit beiden Eltern
fertil war, je einer mit je einem der Eltern (Oj O4
und Oo O3), der vierte mit keinem der Eltern
(o.,o,):
Die Faktorenanalyse stößt hier auf neue Kom-
plikationen. Am einfachsten liegen die Dinge
.bei einer Kreuzbefruchtung, bei welcher etwa
Pollen Ol der Pflanze Oj O., auf Narben der
Pflanzen O^ Oj, oder O, O4 gelangt ; auch in diesem
Falle findet eine direkteOpposition auf geno-
typischer Basis statt. Anders wird die Sache aber,
wenn etwa der Pollen O^ einer Pflanze OaOi, auf
die Narbe der Tochterpflanze Ob Oc gelangt. Die
Vererbungsversuche an Cardamine haben in diesem
Falle ergeben, daß hier ein verschiedenes Ver-
halten eintreten kann; bei der einen Sprößlings-
gruppe blieb eine solche Verbindung steril (O3
aus O3O4 auf O., O4), bei der anderen war sie
fertil (O2 aus O/O.j auf Oj O3).
Hier spielt augenscheinlich ein neues Moment
hinein, nämlich das Zustandekommen einer indu-
zierten Opposition. Bei deren Erörterung
ist man dann gezwungen die rein konditional-
vererbungstheoretische Basis zu verlassen, und
etwas dem kausal-phänogenetischen Zusammen-
hange nachzugehen.
Den Vorgang der Induktion kann man sich
entwicklungsmechanisch vielleicht so vorstellen,
daß durch das Entstehen aus einem Gonotokonten
O3 O4 der Haplont O3 mit einem Protoplasma
ausgestattet ist, welches noch die Hemmungs-
stoffe von O, enthält; dieses Protoplasma wird
dann in ähnlicher Weise reagieren, als wenn
der die Ausbildung der Hemmungsstoffe veran-
lassende Faktor O4 selbst noch vorhanden wäre,
nur dürfte die Wirksamkeit der induzierten Oppo-
sition viel größeren Schwankungen unterliegen.
Eine andere und wohl bessere Erklärungs-
möglichkeit ist die, daß man die induzierte Op-
N. F. XX. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
445
Position vollkommen von der direkten trennt
und sie tiefer zu fassen sucht. Das geschieht,
wenn man die induzierte Opposition als eine rein
plasmatische Reaktion ansieht und sie auf Vor-
gänge vom Charakter der Anaphylaxie zurück-
führt. Der Pollen mit dem Faktor Oa ist dann
anaphylaktisch empfindlich zu denken gegen die
von Ob hervorgebrachten Substanzen, gegen die
er ursprünglich bei seiner Entstehung im Organis-
mus Oa Ob Schutzstoffe gebildet hatte ; kommt er
dann bei der Bestäubung mit dem Ob enthalten-
den Diplonten OaOi, in Berührung, so wird er
dadurch mehr oder weniger geschädigt und oft
von der Befruchtung ausgeschlossen.
Durch die Verbindung von direkter und
induzierter Opposition lassen sich dann die Ver-
hältnisse des Erbganges bei Cardamuic verstehen,
wenn man Verschiedenheiten in der Potenz der
Oppositionsfaktoren annimmt.
Ein ähnliches Vorkommen von Unbefrucht-
barkeit, wie bei den selbststerilen Pflanzen, ist auch
von einem Tier, der zwittrigen Seescheide Cioiia
intestinalis (Morgan 19 lo) untersucht worden.
Anscheinend spielen hier mehr Oppositionsfaktoren
herein, analog dem Verhalten von Schizophylkini,
deren Isolierung und Gruppierung nach den vor-
liegenden Ergebnissen noch nicht möglich ist.
Daß Unbefruchtbarkeit auch für die getrenntge-
schlechtigen Tiere zu berücksichtigen ist und für
die mangelhaftere Fortpflanzung bei Inzucht ge-
legentlich mit verantwortlich gemacht werden
muß, ist äußerst wahrscheinlich, aber noch nicht
experimentell belegt.
Außer bei den „physiologisch sexualdififerenten"
Pilzen und den „selbststerilen" Pflanzen und Tieren
kommt nun Unbefruchtbarkeit noch bei einer
dritten Gelegenheit vor, nämlich bei der Erschei-
nung der Heterostylie.
\ Bekanntlich gibt es bei den heterodistylen
Pflanzen, wie den Primeln und anderen, zwei
Typen, welche sich durch ihre Blütenform unter-
scheiden, nämlich kurzgriffelige mit hochgestellten
Antheren und langgriffelige mit tiefgestellten
Antheren. Miteinander gekreuzt (legitime Be-
stäubung) geben diese beiden Typen reichlichere
Nachkommenschaft, als wenn sie innerhalb der
Typen verbunden werden (illegitime Bestäubung);
in manchen Fällen findet eine illegitime Be-
fruchtung überhaupt nicht statt.
Die Spezialisierung in zwei verschiedene diploide
Typen, welche miteinander in Sexualsymbiose
leben, legt vielleicht auch hier die Annahme von
Beziehungen zur geschlechtlichen Differenzierung
der Diplonten nahe. Dafür würde sprechen, daß
sowohl die Heterostylie, als auch die heterogame-
tische Bisexualität auf genotypischer Basis be-
ruhen. In beiden Fällen ist die Unbefruchtbarkeit
zwischen Haplonten gleicher Herkunft nicht an
eine einzelne, in den Haplonten vorhandene An-
lage, sondern an das Vorhandensein einer be-
stimmten Kombination von mehreren derselben
in dem die Haplonten erzeugenden elterlichen
Diplonten gebunden und daher bei den Haplonten
selber rein plastotypisch bedingt. Wichtig ist aber
der Unterschied, daß bei der Bisexualität und der
nahestehenden Heterodynamie die Verschiedenheit
der diploiden Eltern eben die Verschiedenheit der
Gameten als männliche oder weibliche zur Folge
hat, bei der Heterostylie aber eine andere, gleich-
zeitig und unabhängig davon auftretende Eigen-
schaft. Dies und die Tatsache, daß es auch Tri-
morphismus der Heterostylie gibt {Lytlirum) spricht
dafür, beide Arten der Differenzierung als unab-
hängige Parallelerscheinungen anzusehen.
Das Vorkommen herabgesetzter oder fehlender
Nachkommenerzeugung bei der illegitimen Be-
stäubung der Heterostylen läßt sich nun ohne
weiteres auf induzierte Opposition zurückführen.
Für die Mechanik der plastotypisch bedingten
Unbefruchtbarkeit liegt es dabei nahe, wiederum
zu der Annahme von anaphylaktischen Erscheinun-
gen zu greifen. Man könnte dann etwa annehmen,
daß der Pollen mit dem Faktor A gegen den Einfluß
des ihn umgebenden Gewebes AB erst Schutz-
stoffe bildet, und dann, nach seiner Umkapselung
durch die Pollenmembran gegen dieselben Ge-
webe von einer bestimmten, durch die Gesamt-
konstitution AB bedingten chemischen Beschaffen-
heit so empfindlich wird, daß er beim Versuch
des Keimens darauf mehr oder weniger Not leidet.
Daß durch eine solche Anschauungsweise das
phänogenetische Problem bereits gelöst wäre, wird
man allerdings kaum behaupten dürfen; aber es
ist so doch wenigstens möglich, an Bekanntes von
anderen Gebieten anzuknüpfen.
Damit dürfte die Zahl der hier in Betracht
kommenden Typen der Unbefruchtbarkeit, von
denen nur wenige Einzelheiten berücksichtigt
werden konnten, einen Abschluß gefunden haben.
Faßt man die bisherigen Resultate über die
Verhinderung oder Erschwerung der Fortpflanzung
infolge des Auftretens von Unbefruchtbarkeit zu-
sammen, so lassen sich zwei verschiedene Ur-
sachen dafür einander gegenüberstellen, nämlich
die direkte oder genotypisch bedingte Unbefrucht-
barkeit und die induzierte oder plastotypisch bedingte
Unbefruchtbarkeit. Und diese beiden Ursachen
sind an den einzelnen beobachteten Fällen von
Unbefruchtbarkeit in verschiedener Weise beteiligt.
Im einen Falle liegt ein rein genotypisch be-
stimmtes Verhalten vor (Pilze), im anderen ein
rein plastotypisch bestimmtes (Heterostylie), im
dritten schließlich führt die Verknüpfung von
genotypischer und plastotypischer Bestimmung
(selbststerile Pflanzen und Tiere) zu einer erheb-
lichen Verwicklung. Hoffentlich gelingt es, nach-
dem so ein Überblick über die konditionalen
Verhältnisse gewonnen ist, nunmehr auch in die
kausalen Zusammenhänge dieser ebenso interessan-
ten, wie eigenartigen Dinge tiefer einzudringen.
Zitierte Schriften.
Baur, E. , Einführung in die experim. Vererbungslehre,
III. Aufl., 1919. — Blukeslee, A. F., Proc. Americ. Arad.
of Arts and Sei., XL, 1904. — Burgeff, H., Flora, CVII,
446
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 30
1914; CVIII, 1915; Ber. Deutsch. Bot. Ges., 1920. — Bur-
ger, O. F., Bot. Gaz., LXVIII, 1919 (ref. Zeilschr. f. Bot.
XII, 1920). — Correns, C, Biol. Zenlraibl, XXXIII, 1913;
Naturwissenschaften, IV, 1916. — Jost, L. , Bot. Zeitung,
LXV, 1907. — Kniep, H., Zeitschr. f. Bot., V, 1913; IX,
1917; XI, 1919; Verh. Physilä.-Med. Ges. Würzburg, 1919. —
Lehmann, E., Zeitschr. f. indukt. Abst. U.Vererbungslehre,
XXI, 1919. — Morgan, T. H., Arch. f. Entw.-Mech., XXX,
1910. — Prell, H., Arch. f. Entw.-Mech. (im Druck), 1921.
Prell, Tübingen.
Haiiptebene der Milchstraße.
Die wahre Lage der Hauptebene der Milch-
straße, die sog. galaktische Ebene hat Graff in
Hamburg auf photometrischem Wege bestimmt,
indem er eine Reihe von Querschnitten durch die
Milchstraße legte, und dann durch deren Schwer-
punkte eine Ebene legte. Es zeigte sich das
wichtige Ergebnis, daß die so erhaltene Ebene
einen größten Kreis ergibt, daß in der Ebene
dieses Kreises die Sonne liegt, und daß also das
visuelle Bild der Milchstraße gerade den schwächsten
Objekten, Sternhaufen und Nebeln verdankt wird,
nicht den schwachen Sternen bis zur 9,5. Größe,
aus denen Ristenpart seinerzeit abgeleitet hatte,
daß die Sonne außerhalb der Hauptebene liege
und daß ferner die Milchstraße aus zwei sich
schneidenden Ebenen bestehe, die um einen er-
heblichen Winkel gegeneinander geneigt waren.
Diese Sterne sind offenbar nicht zahlreich genug,
das wahre Bild der Milchstraße zu ergeben, dies
tun jene Objekte, die alle schwächer als die
12. Größe sein dürften, ein kosmologisch wichtiger
Befund. Riem.
Ein Gasstern.
Am 13. Dezember 1920 haben Pease und
Anderson auf der Mt Wilson - Sternwarte nach
der von Mich eis on angegebenen Interferenz-
methode mit Hilfe des 250- cm- Spiegels eine
Durchmesserbestimmung des Sternes Beteigeuze
im Orion vorgenommen. Sie haben den Durch-
messer zu 0,047 Bogensekunden gemessen. Nun
ist die Parallaxe des Sternes ziemlieh unsicher be-
kannt, sie dürfte in der Gegend von 0,016 Sek.
liegen. Mit dieser Annahme würde sich dann
der Durchmesser des Sternes zu 2,94 astronomische
Einheiten ergeben, das ist mit anderen Worten
eine Größe des Sternes, dessen Querschnitt der
Bahn des Mars nahekommen würde. Es gäbe
das im Vergleich zu unserer Sonne das 64-mil-
lionenfache Volumen, und da es aus anderen
Gründen als wahrscheinlich zu betrachten ist,
daß die Sterne eine durchschnittliche mittlere
Größe haben, so bleibt nur übrig anzunehmen,
daß der Stern ein ganz außerordentlich dünner
Gasstern sein muß, wie ihn Emden in seinem
Werk über Gaskugeln beschrieben hat. Offen-
bar hat der Stern nach Art der Plejadensterne
eine sehr ausgedehnte Atmosphäre, die sich an
der Bildung der Interferenzstreifen beteiligt, so
daß diese ungeheure Größe herauskommt. (Pop.
Astronomy 1921, Januarheft.) Riem.
Clieniische Konstitution und physiologische
Wirksamkeit bei Kokaiualkaloiden.
Die wichtige und im allgemeinen noch recht
unbefriedigend beantwortete Frage nach dem Zu-
sammenhang zwischen chemischer Konstitution
und physiologischer Wirksamkeit hat im Gebiet
der Älkaloide, die dem Kokain nahestehen, eine
bemerkenswerte Förderung erfahren. Um sie zu
verdeutlichen, seien, ohne nähere Begründung der
angegebenen Konstitution, die wichtigsten hierher
gehörigen Stoffe in ihrer chemischen Formulierung
abgebildet. Sie leiten sich ab von dem sog.
Tropan (I). Gliedert man an den in ihm be-
findlichen Ring bestimmte Seitenketten an, so
erhält man das Tollkirschengift Atropin (II),
sowie das in den Coca-Arten weitverbreitete
Kokain (III):
cn/ \h, ch/ ^ch, ch,.oh
CIIj.N (Ih,
CHj.N CH.O-CO.CH Call-,
1 1
' 1 ,'.,
I
II.
cnf ! Vh.co,ch,
CHj.N CH.O-CO.QHr,
C1I„
CH.
.\
CH
III.
Die physiologische Wirksamkeit des Atropins
ist sehr vielseitig, am bekanntesten ist wohl seine
pupillenerweiternde Einwirkung auf das Auge.
Kokain lähmt in erster Linie die Endigungen
der sensiblen Nerven, wirkt also anästhesie-
rend. Bei der ausgedehnten Verwendung beider
Älkaloide ist es verständlich, daß schon seit langer
Zeit Untersuchungen vorgenommen wurden, die
strukturellen Bestandteile zu erkennen, die die
bemerkenswerten physiologischen Eigenschaften
der genannten Stoffe bedingen. Durch Variation
der Seitenketten insbesondere sind dabei zahl-
reiche neue und nicht minder wertvolle Stoffe
gewonnen worden, so z. B. Eukain, Novokain und
andere. Sie alle wirken schwächer als Kokain.
In einer großen Zahl experimentell schwieriger
und methodisch sehr bemerkenswerter Arbeiten
hat in letzter Zeit J. v. Braun-BerHn ') durch
systematische Veränderungen von Natur und
Stellung der im Kokain vorhandenen Gruppen
die folgenden Ergebnisse erlangt. Es ist für die
hierher gehörigen Älkaloide das Gesamtmole-
kül von auffallend geringem Einfluß auf die
physiologischen Eigenschaften, dagegen haben
') Ber. d. d. Pharmaz. Gesellsch. 30, S. 295 (Heft 5).
N. F. XX. Nr. 30
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
44;
scheinbar geringfügige Änderungen, wie Ver-
längerung einer Kette oder Entfernung
zweier Substituenten voneinander die
größte Wirkung. Insbesondere der letzte Umstand
hat dabei zu einem wichtigen Ergebnis geführt.
Es gelang v. B r a u n zum ersten Male, denjenigen
Punkt herauszufinden, bei dem die physiologische
Wirksamkeit zweier Seitenketten ihr Höchstmaß
erreicht. Dieses Optimum der Wirkung tritt ein,
wenn der Stickstoff und der mit einem Säurerest
beladene Sauerstoff (vgl. die Formeln) durch drei
Kohlenstoffatome voneinander getrennt sind. Es
ist sehr bemerkenswert, daß in der Mehrzahl der
Fälle dieser ausgezeichnete Punkt auch in den
natürlich gefundenen Alkaloiden verwirklicht
ist. Vielleicht zufällig, ist es doch erwünscht zu
sehen, ob auch in anderen Gebieten natürlicher
Stoffe ähnliche Verhältnisse obwalten.
Bei den zahlreichen im Verlauf der Unter-
suchung neu dargestellten Stoffen, die aufzuführen
hier zu weit führen würde, gelang v. Braun die
Synthese einiger Verbindungen, die die Grund-
lage der eben skizzierten Ausführungen bilden,
und die von der genannten optimalen physio-
logischen Wirksamkeit sind. Als das beste
Derivat aller untersuchten bzw. dargestellten Ko-
kainalkaloide erwies sich ein Stoff der Formel
.CH... (CHä)-,.0-C0-C(,H6
\/
N I
I
CH ^
CH.
der mit dem Namen Benzoyl-oxy-propyl-norek-
gonidin - ester zu belegen ist. Dieser Stoff ist
dem Kokain in seiner anästhesierenden Kraft
weit überlegen. Er ist zudem nicht giftig
und kann ohne Zersetzung sterilisiert werden.
Das Kokain ist also durch die erlittene Umfor-
mung in hohem Grade veredelt worden. Auch
fabrikatorische Schwierigkeiten treten in nennens-
wertem Grade nicht auf. ^) Der Stoff wird daher
industriell (in den Grenzacher Chemischen Wer-
ken) bereits gewonnen und führt den Handels-
namen Ekkain. — Neben der hohen theoreti-
schen Wichtigkeit dieser Entdeckung sei besonders
dieser neue Erfolg einer Veredelung weniger
wertvollen Naturproduktes hervorgehoben.
H. Heller.
') D.R.P. 301 139.
Bücherbesprechungen.
Die Farbe, Sammelschrift für alle Zweige der
Farbkunde. Unter Mitwirkung zahlreicher Mit-
arbeiter herausgegeben von Wilhelm Ostwald.
I. Jahrgang, I. Mappe. Leipzig 1921, Verlag
Unesma. 11,55 M.
Mit der vorliegenden Mappe beginnt eine Reihe
von Veröffentlichungen zu erscheinen, die nach
Form und Inhalt sehr bemerkenswert sind. Weder
Zeitschrift noch Buch stellt diese „Sammelschrift"
die erste Verwirklichung dessen dar, wonach sich
wohl ein jeder, der aus irgendeinem Grunde
literarische Unterlagen zu erwerben oder auch
nur zu benutzen wünschte, gesehnt hat : die Mög-
lichkeit, eine jede Abhandlung, und sei sie noch
so klein an Umfang, einzeln, ohne den Ballast
eines ganzen Zeitschriftenjahrganges oder eines
dicken Werkes zu benutzen. Wer irgendeine
Arbeit aus dem in diesen Tagen gewaltig sich
verbreiternden Gebiet der Farbkunde zu besitzen
oder auch nur durchzulesen wünscht, braucht
lediglich diese Arbeit anzufordern; er erhält sie,
ohne verpflichtet zu sein, die anderen auch nur in
dieser ersten Mappe befindlichen Abhandlungen
zum gleichen Thema mit in Kauf nehmen zu
müssen. Die Sammelschrift ist also eine Folge
von Veröffentlichungen , von denen eine jede
einzeln gedruckt und geheftet erhältlich ist, so
daß man nach Belieben alle oder auch nur eine
beschränkte Anzahl erwerben kann. Da sie alle-
samt im Weltformat 16:22,6 erscheinen, so macht
eine Sammlung, gegebenenfalls auch Bindung, nie
Schwierigkeiten; kurz, die Vorzüge dieser Form
der Veröffentlichung leuchten, zumal in diesen
Zeiten der allgemeinen Teuerung, ohne weiteres
ein. Berichterstatter möchte wünschen, es folgten
bald andere Verleger dem guten Beispiel in allen
Fällen, wo nicht anderweitige Gründe eine solche
Aufteilung der Druckwerke zu verbieten scheinen.
Inhaltlich bringt diese Mappe acht, zumeist
der Feder W. Ostwalds selbst entstammende
Abhandlungen, die den von dem Herausgeber be-
gonnenen Neubau der Farbkunde nach Maß und
Zahl fortbilden helfen. So ist die „Anordnung
aller Farben in Flächen und Reihen" erläutert, für
die praktische Verwendung des Farbkörpers eine
beträchtliche Erleichterung. Andere Beiträge er-
klären die auf Grund der Farbnormung sich er-
gebenden „Farbzeichen" und „abgekürzten Farb-
systeme". Sogar die stenographische Wiedergabe
gesehener bunter Farben mit Bleistift oder Feder
ist hier erstmalig beschrieben. F. Krüger
handelt von den Farbnormen vom Standpunkt
des Praktikers, Goldschmidt endlich spricht
von den weißen Farben in Natur und Technik.
Es handelt sich mithin um eine Reihe höchst be-
langvollerSchriften, die denen, die die neue Farben-
lehre kennen (vgl. Naturw. Wochenschr. N. F.,
XIX, S. 129), willkommene Bereicherungen ihrer
Kenntnisse sein werden. Wir kommen auf Einzel-
heiten der schönen Veröffentlichung in anderem
448
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 30
Zusammenhang ausführlicher zurück. Hier ge-
nügt es, die neue Sammelschrift nachdrücklich zu
fleißigem Studium zu empfehlen. Der sehr niedrige
Preis vor allem eben der einzelnen Arbeiten (die
nicht teurer sind als im Rahmen der Gesamt-
mappe 1) läßt es angezeigt erscheinen, die Ver-
öffentlichungen zu dauerndem Besitz zu erwerben.
Ein jeder kann auf diese Weise zur Verbreitung
tieferen und richtigen Verständnisses aller Farben
und ihrer Anwendungen beitragen. H. Heller.
Euler, Hans, Chemie der Enzyme. 2., voll-
ständig umgearbeitete Auflage. I. Teil. All-
gemeine Chemie der Enzyme. Mit 32 Text-
figuren und I Tafel. München u. Wiesbaden
1920, J. F. Bergmann. Geh. 56 M.
Die Chemie der Enzyme hat in den letzten
Jahren in vieler Hinsicht beträchtliche Fortschritte
gemacht. Die Notwendigkeit einer völligen Um-
arbeitung des 1910 zuerst erschienenen Buches
ist dafür ein Ausdruck. Sachlich ist damit sehr
viel gewonnen worden. Rückt doch immer mehr
des gerade in diesem Gebiete überreichen und
unübersichtlichen Tatsachenmaterials in den Be-
reich messender und damit eigentlich erst wissen-
schaftlicher Untersuchung. Dem Unbefangenen
mag freilich auch jetzt noch vieles, allzuvieles rein
empirisch und außerhalb bekannter allgemeiner
Gesetzmäßigkeiten stehend erscheinen. Der Verf.
läßt erfreulicherweise über diesen unfertigen Cha-
rakter der Enzymchemie keinen Zweifel. Um so
mehr glaubt der Berichterstatter deshalb be-
rechtigt zu sein, gewissen sehr entschieden aus-
gesprochenen Ansichten des hochgeschätzten Verf.
ein Fragezeichen beizufügen. So dort, wo die
Enzyme „im allgemeinen" als Kolloide ge-
kennzeichnet werden. Soll das heißen, das ihre
katalytische Wirkung im wesentlichen von
ihren kolloidalen Eigenschaften bestimmt wird, so
ist demgegenüber zu betonen, daß ein experi-
menteller Anhalt hierfür nicht gegeben ist;
Willstätters Arbeiten widersprechen dem
durchaus, und auch Michaelis hat sich jüngst
sehr bestimmt in gegenteiligem Sinne geäußert.
Übrigens legt gelegentlich Verf. selbst der Be-
handlung der Enzyme als Kolloide nur geringen
heuristischen Wert bei (S. 62). Und wenn (S. 85)
gegenüber Wo. Ostwald die Absorption als
eindeutig chemischer Vorgang bezeichnet wird,
so muß gefragt werden, welches denn der wesent-
liche Unterschied und die Grenze zwischen „che-
mischen Valenzkräften" und „Molekularattraktions-
kräften" ist? Immerhin: diese Ausstellungen be-
rühren das Wesen des Werkes nicht. Wir be-
sitzen darin vielmehr eine ganz vorzügliche Dar-
stellung der in der enzymatischen Chemie ob-
waltenden allgemeinen Verhältnisse.
Nach einem einleitenden Abschnitt über Dar-
stellung, Reinigung und Aufbewahrung der En-
zyme werden besprochen die Enzyme als Elektro-
lyte, als Kolloide, ihre allgemeine Reaktionskinetik,
der Einfluß von Giften, Temperatur, Strahlung;
endlich enzymatische Reaktionsgleichgewichte und
Synthesen, spezifische Wirkungen und endlich die
Enzymbildung in der lebenden Zelle. Die im
Rahmen dieser wahrhaft umfassenden Übersicht
gegebene Literatur, sowie die wohldurchdachte
Hervorhebung des hypothesenfreien sicheren
Materials machen das Buch jedem, der sich mit
dem auch praktisch so wichtigen Gebiet befassen
will, zum unentbehrlichen und zuverlässigen Führer
und Helfer bei weiteren Forschungen. Für solche
Leser, und nur diese haben den vollen Genuß des
Werkes, empfindet Berichterstalter jedoch einige
Abschnitte etwas zu breit angelegt. Beispiels-
weise sind die elektrolytischen Dissoziationsgleich-
gewichte (S. 16 ff.) zu allgemein gefaßt: die Ab-
leitung der K-Definition muß einem angehenden
Enzymatiker bekannt sein ! Das Gleiche gilt für
die Kolloide (S. 63 ff.), den osmotischen Druck usw.
Selbst fast wörtliche Wiederholungen kommen
dadurch zustande (S. 64 u. 65). Durch den in
diesen Teilen häufigen Gebrauch des Wortes „be-
kanntlich" stützt der Verf. diese Auffassung selbst.
Die Kürzung dieser Abschnitte ist dringend zu
empfehlen. S. 109/10 können die Formeln von
Henri (1) wegfallen.
S. 17 muß es unter Fig. la heißen; 10* statt
lO"". — S. 50 durfte der Name Hantzschs
nicht fehlen. — S. 94 ist die Abkürzung Ac besser
auszuschreiben.
Der Preis des sachlich höchst schätzenswerten
und gut ausgestatteten Buches muß als niedrig
bezeichnet werden. H. Heller.
Literatur.
Bütschli, Prof. Otto, Vorlesungen über vergleichende
Anatomie. 3. Lieferung: Sinnesorgane und Leuchtorgane. Mit
den Textiiguren 452 — 722. Berlin '21, Julius Springer. 48 M.
Taschenberg, Prof. Dr. O., Bibliotheca Zoologia II.
Verzeichnis der Schriften über Zoologie, welche in den perio-
dischen Werken enthalten und vom Jahre 1S61/1SS0 selb-
ständig erschienen sind. Leipzig '21, W. Engelmann. Liefe-
rung 21 36 M., Lieferung 22 36 M., Lieferung 23 44 M.
Rohleder, Dr. med. Hermann, Monographien über
die Zeugung beim Menschen. Leipzig '21, G. Thieme. Band V;
Die Zeugung bei Hermaphroditen, Kryptorchen, Kirorchen
und Kastraten. 16,60 M. Band VII (Ergänzungsband): Die
künstliche Zeugung (Befruchtung) im Tierreich. 21 M.
Schmaltz, Dr. med. vet., Das Geschlechtsleben der
Haussäugetiere. 3. neubearbeitete Auflage mit 67 Abbildungen.
Berlin '21, R. Schoetz. 62 M.
Inhalt: .\ndre Pratje, Das Leuchten der Tiere. (5 Abb.) S. 433. — Einzelbericbte: Prell, Das Problem der Unbe-
fruchtbarkeit. (2 Abb.) S. 440. Cr äff, Hauptebene der Milchstraße. S. 446. Pease und Anderson, Ein Gasstern.
S. 446. J. V. Braun, Chemische Konstitution und physiologische Wirksamkeit bei Kokainalkaloiden. S. 446. —
Bucherbesprechungen: Die Farbe. S. 447. II. Euler, Chemie der Enzyme. S. 448. — Literatur: Liste. S. 44S.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der gaoxen Reibe 36. Bond.
Sonntag, den 31. Juli 1921.
Nummer 31.
■■■-■äts
Wie orientiert sich die Ameise?
[Kachdnick verboten.]
Wenn ich zu der im Titel gestellten Frage
hier mir einige Bemerkungen vom Standpunkt
des Geruchschemikers erlaube, so geschieht dies
aus zwei Gründen. Es soll nämlich zu zeigen
versucht werden, daß die Unstimmigkeiten in der
Erklärung des Orientierungsproblems dieser Tiere
nicht auf diese, sondern auf uns zurückzu-
führen sind; mit anderen Worten, es läßt sich
zeigen, daß bei wirklich exakter Befragung der
Natur nach diesem ihren „Rätsel" eine befriedigende
Deutung tatsächlich möglich ist. Dann aber, und
das ist das Zweite, wird sich aus dieser Deutung
auch eine Erklärung für den vielbewunderten und
bisher ebenfalls noch ganz rätselhaften „sozialen
Instinkt" der Ameise geben lassen.
Wenn wir sagen „der" Ameise, so ist das
nicht ganz richtig insofern, als es sich bei den
gleich zu beschreibenden Versuchen um solche an
der roten Waldameise (Formica rufa L.), also
um eine der zahllosen Arten handelt. Da andere
Arten aber im wesentlichen gleichartig
reagierten, so darf man wohl mit Recht verallge-
meinern. Die Versuche stammen von dem Frank-
furter Psychologen Hans Henning, der darüber
in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane berichtet hat.^)
Henning beobachtete und experimentierte
im Freien, dies ist der grundlegende Unterschied
zu der überwiegenden Mehrzahl anderer Ameisen-
forscher, die in Formicarien und anderen von der
natürlichen Umgebung der Ameisen abweichenden
Behältnissen arbeiteten. Wir werden bald die
Richtigkeit und Erfolge der Hennin gschen
Methode erkennen. Dreier Mittel bedient sich
nach Brun die Ameise, um sich außerhalb des
Nestes zurechtzufinden: des Auges, des Tast-
sinnes und des Geruchs. Welcher Sinn ist
ausschlaggebend? Und wichtiger : genügen
diese Sinnesfunktionen zur „Erklärung" unserer
Frage ? Lassen wir die Erfahrung sprechen. Wenn
wir uns etwa i m von einer daherkrabbelnden
Ameise ihr plötzlich in den Weg stellen, so stutzt
sie und antwortet also auf unsere Bewegung.
Wenn wir ferner im hellen Sonnenlicht einen
scharfbegrenzten Schatten auf den Haufen fallen
lassen (etwa mittels eines Pappdeckels oder dgl.),
so bemerken wir bald, daß die Tiere den Schatten
meiden und ins Helle auswandern. Diese ganz
einfachen Versuche beweisen, ebenso wie viele
*) Zusammenfassende Darstellung aller
Fragen: Hans Henning, Der Geruch.
J. A. Barth.
hier bebandelten
Leipzig 1916.
Von Hans Heller.
andere wissenschaftlich verfeinerten Versuche, daß
die Ameise sieht und sich auch durch Sehen
orientieren kann. Aber: helle Sonne und dadurch
bedingte scharf ausgeprägte Helligkeitsunterschiede
in der Umgebung des Nestes sind die Aus-
nahme. Ja, im Walde, der ohnehin ein zer-
streutes Licht am Boden aufweist, kommt an be-
deckten Tagen eine Orientierung nach Beleuchtungs-
unterschieden ganz sicher erst in allerletzter Linie
in Frage. Gehörsorgane sind bei der Ameise
nicht nachgewiesen. So kommen auch sie für
die Orientierung nicht in Betracht. Anders steht
es mit dem Geruch.
Daß er das wichtigste Mittel für das sich
auf Nahrungs- und andere Wege begebende Tier
sei, haben die meisten Forscher erkannt. Die
Schwierigkeit lag nur darin, daß doch auf einer
der vielbegangenen Straßen vom Nest zur Fütter-
stelle usw. überall der gleiche Duft vorhanden
ist. Mancherlei Erklärungen sind deshalb im
wahrsten Sinne „gemacht" worden, um aus diesem
Dilemma herauszuhelfen. Der einfachste Weg
der experimentellen Untersuchung aber blieb merk-
würdigerweise unbetreten: nämlich, das Verhalten
der Ameisen auf künstlichen Fährten zu
studieren! Diesen „Kniff" benutzte Hennig.
Zunächst fand er, wenn er eine Ameise auf
berußtem Papier dahinlaufen ließ, daß sie auf
I mm Wegstrecke ihren Unterleib dreimal auf
die Unterlage auftupft. Wenn das Tier ein paar-
mal über das Papier gelaufen war, so nahm man
einen deutlichen Duft von Ameisensäure wahr.
Also : während ihres Laufes sondert die Ameise
ständig die charakteristisch duftende Ameisen-
säure ab, d. h. sie schafft unter allen Umständen
eine für das Geruchsorgan merkbare Fährte,
deren Kennzeichen der Duft der Ameisensäure
ist. Nunmehr wurde folgender Versuch gemacht.
An einem von Ameisen nicht begangenem
Baumstamm irgendwelcher Art pinselte Hen-
ning vom Erdboden bis in Reichhöhe eine Fährte
mit Ameisensäurelösung. Was geschah? Noch
ehe Hennig eine Verbindungsspur vom Fuß des
Baumes zu der in der Nähe befindlichen „Straße"
der Ameisen gepinselt hatte, kletterten 10 bis 20'
Ameisen an der Künstlichen und vorher nie ver-
folgten Fährte in die Höhe. Andere folgten, und
in kurzer Zeit war fast der gesamte Verkehr
auf die künstliche Fährte gezogen 1 Wir
schließen daraus, daß die so viel stärkere D u f t -
Wirkung der Kunstfährte die Tiere zu deren Be-
gehen veranlaßte. So stark ist die Reaktion
auf den Geruchsreiz, daß selbst die noch nasse
450
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 31
Fährte eifrig begangen wurde, obwohl die
Ameise sonst bekanntlich jede Feuchtigkeit streng
meideti Und nicht nur Ameisensäure
wirkte in dieser drastischen Weise, sondern auch
solche Chemikalien, deren Duft dem der Ameisen-
säure sehr nahe steht, z. B. Formaldehyd.
Dieser Umstand beweist also, daß es nicht „Futter-
gerüche" sind, denen die Ameise nachgeht, sondern
ganz einfach ihr bekannte ameisenartige Düfte.
Daß dem so ist, geht weiter hervor aus dem
Verhalten der Tiere auf der künstlichen Fährte.
Sie gingen jeder absichtlichen oder auch nur durch
die Unebenheit der Baumrinde bedingten Biegung
der Fährte nach, ließen sich also zweifellos nicht
durch den in Nähe der Fährte befindlichen all-
gemeinen Duft leiten, sondern vielmehr durch
die Stärke der auf der Fährte befindlichen
Geruchserregung. Am oberen blinden Ende der
Fährte machten alle Ameisen halt, irrten eine
Zeit lang suchend umher und stiegen dann unbe-
laden auf der Fährte zum Nest zurück. Alle diese
Beobachtungen scheinen nun allerdings auch so
gedeutet werden zu können, daß es eben der un-
gewöhnlich starke Duft der künstlichen Fährte
gewesen sei, der die Reaktion veranlaßt habe.
Im gewöhnlichen Zustand aber könnten nicht
nur, sondern müßten sogar auch andere Duft-
erregungen statthaben, wie das ja von vielen
Forschern angenommen wird, damit erklärt werden
kann, wie denn die Ameise den Rückweg findet?
Aber ein weiterer Versuch Hennings macht
auch die letzte Wahrscheinlichkeit zunichte, daß
neben dem Ameisenduft noch Futter- oder
andere Düfte bei der Straßenbildung eine Rolle
spielen. Legte er nämlich an einem von Ameisen
zum Zweck der Nahrungssuche lebhaft begangenem
Baum an dessen der natürlichen Ameisenstraße
abgewendeten Seite eine künstliche Fährte an,
so liefen wiederum in kürzester Frist sämtliche
Ameisen auf der künstlichen Fährte, ohne sich
weiter um die gewohnte und von ihnen selbst
erzeugte Spur zur kümmern. Wenn nun die
beiden Fährten verbunden wurden, so trat weiter
etwas Bemerkenswertes auf. Je spitzer der
Winkel war, den natürliche und künstliche Fährte
miteinander bildeten, um so mehr Tiere bevor-
zugten die Kuns t spur. All dies zusammen be-
weist deutlich, daß von einer „Polarisation" der
Ameisenspur oder von verschiedenen Duftqualitäten
auf derselben Spur der Ameise nicht die Rede
sein kann. Wohl aber ist in Fällen, wo die Nase
versagt, sehr wohl eine Mitwirkung des Auges
denkbar. Das ist nicht gesucht erklärt, sondern
bestätigt eine geläufige Erfahrung. Auch ein
„Nasentier" wie der Hund orientiert sich in
manchen Fällen nur nach dem Auge. Denken
wir auch an den Menschen selbst 1 Für gewöhn-
lich finden wir uns mit dem Gesichtssinn zurecht.
In dunkler Nacht im Zimmer verlassen wir uns
ausschließlich auf das Tastgefühl. Niemand
wird darum sagen, unsere Orientierung sei „rätsel-
haft". Wohl aber dürfen wir aussprechen, daß
der Hauptsinn für unsere Orientierung das
Auge sei, daneben auch Geruch, Gehör, Tast-
gefühl. Uud gleichermaßen gilt für die Orien-
tierung der Ameisen, daß in ganz überwiegen-
der Weise der Geruch ihr erstes Orientierungs-
mittel sei, der in gewissen Fällen durch andere
Sinne ergänzt wird. Eine solche Ergänzung
liegt nun offenbar vor beim Heimweg der
Ameise. Wie in einem Kanal (oder ganz wört-
lich: wie in einer seitlich durch duftlose Räume
begrenzten Straße) muß das futterbeladene Tier
die Heeresstraße seines Nestes zurückkehren. Biegt
von dieser, wie im erwähnten Versuch, eine ge-
ruchlich stärker wirksame Kunststraße ab, so
wird unbedenklich diese bevorzugt. Anders aber,
wenn sie in sehr weit geöffnetem Winkel ab-
zweigt. Dieser Umstand wirkt auf das unentwegt
„der Nase nach" gehende Tier wie ein in den
Weg gelegtes Hindernis, das Stutzen und — sagen
wir getrost: Aufmerken auf den Weg zur Folge
hat. Es kann kaum befremden, daß die unge-
wohnte Richtung vernachlässigt wird, um so
mehr, als auf der natürlichen Straße vom Nest
kommende Tiere einen sichtbaren Anhalt für
den „richtigen" Weg gewähren.
Daß in der Tat von einer auf die ganze Länge
einer Straße verteilten Ab- bzw. Zunahme des
Ameisenduftes nicht gesprochen werden kann,
bewies Henning durch einen weiteren Versuch.
Von einem Nest gingen zwei Straßen in genau
entgegengesetzter Richtung aus. Brachte er nun
ein Tier, daß auf der einen Spur vom Nest weg-
lief, auf die andere Straße, und zwar in gleicher
Entfernung vom Nest, so lief das Tier nunmehr
auf das Nest zu. Es behielt also die (nunmehr
falsche) Richtung bei. Dies geschah in zahlreichen
Versuchen in 98"/(, der Fälle. Die Ameise be-
nimmt sich also so, daß an eine Abstufung des
Spurduftes nicht mehr gedacht werden darf. —
Ist unsere Folgerung richtig, daß sich die
Ameise in überwiegendem Maße nach dem Ge-
ruch orientiert, so tritt alsbald die Frage auf, wie
sich denn das einzelne Tier abseits der Straße
zurechtfinde? Auch es macht eine Spur, und so
könnte jede vom Nest ausgehende Spur zu einer
„Straße" Veranlassung geben. Damit verhält es
sich folgendermaßen: zwar erzeugt jedes Indivi-
duum eine Fährte, aber deren Duftstärke ist für
das Tier nicht wahrnehmbar. Es ist wirklich
so, und man kann sich durch Wiederholung der
Henningschen Versuche leicht davon über-
zeugen; die nach dem Geruch sich orientierende
Ameise bedarf einer hohen Duftkonzentration,
um sich danach zurechtfinden zu können. Der
Mensch ist empfindlicher als die Ameise!
Denn er nimmt einen Ameisenduft wahr, nach-
dem etwa 10 Tiere über die gleiche Stelle, z. B.
ein Blatt Papier, gelaufen sind. Die Ameise
aber riecht erst nach durchschnittlich 66, ja oft
erst nach 100 Überquerungen soviel, daß sie sich
nach der entstandenen Fährte richtet, also sie
überhaupt als Fährte e r k e n n 1 1 Gewiß ein über-
N. F. XX. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
451
raschender Befund I Und doch wird er verständ-
lich, ja geradezu biologisch notwendig bei
folgender Überlegung.
Würde jedes Tier eine merkbare Spur machen,
so führten vom Nest in Kürze unzählige Spuren
ins Gelände. Kein nach Futter ausgehendes Tier
wüßte, welche Fährte ihren Erzeuger zu einem
Ort geführt hat, an dem es etwas Eßbares gab.
Erst die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Rich-
tung begangen wird, gibt dafür Gewähr, daß nach-
folgende Tiere ihrerseits in dieser Richtung zu
Futter- bzw. Baustoffen gelangen werden. Wäre
es anders, so verirrte sich die Mehrzahl der
Tiere, sie fänden nicht den geschlossenen Weg
zum Futter, und in Bälde wäre die Kolonie aus-
gestorben. Damit hängt auch zusammen, daß
verirrte Tiere an ihrer eigenen Einzelspur den
Rückweg zum Nest nicht finden. Dies ist der
Forschung längst bekannt und immer sehr ein
Beweis gegen die Geruchsorientierung gewesen.
Nach Obigem dürfte es nicht mehr seltsam er-
scheinen. Aber es leuchtet ohne weiteres auch
ein, daß bei solcher Sachlage immer ein großer
Teil der Nestbewohner sich verirren wird, so daß
die Wahrscheinlichkeit der Kolonieerhaltung nicht
groß sein kann. So ist es in der Tat: wer Ge-
legenheit hat, ein größeres Gebiet mit Ameisen-
staaten zu beobachten, wird bemerken, daß die
Zahl der verlassenen Haufen die der bewohnten
überwiegt. Verf. zählte in zwei ausgedehnten
Waldungen (bei Blankenese nahe Hamburg und
in der Harth bei Leipzig) 5 ausgestorbene auf 3
belebte Kolonien, Henning fand das Verhältnis
sogar wie 2:1.
Wie wenig empfindlich die Ameise ist, geht
beispielsweise daraus hervor, daß sie unberührt
beibt von Düften, die uns die Luft geradezu
„schwül" erscheinen lassen. Jasminöl, Ananasöl
in großer Konzentration lassen die Tiere ganz
gleichgültig. Wieder verständlich : wohinaus müßte
es führen, wenn die ganze Kolonie auf jeden in
der Luft auftretenden Duft reagieren würde?!
Hinwiederum wird es sofort bemerkt, wenn Zweige,
Tannennadeln usw. mit den genannten Ölen be-
pinselt wurden. Alsdann reichte die hohe Duft-
stärke dieser Gegenstände hin, deutliche Kund-
gebungen der Ameise zu veranlassen, und zwar
Mißfallenskundgebungen. In vielen Versuchen
wies Henning nach, daß gänzlich unbekannte
Düfte eine feindliche Äußerung der Ameisen
hervorrufen, daß andererseits aber bekannte
Düfte nur dann angenommen werden, wenn ihre
Konzentration bekannt ist. Nur die Ameisen-
säure und alle ihr der Qualität nach verwandten
Düfte erregen die Ameise in jeder Konzentration
in zustimmender Weise. Wenn Henning jedoch
ein Tier mit irgendeiner Duftstoflflösung be-
pinselte, so nahm dieses Individuum auch Gegen-
stände auf, die mit der gleichen Lösung be-
strichen waren, — mochte deren Duft vorher
noch so verschmäht worden sein! Auch dies ist
ein überzeugender Beweis dafür, daß es die Reize
der Antennen sind, denen die Ameise ihre
Orientierung verdankt; der Antennen, die der
Sitz des Geruchsvermögens sind. —
Fassen wir das Gesagte zusammen, so dürfen
wir, wenn eine „Erklärung" von Naturereignissen
überhaupt einen Sinn haben soll, mit voller Be-
rechtigung auf unsere Titelfrage antworten: die
Ameise orientiert sich in erster und ausschlag-
gebender Weise nach ihrem Geruchsvermögen 1
Wenn demgegenüber gesagt wird, daß die Ameise
in ihrem entwicklungsgeschichtlich früheren Sta-
dium und auch als Geschlechtstier geflügelt
sei, so daß alsdann eine Geruchsfährtenbildung
ausgeschlossen wäre, so ist das ein hinfälliger
Einwand. Niemand zweifelt, daß der Urmensch
und nun gar erst weiter zurückliegende Formen
in der Entwicklung zum heutigen Menschen
sich in recht verschiedenartiger Weise zurecht-
gefunden haben werden. Sagt diese Erkenntnis
das Geringste über unser heutiges Orientierungs-
vermögen aus? Mit nichten. Und so dürfen wir
mit Recht sagen, daß ein besonderer „Orientierungs-
sinn" für die Ameise nicht angenommen zu
werden braucht. Die Reaktionen des uns be-
kannten und durchaus nicht rätselhaften Ge-
ruchssinnes langen hin, die Orientierung der
Ameise zu verstehen.
Sie reichen aber auch hin, ein verwickelteres
Problem im Leben der Ameisen einfach und dar-
um gut zu erklären : den Sozialinstinkt der Ameise.
Wodurch wird eine Ameisenkolonie zusammen-
gehalten? Wir sahen es oben: dadurch, daß die
Ameise erst auf eine Duftkonzentration gewisser
Stärke antwortet, daß sie zweitens eine ausge-
sprochene Reizbarkeit für Ameisensäure aufweist.
Läßt sie sich durch diese Umstände leiten, so
ergibt sich notwendig eine rein zahlenmäßige
Anhäufung von Individuen am selben Platz, d. h.
Koloniebildung. Wenn Henning die An-
tenne abschnitt oder wenn er den Ameisensäure-
duft durch andere Düfte übertönte, so hörte der
Zusammenhalt der Kolonie mit seinen scheinbar
so „durchdachten" Einrichtungen sofort und ohne
Widerrede auf. So können wir den Satz des
Forschers verstehen: „die Staatenbildung ist eine
Angelegenheit der Antenne". Ein verblüffendes
Ergebnis. Aber es lag nicht in unserer Absicht,
dies viel weiter reichende Problem zu erörtern.
So brechen wir hier ab mit der Erkenntnis, daß
die Orientierung der Ameise keine anderen Rätsel
bietet als die, welche auch unsere Sinnesfunk-
tionen letzten Endes noch aufgeben.
452
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 31
Einzelberichte.
Die deutschen Olschieferlager.
Über diese Lagerstätten und ihre Bedeutung
für unsere Erdölversorgung berichtet G. Schmitz
in der „Deutsch. Bergwerks- Ztg." 1921, Nr. 62,
S. 5. Deutschlands Erdölgewinnung betrug in
Friedenszeiten nur 8 "j^ von seinem Gesamtver-
brauch. Durch die Wegnahme von Elsaß Loth-
ringen gingen auch noch die Erdölquellen von
Pecheisbrunn verloren, denen etwa die Hälfte des
in Deutschland gewonnenen Erdöls entstammte.
Durch unseren ungünstigen Valutastand sind wir
mehr denn je darauf angewiesen, nach neuen
Gewinnungsmöglichkeiten im eigenen Lande uns
umzusehen. Eine solche ergibt sich in der Aus-
beutung von Lagern bituminöser Schiefer, deren
Vorkommen in den verschiedensten Teilen
Deutschlands z. T. schon seit Jahrhunderten be-
kannt ist. Das den Lagern entsickernde Öl fand
bis in den Krieg hinein nur örtliche Verwendung,
z. T. als Heilmiitel, wie das Tegernseer „St. Qai-
rinusöl". Erst während des Krieges begann man
die deutschen Ölschieferlager systematisch zu
untersuchen und die Gewinnungsmöglichkeiten des
in ihnen enthaltenen Öls zu erforschen.
Als ölhaltig kommen in Deutschland vor allem
die Posidonienschiefer, Mergelschiefer des Lias, in
Betracht, die stellenweise bis zu einer Mächtigkeit
von 10 m anstehen. Der Ölgehalt ist außer-
ordentlich verschieden und schwankt zwischen i
und 30 "/o- Die Untersuchungen ergaben, daß die
Ölschiefervorkommen in Deutschland viel häufiger
sind, als man ursprünglich angenommen hatte.
Reiche Lager befinden sich vor allem in der
Gegend von Reutlingen, wo sich aus i cbm
Schiefer rund 230I Rohöl gewinnen lassen. Auch
in Baden sind bedeutende Mergelschieferlager er-
schlossen worden, doch reicht ihr Ölgehalt für
eine nutzbringende Ausbeute nicht hin. Dagegen
besitzt Bayern sehr ergiebige Vorkommen im
fränkischen Jura und im Alpenvorland. Im Kar-
wendeigebirge und in den Bergen um Garmisch
hat man mit dem Abbau des teilweise bis zu
30 % Rohöl enthaltenden Gesteins begonnen.
Außerdem kommen Ölschiefer noch vor im Hessi-
schen, am Harz, in Hannover und bei Braunschweig.
Die Gewinnung des Rohöls aus dem Schiefer
geschieht in Schwelanlagen, und zwar am vorteil-
haftesten in erhitzten Trommeln, da man dabei
außer dem Öl aus jedem Kubikmeter Gestein noch
etwa 100 1 Gas von 900 WE erhält, das zur
Heizung der Trommeln verwendet werden kann.
Das Rohöl läßt sich in gleicher Weise wie son-
stiges Erdöl verarbeiten. Die Asche dient als
Rohstoff für die Zement- oder Kunststeinindustrie.
Der Ölschiefer kann auch unmittelbar als Heiz-
material verwendet werden.
Mit Rücksicht auf die Schwierigkeit unserer
Erdölversorgung verdienen die deutschen Ölschiefer-
vorkommen und Versuche zu ihrer industriellen
Ausnutzung ernsteste Beachtung. F. H.
Ein einfaches Hilfsmittel für genaue Ab-
lesungen an Büretten.
Genaues Ablesen an Büretten bei maßanalyti-
schen Arbeiten ist mit Schwierigkeiten verknüpft,
da es nicht einfach ist, das Auge in die richtige
Stellung zu bringen. Man hatte daher schon seit
langem Hilfsmittel konstruiert, die ein möglichst
exaktes Arbeiten ermöglichen sollten. Die älteren
Hilfsmittel in Schwimmerform haben sich als un-
zuverlässig erwiesen und sind heute wohl aus den
Laboratorien verschwunden. Der Schellbach-
Streifen erfüllt ebenfalls nicht seinen Zweck. Die
„Visierblende" mit dem nach Gockels Angaben
daran befestigten Blatt weißen Papiers leistet
Gutes, wenn sie richtig angesetzt wird und wenn
ihre obere Fläche genau eben und matt ist, und
die Bürette keine Unebenheiten an der Außen-
fläche aufweist. Am sichersten gestattet die von
der staatlichen Eichungskommission vorgeschrie-
bene Art der Teilung, die sog. Ringteilung, ein
genaues Ablesen. Der hohe Anschaffungspreis
und der Umstand, daß diese Büretten nach einen
für viele Arbeiten des Chemikers nicht geeigneten
Grundsatz geeicht wurden, steht ihrer allgemeinen
Verbreitung im Wege.
Daß man aber auch mit der einfachsten Bü-
rette, wenn man sie sorgfältig nach den eigenen
Bedürfnissen eicht und eine wirklich zweckmäßige
Ablesevorrichtung besitzt. Ausgezeichnetes leisten
kann, zeigt G. Bruhns in der Chemiker-Zeitung,
Nr. 42, 1921, S. 337 — 338. Als Ablesevorrichtung
benutzt er die Wasser wage in ihrer einfachsten
Gestalt, nämlich in der Form eines kleinen U-
Rohres, das z. T. mit Wasser oder einer anderen
passenden Flüssigkeit gefüllt ist. Durch Biegen
eines etwa 12 — 15 cm langen, am besten J — 10 mm
lichte Weite aufweisenden Glasrohres kann man
sich diese Wasserwage in wenigen Minuten her-
stellen. Der Abstand der Schenkel voneinander
betrage etwa 30—40 mm im Lichten. Indem
man das Röhrchen dicht an die Bürette hält,
braucht man nur die beiden Flüssigkeitsspiegel in
den Schenkeln in eine Ebene mit dem Flüssig-
keitsspiegel in der Bürette zu bringen, womit die
parallaxenfreie Einstellung des Auges erreicht ist.
Nimmt man Wasser als Flüssigkeit, so stört leicht
dessen zu große Beweglichkeit; die beiden Spiegel
schwanken, wenn man das Rohr nicht ganz ruhig
hält. Dies läßt sich dämpfen, indem man Watte-
stopfen fest in die Rohrenden einsetzt oder auch
Kappen aus ganz kurzen Glasrohren darüber stülpt,
die sehr eng an das U-Rohr passen. Dadurch
wird zugleich ein staubsicherer Abschluß erzielt.
Man kann auch dickere Flüssigkeiten, wie Gly-
zerin, Paraffinöl, wählen, doch findet der Verf.
darin keinen Vorteil, und wenn einmal von dem
Inhalt etwas verschüttet wird, ist es am unschäd-
lichsten, wenn es sich nur um destilliertes Wasser
handelt. Bei der Ablesung hält man das Rohr
so, daß der eine Schenkel neben und vor, der
N. F. XX. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
453
andere auf derselben Seite neben und hinter der
Bürette steht. Es ist erforderlich, daß man gegen
einen hellen Hintergrund beobachtet. Bei dunklen
Lösungen (Permanganat, Jodjodkalium) oder brau-
nen Büretten (Silberlösung) muß eine Lampe in
der richtigen Höhe dicht hinter die Bürette ge-
stellt werden, jedoch etwas seitlich, damit sie
nicht blendet. F. H. ,
Neue Uöglichkeiteu der theoretischen
\S:.- -■ Biologie. . -,^.i.---.vj^.^.asjYi
In einer ausführlichen, in der Zeitschrift für
allgemeine Physiologie, Band XIX, Heft 1/2, er-
schienenen Arbeit hat der Autor den Versuch
gemacht, die exakten Methoden der statistischen
Mechanik für die Zellularphysiologie nutzbar zu
machen.
Nach einer längeren erkenntnistheoretischen
Einleitung, in der unter anderen eine eigenartige
Klassifikation der neueren biologischen Theorien
gegeben wird, zeigt der Verf., wie der Chemis-
mus der lebenden Zelle mit Hilfe der Gib b 'sehen
Methoden als Wahrscheinlichkeitsproblem aufge-
faßt und behandelt werden kann.
Der Grundgedanke ist folgende, aus der Bio-
gentheorie geschöpfte Arbeitshypothese : Der Stick-
stofifgehalt der Teilchen der lebenden Substanz
ist wechselnd, rascher oder langsamer sich mit dem
Reizzustande ändernd. Und zwar beziehen wir
den Stickstoffgehalt der Einfachheit halber (nach
Abderhalden u. a.) auf Gruppen von 3 oder
6 Kohlenstoffatomen (C- C-C Triosen, Alanin, Amino-
" III il .111 -
säuren usw. oder CC-C-CC-C Hexose, Amino-
:..^.,n lii II II II II III : ::\,;.,
säure Leucin). Die Verteilung der N Atome über
diese Gruppen folge nun der Gau fischen Formel
r7re-'^'«'du
h = Constante, v = Anzahl der N (auf 3 C), u = An-
zahl der C-Gruppen eines Teilchens.
Teilchen mit sehr geringem und sehr hohem
Stickstoffgehalt sind am seltensten, die mit mittlerem
Prozentgehahe vorherrschend.
Dabei ist in Verfolgung der Ideen der statisti-
schen Mechanik über den sog. Phasenfluß ange-
nommen, daß der Stickstoffgehalt der Teilchen
auch unabhängig von den Reizverhältnissen alle
möglichen Werte annimmt.
Starke äußere Reize wirken, wie an der be-
treffenden Stelle gezeigt wird, derart auf die sym-
metrische Gauß'sche Glockenkurve, daß sie seit-
lich eingedrückt erscheint.
Durch Anwendung eines interessanten Ansatzes
von Gibbs undBoltzmann läßt sich plausibel
machen, daß die schiefe Kurve (B i o g e n -
Zerfallskurve) von selbst das Bestreben
hat, sich zu restituieren.
Die Schiefe dieser statistischen Kurve und
andere, in der Originalarbeit nachzulesende, mathe-
matische Kriterien, sind nämlich ein Maß der
Entropie des statistischen Gleichgewichtes. Die
Entropie strebt aber einem Maximum zu, hier
identisch mit der normalen, symmetrischen Kurve.
Für Interessenten sei die einfachste Formel der
Zelle als sog. algebraisches Modell angeführt: ,^
*"« ip — s
f f ^"dA, ....dAs=i
_ Phasen . , i . / . -
■'?j!r.!.;'X-. O'ix^ .7; ,
?/» '= Arbeitsfähigkeit der Zelle, e = Energieinhalt,
Ö = Verteilungskoeffizient, A, k^ die verschie-
denen Biogene,
alle
P'-
der Phasenraum eines Bipeen^j
Phasen
alle Verbindungsformen mit verschiedenem Stick-
stoffgehalt, die es durchlaufen kann.
Ähnlich ist die Assimilation zu behandeln als
notwendige Zunahme der Systeme eines statisti-
schen Gleichgewichtes mit chemischen Reaktions-
möglichkeiten. ;- /
Ein kurzer Exkurs über mathematische und
chemische Grundbegriffe (Bertrands Paradoxon
und Tautomerie) leitet zur Behandlung des Or-
ganismus als Summe verschiedener Wahrschein-
lichkeiten über. Wir dürfen im Anorganischen
zwei Wahrscheinlichkeiten, die vielfach ineinander
überfließen, unterscheiden : die chemische W.,
Weh und die physikalische W., Wph.
Beide sind im Organismus mehr weniger ein-
ander entgegengesetzt (wofür mehrere Gründe
angeführt werden), ihre Summe +0.
Erst die Einführung der spezifischorga-
nischen Wahrscheinlichkeit, der organischen
Form, erhöht diese kaum von o verschiedene
Weh -(- ph zur Notwendigkeit, = I.
Im Anhang wird noch über die durch vor-
liegende Ideen mögliche Einführung der Quanten-
theorie in die Physiologie berichtet.
H. Latzin, Wien-Atzgersdorf.
Geologische Bedeutuug derSchweremessungen.
gg" — /g : hinter diesen mystischen Zeichen birgt
sich eine Fülle von Problemen von weitreichender
Bedeutung. Schon lange ist es bekannt, daß die
Schwerkraft auf der Erdoberfläche auch im Niveau
des Meeresspiegels nicht überall gleich ist. Theo-
retisch müßte sie einen zwar wechselnden aber
von der Form des Geoids gesetzmäßig abhängigen
Wert besitzen. (Die Geophysiker nennen ihn y^;
Helmert (Berlin) hat den Wert dieser „Theo-
retischen Normalschwere" für jede geographische
Breite genau berechnet.) Die experimentellen
Beobachtungen jedoch, die namentlich mit einem
Pendelapparat angestellt werden, und eine große
Genauigkeit aufweisen (unbedingt verläßlich ist
noch die 4. Dezimale der in Metern ausgedrückten
454
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 31
Beschleunigung), zeigen oft andere und unabhängig
von der geographischen Breite wechselnde Zahlen.
Mit dem beobachteten Wert der Schwere (g)
werden einige Korrekturen vorgenommen.
Um ihn mit der Schwere an anderen Be-
obachtungsorten vergleichen zu können, nimmt
man die Reduktion auf den Meeresspiegel vor.
Man erhält den Wert gn, indem man sich den
Beobachtungsort samt seinem Gesteinssockel in
Höhe des Meeresspiegels hinabgezogen, „konden-
siert" denkt. In g^ ist also auch die Anziehungs-
kraft der zwischen dem Meeresspiegel und dem
Beobachtungsort liegenden Gesteinsmassen ent-
halten. Die Differenz g„ — y^ bedeutet die wirk-
liche totale Schwerestörung. Sie hat haupt-
sächlich Bedeutung für die Isostasiefrage. Denkt
man sich aber die über der Geoidfläche liegenden
Gesteinsmassen abgetragen, beseitigt, bzw. die
Meere zugeschüttet, so erhält man den Wert go".
Die Abweichung des Wertes g^" von der theo-
retischen Normalschwere y^ bedeutet eine
D i c h t e anomalie, denn aus ihr kann man auf
das spezifische Gewicht derjenigen Teile des Erd-
körpers schließen, die unter der Geoidfläche
liegen. Ist der Wert g(," größer als y„, also die
Difi'erenz positiv, so liegt unter der Geoidfläche
hauptsächlich spezifisch schweres Material, Sima,
man spricht dann von Massen- oder Dichteüber-
schuß. Ist die Differenz negativ, so ist leichtes,
Salisches Material in größerer Mächtigkeit vor-
handen (Dichtedefizit). (Dieses Dichtedefizit
kann isostatisch kompensiert sein [durch hoch-
aufragendes Gebirge z. B.], braucht also durchaus
nicht immer eine Seh wer eanomalie zu bedingen.
Dichte- und Schwerestörung sind grundverschieden
voneinander.)
Aus den so ermittelten Verhältnissen in den
tieferen Teilen der Erdkruste bzw. ihrer magma-
tischen Unterlage, zieht Koßmat bedeutungs-
volle geologische Folgerungen (Nr. II des XXXVIII.
Bandes der Abhandlungen der math.-phys. Klasse
der Sachs. Akademie der Wissenschaften 1921),
von denen hier einige herausgegriffen seien.
Deutlich zeigt sich der Unterschied zwischen
dem mitteleuropäischen Kontinentalgebiet und
dem südlich sich anschließenden mediterranen
Faltungsgürtel. Im ersteren Gebiet finden sich
nur geringe Störungen der Dichte, im Bereich
der jungen Kettengebirge hingegen liegen tiefe
„Dichtetröge" neben Streifen, wo der größte Teil
der Erdkruste aus spezifisch schweren Massen be-
steht. In den Dichtetrögen sind die leichten,
salischen Bestandteile der Kruste und der tieferen
mehr oder weniger plastischen Zonen zu dicken
Würsten zusammengehäuft. Nach oben ragen sie
als Gebirge empor, nach unten tauchen sie tief
in das schwerere Magma hinein. Man kann von
Faltentiefgang sprechen, ein Ausdruck, der in
diesem Zusammenhang wohl zuerst von dem
Schweizer Geologen Albert Heim gebraucht
worden ist.
Das stärkste derartige Dichte- oder Massen-
defizit weisen die Alpen auf In ihrer Westhälfte
ist es am ausgeprägtesten in der Briangonnais-
zone, in den Ostalpen folgt es dem kristallinen
Zentralstreifen und nimmt mit der Verbreiterung
des Gebirges nach der ungarischen Tiefebene all-
mählich ab. Während sich in den Westalpen
das Dichtebild mit der Deckentheorie verträgt, ja
von Albert Heim geradezu als ihre unbedingte
Bestätigung angesprochen wird, kann man das
von den Ostalpen nicht behaupten. Hier ist die
Massenveiteilung vielmehr nicht in Einklang zu
bringen mit jener Theorie, die die nördlichen
Kalkalpen als Schubdecke weit aus dem Süden
herholt und die Tauern als Fenster auffaßt. Man
muß die kristallinen Zentralalpen auch tektonisch
als die Axialzone der Ostalpen auffassen.
Auch die übrigen Faltengebirge des Mittel-
meergebietes sind Streifen von Dichtedefiziten;
dabei ist auffallig, daß die Zone geringster Dichte
an ihre Außenseite rückt, während auf der inneren,
der pannonischen bzw. tyrrhenischen Senke zu-
gekehrten Gebirgsseite Massenüberschuß herrscht.
Von beiden „Innensenken" nimmt Koßmat an,
daß sie sich infolge ihres Dichteüberschusses senken.
Den wieder sucht er zu erklären durch Einwande-
rung aus der Defizitzone verdrängten schweren
Magmas im Laufe des gegenwärtigen (seit dem
Jungmesozoikum, etwa dem Jura, dauernden)
Faltenzyklus. Ein Senkungsgebiet anderer Art,
ebenfalls mit Dichteüberschuß ausgestattet, ist die
Adria, die als ein Rest der mediterranen Geo-
synklinale aufgefaßt wird. Sie ist daher auch von
den „Randsenken" scharf unterschieden, die durch
Dichtedefizit charakterisiert, eigentlich noch den
benachbarten Kontinentalschollen angehören und
sich nur deshalb in sinkender Bewegung befinden,
weil sie von einem neben ihnen in die Dicke
(d. h. nach oben und unten) wachsenden Falten-
gebirge mit hinabgezogen werden. Die Randsenken
sind meist mit Sedimenten erfüllt, so, als nächst-
liegendes Beispiel, das oberbayerische Alpen-
vorland.
In der Frage der Faltungsursache berührt sich
Koßmat bis zu einem gewissen Grade mit
Wegen er. Auch Koßmat nimmt an, „daß die
Faltengürtel zwischen steiferen, in Bewegung be-
griffenen Schollen der Erdrinde zusammenge-
staucht sind". Jedoch spricht er sich gegen das
völlige Auseinandertriften und den Zerfall von
Kontinenten aus, die Wegener annimmt, und hält
die Ozeanböden nicht für „breit klaffende Magma-
felder", sondern für Senkungsgebiete.
Innerhalb der steifen Kontinentalschollen liegen
die Verhältnisse anders als im Gebiet der jungen
Faltengebirge. Koßmat beschreibt die Schwere-
verhältnisse im außeralpinen Deutschland besonders
genau. Abgesehen davon, daß hier die Ab-
weichungen von der Normalschwere überall ver-
hältnismäßig gering sind, zeigt sich auch, daß die
Horste (z. B. Schwarzwald, Vogesen, Harz) im
Gegensatz zu den jungen Kettengebirgen ausge-
sprochene Dichteschwellen sind, also Über-
N. F. XX. Nr. 31
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
455
Schüsse aufweisen. Dementsprechend zeigen die
tektonischen Senken z. B. der Oberrheingraben,
Franken und Teile von Norddeutschland Massen-
defizit. Bei dieser Gelegenheit wird die Mög-
lichkeit angedeutet durch genaue Untersuchung
der Schwereverhältnisse Norddeutschlands die
Formen des heute tief begrabenen Untergrundes
zu ermitteln, beispielsweise festzustellen, wo kar-
bonische Schichten horstartig emporragen und
vielleicht durch Bohrungen oder Schächte erreich-
bar wären.
Sehr bemerkenswert ist, daß sich im Dichte-
bild der Kontinentalschollen keine Spur mehr
von den alten Faltungszyklen erhalten hat, die
auch unser Gebiet noch betroffen haben. Z. B.
findet sich von den Dichteanomalien des varisti-
schen Gebirges, die zur Karbonzeit zweifellos denen
im heutigen Mittelmeergebiet geglichen haben,
keine Spur mehr; ebensowenig ist natürhch von
den Dichtestörungen des kaledonischen und ar-
chäischen Faltungszyklus erhalten.
So klingen die Bewegungen einer jeden Periode
der Gebirgsbildung allmählich aus.
C. W. Kockel.
Bücherbesprechungen.
Dannemann, Friedrich, Die Naturwissen-
schaften in ihrer Entwicklung und in
ihrem Zusammenhange. 2. Aufl. I. Bd.:
Von den Anfängen bis zu dem Wiederaufleben
der Wissenschaften. Mit 64 Abb. im Text und
mit I Bildnis von Aristoteles, gr. 8". XII,
486 S. Leipzig 1920, Verlag von Wilhelm
Engelmann. Preis geh. 20 M., geb. 24 M.
(hierzu 50 7o Verleger-Teuerungszuschlag).
Daß Friedrich Dannemanns große vier-
bändige Naturwissenschaftsgeschichte (Leipzig
1910 — 1 3) schon jetzt in 2. Auflage zu erscheinen
beginnt, ist ein erfreuliches Zeichen für den
keimenden humanistischen Geist innerhalb der
aktuellen Naturwissenschaften. Es ist hier nicht
der Ort, näher darzulegen, welche Bedeutung der
Wissenschaftsgeschichte zur Ermittlung des Er-
kenntniswertes der Tatsachen zukommt, wie sie
die Kritik schärft und den myopen Blick des
modernen Spezialisten weitet, von welchem Er-
lebniswert die Geschichte ist, wie sie die sog.
allgemeine Bildung auf ein höheres Niveau erhebt,
wie sie — mit einem Worte gesagt — die via
regia zwischen Realismus und Humanismus dar-
stellt. Wer schon den Geist von Siegmund
Günthers kleinem Kompendium der „Geschichte
der Naturwissenschaften" (3. Aufl., Leipzig, Ph.
Reclam, 1920) verspürt hat und nun Friedrich
Dannemanns in größeren Rahmen eingespannte
Geschichtsdarstellung durcharbeitet, wird selbst
empfinden, von welcher geistesbildenden und
ethischen Bedeutung die Naturwissenschaftsge-
schichte ist.
Dannemann hat recht getan, für die Neu-
auflage seines Werkes, die in dem anschwellenden
Strome historischer Sonderuntersuchungen die
Kräfte eines einzelnen schier zu erschöpfen droht,
sich der Mitarbeit mehrerer physikalisch - chemi-
scher Fachhistoriker zu versichern. Überall merkt
man die bessernde Hand Dannemanns und
seiner Helfer. Ergänzungen und Verbesserungen,
die ich für die biologiegeschichtlichen Abschnitte
des I. Bandes zusammengestellt habe, werden in
dem Nachtrage eines späteren Bandes Platz finden.
So bin ich ihrer Erwähnung für jetzt enthoben.
Bei der Fülle des vom Verf. einzufangenden Stoffes
ist es leicht begreiflich, wenn der historische
Spezialist nicht in allem Dannemanns Stand-
punkt einnimmt. Doch hat auch er am ganzen
Werke seine Freude.
Die 1 3 Abschnitte des neuaufgelegten I. Bandes
umfassen Altertum und Mittelalter, das 16. Jahr-
hundert mit eingeschlossen. Doch hieße es eine
Geschichte der Naturwissenschaften dieser riesigen
Zeitspanne in nuce schreiben, wollte man auch
nur die Hauptlinien nachzeichnen. Wer sich der
Notwendigkeit historischer Denkungsart nicht ab-
sichtlich verschließt und Dannemanns Dar-
stellung beschaulich auf sich einwirken läßt, wird
hohen Gewinn mit herübernehmen in sein modern-
naturwissenschaftliches Denken und Forschen.
Der Lernende wie der Lehrende kann hier neue
Kräfte sammeln.
Möchten recht bald einsichtsvolle Unterrichts-
verwaltungen auch der Naturwissenschaftsgeschichte
den Platz an der akademischen Sonne einräumen,
die Stellung, die einer alle naturwissenschaftlich-
technischen Disziplinen umspannenden Geschichte
unbedingt gebührt 1 Dannemanns großes Ge-
schichtswerk kann sicherlich mit die verschlosse-
nen Hochschultore sprengen.
Dresden. Rudolph Zaunick.
Brigl, P. , Die chemische Erforschung
der Naturfarbstoffe. Braunschweig 1921,
Friedrich Vieweg & Sohn. Preis 14,— (17,20) M.
und Teuerungszuschlag.
Das Buch liest sich wie eine gute Erzählung!
Auch wenn man den Inhalt kennt, muß man
seine Freude haben an der angenehm dahin-
fließenden Vortragsweise, an der weisen Auswahl
aus der Fülle an Stoff, an der ganz und gar nicht
trocknen Darstellung des rein Experimentellen;
kurz, Berichterstatter gesteht, daß ihn beim Lesen
des 200 Seiten starken Büchleins ähnlich warme
Empfindungen der Bewunderung vor der Fülle
chemischer Forscherleistung bewegten wie beim
Studium der Arbeiten Willstätters selbst.
Gewiß ein hohes Lobl Möchte jeder der orga-
nischen Chemie Teilhafte sich dadurch bewogen
456
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 31
fühlen, sich das Buch anzueignen. Es ist die
beste Übersicht über das reizvolle Gebiet.
Die Einteilung geschah nach chemischen Ge-
sichtspunkten: nach den Naphtalinderivaten kom-
men die des Anthracens (Alizarin, Carminsäure),
dann die Carotinoide (der Farbstoff der IVIohrrübe,
Tomate usw.), die große Gruppe der Flavonfarb-
stoffe und der Anthocyanidine. Indigo, Purpur
und endlich Chlorophyll machen den Beschluß.
Dazwischen finden sich Abschnitte über Farbe
und Konstitution, sowie über die Variation der
Pflanzenfarben. Nichts Wesentliches fehlt, und in
einem beinahe spannenden Zuge wird einem die
Welt der Pflanzenfarbstoffe enthüllt.
Aufgefallen ist mir die teilweise Ausschreibung
des C in den Benzolringen. Chinone erscheinen
manchmal wie Ketene. Und durchweg unrichtig
angegeben ist der Name Marchlewskis (siel),
der allein auf S. 161 viermal in der Form IVIach-
lewski auftritt. Der nicht recht glückliche For-
scher, der wohl als Erster reines Alizarin in den
Händen hatte, verdient schon, recht genannt zu
werden. Doch sind das kleine Schönheitsfehler
eines ansonst trefflichen Buches. Zwei saubere
Spektraltafeln verdeutlichen den Text recht gut.
H. Heller.
Meyer, Eugen, Wirklichkeitsblinde in
Wissenschaft und Technik. Abwehr der
unter diesem Titel erschienenen Streitschrift von
A. R i e d 1 e r und der Streitschrift „Theorie und
Wirklichkeit bei Triebwerken und Bremsen"
von St. Löffler. 55 S. Berlin 1920, J. Springer.
Es ist hier nicht der Ort, auf den äußerst un-
erquicklichen, von Riedler und Löffler herauf-
beschworenen und von diesen mit unerhörter per-
sönlicher Gehässigkeit geführten Streit um die
Richtigkeit der Löffl ersehen Anschauungen über
Reibung näher einzugehen; da aber in unserer
Zeitschrift die Schrift von Riedler besprochen
wurde, sei wenigstens auf die nun vorliegende,
sachliche Erwiderung Meyers hingewiesen, die
sich übrigens im wesentlichen auf kurze aber
energische Richtigstellungen beschränkt. Ein Ur-
teil, welches Meyer dabei über Löffl ers An-
schauungen u. a. fällt, möchte ich dabei hier
wörtlich wiedergeben, weil es so treffend gewisse
„Erfinder" charakterisiert, die leider immer wieder
ihr Unwesen treiben und von denen es gerade in
jüngster Zeit wieder eine Reihe gibt zum Schaden
der Menschheit und der Dummen, die ihnen mehr
trauen als den freilich so vielfach verschrieenen
und als unbeliebt geltenden Gelehrten (ich er-
innere an die in letzter Zeit mehrfach in den
Tageszeitungen besprochenen neuen Vorschläge zur
Energiegewinnung aus der Atmosphäre als Kohle-
ersatz u. ä.); das Urteil hat also allgemeines Inter-
esse. „Es gibt gewisse Erfinder, deren Erfindungen
mit den Tatsachen der Mechanik und mit aller
Wirklichkeit so im Widerspruch stehen, daß jeder
Fachmann sofort ihre Unbrauchbarkeit einsieht,
die sich aber darüber nicht belehren lassen. Sie
bleiben bei ihren falschen Anschauungen, sehen
die Kritik eines Fachmanns lediglich als ein Fest-
halten an überlieferten Anschauungen, als Ausfluß
von Wissensdünkel an. Auch dadurch, daß jeder
neu hinzugerufene Fachmann das Urteil des vor-
hergehenden bestätigt, lassen sie sich keineswegs
belehren. Jetzt meinen sie, die Fachgenossen
seien voneinander beeinflußt, eine herrschende
Zunft verfolge den Erfinder und lasse die Wahr-
heit nicht aufkommen. So fühlen sie sich dann
durch jede sachliche Kritik persönlich gekränkt."
Valentiner.
Kistner, A., Geschichte der Physik. I. Die
Physik bis Newton. II. Die Physik von Newton
bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Sammlung Göschen.
Nr. 293, 294. Berlin und Leipzig. V. W. V.
1919.
Es ist stets von Wert, sich in die Geschichte
einer Disziplin zu vertiefen ; nicht zum wenigsten
gilt das gerade in der heutigen Zeit von der Ge-
schichte der Physik — in der heutigen Zeit, in
der die Relativitätstheorie althergebrachten An-
schauungen entgegentritt. Die Betrachtung der
Geschichte lehrt uns, wie langsam oft eine Theorie,
die der heutigen Generation nichts Wunderbares
mehr zu enthalten scheint, weil sie darin erzogen
wurde, sich gegenüber gewohnten Anschauungen
und Vorurteilen durchsetzen konnte, und sie gibt
uns Mut, auch heutigentags von Gewohntem uns
zu trennen. So ist es denn sehr erfreulich, daß
vor kurzer Zeit die 2. erweiterte Aufl. der kurz-
gefaßten Geschichte der Physik von Kistner
erschienen ist. Sie wird vielen ein interessanter
und angenehmer Lesestoff sein und kann durchaus
empfohlen werden. Der Inhalt des 2. Bändchens
ist — das liegt in der Natur der Sache, der Fülle
der neuzeitlichen Entdeckungen — wesentlich
stärker zusammengedrängt als der des I. Bänd-
chens. Besonders wertvoll in dem oben ange-
deuteten Sinne ist ja aber auch gerade die im
1. Bändchen etwas ausführlicher behandelte frühere,
langsamere Entwicklung der Physik, z. B. die zur
Zeit des Kopernikus, Galilei, Kepler,
Newton. Valentiner.
Inhalt: H. Heller, Wie orientiert sich die Ameise? S. 449. — Einxelberichte: G. Schmitz, Die deutschen Ol-
schieferlager. S. 452. G. Bruhns, Ein einfaches Hilfsmittel für genaue Ablesungen an Büretten. S. 452. H. Latzin,
Neue Möglichkeiten der theoretischen Biologie. S. 453. Koßmat, Geologische Bedeutung der Schweremessungen.
S. 453. — BUcberbesprechungen : Fr. Dannemann, Die Naturwissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem
Zusammenhange. S. 455. P. Brigl, Die chemische Erforschung der Naturfarbstoffe. S. 455. E. Meyer, Wirklich-
keitsblinde in Wissenschaft und Technik. S. 456. A. Kistner, Geschichte der Physik. S. 456.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. PäU'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 7. August 1921.
Nummer S'i,
Die chemischen Niederschläge des norddeutschen Diluviums.
[Nachdruck verboten.]
Von Eduard Zache.
Im norddeutschen Diluvium treten neben den
Sand- und Tonbänken Lager aus kohlensaurem
Calcium und Brauneisen auf, die durchweg zwar
eine schwache Mächtigkeit und eine spärliche
Verbreitung besitzen, aber wegen ihrer eigenartigen
Bildungsweise Beachtung verdienen.
Was zunächst die Lager aus kohlensaurem
Calcium betrifft, so beschreibt Heß von Wie h-
dorff) ein solches aus der Nachbarschaft von
Guben mit folgenden Worten: Am östlichen Ab-
hänge des Tälchens vom Göhlen-See zur Neiße
liegt ein 200 m langes Kalklager. Es zeigt ein
wannenförmiges Lager wie beim Seekalk. Die
Oberfläche ist horizontal. Die Decke erreicht
eine Höchstmächtigkeit von 10 m. Die Decke
ist steinig-kiesiger Sand. Es ist i km lang und
200 — 400 m breit. Nicht weit von ihm liegt
noch ein zweites kleineres. Das Kalklager ist
durchschnittlich 3,5 m mächtig und wechselt von
1,2 bis 10,5 m. Der Kalk entspricht durchaus
dem alluvialen Wiesenkalk; der Kalk ist erdig,
leicht zerreiblich und fühlt sich tonig an, besitzt
eine helle Farbe und eine deutliche Schichtung.
Das Liegende ist diluvialer Kies, Mergel usw. Auch
Berg ha US-') erwähnt schon dieses Kalklager
von Groß Drewitz im Gubener Kreise, indem er
von einem Mergeltuff spricht, der in der dortigen
Feldmark auf einer zusammenhängenden Fläche
von 200 bis 300 Morgen Größe vorkommt und
ausgebeutet in einem Kalkofen gebrannt wird.
Ein zweites Beispiel wird von W. Wolff) auf-
geführt und befindet sich in der Forst Gnewau,
Kr. Neustadt, Westpreußen. Die feingeschichtete
graue Kalkmasse ist 4 m mächtig, und darüber
liegt entweder Geschiebelehm oder auch Kies.
Das Liegende war nicht sichtbar, besteht aber, so
viel zu erfahren war, aus nordischem Sand und Kies.
Ein drittes Lager hat Deecke*) gefunden
und zwar bei der Försterei Endingen, Kr. Franz-
burg, Neuvorpommern. Der Kalktuff wird von
Sauden eingeschlossen und ruht zwischen zwei
Geschiebelehmen.
Endlich möchte ich noch nach Wah n s c h a f fe'^')
') Heß von Wi ch d or f f: Über ein neues ausgedehntes
Kalklager von Groi3 Drewitz unweit Guben. Monatsbl. d.
deutsch, geolog. Ges. Nr. i, 1910, S. 72.
^J Berghaus: Landbuch der Mark Brandenburg. Bd. I,
1854, S. 220.
') W. Wolff: Beobachtungen über neue Vorkommen
von fossilführendem Diluvium. Monatsbl. d. deutsch, geolog.
Ges. 1905, S. 295.
■*) Deecke, Globus 78, iqoo, S. 13 — 15.
') Wahnschaffe: Die Oberflächengestaltung des nord-
deutschen Flachlandes, 3. Aufl., Stuttgart 1909, S. 296.
Schichten aus CaCOg erwähnen, die Keil hack
festgestellt hat. Die erste Stelle liegt in der Um-
gegend von Dahnsdorf 5 km nördlich von Nie-
megk. Die Aufschlüsse finden sich nördlich und
südlich von der Chaussee in der Nähe der Kom-
turmühle. Hier wird ein Süßwasserkalk ge-
wonnen, der über 2 m mächtig ist und viel Kon-
chylien enthält. Die zweite Ortlichkeit wird öst-
lich von dem Dorfe Mörz angeführt, das weitere
3 km nördlich von Dahnsdorf liegt; dort wird
ein 2 m mächtiger Süßwasserkalk, der nach oben
zu in entkalkten eisenschüssigen Lehm übergeht,
zunächst von ^j "^ mächtigem Geschiebelehm
und sodann von i m mächtigem steinigen Tal-
sand überlagert. Endlich ist bei Wahnschaffe
noch ein dritter Fundort aus dieser Gegend an-
geführt, nämlich die Obermühle bei Beizig, wo
eine Tiefbohrung als unterste angetroffene Schicht
tertiäre Sande von großer Mächtigkeit vorfand,
bedeckt von lO m mächtigen Talsanden, die im
oberen Teil große nordische Blöcke enthalten.
Darüber folgt der Süßwasserkalk von 5 m Maxi-
malmächtigkeit, der im unteren Teil Pflanzen-
und Tierreste enthält, während die ersten in den
höheren Schichten fehlen. Den Süßwasserkalk
überlagert Geschiebelehm oder blockreicher Ge-
schiebesand, und wo der erstere dem Süßwasser-
kalk unmittelbar auflagert, zeigen sich Schichten-
störungen.
An diesen Stellen handelte es sich um ein Pul-
ver von CaCO^. Fr i edel*) berichtet aber auch
von einem festen Kalkstein: In der Nähe des
neuvorpommerischen Städtchens Richtenberg wird
Sand und Kies abgegraben. Durch das grandige
Diluvium ziehen Bänke von verhärteten Kalkplatten,
die mitunter mehrere Zoll hoch und sehr schwer
sind und gewissen Rüdersdorfer Kalkbruchsteinen
ähneln. Sie sind gelegentlich beim Bauen von
Fundamenten usw. mit Vorteil verwendet worden.
Solche festen Kalksteine waren offenbar in
früheren Zeiten sehr begehrt, weil Berghaus
an der erwähnten Stelle eine große Anzahl von
Fundpunkten nennt. So berichtet er S. i6i von
dem Kalkberg hinter dem Schenkendorfschen
Eichwalde bei der Stadt Guben: „Aus diesem
Kalkberge werden die zum Bau benötigten Kalk-
steine gebrochen, doch scheinen sie mehr zum
Brennen benutzt worden zu sein." Ferner findet
man nach ihm in der Niederlausitz und zwar in
der Herrschaft Sorau wie auch zu Jessen (Kr. Sorau)
') Friedel : Brandenburgia. Monatsblatt der Gesellschaft
für Heimatkunde der Prov. Brandenburg VII, 1899, S. 374.
458
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
und zu Bernsdorf (Herrschaft Pforten) gute und
zum Bau sehr dienUche Kalksteine; weiter sind
Kalksteine gefunden bei Pieschkau im Sorauschen
und zu Kalke im Triebeischen, das seinen Namen
wahrscheinlich von den umliegenden Kalkgebirgen,
wo verschiedene Brüche im Gang sind , führt.
Berghaus fügt hinzu, daß neue Nachrichten
diesen Fundpunkt nicht erwähnen, nur von Kalke
heißt es, daß es einzelne Nester von Kalksteinen
in den Bergen gäbe, daß man jedoch nicht danach
grabe. Bei Syrau, nördlich von Sorau, wurde
früher, wie Berghaus weiter anführt, Kalkstein
gegraben, und bei Zelz, südwestlich von Triebel,
kam Kalk in einzelnen unbedeutenden Nestern
vor. Bei Groß-Ziescht im Jüterbog-Luckenwalder
Kreise, meldet er weiter, liegen einige Schritt vom
Dorfe entfernt die sog. Kalkkuhlen, welche den
Kalk zum Bau der aus Feldsteinen aufgeführten
Kirche des Ortes geliefert haben sollen. Endlich
bringt er noch eine Angabe Girards bei, wo-
nach sich bei Alt Golm in der Nähe von Beeskow
Kalksteine vereinzelt in Nestern gefunden haben
und wonach auch auf der Feldmark des Ritter-
gutes Ragow im lehmigen Sandboden der Höhe
viel Kalk vorhanden ist.
Aus diesen Beschreibungen, auch aus denen
von Berghaus, geht hervor, daß es sich um
Lager oder Nester handelt, in welchen das kohlen-
saure Calcium allein vorkommt. Daneben aber
gibt es nun noch eine zweite Gruppe , wo es
mit Kies gemischt ist, wobei es sich auch um
loses oder verfestigtes Gestein handelt.
An dem Abhang zwischen Niederfinow und
Liepe, der die uckermärkische Stufe gegen das
Oderbruch abgrenzt, waren vor dem Kriege
eine große Anzahl von Kiesgruben dicht neben-
einander im Betrieb, und hier fand ich häufig in
den Kies eingebettet Nester aus kohlensaurem
Calcium, das eine wechselnde P"estigkeit aufwies,
in der Regel aber aus einer staubartigen losen Masse
bestand. In diese Gruppe gehören die Schollen -
steine, die in einigen Rummeln des Hohen
Flämings auftreten. F r i e d e P) berichtet darüber :
Der Braut Rummel beginnt i km östlich von
dem Dorfe Grubo, das 8 km südlich von dem
Bahnhof Wiesenburg liegt. Er hat eine Tiefe
von 10 m, und ungefähr 2 m über der Sohle und
7 m unter der Kante ragt das Konglomerat aus
der östlichen Böschung hervor. Es ist also etwa
I m stark und hat eine Seitenausdehnung von
1,5 m. Die an und für sich sehr lose Struktur
ist im Erdreich noch weicher. Die Schollen
zeigen an einigen Stellen deutliche Kreuzschich-
tung, weisen aber im ganzen horizontale und
parallele Lagerung auf. Der Kies besteht aus
kleinen Steinchen. Der zweite Rummel mit
Schollensteinen ist der von Garrey und ein dritter
ist der Neuendorfer. Beide beginnen nicht weit
von dem Dorfe Garrey, das 8 km südlich von
') E. Fried el: Brandenburgia. Monatsblatt der Gesell-
schaft für Heimatkunde der Prov. Brandenburg XVIII, 1909,
Nr. 5, S. 133.
Niemegk liegt. In dem Neuendorfer Rummel
treten die Schollen 8 m über der Sohle und i m
unter der Randhöhe auf und lassen sich 100 m
weit verfolgen, wobei sie 2 m Mächtigkeit be-
sitzen. Sie führen gröbere Gesteinstrümmer als
die des Braut Rummels.
Hier möchte ich einen Fundort nach der
Karte einfügen. 10 km nördlich von Finster-
walde findet sich auf der 100 000 Karte ungefähr
über eine Länge von 10 km die Bezeichnung
„alte Kalkgruben"; deshalb vermute ich, daß es
sich um Aufschlüsse gehandelt hat, die in früheren
Zeiten im Betrieb waren, denn auf diese Stelle
bezieht sich zweifellos die folgende Bemerkung
von Berghaus: „Im Gebiet von Babben (Stan-
desherrschaft Drehna) steht ein Steinbruch im
Betrieb, die Felsart ist sehr grob gewoben, bricht
leicht und hat eine rotbraune Farbe wie Lohe.
Der untere Rumpf des Kirchturms von Groß-
Mehßow ist augenscheinlich aus grobgehauenen
Stücken dieses Gesteines erbaut. In der Folgezeit
ist dies Gestein nicht weiter benutzt worden.
Jetzt wird es aber zu Stallgebäuden verwandt."
Aus dieser Beschreibung darf man wohl entnehmen,
daß es sich auch um ein solches Konglomerat
handelt, wie es die Schollensteine vorstellen.
Die bisher beschriebenen Vorkommen des
kohlensauren Calciums sind als Nester und Lager
bezeichnet worden, weil sie trotz ihrer geringen
Mächtigkeit und ihres bescheidenen Umfanges
immerhin noch eine zusammenhängende Schicht
bilden. Ihnen steht nun ein ganz abweichen-
des Vorkommen gegenüber. In den hellbraunen
Tonen der Provinz Brandenburg ist mir häufig
das CaCOg in der Form von Knöllchen und
kleinen Knauern begegnet, weswegen diese Tone
sich auch nicht ohne weiteres für die Ziegel-
fabrikation eignen. Am häufigsten habe ich sie
in den Tonen gefunden, die in einer sehr auffallen-
den Lagerung in den Sandgruben von Nieder-
Löhme bei Königs- Wusterhausen auftreten. Dort
finden sich in der Sandböschung Einschaltungen
aus hellbraunem Ton, die unvermittelt in der
Wand auftreten und zwar in Form von abge-
stumpften Kegeln, weswegen sie auch etwas aus
der Wand herausragen. Sie verraten sich, abge-
sehen von ihrer Farbe, deutlich durch die Festig-
keit, weil sich auf ihrer Oberfläche lange Regen-
risse eingegraben haben, während links und rechts
daneben der Sand heruntergerollt ist. Einige
dieser Kegel haben eine breite Basis und reichen
von der Sohle bis zur Oberfläche, wo sie abge-
stumpft sind, andere dagegen sind viel kleiner
und enden schon in halber Höhe der Grubenwand.
Fast ebenso zahlreich wie die unterirdischen
Lagerstätten aus CaCOg sind die aus Brauneisen.
Die wichtigste ist von mir in den Aufschlüssen
der Braunkohlengrube Präsident ') westlich von
') E. Zache: Spuren tektonischer Kräfte im Nieder-
lausitzer Vorland. Archiv der Brandenburgia, Gesellschaft für
Heimatkunde der Prov. Brandenburg, Bd. V, 1899, S. 543
bis 572.
N. F. XX. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
459
Fürstenberg a. O. entdecl<t worden. Die Braun-
kohlenflöze sind dort zu vier großen Sätteln auf-
gerichtet, die Nordsüd streichen und in früheren
Zeiten zutage ausgingen, wodurch mehrere gün-
stige Gelegenheiten erzeugt worden waren, um
das Brauneisensteinflöz zu beobachten. Es liegt
nämlich auf der Grenze zwischen dem Tertiär
und dem Diluvium und beginnt mit einem Pflaster
aus nordischen Kiesen und Gerollen. Zwischen
ihnen und noch etwas darüber liegt das Erz, das
nur 30 cm mächtig ist. Die unterste Schicht be-
steht aus Kugeln von 2 cm Durchmesser, während
der Rest eine gleichförmige Masse bildet. Das Lager
wird bedeckt von einem mächtigen Diluvialton.
Eine zweite Stelle findet sich in der Septarien-
tongrube am Südende des Schermützel Sees bei
Buckow. Dort liegen zwei schwache Bänke aus
Toneisenstein zwischen tertiären Sanden über
einer mächtigen Bank aus Septarienton. ') Die
Schichten fallen auch hier unter einem flachen
Winkel ein. Weil die Flöze hier zwischen ter-
tiären Schichten lagern, sollte man annehmen,
daß sie nicht zum Diluvium gehören, was aber
in der Tat der F"all ist, wie ich in einem späteren
Abschnitt nachweisen werde.
Ganz ähnliche unbedeutende Lager aus Braun-
eisen, das durch Sand und Ton verkittet ist,
wurden von mir noch an anderen Stellen beobachtet.
Z. B. habe ich solche in mehreren Ziegeleigruben
in der Umgegend von Sorau festgestellt. Dort
finden sie sich auf der Sohle von diluvialen San-
den und Kiesen, die ihrerseits auf tertiären Tonen
ruhen. In der Grube dicht hinter dem Restau-
rant Rautenkranz fanden sich dicke feste Bänke
aus eisenschüssigen Sanden, während ebensolche
Kiesbänke auf dem tertiären Ton ruhen, der einen
schmalen Rücken bildet und sich parallel mit der
Sorau — Kohlfurter Eisenbahn in der Nähe vom
Bahnhof Kunzendorf hinzieht. Eine weitere Fund-
stelle konnte ich im Sommer 19 13 in einer großen
Kiesgrube in der Nähe des Eichberges gegenüber
dem Bahnhof Groß-Gastrose an der Neiße fest-
stellen. Vereinzelt ragten die eisenschüssigen Kies-
blöcke auch aus dem Waldboden hervor.
Eine auffallende Gesteinsbildung, die meiner
Meinung nach auch hierher gehört, hat Fried eP)
viel beschäftigt. Es handelt sich um den roten
Trebuser Sandstein, wie er ihn genannt hat. (Das
Dorf Trebus liegt wenige Kilometer nördlich von
der Stadt Fürstenwalde a. S.). Er beschreibt die
Steine folgendermaßen: Ein und derselbe Block
ist im Gefüge und der Farbe sehr verschieden,
von feinen, gleichmäßig verteilten Sandstein-
körnern bis zu erbsen-, ja bohnengroßen ungleich-
artigen Stücken, sehr hart, dunkelrot bis hellrot,
mit und ohne Glimmerplättchen. Die mit dem
Trebuser Sandstein vergesellschafteten Diluvial-
') F. Wahnschaffe: Die Lagerungsverhältnisse des
Tertiärs und Quartärs der Gegend von Buckow. Seperalabdruck
aus dem Jahrb. der Kgl. Preuß. Geolog. Landesanstalt für 1S93.
-) E. Friedel; Brandenburgia. Monatsblau der Gesell-
schaft für Heimatkunde der Prov. Brandenburg VH, 1898, S. 385.
geschiebe sind ungleich mehr abgeschliffen und
sphäroidaler ausgestattet als jene. Der Bergamts-
rat Flottmann hat im Jahre 1782 auf dem
Fürstenwalder Felde bohren lassen und fand die
Steine in 2 Fuß Tiefe, aber nur 2—3 Zoll hoch,
mächtig. Unter ihnen fand er nichts als Lehm
bis auf 40 Fuß Tiefe. Sie finden sich nur nester-
weise, z. B. in den Hufenbergen ^4 Meile nörd-
lich von Fürstenwalde, in den Rauenschen und
den Duberow Bergen, in der Gemarkung Trebus,
auf dem Gelände am Jänikendorfer Weg und in
der Nähe des Trebuser Sees. Der Stein war
wegen seiner leichten Spaltbarkeit ein beliebter
Baustein; daher findet er sich in den Mauern des
Rathauses von Fürstenwalde und in der dortigen
Stadtmauer, ferner in den älteren Mauerresten
der Trebuser Kirche und in den Gebäuden des
dortigen Gutshofes. Auch ein Steinkistengrab bei
Klein Rietz zwischen Fürstenwalde und Beeskow
war sorgfältig aus großen schiefrig gespaltenen
Platten dieses rotbraunen Sandsteins erbaut.
Aus den Aufzählungen ergibt sich, daß es sich
an allen Stellen um ein Gemisch von Ton, Sand
oder Kies mit einem Eisenoxyd handelt, so daß
diese eisenschüssigen Konglomerate genau mit
denen übereinstimmen, deren Bindemittel aus
kohlensaurem Calcium besteht. Im Gegensatz zu
ihnen gibt es nun auch unter den Eisennieder-
schlägen einige fast ganz reine, d. h. sand- und
kiesfreie Abscheidungen. Ich führe diese Lager-
stätten wieder nach Wahnschaffe an: Ein
Eisenocker wird südlich von Dahnsdorf, östlich
vom Verbindungsweg Dahnsdorf— Lühnsdorf un-
weit Niemegks abgebaut. Seine Mächtigkeit soll
30 m betragen. Überlagert wird er von einer
steinig lehmigen Bildung, die als verwaschene
Grundmoräne angesprochen werden kann. Der
Eisenocker besitzt eine wechselnde Ausbildung
und ist im frischen Zustand dunkelgrün, d. h. er
enthält kohlensaures und humussaures Eisenoxydul,
das beim Liegen in rotbraunes und rotes Eisen-
oxydhydrat übergeht. Eine der Analysen ^j hatte
folgendes Ergebnis:
Kieselsäure 6,80 "/,
Tonerde 3,74 „
Eisenoxyd 19,50 „
Eisenoxydul 19.71 „
Kalkerde 13,86 „
Magnesia 0,28 „
Kali 0,25 „
Natron 0,07 „
Schwefelsäure 1,69 „
Phosphorsäure 0,25 „
Kohlensäure 22,93 „
Humus 2,20 „
Stickstoff 0,06 „
Hygroskopisches Wasser 6,10 „
Glühverlust 2,80 „
100,33 7o
') Hucke: Geologische Ausflüge in der Mark Branden-
burg. Leipzig 19H, S. 12«.
46ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
Endlich ist nicht weit von dieser Stelle, näm-
lich bei Baitz, in der Mitte zwischen Beizig und
Brüclc noch ein zweites Lager aus Eisenocker
durch eine Bohrung festgestellt worden.
Die aufgeführten Ablagerungen des kohlen-
sauren Calciums und des Brauneisens sind durch
chemische Prozesse hervorgebracht worden,
im Gegensatz zu den Bänken aus Ton und Sand,
die rein mechanischen Ursprungs sind.
Bei der Bildung der Bikarbonate des Cal-
ciums und des Eisens werden ihre festen Ver-
bindungen in Lösungen verwandelt und können
somit wandern, wenn auch nur in geschlossenen
Rinnen. Sobald nämlich die Lösungen an die
Luft kommen, spaltet sich die eine Hälfte der
Kohlensäure wieder ab, so daß unlösliche Kar-
bonate entstehen; das Karbonat des Eisens gibt
auch noch die andere Hälfte ab und bildet mit
dem Sauerstoff der Luft ein festes Hydroxyd. In
dieser Weise entsteht der oberirdische Wiesen-
oder Seekalk und der Raseneisenstein.
Für die oberirdischen Ansammlungen bildet
das nordische Schuttgebirge, der Geschiebelehm,
den alleinigen Ausgangspunkt. Die Kohlensäure
der Luft wandert mit dem Regenwasser und mit
der Luft in die Tiefe und erzeugt die löslichen
Bikarbonate. Auf den Haarspalten des Bodens
folgen sie der Schwerkraft und gelangen in das
Grundwasser, in der eine Anreicherung dieser
Lösungen entsteht.
Sobald das Grundwasser zutage getreten ist
und verdunstet, beginnt die Abspaltung der einen
Hälfte der Kohlensäure. Weil aber oberirdisch
eine scharfe Trennung zwischen den Lagern aus
Raseneisenerz und kohlensaurem Calcium vorliegt,
muß die Sonderung der beiden Karbonate schon
auf dem Wege zur neuen Lagerstätte vor sich
gehen, und sie kann nur bedingt sein durch die
Verschiedenheit ihrer spezifischen Gewichte.
Den Vorgang der Abscheidung der unlöslichen
Eisenverbindungen kann man in jedem
Frühjahr in den Abzugsgräben des Oderbruches
beobachten. Wenn hier nach einem niederschlags-
reichen Herbst und Winter im Frühjahr das Grund-
wasser in die Abzugsgräben tritt, entsteht auf der
Oberfläche des Wassers eine schillernde Haut, und
auf dem Grunde der Gräben sammelt sich ein
flockiger hellbrauner Niederschlag an, der aus
kolloidem Brauneisen besteht. Aber auch im
Sommer kann dies geschehen; so war der sehr
regenreiche Sommer 1920 für das Oderbruch ver-
hängnisvoll. Die Gräben waren während des
Kieges zum großen Teil verkrautet und verstürzt;
an allen niedrigen Stellen hatten sich große
Wasserflächen angesammelt. Als dann im Herbst
die Meliorationsarbeiten einsetzten, fiel das Wasser
schnell fort, und es entstanden in dem langsam
fließenden Wasser der Gräben an vielen Stellen
die schillernden Häute.
Die Entstehung des kohlensauren Calciums
an einer neuen Lagerstätte aus dem doppeltkohlen-
saurem Calcium läßt sich in den Tropfsteinhöhlen
an den Stalaktiten und Stalagmiten verfolgen.
Hier überzieht sich jeder Tropfen, der an der
Decke hängt, mit einer Haut aus Kalkspatkristallen.
Sobald der Tropfen abfällt, bleibt ein Teil der
Kristalle hängen und vergrößert mantelartig den
Stalaktiten; dort, wo der Rest des Tropfens auf
dem Boden auffällt, überzieht sich die Stelle eben-
falls mit einer Schicht aus Kalkspatkristallen und
bildet den Stalagmiten, so daß ihm die innere
Höhle fehlt. Die Tropfsteinbildungen lehren also,
daß die Ausscheidung des kohlensauren Calciums
rein anorganisch vor sich geht, weil in den finsteren
Höhlen jedes Pflanzenleben ausgeschlossen ist.
Wo sich heutigen Tages Calciumkarbonat im
Wasser absetzt, beteiligen sich auch die unterge-
tauchten Wasserpflanzen als Mithelfer; indem sie
bei dem Assimilationsprozeß Kohlensäure ver-
brauchen, sorgen sie für ihre Herabminderung, so
daß die Abscheidung das CaCOg beschleunigt
wird. Die Bildung der Kalkspatkristalle geht
aber auch hier hauptsächlich an der Oberfläche
der Gewässer vor sich, und die Kristalle sinken
zu Boden, wobei sie durch den Wellenschlag zer-
trümmert werden. In der Tat erkennt man auch
unter dem Mikroskop bei der Untersuchung des
Wiesenkalkes nur kleine durchsichtige Plättchen
ohne bestimmte Gestalt.
Wie die oberirdischen Lager dieser beiden
Metallverbindungen streng voneinander getrennt
sind, so ist dies auch bei den unterirdischen der
Fall, und beide stimmen ebenso in ihrer Zusam-
mensetzung völlig miteinander überein, wie es
z. B. besonders deutlich bei den beiden unter-
irdischen Lagern von Groß-Drewitz und Gnewau
der Fall ist, die direkt mit Wiesenkalk verglichen
werden.
Bei den unterirdischen Lagern aus Brauneisen-
stein, z. B. bei dem der Grube Präsident, ist die
Ähnlichkeit mit den oberirdischen nicht so groß,
und zwar wird die Abweichung durch das Auf-
treten der Kiese hervorgerufen. Gerade in diesem
Punkte stimmen sie aber wieder mit vielen Nieder-
schlägen aus CaCOg überein.
Der Umstand, daß den meisten dieser che-
mischen Niederschläge Kiese und Gerolle beige-
mischt sind, muß einen Grund haben, der allein
in den äußeren Umständen gesucht werden kann,
unter denen sich der Absatz vollzogen hat.
Für den Luftzutritt ist nun nicht unbedingt
eine oberirdische Lage der Speicherstätte erforder-
lich, sondern es genügt auch eine Höhle, wie bei
der Bildung der Tropfsteine, d. h. diese chemischen
Niederschläge sind durch Untereisströme erzeugt
worden. Jedenfalls mußte eine große Anzahl von
Bedingungen erfüllt sein, wenn ein solches Lager
entstehen sollte. Das wichtigste Erfordernis war
aber unzweifelhaft der Untereisstrom selbst, der
die Lösungen mit sich führte. Diese mußte er
indessen erst auf einem langen Wege gesammelt
haben. Für die Mächtigkeit der Lager war die
Zeitspanne maßgebend, während welcher die Höhle
sich offen hielt, und für die Ausdehnung des
N. F. XX. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
461
künftigen Lagers war der Umfang der Höhle be-
stimmend.
Die Lager weisen einen durchgreifenden Unter-
schied auf, so daß man zwei Gruppen unter-
scheiden kann, die bedingt sind durch das Fehlen
oder das Vorhandensein von nordischen
Kiesen. Dort, wo die Beimengungen fehlen, be-
stand die Decke der Höhle aus einer Schicht von
reinem Eis, und dort, wo sich Kiese beigemischt
finden, war die Decke aus einer Schicht von
nordischem Schutteis gebildet, so daß sich beim
Abschmelzen die Gesteinsbrocken loslösten und
in den Untereisstrom hinabfielen.
Es findet sich noch ein auffallender anderer
Gegensatz und zwar in erster Linie bei den Lagern
aus kohlensaurem Calcium, indem dort solche auf-
treten, die aus einer lockeren Masse bestehen
und andere, die fest sind. Dagegen bilden die
Niederschläge der Eisenverbindungen eine feste
Masse. Die Verfestigung des Pulvers entsteht,
wenn die Luft Zutritt hat, wie aus einer Be-
obachtung Fried eis am Scharmützel-See deut-
lich hervorgeht. Hier lagert auf dem Großen
und Kleinen Werl an der Oberfläche eine Schicht
aus großen und kleinen festen Kalksteinen von
sehr verschiedener Gestalt, während unter ihr das
CaCOg eine weiche Masse bildet. Die Verfestigung
kann nur daher kommen, daß der Spiegel des
Sees gefallen ist, so daß die Inseln auftauchten,
wobei die oberste Schicht abtrocknete. Auch die
Kalkknauern in den diluvialen Tonen müssen ent-
standen sein, indem sie in einem flachen Strom
zusammengerollt wurden, deshalb ist ihr Vor-
kommen auch beschränkt.
Welche Rolle die Untereisströme bei der Ab-
lagerung der Tone und Sande gespielt haben, ist
von mir bereits in einem früheren Aufsatz ^) er-
örtert worden. Jetzt wird ersichtlich, daß auch
die chemischen Niederschläge einen Beleg für die
Annahme liefern, daß die diluviale Eisdecke sich
aus zwei Arten von Eisbänken aufbaute, näm-
lich aus solchen von reinem Heimeis und
solchen aus nordischem Schutteis. Danach
stammte das Inlandeis also in seiner ganzen
Mächtigkeit nicht einzig und allein aus Skandi-
navien. Wie die Untereisströme ihre Arbeit ver-
richteten, ergibt sich aus einer Arbeit Keil-
hacks,^) die schon vor vielen Jahren veröffent-
licht wurde. Hier führt Keil hack aus, daß,
während der Sand von Upsala zu •'/.i und mehr
aus Orthoklas und anderen Mineralien besteht,
unsere norddeutschen Sande Quarz in solcher
Menge enthalten, daß dieser Quarz '■'l^ bis */,(, des
Ganzen auszumachen pflegt. Die untersuchten
schwedischen Sande ergaben im Mittel 3 1 "/^ Quarz
und 69 "/o andere Mineralien, während die deut-
') E. Zache: Die diluviale Eisdecke "und die letzte
Krustenbewegung in Norddeutschland. Naturw. VVochenschr.
N. F. 18. Bd., der ganzen Reihe 34. Bd., S. 161, 1919.
^) K. Keilhack; Nordische und einheimische Bei-
mengungen im Diluvium. Zeitschr. d. deutsch, geolog. Ges.,
Bd. XLVIII, S. 227, 1896.
sehen aus 80 "/^ Quarz und 20 "/^ andere Mine-
ralien bestehen. Der Quarz stammt aus dem
tertiären Untergrund und ist eben dort zu finden,
wo die weißen Glimmerplättchen herstammen,
die noch leichter festzustellen sind. Der Unter-
eisstrom besorgte die Mischung, indem er die
Gesteinstrümmer von der alten Oberfläche abhob
und sie mit denen mischte, die er von der Decke
aus nordischem Schutteis dazu empfing.
Auch der Septarienton von Buckow mit den
tertiären Sanden und den Bänken aus Toneisen-
stein ist umgelagertes Tertiär, weil sich unter
dem Septarienton nordische Gesteinsblöcke ge-
funden haben, die ihn daher ins Diluvium weisen.
Endlich müssen deshalb auch die Einlagerungen
von tierischen und pflanzlichen Resten,
die sich z. B. in dem unterirdischen Süßwasser-
kalk von Dahnsdorf und dem der Obermühle bei
Beizig vorfinden, ebenfalls durch einen Untereis-
strom vom Erdboden aufgehoben, verschleppt
und wieder fallen gelassen worden sein.
Nachdem ich mich in den vorausgehenden
Abschnitten mit der Zusammensetzung der
unterirdischen chemischen Niederschläge beschäftigt
und die Unterschiede, die sich hier herausgestellt
hatten, zu begründen versucht hatte, will ich nun
dazu übergehen, die Abweichungen der Lage-
rung zu untersuchen und ihre Ursachen festzu-
stellen. Wie aus den Beschreibungen hervorgeht,
liegen die Bänke entweder horizontal oder sie
sind aufgerichtet, und zwar ist die erste Art
bei den höheren und die zweite bei den tieferen
anzutreffen. Von den wagerechten ist nichts be-
sonderes auszusagen, um so mehr aber wird von
den aufgerichteten zu sprechen sein. Es kommen
daher nur die beiden Aufschlüsse mit dem Braun-
eisen zur Erörterung von der Braunkohlengrube
Präsident und vom Südende des Schermützel-Sees
bei Buckow.
An dieser letzten Stelle treten noch einige
weitere geologische Erscheinungen in dem Profil
hervor, die eine wichtige Rolle bei der Deutung
spielen. In der halben Höhe des Profils läuft eine
wagerechte Linie entlang, wodurch es in
zwei Teile zerlegt wird, die große Abweichungen
in der Lagerung der Schichten aufweisen. Die
hangenden sind horizontal gelagert, und die
liegenden, d. h. die tertiären Sande mit den Ton-
eisensteinbänken, sind aufgerichtet. Die wage-
rechte Linie des Profils stellt den Durchschnitt
durch eine wagerechte Ebene dar, die eine echte
Flutebene ist, wie sie von einem Untereisstrom
erzeugt wurde. Ein Profil mit diesem Schichten-
bau findet sich in jedem geologischen Lehrbuch
und zwar an der Stelle, wo von den Störungen
im Bau der Erdrinde die Rede ist und dient als
Beleg dafür, daß an dieser Örtlichkeit eine Krusten-
bewegung zu verzeichnen ist. In unserem Falle
würde die Erläuterung lauten: nachdem die Bank
aus Septarienton und die darüber lagernden
Schichten aus tertiären Sanden nebst den Ton-
eisensteinflözen von einem Untereisstrom abge-
402
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
setzt worden waren, trat die Krustenbewegung
ein, die nicht bloß den weiteren Absatz unter-
brach, sondern auch das strömende Wasser zwang,
die aufgerichteten Schichten bis auf eine gewisse
Tiefe hin wieder wegzuführen und die neue Ober-
fläche einzuebnen. Nachdem die Flutebene her-
gestellt worden war, setzte der Niederschlag des
Untereisstromes wieder ein, und die horizontalen
hangenden Sande fielen zu Boden. In dem Profil
der Grube Präsident sind nur die gestörten
liegenden Schichten vorhanden, d. h. es fehlt die
wagerechte Flutebene, weil sie hier mit der Tages-
oberfläche zusammenfällt. Ich stelle mir daher
vor, daß sich hier nach der Krustenbewegung
kein Untereisstrom mehr entwickelte, weil die
Decke der Eishöhle nicht mächtig genug war.
Das geht auch daraus hervor, daß in diesem
Strich der Untere Sand nebst dem Geschiebe-
lehm vollständig fehlt. Die Eishöhle ist ausge-
füllt worden mit einem sehr mächtigen hellbraunen
Ton, der hier eine große Verbreitung besitzt.
Für die Absätze, die eine horizontale Lage
einnehmen, ergibt sich daher, daß sie sämtlich
erst nach der Krustenbewegung entstanden sein
können.
Die Bedeutung der Krustenbewegung für die
Entstehung der chemischen Niederschläge im
obersten Diluvium wird besonders klar beleuchtet,
wenn man die oben beschriebenen Lager von
der Komturmühle bei Dahnsdorf, von Mörz und
Baitz nach dieser Auslegung der Störungen von
Buckow und der Grube Präsident noch weiter
prüft. Alle sind eingebettet in die oberste Decke
des Diluviums auf einer merkwürdigen Vor-
stufe des Hohen Flämings in der Umgegend
von Niemegk, dort, wo das oberste Planetal aus
dem Höhenzug heraustritt.
Die Böschung des Hohen Flämings nimmt
hier zwischen Beizig und Niemegk einen sehr auf-
fälligen Verlauf. Soweit sie das untere Planetal
begrenzt, d. h. zwischen Ragösen, Ditimannsdorf
und Lütte, streicht sie in der Nordsüdlinie und
besitzt einen steilen Hang, der sich über lOO m
erhebt. Sobald man aber südlich von Lütte nach
Schwanebeck kommt, knickt der Rand plötzlich
unter einem Rechten Winkel nach Osten um und
streicht in der Westost Linie bis Alt Rottstock bei
Brück, wo er wieder in die alte Nordsüd- Richtung
einbiegt. Dabei verflacht sich die Erhebung auf
67 m. Im Gegensatz hierzu läßt sich die 100 m-
Kurve mit dem Nordsüd Streichen über Lütte
hinaus nach Beizig und Kranepuhl bis Rädigke
verfolgen, wo auch sie unter einem Rechten Winkel
nach Osten umknickt, bis sie den Rand in der
Höhe von Treuenbrietzen erreicht. In diesem
Winkel liegt Niemegk mit 72 m Meereshöhe.
Von hier aus erblickt man als eine deutliche Land-
marke die Windmühle von Garrey, die 158 m
hoch liegt. Dicht bei diesem Dorf an der höchsten
Stelle der Böschung entspringen zwei Trockentäler,
der Neuendorfer und derGarreyer Rum-
mel, die beide auf das oberste Planetal zulaufen.
Diese auffallenden Züge der Landschaft, d. h.
die Böschung mit der Stufe davor, sind das Er-
gebnis einer Krustenbewegung an dieser
Stelle, wie aus der folgenden Beschreibung eines
Aufschlusses deutlich hervorgehen wird. Östlich
von Niemegk bei Kirstenhof sind von K e i 1 h a c k ^)
in mehreren Tongruben große Störungen entdeckt
worden. Das Liegende ist ein in enge Sättel
und IMulden zusammengepreßter Ton, der von
einer wagerechten Linie abgeschnitten wird, und
das Hangende besteht aus einer '/j bis i m
mächtigen Decke aus Geschiebelehm. Das
Liegende als Ganzes stellt einen Sattel dar, dessen
Längsachse parallel mit der Chaussee Niemegk —
Haselow, d. h. Ostwest, streicht. Die drei Gru-
ben stehen mit ihren Längsachsen senkrecht zu
diesem Streichen, so daß ihre Längswände die
Sättel und Mulden zeigen, während die Querwände
wagerechte Schichtung aufweisen.
Die Störung liegt somit kurz vor der 100 m-
Kurve zwischen Rädigke und Treuenbrietzen, und
es ist nicht daran zu zweifeln, daß die Formen
des Geländes durch die Bewegung der Erdrinde
an dieser Stelle erzeugt wurden, und daß auch
die Entstehung der chemischen Niederschläge
damit zusammenhängt. Sie treten nämlich auf
längs einer geraden Linie, die auf der Höhe 158
bei Garrey beginnt und sich über Rädigke und
Dahnsdorf bis Mörz verfolgen läßt. Die Ablage-
rungen von CaCO^ beginnen mit den wagerecht
geschichteten Schollensteinen nicht weit unterhalb
der höchsten Stelle, woraus hervorgeht, daß die
Krustenbewegung schon vorübergegangen war,
ehe sie sich gebildet hatten. Ihr Niederschlag er-
folgte in einer Eishöhle, deren Decke aus einer
mächtigen Schicht nordischen Schutteises bestand.
Diese Auslegung darf man zugrunde legen, weil
die höchste Stelle des Hohen Flämings eine
außerordentlich starke Decke aus Oberen Geschiebe-
lehm trägt. Wenn die Bewohner von Zixdorf
und Garrey einen Brunnen anlegen wollen, so
müssen sie 30 — 60 m tief in den Boden hinab-
gehen, bevor sie auf Wasser stoßen, und zwei
kräftige Männer sind erforderlich, um aus einem
Brunnen Wasser herauf zu pumpen. Mit dem
Auftreten dieser zusammenhängenden Decke aus
Geschiebelehm hängt auch die Entstehung der
Rummel zusammen. Sie hält nämlich das Regen-
wasser oberirdisch fest, so daß es sich auch hier
einen Weg suchen muß. Beide Rummel ent-
springen in dem Garreyer Kessel, der mit seinen
Ausbuchtungen von der 150 m-Kurve umgrenzt
wird und aus Geschiebelehm besteht. Die eigent-
liche Austiefung dieser Risse hat mit der Krusten-
bewegung selbst nur so weit etwas zu tun, als
dadurch hier die schroffe Böschung erzeugt wurde.
Sie selbst setzte nämlich erst ein, als der Nieder-
schlag des Oberen Geschiebelehms beendet war,
') K. Keilhack: Geologische Beobachtungen während
des Baus der Brandenburgischen Städtebahn. Sonderabdruck
aus dem Jahrbuch der Kgl. Preuß. Geolog. Landesanstalt für
1903, Berlin 1903.
N. F. XX. Nr. 3:
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
463
weshalb sie sich nur so weit bergab erstreckt, als
der Geschiebelehm hinabreicht und im Sand-
gebiet aufhört. Man trifft den Geschiebelehm
noch eine ziemliche Strecke bergab an; so findet
er sich neben dem Weg Niemegk — Garrey bis zu
der Kreuzung mit der Straße Neuendorf — Zixdorf.
Erst weiter abwärts hört er auf und macht dem
Sand Platz, der eine dichte Steinbestreuung auf-
weist, so daß erst hier die Auflösung der nordi-
schen Schuttdecke vollendet war. Die Böschungen
der Rummel haben im Bereich des Geschiebe-
lehms eine beachtenswerte Gestalt, sie werden
nämlich in fast gleichen Abständen von kurzen
Seitentälern unterbrochen, die das Regenwasser
in das Haupttal leiten. Die Austiefung der
Rummel ist natürlich in erster Linie die Arbeit
der Schneeschmelze und von Wolkenbrüchen, wie
ein solcher im Frühjahr 1908 hier niederging und
große Verwüstungen anrichtete, indem er z. B.
in einem dritten Rummel, dem Brautrummel, große
Mengen von Geschieben freilegte. Bei Kirstenhof
hat sich die Schutteisdecke der Höhle glatt auf
die unterirdische Flutebene gelegt, und auch der
Süßwasserkalk von Beizig wird zum Teil von
Geschiebelehm überlagert. Wo er sich findet,
zeigt der liegende Süßwasserkalk Störungen, deren
Entstehung ich darauf zurückführen möchte, daß
die Decke der Höhle hier einstürzte, bevor das
Innere vollständig ausgefüllt war.
Die chemischen Niederschläge der Niemegker
Stufe sind herbeigeschafft worden von den Unter-
eisströmen, die aus der mächtigen Decke von
nordischem Schutteis die Lösungen erhalten
hatten. Als nun durch die Krustenbewegung die
Zahl der Spalten sich vergrößerte, konnte auch
eine lebhafte Abscheidung einsetzen. Immerhin
aber war die Zeitspanne eine beschränkte, weil
mit dem Verschwinden des Eises auch die unter-
irdische Abscheidung aufhören mußte. Sie ging
von da ab in eine oberirdische über, und der
Geschiebelehm ist bis auf den heutigen Tag noch
die Quelle für die beiden Lösungen.
Die oberirdischen Niederschläge fielen daher
schon aus, als die Oberfläche noch nicht bevöl-
kert war, so daß wenigstens die untersten Schich-
ten noch keine Fossilien enthalten können. Ich
kenne nur ein oberirdisches Lager aus kohlen-
saurem Calcium, das vor dem Kriege ausgebeutet
wurde. Es liegt halbwegs zwischen der Pritz-
hagener Mühle und Münchehofe etwa 4 km nörd-
lich vom Bahnhof Dahmsdorf — Müncheberg an
der Ostbahn. Obwohl ich dieses Lager wiederholt
besucht habe, fand ich dort niemals Reste von
Tieren und Pflanzen, wohl aber zertrümmerte
Diatomeenschalen bei einer mikroskopischen Unter-
suchung. Das Lager liegt in einem flachen Wiesen-
grunde und ist nur 50cm mächtig; die umliegen-
den Böschungen tragen die Reste des Oberen
Geschiebelehms. Es wäre daher wohl möglich,
daß dieses Lager zu den ersten gehörte, das ober-
irdisch entstanden war. Die Diatomeenschalen
finden sich auch in den unterirdischen und sind
daher mit der Lösung eingespült worden. Im
Gegensatz dazu berichtet Fried el von dem
Wiesenkalk von Hermsdorf, daß dort Schildkröten-
schalen und Werkzeuge des Menschen aus Stein
und Bronze gefunden worden sind.
Wenn nun auch die oberirdischen Lager
eigentlich hier nicht mehr behandelt werden
dürfen, so scheint es mir doch zweckmäßig auf
sie noch zum Schluß einzugehen, weil sie aus
dem Geschiebelehm herstammen und weil ihre
Verbreitung und ihre Mächtigkeit Anknüpfungs-
punkte gewähren, um diese Zustände bei den
unterirdischen beurteilen zu können. Freilich sind
die Zeiten vorüber, in denen sie im Haushalte des
Menschen eine Rolle spielten, und daher sind auch
ihre Fundpunkte völlig vergessen worden. Des-
halb muß man wieder auf Berghaus zurück-
gehen, wenn man über ihr Vorkommen und ihre
Verwendung etwas erfahren will. Er führt aus
allen Kreisen Stellen auf, wo sich die Lager finden.
Ich will hier nur die Örtlichkeiten beibringen, wo
der Wiesenkalk ausgebeutet wurde, weil
das ein Zeichen dafür ist, daß er besonders mächtig
war. Aus dem Arnswalder Kreise z. B. zählt er
folgende Ortschaften auf: Schlagenthin, Conraden,
Crampe und Spechtsdorf nebst Vorwerk Lubsee;
hier und bei Crampe stehen Kalköfen zum Brennen
des Wiesenkalkes im Betrieb. Dasselbe ist der
Fall auf dem Rittergute Liebenow, dessen sanft-
hügelige Feldmark von vier Seen, dem Beewer,
dem Großen und Kleinen Cratzack und dem
Zieten-See durchschnitten ist. In den sie be-
gleitenden Brüchen sind bedeutende Kalklager
vorhanden. Der Wiesenkalk des Vorwerkes Bär-
winkel bei Neu - Hardenberg im Oderbruch , be-
richtet Berghaus weiter, wurde in früheren
Zeiten gebrannt und als Mörtel verarbeitet und
ebenso der Wiesenkalk des Werbellin-Sees. Von
seiner Verwendung berichtet auch Friedel, daß
in Wildau am Westzipfel bis ungefähr 1888 eine
Zementfabrik bestand, die den alluvialen Wiesen-
kalk mit Septarienton von Joachimstal zusammen
verarbeitete. Ähnlich war es nach Friedel in
Hermsdorf bei Berlin.
Eine noch bedeutendere Rolle spielten in alter
Zeit die märkischen Raseneisensteinlager,
über die Berghaus ebenfalls ausführlich Aus-
kunft gibt. Die wichtigsten Ansammlungen finden
sich in den ausgedehnten aber flachen Niederun-
gen der Provinz. Im 17. Jahrhundert bestand bei
Rathenow an der Havel ein Eisenhüttenwerk, das
im Jahre 1721 einging, aber nicht aus Mangel an
Erz, sondern wegen des großen Holzverbrauchs.
Im Jüterbog- Lucken walder Kreise in der Niederung
der Nuthe südlich von Luckenwalde, bei Schöne-
feld und Paplitz und in dem Tal östlich von
Baruth gegen die Dahme hin und über sie hinaus
fand sich das Erz bis zum Unteren Spreewald.
Hier war ein Hüttenwerk der Gräflich Solmschen
Standesherrschaft Baruth im Betrieb mit einem
Hochofen, einem Frisch- und Stabfeuer, zwei
Stabhämmern und einem Zainhammer. Nicht
404
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
weit davon, bei Gottow, wurde 1750 bis 1754
ein landesherrliches Hüttenwerk mit einem Hoch-
ofen und einem Stabhammer angelegt. Es brachte
für 7860 Taler Produkte und wurde im Jahre
1837 verkauft. Die Sümpfe und Brüche der Um-
gegend von Zehdenick an der Havel lieferten
Jahrhunderte hindurch für das dortige Hüttenwerk
das Erz. Es wird schon 1438 erwähnt und war
seit 1620 beständig im Betrieb. Im Jahre 1801
ist es eingegangen; in den letzten Jahren hatten
seine Produkte einen Wert von 21755 Talern
jährlich. Das größte Eisenhüttenwerk der Provinz
war wohl das von Peitz, das so ergiebig war, daß
1666 das auswärtige Eisen verboten wurde. In
der Umgegend dieser Stadt, wo sich heute die
großen Teiche befinden, erreichte das Eisenerz
6—10 Zoll und selbst 15—16 Zoll Mächtigkeit
wie z. B. auf den Bruchwiesen bei Kasel. Hier
wurden im Jahre 1821 3000 Ztr. Guß waren und
2000 Ztr. Stangeneisen erzeugt. Im Jahre 1852
wurden im südlichen Teile der Provinz Branden-
burg noch 2199 t Raseneisenslein gefördert. Ein
weiteres Hüttenwerk der Provinz mit Namen
Pleiskehammer hat von 1840 bis 1850 32409 Ztr.
38 Va Pfd. Roheisen geliefert; es verarbeitete die
Erze des Slernberger Horstes.
Wenn diese Angaben über die oberirdischen
Lager genügen, so darf man aus ihnen wohl den
Schluß ziehen, daß sie häufiger und ausgedehnter
sind als die unterirdischen, und von letzteren ist
dann wieder zu sagen, daß die hangenden häufiger
sind als die liegenden, ganz abgesehen davon, daß
im Liegenden die Niederschläge aus CaCOg, so-
weit mir bekannt, völlig fehlen. Daraus geht
wohl deutlich hervor, daß während des Ab-
schmelzens des Eises die chemischen Vorgänge
sich allmählich häuften, bis sie mit dem Ver-
schwinden des Eises den höchsten Stand erreichten.
Eine vermehrte Lösung, Wanderung und Ab-
scheidung setzte erst ein, als durch die Krusten-
bewegung eine große Zahl von Spalten eröffnet
worden war, wodurch der Luft ein ausgedehnter
Zutritt zu den festen IVIetallverbindungen in dem
nordischen Schutteis eröffnet worden war. Diese
Auslegung läßt sich direkt ableiten aus den
chemischen Niederschlägen der Niemegker Stufe.
Aber die beiden Eisenflöze der Grube Präsi-
dent und vom Schermützel - See bei Buckow sind
ein Beleg dafür, daß auch in der Zeit, als das
Abschmelzen eben einsetzte, und die Eisdecke
noch ihre ursprüngliche Mächtigkeit besaß, schon
große Eishöhlen bestanden haben müssen, die
von der Oberfläche aus einen Luftstrom erhielten.
Deshalb muß hier die Spaltenbildung in einer
anderen Weise als durch eine Krustenbewegung
eingeleitet worden sein. Es wurde schon hervor-
gehoben, daß der Dilluvialton, der das Braun-
eisensteinlager der Grube Präsident bedeckt, bis zur
Oberfläche reicht, so daß hier sowohl der Untere
Sand als auch der Obere Geschiebelehm fehlen.
Am Schermützel - See ist die Schichtenfolge eine
andere, deshalb muß sich der Vorgang beim Ab-
schmelzen wieder anders abgespielt haben. Jeden-
falls tritt in der Umgebung der Grube Präsident
kein Oberer Geschiebelehm auf, und deshalb muß
hier in der diluvialen Eisdecke eine oberste Lage
aus nordischem Schutteis gefehlt haben. Solche
Lücken waren die gegebenen Plätze für die Ent-
stehung von Spalten, weil das Eis hier schmolz,
und das Wasser sich einen Weg in die Tiefe
bahnte, bis es auf dem Erdboden angekommen
war, wo es sich sammelte und durch seine Wärme
die Höhle ausschmolz. Wo dagegen eine ausge-
dehnte Bank aus nordischem Schutteis die oberste
Schicht der diluvialen Eisdecke bildete, hielt sie
die Wärme ab und schützte die liegenden Eis-
schichten, so daß das Abschmelzen nur von unten
her, d. h. von der Innenfläche der Decke aus,
vor sich gehen konnte. War die nordische Schutt-
eisbank besonders mächtig, so wird sie auch als
Decke einer Eishöhle länger Widerstand geleistet
haben, als dort, wo das nicht der Fall war.
Das gehäufte Auftreten der Niederschläge in
den hangenden Schichten läßt noch eine weitere
Vermutung zu über den Bau der diluvialen Eis-
decke. Die Bänke aus nordischem Schutteis
müssen in den hangenden Schichten zahlreicher
und mächtiger gewesen sein als in den liegenden,
und hier muß das reine Heimeis den Hauptbe-
standteil gebildet haben. Und doch fanden sich
die nordischen Schutteisschichten auch schon in
den tiefsten Lagen vor, wie die Kies- und Ge-
röllbank der Grube Präsident lehrt. Somit wer-
den schon in sehr früher Zeit, als die Vereisung
noch nicht die höchste Mächtigkeit erreicht hatte,
einzelne Schutteisströme weit nach Süden vorge-
drungen sein, während die große Verschiebung
der nordischen Verwitterungsschicht erst später
einsetzte.
Die wechselnde Mächtigkeit des Geschiebelehms
ist schon ein Zeichen für die verschiedenartige
Beschaffenheit der Örtlichkeiten, wo der Ver-
witterungsschutt sich angehäuft hatte, und die
mächtigsten Ströme werden auch auf dem Wege
bis zur neuen Lagerstätte ihren Reichtum an Ge-
steinstrümmern bewahrt haben. Die Täler der
schwedischen Elfen und die großen Seen des
Vorlandes sind wohl als die wichtigsten Sammel-
stellen der Gesteinstrümmer anzusprechen.
An dieser Stelle mischten sich auch die Cal-
cium- und Eisenverbindungen dem Gesteinsschutt
bei. Die Mischung war eine sehr gründliche,
weil der Gcschiebelehm im großen und ganzen
überall denselben Reichtum an diesen Verbindungen
besitzt, wie das schon aus seiner durchgehenden
hellbraunen Farbe erkennbar wird, die aus der
Mischung der rostfarbenen Eisenverbindungen mit
dem weißen Calciumkarbonat entstanden ist.
Die gründliche Durchdringung der ganzen
Gesteinsmasse mit den beiden Verbindungen ist
das Ergebnis des Verwitterungsvorganges an der
Oberfiäche des skandinavischen Gebirgszuges. Die
farbigen Mineralien der Erstarrungsgesteine die
dort die Oberfläche bilden, sind die Ursprungs-
N. F. XX. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
465
Stätte der beiden Metalle, und durch den che-
mischen Anteil des Verwitterungsvorganges sind
ihre löslichen Verbindungen in Bewegung gesetzt
worden, so daß sie bei der mechanischen Ver-
witterung dann in dem Schutt eingehüllt wurden.
Von der Dauer des Verwitterungsvorganges
kann man sich natürlich keine Vorstellung machen.
Man muß sich damit begnügen, noch andere
Zeugen beizubringen, und sie bieten sich dar in
unseren Feldsteinen, soweit sie aus Granit und
ähnlichen Erstarrungsgesteinen bestehen. Sie
zeigen einen auffallenden Farbenunterschied gegen-
über den schwedischen Graniten, die aus der
'T'iefe von Steinbrüchen stammen und als Werk-
steine Verwendung finden. Ein schönes Beispiel
bilden die Steine im Unterbau des Lutherdenk-
mals auf dem Neuen Markt in Berlin. Sie prangen
noch in der dunkelroten Farbe, während die Feld-
steine zu einem blassen Rot ausgeblichen sind.
Auch die Wirkung der mechanischen Verwitterung
ist an den Feldsteinen deutlich zu erkennen, weil
sie niemals mehr die scharfen Kanten und Ecken
zeigen, die sie beim Loslösen vom Gebirge be-
saßen. Diese Glättung war schon vollendet, ehe
die Blöcke durch das Eis verschoben wurden.
Aus den obigen Darlegungen ergeben sich die
folgenden Schlüsse:
1. Es gibt nur eine diluviale Vergletscherung.
2. Das diluviale Eis bestand aus wechselnden
Schichten von reinem Heimeis und nordischem
Schutteis.
3. Das Abschmelzen ging in Eishöhlen mit
Untereisströmen vor sich.
4. Gegen das Ende der Eiszeit setzte eine
Krustenbewegung ein, die das Gelände formte.
Einzelberichte.
Bildung der mensclilichen Geschleclitszellen.
Im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie
(13. Bd. 1921, Heft S— 6) gibt Dr. Hans Frieden-
thal eine genaue Darstellung der Bildung der
menschlichen Geschlechtszellen. Untersuchungen
haben ergeben, daß in der Stammzelle, wie F.
die befruchtete Eizelle nennt, schon nach der
dritten Furchung eine Scheidung stattfindet in
kleinere sich schnell teilende Zellen und größere
kern- und nährstoffreiche Zellen, die an Teilungs-
geschwindigkeit hinter den anderen zurückbleiben.
Letztere sind Keimbahnzellen. Sie wandern schon
zu dieser Zeit „in die Bildungsstätten der späteren
Eierstöcke und Hoden ein und werden dort als
Ureier und Ursamenzellen durch ihre Größe und
ihren Nährstoffreichtum deutlich von allen übrigen
Körperzellen unterscheidbar, wenn der Keimling
Haselnußgröße und ein Alter von etwa 30 Tagen
erreicht hat." Aus ihnen werden durch weitere
Teilungen Eimutterzellen und Samenmutterzellen.
Eimutterzellen-, ja selbst Eizellenbildung, findet
beim Menschen vereinzelt schon im ersten Lebens-
jahr statt, während die ersten Samenmutterzellen
aus den Ursamenzellen erst kurz vor dem Eintritt
der Geschlechtsreife entstehen. Die Zahl der
Keimzellen, die menschliche Eierstöcke einige
Jahre nach der Geburt enthalten, werden auf mehr
als eine halbe Million geschätzt, es reifen im
Laufe des Lebens aber nur etwa 2000. Weit
größer ist die Zahl der Samenfäden, die gebildet
werden und abgegeben werden können. F. er-
rechnet etwa eine Billion. Anfänglich ist die
Gestalt der Keimbahnzelle bei beiden Geschlech-
tern ungefähr gleich. Die Ursamenzellen sind
verhältnismäßig groß und haben einen großen
kugelförmigen Kern, der neben reichem Netzwerk
bis zu drei große Kernkörperchen enthält. Eine
dichte Masse mit zwei kleinsten Teilungskörper-
chen umgibt den Kern. Im Zelleib sind zahlreiche
Fadenkörnchen verteilt. Die Stützzellen und Ur-
samenzellen füllen die Samenkanälchen anfänglich
aus, so daß erst später ein fortlaufender Hohlraum
sich in ihnen bildet. Bis zur beginnenden Ge-
schlechtsreife wird von den männlichen Keimbahn-
zellen nur eine geringe Zahl von Zellengeschlech-
tern gebildet. Die beginnende Reifung zeigt
Veränderungen im Aussehen des Kernes an : „Die
Kernschleifenmassen häufen sich an einem Pol des
Kernes an unter Aufhellung der übrigen Kern-
räume. Es bildet sich ein Fadenknäuel aus, der
durch einen doppelten, mehrfach abgeteilten Fa-
den gebildet wird. Wenn die Samenmutterzelle
sich zur Teilung anschickt, bildet sie nicht wie
ihre Ahnenstufen bisher 23 vollständige und eine
unvollständige Kernschleife aus, sondern nur 12
Kernschleifen, die vierfach erscheinen und die
doppelte Stoffmasse enthalten wie die bisherigen
Kernteilungsformen. Etwa viermal soviel wie die
Kerne der Körperzellen. Die Zahl der Kern-
schleifen ist auf die Hälfte herabgesetzt. Bei der
Teilung der Samenmutterzelle trennen sich die
Vierergruppen der Kernschleifen zu je zwei Doppel-
gruppen. Die entstehenden Vorsamenzellen teilen
sich bald darauf wieder in je zwei Samenzellen
unter erneuter Trennung der Doppelschleifen.
Aus einer Samenmutterzelle sind durch zwei Tei-
lungen vier Samenzellen entstanden, welche die
halbe Schleifenzahl und die halbe Kernschleifen-
masse enthalten gegenüber den bisherigen Keim-
bahnzellen. Von den vier aus einer Samenmutter-
zelle entstandenen Samenzellen besitzen zwei eine
unvollständige Kernschleife neben elf vollständigen,
während die zwei übrigen zwölf vollständige Kern-
schleifen enthalten. Die ersteren bilden männchen-
bildende, die letzteren weibchenbildende Samen-
fäden aus. Durch Eindringen eines Samenfadens
mit elf vollständigen Kernschleifen in eine Eizelle
466
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
entsteht ein mannbildendes Ei, während beim
Eindringen eines Samenfadens mit zwölf vollstän-
digen Kernschleifen in eine Eizelle ein weib-
bildendes Ei entsteht."
Bei der wenige Monate dauernden Umbildung
der männlichen Geschlechtszelle zum Samenfaden
fällt alles fort, was beim Aufsuchen der Eizelle
hinderlich sein könnte; zugleich bilden sich ein
Bohrkopf und ein Schwanzruder aus, welche das
Aussehen des Samenfadens dem eines Geißeltier-
chens ähnlich machen. „Alle Umwandlungen
dienen der Aufgabe, eine selbstbewegliche Ma-
schine zu schaffen, welche die Hälfte der ererbten
Kernschleifenmasse und ein Teilungskörperchen
in dem Innern einer befruchtungsfähigen Eizelle
abzuliefern imstande ist." Die Samenfaden können
nach ihrer Ablösung aus den Stützzellen noch
Monate hindurch im Nebenhoden verweilen, fallen
aber schließlich der Rückbildung anheim, wenn
sie nicht ausgestoßen werden. Ihre Beweglichkeit
erwacht erst in der Samenflüssigkeit und sie kann
selbst außerhalb des Körpers über eine Woche
lang erhalten werden. „Bei zahlreichen Lebe-
wesen werden die Samenfäden durch chemische
Stoffe zum Ei geführt und dort durch besondere
Pforten der Eihüllen zum Eiprotoplasma hin ge-
leitet, nicht aber bei dem an sich nackten Men-
schenei, welches von den in Auflösung begriffenen
Begleitzellen wie von einer besonderen Hülle um-
geben wird."
Beim weiblichen Embryo folgt „auf die Ein-
wanderung der Keimbahnzellen in die Geschlechts-
leisten die Vermehrungszeit, welche zu einer
raschen Größenzunahme der sich ausbildenden
Eierstöcke führt unter gleichzeitiger Ausbildung
von Bindegewebe und Blutgefäßen im Eierstock.
Ohne scharfe Grenze geht die Vermehrungsstufe
der Keimbahnzellen in die Wachstumsstufe über
und schon vom hundertsten Tage nach der Be-
fruchtung ab setzt auch die Auflösung und Rück-
bildung zahlreicher Keimbahnzellen ein, die von
da ab in der Regel ununterbrochen zunimmt, bis
gegen das 50. Lebensjahr hin keine Keimbahn-
zellen mehr im weiblichen Körper anzutreffen
sind". Die Bildung von Eierstockbläschen dauert
bis zum dritten Lebensjahr, nachher findet nur
die Reifung der früher angelegten und die Rück-
bildung der übergroßen Mehrzahl statt. Im Innern
der Eizelle befindet sich neben dem Kern ein
Gebilde aus dichterer Innenmasse und dicker Hüll-
masse, das Dotterkern genannt wird und dem
Teilungskörperchen der männlichen Keimbahn-
zellen vergleichbar ist. Es geht zugrunde, wäh-
rend durch den Samenfaden bei der Befruchtung
ein sich verdoppelndes neues Teilungskörperchen
eingeführt wird.
Wie es bei der männlichen Geschlechtszelle
der Fall ist, so sorgt auch bei der Eizelle der
Reifungsvorgang für Hälftelung der Kernschleifen-
masse und gleichmäßige Verteilung der auszu-
scheidenden Erbanlagen. Damit wird Verdoppelung
der Erbmasse vermieden. Bei der Reifung legen
sich die Kernschleifen in den Eimutterzellen an-
einander und bilden nach Spaltung Vierergruppen,
zwölf an der Zahl, welche im Gegensatz zu den
Samenmutterzellen keine unvollständigen Kern-
schleifen aufweisen. Nach Bildung der Kern-
teilungsfigur spalten sich die Vierergruppen in
Doppelgruppen. Zwölf Doppelgruppen von Kern-
schleifen werden mit einer geringen Plasmamenge
unterhalb der durchsichtigen Hülle von der Ei-
zelle abgetrennt. Das abgetrennte Zellstück wird
Richtungskörperchen oder Polzelle genannt. In
einer zweiten Teilung trennen sich in Eizelle und
Polzelle die Doppelgruppen von Kernschleifen.
Es wird eine neue Polzelle mit zwölf einfachen
Kernschleifen ausgestoßen. Nach Beendigung der
Reifeteilungen liegen drei Polzellen mit je zwölf
Kernschleifen zwischen Eizelle und Hülle. Der
Kern der Eizelle enthält nur noch die Hälfte der
Kernschleifenzahl, ebenso wie der Kern der
Samenzelle nach der zweiten Reifeteilung. Vor
der Eireifung muß die Eimutterzelle die doppelte
Masse an Kernschleifensubstanz gehabt haben, da-
mit nach der Vierzellenbildung die Hälfte der für
die Keimbahnzellen üblichen Menge an Kern-
schleifenmasse übrigbleiben kann. Aus den zwölf
übriggebliebenen Kernschleifen bildet sich in der
reifen Eizelle ein neuer Kern, der weiblicher Vor-
kern genannt wird. Aus dem Kopf des einge-
drungenen Samenfadens entsteht durch Flüssig-
keitsaufnahme aus der Eizelle ein Kern, der männ-
liche Vorkern, der bis zur Größe des weiblichen
Vorkernes heranwächst, auf diesen zuwandert,
sich an ihn anlegt und zuletzt mit ihm verschmilzt.
Der neue Kern, der erste Kern des neuen Ge-
schlechts, entspricht einem Kern mit 24 Kern-
schleifen, wenn ein weibchenbildender Samenfaden
eingedrungen war, von denen zwölf den beiden
Großeltern von Vaterseite, zwölf den beiden Groß-
eltern von Mutterseite her ihrer Herkunft nach
ent.sprechen. Drang ein männchenbildender Samen-
faden ein, so enthält der erste Kern des neuen
Geschlechts, wie alle folgenden, eine unvollständige
Kernschleife neben 23 vollständigen. Das Ge-
schlecht des Lebewesens ist mithin eine der vielen
Anlagen, die durch die Beschaffenheit des elter-
lichen Erbgutes bestimmt sind.
Im Anfang der Entwicklung der befruchteten
Eizelle laufen die Lebensprozesse langsam ab.
Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung
sind ganz geringfügig, ebenso die Atmung, nicht
nur wegen der „Kleinheit der Austauschfläche
bei der Kugelgestalt, sondern auch durch die
räumliche Trennung von den sauerstofführenden
Blutgefäßen der mütterlichen Teile". Ein Wachs-
tum findet anfänglich kaum statt, gesteigert ist
nur die Vermehrungsfähigkeit des Zellstoffes. Nach
der dritten Furchung und der Unterscheidung
von Körper- und Keimbahnzellen teilen sich die
ersteren rascher und umwachsen die größeren
dotterhaltigen Keimbahnzellen. „Solange die
Furchungszellen von gleicher Größe sind, können
wir den entstandenen Zellhaufen als Maulbeer-
N. F. XX. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
467
larve bezeichnen und mit Einzellerkolonien ver-
gleichen, bei denen die Einzelwesen einander
gleichen. Nur wenige Säugetiere bilden nackte
Maulbeerlarven ohne Hülle, und zwar diejenigen,
deren Keimling sich frühzeitig in die Gebärmutter-
schleimhaut einnistet. Alle Affenarten, Insekten-
fresser, einige Nagetiere, Fledermäuse und von
Halbaffen Tarsius ähneln dem Menschen in dem
frühzeitigen Verlust der EihüUen, während bei
Kaninchen, Beuteltieren und anderen Säugetieren
die Hüllen der Maulbeerlarven vermutlich durch
Wasseraufnahme bedeutend an Dicke gegenüber
der Eizellhülle gewonnen haben." Bemerkenswert
ist, daß die Teilungen des befruchteten Menschen-
eies anfänglich ganz langsam aufeinanderfolgen,
so daß der Menschenkeim noch ein ungegliederter
Zellhaufen ist, wenn im gleichen Zeitverlauf etwa
ein Beuteltier bereits geboren und von der Mutter
in den Beutel übergeführt worden ist. „Am Ende
der ersten Lebenswoche ähnelt die Höhe der Ent-
wicklung des Menschenkeimes noch immer der
von allereinfachsten Lebewesen, nämlich der von
schmarotzenden Übergangstieren . . . Die ge-
ringe Dottermenge des menschlichen Eies reicht
gerade aus, um diesem den selbständigen Nahrungs-
erwerb auf der Stufe des Einzeller und des Ein-
zellerhaufens zu ersparen und die Entwicklungs-
höhe eines Übergangstieres zu erreichen, welches
schmarotzend sich festsetzend sich selbsttätig er-
nähren kann." Den Gedanken an eine Dotter-
sackernährung der Frucht bei den Ahnenstufen
des Menschen legt die Ausbildung eines weder
der Atmung noch der Ernährung dienenden Dqtter-
sacks beim Menschenkeimling nahe. Der Über-
gang zur Schmarotzerstufe des Keimlings ist als
Erlangung einer höheren Daseinsstufe anzusehen.
„Vom Standpunkt der Mutter ist die schmarotzende
Lebensweise der Frucht wirtschaftlicher als eine
gleichgroße Nährstoffbeigabe zum Ei, vom Stand-
punkt der Frucht sind beide Arten etwa gleich-
wertig." H. Fehlinger.
Künstliche Parthenogenese bei Vaucheria und
die geschlechtliche Tendenz ihrer Keimzellen.
In früheren Untersuchungen behandelt Cor-
rens die F"rage, ob die Sexualzellen einhäusiger
(monöcischer) Pflanzen jeweils die Anlagen zu
beiden Geschlechtern oder ob die Eizellen bloß
das weibliche, die Samenzellen bloß das männ-
liche Geschlecht vererben. Wäre letzteres der
Fall, dann müßte irgendwo im Lebenslauf eines
Monöcisten eine Aufspaltung der Geschlechts-
tendenz eintreten. Die Frage ist experimentell
zu entscheiden, wenn man die Zellen männlicher
oder weiblicher Sexualorgane vegetativ zur Ver-
mehrung bringt. Je nachdem müßten sich hier
entweder wieder monöcische oder aber männliche
bzw. weibliche Pflanzen ergeben. Correns ist
bei diesen Versuchen, die sich auf Laubmoose
erstreckten, bis zu den Schwesterzellen der Sexual-
zellen, den Antheridium- und den Archegonium-
wandzellen vorgedrungen mit dem Ergebnis, daß
immer monöcische Regenerate entstanden, also
eine Aufspaltung nicht nachweisbar war. Er
stellt es als wünschenswert hin, zur letzten Ent-
scheidung mit den Sexualzellen selbst zu arbeiten
und diese ungeschlechtlich zur Vermehrung zu
bringen. Diese Lücke ist nun von J. v. Wett-
stein (Ber. d. d. botan. Ges. 38, 1920) ausgefüllt
worden. Wettstein arbeitete mit der Algen-
gattung Vaucheria, die männliche und weibliche
Sexualorgane in Gestalt von Antheridien und
Oogonien trägt. Es gelang, durch bestimmte
Verletzungen sowohl das Oogonium als auch das
Antheridium zum vegetativen Auswachsen zu ver-
anlassen. Es bildeten sich dabei Vaucheriapflänz-
chen, die ganz unabhängig davon, welchem Sexual-
organ sie entstammten, immer beiderlei Geschlechts-
produkte entwickelten, also monöcisch waren. Da
nun sowohl die Oogonien als auch die Antheri-
dien im reifen Zustand bloß Sexualkerne ent-
halten, so mußten sich die Kerne des ausge-
wachsenen Fadengeflechts im einen Fall von dem
Eikern, im anderen Fall von den Spermatozoid-
kernen herleiten (weibliche bzw. männliche Par-
thenogenesis). Aus diesen Versuchen ist also mit
Deutlichkeit zu ersehen, daß auch noch die
Sexualzellen der Monöcisten beiderlei Geschlechts-
charaktere zu übertragen imstande sind.
P. Stark.
Der Aufbau der Zellulose.
Zellulose und Lignin sind die Hauptbestand-
teile des Holzes. Beide Stoffe sind ihrer chemi-
schen Natur nach so gut wie unbekannt. Das
Lignin hat H. Wislicenus jüngst bezeichnet
als „die Summe aller aus dem Bildungs- oder
Kambialsaft durch Adsorption auf den Ober-
flächenkörper Zellulosefaser niedergeschlagener
hochmolekularer kolloid gelöster Stoffe".') Es
ist also ein Gemenge mehrerer Verbindungen, das
zu trennen künftiger Arbeit vorbehalten ist. Die
Zellulose dagegen ist chemisch einheitlich,
ist ein chemisches Individuum, von dem lediglich
unklar ist, wie seine Konstitution zu deuten sei.
Dies erscheint merkwürdig in Anbetracht der um-
fangreichen Verwendung und Veredelung, die
unsere Industrie seit langem schon mit der Zellu-
lose vornimmt; es sei an die Herstellung des
Papiers, der Baumwolle, der Zellstoffwatte, der
Kunstseide usw. erinnert. Heut stehen wir vor
der wirtschaftlichen Notwendigkeit, aus den ein-
heimischen Rohstoffen das Höchstmögliche an
veredelten Erzeugnissen herauszuholen. Mit den
bisherigen bescheidenen Kenntnissen über die
Struktur der Zellulose gelingt das aber nicht. Wir
bedürfen zu diesem Zweck einer Kenntnis des
Zellulosemoleküls, die es gestattet, unsere che-
mischen Mittel planvoll und der Eigenart des
Moleküls entsprechend wirken zu lassen. Dieser
•) Kolloid-Zeitschrift 27, S. 209, 1920.
468
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
Aufgabe, ein genaueres Bild vom Zellulosemole-
kül zu bekommen, hat sich in dankenswerter
Weise ein Forscher angenommen, dessen Erfolge
auf anderen Gebieten der organischen Chemie
die Hoffnung berechtigt erscheinen lassen, daß ihm
auch bei dieser neuen Arbeit wichtige Erkennt-
nisse beschieden sein werden. Die ersten Ergebnisse
seiner Untersuchungen legt Kurt Heß soeben vor.^)
Seit längerer Zeit schon ist bekannt, daß Zel-
lulose beim chemischen Abbau ein Polymeres
eines Zuckers liefert, die Zellose, die bei
weiterem Abbau ausschließlich Glukose (Trauben-
zucker) liefert. Glukose also ist der letzte
chemisch wohlgekennzeichnete Baustein der Zel-
lulose. Die Frage nach deren Struktur ist des-
halb eigentlich enger gefaßt, wie sich die Glukose-
moleküle unter Wasseraustritt zum Zellulosekom-
plex zusammenketten, und wieviele Glukosemole-
CH.,OH— CH(OH)— CH(OH)-
küle an diesem Vorgang teilnehmen. Die Un-
löslichkeit der Zellulose sowie Versuche, ihr Mole-
kulargewicht zu ermitteln veranlaßten schon früh-
zeitig, an sehr große Moleküle zu glauben. Da
die Zellulose sich ferner leicht verestern läßt, wo-
von bei der Herstellung von Schießbaumwolle
und Künstseide der ausgedehnteste Gebrauch ge-
macht wird, so muß sie alkoholische Hydroxyl-
gruppen aufweisen. Endlich ist die Reißfestigkeit
der Zellulosefaßer sehr groß, so daß das Molekül
wahrscheinlich von ziemlich geschlossener und
nicht etwa sperrig kettenförmiger Bauart ist. All
diesen Erwägungen folgend, stellt Heß nun eine
Formel der Zellulose auf, die zunächst nur als
„Arbeitsformel" zu betrachten ist, deren Richtig-
keit aber schon durch verschiedene anschließend
kurz besprochene Arbeiten recht wahrscheinlich
gemacht worden ist. Glukose hat die Struktur
-CH(OH)-CH(OH)-C=0.
\
H
Denkt man sich aus diesem Molekül H- und OH herausgenommen, so entsteht ein Stoff der Formel
CHaOH-CH(OH)-CH— CH(OH)— CH(OH)— C = 0.
Denkt man sich endlich vier solcher Moleküle tritt) kondensiert, so erhält man einen Stoff, der als
mit einem fünften (unter mehrfachem Wasseraus- Tetra-glucosidyl-glucose zu bezeichnen ist:
CH— O— CH— CH(OH)— CH(OH)— CH— CH(0H)-CH20H
/cH— O— CH— CH(OH)— CH(OH)— CH-CH(OH)— CHoOH
CH -O— CH— CH(OH)— CHi OH)— CH— CH(OH)— CH^OH
CH
CH-O— CH-CH(OH)— CH(OH)-CH— CH(0H)-CH20H
V
CH.30H
So, oder doch sehr ähnlich so ist die che-
mische Formel der Zellulose aufzufassen. Sie stellt
sich also dar als eine Anhäufung von Zucker-
molekülen in ganz ähnlicher Weise, wie dies
E. Fischer für die Gerbstoffe der Tanninklasse
gefunden hat.
Chemische Stützen für die angegebene Formel
sind neben anderen die folgenden Umsetzungen.
Beim Abbau der Zellulose tritt neben Glukose
eine Biose auf in einem bei vielen Versuchen als fast
konstant ermittelten Verhältnis von i : 4. Auch
ein auf Grund der Formel vorausgesagtes Isomeres
ist soeben wirklich entdeckt worden.^) Endlich
gewannen Heß und seine Mitarbeiter Abbaustoffe,
die den gerbstoffartigen Bau der Zellulose noch
verdeutlichen.
Es bleibt nun noch die Frage, in welcher
Weise die formulierten Moleküle zum natürlich
vorkommenden Zellulosemolekül zusammentreten.
Heß glaubt, daß dies durch Nebenvalenzen
') Zeitschr. f. Elektrochemie 26, S. 240, 1920; Zeitschr.
f. angew. Chemie 34, S. 49, 1921. Vgl. auch Ber. d. d.
Chem. Ges. 54, S. 499, 1921.
*) Zeitschr. f. angew. Chemie 33, S. 100, 1920.
geschehe, d. h. durch Restbeträge der in den
Molekülen betätigten Affinitätskräfte ^). Auf diese
Weise ist von vornherein die Möglichkeit gegeben,
das eigentliche Zellulosemolekül zu beliebig großen
Ausdehnungen anwachsen zu lassen, wodurch das
scheinbar so sehr hohe Molekulargewicht der
Zellulose verständlich würde. Heß vergleicht den
Zelluloseaufbau mit dem eines Kristalls. Auch
hier liegen nicht einzelne Moleküle unabhängig
nebeneinander, sondern Nebenvalenzen verbinden,
ja verflechten gewissermaßen Molekül mit allen
Nachbarmolekülen, eine Erkenntnis, die die Rönt-
genforschung im Gebiet der molekularen Dimen-
sionen dank den Arbeiten Laues und anderer
gebracht hat. Diese molekulare Verknüpfung ge-
horcht zwar durchaus bestimmten Symmetriege-
setzen, das Einzelmolekül aber als solches
hat aufgehört zu bestehen. Der ganze
Kristall ist ein einziges Molekül, wie
dies Pfeiffer^) zuerst klar ausgedrückt hat. D i e -
') ^g'- "Die chemische Valenz in heutiger Auffassung"
V. Verf., Naturw. Wochenschr. N. F. 18, S. 273, 1919.
^) Zeitschr. f. anorgan. Chemie 92 (1915) und folgende
Bände.
N. F. XX. Nr. 32
Maturwissenschaftliche Wochenschrift.
469
selben Verhältnisse liegen vor bei der Zellu-
lose. Auch hier ist die Faser ein Molekül,
einem Kristall völlig vergleichbar. Das von
Scherrer') aufgenommene Laue-Diagramm der
Zellulose bestätigt dies in bester Weise. Damit
erledigt sich die Frage nach der Größe und nach
dem Gewicht des Zellulosemoleküls; sie hat, wie
für alle festen Stoffe, ihren Sinn verloren.
Um diese oben kurz dargestellten Vorstellungen
von Heß zu rechtfertigen, bedarf es nun freilich
noch eines anderen, schwerer zu führenden Be-
weises, ob nämlich synthetische Stoffe ähn-
licher Struktur die gleichen oder ähnliche
Eigenschaften haben, wie der natürliche und hier
auf Grund von analytischen Reaktionen for-
') Zsigmondy, KoUoidchemie. 3. Aufl. 1920, S. 408.
mulierte Stoff. Die bisherigen Ergebnisse der in
dieser Richtung angestellten Versuche liefern in
der Tat wertvolle Bestätigungen der Heßschen
Auffassung. Zunächst gelangte man zu Stoffen,
wie Penta-stearylglukose und ähnlichen. Sie zeigen
fettähnlichen Charakter. Je mehr Hydroxyl-
gruppen aber in solche Moleküle eingeführt
wurden, um so mehr näherten sich die ent-
standenen Stoffe der Zellulose I Mag also das ab-
gebildete Formelstück in Einzelheiten noch nicht
völlig richtig sein — die Grundlage ist geschaffen,
auf der wir vielleicht zur synthetischen
Zellulose kommen, auf der sicherlich aber Ar-
beiten erledigt werden können, die die technische
Veredelung der Zellulose in hohem Maße
fördern werden. H. Heller.
Bücherbesprechungen.
Oppenheim, S., Das astronomische Welt-
bild im Wandel der Zeiten. Aus Natur
und Geisteswelt, Nr. 444 und 445, 134 und
130 S. Leipzig u. Berlin 1920. Je Nr. 3,50 M.
und Teuerungszuschläge.
Das erste, in 3. Auflage erscheinende Bänd-
chen enthält die Astronomie bis zur Gegenwart,
in ihrer Entwicklung und zeichnet sich durch
Vollständigkeit und Klarheit der Darstellung aus.
Der zweite Teil befaßt sich in 6 Abschnitten mit
den Problemen, an denen die Gegenwart vor-
nehmlich arbeitet. Die Probleme der Störungen,
der Stabilität, der Kometen, der Gestalt der Him-
melskörper, der Anordnung der Fixsterne und
der Gravitation. Man wird in diesen Abschnitten
alle hierher gehörigen Fragen besprochen finden,
so daß beide Teile zusammen alles Wesentliche
enthalten. Zu bemerken wäre nur weniges, in
Teil I, daß Auwers den Begleiter des Prokyon
errechnete vor der Entdeckung, in Teil II zu S. 23,
daß es jetzt mehr als lOOO kleine Planeten sind.
S. 28 die gegebenen Zahlen der Umlaufszeiten
von Jupiter und Saturn sind nicht genau =2:5.
S. 29 — 30 die Kan tische und die Laplacesche
Kosmogonie sind voneinander total verschieden,
und als durchaus unbrauchbar erwiesen. S. 126:
Eine die Gravitation bei Finsternissen abschirmende
Wirkung ist durch Bottlinger und See sehr
wahrscheinlich gemacht worden; von Oppen-
heim wird dies übersehen. S. 129: Die Rela-
tivitätslehre jetzt schon als bewiesen hinzustellen,
erscheint mindestens verfrüht, werden doch ihre
Grundlagen immer mehr angegriffen, und das
Merkursglied ist auf anderem Wege mindestens
ebensogut zu erklären. Riem.
Klein, Dr. Jos., Chemie. Organischer Teil.
5., verb. Aufl. Berlin und Leipzig 1920, Ver-
einigung wissensch. Verleger. W. de Gruyter
& Co. (Samml. Göschen Nr. 38.) 5,20 M.
Fünf Auflagen dieses geschickt zusammen-
gestellten Bändchens beweisen seine Beliebtheit.
Wirklich stellt es eine sachlich zuverlässige, durch-
aus empfehlenswerte Übersicht über das große
Gebiet dar. Ein paar Bemerkungen werden dem
guten Ruf des Büchleins nicht schaden, ihre Be-
rücksichtigung bei künftigem Erscheinen dürfte
ihm vielmehr nutzen.
Da eine derartige Einführung keine theoreti-
sche Vertiefung anstreben kann, so ist grundsätz-
lich die praktische Bedeutung für die Behand-
lung einzelner Stoffe maßgeblich zu machen.
Damit dürfte auch am besten zu eingehenderem
Studium der organischen Chemie angeregt wer-
den. Demgemäß empfiehlt Berichterstatter, Ka-
pitel vorwiegend theoretischer Bedeutung, wie
„Nitrosubstitutionsprodukte der Kohlenwasser-
stoffe", „Cyanverbindungen" u. ä. zu kürzen. Das
wichtige Kapitel der Teerfarbstoffe aber muß
unbedingt etwas ausführlicher gehalten werden I
Die Frage der Benzol formel kann getrost un-
erörtert bleiben, ganz bestimmt aber ist die Pris-
menformel, sowie die Diagonalformel zu streichen ;
dagegen darf die Begriffsbestimmung „Base" nicht
in einer Fußnote abgetan werden (S. 166). Manche
wichtige Fortschritte der organischen Chemie
sind unberücksichtigt geblieben : S. "J"] die Essig-
säuredarstellung aus Acetylen, S. 99 die Ver-
wendung der Laktate als Glyzerinersatzmittel,
S. 141 die Phenol-Aldehyd-Kondensationen. —
Die Kennzeichnung von Chlorophyll (S. 176) und
der Gerbstoffe (S. 169) kann bestimmter abgefaßt
werden. — S. 161 steht ein Druckfehler: es muß
Geraniol heißen. — Nochmals: das Büchlein
ist, der Ausstellungen ungeachtet, recht brauchbar
und anerkennenswert. H. Heller.
Peter, B., Parallaxenbestimmungen am
Repsoldschen Heliometer der Leip-
ziger Sternwarte. Abh. der Sachs. Aka-
470
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
demie der Wiss. 33 S. Leipzig 1920, Teubner.
Geh. 1,50 M. u. Teuerungszuschläge.
Nach dem Tode des Beobachters, der als aus-
gezeichneter Heliometerbeobachter bekannt war,
hat Naumann die Rechnungen ausgeführt, die
sich auf 5 hellere Sterne beziehen. Für « Cassio-
pejae ist kein Ergebnis herausgekommen, da einer
der Vergleichssterne offenbar selbst eine starke
Parallaxe hat, « Ursae min und C Draconis haben eine
Par = o ergeben, y Draconis ergab o",043 + o",oi5
und die beiden Glieder des Doppelsterns 61. Cygni,
bei dem bekanntlich Bessel die erste solche
Messung durchgeführt hat, ergaben o",263 +o",032
und o",237 +o",022. Die Messungen sind also
sehr genau. Riem.
Hartmann, H. J. , Astronomie. Der Kultur
der Gegenwart. Teil III, Abt. III, Band 3. 639 S.
mit 44 Abb. und 8 Tafeln. Leipzig und Berlin
192 1, Teubner. 46 M. u. Zuschläge.
Ein wahrhaft großartiges Werk, das durch
Zusammenarbeit einer Anzahl Spezialforscher ent-
standen ist, deren jeder sein Gebiet in ausführ-
licher Darstellung bearbeitet hat. Es ist im besten
Sinne populär, setzt freilich das in den bekannten
populären Werken gegebene als bekannt voraus,
und gibt einen Querschnitt durch die Kenntnisse
der Gegenwart, so vollständig und zuverlässig,
wie nur möglich, so daß jeder, der sich mit den
Problemen und Ergebnissen der modernen astro-
nomischen und astrophysikalischen Forschung be-
faßt, hier alles Material beisammen findet. Es ist
das um so wertvoller, als sehr vieles davon sich
nur in schwer zugänglichen Zeitschriften findet,
und so zerstreut, daß nur der darin ganz bewan-
derte Forscher einen Überblick über die ein-
schlägige Literatur haben kann. Es gilt dies be-
sonders von den Aufgaben, an denen zurzeit am
meisten gearbeitet wird, und deren Literatur daher
ganz unübersehbar ist, das ist die Physik der Fix-
sterne, die Gut hn ick, und das Sternsystem, das
Kobold bearbeitet hat. Boll spricht über das
astronomische Weltbild, seine Entwicklung, und
die Zusammenhänge mit Religion, Astrologie und
Weltanschauung. Ginzel behandelt die Chrono-
logie, auf der er die unbestrittene Autorität ist.
Hartmann die Zeitmessung und den modernen
Zeitdienst, A m b r o n n die astronomische Orts-
bestimmung, sowohl der Sterne, wie der Punkte
auf der Erde, und die dazu dienenden Hilfsmittel.
Sehr anschaulich entwickelt Flotow die Erwei-
terung des Raumbegriffes , erst Bestimmung der
Größe der Erde aus Gradmessungen, Ermittlung
des Meters, dann die Parallaxe der Sonne und
der Sterne. Hepperger befaßt sich mit den
Gesetzen der Planetenbewegung seit Kepler und
Newton bis zur Entdeckung des Neptun und
der Erforschung der Kometenbahnen. Graff
stellt unsere Kenntnisse von der Physik der
Planeten dar, wobei beim Mars leider die sehr
anschauliche Erklärung von Bau mann nicht
erwähnt ist, die allen Erscheinungen am meisten
gerecht wird. Auch die Ideen von Hörbiger
hätten eine Würdigung verdient, obwohl die Kos-
mologie als zu hypothetisch mit Recht aus dem
Buche ausgeschaltet ist, das eben nur Ergebnisse
und Forschungsmethoden geben will. Prings-
heim behandelt das schwierige Kapitel der
Sonnenforschung, die Beobachtungsergebnisse, die
Spektralforschung und die Strahlung, sowie einige
neue Sonnentheorien. Auch hier ist das unge-
heure Material in meisterhafter Weise übersicht-
lich dargestellt. Ambro nn bespricht dann die
Instrumente und Sternwarten, während Oppen-
heim die Gravitation behandelt, ihre Erklärung,
das Newtonsche Gesetz und die Beziehungen
zur Relativitätstheorie, von der behauptet wird,
daß sie durch die Finsternis vom 29. Mai 1919
glänzend bestätigt sei. Bekanntlich hat sich ge-
zeigt, daß die Aufnahmen gar keine Beweiskraft
haben, was zur Zeit der Niederschrift wohl noch
nicht bekannt war. Druck und Ausstattung sind
dem Inhalt entsprechend ausgezeichnet.
Riem.
Hahn, K., Grundriß derPhysik für höhere
Lehranstalten und Fachschulen, so-
wie zum Selbstunterricht. Mit 326 Fig.
VIII und 274 S. Leipzig 1920, B. G. Teubner.
Das Buch wird vielen dienlich sein, dem Lehren-
den als Leitfaden, dem Schüler und Studenten
zum Selbststudium oder als Repetitionsbuch. Es
ist sehr inhaltsreich bei knapper und klarer Dar-
stellungsweise. Die Anordnung des Stoffes ist
der Art, daß die Zusammenhänge der einzelnen
Teile des ganzen großen Gebietes hervortreten.
Erfreulicher Weise hat der Verf. vor Anwendung
zahlreicher Formeln und vor Differentialrechnung
(letztere natürlich in geringem Umfang) nicht
zurückgeschreckt. Zweckmäßig erscheint mir auch,
die geschichtliche Entwicklung in besonderen
kleinen Abschnitten am Ende eines jeden Kapitels,
das immer eine Gruppe von Erscheinungen um-
faßt, zusammenhängend vorzubringen. Im Anhang
ist auf 5 Seiten eine „Zeittafel" „die einen Über-
blick über die Gesamtleistungen der bedeutendsten
Physiker und über die Entwicklungsphasen der
Physik geben soll", mitgeteilt. Valentiner.
Vater, R.,TechnischeWärmelehre (Thermo-
dynamik). 2. Aufl. von Dr. Fritz Schmidt.
(A. N. u. G. Nr. 516) 122 S. mit 46 Abb. im
Text. Leipzig u. Berlin 1920, B. G. Teubner.
In der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt"
sind von Vater mehrere Bändchen erschienen,
die sich auf die Wärmelehre, wie sie zur Be-
urteilung der Wärmekraftmaschinen in der Praxis
gebraucht wird, beziehen. Sie sind infolge ihres
Eingehens auf die praktischen Fragen und infolge
ihrer Einfachheit und Leichtverständlichkeit mit
Recht sehr beliebt und haben sämtlich in kurzer Zeit
immer neue Auflagen erlebt. Das vorliegende
Bändchen ist in erster Auflage 19 16 erschienen
und nun nach dem Tode des Verf. (Jan. 1919)
N. F. XX. Nr. 32
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
471
von Schmidt, seinem langjährigen Mitarbeiter,
neu herausgegeben worden. Wesentliche Ände-
rungen wurden nicht vorgenommen. Das Bänd-
chen zerfällt in die 7 Abschnitte: i. Zustand und
Zustandsänderungen, 2. Wärme und Arbeit, 3. Der
Carnotsche Kreisprozeß, 4. Dämpfe, 5. Entropie,
6. S-T-Diagramm, 7. I-S-Diagramm.
Valentiner.
Oppenheimer, C, Der Mensch als Kraft-
maschine. Leipzig 192 1, G. Thieme.
Es ist dem Verf. gelungen, in einer relativ
knappen Darstellung ein umfassendes und auch
dem Laien verständliches Bild von den Energie-
wandlungen in unserem Körper, speziell in unseren
Muskeln, zu geben. Das Problem ist für jeden
Naturwissenschaftler und Techniker von so großem
Interesse und durch die Forschungen aus der
allerletzten Zeit (Hill, M e y e r h o f u.a.) so weit
gefördert worden, daß die vorliegende Zusammen-
stellung sicher vielen willkommen sein dürfte.
Der Biologe wird — was heute sicher nötig ist
— von neuem darauf hingewiesen, wie kompli-
ziert alle Vorgänge im Organismus sind im Ver-
gleich zu den bisher von der Technik gelösten
Problemen; den Techniker wird es vor allem in-
teressieren, in der Muskeltätigkeit das Problem
der direkten Überführung chemischer Energie in
kinetische gelöst zu finden.
Brücke (Innsbruck).
Schmidt, F. A., Wie erhalte ich Körper
und Geist gesund? 600. Bändchen der
Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt". Ber-
lin und Leipzig 1921, G. B. Teubner.
Wenn auch in derselben Sammlung schon ein
anderes Bändchen über die Gesundheitslehre (Nr. i,
von Buch n er und von Grub er) aufzuweisen
hat, so ist das Erscheinen dieses neuen Bändchens
doch sehr zu begrüßen. Auch wenn jenes keine
neue Auflage mehr erleben sollte, so wird dieses
ein vollgültiger Ersatz sein können. Man erkennt
das Bestreben des Verf., gerade den praktischen
Bedürfnissen gerecht zu werden, und man kann
sagen, daß ihm das gelungen ist. Jenes andere
Bändchen bringt 'dem Leser vielleicht mehr die
wissenschaftlichen Grundlagen der Gesundheits-
lehre zum Bewußtsein, das vorliegende vernach-
lässigt diese nicht etwa, vermeidet aber ausführ-
lichere Besprechungen derselben, es gibt vielmehr
dem Leser die besten Handhaben dafür, wie er
sich selbst verhalten muß, um seinen Körper und
Geist gesund zu erhalten, in der Jetztzeit wahrlich
für jeden Deutschen eine wichtige Angelegenheit.
Es ist dem Werkchen deswegen eine schnelle
Verbreitung zu wünschen ; viel Nutzen würde
daraus entspringen. Der Verf. kehrt mit Bewußt-
sein hervor, daß Gesundheit nicht bloß der Gegen-
satz zu Krankheit sein darf. Er sagt in der Ein-
leitung: „Es war mir darum zu tun, den Begriff"
des Gesund- und Wohlseins weiter auszudehnen
und weniger das stete ängstliche Bedachtsein auf
Vermeidung von Schädlichkeiten zu betonen als
vielmehr die Gewinnung eines Standes von Ge-
sundheit, der erlaubt, unbekümmert und froh alles
Gute und Schöne, was das Leben zu bieten ver-
mag, auch zu genießen. Grundlegend dafür ist
eine rechte volle Gesundheitsfreude, und die er-
wirbt man insbesondere durch ein ausreichendes
Maß kräftigender und abhärtender Körperpflege."
In diesem Sinne behandelt Verf. die Ernährung
und Genußmittel, die Luft und die Pflege der
Atmungsorgane, die Funktion und Pflege der Haut,
die Kleidung, die Körperpflege durch Muskelübung
und Sport, die Hygiene der Arbeit und endlich
die Gefahren, die in den einzelnen Lebensaltern
Geist und Körper drohen. Gerade das letzte
Kapitel gibt einen guten Abschluß und dürfte
besonders lehrreich sein.
Huebschmann (Leipzig).
Thomas, Karl, Nahrung und Ernährung.
Die wichtigsten Tatsachen aus der Nahrungs-
mittelkunde und Ernährungslehre. Zugleich Er-
läuterungsschrift zu Rubners Nahrungsmitteltafel
für Schulen und Haushaltungsschulen und für
den praktischen Gebrauch. IL umgearbeitete
Auflage. Mit einer Tabelle und einer Tafel.
Leipzig und Berlin 1920, B. G. Teubner.
Die erste Auflage dieses 62 Seiten starken,
für weiteste Kreise bestimmte Büchlein war schon
vor dem Kriege abgeschlossen. Diese Neuauflage
baut sich auf denselben Grundsätzen auf. Die
alten Lehren sind in ihren Grundlagen nach der
Auffassung des Autors dieselben geblieben; der
traurige Zusammenbruch unseres Volkes habe
ihnen recht gegeben. Wenn auch hierüber nach
der Meinung des Referenten, nämlich was den
Nahrungsbedarf des Menschen, d. h. den Bedarf
an den einzelnen Bestandteilen der notwendigen
Nahrung, die Diskussion noch nicht ganz abge-
schlossen sein dürfte, so kann das an dem Ge-
samturteil des Buches nichts ändern. Es über-
trifft die meisten sich mit dem gleichen Thema
beschäftigenden allgemeinverständlichen Schriften
an Gediegenheit und Gründlichkeit ganz bedeutend.
Nach einer Einleitung über die allgemeinen der
Schrift zugrunde liegenden Begriffe behandeln
die einzelnen Kapitel die Nährstoffe und ihre Um-
arbeitung in Stoffwechsel, den Energiewechsel, die
Wirkung der Nahrung auf den Menschen. Es ist
ein gemeinverständliches Lehrbuch im besten
Sinne. Alle nur irgendwie in Betracht kommen-
den Fragen sind erörtert. Alles ist klar und jedem
Gebildeten verständlich dargestellt. So wird sich
jeder über die noch immer brennenden und noch
sehr lange für uns so wichtig bleibenden Er-
nährungsfragen gründlich unterrichten können.
Ganz besonders werden diejenigen das Buch mit
Dank begrüßen, die berufen sind, an irgendeiner
Stelle über Nahrung und Ernährung gemeinver-
ständlichen Unterricht zu erteilen. Sie werden
schlechterdings alles finden, was sie nur wünschen
können. Daß die R u b n e r sehe „Nährwerttafel
472
Naturwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 32
für Schulen und Haushaltungsschulen" beigegeben
ist, erhöht noch den Wert des Buches, kann man
doch an der Hand dieser Tafel und der beige-
gebenen Erklärung alle Arten von Speisen auf
ihren eigentlichen Nährwert genau berechnen, sei
es nun, daß man nur für seine eigene Familie
oder für sich selbst oder daß man für größere
und größte Gemeinschaften zu sorgen hat. Bei-
spiele, wie man eine derartige Berechnung vor-
nimmt, erleichtern die Handhabung. — Ein so
nützliches Buch wird hoffentlich eine große Ver-
breitung finden. Huebschmann (Leipzig).
Beck, R., Über Protothamnopteris Bai-
daufi n. sp., einen neuen verkieselten
Farn aus dem Chemnitzer Rotliegen-
den. Abh. Math. Phy. Kl. sächs. Ak. d. Wiss.
XXXVI, Nr. 5, S. 511—522, 2 Tafeln, 5 Fig.
Leipzig 1920, G. B. Teubner.
Der leider im vorigen Jahr so plötzlich ver-
storbene, sonst als Erzlagerstättenforscher sich
einer weiten Berühmtheit erfreuende Verf, hatte
einige Jahre vor seinem Tode seine alte, von
A. Schenk übererbte Vorliebe für die fossilen
Pflanzen gewissermaßen wieder neu geweckt, und
das reiche Material der sächsischen F"undorte, so-
wohl an Abdrücken, als an echt versteinerten
Stücken hätte ihm noch, zumal nach dem Tode
Sterz eis, ein reiches Arbeitsfeld geboten. Leider
ist außer einer kleinen, in der „Isis" erschienenen
Schrift nur die vorliegende als Resultat seiner
Arbeiten herausgekommen. Verf. beschreibt in
der Arbeit einen trotz äußerlich großer Schön-
heit doch im einzelnen leider nicht genügend voll-
kommen erhaltenen verkieselten Farnstamm aus
dem als Fundstätte solcher Petrefakte berühmten
Chemnitzer Rotliegenden. Es handelt sich um
ein dort einzigartiges Stück, dessen Stammstruktur
an die alten permischen Osmundaceenstämme
(Thamnopteris) erinnert, die Kidston und Gwynne-
Vaughan beschrieben haben. Die Form des Blatt-
stielbündelquerschnitts weicht jedoch von der der
rezenten und fossilen Osmunda- (bzw. Todea-)
Stämme ab, indem das Leitbündel nicht die
charakteristische , adaxial - konkave Hufeisenform
aufweist, sondern die Form einer Linse oder
kleinen Platte zeigt. Er gehört also nicht, worauf
man beim Lesen des Namens verfallen möchte,
zu den Osmundaceen, sondern zu anderen Farnen,
der etwas vagen Gruppe der „Priraofilices" Arbers
angehörig, nach Verf. auch nfcht zu Zygopterideen.
Jedenfalls zeigt das Fossil, daß im Chemnitzer
Rotliegenden immer noch unbekannte Formen
verborgen sind. W. Gothan.
Kirchberger, Paul, Was kann man ohne
Mathematik von der Relativitäts-
theorie verstehen? VIII u. 87 S. Karls-
ruhe i. B. 1920, C. F. Müllersche Hofbuchhand-
lung.
Die kleine Schrift soll den Laien in die Frage-
stellung der Relativitätstheorie einführen, ohne
irgendwie sich auf wissenschaftliche Fachbildung
zu stützen. Durch Vergleiche, Beispiele gelingt
es dem Verf. in humorvollem Plauderton, frei von
jeder mathematischen Entwicklung, ausgezeichnet,
die Grundgedanken der Theorie klar zu machen.
Es ist richtig, daß es, wie Kirchberger in
seinem Vorwort schreibt, vielen Lesern und ge-
rade denen, an die der Verf. sich wenden möchte,
nicht so sehr auf die physikalischen Folgerungen,
auf die Gestalt der Lorentz-Transformation an-
kommt, „sondern lediglich auf die Grundgedanken,
die Relativierung von Raum und Zeit, sowie die
Möglichkeit, die Theorie an Hand der Tatsachen
nachzuprüfen". Unter den vielen „allgemeinver-
ständlichen" Darstellungen des jetzt so oft be-
sprochenen Prinzips gehört das Bändchen zweifel-
los zu den besten und am leichtesten verständ-
lichen.
Nach einer Einführung, in der von dem kine-
matischen und dem mechanischen Relativitäts-
prinzip die Rede ist, behandelt der Verf. auf etwa
40 Seiten die spezielle Relativitätstheorie, in den
folgenden 30 Seiten das allgemeine Relativitäts-
prinzip.
Besonders empfohlen wird das Büchlein durch
ein freundliches Geleitwort von M. v. Laue.
Valentiner.
Literatur.
Brandler-Pracht, Karl, Die Sintflut kommt wieder.
Berlin '20, Reform-Verlag.
Dingler, Dr. Hugo, Prof. an der Univ. München,
Kritische Bemerkungen zu den Grundlagen der Relativitäts-
theorie. Vortrag gehalten auf der 86. Versammlung deutscher
Naturforscher und Ärzte. Leipzig '21, S. Hirzel. 3 M.
Steinriede, Dr. Franz, Anleitung zur mineralogischen
Bodenanalyse. 2. Auflage. Leipzig '21, W. Engelmann.
Geb. 60 M.
Inhalt: Eduard Zache, Die chemischen Niederschläge des norddeutschen Diluviums. S. 457. — Einzelberichte:
H. Friedenthal, Bildung der menschlichen Geschlechtszellen. S. 465. J. v. Wettstein, Künstliche Parthenogenese
bei Vaucheria und die geschlechtliche Tendenz ihrer Keimzellen. S. 467. K. Heß, Der Aufbau der Zellulose.
S. 467. — Bücbetbesprecbungen: S. Oppenheim, Das astronomische Weltbild im Wandel der Zeiten. S. 469.
J. Klein, Chemie. S. 469. B. Peter, Parallaxenbestimmungen am Repsoldschen Heliometer der Leipziger Sternwarte.
S. 469. K. Hahn, Grundriß der Physik für höhere Lehranstalten und Fachschulen, sowie zum Selbstunterricht. S. 470.
R. Vater, Technische Wärmelehre. S. 470. C. Oppenheimer, Der Mensch als Kraftmaschine. S. 471. F. A. Schmidt,
Wie erhalte ich Körper und Geist gesund- S. 471. K. Thomas, Nahrung und Ernährung. S. 471. R, Beck, Über
Protothamnopteris Baldaufi n. sp., einen neuen verkieselten Farn aus dem Chemnitzer Rotliegenden. S. 472. P. Kirch-
berger, Was kann man ohne Mathematik von der Relativitätstheorie verstehen? S. 472. — Literatur: Liste. S. 472.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganten Reihe 36. Band.
Sonntag, den 14. August 1921.
Nummer 33»
Zur Biologie unserer einheimischen Egel.
Von O. Kuhn.
[Nachdruck verboten.]
Fast in allen stehenden Gewässern unserer
Heimat sind Egel in mehr oder weniger zahl-
reichen Formen stets vorhanden und doch exi-
stieren über die im einzelnen außerordentlich ver-
schiedenartige und darum sehr interessante Lebens-
weise dieser Tiere nur ältere und zum Teil unge-
naue Angaben. So erscheint es als berechtigt
und notwendig, die vorliegenden Untersuchungen
nachzuprüfen und zu erweitern. Da aber natur-
gemäß ein abschließendes Bild nur nach jahre-
langen Beobachtungen und genauester Berück-
sichtigung aller einzelnen, Abweichungen von der
Regel veranlassenden Faktoren zu gewinnen ist,
so kann das Folgende keinen Anspruch auf Voll-
ständigkeit machen, soll vielmehr nur eine Über-
sicht über die Resultate zahlreicher Einzelbe-
obachtungen sein und damit eine Grundlage bilden
für weitere Arbeiten auf diesem Gebiet.
Im Gegensatz zu den ebenfalls in unseren Ge-
wässern sehr häufigen trikladen Turbellarien, von
denen die verschiedene Arten fliessendes Wasser vor-
ziehen, wenn nicht überhaupt beanspruchen, gedeihen
die Egel am besten in Seen oder kleinen Wasseran-
sammlungen, sowie deren unmittelbaren Zu- und
Abflüssen, wenn dieselben kein zu starkes Gefälle
haben. Es hängt dies wohl damit zusammen,
daß diese Tiere einerseits hier reichlicher Nahrung
finden, andererseits zur Ablage ihrer Kokons und
zur Brutpflege Wasserpflanzen aufsuchen und nur
im Notfall an Steine oder dergleichen gehen. An-
gaben über ausschließliche Verbreitung irgend-
welcher Arten in Gewässern von bestimmtem Charak-
ter lassen sich kaum machen, da die meisten in dieser
Hinsicht als ziemlich anspruchlos zu gelten haben
und außerdem recht beweglich und wanderlustig
sind. Stets ausschlaggebend ist natürlich das Vor-
kommen der betreffenden Nahrungstiere.
Was zunächst die Fortbewegung anbe-
langt, so kann man dabei zwei Typen unterscheiden,
von denen der eine, nämlich das Kriechen,
allen Egeln zukommt. Bei den Fischegeln (Ich-
thyobdelliden) wird der hintere Saugnapf dicht
hinter dem vorderen aufgesetzt, der im Quer-
schnitt runde Körper ohne besondere Kontraktionen
hoch empor gewölbt und beim Vorsetzen des
Mundsaugnapfes gerade gestreckt; Piscicola z. B.
gewährt so ein Bild, das an die Fortbewegung
der Spannerraupen erinnert. Profoclepsis und
andere dagegen dehnen beim Vorsetzen des Mund-
saugnapfs ihren Körper in der Längsrichtung und
kontrahieren denselben beim Nachziehen des
Hinterendes, ohne dabei die Bauchseite von der
Unterlage abzuheben. Wieder andere Formen
verbinden diese beiden Prinzipien der Kürzung
und Verlängerung des Körpers indem sie sich
gleichzeitig kontrahieren und nach Art der Pisci-
cola krümmen, andererseits mit der Streckung
des Körpers sich flach der Unterlage anlegen. Be-
sonders Helobdclla stagnalis zeichnet sich in dieser
Hinsicht aus und bringt es zu einer erstaunlichen
Geschwindigkeit, weshalb sie schon von Ph. Fr.
Braun (1805) als „Läufer" bezeichnet wurde. Die
Ichthyobdelliden und Arrhynchobdelliden bewegen
sich außerdem noch durch Schwimmen fort.
Die gewandtesten Schwimmer, die Herpobdelliden,
komprimieren dabei ihren Körper dorsoventral
und treiben sich durch vertikale, schlängelnde
Bewegungen vorwärts. Auch Piscicola vermag
ganz gut zu schwimmen ; die beiden Saugscheiben
sind dabei flach ausgespannt, der übrige Körper
verändert jedoch seine Gestalt nicht.
In bezug auf die Ernährung sind unsere
einheimischen Egel äußerst anspruchslos. Die
meisten Arten nehmen recht selten, häufig nur
einmal im Jahr Nahrung zu sich, die dann in den
Darmblindsäcken aufbewahrt für lange Zeit aus-
reicht. So scheint der medizinische Blutegel
{IJirudo ■medicinalis^ mehr als zwei Jahre ohne
Nahrungsaufnahme leben zu können. Allerdings
ist dementsprechend die bei einem Saugakt auf-
genommene Menge groß und das Tier nach dem
Saugen ziemlich steif und unbeweglich. Zeitlich
findet die Nahrungsaufnahme im allgemeinen nur
im März und April statt, also vor der Fort-
pflanzungsperiode und gelegentlich nach der Ab-
lage der Eier noch einmal. Hat ein Egel ein
Beutetier gefunden, so heftet er sich mit dem
Mundsaugnapf an, durchbohrt die Haut des Opfers
mit dem Rüssel bzw. ritzt sie mit den Kiefern an
und saugt die Körpersäfte, gegebenenfalls auch
einzelne Zellen aus. So ernähren sich die meisten
unserer Egel als temporäre Parasiten auf Wirbel-
losen oder Wirbeltieren, ohne dabei auf bestimmte
Gattungen oder Arten angewiesen zu sein. Die
Glossosiphonien und Helobdclla stagnalis saugen
an Mollusken und Würmern, ferner werden mit
Vorliebe frisch abgelegte und daher noch weiche
Herpobdellidenkokons ausgesogen. Piscicola wird
eine Gefahr für den Fischbestand, sobald er in
größeren Mengen auftritt; auch Hewiclepsis geht
an Fische und Amphibien. Profoclepsis (esselata,
eine Form, die hinsichtlich ihres Baus zahlreiche
Besonderheiten aufweist, verhält sich auch in be-
zug auf ihre Nahrungstiere abweichend, indem sie
offenbar ausschließlich vom Blut von Wasservögeln
lebt. Der medizinische Blutegel, der in Ungarn
474
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
zu Hause ist, aber auch noch in einigen Seen
Deutschlands sich findet, ändert seine Ernährungs-
weise im Laufe der Entwicklung; die jungen Tiere
saugen an Schnecken und dergleichen, während
die Erwachsenen auf das Blut von Warmblütern
angewiesen sind. Ein solcher Wechsel mag auch
bei anderen unserer einheimischen Egel vorkom-
men, doch liegen Angaben darüber noch nicht
vor. Während die bisher erwähnten Formen nur
Blut und höchstens einzelne Zellen aufnehmen,
sind die Herpobdelliden imstande, wenigstens
Würmer und andere kleine Wirbellose restlos auf-
zusaugen. Ein Verwandter des medizinischen Blut-
egels, der Pferdeegel [Haemopis saiigiiisiiqa) end-
lich verschlingt seine Beute, die auch aus Wirbel-
losen, wie Regenwürmer bis zu seiner eigenen
Körperlänge besteht, ungeteilt. Die wenigen
stumpfen Zähne seiner Kiefer sind im Gegensatz
zu denen von Hinido nicht mehr zum Durch-
schneiden der Epidermis größerer Tiere fähig.
Am meisten unterscheiden sich die einzelnen
Gattungen hinsichtlich ihrer Fortpflanzungs-
biologie, so daß hier besonders interessante
Verhältnisse zu erwarten sind. Für Hcmidcpsis
viargi)iata wurde sogar Parthenogenese angegeben
(Whitman 1878); demgegenüber ist jedoch an-
zunehmen, wie auch schon von anderer Seite
(Brumpt 1900) geäußert wurde, daß es sich in
diesen und ähnlichen Fällen um Selbstbefruchtung
handelt, da ja bekanntlich die Hirudineen Zwitter
sind, und Brumpt bei Zuchtversuchen mit iso-
lierten Tieren (Ileiiiidepsis margi/ia/a, Glossosi-
phonia complaiiata, HelobdeUa stagnalis, Piscicola
geomctra, Herpobdella atomaria und octoatlatd)
keine entwicklungsfähigen Eier erhielt. Innerhalb
mancher Gattungen (besonders Glossosiphoitia und
Herpobdella) sind Bastardierungen sehr häufig,
ihre Bedeutung für die Systematik ist jedoch bis
jetzt noch vollständig unberücksichtigt geblieben.
Verhältnismäßig einheitlich ist der Bau der
primären Geschlechtsorgane, während in der Ge-
staltung ihrer Ausführgänge, besonders in der Aus-
bildung von Begattungsorganen erhebliche
Verschiedenheiten sich bemerkbar machen. Die
Geschlechtsöffnungen liegen stets im Vorderende
des Wurms und zwar bei Hacmopis etwa im ersten
Viertel, die weibliche durch vier der nicht mit
den Segmenten übereinstimmenden Ringel ge-
trennt hinter der männlichen im 7. Segment. In
bezug auf die Begattungsorgane lassen sich zwei
Gruppen unterscheiden. Die eine davon, der unter
anderem Hacmopis sauguisiiga angehört, zeichnet
sich durch den Besitz eines muskulösen, ausstülp-
baren Penis aus, der bei der Begattung in die
Vagina des Partners eingeführt und durch den
das Sperma unmittelbar seinem Bestimmungsort
zugeleitet wird. Bei der Begattung legen sich
die Tiere in der Regel gleichsinnig orientiert, d. h.
beide Kopfenden nach einer Seite, mit ihren
Ventralflächen aneinander; eine bei zahlreichen
zwittrigen Würmern vorkommende gegenseitige
Begattung kann daher nur nacheinander stattfinden,
was auch leicht zu beobachten ist. Ganz anders
ist der Endteil der Leitungswege des männlichen
Geschlechtsapparates bei der zweiten Gruppe ge-
baut, womit auch eine andere Art der Begattung
in Zusammenhang steht. Die beiden Vasa
deferentia bilden hier bei ihrer Vereinigung eine
zweihörnige Erweiterung, die Spermatophoren-
tasche, die durch einen kurzen Kanal nach außen
mündet. Aus dem Sekret zahlreicher in die Tasche
mündender Drüsen wird eine chitinähnliche Sub-
stanz abgeschieden, welche das Spermatophor
bildet, das bei den einzelnen Arten wechselndes
Aussehen hat. Bei Profoclcpsis ist es unscheinbar,
plump, enthält zahlreiche Röhren und wird bei
der Kopulation stets an die Vagina angeheftet,
oft sogar ein wenig in diese hineingeschoben,
stellt also eine Art Penis dar, nur daß dieser nach
jedem Begattungsakt neu gebildet wird. Bei Pis-
cicola wird das Spermatophor ebenfalls an einer
bestimmten Stelle, nämlich in unmittelbarer Nähe
der Vagina eingepflanzt, während es bei den
Herpobdelliden und Glossosiphonien an beliebigen
Stellen des ventralen Teils der Clitellarregion oder
ihrer engeren Umgebung gefunden wird. Das
Anheften des Spermatophors geschieht unter
heftigen Kontraktionen und Drehungen des be-
treffenden Tiers, dann wird die flüssige Samen-
masse unter allmählicher Abnahme dieser Be-
wegungen in den Körper des Partners eingepumpt,
wobei auch eine Verquellung der Spermatophoren-
wand eine gewisse Rolle spielen mag und schließ-
lich gehen die Tiere steif und ohne auf Reize zu
reagieren auseinander, um längere Zeit in einem
derartigen Ruhestadium zu verbleiben. Die Hüllen
fallen ab oder werden resorbiert, die Narben sind
noch lange sichtbar. Die Frage, wie die Sperma-
tozoen aus dem Gewebe zu den Eiern gelangen,
hat Kowalewsky an Hclobdclla algira unter-
sucht. Dabei konnte er feststellen, daß sie durch
aktive Wanderung in die ventralen Lakunen ge-
langen und von da teils durch die Wand des
Ovidukts die hier passierenden Eier erreichen, teils
in den phagocytären Organen resorbiert werden.
Die Ablage der Eier erfolgt bei allen
kleineren Formen in der Regel sehr bald nach
der Begattung. Bei Hacmopis dagegen sollen
zwischen Begattung und Eiablage I ^/j Monate
liegen und von Hinido gibt Ebrard an, daß er
noch nach 6 — 9 Monaten fruchtbare Eier hervor-
bringe, die nur in der Zeit von Juli bis Oktober
abgelegt werden. Sonst ist der Zeitpunkt der
Begattung, die Dauer der Eireifung und damit
auch der Termin der Eiablage einerseits vom
Klima, andererseits von der Witterung abhängig.
In hochgelegenen, kalten Gewässern schreiten
Formen, die sonst mehrere Generationen im Jahr
hervorbringen, erst spät zur Fortpflanzung und
kommen oft kaum zur Ablage eines zweiten Ge-
leges, während warmes Wetter, besonders im Früh-
jahr, die Tiere früher zur Fortpflanzung veranlaßt
und die Eireifung beschleunigt. Glossosiplwnia
complanafa legt nur einmal im Jahr und zwar
N. F XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
475
meist schon im März oder April ihre Eier ab.
Hemiclepsis margiiiata, Glossosiplionia liefcroclita
und Profodcpsis tcssdafa bringen in der Zeit
zwischen April" und September 2—3 Gelege her-
vor. Helobddla stagitalis endlich schreitet in der-
selben Zeit jeden Monat etwa einmal zur Eiablage.
Bei allen Egeln werden die Eier in einem von
den Hautdrüsen des Clitellums hervorgebrachten
Kokon abgelegt, der bei den einzelnen Gruppen
eine verschiedene Beschaffenheit zeigt. So ist er
bei allen Rüsselegeln (Rhynchobdelliden) mit Aus-
nahme der Ichthyobdelliden, nur ein dünnes, durch-
sichtiges und gallertig bleibendes Häutchen, das
entweder am Körper des Muttertieres befestigt
{Glossosiplionia Jietcrodita, Ildobddla sta^nalis)
oder an Pflanzenteilen angeheftet wird (Hemiclepsis
ma)ginafa, Glossosiplionia complaiiata, Protodepsis
fesselata). Das Muttertier bildet durch Hoch-
wölbung des Rückens an seiner Bauchseite eine
seichte Grube, in der dann die in den Kokon ge-
hüllten Eier Platz haben. Es ist im ersten Fall
nur wenig beweglich, bleibt aber auch im zweiten
Fall bis zum Ausschlüpfen der jungen Tiere
bei Störung hartnäckig über seinem Gelege sitzen.
Nur von Zeit zu Zeit wird durch undulierende
Bewegung des ganzen mit dem Endsaugnapf fest-
gehefteten Körpers für die nötige Zufuhr von
frischem, sauerstoffreichem Wasser gesorgt. Bei
allen diesen Formen sind die Eier dotterreich, die
Embryonen bekommen also ihr Nährmaterial im
Ei selbst mit, verlassen infolgedessen spät die Ei-
hülle und nehmen erst spät selbständig Nahrung
auf. Piscicola bildet dotterarme Eier, legt aber
stets nur eines mit einer bestimmten Menge
Dottersubstanz zusammen in einem Kokon ab, der
an untergetauchten Pflanzenteilen oder Steinen an-
geheftet wird. Auch bei den Arrhynchobdelliden
wird das Nähreiweiß den dotterarmen Eizellen in
flüssiger Form in dem nach der Ablage rasch er-
härtenden und sich bräunenden Kokon mitgegeben,
doch werden hier stets mehrere, bei manchen Arten
sehr viele Eier in einem Kokon untergebracht.
Fast alle unsere einheimischen Egel legen ihre
Kokons im Wasser ab mit Ausnahme der Gnathob-
delliden, die zu diesem Zweck ans Land gehen
und sich im Schlamm oder feuchter Erde ein-
wühlen; ihre Kokonhüllen sind, entsprechend der
größeren Gefahr auszutrocknen, auch von besonders
dicker und fester Beschaffenheit.
Die Zahl der Eier, ihre Anordnung im Kokon
und die Zahl der auf einmal abgelegten Kokons
ist sowohl bei den verschiedenen Arten als auch
innerhalb einer Art sehr verschieden. Die meisten
Eier scheint Hemiclepsis margiiiata mit bis zu
200 in einem Kokon unterzubringen, wobei die-
selben in zwei bis drei Lagen übereinander liegen.
Die größte Kokonzahl in einer Legeperiode bringen
Herpobdelliden und Protodepsis tessdafa hervor.
Die Larven schlüpfen bald aus der Eihülle und
schwimmen dann in der Nährflüssigkeit herum,
wobei sie durch schluckende Bewegungen diese
zu sich nehmen.
Entsprechend der verschiedenen Ausbildung
der Eier und Kokons ist auch die Entwick-
lungsgeschichte bei den einzelnen Gruppen
verschieden. Die Rüsselegel außer den Fischegeln
zeigen eine typische direkte Entwicklung ohne
Metamorphose. Sie erzeugen wie oben erwähnt
Eier, die reichlich Nähreiweiß enthalten. Infolge-
dessen erreichen die Jungen noch innerhalb der
Eischale einen hohen Grad der Entwicklung und
durchbrechen die Eischale und kurz darauf die
Kokonhülle erst spät, etwa am sechsten Tage nach
der Eiablage, worauf sie sich mit Hilfe eines schlei-
migen Sekrets mit ihrem Vorderende an der Bauch-
seite des Muttertieres festsetzen. Ihre Organisation
ist auf diesem Stadium sehr einfach : Schlund- und
Hautmuskelschlauch fehlen, als Nahrung dient der
in der Darmhöhle noch reichlich vorrätige Dotter.
Bei Hemiclepsis marginata z. B. sind erst etwa
sechs Wochen nach der Eiablage alle Organe so-
weit ausgebildet, daß jetzt die Festheftung am
Muttertier mit Hilfe des hinteren Saugnapfes er-
folgen und auch aktiv Nahrung aufgenommen
werden kann. Erst nach Erreichung der Ge-
schlechtsreife verlassen die jungen Tiere ihre Mutter.
Die Eier von Piscicola sind dotterarm wie die-
jenigen der Gnathobdelliden ; dementsprechend
stimmt ihre Entwicklungsgeschichte mit der von
Haeniopis und Hinido überein. Bei diesen findet
sich eine komplizierte Metamorphose, indem die
Embryonen früh ausschlüpfen und bei Haemopis
5 Tage nach der Ablage des Kokons als etwa
0,4 mm große, rundliche Larven mit trichter-
förmiger Mundöffnung im Nähreiweiß herum-
schwimmen. Diese Larven wachsen allmählich
heran, bilden einen Hautmuskelschlauch, larvale
Exkretionsorgane und einen muskulösen Pharynx
aus, durch den der Darmhöhle neues Nähreiweiß
zugeführt wird. Erst nach 4 — 10 Wochen, je nach
der Temperatur, sind die Larvenorgane verschwun-
den, die definitiven angelegt und der junge Egel
verläßt den Kokon. Dieselben Verhältnisse bis
auf geringe Abweichung im Bau der Larve finden
sich bei den Herpobdelliden.
Zum Schluß wäre noch etwas über die Lebens-
d a u e r zu sagen. Es ist verständlich, daß gerade
hier wenig exakte Angaben vorliegen, da eine
Beobachtung in der Natur kaum möglich ist, und
an Aquariumstieren gewonnene Resultate nicht
ohne weiteres auf die freilebenden übertragen
werden dürfen. Die kleineren Arten werden im
allgemeinen wohl kaum mehr als ein bis zwei
Jahre alt werden. Andere scheinen recht lange
zu leben, so wird von Korscheit das Alter des
medizinischen Blutegels, der ja auch erst im vierten
oder fünften Jahr geschlechtsreif wird, auf 20 — 27
Jahre geschätzt.
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N. F. XX. Nr. 33
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nach ihrem inneren Bau. Berlin 1805.
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— , — , Spermatophors as a mean of hypodermic impri-
gnation. Journ. of morph. vol. IV. Boston 1891.
Ein voUstädiges Literaturverzeichnis findet sich in meiner
Bearbeitung der Hirudineen in: Beiträge zur Naturdenkmal-
pflege herhausgegeben von Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Con-
wentz. Band VIII: Das Naturschutzgebiet am Federsee in
Württemberg, Verlag von Bornträger, Berlin.
Gedanken über
[Nachdruck verbotep.]
Immer klarer wird
die der Historiker stolz „Weltgeschichte" nennt
und bis ins vierte Jahrtausend v. Chr. zurück ver-
folgen kann, nur die letzten Ausklänge von Be-
wegungen sind, die seit der Menschwerdung —
d. h. seit mehreren hunderttausend Jahren — die
Ausbreitung des Menschengeschlechts über die
die Entwicklung der menschlichen Kultur und die Ausbreitung
des Menschengeschlechts. *)
Von Dr. K. Olbricht-Breslau.
Mit 3 Abbildungen.
es, daß die Erscheinungen, die Erdoberfläche in zwei sehr verschiedenartige
Faunengebiete. Südlich derselben überwiegen die
altertümlichen meist schon vor dem mittleren
Tertiär entstandenen Formen, wie Beuteltiere,
Kloakentiere, Großreptilien, altertümliche Insekten-
fresser, Faultiere, Gürteltiere, Schuppentiere, Dick-
häuter und Tapire; das ist die Alterde, deren
Formen in Australien und den
Südspitzen von Afrika und
Amerika am altertümlichsten
sind. Die Nordkontinente bil-
den die Neu erde mit der
Fülle der jüngeren Säugetiere,
die vielfach erst im Eiszeitalter
und Pliozän entstanden. Daß
aber auch die Neuerde in
früheren Zeiten von
altertümlichen Formen
bewohnt wurde, lehrt die
Paläontologie, die zeigt, daß
Tiergruppen, die heute weit
nach Süden verschoben sind
— wie Tapire und Beuteltiere
— noch in der Tertiär- und
Kreidezeit in Europa und Nord-
amerika lebten.
Zweifellos ist die Nord-
halbkugel mit ihren aus-
gedehnten Landmassen
das Entstehungszentrum der Säugetiere,
die in immer größerer Artenfülle sich hier ent-
wickelten und altertümliche Formen nach Süden
verschoben. Nicht der warme Süden, sondern
der gemäßigte Norden scheint der Entwicklung
— wie die Säugetierfunde des Tertiärs in Europa
und Nordamerika zeigen — günstiger gewesen
zu sein, während in der Tropenzone die
altertümlichen Formen persistieren.
Besonders die mittlere gemäßigte Zone
gleich ab von der Erstarrung des Lebens
unter der Länge des polaren Winters,
wie von der Erschlaffung unter dem
— — Nordgrenze derAlferde
+ + Pnmifive J^sek^enfresse^
O BiPuHer u. Zahnarme
• BeuHer allein
® BeuHer u-Kloakenhere
Erdoberfläche veranlaßten, und die offenbar ganz
ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgen, wie sie seit
dem Beginn der Tertiärzeit — d. h. seit mehreren
Millionen von Jahren — die Verbreitung der
Säugetiere über die Erde bedingten.
Dies lehrt ein kurzer Vergleich der Ver-
breitung beider.
Die Nordgrenze der Zahnarmen teilt
') Mit dieser Überschrift will ich lediglich zum Ausdruck
bringen, daß ich bei den Druckschwierigkeiten schon jetzt in
dieser Form einige vorläufige Ergebnisse von Arbeiten bringen
möchte, deren Abschluß erst in mehreren Jahren zu erwarten
ist, deren VerüflTentlichung mir aber zeitgemäfi erscheint.
N. F. XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
477
Treibhausklima der an Nahrung über-
reichen Tropen scheint die biologischen
Prozesse, die das Leben der Säuger be-
dingen, ammeisten gefördert zu haben.
Bei den Menschenrassen unterscheiden wir heute
drei verschieden hoch entwickelte Schichten. Die
älteste umfaßt die protomorphen Rassen
(Australier, Papua, Vedda, Ainu, Buschmänner
und Hottentotten), eine mittlere Schicht die Neger
und dunkelhäutigen Völker Südasiens (Drawida
und Verwandte), eine obere die Vertreter weißen
und gelben Rasse (Europäer und Mongolen).
Die Verbreitung dieser drei
Schichten zeigt dasselbe Bild
wie die der Säuger. Die Süd-
spitzen der Kontinente be-
wohnen — mit Ausnahme
Amerikas, das wahr-
scheinlich erstvonAsien
aus von Menschen be-
siedelt wurde — die pro-
tomorphen Rassen , den Rest
der Alterde die mittlere Schicht,
die Neuerde die Oberschicht.
Aber nicht nur dies. Es läßt
sich auch nachweisen, daß
Menschentypen, die den pro-
tomorphen Rassen in der Kul-
tur durchaus ähneln, ja so-
gar noch primitiver sind, noch
während der Eiszeit in Europa
lebten und erst später hier aus-
starben. Was liegt näher, als
auf Grund dieser mehr als auffal-
lenden Übereinstimmungen zu
schließen, daß auch der Mensch
in der gemäßigten Zone entstand und nicht dort,
wo noch heute niedere Menschenrassen verharren.
Für einen logisch denkenden Natur-
forscher kann ein Gebiet, in dem noch
heute die primitiven Formen persi-
stieren und höhere entarten (Hindu) un-
möglich zugleich ein Entwicklungs-
zentrum höherer Formen sein.
Schon aus der Verbreitung der Menschenrassen,
die sich zonenartig um Mitteleuropa als Mittel-
punkt anordnen, könnte man schließen, daß dieses
das große Entwicklungszentrum gewesen ist, das
wellenartig im Laufe der Zeit die einzelnen
Menschentypen abstieß, die sich dann naturgemäß
in Anpassung an neue Wohngebiete und weiter
differenzierten. Ein zweiter Mittelpunkt scheint
Hochasien gewesen zu sein, das in jüngerer Zeit
die verschiedenen Wellen der Mongolen aussandte.
Was sagt zu diesen Erwägungen die Vorgeschichte ?
Diluvialgeologie und Vorgeschichte,
eng miteinander verknüpft, sind beide
einstens berufen, die Frage nach dem Warum
und Wie der Menschwerdung zu beantworten.
Wie die Diluvialgeologie lehrt (vgl. meinen Auf-
satz: Der Verlauf des Eiszeitalters in Nordeuropa
Naturw. Wochenschr. Heft 20, 1920) haben wir
es wohl mit mindestens vier größeren Vereisungen
zu tun, deren periglaziale Löße, insofern be-
sonders wichtig und, als sie in Europa (und sonst
nirgends 1) an zwei zahlreichen Stellen Reste des Ur-
menschen und seiner Kultur liefern. Von diesen
Lößen mag der der ersten Vereisung entsprechende
vor etwa 450000—430000 Jahren, der der zweiten
entsprechende vor 370000 — 300 000, der folgende
(obere Abteilung des älteren Löß) vor 180000
bis 150000 Jahren sich gebildet haben. Der
Würmlöß (jüngerer Löß) entstand etwa vor
40 000 bis 50 000 Jahren, der Bühllöß (jüngster Löß,
weisse Rasse
E.Schichf ■■::;;■ blonde Haare
••• blaueAugen
E. Schicht // Neger u. Dravida
I.Schichf
Gelbe Rasse
Kurzkopf i. verschied.Gnedt
Mongolenfalte am Auge
Malaienwanderungcn
' Prolomorphe Rassen lohneTöpfereiJ
Floltlehm) vor etwa 30000. Das sind rohe An-
näherungszahlen, die aber einen Einblick in
die Länge der Zeiten geben, mit denen wir es zu
tun haben.
Als Eolithikum bezeichnet man eigenartig
gestaltete Feuersteine , die möglicherweise
dem Menschen als Werkzeuge gedient haben
können , deren Entstehung aber auch auf natür-
liche Weise erklärt werden kann. Zweifellos als
menschliche Artefakte zu betrachten sind aber
erst die vielfach intensiv braunrot patinierten meist
rundlich gestalteten Fäustel des Chelleen, Acheu-
leen^) und Mousterien(Al tpaläolithikum oder
Faustkeilkultur). Eine höhere Stufe verraten
schon die zierlichen Klingen des Jungpalä-
ojl i t h i k u m s (K 1 i n g e n k u 1 1 u r). Diesen fehlt
die häufig das Ältpaläolithikum charakterisierende
Patina und in immer höherem Umfange werden
die Klingen durch meist aus Renntierhorn herge-
stellten Pfeilspitzen und Harpunen vertreten ; ein
Zeichen, daß der Mensch schon den Fernkampf
') Derart patiniert sind auch die meisten Funde von
Markkleeberg, die — soweit sich die Sachlage an Ort und
Stelle noch übersehen läßt — auf einer Oberfläche gelegen
haben müssen, die in der Mindelriflzwischeneiszeit verwitterte.
478
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
erlernt hat. Dazu kommt eine Fülle von Höhlen-
malereien, die nicht nur darauf hinweisen, daß
der Mensch sich zeltartige Wohnungen baute,
Seile drehte und primitive Gewänder anfertigte,
sondern auch schon Spuren von Religion (Toten-
bestattung und Maskentänze) aufwies. Je nach
der Vervollkommnung sprechen wir von Aurig-
nacien, Solutreen und Magdalenien, die
zusammen nach den meist aus Renntiergeweihen
angefertigten Waffen auch als Tarandien (Ebur-
neen) bezeichnet werden.
Allmählich geht das Jungpaläolithikum in das
Mesolithikum über. Das Ren verschwindet
und die Waffen werden aus Hirschhorn ange-
fertigt. An den Küsten entstehen die großen
Abfallhaufen der Kjökkenmöddinger. Plumpe
Tongefaße, schriftartig bemalte Kiesel (Azilien),
Hund und Torfschwein als Haustiere deuten eine
Höherentwicklung an, wofür auch an den Spitzen
geschliffene Beile sprechen.
Völhger Schliff und Durchbohrung der Stein-
beile verbunden mit hochentwickelter Töpferei,
Anlage von Wohngruben und kunstvoll erbauten
Blockhäusern (Pfahlbauten) ist das Kennzeichen
des Neolithikums, in dem der Mensch aus
Gräsern das Getreide züchtet, einen primitiven
Pflug erfindet, Obst veredelt und als wichtigste
Haustiere Rind und Pferd zähmt. Auch der
Gebrauch des Feuers macht große Fortschritte,
so daß gegen Ende des Neolithikums, das in die
beiden Perioden der Band- und Schnur-
keramik zerfällt, in immer größerem Umfange
Bronzegeräte auftreten. Diese überwiegen in der
nur ein kurzes Übergangsstadium darstellenden
Bronzezeit um bald vom Eisen abgelöst zu
werden. Das ist die Eisenzeit, deren jüngsten
Abschnitten die bergbauliche Gewinnung der
Kohle und die Erfindung des Eisenbetons, der
Dampfmaschine und der Elektrizität ihren Stempel
aufdrücken. Durch Erfindung des eisernen Pfluges
wird der Ackerbau gewaltig gesteigert und eiserne
Werkzeuge ermöglichen erst das Benutzen von
Stein und Lehm (Ziegel) als Baumaterial, wobei
in holzreichen Ländern die ältesten Steinbauten
den Holzbauten nachgeahmt wird (griechischer
Tempel nach Sarasin).
Wie weit das Eolithikum im Tertiär zurück-
reicht, entzieht sich noch völlig unserer Kenntnis
und wird wohl auch kaum je mit Sicherheit ent-
schieden werden können. Wahrscheinlich fallt es
auch in die beiden älteren Vereisungen (Günz und
Mindel), so daß es mindestens 200000 Jahre um-
fassen dürfte.
In die warme Mindel-Rißzwischeneiszeit mit
ihrer intensiven Verwitterung fallen die mit einer
warmen Fauna verbundenen Kulturen des C h e 1 -
leen und Altacheuleen, während dasjung-
acheuleen*) in Lößen der Rißeiszeit gefunden
wird. Das mit einer warmen Fauna verbundene
Altmousterien fallt anscheinend in die Riß-
würminterglazialzeit, während der jüngere Löß
(Würmlöß) der Fundplatz des Jungmousterien,
S o 1 u t r e n und Aurignacien ist. Falls sich
diese mit den Lößfunden am besten übereinstim-
mende Parallelisierung richtig erweist, umfaßt das
Altpaläolithikum annähernd 150 000 Jahre. In den
jüngeren Abschnitten der Würmvereisung und der
Bühlzeit blüht dann das Jungpaläolithikum,
das mit dem Magdalenien schon ins Postglazial
reicht und etwa 20000 Jahre umfassen dürfte. Die
hier erkennbare Beschleunigung der Kul-
turentwicklung vergrößert sich noch in der
Folgezeit, so daß Mesolithikum, Neolithikum und
Metallzeit nur noch je 3 bis 4 Jahrtausende um-
fassen.
Die hier angegebenen Werte gelten jedoch
nur für Europa, wo allein das Paläolithi-
kum in sicher erwiesener diluvialer
Lagerstätte vorkommt. In den übrigen Erd-
teilen ist es anscheinend überall erst postglazial ^)
und in der Kultur der protomorphen Rassen per-
sistiert noch heute in Australien, Ceylon, Jesso
und Südafrika eine mehr und mehr im Aussterben
begriffene Kultur, die in manchen Einzelheiten
(keine Töpferei, primitive windschirmartige Hütten,
Felsenmalereien) stark an das europäische Palä-
olithikum erinnert, so daß die Frage unbedingt
aufgeworfen werden muß, ob es sich hier nicht
um die am weitesten von Europa weg
verschobenen letzten lokal umgeform-
ten Reste der Paläolithkultur handelt.
Auch für die dann notwendigen Wanderungen fin-
den wir Anhaltspunkte in den zahlreichen Höhlen-
malereien des Dekhan und der Sahara; der Nach-
weis (Weule) von der Buschmannkultur eigen-
tümlichen Steinringen in Ostafrika ist dann von
größter Bedeutung als weiteres Bindeglied.
In eigenartigem Lichte erscheint uns auch die
Kultur mancher Melanesier und ihren plumpen
Tongeräten, der Vorliebe für Maskentänze, die
den Darstellungen in europäischen Höhlen auf-
fallend gleichen und dem Schwein als Haustier.
Vielleicht erweist sie sich in Zukunft einmal als
der letzte Rest der mesolithischen Völkerwelle.
Daß diese einstens auch in Mittelafrika (südliches
Kongobecken) vorhanden war, später aber ganz
in der Negerkultur aufging, scheint die Gleichheit
der Bögen einiger Negerstämme mit denen der
Melanesier anzudeuten (Weule).-)
Ein großer Teil der Mongolen (Indianer, Es-
kimo, Malaien), sowie Neger und Drawida würde
dann der neolithischen Welle entsprechen, doch
•) An dieses schließt H a u s e r als neue interglaziale
Kultur des Micoquien, dessen Selbständigkeit aber die
Mehrzahl der Forscher noch bestreitet.
') Auch für die in verkitteten Schottern vorkommenden
Fäustel am Sambesifall läßt sich ein diluviales Alter nicht
zwingend erweisen, zumal in der Tropenzone die Verkit-
tung viel schneller vor sich geht, als in gemäßigten Klimaten.
Außerordentlich wichtig ist die Mitteilung Blankenhorns,
daß in Ägypten das Chelleen sehr jung ist und erst gegen
Ende der Eiszeit auf der jüngsten Nilterasse — die mit Wurm
zu parallelisieren ist — erscheint.
*) Das erinnert an die disjunktive Verbreitung
mancher Tiere (Tapir),
N. F. XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
479
bedarf es noch zahlreicher Vorarbeiten, um das
Ausmaß dieser genauer zu begrenzen und die
Forschung wird dadurch erschwert, daß z. T.
durch den schon seit frühesten geschichtlichen
Zeiten einsetzenden Einfluß des Handels eiserne
Werkzeuge und Waffen sich weit auch über Kul-
turen von neolithischem Gepräge verbreitet haben.
Auch ein eingehenderes Studium verglei-
chender Keramik dürfte auf viele dieser
Fragen noch Licht werfen, desgleichen die Ver-
breitung der Maskentänze, die am Ende des
Jungpaläolithikums entstanden, aber sicher noch
bis weit ins Neolithikum hineingereicht haben, da
sie bei einem großen Teil der Neger und Indianer,
die auch auf der dem Ackerbau (Pflugwirtschaft)
vorausgegangenen Stufe des Hackbaues (E. Hahn)
stehen geblieben sind, noch heute vorkommen.
Den Beginn derMenschwerdung müssen
wir in das Ende der Tertiärzeit setzen. Da-
mals differenzierten sich aus einem uns noch un-
bekannten, einem Gibbon nicht unähnlichen Wesen
die Hominiden und Anthropoiden, welche
letztere in den Urwäldern der Tropenzone mit
ihrer Überfülle zu den bekannten baumbewohnen-
den „Karrikaturen des Menschen" herabsanken.
Wenn dabei zwischen einzelnen Hominiden
und Anthropoiden im Skelett Ähnlichkeiten auf-
treten (Gorilla-Neger, Orang -Europäer -Australier,
Gibbon-Mongole), so ist dies nicht mit Klarheit
ein Beweis für eine Vielstämmigkeit der Mensch-
heit,^) wogegen eine Fülle anderer Erscheinungen
spricht (Haut- und Haarforschungen von Fritsch),
wie die Fähigkeit der Bastardbildung zwischen
den verschiedensten Menschenrassen, sondern Folge
einer Konvergenz bedingt durch ähnliche
Wohngebiete. Lehren doch gerade die anthro-
pologischen Untersuchungen der nordamerikani-
schen Einwanderer, daß diese schon nach wenigen
Generationen „indianerähnlich" werden, d. h. das die
Neue Welt (und schließlich jeder größere Land-
raum) sich eine eigene Rasse bildet.
Nachdem der Fit hekan th rop us durch ein-
wandfreie Forschung als ein gibbonähnlicher An-
thropoide, wenn auch mit ungemein großer
Schädelkapsel festgestellt ist, muß als unbedingt
ältester sicherer Hominide des Homo heidel-
bergensis betrachtet werden, wenngleich er
nach neueren Untersuchungen seines Zahnbaus
nicht mehr als direkter Vorfahre der höheren
Menschentypen angesehen werden darf.
Seine Lagerung zusammen mit einer warmen
tertiäre Anklänge aufweisenden Fauna, in
Kiesen, die von mindestens drei verschiedenen
Lößen überlagert werden, sowie die Überdeckung
mit manganeisenhaltiger Kruste stellen ihn
spätestens in die Mindel- Rißzwischeneiszeit, also
in dieselbe Zeit wie das Chelleen, falls er nicht
noch eine Eiszeit älter ist.
') Welchen Unfug diese Lehre anstiften kann, zeigen die
pbantastiscbea Gedankensprünge eines Maurus Horst, die
zweifellos auf manchen Nichtfachmann faszinierend wirken
werden.
Im Übrigen ist der Träger der Faustkeilkultur
der Neanderthalmensch mit seinem massigen
Schädel, an dem besonders die Kleinheit der Hirn-
kapsel im Gegensatz zu den stark entwickelten
Kiefern auffällt. Nach den Forschungen von
K 1 a a t s c h liegt in ihm einSammeltypus^) vor,
dessen Bau Eigentümlichkeiten zahlreicher heute
differenzierter Rassen wie der Australier, Neger,
Mongolen und Europäer in sich vereint. Wie wir
schon sahen, war die diluviale Faustkeilkultur
über den größten Teil Europas verbreitet und es
mehren sich die Anzeichen, daß ihr Träger auch
im Norden in Gebieten gelebt hat, über die sich
später das Eis der Würmvereisung ergoß (Funde
am Kaiser Wilhelmkanal, bei Berlin, in der Lüne-
burger Heide). Einige Funde deuten sogar darauf
hin, daß der Mensch auf einer damals noch vor-
handenen Landbrücke zusammen mit anderen dilu-
vialen Säugern nach dem östlichen Nordamerika
auswanderte und sich dort einige Zeit hielt, um
später auszusterben, bis daß von Asien her eine
Neubesiedlung erfolgte.
Die Faustkeilkultur hielt sich bis in den Höhe-
punkt der Würmvereisung. Unter gewaltigen
Kämpfen (Funde von Krapina) wird der Neander-
thaler von der neuen zierlicheren Aurignac-
rasse^) ausgerottet, die an Australier und Euro-
päer anklingt. Wahrscheinlich entwickelte sie
sich während der letzten Zwischeneiszeit in dem
nordöstlichen Europa, um dann mit dem Vor-
rücken des Würmeises nach Süden verschoben zu
werden. Der Aurignacmensch ist der Träger der
Klingenkultur, die wir schon- schilderten. In
folge der zunehmenden Zerkleinerung der Nahrung
mit Werkzeugen (Forschungen von A ich ho ff)
ist der Unterkiefer im Schattenriß schon auf 1 8 "/,
des Schädels heruntergegangen (26 Heidelberger,
24 Neanderthaler, 16 Australier, 14,6 Europäer)
und das sich ausbildende Kinn zeigtden
Beginn der Lautsprache.
Nicht zum wenigsten die Verbesserungen der
Jagdmethoden, zu denen später das Züchten von
Haustieren und die Erfindung des Ackerbaus
kommt, und vielleicht auch die Abnahme der
Menschenfresserei (Funde von Krapina) bewirken
eine starke Zunahme der Zahl der Menschen
und dies äußert sich in der gewaltigen Aus-
dehnung der Kultur gegen Ende des Eis-
zeitalters von Europa über die Nachbargebiete
Afrikas und Asiens. Vielfach scheinen sich am
Außen rande der Klingenkultur ^) auch
die letzten Reste der Faustkeilkultur erhalten zu
haben, was ihr gleichzeitiges Vorkommen in einem
großen Teile Vorderasiens beweist (Baier). Noch
') Klaatsch: Die Fortschritte der Lehre vom Neander-
thalrasse (Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte,
XVII. Band, S, 461).
-) Teilweise vermischten sich aber auch beide Rassen
(Predmost).
') DaJ3 nach Klaatsch (Klaatsch und Heilborn S. 367)
die Dolche der Klingenkultur von Predmost ,, verblüffend" an
die Kasuardolche der Papua erinnern, ist wohl mehr als ein
„Zufall".
48ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
läßt sich die Frage, ob der Bleichungsprozeß,
der eine rosighelle Haut, sowie das depigmen-
tierte blaue Auge und das blonde Haar schuf und
möglicherweise mit der Eiszeit in Zuaammen-
hang steht, schon beim Aurignacmensch einge-
setzt hat, nicht einwandfrei beantworten. Wäre
es so, müßte man die heute dunkelhäutigen
Menschenrassen als später nachpigmentiert an-
sehen , wofür manche Erscheinungen sprechen
(Hellhäutigkeit der Neger kurz nach der Geburt).
Andere Forscher wiederum (Schieferdekker)
wollen aus der Vorliebe der Jungpaläolithiker für
hellen Muschelschmuck auf eine dunkle Hautfarbe
schließen.
Daß es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten
kostet, in den noch lebenden protomorphen Rassen
die an die äußersten Enden der Fest-
länder verdrängten Jungpaläolithiker
zu sehen, erwähnte ich schon. Von diesen haben
die Australier, Vedda und Aino große Ähnlich-
keit mit dem Aurignacmenschen, während der
Buschmann und Hottentotte wohl durch einseitige
Weiterentwicklung und Anpassung ihr heutiges
Aussehen erhielten, wobei die negroiden Merkmale
andeuten, daß damals schon Vorgänge wirksam
waren, die später bei der Rasse der Neger schärfer
ausgeprägt wurden, während die mongoloiden
Merkmale eine Konvergenz zu den Mongolen (An-
passung an Steppen?) bedeuten, aber sicher keine
nähere Verwandschaft.
Zahlreiche Reststämme im Süden Vorder-
indiens, in Indonesien (Negritos) und Innerafrika
(Pygmäen) sind wohl in einsame Waldgebiete
verdrängte und dort rückentwickelte Kümmer-
formen') der protomorphen Welle. Dieser ge-
hören auch die Papua und ein Teil der Melanesier
an, deren Kultur schon auf eine geringere Höher-
entwicklung (Reste der Mesolithiker ?) hinweist.
Die höherstehenden Vertreter der pigmentierten
die Alterde bewohnenden Menschen sind zweifel-
los die Neger und die zahlreichen in Südasien
wohnenden dunkelfarbigen Stämme, die der
Sammelnamen Dravida umfaßt und die (Rest-
völker und geschichtliche Nachweise) ursprünglich
ganz Indien und Südchina besiedelten. Daß sie
äußerlich nicht so einheitlich auftreten wie die
Neger, liegt einmal in der starken Zerrissenheit
Südasiens und Indonesiens, sodann in der stär-
keren Vermischung mit jüngeren Eindringlingen
(Hindu und Malaien) von der Neuerde her.
Nach ihrem Kulturgehalt (Hackbau und Töpfe-
rei) sind Neger und Drawida wahrschein -
Hch Vertreter der neolithischen Welle.
Während aber die Drawida welliges schlichtes
Haar, starke Körperbehaarung und starken Bart-
wuchs mit der Entwicklungsreihe, die vom Austra-
lier zum Eurpäer führt, verbindet, haben sich die
Neger durch Anpassung offenbar an die großen
') Darauf, daß ein Heraustreten aus dem Walde in die
Steppe ein Höherentwickcln, ein Zurückgehen in den Wald
ein Tiefersinken auch für die Säugetiere bedeutet, weist Hilz-
h eimer hin.
Wald- und Savannengebiete Afrikas einseitig weiter-
entwickelt, die Körperbehaarung und den Bart-
wuchs stark eingebüßt, sowie im Bau des Körpers,
vor allem aber der Kieferregion Wege einge-
schlagen, die viel früher zum Gorilla führten.
Zweifellos eine Höherentwicklung stellen, was
vor allem die Geräumigkeit der Schädel-
höhle und das Hirngewicht*) angibt, die
weiße und gelbe Rasse dar, die typischen depig-
mentierten Formen der Neuerde, die auch allein
Völker höherer Kultur lieferten. Bei der unge-
mein starken Rassenmischung, die in-
folge zahlreicher sich häufig kreuzender Wande-
rungen das Menschenchaos der Neuerde geschaffen
hat, sehen wir noch in vielen Einzelheiten unklar
und es gilt erst einmal, reine Rassen von
Mischrassen zu trennen. Nehmen wir als
Merkmal der weißen Rasse das Vorkommen des
blauen Auges, so umfaßt sie bis auf die jüngeren
mongolischen Einwanderer (Restvölker der Magy-
aren, Einen und Lappen) alle Völker Europas und
zerfällt somit in einen südlichen brünetten Typus
mit mäßig pigmentierter Haut und einen nörd-
lichen blonden Typus mit heller Haut. Fassen
wir aber den Begriff enger und schließen Rund-
köpfe aus, so bleibt nur der um das Ostseegebiet
siedelnde Teil der Germanen über und der größte
Teil der Bevölkerung Europas muß als Mischrasse
betrachtet werden, da der Aurignacmensch ein
ausgesprochener Langkopf war.
Diese Mischformen müssen wir unbedingt auf
Vermengungen mit mongolischem Blute zurück-
führen, da der ausgesprochene kurze Kopf das
wichtigste Merkmal dieser Rasse ist, die zudem
durch mehr oder weniger gelbe Hautfarbe, straffe
dunkele Haare, vorspringende Backenknochen, ein
schief gestelltes Auge (Mongolenfalte) gekenn-
zeichnet wird und im Zurücktreten der Körper-
behaarung und des Bartwuchses eine ähnliche
einseitige Verbildung andeutet, wie der Neger.
Nur mußte diese anders erfolgen, da der
Mongole der Mensch der Steppen ist
und im wüstenbedeckten Hochasien
seine Rassenmerkmale uns am schärf-
sten entgegentreten (vgl. die Rassenkarte).
Wir werden wohl annehmen dürfen, daß der
Mongole sich aus den östlichen Zweigen der vom
Aurignacmenschen aus sich weiter entwickelnden
Neolithiker herausspezialisiert hat und daß die am
längsten in Hochasien siedelnden Stämme die
mongolischen Merkmale (gelb Anpassung an
Steppen ?) am reinsten entwickelten, während die
schon frühzeitig auswandernden sie weniger deut-
lich aufweisen und vielfach wieder pigmentierten
(Indianer). Fassen wir eine gelbliche Hautfarbe
als Rassenmerkmal der Mongolen auf, gehören zu
ihr auch alle amerikanischen Stämme, die auch
das straffe Haar und vielfach die vorspringenden
Backenknochen aufweisen, nehmen wir die Mon-
*) Dieses beträgt im Durchschnitt für die Europäer 1335 g,
für die Chinesen 1332, Malaien und Indianer je 1266, Hindu
1253, Neger 1244, Australier 1185.
N. F. XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
481
golenfalte hinzu, beschränkt sich die Rasse auf
Asien und einige scheinbar unregelmäßig über
ganz Amerika verbreitete Stämme.
Trotz der jetzt gerade häufig (Weule) ver-
tretenen Ansicht, daß der Amerikaner eine
selbständige Rasse darstellt, die auf diluvialen
heute ausgestorbenen Urrassen wurzelt (vielleicht
veranlaßt durch die als irrtümlich erkannten For-
schungen Ameghinos, aus unzulänglichem Ma-
terial einen diluvialen Pampamenschen zu rekon-
struieren), wird wohl ihre Ableitung von Mongo-
loiden immer wahrscheinlicher. Nur handelt es
sich um Mongolen, die nur kurze (relativ 1) Zeit
im Isolationsgebiet Hochasien lebten, schon die
gelbe Hautfarbe erhielten und später durch An-
passung an die Neue Welt z. T. umgestaltet
wurden, vor allem nachpigmentierten, so die braun-
rote Farbe bekommend. Einen ähnlichen sich
frühzeitig nachpigmentierenden Zweig der mon-
golischen Rasse stellten auch die Malaien dar,
die dazu stark mit dunkelfarbigen Urvölkern ge-
kreuzt wurden und sich, begünstigt durch Wind
und Strömung, über ganz Indonesien, Polynesien
ausdehnten, bis Madagaskar und Neuseeland ge-
langend. Auch die Chinesen und Japaner ^)
scheinen stark mit dunkelfarbigen Urvölkern ge-
kreuzt zu sein.
Bevor wir auf die Wanderungen der Mongolen
eingehen, müssen wir noch etwas bei der Bevöl-
kerung Europas verweilen.
Hier entwickelten sich allmählich im Ostsee-
gebiet und in den großen östlichen Steppen-
gebieten die Rassenmerkmale, die den Indo-
germanen auszeichnen und indogermanische
nach Süden und Südosten gerichtete Wanderungen
beherrschen das ganze Neolithikum, wobei ich
schon in meinem Eiszeitaufsatz andeutete, daß
d< Gründe hierfür wohl teilweise in Klimaver-
schlechterungen zu suchen sind, die diese Acker-
bau treibenden Stämme zeitweise zum Auswandern
zwangen. Eine starke Indogermanenaus-
wanderung setzt gegen Ende des Neo-
lithikums ein und dauert auch in der Bronze-
zeit fort. Durch sie gelangen (vgl. Karte) die
Arier um 2000 v. Chr. nach Indien und zahlreiche
andere blonde Restvölker zeigen im Verein mit
der Megalithkultur diese Völkerwelle an,
bei der jedoch die äußersten Vorposten durch
Rassenmischung und klimatische Anpassung ziem-
lich entarteten und ihre somatischen Merkmale
verloren.
Trotzdem die Arier sich anfangs in Indien
durch das Kastenwesen gegen Vermischung und
fiintartung zu schützen suchten, gelang ihnen das
nicht und aus dem ehemaligen Herrenvolke wur-
') Es ist wohl auch kein Zufall, daß der Südosten Asiens,
dessen Kultur eigenartig barock (Bauten, Schrift, Sitten) ist
und seit Jahrtausenden auf gleicher Höhe verharrt, auch in
seinen Säugern und Pflanzen altertümliche Züge zeigt, weit ab-
gelegen von den Zonen stürmischer Entwicklung und Um-
formung.
den die erschlafften stark mit Drawidablut durch-
setzten Hindu.
Daß die mit lichten Wäldern und Steppen
bedeckten Landstriche des mittleren und östlichen
Europa die Urheimat der Indogermanen sind, ist
das Ergebnis der siedlungsarchäologischen
Arbeiten Kossinnas und seiner Seh üler,
die sich durchaus mit den Ergebnissen richtig
gedeuteter Philologenarbeit (Schrader,
Mach, Peucka) decken und indirekt durch
die wellenförmige Anordnung der Menschentypen
um Mitteleuropa als Zentrum bewiesen werden.
Hier war auch Gelegenheit geboten aus Gräsern
Getreide zu veredeln und durch Züchten der
Rinder als Zugtiere den Hackbau zu der höheren
Pflugkultur (Hahn) zu erheben. Jedoch scheinen
die Indogermanen zur Steinzeit noch nicht ganz
Europa besiedelt zu haben, sondern im Süden und
Westen saßen andere Stämme, die vielfach als
„Mittelmeerrasse" bezeichnet werden und über die
wir noch nicht klar sehen.
Wie aus der weißen Rasse die Indogermanen,
so heben sich aus diesen als höchstentwickelte
Typen die Germanen heraus, deren allmähliches
Herausquellen aus dem südlichen Schweden und
dem südlichen Küstengebiet der Ostsee die von
Kos sin na aufgebaute Siedlungsarchäologie klar
erkennen läßt. Die letzten Wellen dieser Ger-
manenexpansion, die in die schon erwähnte nach-
christliche Zeit der Klimaverschlechterung (Moor-
leichenforschungen von Hahne) fallen, haben wir
wohl in der Völkerwanderung zu suchen, in
der Germanenscharen ganz Europa und die Atlas-
länder überfluteten, das Römerreich vernichteten
und zu gleicher Zeit die seefahrenden Normannen
alle europäischen Meere durchsegelten.
Im westlichen Asien und südlichen Europa
schlugen die von Europa ausgehenden Indo-
germanenwellen mit denen zusammen, die aus
Hochasien periodisch Mongolenstämme abstießen
und die noch im Mittelalter weit nach Westen
sich ergossen als Wanderstraße die steppenreichen
Flachlandschaften Rußlands (goldene Horde, Mon-
golenschlucht bei Liegnitz) und den Donauweg-
(Lechfeld, Restvolk der Magyaren in Ungarns
Steppen) benutzend, hier bis Mittelfrankreich
dringend (katalaunische Ebene). So entsteht
wahrscheinlich in uns in den Einzelheiten noch
unklaren Zusammenhängen die große Mischbevöl-
kerung im südlichen und östlichen Europa (man
denke an den Ausspruch Napoleons „Kratze am
Russen und es kommt der Tatar zum Vorschein"
und an die mongolischen Züge der Großrussen),
die je nach dem Alter der Mischung ihr mongo-
lisches Blut (Kurzköpfe 1) mehr oder weniger deut-
lich zeigt.
In Vorderasien und Nordostafrika kam zu
diesem Zusammenprallen der Völkerwellen noch
ein anderes Moment. Wasserreiche Flüsse durch-
strömen regenarme Gebiete, die hundertfältigen
Ertrag geben, wenn man die Flüsse zu Kanälen
abzweigt und mit diesen das Land berieselt, an
482
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
geeigneten Stellen Dämme bauend. Das ist aber
nur möglich, wenn nomadisierende Stämme seß-
haft werden und sich zu größeren Verbänden zu-
sammenschließen. So veranlaßt diese Beriese-
lungskultur (Richthofen) Bildung von
Staaten und in Ägypten, Babylonien und Assyrien
treten solche uns zuerst in großem Umfange ent-
gegen. Staatenbildung zwingt zum Bau von
Städten, Ackerbau, Tempelbau, Wetterbeobachtung,
Zeitbestimmung (Astronomie) und Erfindung der
Schrift sind nur Folgeerscheinungen. Phöniziens
Küsten vermitteln den Verkehr zwischen Vorder-
asien und dem Westen; das zentral im östlichen
Mittelmeerbecken gelegene Kreta wird ein großes
Handelsemporium, von dem die Kultur auch nach
Griechenland und Etrurien herübergreift (ägäische
Kultur). Im Laufe des Altertums verschiebt sich
die Kultur von Asien westwärts über Griechen-
land nach Rom, da die westlichen Völker mit
ihrem stärker indogermanischen Einschlag offenbar
kräftiger sind und im Mittelalter sehen wir ihr
Weiterwandern nach dem mittleren und nörd-
lichen Europa, von dem aus der Europäer nach
Sperrung der Landwege von Europa nach Indien
durch die Türken (Eroberung Konstantinopels)
den Seeweg nach Indien auffindet und die Er-
oberung und Kolonisierung des größten Teiles der
Erde beginnt (Neuzeit).
In großem Umfange entstehen unter seinem
Einflüsse, besonders in der Neuen Welt, Misch-
rassen (Mestizen, Mulatten, Zambos), die in Süd-
amerika den größten Teil der Bevölkerung aus-
machen. Es schwindet der Rassenbegriff
und an seine Stelle tritt der durch
Sprache gekennzeichneteNationalitäts-
begriff. War die Menschheit früher ein-
mal in Rassen einzuteilen, so werden
wir sie in Zukunft in Nationen ein-
teilen müssen und bei jeder Rasseneinteilung
bleiben schon heute mehr oder weniger große
Restbestände über, die dieser von körperlichen
Merkmalen ausgehenden Einteilung trotzen.
Mehrere Natio ne n oderVölker durch
eine gewisse Einheit des Wohngebietes
auch kulturell und sprachlich einander
genähert, bilden dann Völkergruppen
(Germanen, Romanen, Slaven), wobei z. B. die
Romanen aus dem Teil der Bevölkerung Europas
entstanden, der längere Zeit unter dem Kultur-
einflusse des Römischen Weltreiches gestanden hat.
Zum ersten Male scheint sich durch Rassen-
vermischung auf einheitlichem Kultur-
boden eine solche Völkergruppe im Bereiche
der altorientalischen Kultur entwickelt zu haben,
das sind die Semiten, die sich später durch
Wanderungen auch über den ganzen Norden Afrikas
ausdehnten, dann Mischung mit Negern ihre häu-
figen negroiden Einschläge (wulstige Lippen) er-
hielten und an den Berührungsflächen mit den
Negern als Mischrasse zweitenGrades die
Hamiten erzeugten, die sich, das Niltal als
Wanderschaft benutzend, schon heute in Ostafrika
weit nach Süden vorgeschoben haben.
Während also in der Alt-
erde mehr oder weniger in-
folge der Abschließung
der Stämme gegenein-
ander die Rassen per-
sistieren, setzt auf der Neu-
erde in immer größerem Um-
fang der Vermischungs-
prozeß ein, der die Menschen
zu Völker und Völkergruppen
zusammenschließt, die sich we-
niger durch Körperbau, als
durch Kultur und Sprache
unterscheiden.
Aber die Mischung bedeutet
— wie ja auch die geschlecht-
liche F'ortpflanzung in der Na-
tur— zugleich eine Blutauf-
frischung, die nicht wenig zum Kulturaufstiege
beiträgt, sofern sie unter gleich hochstehenden In-
dividuen erfolgt. Insofern wird das Verbrechen an
der Kultur Europas, das verblendete Staatsmänner
Englands und Frankreichs begangen haben, indem
sie unfähig, die deutschen Heere allein zu bekämpfen,
schwarze und gelbe Hilfstruppen nach Europa
holten „zur Vernichtung der Barbaren", bald ge-
nug in den Kolonialgebieten beider Staaten von
selbst rächen.
Ein besonderes Kennzeichen der neuzeitlichen
Kultur ist die Zusammenhäufung der Bevölkerung
in großen Städten.
Wenden wir auf diese die statistische
Methode an, so erkennen wir, daß die Gebiete
stärkster Städtebildung — vielfach unabhängig
von Bodenschätzen — auf zwei großen, die mittlere
gemäßigte Zone dem Äquator parallel durch-
querenden Linien (vgl. Karte) liegen, die ich
Optimalen genannt habe, weil auf ihnen offen-
bar die menschliche Kultur ihr Optimum erreicht.
Daß im Bereiche dieser Optimalen auch die
Fundpunkte der ältesten Säugetiere und der ältesten
Menschen liegen, ist wohl mehr als ein Zufall,
sondern ist wohl die Folge der schon zu Anfang
N. F. XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
483
dieser Zeilen erwähnten, uns z. Z. noch unklaren
biologischen Verhältnisse.
Überblicken wir das bisher Vorgetragene,
das mehr Probleme aufstellen als sie
mangels Tatsachenmaterials lösen soll.
Es zeigt immerhin, daß auch bei dem großen
Problem der Ausdehnung des Menschengeschlechts
die geringen bisher gemachten Fortschritte
viel weniger dem iVIangel an Tatsachen
— deren es schon genug gibt — sondern dem
Vorhandensein großer Vorurteile vor
allem von selten der Historiker alten Schlages
zuzuschreiben sind.
Die bemerkenswerte Rolle, die aber unser
Heimatboden bei diesen Bewegungen spielt, soll
uns auch guten Mutes machen, daß unser Volk
nicht verloren ist, sondern auch in Zukunft bei
der beginnenden Neuordnung der Welt dazu be-
rufen ist, tätig mitzuwirken.
Sagt doch ein Franzose nicht zu Unrecht : „E s
ist offenbar die Aufgabe des Deutsch-
tums, die Ideenretorte der Menschheit
zu sein
Literatur.
Simroth, Die Pendulationstheorie (Leipzig 1907, Nach-
tragheft 1914). Für alle Zukunft eine Fundgrube für den Tier-
geographen, auch wenn der Grundgedanke (Polverschiebungen
stehen in Widerspruch mit den Eiszeitforschungen) abgelehnt
werden muß.
Klaatsch-Heilborn, Der Werdegang der Mensch-
heit und die Entstehung der Kultur (1920).
Schuchhardt, Alt Europa (1920).
Hauser, Urmensch und Wilder (1921).
Hahn, E., Von der Hacke zum Pflug (Wissenschaft und
Bildung 1914).
Wcule, Atlas der Völkerkunde (Leipzig 1914).
Montelius, Europa als Urheimat der Arier (Umschau
igzi).
Dazu eine Fülle von Einzelaufsätzen, namentlich in den
Fachzeitschriften (Zeitschr. f. Ethnologie, Prähistorische Zeit-
schrift, Archiv für Anthropologie und Mannus). In letzterem
veröffentlicht namentlich Kossinna, der unermüdliche Vor-
kämpfer für die Entwicklung der Indogermanen in Mittel-
europa, seine temperamentvollen Arbeiten, die bei weniger
aggressiver Form zweifelsohne der von ihm vertretenen Idee
mehr nützen würden.
Im Prometheus (Heft 6, 1921) entwickelt Karl Sajo
seine Gedanken „Über die Urstätten der Entwicklung der
Lebensformen". Die auf die Entwicklung der Menschheit be-
züglichen Ausführungen müssen trotz interessanter Anregungen
abgelehnt werden, da sie nach den geologischen Tatsachen
mehrfach in direktem Widerspruch stehen und in bedenklichem
Umfange mit erst in jüngsten Zeiten versunkenen Festländern
arbeiten.
Den Abdruck der drei Kärtchen verdanke ich dem liebens-
würdigen Entgegenkommen meines Verlegers, Herrn Georg
Hirt Reger in Leipzig. Ich entnahm sie meinem „Erdkund-
lichen Lehrstoff" (1921), in dem ich namentlich die Opti-
malenberechnung (S. 54) und die Verbreitung der Säuger
(S. 39 usw.) eingehender entwickelt habe.
Im übrigen verweise ich noch auf meinen Aufsatz „Die
Dauer der Eiszeit" (Naturw. Wochenschr. 1921, Nr. 15) mit
genaueren Zahlenangaben.
Nach Abschluß dieser Zeilen (Juli 1921) erschien der von
Blankenhorn bearbeitete Band der regionalen Geologie
über Ägypten. Blankenhorn weist daraufhin, daß in
einer Hauptvereisung mächtige Schotter abgelagert wurden,
die in einer folgenden Zwischeneiszeit z. T. abgetragen wurden
und unter Wüslenklima verwitterten. Zwei niedrige Terassen
entsprechen der Riß- und Würmeiszeit. Erst mit Abschluß
der Eiszeit erscheint das Chelleen gegenüber Mitteleuropa
stark verspätet.
Bücherbesprechungen.
Born, Max, Die Relativitätstheorie Ein-
steins und ihre physikalischen Grund-
lagen. Gemeinverständlich dargestellt. Mit
129 Textabb. und einem Portrait Einsteins.
X u. 242 S. Berlin 1920, Julius Springer.
Dieses bedeutende, eigenartige Buch bietet
eigentlich nicht weniger als eine allgemeinver-
ständliche Darstellung der ganzen Grundlagen der
Physik und ihrer theoretischen Behandlung, im
besonderen eine Darstellung der Anschauungen
über Raum und Zeit, in denen sich das Problem
der Relativität aller Bewegung entwickelt hat.
Insofern besonderes Gewicht auf die eingehende
Erörterung dieser Grundlagen mit philo-
sophischem und historischem Einschlag gelegt
wird, ist es viel Inhalts- und umfangreicher als
die üblichen Darstellungen der Relativitätstheorie.
Denn diese Erörterung forderte das Heranziehen
aller für das Raum-Zeitproblem wichtigen physi-
kalischen Erfahrungen. Ein weiter Weg ist es
zwar, den so der Leser geführt wird; aber es müs-
sen in der Tat die Grundgesetze der klassischen
Mechanik, die Relativität der Kinematik und der
Dynamik, die Grundgesetze der Optik, der Elek-
trizität und damit d i e Eigenschaften bekannt sein.
die der so kunstvoll erdaciite, substantielle Äther
besitzen soll, um zum Verständnis der speziellen
und allgemeinen Relativitätstheorie zu gelangen.
Born widmet der Vermittlung dieser Vorkennt-
nisse 5 Kapitel, zusammen 160 Seiten seines
Buches. Mit Gründlichkeit wird ohne Verwendung
höherer Mathematik durch die Gebiete der Mecha-
nik, der Optik, der Elektrodynamik hindurch der
Begriff der Relativität und die in der Optik zu-
erst auftauchende und notwendig erscheinende
Äthervorstellung verfolgt. Zwangläufig führt die
Darstellung den Leser zur Ablehnung des Äthers
und zur „Loslösung von gewohnten Anschauungen,
die scheinbar notwendige Bestandteile der Vor-
stellungswelt sind". Methodisch wird durch die
5 Kapitel das Verständnis der Relativitätsforderung
angebahnt und in dem Leser selbst die Forderung
nach einem Ersatz für die Äthertheorie lebendig,
und damit die Forderung nach einem neuen In-
halt der Begriffe von Raum und Zeit. So vorbe-
reitet kann man sich mit Aussicht auf Erfolg
einer Untersuchung des Begriffes der Gleichzeitig-
keit zuwenden und damit in die spezielle und allge-
meine Relativitätstheorie einzudringen versuchen.
Die spezielle Relativitätstheorie wird im 6. Kapitel in
484
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
origineller Weise behandelt. Im letzten Kapitel geht
Born auf die allgemeine Relativitätstheorie ein und
führt den Leser zur klaren Erkennung des großen
Problems, zur klaren Erkenntnis dessen, daß die
Forderung nach völliger Relativität (auch der be-
schleunigten Bewegung) darauf hinausläuft, anzu-
nehmen, daß Trägheit und Gravitationsfeld ein-
ander ersetzen können. Es gelingt Born aufs beste;
zum Teil, indem er gut erdachte Vergleiche heran-
zieht; es sei nur erinnert an die Ausführung der
Gedanken des im geschlossenen, bewegten Kasten
befindlichen Wichtelmännchens, ferner an den
Feldmesser, der vor die Aufgabe gestellt ist, ein
kugeliges mit dichtem Wald bedecktes Gelände
auszumessen, dazu also auf die IVIeßkette ange-
wiesen ist und die Methoden der Euklidischen
Geometrie nur von Stelle zu Stelle fortschreitend
anwenden kann. Ein weiteres Eindringen in die
allgemeine Relativitätstheorie ist bei der Ver-
meidung höherer iVIathematik natürlich nicht
möglich.
Man kann im Zweifel sein, ob es ganz zweck-
mäßig ist, den Zugangsweg zum Relativitätsprinzip
so lang zu machen, wie es hier geschieht. Es
kann befürchtet werden, daß das größere Publi-
kum nicht sehr weit über den Anfang hinaus
kommt, zumal die Anforderungen an die Aufmerk-
samkeit des Lesers nach den ersten Kapiteln von
Seite zu Seite wachsen. Der mathematisch und
physikalisch geschulte und ernstlich lernbegierige
Leser wird Born dankbar sein ; er wird sich mit
um so größerer Freude in das Buch vertiefen, als
er gerade in den ersten 5 Kapiteln, insbesondere
dem 4. über Optik und dem 5. über Elektro-
dynamik einen ihm äußerst wertvollen Leitfaden
durch das moderne System physikalischer Er-
kenntnis finden wird. Auch dem Fachmann wird
die Darstellung großen Genuß und Nutzen bringen.
Valentiner.
Ranke, Johannes, Der Mensch. Kleine Aus-
gabe. Bd. L Der menschliche Körper. Leipzig
und Wien 1920, Bibliographisches Institut.
Der Inhalt dieses fast 300 Seiten starken
Buches (einer gekürzten Ausgabe des bekannten
Werkes des Verf.) ist ein sehr reicher. Es be-
handelt die Entwicklung, den Bau und das Leben
des menschlichen Körpers. Die Einleitung gibt
eine anthropologische, bzw. anthropometrische
Betrachtung. Dann wird die Entwicklungsge-
schichte in ihren Grundzügen behandelt, wobei
auch die allgemeinen Eigenschaften der lebenden
Substanz besprochen werden. Anschließend daran
hören wir von den wichtigsten Entwicklungs-
störungen, bzw. ihren Produkten, den Mißbildun-
gen. Dann stellt sich uns der fertige menschliche
Körper dar. Ein kurzes Schema der ganzen An-
lage, ein Überblick über den Vorgang der Kräfte-
erzeugung geht der genaueren Schilderung der
Eingeweide, insbesondere ihrer Lage zueinander
voraus. Dann folgt der Hauptteil des Buches,
die Beschreibung der Organsysteme und ihrer
Tätigkeit: i. das Gefäßsystem, 2. das Drüsen-
system, bei dem die Organe der Blutreinigung
von denen der Bluterneuerung unterschieden wer-
den, 3. das Knochensystem, 4. das Muskelsystem,
5. das Nervensystem und 6. die Sinnesorgane und
Sprechwerkzeuge. — Hier wird nicht nur alles
Anatomische, sondern ganz besonders auch jede
Funktion genau besprochen. Das Buch ist reich
mit Bildern versehen, teils im Text, teils auf
Tafeln, die zum größten Teil als sehr gut be-
zeichnet werden müssen. Die Darstellung ist un-
gemein anregend. Sie ist nicht lehrbuchartig;
man erkennt in dem Darsteller einen wissen-
schaftlich tief durchgebildeten und künstlerisch
empfindenden Menschen, dem es nicht nur auf
eine Aufzählung von Einzelheiten ankommt, son-
dern der zeigen will, wie sich alles Einzelne in
den großen Plan einpaßt und in Wechselwirkung
mit dem Ganzen und wieder mit anderen Einzel-
heiten steht. Das Buch erinnert in seiner Art an
das Schaffen jener ausgestorbenen Generation, die
in allen Sätteln gerecht und nicht bloß Fach-
gelehrsamkeit zu geben imstande war. Hier liegen
aber auch die Mängel des Buches, und ein strenger
Kritiker müßte die Ungleichheit der einzelnen
Teile tadeln, das liebevolle Verweilen des Verf.
bei Dingen, die ihn sehr interessieren, das schnel-
lere Hinweggleiten über andere, die dem Leser
vielleicht sehr wichtig wären. Aber diese Mängel
dürfen nicht in den Vordergrund gebracht werden.
Denn sie werden wahrscheinlich dem lernenden
Leser seine Aufgabe erleichtern. Solch eine
Kritik kann aber auch deswegen nicht geübt
werden, weil das Buch das Vermächtnis eines
Toten ist, der hier Zeugnis von einer gemein-
verständlichen Darstellungskraft ablegt, wie man
sie wohl selten finden wird. Der Herausgeber
hätte aber doch einiges im Texte ändern müssen.
Denn es finden sich einige Ungenauigkeiten, ins-
besondere anatomischer Natur, die dem Fachmann
nicht angenehm sein können. Um nur ein Bei-
spiel zu erwähnen, so sei auf die Darstellung der
weißen Blutkörperchen hingewiesen , die unsern
heutigen Kenntnissen nicht entspricht.
Huebschmann (Leipzig).
Much , Hans, Die Partigengesetze und
ihre Allgemeingültigkeit. 70 S. Leipzig
1921, Verlag von Curt Kabitzsch. 15 M.
Zu den sog. „Partigengesetzen" ist Much auf
Grund seiner Tuberkulosestudien gekommen. Er
betont aber ihre Allgemeingültigkeit, „nicht nur
für Krankheitserreger, sondern auch für Krank-
heitserzeugnisse (Krebszellen u. a.) und weiterhin
für alle zusammengesetzten reizhaften (reaktiven)
Stoff- und Kraftmischungen". — Mit der vorliegen-
den Schrift wendet er sich an weitere Kreise,
um sie mit seiner Lehre bekannt zu machen. Dazu
ist folgendes zu bemerken. Much hat klarer wie
viele andere erkannt, daß unsere Vorstellungen
von Infektion und Immunität und die darauf be-
N. F. XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
485
ruhenden Heil- und Bekämpfungsbestrebungen
böse Lücken aufweisen und in mancher Beziehung
einer fruchtlosen Einseitigkeit verfallen sind. Es
muß auch als ein Verdienst Muchs bezeichnet
werden, daß er im Gegensatz zu der humoralen
die zelluläre Immunität wieder mehr in den Vor-
dergrund gebracht und die nicht-spezifischen Ab-
wehrkräfte (unabgestimmte Immunität in seinem
Sinne) gebührend berücksichtigt hat, obwohl
hier schon manche Einzelheiten seiner Lehren
nicht ohne weiteres hingenommen werden können.
— Was die Partigengesetze (wie konnte ein „bio-
logischer Feinfühler" ein so schreckliches Wort
ersinnen I) betrifft, so lehrt Much, daß alle Anti-
gene aus Teilantigenen bestehen, die mit oder
auch gegeneinander im Körper wirksam sind, daß
man ihre Wirkungen im einzelnen durch Haut-
reaktionen feststellen und danach sein therapeuti-
sches Handeln einstellen kann. Nicht nur für die
Tuberkulose, sondern überhaupt für fast alles, was
Krankheit ist, werden von ihm auf diesem Wege
die großartigsten Perspektiven eröffnet. Von dem
Tuberkuloseproblem z. B. behauptet iVIuch, es
sei von ihm gelöst. Der Schlüssel für diese Be-
wältigung der Natur ist nichts Kompliziertes, son-
dern eine dünne Säure, mit der die Antigene „auf-
geschlossen" werden. Der Leser dieser Schrift
muß gewarnt werden. Die Frage, ob prak-
tisch mit den Muchschen Partigenen bei der
Tuberkulosebehandlung günstige Resultate erzielt
werden können, was übrigens von Erfahrenen be-
stritten wird, ist dabei ganz ohne Belang. Be-
weisende Grundlagen für seine Lehre hat Much
nicht erbracht. Das würde nicht hindern, sie zu
diskutieren; aber die Zeit, sie als Tatsache vor
die iVlasse zu bringen, ist wahrlich noch nicht ge-
kommen. — Das hochtrabende Selbstbewußtsein,
das aus dieser Schrift noch mehr als aus anderen
Arbeiten Muchs spricht, übersteigt alles, was
man vom wissenschaftlichen Schrifttum erwarten
darf Wenn Much sich selbst für ein Genie hält,
so ist das seine Sache. Daß er es ausspricht, ist
nicht sehr geschmackvoll, ebenso nicht die Ab-
urteilung der Unbegabten, die ihm nicht folgen
können, und vieles, vieles andere. Sollte das
wirklich der richtige Weg sein, um der Lehre,
die er für so unendlich wichtig hält, die Bahn
frei zu machen? — Der Referent hat einmal
irgendwo etwas von der Bescheidenheit der Genies
gelesen. Huebschmann (Leipzig).
Schaxel, Julius, Die allgemeine und ex-
perimentelle Biologie bei der Neu-
ordnung des medizinischen Studiums.
Jena 192 1, G. Fischer.
Als einer der wenigen „Biologen" vom Fach
nimmt Verf. zu der vorliegenden Frage das Wort.
Er rekapituliert zunächst kurz die Wünsche, die
— meist von medizinischer Seite — geäußert
worden sind, und prüft dann ihre Erfüllbarkeit.
Ein Rückblick lehrt, daß im Gegensatz zu den
scharf umgrenzten exakten Naturwissenschaften
die organischen (sive biologischen) Fächer nicht
in sich geschlossen sind, „sondern sich auf Bo-
tanik, Zoologie, vergleichende Anatomie, Paläonto-
logie, Entwicklungsgeschichte, Anatomie, Physio-
logie und anderes mehr verteilen und in dieser
Verteilung von den Inhabern verschiedener Lehr-
stühle zweier Fakultäten gelehrt werden." — Es
fragt sich nun, ob ein Teil dieser Fächer durch
Vorlesungen über allgemeine und experimentelle
Biologie ersetzt werden kann. Verf. stellt sich
aber die Vorfrage, ob es überhaupt heute schon
eine Biologie als Wissenschaft für sich gibt, und
kommt nach kurzem, scharf erfassendem Über-
blick zur Bejahung dieser Frage. Er zeigt sodann,
welchen außerordentlichen Bildungswert der Unter-
richt in der „Allgemeinen Biologie" geben würde,
wie gerade hier auch die Gelegenheit wäre, die
Nachbargebiete, sowohl nach den Geisteswissen-
schaften hin (Logik, Erkenntnistheorie und Psycho-
logie) als auch nach den Naturwissenschaften hin,
zu berühren, während die angewandten Gebiete
der Botanik und Zoologie in die klinische Aus-
bildung fallen könnten. — Ist so Verf. der Meinung,
daß allgemeine Biologie in den vorklinischen
Semestern gelehrt werden kann, so muß er auch
einen gangbaren Weg zeigen, sie in den heutigen
Lehrbetrieb einzufügen. Wo soll sie gelehrt wer-
den und von wem ? — Besondere Institute wären
die beste Lösung. Wo sie nicht zu beschaffen
sind, kommen die botanischen, zoologischen und
auch physiologischen oder anatomischen Institute
in Betracht. — „Das Entscheidende ist die Per-
sonenfrage." Verf. will, daß der Lehrer haupt-
amtlich diesen Unterricht erteile und daß er Fach-
mann sei und selbständiger Forscher in biolo-
gischen Fragen. — Versuche sollten jedenfalls ge-
macht werden. Die Neuordnung brauche nicht
plötzlich, sondern könne allmählich, versuchsweise
durchgeführt werden. — Der Ref. steht auf dem
Standpunkt, daß die Einführung der allgemeinen
Biologie in den Unterricht der Mediziner sehr
wünschenswert ist, und wird durch die Aus-
führungen des Verf. in der Anschauung bestärkt,
daß sie logisch und tatsächlich bei dem heutigen
Stand der Wissenschaft auch möglich ist. Er
unterschätzt aber, noch weniger als der Verf. die
großen Schwierigkeiten der Instituts- und insbe-
sondere der Personenfrage. Andere Schwierig-
keiten, wie z. B. der Widerstand einzelner Fach-
professoren, wären leichter zu überwinden, wenn
jene nicht wären. Es bleibt nach der Meinung
des Ref. in der Tat nichts anderes übrig, als in
allmählicher Folge dem Fach der allgemeinen
Biologie die Wege zu ebnen, am besten durch
systematische Neuschaffung von Instituten, und
den Entwicklungsgang dieser Institute von vorn-
herein auch den Wünschen anzupassen, die von
medizinischer Seite erhoben werden. Aber für
eine solche Entwicklung der Dinge sind leider
die heutigen Zeiten die denkbar schlechtesten, was
486
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
jedoch nicht hindern darf, das Ziel im Auge zu
behalten. Huebschmann (Leipzig).
Kauffmann, Prof Dr. Hugo, Beziehungen
zwischen physikalischen Eigen-
schaften und chemisch er Konstitution.
(Chemie in Einzeldarstellungen Bd. X). Stutt-
gart 1920, Ferdinand Enke. Geh. 60 M., geb.
70 M.
Dieses Buch des bedeutenden Forschers be-
schränkt sich, wie das ihm in vieler Beziehung
ähnliche Buch von Smiles, leider auf orga-
nische Verbindungen. Ein Seitenstück für die
Chemie der anorganischen Stoffe fehlt also noch
immer, obwohl die neuen Erkenntnisse über den
Atombau die Behandlung des vorliegenden Gegen-
standes ganz besonders reizvoll und vor allem
aussichtsreicher erscheinen lassen als dies für die
organischen Verbindungen trotz der Fülle von
Beobachtungen sich erwiesen hat. Denn zieht
man das Ergebnis aus der ungemein reichhaltigen
und höchst sorgsam gewählten Arbeit des Verf.s,
so muß man mit einiger Enttäuschung sich ge-
stehen, daß die Frage nach den im Titel ge-
nannten Beziehungen noch ganz und gar der be-
friedigenden Antwort harrt. Vielerlei Antworten
liegen zwar vor, — aber wir erstreben stets ein
multum statt des multa. Dennoch oder vielmehr
deshalb muß eine Zusammenstellung wie die vor-
liegende von Zeit zu Zeit gegeben werden. Der
Antrieb für die Forschung, der in dem Ergebnis
solcher rückschauenden und zusammenfassenden
Betrachtungen liegt, ist sehr hoch einzuschätzen,
wenn das Buch den geeigneten Leser findet.
Gerade Kauf fmanns Arbeit braucht eine Leser-
schaft, die sich den Sinn für das Allgemeine, das
von engbrüstigen Hypothesen freie, für das Philo-
sophische in der Chemie bewahrt hat! Der Be-
richterstatter kann nichts herzlicher wünschen,
als daß dieses Buch recht viele solcher Leser
gewönne und erziehe. Sie sind in unserer Zeit
der Vereinzelung einerseits, des Nützlichkeits-
strebens andererseits nötiger denn je.
IVIit Befriedigung darf festgestellt werden, daß
Stil und Stoffbehandlung des Verfs überaus ge-
pflegt und großzügig erscheinen. Infolge seiner
auffallend biegsamen Sprache, die sich vor ge-
wissen formalen Kühnheiten nicht scheut, ist es
dem Verf gelungen, beinahe ein lesbares Buch
geschaffen zu haben, soweit das bei der Not-
wendigkeit umfangreicher Tabellen jemals mög-
lich ist Aber auch im Tabellenmaterial prägt
sich die Meisterung des Stoffes aus: hat der Verf
doch alle Zahlen der riesigen Literatur auf die
Atomgewichtstabelle von 19 16 als Grundlage um-
gerechnet.
Obwohl laut Vorwort das Buch nur nackte
Tatsachen ohne Theorie bringen will, so konnte
doch jegliches Theoretischen nicht entraten
werden. Erfreulicherweise, denn dem ist die
Formulierung eines großen Gedankens des Verf.s
zu verdanken, daß nämlich jedes Atom die
Ebene des polarisierten Lichts drehe (S. 238).
Eine zweite wichtige Erkenntnis ist hier ebenfalls
zuerst zum umfassenden Ausdruck gebracht, die
Bedeutung der Häufung in größeren Molekülen.
Es ist überraschend und sehr anregend nachge-
wiesen, daß viele bisher als Anomalien gekenn-
zeichnete Erscheinungen nunmehr als natürliche
Folge von gehäuften Gruppen (Eurogenie) aufge-
faßt werden können, was insbesondere beim Mo-
larvolumen (warum falscherweise Molekular-
volumen, S. 9fi. ?) deutlich wird. Auf jeden Fall
ist mit dem Begriff der „Häufung" ein sehr breites
und hypothesenfreies Erklärungsprinzip geschaffen,
dessen innere Voraussetzungen zu ergründen ein
höchst lehrreiches und wichtiges Ziel der nächsten
Forschung bilden wird, obwohl in manchen
Fällen allerdings auch mit Eurogenie nicht
eben viel „erklärt" wird (vgl. Viskosität, Schmelz-
punkte der Polyhalogenverbindungen usw. 1). —
Im ganzen haben wir es mit einem Werk zu
tun, das als Leistung Bewunderung erheischt, als
Grundlegung für zusammenfassende Arbeiten und
Theorien eine große und des Gebotenen würdige
Leserschaft dringend erwünscht erscheinen läßt.
Demgegenüber haben die folgenden kleinen Be-
merkungen nur nebensächliches Interesse :
Im Kapitel über „Farbe" fehlt eine Berück-
sichtigung des Zusammenhanges zwischen Farbig-
keit und Dispersitätsgrad, wie denn über-
haupt die Abhängigkeit der ersten vom Ver-
teilungsgrad und die damit zusammenhängende
erhebliche Unsicherheit in der Farbbezeichnung
nicht genug betont ist. Vermißt wurde auch ein
Kapitel über die „Löslichkeit", sowie endlich über
die Polymorphieerscheinungen.
S. 160/61 ist die Feststellung, daß „Teilnahme
des Cyans oder der Nitrogruppe an einer Häufung
den Siedepunkt stark herabdrückt" recht mißver-
ständlich ! Nicht die absoluten Siedepunkte, son-
dern nur die _/-Werte werden herabgedrückt. —
Schließlich sei betont, daß der Preis des Buches
angesichts seines auf 420 Seiten ausgebreiteten
Inhalts , seines Papiers und seines ganz vorzüg-
lichen Druckes schlechthin niedrig genannt wer-
den muß, daß er jedenfalls aber kein Grund zur
N i c h t anschaffung sein darf
_____ H. Heller.
Weil, Arthur, Die innere Sekretion. Eine
Einführung für Studierende und Ärzte. Berlin
1921, Julius Springer.
Es war ein guter Gedanke des Verf, von dem
üblichen Schema, die Lehre der inneren Sekretion
darzustellen, abzuweichen. Er geht in seiner Dar-
stellung nicht von der einzelnen Blutdrüse aus,
sondern versucht umgekehrt, „von den einzelnen
Funktionen auszugehen und den Anteil der ver-
schiedenen Inkrete an den Lebensäußerungen zu
analysieren". — Gerade diese Behandlung des
Themas wird nicht nur Medizinern, sondern Bio-
logen überhaupt willkommen sein müssen, weil
N. F. XX. Nr. 33
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
487
so viel deutlicher und anschaulicher die Rolle der
innersekretorischen Drüsen für alle Lebensfunk-
tionen in die Erscheinung tritt. Verf gibt zu-
nächst eine einleitende Übersicht über den Be-
griff der inneren Sekretion und über die Ent-
wicklungsgeschichte und Histologie der Blutdrüsen.
Dann wird ihre Bedeutung analysiert für die
Physiologie des Blutes, den Kreislauf, die Atmung
und die Stimmbildung, den Stoffwechsel, für
Wachstum und Körperform, für die Fortpflanzung,
den Geschlechtstrieb, für die psychischen Vor-
gänge. Ferner finden wir ein Kapitel über die
Chemie der Inkrete, eins über die IVIethoden zu
ihrem Nachweis und eins über die Wechselwir-
kungen der Drüsen untereinander. Endlich be-
handelt Verf in einem besonderen Kapitel die
Frage der Beziehungen zwischen Nervensystem
und innerer Sekretion. — Es ist keine Frage, daß
das Buch einen ausgezeichneten Überblick über
die neuzeitliche Lehre von der inneren Sekretion
gibt. Es soll eine Einführung sein, aber die
kritische Darstellung muß auch auf den auf dem
Gebiete vertrauten Forscher anregen, zumal da
es Verf. nicht verabsäumt, auch auf die noch
reichlich vorhandenen Lücken der Lehre hinzu-
weisen. Die Ausstattung des Buches mit seinen
3S Abbildungen ist ausgezeichnet, die Schreibweise
angenehm. — Alles in allem kann man sagen,
daß es eine wesentliche Bereicherung des Schrift-
tums dieses wichtigen Gebietes darstellt.
Huebschmann (Leipzig).
b) Astronomisch-Geographisches, c) Sonne und
IVIond; erste Parallaxenbestimmung; im 6. Ab-
schnitt: a) Bestimmung der Geschwindigkeit im
Visionsradius nach dem Dopplerschen Prinzip,
b) die Polbewegung. Valentiner.
Kirchberger, P., Mathematische Streif-
züge durch die Geschichte derAstro-
nomie. IV und 54 S. mit 22 Fig. (Math.-
phys. Bibliothek herausgeg. von W. Lietzmann
und A. Witting. Nr. 40). Leipzig 1921, B. G.
Teubner.
Aus der Geschichte der Astronomie sind einige
Kapitel herausgegriffen, die hier mit einiger Aus-
führlichkeit mit modernen mathematischen Hilfs-
mitteln (aber ohne schwierigere mathematische
Erörterungen, ohne Differentialrechnung und ana-
lytische Geometrie) behandelt werden. Es sind
z. T. Gebiete, die seltener in allgemeinverständ-
lichen Schriften astronomischen Inhalts in dieser
Ausführlichkeit dargestellt werden. Daher wird
das Bändchen vielen Lesern unserer Zeitschrift
willkommen sein. Wie die Wahl des Stoffes, so
ist auch die Darstellungsweise originell und reiz-
voll. Die einzelnen Kapitel sind in die 6 Ab-
schnitte zusammengefaßt: i. Das Altertum bis
Hipparch. 2. Die Planetentheorien von Ptolemäus,
Kopernikus und Tycho. 3. Kepler. 4. Newton.
5. Von Halley bis Bessel. 6. Proben aus moderner
Astronomie. Diese Abschnitte sind einigermaßen
unabhängig voneinander, sogar die einzelnen Ka-
pitel in den Abschnitten stehen z. T. nur in losem
Zusammenhang, was auch der Titel des Bändchens
„Streifzüge" schon andeutet. Im i. Abschnitt wird
z. B. behandelt a) Chronologie und Kettenbrüche,
Planck, M. , Das Wesen des Lichts. Vor-
trag, gehalten in der Hauptversammlung der
Kaiser- Wilhelm- Ges. am 28. Okt. 1919. Berlin
1920, Springer.
Planck läßt uns hier einen kurzen Rückblick
tun auf den Weg, den die physikalische Forschung
in ihrem Suchen nach dem Verständnis des
Lichts gegangen ist. In wundervoll künstlerischer
Darstellung gibt er uns einen Überblick über den
Wandel der Lichttheorien von Newton und von
Huygens bis in die heutige Zeit mit dem Hin-
weis auf die großen neuen Erkenntnisse der letzten
Jahrzehnte, aber auch darauf, daß mit diesen
neuen Erkenntnissen neue schwierige Fragen auf-
getreten sind, die sich zurzeit noch immer auf
das Verständnis der Existenz der Energiequanten
beziehen. Valentiner.
Behrend, Fr., Die Kupfer- und Schwefel-
erze von Osteuropa. Aus „Quellen und
Studien". Herausgegeben vom Osteuropäischen
Institut in Breslau. 88 S. Leipzig 192 1, Teubner.
14 M.
Das vorliegende Heft will vollbewußt dem
Bedürfnis dienen, unsere Wissenschaft künftig auf
die uns allein noch verbliebenen oder dereinst
wieder zugänglichen Quellen einzustellen, nach-
dem uns für die Gegenwart und nächste Zukunft
die Überseebeziehungen gewaltsam verkrüppelt
sind. Es ist eine wichtige Zusammenstellung der
bedeutsameren Vorkommnisse in Finnland, Ruß-
land nebst Teilen von Sibirien, Polen, Rumänien,
Bulgarien, Serbien, Griechenland und europäischer
Türkei im früheren Sinne. Hier wirklich klaren
Einblick und Übersicht zu gewinnen, war ohne
diesen zuverlässigen Führer recht schwer. Die
Anführung der wichtigeren Literatur erleichtert
tieferes Eindringen in Einzelheiten des Stoffs.
Der geologische Gesichtspunkt tritt hinter dem
wirtschaftlichen stark zurück. Genetische Erklä-
rungen der einzelnen Erzvorkommen (z. B. der
russischen Vertretung unseres Kupferschiefers) sind
ganz aus dem Spiel geblieben. Das entspricht
ja auch nur dem Bedarf, dem die Arbeit entgegen-
kommen soll. „Das bisherige russische Reich ein-
schließlich Sibiriens ist vielleicht eins der kupfer-
reichsten Gebiete der Welt" (S. 23). Auf solche
Feststellungen stützt sich manch hoffnungsvoller
Ausblick auf gegenseitige Stützung zwischen
Deutschland und Rußland gegenüber der vöHig
einseitigen Ausbeutung durch gemeinsame Feinde
in Westeuropa. Man kann nicht sagen , daß ein
kritikloser Optimismus die Feder geführt hat.
Dem gewaltigen Stoff kann hier im einzelnen
488
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 33
nicht nachgegangen werden. Ein Nachschlage-
werk läßt sich nur der Tendenz nach kennzeichnen.
Edw. Hennig.
Kämmerer, H. , Die Abwehrkräfte des
Körpers. Eine Einführung in die Immunitäts-
lehre. 479. Bändchen der Samml. Wissensch.-
gemeinverständlicher Darstellungen „Aus Natur
und Geisteswelt". II. Aufl. Leipzig und Berlin
1919, B. G. Teubner.
Die erste Auflage dieses Bändchens wurde in
Nr. 13 des Jahrgangs 1916 dieser Zeitschrift be-
sprochen. Ich kann auf die dortige Empfehlung
verweisen, da das Buch im wesentlichen dasselbe
geblieben ist. Es hat eine Erweiterung erfahren
durch die Lehren, die der Krieg für die Schutz-
impfungen, bzw. Behandlung, gegen einige Kriegs-
seuchen gegeben hat. — Die Allgemeingültigkeit
der Immunitätserscheinungen als Zustände ver-
änderter Reaktionsfähigkeit gegen wiederholte
Einführung eines Stoffes von Antigencharakter ist
leider auch in dieser Auflage nur an versteckter
Stelle gerade erwähnt. Der Schluß mit dem An-
wendungsversuch der Darwinschen Theorie auf
die Immunitätsvorgänge ist glücklicher als der
der vorigen Auflage, womit nicht gesagt sein
soll, daß ich mich mit den jetzt geäußerten Ge-
dankengängen des Verf. einverstanden erkläre. ■ —
Erfreulich ist, daß das Buch gelesen worden ist;
möge es bald die dritte Auflage erleben.
Huebschmann (Leipzig).
in dem biologische Probleme mit moderner Me-
thodik untersucht werden.
Brücke, Innsbruck.
Michaelis, L. , Praktikum der physikali-
schen Chemie, insbesondere der Kol-
loidchemie für Mediziner und Bio-
logen. Berlin 192 1, J. Springer.
Ein kleines Buch von 160 Seiten und doch
muß es von jedem, der als Autodidakt (anders
ist es ja meist kaum möglich) sich praktisch in
das Gebiet der Kolloidchemie einzuarbeiten sucht,
auf das AUerwärmste begrüßt werden. Die reiche
praktische Erfahrung des Autors und sein Lehr-
talent spricht aus jeder Seite. Bei der von Jahr
zu Jahr wachsenden Bedeutung der physikalischen
Chemie, und vor allem der Kolloidchemie für den
Biologen im allerweitesten Sinne des Wortes
könnte dieses Praktikum sicher reiche Früchte
tragen; es dürfte in keinem Laboratorium fehlen.
Domo, C, Klimatologie im Dienste der
Medizin. Heft 50 der Sammlung Vieweg:
„Tagesfragen a. d. Geb. d. Naturwissenschaften
u. d. Technik." Braunschweig 1920, Fr. Vieweg
& Sohn.
Es ist keine Frage, daß zwischen Klimatologie
und Heilkunde noch manche unerforschten oder
zu wenig erforschten Beziehungen bestehen. Aber
jedem Biologen überhaupt müssen die Beziehungen
zwischen Lebewesen und umgebender Atmosphäre
am Herzen liegen. Es ist darum sehr zu be-
grüßen, daß der Verf in seinem 74 Seiten starken
Buch alle in Betracht kommenden Fragen dem
Leser vor Augen führt und das in einer voll-
kommen sachlichen und auch dem Nicht Physiker
gut verständlichen Weise. Zusammensetzung der
Luft, Temperatur, Luftfeuchtigkeit usw., Radio-
aktivität und Elektrizität der klimatischen Ele-
mente, Sonnen- und Himmelsstrahlung und vieles
andere noch wird so in seinen Beziehungen zur
Medizin besprochen und zum Schluß auch die
Wetterkunde herangezogen. — Das Buch muß
Interesse erwecken und wird hoffentlich Berufene
veranlassen, sich noch mehr mit diesem zweifellos
wichtigen Thema zu beschäftigen.
Huebschmann (Leipzig).
Literatur,
France, R. H., Das Edaphon, Untersuchungen zur Öko-
logie der bodenbewohnenden Mikroorganismen. (Arbeiten
aus dem Biologischen Institut München Nr. 2.) Mit 30 Ab-
bildungen und zahlreichen Tabellen. 2. Auf läge. Stuttgart '21,
Franckhsche Verlagsbuchbandluug. 12 M.
Wilhelmi, Prof. Dr. J., Die Bekämpfung der gesund-
heitlichen und wirtschaftlichen Schädlinge. Denkschrift zur
Ausgestaltung der Schädlingsbekämpfung in Deutschland.
(Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalvcrwaltung.
XII. Band, Heft 2.) Berlin '21, R. Schoetz. 4 M.
Mayer, Dr. Adolf, Agrikulturchemie. Band I. Die
Krnährung der grünen Gewächse. Mit 40 Textabbildungen
und einer Tafel. Heidelberg '21, Carl Winter. 54 M.
Hartmann, Dr. M., Praktikum der Protozoologie.
4. wesentlich erweiterte Auflage. Mit 12.S teils farbigen Ab-
bildungen im Text. Jena '21, Gustav Fischer. 30 M,
Panconcelli-Calzia, Prof. Dr., Experimentelle Pho-
netik. Mit 3 Figuren. (Sammlung Göschen.) Berlin '21,
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 2,10 M.
Inhalt: O. Kuhn, Zur Biologie unserer einheimischen Egel. S. 473. K. Olbricht, Gedanken über die Entwicklung
der menschlichen Kultur und die Ausbreitung des Menschengeschlechts. S. 476. — Bücherbesprecbungen : M. Born,
Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen. S. 483. J. Ranke, Der Mensch. S. 4S4.
H. Much, Die Partigengesetze und ihre Allgemeingültigkeit. S. 4S4. J. Schaxel, Die allgemeine und experimen-
telle Biologie bei der Neuordnung des medizinischen Studiums. S. 4S5 H. Kau ff mann, Beziehungen zwischen
physikalischen Eigenschaften und chemischer Konstitution. S. 486. A. Weil, Die innere Sekretion. S. 486. P. Kirch -
berger, Mathemalische Streifzüge durch die Geschichte der Astronomie. S. 487. M. Plank, Das Wesen des Lichts.
S. 487. Fr. Behrend, Die Kupfer- und Schwefelerze von Osteuropa. S. 486. H. Kämmerer, Die Abwehrkräfte
des Körpers. S. 4S8. L. Michaelis, Praktikum der physikalischen Chemie, insbesondere der Kolloidchemie für
Mediziner und Biologen. S .48S. C. Domo, Klimatologie im Dienste der Medizin. S. 4S8. — Literatur; Liste. S. 488.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenslraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der (fanxen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 21. August 1921.
Nummer 34«
Die biologischen Vorgänge im Boden.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Wießmann, Berlin.
[Nachdruck verboten.]
In die Zeit des Aufschwungs der medizinischen
Bakteriologie vor etwa 40 Jahren fällt auch die
Geburtsstunde der biologischen Erforschung des
Bodens.
In seiner klassischen Arbeit, in welcher Ro-
bert Koch (i) die Herstellung von Bakterien-
Reinkulturen durch Einführung fester Nährböden
lehrte und somit den Grundstein zur exakten
bakteriologischen Forschung überhaupt erst legte,
berichtete er gleichzeitig über das reichliche Vor-
kommen von Bakterien im Boden.
Befruchtet von dem Geist dieses genialen
Forschers, dauerte es nur kurze Zeit bis zu jener
aufsehenerregenden Entdeckung durch die beiden
Agrikulturchemiker H e 1 1 r i e g e 1 und W i 1 f a r t h ,
welche das rätselhafte Verhalten der Leguminosen
klärte.
Schon im Altertum war bekannt, daß die
Hülsenfrüchte den Boden bereichern und das Ge-
deihen der Nachfrüchte begünstigen.
Eine Erklärung hierfür hatte man natürlich
nicht.
Selbst bis in die JVIitte des vorigen Jahrhunderts
wußte man die günstige Wirkung dieser Pflanzen
nicht zu deuten.
Zwar wurde wiederholt die Vermutung ge-
äußert, daß die bodenbereichernde Wirkung als
eine Stickstoffwirkung aufzufassen wäre, und die
Schmetterlingsblütler sich den Stickstoff der Luft
zunutze machen könnten.
Diese Frage wurde in den fünfziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts von Boussingault (2)
eingehend bearbeitet, jedoch in negativem Sinne
entschieden.
Andererseits häuften sich in der Folgezeit die
Beobachtungen über die stickstoffbereichernde
Wirkung der Leguminosen immer mehr.
In Deutschland war es der hervorragende Land-
wirt Schultz-Lupitz (3), der auf Grund seiner
praktischen Erfahrungen mit aller Bestimmtheit
die Hülsenfrüchte als Stickstoffsammler erklärte.
So stand man vor einem großen Rätsel, das
man durch allerlei Annahmen zu deuten versuchte.
Keine der aufgestellten Hypothesen aber konnte
sich kritischer Beurteilung gegenüber behaupten.
Erst im Jahre 1886 ist es Hellriegel und
Wilfarth (4) durch ihre klassischen Unter-
suchungen gelungen, den Schleier zu lüften, der
über dem rätselhaften Verhalten der Legumi-
nosen lag.
Die beiden Forscher haben gezeigt, daß die
Schmetterlingsblütler durch Mikroorganismen,
welche in die Wurzeln eindringen und Knöllchen
bilden, befähigt werden, den Stickstoff der Luft zu
assimilieren. Sterilisierten sie nämlich den Boden,
und hielten sie ihn während derVegetationszeit steril,
so bildeten sich an den Wurzeln keine Knöllchen,
und die Stickstoffgewinne blieben aus. Sobald sie
aber mit einer Erdaufschwemmung impften und
auf diese Weise lebenstätige Mikroorganismen in
den Boden brachten, setzte die KnöUchenbildung
und mit ihr die Stickstoffsammlung wieder ein.
Somit war das Rätsel gelöst.
Das Verdienst der beiden Forscher Hell-
riegel und Wilfarth ist um so höher zu be-
werten, als durch die bedeutungsvolle Entdeckung
unser Wissen über die Ernährung der Pflanzen
erweitert und die Frage der Gründüngung in
neues Licht gerückt wurde, aber auch deshalb,
weil der Impuls dieser wissenschaftlichen Großtat
erst das tiefere Interesse weckte für das im Boden
kreisende Leben.
Mit dieser Entdeckung wurde die durch Pasteur
und seine Schule zwar schon erschütterte mecha-
nisch-chemische Auffassung von dem Kräftespiel
im Boden mehr denn vorher als zu einseitig er-
kannt und auf eine erweiterte Grundlage gebracht
durch Einbeziehung der biologischen Betrachtungs-
weise, eines Faktors, der lange um Gleichbe-
rechtigung mit den beiden anderen zu kämpfen
hatte und auch heute mitunter noch nicht die
berechtigte Berücksichtigung findet, wohl aber nur
eine Folge übertriebener Prophezeihungen und zu
hoch gespannter Hoffnungen.
Es war natürlich, daß man sich zunächst mit
der Natur der Knöllchenorganismen eingehend
befaßte.
Trotz der bereits schon vorher vonWoronin(5)
gemachten Beobachtung über das Vorhanden-
sein von Bakterien in den Knöllchen, hatten kurz
vor der Mitteilung der Hellriegeischen Arbeit
Brunchhorst (6) und Frank (7) die Gebilde
in den Knöllchen für besondere Inhaltsstoffe ge-
halten.
Aber bald war jeder Zweifel darüber beseitigt ;
denn dem bekannten Bakteriologen Beijerinck(8)
war es gelungen, die Bakteriennatur durch Züchtung
auf künstlichen Nährböden darzutun.
Die Knöllchenbakterien gaben sich als kleine
Stäbchen zu erkennen, die etwa ein tausendstel mm
groß sind und im Ackerboden häufig vorkommen.
So unscheinbar aber diese Organismen auch
sein mögen, so haben sie doch eine große wirt-
schaftliche Bedeutung; denn durch ihre Tätigkeit
wird in ungeheuren Mengen der sonst so träge
490
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 34
Stickstoff der Luft dem Kreislauf des organischen
Geschehens einverleibt.
Man hat berechnet, daß in Deutschland durch
die KnöUchenbakterien jährlich ungefähr 250000
Tonnen Stickstoff aus der Luft in organische Form
übergeführt werden (9), das entspricht etwa der
dreifachen früher eingeführten Chilesalpetermenge.
Wenn auch die KnöUchenbakterien im Acker-
boden häufig vorkommen, so kann man doch nicht
sagen, daß sie sich überall finden. Deshalb ge-
deihen auf manchen Böden die Leguminosen
schlecht und bilden an ihren Wurzeln keine Knöll-
chen. Das ist hauptsächlich auf solchen Böden
der Fall, die vorher noch keine Leguminosen
trugen, oder auf sog. Neuland.
In Holland hat man schon lange, bevor man
überhaupt von der Existenz der KnöUchenbakterien
etwas wußte, das Wachstum der Leguminosen
dadurch gefördert, daß man auf ein Feldstück
vor der Saat Erde brachte von einem anderen
Feld, das bereits Leguminosen trug. Man hat
also dem Instinkt und der Erfahrung und nicht
einer begründeten Auslegung folgend — eine Er-
scheinung, der man in der praktischen Landwirt-
schaft häufig begegnet — eine Bodenimpfung
ausgeführt. Wissenschaftlich begründet wurde
diese erst durch Salfeld (lo).
Später haben Nobbe und Hiltner (11) zur
Beimpfung Reinkulturen von KnöUchenbakterien
eingeführt, Nitragin genannt, das von Hiltner
später verbessert wurde. Ein anderes ähnliches
Impfmittel ist Azotogen (12). Mit diesen Rein-
kulturen werden zum Teil recht gute Erfolge
erzielt
Auf Kulturland ist der Impferfolg mitunter
beschränkt. Hier gedeihen ohne Impfung die
Leguminosen häufig schon gut. So haben z. B.
Versuche, die von Hugo Fischer (13) auf dem
Versuchsfelde des agrikulturchemischen Institutes
in Dahlem ausgeführt worden sind, gezeigt, daß
auf einem Feldstück die geimpften Pflanzen im
Wuchs nicht besser standen als die ungeimpften,
obwohl der Boden seit mindestens 7 Jahren keine
Leguminosen getragen hatte.
Nitragin und Azotogen sind aber nicht die
einzigen in den Handel gebrachten Impfmittel.
Es existieren noch zahlreiche andere Impfstoffe,
die aber weniger für den Landwirt als für den
Händler nutzbringend sind.
So werden seit mehreren Jahren sog. Universal-
kulturen in den Handel gebracht. Durch Impfung
mit diesen UKulturen soll es möglich sein, alle
Pflanzenarten, also auch Getreide- und Hackfrüchte,
Obst- und Gemüsepflanzen usw. zur Stickstoff-
bindung anzuregen (14). Kritische Versuche aber,
wie sie von verschiedenen Forschern (15) u. a. auch
von Lemmermann und seinen Mitarbeitern
angestellt worden sind, haben die Wertlosigkeit
dieses Impfstoffes dargetan, was insofern eigentlich
nicht überraschend ist, als das symbiotische Zu-
sammenleben von Bakterien und Pflanzenwurzel
sich bloß auf wenige Familien erstreckt und nur
bei diesen eine Impfung angebracht erscheint.
Außer den Leguminosen zeichnen sich nämlich
vor allem nur noch die Erlen und Ölweiden durch
Knöllchenbildung an ihren Wurzeln aus. Auch
bei diesen Pflanzen werden die Knöllchen durch
Organismen hervorgerufen, deren Natur zwar nicht
genau bekannt ist; es scheinen aber bakterien-
artige Organismen zu sein, vermittels deren die
befallenen Pflanzen ebenfalls befähigt sind, den
Stickstoff der Luft aufnehmen zu können (16).
Wie Bakterien leben übrigens auch Algen,
insbesondere Cyanophyceen , und Pilze mit den
Wurzeln höherer Pflanzen zusammen. Sehr ver-
breitet in der Natur findet man die Vergesell-
schaftung von Pilzen mit den Wurzeln, die sog.
Mykorrhizenbildung, wobei die Pilze entweder nur
an der Oberfläche der Wurzeln oder im Innern
der Wurzelzellen leben. Viele unserer Bäume
zeichnen sich durch Mykorrhizenbildung aus, be-
sonders aber die Waldbäume. Man findet sie
größtenteils bei jenen Pflanzen, die humushaltige
Böden bewohnen. Über die Bedeutung der
Mykorrhiza sind verschiedene Theorien aufgestellt
worden. Am verständlichsten aber wird sie m. E.
durch eine von Miehe (17) gegebene Erklärung
beleuchtet. Nach Ansicht von Miehe ist die
Mykorrhizenbildung eine mehr oder weniger aus-
gestaltete Modifikation des Nährsalzerwerbes. Durch
die Verbindung der Pflanzenwurzel mit dem Pilz ist
die Pflanze instandgesetzt, mit den so zahlreich
im Boden wuchernden Pilzen den Wettkampf auf-
nehmen zu können. Ohne Pilz könnten die Nähr-
stoffe von der Pflanze nicht in organischer Form,
sondern erst nach ihrer Mineralisierung aufge-
nommen werden. Durch die Vereinigung mit
dem Pilz aber hat sich die Pflanze davon unab-
hängig gemacht, was ihr natürlich auf humus-
haltigen Böden erhöhte Existenzmöglichkeit zu-
sichert und sie sogar zum Kolonisten geeignet
macht. Es ist selbst wahrscheinlich, daß die
Pflanze infolge der Mykorrhiza fähig ist, nicht nur
den Humusstickstoff, sondern auch den atmo-
sphärischen Stickstoff aufnehmen zu können. Die
mykorrhizatragenden Pflanzen sind um so mehr
auf eine erhöhte Aneignungsmöglichkeit für die
Nährstoffe angewiesen, als sie ein geringes
Wasserdurchströmungsvermögen besitzen (18), was
übrigens, wie Lemmermann (19) nachgewiesen
hat, auch für die Leguminosen gilt. Durch das
Zusammenleben mit Pilzen bzw. Bakterien aber
haben sich diese Pflanzen für die geringere Auf-
nahme von Wasser und der darin gelösten Nähr-
stoffe schadlos gehalten.
Wir haben bis jetzt im Boden lebende Orga-
nismen kennen gelernt, die befähigt sind, den
Stickstoff der Luft zu binden, aber erst dann,
nachdem sie in Gemeinschaft mit höheren Pflanzen
getreten sind.
Es gibt aber im Boden auch Organismen, die
bereits im freilebenden Zustand die Fähigkeit der
Stickstoffassimilation besitzen.
N. F. XX. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
491
Den ersten Nachweis dafür brachte Berthe-
lot (20); er fand, daß ausgebreitete Ackererde
sich mit Stickstoff anreichert ; gleichzeitig bewies
er, daß diese Erscheinung an lebende Organismen
gebunden ist; denn sie machte sich nicht geltend,
sowie die Erde längere Zeit auf 100" erhitzt
worden war.
Bald darauf glückte es dem russischen Bakterio-
logen Winogradsky (21) aus Petersburger Erde
ein Bakterium zu isolieren, das in stickstoftfreier
Nährlösung bei Anwesenheit bestimmter Kohle-
hydrate freien Stickstoff aufzunehmen vermochte.
Es war dies ein Buttersäurebildner, ein sporen-
bildendes Stäbchen, das wie die übrigen Butter-
säurebakterien sauerstoffeindlich, also anaerob ist,
von ihnen sich aber dadurch unterschied, daß es
nur bestimmte Kohlehydrate vergären konnte.
Winogradsky belegte das Bakterium mit dem
Namen Clostridium Pasteurianum.
Danach sind noch andere Buttersäurebakterien
gefunden worden, welche ebenfalls den Luftstick-
stoff assimilieren können (22).
Schließlich hat Bredemann (23) nachge-
wiesen, daß alle in der Literatur unter ver-
schiedenen Namen gehende Buttersäurebakterien
einer Art angehören, dem Bacillus amylobacter,
und daß sie sämtlich die Fähigkeit haben, freien
Stickstoff zu binden; mitunter ist ihnen zwar die
Befähigung verloren gegangen, jedoch kann sie
ihnen durch eine Kultur im Boden, eine sog. Erd-
passage, wieder angezüchtet werden.
Mit Hilfe einer Stickstoffbindung durch die
Buttersäurebakterien aber würde sich die von
Berthelot beobachtete Erscheinung nicht er-
klären lassen; denn die Buttersäurebakterien sind
im allgemeinen sauerstoffeindlich, während Ber-
thelot die Stickstoffanreicherung gerade bei un-
gehindertem Luftzutritt beobachtete.i
Nun wurde aber von Beijerinck (24) ein
anderes stickstoffbindendes Bakterium entdeckt,
Azotobacter genannt, das kein Buttersäurebildner,
sondern ein sauerstoffliebender Mikroorganismus
ist. Da dieser ein starkes Stickstoffsammlungs-
vermögen besitzt, so läßt sich durch seine Tätig-
keit die Stickstoffanreicherung im durchlüfteten
Boden wohl erklären.
Die Azotobacterorganismen — Beijerinck
unterschied 2 Arten — kommen häufig im Boden
vor, wenn freilich ihre Verbreitung durchaus nicht
so allgemein ist, wie man früher annahm (25).
Zu ihren Lebensbedürfnissen zählen genügen-
der Luftzutritt, an Nährstoffen vor allem Kalk und
Phosphorsäure, weniger Kali (26). Daneben steht
das Vorkommen im engen Zusammenhang mit
der basischen Reaktion des Bodens (27). Be-
sonders gefördert wird die Tätigkeit der Azoto-
bacterbakterien durch die Gegenwart von Kollo-
iden (28}.
Unbedingt notwendig aber zur Ausübung der
Stickstoffassimilation ist das Vorhandensein von
Kohlenstoffsubstanzen im Boden als Energiequelle.
Während den KnöUchenbakterien diese Stoffe von
den Wirtspflanzen geliefert werden, müssen die
freilebenden Stickstoffbinder dieselben dem Acker-
boden entnehmen. Hier stehen ihnen die ver-
schiedensten Kohlenstoffquellen zur Verfügung,
vor allem Zellulose, die von Ernterückständen
herrührt, z. T. in Form von Grün- und Stall-
düngung in den Boden kommt.
In der Tat konnte Pringsheim (29) sowohl
bei Reinkulturen von Clostridium wie von Azo-
tobacter nachweisen, daß sie auch Stickstoff
sammeln können in Verbindung mit zellulose-
zersetzenden Bakterien.
Vorher hat schon AI fr. Koch (30) durch
Versuche festgestellt, daß dem Boden einverleibte
Zusätze von Traubenzucker, Rohrzucker, Stärke
und besonders Mannit die Stickstoffbindung er-
heblich fördern und somit das Wachstum der
Pflanzen auf stickstoffarmen Böden zu steigern
vermögen. Er hat durch Zuckerung des Bodens
2 — 3 fache Mehrerträge erzielt, allerdings voraus-
gesetzt, daß ein längerer Zeitabschnitt zwischen
der Zuckerbehandlung des Bodens und der Aus-
saat liegt.
Auch Zellulose hat AI fr. Koch (31) unter
bestimmten Bedingungen als geeignete kohlen-
stoffquelle befunden. Wenn es aber zu einer
Stickstoffbindung kommen soll, so muß nach An-
gabe des genannten Forschers die Zellulose rasch
zersetzt werden. Zu diesem Zweck soll eine Zu-
führung von Stallmist dienlich sein, als Sitz der
richtigen zellulosezersetzenden Bakterien. Koch
schreibt diesem Umstand sogar z. T. die günstige
Wirkung der Stallmistdüngung zu.
Es kann aber auch sein, daß es nicht auf die
Schnelligkeit der Zersetzung, sondern auf ganz
andere Momente ankommt. So hat sich z. B.
das Verhältnis der zur Verfügung stehenden Stick-
stoff- und Kohlenstoffmengen (32), fernerhin der
Sauerstoffgehalt der organischen Nährstoffe von
Einfluß auf die Stickstoff bindung erwiesen (33).
Vor kurzem hat man (34) auch geprüft, ob
die Zellmembranen des Sphagnummooses und
jungen Sphagnumtorfes den Stickstoffassimilanten
als Kohlehydratquelle dienen können, und ist da-
bei zu einem günstigen Ergebnis gekommen, be-
sonders dann, wenn diese Stoffe im aufgeschlossenen
Zustande angewandt wurden. Eine Umsetzung
dieses Befundes in die Praxis wäre von großer
Bedeutung; denn man könnte durch Düngung
mit diesen verhältnismäßig billigen Stoffen eine
Stickstoffanreicherung des Bodens bewerkstelligen.
Inwieweit aber die bisher im Laboratorium fest-
gestellten Ergebnisse für die Praxis von Wichtig-
keit sind, muß erst erprobt werden.
Bis jetzt war jedenfalls das Bestreben, aus Torf
bzw. Moorboden wirksame Dünger herzustellen,
nicht von Erfolg begleitet gewesen, obwohl man
es bereits auf den verschiedensten Wegen ver-
suchte (35).
Auch der seit einigen Jahren durch Vergären-
lassen eines Gemisches von Melasseschlempe und
Torf hergestellte Dünger, Guanol (36) genannt,
492
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 34
hat nach Versuchen von Lemmermann und
dem Verfasser die Hoffnungen nicht erfüllt, die
ihm von mancher Seite zugesprochen worden sind.
Wir wollen nun die weitere Frage stellen:
Hat überhaupt die Stickstoffbindung durch die
freilebenden Organismen eine praktische Be-
deutung?
Diese Frage ist viel umstritten worden.
Nach der Entdeckung der stickstoffsammelnden
Bakterien hegte man die Hoffnung, durch Er-
füllung ihrer Lebensbedingungen, den Stickstoff
der Luft in hohem JVlaße nutzbar machen zu
können.
Ja, man ging sogar soweit, daß man schon
durch Einimpfung von Stickstoff bindenden Bak-
terien in den Boden Erfolge zu erzielen glaubte.
Eine besonders große Rolle spielte hierbei das
Alinit; es war das eine Reinkultur des Bacillus
ellenbachensis, den Caron (37) aus dem Boden
seines Gutes züchtete. Zahlreiche Versuche sind
damit ausgeführt worden; ihr Ergebnis aber blieb
nach kritischer Überprüfung nur ein negatives.
Seitdem tauchen im Handel immer wieder
neue Impfpräparate auf, die sich aber als wertlos
herausstellen.
In allerletzter Zeit berichtet Hiltner (38) je-
doch von einem Impfstoff, durch dessen An-
wendung bei Rüben ein Mehrertrag zu erzielen
sei. Die in den Boden gebrachten Organismen
sollen im Wurzelbereich der Rüben leben und
hauptsächlich durch ihre stickstoffsammelnde
Tätigkeit auf das Wachstum fördernd wirken.
Auch bei Getreide glaubt Hiltner durch ähn-
liche Impfstoffe Erfolge zu erzielen. Bis jetzt
liegen jedoch noch zu wenige Erfahrungen vor,
um den - Wert dieser Impfstoffe beurteilen zu
können.
Die häufigen Mißerfolge der Bodenimpfung
sind darauf zurückzuführen, daß das Gedeihen
der Bakterien im Boden in erster Linie von den
ihnen gewährten Existenzbedingungen abhängig
ist. Sind diese nicht gegeben, so nützt auch die
Impfung nichts.
Keineswegs kann ich deshalb dem Vorschlag
Bornemanns (39), die Kohlensäureproduktion
im Boden zu fördern durch Einimpfung be-
sonders tätiger kohlensäureproduzierender Bak-
terien, beipflichten. Ich bin vielmehr der Meinung,
daß ein solcher Vorschlag zwar Hoffnungen er-
weckt, aber nur Enttäuschungen bringt. Wenn
Bornemann auf den Fortschritt hinweist, den
die Gärungsindustrie durch Züchtung besonders
tätiger Gärungsorganismen machte, so zieht er
nicht in Betracht, daß dort die Verhältnisse wesent-
lich einfacher liegen. Der Bierbrauer hat ein Nähr-
substrat von bestimmter Zusammensetzung, dem
die gewählte Hefe am besten zusagt. Der Boden
aber unterscheidet sich schon auf demselben
Acker in mannigfaltiger Art. Der Bierbrauer kann
durch bestimmte Manipulationen die von ihm
nicht gewünschten Organismen unterdrücken, was
dem Landwirt nur in beschränktem Maße möglich
ist. In I ccm Ackerboden wohnen je nach seiner
Art und Güte l Million bis 50 Millionen Orga-
nismen (40); würden in i ccm Würze ebenso
viele verschiedenste Mikroorganismen hausen, so
dürfte es dem Bierbrauer schwer gelingen, trotz
Einimpfung einiger weniger spezifischer Hefezellen
den Gärprozeß nach bestimmter Richtung hin zu
beeinflussen.
Die von Bornemann in Erwägung ge-
zogenen Kohlensäurebakterien dürften deshalb
ebensowenig Erfolge haben wie bis jetzt die
Impfung mit frei lebenden stickstoffbindenden
Bakterien.
Was wir tun können, die Mikroflcra im Boden
zu beeinflussen, ist eine zielbewußte Bearbeitung
und Pflege desselben. Und unter Schaffung der
geeigneten Lebensbedingungen mögen zweifellos
die stickstoffbindenden Bakterien den Boden mit
Stickstoff anreichern.
Leider aber ist die Größe der von ihnen ge-
leisteten Arbeit festzustellen, mit großen Schwierig-
keiten verknüpft, worauf die bestehenden Meinungs-
verschiedenheiten über die praktische Bedeutung
der Stickstoffassimilanten zurückzuführen sind.
Man könnte glauben, daß der Nachweis des
Stickstoffzuwachses durch eine chemische Analyse
leicht zu erbringen sei. Das ist aber nicht der
Fall. Denn ein Boden, der über ein Stickstoff-
kapital von 4000 kg auf i ha verfügt, weist einen
Stickstoffgehalt von o,ioi "j^ auf. Steigt nun der
Sdckstoffvorrat um 40 kg pro ha, was einer guten
Düngergabe entspricht, so wächst der Prozentge-
halt des Bodens an Stickstoff nur um ein
tausendstel Prozent (41). Zum Nachweis derart
geringer Mengen aber versagen unsere chemischen
Methoden.
Man versuchte noch, auf einem anderen Weg
zur Erkenntnis der Stickstoffbindung zu gelangen,
durch Heranziehung sog. Dauerversuche, von denen
einer der meist genannten durch JuliusKühn(42)
in Halle ausgeführt wurde. Kühn hat mehr als
20 Jahre ununterbrochen auf dem gleichen Feldstück
Winterroggen angebaut. Obwohl während der
ganzen Zeit nie mit Stickstoff gedüngt wurde,
haben die Erträge nicht abgenommen. Kühn
folgerte daraus, daß die Ernten hätten zurück-
gehen müssen, wenn nicht durch die Tätigkeit
der stickstoffsammelnden Bakterien eine besondere
Stickstoffquelle zur Verfügung gestanden hätte.
Pfeiffer (43) jedoch weist nach, daß auch
ohne Zuhilfenahme der Stickstoffbindung die lang-
jährigen ohne Düngung erreichten Ernten sich
erklären lassen. Denn es gibt Böden, die wohl
fähig sind, ohne Erschöpfung viele Jahre lang die
Pflanzen mit Stickstoff zu versorgen. Dabei wird
aber das Stickstoffkapital des Bodens allmählich
aufgezehrt und infolgedessen Raubbau getrieben.
Die Kühnschen Versuche lassen also auch
eine Erklärung zu, die sich nicht auf die Tätig-
keit stickstoffsammelnder Bakterien stützt.
Auch die von Hof er (44) gemachte Beobach-
tung erbringt m. E. nicht einen Beweis von Stick-
N. F. XX. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
493
Stoffbindung. Da für Fischteiche eine Salpeter-
düngung durch eintretende Denitrifikation gefährdet
ist, hat Hof er versucht, den Luftstickstoff nutzbar
zu machen durch Schaffung geeigneter Lebens-
bedingungen für die stickstoffbindenden Bakterien.
Dazu hat er kalkreiche Teiche mit Kali und
Phosphorsäure gedüngt und mit einem Zusatz von
Kohlehydraten versorgt. Infolge der Düngung
stieg die Planktonmenge und der P'ischzuwachs.
Die Beigabe von Kohlehydraten aber, besonders
in Form von Biertrebern und Abfallzellulose, hat
den Fischzuwachs in gesteigertem JVIaße gefördert.
Hofer schließt daraus auf eine Stickstoffsammlung
durch die freilebenden Bakterien. Eine Erhöhung
des Stickstoffgehaltes der Wässer, oder eine ver-
mehrte Anzahl von stickstoffsammelnden Orga-
nismen konnte nicht nachgewiesen werden. Also
ist auch hier ein direkter Beweis von Stickstoff-
bindung nicht erbracht, und der etwaige Einwand,
daß bei stickstoffloser Düngung Raubbau an Stick-
stoff betrieben worden sei, könnte nur schwer
entkräftet werden, zumal m. E. die Wirksamkeit
der Kohlehydrate nicht genug gesichert ist
Mit der Frage der Stickstoffbindung durch
niedere Organismen hängt auch eng die Beur-
teilung über den Wert der Brache zusammen. In
der alten Dreifelderwirtschaft ließ man zur Er-
zielung höherer Ernteerträge ein ganzes Jahr den
Acker unbestellt. Mit der Zeit trat diese sog.
Schwarzbrache mehr in den Hintergrund, bis
Caron (45) erneut auf ihren Vorteil hinwies.
Seitdem hat sich ein lebhafter Meinungsaustausch
für und wider die Brache entwickelt. Meiner
Meinung nach kommt die Pfeiffersche Ansicht (46)
entschieden der Wahrheit am nächsten. Dieser
Forscher spricht der Brache in besonderen Fällen
ihren Wert durchaus nicht ab, wie man aus den
Ausführungen von Löhnis anzunehmen glauben
muß (47). Er will die Brache aber nur in Aus-
nahmefällen angewandt wissen, nämlich auf
schweren, bindigen Böden, um ihnen die richtige
Ackergare zu verleihen, welche ohne Brachehaltung
auf die Dauer schwer erzielbar sei. Im übrigen
aber halten Pfeiffer und andere Forscher (48)
die Brache für einen Raubbau an Stickstoff. Denn
es ist zweifelhaft, ob bei Brachehaltung durch die
stickstoffbindenden Organismen mehr Stickstoff
gesammelt wird als bei gewöhnlicher Bodenbe-
arbeitung. Sicher aber ist es, daß während der
Brachezeit die Bodennährstoffe, insbesondere auch
die Stickstoffsubstanzen im verstärkten Masse ab-
gebaut werden und dadurch einer gesteigerten
Auswaschung in den Untergrund ausgesetzt sind.
Wie der Abbau der hochmolekularen orga-
nischen Stoffe, insbesondere der Stickstoffver-
bindungen, im Boden vor sich geht, wollen wir
nun betrachten. Man bezeichnet ihn im allge-
meinen mit den landläufigen Namen Verwesung,
Fäulnis, Vermoderung. Liebig hielt diese Pro-
zesse für lang.same Verbrennungen. Heute wissen
wir, daß die durch den Luftsauerstoff bewirkten
Veränderungen nur äußerst gering sind, daß die
Umwandlungen vielmehr von lebenden Organismen
und ihren Enzymen besorgt werden.
Die Schar der Organismen, die sich am Ab-
bau der organischen Stickstoffverbindungen im
Boden beteiligt, ist eine große und mannigfaltige ;
es sind sowohl Pilze, wie aerobe und anaerobe
Bakterien.
Durch ihre Tätigkeit entstehen zunächst aller-
lei Zwischenprodukte, die für uns aber geringeres
Interesse haben, wie das schließlich gebildete
Ammoniak und der entstehende Salpeter.
Die Intensität der Ammoniakbildung im Boden
hängt von der Art des Bodens, seinem Wasser-
gehalt und der Durchlüftung, aber auch von der
Art der Stickstoffsubstanz ab.
In leichten Böden geht der Abbau rascher vor
sich als in schweren.
Der Stickstoff im Leder- und Knochenmehl
wird schlechter ammonisiert als im Blut-, Fleisch-
und Hornmehl. Bei den Gründüngungspflanzen
hat ihr Alter einen großen Einfluß auf die Schnellig-
keit der Zersetzung (49). Im jungen Zustand geht
die Ammonisierung rascher vor sich als in älteren
Stadien. Es beruht dies darauf, daß der Stickstoff
der Pflanzen mit dem Alter in einen schwerer ab-
baufähigen Zustand übergeht; außerdem hat nach
Untersuchungen von Lemmermann und Ta-
zenko (50) der Gehalt an Rohfaser, der ebenfalls
mit dem Alter zunimmt, einen großen Einfluß
auf den Abbau der Grünsubstanz.
Besonders rasch geht im Boden die Umwand-
lung des Harnstoffs in kohlensaures Ammoniak
vor sich. Doch wird diese Arbeit von den Bak-
terien meist schon auf der Düngerstätte oder in
der Jauchegrube besorgt und ist bei unrationeller
Aufbewahrung der Jauche die Ursache für die
mitunter sehr großen Stickstoffverluste.
Aus der Intensität der Ammoniakbildung suchte
man Rückschlüsse zu ziehen auf die Wirkung und
Ausnützung der organischen Stickstoffdüngemittel
in den verschiedenen Böden. Zu diesem Zweck
wurde von Remy (51) ein Verfahren ausgearbeiet,
das darauf beruht, daß eine Peptonlösung mit dem
zu prüfenden Boden geimpft wurde. Die nach
einigen Tagen gebildete Ammoniakmenge sollte
ein Maßstab sein für die sog. „Fäulniskraft" des
Bodens und seine Verwertung der organischen
Stickstoffdüngemittel. Zweifellos wäre ein solches
Verfahren von Bedeutung, da man an Stelle zeit-
raubender Düngungsversuche auf bequeme Weise
in kurzer Zeit sich über die Wirksamkeit orga-
nischer Stickstoffdüngemittel unterrichten könnte.
Durch Untersuchungen von Lemmermann und
seinen Mitarbeitern (52) wurde aber nachgewiesen,
daß die Zersetzungsvorgänge in Nährlösungen
ganz anders verlaufen als im Boden und deshalb
nicht als Maßstab für den natürlichen Veriauf
gelten können.
Mit der Ammoniakbildung aber haben die
organischen Stickstoffverbindungen noch nicht den
Endpunkt ihres Wandlungsprozesses erreicht. Das
Ammoniak wird im Boden zu Salpeter oxydiert.
494
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 34
Auch die Bildung des Salpeters hielt man früher
für einen chemischen Prozeß. Pasteur aber, der
bereits eine Reihe von Gärungen als biologische
Prozesse erkannt hatte, hegte auch bezüglich der
Nitrifikation die Vermutung, daß es sich nicht um
einen chemischen, sondern biologischen Vorgang
handle.
In der Tat war durch Arbeiten von Schlö-
sing und Müntz (53) der biologischen Auf-
fassung bald zum Siege verholfen worden.
Aber erst nach weiteren 10 Jahren ist es den
beiden russischen Gelehrten Winogradsky und
Omelianski (54) gelungen die Nitrifikationser-
reger aufzufinden. Es ergab sich, daß die Sal-
peterbildung von 2 Gruppen von Bakterien be-
sorgt wird. Die eine Gruppe oxydiert das Am-
moniak zu Nitrit, die andere überführt das Nitrit
in Nitrat.
Betrachten wir die Nitrifikationsbakterien vom
ernährungsphysiologischen Standpunkt, so bieten
sie viel Interessantes. Sie ernähren sich nämlich
nicht von organischen Kohlenstofifverbindungen,
sondern decken ihren Kohlenstoffbedarf aus der
Kohlensäure der Luft. Diese Fähigkeit besitzen
außer wenigen anderen Bakteriengruppen sonst
nur die mit Chlorophyll ausgestatteten Pflanzen
und zwar nur unter Mithilfe der Sonnenenergie.
Die Nitrifikationsbakterien sind aber weder chloro-
phyllhaltig, noch bedienen sie sich zur Kohlen-
säurezerlegung der Sonne. Die Natur hat also in
diesen kleinen Baumeistern einen ganz anderen
Weg eingeschlagen, um aus mineralischen Stoffen
Protoplasma aufzubauen. Natürlich können auch
die Nitrifikationsbakterien diese Synthese nicht
ohne Energieaufwand vollziehen. Zu diesem Zweck
oxydieren sie Ammoniak bzw. Nitrit und benützen
die dabei frei werdende Energie zur Reduktion
der Kohlensäure.
Aus dem Sauerstoff bedürfnis der Salpeterbildner
erklärt sich, daß die Nitrifikation im Boden leb-
haft verläuft, sofern dieser genügend durchlüftet
ist; außerdem aber muß er über eine normale
Feuchtigkeit verfügen und darf nicht sauer rea-
gieren.
Demnach sind bei den einzelnen Bodenarten
die Bedingungen für den Verlauf der Salpeter-
bildung verschieden günstig. Bei schweren, un-
durchlässigen Tonböden liegen die Verhältnisse
schlechter als bei humosen Lehm- und Sandböden,
da die Tonböden gewöhnlich zu feucht sind und
infolgedessen unter Mangel an Luftzutritt und
Wärme leiden. Besonders ungünstig aber sind
die Lebensbedingungen auf Moorböden (55); denn
hier kommt zu dem hohen Feuchtigkeitsgehalt
und der mangelhaften Durchlüftung noch die saure
Reaktion hinzu. Es ist deshalb notwendig, diese
Böden zu entwässern und zu kalken. Obwohl
zwar in der Praxis selbst durch die stärkste
Kalkung eine Neutralisation der Moorböden nicht
zu erreichen ist (56), muß man sich doch hüten,
allzu große Kalkmengen anzuwenden. Denn bei
sehr starken Kalkungen zeigt sich zwar_im ersten
Jahr ein außerordentlich günstiger Einfluß, um so
schlimmer aber sind die Nachwirkungen in den
folgenden Jahren. Eine Erklärung hierfür hat man
zwar noch nicht ; doch scheint die Beeinträchtigung
des Pflanzenwachstums aufs engste mit der Frage
der Stickstoffernährung der Pflanzen zusammen-
zuhängen (57).
Während auf den unkultivierten Moorböden
eine Nitrifikation überhaupt nicht stattfindet oder
diese nur sehr gering ist, verläuft sie auf Sand-
böden mitunter zu rasch. Das kann für den
Landwirt oft von Nachteil sein, da der aus den
organischen Stickstoffdüngemitteln gebildete Sal-
peter der Auswaschung in den Untergrund unter-
liegt und somit für die Pflanzen verloren geht.
Diese Gefahr ist auf Sandböden größer als auf
den bindenden Lehm- und Tonböden. Der Zeit-
punkt der Düngung mit organischen Stickstoff-
düngemitteln wird also bestimmt durch den Ver-
lauf der Nitrifikation. Einen schönen Beweis da-
für liefern mehrjährige Versuche, die Lemmer-
m a n n und der Verf. ausführten. So war, um
nur ein Beispiel herauszugreifen, auf lehmigem
Sandboden bei Herbstdüngung mit Blutmehl
der Ertrag fast nur halb so groß wie bei F r ü h -
j a h r s anwendung.
Im Ackerboden findet also selbst in Winter-
monaten Salpeterbildung statt. Daß diese mit-
unter ziemlich kräftig sein kann, geht aus Unter-
suchungen von Alfred Koch hervor (58).
In einem besonders tätigen Zustand aber sollen
sich die Bodenbakterien im Frühjahr befinden, und
zwar unabhängig von den jeweils herrschenden
Temperaturen (59). So soll durch die Impfung
mit einer Erdprobe, die im Frühjahr entnommen
wird, unter gleichen Bedingungen eine intensivere
Salpeterbildung sich hervorrufen lassen als mit
einer im Winter genommenen Erdprobe des
gleichen Feldstückes.
Durch Untersuchungen von Lemmermann
und W i c h e rs (60) aber stellte sich heraus, daß die
bisher erbrachten Beweise von dem periodischen
Auf- und Ableben der Bakterientätigkeit im Boden
unzureichend sind und auch andere Erklärungen
zulassen.
In der Salpeterbildung haben wir einen Vor-
gang kennen gelernt, der nur bei normaler Durch-
lüftung des Bodens stattfindet; ist der Boden zu
naß, so wird nicht nur die Entstehung des Sal-
peters unterbunden, sondern die Zerstörung des
bereits vorhandenen bewirkt unter Entweichung
von elementarem Stickstoff. Infolge des ge-
steigerten Wassergehaltes und der dadurch her-
beigeführten geringeren Durchlüftung des Bodens
nimmt eine Bakterienflora überhand, die diesen
Vorgang auslöst, den man als Denitrifikation be-
zeichnet.
Es ist et wa 2 5 Jahre her, alsPaulWagner(61)
die Beobachtung machte über die schädliche
Wirkung von frischem Stallmist auf das Pflanzen-
wachstum und die Ertragsverminderung auf dessen
salpeterzersetzenden Einfluß zurückführte. Seiner-
N. F. XX. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
495
zeit setzte in der Landwirtschaft eine allgemeine
Besorgnis ein, die sich soweit steigerte, daß man
eine Stallmistdüngung fast für schädlich hielt. Da
waren es in erster Linie Pfeiffer und Lem-
mermann (62), welche jene übertriebene Furcht
zurückwiesen, und zeigten, daß die Salpeterzer-
störung für die Praxis durchaus nicht die Be-
deutung hat, die man ihr zuschrieb, da sie nur
bei weitgehendem Luftabschluß einsetzt. Es
können nämlich dann die denitrifizierenden Bak-
terien, deren es eine große Anzahl gibt, ihr Sauer-
stoffbedürfnis nicht aus der Luft decken und
zerstören infolgedessen den Salpeter. Dement-
sprechend fanden später Lemmermann und
Wichers (63) bei steigendem Wassergehalt des
Bodens eine zunehmende Stickstoffentbindung.
Die Bedingungen zur Salpeterzerstörung sind
daher in erster Linie auf JVIoor- und Sumpfböden
und in Gewässern, hingegen auf Ackerböden nur
ausnahmsweise gegeben.
Zwar ist auf rohen Moorböden infolge ihres
sauren Charakters die Tätigkeit der Denitrifikations-
bakterien nur eine geringe, durch Kalkzufuhr wird
sie aber gesteigert, und es ist wahrscheinlich, daß
die Denitrifikation eine Ursache der bereits er-
wähnten Kalkschädigung auf Moorböden ist (64).
Am intensivsten verläuft der Salpeterzerstörungs-
prozeß aber entschieden in Gewässern. So hat
Hofer (65) bei Teichdüngungsversuchen festge-
stellt, daß bei einer Düngung von 163 kg Chile-
salpeter pro ha innerhalb zweier Wochen der ge-
samte Stickstofi entwichen war, in einem Fall
schon nach 6 Tagen. Die Salpeterzerstörung ver-
lief so rasch, daß sie stündlich verfolgt werden
konnte. Eine Düngung der Fischteiche mit Sal-
peter erscheint demnach ohne praktischen Erfolg,
was Ho f e r veranlaßte, andere Wege einzuschlagen,
die wir bereits kennen lernten.
Die notwendige Lebensenergie gewinnen die
Denitrifikationsbakterien durch Oxydation vor-
handener organischer Stoffe vermittels des dem
Salpeter entnommenen Sauerstoffs. Man war des-
halb der Meinung, daß die Denitrifikation nur
nach Zuführung reichlicher Mengen kohlenstoff-
haltiger Substanzen stattfinden könne. Das ist
aber nicht der Fall, denn Untersuchungen von
O e 1 s n e r (66) haben gezeigt, daß auch ohne be-
sondere Zugabe dieser Stoffe Salpeter zerstört
wird, sofern nur der Luftzutritt durch reichlichen
Wassergehalt des Bodens beschränkt ist. Es ge-
nügt also mitunter schon der Kohlenstoffvorrat
des Bodens.
An Stelle von Kohlenstoffsubstanzen können
übrigens auch Schwefel und oxydationsfähige
Schwefelverbindungen als Energiequelle für manche
denitrifizierende Bakterien dienen (67).
Bis jetzt haben wir zwar gehört, daß der
Ernteausfall, den Wagner und auch andere bei
Düngungen mit Stroh, frischem Stallmist oder Kot
beobachteten, nicht auf Stickstoffverflüchtigung
durch Denitrifikation zurückzuführen ist, wir haben
aber noch nicht die Ursache für die Ernteer-
niedrigungen kennen gelernt. Auch dafür haben
neben Schneidewind (68), Pfeiffer und
Lemmermann (69), als sie seinerzeit die
Denitrifikationsfurcht in ruhigere Bahnen lenkten,
bereits die richtige Antwort erteilt. Sie haben
durch Versuche klar gelegt, daß die Beein-
trächtigung des Pflanzenwachstums infolge des
Stickstoffverbrauchs durch die Bodenorganismen
hervorgerufen wird. Durch die Düngung mit
frischen kohlenstoffhaltigen Substanzen wird näm-
lich den Bodenbakterien eine ihnen willkommene
Kohlenstoffnahrung zugeführt. Es setzt infolge-
dessen eine üppige Vermehrung derselben ein,
und der zum Aufbau ihres Körpereiweißes not-
wendige Stickstoff wird dem Boden entnommen
und auf diese Weise den Pflanzen entzogen. Es
entsteht also im Boden ein förmlicher Nahrungs-
kampf um den Bodenstickstoff zwischen Bakterien
einerseits und Pflanzenwurzeln andererseits, ein
Kampf, bei dem die Pflanze den Kürzeren zieht (70).
Sind die organischen Stoffe aber genügend
verrottet, so geben sie für die Bodenorganismen
eine weniger günstige Kohlenstoffquelle ab. Der
Bodenstickstoff bleibt den Pflanzen zur Ver-
fügung, und die günstige Wirkung des Stallmistes
kann zur Geltung kommen. Bei Versuchen, welche
Lemmermann und der Verf. ausführten, ergab
sich z. B. bei Anwendung von frischem Pferde-
mist ein Ernteausfall von 40 "/o; ließen wir aber
den gleichen Pferdemist vor der Düngung sechs
Wochen lang verrotten, so war eine Ernteerhöhung
von etwa 10% eingetreten.
Außer Stickstoff werden von den im Boden
lebenden Organismen aber auch noch andere
Pflanzennährstoffe in Form ihrer Körpersubstanz
festgelegt, vor allem Kali und Phosphor (71).
Liegen diese Nährstoffe nicht in löslicher Form
vor, so werden sie durch die von den Organismen
produzierte Kohlensäure und ausgeschiedenen
organischen , Säuren in Lösung gebracht. Auf
diese Weise werden die schwerlöslichen Boden-
phosphate, ja selbst Silikate, wie Orthoklas,
Nephelin u. a. teilweise gelöst (72).
Die von den Bodenorganismen erzeugte Kohlen-
säuremenge wird von manchem Forscher recht
hoch geschätzt. Löhnis (73) berechnet sie auf
9000 kg pro ha im Jahre; Stoklasa (74) gibt
dafür sogar noch eine größere Zahl an; er schätzt
sie auf 15000 kg oder 71/2 Millionen Liter.
Pfeiffer (75) jedoch hält diese Schätzungen für
zu hoch; nach seinen Berechnungen können im
Boden höchstens jährlich 5000 kg Kohlensäure
pro ha entstehen.
Immerhin sind diese Kohlensäuremengen noch
groß genug, um bei der Aufschließung der Boden-
nährstoffe eine bedeutsame Rolle spielen zu können,
und sicherlich gewinnen sie noch dadurch an Be-
deutung, daß sie den Kohlensäuregehalt der über
dem Boden liegenden Luftschicht erhöhen und
damit die Assimilationstätigkeit der Pflanzen
fördern.
In neuerer Zeit aber wird entschieden die Be-
496
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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deutung der Bodenkohlensäure überschätzt. Nicht
angängig aber ist es, wenn den Landwirten be-
züglich der Kohlensäureversorgung der Pflanzen
Maßregeln anempfohlen werden, die einer be-
wiesenen und erprobten Grundlage entbehren.
Unter den kohlensäuregebenden Substanzen
im Boden macht entschieden die Zellulose den
Hauptteil aus. Große Mengen davon werden teils
als Ernterückstände, teils in Form von Grün- und
Stallmistdüngung jährlich dem Boden einverleibt.
An ihrem Abbau beteiligen sich die verschiedensten
Organismen, sowohl Pilze (76) wie auch Aktino-
myceten {jy) und Bakterien. Den ersten Ein-
blick in das Leben der Zellulosebakterien haben wir
durch die Untersuchungen von Omelianski (78)
bekommen. Omelianski hat 2 verschiedene
Arten aufgefunden, die beide anaerob leben; die
eine Art bildet bei der Zersetzung der Zellulose
außer Fettsäuren und Kohlensäure noch Wasser-
stoff, die andere noch Methan. K e 1 1 e r m a n (79)
jedoch schreibt die Bildung von Wasserstoff und
Methan nicht den Zellulosebakterien, sondern bei-
gemischten Begleitbakterien zu. Außerdem be-
richtet dieser amerikanische Forscher von der
Auffindung einiger aerob lebender Zellulosezer-
setzer, was aber von anderer Seite (80) bezweifelt
wird. Gleichwohl ist anzunehmen, daß im Acker-
boden der Abbau der Zellulose in erster Linie
durch aerobe Organismen ausgeübt wird. Denn
es ist ein durch praktische Erfahrung erprobtes
Gebot, die Stallmist- und Gründüngung nur so-
weit unterzupflügen, daß der Luftzutritt ein unge-
hinderter ist. Um die Zersetzung im günstigen
Sinne zu fördern, muß man deshalb nasse Böden
entwässern und schwere kalken. Denn Kalk be-
günstigt die Entstehung der Krümelstruktur des
Bodens und erleichtert somit den Luftzutritt.
Gleichzeitig bindet er die bei der Zersetzung
entstehenden Säuren und schafft eine für das
Bakterienleben günstige Reaktion. Auf leichten
Sandböden hingegen, die ja nicht an Luftmangel
leiden, muß man mit einer Kalkdüngung vor-
sichtig zu Werke gehen. Die Anwendung von
Ätzkalk ist zu vermeiden, da sonst der Abbau
der organischen Stoffe zu rasch und zu radikal
verläuft und infolgedessen nur zu einer mangel-
haften Bildung von Humus führt.
Die Humusbildung aber ist für den Boden
von größter Bedeutung; denn der Humus ist der
Regulator für den Wasser- und Nährstoffhaushalt
des Bodens, und somit ein indirekter hervorragen-
der Förderer des Pflanzenwachstums. Er trägt in
hohem Maße bei zur Herstellung der Ackergare,
jenes lockeren, krümeligen und elastischen Zu-
standes der Ackerkrume, welche das Ziel jeder
Bodenbearbeitung ist.
Bei der Entstehung des Humus und der Acker-
erde spielen auch die Regenwürmer eine große
Rolle, worauf schon D a r w i n (81) hingewiesen hat.
So sehen wir, daß der Boden kein totes Sub-
strat ist, als was er mit dem bloßen Auge er-
scheint. Leben doch schon in einem Gramm oft
Millionen von Organismen, zertrümmern und bauen
auf und zimmern aus den toten Überresten der
Pflanzen und Tiere Stoffe zurecht, die wieder
neues Leben ermöglichen.
So mannigfaltig auch die von den Bakterien
ausgeführten Vorgänge sein mögen, stets dienen sie
ihnen dazu, ernährend und kraftspendend zu wirken.
Wie das Tier und die Pflanze führen auch die
Bakterien Prozesse aus, auf Grund deren sie
Energie gewinnen und dadurch instand gesetzt
werden, ihre Lebensleistungen zu vollziehen und
den Aufbau ihres Körpers zu vollbringen.
Aufgabe der Forschung ist es, die Lebensvor-
gänge der Bodenorganismen genau kennen zu
lernen, ihr praktisches Ziel aber: Die Bodenbe-
arbeitung bewußt so zu gestalten, daß die günstig
wirksamen Organismen in ihrer Tätigkeit gefördert,
die schädlichen Lebewesen aber gehemmt werden.
Literaturangaben.
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Raubbau. Berlin 1912.
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lin 1914.
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Vgl. auch Löhnis, Handbuch d. landw. Bakteriologie,
1910, S. 573 und Vorlesungen über landw. Bakterio-
logie, 1913, S. 339.
53) Nach Winogradsky, Handbuch der technischen
Mykologie von Lafar. Jena 1907, 3, S. 132.
54) Winogradsky, Centr. f. Bakt., II, 1896, 2. S. 415,
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1899, 5. s. 329-
Omelianski, Centr. f. Bakt., II, 1899, 5, S. 473,
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Omelianski, Centr. f. Bakt., II, 1902, 8, S. 7S5.
55) Ritter. Centr. f. Bakt., II, 1912, 34, S. 577.
Internat. Mitt. f. Bodenkunde, 1912, 2, S. 411.
Fühl. Landw. Ztg., 1912, 61, S. 601.
Christensen, Centr. f. Bakt., II, 1913, 37, S. 414.
Arnd, Centr. f. Bakt., II, 1916, 45, S. 554.
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56) Tacke, Jahrb. f. Moorkultur, 1913, 2, S. I.
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Densch, Landw. Jahrb., 1913, 44, S. 331.
Arnd, Landw. Jahrb., 1914, 47, S. 371 ; 1916, 4g,
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Centr. f. Bakt., II, 1916, 45, S. 554; 1919, 49, S. 1.
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N. F. XX. Nr. 34
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Landw. Jahrb., 1909, 38, S. 319.
Arnd, Centr. f. Bakt., II, 1916, 45, S. 554.
Landw. Jahrb., 1916, 49, S. igi.
65) Hofer, Allgemeine FischereiZtg., 1914, 1915, 1916.
Herrn. Fischer, Fühl. Landw. Ztg., igi4, 63, S. 244.
Centr. f. Bakt., II, 1919, 49, S. 461.
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Lieske, Centr. f. Bakt., II, 1913, 37, S I12.
Geh ring, Centr. f. Bakt., II, 1915, 42, S. 402.
68) Schneidewind, Journ. f. Landw., 1897, 45, S. 173.
69) Pfeiffer u. Lemmermann, Die Landw. Vers.-Stat.,
1900, 54, S. 386.
70) Krüger u. Schneide win d , Landw. Jahrb. 1899, 28,
S. 217; 1901, 30, S. 633.
Gerlach u. Vogel, Centr. f. Bakt., II, igoi, 7, S. 60g.
V, Seelhorst u. F reckmann, Journ. f. Landw., 1904,
52, S. 163.
V. Seelhorst, Journ. f. Landw., 1906, 54, S. 283.
Hiltner u. Peters, Kochs Jahresber., 1906, 7, S. 455.
Lemmermann, Fischer u. Huseck, Die Landw,
Vers.-Stat., 1909, 70, S. 317.
Pfeiffer, Frank, Friedländer u. Ehrenberg,
Mitt. d. Landw. Inst. Breslau, igog, 4, S. 753.
Vogel, Centr. f. Bakt., II, igi2, 32, S. 169.
Bischoff, Journ. f. Landw. 1914, 62, S. I.
V. May, Mitt. d. Landw. Lehrkanzeln f. Bodenkultur,
igi4, 2, S. 440.
Centr. f. Bakt., II, 1916, 44, S. 413.
71) Kryopoulus, Centr. f. Bakt, II, 1917, 47, S. 645.
Stoklasa, Centr. f. Bakt., 11, igii, 2g, S. 385.
Sewerin, Centr. f. Bakt., II, igio, 28, S. 561.
Centr. f. Bakt., II, igi2, 32, S. 498.
Duschetkin, Centr. f. Bakt., II, 1912, 33, S. 379.
Skalkij, Centr. f. Bakt., II, 1920, 50, S. 189.
72) Bassalik, Centr. f. Bakt., II, 1913, 37, S. 104.
Centr. f. Bakt., II, 1913/1914, 39, S. 154.
Centr. f. Bakt., II, 1914, 40, S. 193.
73) Löhnis, Vorlesungen über landw. Bakteriologie. Ber-
lin 1913, S. 349.
74) Stoklasa, Centr. f. Bakt., II, 1911, 29, S. 503.
75) Pfeiffer, Fühl. Landw. Ztg., 1920, 69, S. 361.
76) Vanlterson, Centr. f. Bakt., II, 1907, 11, S. 6S9.
Mütterlein, Centr. f. Bakt., II, 1914, 39, S. 167.
77) Krainsky, Centr. f. Bakt., II, 1914, 41, S. 649.
78) Omelianski, Centr. f. Bakt., II, igo2, 8, S. 193;
1904, II, S. 369; 1904, 12, S. 33.
79) Kellerman u. McBeth, Centr. f. Bakt., II, 1912, 34,
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80) Omelianski, Centr. f. Bakt., II, 1913, 36, S. 472.
H. Pringsheim, Mitt. d. Deutsch. Landw. Ges., 1913,
28, S. 296.
Angew. Bot., 1920, 2, S. 217.
Vgl. auch Rippel, Angew. Bot., tgig, I, S. 78; 1920,
2, S. 222.
81) Darwin, Die Bildung der Ackererde. Deutsch von
Carus. 1882.
[Nachdruck verboten.]
Eine uralte Kochsalzgewinuung in Mexico.
Von Prof. Dr. Karl Reiche.
Mit 3 Abbildungen.
Einige Kilometer nördlich von der Stadt
Mexico, am Südfuße der malerischen Sierra de
Guadaloupe und am Rande einer sumpfigen, in der
Regenzeit mehr oder minder von leicht salzhalti-
gem Wasser überfluteten Niederung liegt das Dorf
Zacatenco, dessen niedrige, lehmfarbige Häuser
wahrlich nicht die Aufmerksamkeit des Reisenden
auf sich lenken; eher schon die aus alter spani-
scher Kolonialzeit herstammende Wasserleitung,
deren zahllose Bogen den wasserführenden Kanal
auf ihrer Wölbung tragen. Was aber den Blick
des Beobachters am meisten fesselt, sind verschie-
den hohe, hier und da in der Niederung verstreute
und auch wohl in das Dorf hineinreichende Hügel,
die aus trockenem Schlamm bestehen und durch
massenhaft in ihnen vorhandene Topfscherben
einen künstlichen Ursprung verraten. Gelegent-
lich sieht man ein verlassenes oder noch bewohn-
tes Häuschen auf ihrem Gipfel. Jeder Ausflug in
jene Gegend legte mir die Frage nach ihrer Her-
kunft nahe; waren es die Sockel von Häusern,
welche in den früher vorhandenen, weit umfäng-
licheren See hinaus gebaut waren? Dagegen
sprach das lehmige Material, welches vom Wasser
unfehlbar zerweicht und fortgespült worden wäre.
Sie als stehengebliebene Reste einer früheren,
höheren Bodenbedeckung betrachten zu wollen,
verwickelte in noch größere Widersprüche — aber
was waren sie in Wirklichkeit ? Die Schwierigkeit
wuchs, als ich ähnliche Bildungen in einem ande-
ren Dorfe derselben Gegend sah, wo gegenwärtig
überhaupt keine Wasserflächen vorhanden sind.
Das Rätsel fand seine unerwartete Lösung, als
eine meiner pflanzengeographischen Exkursionen
mich in das wenige Kilometer weiter östlich,
nach dem Texcoco-See zu gelegene Dorf Aragon
führte; dort stellte sich heraus, daß jene künst-
lichen Hügel zu einer sehr altertümlichen Salz-
gewinnung in Beziehung standen, wie sie dort bis
auf den heutigen Tag noch üblich ist und auch
noch anderwärts um den See herum betrieben
wird. Da mit zunehmender Trockenlegung dieser
Wasserfläche die dortige Salzindustrie über kurz
oder lang aufhören wird, so ist es vielleicht von
Interesse, sie in Wort und Bild zu überliefern
(Abb. i).
Zum Verständnis des Folgenden möge zunächst
auf die geographische Tatsache hingewiesen wer-
N. F. XX. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
499
den, daß die Stadt Mexico in der abflußlosen 'S!
Hochebene von Anahuac liegt, und daß die stehen- -*
den Gewässer solcher Gebiete mehr oder minder
salzhaltig sind. In früheren Jahrzehnten und Jahr-
hunderten waren die gewaltigen Wassermassen der
in regenreichen Zeiten stark vergrößerten Seen
eine schwere Gefahr für die Stadt Mexico, und
legten schon frühe den Gedanken an eine künst-
liche Entwässerung nahe. Sie wurde (nach
Terrys Reiseführer durch die Republik Mexico)
bereits 1607 von dem portugiesischen Wasserbau-
ingenieur Enrico Martinez in Angriff genom-
men, aber erst unter der glanzvollen Regierung
des Präsidenten Porfirio Dia z im Jahre 1900
nach mancherlei Fährlichkeiten beendet, und zwar
Abb. I. Künstlicher Hügel aus ausgelaugter Salzerdc
im Dorfe Aragon.
in der Form des ca. 6,5 km langen Tajo (= Kanal)
de Nochistongo, durch welchen das Hochtal von
Mexico, durch Vermittlung verschiedener Flüsse,
nach dem Atlantischen Meere abwässert. In frühe-
ren Zeiten, bevor jener künstliche Abzugsgraben
vorhanden war, mag das Wasser der großen Seen
salziger gewesen sein als heute, obwohl ein leichter
Salzgehalt auch heute noch wahrzunehmen ist,
einmal an der Zusammensetzung der betreffenden
Flora, und dann an der Durchsetzung des aus-
trocknenden Seebodens mit salzigen Ausscheidun-
gen. Damit aber sind wir wieder bei unserem
eigentlichen Thema angelangt. Denn diese salz-
haltige, trockene Erde ist das Rohmaterial für die
nunmehr zu schildernde Salzfabrikation. Es wird
während der trockenen Jahreszeit in der Umgebung
des Texcoco-Sees gegraben, in Säcke gefüllt und
auf dem Rücken von Eseln in das Dorf Aragon
überführt; das ist ein reizloser Ort, dessen lehm-
farbige Häuser sich kaum vom lehmigen Boden
abheben. Dort wird die Masse zu Pulver zer-
kleinert. Unterdessen hat man daselbst trichter-
förmige Gruben (pilas) im Boden ausgehöhlt, ein-
zeln oder mehrere nebeneinander, die etwa i m
Durchmesser und 0,5 m Tiefe haben. Sie er-
innerten mich an riesig vergrößerte Fanggruben
von Ameisenlöwen, wie ich sie vor Jahrzehnten
in der Dresdener Heide aufgespürt habe. Im
Boden des Trichters befindet sich eine, durch ein
Büschel Agavefasern siebartig verengte Ausfluß-
öffnung, die in einen horizontal verlaufenden,
fingerdicken, hohlen Rohrhalm führt. Da die
Stelle, wo die Gruben angelegt sind, nach der
einen Seite senkrecht abfällt, so kommt hier das
Rohr zutage und ragt einige Zentimeter weit her-
vor; unterhalb seiner Mündung steht ein halb in
den Boden eingegrabener, irdener Topf; ist die
Vorrichtung außer Betrieb, so ist er, um das
Hineinfallen von Erde usw. zu verhüten, zuge-
deckt (Abb. 2, 3). Soll nun die Herstellung
des Kochsalzes in Angriff genommen werden, so
beschickt man die Trichtergruben mit der ge-
mahlenen Erde und rührt sie mit Wasser an ; die
Salzlösung filtriert durch den Agavefaserptropfen
in das horizontale Rohr und von diesem, tropfen-
weise und als leicht gelbliche Flüssigkeit, in den
untergestellten Topf. Ist dieser gefüllt, so wird
er ins Haus des Fabrikanten gebracht und sein
Inhalt in eine flache, auf Steinen über Feuer
stehende, rechteckige Blechpfanne (paila) gegossen.
Jenes ,Haus' ist eine fensterlose Lehmhütte, deren
Tür Licht und Luft ein- und den Rauch des
Feuers ausläßt; sie ist von den Bewohnern und
gelegentlich auch von deren Hühnern bevölkert;
der Aufenthalt in dem beißenden Rauche des
Holzfeuers ist für den Ausländer keine Annehm-
lichkeit. Der Inhalt der Pfanne wird nun zum
Sieden erhitzt; der dabei reichlich auftretende
gelbliche Schaum, der die Unreinigkeiten des
Rohmaterials enthält, wird fleißig abgeschöpft, und
schließlich fällt das tadellos weiße, kristallinische
Kochsalz aus, welches ein in der Umgegend gut
gehender Marktartikel ist. Beim Abscheiden dieses
Salzes bleibt eine Mutterlauge zurück, die noch
Natronsalpeter und kohlensaures Natron enthält.
— Schließlich sei berichtet, daß die ausgelaugte
Erde, bzw. der Schlamm, aus den Trichtern ent-
fernt und in nächster Nähe, wo er nicht stört,
aufgehäuft wird. Bedenkt man, daß sich dies
Verfahren vielfach, Jahr für Jahr, Jahrzehnte für
Jahrzehnte, wiederholt, so begreift man, daß sich
schließlich jene Hügel und Wälle bilden müssen,
von denen eingangs als von etwas Unbegreiflichem
die Rede war. In diese trockenen Schlammhügel
können später, nach Bedarf, von neuem Trichter-
gruben ausgegraben werden.
Soo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 34
*■ ^^'
Abb. 2 und 3. Örtlichkeiten im Dorfe Aragon, wo die Trichtergruben zu sehen sind.
Bücherbesprechungen.
Kammerer, Paul, Über Verjüngung und
Verlängerung des persönlichen
Lebens. Stuttgart und Berlin 192 1, Deutsche
Verlagsanstalt.
Nur mit einigem Widerstreben gehe ich an
eine kurze Besprechung dieser Flugschrift heran,
deren Notwendigkeit mir auch aus den 6 von
dem Verf. angeführten Gründen nicht einleuchtet
Wenn Steinachs neue Forschungen über „Ver-
jüngung" — diese bilden den wesentlichen Inhalt
der 54 Seiten starken Schrift — , sich in irgend-
einer Form bewähren, so wird es nicht des super-
lativ-optimistischen Beifalls des Verf. bedürfen.
Aber noch stehen diese Forschungen, was Theorie
und Praxis betrifft, im Stadium der wissenschaft-
lichen Aussprache. Wenn manche schwerwiegenden
Einwände auch vielleicht nicht ganz beseitigt
werden, so kann immer noch Brauchbares
übrig bleiben. — Aber warum immer wieder
neue Broschüren, in denen nichts Neues steht?
N. F. XX. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
501
— Was Verf. über Verjüngung von niederen
Tieren und Pflanzen schreibt, muß ich in diesem
Zusammenhange als unwissenschaftlich bezeichnen.
Das wiegt nicht leichter, sondern im Gegenteil
schwerer in einem allgemeinverständlichen Auf-
satz, der die vorliegende Schrift doch sein soll,
da sie aus einem Vortrag in einem Volksbildungs-
verein hervorgeht. Wenn Verf. aber in einem
Volksbildungsverein mit den Gegnern Steinachs
in derselben Weise abrechnete wie in dieser Schrift,
so ist das zu verurteilen. Wissenschaftliche Pole-
miken gehören überhaupt nicht in einen Volks-
bildungsverein. — Ich rate jedem, der sich
durchaus über die Verjüngungsangelegenheit
unterrichten will, das Buch Steinachs selbst
zur Hand zu nehmen und nicht den Panegyricus
Kammerers. Er dient auch nur dem Tages-
bedarf, wie es der Verf. anderen derartigen Bro-
schüren mit Recht vorwirft; ob auch in „begreif-
licher Ausnützung der Konjunktur?"
Huebschmann (Leipzig).
Wiegers, Fritz, Diluvialprähistorie als
geologische Wissenschaft. Abhandl. d.
Preuß. geol. Landesanstalt N. F. 84. 210 S.
mit 68 Abb. Berlin 1920. 19,50 M.
Der durch zahlreiche Arbeiten zur Diluvial-
archäologie bekannte Landesgeologe Wiegers
legt in der vorliegenden Schrift eingehend dar,
wie Geologie und Prähistorie aufeinander ange-
wiesen sind und einander ergänzen können. Seine
Ausführungen bieten im Grunde genommen ein
vollkommenes Handbuch der Diluvialarchäologie.
W. beginnt mit einer kurzen Geschichte der Dilu-
vialarchäologie, um die wechselseitigen Einflüsse
der Geologen und Prähistoriker auf die Entwick-
lung dieser Wissenschaft festzustellen. Dann folgt
eine eingehende Darstellung und Kritik des
französischen Chronologieschemas. Als Grund-
lagen für die Stratigraphie geologischer Schichten
in Frankreich galten besonders drei Fundgebiete:
die quartären Ablagerungen des Meron bei Marignac
(Gironde), die Garonneterrassen zwischen den
Pyrenäen und Toulouse und die Ablagerungen
der Somme bei Amiens und Abbeville. Von
diesen drei Fundgebieten hat nach W. zunächst
einmal das erstere auszuscheiden, da die Horizon-
tierung der Schichten, aus denen auch jegliche
Fauna fehlt, vollkommen unsicher ist. In der
Deutung der Garonneterrassen weicht W. z. T.
von den durch B o u 1 e und Obermaier ver-
tretenen Ansichten ab. Nach W.s Schlußfolge-
rungen fällt die Obermai ersehe dritte Terrasse
nicht in die dritte Eiszeit, sondern in die zweite
Eiszeit der Pyrenäen, und wenn man das Argu-
ment Obermaiers, daß das Acheuleen älter
sein müsse als die von ihm gemiedenen Terrassen,
auf die richtig erkannten Verhältnisse anwendet,
so kann das Acheuleen nur in den Zeitraum der
vorletzten Zwischeneiszeit oder der vorletzten Eis-
zeit fallen. Das dritte Fundgebiet, die Ablage-
rungen der Somme, ist deswegen von besonderer
Wichtigkeit, weil die dortigen diluvialen Terrassen
durch ihre Überlagerung mit älterem und jüngerem
Löß gegenwärtig das einzige Bindeglied zwischen
dem deutschen und dem französischen Diluvium
bilden. Die drei Sommeterrassen gliedert W. in
der Weise, daß er die oberste Terrasse in das
Präglazial setzt; sie enthält keine Artefakte. Die
mittlere Terrasse fällt in den Anfang der ersten
Interglazialzeit ; sie läßt in den Artefakten eine
Entwicklung des Chelleen von den frühesten An-
fängen an erkennen. Die untere Terrasse gehört
nach W. in die letzte Zwischeneiszeit. Die in
ihr enthaltenen Artefakte sollen nach dem franzö-
sischen Forscher C o m m o n t ein Chelleen evolue
darstellen. Diese Deutung ist aber sicher falsch.
W. macht es vielmehr wahrscheinlich, daß es sich
um ein Zusammenvorkommen von Acheuleen-
und Mousterientypen handelt. Nach dieser Ana-
lyse der französischen Stratigraphie geht W. auf
die Gliederung des deutschen Diluviums über. Er
gibt zunächst einmal eine chronologisch geordnete
Liste von Funden, deren Stratigraphie in der geo-
logischen Literatur hinreichend bekannt und im
allgemeinen sicher begründet ist. Daran reiht
sich dann eine Reihe von Funden, deren Strati-
graphie noch ungeklärt ist. All diese strati-
graphischen Erkenntnisse verarbeitet W. zu einem
ausführlichen Abriß der prähistorisch-typologischen
Gliederung für Deutschland. W. bietet dabei für
die bisher nach den französischen Fundorten be-
nannten Perioden gut deutsche Namen. Über
diese und über verschiedene andere Einzelheiten
gibt am besten die nachstehende Tabelle einen
Überblick.
Frankreich
Deutschland
Eolithikum
Praechelleen
Chelleen
Unteres Acheuleen
Oberes Acheuleen
Unteres Mousterien
Oberes Mousterien
Aurignacien
Solutreen
Magdalcnien
Azilien. Tardenoisen
IVor-Faustkeil Stufe
Halberstädter Stufe
Hundisburger Stufe
Markkleeberger Stufe
Weimarer Stufe
Sirgensteiner Stufe
Willendorfer Stufe
Predmoster Stufe
Thainger Stufe
Ofneter Stufe
Eiszeitschema
Präglazial, erste
Eiszeit
Anfang] der ersten
Mitte ; Zwischen-
Ende J eiszeit
2. Eiszeit
2. Zwischeneiszeit
Anfang | ^^^
Erste Hälfte (letzten
ZweiteHälftef Eis-
desgl. J ""
Postglazial.
Der Schlußabschnitt beleuchtet das sachliche
Verhältnis der Geologie zur Prähistorie im allge-
meinen. In diesen Schlußabschnitt sind zwei
größere Unterabschnitte hineinverflochten. Der
eine von ihnen behandelt unsere gegenwärtige
Kenntnis von den Siedelungen und Wanderungen
der Altsteinzeitmenschen. W. tritt hier vor allen
Dingen der Frage nach der Abhängigkeit des
Diluvialmenschen vom Boden, auf dem er lebte,
näher, und weist dabei auf die große Wichtigkeit
der Geologie der Rohmaterialien hin. In einem
zweiten Abschnitt werden einige Fehler der prä-
historischen Bestimmungsmethoden besprochen.
Der ganze fünfte Abschnitt betont noch einmal
502
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 34
zusammenfassend die Wichtigkeit der Geologie
als Grundlage der Wissenschaft vom fossilen
Menschen. Dabei erklärt W. wiederum die ganze
Diluvialprähistorie als eine geologische Disziplin.
Ich habe bereits früher einmal In dieser Zeit-
schrift (N. F. 14, 191 5, S. 705 ff.) auf die Unhalt-
barkelt einer derartigen Ansicht hingewiesen und
halte meine dort ausgesprochene Anschauung auch
gegenüber diesem neuerlichen Vorstoß vollkom-
men aufrecht. Am Schluß seines Buches erhebt
W. die Forderung, die geologischen Landes-
anstalten möchten eine eingehende Berücksichti-
gung der Diluvialprähistorie bei der Landes-
aufnahme veranlassen, und, wenn möglich, die
Errichtung eines besonderen Forschungsinstitutes
für Diluvialprähistorie In Angriff nehmen. Beide
Forderungen können wir nur auf das wärmste
befürworten. IVlöchte das Buch recht vielen Geo-
logen eindringlich die Bedeutung der Diluvial-
prählstorle vor Augen führen; durch eigene Be-
obachtungen im Gelände, auch für die anderen
Perloden der Prähistorie (z. B. IVIoorgeologie,
Frage der Küstenbildung usw.) würden sie sowohl
der Geologie als der Prähistorie außerordentlich
viel neue Erkenntnisse zuführen können. Die
größte Förderung würde natürlich ein besonderes
Forschungsinstitut bedeuten, in dem alle diese Be-
obachtungen zusammenfließen und von dem aus sie
dann weiter verfolgt werden können. So ist be-
reits in Frankreich ein derartiges Institut ge-
schaffen, und Spanien ist ihm darin gefolgt. Will
man in Deutschland durchaus den romanischen
Ländern auf diesem Gebiet die Führerrolle über-
lassen ?
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Potonids Lehrbuch der Paläobotanlk.
2. umgearbeitete Auflage von Prof. Dr. W.
Gothan. Mit Beiträgen von San.- Rat Dr. P.
Menzel und Dr. J. Stoller. Mit 326 Abb.
Berlin 1921, Bornträger.
Die I. Lieferung des nunmehr vollständig vor-
liegenden Werkes Ist bereits besprochen worden
(N. F. XIX, Nr. 34), das damals hinsichtlich all-
gemeiner Bedeutung und Ausstattung Gesagte,
gilt auch von den letzten beiden Lieferungen.
Bedauerlich Ist, daß Verf. die ausländische Lite-
ratur der letzten Jahre nur noch zum Teil berück-
sichtigen konnte. Z. B. bei den Calamariaceen
wäre dies sehr erwünscht gewesen. Aber das
Manuskript war ja längst druckfertig abgeschlossen.
So konnte manches nur in die Schlußbetrachtun-
gen aufgenommen werden, wie die wichtigen
jüngsten Aufschlüsse über die Devonpflanzen
(Rhynia, Hornea). Eingehend werden die Cyca-
dophyten mit ihren z. T. an Angiospermen er-
innernden Blüten und Samen behandelt, ein Ver-
gleich mit den Gnetaceen wäre hier vielleicht am
Platze gewesen. Verf führt den systematischen
Teil bis zu den Koniferen, wobei in einem be-
sonderen Abschnitt auch die Hölzer behandelt
werden. Im Gegensatz zu allen bisherigen Lehr-
büchern der Paläobotanlk — wenn wir von
Schenks Handbuch absehen — schließt das
Buch damit nicht. Auf etwa 60 Seiten gibt
Menzel eine gedrängte Übersicht der fossilen
Blütenpflanzen, wodurch das Buch für den Bota-
niker an Wert gewinnt. Spätere Untersuchung,
gestützt auf die Revision der „klassischen" Tertiär-
floren wird hier allerdings noch viel Zweifelhaftes
auszuscheiden haben. Stoller gibt einen Über-
blick über die Quartärflora. Er deutet die Flora
von Tegelen im Niederrheingebiet als Interglazial.
Danach hätte also die Tertiärflora in ihrer typi-
schen Zusammensetzung {Magnolien, Sequoia,
Vifis, Taxothmn) die erste Vereisung überlebt,
eine Anschauung, die noch keineswegs allgemein
geteilt wird.
Von besonderem Interesse sind die Schluß-
betrachtungen, in denen Gothan, gestützt auf
eine reiche Einzelkenntnis, die Floren der einzelnen
Perioden zusammenfassend charakterisiert. Trotz
der großen Lückenhaftigkeit des Materials ergeben
sich interessante Ausblicke auf die Pflanzengeo-
graphie früherer Erdperioden sowie die Ökologie
ihrer Floren. Ein kurzer Überblick der verschie-
denen Anschauungen über die Phylogenle des
Pflanzenreichs und einige historische Angaben
machen den Beschluß.
Im Verein mit dem Literaturverzeichnis, das
vielleicht noch ausführlicher hätte sein können,
ergibt dies alles eine im ganzen recht lückenlose
Übersicht über das Gebiet, wie man sie von
einem „Lehrbuch" verlangen muß.
Bei einer Neuauflage dürfte es auch möglich
sein, einige sprachliche Härten zu beseitigen, die
sich wohl aus der Notwendigkeit erklären, daß in
ein schon fertiges Manuskript Nachträge einge-
schoben werden mußten.
Kräusel (Frankfurt a. M.).
Gothan, W. , Paläobotanlk. Mit 28 Abbild.
Sammlung Göschen 828. Berlin -Leipzig 192O,
Verein, wissensch. Verl.
Gleichzeitig mit dem Lehrbuch erscheint diese
kurze, gedrängte Übersicht der Ergebnisse paläo-
botanischer Forschung. Die Anordnung ist die
gleiche, an die systematischen Kapitel schließen
sich Betrachtungen aus der Pflanzengeographie
früherer Erdperioden. In einem geschichtlichen
Überblick werden auch einige Literaturhinweise
gegeben für den, der tiefer in das Gebiet eindringen
will. So dürfte auch dieses Göschenbändchen
seinen Zweck, das Interesse an den Ergebnissen
der Forschung in weitere Kreise zu tragen, gut
erfüllen. Die meist nach Wandtafeln angefertigten
Bilder geben manche Objekte doch wohl etwas
zu klein und undeutlich wieder.
Kräusel, Frankfurt a. M.
Scott, D. H., Studies in Fossil Botany.
3'' ed. I. Pteridophyta. London 1920, Black.
Die „Studies" des englischen Paläobotanikers
bilden eine unentbehrliche Grundlage für jeden,
N. F. XX. Nr. 34
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
503
der paläobotanisch arbeiten will. Die Eigenart
des Buches besteht in der vergleichend anato-
mischen Betrachtungsweise, der sich alles andere
unterordnen muß. Die Fortschritte, die die letzten
Jahre hinsichtlich der anatomischen Untersuchung
der fossilen Pflanzen gebracht haben, sind be-
trächtlich, nicht zuletzt ist daran Scott selbst
beteiligt. Auch wer der Einführung der ver-
gleichenden Anatomie zur Lösung phylogenetischer
Fragen (Stelärtheorie) zweifelnd gegenübersteht,
wird zugeben müssen , daß sie trotz manchen
Falschen und Voreiligen höchst befruchtend ge-
wirkt hat. Dies kommt in fast allen Kapiteln
zum Ausdruck, die im Vergleich zur 2. Auflage
erhebliche Umgestaltungen erfahren haben. Dies
gilt namentlich für die Farne. Ein ganz neuer
Abschnitt behandelt die Psilophytales, jene eigen-
tümliche devonische Pflanzengruppe, deren nähere
Kenntnis wir namentlich Halle, Kidston und
Lang verdanken (vgl. den Aufsatz von R. Po-
tonie in Heft 52, 1920). Die Ergebnisse ihrer grund-
legenden Untersuchungen sind hier zum ersten
IVlale ausführlich zusammengefaßt. Zahlreiche,
zum großen Teile neue Abbildungen in vorzüg-
licher Ausführung erläutern den Text.
HofifentHch schließt sich auch Band II bald an,
für den ja auch, z. B. bei den Gymnospermen,
manche Erweiterungen zu erwarten sind.
Kräusel (Frankfurt am Main).
Hauser, O., Ins Paradies des Urmenschen.
Fünfundzwanzig Jahre Vorweltforschung. 263 S.
18 Taf. Hamburg und Berlin 1920, Hofifmann
und Campe. Geb. 25 M.
In dem vorliegenden Buche versucht der
Schweizer Archäologe O. Hauser über sein
Lebenswerk einen Überblick zu geben, von seinen
ersten archäologischen Studien und seinen ersten
Hügelgräbergrabungen an bis zu seiner Grrabung
in Vindonissa und seiner mehr als 20jährigen
Arbeit in Südfrankreich, die ihn, vor allen Dingen
durch die Entdeckung des Homo Mousteriensis
im Jahre 1908, in den weitesten Kreisen bekannt
gemacht hat. Zwar pflegt man gewöhnlich als
46jähriger sein Lebenswerk noch nicht zu über-
blicken — oder wenigstens nicht zusammenfassend
darzustellen, auch dann nicht, wenn man in die-
sem Alter bereits auf eine 25jährige Tätigkeit
auf einem bestimmten Gebiete zurückblicken
kann. Aber einmal liegen in dem Falle Haus er
die Verhältnisse insofern anders, als sein schweres
Lebensschicksal — obwohl schweizerischer Staats-
angehöriger wurde er zu Beginn des Krieges aus
seiner langjährigen Arbeitsstätte in Südfrankreich
vertrieben und sein Besitz sequestriert — zu einem
derartigen abschließenden und zusammenfassenden
Überblick herausforderte. Ohne Zweifel hat dieses
Lebensschicksal H. manche Sympathie verschafft.
Durch das vorliegende Buch dürfte er jedoch ein
gut Teil derselben wieder verscherzen. Denn zu
offensichtlich geht durch dieses . Buch das Ver-
langen, aus diesem Lebensschicksal möglichst viel
Kapital herauszuschlagen. Das ganze Buch ist
vollständig auf belletristische Gesichtspunkte ein-
gestellt, in ungemein anziehender und fesselnder
Darstellung berichtet uns H. von den Ergebnissen
seiner Ausgrabungen, läßt uns einen Einbhck in
die Technik dieser Grabungen tun, erklärt uns
den Entwicklungsgang der Werkzeuge der Alt-
steinzeitmenschen und versucht das Leben dieser
Urmenschen zu rekonstruieren. Dabei findet sich
manche köstliche Anekdote über die Freuden und
Leiden des Ausgräbers, aus seinen Erlebnissen in
Südfrankreich usw. Wenn für die Altsteinzeit auf
diese Weise ein größerer Interessentenkreis ge-
wonnen wird, kann das der Wissenschaft ja nur
recht sein. Trotzdem wird diese nicht umhin
können, gegen einen Punkt in dem H.schen Buche
ganz energisch zu protestieren, nämlich gegen die
Art und Weise, wie H. seine Gegner behandelt.
H. begnügt sich nämlich nicht, diese mit An-
griffen zu überschütten, sondern er schreckt dabei
weder vor sachlicher Entstellung noch vor per-
sönlicher Verunglimpfung zurück. All diese An-
griffe haben nur das eine Ziel, Mitleid für den
schwergekränkten und verfolgten H. zu erwecken,
all seine Gegner (und zu diesen Gegnern gehören
fast alle Forscher, die auf dem Gebiet der Dilu-
vialarchäologie irgendwie gearbeitet haben) herab-
zusetzen und dadurch die Persönlichkeit H.s nur
an Bedeutung gewinnen zu lassen. Wer sehen
kann, vermag sich von selber ein Urteil darüber
zu bilden, wer wirklich die Wissenschaft als solche
vorwärts gebracht hat, — H. oder seine Gegner.
Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt.
Rivista di Biologia, herausgegeben von G. B r u -
nein und O. Polimanti. Bd. 2, 712 Seiten.
Rom 1920, G. Bardi.
Die Ziele, die sich die Herausgeber gesteckt
haben, und die Wege, auf denen sie sie zu ver-
wirklichen streben, sind an dieser Stelle (N. F.
Bd. XIX, S. 411, 1920) bereits gekennzeichnet
worden. Der zweite Band der Rivista übertrifft
den ersten an Umfang und Reichhaltigkeit des
Inhalts. Der Aufgabe, die Einzeldisziplinen zu
gemeinsamer Arbeit zu vereinigen und die inter-
nationale Wissenschaft durch Anknüpfung neuer
und Festigung alter Beziehungen zu fördern, wird
weiter mit schönem Eifer gedient.
Von Originalarbeiten sei zuerst G r a s s i s Ein-
leitung zur Vorlesung über Vergleichende Ana-
tomie genannt, um die als Lehrfach der Mediziner
auch in Italien wie bei uns der Kampf entbrannt
ist. Der ausgezeichnete Zoologe teilt zugleich
den Verteilungsplan seines Kollegs mit, das in
69 eineinhalbstündigen Lektionen und 30 Demon-
strationsstunden eine wohlgeordnete Allgemeine
Zoologie auf vergleichend - anatomischer Grund-
lage bietet. Weiter seien genannt: J. S. S zy-
ma nski über Aktivität und Ruhe bei Tieren (in
deutscher Sprache), C. Artom über genetische
Studien, A. Russo über den Stoffwechsel der
Säugetiereier, O. P o 1 i m a n t i über den Atmungs-
504
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 34
rhythmus der Fische, E. Giglio-Tos über die
Faktoren der Entwicklung, C. Frarnja über
Krankheitserreger, M. Rappini über die anato-
mischen Grundlagen des Muskelsinns (worauf eine
Entgegnung von Th. Cipollone folgt), G. C a m -
p a n i 1 e über Orobauche , G. S e r g i über fossile
Menschen, B. Longo über Parthenokarpie.
Zusammenfassende, kritische Übersichten wer-
den über Gewebekulturen und zytologische Fragen
gegeben.
Neben vollständigen italienischen Bibliographien
sind die Besprechungen der internationalen Lite-
ratur wertvoll, die die Aufmerksamkeit auf man-
ches, jetzt leicht übersehbare Werk lenken. Das
Gleiche gilt für die internationalen wissenschaft-
lichen Bewegungen und Maßnahmen auf Kon-
gressen und in Instituten. Gegen die sog. inter-
alliierten Veranstaltungen nimmt die Rivista Stel-
lung.
Im biographischen Teil sind folgenden Deutschen
Nachrufe gewidmet: den Zoologen Bütschli und
Eisig, dem Botaniker Pfeffer und dem Ana-
tomen Fürbringe r. J. Schaxel, Jena.
Bloch, W., Einführung in die Relativi-
tätstheorie. (Aus Natur und Geisteswelt
Nr. 6i8.) 2. Auflage. Leipzig u. Berlin 1920,
B. G. Teubner.
Auf die I. Auflage des Bändchens wurde in
dieser Zeitschrift hingewiesen, es wurde die klare
Darstellungsweise hervorgehoben und warm emp-
fohlen. Die 2., nun schon nach 2 Jahren er-
schienene Auflage ist gegen die i. wenig ver-
ändert. Der Abschnitt über Masse und Energie
ist etwas umgearbeitet, die Besprechung der Rot-
verschiebung der Spektrallinien in dem Abschnitt
über die allgemeine Relativitätstheorie etwas aus-
führlicher gefaßt. Valentiner.
Anregungen und Antworten.
Noch ein Wort zum „Kreislauf" des irdischen Wassers.
Die ganz auf irrigen Voraussetzungen beruhenden Auslassun-
gen Prof. Nölkes in Nr. 21 zwingen mich um der Klärung
des Tatbestandes willen zu folgender Richtigstellung seiner
sechs Einwände.
1. Ein kosmisches Eisgeschoß kann nicht wie ein metal-
lisch-erdiges Meteor die Lufthülle durchschlagen und durch-
beulen, sondern zersplittert naturgemäB in zahllose Stücke —
bei loo m Durchmesser des Eindringlings in über loo Milli-
arden Brocken von Nufigröße, die natürlich einen Orkan vor
sich herjagen und eine schmale „Hagelbahn" erzeugen.
2. Daß diese Hagelwolke nicht mit 30 km/sec. in der
Luft weiterschießen kann wie ein festes Meteor kleiner Ab-
messungen, ist klar. Der Sturm ist nur eine andere Form der
anfänglichen Eigengeschwindigkeit.
3. Die ziemlich gleiche Größe der Hagelstücke folgt aus
Zersplitterung , Reibung und Abschmelzung. Es fallen auch
massive Brocken mit ungeheurer Eigenkälte.
4. Die Struktur des „geschichteten" Hagelkorns als all-
gemeine Erscheinung besteht nicht. Die Glazialkosmogonie
behandelt auch gar nicht den rein terrestrischen Hagel , son-
dern nur denjenigen von kosmischer Herkunft, also was Neues.
5. Da „Meteore" etwas grundsätzlich anderes sind als
unsere Kleineiskörper, so sind die Beanstandungen Professor
Nölkes hier ganz gegenstandslos.
6. Es wird leider verschwiegen, daß es glazialkosmogonisch
einen Verlust irdischen Wassers gibt, z. B. bei Vulkanaus-
hauchung von Wasserstoff. Hör biger spricht zudem von
25 cm Ozeanverlust, aber in einem Kopfrech enbeispiel,
und zwar von „möglicherweise auch weniger". Alle
die blendenden Formeln und die Folgerung der Windbeschleuni-
gung sowie der uns angedichteten Folgerung der Zunahme der
Sonnenmasse und Jahresverkürzung sind gegenstandslos ; die
Sonne betr. kennt die Gl.-K. sogar bedeutende Massenver-
luste, die wiederum in der Kritik übergangen werden.
Prof. Nölke nennt unsere Lehre eine „gewaltige Arbeit",
die uns ,, befähigte, die entferntesten Probleme kosmogonischer,
geologischer und meteorologischer Art miteinander zu ver-
knüpfen". Wir danken aufrichtig für diese Meinung und
denken, daß wir damit mehr geleistet haben, als nur zu er-
hoffen gewesen wäre. Phil. Fauth.
Zur Aufklärung.
Die Bemerkungen, welche Herr Prof. F. Nölke in
Bremen und Geh.-Rat Kö ppen in Hamburg zu meinem Auf-
satz „zum Kreislaufprozeß des Wassers" (Naturw. Wochenschr.
d. J. Nr. 6) in dieser Zeitschrift veröffentlicht haben , nötigen
mich zu folgender Erklärung. Durch einen ungenauen und
zweideutigen Ausdruck im Text, den nachträglich zu ver-
bessern nicht mehr möglich war, weil bei einer versuchten
Berichtigung der Aufsatz schon abgesetzt war, haben meine
Ausführungen offenbar den Eindruck erweckt, als stimmte ich
den theoretischen Erörterungen über die Welteiskosmogenie
seitens Hörbiger und Fauth rückhaltlos zu und unter-
striche dieselbe noch. Dies ist keineswegs der Fall.
Mir kam es nur darauf an, dieselben in ihrem Hauptkern dem
Publikum einmal wieder vor Augen zu führen, weil ich aller-
dings der Überzeugung bin, daß in ihnen trotz vieler Schief-
heiten, Unrichtigkeiten und Übertreibungen im einzelnen doch
ein Kern von Wahrheit steckt, der der allgemeinen Beachtung
wert ist. In einem besonderen Aufsatz, der nächstens ver-
öffentlicht wird, werde ich die hauptsächlichsten sachlichen
Irrtümer jener Theorie aufdecken. Immerhin stellen sie doch
einen höchst beachtenswerten Versuch dar, eine Erklärung
dafür zu finden, daß der Wasservorrat der Erde in historischer
Zeit trotz offensichtlicher Abnahme der Wassermenge an der
Erdoberfläche — in diesem Punkte habe ich eine wesentlich
andere Meinung als Koppen — konstant geblieben zu sein
scheint. W. Halbfaß.
Inhalt: H. Wießmann, Die biologischen Vorgänge im Boden. S. 489. K. Reiche, Eine uralte Kochsalzgewinnung
in Mexico. (3 Abb.) S. 498. — Bücberbesprecbungen: P. Kammerer, Über Verjüngung und Verlängerung des
persönlichen Lebens. S. 500, Fr. Wiegers, Diluvialprähistorie als geologische Wissenschaft. S. 501. Potonie,
Lehrbuch der Paläobotanik. S. 502. W. Gothan, Paläobotanik. S. 50z. D. H. Scott, Studies in Fossil Botany.
S. 502. O. Haus er, Ins Paradies des Urmenschen. S. 503. Rivista di Biologia. S. 503. W. Bloch, Einführung
in die Relativitätstheorie. S. 504. — Anregungen und Antwrorten: Noch ein Wort zum „Kreislauf" des irdischen
Wassers. S. 504. Zur Aufklärung, S. 504.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Patz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a, d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganxeo Reihe 36. Bond.
Sonntag, den 28. August 1921.
Nummer 35.
Gesetz und Zufall in der Natur.
Vortrag, gehalten im Naturwissenschaftlichen Verein Kiel am 13. Dezember 1920.
Von Prof. O. Martienssen.
[Nachdruck verboten. 1
Während die Philosophen es sich zur Aufgabe
stellen, alle Naturerscheinungen zu ergründen und
auf einzelne als richtig erkannte Axiome durch rein
logische Überlegungen zurückzuführen, liegt die
Arbeit des Physikers in der Beschreibung der Er-
scheinungen und Ordnung unter bestimmte ein-
fache Gesichtspunkte.
Dieser Unterschied in den Disziplinen macht
es möglich, daß der Zufall, den der Philosoph
kaum anerkennt, dem Physiker als Baustein des
Weltbildes dienen kann , und daß das Studium
der Zufallserscheinungen in der modernen Physik
einen breiten Platz einnehmen kann. Wie
diese letzteren von den Methoden der Physiker
behandelt werden und wie der Gegensatz von
Zufall und Gesetz überbrückt wird, soll in nach-
folgenden Ausführungen an einigen Beispielen
erläutert werden.
Was sollen wir, rein physikalisch aufgefaßt,
unter Zufall verstehen? Nach der Ansicht Spi-
nozas gibt es in der Natur nichts Zufälliges.
„Zufällig wird nach ihm ein Ding nur wegen
unserer mangelhaften Erkenntnis genannt."
Nach Schopenhauer muß ein Ereignis als
zufallig bezeichnet werden, wenn in ihm mehrere
voneinander unabhängige Kausalreihen zusammen-
stoßen, die für sich allein das Ereignis nicht ver-
anlaßt hätten. Es fragt sich indessen, ob es
Kausalreihen gibt, die von Anbeginn an vonein-
ander unabhängig sind. Ist dies nicht der Fall,
so kommt die Erklärung Schopenhauers
ebenfalls auf eine Negierung des Zufalls hinaus.
Sagt er doch selbst: „In der Natur ist alles, was
geschieht, notwendig, denn es geht aus seiner
Ursache hervor; betrachten wir aber das einzelne
Ereignis in Beziehung auf das Übrige, welches
nicht seine Ursache ist, so erkennen wir es als
zufällig."
Er läßt demnach nicht ein Ereignis als solches,
sondern nur das Zusammentreffen zweier Ereig-
nisse als zufällig gelten.
Ganz ähnlich versteht John Stuart Mill
in seiner Logik den Zufall. „Denn, sagt er, es
ist gewiß, daß alles, was geschieht, das Resultat
eines Gesetzes ist, d. h. die Wirkung von Ur-
sachen und nur das Fehlen der Erkenntnis dieser
Ursachen läßt uns ein Ereignis als zufällig er-
scheinen."
Nicht sagt er uns aber, woraus er dieses „ge-
wiß" schließt. Die Behauptung „es gibt keinen
Zufall" ist vielmehr eine Hypothese, die über die
Grenzen der Erfahrung hinausgeht. Sie ist eine
Extrapolation, deren Zulässigkeit nicht bewiesen
ist. Sie mag zur Abklärung eines einheitlichen
Weltbildes, zur Aufstellung eines philosophischen
Systems nützlich sein, sie kann aber einem exakten
Naturforscher, der nur auf experimentelle Beweise
fußt, nicht als Tatsache gelten.
Wir müssen also die Frage, „gibt es einen Zu-
fall in der Natur", zum mindesten offen lassen.
Tun wir dieses, so können wir mit Timer-
ding „ein Ereignis als zufällig bezeichnen, wenn
es nicht aus anderen Ereignissen oder bestimmten
als gegeben anzusehenden Prämissen nach festen
Regeln oder nach bestimmten Vernunftgründen
gefolgert werden kann". Bei einem zufälligen Er-
eignis werden demnach alle erkennbaren Um-
stände, die für das Ereignis in Betracht kommen,
dieses noch nicht bestimmen, vielmehr kann es,
wenn alle diese Umstände erfüllt sind, eintreten
oder auch ausbleiben. Mathematisch ausgedrückt :
die Differentialgleichungen geben trotz Einsetzen
aller erkennbarer Bestimmungsstücke keine ein-
deutige Lösung.
Physikalisch ergibt sich daraus folgende Defi-
nition:
Unendlich kleine, ja auch sehr kleine Größen
und sehr kleine Änderungen von Größen sind
praktisch nicht erkennbar, und als nicht vorhanden
anzusehen — wollten wir anders verfahren, so
wäre keine Physik möglich, da wir dann den Zu-
stand der ganzen unermeßlichen Welt bei jedem
einzelnen Experiment in Rücksicht ziehen müßten;
folglich liegt ein Zufallsereignis vor, wenn winzig
kleine Veränderungen der Prämissen das Ereignis
wesentlich abändern oder in Frage stellen können.
Dieselben Verhältnisse haben wir, wenn eine sehr
große Anzahl gleichwertiger Bestimmungsstücke
das Ereignis bedingen, von denen jedes einzelne
in seiner Größe gegenüber dem Folgeereignis
verschwindend klein ist.
Ein fallender Stein schlägt senkrecht unter der
Abfallstelle am Boden auf: das ist kein Zufall.
Denn die Richtung der Schwerkraft bestimmt
praktisch allein die Auftreffstelle.
Zufall aber ist es, wenn im Herbste ein welkes
Blatt, senkrecht unter der Abfallstelle zu Boden
sinkt. Denn der Fall des Blattes wird von vielen
Umständen in gleichem Maße beeinflußt: Vom
Luftwiderstande, vom Winde, von der Temperatur,
von der Blattform und -große, von seinem Ge-
wicht, seiner Schwerpunktlage usw. Wif sehen
daher die Blätter bald in gestreckter Bahn dahin-
segeln, bald wie ein Raubvogel kreisen, bald in
5o6
Katurwissenscliaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 35
Hast sich fortgesetzt drehen, bald behutsam flat-
tern, wie ein SchmetterHng. Wie sollen wir da
wissen, wohin der Flug in jedem einzelnen Falle
zielt.
Klar ist der Unterschied auch beim labilen
Gleichgewicht: Wenn ich den Federhalter genau
senkrecht auf die Spitze stelle, so ist es gewiß,
daß er umfällt, unbestimmt bleibt aber, nach
welcher Seite er fällt: das hängt vom Zufall ab.
Von Mises sagt, Zufallsereignisse sind da-
durch in der Natur bedingt, daß die Geschehnisse
zwar im allgemeinen regulär im Sinne der mecha-
nischen Differentialgleichungen verlaufen, daß aber
an einzelnen, singulären Zeitpunkten Verzweigun-
gen der regulären Lösung eintreten, an denen der
Ablauf der Ereignisse nicht eindeutig durch die
mechanischen Gleichungen bestimmt ist. Wir
können auch sagen, das Werden der Welt stößt
auf Scheidewege, an denen kein Wegweiser steht
oder gerät gar auf Feldwege, wo jede Richtungs-
angabe fehlt.
Man wird nun geneigt sein zu glauben, daß
jede physikalische Forschung unmöglich wird,
wenn wir in der Physik derartige Verzweigungs-
punkte als wirklich vorhanden annehmen. Die
Aufgabe der Physik ist ja gerade, aus den ge-
gebenen Verhältnissen heraus ein Ereignis vorher-
zusagen.
In der Tat kann auch die Physik mit dem
einzelnen Zufallsereignis gar nichts anfangen.
Ganz anders liegt es aber bei einer großen
Anzahl gleichartiger Ereignisse, die nacheinander
oder gleichzeitig nebeneinander geschehen.
Auf eine solche Summe von Ereignissen kön-
nen die Ergebnisse der Wahrscheinlichkeitsrech-
nung erfahrungsgemäß angewandt werden, und
diese liefert uns gerade für die Zufallsereignisse,
ja nur für Zufallsereignisse bestimmte Voraussagen
der Ereignisse.
Solche Summen von Ereignissen treten uns
überall in der Natur entgegen, da die Materie aus
einzelnen Atomen, die Elektrizität aus einzelnen
Elektronen, die Atome wieder aus kleinen dis-
kreten Teilchen aufgebaut erscheinen. Das Zufalls-
spiel der mikroskopischen Welt liefert uns nach
den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung die
Gesetze der makroskopischen Welt.
Wie sich auf der Unbestimmtheit und Regel-
losigkeit des einzelnen Falles in der Gesamtheit
eine Gesetzmäßigkeit aufbauen läßt, möchte ich
Ihnen zunächst an einem Beispiel, dem sog.
Galtonbrett zeigen, das in der Kinderstube, mehr
oder minder geschmackvoll verziert, ein Tivoli-
spiel genannt wird.
. .64. .
• 32 •32- •
■i6-32-i6-
• 8 •24-24- 8 •
• 4 .I6.24- 16- 4 •
• 2 • I0.20-20- 10- 2 •
• I • 6 • I 5 . 20 • I 5 ■ 6 • I .
Wir haben auf einem schräg gestellten Brett
eine Anzahl Nägel, die in Diagonalreihen ange-
ordnet sind (in vorstehender Figur durch Punkte
angedeutet). Lasse ich eine kleine Kugel in der
Mitte zwischen 2 Nägeln rollen, so stößt sie sofort
auf einen Nagel der 2. Reihe und es hängt ledig-
lich vom Zufall ab, ob sie rechts oder links von
ihm weiter rollt. Beide Fälle sind gleich wahr-
scheinlich, weil kein Grund vorliegt, weshalb eine
Seite bevorzugt werden sollte. Hat die Kugel
sich für eine Seite entschieden, so wird sie sofort
in der 3. Reihe wieder auf einen Nagel stoßen,
und wird wieder je nach Zufall rechts oder links
weiter rollen. Der Weg den die Kugel durch
die Nagelreihe nimmt, ist demnach ein rein zu-
fälliger. Vom Zufall hängt auch das Fach ab, in
welchem sie schließlich ankommt. Wir können
darüber nicht die geringste Vermutung aussprechen.
Wiederholen wir aber den Versuch sehr oft,
sagen wir 64000 mal, so wird die Sachlage eine
andere. Es wird etwa gleich oft vorkommen,
daß eine Kugel rechts vom mittleren Nagel der
2. Reihe vorbeirollt, und daß sie links vorbeirollt.
Bei unendlich häufigen Wiederholungen hätten wir
beide Fälle gleich oft. Denn wenn dies nicht
der Fall wäre, so wäre dies ein Beweis dafür, daß
ein Grund für die Bevorzugung einer Seite vor-
liegt und die Wahl der Seite wäre nicht zufällig.
Es wird demnach bei den 64000 Versuchen die
Kugel etwa 32 000 mal rechts und etwa 32 000 mal
links bei dem Nagel vorbeilaufen.
Von diesen letzteren 32000 Kugeln werden
wieder etwa 16000 links von dem Nagel in der
3. Reihe, 16000 rechts vorbeilaufen; durch dieses
Fach gehen aber auch etwa 16000 Kugeln von
denen, die bei der 2. Nagelreihe den rechten Weg
wählten, so daß wir hier im ganzen 32 000 Kugeln
etwa haben. Fahre ich so fort, so erhalte ich
bei der 7. Reihe eine Verteilung der Kugeln auf
die einzelnen Fächer, wie ich in der Figur ange-
deutet habe.
Jeder Nagel repräsentiert auf dem Wege der
einzelnen Kugel einen Verzweigungspunkt im Sinne
von von Mises. Wenn wir aber den Fall aller
64000 Kugeln als ein Gesamtereignis zusammen-
fassen, so kommen wir zu einem bestimmten Ver-
teilungsgesetz, das lautet: ""/j^ aller Kugeln
werden etwa in das mittlere Fach fallen, in die
beiden daneben liegenden Fächern nur etwa '"/g^,
in das 4. Fach von der Mitte nur etwa ^64 "■ s- f-
Dieses Gesetz ist indessen kein strenges, es
ist ein statistisches Gesetz, das aussagt, daß die
Verteilung etwa der berechneten entsprechen wird.
Es wäre höchst unwahrscheinlich, daß mal eine
ganz andere Verteilung herauskommt, möglich
wäre aber eine solche.
Solche statistischen Gesetze sind ganz anderer
Art, wie strenge Naturgesetze, wie z. B. das Fall-
gesetz. Nehme ich z. B. die Beziehung der durch-
fallenen Strecke zur Fallzeit s^-^gt^, so sagt
das Gesetz aus: Wenn ein Körper zu Boden fallt
und wenn weiter nichts vorhanden wäre, wie
N. F. XX. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
507
dieser Körper und die Erde, und nichts diesen
Fall störe, dann würde die Fallstrecke in dieser
Weise von der Fallzeit abhängen und die Gleichung
würde mathematisch genau bei jedem Versuch er-
füllt sein. Die genannten Bedingungen sind aber
niemals erfüllt und deshalb gibt der Versuch stets
ein mehr oder minder abweichendes Resultat.
Demgegenüber setzen wir für ein statistisches
Gesetz keine unerfüllbaren Bedingungen an, sondern
nehmen die Verhältnisse so, wie sie wirklich sind,
d. h. mehr oder minder unbestimmt, vom Zufall
abhängend und verlangen von dem Gesetz aus
diesem Grunde auch nur eine ungefähre Über-
einstimmung mit dem Versuch.
Viele Naturgesetze sind nun derartige statistische
Gesetze, obgleich sie uns in der makroskopischen
Welt nicht als solche erscheinen. Das ist immer
dann der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit einer
meßbaren Abweichung so ungeheuer klein ist, daß
wir in unserem kurzen Leben sie niemals erwarten
dürfen. Die Möglichkeit, eine solche Abweichung
einmal zu erhalten, liegt aber stets vor. In neuerer
Zeit haben wir oftmals gelernt, die Versuchsan-
ordnungen so abzuändern, daß die Wahrschein-
lichkeit nicht mehr arg klein ist. Dann beobachten
wir auch stets diese Abweichungen.
Ich möchte hierfür^ nur einige wenige Beispiele
herausgreifen, natürlich unter Weglassung aller
wahrscheinlichkeitstheoretischen Rechnungen.
Ein solches statistisches Gesetz ist z. B. das
Mariotte Gay - Lussacsche Gesetz pv=:RT für
ideale Gase, das angibt, daß der Druck, den eine
bestimmte Menge Gas auf die Gefäßwände aus-
übt, um so höher ist, je höher die Temperatur
und je kleiner das Volumen ist, auf das es zu-
sammengedrückt wird.
Das Gesetz ergibt sich aus der kinetischen
Gastheorie, nach der ja die Moleküle eines Gases
in schneller Bewegung sind. Jedes Molekül fliegt
gerade aus, bis es auf ein anderes stößt, prallt
von diesem ab und fliegt in irgendeiner anderen
Richtung weiter, bis es in dieser wieder auf ein
Molekül stößt usw.
Die Bewegung eines jeden Moleküles ist eine zu-
fällige: eine winzig kleine Richtungsänderung ändert
den Zusammenstoß und die Richtung nach der
es abprallt, das getroffene Molekül wird ebenfalls
in anderer Richtung angestoßen und bald werden
alle Moleküle durch die kleine Änderung der Be-
wegungsrichtung eines einzigen eine ganz andere
Bewegung bekommen. Die Bewegung erscheint
dadurch völlig ungeordnet, jeder Zusammenprall
bedeutet einen Verzweigungspunkt, ebenso wie der
Aufprall der Kugel auf einen Nagel des Galton-
brettes.
Um Ihnen klar zu machen, welch wildes Durch-
einander in einem Gase herrscht, sei erwähnt, daß
sich unter normalen Umständen in jedem ccm
27 Trillionen Moleküle befinden mit einer Durch-
schnittsgeschwindigkeit von z. B. beim Sauerstoff
461 m pro Sekunde und daß jedes einzelne Mole-
kül etwa 4 Milliarden mal pro Sekunde mit einem
anderen kollidiert.
Der Druck auf die Gefäßwände ergibt sich aus
den Stößen, mit denen die Moleküle bei ihrer
wilden Reise gegen die Gefäßwände prallen.
Hätten sie alle beim Auftreffen die Geschwindig-
keit c, so wäre der Druck p = |Nmc-, wenn N
ihre Anzahl pro ccm, und m die Masse eines
einzelnen Moleküles. Dieser Druck würde dem
Mariotte-Gay-Lussacschen Gesetze entsprechen.
Nun haben aber nicht alle Moleküle dieselbe Ge-
schwindigkeit beim Auftreffen auf die Wände,
sondern bald größere, bald kleinere. Es ist ganz
unmöglich anzugeben, welche Geschwindigkeit
ein einzelnes Molekül gerade besitzt. Möglich ist
indessen, mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrech-
nung anzugeben, wie sich die Geschwindigkeit
um einen mittleren Wert herum verteilt, geradeso
wie es bei dem Galtonbrette möglich war, anzu-
geben, wie sich die Kugeln auf die einzelnen
Fächer verteilen. Man bekommt das sog. Max-
wellsche Geschwindigkeitsverteilungsgesetz, nach
welchem von N Moleküle dN eine Geschwindig-
keit c-|-dc besitzen:
^^ - -^'.dc,
dN:
y/ra
■c-=-e
wo a die wahrscheinlichste Geschwindigkeit be-
deutet.
Bildet man das mittlere Geschwindigkeitsquadrat
sehr vieler Moleküle, so ergibt sich der Wert, den
wir in unsere Druckgleichung einsetzen müssen.
Es ist aber durchaus nicht gesagt, daß gerade die
in einem Momente aufprallenden Moleküle diesen
Mittelwert besitzen. Eine größere Abweichung
ergibt sich aber aus der Rechnung als höchst
unwahrscheinlich, so daß wir nur aus diesem
Grunde keine Gelegenheit haben sie zu beobachten.
Ebenso ist es durchaus nicht gesagt, daß irgend-
eine Anzahl von n Molekülen, immer genau das Vo-
lumen einnimmt, das das Mario ttesche Gesetz
verlangt; wie Smoluchowski berechnete, ist
die Wahrscheinlichkeit dafür, daß statt )' Moleküle,
wie es das Mariottesche Gesetz verlangt, eine
Anzahl n Moleküle in einem bestimmten Volumen
j,n
sind W(n) = e-'— ,. Diese Wahrscheinlichkeit ist,
nl
wenn n merklich von )■ abweicht, bei größeren
Voluminas ungemein klein. Nehmen wir an, wir
beobachteten tatsächlich einmal, daß die Dichte
eines Gases in einem ccm i "/o größer wäre als
normal, n also i "/^ größer als v wäre, so können wir
nach Smoluchowski erst nach 10 '" Jahren
auf die Wiederkehr der Erscheinung rechnen. Dies
ist eine Zahl mit 100 Billionen Nullen, die aus-
geschrieben 1000 mal um den Äquator reicht.
Gegen diese Zeit wären geologische Zeitperioden
verschwindend kurze Zeiten.
Ganz andere Größenordnung haben indessen
die Wahrscheinlichkeiten für eine Abweichung
vom Mittelwert, wenn wir unsere Beobachtung
So8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 35
auf ganz kleine gedrückte Flächen oder ganz
kleine Volumina richten.
Bringen wir in eine Flüssigkeit oder schwebend
in ein Gas mikroskopisch kleine Teilchen von
io~^ bis iO~^ mm Durchmesser, so wird die
Zahl der Molekel, die in einer Richtung pro Se-
kunde aufprallen, nicht mehr so arg groß sein,
der Mittelwert der Geschwindigkeit dieser kleinen
Anzahl wird nicht mehr gleich dem Mittelwert
einer sehr großen Anzahl sein und auch nicht
ihre Druckwirkung. Es wird infolgedessen der
Druck merklich schwanken.
Der Druck von der entgegengesetzten Seite
wird ebenfalls schwanken, also in jedem Momente
merklich vom ersteren verschieden sein. Die
Folge davon ist, daß das Teilchen unter dem
Anprall der Moleküle hin- und hergeworfen wird
und eine ganz regellose ungeordnete Bewegung
ausführt.
Diese Bewegung läßt sich tatsächlich im Mikro-
skop, oder besser noch im Ultramikroskop gut
beobachten. Sie wird in der Physik B r o w n sehe
Bewegung genannt, nach dem englischen Bota-
niker Brown, der sie zuerst an den Pollen der
Clarkia pulchella beobachtete, kleine zylindrische
Körperchen von ca. ^soo i"™ Länge.
Jedes Teilchen bewegt sich bei der Brown-
schen Bewegung völlig regellos. Man kann aber,
wie es Svedberg, Perrin u. a. getan haben,
beobachten, wie weit sich ein Teilchen in einer
bestimmten Richtung in einer bestimmten Zeit,
sagen wir lO Minuten, von seiner Anfangs-
lage entfernte. Stellt man solche Beobach-
tungen an vielen Teilchen an, so kommt man
natürlich zu ganz verschiedenen Werten, einige
werden vielleicht i mm, andere nur '/loo ^^
fortgewandert sein. Bildet man aber den Mittel-
wert aus einer großen Anzahl von Beobachtungen,
so kommt man zu einem ziemlich bestimmten
Wert.
Einstein und Smoluchowski haben nun
etwa gleichzeitig berechnet, wie groß dieser Mittel-
wert sein müßte nach den Regeln der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung, bei Annahme einer ganz
regellosen, dem Zufall unterworfenen Molekular-
bewegung bei gegebener Größe der Teilchen und
der Moleküle. Dieser berechnete Wert stimmt
mit dem beobachteten überein. Auch die mittlere
berechnete und beobachtete Abweichung vom
mittleren Wert stimmt überein.
Diese Übereinstimmung zeigt, daß die Auf-
fassung der Molekularbewegung als eine zufällige,
und die Auffassung desMario tte- Gay-Lussac-
schen Gesetzes als ein statistisches Gesetz zu-
lässig ist.
Nicht nur die Schwankungen des Druckes, auch
die der Dichte sind experimentell nachweisbar.
Haben wir kein ideales Gas, sondern ein Gas in
der Nähe der kritischen Temperatur, bei der es
ja in den flüssigen Zustand übergeht, so ergibt
nach Smoluchowski und Kammerling-
Ones die Wahrscheinlichkeitsrechnung, daß die
mittlere Abweichung der Dichteverteilung von
der normalen sehr groß wird. Diese großen
Dichteschwankungen veranlassen große Schwan-
kungen des Brechungsexponenten des Lichtes.
Dies veranlaßt bei durchscheinendem Lichte eine
Opaleszenz, die tatsächlich der Rechnung ent-
sprechend beobachtet wird.
Derartige Dichteunterschiede lassen sich auch
unter normalen Verhältnissen beobachten, wenn
man eine Substanz in sehr geringer Konzentration
mit einer anderen mischt. Dabei kann die bei-
gemischte Substanz auch aus festen diffundierten
Teilchen bestehen. Svedberg benutzte 1912
für seine Versuche eine kolloidale Goldlösung, in
der die einzelnen Goldkörnchen im Ultramikroskop
noch gut erkennbar sind. In größeren Räumen
sind die Goldteilchen gleichmäßig verteilt, d. h.
in jedem ccm etwa die gleiche Anzahl, so daß
ihre Dichte konstant erscheint. Svedberg
stellte nun sein Mikroskop durch Abbiendung des
Gesichtsfeldes auf einen sehr kleinen Raum ein,
so daß nur die Teile sichtbar wurden, die in die-
sem kleinen Räume von etwa Vi 00 ^n^i im Kubus
sich gerade befanden. Er beobachtete 39 mal in
der Minute in gleichen Zeitabständen, wie viele
Teile sichtbar waren. Seine Tabelle fing mit den
Zahlen an i, 2, o, o, o, 2, o, o, i, 3, 2, 4
Es ist demnach durchaus nicht die Dichte kon-
stant, sondern sie schwankt um den mittleren
Wert 1,55 Teilchen herum. Berechnet man aber
die mittlere Schwankung, so ergibt sich, daß diese
wieder dem Werte gleich ist, den Smoluchowski
für diesen Fall mit Hilfe der Wahrscheinlichkeits-
rechnung unter Annahme einer ganz ungeordneten
Bewegung errechnete.
Bei einer großen Reihe von Naturgesetzen hat
sich bisher ihr statistischer Charakter nachweisen
lassen, so daß von ehernen Naturgesetzen gar
nicht mehr die Rede sein kann.
So z. B. ist der 2. Hauptsatz der Wärmelehre
ein statistisches Gesetz; derselbe besagt bekannt-
lich, daß Wärme nicht von selbst von niedrigerer
Temperatur auf höhere Temperatur übergeht.
Wenn wir einen Teekessel voll Wasser auf
den Teetisch stellen, so wird in Übereinstimmung
mit diesem Satze keine Hausfrau erwarten, daß
das Wasser von selbst ins Kochen gerät. Mög-
lich wäre es indessen, es müßten nur durch Zu-
fall gerade die Moleküle alle, die sich im Kessel
befinden, eine große Geschwindigkeit haben, wäh-
rend dafür besonders langsame außerhalb des
Kessels herumfliegen. Denn hohe Molekular-
geschwindigkeit ist gleichbedeutend mit hoher
Temperatur. Dieser Zustand ist nur ungemein
unwahrscheinlich. Nach dem Maxwellschen
Verteilungsgesetz ist nämlich der Prozentsatz be-
sonders schneller Moleküle nur klein und es ist
deswegen gar nicht zu erwarten, daß gerade die
vielen Trillionen von Molekülen im Kessel die
schnellen sind. Dieser Zustand dürfte so selten
eintreten, daß wir ihn in unserem kurzen Leben
nicht erwarten dürfen. Es wäre ein Wunder,
N. F. XX. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
509
wenn wir es erlebten, ein Wunder aber, das
keineswegs den physikalischen Gesetzen zuwider-
läuft.
Ebenso wird z. B. niemand erwarten, daß ein
Buch, das hier ruhig Hegt, plötzlich an die Decke
fliegt, indem sich seine Wärme in kinetische
Energie verwandelt. Und doch ist gerade das
Hochwerfen von Gegenständen durch Umwand-
lung von Wärme in kinetische Energie eine Er-
scheinung, die jede Hausfrau täglich beobachten
kann oder wenigstens könnte.
Lassen wir schmutziges Wasser in einem Glase
stehen, so beobachten wir, daß die kleinen sus-
pendierten Schmutzteilchen allmählich zu Boden
sinken, und das Wasser oben im Glase sich klärt.
Über dem Boden bleibt indessen eine Wasser-
schicht von mehr oder minder großer Dicke
schmutzig. Beobachten wir diese Schicht mit
einem guten iVIikroskop, so sehen wir, daß sie
aus Teilchen besteht, welche, bald hier bald dort
sich vom Boden erheben und nach oben ge-
schleudert werden. Was bei dem großen Buche
sehr unwahrscheinlich war, ist bei den sehr kleinen
diffundierten Schmutzpartikeln nicht mehr so arg
unwahrscheinlich. Bei der sehr großen Anzahl
der vorhandenen Teilchen können wir daher solche
Fälle schon in kurzer Zeit in größerer IVIenge be-
obachten. Smoluchowski berechnete in einer
Emulsion mit bekannter Körnchengröße nach den
Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viele
nach oben fliegende Teilchen zu erwarten sind,
und fand seine Erwartung bei der Beobachtung
bestätigt.
Diese Erscheinung, die dem 2. Hauptsatz wider-
spricht, könnte dazu dienen ein Perpetuum mobile
zweiter Art zu bauen, das Arbeit leistet unter
Verbrauch von Wärme aus der Umgebung. Wir
brauchen zu diesem Zwecke in der Flüssigkeit
nur kleine Ventile anzubringen, welche die auf-
steigenden Teilchen hindurchlassen, aber nicht
wieder zurücklassen. Allmählich würde dann
durch Wärmeverbrauch eine größere IVIenge fester
Substanz gehoben und diese könnte z. B. zum
Treiben einer Uhr benutzt werden. Derartige
Ventile wären allerdings sehr zart, ihre Kon-
struktion ist aber nicht von vornherein unmög-
lich. Ahnliche Ventile könnten wir uns dann
auch in unsere Fenster einbauen, die schnelle
Moleküle hereinlassen, nicht aber langsame, und
wir hätten ohne jede Heizung wohlige Wärme in
den Zimmern bei strengster Kälte draußen.
Die Wirkung des Zufalls tritt uns nicht nur
bei der Wärmebewegung der Moleküle entgegen,
sondern noch bei vielen anderen Erscheinungen
in der Physik, so z. B. in der Radioaktivität.
Wie Sie wissen gibt es eine große Reihe
radioaktiver Elemente, die mit großer Geschwindig-
keit Heliumatome und Elektronen ausschleudern.
Der Versuch zeigt, an größerer Menge radi-
aktiver Substanzen ausgeführt, daß die Anzahl
der pro Sekunde ausgestoßenen Heliumatome der
Anzahl der vorhandenen Atome proportional ist.
Das Verhältnis l dieser beiden Zahlen ist für
ein gegebenes Element konstant.
Auf diese Tatsache gründete Rutherfort
die Zerfalltheorie radioaktiver Substanzen. Er
nimmt an, daß die Heliumatome und Elektronen
im Atomkerne desselben in fortgesetzter Bewegung
sind. Durch diese Bewegung ändert sich fortge-
setzt die Gesamtkonstellation der Atomteile und
es wird, wenn auch äußerst selten vorkommen,
daß ein Heliumatom oder Elektron in ein labiles
Gleichgewicht gerät.
Dann wird es je nach Zufall im Verbände des
Atomes bleiben oder fortgeschleudert werden. Im
letzteren Falle zerfällt das Atom in ein Helium-
atom resp. Elektron und dem Restatom, dem
Folgeprodukt des Zerfalls, das ganz andere che-
mische Eigenschaften besitzt als die Muttersub-
stanz. Die Zufälligkeit des Zerfalls bringt es mit
sich, daß einige Atome schon sehr bald zerfallen,
also eine sehr kurze Lebensdauer haben, andere
aber eine sehr lange Lebensdauer. Hat man aber
eine sehr große Anzahl von Atomen, wie es z. B.
in einem Milligramm Substanz der Fall ist, so
kann man von einer mittleren Lebensdauer reden.
Wendet man nun auf den Zerfall die Wahrschein-
lichkeitsrechnung an, so ergibt sich, daß die
mittlere Lebensdauer der reziproke Wert der obigen
Konstanten A ist, und daß tatsächlich das Ver-
hältnis A bei großer Atomzahl eine Konstante
sein muß. A selbst ist die Wahrscheinlicjikeit da-
für, daß irgendein Atom in einer bestimmten
Sekunde zerfällt.
Habe ich aber nur eine geringe Anzahl von
Atomen, so kann die im einzelnen Experiment
beobachtete Zerfallkonstante nicht mehr mit dieser
Wahrscheinlichkeit genau übereinstimmen, sondern
muß um diesen Wert herum schwanken.
Geringe Mengen radioaktiver Substanzen sind
leicht z. 13. als radioaktiver Niederschlag herzu-
stellen, man kann sie natürlich weder sehen noch
wägen, sondern nur durch ihre radioaktive Wirkung
wahrnehmen. Die ausgeschleuderten Heliumatome
kann man aber einzeln zählen. Wenn man sie
nämlich gegen einen Diamanten fliegen läßt, ruft
jedes aufprallende Atom ein Aufblitzen hervor.
Ruther fort und Geiger einerseits, Regener
andererseits haben nun gezählt, wie viel Helium-
atome z. B. pro Minute von einer Substanz aus-
geschleudert wurden. Sie fanden hierbei durchaus
keinen konstanten Wert, sondern erhebliche
Schwankungen um denjenigen Wert als Mittel-
wert, der sich aus der beobachteten Zerfallkon-
stante größerer Substanzmengen ergibt.
Bortkiewicz hat ihr Zahlenmaterial wahr-
scheinlichkeitstheoretisch in allen Einzelheiten
untersucht und gefunden, daß die beobachteten
Schwankungen der Theorie entsprechen, die an-
nimmt, daß der Zerfall eines einzelnen Atomes
ein rein zufälliger ist. Diese Annahme erscheint
also zulässig.
Die moderne Physik kennt noch eine ganze
Reihe von Gesetzen, deren statistischer Charakter
510
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 35
mit der Zeit offenbar wurde. Oftmals konnten
Versuchsanordnungen erdacht werden, bei denen
die Wahrscheinlichkeit größerer Abweichungen
vom Normalwert größer wird: immer werden
dann auch derartige Abweichungen beobachtet.
Alle diese Untersuchungen zwingen uns dazu,
im Gegensatz zur älteren Lehre einen Zufall in
der Natur gelten zu lassen, und den Glauben an
die unwandelbaren Naturgesetze zu begraben.
Damit ist aber auch die Gültigkeit des Kau-
salitätsprinzipes in Frage gestellt, welches besagt,
daß der augenblickliche Zustand eines abge-
schlossenen Systems seine Veränderungen in der
Zukunft eindeutig bestimmt.
Wenn man unter Zustand nach Frank die
Werte aller physikalisch meßbaren Merkmale des
Systems versteht, so ergibt die Braunsche Be-
wegung klipp und klar die Ungültigkeit des Kau-
salgesetzes. Denn wenn wir auch für einen Augen-
blick Lagen und Geschwindigkeiten aller in
Braunscher Bewegung befindlichen Teilchen
kannten, Temperatur, Dichte und Natur der Flüssig-
keit in der sie schwimmen, so würden doch ihre
Lagen im nächsten Augenblick völlig unbestimmt
bleiben.
Wenn allerdings auch Lage und Geschwindig-
keit jedes einzelnen Moleküls der F"lüssigkeit be-
kannt wären, dann wäre es denkbar, daß dann
auch die Braunsche Bewegung gegeben wäre.
Wir würden uns dann auf den Standpunkt von
La place stellen, der sagt:
„Denken wir uns alle Veränderungen in der
Körperwelt in Bewegungen von Atomen aufge-
löst, so wäre einem Geist, der für einen Augen-
blick alle Kräfte kannte, welche die Natur beleben
und die gegenwärtige Lage der Wesen, aus denen
sie besteht, nichts ungewiß, Zukunft und Ver-
gangenheit wäre seinem Blicke gegenwärtig."
Heute wissen wir indessen, daß die Annahrrie
von Laplace nicht richtig ist, die Bewegungen
der Atome bedingen nicht alle Veränderungen
der Körperwelt.
Die Explosion eines Atomes Radium-Emanation
in der Flüssigkeit, die sicher hin und wieder eintritt,
würde die Bewegung aller Moleküle gänzlich ab-
ändern und damit auch die Bewegung der diffun-
dierten Teilchen in der Flüssigkeit. Unsere Berech-
nung ihrer Bewegung aus dem Zustand der Bewegung
und der Lage der Moleküle wäre illusorisch. Wenn
wir weiter auch die Bewegungen der den Atomkern
bildenden Teile kennten und daraus die Atomexplo-
sionen berechnen wollten, so ist nicht einzusehen,
weshalb nicht wieder in diesen Teilen Bewegungen
stattfinden sollten, welche das Resultat unserer
Rechnung stören. Soweit wir auch teilen, soviele
Beslimmungsstücke wir auch in unserer Gleichung
einsetzen, immer läßt sich eines angeben, das wir
nicht einsetzten, und das alleine unter Umständen
unsere ganze Rechnung über den Haufen wirft,
und alles Geschehen gänzlich abändert.
Wenn demnach der Geist, von dem Laplace
redet, noch so große Kenntnisse von dem Zustand
der Natur in einem Augenblick hat, er könnte
doch niemals die Gleichung der Weltentwicklung
aufstellen, die unter allen Umständen eine ein-
deutige Lösung hat. Nach der Zukunft gefragt,
müßte auch er antworten: „Das weis ich nicht,
das hängt vom Zufall ab."
Bticherbesprechungen.
Heilborn, A. , Entwicklungsgeschichte
des Menschen. 388. Bändchen der Samm-
lung „Aus Natur und Geisteswelt". II. Auflage.
Leipzig und Berlin 1920, B. G. Teubner.
In vier Vorlesungen wird das Gebiet behandelt,
d. h. Verf. holt ziemlich weit aus, indem er zu-
nächst die Geschichte der Entwicklungslehre und
ihre Bedeutung für die Abstammungslehre erörtert
und dann die Eigenschaften der Zelle als Elementar-
organismus, die der Geschlechtszellen, die Prin-
zipien der Befruchtung und die der Vererbung be-
spricht. So kommen auf die eigentliche Ent-
wicklungslehre nur gerade 30 Seiten, während der
Rest des Buches den Entwicklungsstörungen,
bzw. Mißbildungen gewidmet ist. Es ist die Frage,
ob diese Anordnung des Stoffes ein Nachteil ist.
Dazu möchte ich zunächst bemerken, daß ich
zwar die Vorliebe mancher Anatomen für die
Mißbildungslehre verstehe, daß ich aber durchaus
nicht einsehe, was sie in einem allgemeinverständ-
lichen Büchlein über die Entwicklungsgeschichte
soll. Jawohl, sie bringt etwas Gruseln und etwas
Sensation, aber sie muß doch nur ein kleines
mattes Ausschnittchen bleiben, und der innere
Zusammenhang der Mißbildungen als Entwick-
lungsstörungen mit dem Vorhergehenden wird
bei der gedrängten Darstellung keinem Laien klar
werden. — Die Kürze der Darstellung der eigent-
lichen Entwicklungsgeschichte halte ich allerdings
für keinen Nachteil. Denn bei genauerem Ein-
gehen auf Einzelheiten würden wohl die Schwierig-
keiten, verständlich zu bleiben, allzu große ge-
wesen sein. Was Verf. jetzt bringt, ist verständ-
lich und gibt wenigstens einen gewissen Einblick
in die ebenso komplizierten wie eigenartigen Vor-
gänge. Auch die beiden ersten Kapitel sind recht
gut und geben eine willkommene Ergänzung zu
den Darstellungen biologischer Vorgänge, die in
anderen Bändchen der Sammlung zu finden sind.
So wird alles in allem der Lernbegierige beim
Lesen dieses Büchleins wohl auf seine Kosten
kommen. Huebschmann (Leipzig).
Panconcelli-Calzia, G., ExperimentellePho-
netik. Sammlung Göschen. Berlin und Leip-
zig 1921, Ver. wiss. Verl.
N. F. XX. Nr. 35
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Sil
Die Vertreter sehr verschiedener Berufe haben
sich wissenschaftlich oder praktisch mit der Pho-
netik zu befassen ; ihnen allen kann das vorliegende
Büchlein zur Einführung empfohlen werden. Es
ist klar und sachlich geschrieben, der Mangel an
Abbildungen (Kurven usw.) ist ein Nachteil, der
vielleicht bei einer neuen Auflage in einer
günstigeren Zeit behoben werden kann. Gartens
Beobachtungen an dem von ihm konstruierten
Schallschreiber wären dann vielleicht auch nach-
zutragen. Brücke (Innsbruck).
in das Gebiet einzudringen und dadurch manchen
Biologen das wichtige Arbeitsgebiet zu erschließen
hilft, so hat sie ihren Zweck schon erfüllt.
Huebschmann (Leipzig).
pietrich, Walther, Einführung in die physi-
kalische Chemie für Biochemiker,
Mediziner, Pharmazeuten und Natur-
wissenschaftler. Berlin 1921, Julius Springer.
100 Druckseiten für dieses umfangreiche
Wissensgebiet, also ein Kompendium zur ober-
flächlichen Orientierung oder zum Auswendig-
lernen! Ich glaube nicht, daß man mit einem
solchen Urteil die Arbeit des Verf. abtun darf. Sie
zeugt von einem nicht gewöhnlichen Darstellungs-
talent und führt dem Leser mit großer Klarheit
die Elemente der physikalischen Chemie vor
Augen. Natürlich wird niemand nach dem Studium
dieser Schrift die Probleme der physikalischen
Chemie beherrschen gelernt haben. Aber wenn
man sich vor Augen hält, wie unabsehbar groß
die Bedeutung dieser Wissenschaft für alles bio-
logische Geschehen ist, wie mangelhaft aber heute
immer noch der Unterricht darin für Biologen aller
Schattierungen ist, so muß man eine so klar ge-
schriebene Einführung immerhin sehr begrüßen.
Wenn sie hier und da die Anregung schafit, weiter
Müller, Friedrich, Konstitution und Indi-
vidualität. Rektoratsantrittsrede gehalten im
Wintersemester 1919 an der Universität München.
München 1920.
Der bekannte Kliniker, der nun auch als
Revolutions- Rektor der Münchener Universität
weit über München hinaus eine populäre Persön-
lichkeit geworden ist, spricht hier, und wer sich
von seiner eigenartigen fesselnden Redekunst eine
Vorstellung machen will, der soll diese kleine
Schrift zur Hand nehmen. Nach einer Einleitung,
die durch die Stürme des Jahres 1919 beherrscht
wird, zeigt er an dem Beispiel der Konstitutions-
lehre, die er in prägnanter Kürze darstellt, daß
hier entgegen dem Vorwurf der Zersplitterung,
den man in neuerer Zeit der Wissenschaft oft ge-
macht habe, das Verlangen nach einer Synthese
erfüllt sei, die er als ein Band bezeichnet, „das
alle Fächer der Medizin und Naturwissenschaften
aufs engste verbindet und dadurch der unheil-
vollen Zersplitterung in lauter Spezialgebiete ent-
gegenwirkt". — Sodann werden die neueren Be-
strebungen zur Vertiefung des Studiums, insbe-
sondere der Medizin, kurz gestreift. Der Redner
will dabei jeden Zwang vermieden wissen. Denn
nur die freie Entwicklungsmöglichkeit der Stu-
dierenden könne Individualitäten heranbilden. Ein
hoffnungsvoller Appell an die Jugend beschließt
die Rede. Huebschmann (Leipzig).
Anregungen und Antworten.
Paläoklimatisches im Lichte der Geophysik. Die von
Dr. Robert Potonie in Nr. 26 dieser Zeitschrift aufge-
führten Tatsachen legen, wie mir scheint, eine andere Deutung
nahe, welcher sich die Geologen unter irrtümlicher Berufung
auf die Geophysiker hartnäckig verschliel3en ;
Da es gänzlich ausgeschlossen ist, dafi in irgendeiner
Zeit seit dem Kambrium am Äquator und an den Polen
gleiche Temperaturen im Meeresniveau geherrscht haben,
da es ebenso ausgeschlossen ist, daß Bäume der
wärmeren gemäßigten Zone, unter welchen Temperaturen
es auch sei, die Polarnacht — in üppigem Wachstum vieler
Generationen I — überdauern,
so müssen wir zusehen, ob nicht diese bei der heutigen
Breitenlage der Funde ganz unerklärlichen Tatsachen bei
Annahme von Breitenänderungen erklärlich werden.
Diese sind in doppelter Weise möglich:
1. Gegen die Annahme von großen Änderungen der Erd-
achse hat die Geophysik nichts einzuwenden, als daß sie für
den Nachweis derselben die Unterstützung seitens der Paläon-
tologen erwartet;
2. eine große Reihe von Tatsachen spricht dafür, wie
Alfred Wegener gezeigt hat, daß die Kontinentalblöcke,
in einer Simaunterlage schwimmend, ihren Ort langsam durch
Polflucht und Westwanderung verändern (natürlich zum je-
weiligen, nicht zum jetzigen Äquator und Westpunkt hin).
Der Versuch, die Lage der Klimagürtel der Erde für alle
Zeiten vom Karbon bis zum Quartär von diesen Gesichts-
punkten aus aufzustellen, ergibt im großen und ganzen ein
überraschend zusammenhängendes und einfaches Bild,'] wenn
auch einzelne Widersprüche noch zu klären sind. Da es
sehr viele Tatsachen sind, die sich widerspruchslos zu-
sammenfügen müssen, um dieses Bild zu geben, ist es nicht
zu verwundern, daß dieses nicht auf einen Hieb geht.
Nehmen wir einige der von R. Potonie erwähnten Tat-
sachen. S. 386 : eine Karbonflora von rein europäischem
Typus findet sich, und zwar am Meeresspiegel, von Oran in
29° n. Br. bis Grinnelland in 81 ° n. Br. — der Abstand ist
nicht merklich größer als der von Wendekreis zu Wendekreis,
Auch die Angabe über Peru steht damit nicht im Widerspruch,
weil dieses nur etwa 30° vom damaligen Äquator abstand;
wohl aber die aus Argentinien. Aus dessen Nachbarschaft
aber besitzen wir aus einer geologisch wenig späteren Zeit
schon die berühmten Eiszeitspuren. Von der Schwelle von
Karbon und Perm haben wir eine Fülle von Klimazeugen:
vom Südpol in Südafrika, um das sich nach Wegeners
Rekonstruktion die Glazialfunde aus Südamerika, Indien und
Australien nahe herumgruppieren ; von der äquatorialen Regen-
zone im langen Steinkohlengürtel von China über Südrußland,
Mitteldeutschland, England nach Pennsylvanien und Te.\as,
') A. Wegener; Die Entstehung der Kontinente und
Ozeane. 2. Aufl. Braunschweig 1920 (Sammlung „Die Wissen-
schaft", Bd. 66).
W. Koppen: Polwanderungen, Verschiebungen der
Kontinente und Klimageschichte. Peterm. Mitteil. 192 1. —
Derselbe: L'ber Änderungen der geogr. Breiten und des
Klimas in geol. Zeit. Geografiska Annaler 1920. — Derselbe :
Zur Paläoklimatologie. Meteorolog. Zeitschr., 1921, S. 97.
SI2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 35
der sich nach derselben Rekonstruktion auf einen größten
Kreis einstellt; endlich von der nördlichen Trockenzone in
Spitzbergen, das im Unterkarbon noch zusammen mit Grön-
land und Schottland im äquatorialen Regengürtel gelegen
hatte, nun aber durch dessen Südwärtsbewegung aus ihm
hinausgeraten war. Bei der Weiterbewegung des Äquators
kam vom Rotliegenden an für unendlich lange Zeit Deutsch-
land in diesen Trockengürtel. Daß von der nördlichen Polar-
zone aus dem Karbon und weiter bis ins Alttertiär keine
Zeugnisse vorliegen, erklärt sich daraus, da£l sie inmitten des,
damals noch weit größeren, Stillen Ozeans lag.
Die Äußerung von Gothan, diePotonie auf S. 385
anführt, halte ich nach allem diesem durchaus nicht für in
der Richtung liegend, welche aus dem jetzigen Wirrwarr der
Paläoklimatologie herausführt *) — im Gegenteil nur für einen
Beweis der Hilflosigkeit, in die er sich dadurch versetzt, daß
er die Hypothese weitgehender Polverlegungen, ohne Be-
gründung, beiseite setzt.
Vom Perm bis zum Eozän verlief der Äquator mit ge-
ringen Schwankungen von Westindien durch die Tethys bis
zu den Sundainseln. Durch die entgegengesetzte Polflucht
der Kontinenalblöcke im Norden und Süden wurde die be-
kannte Bruchzone der Erde geschaffen.
Von der Permischen Eiszeit glaubt Potonie absehen zu
müssen, weil sie eben in die Behauptung ,, gleich günstiger
Bedingungen" in der Nähe der Pole und am Äquator absolut
nicht hineinpaßt. Aber man entschließe sich doch endlich,
statt über all diese Sachen nur den Kopf zu schütteln und
Bedingungen anzunehmen, die eben auf einer von der Sonne
bestrahlten Erde ganz unmöglich sind, die größten sicher fest-
gestellten Tatsachen der Erdgeschichte ohne Voreingenommen-
heit zu betrachten und den einzigen mit ihnen verträglichen
Weg zu gehen. Wenn dabei hier und da in weniger er-
forschten Ländern gemachte Beobachtungen vorläufig uner-
klärlich bleiben, so vergesse man nicht, daß deren Beobachter
von anderem Standpunkt ausgingen und die Tatsachen viel-
leicht noch einer anderen Deutung fähig sind.
Nirgends halten sich Irrtümer so hartnäckig, wie auf
Zwischengebieten, wo die eine Wissenschaft für von ihr be-
hauptete Unmöglichkeiten sich auf die andere beruft, die sie
angeblich fordere. Ein schönes Beispiel dafür war die Nebel-
bläschentheorie seligen Andenkens. Jetzt scheint gar, schreck-
licherweise, die Fau th-H ö rb iger sehe Glazialkosmogonie
ein solches Beispiel werden zu wollen ! W. Koppen.
Zu der sprachlichen Bemerkung von H. Heller in der
Besprechung des Herzschen Buches in Nr. 24 der Naturw.
Wochenschr. ist folgendes zu sagen :
Das Bestreben, auch in naturwissenschaftlichen Arbeiten
auf sprachliche Richtigkeit zu dringen, ist hocherfreu-
lich. Leider muß ich aber den Ausführungen Hellers wider-
sprechen. Das Wort ,,Anomalia" ist durchaus nicht , .sprach-
widrig", sondern ein gutes griechisches Wort ^Aymiial.ia (Ano-
malia) = die Unebenheit, Ungleichheit, abgeleitet von dem
Eigenschaftswort uiwiiaXoi (anömalos) = uneben, ungleich-
artig, verschieden , das abgeleitet wird von bfirüoi (homalos)
^ gleich, eben, glatt, und der Vorsilbe «;■- (an-), die der
deutschen ,un'- entspricht.
Das zweite in Betracht kommende Stammwort ist das
lateinische norma = Winkelmaß, Richtschnur, Regel, mit dem
davon abgeleiteten Eigenschaftswort normalis und, als Gegen-
satz hierzu, abnormis. Zu diesem ist das Hauptwort abnor-
mitas richtig gebildet, wenn es auch, wenigstens nach der mir
zur Verfügung stehenden Literatur, im klassischen Latein nicht
vorkommt.
Im Deutschen sind als richtig gebildete Fremdwörter nur
möglich einerseits aus dem Lateinischen normal, abnorm, Ab-
normität, aus dem Griechischen anomal, Anomalie. Alle
anderen Formen sind sog. hybride Bildungen, d. h. aus Latein
und Griechisch zusammengewürfelt, z. B. „anormal" aus der
griechischen Vorsilbe a- (=: an-) und dem lateinischen nor-
malis. Solche Mißbildungen sind für einen nur einigermaßen
sprachlich Gebildeten ein Greuel, wenngleich leider in der
wissenschaftlichen Sprache sehr verbreitet, z. B. Dysfunktion
(gr. Svs- , lat. fuuctio), inonokuliir (gr. iiorof^ lat. oculus,
französischer Endung -aire) statt nuokular (lat. unus, oculus,
Endung -aris) — wofür man zur Not ja auch einäugig setzen
könnte, ohne in den Verdacht der Ungebildetheit zu kommen
■ — , oder das von Potonie eingeführte Wort Inkohlung
(lat. in-, deutsch kohlen) statt Ein kohlung usw.
Aber die Richtigkeit der Bildung muß nicht nur bei
Fremd- und Lehnworten, sondern, und vor allem, bei der
Neubildung deutscher Worte verlangt werden. Als Beispiel
sei nur das undeutsche Wort ,, Fastebene" erwähnt. Zusam-
mensetzungen mit dem Umstandswort fast sind im Deutschen
nicht möglich ; man spricht nicht von Fastinseln und Fast-
göttern, sondern von Halbinseln und Halbgöttern, ohne dabei
den Begriff der Hälfte mathematisch genau festzulegen; es
kann also nur llalbebene heißen.
Es sollte mich freuen, wenn die Hell ersehe Anregung
dazu beitrüge, bei den zahlreichen Lesern der Naturwissen-
schaftlichen Wochenschrift das sprachliche Gewissen zu schär-
fen und den Sinn für die Richtigkeit und Güte der deutschen
Muttersprache zu heben, des einzigen Gutes, das uns die
Feinde nicht rauben können, wenn wir es uns nicht rauben
lassen wollen. Dr. Weinhold, Plauen.
Zu der gleichen Frage ging noch folgende Äußerung ein:
,, Anomal" ist das, was in die Reihe nicht paßt, aus ihr
herausfällt, und bildet so begrifflich den Gegensatz zu
„normal", mit dem es sprachlich nicht das geringste zu
tun hat. (Wenn gelegentlich selbst Leute, die Griechisch
können, das Wort von ä priv. und rniioi Gesetz ableiten wollen,
so ist auch das falsch ; dann hätte zudem ja wieder das
griechische Wort eine lateinische Endung.) Will man den
Begriff ,, normal" mit einem auch sprachlich zugehörigen Worte
verneinen, so benutze man ,, innormal" oder ,, abnorm" ; ,, ab-
normal", das man hin und wieder hört, möchte ich nicht
empfehlen, dagegen ist ,, unnormal" wohl nicht zu beanstanden,
wenn wir „normal" als einigermaßen eingedeutscht ansehen
dürfen. Man vergesse aber nicht, daß wir für den Begriff
eine ganze Reihe gut deutscher Worte haben, so ,, regelwidrig",
„auffallend", ,, ungewöhnlich" oder ganz einfach und ehrlich
,, krankhaft". Dr. Hoppe-Rinteln.
*) Ganz abgesehen davon, daß darin anscheinend zwei-
mal ,, höhere" statt ,, niedrigere" Breiten gesagt ist.
Literatur.
Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig '21, B. C. Teubner.
Centnerszwer, M. , Das Radium und die Radio-
aktivität. 2. Aufl.
Schau, A., Statik. 2. Aufl.
Schau, A., Festigkeitslehre. 2. Aull.
Stern, E., Angewandte Psychologie.
Krebs, N., Allgemeine Geographie: Die Verbreitung
des Menschen auf der Erdoberfläche.
Strecker, Dr. K., Jahrbuch der Elektrotechnik. S.Jahr-
gang. München und Berlin '20, R. Oldenbourg. 42 M.
Meyers Kleiner Handatlas. Lief. I. Leipzig- Wien '21.
10 M.
Deneke, 11., Zur monistischen Weltauffassung. Altenau
i. Harz '21, Dr. Deneke. 15 M.
Baur, Prof. Dr. E. , Die wissenschaftlichen Grundlagen
der Pflanzenzüchtung , ein Lehrbuch für Landwirte, Gärtner
und Forstleute. Berlin '21, Gebr. Bornträger.
Inbalt: O. Martienssen, Gesetz und Zufall in der Natur. S. 505. — BücbcTbesprechungen : A. Heilborn, Ent-
wicklungsgeschichte des Menschen. S. 510. G. Panconcelli-Calz ia, Experimentelle Phonetik. S. 510. Walther
Dietrich, Einführung in die physikalische Chemie für Biochemiker, Mediziner, Pharmazeuten und Naturwissenschaftler.
S. 511. Fr. Müller, Konstitution und Individualität. S. 511. — Anregungen und Antworten: Paläoklimatisches im
Lichte der Geophysik. S. 511. Sprachliche Bemerkung. S. 512. „Anomal". S. 512. — Literatur: Liste. S. 512.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Fätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m, b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganxen Reihe 36. Band,
Sonntag, den 4. September 1921.
Nummer 36«
Geiiieinschaftdienliche Zweckmäßigkeit, die Lösung des Problems
der Dysteleologien.
[Nachdruck verboten.]
Erich Becher hat bei der Erörterung der
zweckmäßigen Einrichtungen der Pflanzengallen,
welche von Pflanzen erzeugt werden, aber aus-
schließlich im Dienste der sie bewohnenden In-
sektenlarven stehen, den Begriff der fremddienlichen
Zweckmäßigkeit geprägt, aber zugleich daraufhin-
gewiesen, daß wir bei den Gallen auch Bildungen
finden, welche mit dieser fremddienlichen Zweck-
mäßigkeit in Widerspruch zu stehen scheinen.
Solche „Dysteleologien", scheinbare Widersprüche
mit den Naturzwecken, treten uns nun beim bio-
logischen Geschehen außerordentlich häufig ent-
gegen; ja manche Dysteleologien sind sogar eine
ausnahmslose Regel. So wunderbar zweckmäßig
viele Einrichtungen sind, um so wunderbarer, je
Von Hermann Kranichfeld, Oberlößnitz-Dresden.
enthält, welcher Herbst außer Apfelsäure Gift-
stoff (0,01 HgCl) zugesetzt hatte.
Die wunderbar zweckmäßigen Einrichtungen
auf der einen Seite und die „Dummheiten" der
Natur, wie E. Becher die betrefTenden Erschei-
nungen nennt, auf der anderen Seite, bilden offen-
bar einen Widerspruch, der eine Lösung fordert.
Sie kann in zwei Momenten gefunden werden.
Die Dysteleologien entstehen nämlich in sehr vielen
Fällen nur durch eine falsche Betrachtungs-
weise. Wie bei den Untersuchungen physikalischer
Prozesse und Gegenstände wenden wir auch auf
die biologischen Vorgänge und Einrichtungen die
isolierende Abstraktion an. Für jene ist sie
zulässig. Bei der Untersuchung der Strahlen-
genauer wir sie kennen lernen, so ist doch keine brechung können wir zunächst von den Neben-
wirklich vollkommen. Selbst das Auge des erscheinungen der Dispersion des Lichtes, der
IVIenschen hat in seiner Konstruktion Mängel, die, Ausdehnung des durchleuchteten und erwärmten
wie H e 1 m h o 1 z sagt, ein mittelmäßiger Optiker Körpers usw. absehen. Das ist jedoch bei bio-
bei seinen Instrumenten zu vermeiden weiß. Ein logischen Untersuchungen nicht angängig. Be-
Widerspruch scheint ferner darin zu liegen, daß trachten wir auch hier das Einzelne nur an sich,
die relativen Vorteile, welche solche Einrichtungen nicht in dem Zusammenhang, in welchem es mit
dem Individuum gewähren, durch entsprechende dem Ganzen und mit anderen Teilen desselben
Vorteile der Konkurrenten wieder paralysiert steht, so kommen wir notwendig zu falschen
werden. „Die Natur verleiht auf der einen Seite Vorstellungen. Denn das Einzelne wird in der
einem viel verfolgten Tiere schnelle Bewegungs-
organe, Schutzfärbung, Schutzinstinkte usw., ande-
rerseits Seinern Verfolger auch Schnelligkeit, feine
Sinnesorgane,Überlistungsinstinkte, Fangmittel usw.
Warum diese sich widersprechenden und einiger-
maßen sich paralysierenden Maßnahmen?" (E.
Becher). Noch schärfer tritt uns der Be-
griff der Dysteleologie in den Vorgängen und
Bildungen entgegen, die nicht nur unvollkommen
sind, sondern uns direkt zweckwidrig erscheinen.
So entstehen bei der Regeneration bisweilen
Wesen mit zwei, ja drei Köpfen, mit mehreren
Schwänzen usw. Nach den Versuchen von Stei-
Welt des organischen Geschehens in dem Grad
durch seine Stellung in der Gemeinschaft be-
stimmt, daß ein Teil, der aus dieser Gemeinschaft
gelöst — also in isolierender Abstraktion — be-
trachtet wird, nicht richtig verstanden werden
kann. Bei den Schnellfahrten, welche vor einer
Reihe von Jahren auf der elektrischen Bahn Ber-
lin-Zossen angestellt wurden, versagte bei einer
Geschwindigkeit von 200 km in der Stunde bei
den Führern die Akkommodation des Auges. Sie
konnten die auf der Strecke an ihnen vorüber-
eilenden Gegenstände und Zeichen nicht mehr
erkennen, während die Schnellflieger unter den
nach rufen bei jungen kastrierten Tieren die Vögeln bei ohngefähr gleicher Geschwindigkeit
unter die Haut verpflanzten Geschlechtsdrüsen die im Flug noch die kleinsten Insekten erhaschen.
Bildung der ihnen entsprechenden sekundären Es ist das zweifellos eine Unvollkommenheit des
Geschlechtscharaktere hervor, mögen die be- menschlichen Auges, doch fällt sie nicht unter
treffenden Tiere dem einen oder dem anderen den Begriff der Dysteleologie. Es würde im
Geschlecht angehören. Die Mauerbiene deckelt Gegenteil gegen das Gesetz der Sparsamkeit in
ihre Zelle zu, nachdem sie ihr Ei hineingelegt der Natur verstoßen, wenn der Akkommodations-
hat, auch wenn man ihr dieses vorher heraus-
nahm. Die im Wasser ziellos umherschwärmen-
den Samenfäden der Farne werden nach Pfeffer
von der von den weiblichen Organen ausge-
schiedenen Apfelsäure angelockt; sie schlüpfen
aber auch in eine Kapillare, die eine Flüssigkeit
apparat des menschlichen Auges sich mit der
gleichen Schnelligkeit und Präzision wie der der
Schnellflieger, auf die verschiedenen Entfernungen
einstellte, weil der Mensch nach seiner ganzen
natürlichen Organisation sich gar nicht so schnell
wie jene fortzubewegen imstande ist. So geht
SH
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XX. Nr. 36
durchweg zweckmäßigerweise die vollkommene
Ausbildung eines Organs nicht weiter, als es dem
Bedürfnis des Organismus entspricht.
Der Grad der Anpassung ist aber nicht nur
von der Stellung abhängig, in welcher ein Teil
eines Einzelorganismus zu anderen Teilen des-
selben steht; er wird auch bestimmt von der
Stellung des Einzelorganismus oder vielmehr der
Art, zu welcher der Einzelorganismus gehört, zu
den anderen Arten im ganzen Organismenreich.
Das Ziel, welchem sich letzteres nach jeder Um-
wälzung und jedem Hereinbrechen einer neuen
Formenwelt, wie wir sie im Verlaufe der geolo-
gischen Entwicklung beobachten, wieder zu nähern
sucht, ist die Wiederherstellung der Harmonie,
des Gleichgewichtes aller der unzähligen großen
und kleinen Tier- und Pflanzengruppen, welche
uns die Systematik kennen lehrt. Das Ziel ist
erreicht, wenn für jede Art die Gleichung zwischen
dem Vermehrungs- und dem Vernichtungskoeffi-
zienten besteht.
In dem Wettstreit zwischen Schiffspanzer und
Geschütz folgt auf die Verstärkung des Panzers
stets eine Verstärkung der Durchschlagskraft der
Geschosse und umgekehrt. Da ist das Verhältnis
so, wie E. Becher glaubt, es auch auf die Natur
übertragen zu müssen. Jede Nation erstrebt im
Grunde genommen statt des Gleichgewichtes ihr
eignes Übergewicht. Anders ist es im Organismen-
reich. Hier bleibt das Verhältnis zwischen An-
griffswaffen und Schutzwafifen der betreffenden
Gruppen unverändert, wenn nach einem phylo-
genetischen Fortschritt oder nach einer Umwäl-
zung der äußeren Lebensbedingungen das Gleich-
gewicht wieder hergestellt ist. Etwas anderes
wird gar nicht erstrebt. Die Anpassung der Einzel-
organismen an die äußeren Verhältnisse und an
die Konkurrenten im Kampfe ums Dasein kann
daher nur eine relative sein. Die absolute Voll-
kommenheit des Einzelnen wäre eine Unvollkom-
menheit des Ganzen; sie würde, indem sie dem
Einzelnen die Alleinherrschaft gegenüber seinen
Konkurrenten verschaffte, die Harmonie des
Ganzen stören.
Daß tatsächlich ein Gleichgewicht in der Or-
ganismenwelt besteht, haben die von IVIöbius
zuerst entdeckten Gesetze der Biozönosen (1878)
bewiesen. Sie bilden geschlossene Gemeinden
lebender Wesen, in welchen nicht nur bestimmte
Arten, die gerade an der betreffenden Stelle alle
Bedingungen für ihre Entstehung und Erhaltung
finden, dauernd leben, sondern auch die Anzahl
der Individuen der einzelnen Arten bestimmten
Beschränkungen unterliegt. Sie steigt und fällt
wohl in den verschiedenen Jahren, aber sie
schwankt dabei immer nur um einen konstanten
Mittelwert. Dies Verhältnis kann Jahrhunderte
und Jahrtausende hindurch sich unverändert er-
halten, wenn die Lebensbedingungen, wie z. B.
in einem der Kultur nicht unterworfenen Land-
strich, die gleichen bleiben und keine Störungen
von außen eintreten. Es springt in die Augen,
daß bei diesen konstanten Biozönosen die An-
passungen nur relativ vollkommen sein können.
Soll nämlich die Konstanz derselben erhalten
bleiben, dann darf durchschnittlich jedes Paar nur
wieder ein zur Fortpflanzung kommendes Paar
als Nachkommenschaft hinterlassen. Würde das
Verhältnis im Durchschnitt auch nur um einen
Bruchteil überschritten, so müßte die betreffende
Art in kurzer Zeit die anderen Arten, welche die
gleiche Stellung im Naturhaushalt haben, ver-
drängen. Der Kampf ums Dasein muß daher alle
anderen Nachkommen vernichten. Sie dürfen nur
soweit angepaßt sein, daß sich durchschnittlich
in den aufeinanderfolgenden Generationen die
Gleichheit von Vermehrungs- und Vernichtungs-
koeffizienten ergibt.
Es kann dies Moment allerdings nur dann für
die Zweckmäßigkeit der nur relativ vollkommenen
Ausbildung der adaptiven Einrichtungen geltend
gemacht werden, wenn sich zeigen läßt, daß jenes
Gleichgewicht selbst nicht auf Zufall, sondern
wieder auf einem teleologischen Prinzip beruht.
Dieser Nachweis muß erst geführt werden. Denn
es liegt zunächst nahe, das Gleichgewicht als eine
einfache Wirkung des Kampfes ums Dasein auf-
zufassen.
Daß der Vermehrungskoeffizient bei einer Art
nicht dauernd unter den Vernichtungskoeffizienten
sinken kann, läßt sich einfach aus dem Begriff
des Kampfes ums Dasein folgern. Denn eine
solche Art müßte notwendig in kurzer Zeit zu-
grunde gehen. Es läßt sich aber auch die Tat-
sache, daß der Vernichtungskoeffizient in einer
Biozönose durchschnittlich nicht unter den Ver-
mehrungskoeffizienten sinkt, unter gewissen Vor-
aussetzungen aus dem Kampf ums Dasein ableiten.
Angenommen, der Vermehrungskoeffizient sei
zunächst größer als der Vernichtungskoeffizient,
so wird sich die betreffende Art auf Kosten an-
derer Arten so lange ausbreiten und diese ver-
drängen und vernichten, bis sie auf Arten trifft,
die ihr gewachsen sind. Mit diesen muß sie sich
dann, wenn sie nicht selbst zugrunde gehen soll,
ins Gleichgewicht setzen.
Gegen diese Auffassung erhebt sich jedoch
eine Schwierigkeit. Wäre das Gleichgewicht in
den Biozönosen auf diese Weise entstanden, dann
müßte im Verlauf der phylogenetischen Entwick-
lung eine fortwährende Reduktion der Arten statt-
gefunden haben. Wir können das zwar nicht an
Beispielen neuentstandener Arten zeigen, da wir
solche nicht kennen; die von uns beobachteten
neuen Mutanten sind in der freien Natur alle
wieder untergegangen. Wir haben aber eine
Analogie für den Vorgang, der bei einer solchen
phylogenetischen Entwicklung stattgefunden haben
müßte, in den Störungen, welche das Eindringen
fremder Arten in den Biozönosen verursacht. Sie
üben, wenn sie sich überhaupt halten können, in
der Regel eine vernichtende Wirkung auf die
alten Arten aus. So ging infolge der Einführung
der Ziegen auf der Insel St. Helena (15 13) die
N. F. XX. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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dortige alte Flora und Fauna fast völlig zugrunde.
Indem die Ziegen, die sich in ungeheurem Maße
vermehrten, das Unterholz, welches die Humus-
decke an den steilen Hängen festgehalten hatte,
abweideten und zum Absterben brachten, ver-
schwand mit der vom tropischen Regen nun weg-
gespülten Humusschicht auch der Hochwald der
sonst dichtbewaldeten Insel und mit ihm die ganze
von ihm abhängige Flora und Fauna. Ähnliche,
wenn auch nicht so tiefgreifende Störungen ent-
standen bei der Einführung des Mungo in Jamaika,
des europäischen Viehs in den Pampas von Argen-
tinien, der Bisamratte in Böhmen usw. Größer
noch ist der Einfluß neu eingeführter oder einge-
schleppter niederer Organismen, weil diese einen
weiteren Verbreitungskreis zu haben pflegen. Ein
besonders interessantes Beispiel dieser Art wird
von Escherich in seinem Buch: „Die ange-
wandte Entomologie in den Vereinigten Staaten"
erwähnt. Ein Franzose Trouvelot in Medfort
im Staate Massachusetts hatte im Jahre 1868
eine Anzahl von Eiern des Schwammspinners
(Lymantria dispar) aus Europa bezogen, um sie
aus Liebhaberei weiter zu züchten. Einige Raupen
entschlüpften ihm und entwickelten sich im Freien
zu Schmetterlingen, die sich nun mit unheimlicher
Schnelligkeit vermehrten. Nach einigen Jahren
wimmelte der Wohnort des Züchters und seine
nächste Umgebung von Raupen. Die Bäume ,
waren kahl gefressen, die Raupen bedeckten die'
Wände der Häuser, daß man ihre Farbe nicht f
erkennen konnte, sie drangen in die Zimmer ein
und störten die Bewohner im Schlafe. Nach
20 Jahren waren etwa 1600 Quadratkilometer
von dieser Plage heimgesucht. Der Staat be-
willigte jährlich 25000 bis 150 000 Dollar zur
Bekämpfung derselben, ohne einen Erfolg zu er-
zielen. Bis zum Jahre 1904 hatten sich die Rau-
pen über etwa 7400 Quadratkilometer verbreitet.
Nun griff die Zentralregierung in Washington ein.
Es wurde von da ab jährlich etwa eine Million
Dollar aufgewandt, um die Überflutung der be-
treffenden Staaten durch den Eindringling einzu-
dämmen, doch ging sie, wenn auch langsamer,
unaufhaltsam weiter. Die technischen Bekämp-
fungsmittel blieben ihr gegenüber so gut wie
wirkungslos.
Darwin meinte, daß eine starke Vermehrung
einer Art die Schranken in sich trage, da die
Individuen einer Art, weil sie den gleichen Platz
im Naturhaushalt einnehmen, sich selbst die
schärfste Konkurrenz machen müßten. In der
Tat findet zwischen den Individuen des Schwamm-
spinners der heftigste Kampf ums Dasein statt.
Aber wir sehen nicht, daß dadurch die Aus-
breitung der Art über immer weitere Gebiete
aufgehalten wird. Im Gegenteil treibt der Kampf
ums Dasein sie an, immer weitere, noch unbesetzte
Gebiete zu erobern. Auch das ist nicht richtig,
daß die Widerstände mit dem weiteren Vordringen
wachsen. Die Widerstandskraft der bedrohten
Pflanzenarten wird nicht größer, sondern immer
geringer, da ihre Individuenzahl abnimmt. Je
kleiner aber die Zahl der Individuen einer Art
ist, desto größer ist die Gefahr für das einzelne
Individuum. Die körnerfressenden Vögel können
einem großen Getreidefeld keinen ernstlichen
Schaden zufügen, dagegen erwähnt Darwin
selbst, daß er auf einem einzelnen Beete in seinem
Garten niemals habe Getreide zur Reife bringen
können. Allerdings würde der Schwammspinner
in Amerika, wenn auch alle gegen ihn ange-
wandten Bekämpfungsmittel erfolglos geblieben
wären, schließlich eine Grenze seiner Ausbreitung
in den klimatischen Verhältnissen gefunden haben.
Und dann wäre auch notwendig, bei ihm eine
Herstellung des Gleichgewichts zwischen Ver-
mehrungs- und Vernichtungskoeffizienten erfolgt.
Es gibt ja stets Pflanzen, welche den Angriffen
der Schädlinge einen stärkeren Widerstand ent-
gegenzusetzen vermögen und so einen relativen
Schutz gegen die drohende Gefahr besitzen. Wenn
diese auch durch die Schädhnge geschädigt wer-
den, so überwiegt doch bei ihnen der Vorteil,
der ihnen durch die Vernichtung ihrer Konkur-
renten erwächst, den Nachteil. Sie werden all-
mählich die Plätze derselben einnehmen. Ist der
Schädling an den Grenzen der Ausbreitungs-
möglichkeiten angekommen, so beginnt nun der
intensivere Kampf gegen diese partiell geschützten
Pflanzenarten. Auch von diesen gehen noch
manche unter, bis nur die übrig sind, welche dem
' Schädling die Wage halten. Wie das Vordringen
des Schwammspinners zeigt, verläuft dieser Prozeß
so schnell und wegen der immer größer werden-
den Peripherie seines Verbreitungsgebietes mit so
starker Zunahme der Verbreitungsgeschwindigkeit
— in den ersten 20 Jahren hatte der Schwamm-
spinner 1600 Quadratkilometer, in den folgenden
15 Jahren (7400—1600) 5800 Quadratkilometer
erobert — daß nur die Pflanzen erhalten bleiben
können, die schon von vornherein einen partiellen
Schutz besaßen, daß derselbe also nicht erst im
Kampf mit den Schädlingen gezüchtet sein kann.
Das Resultat einer solchen Entwicklung haben
wir in den Pflanzenarten vor uns, die wir in der
Heimat der Blattschneideameisen antreffen. Alle
europäischen Pflanzenarten, die dort eingeführt
werden, erliegen in kurzer Zeit den Angriffen der
Ameisen. Dagegen besitzen die dort heimischen
Pflanzen gegen diese jenen partiellen Schutz. Alle
anderen Pflanzen müssen nach dem Auftreten der
Blattschneideameisen verdrängt oder vernichtet
worden sein.
Die Ausbreitung des Schädlings kommt also
wohl auch, wenn nur der Kampf ums Dasein im
Spiel ist, zum Stillstand, aber erst wenn der Er-
oberungszug vollendet und ihm zahlreiche Pflan-
zen- und Tierarten zum Opfer gefallen sind.
Gegen den ganzen Vergleich, bei welchem wir
von der Erschütterung des Gleichgewichtes in
einer Biozönose, die mit dem Eindringen einer
fremden Art in dieselbe verbunden zu sein pflegt,
auf die Wirkung des Auftretens neuer Formen in
Si6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
der phylogenetischen Entwicklung schließen,
könnte man nun den Einwand erheben, daß sich
die Fortschritte in den Anpassungen einer Art
nach Darwin in so kleinen Schritten und so
langen Zeiträumen vollziehen, daß die natürliche
Zuchtwahl — anders als bei dem Vordringen des
Schwammspinners — bei den bedrohten Arten
stets eingreifen und das Gleichgewicht in den
Biozönosen wieder herstellen konnte, ehe es zu
einer wesentlichen Verschiebung desselben kam.
Diese Darwinsche Vorstellung, nach welcher
die phylogenetische Entwicklung in gleitenden,
auf geologische Zeiträume verteilten Übergängen
erfolgte, ist jedoch durch den Neu-Mendelismus
(W. Johannsen) erschüttert worden. Nach ihm
macht die Entwicklung nur dann einen Schritt
nach vorwärts, wenn ein neues Gen auftritt. Wenn
nun auch die Entstehung der Gene noch in voll-
ständiges Dunkel gehüllt ist, so wissen wir doch,
daß es sich bei dem Auftreten derselben nicht
um gleitende Übergänge, sondern um Schritte
oder vielmehr um kleinere oder größere Sprünge
handelt, die plötzlich da sind. Außerdem über-
sieht man bei der Darwinschen Auffassung, daß
die Verschiebung des Gleichgewichtes zwischen
dem Vermehrungskoeffizienten und dem Ver-
nichtungskoeffizienten gar nicht allein durch Ver-
besserung der Anpassungen zustande kommt. Sie
kann erfolgen entweder durch Erniedrigung des
Vernichtungskoeffizienten, d. h. durch bessere An-
passung oder durch Erhöhung des Vermehrungs-
koeffizienten, d. h. durch größere Fruchtbarkeit.
In betreff dieser läßt sich nun zeigen, daß sie von
Art zu Art, von Sippe zu Sippe den größten
Schwankungen und Verschiedenheiten unterworfen
ist. Während die Forelle 2000 Eier legt, legt
der Hering 150000, der Karpfen 500000, der
Stör 2 Millionen, der Cabeljau 4 Millionen, der
Steinbutt 30 Millionen Eier. Ähnliche, wenn auch
nicht so große Verschiedenheiten finden hinsicht-
lich der Fruchtbarkeit auch zwischen den ver-
schiedenen Arten der Vögel und der Säugetiere
statt. So legt der Kondor nach Darwin 2 Eier,
der Strauß 20, der Eissturmvogel nur i Ei. Es
sind das Sprünge von einer Art zur anderen, die
der Art mit der größeren Fruchtbarkeit bei ihrer
Entstehung zum Teil ein enormes Übergewicht
gegeben haben müssen. — Der Vergleich
des Auftretens neuer Formen in der phylogene-
tischen Entwicklung mit dem Einbruch fremder
Arten in eine Biozönose ist daher berechtigt.
Schon eine geringe Verschiebung des Gleichge-
wichtes zwischen Vermehrungs- und Vernichtungs-
koeffizienten nach der Seite des Vermehrungs-
koeffizienten hat ja den größten Einfluß auf die
Verbreitungsmöglichkeiten einer Art. Hinterläßt
das Elternpaar durchschnittlich statt eines zwei
zur Forpflanzung kommende Paare von Jungen,
so erreicht, wie bekannt, nach dem Schachbrett-
felderproblem, die Nachkommenschaft bereits in
der 64. Generation eine Zahl mit einer 20 stelligen
Ziffer. Tritt eine neue Form auf, so ist nun eine
dreifache Möglichkeit gegeben. Dieselbe ist den
Konkurrenten entweder unterlegen, dann ver-
schwindet sie wieder, oder sie steht mit ihnen
im Gleichgewicht, dann tritt eine Störung der
Biozönosen nicht ein, oder sie ist ihnen überlegen,
dann verbreitet sie sich mit Unterdrückung anderer
Formen wie der Schwammspinner in Massachusetts.
Der Gleichgewichtsfall ist aber nur ein Grenzfall
unter unendlich vielen anderen möglichen Fällen.
Wenn nur der Zufall im Spiel ist, muß daher
auch jeder Fortschritt in der phylogenetischen
Entwicklung in der Regel mit einer Störung der
bestehenden Biozönosen und mit Vernichtung zahl-
reicher anderer Formen verbunden gewesen sein.
Wie war nun der tatsächliche Verlauf der
Entwicklung nach dem Zeugnis der Geologie?
Er entspricht dem Ergebnis unserer Erwägungen
nur zum Teil. In jeder Formation taucht wohl
eine Welt neuer Geschlechter und Sippen auf
und verschwindet eine andere vom Schauplatz.
Doch verläuft hier die Verdrängung der alten
Arten durch die neuen in der Regel anders als
bei dem Einbrechen einer neuen Form in die
jetzt bestehenden Biozönosen , wo eine Form
unaufhaltsam vordringt und hundert andere Formen
verdrängt und vernichtet. Das letztere kommt
allerdings auch in der geologischen Entwicklung
vor. Die frappantesten Beispiele dafür bilden die
Fusulinen im Karbon und die Nummuliten im
Eozän. Diese Foraminiferensippen eroberten das
ungeheure zentrale Mittelmeer (Thetys) mit Aus-
nahme seiner nördlichen Buchten so vollständig,
daß die mächtigen Schichten der betreffenden
Kohlen- und Nummulitenkalke fast nur von Fusu-
linen- und Nummulitenschalen gebildet werden.
Kalkgehäuse liegt hier auf Kalkgehäuse. Ein ähn-
liches Vorherrschen einzelner Sippen begegnet
uns noch bei den Rudisten der Kreidezeit, beim
Encrinus liliformis in einzelnen Schichten des
Muschelkalkes und bei manchen anderen Formen.
Doch sind das immer nur Ausnahmen. In der
Regel erscheinen gleichzeitig zahlreiche neue Ge-
schlechter, die sich im Gleichgewicht befinden.
Nach unseren obigen Erörterungen könnten wir,
wenn nur der Kampf ums Dasein im Spiele wäre,
einen solchen Tatbestand nur als das in ver-
kürzender Perspektive geschaute Endergebnis ver-
schiedener Prozesse ansehen, von denen jeder so
verlaufen sein müßte, wie wir es für die Ent-
stehung des Pflanzenbestandes im Gebiet der Blatt-
schneideameisen annahmen. Daß die geologische
Urkunde von ihnen nichts meldet, ließe sich
daraus erklären, daß ihr Ablauf nur kurze Zeit in
Anspruch genommen haben könnte. Aber jeden-
falls müßten in jedem einzelnen Prozeß zahlreiche
Arten untergegangen sein. Die Zahl der
Arten würde sich im Verlauf der phylo -
genetischen Entwicklung nicht ver-
größert haben, sie müßte im Gegenteil
reduziert worden sein. Das steht jedoch
mit den Tatsachen in Widerspruch.
Wenn die Folgerungen, die sich aus der An-
N. F. XX. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
517
Wendung des Zufallsprinzipes auf die phylogene-
tische Entwicklung und die Herstellung des Gleich-
gewichtes im Organismenreich mit dem Tatbe-
stand in Widerspruch stehen, so ist das ein Be-
weis, daß hier nicht nur der Zufall im Spiele ge-
wesen sein kann, sondern noch ein anderes Prinzip
eingegriffen haben muß. Das war ja bekanntlich
auch die Auffassung von Goethe, der einen
wunderbaren intuitiven Blick für die großen Zu-
sammenhänge der Natur besaß und vieles bereits
ahnte, was die exakte Naturforschung erst lange
nach ihm feststellen konnte. Er erkannte zuerst
das Problem, das in dem Gleichgewicht, in welchem
sich die Arten innerhalb des Organismenreiches
befinden, besteht und nahm zur Erklärung des-
selben ein „Kompensationsgesetz" an. Ähnlich
urteilte Geoffroy de St. Hilaire, der von einer
Loi de balancement organique sprach. Eine deut-
liche Vorstellung, davon, worin dies Kompen-
sationsgesetz bestehe und wie nach ihm die Ent-
wicklung verlaufen sei, besaßen freilich beide nicht.
Alphonse de Candolle formulierte es zwar
dahin, „daß wenn eine nützliche Änderung in
einem Punkte eines Lebewesens entstehe, auf
einer anderen Stelle eine Änderung im gegensätz-
lichen Sinne erfolge". Doch wies Glos schon
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nach, daß
sich das Kompensationsgesetz in dieser Form
nicht aufrecht erhalten lasse (Glos, Examen cri-
tique de la loi dite de balancement organique
dans le regne vegetal, 1864).
Einen Gegner der teleologischen Auffassung
des biologischen Geschehens wird der obige
Kettenschluß nun schwerlich überzeugen, da in
ihn, wie es auf dem phylogenetischen Gebiete
stets der Fall ist, verschiedene Voraussetzungen
eingehen, die sich durch Beobachtung nicht veri-
fizieren lassen und er aus diesem Grunde zu einem
zwingenden Beweis nicht ausreicht. Es ist darum
von Wichtigkeit, daß wir jetzt Kompensationen,
wie sie Goethe nur voraussetzte, ohne sie im
einzelnen nachweisen zu können, wirklich kennen
gelernt haben ; und zwar Kompensationen, die sich
nicht auf das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl
zurückführen lassen. Bei dem Kampf gegen die
Schädlinge in der Forst- und Landwirtschaft hat
inan Beobachtungen gemacht, welche uns auf
einem allerdings beschränkten Gebiete einen Blick
in den wunderbaren Mechanismus tun lassen, durch
den jener Ausgleich hergestellt wird.
Charakteristisch ist es für das Auftreten der
Schädlinge, daß sie sich in manchen Jahren und
Gegenden plötzlich in ungeheurer Weise ver-
mehren und zu einer Gefahr für die Kulturen
werden, um dann ebenso schnell wieder auf ihren
früheren Stand zurückzusinken. Die technischen
Bekämpfungsmittel versagen bei einzelnen Schäd-
lingen, wie bei der Nonne, dem Kiefernspinner
und zahlreichen anderen Schädlingen, fast voll-
Ständig. Was das Gleichgewicht wieder herstellt,
ist eine natürliche Kompensation. Man hat sie
zuerst bei der Nonne entdeckt. Sie besteht darin.
daß die Raupe derselben von einem Schmarotzer
(einer Tachine) befallen und zum Absterben ge-
bracht wird. Weitere Beobachtungen haben zur
Aufstellung des Gesetzes geführt, daß die Ver-
mehrung der Schädlinge in der Regel durch die
Nützlinge, wie man vom land- und forstwirtschaft-
lichen Standpunkte aus die Schmarotzer nennt, in
Schranken gehalten wird und eine Überflutung
durch jene nur dann zustande kommt, wenn aus
irgendeinem Grunde die Kompensation nicht
eingreifen konnte. Dieses Gesetz ist nun in
interessanter Weise durch das Experimentum
crucis bestätigt worden.
In Kalifornien war eine Schildlaus aus Austra-
lien eingeschleppt worden. Da der die Vermeh-
rung derselben in Australien regulierende Nutzung
nicht gleichzeitig mit eingeführt worden war, ver-
mehrte sich die Schildlaus in solchem Maße, daß
den in Kalifornien wirtschaftlich nicht unbedeuten-
den Orangen- und Zitronenplantagen der Unter-
gang drohte. Köbele, ein Deutsch- Amerikaner,
riet, den entsprechenden Nutzung in Australien
aufzusuchen, wo derselbe vorhanden sein müsse,
da dort die Vermehrung der Schildlaus in engen
Schranken gehalten sei. Trotz des Widerstandes
kurzsichtiger Behörden, welche die Kosten scheuten,
gelang es ihm, seinen Vorschlag durchzusetzen.
Er ging selbst nach Australien und entdeckte hier
den betreffenden Nutzung in einem Marienkäfer,
dem Novius cardinalis. In einem Staatsinsektorium
wurde dieser nun in Kalifornien in großen Massen
künstlich gezüchtet und in Kisten und Säcken
an die Plantagenbesitzer geschickt. In kurzer Zeit
war die Macht der Seuche vollständig gebrochen.
Mit gleichem Erfolge ging Prof. B erlese in
Florenz gegen eine andere Schildlaus (Diaspis
pentagona) vor, welche aus Amerika ohne den
die Vermehrung regulierenden Nützling nach
Italien verschleppt war und bei ihrer hemmungs-
losen Verbreitung die Grundlage der Seidenraupen-
zucht, die Maulbeerkulturen zu vernichten drohte.
B erlese entdeckte 1906 in einer amerikanischen
kleinen Schlupfwespe (Prospaltella berlesei) den
Kompensator. Durch ihre Einführung gelang es
auch in Italien die Gefahr für die Maulbeerkulturen
zu beseitigen. Den schlagendsten Beweis für die
Geltung des Kompensationsgesetzes bildet aber
die jetzt gelungene Eindämmung der Verbreitung
des Schwammspinners in Massachusetts. Der
Schwammspinner hat in Europa und Asien ein
sehr großes Verbreitungsgebiet, tritt aber hier
überall in der Regel in so geringer Individuenzahl
auf, daß er keinen größeren Schaden verursacht.
Howard, der Leiter des dem Ackerbauministe-
rium in Washington angegliederten entomologi-
schen Institutes, schloß daraus, wie Köbele,
daß in Europa und Asien Regulationen gegen die
unmäßige Vermehrung des Schädlings vorhanden
sein müßten. Als darum alle technischen Be-
kämpfungsmittel sich als wirkungslos erwiesen,
folgte er dem Beispiel von Köbele und B er-
lese. Dabei ging er in der großzügigsten Weise
518
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
vor. In den verschiedensten Ländern bzw. Be-
zirken Europas und Asiens, in denen der Schwamm-
spinner angetroffen wird* errichtete er biologische
Beobachtungs- und Sammelstationen mit der Auf-
gabe, die Nützlinge, welche der Verbreitung des
Schwammspinners entgegenwirkten, aufzusuchen.
Auf diese Weise bekam er eine große Menge ver-
mutlicher Nützlinge in die Hand, die dann in
zahlreichen Feldstationen in Amerika genauer auf
ihr Verhalten und ihre praktische Verwendbarkeit
untersucht wurden. So gelang es ihm nicht nur
das von ihm verfolgte praktische Ziel zu erreichen
und der Schwammspinnerplage in Massachusetts
ein Ende zu bereiten; es wurde auch der ganze
Mechanismus der Regulationen genauer, als es
bis dahin geschehen war, festgestellt (vgl. Esche-
rich 1. c).
Das Charakteristische in dem Verhältnis von
Nutzung und Schädling besteht darin, daß die
Nützlinge hinsichtlich ihrer Ernährung bzw. Brut-
pflege durch erblichen Instinkt ausschließlich auf
die Schädlinge und zwar je auf eine bestimmte
Art der Schädlinge angewiesen sind. Infolge-
dessen führt der Ausschlag nach der einen Seite
von selbst den Ausschlag nach der anderen Seite
herbei. Durch das flutartige Anschwellen der
Schädlinge wird der Boden für die Vermehrung
der Nützlinge geschaffen, die ja nicht vom Him-
mel fallen, sondern schon da sind und da, wo es
zu einer Überflutung der Schädlinge kommt, nur
durch zufällige Umstände so reduziert waren, daß
sie ihre Funktion als Bremsvorrichtung für die
Vermehrung der Schädlinge nicht mehr mit Er-
folg versehen konnten. Im reziproken Verhältnis
zur Vermehrung der Nützlinge steht nun die Ab-
nahme der Schädlinge. Mit dieser Abnahme der
Schädlinge muß aber auch die Zahl der Nützlinge
wieder zurückgehen, da ihre Existenz von der
Existenz jener abhängt; doch würden ohne eine
weitere Regulation die Nützlinge doch schließlich
die Oberhand über die Schädlinge gewinnen.
Damit wäre dann die völlige Ausrottung der
Schädlinge und zugleich der Untergang der Nütz-
linge gegeben. Dies wird dadurch vermieden,
daß auch die Vermehrung der Nützlinge wieder
durch Schmarotzer, die sog. Schädlinge zweiten
Grades, eingedämmt wird. Diese legen ihre Eier
nicht ausschließlich, aber doch mit Vorliebe in
den Larven der Nützlinge ab; sie tun dies vor
allem dann, wenn die Nützlinge überhand genom-
men haben. Dadurch erhalten die Schädlinge
wieder Spielraum.
So greifen verschiedene Faktoren ineinander,
um das Gleichgewicht herzustellen, das trotz des
zeitweiligen Schwankens ein stabiles bleibt.
Die Entstehung dieser Kompensationen kann
nun nur zum Teil auf die natürliche Zuchtwahl
zurückgeführt werden. Wir haben es mit zwei
verschiedenen Kompensationen zu tun. Durch die
eine, welche in dem Verhältnis des Nützlings zum
Schädling besteht, wird das Gleichgewicht in den
Biozönosen hergestellt, die Existenz der Schäd-
lings- und Nützlingsart wird aber dabei aufs
äußerste gefährdet. Die natürliche Zuchtwahl
hätte daher die Entstehung eines Instinktes, durch
welchen der Nutzung hinsichtlich seiner Ernährung
bzw. seiner Brutpflege auf eine einzige bestimmte
Schädlingsart angewiesen ist, nicht fördern können,
sondern sie notwendig unterdrücken müssen. Bei
der zweiten, der Hilfskompensation, welche in dem
Verhältnis des Schädlings zweiten Grades zum
Nützling besteht, liegen die Verhältnisse anders.
Der Schädling zweiten Grades ist nicht an die
Existenz des Nützlings gebunden und daher durch
seine Beziehungen zu diesem in seinen Vermeh-
rungsmöglichkeiten nicht eingeschränkt. Auf die
Entstehung dieser Regulation ist das Prinzip der
natürlichen Zuchtwahl in Thesi anwendbar. Aber
wenn das auch bei der Hauptregulation nicht der
Fall ist, so könnte man doch immerhin versuchen,
auch bei ihr das Zusammenwirken der verschie-
denen Faktoren als zufälliges Ergebnis zufalliger
Beziehungen hinzustellen. Da wir eine solche
Regulation zwar nicht immer, aber doch in sehr
vielen Fällen antreffen, würde dem Zufall damit
eine größere Leistung aufgebürdet als man geneigt
sein wird, ihm im allgemeinen zuzutrauen; aber
unmöglich wäre es nicht, daß der bloße Zufall bei
der Entstehung des Verhältnisses von Nützling
und Schädling gewaltet hätte. Ausgeschlossen ist
dagegen diese Auffassung bei dem Symphilie-
verhältnis zwischen den Lomechusini und den
Formicaarten, auf das E. Wasmann hingewiesen
hat. Es tritt uns am deutlichsten in den Be-
ziehungen zwischen Lomechusa strumosa und
Formica sanguinea entgegen und dient, wie ich
an anderer Stelle zeige, ebenso wie das Verhältnis
von Nützlingen und Schädlingen, als Kompensation
zur Erhaltung des Gleichgewichtes in den Biozö-
nosen. Auch hier ist jede Art der Lomechusini
hinsichtlich der Ernährung bzw. der Brutpflege
auf eine bestimmte Formicaart angewiesen; aber
die betreffende Art der Lomechusini ist nicht nur
durch einen erblichen Instinkt an eine bestimmte
Formicaart gebunden, sondern ebenso andererseits
die Formicaart an die bestimmte Lomechusiniart.
Bei einer derartigen Regulierung kann von Zufall
nicht mehr die Rede sein, wir sind genötigt auf
ein teleologisches Prinzip zu rekurrieren.
Damit ist ein fester Punkt für die Beurteilung
der Frage gegeben, ob das Gleichgewicht in die
Biozönosen auf einem teleologischen Prinzip be-
ruht oder auf die natürliche Zuchtwahl bzw. bloße
Zufälligkeiten zurückzuführen ist. Von ihm aus
gewinnen auch die anderen für die teleologische
Auffassung geltend gemachten Gründe eine größere
Sicherheit. Ja wir dürfen, wenn das teleologische
Prinzip einmal gilt, schließen, daß auch der in
der phylogenetischen Entwicklung oft in so merk-
würdiger Weise hervortretende Wechsel in der
Fruchtbarkeit der Arten und Sippen durch das-
selbe bestimmt ist und Arten nur dann mit einer
so ungeheuren Fruchtbarkeit, wie sie etwa der
Bandwurm besitzt, auftreten, wenn auch der Ge-
I
N. F. XX. Nr. 36
fahrenkomplex, mit dem sie es zu tun haben, ein
außerordentlich großer ist. Eine besondere Kom-
pensation würde dann nur in den Fällen nötig
sein, wo von Zeit zu Zeit sich einstellende Ge-
fahrenkomplexe eine bestimmte Art bedrohen
und sie vernichten würden, wenn sie nicht eine
über den gewöhnlichen Vernichtungskoeffizienten
hinausgehende Vermehrungsfähigkeit besäßen. Sie
muß bei normalen Verhältnissen kompensiert
werden.
Beruht das Gleichgewicht in den Biozönosen
und im Organismenreich auf einem teleologischen
Prinzip , so ist damit auch die Antwort auf die
Frage gegeben, die uns zunächst beschäftigte, ob
die Unvollkommenheiten der adaptiven Einrich-
tungen als Dysteleologien anzusehen sind. Sie
sind es nicht. Denn die nur relativ vollkommenen
Einrichtungen entsprechen dann einem höheren
Naturzweck und sind gerade wegen ihrer nur
relativen Vollkommenheit zweckmäßig. Auch
Weis mann muß anerkennen, daß die Verbesse-
rung der adaptiven Einrichtungen auf dem Wege
der Selektion aufhört, wenn die Erhaltung der
Art gesichert ist. So bleibt nach ihm die Ein-
richtung der Fruchtbestäubung unvollkommen,
solange der Bestand der Art durch diesen Mangel
nicht gefährdet ist (Deszendenztheorie I, S. 226).
Hinsichtlich des fehlerhaften Instinktes bei Sitaris
humeralis sagt er: „Warum sollte sich in diesem
Falle der auslösende Reiz noch weiter speziali-
sieren, wenn ohne dies immer noch genug Sitaris-
larven auf Weibchen gelangen. — Was dem In-
stinkt an Genauigkeit abgeht, wird durch die
Masse der jungen Larven (100 Eier) ersetzt." Das
Ziel ist also auch nach W e i s m a n n die Gleichung
zwischen Vernichtungs- und Vermehrungskoeffi-
zienten und wird entweder durch Anpassung oder
durch erhöhte Fruchtbarkeit erreicht.
Unsere ganze Beweisführung war bisher darauf
gerichtet, nachzuweisen, daß an dem Zustande-
kommen des Gleichgewichtes im Organismenreich
ein teleologisches Prinzip beteiligt ist. Daraus
folgerten wir dann, daß ein Widerspruch zwischen
den unvollkommenen adaptiven Einrichtungen und
der sonstigen Zweckmäßigkeit im biologischen
Geschehen nicht besteht. Wir können diesen
Schluß aber auch umkehren.
Ich erinnere dabei an den geistreichen Beweis
von G. Wolff für die Richtigkeit der Abstam-
mungslehre. Nach ihm wird die Abstammungs-
lehre immer nur eine Hypothese bleiben, da sie
durchweg auf Analogieschlüssen beruht und den
Analogieschlüssen der hypothetische Charakter in
besonderem Grade anhaftet; es soll aber die An-
nahme einer Hypothese gerechtfertigt sein, wenn
sie einen wirklichen Widerspruch löst. Bei dem
gewöhnlichen morphologischen und embryologi-
schen Beweisen für die Abstammungslehre geschieht
das nicht. Denn die Tatsache, daß z. B. die
Hand des Menschen und der Fuß des Pferdes
oder der Flügel des Vogels nach dem gleichen
Konstruktionsprinzip gebaut sind, bietet wohl
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
519
Schwierigkeiten für die Erklärung, enthält jedoch
in sich keinen Widerspruch. Wohl aber besteht
ein solcher zwischen den rudimentären Organen
und der allgemeinen Zweckmäßigkeit des biologi-
schen Geschehens. Die Abstammungslehre löst
diesen Widerspruch, damit ist ihre Annahme nach
G. Wolff gerechtfertigt. Darin, daß sie auch
eine Antwort auf die schwierigen Fragen hat,
welche die anderen morphologischen und embryo-
logischen Fragen an uns stellen, liegt natürlich
eine weitere Bestätigung der Annahme, ohne daß
es jedoch nach G. Wolff ein Beweis für dieselbe
wäre.
In analoger Weise können wir nun auch
schließen : da durch die Annahme, daß das Gleich-
gewicht im Organismenreich auf einem teleo-
logischen Prinzip beruht, der Widerspruch zwischen
der allgemeinen Zweckmäßigkeit im biologischen
Geschehen und den Unvollkommenheiten der
adaptiven Einrichtungen gelöst wird, ist die An-
nahme selbst gerechtfertigt. Auch hier würde
zur weiteren Bestätigung derselben dienen, daß
sie zugleich, ähnlich wie die Abstammungslehre
Tatsachen in ein helleres Licht stellt, die zwar
keine Widersprüche enthalten, aber doch Schwierig-
keiten für ihre Auffassung bieten. Hierher gehört
die fremddienliche Zweckmäßigkeit Bechers,
bei welcher eine Art adaptive Einrichtungen zum
Vorteil einer anderen Art besitzt, gehören aber
auch die merkwürdigen wechselseitigen An-
passungen wie bei den Blütenpflanzen und den
betreffenden blütenbefruchtenden Insekten, oder
die wechselseitigen Anpassungen von zwei Indi-
viduen derselben Art bei den Geschlechtsindi-
viduen, oder die wechselseitigen Anpassungen ver-
schiedener Teile eines Individuums bei den
Koaptationen. Die letzteren sind besonders
interessant und wichtig, da sie vielfach auch
auf experimentellem Wege festgestellt werden
konnten. Ich erinnere nur an die vonWessely
in jüngster Zeit gemachten Versuche, der künstlich
die Verkleinerung einer Augenlinse des neuge-
borenen Jungen durch Schnitt herbeiführte und
nun beobachten konnte, daß infolge dieser Ver-
kleinerung ein Kleinerbleiben des einen Gesamt-
auges in allen seinen Dimensionen eintrat, das
wieder ein Zurückbleiben des Wachstums der
Nachbarteile einschHeßlich der Knochenhöhle nach
sich zog.
Nehmen wir die Bezeichnungen fremddienliche
und selbstdienliche Zweckmäßigkeit im Bech er-
sehen Sinne, so ist die hier hervortretende Zweck-
mäßigkeit bald selbstdienlich, beiden Koaptationen;
bald fremddienlich, bei den Kompensationen, bei
denen der Vorteil nicht auf Seiten der beiden
Arten liegt, welche die Kompensation bilden,
sondern der anderen Arten, welche mit ihnen der
Biozönose angehören ; bald zugleich selbstdienlich
und fremddienlich bei den wechselseitigen An-
passungen von Blüten und Insekten. Wir können
diese verschiedenen Arten der Zweckmäßigkeit aber
unter der gemeinsamen Bezeichnung der gemein-
520
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
schaftdienlichen Zweckmäßigkeit zusammen-
fassen, und zwar dient die Zweckmäßigkeit hier
Gemeinschaften, die durch funktionelle Beziehungen
zwischen den Gliedern der Gemeinschaft, seien es
nun zahlreiche Arten, oder nur zwei Arten, oder
Individuen einer Art, oder Teile eines Individuums,
hergestellt werden und in ihnen bestehen. Das
gilt auch von den Biozönosen. Bei ihnen handelt
es sich um Arten, welche gemeinschaftlich einen
größeren oder kleineren Bezirk bewohnen. Die
funktionellen Beziehungen zwischen ihnen werden
durch den Kampf ums Dasein hergestellt, der so
geregelt ist, daß im Durchschnitt die Gleichung
zwischen dem Vermehrungs- und dem Ver-
nichtungskoeffizienten besteht. Dem Zustande-
kommen dieser Gleichung dienen nun ebenso wie
etwa die Kompensationen auch die nur unvoll-
kommenen adaptiven Einrichtungen.
Wenn aber die letzteren damit eine ausreichende
Erklärung gefunden haben und mit der das ganze
biologische Geschehen beherrschenden Zweck-
mäßigkeit in Einklang gebracht sind, so bleibt
noch das Problem der scheinbar direkt
zweckwidrigen Erscheinungen (S. 513)
ungelöst. Die in den Biozönosen hervortretende
gemeinschaftdienliche Zweckmäßigkeit hat mit
ihnen nichts zu tun. Wohl aber gehen auch sie
in der gemeinschaftdienlichen Zweckmäßigkeit auf,
wenn man bei letzterer unter Gemeinschaft die
Artgemeinschaft in ihrer realen Bedeutung ver-
steht.
Das Wort Art bezeichnet nicht nur eine be-
griffliche Zusammenfassung bestimmter Individuen,
die gleiche Merkmale besitzen, sondern auch, wie
die Worte Familie und Stamm, eine reale Ge-
meinschaft. Sie wird gebildet von Individuen,
deren Keimplasma bzw. Genotyp sich von einem
und demselben Genotyp ableitet und im Wesent-
lichen unverändert geblieben ist. Von den Ge-
meinschaften der Familie, des Stammes, der Varietät
unterscheidet sich die Artgemeinschaft dadurch,
daß bei ihr der gemeinsame Ursprung des Genotyps
höher liegt. Auf die weiteren Unterschiede ein-
zugehen, ist hier nicht der Ort.
Alle der Erhaltung der Art dienenden Vor-
gänge sind im höchsten Grade zweckmäßig; sie
unterscheiden sich dabei von den zweckmäßigen
Vorgängen, bei denen der menschliche Intellekt
beteiligt ist, dadurch, daß sie nicht auf Grund
von Urteilen, welche den einzelnen Fall berück-
sichtigen, zustande kommen, sondern nach einem
teleologischen Gesetz. Nach diesem tritt der Ab-
lauf der Vorgänge, wie bei dem anorganischen
Geschehen, mit Notwendigkeit ein, entspricht aber
dabei dem unter den äußeren und inneren Be-
dingungen, welche ihn ausgelöst haben, vor-
handenen Bedürfnis des Organismus, doch ist das
Gesetz nur auf die Bedingungen eingestellt, welche
man als die normalen bezeichnen kann, d. h. auf
Bedingungen, welche unter den gewöhnlichen
Verhältnissen eintreten, unter denen die Art lebt.
Daß die Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens
eine gesetzliche ist und nicht auf Willkür beruht,
ist selbst wieder eine außerordentlich zweckmäßige
Einrichtung. Nur so ist das Ineinandergreifen der
einzelnen Vorgänge genügend gesichert. Ein der
menschlichen intelligenten Handlung analoges
zweckmäßiges Geschehen, wie es die Psychovita-
listen annehmen, würde viel zu langsam ablaufen
und zu unsicher sein, als daß bei ihm das wunder-
bare Zusammenspiel der Einzelvorgänge, das uns
z. B. bei dem Entwicklungsgeschehen oder bei
dem Chemismus der physiologischen Prozesse
überhaupt entgegentritt, möglich wäre. Es kommt
bei allen diesen Vorgängen ja nicht nur darauf
an, daß etwas geschieht, sondern daß es auch in
dem richtigen Rhythmus geschieht. Es muß
jeder Vorgang präzis einsetzen und ablaufen und
tausend verschiedene Vorgänge müssen sicher
ineinandergreifen. Auch bei dem menschlichen
Organismus sind daher die Entwicklungsvorgänge
und die lebensnotwendigen physiologischen Pro-
zesse der Willkür entzogen und naturgesetzlich
geregelt. Dabei ist die möglichste Einfachheit
der teleologischen Einrichtungen dadurch gewahrt,
daß sie nur den verschiedenen normalen äußeren
und inneren Bedingungen — normal im obigen
Sinne genommen — angepaßt ist.
Eine solche Einrichtung genügt für den Natur-
zweck. Die von den gewöhnlichen abweichenden,
entweder künstlich gesetzten oder durch besondere
individuelle Verhältnisse gegebenen Bedingungen
brauchen nicht berücksichtigt zu werden, da der
Naturzweck nur auf den Bestand der Art und
das Gleichgewicht der Arten im Natur-
reich, nicht auf die Erhaltung des einzelnen In-
dividuums als solches geht.
Wenn man neben der artdienlichen Zweck-
mäßigkeit noch eine selbstdienliche angenommen
hat, so beruht dies darauf, daß man dieses Ver-
hältnis verkannte. Da die gemeinschaftdienliche
Zweckmäßigkeit uns bei der Artgemeinschaft stets
in den Lebensprozessen der Individuen entgegen-
tritt — die Artgemeinschaft besteht ja nur in In-
dividuen — und darauf gerichtet ist, sowohl den
gegenwärtigen Bestand der Art zu erhalten, wie
den zukünftigen Bestand derselben zu gewähr-
leisten, führte man zwar die Einrichtungen, welche
dem zukünftigen Bestand der Art sichern sollen,
auf die artdienliche; die auf die Erhaltung des
gegenwärtigen Bestandes gerichteten aber auf die
selbstdienliche Zweckmäßigkeit zurück. Schienen
sie doch im Dienste des Individuums selbst zu
stehen. Man übersah, daß bei ihnen das Indi-
viduum nur insoweit in Betracht kommt, als es
zum Bestand der Art gehört, nicht als einzelnes
Individuum an sich.
Daß es selbstdienliche Zweckmäßigkeit im
Sinne einer Zweckmäßigkeit, die auf die Erhaltung
des einzelnen Individuums und auf die besonderen
individuellen Bedingungen, unter denen es lebt,
eingestellt ist, nicht gibt, ist eine Tatsache, die
man eigentlich gar nicht erst besonders festzu-
stellen hat, da sie sich dem Beobachter unmittel-
N. F. XX. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
521
bar aufdrängt. Ist doch die ganze EJrnährung der
Tierwelt auf Vernichtung von Individuen der
Tier- und Pflanzenwelt angewiesen. Ein einziger
Bissen eines Wales bedeutet den Tod von Milli-
onen von Einzelwesen. Das Gleichgewicht in den
Biozönosen setzt ferner voraus, daß von allen
Nachkommen eines Elternpaares — und wenn es
mehr als 100 000 wären — alle bis auf zwei im
Kampf ums Dasein zugrunde gehen. Dieser
furchtbare Kampf ums Dasein ist tatsächlich vor-
handen, wenn er auch nicht dazu bestimmt zu
sein scheint, die phylogenetische Entwicklung vor-
wärts zu treiben, sondern die Arten auf der Höhe
zu halten.
Damit fällt nun ein helles Licht auf die schein-
bar zweckwidrigen Bildungen und Vorgänge. Sie
entstehen dadurch, daß einzelne Individuen unter
anormale Bedingungen geraten. Da das teleolo-
gische Naturgesetz auf diese nicht eingestellt ist,
können bei den betreffenden Individuen die Vor-
gänge der Entwicklung und der sonstigen physio-
logischen Prozesse falsche Bahnen einschlagen,
oder die vorhandenen Bedingungen können zur
Ausbildung der normalen Formen nicht ausreichen,
oder die physiologischen Prozesse können so ver-
laufen, daß durch sie das Leben des Individuums
geschädigt wird. Es entstehen dann Mißbildungen,
Krüppelformen, Krankheiten. Es sind das zweck-
widrige Erscheinungen, soweit das einzelne Indi-
viduum in Betracht kommt; doch stehen sie mit
dem Naturzweck, der nur auf die Erhaltung der
Art geht, nicht im Widerspruch.
Der Morpholaxis der Planaria liegt ein allge-
meineres biologisches Gesetz zugrunde, nach wel-
chem der Organismus die Fähigkeit besitzt, unter
besonderen Umständen den vorhandenen Bau ab-
zubrechen und ihn nach den Konstruktionsprinzi-
pien des Typus, aber in einer anderen, den be-
sonderen Verhältnissen angepaßten Form und
zwar mit dem vorhandenen Zellmaterial, aber
unter Umlagerung und Entdifferenzierung bzw.
Neudifferenzierung desselben, wieder aufzurichten.
Dieses Gesetz tritt uns in den Vorgängen bei
dem Puppenstadium der holometabolen Insekten
und der Zystenbildung der höheren Protozoen,
aber ebenso bei den Cölenteraten, die infolge von
Nahrungsentziehung auf den fünften Teil ihres
Gewichtes zurückgehen und dementsprechend
kleiner werden, bei den Anuren, die ihren Schwanz
nicht abwerfen, sondern zurückbilden und abbauen
und auch beim Menschen entgegen, wenn der
zahnlose Unterkiefer desselben sich umformt. Es
ist das eine weitverbreitete zweckmäßige Ge-
schehensweise, die bei jeder Art in besonderer
Weise ausgelöst wird. Bei den holometabolen
Insekten und den Anuren erfolgt die Auslösung
durch innere Entwicklungsbedingungen, bei der
Zystenbildung der höheren Protozoen und der
Formveränderung der Cölenteraten durch äußere
Bedingungen. Das Letztere ist auch bei der
Mopholaxis der Planaria der Fall. Sie tritt ein,
wenn ein Teil des Zellmaterials isoliert wird.
Ist dieses total vom Ganzen getrennt, so ent-
steht eine vollständige, kleinere Planaria, ist von
einem lebenswichtigen Organ nur ein Teil abge-
löst, befindet sich das Organ selbst aber noch im
Zusammenhang mit dem ganzen Organismus, so
ergänzt sich letzteres oder baut sich vielmehr zu
einem kleineren vollständigen Organ um. Es ist
das eine bei der Gefahr der Zerreißung, welcher
die Planaria ausgesetzt ist, sehr zweckmäßige art-
dienliche Einrichtung. Daß bei Geltung dieses
Gesetzes der Morpholaxis bei tieferen Einschnitten
in den vorderen Teil des Wurmes mehrere Köpfe
entstehen müssen, mindert die gemeinschaftdien-
liche Zweckmäßigkeit nicht im geringsten. Es
würde vielmehr eine unnötige und darum nach-
teilige Komplikation bedeuten, wenn das Gesetz
auf solche beim wissenschaftlichen Versuche künst-
lich gesetzten, aber in der Natur kaum vorkom-
menden Bedingungen eingestellt wäre. Planarien
mit mehreren Köpfen findet man in der Natur
nur äußerst selten; für die Erhaltung der Art-
gemeinschaft sind sie ohne irgendwelche Bedeutung.
Das Gleiche gilt für die weiteren oben angeführ-
ten Beispiele. Die von St ei nach und Herbst
künstlich hergestellten Bedingungen sind überhaupt
nur wissenschaftliche Versuchsbedingungen. Für
die Arterhaltung der Mauerbiene ist es aber von
Wichtigkeit, daß die Zelle zugedeckelt wird und
daß darum der Reflex, durch welchen dies be-
wirkt wird, sicher funktioniert; dagegen ist es für
sie völlig irrelevant, ob das manchmal auch in
solchen Fällen geschieht, wo das Ei aus der Zelle
herausgenommen wurde. Ebenso entsprechen die
für die eigentliche Regeneration festgelegten Vor-
gänge den Bedingungen, welche in der Mehrzahl
der Fälle gegeben sind. Bei den Reptilien und
Amphibien wird die Schwanzbildung durch die
Verletzung des Achsenskeletts ausgelöst, weil mit
dieser ja in der Regel auch ein Verlust des
Schwanzes verbunden ist; die hinteren Segmente
des Regenwurmes brauchen nur die Anlagen zur
Regeneration des Schwanzes zu enthalten, weil
von ihnen aus die des ganzen Wurmes doch nicht
erfolgen kann.
Gegenüber unserem Hauptsatz, daß der Natur-
zweck nur auf die Erhaltung der Art, nicht des
einzelnen Individuums gehe, könnte man allerdings
auf die Drieschsche dynamische Teleologie hin-
weisen. Bei dieser handelt es sich um die beiden
Fragen, ob die teleologischen Vorgänge als rein
maschinelle Vorgänge aufgefaßt werden können
und ob bei ihnen auch die besonderen individu-
ellen Verhältnisse eine zweckmäßige Reaktion aus-
lösen. Für uns kommt hier nur die zweite Frage
in Betracht. Driesch bejaht sie, kann aber nur
eine kleine Anzahl von Beispielen als Belege für
seine Auffassung anführen. Die wunderbaren An-
passungen, die in der Bildung von Antikörpern
bestehen, hat Driesch früher — allerdings schon
mit einem Fragezeichen — als individuelle An-
passungen gelten lassen wollen (Driesch, Die
Seele, S. 3). Daß sie es nicht sind, d. h. daß sie
522
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
nicht den besonderen individuellen Verhältnissen
entsprechen, beweisen die Dysteleologien , die
Fälle, in denen die Antikörperbildung zum Tode
des Individuums führt. Ich erinnere nur an die
Erscheinung der sog. Überempfindlichkeit. Als
das schlagendste Beispiel für die individuelle An-
passung führt man wohl die Regeneration der
Augenlinse des Triton in dem G. Wol ff sehen
Versuche an. Aber gerade an diesem Beispiel
läßt sich nachweisen, daß die Vorgänge bei diesen
scheinbar individuellen Anpassungen mit den Vor-
gängen bei der Entstehung der sog. zweckwidrigen
Bildungen vollständig auf eine Stufe zu stellen
sind, nur daß bei ihnen zufällig das Resultat
zweckmäßig ist. Wie die Versuche von W e s s e 1 y
zeigen, gilt für die Augenlinse, die ja auch sonst
eine besondere Stellung innerhalb der übrigen
Organe einnimmt (Chemismus, Form der Epithel-
zellen) auf den frühen Entwicklungsstufen das
Gesetz der Morpholaxis , wenn Wessely auch
nicht besonders darauf hinweist. Nach einem von
ihm künstlich herbeigeführten Defekt in der Linse
eines eben geborenen Jungen ordneten sich die
Zellen derselben so um, daß wieder eine normal
gebaute, aber kleinere Linse entstand. Ich möchte
die Regeneration der Tritonlinse nun so auffassen,
daß sie auf einer Morpholaxis beruht, die mit auf
das Material der Iris übergreift. Dasselbe wird,
wie bei der Planaria, entdifferenziert, neudifferen-
ziert und nach den für die Linse geltenden Kon-
struktionsprinzipien umgelagert. Es würde von
Interesse sein festzustellen, ob die regenerierte
Linse des Triton die gleichen merkwürdigen che-
mischen Reaktionen zeigt wie die normalen Linsen.
Es wäre dies ein weiterer Beweis dafür, daß sich
der Vorgang nach einem allgemeinen teleologischen
Gesetz vollzieht. Wenn dann bei Anwendung
desselben auf die in den G. Wolffschen Ver-
such gesetzten künstlichen Bedingungen, auf die
es nicht eingestellt ist, doch ein zweckmäßiges
Resultat herauskam, so konnte das, wie gesagt,
nur ein Zufall sein. Daß dem so ist, ergab sich
bei dem Fi seh Ischen Versuch, bei welchem
mehrere regenerierte Linsen entstanden. Auch
die anderen bis jetzt aufgefundenen angeblichen
Fälle der dynamischen Teleologie dürften in ähn-
licher Weise zu erklären sein.
Das Resultat der bisherigen Erörterungen läßt
sich dahin zusammenfassen, daß die Zweckmäßig-
keit in den Naturprozessen uns durchweg als eine
gemeinschaftdienliche entgegentritt. Für die
Lösung des Problems der Dysteleologie kommt
diese gemeinschaftdienliche Zweckmäßigkeit in
Betracht, soweit es sich bei ihr um die Gemein-
schaft der Biozönosen und die Artgemeinschaft
handelt. Aus der ersteren folgt, daß die UnvoU-
kommenheiten der adaptiven Einrichtungen im
Naturzweck selbst liegen und von ihm gefordert
sind, aus der zweiten, daß die scheinbar zweck-
' widrigen Bildungen und Prozesse vollständig außer-
halb des Naturzweckes liegen und ihn überhaupt
nicht berühren, also auch nicht als Dysteleologien
aufgefaßt werden können. Wenn daher E. Becher,'
der von der fremddienlichen Zweckmäßigkeit auf
einen überindividuellen Grund der Naturgesetz-
mäßigkeit schloß, wegen der Dysteleologie glaubte
diesen nicht als einen intelligenten bezeichnen zu
können, so fällt für uns dies Bedenken hinweg.
Das tiefere Eindringen in die Naturvorgänge, wie
es in neuerer Zeit besonders auf dem Gebiete
der physiologischen Chemie gelungen ist, läßt uns
Gesetzmäßigkeiten von so wunderbarer Kompli-
ziertheit und zielsicherer Zweckmäßigkeit erkennen
(Antikörper, Hormone), daß sich die Annahme
eines überindividuellen intelligenten Grundes
derselben aufdrängt, während der Widerspruch
mit dieser Auffassung, den E. Becher in den
Dysteleologien sah, tatsächlich nicht besteht. Auch
auf darwinistischer Seite wird jetzt die Ansicht
vertreten, daß eine metaphysische Finalität die
kausalen Naturgesetze in deistischem Sinne so
geordnet habe, daß sie in ihrem Ablaufe zu der
zweckmäßigen Naturordnung führen (Plate,
Weismann, Bütschli u. a.). Doch beruht
dieser Ablauf, wie besonders hervorgehoben wer-
den muß, nicht auf einem direkten Eingreifen
dieses überindividuellen, intelligenten Grundes,
sondern auf den strengen, von ihm geordneten
Gesetzmäßigkeiten, die sich auf dem biologischen
Gebiete mit derselben Notwendigkeit vollziehen,
wie die Gesetze des anorganischen Geschehens.
Auch in betreff dieses Punktes herrscht eine weit-
gehende Übereinstimmung. Selbst ein Biolog wie
Wasmann, der als Mitglied des Jesuitenordens
auf dem dogmatischen Standpunkt der katholischen
Kirche steht, will das Naturgeschehen nur durch
natürliche Ursachen erklären „die von Anfang an
durch Gottes Weisheit gesetzmäßig geordnet
wurden". Dasselbe erfolgt nach ihm „nach den
von Anfang an in sie gelegten Gesetzen als wirk-
liches Naturgeschehen, nicht als willkürliches
Eingreifen Gottes in die Tätigkeit der Ge-
schöpfe".
Das Ziel, auf welches die Zweckmäßigkeit im
Naturleben angelegt ist, ist, soweit wir es aus dem
Ablauf des biologischen Geschehens erkennen
können, die Entfaltung der Arten zu einem immer
größeren Reichtum und die Aufrechterhaltung der
Ordnung, bei welcher diese unendlich große Zahl
von Arten und Varietäten sich im Gleichgewicht
befindet und bei einer Störung durch einen phylo-
genetischen Fortschritt oder durch eine Umwälzung
der äußeren Verhältnisse sich immer wieder ins
Gleichgewicht setzt. Das letztere setzt nun doch
das Auftreten neuer teleologischer Gesetzmäßig-
keiten voraus. Während wir bei der Erhaltung
der Ordnung im Organismenreich, die wir z. Z.
nur beobachten können, von der Annahme der
Drieschschen dynamischen Teleologie absehen
konnten, ist das bei der Neuordnung im phylo-
genetischen Fortschritt nicht mehr der Fall. Hier
muß das teleologische Gesetz auf neue Bedingungen
eingestellt werden. Auch diese Weiterbildung ist
aber ein Naturgeschehen und vollzieht sich als
N. F. XX. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
523
solches mit Notwendigkeit. Wir können diesen
Punkt hier nur andeuten.
Auch auf das metaphysische Problem, welches
darin liegt, daß das teleologische Naturgesetz,
welches nur auf die Art, nicht auf das Individuum
eingestellt ist und die biologischen Geschehnisse mit
Notwendigkeit ablaufen läßt, in Widerspruch steht
mit den Postulaten der praktischen Vernunft des
Menschen, der nicht nur Naturwesen, sondern auch
geistig - sittliches Wesen ist und als solches eine
sittliche Weltordnug fordern muß, die über der
Naturordnung steht und ohne letztere aufzuheben,
der Freiheit Raum läßt und auf das Individuum,
die Persönlichkeit des einzelnen angelegt ist, kann
an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.
Nur darauf möchten wir hinweisen, daß wir im
Naturgeschehen eine Analogie dafür haben, wie
eine solche sittliche Weltordnung in Einklang zu
bringen ist mit der Naturordnung. Wir haben —
wenigstens vom modernen teleologischen Stand-
punkt aus gesehen — auch im Naturleben eine
niedere und eine höhere Ordnung des Geschehens
in der anorganischen und in der organischen Welt.
In der organischen Welt sind die Gesetze des
anorganischen Geschehens nicht aufgehoben und
doch kommen in ihr ganz andere Vorgänge und
Bildungen zustande, als in der anorganischen
Welt, weil die Gesetze des anorganischen Ge-
schehens hier in dem Dienste des Naturzwecks
stehen. So läßt sich annehmen, daß wieder die
mechanischen und die teleologischen Gesetze des
Naturgeschehens in den Dienst der höheren sitt-
lichen Weltordnung gestellt sind.
Einzelberichte.
Neue Yeröffentlichungen zur Ornis Bußlands.
Unter dem Titel „Aus der ornithologischen
Literatur Rußlands" veröffentlicht Hermann
Grote, der während seiner Kriegsgefangenschaft
im Ural Gelegenheit zu einem eingehenden Studium
des reichen russischen, uns nur schwer zugäng-
lichen und daher vielfach überhaupt nicht näher
gekannten ornithologischen Schrifttums gehabt und
seine Zeit dazu verwandt hat, die wertvollsten
dieser Arbeiten ins Deutsche zu übertragen, einen
Teil seiner Übersetzungen zunächst auszugsweise.
„Wie wichtig für uns diese Übersetzungen sind",
so urteilt O. Kleinschmidt (Dederstedt, Bez.
Halle), durch den diese Berichte lediglich gegen
Erstattung der heute allerdings nicht unerheblichen
Druckkosten zu beziehen sind, „zeigt am besten
folgender Umstand. Die breite Lücke zwischen
dem europäischen und japanischen Kirschkern-
beißer wird durch drei in der russischen Literatur
beschriebene Formen von Loxia coccothraustes
ausgefüllt, von denen in der deutschen Literatur
weiter nichts bekannt ist, als die Namen. Die
Grot eschen Übersetzungen enthalten diese und
andere Beschreibungen, aber in der Hauptsache
eine Fülle biologischer und geographischer Mit-
teilungen, die für das Verständnis der paläarktischen
Avifauna unentbehrlich sind." Wie sehr Klein-
Schmidts Urteil zu Recht bestand, lehren die
beiden jetzt erschienenen Hefte der Grot eschen
Berichte und Übersetzungen, auf die daher an
dieser Stelle auch etwas näher eingegangen wer-
den soll.
Im ersten derselben berichtet der Herausgeber
über B. Shitkows ornithologische Beobachtungen
auf der Samojedenhalbinsel und referiert im An-
schluß daran noch kurz über zwei Arbeiten
K. Derjugins und V. Bianchis, die die Ornis
des mittleren und unteren Ob, sowie der Ob-
mündung und des angrenzenden Teiles der Samo-
jedenhalbinsel behandeln. — Die über 100 000 qkm
große Samojedenhalbinsel (Ja-mal oder auch Jal- mal)
war ornithologisch bisher gänzlich unerforscht. Nur
über den äußersten Süden lagen vor der 191 3 er-
schienenen Veröffentlichung Shitkows einige
Mitteilungen Finschs in dessen Bearbeitung
seiner im Jahre 1876 zusammen mit Alfred
B r e h m unternommenen Reise nach Westsibirien,*)
und die beiden eben erwähnten Arbeiten Der-
jugins und Bianchis vor. S h i t k o w bereiste
im Auftrage der Russischen Geographischen Ge-
sellschaft die Halbinsel im Frühjahr und Sommer
1908 in ihrer gesamten Ausdehnung; über die
ornithologische Ausbeute seiner auch an sonstigen
Ergebnissen reichen Reise hat er selbst eine ein-
gehende Darstellung veröffentlicht,-) „die bei uns
nicht einmal ihrem Titel, geschweige denn ihrem
Inhalt nach bekannt geworden ist." Er teilt die
Halbinsel faunistisch in drei Zonen ein ; in eine
nördliche, etwa vom 71." an, die verhältnismäßig
arm an Gewässern ist und ausgeprägten polaren
Charakter trägt und deren Vogelleben nach Arten
und Stückzahl ein verhältnismäßig armes ist, in
eine mittlere, die etwa zwischen dem 71." und
dem 68.** gelegen, reich an stehenden und fließen-
den Gewässern ist und sich, wenigstens was die
Stückzahl anbelangt, durch einen viel größeren
Vogelreichtum auszeichnet, sowie in eine süd-
liche, vom 68." an bis zu den Südgrenzen der
Halbinsel sich erstreckende, in der die Erle sich
einstellt, Weidendickichte häufiger werden und
im Süden sogar krüppelhafter Nadelwald erscheint.
Von den 52 von Shitkow für die Halbinsel
nachgewiesenen Vogelarten — eine Anzahl, die
') Finsch, O., Reise nach Westsibiiien im Jahre 1876.
Wissenschaftl. Ergebnisse, Wirbeltiere. — Verh. Zool. Botan.
Gesellsch. Wien, 29, 1880, S. 128—280.
''j Shitkow, B., Vögel der Halbinsel Jamal (russ.). —
Ann. du Musec Zoologique de l'Acad. Imp. d. Sc. de
St. Pctersbourg, 17, 1912 (erschienen 1913), 311 — 369.
524
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
der Reisende hier anzutreffen gehofft hatte, kam
allerdings nicht zur Beobachtung, eine Anzahl
anderer wurde nur flüchtig gesehen und konnte
auf ihre Artzugehörigkeit hin nicht bestimmt
werden, so daß S h i t k o w selbst seine Zusammen-
stellung als noch keine alle auf der Halbinsel
möglichen Arten umfassende ansieht — waren die
Schneehühner in der nördlichen Zone nur spär-
lich vertreten, weil in dieser die von ihnen ver-
langten größeren, mit Polarweidengesträuch be-
standenen Flächen fehlten. Dagegen lagen fast
ausschließlich in ihr die Brutplätze der Ringel-
gans, Branta bernicla L., während Saat- und Bläß-
gänse viel seltener waren, als in der mittleren
Zone. In dieser liegen die meisten Brutplätze
der beiden zuletzt genannten Arten ; zusammen
mit dem Moorschneehuhn, Lagopus lagopus L.,
tritt das auch noch über die nördlichere Zone
sich verbreitende Alpenschneehuhn, Lagopus mutus
Mont. (oder rupestris Gm., wie G r o t e annimmt)
auf, während die im südlicheren Teile der Zone
häufigere Kleine Raubmöwe, Stercorarius parasiti-
cus L., nördlich des Jurubei durch die Mittlere
Raubmöwe, St. pomarinus Temm., ersetzt wird,
die im Brutgebiet der ersteren nur selten vor-
kommt und offenbar die Nachbarschaft derselben
meidet. Die zweite Zone grenzt anscheinend das
Brutgebiet der Gelbköpfigen Bachstelze, Budytes
citreola Fall., nach Norden ab, während die Schnee-
ammer hauptsächlich die Küsten der nördlichen
Zone bewohnt. In der südlichen Zone endlich
mischen sich unter die Vertreter einer ausge-
prägten Tundraornis noch verschiedene Enten-
und Strandläuferarten, einige Sänger und Raub-
vögel.
Ein Vergleich der Verbreitung der Vögel von
Ja-mal mit derjenigen der Vögel des unteren
Jenissei, über die eine wertvolle, bei uns ebenfalls
kaum bekannt gewordene Veröffentlichung von
A. Tugarino und S. B u t u r 1 i n ^) vorHegt, er-
gibt nach Shitkow, daß die Grenzen der Ver-
breitung und des Brutvorkommens einer Reihe
von Vogelarten auf der Samojedenhalbinsel viel
südlicher liegen, als im Jenisseigebiet. Der Bruch-
wasserläufer beispielsweise wurde nur bis zum
67^5." n. Br. beobachtet, während er auf der
Taimyrhalbinsel noch bis über den 70." hinaus
vorkommt, Bekassine und Doppelschnepfe dringen
auf Jamal kaum über den 68." hinaus vor, finden
sich am Jenissei und östlich von diesem aber noch
über den 70." nordwärts, die Pfeifente erreicht
auf Ja-mal schon unterm 67^/2.'' ihre Nordgrenze,
ist dagegen am Jenissei noch fast unterm 71."
Brutvogel. Die Ursachen dieser Erscheinung
liegen darin, daß auf der Samojedenhalbinsel die
Baumgrenze südlicher verläuft, als am Jenissei.
Larix sibirica und Picea excelsa erreichen auf der
Samojedenhalbinsel bereits unterm 67 V»-** ihre
') Tugarino, A. und Buturlin, S., Materialien über
die Vögel des Jenisseischen Gouvernements (russ.). — Mitl.
(Sapiski) Krasnojarsker Abt. Kuss. Geogr. Gesellsch., Abt.
Phys. Geogr., I, 191 1, Lief. 2 — 4, 440 S.
nördlichste Grenze, während sie am unteren Jenis-
sei fast bis zum 70." vordringen. —
D er j u g i n , dessen Arbeit *) trotz verschiedener
Mängel immerhin eine wertvolle Ergänzung der
Finschschen Mitteilungen bildet, hat in seinem,
den Lauf des Ob zwischen Beresow und Obdorsk
umfassenden Beobachtungsgebiet von 156 be-
obachteten Arten 114 als sichere Brutvögel nach-
weisen können. Für eine Anzahl von ihnen gibt
er die Nordgrenze ihrer Verbreitung an — Em-
beriza rustica Fall.: 64.° n. Br., Carpodacus ery-
thrinus Pall. : 62." n. Br. , Sylvia atricapilla L. :
64." n. Br. , Muscicapa atricapilla L.: 64." n. Br.,
Accentor montanellus Pall.: 66." 30.' n. Br., Orty-
gometra porzana L. : 64.° n. Br., Anas querque-
aula L.: 66." 30.' n. Br. — ; einige andere, von
Fi n seh und Brehm nur südlicher beobachtete,
wurden erheblich nördlicher angetroffen, wie z. B.
Alauda arvensis L. unter dem 66." 30.' n. Br.,
Turdus musicus unter dem 66." n. Br., Gallinago
gallinago L., die von Shitkow (s. o.) allerdings
noch bis zum 68." beobachtet worden ist, unter
dem 66." 30.' n. Br., Totanus littoreus L. ebenfalls
unter dem 66." 30.' n. Br. usw. Haus- und Feld-
sperling sind in Beresow bereits Jahresvögel, der
erstere, der zu Brehms und Finschs Zeiten
Obdoisk noch nicht erreicht hatte, wurde als
solcher auch hier festgestellt.
V. Bianchi gibt in seiner nur kürzeren Mit-
teilung") lediglich eine Liste der von J. War-
dropper im Obmündungsgebiet gesammelten
Vögel; sie umfaßt 25 Arten, darunter 10, die
Shitkow in seinem Verzeichnisse nicht aufführt,
von denen aber Arten, wie Anthus cervinus,
Oedemia nigra usw. seinem Beobachtungsgebiet
ebenfalls angehören dürften. —
Das zweite Heft der G roteschen Berichte
enthält eine Zusammenstellung der Vögel Nord-
westrußlands: der Gouvernements Pskow (Ples-
kau), Nowgorod und St. Petersburg und über-
mittelt uns damit die Kenntnis von der Ornis
eines Gebietes, das sich dem von uns während
des Krieges besetzt gehaltenem Teile Westruß-
lands unmittelbar anschließt. Im Hinblick auf die
so erfolgreiche Tätigkeit unserer feldgrauen Orni-
thologen gerade auch in Westrußland — z. Z. er-
scheint ja eine zusammenfassende Darstellung der-
selben aus der Feder des Grafen Zedlitz,") eines
unserer erfolgreichsten hier tätig gewesenen Orni-
thologen — darf es vielleicht von vornherein auf
eine noch größere Beachtung rechnen, als das
') Derjugin, K., Eine Reise an den mittleren und
unteren Lauf des Obj und die Fauna dieses Gebiets. — Tra-
vaux de la See. Imp. d. Natur, de St. Petersb., Sect. Zool.
et Physiol., 29, 1898, 47 — 140.
') Bianchi, V., Zur Avifauna der Objmündung und des
anliegenden Teils der Halbinsel Ja-mal. — Ann. du Musee
Zool. de l'Acad. Imp. d. Sc. de St. Petersb. 14, 1909, S. IV— VI.
') Zedlitz, Graf O., Die Avifauna des westlichen
Pripjetsumpfes im Lichte der Forschung deutscher Ornithologen
in den Jahren 1915 — 1918. — Journ. f. Ornithol. 68, 1920,
177 — 235, 350 — 388; 69, 1921, 50-90 (und noch im Er-
scheinen).
N. F. XX Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
525
r
erste Heft: ermöglicht es uns doch, interessante
Vergleiche zu ziehen und viele unserer Feststel-
lungen zu ergänzen und zu erweitern.
Die Vogel weit des Gouv. Pleskau hat 19 10
durch Sarudny eine erschöpfende Darstellung
erfahren ') und ist später von ihm durch eine
weitere kleinere Arbeit noch ergänzt worden, -)
nachdem K. Derjugin vorher schon unter Be-
nutzung der Sarudny sehen Lokalsammlutrg über
sie berichtet hatte.^) Nach Sarudnys Arbeit
erschienen dann noch zwei diese wertvoll er-
gänzende Beiträge von P. Nesterow und I. Ni-
fc a n d r o w,*) sowie von E. I s p o 1 a t o w.") Weniger
eingehend durchforscht ist in ornithologischer Hin-
sicht das Gouv. Nowgorod ; alles bis dahin be-
kannte faßte 1910 V. Bianchi in seiner Arbeit
„Unsere Kenntnis der Vögel des Gouvernements
Nowgorod",*^) dem dabei vor allem auch das reiche
Balgmaterial des Petersburger Zoologischen Mu-
seums zur Verfügung gestanden hatte, zusammen.
Ihm verdanken wir auch, nachdem 1886 bereits
E. Büchner in seiner Arbeit ,.Die Vögel des
St. Petersburger Gouvernements" ') die Ornis des
Gebietes grundlegend behandelt hatte, eine neuere
Bearbeitung der Vogelwelt des vogelkundlich recht
gut durchforschten St. Petersburger Gouverne-
ments.*) Aus ihm kennt man 269 Arten, von
denen 241 mehr oder minder regelmäßig vor-
kommende Erscheinungen sind, 176 Arten brütend
festgestellt und von diesen wiederum 57 als Jahres-
vögel nachgewiesen werden konnten. Aus dem
Nowgoroder Gouvernement dagegen sind bisher
nur 217 Arten nachgewiesen worden, für eine An-
zahl weiterer, die Bianchi namentlich aufführt,
darf das Vorkommen jedoch als recht wahrschein-
lich angenommen werden. Die Liste der Vögel
des Gouvernements Pleskau endlich umfaßt 287
Vogelformen.
Ein Vergleich der Ornis des Pleskauschen
Gouvernements mit derjenigen von Nowgorod
') Sarudny, N., Die Vögel des Gouvernements Pskow
(russ.). — Mem. de l'Acad. Imp. d. Sc. de St. Petersb., VIII.
.Ser., Vol. XXV, Nr. 2 (182 S.).
') Ders., Neues über die ornithologische Fauna des Gouv.
Pskow (russ.). — Ornithol. Mitt. igil, S. 21.
') Derjugin, K., Ornithologische Forschungen im Gou-
vernement Pskow (russ.). — Travaux de la Soc. Imp. d. Na-
tur, de St. Petersb. XXVII, 3, 1897, '7— 38-
*) Nesterow, P. und Nikandrow, I., Zug und Brut-
vorkommen der Vögel der Umgegend von Pskow (russ.). —
Ann. du Musee Zool. usw. 18, 1913, 102 — 124.
'') Ispolat o w, E., Interessante Funde im Pskowschen
Gouvernement (russ.). — Ornithol. Mitt. 191 1, 291 — 292.
'') Ann. du Musee Zool. usw. 15, 1910, 75 — 176 (russ.).
') Beiträge z. Kenntn. d. Russ. Reiches (3) II, 1886, so-
wie Nachtr. in: Ann. du Musee Zool. usw. 2, 1897, 453 — 4*'2.
') Bianchi, V., Liste der Vögel des St. Petersburger
Gouvernements (russ.). — Ann. de Musee Zool. usw. 12, 1907,
86 — 113. Hierzu erschienen noch ein „Erster" u. ein „Zweiter
Nachtrag" ebenda 13, 1908, S. XXXVI— XLV bzw. 17, 1912,
XL — XLVllI, sowie das ,, Verzeichnis der von D. Glasunow
im St. Petersburger Gouvernement gesammelten Vögel" eben-
da, 14, 1909, 169 — 179, während vorher schon die „Vögel,
die für das Gouvernement St. Petersburg neu und selten sind"
ebenda, 8, 1903, XXV — XXXII erschienen waren.
und St. Petersburg ergibt manches interessante-
„Im Gouvernement Pskow finden einige Vogel-
arten die Nordostgrenze ihres Brutverbreitungsge-
bietes. So kommen hier Emberiza hortulana,
Lanius minor, Acrocephalus palustris, Dendroco-
pus medius, Athene noctua, Turtur turtur als
Brutvögel vor, zwar mehr oder weniger selten, in
den benachbarten genannten Gouvernements da-
gegen schon nicht mehr. Der weiße Storch
nistet hier noch regelmäßig, während er im
Petersburger resp. Nowgorodschen Gouvernement
nur eine seltene Erscheinung ist, hier allerdings
in den südlichen Bezirken einzuwandern beginnt.
Die Moorente (Nyroca ferruginea) brütet im
Pskowschen regelmäßig, geht aber nach Norden
nicht über die Grenzen dieses Gouvernements
hinaus. Von Interesse ist das (seltene) Brutvor-
kommen von Rotsternigen Blaukehlchen und Beutel-
meise. Cinclus und Alcedo haben hier gebrütet,
während sie weiter nordöstlich nur recht seltene
Wintergäste sein sollen.^) Anthus campestris ist im
Pskowschen Gouvernement nicht seltener Brut-
vogel, im Petersburger hingegen als solcher höchst
selten.
Einige Vogelarten haben im Gouvernement
Pskow ihre westlichsten Vorposten : Acrocephalus
dumetorum nistet regelmäßig in den Gärten der
Stadt Pskow (es ist das der bis jetzt westlichste
Fundort des Brutvorkommens), Acanthopneuste
borealis wurde als seltener IBrutvogel in den
Mischwäldern des nördlichsten Teiles des Kreises
Porchow, sowie am Radilowsee aufgefunden; es
dürfte dies das südwestlichste Brutvorkommen
dieses Laubsängers sein. Offenbar neuerdings
eingewandert in das Gebiet ist Acanthopneuste
viridanus, der auch schon in Esth- und Livland
als sehr seltener Brutvogel festgestellt worden
ist. Der Bergfink erreicht im Gouvernement
Pskow die Südgrenze seines Brutgebiets, die
Nordische Schafstelze nistet hier noch regelmäßig
und in beträchtlicher Zahl ; nach London ist
sie übrigens auch im Baltikum (selbst in Kurland)
als Brutvogel eine gewöhnliche Erscheinung". —
Ich muß es mir versagen, hier auf noch
weitere Einzelheiten einzugehen und kann vor
allem auch nicht, so sehr dies dem selbst auch
während des Krieges in Westrußland beobachteten
Ornithologen reizt, den Vergleich mit unseren
eigenen westrussischen Feststellungen vornehmen;
vielleicht bietet sich dazu später noch einmal Ge-
legenheit. Aber eines sei noch getan: der Dank
an Hermann Grote ausgesprochen, der uns
diesen Einblick in das russische ornithologische
Schrifttum ermöglicht hat. Möchte die Veröffent-
lichung seiner Berichte, die vor allem auch für
den Tiergeographen eine reiche Fundgrube bilden,
trotz der großen Schwierigkeiten weiterhin ihren
Fortgang nehmen. Rud. Zimmermann.
') Hierzu bemerkt Grote, daß nach einer ihm mündlich
gemachten Mitteilung Barons A. v. Fersen Cinclus auch im
Südteile des Gouvernements St. Petersburg ein (und zwar
keineswegs sehr seltener) Wintergast ist.
S26
t^aturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
Bücherbesprechungen.
Rinne, Friedrich, Die Kristalle als Vor-
bilder des feinbaulichen Wesens der
Materie. Mit einer Zeichnung von A. Dürer,
den Bildnissen von P. v. Groth, M. v. Laue,
W. C. V. Röntgen und A. Schön flies auf
fünf Kunstdrucktafeln sowie mit 1 00 Textfiguren.
loi Seiten. Berlin 1921, Gebr. Borntraeger. 25 M.
Das Buch stellt sich zweierlei Aufgaben. Die
bisherigen Ergebnisse der experimentellen For-
schungen vom Feinbau der Kristalle, wie sie sich
an M. V. Laues Entdeckung der Röntgenstrahlen-
beugung durch den Raumgitterbau geknüpft haben,
will es einmal der „weitesten Verbreitung im
Kreise der naturkundlich Interessierten" zugäng-
lich machen. Außerdem sieht der Verfasser seine
größere Aufgabe darin, „in möglichst allgemein
verständlicher, aber auch den Fachgenossen manches
Neue bietender Art, die Grundzüge des feinbaulichen
Wesens der Materie aus den Charakterzügen der
Kristalle abzuleiten". Es werden daher auch die
amorphen Körper, also die Gase und Flüssigkeiten
mit in den Kreis der Betrachtungen hereinbezogen.
Zunächst findet sich neben der geschichtlichen
Entwicklung der Feinbauforschung ein einfacher
Übersichtsplan der 32 Kristallklassen und der zu-
gehörigen Symmetrieerscheinungen im sichtbaren
wie im Feinbau. Danach werden die feinbaulichen
Verhältnisse der kristallinen mit denen der amorphen
Materie in grundsätzlichen Zusammenhang gebracht,
ihre gemeinsamen Charakteristika, sowie das Ge-
gensätzliche ihrer Feinbauart entsprechend hervor-
gehoben. Als allgemeiner Grundzug der Materie
ergibt sich daraus in jedem* Falle ihr Feinbau
aus anisotropen Stabilitätsgebilden. Gase, Flüssig-
keiten, Fastkristalle (die sog. „flüssigen" Kristalle)
und Kristalle erscheinen in diesem Zusammenhang
als eine „Metamorphosenreihe", eine Reihe von
gesetzmäßigen Zustandswandlungen, wie sie die
betreffende Materie beim Wechsel physikalischer
Verhältnisse, z. B. des Wärmegrades, durchlaufen
kann. Charakteristisch ist dabei das Bild einer
sprunghaften Wandlung des Energieinhaltes der
einzelnen Erscheinungsformen.
Es würde hier zu weit führen, die interessanten
Einzelheiten der weiteren Abschnitte zu erwähnen
und hinsichtlich ihres Gehaltes an anregenden Be-
trachtungen zu würdigen. Der Inhalt sei nur an-
gedeutet durch Wiedergabe der folgenden Kapitel-
überschriften: Allgemeine tektonische Gliederung
des Feinbaues der Kristalle; Zusammenhang der
Feinbauteile bei Mischkristallen und Verwachsungen
als Übergängen zwischen chemischer Verbindung
und physikalischem Gemisch; Morphotropie und
Topotropie;Isotypie; Kristallwachstum und Kristall-
auflösung; Chemische Vorgänge an Kristallen ; Ver-
such eines Einblicks in den Verlauf chemischer
Vorgänge durch Vermittlung von Beobachtungen
an Kristallen; Analogie der morphologischen
Wirkung physikalischer und chemischer Felder
auf Kristallbauten; Kristallphysiologie und die
Systematik der Atomarten. — Es verdient hervor-
gehoben zu werden, daß neben Untersuchungen
des Verfassers und seiner Schüler überall die An-
schauungen und Ergebnisse der besten neueren
Arbeiten, z. B. von Bohr, Kossei und Tertsch
über den möglichen Atomfeinbau, von Reis über
die verschiedenen Typen vom Gitterbau, von
Johnsen, Groß und Niggli über die Kristall-
wachstumsgeschwindigkeiten, von Fajans, Aston
und Paneth über die verschiedenen Atomarten,
herangezogen und verwertet worden sind.
Im Schlußwort hebt der Verfasser ausdrück-
lich hervor, daß die gezogenen Schlußfolgerungen
„beim jetzigen Anfangsstadium der feinbaulichen
Forschung natürlich noch oft eher in Anregungen
ausklingen als zum Abschluß führen". In der Tat
bietet das Buch dadurch, daß es fast alle der
vielen durch die Feinbauforschung noch unge-
lösten Probleme anschneidet, den Kreisen, für die
es bestimmt wurde, wertvollen Einblick in vielerlei
Hinsicht. Infolge der gemeinverständlichen Art
der Darstellung und der bekannten gewandten
Schreibweise des Verfassers wird es auch jedem
willkommen sein, der ohne die Notwendigkeit fach-
wissenschaftlicher Einzellektüre über den jetzigen
Stand der Feinbauforschung und über die sich
daraus entwickelnden Anschauungen erstmalig
orientiert sein will. Spangenberg.
Walther, Johannes, Geologische Heimat-
kunde von Thüringen. 5. Aufl. 262 S.,
158 Textfig., I Karte. Jena 1921, G. Fischer.
Geh. 21 M., geb. 27 M.
In noch nicht 20 Jahren, von denen die Kriegs-
zeit füglich abgerechnet werden kann, 5 Auflagen,
das spricht von einem so ausgedehnten Leserkreis
eines doch nur auf beschränkten Raum gemünzten
Büchleins, das es eigentlich nicht erst bekannt ge-
geben zu werden braucht. SchUeßt es sich doch
einer ganzen Reihe populärer Werke des Verfassers
an, der sich damit das Verdienst erworben hat,
daß das im Volke vorhandene starke Bedürfnis
nach Anleitung in geologisch -paläontologischen
Dingen nicht von unberufener Seite befriedigt
und damit in falsche Bahnen gelenkt wird. Die
geologischen Wanderführer durch Thüringen oder
Teile desselben von Franke und Kirste (beide
1912) u. a. m. bestehen übrigens daneben in
vollen Ehren und beweisen nur die Intensität des
Bedürfnisses.
Zu den geologischen Wanderungen, die nach
der historischen Übersicht über die Gesamt-
geschicke des Landes den zweiten Teil bilden, ist
eine neue (Nr. 3) hinzugetreten. Die sehr sauber
und klar in Schwarzweißkunst gezeichnete geo-
logische Karte von Regel (-Giltsch) am
Schluß ist durchaus imstande, die schöne Bey-
sch lag sehe Übersichtskarte wenigstens beim
Wandern zu ersetzen. Das Verzeichnis größerer
Sammlungen im Lande (S. 251) wird Vielen will-
N. F. X)C. Nr. 36
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5^7
I
kommen sein, wie auch die ausführlichen Erklä-
rungen der Fachausdrücke in einem Sonder-
verzeichnis Manchem den ohnehin fesselnd ge-
schriebenen Inhalt erst voll zugänglich machen
werden.
Der rühmlichst bekannte lebensvolle Stil des
Verf. führt nach meinem Empfinden hier und da
zu einer Zuschärfung, die in der Vorstellung des
ungeübten Lesers leicht zur Übertreibung werden
könnte. Aber auch rein sachlich wird selbstver-
ständlich manche Meinungsverschiedenheit mög-
lich sein, wo dem Leser ein scheinbar unbe-
dingter fester Besitz der Wissenschaft entgegen-
tritt. Dahin gehören die im Lande Goethes
besonders auffallenden Lehren unaAifhörlicher Ka-
tastrophen bzw. extremer klimatischer Ereignisse,
wie Dürren, Wüsten, Überschwemmungen, Meeres-
einbrüche, Stürme,- vulkanischer Verheerungen
u. dgl. Nicht einverstanden kann ich z. B. auch
sein, wenn ohne weitere Einschränkung einem
größeren Publikum Kreuzschichtung als Beweis
für Dünenbildung hingestellt wird (S. 74).
Zu erwähnen wären noch kleine Ünausge-
glichenheiten (östliche Winde des Diluviums S. 113,
westliche am gleichen Gegenstand erläutert S. 215),
sowie eine verhältnismäßig hohe Zahl von Druck-
fehlern, die nicht alle in der Berichtigung (S. VI)
aufgenommen sind.
Doch das sind bereits Äußerlichkeiten, die
niemand in dem Genuß des liebevoll geschriebe-
nen Werkchens und in der daraus zu schöpfenden
Belehrung behindern sollen und behindern werden.
— Edw. Hennig.
Schmidt, C. W., Geologisch-mineralogi-
sches Wörterbuch. (Teubners kleine Fach-
wörterbücher Band 6.) Mit 211 Abbildungen.
Leipzig und Berlin 1921. Ladenpreis: geb. 8M.
Bei der Beliebtheit, deren sich Mineralogie und
Geologie auch in Laienkreisen erfreuen, ist die
Herausgabe eines derartigen Büchleins an sich
gewiß zu begrüßen. Die Auswahl der erläuterten
Begriffe dürfte auch im allgemeinen den in Frage
kommenden Wünschen gerecht werden. Dabei
darf aber die notwendige Kürze des Ausdrucks
die Klarheit der Erläuterung nicht beeinträchtigen.
Diese schwierige Aufgabe ist hier und da nicht
glücklich gelöst worden (z.B. bei „Doppelbrechung",
„Habitus", „Schlangenalabaster"). Anzuerkennen
ist die Sorgfalt, die der etymologischen Ableitung
der Namen gewidmet worden ist. Die Auswahl
der Biographien von Geologen und Mineralogen
muß dagegen als verbesserungsbedürftig bezeichnet
werden, sowohl hinsichtlich der älteren wie der
zeitgenössischen Forscher.
Vor allem aber müssen Fehler, die sich an-
scheinend besonders im mineralogischen Teil
finden, späterhin unbedingt vermieden werden.
Die auffallendsten seien hier genannt. Falsch ist
die Verwendung des Wortes „Quarz" an Stelle
von „SiO.2" bei den Begriffen: Achat, Chalcedon,
Moosachat, Kieselsandstein und Onyx, vor allem
aber bei „Tridymit". — „Anatas" ist nicht „iso-
morph" mit Rutil und Brookit. — „Braunspat" ist
keine „Varietät von Dolomit". — Der „Chiastolith"
hat seinen Namen durchaus nicht von einer „kreuz-
förmigen Gestalt der Kristalle". — Den Pleochrois-
mus des „Cordierits" kann man nicht als „stark"
bezeichnen. — Beim Begriff „Doppelbrechung"
muß es heißen: „Parallel zur Hauptachse (nicht
„zum Hauptschnitt") einfallende Strahlen erleiden
keine „Doppelbrechung". — Die Neubildungen in
„Garbenschiefern" bestehen nicht aus „Horn-
blende". — „Glimmerschiefer" ist nicht durch
„Kontaktmetamorphose" umgewandelt. — Man
darf nicht sagen, der „Granat" sei häufig in kri-
stallinen Schiefern als typisches „Kontaktmineral".
— Bei „hexagonales Kristallsystem" (ebenso bei
„tetragonales Kristallsystem") ist das Wort „min-
destens" zu streichen. — Die Fassung des Be-
griffes „Kantenwinkel" entspricht nicht der allge-
mein üblichen (siehe auch „Konstanz der Kanten-
winkel"). — Unter „Kristallsysteme" ist die Be-
schreibung des „monokUnen Achsenkreuzes" voll-
kommen falsch. — Der „Labradorit" ist nicht
gerade eine „seltene" Varietät des Plagioklas. —
Die Definition „linear polarisiert" und dement-
sprechend „Polarisation des Lichtes" ist falsch:
linear polarisiert ist nicht Licht, „dessen Schwin-
gungen sich nur in einer Ebene" vollziehen. —
Die „Mineralogie" kann man nicht gut als einen
„Zweig" der Geologie betrachten. — „Bajonnet-
förmig verbogener Molybdänglanz" ist wohl eine
Verwechslung mit „Antimonglanz". — „Optische
Anomalien" haben mit „mimetischen Verwachsun-
gen" nichts zu tun. — Unter „Paramorphose"
versteht man nicht „die Eigenschaft dimorpher
Substanzen, in zwei Modifikationen aufzutreten".
— „Phyllit" ist nicht durch „Kontaktmetamorphose"
entstanden, — „Prehnit" ist kein „Kalktongranat".
— Bei dem Begriff „rhombisches Kristallsystem"
ist hinzuzufügen, daß Symmetrieachsen und -ebenen
„ungleich" sind. — „Schwefel" ist nicht „meist"
vulkanisch. — Ein „Sol" ist nicht die „Lösung
eines Minerals". — Bei dem Begriff „Symmetrie-
gesetz" ist zu streichen: „z. B. bei Zwillings-
bildung", bei „Zonengesetz" ist das zweite DJal
das Wort „Zonen" durch „Kanten" zu ersetzen.
K. Spangenberg.
Gehrcke, E. , Die Relativitätstheorie
eine wissenschaftliche Massensug-
gestion. Kommissionsverlag K. F. Köhler,
Leipzig 1920.
Die Schrift stellt den Abdruck eines öffent-
lichen Vortrages dar, der im August vorigen
Jahres in Berlin gehalten wurde. Gehrcke
greift darin vor allem die Lehre Einsteins von
der Relativität der Zeit an, wonach für bewegte
Körper die Zeit langsamer als für ruhende ver-
fließen soll. Einstein hatte zur Veranschau-
lichung seiner Ideen von Zwillingen gesprochen,
von denen der eine am Orte seiner Geburt ver-
528
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 36
blieben ist, der andere aber gleich nach seinei'
Geburt auf eine große Reise geschickt wird, von
der er als Schulknabe zurückkehrt. Er findet
dann seinen Bruder als Greis mit weißen Haaren
vor, falls dieser nicht überhaupt schon gestorben
ist und der nächsten Generation Platz gemacht
hat. Da nach Einstein der Begriff der Bewegung
nun aber relativ ist, so hat jeder der Zwillinge
das Recht, sich für ruhend zu halten und den
anderen die Bewegung ausführen zu lassen, so daß
dann also jeder den anderen für jünger, sich aber
für gealtert oder gar schon für tot hinstellen muß.
In der Tat scheint Gehrcke Einsteins ge-
wagte Idee von der Relativität der Zeit hier ad
absurdum geführt zu haben und es ist bisher
nichts darüber bekannt geworden, daß Einstein,
der in Gehrckes Vortrag selbst anwesend war,
den Einwand widerlegt hätte. Mir selbst ist nie
klar geworden, wie sich Einstein die Feststel-
lung des verschiedenartigen Zeitverlaufs für die ver-
schieden schnell bewegten Beobachter eigentlich
denkt, denn diese sind doch nicht auf mitbewegte
Uhren angewiesen, sondern können beispielsweise
ein und dieselbe Turmuhr benutzen, und müssen
dann doch die gleiche Zeit feststellen, wenn sie
wieder an den gleichen Ort zurückkehren. Gehrcke
vergleicht die durch die Relativitätstheorie ge-
schaffene Lage mit derjenigen , die Andersen
in seinem Märchen: „Des Kaisers neue Kleider"
schildert. Hier sieht der Kaiser mit seinen
Ministern und Untertanen dem Weben eines Ge-
wandes zu, das die Eigenart hat, von denjenigen
Menschen nicht gesehen zu werden, die dazu nicht
klug genug sind, und alle stehen schließlich
staunend vor den leeren Webstühlen, weil niemand
sich zu bekennen getraut, daß er nichts sieht.
Wenn Einstein und seine Anhänger, statt
diese Einwendungen zu entkräften, einfach auf die
Erfolge in der Astronomie hinweisen oder den
Angriffen unsachliche Motive unterschieben, so
wird damit die Aufklärung nicht gefördert. Hätte
Einstein behauptet, alle Zahlen seien gerade
Zahlen, so läge der Unsinn noch klarer zutage,
als bei der Relativität der Zeit, und doch könnten
Einsteins Anhänger mit Recht geltend machen,
daß die Theorie sich in 50 "/^ der Fälle vortreff-
lich bewähre. Alle empirischen „Beweise" der
Einst einschen Theorie — es sind zwei oder
drei — beweisen in Wirklichkeit nur die „Kon-
stanz der Lichtgeschwindigkeit" für bestimmte
Fälle, nicht aber die Allgemeingültigkeit dieses
Satzes und die daraus abgeleitete Relativität der
Zeit.
Der rein ablehnende Standpunkt in Gehrckes
Arbeit ist jedoch etwas unbefriedigend. Frucht-
barer als die Erörterung philosophischer Probleme
scheint mir die Heranziehung der anschaulichen
Äthertheorie, und es muß darauf hingewiesen
werden, daß gerade Gehrcke diesen Weg in
einer bisher wenig beachteten Polemik gegen
Einstein, die sich in den Verhandlungen der
Deutschen physikalischen Gesellschaft, 19 19, bes.
S. 6"], findet, mit Erfolg beschritten hat. Er wies
den Schwierigkeiten gegenüber, die der Michel-
sonsche Versuch der Anschauung vom absolut
ruhenden Äther bereitete, auf die Theorie des
mit der Erde bewegten Äthers von Stokes hin,
die durchaus nicht zu unlösbaren Widersprüchen
führt und für den gesunden Menschenverstand den
einfachsten Ausweg aus der ganzen Verwirrung
darstellt. Einer Anwendbarkeit der Ein st ein-
schen Formeln in bestimmten Fällen widerspricht
die Äthervorstellung nicht. Kann man sich doch
für die Substantialität des Äthers eigentlich keinen
besseren Beweis als die Lichtablenkung durch das
Schwerkraftfeld denken. — Jedenfalls hat sich
Gehrcke durch den Hinweis auf die logischen
Widersprüche, zu der die einseitige Übertreibung
der abstraktmathematischen Methode führt, ein
großes Verdienst erworben, und es wird hoffent-
lich bald gelingen, auf Grund anschaulicher Vor-
stellungen ein klares Bild von der Bedeutung der
Eins t ein sehen Formulierungen und dem Um-
fange ihres Geltungsbereiches zu erhalten.
Fricke.
Moeller, Dr.-Ing. Max, Das Ozon. Eine physi-
kalischchemische Einzeldarstellung. Mit 32 Text-
figuren. Braunschweig 1921, F"riedrich Vieweg
u. Sohn. Geh. 12 M.
Dieses als Heft 52 der „Sammlung Vieweg"
erschienene Werkchen gibt eine nach Auswahl
und Behandlung des umfangreichen Stoffgebietes
wohlgelungene Übersicht über die wichtigsten
Tatsachen und Probleme der physikalischen Chemie
des Ozons, das von wissenschaftlich wie praktisch
gleich großer Bedeutung ist. Der „Hauptzweck"
des Büchleins, durch Kennzeichnung der noch
vorhandenen Probleme zu einer Beschäftigung mit
dem interessanten Gase anzuregen, erscheint im
wesentlichen erreicht, wenn man als Arbeiter auf
diesem Gebiet Leute mit der nötigen experimen-
tellen und mathematischen Begabung voraussetzt.
Zu sachlichen Beanstandungen ist kein Anlaß.
Die Rechnungen sind, nach Stichproben, richtig.
Der klare Druck und die Abbildungen tragen zur
Lesbarkeit des empfehlenswerten Bändchens bei.
H. H.
lulialt: H. Kranichfeld, Gemeinschaftdienliche Zweckmäfligkeit, die Lösung des Problems der Dysteleologien. S. 513.
— Kinzelberichte: H. Grote, Neue Veröffentlichungen zur Ornis Rußlands. S. 523. — Bücherbesprechungen:
Fr. Rinne, Die Kristalle als Vorbilder des feinbaulichen Wesens der Materie. S. 526. Joh. WaUher, Geologische
Heimatkunde von Thüringen. S. 526. C.W.Schmidt, Geologisch-mineralogisches Wörterbuch. S. 527. E. Gehrcke,
Die Relativitätstheorie eine wissenschaftliche Massensuggestion. S. 527. M. Moeller, Das Ozon. S. 528.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Guitav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge so. Band;
der ganzen Reihe 36. Bond.
Sonntag, den ii. September 1921.
Nummer B7.
Dante und das Weltbild des Mittelalters.
Zum Gedächtnis von Dantes 600. Todestage am 14. September 192 1.
Von Dr. Viktor Engelhardt, Berlin-Friedenau.
[Nachdruck verboten. 1
Dante war Dichter, Politiker und Historiker
und wollte auch nichts anderes sein. — Sein
Leben bewegte sich vom Speziellen zum Allge-
meinen. Als Bürger von Florenz war er hinein-
gestellt ins Parteigezänk und ins Parteigetriebe,
als Verbannter aber wurde er von kleinen Alltags-
zielen frei und richtete den Blick auf das Ganze
der damaligen Kultur. Er gelangte schließlich zu
jener abschließenden Synthese, die wir in der
göttlichen Komödie bewundern und erweiterte
damit das persönliche Schicksal zum historischen,
ja komischen Erlebnis.
Der Weg vom Speziellen ins Allgemeine war
gleichzeitig ein solcher von der Zukunft in die
Vergangenheit. Als Mitglied der guelfischen Re-
gierung von Florenz nahm Dante Anteil an der
politischen Entwicklung der Tage. Er leistete
Zukunftsarbeit, denn er stand unter dem
Einfluß der neuen wirtschaftlichen Situation. Das
Bürgertum blühte empor und zwang den Adel,
soweit es nicht mit ihm um die Herrschaft
kämpfte, zu demokratischen Gedankengängen.
— Arbeit an der Zukunft wird aber immer Ar-
beit bleiben — vita activa. Allein • — für sich
kann sie niemals zur abschließenden Synthese
führen. Diese Synthese vermag das eigene, der
Zukunft zugewendete Erlebnis des iVIannes wohl
in sich zu tragen — muß aber die festen, „ewig"
sicheren Formen in der geistigen Tradition der
Epoche suchen. — So mischt auch die göttliche
Komödie, wie jedes Werk bahnbrechender Genies,
Altes und Neues zu glücklicher Einheit. Es wahrt
die Kontinuität und weist doch den Weg, welchen
kommende Generationen zu gehen haben.
Das Neue vermag im Kunstwerk natürlich nur
dort zu erscheinen, wo es im Leben erschienen
ist. Dante gehört noch nicht zur Renaissance,
aber die Kräfte, welche dereinst den Geist der
Wiedergeburt erschaffen sollten, begannen sich in
seiner Zeit zu regen. Unter dem Einfluß bürger-
lich kaufmännischen Unternehmertums achtete
man auf die selbständige, handelnde, von tradi-
tionellen Fesseln freie Persönlichkeit. Der Begriff
der Individualität löste den IVIenschen ganz lang-
sam aus der einheitlichen, duldenden Geistigkeit
des katholischen Weltgefühls. Pur Dante wurde
das Leben zur Läuterung und ein Weg zu Gott.
Das ist in seinen Formen noch durchaus mittel-
alterlich gedacht. Für Dante wurde aber auch
umgekehrt die Läuterung zum Leben. Die Sün-
der des Purgatorio dulden nicht, sie handeln.
Sie kommen der göttlichen Gnade durch eigenen
freien Willen entgegen, und erringen auf diese
Weise die wahre Vereinigung mit der göttlichen
Natur. Das ist Aktion, nicht Passion. Das ist
Renaissance, nicht Mittelalter. Das Neue ist in
den Begriff der „vita activa" gebannt, wie das
Neue in Dantes Leben in die politische Arbeit
an seiner revolutionären Epoche.
Da der Weg der Geschichte dem in der Gegen-
wart handelnden Menschen jedoch unbekannt ist,
muß der einzelne, wenn er für das Ziel seines
Handelns ein abschließendes Gedankensystem ver-
langt, die Formen für dasselbe den geistigen Er-
rungenschaften der Vergangenheit entnehmen.
Auf diese Weise wird jedes abschließende System
zum Wiederspiegel des bisher Gedachten, — und
Dantes göttliche Komödie zum höchsten dichte-
rischen Ausdruck des mittelalterlichen Weltbegriffs.
Was wir aus dem Staube pedantischer Scholasten
nur mühsam herausholen können, finden wir in
Dantes Werk oft von poetischer Schönheit um-
glänzt. Damit wird der Dichter, auch für den
naturwissenschaftlich Interessierten wertvoll, denn
er zeigt dem Physiker und Biologen das Weltbild
des Mittelalters in auch heute noch genießbarer
Form.
Es erscheint zwar gefährlich vom „Weltbild
des Mittelalters" zu sprechen, wenn es sich nur
um das Weltbild eines mittelalterlichen Mannes
handeln kann — aber wir haben gerade der gött-
lichen Komödie gegenüber ein Recht so allgemein
zu reden. Zwar ist auch das Mittelalter, so ein-
heitlich seine Kultur dem rückschauenden Geist
erscheinen mag, von auseinanderstrebenden Lehr-
meinungen erfüllt, aber Dante vereinigte bis zu
einem gewissen Grade das Getrennte. — Er lernte
die Wissenschaft seiner Zeit in verhältnismäßig
reifem Alter kennen, als die Verbannung ihm
Muße zu ausgedehnten Studien ließ. Am stärk-
sten wurde er, was ganz natürlich ist, von der
damals in ihrer Hochblüte stehenden Scholastik
ergriffen. Albert der Große lieferte ihm nach
He feie das Gegenständliche und Stoffliche,
Thomas von Aquino die Methode. *) Aber rein
scholastisch ist Dantes Weltbild nicht. Zahl-
reiche Fäden laufen durcheinander und stempeln
den Dichter in philosophischer Beziehung zum
Eklektiker.^) Einerseits verbindet ihn seine Hin-
neigung zu Albert dem Großen mit neuplatoni-
') Hefele, Dante. Stuttgart 1921, S. 42.
^) ^S'- Baumgartner, Grundrifi der Geschichte der
Philosophie der patristischen und scholastischen Zeit, in Frie-
drich Überwegs Grundriß, 2. Bd., 10. Aufl., Berlin 19 15, S. 525.
530
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 37
scher Mystik — und andererseits wurde vieles
den sich an Augustin anschließenden franziskani-
schen Theologen entnommen. Dante lieferte
kein geschlossenes, philosophisches System, er
förderte die Wissenschaft nicht, aber er wurde
gerade durch seine Unentschiedenheit wertvoll.
Die göttliche Komödie gibt nicht nur die Auf-
fassung eines einzigen Mannes, sondern spiegelt
zahlreiche Lehrmeinungen wieder und überliefert
ups damit tatsächlich ein „Weltbild des Mittel-
alters".
Gerade das, was in wissenschaftlicher Beziehung
das Mittelalter von der Neuzeit scheidet, der allen
Lehrmeinungen gemeinsame Geist, tritt deutlich
hervor. — Dieser „Geist des Mittelalters" ist nur
aus seiner Geschichte zu verstehen. Der Unter-
gang der antiken Welt hatte in der religiösen
Bewegung des frühen Christentums seinen posi-
tiven, weiterführenden Ausdruck gefunden. Das
Religiöse war das Neue und trat der wissenschaft-
lichen Überlieferung feindlich gegenüber. Alle
Geistesarbeit wurde für Jahrhunderte in den Dienst
der Dogmenbildung gestellt. Erst als diese —
zwar nicht in der ursprünglich erwünschten, ein-
heitlichen Gestalt — aber in abgegrenzter, West-
und Oststrom trennender Zweiheit beendet war,
wurden die Geister für wissenschaftliche Beschäf-
tigung frei. Die Verbindung mit der Antike war
unterdes ziemlich verloren gegangen und konnte
nur auf dem Umweg über die Araber wieder
aufgenommen werden. Durch die Araber lernte
man den Aristoteles samt seinen morgenländischen
Kommentatoren kennen • — und fand in ihm das
wissenschaftliche Rüstzeug, welches man brauchte.
Der von Dogmenkämpfen zwar befreite, aber
an die Dogmen gebundene Verstand verlangte
sein Recht — und versuchte zu beweisen, was
er glauben mußte. Die Philosophie wurde zur
Magd der Theologie.
Die theologisch-dogmatische Schulung konnte
natürlich nicht ohne Einfluß auf die freiere geistige
Tätigkeit bleiben, um so weniger, als sich dieselbe
nur in den Klöstern entfaltete. Für den Dogma-
tiker galt die Erfahrung nichts, die Autorität da-
gegen alles. So suchte man auch auf dem Gebiet
weltlich-wissenschaftlicher Fragen nach einer un-
bedingten Autorität und fand sie in dem oft arg
verstümmelten Aristoteles. Die Naturwissenschaft
des Mittelalters wurde Bücherwissen und kam
höchst selten über die Irrtümer des Aristoteles
und seiner Kommentatoren hinaus, ja blieb sehr
oft hinter dem griechischen Meister zurück.
Die starke Einwirkung des von den Arabern
überlieferten Aristoteles fand kurz vor Dantes
Tagen statt. Sie vollzog sich zuerst im Schöße
des dominikanischen Ordens. Während die
Franziskaner Augustinus auch in philosophischen
Dingen über den Aristoteles stellten, verlangten
die Dominikaner, daß sich der große Kirchen-
lehrer in welllichen Fragen unter die Autorität
des heidnischen Gelehrten beuge. — Der Auf-
schwung aristotelischer Philosophie in den Kreisen
der Dominikaner ist vor allem jenen beiden Män-
nern zu verdanken, die wir, als bedeutend für
Dantes wissenschaftliche Stellungnahme bereits
kennen gelernt haben: Albertus Magnus und
Thomas von Aquino. — Albertus war einer jener
seltenen, großen Polyhistoren, welche fast das
ganze Wissen ihrer Zeit umfassen — die Fülle
des einzelnen aber mit Zersplitterung und Mangel
an einheitlicher Zusammenfassung erkaufen. Er
wurde zum Lehrer der Zeit und so ist es höchst
wahrscheinlich, daß Dantes Einzelkenntnisse,
Dantes wissenschaftliches Material, zum großen
Teil aus Albertinischer Quelle stammt.
Solcher Einzelkenntnisse finden wir in der
göttlichen Komödie außerordentlich viel. Es
sei nur an die zahlreichen astronomischen Be-
trachtungen erinnert, welche Dantes Jenseits-
wanderung leiten und die eine innige Vertrautheit
mit astronomischer Zeitbestimmung verraten.
Dante bemüht sich weiter um die Erklärung der
Flecken des Mondes (Parad. 2. Ges.); er weiß
(von Aristoteles) daß der Erdschatten bis zur
Venus reicht (Parad. 9. Ges.) und daß die Milch-
straße aus einzelnen Sternen besteht: „Milchstraße
nennen möcht' ich sie wohl: sie wiesen Stern
an Stern" (Parad. 14. Ges.).
Interessanter als Dantes astronomische Be-
merkungen sind seine geographischen Ansichten.
Wir treffen in ihnen auf die ersten Ahnungen
eines neuen Geistes. Die Erde ist eine Kugel
(siehe z. B. Fegef. 2. Ges.). Die westliche Seite
ist ganz vom Meer bedeckt, aus welchem nur der
Berg der Läuterung in die Höhe ragt. Ihn übers
Meer hin erreichen zu wollen ist Vermessenheit.
Ulysses scheiterte an seinen Ufern, als er von den
Säulen des Herkules zur untergehenden Sonne
fuhr (Hölle 26. Ges.). — Der Drang, die unbe-
kannte Seite der Erde zu erforschen, lebt in den
von Ulysses handelnden Versen; — er muß also
auch in D an t es Zeitgenossen schon so rege ge-
wesen sein, daß der Dichter sich bemüßigt fühlt,
vor überkühnen Abenteuern zu warnen. — Die
alten Bedenken, welche glaubten, daß die Anti-
poden von der Erde fallen müßten, sind in Dan-
tes Zeit allerdings schon längst zerstreut. Der
Dichter wendet sich im tiefsten Höllengrund, im
Mittelpunkt der Erde um: „Er bückte sich, um
häuptiings uns zu wenden, ich fühlte nun mich
auf dem Kopfe stehen" (Hölle 34. Ges.). Einen
Augenblick später aber fühlt er, daß unten liegt,
was bisher oben war und daß auf den Abstieg
jetzt ein Aufstieg folgt.
Weniger zahlreich sind die eingestreuten kli-
matischen und meteorologischen Bemerkungen.
Im 33. Gesang der Hölle erfahren wir, daß Winde
„nur aus Sonnendunst entstehen", und im 14. Ge-
sang des Fegefeuers wird uns vom Wasserkreis-
lauf berichtet.
Auf dem Gebiete der Anatomie (vgl. Hölle
28. Ges.) und Physiologie ist Dante mehr zu
Hause. Im 25. Gesang des Fegefeuers wird bei-
spielsweise die Frage der Zeugung ausführlich be-
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
531
handelt. „Das beste Blut . . . wir aufgespart . . .
Formkraft gibt ihm das Herz, das es verwahrt. . . .
Nicht Glieder schafft es, es erhält die ArtI Hier-
zu wird erst es nochmals zubereitet, eh es zum
Blutvermischen niedergleitet. — Es fluten beide
nun in eins zusammen, das eine leidet und das
andere schafft, nach Art des Herzens, welchem
sie entstammen." — Die Vermischung bringt erst
vegetatives Leben hervor, welches langsam zu
tierischem Dasein erwacht. „Doch jetzt muß
dieses Tier zum Menschen werden." Die
Menschenwerdung führt Dante auf die direkte
Einwirkung Gottes zurück, dessem Oden die
menschliche Seele entstammt, welche darum gött-
lich und unsterblich ist (vgl. Parad. 7. Ges.). Jeder
Mensch hat nur eine Seele und nicht wie die
Platoniker meinen, eine doppelte, eine denkende
und eine fühlende: „Denn mehr als eine Seele
sich zu denken ist irrig. Eine nur hat jede
Brust" (Fegef. 4. Ges). — Nach dem Tode bildet
die Seele einen Schattenleib, mit dem sie Hölle
oder Fegefeuer durchwandert und der nichts
anderes ist als der Wiederspiegel ihres innersten
Wesens. „Denn jeder Drang gestaltet seinen
Schatten, drum sahst du hager diese Nimmer-
satten I"
Dantes Stellung zu den beiden großen wissen-
schaftlichen Irrtümern seiner Zeit ist verschieden.
Die Alchymisten sitzen als Fälscher in der Hölle :
„Da Minos selbst, der nie das Recht verletzte,
nur wegen Alchymie hierher mich setzte" (Hölle
29. Ges.). Die Astrologen aber, welche allerdings
auch Betrüger sein können, treiben eine nicht
unberechtigte Wissenschaft. Die Sterne be-
stimmen zwar nicht das menschliche Schicksal,
denn der Wille ist frei, aber sie spiegeln es
wieder und sind so aufs engste mft dem Menschen
verknüpft. —
Die Fülle aller dieser Einzelheiten ordnet sich
— mehr oder weniger gut — in ein umfassendes
Weltsystem. Hier spüren wir des großen Syste-
matikers Geist. Dantes Welt ist die des Ari-
stoteles im Sinn des Thomas von Aquino. Die
Erde steht im Mittelpunkt. Um sie kreisen die
Sphären der Planeten und der Fixsternhimmel.
Das Ganze wird eingeschlossen durch die „erste
bewegliche Sphäre" von welcher die Kraft für die
Bewegung aller folgenden Kreise stammt. Diese
erste bewegliche Sphäre ist die Grenze für Zeit
und Raum, ja durch sie werden Raum und Zeit
erst gebildet, erst bestimmt. „Er (dieser Kreis)
gab euch erst den Raum!" — und „jede Schnelle
wird nach ihm bemessen" (Parad. 27. Ges.).
Diese letzte Sphäre ist selbst nicht mehr im
Raum, Jebt nicht mehr in der Zeit; — sie ist in
Gott, der raumlos, zeitlos und bewegungslos im
Empyreum thront (vgl. Parad. 30. Ges.). Gott
ist reines Sein. Seine Gedanken aber werden
stufenweise niedergetragen in die raumzeitliche
Welt des Werdens: „Was nicht stirbt, und was
stirbt, strahlt das nur wieder, was Gott als Schöpfer
liebend sich gedacht" (Parad. 13. Ges.). Das
Bindeglied zwischen Gott und raumzeitlicher Be-
wegung bilden die jenseits der letzten Sphäre
kreisenden Engel. Sie entsprechen den räum- und
zeitlosen Ideen der Platoniker, den Müttern Fausts.
Ihre Kreise sind das Urbild der Welt. — Sie
übermitteln Gottes Kraft an den „Seraph" den
Beweger der ersten Sphäre. „Jetzt sah ich, wie
den Reigen sie verließen, des Urbewegungs-
quell der Seraph bleibt" (Parad. 8. Ges.).
. . . „den seel'gen Geist nur recht verstehen lerne :
er ist nicht Gott, jedoch von ihm gesandt. Er
kreist um ihn in ew'ger Himmelsferne und eint
an Kraft und Stoff, was sich verwandt".
Die im Seraph noch einheitliche göttliche Kraft
wird im Ring (Parad. 2. Ges.) der Fixsterne ver-
vielfältigt und individualisiert. „Verteilt wird
dieses Sein im zweiten Ringe, drum glänzt ver-
schieden dessen Bilderpracht" (Parad. 2. Ges.).
Von der Fixsternsphäre wird die göttliche
Kraft durch die Engel (Intelligenzen) der Planeten-
kreise bis zur Erde getragen. Auf Erden selbst
herrscht Fortuna als Gottes Mittelsperson, als
Gottes Beauftragte, welche die Weltgeschichte
lenkt.
Die diesseftige Welt ist Gottes Schöpfung.
Sie besteht nicht von Ewigkeit an, sondern Raum
und Zeit entstanden mit ihr. Aus Gott geboren
treibt das All zu Gott zurück. Die Liebe Gottes
hält alles in Bewegung, die Liebe zu Gott ist der
Urgrund von Sein und Werden. Alles bliebe
„ganz -ungelöst, erklärt es nicht: die Liebe"
(Parad. 7. Ges.). Durch die Liebe wird ein irra-
tionales Prinzip in das Weltbild eingeführt, ein
Prinzip, um welches alle Gedanken der Komedia
kreisen. Durch die „Hölle" der Erkenntnis ver-
mag Virgil, das Symbol der Vernunft, zu führen.
Auf dem Berg der Läuterung beginnt die Ver-
nunft zu versagen. Die hingebende Tat tritt an
ihre Stelle — und schließlich vermag uns im
Paradies nur die Liebe, in Beatricens Gestalt zur
wahren Gottesanschauung zu erheben. In der
Anschauung Gottes aber wird alles erfaßt, was
dem Verstände unfaßbar bleibt; in der Anschauung
Gottes wird die Welt erlebt: „Tief innen sah ich
wunderbar sich einen, in einem Buch, das Gottes
Liebe band, was wir vom All zerstreut zu sehen
meinen . . . Zerrann das Bild, so hatt ich mehr
vergessen, als ich besaß, ja als . . . die W e 1 1 be-
sessen an Wissenschaft" (Parad. 33. Ges.).
Tief wurzeln Dantes Gedanken im Mittel-
alter — aber sie sind auch hier, in ihrer letzten
Tiefe nicht nur ein Abschluß, sondern ein An-
fang. Sie weisen auf die schwärmerische, neu-
platonische Mystik der Renaissance und leiten
über diese hinaus zu einer Selbstbescheidung der
Vernunft, welche einst in Galilei die neue Wissen-
schaft hervorbringen sollte. Die Vernunft wird
sich ihrer Grenzen bewußt und wird dadurch
fähig gemacht, die ihr gemäße Arbeit ganz zu
erfüllen: „Begnügt mit dem euch: ,was da isti'
auf Erden, denn, solltet ihr auch das ,warum'
verstehen. — Maria brauchte Mutter nicht zu
532
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 37
werden" (Fegef. 3. Ges.). Diese Worte klingen
wie eine Stelle aus Galileis Werken. Hier lebt
ein Geist, der sich einst rein und klar aus aller
Mystik erheben sollte. Es ist der Geist , der
schließlich zur Naturwissenschaft der neuen Zeit
geführt hat.
Was ist Pflanzenschutz?^) "*
Von Reg.-Rat Dr. Martin Schwanz,
Leiter der wirtschaftlichen Abteilung und Vorstand des Laboratoriums für allgemeinen Pflanzenschutz der Biologischen
[Nachdruck verboten.] Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft.
hin mit dem Verhältnis der angewandten Zoologie
Das Langersehnte ist eingetroffen. Nahezu ein
Vierteljahrhundert hat die Reichsregierung, haben
die Landesregierungen durch Sachverständige und
Fachinstitute Pflanzenschutz treiben lassen, Inter-
essen verfolgt, von denen man in der naturwissen-
schaftlichen Öffentlichkeit nichts wußte und nichts
wissen wollte. In den meisten naturwissenschaft-
lichen Kreisen fragte man nicht einmal danach,
was Pflanzenschutz sei.
Nun ist das anders geworden. Die wirtschaft-
liche Not Deutschlands, die Notwendigkeit, alles
an die Steigerung der Produktion der deutschen
Landwirtschaft zu setzen, hat schon während des
Krieges begonnen , die Aufmerksamkeit breiter
naturwissenschaftlicher Kreise auf den Pflanzen-
schutz zu lenken, denen es bisher fern gelegen
halte, sich mit der Lösung wirtschaftlicher Fragen
zu befassen.
Sie wollen jetzt alle dem Pflanzenschutz helfen.
Man kommt mit Vorschlägen aller Art, wie das
Versäumte nachzuholen sei, wie die Wissenschaft
den Pflanzenschutz fördern könnte. Dieses Streben
ist mit Dankbarkeit — und nicht ohne Genug-
tuung — zu begrüßen. Ich vermisse nur unter
den in diesem Wetteifer aufgeworfenen vielen
Fragen noch immer die eine Frage: „Was ist
Pflanzenschutz?".
Die Meinungen darüber scheinen mir außer-
halb der eigentlichen Pflanzenschutzkreise noch
wenig geklärt zu sein. Ich will versuchen, dar-
zulegen, was man im Pflanzenschutz selbst unter
Pflanzenschutz versteht.
Ziel des Pflanzenschutzes ist Steigerung der
Erträge des Pflanzenbaues durch Verhütung von
Mißwachs und Ernteverlusten. Er sucht, im
Pflanzenbau die günstigsten Lebensbedingungen
der Kulturpflanzen zu schaffen und zu erhalten.
Hierzu gehört auch die Bekämpfung der Pflanzen-
krankheiten und Pflanzenschädlinge.
Deshalb ist aber Schädlingsbekämpfung schlecht-
weg noch kein Pflanzenschutz, ebensowenig wie
Schädlingsbekämpfung als ein Teil der ange-
wandten Entomologie oder besser gesagt der an-
gewandten Zoologie, an sich allein das gesamte
Aufgabengebiet der angewandten Entomologie
oder Zoologie ausmacht. Angewandte Zoologie
ist ja doch z. B. auch eine von der medizinischen
Wissenschaft benötigte Hilfswissenschaft, ohne daß
sie beanspruchen könnte, die medizinische Wissen-
schaft selbst vorzustellen. Ebenso steht es weiter-
zur Fischerei, zur Viehzucht, Jagdwissenschaft usw.
Grundlage des Pflanzenschutzes ist die wissen-
schaftliche biologische F"orschung. Daß man nur
auf dieser Grundlage fruchtbringend im Pflanzen-
schutz arbeiten kann, ist keine neue Entdeckung.
Wenn das Häuflein wissenschaftlicher Pflanzen-
schutzforscher jahrzehntelang klein geblieben ist,
so tut man unrecht, die Schuld hieran eben
diesen kleinen Häuflein beizumessen, das schon
in früheren Zeiten der Mühe Wert fand, sich statt
anderen Problemen den Aufgaben des Pflanzen-
schutzes zuzuwenden.
Pflanzenschutz ist keine Domäne der Botanik,
Zoologie oder Chemie, sondern ein Arbeitsgebiet,
auf dem sich alle Naturwissenschaften, die das
Wesen der belebten Natur ergründen helfen kön-
nen, gegenseitig hilfreich die Hand reichen müssen.
An der Arbeit im Pflanzenschutz sind vor allem
Botanik, Zoologie, Bakteriologie, Biologie, Physio-
logie, Vererbungslehre, Chemie, Physik, Meteoro-
logie, Geologie, Phänologie beteiligt.
Es darf aber nicht außer acht gelassen wer-
den, daß Pflanzenschutz nach dem Arbeitsziel eine
rein wirtschaftliche Angelegenheit ist. Nur nach
den Arbeitswegen ist er zu einem Teil auch eine
wissenschaftliche, zum anderen Teile aber gleich-
falls eine wirtschaftliche Angelegenheit.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung der land-
wirtschaftlichen Ertragssteigerung macht in
Deutschland den Pflanzenschutz zu einer öffent-
lichen Angelegenheit.
Man hat im Pflanzenschutz die Pflanzenschutz-
forschung und den Pflanzenschutzdienst zu unter-
scheiden. Beide sind eng miteinander verknüpft
und aufeinander angewiesen, sie müssen aber
streng auseinander gehalten werden.
Die in der Pflanzenschutzforschung tätigen
Einzelwissenschaften arbeiten in angewandter
•) Vgl. hierzu die in der letzten Zeit erschienenen Auf-
sätze :
1. L. Lindinger, Ein neuer Weg der Schädlings-
forschung. Nalurw. Wochenschr. 1921, Nr. 17, S. 255.
2. J. Wilhelmi, Die Bekämpfung der gesundbeillichen
upd wirtschaftlichen Schädlinge. Veröfi. aus dem Gebiete der
Medizinalverwaltung. Berlin 1921, XII. Bd., 2. Helt, S. 63.
3. J. Wilhelmi, Zu Ausgestaltung der Schädlingsbe-
kämpfung. Naturw. Wochenschr. 1921, Nr. 21, S. 312.
4. K. Escherich, Angewandte Entomologie und Phyto-
pathologie. Zeitschr. f. angew. Entomologie Bd. VII, Heft 2,
S. 441.
5. L. Reh, Die Ausbildung der praktischen Zoologen.
Ebenda S. 447.
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Richtung, d. h. zur Erzielung wirtschaftlicher Er-
folge, an der Lösung von Einzelaufgaben des
Pflanzenschutzes. Der Pflanzenschutzdienst sucht
die wissenschaftlichen Ergebnisse der Forschung
zur Nutzanwendung zu bringen, die Tagesfragen
des Pflanzenschutzes nach dem jeweiligen Stande
der Wissenschaft möglichst nutzbringend zu be-
antworten. Die Pflanzenschutzforschung ersinnt,
schmiedet und verbessert unausgesetzt das Hand-
werkszeug, mit dem der Pflanzenschutzdienst all-
jährlich der Landwirtschaft hilft, die Pflanzen an-
zubauen und die Ernte einzubringen. Bei dieser
praktischen Arbeit sammelt der Pflanzenschutz-
dienst praktische Erfahrungen, die wiederum für
die Forschung richtunggebend sein müssen. Die
praktische Durchführung des Pflanzenschutzes liegt
unmittelbar im Interesse des Volkswohles. Pflanzen-
schutzdienst ist daher auch unmittelbar, Pflanzen-
schutzforschung aber nur mittelbar (durch den
Pflanzenschutzdienst) öflentliche Angelegenheit.
Pflanzenschutzforschung ist wie jede andere
wissenschaftliche Betätigung frei. Sie muß in
ihrer Auswirkung frei sein und ist daher unorgani-
sierbar. Der Pflanzenschutzdienst ist an politisch
umgrenzte wirtschaftliche Gebiete gebunden, die
er fortlaufend pünktlich zu versorgen hat. Er
muß deshalb innerhalb dieser organisiert sein.
Diese Organisation macht ihn zu einem Werk-
zeug des Staates für die Förderung des Volks-
wohles, aber auch zu einem Werkzeug der Wissen-
schaft für die Heranschaffung von Erfahrungs-
tatsachen.
Die Anfänge der jetzt in Deutschland bestehen-
den Organisation des amtlichen Pflanzenschutz-
dienstes reichen bis in die Zeit der im Jahre 1899
erfolgten Gründung der Biologischen Abteilung
beim Kaiserlichen Gesundhehsamt zurück, aus
der sich die jetzige Biologische Reichsanstalt für
Land- und Forstwirtschaft entwickelte. Damals
wurden gleichzeitig oder bald darauf die staat-
lichen Pflanzenschutzanstalten der Bundesstaaten
eingerichtet, deren Gesamtheit auf Veranlassung der
Reichsregierung in der Zeit von 1903—1905 unter
Führung der BiöTbgischen Reichsanstalt, als der
zuständigen Reichsbehörde, zur Organisation des
deutschen Pflanzenschutzdienstes zusammenschloß.
Jahrzehntelang waren diese staatlichen Pflanzen-
schutzanstalten, die man ja doch für die unmittel-
bare praktischeVerwertungbiologischer Forschungs-
ergebnisse, d. h. zur Ausübung des praktischen
Pflanzenschutzdienstes gegründet hatte, gezwungen,
die für ihre Arbeiten nötigen spezialwissenschaft-
lichen Grundlagen sich vorwiegend allein zu
schafi"en. Da außerhalb dieser Anstalten nur ganz
vereinzelte Vertreter der Naturwissenschaften für
den Pflanzenschutz Interesse zeigten, blieb die
F'örderung der Pflanzenschutzforschung den An-
gehörigen des amtlichen Pflanzenschutzdienstes
fast allein überlassen. Bei der großen Vielge-
staltigkeit der Aufgaben des Pflanzenschutzes
mußte die kleine Schar seiner Diener sich außer-
ordentlich vielseitig betätigen und, um den vieler-
533
lei an sie herantretenden Fragen nach Kräften
gerecht werden zu können, sich auf allen Gebieten
der Hilfswissenschaften des Pflanzenschutzes gleich-
zeitig einarbeiten. Ohne Zweifel hätte wohl
manche Einzelfrage des Pflanzenschutzes ihrer
Lösung rascher und besser entgegengeführt wer-
den können, wenn ihre Erforschung von einem
nicht mit Pflichten des Pflanzenschutzdienstes be-
lasteten Spezialisten aufgenommen und durchge-
führt worden wäre. Solche Spezialisten wollten
sich jedoch nicht finden lassen.
Jetzt haben sich die Verhältnisse geändert.
Deutschland verfügt heute nicht nur über eine
Organisation für die Ausübung des praktischen
Pflanzenschutzdienstes, sondern auch äußerhalb
dieser Organisation über eine wachsende Schar
von Vertretern der angewandten Naturwissen-
schaften, die sich der freien Forschung auf dem
Gebiete des Pflanzenschutzes widmen. Vor allem
ist es dem Vorkämpfer der angewandten Ento-
mologie Escherich zu verdanken, daß in
Deutschland nicht nur die angewandte Ento-
mologie aufblühen konnte, sondern daß auch
zahlreiche Vertreter dieser Wissenschaft sich dem
fruchtbaren Arbeitsgebiete des Pflanzenschutzes
zuwandten. Diese günstige Wendung der Dinge
mußte der Pflanzenschutzforschung wie dem
Pflanzenschutzdienst in gleicher Wese förderlich
zugute kommen. Das Eingreifen zahlreicher Spe-
zialisten in die Pflanzenschutzforschung führte zu
einer gründlicheren Lösung wissenschaftlicher
Einzelfragen des Pflanzenschutzes und besserte
und befestigte dadurch die Grundlage des prak-
tischen Pflanzenschutzdienstes. Der Pflanzenschutz-
dienst wurde aber jetzt auch stark entlastet, da
seine Vertreter nunmehr die ihnen früher allein
zugefallenen Aufgaben der Erforschung der von
ihnen zu behandelnden Erscheinungen mit den
Vertretern der reinen Forschung teilen konnten.
Es ist zu hoffen, daß die im Interesse der Förde-
rung auf beiden Arbeitsgebieten anzustrebende
reinliche Scheidung zwischen Pflanzenschutz-
forschung und Pflanzenschutzdienst mit der Zeit
immer besser wird durchgeführt werden können.
Wenn in den Kreisen des Pflanzenschutzdienstes
häufig darauf hingewiesen worden ist, daß Pflanzen-
schutz und Medizin miteinander zu vergleichen
seien, so ist dieses so zu verstehen, daß den mit
der Ausführung des praktischen Pflanzenschutz-
dienstes beauftragten Fachleuten eine ähnliche
Rolle zukommt, wie den praktischen Ärzten. Die
Spezialforschung sollte diesen Fachleuten und den
für den Pflanzenschutzdienst errichteten Instituten
abgenommen und freien Forschern in besonderen
Forschungsinstituten zugewiesen werden. Die
Forderung, daß man im Pflanzenschutzdienst keine
Trennung der Institute und Beratungsstellen nach
Spezialfächern, z. B. Zoologie und Botanik vor-
nehmen dürfe, wird jedem einleuchten, der mit
der Praxis des Pflatizenschutzdienstes zu tun hat.
Ebensowenig wie der praktische Arzt, der seine
Patienten in allen vorkommenden Fällen beraten
534
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 37
muß, nur über Kenntnisse in einem Spezialfach
seiner Wissenschaft verfügen darf, darf der im
Pflanzenschutzdienst tätige Fachmann nur ein ein-
seitiger Spezialist sein.
Der Entwicklungsgang, den der deutsche Pflanzen-
schulz über den Pflanzenschutzdienst zu einer von
diesem Pflanzenschutzdienst sich immer mehr
trennenden Pflanzenschutzforschung geführt hat,
hatte trotz allen Schwierigkeiten, die auf dem
eingeschlagenen Wege den bisherigen Vertretern
des Pflanzenschutzdienstes erwuchsen, doch die
gute Folge, daß jetzt, wo die Notlage des Reiches
das Eingreifen eines leistungsfähigen Pflanzen-
schutzdienstes erfordert, dieser Dienst bereits fertig
eingerichtet ist und über tüchtige, vielseitig ge-
bildete, praktisch erfahrene Kräfte verfügt.
Wenn zwischen den rein wissenschaftlichen
Kreisen, die sich nunmehr dem Pflanzenschutz
zuwenden, und den von ihnen bisher isolierten
Vertretern des praktischen Pflanzenschutzdienstes
Mißverständnisse aufkommen konnten, so liegt die
Schuld vielleicht auf beiden Seiten. Beide sind
in der Vergangenheit ihre Wege zu sehr allein
gegangen, so daß sie jetzt beim endlichen Zu-
sammenkommen Schwierigkeiten haben, ihre Ar-
beitsbegriffe miteinander zu vergleichen. Ganz
abgesehen davon, daß man Begriffe wie Pflanzen-
schutz, Schädlingsbekämpfung und angewandte
Entomologie miteinander vermengte und ver-
wechselte, sind noch neu gebildete Worte und
Begriffe aufzuklären. So hat die vielleicht nicht
ganz glücklich gewählte Bezeichnung Phytopatho-
logen für den neuen Berufsstand der Vertreter
des praktischen Pflanzenschutzdienstes zu der
mißverständlichen Auffassung geführt, es handle
sich bei diesen Vertretern lediglich um Erforscher
von Pflanzenkrankheiten, d. h. besonders myko-
logisch und physiologisch arbeitende Botaniker.
Man hat geglaubt, der amtliche deutsche Pflanzen-
schutzdienst, der seine Beamten vielfach als Phyto-
pathologen bezeichnete, forderte, das Pflanzenschutz
lediglich von Botanikern auszuüben sei. Die weitere
Verwechslung von praktischem Pflanzenschutz, d. h.
Pflanzenschutzdienst mit Pflanzenschutzforschung
führte zu der irrigen Meinung, die amtlichen Stellen
des Pflanzenschutzes wollten die Vertreter der
anderen Spezialwissenschaften, insbesondere der
Zoologie, von der Betätigung im Pflanzenschutz
überhaupt ausgeschlossen sehen. Die Größe dieser
Irrtümer leuchtet ohne weiteres ein, wenn man
bedenkt, daß in der zuständigen Reichsbehörde
für Pflanzenschutz an der Spitze der wirtschaft-
lichen Abteilung, welche die auf praktischen Ge-
bieten arbeitenden vierzehn landwirtschaftlich-bio-
logischen Laboratorien umfaßt, ein Zoologe steht,
und daß diesem Zoologen auch das Laboratorium
für allgemeinen Pflanzenschutz unterstellt ist.
Ferner darf doch der Umstand nicht außer acht
gelassen werden, daß von den 32 wissenschaft-
lichen Beamten der Reichsanstalt 15 Zoologen
von Fach sind.
Es ist auch unrichtig, wenn immer wieder
behauptet wird, in den Vereinigten Staaten von
Amerika sei das, was man in Deutschland Pflanzen-
schutz nennt, lediglich Aufgabe der angewandten
Entomologie. Die Biolog-ische Reichsanstalt für
Land- und Forstwirtschaft ist nicht mit dem
Bureau of Entomology, sondern mit der Gesamt-
heit der Fachinstitute des Departement of Agri-
culture zu vergleichen, nur mit dem Unter-
schiede, daß sie viel jünger und unter ganz
anderen Entwicklungsbedingungen erwachsen ist
und sich mit dem amerikanischen Rieseninstitut
auch nicht in einem kleinen Teil messen kann.
Die Arbeitsaufgaben, die in Amerika je einem
großen „Bureau" mit zahlreichen Unterabteilungen
zugewiesen sind, fallen in Deutschland je einem
Laboratorium mit wenigen Hilfskräften zu. Eben-
so steht es mit der Organisation des Pflanzen-
schutzdienstes im Deutschen Reiche, die erst
unter Mitwirkung der Biologischen Reichsanstalt
für Land- und Forstwirtschaft geschaffen werden
mußte und sich aus ganz kleinen Anfängen zu
entwickeln hatte. In den Vereinigten Staaten
von Amerika verfügt jeder Staat seit langem
über eine kompetente landwirtschaftliche Ver-
suchsstation mit einem Stab von Sachverstän-
digen, unter denen sich nicht nur Entomologen,
sondern auch Vertreter der übrigen Hilfswissen-
schaften des Pflanzenschutzes befinden. Außer-
dem hat fast jeder Staat noch eine landwirt-
schaftliche Schule, wo alle Fachwissenschaften,
darunter auch allgemeine und angewandte Botanik,
Entomologie und Phytopathologie gelehrt werden.
Daneben sind zahlreiche County agents oder
Field agents als praktische beratende Sachver-
ständige tätig, denen ein Hauptteil der Auf-
gaben der deutschen amtlichen „Phytopathologie"
zufällt.
Alle diese vielseitigen Einrichtungen haben
in Amerika frühzeitig zur Arbeitsteilung und
damit zu einer gesunden und kräftigen Ent-
wicklung nach jeder Spezialrichtung hin geführt.
In Deutschland hat es aus den schon dargelegten,
in der Entwicklung des deutschen Pflanzen-
schutzes liegenden Gründen, an der Möglichkeit
einer solchen gedeihlichen Arbeitsteilung bisher
gefehlt. Die Anfänge sind jedoch in der während
der letzten Jahre vollzogenen Umgestaltung der
Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forst-
wirtschaft und dem im Ausbau begriffenen deut-
schen Pflanzenschutzdienst geschaffen worden.
Aufgabe aller an dem deutschen Pflanzenschutz-
dienste und dem Wohle des deutschen Volkes
interessierten Kreise sei es, an dem in Angriff
genommenen Werke nach Kräften mitzuarbeiten
und sich deshalb zunächst von dem zu unter-
richten, was der deutsche Pflanzenschutz bedeutet
und was und mit welchen Mitteln auf diesem
Gebiete gearbeitet und geschaffen wird.
Die Biologische Reichsanstalt für Land- und
Forstwirtschaft hat alle am Pflanzenschutz inter-
essierten deutschen Fachleute gebeten, für die
Ziele des deutschen Pflanzenschutzes mitzuar-
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
535
beiten, und ist jederzeit bereit, jedem ernstlich
interessierten Fachmann mit ihren Arbeitsmitteln
bei der Arbeit zu helfen. Bei der Größe des
Arbeitsgebietes und der Fülle der Arbeitsaufgaben
ist sie auf die regste Mitarbeit aller interessierten
Kreise angewiesen und für jede Unterstützung
dankbar. Deshalb ist die von Lindinger aus-
gegangene Anregung, die naturwissenschaftlichen
Vereine und Gesellschaften möchten sich an der
systematischen Durchforschung Deutschlands auf
seine Schädlinge beteiligen, nur zu begrüßen, so
irrig auch sonst die in seinem Aufsatz vertretene
Auffassung vom deutschen Pflanzenschutzdienst,
seiner Organisation und deren Arbeitsweise ist.
Es ist ihm offenbar auch noch nicht bekannt ge-
worden, daß die Biologische Reichsanstalt für
Land- und Forstwirtschaft mit Hilfe der bestehen-
den amtlichen Organisation des Pflanzenschutz-
dienstes seit mehr als einem Jahre die systema-
tische Durchforschung des Reichsgebietes auf
seine Pflanzenschädlinge in Angriff genommen
hat, und daß man dabei ist, das für ein solches
Unternehmen nötige Beobachternetz mit allen
Mitteln, auch unter Heranziehung der von Lin-
dinger ins Auge gefaßten Kreise, möglichst
leistungsfähig auszubauen.
Bei genügender Kenntnis des deutschen Pflanzen-
schutzes, seiner Aufgaben und seiner Einrichtungen
wird man auch leicht einsehen, daß Vorschläge,
die darauf abzielen, den Pflanzenschutz mit der
Schädlingsbekämpfung und Ungeziefervertiigung
in der Menschen- und Tierhygiene, in der Wasser-
hygiene, Fischerei, Hauswirtschaft und Industrie
zu einer Organisation für die Überwachung und
Vereinheitlichung des gesamten Schädlingswesens
zusammenzufassen, ein Unding sind. Bevor man
auf die Suche nach einem Reichskommissar ginge,
der einer solchen organisatorischen Aufgabe ge-
wachsen wäre, würde vor allem erst der zur
Unterstützung dieses Verwaltungsbeamten vorge-
sehene, das gesamte Gebiet des Schädlingswesens
übersehende wissenschaftliche Beamte (Universal-
„Bionom") ausfindig zu machen sein. Ein solches
Unterfangen könnte den Sachkenner anmuten wie
z. B. die Schaffung eines Reichskommissariates
für die Überwachung und Vereinheitlichung des
gesamten Räderwesens, ohne Rücksicht auf die
Art und Beschaffenheit der Räder, ihrer Zwecke
und der Betriebe, in denen sie laufen 1
Pflanzenschutz will wirtschaftliche Werte er-
arbeiten helfen. Das kann nur auf dem Boden
der Wirklichkeit gelingen.
Einzelberichte.
Über die Funktion der sog. „Hydropoten"
bei Wasserpflanzen.
In neuerer Zeit hat Mayr eigenartige Organe
an Wasserpflanzen beschrieben, die er als Hydro-
poten (= Wassertrinker) bezeichnet in der An-
nahme, daß es Gebilde sind, die der Aufnahme
von Flüssigkeit aus dem umgebenden Milieu die-
nen. Es handelt sich um Zellgruppen, die sich
morphologisch von der Umgebung deutlich ab-
heben, stark durchlässige Außenwände besitzen
und sehr oft eine deutliche Zuordnung zu den
Nerven der Blätter, den Wasserleitungsbahnen,
erkennen lassen. Nach der allgemeinen Auffas-
sung, die man von den Wasserleitungsverhältnissen
entsprechenden Apikaiöffnungen der Wasserpflan-
zen, die durch Abstoßung von Gewebepartien Zu-
standekommen, im Dienste der Wasseraurscheidung
stehen. Sie würden also die Spaltöffnungen der
Landpflanzen, welche die Transpiration, die bei
den Wasserpflanzen wegfällt, regeln, ersetzen.
Diese Auffassung wird von Riede (Flora, 114,
1920) eingehend geprüft. Er bestimmte zunächst
bei zahlreichen Wasserpflanzen das Verhältnis
Sproßgewicht : Wurzelgewicht und fand — wie
zu erwarten — daß das Wurzelsystem den Land-
pflanzen gegenüber stark zurücktritt — bis zu
vollständigem Verschwinden. Vom Mayr sehen
Standpunkt aus wäre nun zu erwarten gewesen,
daß die Zahl der Hydropoten um so größer ist.
der Hydrophyten hat, hat die Deutung von je weniger Wurzeln vorhanden sind, da die Hydro-
Mayr manches Bestechende. Das Wurzelsvstem nntpn Ja HiV PunUi^r, ^»^ \a7.,.-,„i„ „.„„.„ ii._
lyr manches Bestechende. Das Wurzelsystem
ist vielfach sehr stark reduziert, die Gefäße und
Tracheiden sind verkümmert, und die Kutikula,
die bei Landpflanzen einen soliden Abschluß nach
außen bildet, verschwindet. Das sind alles Mo-
mente, die dafür sprechen, daß die Wasser- und
Nährsalzaufnahme durch die Oberfläche des
Sprosses, insbesondere der Blätter stattfindet. Von
diesem Standpunkt wäre es also sehr wohl mög-
lich, daß sich besondere Organe herausbildeten,
die diesen Verkehr erleichtern. Hält man sich
aber lediglich an die morphologischen Charaktere
der Hydropoten, dann ist auch die umgekehrte
Deutung möglich, daß sie analog den Hydathoden,
den Wasserspalten, und den diesen einigermaßen
poten ja die Funktion der Wurzeln ersetzen sollen.
Dies hat sich aber keineswegs bestätigt. Riede
führt nun zahlreiche Experimente an, die für die
andere Auffassung sprechen. Er kultivierte Wasser-
pflanzen unter sonst gleichen Bedingungen zum
Teil in festgewurzelten, zum Teil in schwimmen-
dem Zustand. Es zeigte sich, daß die festgewur-
zelten Individuen viel besser gediehen. Das be-
sagt, daß das Vorhandensein der Wurzeln nicht
gleichgültig ist, daß sie vielmehr imstande sind,
die Nahrungsaufnahme wesentlich zu fördern.
Ferner wurden die hydropotenführenden Partien
von Wasserpflanzen mit Paraffin überzogen, das
eine Wasseraufnahme unmöglich machte, und
trotzdem gediehen die Objekte ohne wahrnehm-
536
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
bare Störungen. Weiterhin wurden die Wurzeln
von Myriophyllum (Tausendblatt) und Elodea
(Wasserpest) mit Ferrocyankalium in Berührung
gebracht und das Aufsteigen dieses Stoffes, der
sich sehr leicht mit Ferrichlorid als Berliner Blau
nachweisen läßt, kontrolliert. Es zeigte sich ein
sehr intensives Vordringen des Stoffes in die
Sproßregion und insbesondere bei Limnanthemum
(Teichblume) glückte der Nachweis, daß die Hydro-
poten starke Ansammlungen von Ferrocyankalium
aufweisen, eine Tatsache, die mit ihrer Deutung
als Ausscheidungsorgane in schönstem Einklang
steht. Im Anschluß daran wurden Wasserpflanzen
in zwei verschiedene Gefäße getaucht, derart,
daß sich die Wurzel im einen, die Blattspreite im
andern, der Blattstiel aber als Verbindungsbrücke
in Luft befand. Es ergab sich nun, daß der Stiel
an der Basis frisch blieb, an der Spitze aber
welkte, was mit der reichlichen Aufnahme von
Flüssigkeit durch die Hydropoten im Widerspruch
steht. Nach derselben Richtung wiesen Experi-
mente, bei denen beide Gefäße Ferrocyankalium
enthielten. Das Eisensalz drang von der Basis
aus sehr weit vor, während es an der Spitze mehr
oder minder lokalisiert blieb. Um eine quantita-
tive Vorstellung von dem Saugvermögen der
Wurzel zu erhalten, wurden Potetometerversuche
angestellt, d. h., die Wurzeln wurden in ein Gefäß
eingetaucht, das eine Messung der aufgenommenen
Wassermengen ermöglichte. Der Sproß befand
sich ebenfalls in Wasser, aber Wurzel- und Sproß-
pol waren durch eine Scheidewand getrennt. Auch
auf diesem Wege ergab sich ein deutlicher Wasser-
anstieg von der Wurzel aus; wurden die Hydro-
poten des Sproßteils mit Paraffin verschlossen, dann
war die Wasseraufnahme stark gehemmt; das
deutet ebenfalls darauf hin, daß die Hydropoten
der Sekretion dienen. Durch Verwendung von
Doppelpotetometern, an denen man nicht nur die
Aufnahme durch die Wurzel, sondern auch die
Abgabe durch den Sproß in die umgebende
Flüssigkeit feststellen konnte, ergänzte das Bild;
es zeigte sich, daß der aufwärts gerichtete Wasser-
strom zwar geringer ist als bei Landpflanzen, daß
er aber doch deutlich vorhanden ist. Das deutet
— in Verbindung mit der Tatsache, daß die
Hydrophyten nach Hannig dasselbe osmotische
Gefälle wie die Landpflanzen besitzen und daß
Wieler die Erscheinung des Blutens, das ja auf
dem Wurzeldruck beruht, auch bei Wasserpflanzen
beobachtet hat, darauf hin, daß das Saftsteigen —
wenn wir von den wurzellosen Schwimmpflanzen
absehen, sich bei beiden biologischen Gruppen
in derselben Weise abspielt, wenn auch erhebliche
quantitative Differenzen bestehen. Mit Rücksicht
auf die Hauptfrage aber ergibt sich, daß die Hy-
dropoten im wesentlichen nicht Aufnahme-, son-
dern Ausscheidungsorgane sind, worauf auch die
gelegentliche Beobachtung von Sekreten bei
Limnanthemum und Aponogeton hindeutet.
Peter Stark.
N. F. XX. Nr. 37
Neue ForschuDgeu auf dem Gebiete der
Stellarastrouomie.
Über seine Studien an Sternhaufen auf
Grund photographischer Aufnahmen berichtet
Shapley im Astrophysical Journal (Sept. 1920).
Auffallend ist zunächst der hohe Prozentsatz ver-
änderlicher Sterne innerhalb der Sternhaufen, so-
wie die Kürze der Perioden dieser Veränderlichen.
In 8 Sternhaufen wurden nicht weniger als 88 Ver-
änderliche mit fast durchweg weniger als einen
Tag betragenden Perioden gefunden. — Da von
einer Reihe von Sternhaufen die Parallaxe be-
kannt und auch ihre Gesamthelligkeit durch
Holetschek gemessen ist, konnten auch die
absoluten Helligkeiten dieser Objekte berechnet
werden. Sie ergaben sich innerhalb ziemlich enger
Grenzen als nahezu gleich, im Mittel zu 8,8+0,5 magn.
Die gesamte Lichtemission eines Sternhaufens
würde danach im Mittel etwa das 275 000 fache
der Sonnenstrahlung sein.
Besonders interessant ist der Nebel N.S. C. 7789,
dessen scheinbarer Durchmesser etwa 20' beträgt^
während die Entfernung auf 3300 parsec *) ge-
schätzt wird. In diesem Sternhaufen, der sonach
einen wahren Durchmesser von etwa 20 parsec
haben dürfte, wurden 1 104 Sterne meist zwischen
17. und 19. Größe gezählt.
Als durchschnittliche Sterndichte im Milch-
straßensystem zwischen +32" und — 20'' galak-
tischer Breite findet Shapley für den Quadrat-
grad 23000 Sterne bis zur 20. Größe.
Der erste Nachweis von Störungen außer-
halb des Sonnensystems wurde von Paras-
kevopoulos an dem spektroskopischen Doppel-
stern 13 Ceti erbracht. 13 Ceti ist zunächst ein
visueller Doppelstern mit einer Umlaufszeit von
6,88 Jahren; die hellere Komponente ist ihrerseits
ein spektroskopischer Doppelstern von etwa zwei-
tägiger Periode. In der Bahnbewegung des
spektroskopischen Doppelsterns zeigten sich nun
Störungen, die durch die gravitierende Ein-
wirkung des visuellen Begleiters hervorgerufen
werden. So ist denn die Gültigkeit des Gravi-
tationsgesetzes im Fixsterngebiet nunmehr nicht
nur indirekt durch die Befolgung der Kepler-
schen Gesetze seitens der Doppelsterne, sondern
auch direkt durch die Beobachtung dieser Stö-
rungen erwiesen.
Am veränderlichen Stern (3 C e p h e i war von
Hertzsprung eine jährliche Verkürzung der
Periode um 0,079 Sekunden bemerkt worden. Eine
Bearbeitung des handschriftlichen Nachlasses von
Schwerd durch Ludendorff (Astr. Nachr.
Nr. 5076) konnte die Realität dieser Perioden-
änderung dadurch bestätigen, daß Schwerds
Beobachtungen desselben Veränderlichen aus den
Jahren 1823 bis 1826 eine entsprechend längere
Periode erkennen lassen. Kbr.
') Die in der Slellarastronomie übliche Einheit ,,l parsec"
oder „Sternweite" entspricht einer Entfernung von 3,2 Licht-
jahren, bei der die jährliche Parallaxe eine Sekunde beträgt.
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
537
Eiu iuteressanter Doppelstern vom Algoltypus.
Der regelmäßige Lichtwechsel des Sternes
Algol im Perseus läßt sich bekanntlich aufs exak-
teste durch die Annahme erklären, daß wir einen
Doppelstern vor uns haben, dessen eine Kompo-
nente jedoch dunkel ist und bei jedem Umlauf
die helle Komponente fast völlig bedeckt. Die
Richtigkeit dieser Hypothese ist durch die spek-
troskopisch festgestellte, periodische Bewegung
des leuchtenden Sterns in Richtung der Gesichts-
linie erwiesen worden und in neuerer Zeit sind
noch gegen hundert ähnlicher, veränderlicher
Sterne vom „Algol-Sypus" aufgefunden worden.
Ein interessantes Glied dieser Gruppe ist der
Stern RT Lacertae {a = 2i^S7A''\ ö = + 4Z°2^'
für 1900), dessen Bahnelemente von W. Fowler
sehr vollständig bestimmt werden konnten (Astro-
phys. Journal, Nov. 1920). Die Bahnebene läuft
fast genau durch die Sonne, so daß alle 5. 07 39
Tage eine beinahe zentrale Bedeckung der an-
nähernd gleich und zwar sehr großen Sterne ein-
tritt, die nur wenig mehr als einen Sterndurch-
messer voneinander entfernt sind. Dadurch sinkt
dann die Helligkeit von der Größenklasse 8,8 auf
9,4 herab, wie es z. B. zur Epoche Jul. Tag
2418024,444 Gr. m. Zt. der Fall war. Die Ge-
schwindigkeit in der Gesichtslinie erreicht bei der
Elongationsstellung 150 km/sec, so daß die Spek-
trallinien für lichtstarke Instrumente eine starke
Verschiebung zeigen müßten. Der größte Radius
der nur schwach elliptischen Sterne ist 4,3 mal
so groß wie der der Sonne, die sog. absolute
Größe wäre danach 1,8, der Abstand von uns
beläuft sich auf 1100 Lichtjahre, die Dichte der
Gestirne ist aber nur 0,013 der Sonnendichte.
Kbr.
Die Ilavölker Nord-Rhodesiens.
Am Kafue, einem Nebenflusse des oberen
Sambesi, leben noch wenig bekannte Negervölker,
die durch Gemeinsamkeit der Sprache (das Ha)
und mancher Eigenarten des Kulturbesitzes ver-
bunden sind. Bisher wurden sie in der völker-
kundlichen Literatur Maschukulumbe genannt,
doch ist das ein Spottname, der ihnen von den
benachbarten Barotsi wegen der Besonderheit der
Haartracht (Chignon) beigelegt wurde. In ihrer
eben veröffentlichten Monographie über diese
Völker empfehlen E. W. Smith und A. M.
Dale, die Bezeichnung Maschukulumbe fallen zu
lassen und sie die Ha sprechenden Völker zu
nennen.^) Dem Werk von Smith und Dale,
das auf gründlicher eigener Kenntnis der in Rede
stehenden Völker beruht, seien hier einige An-
gaben entnommen, wenige von den vielen, für
die afrikanische Völkerkunde wichtigen Tatsachen,
die es mitteilt.
') Smith und Dale: „The Ila-speaking Peoples of
Northern Rhodesia." 2 Bände. London 1920, Macmillan.
50 sh.
Die körperliche Erscheinung der Ha ist recht
verschieden, doch lassen sich zwei bestimmte
Typen unterscheiden, die durch Übergänge mit-
einander verbunden sind. Die Menschen des
einen Typus sind hochgewachsen, kräftig aber
mager, langbeinig und breitschulterig. Der wohl-
geformte Kopf wird auf einem ziemlich langen
Hals gut getragen; die Oberaugenbogen sind
deutlich sichtbar, ohne jedoch stark hervorzutreten,
die Nase ist lang und gerade oder gebogen, die
Nasenflügel schmal, der Mund ist klein und die
Lippen sind nur mäßig vorgestülpt; sie kommen
der europäischen Form nahe. Die von S. und D.
gebrachten Bilder zeigen, daß es sich um den
Typus handelt, den v. Luschan als den hami-
tischen bezeichnet; er ist wohl von den Küsten-
ländern des Roten Meeres über das Seengebiet bis
Südafrika vorgedrungen. So angenehm Leute
dieses feinen Typus sind, so abstoßend sind jene
des kurzwüchsigen Typus, der außer durch die
kleinere Gestalt ausgezeichnet ist durch plumpen
Körperbau, Neigung zu Fettleibigkeit, Stiernackig-
keit, niedrige Stirne, eine breite, an der Wurzel
eingedrückte Nase, großen Mund und stark auf-
gestülpte Lippen. Beide Typen sind auf die
einzelnen Gesellschaftsklassen ganz unregelmäßig
verteilt; man findet den feinen Typus ebenso bei
Sklaven wie den groben bei Häuptlingen.
Die Hautfarbe ist bei neugeborenen Kindern
schmutzig gelb, ähnlich wie bei Kindern tief-
brünetter Europäerinnen, aber schon am zweiten
Tage kann man das Nachdunkeln merken. Jugend-
liche und Erwachsene sind schokoladebraun bis
fast schwarz. Kranke Leute verlieren Farbe. Al-
bino wurden nie gesehen. Das Haar neugeborener
Kinder ist wie Werg, nicht kraus, und die
Färbung ist entschieden heller wie im späteren
Leben; der Wandel tritt bald ein. Bei manchen
Personen stehen die Haarbüschel ganz dicht, bei
anderen treten sie weiter auseinander, aber nie in
dem Maße wie bei den Buschleuten. Ähere
Männer haben verhältnismäßig starken Bartwuchs.
Die Haare in der Achselhöhle und in der Scham-
gegend werden ausgezupft, das übrige Körperhaar
wird nicht entfernt und es ist bei älteren Männern
recht reichlich. Die Muskelentwicklung ist so-
wohl bei Männern wie bei Frauen sehr gut. Die
gute Haltung der Frauen wird vornehmlich auf
den Brauch zurückgeführt, Lasten auf dem Kopfe
zu balancieren. AUern tritt bald ein, namentlich
die Frauen altern sehr frühzeitig und besonders
verwahrloste frühgealterte Sklavinnen machen
einen kläglichen Eindruck, manche sehen aus, als
ob sie hundert Jahre alt wären, obzwar sie kaum
fünfzig sind.
Zahnverderbnis ist sehr häufig. Sie wird an-
scheinend begünstigt durch den Brauch, die oberen
Schneidezähne und häufig auch die Eckzähne aus-
zuschlagen. Infolge davon wachsen die unteren
Schneidezähne bis zu einem Viertelzoll über die
Ebene der benachbarten empor, so daß der Auf-
biß mangelt.
538
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 37
Die IIa sind zwar starke Esser, aber sie ver-
mögen zeilweise Hunger gut zu ertragen. Weit
empfindlicher sind sie gegen Durst, der sie viel
früher erschöpft als Hunger. Gegen Hitze sind
sie wenig empfindlich. Bei Kälte werden die
Leute runzelig, aber sie scheinen unter ihr nicht
ernstlich zu leiden.
Gesichts- und Gehörssinn sind gut; deren fort-
währende Übung im Daseinskampf macht erstaun-
liche Leistungen möglich. Wie schon manche
andere Forscher, so sind auch unsere Autoren
der iVIeinung, daß eine rassenmäßige schärfere
Ausbildung dieser Sinne, verglichen mit Europäern,
nicht besteht, denn letztere können ihr Gesicht
und Gehör durch Anpassung an die Erfordernisse
der Wildnis zu der gleichen Leistungsfähigkeit
bringen wie die Naturvölker. Wenig empfindlich
ist der Geruchssinn der IIa; der schlimmste Ge-
stank belästigt sie nicht. Der Hautsinn ist wahr-
scheinlich weniger fein als bei den Europäern;
doch ist vielleicht auch daran die Lebensweise
schuld, namentlich das Unbekleidetsein, der Haut.
Auf Märschen versäumen die IIa keine Gelegen-
heit, sich in Bächen und Tümpeln zu erfrischen,
aber daheim bekunden sie keine Neigung, oft mit
Wasser in Berührung zu kommen. Wer sich ein-
mal im IVIonat wäscht, leistet in der Beziehung
schon viel. Dagegen schmieren sie sich gerne
mit Fett ein, was notwendig ist, weil sonst die
Haut leicht rissig wird. Bekleidete IIa stinken
viel mehr als nackte oder halbnackte. Smith
glaubt, die unreinen Kleider machen den Unter-
schied aus, doch ist es ganz gut möglich, daß
Kleider überhaupt den Negern nicht gut ange-
paßt sind, weil sie deren sonst starke Perspiration
hindern. Der Ref. möchte der schon vor vielen
Jahren geäußerten Auffassung von Gustav
Fritsch beipflichten, daß die Negerhaut wahr-
scheinlich eine Fettsäure ausscheidet, von der ihr
Geruch herrührt, der unabhängig von den dem
Körper etwa anhaftenden Unreinlichkeiten ist. Es
ist anzunehmen, daß der Negerhaut die Funktion
eines Exkretionsorgans in höherem Maße eigen
ist als der Europäerhaut. Durch Bekleidung wird
diese Funktion gehemmt, weshalb auch der Ge-
sundheitszustand von Negern in europäischer
Kleidung meist weniger gut ist als der der unzivili-
sierten.
In den Dörfern und in den Hütten der IIa
herrscht größte Unsauberkeit, was im Verein mit
der persönlichen Unreinlichkeit krankheitsbegün-
stigend wirkt. Von Infektionskrankheiten kommen
vor: Pocken, Lepra, Masern, Mumps und eine
nicht näher bekannte Krankheit, deren auffalligstes
Kennzeichen ein eitriger Hautausschlag ist. Auch
Malaria ist häufig. Die Kindersterblichkeit ist
groß. Der Abschnitt über Krankheiten und Heil-
mittel ist ein wichtiger Beitrag zur Kenntnis der
Medizin der Naturvölker, doch kann hier auf den
Gegenstand nicht weiter eingegangen werden.
Von Kriegen abgesehen, achten die IIa im all-
gemeinen das Leben der Mitmenschen, jedoch
nicht aus Wertschätzung des Lebens, sondern aus
Furcht vor den Folgen des Tötens eines Men-
schen, denn das ist ein Verstoß gegen die Ge-
meinschaft, sowie eine Herausforderung der Götter
dieser Gemeinschaft und man fürchtet die Geister
der Abgeschiedenen und das Unheil, das Blut-
vergießen kündet. Diese Furcht ist es auch, welche
von der Tötung unheilbarer oder alter Leute ab-
hält. Zudem sind Totschläger — von möglichen
Strafen abgesehen — der Verachtung der Gemein-
schaft preisgegeben. Einen einzelnen Fremden
zu töten entschließt man sich eher, weil man
weder seine Stammesgenossen , noch die Rache
fremder Götter zu fürchten hat und der Glaube
herrscht, der Geist des Fremden könne ohne
Schwierigkeit in seine Heimat vertrieben werden.
Kindermord kommt vor bei gewissen unge-
wöhnlichen Vorkommnissen bei der Geburt, bei
verkehrter Geburtslage, oder auch, wenn bei dem
Neugebornen die Zähne bereits durchgebrochen
sind, und später, wenn ein oberer Zahn zuerst
durchbricht, oder wenn das Kind nach etwa drei
Jahren noch nicht gehen kann. Kinder von Mäd-
chen, die noch nicht in den Frauenstand aufge-
nommen wurden, werden ebenfalls getötet. Die
Veranlassung ist wieder Furcht vor Unheil.
Selbstmord ist bei den IIa nicht ungewöhnlich
und wird manchmal aus nichtigen Gründen be-
gangen.
Die Lebensauffassung der IIa ist die animisti-
sche. Ihr liegt die Annahme einer vom Körper
verschiedenen und unter gewissen Bedingungen
von ihm trennbaren selbständigen Wesenheit zu-
grunde, die das Leben bedingt. Die Vorstellung
von einer Seele des Lebenden ist eine wesentlich
andere als bei den Menschen des europäischen
Kulturbereiches. Vor allem ist der Seelenbegriff
nicht einheitlich, es wird neben einer Lebensseele
eine Schatten- oder Bildseele angenommen.') Wie
zutreffend B. Ankermanns Auffassung von der
Gleichbedeutung von Schatten und Bild bei den
Negern ist, beweist die Angabe in Bd. 2, S. 162
des IIa- Werkes, daß Väter sich gegen ein Photo-
graphieren ihrer Kinder wehren, weil damit deren
Schatten (Tschingohule) weggenommen würde
und sie sterben müßten. Auch durch Hexerei
kann jemandens Schatten weggenommen werden.
Die Lebensseele ist Moza, der Atem, oder Muwo,
der Wind; beide Bezeichnungen werden anschei-
nend gleichbedeutend gebraucht. Dazu kommen
noch andere geistige Elemente, welche zum Be-
griff des lebenden Wesens (im Gegensatz zum
leblosen Körper) gehören. Der Seelenstoff (oder
besser gesagt der Stoff der Lebensseele) durch-
dringt den ganzen Körper, doch ist er übernatür-
lich, unpersönlich. Beim Tode verläßt die Lebens-
seele den Körper und wartet auf die Wieder-
geburt. Vom Körper geschieden ist die Seele
nicht mehr unpersönlicher Stoff, sondern ein
') Vgl. Ankermann, Totenkult und Seelenglaube bei
afrikanischen Völkern; Zeitschr. f. Ethnologie, 1918, S. 89 ff.
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S39
Wesen (Musanguschi), das sich um das Grab, in
Bäumen und Wohnstätten herumtreibt. (Das
scheint aber nur für die Zeit bis zur Verwesung
des Körpers zu gelten.) Vermittels geheimnis-
voller Kräfte in Medikamenten kann jedoch ein
lebender Mensch Seelenstoff seinem Körper ent-
nehmen, der sich in ein Tier verwandelt. Auch
können Zauberer diesen Stoff so beeinflussen, daß
er nicht mehr für die Wiedergeburt in Betracht
kommt, sondern zu einem böswilligen Geist
(Tschiswa) wird.
Wertvolles Material zur Völkerpsychologie
bilden die ausführlichen Mitteilungen von Smith
und Dale über die religiösen Vorstellungen der
IIa, ihre Wissenschaft, soziale Organisation, Rechts-
auffa'^sungen, persönliches Betragen, Nahrungsbe-
schaffung, Spiele und anderes. Auch Erzählungen
dieser Völker, Sprüche, Rätsel und Vexierfragen
werden mitgeteilt, die Einblick in die Psyche ge-
währen. H. Fehlinger.
Neuere Gewöllnntersuchungeu vou Tag- und
Nachtraubvögelü.
Unter dem etwas sensationell gefärbten, wohl
für die breiten Massen berechneten Titel: „Detektiv-
studien in der Vogelwelt" ist als erste Nummer
der Veröffentlichungen der Süddeutschen Vogel-
warte von deren Leiter Dr. Kurt Floericke
ein kleines Bändchen erschienen, das die Ergeb-
nisse einer größeren Anzahl von GewöUunter-
suchungen enthält. Obwohl diese im wesentlichen
zu keinerlei neueren Ergebnissen geführt haben,
sondern schon Bekanntes bestätigen, verdienen sie
doch Beachtung nicht nur insofern, weil unter
den untersuchten Gewöllen sich größere Mengen
auch aus Gegenden befunden haben, aus denen
derartige Untersuchungen bisher noch nicht vor-
lagen — schade, daß der Verf. ihre Mengen nicht
zahlenmäßig angibt I — , sondern vor allem auch,
weil durch die zunehmende Zahl derartiger Unter-
suchungen das Bild über die Nahrung der unter-
suchten Vögel auch in seinen Feinheiten ein
immer sichereres und klareres wird und ihre hohe
wirtschaftliche Bedeutung immer schärfer hervor-
tritt.
Am zahlreichsten unter den Gewöllen waren
die der Eulen vertreten, deren Untersuchungen
im wesentlichen immer das gleiche Bild ergab:
die Wühlmäuse bilden die Hauptnahrung dieser
Vögel. Am ausschließlichsten waren Mäusereste
in den Gewöllen der Waldohreule vertreten,
während in denen der Sumpfohreule auch schon
andere Tiere häufiger auftraten. Spitzmäuse
fanden sich in den Gewöllen der Schleiereule
zahlreicher vor, Vogelreste besonders häufig in
solchen des Waldkauzes. In denen des Stein-
kauzes wieder traten neben Mäusen vor allem die
Kerfe in den Vordergrund.
Von der Schleiereule wurden 3430 Ge-
wölle aus Württemberg, Hessen, Nord- und Ost-
deutschland, Frankreich und den Pripjetsümpfen,
sowie früher bereits 160 aus der Priegnitz unter-
sucht. In ihnen waren Spitzmäuse mit 23,6 "/,,,
Echte Mäuse (einschl. 0,59 "/o Ratten) mit 20,7 "j,,,
Wühlmäuse mit 50,7 7o. Vögel mit nur 0,3 7o und
Kerfe mit 3.8"/,) vertreten. Junghasen wurden
nur zweimal nachgewiesen. Zusammen mit den
Untersuchungen früherer Forscher ergaben sich
aus 17 081 Einzelfällen folgende Zahlen: Spitz-
mäuse 28 I "/q. Echte Mäuse (einschl. 0,23 "/„ Ratten)
22,8 ö/o, Wühlmäuse 46.3 7o' Vögel 1,2 "/„ und
Kerfe 0,66 "/„. Der Einfluß der lokalen Umgebung
auf die Nahrung spricht daraus, daß in den Ge-
wöllen aus den Pripjetsümpfen die Spitzmäuse,
die in diesem Falle sich fast ausschließlich aus
Crossopus fodiens zusammensetzten, mit 46 %, in
Gewöllen aus Polen aber nur mit 21,8 "/q, in solchen
aus dem Champagne mit 43,5 "/„ und in denen
aus der Cote Lorraine mit 26,7 "/„ vertreten waren.
Gewölle aus Nordfrankreich enthielten 20 "/o, solche
aus Heilbronn nur 7 "/„ Spitzmäuse.
Von der Waldohreule wurden 1570 aus
Polen, Mähren, Brandenburg, Sachsen, Braun-
schweig und Hessen stammende Gewölle unter-
sucht. Die in den Gewöllen der Schleiereule so
stark vertretenen Spitzmäuse treten in denen der
Waldohreule ganz in den Hintergrund; unter den
3417 Beutetieren befanden sich nur 59 oder 1,72 "/oi
während die Wühlmäuse mit 80 "/^ und die
Echten Mäuse, unter denen, den Aufenthaltsorten
des Vogels entsprechend, die Waldmäuse über-
wogen und auch die Rötelmaus noch zahlreich
vertreten war, während bei der Schleiereule Haus-
und hinter dieser Waldmäuse den Hauptanteil
bildeten, mit 12,6 "/o, Vögel aber mit nur 0,55 "/o
und Kerbtiere mit 3,3 "/o vertreten waren. Mit
früheren von anderen Forschern vorgenommenen
Untersuchungen von insgesamt 13736 Gewöllen
ergeben sich für die einzelnen Tiergruppen die
folgenden Anteilzahlen an der Nahrung: Wühl-
mäuse 84,5%, Echte Mäuse il,8 7o. Spitzmäuse
0.75 "/o. Vögel 1,47,, und Kerfe 0,78 «/„. Reste
von Junghasen wurden nur il oder 0,0970 vor-
gefunden.
In den untersuchten 400 Gewöllen der Sumpf-
ohreule, die ausschließlich auf dem östlichen
Kriegsschauplatz, vorwiegend in den Pripjetsümpfen
gesammelt wurden, überwogen mit 76,9 7o eben-
falls wieder die Wühlmäuse, unter denen Arvicola
amphibius — 418 anderen Wühlmäusen standen
202 der eben genannten Art gegenüber — be-
sonders häufig vertreten war, während die Echten
Mäuse einschließlich eines lOproz., auf die Wander-
ratte entfallenden Anteiles 22,4 "/o der Beutetiere
ausmachten, Spitzmäuse überhaupt nicht festge-
stellt werden konnten und Vögel mit 0,68 "/o. so-
wie Kerbtiere mit 6,6 "/o beteiligt waren. Jung-
hasen wurden in 3 Fällen nachgewiesen. Zu-
sammen mit früheren Untersuchungen ergeben
sich aus I191 Gewöllen die folgenden Ziffern:
Spitzmäuse 0,56 "/o . Wühlmäuse 76,9 "/o > Echte
Mäuse (einschl. Ratten) 18,6 7o, Vögel i "/(, und
Kerfe 2,3 %
540
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 37
Vom Waldltauz lionnten 1440 Gewölle teils
aus Rußland und Frankreich, teils aus der Neu-
mark, von Hamburg und Harburg, aus Friesland,
Hannover und Württemberg, sowie von Schön-
buch untersucht werden. Unser Vogel besitzt
von den untersuchten Arten — es entspricht dies
auch recht gut allen früheren Feststellungen durch
Magenuntersuchungen und den Beobachtungen am
Horste — den abwechselungsreichsten Speisezettel;
neben Mäusen, die allerdings ebenfalls noch den
Hauptbestandteil der Nahrung bilden und von
denen die Echten Mäuse (einschl. 2,8 "/(, Anteil
von Ratten) mit 14,8 "/o und die Wühlmäuse mit
55,6 "/q vertreten waren, konnten 7,6% Klein-
vögel, in der Hauptsache watdbewohnende Sing-
vogelarten und 1,3 "/o J3g<^ wild (Junghasen, junge
Rebhühner und Fasanen) festgestellt werden. Ver-
hältnismäßig häufig traten dann weiter Eichhörn-
chen, Siebenschläfer und Haselmäuse in den Ge-
wöllen auf. Auch der Hamster fehlte nicht und
neben Lurchen (Fröschen) ließen sich in einzelnen
Fällen auch Fischreste nachweisen. Spitzmäuse
waren mit 8,4%, der Maulwurf, der bei anderen
Eulenarten (Schleier- und Waldohreule) nur in
verschwindender Zahl beobachtet wurde, mit 7,8 '7o
unter den Beutetieren vertreten. Einschließlich
der früheren Untersuchungen anderer Forscher
ergaben sich aus 2541 Gewöllen die folgenden
Zahlen: Maulwürfe 2,5 "/„, Spitzmäuse 8,9%, Echte
Mäuse (einschl. Ratten) 15,2 "/q, Wühlmäuse 56.7 "/o.
Kleinvögel 7,1 "/o' Jagdwild 0,75 "/o. Frösche 1,3 "/o
und Fische 0,27 °/q.
In 560 Steinkauzgewöllen, die in der
Champagne, in Rheinhessen, Württemberg, Nieder-
österreich und Polen gesammelt worden waren,
wurden 3,2 % Spitzmäuse, 14,1 "/(, Echte Mäuse,
40,2 "/o Wühlmäuse, 0,59 '/„ Vögel, 2,1 "/o Kriech-
tiere und 39,9 "/o Kerfe festgestellt; Befunde, die
zusammen mit den Feststellungen früherer Orni-
thologen aus insgesamt 1508 Gewöllen das fol-
gende Bild ergeben : Spitzmäuse 2,3 "/o > Kchte
Mäuse 10,7 %, Wühlmäuse 49,3 "/g, Vögel 1,5 "/o.
Kriechtiere 1,0 %, und Kerfe 34,4 "/o-
Von Tagraubvögeln konnten 2070 Gewölle
des Mäusebussards aus Oberhessen, Württem-
berg, Hannover und Polen, 57 vom Turmfalk
aus Württemberg und Schlesien, sowie 265 vom
Schreiadler aus der Gegend von Hamburg,
aus der Mark, Pommern, Schlesien und den Pripjet-
sümpfen untersucht werden. In den Gewöllen
des Mäusebussards konnten 5324 Beutetiere,
nämlich 42 Maulwürfe, 125 Echte Mäuse und 23
Ratten, 4380 Wühlmäuse, 61 Hamster und Ziesel,
56 Schermäuse, 41 Hasen, 19 Kaninchen, 7 Reb-
hühner und Fasanen, 18 Kleinvögel, i Dohle,
36 Kriechtiere (Schlangen, Eidechsen und Blind-
schleichen), 33 Frösche, 31 Käfer, 370 Heu-
schrecken und Grillen , 22 Raupen und Regen-
würmer sowie in 59 Fällen Aas und Fleisch fest-
gestellt werden. Zusammen mit 76 Untersuchun-
gen Uttendörfers ergibt sich, in Anteilen aus-
gedrückt, das folgende Bild: Maulwürfe 0,88 "/„,
Echte Mäuse 2,7 "/o. Wühlmäuse 83,5 %, Hamster
i.i "/'o' Jagdwild 1,2 "j^, Kleinvögel 0,33 "j^, Kriech-
tiere und Lurche 1,2 "/o- sowie Kerfe und Würmer
7,7 %. Einem Anteil von 87,3 7o schädlicher
Nager steht demnach also nur der geringe Prozent-
satz von 1,2 "/q Jagdwild gegenüber, wobei in
zwei Fällen durch den Nachweis von Schrotkörnern
zusammen mit Hasenwolle und Rebhuhnfedern,
der mit einigen Befunden früherer Forscher im
Einklang steht, auch neuerdings wieder der Be-
weis erbracht sein dürfte, daß dieses letztere zu
einem Teil wenigstens sich aus Fallwild zusam-
mensetzt.
Die untersuchten 57 Gewölle des Turm-
falken ergaben 45 Wühlmäuse, i Waldmaus,
12 Eidechsen sowie 30 Heuschrecken und Grillen.
Zusammen mit früheren Feststellungen anderer
Ornithologen lieferten 596 Einzeluntersuchungen
folgendes Bild: Wühlmäuse 90,4 "/o- Echte Mäuse
2 °/o, Vögel 0,S "/„, Eidechsen 2 "/o ""d Kerfe
(deren Anteil infolge der unsicheren Angabe
„viele" durch frühere Forscher leider aber nur ein
ungenauer ist) 5 "/o-
Die Gewölluntersuchungen des Schreiadlers
sind besonders wertvoll, weil ihnen ältere nicht
zur Seite stehen und auch Magenuntersuchungen
bisher nur an einigen wenigen Vögeln vorgenom-
men werden konnten. Nachgewiesen wurden in
den untersuchten 265 Gewöllen 7 Maulwürfe,
21 Ratten, 14 Waldmäuse, 26 Wasserratten, 88
Wühlmäuse, 15 Eichhörnchen, 4 Siebenschläfer,
6 Hasen, 3 Kaninchen, i Hamster, 4 junge Katzen,
5 junge Gänse, i Brachvogel, 2 Wachteln, i
Wachtelkönig, 3 Bekassinen, 10 Drosseln, 17 Klein-
vögel, 1 5 Frösche, 13 mal Fischschuppen und Gräten,
119 Käfer, 12 Wasserwanzen und 11 mal Reste
von Tellerschnecken. Diese Zahlen entsprechen
folgenden prozentualen Anzahlen: 1,7 "i'o Maul-
würfe, 37,4 % Mäuse und Wühlmäuse, 4,7 "/o
Eichhörnchen und Siebenschläfer, 3,7 "/(, Jagdwild,
2,2 '7o Haustiere, 7 7o Vögel, 3,7 \ Frösche,
3,2% Fische sowie 35,6 7o Kerfe und Schnecken,
woraus hervorgeht, daß auch bei diesem Vogel
noch immer der Nutzen den Schaden überwiegt.
Angefügt sind der Arbeit noch die Ergebnisse
der Untersuchungen von 410 Krähen- und 1056
Storchgewöllen (von denen die letzteren ebenfalls
wieder die so oft zu hörende Behauptung von
der jagdlichen Schädlichkeit des Storches wider-
legen) sowie Feststellungen des Mageninhaltes
einer zwar recht großen Anzahl von Arten, aber
meistens nur immer wenigen Individuen, auf die
aber hier nicht weiter eingegangen werden soll.
Interessenten mögen sie an Ort und Stelle nach-
schlagen. — Dagegen soll aber noch auf die Be-
deutung hingewiesen werden, die derartige Unter-
suchungen oft auch für faunistische Feststellungen
erlangen können. Rörig beispielsweise stellte
aus den in den Gewöllen der Waldohreule vor-
gefundenen Resten der Arvicola ratticeps eine
viel größere Verbreitung dieser bis dahin nur von
zwei deutschen Fundorten bekannten Art in
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
541
Deutschland fest und Greschik wies sie, wieder-
um aus den GewöUuntersuchungen der Waldohr-
eule erstmalig für Ungarn nach. Aus diesem
Grunde auch wäre zu wünschen, daß man künftig
bei der Veröffentlichung derartiger Untersuchungen
summarische Angaben, wie „Wühlmäuse" usw.,
möglichst vermeiden und den Befund genauer
nach Arten angeben und in allen den Fällen, wo
es sich nicht um allgemein verbreitete Tiere han-
delt, wie beispielsweise bei dem in den GewöU-
untersuchungen so häufig festgestellten Sieben-
schläfer, der Haselmaus usw. auch den genaueren
Fundort mit angeben wollte.
Rud. Zimmermann, Dresden.
Bücherbesprechungen.
Pauli, R., Über psychische Gesetzmäßig-
keit. Mit 42 Abbildgn. 88 S. Jena 1920,
Gustav Fischer.
Die Abhandlung beschäftigt sich in erster Linie
mit dem Weberschen Gesetze. Das Weber-
sche Gesetz besagt, daß ein Reizzuwachs, um
eben merklich zu werden, in konstantem, relativen
Verhältnis zu dem schon vorhandenen Reiz stehen
muß. Setzt man die eben merklichen Unterschiede
der Größe nach einander gleich , dann gelangt
man zu der Formulierung, die Fechner dem
Gesetz gegeben hat: wenn der Reiz in geometri-
scher Progression wächst, dann wächst die Emp-
findung bloß in arithmetrischer Progression. In
graphischer Darstellung ergibt sich das bekannte
Bild einer Logarithmuskurve. Wie kommt nun
diese Beziehung zustande? Es gibt 3 Deutun-
gen, die physiologische, die psychophysische und
die psychologische. Die maßgebenden Größen
für die Beurteilung sind der Reiz R, die Nerven-
erregung N, die zugehörige Empfindung E und
der daran anschließende zentrale Prozeß Z. Zwi-
schen diesen 4 Größen kann auf Grund des
Weberschen Gesetzes an einer Stelle keine
Proportionalität herrschen. Die psychophysische
Deutung sucht den entscheidenden Punkt bei dem
Übergang der Nervenerregung in Empfindung.
Diese Annahme beruht im wesentlichen auf meta-
physischen Erwägungen und kann für überwunden
gelten. Tatsächlich bewegt sich gegenwärtig der
Streit nur noch um die physiologische und psy-
chologische Interpretierung. Die psychologische
Deutung setzt die Größen R, N und E einander
proportional und sucht die Lösung im zentralen
Prozeß. Der Reizzuwachs soll immer an dem
bereits vorhandenen Reiz gemessen werden, so
daß der Maßstab sich mit dem Anwachsen des
Reizes ständig ändert : das Weber sehe Gesetz
ist der Ausdruck einer messenden Vergleichung
der Bewußtseinsinhalte (W u n d t). Gegen diese
Deutung läßt sich manches geltend machen; so
sprechen schon einige Erfahrungen der Psycho-
logie dagegen. Bedenklich muß es vor allem
stimmen, daß das Webersche Gesetz auch für
Reizgebiete gilt, wo man einen solchen messen-
den Vergleich von Empfindungen nicht annehmen
kann : bei den chemotaktischen Reaktionen der
Bakterien (Pfeffer) und bei der Berührungs-
empfindlichkeit der höheren Pflanzen (Stark).
Das sind Tatsachen, die nach der physiologischen
Deutung hindrängen. Die physiologische Deutung
nimmt an, daß die Größen N, E und Z einander
proportional sind und daß das entscheidende
Moment weiter zurückliegt, beim Übergang von
R zu N: die Nervenerregung wächst nicht pro-
portional dem Reiz, sondern in der Weise, wie
es im Weberschen Gesetz seinen Ausdruck fin-
det. Zwei Argumente gibt es, welche die phy-
siologische Theorie zu ihren Gunsten anführen
kann : der Zusammenhang zwischen Reizstärke
und Zuckungshöhe bei Versuchen an einem Nerven-
Muskelpräparat des Frosches und das Verhalten des
Aktionsstroms bei wachsendem Reiz (Druckreiz,
Lichtreiz usw.). In beiden Fällen wächst der Er-
folg nicht proportional dem Reiz, sondern mit
zunehmender Reizstärke immer langsamer und
langsamer, so daß wieder die typische Logarith-
muskurve resultiert. Hier ist aber die Beteiligung
von Empfindungen am Zustandekommen des Bil-
des ausgeschlossen. Damit ist die Frage nach
der Deutung des Weberschen Gesetzes sehr
stark eingeengt, wenn auch noch keineswegs ge-
klärt ist, welche Ursachen der mathematischen
Beziehung zugrunde liegen. Beachtung verdient
jedenfalls, daß auch auf rein physikalischem Ge-
biet analoge Beziehungen festgestellt worden sind
(Empfindlichkeit von IVIeßinstrumenten).
Das Buch gibt einen umfassenden Überblick
über die Gültigkeit des Weberschen Gesetzes
auf psychologischem Gebiet und enthält zahlreiche
Kurvenbilder, die den Text in wünschenswerter
Weise veranschaulichen. Stark.
Bodforss, Dr. Sven, Die Äthylenoxyde.
Ihre Darstellung und Eigenschaften. (Sammlung
Ahrens, Bd. XXVI, Heft 5/6). Stuttgart 1920,
Ferdinand Enke. 5 M.
Die Äthylenoxyde sind innere Anhydride von
mehrwertigen Alkoholen bzw. Hydroxylverbindun-
gen des Kohlenstoffs, stellen also einen an Umfang
kleinen Ausschnitt aus der organischen Chemie
dar. Da auch ihre theoretische Wichtigkeit nur
untergeordnet ist, so ist die vorliegende Arbeit
über Darstellungsmethoden und Eigenschaften
dieser Stoffe nur für einen beschränkten Kreis von
Fachgenossen von Belang. Für solche empfiehlt
sich das Heft allerdings so gut wie ausschließlich
durch die Literaturangaben. Die Herausarbeitung
weiterer Gesichtspunkte ist dem Verf nicht ge-
542
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
^ N. F. XX. Nr. 37
lungen, was dem Stoff doch nur zum Teil zur
Last fällt.
Einige Druckfehler sind stehen geblieben, wo-
runter die Schreibung „etyl-" statt „aethyl" (S. 51
und 54) den deutschen Leser besonders stört. —
Papier und Druck sind sehr gut, der Preis
niedrig. H. H.
Ostwald, Wilhelm, Mathetische Farben-
lehre. 2. vermehrte und verbesserte Auflage.
Leipzig 192 1.
, Die Farbschule. Eine Anleitung zur
praktischen Erlernung der wissenschaftlichen
Farbenlehre. 2. bis 3., umgearbeitete Auflage.
Leipzig 1921.
— ■ — , Die Harmonie der Farben. 2. bis
3., gänzlich umgearbeitete Auflage. L Text,
II. Beilagen. Leipzig 192 1. Sämtlich Verlag
Unesma G. m. b. H.
Der Inhalt der vorliegenden Neuauflagen ist
in großen Zügen an anderer Stelle der „Naturw.
Wochenschr." mitgeteilt worden. So können wir
uns hier auf die Hervorhebung des bei der Neu-
bearbeitung wesentlich Veränderten beschränken.
Die „Mathetische Farbenlehre" ist um die Er-
klärung und Verwendung des Fee hn ersehen
Dreiecks, sowie um den logarithmischen Farb-
körper bereichert, im übrigen fast unverändert
gelassen worden. Das Buch ist die beste Dar-
stellung der Ordnung der Farben nach wissen-
schaftlichen Gesichtspunkten.
Die ganz auf den elementaren Unterricht ein-
gestellte „Farbschule" macht sich die neusten
technischen Hilfsmittel Ostwalds zu eigen.
Auffallenderweise ist gerade in diesem Büchlein
die so vorzügliche Bezeichnung „Tünche" für mal-
fertige Farbstoffe verlassen und statt dessen der
übliche schlechte Ausdruck „Farbe" beibehalten
worden. Das führt zu bedauerlichen und, wie ich
glaube, unnötig gewesenen Unzuträglichkeiten in
der Nomenklatur. — S. 36 steht unter den Ziffern
der Reinheit ein Druckfehler: XI statt XII. —
Der hellgraue Einband erscheint für den häufigen
Gebrauch des Buches zu empfindlich.
„Die Harmonie der Farben", 1918 zuerst er-
schienen, konnte völliger Umarbeitung unterzogen
werden, da ihr nunmehr die genormten Farben
zugrunde gelegt werden durften — zweifellos ein
wichtiger Fortschritt. Auch hier ist Wert gelegt
auf praktische Vorführung und Anschaulichkeit
der abgeleiteten harmonischen Beziehungen, wes-
halb ein Kästchen mit eingestellten Farbkärtchen
den genormten Farbkreis, die Grauleiter und ein
farbtongleiches Dreieck enthält. Dieses An-
schauungsmittel ist vorzüglich. Nur erscheint
dem Berichterstatter der Unterschied vom 3. Veil
zum I. Ublau zu groß, die Stufen im Eisblau und
Seegrün dagegen sehr klein.
Alle drei Bände stellen wichtige Veröffent-
lichungen zur Farbenlehre dar. Es erübrigt sich
zu sagen, daß sie in einem meisterhaften Stil ge-
schrieben sind und schon dadurch aufs höchste
anregen. — Die druck- und buchtechnische Aus-
staltung sind gut, die Preise mäßig.
H. Heller.
Kleinschrod, Franz, Das Lebensproblem
und das Positi vitätspri nzip in Zeit
und Raum und das Einsteinsche Re-
lativitätsprinzip in Raum und Zeit.
Eine prinzipielle Untersuchung, zugleich ein
neuer Weg zur Lösung des Lebensproblems.
Frankfurter Zeitgemäße Broschüren Bd. XXXX,
H. 1 — 3. 1920.
Als das Energieprinzip seine große Frucht-
barkeit für die Erklärung der physikalischen Natur-
vorgänge längst bewiesen hatte, war es keineswegs
selbstverständlich, daß es auch im Reiche des Or-
ganischen gelten würde, und es bedurfte erst außer-
ordentlich mühevoller Versuche von Rubner u. a.,
ehe man diese Tatsache feststellen konnte; ja es
gibt auch heute noch ernsthafte Forscher, die die
Gültigkeit des Entropiesatzes für die organische
Natur leugnen. Infolgedessen ist es eine durch-
aus berechtigte Problemstellung zu fragen, inwie-
weit die Resultate der Relativitätstheorie im Bio-
logischen bestätigt oder als ungültig befunden
werden. Dieses Problem in voller Klarheit als
solches zum Gegenstand einer besonderen Unter-
suchung gemacht zu haben, ist unstreitig ein Ver-
dienst der oben angezeigten Arbeit, obschon ja
auch andere Forscher vorher schon darauf hin-
gewiesen haben. Kleinschrod kommt zu dem
Ergebnis, daß die Konsequenzen der Relativitäts-
theorie im Reiche des Organischen nicht gelten,
vielmehr gilt das Relativitätsprinzip nur im phy-
sikalisch chemischen Gebiet und wird im Biolo-
gischen durch sein logisch übergeordnetes Posi-
tivitätsprinzip aufgehoben.
Das ist die These. Ihre Begründung erfolgt
aber mit wissenschaftlich gänzlich unzureichenden
Mitteln. Aus einer bestimmten vorgefaßten meta-
physischen Einstellung wird alles dogmatisch dedu-
ziert und gelegentlich an reichlich naiven Beispielen
aus der „Erfahrung" erläutert. So große Aner-
kennung das ehrliche Bemühen und Ringen des
Verfassers mit seinem Problem auch verdient,
ebensosehr ist die methodisch gänzlich unzuläng-
liche Art seiner Lösung geeignet, die an sich
richtige Problemstellung überhaupt zu diskreditieren.
Einmal zeigen die Äußerungen des Verfassers
über die Relativitätstheorie, daß er sich durch
seine Metaphysik den unvoreingenommenen Zu-
gang zu ihr völlig verbaut hat. Er hat sie ein-
fach nicht verstanden, was insofern auch nicht
weitet wunderzunehmen braucht, als er seine
Kenntnis von ihr, von der bekannten „populären"
Darstellung Einsteins abgesehen, die er aber
mehrfach schief zitiert, nur Aufsätzen verdankt,
die nach ihrer gatizen populären Tendenz nicht
als ausreichendesQuellenmaterial angesehen werden
können, es auch gar nicht haben sem sollen. „Ein
lebendiges sich selbst bewegendes oder ruhendes
System ist einem leblosen oder physikalisch ruhen-
N. F. XX. Nr. 37
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
543
den oder bewegten System weder mathematisch,
noch in der Natur dogmatisch gleichwertig. Beide
können daher niemals aufeinander bezogen werden.
Aber gerade das tut . . . Einstein" (S. 47). Ich
meine, gründlicher kann man den Sinn des Re-
lativitätsprinzips nicht mißverstehen 1
Nicht weniger unzulänglich als seine Kritik
der Relativitätstheorie ist das Positivitätsprinzip
des Verf. hinsichtlich seiner biologischen Leistung.
IVIan sollte doch endlich einmal aufhören, die un-
endlich komplizierte Fülle der biologischen Tat-
sachen und Probleme aus einem einzigen, noch
dazu nur metaphysisch fundierten Prinzip ableiten
zu wollen. Metaphysische Biologie haben wir
nachgerade doch übergenug genossen! Man braucht
sich nur die drei, aus seinem Prinzip abgeleiteten
„mathematischen biologischen Handformeln" (S. 49)
anzusehen, um sofort zu erkennen, daß diese öde
Mathematikspielerei doch für die theoretische
Beherrschung biologischer Tatsachen nicht das
geringste leistet. Genug des Unsinns 1
Alles in allem also ein völlig mißglückter,
unzulänglicher Versuch, ein im übrigen klar ge-
sehenes Problem zu bewältigen.
Adolf Meyer.
Lämmel, Dr. Rudolf, Die Grundlagen der
Relativitätstheorie. Populärwissenschaft-
lich dargestellt. Berlin 1921, Julius Springer.
Das Buch unterscheidet sich von den meisten
anderen dadurch, daß der Verfasser eigene Wege
geht, keine Auslegungen und Erklärungen, sondern
selbständige Darlegungen gibt. Das mathema-
tische Beiwerk fehlt völlig. Die anschauliche Art
der Darstellung ist unbedingt anzuerkennen, da
sie die sonst meist sehr abstrakt und dogmatisch
vorgetragene Einsteinsche Hypothese einer ver-
nünftigen Kritik leichter zugänglich macht. Der
schwache Punkt bleibt die Stellung zum Äther,
dem der Verfasser jetzt anscheinend etwas freund-
licher gegenübersteht als in seinen früheren Ver-
öffentlichungen. Daß die Vorstellung vom „absolut
ruhenden"' Äther nicht befriedigt, kann und muß
zugegeben werden. Aber die Gründe, die Lämmel
gegen einen mit der Materie in Übereinstimmung
bewegten Äther anführt, sind nicht stichhaltig,
am wenigsten sein Hauptargument, daß nämlich
ein mit den Gestirnen bewegter Äther optisch
nicht nachweisbar sei. Er sagt darüber S. 62 :
„Als eine Art dünner Atmosphäre müßte dann
jeder Planet und Mond, müßte vor allem auch
die Sonne mit einer Schicht mitgeführten Äthers
ausgestattet sein. Dann müßten sich astrono-
mischeStrahlenbrechungen zeigen, welche
die uns bekannten in der irdischen Luft überlagern
würden. Davon ist nicht die geringste Spur er-
mittelt 1" Das stimmt doch wohl nicht ganz!
Gerade derartige Brechungen in der Nähe der
Sonne sind doch eben durch die Relativitäts-
theorie in den Mittelpunkt des Interesses gerückt
worden. Vielleicht ist das Schwerkraftfeld nichts
anderes, als der bisher vergeblich gesuchte „Äther-
orkan" oder „Ätherwind". Die Angaben Lämmeis
über die Widersprüche in der Äiherphysik sind
nicht zutreffend. Insbesondere ist die Aberration
kein Beweis für die absolute Ruhe des Äthers,
wie auch v. Laue (Die Relativitätstheorie, 4. Aufl.,
S. 27) zugesteht und wie die keineswegs wider-
legte Auflassung von Stokes zeigt (vgl. Drudes
Optik, 3. Aufl., Leipzig 1912). Die anschauliche
Darstellung von Lämmel zeigt also gerade, auf
wie schwachen Füßen die physikalischen Grund-
lagen der Relativitätstheorie in Wirklichkeit stehen.
Fricke.
Moszkowski, Alexander, Einstein. Einblicke
in seine Gedankenwelt. Gemeinverständliche
Betrachtungen über die Relativitätstheorie und
ein neues Weltsystem. Entwickelt aus Ge-
sprächen mit Einstein. Hamburg 192 1, Hoff-
mann u. Campe. F. Fontane u. Co., Berlin.
Das Buch ist aus Gesprächen hervorgegangen,
die der Verf. an den Abenden der „Literarischen
Gesellschaft" im Hotel Bristol geführt hat; man
wird etwas an Eckermanns Gespräche mit
Goethe erinnert. Es bestand von Anfang an
das Einverständnis darüber, daß das Gespräch
einer besonderen Entwicklung ausgesetzt und an
die vorletzten und letzten Dinge heranzuführen
sei. Die Unterhaltungen behandeln die Grund-
lagen der Relativitätstheorie, das Wesen der
Kraft, die Charakteristik großer Forscher, die
Menschenerziehung, die Eigenart des Entdeckers,
Mehrdimensionales, Erkenntnistheoretisches, prak-
tische Fragen der Wissenschaft, Atommodelle und
ähnliches und endlich Einsteins Werdegang
und Persönlichkeit. Das Buch ist von einem un-
bedingten Bewunderer Einsteins geschrieben,
ein kritischer Standpunkt liegt dem Verf. fern.
Daß Schriften dieser Art eine gewisse Gefahr
darstellen, da sie Ausdruck einer „Massensuggestion"
sind und eine solche verbreiten helfen, darf nicht
verschwiegen werden. Anzuerkennen ist jedoch
die leicht faßliche Art, in der die naturphilosophi-
schen Probleme hier behandelt werden.
Fricke.
Berger, H., Psychophysiologie in i2Vor-
lesungen. lOöSeiten. Jena 1921, G.Fischer.
Das leicht faßliche und recht anregend ge-
schriebene Buch kann als erste Einführung in das
Gebiet jener psychologischen Vorgänge, deren
physiologischen Begleiterschehiungen uns z. T. be-
kannt sind, empfohlen werden. Der Physiologe
wird an den Ausführungen des Autors allerdings
manches auszusetzen haben, wie z. B. die Be-
deutung die der Verf. der Muskelsensibilität für
die Lageempfindungen und den Bewegungs-
empfindungen der Augenmuskeln für den
optischen Raumsinn zuschreibt, oder wie etwa die
Anwendung des Biotonus auf die Theorie der
Gefühle. Brücke (Innsbruck).
544
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
R F. XX. Nr. 37
Literatur.
Kopff, Prof. Dr. A., Die Einsteinsche Relativitätstheorie.
Leipzig '20, Greßner & Schramm. 1,50 M.
Hamilton, Louis, Ursprung der französischen Bevölke-
rung Canadas. Berlin '20, Neufeld & Henius.
Schnurre, Dr. O., Die Vögel der deutschen Kultur-
landschaft. Marburg a. d. L. '21, G. Braun.
Lieske, Prof. Dr., Morphologie und Biologie der
Strahlenpilze. Leipzig '21, Gebr. Bornträger.
Buchner, Prof. Dr. Paul, Tier und Pflanze in intra-
zellularer Syinbiose. Berlin '21, Gebr. Bornträger.
Lindner, Prof. Dr. P. , Photographie ohne Kamera.
Berlin '20, Union, Deutsche Verlagsgesellschaft.
Kober, Prof. Dr. L., Der Bau der Erde. Mit 4Ö Text-
figuren und 2 Tafeln. Berlin '21 , Gebr. Bornträger. 80 M.
Bretscher, K., Der Vogelzug in Mitteleuropa. Mit
16 Karten und vielen Tabellen. Innsbruck '20, Wagner.
Grünbaum-Lindt, Das physik. Prakt. des Nicht-
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Geb. 36 M.
Trunkel, Dr. H., Repetitorium der Botanik. 5. verb.
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J. A. Barth. Brosch. 15 M.
Gehes Arzneipflanzen • Taschenbuch. Zur textlichen Er-
gänzung von Gehes Arzneipflanzenkarten-Sammlung. Dresden N.,
Gehe u. Co., A.-G.
Brigl, P., Die chemische Erforschung der Naturfarb-
stofi'e. Braunschweig '21, Fr. Vieweg u. Sohn. 14 M.
V. Bezold, Die Farbenlehre. 11. Aufl. mit 60 Figuren
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Tschirch, Dr. A., Die biochemische Arbeit der Zelle
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Chapmann, Einige Fortschritte auf dem Gebiete der
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Wittin g, A., Einführung in die Infinitesimalrechnung.
I. Die Ditferentialrechnung. II. Aufl. Leipzig '21, B. G.
Teubner. 2 M. »
Witting, A., Einführung in die Infinitesimalrechnung.
II. Die Integralrechnung. II. Aufl. (Aus: Mathematisch-Physi-
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Loewit, Dr. M., Infektion und Immunität. Nach dem
Tode des Verfassers herausgegeben von Dr. G. Bayer. Mit
33 Texlfiguren und 2 farbigen Tafeln. Berlin '21, Urban u.
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Jena, Gustav Fischer. Geh. 21, geb. 27 M.
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Haecker, Allgemeine Vererbungslehre. Braunschweig,
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Kahler, Dr. Karl, Luftelektrizität. (Sammlung Göschen.)
Berlin '21, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. Mit 100 °/o
Teuerungszuschlag 4,20 M.
Mannheim, Prof. Dr. E. , Pharmazeutische Chemie.
(Sammlung Göschen.) Berlin '21 , Vereinigung wissenschaft-
licher Verleger. Mit loo % Teuerungszuschlag 4,20 M.
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Neue Forschungen auf dem Gebiete der Stellarastronomie. S. 536. W. Fowler, Ein interessanter Doppelslern vom
Algollypus. S. 537. E. W. Smith und A. M. Dale, Die Ilavölker Nord-Rhodesiens. S. 537. K. Floericke,
Neuere GewöUuntersuchungen von Tag- und Nachiraubvögeln. S. 539. — Bücherbesprechungen: R. Pauli, Über
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Positiviiätsprinzip in Zeit und Raum und das Einsteinscbe Rclaiivitälsprinzip in Raum und Zeit. S. 542. R. Lämmel,
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in 12 Vorlesungen. S. 543. — Literatur: Liste. S. 544.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. rn. b. H., Naumburg a. d. S,
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band :
der ganzen Reibe 36. Band,
Sonntag, den i8. September 1921.
Nummer 38t
Zur Geschichte der Einführung der Papageien.
[Nachdruck verboten.]
Von S. Killermann, Regensburg.
Mit 3 Abbildungen.
Als die ersten tropischen Ziervögel erscheinen
bei uns die Papageien. Ihre Farbenpracht, noch
mehr aber ihre Zähmbarkeit und die Leichtig-
keit, mit der sie menschliche Sprechlaute nach-
zuahmen lernen, machten sie schon bei den
alten Völkern beliebt. Nach Brehm (VHP
S. 15) ist die Zähmung dieser Vögel, die in ge-
wisser Hinsicht an die Unterjochung unserer Haus-
tiere erinnert, uralt. In der altindischen IVIytho-
logie galten sie als Sinnbilder des Mondes, und
es gibt eine rührende Elegie in der Sanskritsprache,
die von der dankbaren Treue eines Papageis er-
zählt: „Da der Baum, der ihm Zeit seines Lebens
Nahrung und Obdach gewährt hat, verdorrt und
eingeht, so beschließt auch der Vogel zu sterben".
Nach Aelian') (um 200 n. Chr.) wurden die
Papageien in Indien für heilig gehalten und bil-
deten die Begleitung des Königs; trotz ihrer
Menge ißt kein Brahmane je ihr Fleisch; sie
schätzen sie wegen ihrer Fähigkeit, die mensch-
liche Sprache nachzuahmen. — Im persischen
Märchen -) wird dem Papagei menschlicher Ver-
stand zugeschrieben.
Was nun die Einführung von Papageien in die
westlichen Kulturländer betrifft, so scheinen die
alten Ägypter von ihnen keine Kenntnis besessen
zu haben; auch in der Bibel findet sich kein Beleg
hierfür. Am frühesten wurden die Griechen auf
dem Alexanderzug nach Indien mit diesen Vögeln
bekannt und zwar mit dem in Indien und Ceylon
als Stubenvogel häufig gehaltenen grünen, rotge-
bänderten Halsbandsittich (Palaeornis tor-
quata). Nach K e 1 1 e r ''j schreibt zuerst K t e s i a s,
der griechische Leibarzt des Perserkönigs Arta-
xerxes IL, um 387 v. Chr. von einem Vogel
Bittakos und Onesikritos, Steuermann in der
Flotte Alexanders, brachte die ersten lebenden
Exemplare nach Europa. Selbstverständlich haben
dann auch die reichen Römer sich für solche
Vögel interessiert. Marcus Portius Cato (im
2. Jahrhundert v. Chr.) wetterte unter anderem
') De natura anim.alium Hb. .XIll cap. iS (ed. Seh neider),
p. 176: Ibi etiam psittaci aluntur, et sursum deorsum, ultro
citroque circum regem versantur. Nee psiltacum idcirco In-
dorum quisquam, etsi eorum magna illic multitudo sit, edit;
i|uia eos sacros putent, et Brahmanes quidem ex avibus plu-
rimi hunc aestiment. Quod quidem ipsum non abs re se
facere profitentur, quod solus psittacus humanam verborum
appellationem explanata oris e,\pressione , et vocis confor-
matione, imitando consequalur.
-) Das persische Papageienbuch; Sammig. von Märchen,
l'bers. von Iken. Leipzig 1905.
») Die antike Tierwelt, I, Bd., S. 45—49.
gegen die Sitte der jungen römischen Stutzer
seiner Zeit, mit zahmen Papageien auf der Faust
in den Straßen herumzuspazieren.
P 1 i n i u s (um 60 n. Chr.) ') beschreibt die
Papageiart, um die es sich handelt, folgender-
maßen: „Die Papageien lernen sogar Worte
sprechen. Wir erhalten diesen Vogel aus Indien
unter dem Namen Sittace ; er ist am ganzen Körper
grün, nur mit einem mennigroten Halskragen. Er
grüßt die Fürsten und spricht die vorgetragenen
Worte nach, ist besonders mit Wein berauscht
ausgelassen. Sein Kopf ist ebenso hart wie sein
Schnabel; auf diesen schlägt man ihn mit einem
Eisenstäbchen, wenn er sprechen lernen soll. Sonst
fühlt er die Schläge nicht. Beim Abfliegen faßt
er mit dem Schnabel zu, stützt sich darauf und
macht sich so für die Schwäche seiner Füße
leichter."
Vielfach ist in der römischen Literatur von
dem Vogel die Rede, dessen auch verschiedene
Dichter (Ovid, Persius) gedenken.-) Der Wert
richtete sich nach der Dressur und manch
sprechender Papagei galt mehr als ein mensch-
licher Sklave. Heliogabal setzte seinen Gästen
Papageiköpfe zum Essen vor.
Bei Albertus Magnus (f 1280) finden wir,
obwohl er mehrmals auf diesen Vogel in seinem
Tierbuch ^) zu sprechen kommt, gegenüber P 1 i -
nius keine neue Daten. Es ist fraglich, ob Al-
bertus je einen Papagei zu sehen bekam. Seine
Beschreibung bezieht sich natürlich auf den Hals-
bandsittich (viridis tota, torque aliquantulum co-
loris aurei). Er hebt die breite Zunge dieses
Vogels hervor, die er als die Grundlage seines
Sprechtalentes betrachtet, und gibt Indien, Ara-
bien und die regenlosen Gebiete der Tropen als
Heimat an.
Der zweite deutsche Naturkundige jener Zeit
Konrad von Megenberg'') (um 1330) be-
merkt, daß die Vögel meist auf die Wörter: „Ave
chere") d. h. Gott grüß dich, Lieber" abgerichtet
waren. Er dürfte schon eher ein Exemplar ge-
sehen haben. Der italienische Humanist und Ver-
') Nat. Hist., X, 41 (58), bei Mayhoff vol.. 11, p. 1S7.
') Näheres s. bei Aldrovandi, Ornitbologia lib. .VI
(Francofurti 1610).
■') De animalibus über 1 21 ; II 74; IV 94; VlII 215;
\11 204; XXI 26; XXIII 13S nach der neuen Ausgabe von
H. Stadler, Münster 1916, 21. Vgl. auch meine „Vogel-
kunde des Albertus M." (Kegensburg 1916), S. 40.
*) Ausgabe von H. Schulz S. 184.
*) Wohl nach Persius: ,,Quis expedivit Psittacis suum
U6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 38
fasser eines Tierbuches Petrus Candidus')
(1460) erzählt, daß sein Vater zu Venedig einen
abgerichteten Papagei gesehen, der aus dem Ge-
dächtnis zwei volle Papyrusseiten sprechen konnte
und auf lOOO Goldgulden gewertet war. Als
Heimat der Vögel gibt dieser Autor die „Nil-
quellen" an.
Die wenigen Europäer, welche in jener Zeit
Papageien in ihrem Wildleben beobachteten, waren
die berühmten venetianischen Reisenden Marco
Polo und Nicolo de Conti. Der erstere '-)
(um 1290) sah in Ormus am persischen Meer-
busen in dem dortigen Dattelpalmenwald neben
Frankolinen auch Papageien und erzählt im 3. Buch
25. Kap., daß es im Königreich Koulam (jetzt
Quilon, Malabar) neben verschiedenen seltsamen
Tieren (schwarzen Panthern) Papageien gebe, „von
denen einige weiß wie Schnee mit roten Füßen
und Schnäbeln, andere rot und grün und wieder
andere sehr klein sind". Unter den weißen ver-
mute ich Kakadus.
Nicolo de Conti, '^) der zu Anfang des
15. Jahrhunderts 25 Jahre lang im Osten weilte
und 1441 seinen Reisebericht abfaßte, unterscheidet
3 Papageiarten: eine rote mit gelbem Schnabel
(Eos bornea nach Stresemann), eine mit ver-
schiedenen Farben Noro genannt (Lorius domi-
cella nach Stres.) und eine dritte, weiß, von der
Größe eines Huhnes, Cachos genannt (Cacatua
moluccensis nach Stres.).
Durch den im Mittelalter aufblühenden Le-
vantehandel und die Kreuzzüge werden Papageien
des öftern nach Europa, Italien vor allem und
auch Deutschland, gebracht worden sein. Ge-
legentlich finden sich in Archiven und Chroniken
Notizen über solche Ziervögel. P. M. Baum-
garten*) hat im Vatikanischen Archiv als
früheste beglaubigte Nachricht über einen Papagei
an der Kurie die aus der Zeit Martins V. (142 1)
entdeckt. Ein Deutscher namens Johannes wird
da als F'amiliare des Papstes und Wärter eines
Papageis (Custos papagalli) bezeichnet, und ihm
werden von der apostolischen Kammer die nötigen
Gelder für den Unterhalt des Vogels angewiesen.
Als der Papst im Frühjahr des Jahres 1424 in
Tivoli gewesen war, wurde beim Wegzug der
Käfig mit dem Papagei vergessen. Ein Bote
(Gordinoctius mit Namen) wurde hingesandt,
um ihn zu holen, wofür i Gulden (floren. unum)
bezahlt wurde. — Am päpstlichen Hofe scheinen
Papageien sehr beliebt gewesen zu sein und heute
heißt noch ein vatikanischer Hof Cortile dei Papa-
galli, d. h. Hof der Papageien. Die Tiere wurden,
wie Baumgarten denkt, hauptsächlich durch
Gesandtschaften, Missionäre usw. nach Rom ge-
bracht und dem Papste verehrt.
Aus dem 15. Jahrhundert gibt es auch für
Deutschland Urkunden über das Halten von Papa-
geien. 1) In Straßburg soll 1449 bereits ein Haus
darnach benannt worden sein. Im Jahre 1458
verehrte der Rat von Nürnberg dem Erzbischof
von Mainz einen Sittich, der um 25 fl. von An-
tonPaumgartner'-) gekauft worden. Der Vogel
wurde in einem vergoldeten Käfig nach Aschaffen-
burg gebracht und es hat sich noch die ganze
Rechnung hierfür erhalten, im ganzen 50 Pfund
12 Schilling 2 Heller. 1460 kaufte der Rat von
dem genannten Herrn wiederum einen Papagei
für die Königin von Böhmen ; die Sache kam auf
65 Pfund I Schilling 1 1 Heller zu stehen.
In der Beschreibung, die der Humanist
Castaldo da Feltre, 1503 Doktor in Padua,
von dem Garten der Brüder P r i u 1 i in Murano
bei Venedig gibt,^) fehlt auch nicht der Papagei:
„Du bemerkst einen ungeheuren Käfig, der mit
Eisenruten bedeckt und 300 mal geteilt ist nach
Art eines Gitters; von hier grüßt dich oft der
Papagei mit menschlicher Stimme".
Andere Hofnachrichten, die sich auf die Hal-
tung von Papageien beziehen, bringt Chle-
dowski. ■•) Darnach mußte Ercole Roberti,
Hofmaler in Ferrara (f 1496) für die aus Neapel
stammende Herzogin Eleonora einen Papageien-
käfig vergolden. Eine andere Dame, die Herzogin
Renata di Francia, Beschützerin der Hugenotten,
ließ um 1563 für ihren Papagei auf dem Schloß
Montargis bei Chartres einen Käfig bauen, der
nicht weniger als 6 Stockwerke hoch war.
Altere Abbildungen von Papageien finden sich
in W i 1 p e r t s •'') herrlichem Mosaikwerk, das als
Denkmal deutscher Forschungsarbeit noch im
Kriege vollendet wurde (Probe Nr. 32); die Art
(im allgemeinen grün) ist nicht genauer zu be-
stimmen. In einer frühen, im britischen Museum
befindlichen Miniatur „Schöpfung der Tierwelt",")
erscheint unser Halsbandsittich, mit dem (weiß-
lichen) Halsring deutlich charakterisiert. Schön
rot beringt sitzt er in lebensvoller Haltung an
einem Bächlein auf grüner Waldwiese mitten unter
einheimischem Getier auf dem Gemälde „St. Jo-
hannes in der Waldlandschaft",') das der merk-
') Vgl. meine Arbeit „Das Tierbuch des P. Candidus".
Zool. Annalen VI, S. 164 ff.
') H. Lemke, Die Reisen des Venezianers Marco Polo im
13. Jahrhd. (Hamburg 1907), S. 99 u. 475 f.
■') Bei E. Stresemann, Die Vögel von Seran (Ceram)
Novitates Zoologicae Vol. XXI (London 1914), S. 81.
*) Historisches Jahrbuch der Görres-Ges. XXVI (1905),
S. 945 f. Curiosa aus dem Vatik. Archiv.
') Nach dem Anzeiger z. Kunde der deutschen Vorzeil
1873, Nr. 5. Zool. Garten XIV (1873), S. 267.
'■') Im Wappen dieser berühmten Kaufmannsfamilie , die
um 1300 in Nürnberg auftaucht, erscheinen auch drei Hals'
bandsittiche; s. Nürnberger Wappenbuch und den Dürer-
sehen sog. Paumgartner Altar, Mittelbild ; München, A. Pinak.
Nr. 240.
') Nach Molmenti, Storia die Venezia (Bd. 2, S. 354)
bei Ch. El fr. Pauly, Der venetianische Lustgarten (Straß-
burg Heitz 1916), S. II.
*) Cas. V. Chledowski, Der Hof von Ferrara (Berlin
igio), S. 497 u. 303.
") Erschienen im Verlag Herder, Freiburg i. Br.
") J. O. Westwood, lUuminated Illustrationes of the
bible. London 1S96, Genesis Mus. brit.
') Berlin, K. Friedrich-Museum Nr. 1631.
N. F. XX. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
547
würdige Holländer Geertgcn tot sint Jans
(1465 — 95) geschaffen.
Daß der Halsbandsittich auch in Deutschland
bekannt war , zeigt der Kupferstich M. Schon-
gauers „Die Flucht nach Ägypten", den hier')
kürzlich H. Schenck behandelt hat. Auf dem
Drachenbaum sitzt er mft herabgebogenemSchweife,
in einer Haltung, wie sie auch Brehm (Vögel II'',
S. 332) von dem Vogel gibt. Der Stich stammt
nach Wendland aus der Zeit um 1470. Ich
denke: wäre das Werk in Spanien geschaffen
worden, so hätte der Meister eher den für die
Westküste Afrikas in Betracht kommenden Jako
auf den Drachenbaum gesetzt. — Im Museum zu
Colmar, der Wirkungsstätte Schongauers, ist
übrigens noch ein zweites Bild „Predigt des Jo-
hannes des Täufers" aus der „oberrheinischen
Schule" (1440 — so), das uns den genannten Papa-
gei in Farben (grün) auf einem rottrüchtigen Sand-
dornstrauch zur Vorstellung bringt.
Unterdessen war offenbar auch der in Afrika
heimische Graupapagei, der sog. Jako (Psit-
tacus erithacus L.), ebenfalls ein sehr gelehriges
Tier durch die Entdeckungen der Portugiesen an
der afrikanischen Westküste öfters nach Europa
gebracht worden.^) Als die französischen Edel-
leute Betencourt und Gadiferus um 14CX)
die kanarischen Inseln besetzten, konnten sie und
die nachfolgenden Missionäre sich nicht genug
über die dort zahlreich vorhandenen gezähmten
und wilden Papageien wundern.^)
Abbildungen dieser Art erscheinen vor allem
auf dem Gemälde „Adam und Eva" (Florenz,
Galerie Pitti), das als Dürer kopie aus der Hand
von Lukas Cranach (um 1520) angesprochen
wird. Die dort dargestellte Tierwelt (Hirsch, Reb-
huhn usw.) ist sicherlich des letzteren Arbeit; der
dazu gesetzte Papagei ist mit grauem Federkleid
und kurzem roten Schweif sehr gut gegeben.
Weiter finde ich den Jako auf dem Bilde „Ma-
donna mit dem Apfel"'') von L. Lombard
(1505 — 66), einem Lütticher Maler, und auf dem
Bildnis einer Dame ^) die den Vogel an einer
Kette hält — zugeschrieben dem „Meister der weib-
lichen Halbfiguren". Aus späterer Zeit (1640)
stammt ein Bild vom Graupapagei in der Mün-
chener Residenz (päpstliches Zimmer, Frucht-
stück). Ebenda (A. Pinakothek Nr. 533 u. 1399)
sieht man noch zwei feine Bilder von Jakos, die
aus ihren Käfigen genommen von der Dame ge-
füttert werden — Kleingemälde der beiden Hol-
länder Fr. V. Mieris (1635 — 81) und C. Netz-
scher (1639—84).
Mit der Entdeckung Amerikas wurde man
■) Jahrg. XIX, Nr. 49 (5. Dez. 1920J ; auch Sonderab-
druck mit 3 Tafeln. Jena, Fischer, 1920.
') Wie schwierig die Einführung dieser Art, namentlich
die Überstehung der Seereise ist, schildert ein Artikel in der
„Ornithol. Monatsschrift" nach Zool. Garten XXXIV (1893),
s. 254.
^) Nach Baumgarten a. a. O.
*) Wien, Staatl. Gemäldegalerie Nr. 756.
*] Wien, Lichtensteingalerie Nr. 2024.
auch mit neuen Papageiarten bekannt. Ich habe
hier *) schon einmal vorgetragen, wie Kolumbus
am letzten Tage seiner denkwürdigen Fahrt
(Donnerstag, 11. Oktober 1492) durch das Er-
scheinen eines „grünen Vogels", in dem wir einen
Papagei vermuten dürfen,'-) in seiner Hoffnung,
bald Land zu sehen, bestärkt wurde und von den
Bewohnern der Insel Guanahani neben anderen
Geschenken vor allem Papageien eintauschte. Ja,
diese waren nach seinem Berichte die einzigen
Tiere, die er auf der Insel beobachtete.
Die Spanier sahen dann beim weiteren Vor-
dringen gar oft gezähmte Papageien vor den Hütten
der Eingeborenen, manchmal so häufig wie bei
uns die Spatzen und von allen Sorten, so groß
wie Fasanen und so klein wie Sperlinge.^) Als
die Spanier 1 509 ein an der Landenge Darien ge-
legenes Karibendorf überfallen wollten, wurden
sie von den wachsamen Papageien verraten (nach
Brehm a. a. O.).
Die innige Verbindung der Papageien mit dem
Indianerleben kommt sehr schön zum Ausdruck
in der bekannten Sage von dem ausgerotteten
Indianerstamm, dessen Idiom durch einen Papagei
sich erhalten haben soll:
„Kennt ihr die Mär, die Humboldt uns berichtet?
Ein Indianerstamm ward ganz vernichtet
Und seine Sprache sank mit ihm ins Grab ;
Ein Papagei nur, den die Sieger schonten
Sprach nach Jahrzehnten noch in der gewohnten
Seltsamen Sprache, die kein Echo gab."*)
Die ersten Abbildungen von amerikanischen
Papageien erscheinen, wie ich das für manch
andere Naturobjekte schon dargelegt habe, in der
Kunst. Das berühmte in Venedig befindliche, um
1500 in den Niederlanden entstandene Breviarium
Grimani, führt uns neben dem gewöhnlichen Hals-
bandsittich ein paarmal auch amerikanische Arten
vor. So sitzt im „ April"bild nach GiulioCoggi-
ola'^) auf der Hand einer Dame ein kurz-, breit-
schwänziger Papagei, der nur eine Amazone sein
kann : die Wangen gelb, Brust- und Rücken grün,
an den Schwingen und am Schwänze rot. Ich
halte ihn für den venezuelischen Gelbkopf
(Amazona ochroptera Gm.). Weniger gut in
Farben ist ein zweiter langschwänziger Ameri-
kaner dargestellt (557^), vielleicht der große
Arapapagei.")
Von hohem Interesse ist für uns das Vorkom-
') Artikel „Zugvögel auf hoher See", Jahrg. VII (1908),
Nr. 13.
'') Nach einem Bericht im Zoolog. Garten XL {1899),
S. 58 wurden vom Kapitän A. Behnert (Thalia, Hamburg]
am 1. Juni 1895 — also im südlichen Winter — an der Süd-
spitze Südameriitas vier grüne Papageien auf hoher See be«
obachtet.
') Näheres bei Petrus Martyr, De rebus oceanicis
(Kölner Ausgabe 1574) an verschiedenen Stellen.
■■jjoh. Schürmann in „Fliegende Blätter" 126. Bd.
(1907), Nr. 3213.
") U Breviario Grimani. Ricerche storiche e artistiche |
appendice al capitolo HI (Leiden SijthofT igto), pag. 34'.
") In der bezeichheten Faksimileausgabe sehe ich Papa«
geien auf Blatt „Paradies" Nr. 286V (llelbkopf) ii. Nr. 137I
(ohne Karbej.
548
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. P. XX. Nr. 3cS
men einer m. E. amerikanischen Art auf dem be-
rühmten Aquarell „Madonna mit den vielen Tieren"
von A. D ü r e r. ^) Der Vogel, der da zur linken
Hand auf einem Pfosten aufbäumt, zeigt einen
langen, spitz zulaufenden Schweif, gelbliches Ge-
fieder, hellgrüne -) (oder bläuliche) Flügel und
Kopf. Ich denke an einen Ararauna (Ära
ararauna L.), der nach Brehm von Panama bis
Brasilien verbreitet ist. Der Papagei bildet mit
der Seespinne (zur rechten Seite) den fremdländi-
schen Einschlag auf dem interessanten Bilde, in
dem Dürer gar mancherlei Tiere zur Darstellung
brachte. Die Zeit der Entstehung wird von
Heiderich auf 1501, von anderen auf die Jahre
1506 — 08, die (zweite) venetianische Reise ange-
geben. Es scheint mir, daß dieselbe Art auf dem
Kupferstich „Adam und Eva" von 1504 links auf
dem Mehlbeerbaum sitzend, und dann nochmals
auf der Zeichnung „Madonna in der Halle" (Basel
Mus.) von 1 509 verewigt ist. ^)
Auf einem anderen herrlichen Werke deutscher
Kunst, dem hier *) schon einmal besprochenen
„Johannesaltar" Burgkmairs (München, Alte
Pinakothek Nr. 222), sehen wir eine zweite ameri-
kanische Art zum erstenmal im Bilde (vgl. Abb i).
Es sind zwei Kubaam azonen (Amazona leuco-
cephala L.), die sich am Stamme und in der
Krone des beschriebenen Drachenbaums aufhalten.
Die Vögel sind in der Gesamtfärbung grün und
zeigen etwas Rot, der eine (am Stamme) an den
Flügeln, der andere (im Laubwerk) auf der Unter-
seite des Schwanzes; die Wangen und auch die
Stirne (bei dem letzteren wenigstens) sind weiß
gegeben. Das Bildwerk stammt, wie ich schon
dargelegt habe, aus dem Jahre 15 18 und aus
Augsburg.
Ebenfalls beachtenswert ist das frühe Auftreten
von Kakadus und anderen polynesischen Arten
auf Bildern. So sehe ich auf A. Mantegnas
„Madonna della Vittoria", '') die 1495/96 gemalt
wurde, in der prächtigen Laube einen beschopften
(weißen) Kakadu sitzen; ein zweiter Papagei
daselbst scheint der Halsbandsittich zu sein. —
Der hochrote Molukkenlori (Eos bornea rothschildi
Stresemann) ist sehr gut dargestellt von dem
Venezianer Vitt. Carpaccio (t 1526) auf dem
1 5 1 1 entstandenen Gemälde „Petrus und Stefanus".")
') Wien, ehem. Sammig. Albertina. Lippmann, Nach-
bildg. der Handzeichnungen A. Dürers Nr. 460.
^) Wenigstens auf der Kopie in München Kupferstichkb. ;
auf dem Original in Wien m. Erinnerung nach mehr blau.
') Wie sehr Dürer auf Papageien erpicht war, bezeugt
seine Bemerkung, daß er sich auf seiner niederländischen
Reise 1520/21 zwei grüne Papageien aus Malakka erwarb (bei
Veth und jMuller, II. Bd., .S. 200).
■*) Vgl. meinen Artikel „Die ersten Nachrichten u. Bilder
von der Kokospalme u. vom Drachenbaura" Nalurw. Wochen-
schrift XIX (1920), Nr. 20 Bild farbig bei Seemann,
Galerien Europas, Verlags-Nr. 1134.
=) Paris Louvre Nr. 1:^74. Vgl. Klassiker der Kunst XVI
(Stuttgart 1910), S. 16S.
") Berlin, K. Friedrich-Mus. Nr. 23. Der Meister, der
auch in Konstantinopel gewesen sein soll, hat nach Cohn
auf dem Wiener Bilde „Christus und die Engel" als einer der
Von dieser schönen Art hatte bereits N. de
Conti Nachricht gebracht. Sonst sind auf ita-
lienischen Bildwerken meines Wissens Papageien
eine ziemlich seltene Erscheinung. Im „Triumph
des Todes" (Pisa Campo Santo), entstanden um
1350, scheinen mir solche verewigt zu sein und
dann in einem (blinden) Fenster der Raffaelschen
Loggien, aus der Zeit um 1520 stammend.
Abb. :. Kubaamazonen auf dem Bilde „Johannesallar"
von Joh. Burgkmaier (München, alte Pinak. Nr. 222)
gemalt 15 iS. (Ausschnitt nach Seemann Gal. Eur.).
Gesner (1537)^) bespricht als der erste
Wissenschaftler neben den bekannten zwei alt-
weltlichen Arten auch zwei amerikanische, den
„rotgelben und rotblauen" Sittich, von denen
er nur einfache Holzschnitte gibt. Aldrovandi,
der größte Ornithologe des 16. Jahrhunderts,
widmet den Papageien ein eigenes Buch in seinem
ersten eine gelbrote Tulpe gemalt; vgl. auch Sol ms- Lau-
bach, Weizen und Tulpe S. 54.
') Vogelbuch, übersetzt von Heußlin (Zürich 1557)1
fol. CCXXf.
N. F. XX. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
549
Werke;*) er führt gegen 14 Arten in 13 Holz-
schnitten vor, darunter einen weißen Kakadu
(Taf. IX, Fig. 4) und eine Art, die dem Papste
Gregor XIII. aus Japan (wo es aber keine Papa-
geien gibt) verehrt wurde (Taf. X, Fig. 6).
Abb. 2. Arapapageien auf dem Bilde ,, Paradies".
Von Jan Brueghel (Berlin K. Friedr. Mus. Nr. 742),
entstanden um 1600. (Ausschnitt, Phot. Ges. Berlin.)
Abb. 3. Arakanga auf dem Bilde „Vogclkonzert" von
Fr. Snyders (Petersburg, Eremitage).
i (Ausschnitt Phot. Hanfstengel.)
Clusius (1605)*) fügt den bisher bekannten
zwei neue Arten bei; den „Psittacus elegans", den
er beim Fürsten von Croy sah, das ist der sog.
Fächerpapagei (Deroptyus Clusü, jetzt acci-
pitrinus) und einen Zwergpapagei „Ps. mini-
mus", dessen Heimat er in „Äthiopien und Mani-
congo" vermutet — wahrscheinlich der (ameri-
kanische) Sperlingspapagei (Psittacula passerina).
Große Liebhaber dieser Vögel waren damals eine
Frau de Brimeu, der genannte Fürst von Croy
und Areschot.
Vor solchen Schau- und Vogelsammlungen
haben wohl die bekannten unübertrefflichen, haupt-
sächlich um 1600 — 1050 schaff'enden Tiermaler
Jan Brueghel, Rubens, Fr. Snyders, Jan
Fyt, R. Savery und andere ihre Studien ge-
macht. Auf manchen Bildern dieser Meister
wimmelt es von aufs herrlichste nachgebildeten
exotischen Prachtvögeln.
So erscheinen brasilianische Hyazinth- und
Blauaras (Ära spec. [vgl. Abb. 2]) auf den um 1596
gemalten sog. „Vier Elementen" -') und den um 16 14
entstandenen „Paradieslandschaften" ^) Brueghels;
ein paarmal *) finde ich bei ihm auch den austra-
lischen Gelbhaubenkakadu (Cacadua galerita). Das
Rubens sehe Bild „Geburt der Maria Medici" ')
ziert ein gelbgefiederter, blauflügeliger Ararauna,
vielleicht auch von der Hand Brueghels. Auf
dem Vogelkonzert Snyders'') kreischt mit vielen
anderen Vögeln der große, hauptsächlich rot ge-
färbte Arakanga (Ära macao L. [vgl. Abb. 3]); den
keilschwänzigen, dickschnäbeligen Karolinasittich
(Conurus carolinensis L.) sehe ich besonders auf
R. Saverys Bildern „Landschaft und Vögel",')
„Orpheus besänftigt die Tiere",*) die ich früher
schon wegen der Drontedarstellungen besprochen
habe.
Bei dem in der 2. Hälfte des 1 7. Jahrhunderts
schaffenden M. Hondecoeter') erscheint ein
großer gelber Papagei (Cacatua galerita?). In
den Bildern von Jan Huysum*") undT. Stra-
nover,*') die um 1700 lebten, finde ich einen
schön blauflügeligen goldfarbigen Edelpapagei
(Eclectus spec), den Blauwangenlori (Trichoglossus?)
und auf einem Stilleben '-) von J. Weenix (f 17 19)
einen roten Kakadu, vielleicht den australischen
Inkakakadu (Lophocroa ?).
Es würde zu weit führen, alle Künstler nam-
haft zu machen, die irgendeinen Lieblingspapagei
1605.
Nr.
Nr.
') Ornithologia IIb. XI. Ausgabe von Krankfurt 1610.
') Auctarium ad exoticos libros. Antwerpen
■■') Florenz, Uffizien Nr. 884, 903.
'■') Berlin, K. Friedrich-Mus. Nr. 742 ; Haag, Mauritshuis
253 ; Dresden, Galerie usw.
*) Madrid Prado „Das Gehör"; München, A. Pinak.
704 „Frucht- und Blumengehänge".
•'') Paris Louvre Nr. 20S8.
") Petersburg, Eremitage (Phot. von Hanfstacngl).
•) Wien, Staatl. Gemäldegalerie Nr. 1219 (Phot. v. Löwy).
*) Haag, Gemäldegalerie Nr. 157 (Phot. Bruckmann).
") Amsterdam, Reichsmuseum Nr. 1226.
'") Schwerin, Gemäldegalerie Nr. c;35.
") Schwerin, Nr. 982, 985.
'*) Sehleifiheim (bei München), Galerie Nr. 912.
550
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 38
im Bilde verewigen mußten. ^) Eine von Reich-
tum und Naturfreude strotzende Zeit leuchtet uns
aus den alten Bildwerken entgegen; wie selten
dient dagegen heute ein kostbares exotisches Tier
noch als Vorlage für den Pinsel.
Was die wissenschaftliche Behandlung der be-
sprochenen Vögel betrifft, so lag sie noch lange
im argen. Der Schlesier Jo. Jonston (1650)'')
erhebt sich in seinem Vogelbuch kaum über Al-
') Auch in Schlössern auf Wandgemälden erscheinen sie;
so auf Schloß Trausnitz bei Landshut, Zimmer der Herzogin
(Mitte des 17. Jahrhunderts).
-) Hist. nat. de Avibus Francofurli 1650 (Neudruck von
Heilbronn 1756, fol. 28— 33).
drovandi und weiß auch nichts von den neuen
Arten des Clusius. Erst das von Stresemann
(a. a. O.) hervorgehobene Werk des Frangois
Valentyn über die Molukken (1726 in Dordrecht
erschienen) bringt neue Gesichtspunkte. Eine
gute Zusammenstellung der damals bekannten
Papageien bietet die „Sammlung verschiedener aus-
ländischer und seltener Vögel" von J. M. S e e 1 i g -
mann besonders im V. Teil (Nürnberg 1759).
Die Geschichte der Papageien ist ein Stück
Kulturgeschichte und gibt uns Kunde von der
Freude und Liebe zur fremden Natur, die im Zeit-
alter der Entdeckungen besonders bei den Deut-
schen und Niederländern herrschte.
Einzelberichte.
Der elektrische Widerstand der Metalle bei
tiefen Temperaturen.
Seit 1906 wurde namentlich durch Kamer-
lingh Onnes der Widerstand von Metallen bei
tiefen Temperaturen eingehend untersucht. Sehr
überraschende Ergebnisse zeigten sich, als diese
Untersuchungen mit Hilfe verflüssigten Heliums
bis nahe an den absoluten Nullpunkt ausgedehnt
werden konnten. Es bestätigte sich nämlich die
schon 1885 von Wroblewski bei Untersuchung
des Kupfers gefundene Tatsache, daß die Leit-
fähigkeit bei tiefen Temperaturen rascher wächst,
als man nach dem Verhalten bei höheren Tem-
peraturen vermuten sollte, und in der Nähe des
absoluten Nullpunkts unendlich wird. Lord
Kelvin hatte 1902 das Gegenteil behauptet, da
er meinte, die Elektronen würden bei tiefsten
Temperaturen festfrieren und demnach eine ver-
schwindende Leitfähigkeit bedingen. Onnes
fand bei völlig reinem Quecksilber, Blei und Zinn
nahe dem absoluten Nullpunkt gewisse kritische
Temperaturen, unterhalb deren der Widerstand
plötzlich auf Null herabgeht, das Metall geht in
den „supraleitenden Zustand" über. Man kann in
diesem Zustande durch einen Draht von i qmm
Querschnitt einen Strom von 1200 Ampere
schicken, da die entwickelte Wärme wegen des
fehlenden Widerstandes minimal ist. Ein einmal
in Fluß gebrachter elektrischer Strom dauert in
einem so tief abgekühlten, in sich geschlossenen
Draht auch geraume Zeit an, da die Energie
nicht durch Widerstand in Wärme verwandelt
wird. In einem Bleidraht nahm die Stromstärke
in der Stunde um weniger als i % ab. Man
wird hierbei an die Amp ereschen Molekular-
ströme erinnert, die zur Erklärung des Magnetis-
mus angenommen werden und ebenfalls wattlos
verlaufen müssen, da der Magnetismus einen ohne
Energiezuführung andauernden Zustand darstellt.
Zur Erklärung des supraleitenden Zustandes
sind verschiedene Theorien aufgestellt worden,
jedoch begegnet eine jede derselben gewissen
Schwierigkeiten, weshalb wir hier auf dieselben
nicht eingehen. Nähere Aufschlüsse über die
Versuche und die zu ihrer Erklärung ersonnenen
Theorien findet man in einem zusammenfassenden
Artikel Crommelins in der physikalischen Zeit-
schrift (Jahrg. 1920). Kbr.
Die baltischen Ölschiefer.
Die Aufmerksamkeit, die durch Kriegsnöte
veranlaßt neuerdings allen Ablagerungen höheren
Bitumengehalts, insbesondere Öl- und Brand-
schiefern nicht allein in Europa zugewendet wor-
den ist, hat infolge der Besetzung des Baltikums
durch deutsche Truppen auch die dortigen, seit
langem bekannten Vorkommnisse neuen Unter-
suchungen unterziehen lassen. Es ist je ein
Schichtenstoß an der Grenze zwischen Kambrium
und Silur, bzw. innerhalb des Silurs von Eshand
und Ingermanland (Gouv. Petersburg), der hier in
Betracht kommt: die sog. Dictyonema-Schiefer
(nach einem Leitfossil aus der Gruppe der Hydro-
zoen) und die Kuckerssche Schicht (nach dem
ältestbekannten Auftreten bei dem Gute K u c k e r s).
Für eine neue fachmännische Darstellung, ^) die
wir L. von zurMühlen verdanken, haben sehr
bedauerlicherweise die Ermittlungen seitens der
deutschen Heeresverwaltung dem Verf. nicht zur
Verfügung gestanden.
Für die Dictyonema-Schiefer lautet das Urteil
recht ungünstig: Ein Ölgehalt von höchstens
4 — 5 "/ü bei schwierigen bergbaulichen Verhält-
nissen und nicht sonderlich glücklicher Lage stehen
der Hoffnung auf erfolgreicheren Abbau entgegen.
Die Kuckerssche Schicht ist bereits ver-
schiedentlich, besonders auch von russischer Seite
ausgebeutet worden. (Wurden doch selbst Leucht-
türme im finnischen Meerbusen schon mit ein-
heimischem Ol gespeist!) Dennoch werden auch
') L. von zur Mühlen, „Die Ölschiefer des europäi-
schen Rußlands". Sammlung „Quellen und Studien" 3. Abt.
(Bergbau und Hüttenkunde) Heft 4, herausg. vom Osteuropa-
Institut in Breslau. Teubner-Leipzig 1921. 21 S. (6 M.)
N. F. XX. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
SSI
hier die bisherigen Vorstellungen als zu optimistisch
angesehen. Die Zone der zugänglichen Brand-
schiefer wird auf nur 50 km Länge bei einer
Durchschnittsbreite von 77,36 m geschätzt. Durch
Grundwasser und sehr geringe Höhenlage ent-
stehen erhebliche Beeinträchtigungen. Bis zu
28 "/o Rohteer, im Durchschnitt nur etwa halb so
viel können gewonnen werden.
Nächst dem Öl ist auch der Gasgehalt für die
Art der Gewinnung von Bedeutung.
Zwei getrennte Brandschieferlagen des Kuk-
kersschen Horizontes werden durch eine Kalk-
bank getrennt, die reichere Fauna und größer-
wüchsige Typen führt. Der Bitumengehalt wird
hauptsächlich auf Algen zurückgeführt. Die marine
Entstehung ist völlig klar.
Geologisch wie technisch sind die nötigen
Voruntersuchungen noch nicht abgeschlossen, um
ein endgültiges Urteil über den Wert des Vor-
kommnisses zu fallen. Zementfabrikation wird
auch hier hinzutreten müssen, um eine volle
Rentabilität zu gewährleisten. Der Heizwert
trockenen Schiefers wird zu ca. 3650 Kalorien
angegeben. Selbst dort vermag er schon das
Holz als Hausbrand zu verdrängen bzw. zu er-
setzen I
Anhangsweise werden noch kurz wesentlichere
Daten über ähnliche Vorkommnisse im übrigen
Rußland gebracht. Edw. Hennig.
Eine gewichtige Stimme gegen die
Rel ati vitätstheorie.
Unter der Überschrift „Zur Frage der Licht-
geschwindigkeit" hat Lenard in Nr. 5107 der
Astronomischen Nachrichten eine Mitteilung ge-
macht, die berechtigtes Aufsehen erregen dürfte.
L. erklärt, daß es ihm gelungen sei, den Wider-
spruch zwischen dem IVI i c h e 1 s o n sehen Versuch,
der eine Mitführung des Äthers durch die Erde
zu beweisen scheint, und der Aberration, die das
Gegenteil verlangt, auf einfache Weise ohne die
Relativitätstheorie zu erklären. Auch alle die
Ergebnisse der Relativitätstheorie, deren Zutreffen
man bisher als Beweise für die Theorie auffaßte
(die Lichtgeschwindigkeit als Grenzgeschwindig-
keit der Kathodenstrahlen, die Masse als Funktion
der Geschwindigkeit, die Trägheit der Energie),
sind nach Lenard gar keine Ergebnisse dieser
Theorie und vermögen sie daher auch nicht zu
stützen. Lenards neue Erklärungen stützen sich
auf die Hypothese, daß man zweierlei Äther zu
unterscheiden habe, einen ruhenden, das ganze
Weltall erfüllenden Uräther, und einen von den
Weltkörpern nach Art der Atmosphären mitge-
fiihrten Äther. Genaueres hierüber wird in einem
„Über Äther und Uräther" betitelten Aufsatz in
Starks Jahrbuch für Radioaktivität und Elek-
tronik, sowie in einer demnächst selbständig im
Buchhandel erscheinenden Abhandlung Lenards
mitgeteilt werden. Der als eine der ersten Kapa-
zitäten auf dem Gebiete der Physik anerkannte
Forscher glaubt jedenfalls, durch seine neue Hypo-
these der Relativitätstheorie die physikalische
Grundlage entzogen zu haben, so daß man sie
in Zukunft nicht mehr so ernst zu nehmen brau-
chen wird wie bisher. Kbr.
Die Radial geschwiudiglieiten der veriinder-
licheu Sterne.
Die veränderlichen Sterne vom Typus der be-
kannten Mira Ceti zeigen in bezug auf ihre Ge-
schwindigkeiten in der Gesichtslinie gewisse Ge-
setzmäßigkeiten, über die Ludendorff und
Heiskanen in Nr. 5107 der Astron. Nachrichten
berichten. Diese Sterne zeigen meist sowohl helle
wie dunkle Spektrallinien und die bereits früher
von Merrill gemessenen Verschiebungen der
hellen Emissionslinien stimmen mit den vermut-
lich den wahren Geschwindigkeiten der Gestirne
entsprechenden Verschiebungen der dunklen Linien
nicht überein, vielmehr sind bei 13 Sternen die
dunklen gegen die hellen Linien verschoben um
Beträge J, die gut dargestellt werden durch die
Formel J=^-\-0,0% km (P — loo), in der P die
Lichtwechselperiode in Tagen bedeutet. Im Durch-
schnitt sind die Radialgeschwindigkeiten recht
groß, nämlich 32,2 km.
L. und H. fanden nun eine interessante Be-
ziehung zwischen den Periodenlängen und den
Radialgeschwindigkeiten. Sie teilten die Sterne
des Mira Ceti-Typus in 5 Gruppen mit wach-
senden Periodenlängen und fanden für diese
Gruppen folgende Durchschnittswerte:
Periode Radialgeschwindigkeit
153 Tage 63 km
266 „ 38 „
323 ,, 33 »
365 „ 27 „
432 „ 14 „
Die absoluten Geschwindigkeiten (p) werden
also mit wachsender Periodenlänge (P) kleiner,
angenähert nach der Formel
Q =0,17 (500 — P).
Trägt man alle Einzelwerte von q in eine
graphische Darstellung ein, so ergibt sich min-
destens als sicher, daß die Streuung der Radial-
geschwindigkeit mit zunehmender Periodendauer
abnimmt. Auch die seitlichen Eigenbewegungen
dieser Sterne zeigen, obgleich sie noch erst bei
wenigen ermittelt sind, für kürzere Perioden größere
Beträge. Bildet man zwei Gruppen, so ergibt sich
im Mittel
p . , jährliche Eigenbewegung Anzahl
Periode ^^ ^^^ Sphäre der Sterne
264 Tage 0,102" 8
410 „ 0,042" 7
Eine ganz ähnliche Abhängigkeit der Radial-
geschwindigkeit von der Periode zeigen nach
S h a p 1 e y ( Astrophys. Journal, 1888, p. 219) die
Veränderlichen vom dCephei-Typus. Hier haben
die Sterne, deren Perioden kürzer als ein Tag
552
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3S
sind, weit größere Geschwindigkeiten, als die
übrigen Sterne des gleichen Typus.
Unter den Sternen der zweiten und dritten
Spektralklasse haben allgemein diejenigen mit
kleinerer absoluter Helligkeit größere Geschwin-
digkeiten als die helleren. Dieses scheint nun bei
den (J Cephei-Sternen auch zuzutreffen, da bei ihnen
die Periodenlänge mit der absoluten Helligkeit ab-
nimmt. Auch bei den Mira-Sternen haben die-
jenigen mit geringerer Helligkeit kürzere Perioden.
So scheint also zwischen den Mira-Sternen und
denen der fi-Cephei-Gruppe eine Verwandtschaft
gefunden zu sein. Beide Gruppen von Veränder-
lichen dürften auch sog. Riesensterne sein, aber
wichtige Unterschiede zwischen beiden Gruppen
sind doch vorhanden. So zeigen die dCephei-
Sterne im Gegensatz zu den Mira-Sternen peri-
odische Linienverschiebungen, auch sind sie nicht
so gleichmäßig wie letztere über alle galaktischen
Breiten verteilt.
Die seinerzeit von Merrill auf Grund der
Messungen an den hellen Spektrallinien ange-
nommene Strombewegung der Mira-Sterne nach
dem Antiapex der Sonnenbewegung hin ist nach
den neuen Untersuchungen von Ludendorff
und Heiskanen nicht bestätigt worden.
Kbr.
Neues vom Algol.
Der veränderliche Stern Algol, dessen regel-
mäßig alle 2,87 Tage wiederkehrende Verdunke-
lung bekanntlich auf Bedeckung durch einen
dunklen Begleiter zurückgeführt wird, ist in den
Jahren 1910 — 1920 durch Stebbins mit einem
sehr empfindlichen, photoelektrischen Photometer
sorgfältig beobachtet worden, wobei unsere Kennt-
nis von diesem interessanten System nach ver-
schiedenen Richtungen hin wesentlich erweitert
wurde (siehe Astrophysical Journal, März 1921).
Während die Helligkeit des Algol in der Zwischen-
zeit zwischen zwei Minima früher für konstant galt,
hat die photoelektrische Messung derselben das
schon vordem mit einem SelenPhotometer ge-
fundene Vorhandensein eines sekundären Minimums
bestätigt, das 34,65 Stunden nach dem Haupt-
minimum stattfindet. Auch zeigte sich jetzt, daß
die Helligkeit vom Ende des Hauptminimums ab
langsam um 0,03 Größenklassen ansteigt, um dann
ebenso allmählich wieder herabzugehen. Das Haupt-
maximum wird jedoch durch das 8 Stunden in
Anspruch nehmende sekundäre Minimum unter-
brochen, währenddessen die Helligkeit um 0,05
Größen, also bis etwas unterhalb der Helligkeit
vor und nach dem Hauptminimum, sinkt. Das
Hauptminimum nimmt 9,66 Stunden in Anspruch,
die Helligkeit in der Mitte dieser Zeit ist um
1,20 Größenklassen geringer als vor- und nachher.
Aus dieser nun recht genau bekannten Licht-
kurve ergibt sich, daß der Radius des helleren
Sterns 0,207, '^^'' '^^^ dunkleren dagegen 0,244
des Halbmessers der ziemlich genau kreisförmigen
Bahn beträgt. Beim Hauptminimum bedeckt das
dunklere Gestirn 0,7 der Fläche des helleren,
während umgekehrt das sekundäre Minimum da-
durch zustande kommt, daß der hellere Stern
den dunkleren verdeckt, der sonach auch nicht
völlig dunkel sein kann. Von der Gesamthellig-
keit des Systems entfallen 92 '/j % auf die hellere
Komponente. Das langsame, geringe Ansteigen
der Helligkeit des Algol in der Zeit zwischen
dem Hauptminimum und dem sekundären deutet
darauf hin, daß die dunklere Komponente wohl
infolge der Bestrahlung durch die hellere, uns
nach Beendigung der Bedeckung mehr und mehr
von ihrer helleren Seite zukehrt, so daß die Algol-
helligkeit kurz vor dem sekundären Minimum ihr
Maximum erreicht, weil dann die uns zugewandte
Seite des dunkleren Sterns fast völlig auch von
dem helleren Stern bestrahlt ist. Während daher
die hellere Seite des dunkleren Sterns 7,5 "/q der
maximalen Totalhelligkeit aufweist, kommt auf
das Eigenlicht der dunkleren Seite nur 4,5 "/„
derselben.
Geringe Abweichungen der Gestalt von der
Kugelform sind durch die Lichtkurve gleichfalls
angedeutet. Als zurzeit genaueste Formel für
das Hauptminimum ergibt sich:
Minimum = lul. Tag 2422321,5947 + 2,867301 E.
Der Eintritt des Minimums ist zur Zeit nur
um 0,0003 Tage unsicher. Noch genauere Er-
gebnisse über das Algolsystem sind erst zu er-
warten, wenn Näheres über den dritten dazu ge-
hörigen Stern bekannt sein wird, dessen Vor-
handensein sich durch eine etwa zweijährige Periode
der Radialgeschwindigkeit des sichtbaren Gestirns
zu erkennen gibt und der auch geringe Störungen
in der Bewegung der beiden Hauptsterne hervor-
rufen muß. Kbr.
Über Kiefer- uud Zahnwachstum uud deu
„liorizontaleu Zahiiwechsel".
Zu diesem Gegenstand hat O. Aichel eine
größere Abhandlung veröffentlicht, wozu ihm
Schädel- und Unterkieferaltersserien von Mensch
und indischem Elefant, daneben Manatus und
Phacochoerus zu Gebote standen. Seine von der
übhchen Darstellung teilweise weit abweichenden
Anschauungen sind im folgenden kurz behandelt.
Zunächst wird der Zahndurchbruch be-
handelt. Er wird bedingt i. durch krönen wärts
gerichtetes Wachstum der Schmelzkappe, 2. durch
Resorption der Alveolarränder. Mittelbar beteiligt
sind 3. Wurzelwachstum und 4. Kieferwachstum.
Diese Vorgänge werden ebenso wie das Wachs-
tum des Unterkiefers an Schemata erläutert.
Alveole nbildung. Hier interessiert, daß das
Alveolarseptum als Bildung des Alveolarperiosts
zu betrachten ist, zur Verkleinerung der Alveole,
') O. Aichel, Kausale Studie zum ontogenetischen und
phylogenetischen Geschehen am Kiefer. Mit besonderer Be-
rücksichtigung von Elepbas und Manatus. Abb. d. preufi.
Akad. d. Wiss. Berlin 19 18.
N. F. XX. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S53
wenn der Zahn fertig gemacht wird. Auch um-
gibt das Alveolarperiost den Zahnkeim mit einer
Knochenhülle, die erst mit dem Kieferknochen
verschmilzt, wenn der Keim seine definitive Größe
und Lage erreicht hat.
Seine Meinung über die funktionellen
Unterschiede im Gebiß hat A. schon früher
dargelegt (Das Problem der Entstehung der Zahn-
form. Arch. f. Anat. u. Physiol. Suppl. 1915).
Unter Ablehnung aller bestehenden Theorien
kommt er zu dem Ergebnis, daß die Zahnform
nicht auf funktioneljer Anpassung beruht, sondern
auf „Zellvariation der den Zahnkeim zusammen-
setzenden Grundgewebe". Die Ursachen dieser
Variationen sind unbekannt. „Nicht die Nahrung
beeinflußt die Zahnform, sondern die Zahnform
die Wahl der Nahrung." Größenzunahme der
Zähne beeinflußt den Kiefer durch stärkere Be-
anspruchung, Abänderung der Kieferform kann
die Zahngröße beeinflussen. Niemals aber können
äußere Reize, welche die fertige Zahnkrone
treffen, vererbliche Umprägungen der Zahnform
verursachen, denn der Schmelz ist ein totes, zell-
loses Produkt, das auf Reize gar nicht reagieren
kann! — Die Funktionsdauer eines Zahnes
ist abhängig von der Zahngröße, Zahnform, Zahn-
struktur und von der Qualität der Nahrung. Bei
Homo, Elephas, Manatus und Phacochoerus ist
„physiologischer Zahnausfall" beobachtet,
d. h. auch ein gesunder, nicht gänzlich abgenützter
Zahn fällt zu einer annähernd bestimmten Zeit
aus. Dieser Ausfall wird durch Wurzelresorption
eingeleitet. Je früher eine Wurzel ihr Wachstum
beendet, desto eher wird sie nach einer gewissen
Frist resorbiert. — Der sog. „horizontale
Zahnwechsel" — damit kommen wir zum
Hauptgegenstand der Abhandlung — bei Elephas
und Manatus ist ein unbewiesener, hypothetischer
Vorgang. Lediglich die einseitige Beobachtung
der Lagebeziehungen der Molaren zum Kiefer-
knochen täuscht eine Vorwärtsbewegung der Zahn-
reihe vor. Dieses Vorschieben sollte unter dem
Druck des nachrückenden Zahnes auf den vor
ihm stehenden derart geschehen, daß vorn an
der Alveolarwand und dem Septum interalveolare
Knochen angebaut, hinten an diesen Wänden da-
gegen abgebaut wird. In Wirklichkeit bewegen
sich nicht die Zähne im Kiefer vorwärts, sondern
der Kiefer wächst über die Zahnreihe hinweg
nach hinten und wächst gleichsam die in der
Tiefe gebildeten Zahnkeime nacheinander frei.
Sein Wachstum ist grundsätzlich nicht von dem
bei allen anderen Säugetieren verschieden ; es
unterliegt denselben Gesetzen : Überall wo der
Knochen beansprucht wird, bildet er Knochen-
substanz; wo er nicht beansprucht, bildet sich
der Knochen zurück. „Beanspruchung weckt die
Osteoblasten, Entlastung die Osteoklasten. Periost-
reizung durch Zug bedingt Anbau, Druck auf
das Periost veranlaßt Abbau." Das scheinbare
Sondergeschehen im Kieferwachstum und in der
„Zahnschiebung", besser gesagt in der (passiven)
Funktions folge der Zähne von vorn
nach hinten (mit gleichzeitiger Funktion zweier
jElephas] oder mehr [Manatus] Zähnen) erklärt
sich aus der Tektonik des Schädels. Diese
ist das Ergebnis der Umformung eines langen
und niedrigen Schädels zu einem verkürzten, hoch-
aufgetürmten (Paläomastodon - Mastodon- Elephas),
infolge Entwicklung schwerer Stoßzähne und eines
langen Rüssels vorn, und eines starken Nacken-
bandes und kräftiger Nackenmuskulatur hinten an
der Schädelkapsel. Die Kieferverkürzung reduziert
das Gebiß, bei Elephas führt sie im Unterkiefer
zum Verlust des gesamten Antemolarengebisses.
Der Verlust wird durch steigende Längenzunahme
der Molaren ausgeglichen, die Länge der Zahn-
reihe wird größer als die Kieferlänge und die
Zahnleiste daher spiralig aufgebogen; die Molaren-
keime überlagern ihre Vorgänger. Die Tektonik
des Kieferknochens, die im Aufbau neuer Knochen-
massen an den funktionell beanspruchten Stellen,
in Abbau vorhandener an den nicht beanspruchten
besteht, also der Umbau des Kiefers unter Ver-
größerung, bringt die fertigen Zähne unter
Drehung in die Gebrauchsstellung, im Unter-
kiefer aus dem Kieferast in den Kieferkörper.
Die Kinngegend gerät bei den Proboscidiern
in der Phylogenese wie Ontogenese zunehmend
aus dem Bereich der Beanspruchung, sie wird
(wie der Alveolarrand) dauernd entlastet und daher
abgebaut. Der stärkste Anbau erfolgt am Kiefer-
ast hinten und unten, dort wo die großen Zahn-
keime sich bilden. „Würde der Unterkiefer ent-
sprechend der geltenden Vorstellung an der Kinn-
gegend nichts verlieren, so müßte die gesamte
Zahnreihe gleichzeitig im Kiefer Platz finden; der
Unterkiefer müßte also so lang sein, daß er den
Vorderteil des Oberkiefers durchwachsen haben
müßte, oder das Maul des Tieres wäre gesperrt
worden." Durch die Resorption vorn am Unter-
kiefer und den Zuwachs hinten und unten er-
fährt der Kiefer während seines Wachstums eine
bedeutende Rückwärtsverlagerung, welcher der
Oberkiefer durch Herabsenken der Stoßzähne und
Molaren folgt. Im Oberkiefer können natürlich
die durch den Altersausfall des vordersten Backen-
zahnes freiwerdenden Knochenteile nicht durch
Resorption verschwinden, da sie ja zwischen den
wachsenden Stoßzähnen (vorn) und ihren Nach-
folgern (hinten) liegen; sie werden umgebaut.
Tatsächlich liegt in der außerordentlich starken
Resorption am Kiefervorderende, wie sie nach
A.s Darstellung vorhanden ist, doch ein Sonder-
geschehen. Eine Überprüfung der Aichelschen
Theorie, die Ref. an Mastodonunterkiefern vorge-
nommen hat, ergab einen der Theorie wenig
günstigen Befund. Hierüber wird Ref. an anderer
Stelle berichten.
Auch bei Manatus ist keine Vorwärtsbe-
wegung der Zähne bzw. der Zahnreihe anzu-
nehmen. Durch Kieferwachstum werden am
hinteren Ende der Zahnreihe die Molaren frei.
Vorn werden einige Molaren durch das Wachs-
554
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 38
tum der Hornplatten des Kiefers entfernt. Auch
findet vorn am Unterkiefer Resorption statt, so-
weit das Kinn nicht in den Bereich der Bean-
spruchung fallt.
Bei Phacochoerus wird der Kieferkörper
in der Nähe des Kieferastes zugleich mit und in-
folge der Vergrößerung der Molaren mächtiger
als bei anderen im Gebiß weniger spezialisierten
Schweinen. Mit der Zunahme der Masse des
Basalteils des Kieferkörpers wird der Alveolarteil
an seinem Oberrand entlastet (wie bei Mensch
und Elephas) und abgebaut. Die vorderen sehr
kleinen Molaren werden dadurch bis zur Wurzel
freigelegt. Ihre Wurzeln verfallen der Resorption.
Beim erwachsenen Phacochoerus funktioniert nur
noch der außerordentlich langkronige letzte Molar.
Eine Kieferkürzung kann nicht eintreten, da die
mit den Hauern, Schneidezähnen und Rüssel ver-
sehene Schnauze stark beansprucht wird.
Zum Schluß erörtert A. die Frage, warum
bei Elephas die Prä molaren fehlen. Seine
neue Kieferwachstumstheorie gibt ihm darauf eine
klare Antwort : Da die vorderen Abschnitte des
Unterkiefers im Lauf der Ontogenese zugrunde
gehen, müssen auch die zwischen den Wurzeln
der Milchmolaren sich entwickelnden Prämolaren
umkommen. Ihr Bett wird zerstört. — Auch in
der Stammesgeschichte der Elefantiden vollzieht
sich dieser Vorgang und A. findet an den fossilen
Formen seine Theorie bestätigt. Wo untere Stoß-
zähne dank ihrer Funktion erhalten sind, können
trotz Kieferverkürzung und Größenzunahme der
Molaren Prämolaren vorhanden sein. „Fehlen der
unteren Stoßzähne bei Anwesenheit von Prä-
molaren würde bedeuten, daß der Abschnitt, in
dem die Prämolaren sitzen, durch Kleinheit der
Molaren oder durch schräge Angrififsrichtung der
Muskulatur noch in das Beanspruchungsgebiet des
Kiefers gefallen ist."
Die bekannten fossilen Formen fügen sich zwar diesen
Überlegungen, aber es ist doch im Auge zu behalten, daß
zwischen dem unteroligozänen Paläomastodon mit geschlosse-
ner Zahnreihe von 6 gleichzeitig funktionierenden Backen-
zähnen und den ältesten bekannten untermiozänen Mastodonten,
die bereits eine Funktionsfolge der Zähne zeigen, eine Lücke
klafft, aus der wir keinen einzigen Elefantiden kennen. Ge-
rade diese Formen brauchen wir aber, um die zum Verlust
der Prämolaren führenden Ursachen erkennen zu können.
Aichels Ableitungen erklären den Vorgang nicht restlos,
denn wir sehen, daß in der Reihe Mastodon angustidens-lon-
girostris-arvernensis, die Prämolaren dahinschwinden, obwohl
bei Mastodon longirostris und seinen Übergangsformen, die
unteren Stoßzähne sich progressiv verhalten, die Schädelkapsel
niedrig bleibt und die Richtung der am Kiefer angreifenden
Muskeln sich gegen Elephas angustidens kaum ändert. Es
scheint, daß bei Mastodon die Stoßzähne (Jj) die gleiche
Rolle spielen wie bei Phacochoerus die Eckzähne : sie unter-
minieren in dem niedrig bleibenden Kieferkörper das Bett
der Prämolaren und veranlassen so ihr Schwinden.
W. O. Dietrich, Berlin.
Die Sangorgane der Mistel.
(Mit I Abb.)
Die herrschende Ansicht, daß die Mistel (Vis-
cum album) ein Halbschmarotzer sei, der seinem
Wirte nur die im Wasser gelösten Stoffe ent-
nehme, ist mehrfach angefochten worden. Für
die Entscheidung der Frage muß der genauen
Kenntnis des anatomischen Baues der Saugorgane
des Parasiten besondere Wichtigkeit beigemessen
werden. Obwohl nun schon Malpighi (1686)
Untersuchungen hierüber ausgeführt und in späterer
Zeit vorzugsweise Unger (1840), Schacht (1854),
Pitra(i86i), Harley(i863) und Solms-Lau-
bach (1868) sich damit eingehender beschäftigt
haben, sind doch in den letzten 50 Jahren keine
Arbeiten über den feineren Bau der Saugorgane
erschienen, soviel die Mistel auch sonst be-
handelt worden ist. Hierauf weist Hans Mel-
chior in der Einleitung zu einer Abhandlung
hin, worin er die Hauptergebnisse seiner von
191 7 — 1919 im Pflanzenphysiologischen Institut
der Universität Berlin durchgeführten Unter-
suchungen über den Gegenstand mitteilt und im
wesentlichen folgendes darlegt (Beiträge zur Allg.
Botanik Bd. 2, S. 55 — 87. Berlin 192 1).
Die Keimpflanze der Mistel sendet, wie be-
kannt, zuerst in den Ast oder Stamm ihres Wirtes
ein Saugorgan, den „primären Senker", von dem
seitliche, innerhalb der Rinde hinwachsende „Rin-
densaugstränge" — gewöhnlich „Rindenwurzeln"
genannt — ausgehen, die ihrerseits senkrecht zu
ihrer Wachstumsrichtung neue (sekundäre) Senker
ausschicken. Die Rindensaugstränge zeigen dor-
siventrale Ausbildung (s. die Abb.). Sie enthalten
Querschnitt eines 2,25 mm breiten Saugstranges. R = Rinden-
parenchym, H = Hadrom, C = Cambiale Zone, L = Leptom
der Gefäßbündelstreifen, U = unverholzter, V= verholzter Teil
der markstrahlartigen Parenchymlamellen.
innerhalb eines Mantels von Parenchymgewebe
einen „Zentralstrang" von Leitbündelgewebe, der
aus einzelnen, nach der Bauchseite des Rinden-
saugstranges (d. h. seiner dem Innern des Wirts-
astes zugekehrten Seite) fächerförmig zusammen-
laufenden Streifen besteht. Der größere Teil
jeder dieser Gefaßbündelstreifen (der Bauchseite
genähert) wird von Wasserleitungsgewebe (Hadrom)
gebildet, während der als Leptom (eiweißleiten-
des Gewebe) aufzufassende Abschnitt reduziert
ist und der charakteristischen Siebröhren entbehrt.
Die Entwicklungsgeschichte des Zentralstranges
spricht dafür, daß er ein einziges kollaterales Ge-
fäßbündel darstellt; doch könnte man auch an-
N. F. XX. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift,
555
nehmen, daß er aus einem Gefäßbündelring durch
Rückbildung der auf der Bauchseite des Saug-
stranges gelegenen Bündel hervorgegangen sei.
Das den Zentralstrang umkleidende Rinden-
parenchym hat da, wo es an die Rindenzellen
des Wirtes grenzt, stärker verdickte Zellwände,
die (abweichend von den anderen Zellwänden
des Parenchyms) keine Tüpfel zeigen. Somit
spricht nichts für eine Absorption von Nähr-
stoffen durch die Oberfläche des Rindensaug-
stranges. Eigentümlich ist diesem die grüne
Farbe, die auf dem Vorhandensein von Chloro-
phyllkörnern im Rindenparenchym beruht, das
auch große Mengen von Stärke enthält. Eine
weitere Eigentümlichkeit des Rindensaugstranges
ist die pinselartige, weiße Spitze, die einer Wurzel-
haube gleicht und noch zuletzt S o 1 m s - L a u -
bach veranlaßt hat, das ganze Organ für eine
echte Wurzel zu erklären, nachdem schon die
früheren Forscher es zumeist so aufgefaßt hatten.
Melchior erkennt zwar an, daß die Strangspitze
in funktioneller Hinsicht mit einer Wurzelhaube
zu vergleichen ist, weist aber auf gewisse anato-
mische Besonderheiten hin, und will auch den
Besitz eines wurzelhaubenähnlichen Organs, da
es eine Anpassungserscheinung sei, nicht als aus-
schlaggebendes Merkmal für die Wurzelnatur des
Rindensaugstranges gelten lassen. Bau und Ent-
wicklungsgeschichte des Leitbündelsystems wie
die wahrscheinlich exogene Entstehung des Saug-
stranges sprächen vielmehr für dessen Stengel-
natur. Doch könne er auch mit Eich 1er als
Organ sui generis aufgefaßt werden.
Die Senker der Mistel dringen nur bis zum
Kambiumring des Wirtsbaumes vor, treten nicht
aktiv in dessen Holz ein, werden aber bei dem
jährlichen Dickenzuwachs vom Holz umwallt und
in dieses eingesenkt, während sie selbst an ihrem
Grunde fort wachsen. Sie bestehen aus Paren-
chymzellen und aus zu Bündeln vereinigten Ge-
fäßen (Tracheen), in denen die Leitung des Wassers
erfolgt. Eigentliche Leptomelemente fehlen, doch
hält Verf. es für möglich, daß gewisse schmale
Parenchymzellen in der Umgebung der Tracheen
die eiweißleitenden Elemente des Senkers dar-
stellen. Die übrigen, mehr peripher gelegenen
Parenchymzellen sind weitlumiger und weniger
langgestreckt. Ihre Wände sind wie auch die der
anderen unverholzt und reichlich mit Tüpfeln ver-
sehen; es fand sich aber keinerlei Anzeichen für
einen Stoffaustausch zwischen ihnen und dem be-
nachbarten Gewebe des Wirtes. Doch treten bei
alten Senkern in gewissen Bezirken Parenchym-
zellen mit verholzten Wänden auf, deren Tüpfel
besonders im Koniferenholz häufig mit den Hof-
tüpfeln der Fasertracheiden korrespondieren und
möglicherweise an der Wasserleitung beteiligt
sind. Sonst wird diese durch die Tracheenbündel
besorgt, die im unteren Teil des Senkers bogen-
förmig nach dessen Peripherie hin verlaufen, sich
mit ihren Endgliedern den wasserleitenden Ele-
menten des Nährholzes anlegen und sich in
diese vorwölben. Die Wände zwischen den beider-
seitigen Leitungszellen werden ganz oder teilweise
aufgelöst, so daß sie in offene Verbindung mit-
einander treten. Bei der Kiefer werden meist
die Schließhäute der Fasertracheiden — und
nur diese — aufgelöst. Bemerkenswert ist, daß
bei der vom Verf. untersuchten amerikanischen
Balsamtanne (Abies balsamea), wovon er ein mit
Mistel besetztes Stammstück aus den Kulturen
von Prof. Heinricher erhalten hatte, die Schließ-
häute nicht aufgelöst werden. Im Hinblick dar-
auf, daß Viscum album in Amerika nicht vor-
kommt, hält Verf. es für möglich, daß unsere
Mistel sich der Balsamtanne noch nicht voll-
ständig anpassen konnte. Eine Kommunikation
der Tracheen des Senkers mit anderen Zellen
als den Wasserleitungsröhren konnte weder bei
Laub- noch bei Nadelholz festgestellt werden.
Hieraus ergibt sich — obwohl Verf. dies nicht
ausdrücklich hervorhebt — die Richtigkeit der
Annahme, daß die Mistel ein Wasserparasit
ist. Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß
ihr immer und ausschließlich nur anorganische
Salze zugute kommen, denn in den Wasser-
leitungsbahnen mancher Holzarten werden zeit-
weise auch organische Stoffe befördert, — man
denke nur an den zuckerhaltigen Blutungssaft
der Birke und des Ahorns, die beide beliebte
Mistelwirle sind. F. Moewes.
Für und wider Darwiu.
In seinem Buche „Das Werden der Organismen"
hat sich Oscar Hertwig mit großer Schärfe
gegen Darwins Selektionstheorie gewandt.
Study hat den ablehnenden Standpunkt Hert-
wigs einer eingehenden Prüfung unterzogen und
seine Ergebnisse in einem längeren Aufsatz : Eine
Kritik des Darwinismus" (Zeitschrift für induktive
Abstammungslehre 1920) niedergelegt. Zur Recht-
fertigung der Selektionstheorie hat Study in sehr
scharfsinniger Weise 24 Punkte zusammengestellt,
in denen er Hertwigs Irrtümer aufzudecken
sucht.
Es würde natürlich zu weit führen, die Aus-
führungen S t u d y s hier in ihrem ganzen Umfange
wiederzugeben. Einige Hauptpunkte mögen her-
vorgehoben werden. Vor allem wird Hertwig
völliger Mangel an historischer Treue zum Vor-
wurf gemacht. Seine Auffassung von der Selek-
tionstheorie ist überreich an Mißverständnissen
der Lehre Darwins, worauf auch Thiem und
Kammerer hingewiesen haben. Hertwig
konstruiert eine Karrikatur der Darwinschen
Selektionstheorie, um dann seinen Lesern die
P^ehler und Schwächen dieses Zerrbildes zu ent-
hüllen. Jedoch „gerade die Angaben, auf die
Hertwig seine abfälligsten Urteile gründet, er-
weisen sich als willkürliche Unterstellungen, stehen
sogar mit Darwins unzweideutigen Worten in
diametralem Widerspruch." Den Beweis für diesen
schwerwiegenden Vorwurf tritt Study dadurch
556
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 38
an, daß er den Unterstellungen Hertwigs über
den angeblichen Sinn der Selektionstheorie Zitate
aus Darwins Schriften gegenüberstellt. Andere
Irrtümer Hertwigs beruhen darauf, daß er
Darwin Ansichten zuschreibt, die dieser an-
scheinend niemals geäußert hat. Im folgenden
einige Proben.
Eine „Kardinalfrage" ist für Hertwig die
Frage, ob „durch das Zusammenwirken von Or-
ganismen und äußeren Faktoren bestimmt ge-
richtete oder beliebige unbestimmte Variationen
(Abänderungen) entstehen." Er behauptet dann,
daß „das Darwinsche Prinzip von beliebigen
richtungslosen Veränderungen ausgeht, und diese
allein durch Selektion zur Erzeugung zweckmäßi-
ger und der Umgebung angepaßter Naturprodukte
gerichtet und geordnet werden läßt." Und an
anderer Stelle: „Das Variieren erfolgt hierbei bald
in dieser, bald in jener Richtung; es ist — was
zum Verständnis der Selektionstheorie wohl zu
beachten ist — von Natur aus richtungslos."
Study hat nun trotz seines eingehenden Studiums
von Darwins Werken nirgends solche Behaup-
tungen bei ihm entdecken können: „Hertwig
kommt immer wieder auf diese auch von anderen
unzählige Male wiederholte Behauptung zurück.
Wo aber bei Darwin die Behauptung einer Regel-
losigkeit des Variierens oder gar die der Möglich-
keit , .beliebiger" Änderungen stehen soll , ist mir
unbekannt. Ich fordere hiermit Herrn Hertwig
auf, genau die Stellen anzugeben, auf die er seine
Behauptung stützen will , soweit sie sich auf
Darwins eigene Lehre bezieht." Da Hertwig
selbst diese Frage als eine Kardinalfrage bezeichnet
hat, von der die Beurteilung der Selektionstheorie
im wesentlichen abhängt, so wird man in beiden
Lagern, bei Darwins Anhängern sowohl als
seinen Gegnern, auf seine Antwort gespannt sein.
Ein fundamentaler Irrtum Hertwigs, der in
den verschiedensten Formen wiederkehrt, besteht
nach Study darin, daß er Darwin unterstellt,
dieser habe der Selektion die Kraft zugeschrieben,
eine primäre Veränderung der Organismen herbei-
führen zu können. Die Selektion soll nach dieser
Auffassung Hertwigs also als primäre Ursache
der Neubildungen der Organismen gewertet wor-
den sein. Diese angebliche Ansicht Darwins
wird von Hertwig verschiedentlich scharf be-
kämpft. Er schreibt : „Beim heutigen Stande der
Wissenschaften kann es nicht mehr zweifelhaft
sein, daß Mutationen (erbliche Neubildungen) un-
abhängig von Selektion entstehen." Durch „Nicht-
beachtung dieses Umstandes sei das Problem des
Werdens der Organismen verschleiert worden."
Study weist nun daraufhin, daß Darwin
niemals das erste Entstehen , den Ursprung der
erblichen Abänderungen der Organismen , der
Selektion zugeschrieben hat. Er hat im Gegenteil
die Begriffe der Variabilität und Selektion scharf
geschieden. Er unterschied hinsichtlich des Zu-
standekommens von erblichen Veränderungen der
Organismen klar zwischen der Frage nach den
Ursachen des ersten Auftretens erblicher
neuer Eigenschaften und der Frage nach den Be-
dingungen der Erhaltung und Summierung
der bereits entstandenen Abänderungen. Darwin
hat die Ursache der Entstehung der Neubildungen
nicht, wie Hertwig behauptet, in der Selektion
gesehen, sondern im Dunkel gelassen. Er spricht
ausdrücklich von einer „gänzlichen Unwissenheit
der Ursache jeder besonderen Abweichung". Seine
Selektionstheorie setzt erst mit der Erklärung der
Erhaltung und Summierung bereits vorhandener
Abänderungen ein. Dafür führt Study folgende
Stellen aus Darwins Schriften an: „Einige
Schriftsteller haben . . . gemeint, natürliche Zucht-
wahl führe zur Veränderlichkeit, während sie
doch nur die Erhaltung solcher Abänderungen
einschließt, welche dem Organismus in seinen
eigentümlichen Lebensbedingungen von Nutzen
sind. Niemand macht dem Landwirt einen Vor-
wurf daraus, daß er von den großen Wirkungen
der Zuchtwahl durch den Menschen spricht, und
in diesem Falle müssen die von der Natur dar-
gebotenen individuellen Verschiedenheiten, welche
der Mensch in bestimmter Absicht zur Nachzucht
wählt, notwendigerweise zuerst über-
haupt vorkommen." Und Study behauptet,
„Solche Stellen gibt es noch mehrere." Nament-
lich hat Darwin ausdrücklich gesagt, „daß
Zuchtwahl durchaus gar keine Beziehung
zu der primären Ursache irgendeiner besonderen
Variation haben kann." Selbst für einen Sophisten
muß es unmöglich erscheinen, Hertwigs Vor-
würfe mit diesen Feststellungen Darwins, die
an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen, in
Einklang zu bringen.
Auf einem ähnlichen Mißverständnis scheint
auch Hertwigs Kritik der künstlichen
Zuchtwahl zu beruhen. Hertwig stellt hier
Darwins Lehre so dar, als wenn sie den An-
spruch machte, willkürlich vorgeschriebene Ände-
rungen der erblichen Anlage auf dem Wege der
Selektion erzwingen zu können. Er sucht „das
Inkorrekte in D a r w i n s oberflächlicher Ausdrucks-
weise" durch „wissenschaftliche Prüfung" wie
folgt aufzudecken. „Man braucht dem Züchter
nur ein aus reinen Linien stammendes Rappenpaar
zu geben und ihm die Aufgabe zu stellen, von
seiner Kunst, eine Schimmelrasse aus ihm hervor-
zubringen, eine beweiskräftige Probe abzulegen.
Dann freilich wird er sich nicht ohne Beschämung
zu dem Eingeständnis bequemen müssen, daß es
über seine Kraft und Kunst gehe, einen Rappen
in einen Schimmel zu verwandeln." Study
sagt dazu: „Ganz so hat seinerzeit v. Hammer-
stein . . .die Forderung gestellt, man solle doch
einige Affen aus dem Zoologischen Garten von
Berlin zu Menschen entwickeln." Und er fügt
hinzu: „War Darwin unklar, oberflächlich und
überhaupt unwissenschaftlich, wie H. es behauptet,
so darf das nicht nur gesagt werden, sondern es
soll auch gesagt werden, damit fernerhin ein jeder
gleich zur rechten Schmiede kommen und nicht
N. F. XX. Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
557
erst mit beschwerlichen Umwegen seine Zeit ver-
liere. Aber wer solche Kritik zu üben
unternimmt, muß unbedingt Recht be-
halten. Es darf sich nicht herausstellen, daß
seine Einwände gegenstandslos sind, und noch
weniger, daß lediglich eine P'ahrlässigkeit des
Kritikers vorliegt. So aber steht die Sache be-
dauerlicherweise. Im Ursprung der Arten heißt
es bei Darwin: „Er (der IVlensch) kann weder
Varietäten (d. h. IVIutanten) entstehen machen,
noch ihre Entstehung hindern; er kann nur die
vorkommenden erhalten und häufen." In dem
Abriß der Selektionstheorie, den Darwin dem
Variieren der Tiere und Pflanzen vorausgeschickt
hat, stehen nicht weniger als drei Stellen ähn-
lichen Inhalts. . . . „Übrigens", sagt Study, „kennt
man keinen Grund, warum aus einer reinen Linie
von Rappen nicht auch einmal Schimmel hervor-
gehen können sollte. Unter Wildpferden hat
man meines Wissens weder Rappen noch Schim-
mel gefunden, beide sind erst in der menschlichen
Kultur entstanden."
Noch eine kleinere weitere Probe von Study s
Kritik an Hertwig möge hier Platz finden. Bei
Hertwig heißt es: „Kleine Organisationsunter-
schiede besitzen, auch wenn sie vorteilhaft sind,
keinen Selektionswert." Study sagt dazu: „Wie-
der scheint ähnliches ein ganzes Heer von Autoren
gesagt zu haben, deren H. nicht weniger als neun,
Plate sogar elf aufzählt. Hertwig ist aber da-
bei ein kleiner Unfall zugestoßen, der etwas pein-
lich sein sollte für einen Schriftsteller, der alle
Augenblicke Logik! ruft. Bei erblichen Unter-
schieden, um die allein es sich handelt, ist näm-
lich Vorteilhaft-sein und Selektionswert-haben genau
dasselbe."
Hertwig stellt im Untertitel seines Buches
in Aussicht, daß Darwins Zufallstheorie durch
„Das Gesetz in der Entwicklung" seine Wider-
legung finden soll. Dieses Gesetz in der Ent-
wicklung, welches nach Hertwig des Rätsels
Lösung bringen soll, aber gehört anscheinend leider
zu den Gesetzen, die noch nicht entdeckt sind.
Study sagt : Das ,, Gesetz in der Entwicklung"
ist reine Zukunftsmusik — es ist zugestandener-
maßen völlig unbekannt. Study verweist u. a.
auf folgende Stelle bei Hertwig, „die Verände-
rung der Formen wird von einem Gesetz be-
herrscht, welches wir nicht kennen, welches aber
zu erforschen jetzt die vornehmste Aufgabe für
alle denkend betriebene Biologie sein muß". Das
heißt aber nichts anderes, als daß die Ursache
der Entstehung von Neubildungen, die bereits von
Darwin als in Dunkel gehüllt erkannt wurde,
auch heute noch im Dunkel liegt. „Ohne Frage,
es ist im höchsten IVIaße bedauerlich, daß dieses
wichtige Problem heute noch so hoffnungslos aus-
sieht wie zu Darwins Zeiten. Wenn aber einer
ein Problem heute nicht zu lösen weiß — „wie
kommt er dazu", so fragt Study „einem anderen,
der es vor 60 Jahren nicht lösen konnte, einen
Vorwurf daraus zu machen?" Vaerting.
Bücherbesprechungen.
Die Zwischenprodukte der Teerfarbenfabri-
kation. Ein Tabellenwerk für den praktischen
Gebrauch. Nach der Patentliteratur bearbeitet
von Dr. Otto Lange. Leipzig 1920, Verlag
von Otto Spamer.
Wenngleich sich die Chemie als Wissenschaft
und die chemische Industrie in ihren Arbeiten
vielfach von verschiedenen Gesichtspunkten leiten
lassen, haben die Resultate beider immer wieder
befruchtend aufeinander eingewirkt. Aus nahe-
liegenden Gründen ist aber das geistige Gut, das
die Industrie zutage gefördert hat, nicht in gleicher
Weise allgemein zugänglich wie wissenschaftliche
Arbeiten. Zwar findet sich in der Patentliteratur
der Großteil des Materials, insoweit es überhaupt
bekannt gegeben worden ist, niedergelegt, aber
hier fehlt die ordnende Hand, die den Stoff mit-
teilbar und für weitere Arbeiten nutzbar macht.
Die Chemie der Teerfarbstoffe ist als oft an-
geführtes schönstes Beispiel durch ein derartiges
Ineinandergreifen von theoretischer Forschung und
technischer Auswertung zu bedeutender Aus-
dehnung und Mannigfaltigkeit angewachsen, und
auf ihrem Gebiete nehmen die ersten Umwand-
lungsprodukte der Teerbestandteile, die die eigent-
lichen Bausteine' der Farbstofifsynthese bilden,
ein allgemeines Interesse in Anspruch, das nicht
auf diese besondere Verwendung beschränkt
bleibt. P. Friedlaender, der in einem in
großen Perioden erscheinenden Werke die Fort-
schritte der Teerfarbenfabrikation an Hand der
wörtlich wiedergegebenen Patente beleuchtet, faßt
daher diese Zwischenprodukte in einer eigenen
Gruppe zusammen. Aber es liegt im Wesen der
Sache, daß diese Abgrenzung nicht mit aller
Schärfe durchgeführt werden kann. Einmal werden
viele dieser Zwischenkörper bereits in der Fär-
berei verwendet, sind also gleichzeitig Endpro-
dukte, andererseits ist die Darstellung vieler von
ihnen in den Patenten der Farbstoffe, zu denen
sie weiter verarbeitet werden, beschrieben.
Indem nun O. Lange dieses wichtige Ka-
pitel herausgreift und für sich behandelt, ist es
ihm möglich, — bis auf einige selbst gemachte
Einschränkungen — das gesamte aufgelaufene
Material zu berücksichtigen und unter einem ein-
heitlichen Gesichtspunkt zusammenfassend darzu-
stellen. So hat er ein Nachschlagewerk geschaffen,
das als solches für den praktischen Gebrauch be-
stimmt ist und seinen Zweck, den Farbstoff-
chemiker rasch, sicher und ausreichend über die
Herstellung eines gesuchten Körpers zu unter-
S58
Maturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3S
richten und ihm gleichzeitig einen Überblick über
das Gesamtgebiet zu geben, sicher vollkommen
erreicht.
Die Schwierigkeit lag in der übersichtlichen
Unterbringung der großen Zahl von immerhin
komplizierteren Verbindungen, die in dem Werk
aufgeführt werden. Denn bei solchen Körpern
kann die herkömmliche Benennung je nach der
damit verbundenen Auffassung über ihre Natur
stark wechseln, so daß allein das Formelbild für
ihre Einordnung maßgebend sein konnte und auch
hier ein praktisch verwertbares System erst aus-
gearbeitet werden mußte. In enger Anlehnung
an die gewohnte Einteilung der aromatischen
Verbindungen in die Benzol-, Naphthalin-, An-
thrazen- und Phenanthrenreihe wird die Unter-
teilung durch die Art der Verknüpfung dieser
Ringsysteme mittels Atomketten und schließlich
durch das Auftreten andersartiger Ringsysteme
bedingt. Dadurch, daß die weitere Anordnung
nach den Elementen, aus denen die eintretenden
Gruppen bestehen, geschieht, der Kohlenstoff aber
in einer Reihe mit den übrigen Elementen be-
handelt wird, treten einige Analogien gegenüber
den sonst gebräuchlichen Systemen stärker her-
vor, die auf den Kohlenstoff aufgebaut sind und
so diesem eine Vorzugstellung einräumen.
Eine beigegebene Tabelle unterstützt die Orien-
tierung und ein angeschlossenes alphabetisches
Register ermöglicht auch die Auffindung einer
Verbindung nach ihrer Bezeichnung.
Von den deutschen Reichspatenten, die in
dieser Aufeinanderfolge angeführt sind, wird ein
kurzer Auszug über Darstellung und Eigenschaften
der entsprechenden Verbindung wiedergegeben.
Vorangestellt ist deren Name, Konstitutions- und
Bruttoformel sowie Molekulargewicht. Auf aus-
ländische Patente und einschlägige Literatur ist
fallweise verwiesen. G. Sachs.
Heiberg, J. L., Naturwissenschaften, Ma-
thematik und Medizin im klassischen
Altertum (2. Aufl.); Richert, H., Philo-
sophie, ihr Wesen, ihre Grundpro-
bleme, ihre Literatur (3. Aufl.); Richter,
R., Einführung in die Philosophie
(4. Aufl.); Sommer, G., Leib und Seele
in ihrem Verhältnis zueinander; Ver-
weyen, J. M., Naturphilosophie (2. Aufl.);
Verworn, M., Die Mechanik des Geistes-
ie b e n s (4. Aufl.). — Sämtlich bei B. G. Teubner,
Leipzig-Berlin 1919 und 1920 in der Sammlung
„Aus Natur und Geisteswelt" (Nr. 370, 186, 155,
702, 491, 200).
Diese Darstellungen dürfen, wie wohl weitaus
das meiste der verdienstlichen Sammlung, in ihrem
Umkreise mit gutem Gewissen empfohlen werden,
besonders auch naturwissenschaftlichen Kreisen,
da auch in den drei rein philosophischen Werk-
lein naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten in
weitem Umkreise Rechnung getragen wird. Die
beiden letzten sind Neuauflagen von hier bereits
besprochenen Schriften, auf die nur nochmals
hingewiesen werden soll. — Die Arbeit Heibergs
beschäftigt sich mit einem Thema, zu dem ich
ebenfalls bereits mehrfach in diesen Blättern das
Wort ergriffen habe und zwar in demselben Sinne :
daß die entsprechenden bedeutsamen Leistungen
der Griechen im allgemeinen immer noch zu
wenig gekannt und gewürdigt werden (vgl. meine
Besprechung des ebenfalls bei Teubner erschie-
nenen wertvollen Werkes „Vom Altertum zur
Gegenwart" in Nr. 27 Jahrgang 1920 der Naturw.
Wochenschr.). Sehr nützlich zu einer ersten Ein-
führung ist Richerts „Philosophie", sie enthält viel
Stoff in kleinem Raum und leichtverständlicher,
klarer Behandlung. Eine wertvolle Beigabe ist
ein gutgewähltes reichhaltiges Literaturverzeich-
nis. — Subjektiver und in diesem Sinne anregen-
der, doch naturgemäß weniger Einzelbelehrung
enthaltend, stellt sich R. Richters „Einführung"
dar, die stark von Nietzsche gefärbt ist. — Die
Arbeit G. Sommers endlich möchte ich jedem
empfehlen, dem an einer eingehenden Aufklärung
über das Verhältnis von Leib und Seele, vor
allem einer ausführlichen Erörterung der Paralle-
lismus- und der Wechselwirkungstheorie gelegen
ist, welche Erörterung den größten Teil des
Buches einnimmt. Das Endergebnis des Ver-
fassers geht aus der Schlußangabe hervor, daß
trotz aller Schwierigkeiten der Stand der Dinge
heute der Annahme günstig sein dürfe: „daß das
Verhältnis zwischen Leib und Seele als ein kau-
sales im Sinne der Wechselwirkungstheorie zu
bestimmen sei". Dies gibt zu denken, nachdem
die Parallelismustheorie eine Zeitlang so sehr im
Vordergrund gestanden hat. v. Wasielewski.
Zwölf länderkundliche Studien. Von Schülern
Alfred Hettners ihrem Lehrer zum 60. Geburts-
tag. 347 S. Breslau 1921, Hirt. 60 M.
Schüler des verdienstvollen Heidelberger Geo-
graphen haben sich zusammengetan, um ihm zum
60. Geburtstag eine Sammlung von Aufsätzen dar-
zubringen, in der seine Lehre zum Ausdruck kommt,
welche die Länderkunde als Wesen und Inhalt der
Geographie begreift. Die Aufsätze beschränken
sich auf knappe Darstellungen länderkundlicher
Einheiten. Im ersten derselben versucht Ernst
Wähle ein Bild der geographischen Umwelt
des Menschen in Deutschland zur jüngeren Stein-
zeit zu geben. Drei weitere Beiträge zu dem
Jubiläumsbuch schildern einzelne deutsche Land-
schaften, nämlich die westpiälzische Moorniederung
(Daniel Häberle), das badische Bauland (Fried-
rich Metz) und Oberschlesien (Bruno Diet-
rich). F"rüchte geographischer Forschung während
des Weltkrieges sind die Aufsätze über Litauen
(Oscar Schmieder) sowie Mazedonien und
Albanien (Fritz Klute). Ein lebhaftes Bild des
Jordangrabens gewährt Valentin Schwöbel
und einen charakteristischen Erdraum Ostasiens,
die Landschaften an der japanischen Inlandssee,
schildert H. Schmitthenne r. Die letzten vier
U. F. XX Nr. 38
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
559
Aufsätze endlich sind Beiträge zur Landeskunde
der bisherigen deutschen Kolonien, sie führen uns
die Inselberglandschaft von Nordtikar in Kamerun
(von F. Thorbeke), Ostafrika (Carl Uhlig),
Deutsch-Südwestafrika (Fr. Jäger) und das süd-
liche Namaland (Leo Waibel). Alle Autoren
haben es meisterhaft verstanden, die wesentlichen
Züge der Landschaftsbilder in kurzen Strichen zu
zeichnen und die gestaltenden Kräfte aufzuzeigen.
Beigegeben sind 48 Naturaufnahmen, Pläne, Profile
und Karten. H. Fehlinger.
Hering, Ewald, Fünf Reden. 140 S. Leipzig
1921, W. Engelmann.
Diese Sammlung der klassischen Reden Herings
ist auf das Wärmste zu begrüßen, weil sie z. T.
bisher nur in der schwer erhältlichen Prager Zeit-
schrift Lotos zu finden waren.
Ganz besonders sei auf die fundamentale
„Theorie der Vorgänge in der lebendigen Sub-
stanz" hingewiesen, und auf die berühmte Rede
über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion
der organisierten Materie. Die klare Darstellung
und ihre Sprache heben diese Reden hoch über
das Niveau anderer akademischer Reden oder Vor-
lesungen, und auch der Laie wird sie, fast wie
ein Kunstwerk, genießen und sich der Tiefe der
hier entwickelten Gedanken erfreuen.
Brücke (Innsbruck).
Fröhlich, F. W., Grundzüge einer Lehre
vom Licht- und Farbensinn. Jena 1921,
G. Fischer.
Die hier aufgestellte Theorie fußt im wesent-
lichen einerseits auf dem vom Verf. erbrachten
Nachweise, daß das Licht in den Augen mancher
Tiere oszillatorische Erregungen auslöst, anderer-
seits auf der von Fröhlich, Verworn u. a.
verfochtenen Theorie, daß die Hemmungsvor-
gänge im Zentralnervensystem als wechselseitige
Störung gleichzeitig einwirkender rhythmischer
Erregungen anzusehen seien.
In ein kurzes Referat läßt sich der Inhalt des
Buches nicht zusammenfassen. Der Gedanke, die
Tatsachen der physiologischen Optik vom Stand-
punkte der allgemeinen Physiologie des Zentral-
nervensystems aus zu betrachten, kann sicher
fruchtbar werden. Deshalb ist das vorliegende
Buch zu begrüßen, obwohl es nicht ohne Wider-
spruch hingenommen werden kann.
Brücke (Innsbruck).
Noetling, Dr. Fritz, Die kosmischen Zahlen
der Cheopspy ramide der mathemati-
sche Schlüssel zu den Einheitsgesetzen
im Aufbau des Weltalls. 181 Seiten.
Stuttgart 1921, E. Schweizerbart. Geh. 23 IM.
Trotz des Titels hat der Inhalt des Buches
mit den wahren Zahlen der Cheopspyramide gar
nichts zu tun. Verf. entnimmt dem Roman von
IMax Eyth, „Der Kampf um die Cheopspyra-
mide", die Ausmessungen von Piazzi Smyth
an der bekannten Truhe, die die Mumie barg.
Da ihm diese Zahlen für seine Theorie, daß näm-
lich die Pyramide überall in Beziehung zur Zahl
7T stände, nicht recht passen, so entstellt er sie
willkürlich, und obwohl die Messungen von
Smyth und Flinders Petrie unter sich Ab-
weichungen von erheblichen Bruchteilen des Zolles
zeigen, rechnet Noetling mit 10, 18 und noch
mehr Dezimalen. Jeder, der die Literatur über die
Pyramide ein wenig kennt, erkennt in diesem
Buch eine bedauerliche Entgleisung, ein gänzlich
sinnloses Machwerk. Riem.
Fischer, Franz und Schrader, Hans, Ent-
stehung und chemische Struktur der
Kohle. Essen 192 1, Verlag von W. Girardet.
Ein erweiterter Abdruck der gleichnamigen
Abhandlung der Verff. , deren wichtige Arbeiten
wertvolle Beiträge zu dem alten Problem geliefert
haben, in der „Brennstoff- Chemie" 1921. Auch
Fernerstehende können eine gute Vorstellung des
bis jetzt Erreichten in diesem Forschungsgebiet
bekommen, denn die Darstellung ist schlicht und
gut lesbar. Auf den sachlichen Inhalt der Bro-
schüre soll anderweitig eingegangen werden.
H. H.
Schneider, Dr. Ilse, Das Raum-Zeit-Pro-
blem bei Kant und Einstein. Berlin
1921, Julius Springer.
Die Arbeit ist aus einer Doktordissertation
hervorgegangen und sucht nachzuweisen , daß
Kants transzendentaler Idealismus, wenn er
richtig gedeutet wird, zur Einst einschen Hypo-
these in keinem Widerspruche steht. Die histo-
rischen und philosophischen Betrachtungen über
Raum, Zeit und Bewegung bei Newton, Kant
und späteren Forschern, sowie eine kurze Dar-
stellung der Relativitätstheorie lassen besonders
neue originelle Gesichtspunkte nicht erkennen.
Soweit die Betrachtungen über rein philosophische
Erörterungen hinaus auf die physikalischen Tat-
sachen hinübergreifen, sind sie m. E. unhaltbar.
Vom Äther scheint die Verf. nur die Anschauung
von Lorentz zu kennen, der ihn als „absolut
ruhend" in seine Rechnungen einführt. Daß man
den Äther auch als substantiell und begabt mit
inneren Bewegungen und Reibungswiderständen,
die alle optischen Erscheinungen und elektrischen
Kraftfelder erst verständlich machen, auffassen
kann, erwähnt die Verf. nicht. F>icke.
Dingler, Prof. Dr. Hugo, Kritische Bemer-
kungen zu den Grundlagen der Rela-
tivitätstheorie. Vortrag, gehalten auf der
86. Versammlung deutscher Naturforscher und
Ärzte. — Leipzig 1921, S. Hirzel.
Der Nauheimer Vortrag, der auch in der
Physikalischen Zeitschrift, 21. Jahrg., S. 668 — 675
abgedruckt ist, versucht eine systematische Kritik
der Relativitätstheorie auf Grund der klassischen
Mechanik Newtons zu geben und kommt durch
?6ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 3Ö
sehr abstrakte, mathematisch-philosophische Über-
legungen zu dem Ergebnis, daß beide Theorien
nichts gegeneinander ausrichten können und keine
als empirisch bewiesen oder widerlegt gelten kann,
ehe wir nicht Klarheit über die Geltung und Aus-
wahl der dabei benutzten Prinzipien erhalten haben.
Fricke.
Schwinge, Otto, Eine Lücke in der Termi-
nologie der Einsteinschen Relativi-
tätslehre. Berlin-Steglitz 1921, Holsteinsche
Str. 26. Otto Ernst Puhle.
Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, daß
„Zeit" und „Maß" relative Begriffe, „Ewigkeit"
und „Raum" aber absolut sind, er stellt also das
relative Endliche dem absoluten Unendlichen
gegenüber. Die kurzen Ausführungen sind klar
und anschaulich geschrieben, betreffen aber mehr
die philosophische Seite und gehen auf die prak-
tisch-physikalischen Streitfragen nicht ein.
Fricke.
Anregungen und Antworten.
über die Bedeutung des Namens Köppernickel (Köpr-
nickl) für Meum athamanticum (im Erzgebirge). — Nachdem
die I.eser dieser Zeitsclirift bereits mit zwei Erklärungen des
Namens Köppernickel bekannt geworden sind (vgl. N. F. XX.
[1921] Nr. 12, S. 191 und Nr. 28, S. 424), sei darauf hinge-
wiesen, daß noch eine dritte Version existiert. In Cela-
kovskys Prodromus der Flora von Böhmen III (1875) S. 590
liest man nämlich: ,,Köprnickl. — Von dem böhmiscüen
koprnik, dieses abgeleitet von kopr, Dill, wegen der Ähnlich-
keit der Blätter. Die Erhaltung dieses Wortes in dem ganz
deutschen Erzgebirge gibt einen botanisch-etymologischen Be-
weis ab von der ehemals slavischen Einwohnerschaft des Erz-
gebirges." A. Thellung (Zürich).
Literatur.
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minologie der Einsteinschen Relativitätslehre. S. 560. — Anregungen und Antworten: Über die Bedeutung des Na-
mens Köppernickel (Köprnickl). S. 560. — Literatur: Liste. S. 560.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenslraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganieo Reihe 36. Band.
Sonntag, den 25. September 1921.
Nummer 39.
Neues über Maränen. ')
(Nachdruck verboten.) Von Priv.-Doz. Dr. med. et phil
Eine pommersche Sage aus dem Kreise Star-
gard erzählt, daß ein Bauer in der Nähe des
Madüesees mit dem Teufel einen Kontrakt ab-
geschlossen habe, wonach er demselben seine
Seele verschreibe, falls er ihm vor dem Hahnen-
schrei ein Gericht Maränen aus Afrika verschaffe.
Der Teufel begab sich nach Afrika, um die Fische
zu holen. Gegen Morgengrauen aber befiel den
Bauern, der die so schnelle Herbeischaffung der
Maränen für unmöglich gehalten hatte, die Angst,
der Teufel möge doch in der Lage sein, den
Wunsch zu erfüllen. Er ging daher aus seinem
Hause heraus, klatschte in die Hände und fing an
zu krähen, worauf alle Hähne der Umgegend er-
wachten und ebenfalls zu krähen anfingen. Es
war aber die höchste Zeit gewesen, der Teufel
befand sich nämlich mit den Maränen über dem
Madüesee. Als er das Krähen hörte, sah er ein,
daß er zu spät kam. Aus Ärger ließ er die
Maränen fallen, die in den See fielen. So hat
der Madüesee, als einziger See in Pommern, die
Maränen erhalten und sie werden noch heute
dort gefangen. Es sind also der Sage nach nicht
eigentlich deutsche Fische, die wir in den Maränen
vor uns haben, sondern sie stammen aus dem
fernen Afrika.
Es handelt sich bei der Maräne des Madüe-
sees um die sog. große Maräne (Coregonus ma-
raena L.), die nach den früheren Anschauungen nur in
den drei Seen: Schaalsee in Mecklenburg, Selenter-
see in Holstein und Madüesee in Pommern vor-
kommt, aber auch in anderen größeren Landseen
der baltischen Provinzen vorhanden ist, z. B. dem
Peipussee und dem Ladogasee. Sie ist dann
außerdem noch vielfach in Seen, in denen sie
ursprünglich nicht vorkommt, eingesetzt.
Aus dieser pommerschen Sage ersehen wir
aber, daß dem Manne aus dem Volke die Maräne
als etwas Fremdartiges erschienen ist, sie stammt
nach der Sage aus Afrika. Es wäre interessant
dem Ursprung dieser Sage nachzugehen, besonders
im Hinblick auf die angebliche Heimat. Es kann
sehr wohl sein, daß Afrika hier einfach als der
Begriff des Südens gemeint ist. Wissen wir doch,
daß die nächsten Verwandten unserer Maränen,
die Renkenarten im Süden Deutschlands, in den
subalpinen Seen und den größeren Alpenseen vor-
kommen, während zwischen den nordischen Ge-
wässern der Maränen und diesen Renkenseen sich
ein Gebiet erstreckt, dem verwandte Formen
völlig fehlen. Es ist daher sehr leicht möglich,
daß die Kunde von Maränen, die im Süden vor-
kommen, in der pommerschen Bevölkerung, die
. A. Willer, Königsberg i. Pr.
ja zum großen Teil der Fischerei sehr nahe steht,
verbreitet gewesen ist.
Aber auch dem Forscher ist die Gattung Core-
gonus ein merkwürdiges und interessantes Studien-
objekt gewesen und ist es noch heute. Auch er
sieht in den Coregonen Fremdlinge, allerdings
nicht aus dem Süden, sondern eher umgekehrt
aus dem Norden. Es handelt sich bei den Core-
gonen nach neueren Ansichten um sog. Glazial-
relikte, die sich beim Rückgange des Eises in
die Tiefen der alpinen Seen einerseits, der Seen
des baltischen Höhenrückens andererseits zurück-
gezogen haben.
Die Gattung Coregonus, die also die Renken
und die Maränen umfaßt, ist deshalb dem Zoologen
so besonders interessant, weil sich gezeigt hat,
daß sie so außerordentlich verschiedene Lokal-
formen bilden kann. Nahe beieinander liegende
Seen Bayerns z. B. besitzen völlig verschiedene
Renkenarten, die auf den betreffenden See in
ihrem Vorkommen beschränkt sein können. Die
einheitliche Bearbeitung der Renken ist bisher
mit den größten Schwierigkeiten verbunden ge-
wesen, weil es schwer zu entscheiden war, ob
man besondere Arten oder nur Rassen vor sich
hatte. Es hat sich dann weiterhin gezeigt,
daß Coregonenarten, die aus einem Gewässer in
ein chemisch-physikalisch sehr verschiedenes ande-
res Gewässer versetzt wurden, im Laufe der Zeit
wieder stark abänderten. In dieser Beziehung ist
vor allem eine Arbeit A. Thienemanns über
den Silberfelchen des Laacher See von Bedeu-
tung.-) Der Laacher See, ein Eifelmaar, an dessen
Ufer das Kloster Maria-Laach gelegen ist, be-
herbergt neben anderen Fischen auch eine Renken-
art, den Laacher Seefelchen. Da wir aus ande-
ren Gewässern Westdeutschlands Coregonen nicht
kennen, so war dies Vorkommen sehr auffallend.
Thienemann stellte nun fest, daß in den Jahren
1866 und 1872 von den Mönchen des Klosters
Brut der Madüemaräne und Brut des Bodensee-
felchens C. fera eingesetzt worden ist, während
vorher niemals Felchen in dem Laacher See ge-
wesen waren. Nun zeigte ein Vergleich der
Laacher Felchen mit dem Bodenseefelchen und
der Madüerftaräne, daß diese charakteristisch von
diesen abweichen. Auf Grund der Untersuchungen
') Vortrag gehalten in der Faunistiscben Sektion der
Physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i. Pr.
am 21. April 1921.
'') Thienemann, A. , Der Silberfelchen des Laacher
Sees. Zool. Jahrb. Abt. System. Geographie u. Biol. Bd. 32,
S, 173, 1912.
502
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 39
der Larven konnte Th. zeigen, daß eine Ab-
stammung der Laacher Felchen von der Madüe-
maräne nicht in Frage kommt, daß also nur der
Bodenseefelchen als Stammform zu betrachten
ist, während die iVIadüemaränenbrut seinerzeit aus-
gestorben ist. Die Unterschiede zwischen der
Stammform und der Laacher Seeform sind nun
bedeutende. Bereits die Larve weist beträchtliche
Unterschiede auf, die sich auf die Färbung und
das Verhältnis der Dottersackhöhe zur Schwanz-
höhe beziehen. Noch wichtiger sind die Ver-
änderungen, die sich an dem erwachsenen Tier
zeigen und sich in den charakteristischen Unter-
scheidungsmerkmalen der Coregonen, dem Kiemen-
reusenapparat und der Schnauzenbildung äußern.
Auf der Innenseite der Kiemenbogen stehen bei
den Coregonen sogenannte Reusendornen oder
Reusenzähne, die man als Filterapparat zum Zu-
rückhalten der Nahrungsorganismen und von Ver-
unreinigungen , die die Kiemen verschmutzen
könnten, aufgefaßt hat. Die Zahl dieser Zähnchen
und das Verhältnis der Länge des längsten Mittel-
zahnes zur Länge des zahntragenden Teiles des
Kiemenbogens hat sich hier als ein Merkmal er-
wiesen, das in den bestimmten Variationsgrenzen
konstant ist. Ein Vergleich der Merkmale bei
den nächst verwandten Formen hat folgende
Zahlen ergeben:
Zahl der Kiem
in 7 Generationen erfolgt ist. Die vielen ver-
schiedenen Formen der einzelnen süddeutschen
Seen weisen ebenfalls darauf hin, daß die Fähig-
keit sich zu ändern, die Plastizität der süddeutschen
Renken, eine große sein muß.
Verhältnismäßig viel einfacher als bei den süddeut-
schen Renken liegt die Sache bei den nordischen
Maränenarten. Hier unterschied man bisher vier
Arten in Deutschland, die kleine Maräne (Core-
gonus albula L.), die große Maräne (Coregonus
maraena L.), den Ostseeschnäpel (Coregonus lavare-
tus L.), auch als eine Ostseeform der Coregonus
maraena betrachtet, und den Nordseeschnäpel
(Coregonus oxyrhynchus L.). Es mag erwähnt wer-
den, daß man die süddeutsche Bodenrenke, auch
Weißfelchen genannt (Coregonus fera), als eine
Standortvarietät der großen Maräne (Coregonus
maraena) bisher betrachtet hat, eine Anschauung,
die sich auf Grund der neueren Untersuchungen
über die nordischen Coregonen von Thiene-
m a n n wohl halten läßt, da die Zahl der Reusen-
zähne, sowie die relative Zahnlänge der der einen
großen Maränenart, nämlich der neu aufgestellten
Art C. holsatus gleicht, wovon noch später zu
reden sein wird.
Neben diesen vier Formen, die sich durch die
Bildung einer Schnauze, Stellung der Mundöfifnung,
Zahl der Kiemendornen unterscheiden lassen,
enreusenzähne
Bogen
I
Bogen
II
Variationsgre
nzen
Dl
archschnitt
Variationsgrenzen
Durchschnitt
Laacher See-Felchen
40—47
44
40—49
46
C. macrophthalmus
36—45
41
37—46
42
C. wartmanni
34-38
35
35-42
39
C. maraena
29—34
30
27—32
29
C. fera
21 — 26
23
22—28
ä>S
Rela
tive
Z
ahnläng
e an
Bogen
I
Bogen
II
Variationsgrenzen
Dl
jrcbschnitt
Variationsgrenzen
Durchschnitt
Laacher See-Felchen
3.2—4.0
3,7
6,5-8,4
7,3
C. macrophthalmus
3,4—4,8
4.2
6—10
7,8
C. wartmanni
4.0—5.7
4.6
7,8-9,8
8,8
C. maraena
3.3-5.5
4.5
6,4 — 10,5
8,6
C. fera
5,0-6,8
5,9
8,0—12,6
11,4
Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, wie sich die
Variationsbreiten bei C. fera und dem Laacher
See-Felchen überhaupt nicht mehr decken. Aus
der relativen Zahnlänge ersieht man, wie stark
die Länge der Reusendornen bei diesem gegen-
über der fera zugenommen hat. Zurückgeführt
wird diese Änderung der Form, die T h i e n e -
mann als Artbildung auffaßt, auf die Änderung
in der Ernährung. Wie aus den Untersuchungen
des Darminhaltes sich ergeben hat, ist nämlich
aus der Bodenseerenke fera, die ein Konsument
der Bodennahrung ist, im Laacher See ein Plank-
tonfresser geworden. Die Planktonfresser unter
den Coregonen haben aber stets die längeren und
zahlreicheren Kiemendornen. Das Beispiel des
Laacher SeeFelchens zeigt uns, daß die Abände-
rungsfähigkeit des Bodenseefelchens eine sehr
große sein muß, da die Bildung der neuen Art
wurde dann zunächst noch eine neue Art aufge-
funden, die C. generosus, die sog. Edelmaräne,
und zwar zuerst nur im Pulssee bei Bernstein in
der Neumark, im Gorzyner See und Alt-Görziger
See im Kreise Birnbaum. Später wurde die
gleiche Art noch im Gr. Tuczensee, und im
Schrimmer See im Kreise Birnbaum nachgewiesen.
Thienemann hat nun auf Grund der be-
obachteten großen Plastizität der südlichen
Coregonenformen auch die norddeutschen Formen
in den Kreis seiner Untersuchungen gezogen und
ist da zu sehr interessanten Resultaten gekom-
men.*) Er benutzt als Unterscheidungsmerkmale
') Thienemann, A., Bestimmungstabelle für die nord-
deutschen Koregonen. Fisch.-Ztg. Bd. 22, Nr. 15, 1919.
Thienemann, A., titte um Zusendung von Maränen-
köpfen. Mitt. Fisch. - Verein f. d. Prov. Brandenburg, Ost-
preuflen, Pommern Bd. XII, H. 4, 1920.
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563
die Form der Schnauze sowie den Bau des Kiemen-
filters, also die auch bisher angewandten Unter-
scheidungsmerkmale. Er kommt zur Aufstellung
von 4 Arten: albula, generosus, lavaretus und
holsatus. Von diesen zeigen die Arten albula
und generosus keine große Variabilität. Holsatus,
die bisher mit der Madüemaräne zur maraena-Form
vereinigt worden ist, spaltet sich wiederum in
drei verschiedene Formen, die Maräne desSelenter-
sees (forma typica), die des Schaalsees (forma
scallensis) und die des Vättern (forma suecica).
Auch die Art lavaretus lavaretus weist verschiedene
Formten auf, zwei stets kurzschnauzige Formen,
die morphologisch nicht auseinanderzuhalten sind,
die Madiieseemaräne Coregonus lavaretus forma
maraena und diel" Ostseewandermaräne Coregonus
lavaretus forma typica, der uns bekannte Ostsee-
schnäpel, der in den Haffen laicht. Zwischen der
langschnäuzigen Form, dem Nordseeschnäpel Core-
gonus lavaretus var. oxyrhynchus und diesen
beiden kurzschnäuzigen Formen steht dann eine
Form, die in der Schlei lebt, die C. lavaretus
forma baltica, der Schleischnäpel. Wir kämen
also zu der Aufstellung folgender Arten:
der Vergleich der relativen Zahnlängen bei beiden
Stämmen. Während bei der Selenterseemaräne
die relative Zahnlänge zwischen 5 und "],€) schwankt,
im Durchschnitt 6,1, beträgt sie bei den iVIaränen
aus dem Gr. Schobensee zwischen 4,8 und 6, im
Durchschnitt 5,3, sie ähnelt also der relativen
Zahnzahl der Schaalseemaräne, 4,6 bis 6,(), im
Durchschnitt 5,6. Es ist also die Zahnzahl der
eingesetzten Selentermaräne gleich geblieben, die
Zahnlänge hat sich aber vergrößert. Es wird
interessant sein, in späteren Jahren die weitere
Entwicklung dieses Prozesses zu verfolgen. Bis-
her ist diese Veränderung nur gering, es ist aber
möglich, daß sich auch hier mit der Zeit größere
Veränderungen ergeben.
Biologisch ist bemerkenswert, daß die Maräne
des Gr. Schobensees besser abwächst als die Ur-
sprungsform im Seientersee, während diese ein
Gewicht von einem Pfund erst etwa im 4. Lebens-
jahr erreicht, sind die dreijährigen Maränen im
Gr. Schobensee schon im 3. Jahre 675 g schwer
gewesen.
Zu erwähnen ist noch, daß von unseren nunmehr
4 Maränenarten die Arten albula und generosus
Unterkiefer vorstehend
Zahnzahl I. Kiemenbogen 36 — 46 durchschn. 41
relat. Zahnlänge I. Kbg. 2,9 — 3,8 durchschn. 3,2
Cor. albula
Unterkiefer nicht vorstehend
38 — 46 durchschn. 42 25^36 durchschn. 31 20 — 28 durchschn. 24
3.5—5.3 .. 4.3 3.3—7 .. 5.6 4.6-7.6 „ 5,9
Cor. generosus Cor. lavaretus Cor. holsatus
Schnauze nie vorgezogen Schnauze im Übergang Schnauze vorgezogen
Zahnzahl I. Kbg.
27 — 34 durchschn. 30 25 — 36 durchschn. 31
relat. Zahnlänge I. Kbg.
3.3—6,9 dschn. 5,2 II. Kbg. 9.8— 14 dschn. 12,2 7.5— «o.3 dschn. 8,5 1. Kbg. 5—7,6 dschn. 6,1 4,6—6,6 dschn. 5,6
lavaretus I j 1 1
./ \ I I I I
f. typica f. maraena f. baltica var. oxyrhynchus f. typica f. scallensis
(f. suecica)
Th. hat sich nun, nachdem er diese Arten-
und Formenreihe aufgestellt hatte, auch Material
aus den verschiedensten Seen zur Untersuchung
kommen lassen und ist zu dem Ergebnis ge-
kommen, daß bei aller Vielgestaltigkeit in bezug
auf die Bezahnung des Kiemenfilters sich die
Coregonen der verschiedenen Seen doch durch
feste, konstante Formmerkmale unterscheiden
lassen. Ganz interessant ist der Vergleich eines
Maränenbestandes aus dem Gr. Schobensee im
Kreis Orteisburg, der durch Einsatz im Jahre 191 8
und 1919 aus dem Seientersee stammt, mit der
Selenterseemaräne, also der forma typica des
C. holsatus.^) Ohne über die Herkunft der Maräne
des Gr. Schobensees etwas zu wissen, konnte Th.
an der Zahnzahl feststellen, daß es sich um eine
Selenterseemaräne handelt. Interessant war aber
') Thienemann, A., Die Selenter Maräne im Gr.
Schobensee im Kreise Orteisburg i. Ostpr. Mitt. Fisch.-Verein
für die Prov. Brandenburg, Ostpreuflen, Pommern Bd. XIII,
H. 3, 1921.
Planktonfresser und die übrigen Bodenfresser sind.
Während sich die neueren Forschungen über
die früher als große Maräne zusammengefaßten
Arten somit im allgemeinen auf morphologisch-
systematischem Gebiet bewegen, behandeln einige
Arbeiten über die kleine Maräne C. albula (Argyro-
soma) mehr biologische Fragen. Hier sind es in
den letzten Jahren die Finnen gewesen, die die-
sem Fische ihr ganz besonderes Interesse zuge-
wandt haben. Es hat dies — ganz abge-
sehen von dem allgemeinen Hochstande der
Fischereiwissenschaft in Finnland — seinen Grund
in der großen Bedeutung, die die kl. Maräne für
die Volkswirtschaft Finnlands hat. Vor allem
Järvi hat sich mit diesem Fisch beschäftigt und
das Resultat seiner langjährigen Untersuchungen
in einem sowohl schwedisch wie auch deutsch
erschienenen Werke, Die kleine Maräne Coregonus
albula im Keitelesee, zusammengefaßt. ^)
■) Järvi, Av. T. H., SiWlöjan in finska sjöar. I. Keitele.
Finlands fiskerier Bd. 5. 1919.
564
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 39
Das Vorkommen der kl. Maräne beschränkt
sich auf die Länder um die Ostsee herum, Finn-
land, Schweden, das Baltikum, Ost- und West-
preußen, Mecklenburg und Schleswig-Holstein so-
wie Dänemark sind die Heimatländer dieses
Fisches, im Südosten von Norwegen findet sich
dann noch ein kleineres Gebiet, dessen in dieser
Beziehung wichtigster See, der Mjösensee, auch in
der Biologie der Maräne eine besondere Rolle
spielt insofern, als, wie noch erwähnt werden
wird, hier die einzige Stelle ist, von der uns ein
Laichen der Maräne im strömenden Wasser be-
kannt geworden ist. Außer in Binnenseen kommt
die kl. Maräne auch in den salzärmsten Teilen
der Ostsee vor, so an den Küsten des Nordendes
des Bottnischen Meerbusens, hier sind von Sand-
mann und Levander 1916 zwei getrennte Vor-
kommen festgestellt worden, nach älteren Autoren
kommt die kleine Maräne aber auch in den west-
finnischen Schären und in dem finnischen Meer-
busen vor. An der schwedischen Küste kommt die
kl. Maräne vor allem in den Schären von Söder-
manland vor. Auch in der Nähe des Kieler
Hafens hat man einige Exemplare gefangen.
Järvi ist der Ansicht, daß es sich mit Ausnahme
der kl. Maränen im Nordende des Bottnischen
Meerbusens im Meere regelmäßig um solche
Fische handelt, die entweder bei günstigem Salz-
gehalt selbständig zeitweise aus den Binnenseen
ausgewandert seien oder durch Hochwasser und
andere Strömungen in das Meer geführt worden
sind. Tatsächlich gehen die kl. Maränen auch,
wenn stärker salzhaltiges Wasser auftritt, zugrunde.
Im Binnenlande ist die Maräne auf die tieferen
Seen beschränkt, in der Regel aber auch auf die
größeren. In Finnland tritt sie aber auch in
kleineren Seen auf, Vorbedingung ist dann aber
eine gewisse Tiefe, die von mancher Seite auf
mindestens 20 m angenommen wird. Nach Järvi
hängt diese Beschränkung auf tiefere Seen damit
zusammen, daß die kleine Maräne nur tiefere
Temperaturen verträgt, sie gedeiht nur dort, wo
die tiefsten Wasserschichten 15" niemals über-
schreiten. Ich vermute, daß die Temperatur-
bedingungen, die die kl. Maräne verlangt, in den
Wasserschichten der Tiefe noch ihr Maximum
unter 10" besitzen. Die Art C. albula besitzt in
den Nachbarländern einige nahe Verwandte, die
sich ebenfalls durch den vorstehenden Unterkiefer
auszeichnen. Es sind das in Schottland die C. van-
desius, in Irland die C. pollan, im nördlichen
Rußland die C. sardinella und einige sibirische
Arten, die aber schon Übergänge zum Artenkreis
der großen Maräne zeigen, indem ihr Unterkiefer
gleich lang wie der Oberkiefer ist. Auch Nord-
amerika besitzt eine Anzahl von nahe verwandten
Arten. Die Unterschiede zwischen den einzelnen
nordeuropäischen Formen sind so gering, daß
Järvi sie nur als Varietäten auffaßt, nur die Art
sardinella läßt er als eigene Art bestehen, die sich
von der albula durch den größeren Abstand des
vorderenRandes derRückenflosse von derSchnauzen-
spitze unterscheidet.
Bei seinen Forschungen fiel es Järvi auf, daß
die Angaben sowohl die älteren wie die jüngeren
in der Literatur wie in den Fischereistatistiken
von sehr unregelmäßigen Fängen und sehr un-
gleichmäßigem Auftreten der kl. Maräne sprachen.
Er stellt nun fest, daß diese Angaben auf Wahr-
heit beruhen, und daß tatsächlich die einzelnen
Jahresklassen in verschiedener Menge in dem
Keitelesee vertreten sind, die Fänge also in den
einzelnen Jahren sehr verschieden sein müssen.
Diese verschiedene Individuenmenge in den ein-
zelnen Jahresklassen ist abhängig von den Wind-
verhältnissen der einzelnen Jahre zur Zeit der
Laiche der Maränen im Herbst und der Entwick-
lungsperiode der Brut. Vorbedingung für ein
gutes Aufkommen der Brut ist windstilles Wetter,
die Hauptursache für Verheerungen unter der
Brut sind die zu ungeeigneter Zeit von der See-
seite her wehenden stürmischen Winde und der
dadurch hervorgerufene Wellenschlag. Somit ist
die Laichzeit auch für den Fischer die wichtigste
Zeit, da von ihr die Ergiebigkeit der späteren
Fänge abhängt.
Unstinimigkeiten finden sich in der Literatur
über die Örtlichkeiten der Laichplätze der kleinen
Maräne. Die finnischen und skandinavischen
Autoren geben an, daß die Maräne sehr tief laicht,
stets unter 20 m, ja mitunter in 60 bis 80 m
Tiefe. Der Boden soll sandig bis steinig sein.
Die deutschen Autoren geben als Laichplätze die
mit Characeen bedeckten, auch die mit Cerato-
phyllum und Potamogeton perfoliatus bestandenen
Stellen der Seen an. ') Die Eier sollen sich auf
die Pflanzenbestände niedersenken und hier durch
eine Spur Klebstoff festhaften. Im Mjösensee
soll die kl. Maräne, wie ich schon erwähnte, nur
einen einzigen Laichplatz haben, der in dem ziem-
lich reißenden Zufluß gelegen ist. Aber nicht nur
über die Laichplätze bestehen Verschiedenheiten
in den Angaben aus den einzelnen Gegenden,
sondern auch in bezug auf das Alter, in dem die
kl. Maräne laichreif wird. In der Regel werden
unsere Süßwasserfische nicht vor dem 3. Sommer
laichreif, d. h. wenn sie drei Sommer alt werden.
Dies trifft auch für die kl. Maräne in Skandinavien
und Deutschland zu. In Finnland dagegen wird
sie bereits nach dem 2. Sommer laichreif. Ein
immerhin sehr auffallendes Vorkommnis. Den
Laichplätzen hat nun Järvi sein ganz besonderes
Augenmerk zugewandt. Bevor ich aber hierauf
näher eingehe, will ich noch kurz erwähnen, daß
auch früher noch in anderer Hinsicht die An-
schauungen der Autoren auseinandergingen, näm-
lich bezüglich der Frage nach der Nahrung. Die
alten Autoren geben nämlich an , daß die kl.
Maräne ein Verzehrer von Insektenlarven und
Mollusken sei. Schon lange jedoch hat man er-
kannt, daß Funde von derartigen Organismen nur
Zufälligkeitsbefunde sind, die kl. Maräne ist ein
') Selijo, A., Hydrobiolog. Untersuchungen. IV. Das
Wachstum der kleinen Maräne. Mitt. d. Westpr. Fischerei-
Vereins Bd. XX. 1908.
N. F. XX. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
565
echter Planktonfresser. Dies hat auch Järvi
neuerdings wieder bestätigt. Nicht mit der heute
geltenden Ansicht stimmt die Ansicht Järvis
überein, daß die kl. IVIaräne das Plankton mecha-
nisch aufnehme, nicht eine Auswahl zwischen den
einzelnen Organismen treffe. Järvi nimmt an,
daß es die Dichte der Siebvorrichtung sei, die
die Auswahl der Planktonten bestimme, die
größeren Organismen blieben zurück, die kleineren
würden durch den Wasserstrom durch die Filter-
vorrichtung hindurchgeführt. Diese Ansicht,
welche sich leicht beweisen ließe, wenn gleich-
zeitig mit dem Fang der IVIaränen, die zu den
Nahrungsuntersuchungen benutzt werden sollen,
auch Planktonuntersuchungen vorgenommen wer-
den, wird aber, wie Järvi selbst zugibt, auf diese
Weise nicht bewiesen. Ich möchte daher die
Richtigkeit dieser Anschauung anzweifeln. Der
zuweilen recht monoton zusammengesetzte Magen-
inhalt der kl. iVIaräne spricht doch eigentlich mehr
für ein Aussuchen der Organismen. Da die kl.
Maräne stets einen vollen Magen im Sommer auf-
weist, so muß sie ein besonders starker Fresser sein.
Dies zwingt sie aber dazu, ständig auf der Nah-
rungssuche im Wasser umherzuschwimmen, um
Nahrung zu sammeln. Sie tritt dabei in Schwär-
men auf, die nun einzelne Strecken abweiden,
wobei sie im Sommer auch in die seichteren
Buchten mit ihrem größeren Planktongehalt ge-
langen. Bei diesen Wanderungen zu den Weide-
plätzen werden auch vertikale Bewegungen der
Schwärme beobachtet, besonders nachts und
abends ziehen die Fische an die Oberfläche des
Keitelesees und springen hier auch aus dem
Wasser heraus, ähnlich wie man es auch bei
anderen Fischschwärmen beobachtet. Es liegt
nahe, anzunehmen, daß diese Wanderung an die
Oberfläche zur Nachtzeit mit der Wanderung
vieler Planktonten an die Oberfläche während der
Nachtzeit zusammenhängt. Järvi hat diese Ver-
mutung auch ausgesprochen und widerspricht so-
mit eigentlich seiner Ansicht, daß die kl. Maräne
mechanisch die Nahrung aussiebe. Wissen wir
doch, daß nicht sämtliche Zooplanktonten zu
gleicher Zeit und in gleichem Maße die nächtliche
Wanderung an die Oberfläche antreten. Am
Tage zieht sich unser Fisch dann wieder in die
Tiefen zurück.
Im Herbst zieht sich die kl. Maräne im
Keitelesee in gewisse Standorte zurück, es sind
das die Vertiefungen, die mindestens eine Tiefe
von 10 m haben. Diese Tiefen werden erst
wieder im Frühjahr verlassen. Im Winter zieht
die Maräne also nicht umher. Bevor sie aber im
Herbst ihr Winterquartier aufsucht, unternimmt
sie noch eine besondere Reise, die aber nur kurze
Zeit andauert, die Wanderung zu ihren Laich-
plätzen.
Die Zeit der Laiche hängt nach Järvis Unter-
suchungen durchaus von der Wassertemperatur
ab, und zwar tritt die Laichzeit der kl. Maräne
ein, sobald die Temperatur des Wassers sich auf
7" abgekühlt hat. Auch die Dauer derselben
hängt von dieser ab insofern als bei langsamer
weiterer Abkühlung oder längerem Verharren bei
dieser Temperatur die Länge der Laichzeit hinaus-
gezogen wird. Bei schneller weiterer Abkühlung
bricht das Laichgeschäft bald ab. Diese Bct
obachtungen Järvis treffen wohl auch auf unsere
Gewässer zu, jedenfalls habe ich bei Probefängen
im vergangenen Herbst laichreife Maränen eben-
falls bei einer Temperatur von 6,5" zum großen
Teil im abgelaichten Zustande angetroffen.
Die Laichplätze hängen im Keitelesee von der
Bodenkonfiguration in erster Linie ab. Die kl.
Maräne laicht dort in einer Tiefe von 2 — 10 m
und zwar auf festem Ton, Sand oder Kies, nie-
mals auf von Vegetation bedeckten Stellen. Diese
Plätze liegen aber nicht an beliebigen Stellen des
Sees, sondern an den Enden der von den Ver-
tiefungen ausgehenden unterseeischen Fjorde.
Hierher zieht die Maräne auf einem ganz be-
stimmten Wege nämlich immer an dem Rande
der Fjorde entlang und auch wieder auf dem-
selben Wege zurück. Am Laichen und an den
Laichzügen beteiligen sich sämtliche Altersstadien
bis auf die einjährigen Fische. Nicht alle laich-
reifen Fische aber laichen, sondern einige erledigen
das Laichgeschäft nicht. Es liegt das offenbar
nach Järvis Ansicht an einem Parasiten der
Körperhöhle, einem Nematoden, der zur Gattung
Spiroptera gehört. Ob dieser Parasit es allein
ist, der das Ablaichen verhindert, erscheint mir
allerdings fraglich, da man auch bei anderen
Arten oft Tiere findet, die nicht abgelaicht haben
und doch keine Parasiten beherbergen. Z. B. laicht
der Karpfen durchaus nicht immer ab, sondern
bildet seine reifen Geschlechtsorgane wieder
zurück.
Ein weiteres sehr interessantes Resultat der
Järvischen Untersuchungen ist, daß jede der
einzelnen Vertiefungen des Keitelesees ihren
eigenen Stamm besitzt, ein Resultat, das auf ähn-
liche Weise gefunden worden ist, wie die be-
kannten Ergebnisse der H ei nck eschen Unter-
suchungen über die Heringsrassen. Es gibt also
in dem Keitelesee ebenso viele Maränenbestände
wie es Vertiefungen, die voneinander getrennt
sind, gibt.
Weitere Wanderungen als die an Ausdehnung
geringen Nahrungswanderungen und die Züge
nach den Laichplätzen kommen bei der kl. Maräne
nicht vor, jedenfalls nicht unter normalen Verhält-
nissen, nur beim Auftreten anormaler Strömungen
oder geänderter hydrographischer Verhältnisse
werden noch andere Wanderungen unternommen.
Ein besonderer Abschnitt wird dann noch den
Feinden der kl. Maräne zu widmen sein. Dies
sind in erster Linie der Mensch und die Seeforelle,
die dem Fisch direkt nachstellen. Als Feinde
der Eier erweisen sich die jungen Maränen selbst,
dann aber auch vor allem der Kaulbarsch, der
gewaltig unter den Eiern aufräumen kann.
Entoparasiten sind bei der Keitelemaräne
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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wenig gefunden, zunächst der erwähnte Nematode seinerzeit von Levander und Luther bei kl.
Spiroptera, dann eine Dibothriocephalusfinne, die Maränen beschrieben worden sind, wurden im
wahrscheinlich dem Dibothriocephalus latus ange- Keitelesee nicht gefunden, sehr selten war ein
hört. Die Henneguya - Anschwellungen, welche Argulus vorhanden.
Einzelberichte.
Tersuch einer Trennung der Isotopen des
Chlors.
Die radioaktive Forschung schuf den Begriff
der Isotopen. Als solche bezeichnet man Stoffe
elementaren Charakters, die im Periodischen Sy-
stem der Elemente den gleichen Platz einnehmen
(daher der Name), die aber verschiedene Atom-
gewichte aufweisen. Bei der ungemeinen Wich-
tigkeit dieser Verhältnisse für unsere chemischen
Grundvorstellungen muß es erwünscht sein, derartige
Stoffe auch auf anderem als radioaktivem Wege
darzustellen und näher zu kennzeichnen. Gelingt
es, aus einem beliebigen Element, das uns durch
vielfachen Gebrauch vertraut ist, einen Anteil
herauszusondern, der zweifellos das gleiche che-
mische Gebilde ist, aber ein anderes Atom-
gewicht als der gewöhnliche Stoff besitzt, so er-
hält die Lehre der Isotopen ohne Frage eine
starke Stütze, und die allgemeinsten Vorstellungen
vom Bau der Elemente werden auf breitere er-
fahrungsmäßige Grundlage gestellt. Bisher liegen
nur wenige Arbeiten zur Trennung von Isotopen
vor. Will man sich bei dieser Scheidung rein
chemischer altvertrauter Hilfsmittel bedienen, so
muß vor allem berücksichtigt werden, daß der
einzige Unterschied isotoper Elementkompo-
nenten in der Atommasse liegt, aber dabei von
so geringem Effekt ist, daß es anscheinend großer
Mengen von Versuchsmaterial bedarf, um diesen
Effekt derart zu steigern, daß er in den Bereich
unmittelbarer Meßbarkeit gelangt. So ist es ver-
ständlich, wenn' Harkins, der als erster eine
Trennung der Isotopen des Chlors versuchte,
tausende von Litern dieses Gases seiner Methode
unterwarf — und dennoch nicht zum Ziel kam.
Über einen neuen Versuch in dieser Richtung
berichtete R. Lorenz in einem Vortrag vor der
Münchener Chemischen Gesellschaft am 26. Mai
1921. Die Grundgedanken, die zu der im nach-
stehenden beschriebenen Versuchsreihe führten,
sind kurz diese: Besteht das Chlor, wie vermutet
wird, aus zwei Isotopen verschiedenen Atom-
gewichts, so müssen beide Anteile eine ihrer ver-
schiedenen Masse entsprechend verschiedene
Diffusionsgeschwindigkeit haben. Aber
auch in Verbindungen des Chlors , z. B. im
Chlorwasserstoff, muß ein Anteil vorhanden sein,
der das niedrigere Atomgewicht aufweist, also
eine andere, höhere Diffusionsgeschwindigkeit be-
sitzt. Nun ist der Schulversuch bekannt, in dem
Wasserstoff durch eine poröse Tonzelle infolge
seiner geringen Masse rasch diffundiert, so daß
man diesen Vorgang am Manometer deutlich ver-
folgen kann. Nach kurzer Zeit jedoch bemerkt
man, daß der Effekt zurückgeht und daß sich ein
stationärer Zustand ausbildet. Dies muß offen-
bar so sein, denn dem Gase steht so wie der
Eintritt in die Zelle auch der Austritt frei; es
wird also mangels jeder Gegenmaßnahme ein
Ausgleich stattfinden. Diesen aber kann man
verhindern. Schickt man nämlich dem diffundie-
renden Isotopengemisch ein indifferentes Gas ent-
gegen, so wirkt dieses auf die Diffusion brem-
send. Nun kann man die Geschwindigkeit dieses
Bremsgases so regeln, daß dieses zwar der Diffu-
sion des schweren Isotopen , das langsamer
diffundiert, ein Halt gebietet, daß es aber dem
leichteren, also schnelleren Isotopen die Diffu-
sion gestattet 1 Dies ist der glückliche Gedanke
von Lorenz. Mit Hilfe der von Stern und
Volmer') entwickelten Theorie war es dann
möglich, die Versuche rechnerisch auszuwerten.
Die Versuchsanordnung bestand dem eben
Gesagten entsprechend im wesentlichen in einer
Diffusionstonzelle, durch die reinstes Chlorwasser-
stoffgas diffundierte und gleichzeitig durch Kohlen-
dioxyd „gebremst" wurde. Die Zelle ist ein
20 cm hohes, 2 cm Wandstärke haltendes Gefäß
aus der Staatlichen Porzellanmanufaktur. Dank
der ungewöhnlich feinen porösen Beschaffenheit
dieser (von König geschaffenen) Zelle, deren
Zusammensetzung einstweilen geheim gehalten
wird, gelang es, die Versuche auf einen bisher
nicht erreichten Grad von Vollkommenheit zu
bringen. Die diffundierten Gase wurden alsdann
durch Absorptionsgefaße geschickt, in denen zu-
nächst das Kohlendioxyd beseitigt wurde. Der
Chlorwasserstoff lag nun in zwei Anteilen vor,
einem diffundierten und dem infolge der Bremsung
nicht diffundierten Anteil. Beide Gase wurden
nun getrennt, aber in experimentell völlig über-
einstimmender Weise analisiert. Sie wurden
in Lösungen von Natriumkarbonat geleitet, so daß
Natriumchlorid entstand. Dieses in einem Kölb-
chen eingedampfte Salz wurde dann mit Silber-
nitrat titriert. Bei dieser Titration hätte nun ein
Natriumchlorid, dessen Chlor ein kleineres Atom-
gewicht besitzt als das gewöhnliche, mehr als
die für das jetzt gültige Atomgewicht des Chlors
berechnete Silbermenge binden müssen. Umge-
kehrt muß ein Natriumchlorid mit höherem
') Sitzungsber. d. Bayr. Akademie d. Wissensch. 1921.
Vgl. auch Chem.-Ztg. 1921 und Zeitschr. f. angew. Chemie 34,
S. 315, 1921.
N. F. XX. Nr. 39
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
567
Molgewicht (infolge Gehaltes eines schwereren
Chlorisotopen) weniger Silbernitrat verbrauchen.
Naturgemäß können die zu erwartenden Unter-
schiede nach nur einmaliger Diffusion nur äußerst
gering sein. Um sie dennoch meßbar zu machen,
wurde von Lorenz eine verfeinerte Titrations-
methode für stärkste Verdünnungen ausgearbeitet.
Zur Beobachtung der spurenhaften Trübung, die
bei der Bildung der letzten Reste von Silber-
chlorid entsteht, wurde ein (gelber) Lichtkegel
durch das Fällungsgefäß geschickt. Solange noch
Fällung, selbst wenn sie mit bloßem Auge längst
nicht mehr sichtbar war, statthatte, trat das
Tyndallphänomen auf. IVIittels dieser hoch-
empfindlichen Methode gelang es nun zu zeigen,
daß in der Tat die diffundierte Salzsäure einen
Mehrverbrauch an Silbernitrat bedingte, der
außerhalb der Fehlergrenzen liegt.
Die diffundierte Salzsäure der Lorenz sehen
Versuche enthält also ein Isotopes des Chlors,
dessen Atomgewicht geringer ist als das des
gewöhnlichen Chlorgases. Unter Zugrundelegung
des heute international gültigen Atomgewichtes
des Chlors, das Richards zu 35,4579 bestimmte,
ist das aus dem Natriumchloritwert des diffun-
dierten Chlorwasserstoffs sich berechnende Atom-
gewicht des leichteren Isotopen 35,4553. Hierbei
ist allerdings zu berücksichtigen, daß schon
im internationalen Atomgewichtswert die Un-
sicherheit in der zweiten Dezimale beginnt. Dem
neuen Wert kommt, wie den gefundenen Daten
allen, nur ein relativer Wert zu. Dieser aber
ist dem Anschein nach eindeutig. Es würde, wenn
sich die Ergebnisse Lorenz' bestätigen, damit
die erste Trennung der Isotopen des Chlors
durchgeführt sein.
Die Versuche werden fortgesetzt. Mit immer
weiterer Anreicherung des leichteren Isotopen
muß schließlich ein Molgewicht des Chlorwasser-
stoffs erreicht werden, das sich auch ohne die
besonderen Mittel der beschriebenen Methode als
von dem des gewöhnlichen Chlorwasserstoffs ver-
schieden erweisen wird. Die bisherigen Versuche
lassen noch keinen durchaus sicheren Schluß
zu. Insbesondere machte Hönigschmid in
der Besprechung des Vortrags auf die Fehler-
quelle aufmerksam, die in der Trocknung des
Natriumchlorids liegt. Auf Grund der Versuche
von Richards ist eine völlige Trocknung nur
durch Glühen des Chlorides im Chlorwasserstoff-
strom zu erreichen. An diesem Punkt also wird
die Fortsetzung der Versuche die gebührende
Vorsicht anzuwenden haben. Im übrigen ist die
Versuchsreihe ein Schulbeispiel für die Überlegen-
heit deutscher Experimentierkunst, die ohne die
gewaltigen Hilfsmittel Amerikas ein dringliches
Problem erfolgreicher Lösung näher brachte.
H. Heller.
Das Atomgewicht des Berylliums.
Als international gültiger Wert des BerylUum-
Atomgewichts diente bisher allgemein die Zahl
9,1. Auf Grund der neuen theoretischen Vor-
stellungen über den Elektronenbau hat bekannt-
lich die Proutsche Hypothese neue Bedeutung
erlangt, nach der alle Elemente Agglomerate von
Wasserstoffatomen seien; mithin müßten die
Atomgewichte ganzzahlige Vielfache des Wasser-
stoff-Atomgewichts sein. Die sorgfaltigen Bestim-
mungen der meisten Atomgewichte schließen aber
eine größere Unsicherheit der bekannten Werte
anscheinend aus. Die Hypothese kann also nicht
anerkannt werden. Dagegen kommt mit großer
Wahrscheinlichkeit, insbesondere durch die be-
kannte Zerlegung des Stickstoffatoms durch
Rutherford, dem Helium mit dem Atom-
gewicht 4 im Elementarbau der Elemente mit
paarer Atomnummer eine eindeutige Rolle zu. Es
fällt darum auf, daß unter den ersten 27 Elementen
mit paarer Atomnummer das Beryllium das
einzige ist, dessen Atomgewicht nicht im ganz-
zahlig vielfachen Verhältnis zu dem des Heliums
steht.
O. Hönigschmid und L. Birckenbach \)
haben deshalb eine neue Bestimmung des Atom-
gewichts des Berylliums vorgenommen, indem
sie das wasserfreie geschmolzene Chlorid analy-
sierten. Das Chlorid wurde aus zuverlässig ge-
reinigtem Oxyd in Mischung mit reinem Kohlen-
stoff durch Erhitzen im Chlorstrom dargestellt
und nach zweimaliger Sublimation im Gefäß aus
Quarz eingeschmolzen. Mit Hilfe des Nephelo-
meters wurde das Verhältnis BeCl^ : 2 Ag : 2 AgCl
bestimmt. Die verwendeten Reagentien waren
sorgfaltigst gereinigt, und die Wägungen wurden
mit allen Vorsichtsmaßregeln ausgeführt. Als
Mittel der bisher ausgeführten Analysen ergab sich
der Wert
Be =:: 9,017 : 0,0013.
Dieser Wert ist um i v. H. niedriger als der
bisher angenommene. Die Untersuchungen sind
noch nicht völlig abgeschlossen, dürften aber an
dem abweichenden Ergebnisse nichts mehr ändern.
H. Heller.
Bücherbesprechungen.
Ochs, Rudolf, Einführung in die Chemie.
Ein Lehr- und Experimentierbuch. II. ver-
mehrte und verbesserte Auflage. XII und 522
Seiten in 8" mit 244 Abbildungen im Text
und I Spektraltafel. Berlin 1921, Julius Springer.
Geb. 48 M.
In dem vorliegenden Buch gibt der Verf. eine
für weitere Kreise bestimmte recht geschickte
568
Naturwissenschaftliche Woch enschrift.
N. F. XX. Nr. 39
Übersicht über die Experimentalchemie, die sich
besonders für solche Leser eignet, die sich in
ihren Mußestunden ein wenig mit praktischer
Chemie beschäftigen wollen. In 20 Vorträgen
wird das Gebiet in klarer, verständlicher und
korrekter Darstellung behandelt, und in einem
umfangreichen „praktischen Teil" werden die
wichtigsten, ohne allzu große Hilfsmittel durchführ-
baren Versuche so beschrieben, daß sie ein Lieb-
haber der chemischen Wissenschaft in einem
kleinen Laboratorium zu seiner eigenen Belehrung
ausführen kann. Das Buch kann Freunden der
Chemie, die an eigener experimenteller Arbeit
Freude haben, ohne Einschränkung empfohlen
werden.
Berlin- Dahlem. Werner Mecklenburg.
Le Chatelier, H., Kieselsäure und Silikate.
Berechtigte Übersetzung von Dr. H. Finkel-
stein. XII und 458 Seiten in gr. 8" mit 65 Ab-
bildungen im Text. Leipzig 1920, Akademische
Verlagsgesellschaft m. b. H.
„In den herkömmlichen Lehrbüchern der Che-
mie wird die Kieselsäure, so beginnt Le Chatelier
das schöne und interessante Werk, die Kieselsäure
meist nur kurz behandelt, und die Silikate bleiben
fast ganz unberücksichtigt. Man muß seine Zu-
flucht zu mineralogischen Werken nehmen (der
Berichterstatter macht hier besonders auf den
I. und 2. Band des groß angelegten Handbuches
der Mineralchemie von Doelter aufmerksam),
um nähere Angaben über diese Klasse von Ver-
bindungen zu finden, die doch sowohl vom rein
wissenschaftlichen Standpunkt aus wie im Hin-
blick auf ihre praktischen Anwendungen so außer-
ordentlich interessant ist. Die Zurückhaltung der
Chemiker auf diesem Gebiet läßt sich kaum anders
erklären als durch ein etwas handwerksmäßiges
Festhalten an einer veralteten Tradition. Es ist
unbedingt notwendig, daß diesem Mißverhältnis
ein Ende gemacht und der Kieselsäure und den
Silikaten im Chemieunterricht ein ihrer tatsäch-
lichen Bedeutung angemessener Platz eingeräumt
wird."
In der Tat besteht die Erdkruste zu 58,2 '/q
aus Siliciumdioxyd, und die wirtschaftliche und
technische Bedeutung der Kieselsäure und der
Silikate wird durch die Worte Quarzglas, Silikat-
gläser, Tonindustrie, Zement und Beton zur Ge-
nüge belegt. Unter diesen Umständen erscheint
die Aufgabe, ein Gesamtbild von der Chemie der
Kieselsäure und ihrer Salze und sonstigen Ver-
bindungen zu geben, außerordentlich reizvoll und
lohnend, und Henri Le Chatelier, der selbst
auf dem fraglichen Gebiete eine größere Anzahl
von wertvollen Originalarbeiten geliefert hat, muß
durch seine wissenschaftliche Stellung sowohl als
auch durch seine literarische Begabung als be-
sonders geeignet für die Durchführung dieser Auf-
gabe bezeichnet werden. So ist denn auch ein
Werk entstanden, das die Beachtung nicht nur
des Fachmannes, sondern auch weiterer Kreise
des naturwissenschaftlich interessierten Publikums
verdient. In klarer, auch die physikalische und
die physikalisch - chemische Seite der Probleme
sorgfältig berücksichtigender Darstellung werden
nach einer allgemeinen Einleitung zunächst die
Sauerstoffverbindungen des Siliciums im allge-
meinen besprochen. Daran schließt sich die
Besprechung der wasserhaltigen Kieselsäuren, bei
der besonders die wertvollen Untersuchungen
vanBemmelens als Grundlage dienen. Nun
folgen sehr ausführliche Betrachtungen über die
physikalischen und chemischen Eigenschaften des
Siliciumdioxyds, und im Anschluß daran wird das
Glas eingehend behandelt. Vom Glas führt der
Weg zur genaueren Behandlung der einzelnen
Silikate und von diesen über die Aluminium-
silikate zu den keramischen Produkten und den
natürlichen Gesteinen. Zwei Nachträge, in neuerer
Zeit erschienene Abhandlungen von Le Chate-
lier, „über den Christobalit" und „über die Feuer-
beständigkeit der Silikate", und ein Sach- und
Namenregister schließen das Buch.
Als Redaktionsschluß für das Werk ist das
Jahr 1913 anzusehen, denn die Übersetzung schließt
sich, einem Wunsche des Verf. entsprechend,
streng an den Wortlaut des französischen Originals
an. Die nach 191 3 erschienene Literatur ist nur
durch die beiden bereits angeführten, dem Buche
als Nachträge angefügten Abhandlungen von
Le Chatelier vertreten, eine sachlich nicht ge-
rechtfertigte Beschränkung, an der der große
Krieg wohl seinen Anteil hat.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Stock, Alfred, Ultra-Strukturchemie. Ein-
leichtverständlicher Bericht. 81 Seiten in 8**
mit 17 Abbildungen im Text. 2. durchgesehene
Auflage. Berlin 192 1, Julius Springer. Geh.
12 M.
Unter Hinweis auf die Besprechung der ersten
Auflage des vorliegenden Büchleins über die
Struktur der Atome auf Grund der neueren
Forschungen (Naturw. Wochenschr. 1921, Bd. 20,
S. 16) sei hier auf das Erscheinen der zweiten
Auflage als auf einen Beweis des großen Interesses
aufmerksam gemacht, das es dank seiner klaren,
leichtverständlichen Darstellung in weiten Kreisen
gefunden hat.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Inhalt: A. Will er, Neues über Maränen. S. 561. — Einzelberichte: R. Lorenz, Versuch einer Trennung der Isotopen
des Chlors. S. 566. O. Hönigschmid und L. Birkenbach, Das Atomgewicht des Berylliums. S. 567. — Bücher-
besprechungen: R. Ochs, Einführung in die Chemie. S. 567. H. Le Chatelier, Kieselsäure und Silikate. S. 568.
A. Stock, Ultra-Strukturchemie. S. 568.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganien Reihe 36. Band.
Sonntag, den 2. Oktober 1921.
Nummer 40.
Übersicht der organogenen Sedimente nach biologischen
Gesichtspunkten.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. H. Garns, München.
k
Die Untersuchung der Schlammbildungen er-
scheint zunächst weniger anziehend als diejenige
der Lebewelt des offenen Wassers und ist tat-
sächlich wesentlich mühsamer. Sie wird deshalb
von zahlreichen Hydrobiologen zugunsten der
Planktonforschung arg vernachlässigt. Es sind
vor allem Geologen, Paläontologen und Praktiker
der Fischerei und Brennstoffgewinnung gewesen,
die sich mit der Entstehung der organogenen
Schlammbildungen einläßlicher befaßt haben, doch
hat sich neuerdings, namentlich in Skandinavien,
auch das Interesse der Hydrobiologen von Fach
in erhöhtem Maße der Schlammforschung zuge-
wandt. Von den Apparaten zur Entnahme und
Untersuchung der Schlammproben soll hier nicht
die Rede sein; eine gute Übersicht mit Angabe
der wichtigsten Arbeiten bieten G. Steiners
„Untersuchungsverfahren und Hilfsmittel zur Er-
forschung der Lebewelt der Gewässer". Die
mikrobiologische Analyse organogener Schlamme
ist vor allem in Schweden ausgearbeitet worden
(H. und L. von Post, G. Andersson, Lager-
heim, Einar Naumann u. a.). Auch die Dia-
genese der Ablagerungen soll hauptsächlich nur
soweit behandelt werden, als hierbei lebende Or-
ganismen beteiligt sind, es wird also im folgenden
weniger von fertigen Gesteinen, als von nicht
oder nur wenig verfestigten Absätzen die Rede
sein, bei den Schlammbildungen also mehr von
„Pelen" als von „Peliten". Eingehende Darstellungen
der eigentlichen Diagenese bieten abgesehen von
rein petrographischen Werken die Schriften von
Potonie, Andree, Walther u. a. Unsere
Aufgabe ist es dagegen, eine von biologischen
Gesichtspunkten geleitete Übersicht der organo-
genen Sedimente zu geben, die notwendig von
einer geologischen oder petrographischen Ein-
teilung abweichen muß. Es wird sich dabei zeigen,
daß manche gebräuchlichen Benennungen häufig
in unrichtigem Sinne angewandt werden.
Aus Organismen und Teilen solcher gebildete
Gesteine bezeichnete Ehrenberg alsBiolithe
(vom griechischen /?/og Leben und lld^oq Stein).
Andere nennen sie Organolithe. Neuerdings
werden sie nach dem Vorgang Potonies zu-
meist eingeteilt in Akaustobiolithe, d. h.
nicht brennbare, vorwiegend aus Mineralstoffen
(Kalk, Dolomit, Kieselsäure, Eisenerz usw.) be-
stehende Ablagerungen, und in Kaustobio-
lithe, d. h. vorwiegend aus Humusstoffen, aber
auch aus Kohlenwasserstoffen, Schwefel und an-
deren brennbaren Stoffen zusammengesetzte Ab-
lagerungen. So wichtig diese Unterscheidung für
den Praktiker auch ist, kann sie doch nicht bio-
logisch befriedigen, da sie die Entstehungsweise
der Ablagerungen ganz außer acht läßt und nur
die Zusammensetzung der Endprodukte betrachtet.
Scheinbar so einheitliche Bildungen wie die als
Kalk, Mergel, Torf, Kohle bekannten, können auf
ganz verschiedene Weise entstehen und müssen
daher verschiedenen Gruppen zugewiesen werden.
Unter Berücksichtigung der bei ihrer Entstehung be-
teiligten Lebensvorgänge können wir die organo-
genen Sedimente im weitesten Sinne (d. h. auch
solche umfassend, die nicht als eigentliche Ge-
steine gelten können) in folgender Weise ein-
teilen:
L Durch die Tätigkeit lebender Organismen ent-
stehende Ablagerungen: Biontogene Sedi-
mente.
1. Umwandlung von Zellulose und Holz fort-
wachsender Pflanzen: Eigentlicher Torf
(„autochthoner" oder „ganzpflanziger Torf"):
Moostorf, Sumpftorf, Heidetorf, Waldtorf).
2. Mineralausscheidung durch fortwachsende
Organismen :
a) Ausscheidung von CaCOg (und MgCO^):
Tuff- und Riffbildungen (Quell- und
Kalkalgentuffe, Lithothamnien-, Korallen-
und Serpula- Riffe).
b) Ausscheidung von SiO., (organogene Kiesel-
sinter ?).
c) Ausscheidung von Fe (OH.;): organogene
Limonite (Sumpferz, Seeerz).
d) Ausscheidung von S: organogene
Schwefellager.
IL Durch passive Anhäufung toter Organismen
und Organismenteile entstehende Ablagerungen :
Nekrogene Sedimente.
I. Anhäufung auf dem Land (schwedisch „förna") :
A. Koprogen umgewandelt: Guano, milder
Humus.
B. Nicht oder wenig koprogen umgewandelt:
a) Durch Verwesung fett- und eiweißreicher
Produkte :
ö) Anhäufung harz-, öl- und wachsreicher
Pflanzenteile: Liptobiolithe.
ß) Verwesung von Tierleichen : gänzliche Auf-
lösung oder Bildung von Knochen-
b r e c c i e n.
b) Umwandlung von Zellulose und Holz:
«) Zerfall bei reichlicher Durchlüftung unter
der Mitwirkung höherer Pflanzen und Tiere:
Mull, Schwarzerde usw.
S70
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
ß) Vermoderung bei geheipmtem Sauerstofif-
zutritt: Moder.
2. Anhäufung im Wasser (organische Schlamme,
schwedisch „ätja"):
A. Anhäufung von Skelettresten mit über 80 "/„
CaCOg : Organogene ßreccien (Lu-
machellen, Echinodermenbreccien , manche
Seekreiden, Charakalke usw.).
B. Anhäufung von vorwiegend organischer Sub-
stanz (Organopelite) :
a) Großenteils koprogen umgewandelt („Sapro-
kolle", „Mudde"):
«) In sauerstoffreichem, humusarmem Wasser,
unter stärkerer Mitwirkung der Bodenfauna
und von Bakterien: Planktopelite
(schwedisch „gyttja").
ß) In sauerstoffarmem, an Humuskolloiden
reichem Wasser unter geringerer Mit-
wirkung der Bodenfauna und von Bakterien:
Helopelite (schwedisch „dy").
b) Wenig oder nicht koprogen umgewandelt:
«) Fäulnis und Bituminierung unterworfen:
eigentliche Sapropelite (Faulschlamm,
Schlick).
ß) Periodischer Austrocknung und Verwesung
unterworfen: Saprodil (Meteorpapier,
schwedisch „flytäfja").
y) Vertorfung unterworfen : Schwemm-
torfe.
I. Die biontogenen Sedimente.
Die Ausgangsmaterialien und der Verlauf der
Torfbildung sind so oft beschrieben worden,
besonders eingehend in den Werken von C. A.
Weber, Früh und Schröter, Potoniö u.a.,
daß wir hier nicht näher darauf einzutreten
brauchen. Wesentlich ist aber, daß die Torf-
bildungen nach ihrer Entstehungsweise in ganz
verschiedene Abteilungen gebracht werden müssen.
Unter die biontogenen, d. h. durch Lebenstätig-
keit selber zustande kommenden Ablagerungen
dürfen wir weder die aus abgefallenen Stämmen,
Zweigen und Blättern entstehenden Waldmull-
bildungen, noch die durch Verschwemmung sol-
cher gebildeten Schwemmtorfe (allochthonen
Torfe) zählen, und unter den an Ort und Stelle
entstehenden (autochthonen Torfen) wiederum nicht
die aus unter Wasser zerfallender Pflanzensubstanz
gebildeten limnischen oder homogenen Torfe,
sondern nur die von C. A. Weber so genannten
„ganzpflanzigen Torfe", die aus Moosen, Wurzeln
und Stengelteilen solcher Arten bestehen, die auf
dem Torflager selber weiterwachsen und gewisser-
maßen als ganzes, d. h. soweit ihre Substanz
überhaupt bei der Humifikation erhalten bleiben
kann, in den Torf übergehen. Daß nur ein ver-
hältnismäßig kleiner Teil der Torfe und der aus
ihnen hervorgegangenen Kohlen hierher gehört,
hat mit besonderem Nachdruck H. Potonie
nachgewiesen.
Unter den mit Mineralausscheidung verbunde-
nen Sedimenten nehmen die Tuff- und Riff-
bildungen die erste Stelle ein. Die eigent-
lichen Quelltuffe (Inkrustation von Moosen wie
Eucladium verticillatum , Hymenostylium curvi-
rostre, Cratoneuron commutatum u. a.) wie auch
die marinen Riffbildungen (Korallen-, Serpula-,
Lithothamnien-, Diploporenriffe) sind so oft be-
schrieben worden, daß sich ein Eingehen hierauf
erübrigt. Die Literatur hierüber ist besonders in
den zitierten Werken von Andree und Wal-
ther zusammengestellt, diejenige über fossile
Kalkalgen in der soeben erschienenen Monographie
von Pia. Weniger allgemein bekannt, weil von
geringerer geographischer und geologischer Be-
deutung, sind die zwischen den Quelltuffen und
marinen Riffbildungen eine Mittelstellung einneh-
menden Kalkalgenablagerungen des Süßwassers.
Die Charakalke, wozu die meisten Süßwasserkalke
gehören, sind kaum hierherzustellen (näheres unter
Seekreidebildungen und Planktopeliten), wohl aber
die „Furchensteine", „Schnegglisande" und ver-
wandten Bildungen (näheres hierüber und auch
Angabe der Schriften von Forel, Chodat,
Kirchner, Baumann u.a. in den angeführten
Werken von Früh und Schröter, Schmidle
und Wesenberg-Lund). Im Gegensatz zu
den marinen Kalkalgen (hauptsächlich Rhodo-
phyceen und Siphoneen) handelt es sich im Süß-
wasser fast ausschließlich um kalkzerfressende
Chlorophyceen (Gongrosira, Gomontia, Telamonia
:= F"oreIiella) und kalkabscheidende Cyanophyceen
(Schizothrix, Rivularia, Plectonema, Tolypothrix,
Scytonema u. a.). Vertreter aus denselben Fa-
milien und z. T. denselben Gattungen nehmen
zusammen mit Chroococcaceen (Gloeocapsa u. a.)
und ins Gestein eindringenden P'lechten (beson-
ders Verrucariaceen) auch in hervorragendem
Maß an der Verwitterung von Kalk- und Dolomit-
felsen außerhalb dem Wasser teil, sowohl in den
gemäßigten Zonen wie namentlich auch in den
Tropen. Die Destruktion überwiegt hierbei zu-
meist die Akkumulation, weshalb es nicht zu
irgendwie bedeutenden Sedimentbildungen kommt,
sondern höchstens zur Ausscheidung dünner, oft
mit eigentümlichen Wülsten und stalaktitenförmi-
gen Auswüchsen versehener Sinterschichten.
Übrigens finden sich derartige Blaualgen auch
sehr häufig in den gewöhnlichen Quelltuffen; sie
scheinen jedoch bei deren Bildung nie dieselbe
Bedeutung zu erlangen wie die Tuffmoose.
Eine noch offen zu lassende Frage ist die, ob
es biontogene Kieselablagerungen gibt.
Ehrenberg glaubte solche in der Kieselgur
zu erkennen, doch erwies sich seine Annahme,
daß die Bacillariaceen auf dem von ihnen gebil-
deten Sediment direkt weiterwüchsen, als irrtüm-
lich (näheres bei den Planktopeliten). An den
meisten Kieselsintern, wie sie namentlich an heißen
Quellen gebildet werden, scheinen Organismen
nicht beteiligt zu sein. Wohl aber trifft man
Kieselalgen gar nicht selten auf Kalktuff lebend,
besonders in Gallertschläuchen lebende Arten der
Gattung Cymbella. Einen merkwürdigen Fall
N. F. XX. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
S7I
dieser Art beobachtete der Verf. in dem oberen
See von Fully im Unterwallis. Dieser in 2129 m
Höhe gelegene Alpensee wurde 191 5 auf 2136m
Höhe gestaut. Unterhalb der zementierten Stau-
mauer bildete sich nun im Ablauf während des
darauffolgenden Winters ein höchst eigenartiger
Sinter. IVIakroskopisch erschien der Steine und
Holz überkleidende, im Frühling i bis 3 mm
dicke Überzug wie ein stark limonitischer Tra-
vertin, der stellenweise aus deutlich erkennbaren
Calcitrhomboedern bestand. Offenbar war an dem
Kalkabsatz in dem vordem ziemlich weichen Wasser
der Zement der Staumauer schuld. Die braune Fär-
bung der glänzenden Kristalle rührte jedoch nicht
von Ferrihydroxyd her, sondern von einer in Rein-
kultur in ihnen enthaltenen Kieselalge, der Cymbella
parva W. Smith. Diese erwies sich noch Mitte
Juli bei einer Wassertemperatur von 9 bis 10"
als lebend, bei stärkerer Erwärmung starb sie
jedoch ab, die Kruste löste sich großenteils ab
und es entwickelten sich andere Cymbella-Arten
(C. affinis, helvetica, cymbiformis).
Von den organogenen Eisenerzen gehört nur
ein Teil zu den biontogenen Sedimenten und
zwar die meisten der als Sumpferz, Sumpfocker,
Raseheisenstein und Seeerz bekannten Limo-
nite. Am häufigsten bildet das Sumpferz Ein-
lagerungen in Torf. An seiner Bildung sind
hauptsächhch Eisenbakterien (Leptothrix ochracea,
Gallionella u. a.) beteiligt. Näheres hierüber bei
Wesenberg-Lund 1901, Naumann 1919 und
den daselbst zitierten Arbeiten von Senft, van
Bemmelen, Molisch u. a. Kolloidales
Schwefeleisen und Pyrit entsteht hingegen haupt-
sächlich in echtem Faulschlamm (Sapropel).
Die organogenen Schwefellager, gebildet
von Beggiatoa, Thioploca und anderen Schwefel-
bakterien, sind gleichfalls nur teilweise den bion-
togenen Sedimenten zuzuzählen, die meisten stehen
wohl an der Grenze zwischen solchen und eigent-
lichen Faulschlammbildungen (Literatur bei
Potoniö, Lauterborn, Kolkwitz und
M a r s s o n).
II. Die nekrogenen Sedimente.
Sie entstehen aus bei der Ablagerung bereits
toten Organismen oder Organismenteilen. Ser-
nander schlägt (1918) vor, derartige, noch un-
verfestigte Anhäufungen auf dem Lande mit dem
schon von H. v. Post und Hesselman ge-
brauchten schwedischen Terminus Förna, solche
in Wasser dagegen als Äfja zu bezeichnen. Da
es wünschbar ist, diese frischen Anhäufungen von
den fertigen „Böden" und „Sedimenten" zu unter-
scheiden, wollen wir uns im folgenden dieser
kurzen, unzweideutigen Namen bedienen. In beiden
Gruppen ist es von größter, im allgemeinen viel
zu wenig beachteter Wichtigkeit, festzustellen, ob
eine derartige Ablagerung großenteils durch lebende
Organismen umgewandelt wird oder nicht. Einer-
seits wirken Bakterien, Pilze und höhere Pflanzen
zersetzend und aufschließend ein, andererseits aber
namentlich auch die niedere und höhere Tierwelt.
Erd- und Schlammbildungen, die sich großenteils
aus Exkrementen zusammensetzen, also eine oder
wiederholte Darmpassagen durchgemacht haben,
bezeichnen wir mit Hampus von Post (1862) als
koprogen.
Rein koprogene Ablagerungen auf dem Fest-
land sind selten, hierher gehören in erster Linie
die Guano -Lager, die sowohl von Seevögeln wie
auch von Fledermäusen (Höhlenguano) herrühren
können. Allgemein verbreitet sind dagegen aus
mineralischen Verwitterungsprodukten und ko-
progen umgewandelten Vegetabilien bestehende
Böden. Der größte Teil der als m i 1 d e r H u m u s ,
Dammerde, Ackererde, Braunerde usw.
bezeichneten Böden gehört hierher. Für die Einzel-
heiten muß auf die grundlegenden Arbeiten von
Darwin, P. E. Müller und die neueren Dar-
stellungen von Ramann u.a. verwiesen werden.
Unter den nicht oder nur wenig koprogen
umgewandelten Ablagerungen auf dem Land lassen
sich 4 Hauptgruppen unterscheiden, je nachdem
die Förna vorwiegend aus leicht oder schwer
zersetzlichen Pflanzen- oder Tierprodukten ent-
steht. Bei leicht zersetzlichem JVIaterial, sei es
nun pflanzlichen oder tierischen Ursprungs, kann
die Zersetzung durch Verwesung vollständig sein,
so daß sich gar keine festen Rückstände, also
keine Sedimente ergeben, wie es ganz besonders
im tropischen Klima der Fall ist. Es können
sich aber auch Sedimente aus durch hohen Ge-
halt an Harz oder Wachs schwer zersetzlichen
Pflanzenteilen oder unter besonderen Umständen
(z. B. in Höhlen) konservierten tierischen Skeletten
bilden. Im ersten Fall entstehen die Lipto-
biolithe (z. B. Sporite, Fimmenite, Bernstein
usw.), im zweiten Knochenbreccien. Aus
zellulosereicher Förna entstehen mannigfache, von
den einzelnen Autoren recht verschiedenartig be-
zeichnete Produkte. Wenn die Zersetzung nicht
wie z. B. im tropischen Regenwald und selbst
schon im mediterranen Europa vollständig ist,
entstehen unter der Mitwirkung höherer Pflanzen
und Pilze, auch verschiedener Tiere, kompakte
oder meist pulverige Trockentorfbildungen, die wir
zur Unterscheidung der eigentlichen biontogenen
Torfe am besten als Mull bezeichnen. H. v. Post
nannte nur im Wasser biontogen gebildete Humus-
formen Torf, die auf dem Land dagegen Mull
(schwedisch Mylla). Er unterscheidet Nadelwald-
mull (Barrskogsmylla), Laubwaldmull (Löfskogs-
mylla), Feldmull (Fältmylla), Fels- oder Flechten-
und Moosmull (Bergmylla), Gartenmull (Gärds-
mylla), Sumpfwiesenmull (Kärrängsmylla) und
Meerstrandsmull (Hafsstrandsmylla). Wenn somit
auch die Ansicht Kästners, daß alle Trocken-
torfe ausschließlich oder fast ausschließlich nur
aus Laub- und Nadelförna entstehen, zu weit
gehen dürfte oder doeh nur für bestimmte, nicht
besonders humide Klimata Geltung hat, wird es
doch in Zukunft angebracht sein, diesen besonders
von S. P. Müller untersuchten Bildungen er-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
höhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Werden die
Humuskolloide von „Feldmull" durch kapillar auf-
steigendes, salzreiches Bodenwasser abgesättigt,
so entsteht Schwarzerde (russisch Tscher-
nosem). In typischer Ausbildung ist diese an
arides Klima gebunden, aber auch im humiden
Klima (z. B. im Hochgebirge)- vermag kalk-
reiches Bodenwasser ähnliche Wirkungen hervor-
zurufen („Alpenhumus"). Findet die Umwandlung
der Förna vornehmlich bei Sauerstoffabschluß, also
weniger unter der Mitwirkung höherer Pflanzen
als von Pilzen und Bakterien statt, so tritt Ver-
moderung ein. In oberflächlichen Schichten
führt sie zu völligem Zerfall, in tiefen zur Bil-
dung kompakter trockentorfartiger Produkte.
Alle bisher besprochenen Ablagerungen sind
geologisch von viel geringerer Bedeutung als die
folgenden, nämlich die aus abgestorbenen Orga-
nismen im Wasser gebildeten Sedimente. Je nach
der Zusammensetzung des Ausgangsmaterials, der
„Äfja", und der Umwandlungen, die diese erfährt,
müssen auch hier ganz verschiedenartige, freilich
durch vielfache Übergänge verbundene Bildungen
unterschieden werden. Die Abgrenzung sowohl
unter sich wie gegenüber den biontogenen Tuff-
bildungen und rein minerogenen Sedimenten ist
nicht immer leicht, so daß es nicht verwundern
kann, wenn von Geologen und selbst von Bio-
logen ganz heterogene Bildungen mit denselben
Namen belegt werden und vielfache Mißverständ-
nisse obwalten. So werden in Oberbayern all-
gemein dolomitische Bändertone, also rein an-
organische, terrigene Schlemmabsätze („Indsöler"
der schwedischen Geologen) als „Seekreide" oder
„Tüncherkreide" bezeichnet, wogegen die lacustren,
organogenen Sedimente, die in Nordeuropa und
in der Schweiz als Seekreide gelten, hier (z. B.
von Gümbel, Ammon, Aigner u. a.) als
„Tuffe" bezeichnet werden, obgleich sie V9n echten
Quelltuffen recht verschieden sind. Den Übergang
zwischen den Tuffen und eigentlichen organogenen
Kreidebildungen stellt der Alm oder die „Weiß-
erde" („Bleke" mancher schwedischer Autoren)
dar, ein Kalkabsatz von oft krümeliger Struktur,
der weniger durch Organismentätigkeit zustande
kommt, als vielmehr dadurch, daß kalte Grund-
wasserquellen, die bei den am besten bekannten
Vorkommnissen in Oberbayern fast konstante
Temperaturen von 8 bis 1 1 " aufweisen, in wär-
meres (im Winter kälteres) Oberfiächenwasser
austreten, wobei natürlich reichlich Calciumcar-
bonat abgeschieden wird. Die in diesen Quellen
oft in großer Zahl lebenden Algen (Cym-
bella, Chaetophora, Draparnaldia, Batrachospermum
u. a.) und Mollusken (z. B. Bythinella) scheinen
hierbei ohne nennenswerten Einfluß zu sein, so
daß der Alm also kein eigentlich organogenes
Sediment darstellt. Sendtner, der 1854 die
Namen „Alm" und „Weißerde" in die Wissen-
schaft eingeführt hat, gab eine vollkommen rich-
tige Schilderung dieser Bildungsweise, wogegen
Gümbel den Alm für identisch mit der Schweizer
Seekreide hielt und Ramann ihn durch Um-
wandlung von Molluskenschalen enstanden glaubte
(1896, S. 162), ihn also für eine sekundäre orga-
nogene Bildung hielt.
Anders verhalten sich die organogenen
B r e c c i e n. Von der Schreibkreide, die gewöhn-
lich in diesem Zusammenhang behandelt wird,
wollen wir hier zunächst absehen und als orga-
nogene Breccien diejenigen Sedimente definieren,
die zur Hauptsache aus zusammengeschwemmten
Skeletteilen bestehen und über 80% Calcium-
carbonat enthalten. Die Skeletteile können ent-
weder pflanzlicher Natur sein wie bei den seit
dem älteren Tertiär in Süß- und Brackwasser
weit verbreiteten Charakalken und den marinen
Kalkalgenoolithen (klastischenLithotham nienkalken,
Corallinensanden usw., in fossilem Zustand von
rein minerogenen Oolithen oft schwer zu unter-
scheiden), oder aber gemischter bis vorwiegend
tierischer Natur wie bei den eigentlichen See-
kreiden, den Lumachellen (Schalenbreccien) und
Spatkalken (Echinodermenbreccien), die ja be-
kanntlich seit dem Paläozoikum für die Litoral-
fazies aller marinen Formationen so charakte-
ristisch sind. Die Bildung der Charakalke, zu
denen die große Mehrzahl der Süßwasserkalke
(Stinkkalk, „Wetterkalk" der Nordschweiz) gehört
und die auch im fossilen Zustand an dem reich-
lichen Vorkommen von Sporenkernen und Stengel-
internodien der Armleuchteralgen leicht kenntlich
sind, reicht in den nordeuropäischen Seen bis
etwa 5 m Tiefe, in nordamerikanischen Seen
bis zu 7 m, in den Seen des Schweizer Jura
und der oberbayerischen Hochebene bis zu 13 m,
im Genfersee bis zu 25 m und im Bodensee so-
gar bis zu 30 m Tiefe. Der Charakalk des Lake
Michigan ist 6 bis 7 m mächtig, wird aber doch
noch von einzelnen Vorkommnissen des Alpen-
vorlandes übertroffen. Der Verf. untersuchte einen
im jungpostglazialen Isarsee am Ellbach in Tölz
abgelagerten und nach den Oosporen zu schließen
hauptsächlich von Chara foetida gebildeten Cljara-
kalk, der eine Mächtigkeit von mindestens 20 m
aufweist. (Die nahe davon anstehende und seit
langer Zeit technisch verwertete „Tölzer Kreide"
ist ein älterer, rein terrigener Bänderton.) In
einer interglazialen Gyttja von Uznach in der
Schweiz fand er u. a. Tolypellopsis stelligera.
Durch Zunahme der gewöhnlich auch im Chara-
kalk reichlich vorhandenen Mollusken (Bythinia,
Valvata, Planorbis, Limnaea, Pisidium u. a.) kommt
- es sowohl im Süßwasser, noch mehr aber in den
entsprechenden marinen Bildungen (mit Cardium,
Cyrena, Cerithium, Ostrea usw.) zur Bildung eigent-
licher Schalenbänke und Lumachellen. Ganz ähn-
lichen Ursprung haben auch die besonders aus
Crinoidengliedern bestehenden Echinodermenbrec-
cien. Das Calciumcarbonat der Seekreiden ent-
stammt aber auch aus anderen Quellen, ganz ab-
gesehen von der Zufuhr vom Ufer und von
Zuflüssen her. Dicke Kalkkrusten bilden sich an
höheren Wasserpflanzen, besonders Potamogeton-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Arten, und zur Sommerzeit fallen auch in den
oberflächlichen Wasserschichten, wie z. B. Nip-
kow gezeigt hat, unter der Mitwirkung von
Planktonalgen in Menge feine Kalkkriställchen
aus. Die Seekreide, der „Seeziger" und „Milch-
lett" der Schweizer und Schwaben, die „Söblege"
oder „Sjöbleke" der Skandinavier, variiert daher
stark in ihrer Zusammensetzung und zeigt die
mannigfaltigsten Übergänge zu Tuffen (Kalkalgen-
tuffe, vgl. auch den Alm oben), terrigenen Kalk-
und Mergellagern und nicht zuletzt auch zu den
im folgenden zu besprechenden Schlammbildungen,
insbesondere zu der „Kalkgyttja".
Wenn die Äfja nur wenig oder keine Kalk-
skelette enthält, entstehen die eigentlichen or-
ganogenen Schlamme oder Mudden. H.
Potonie hat seit 1904 für die daraus entstehen-
den Schlammgesteine (Pelite) die Bezeichnung
„Sapropelite" gebraucht, die in der Literatur
allgemein Eingang gefunden hat. Wie wir noch
näher ausführen werden, stellt jedoch der eigent-
liche Faulschlamm oder Sapropel in dem Sinn, in
dem Lauterborn das Wort bereits 3 Jahre
früher mit gutem Recht eingeführt hat, nur einen
sehr kleinen Teil dieser Bildungen dar, die wir
daher in ihrer Gesamtheit besser als Organo-
pelite bezeichnen wollen. Gemeinsam ist diesen
Sedimenten, daß sie frisch stets wasserreiche
Kolloide, also gallertige Massen darstellen, die
beim Eintrocknen sehr stark schrumpfen und beim
Fossilisationsprozeß (Diagenese) häufig Schieferung
annehmen. Von grundlegender, immer noch
nicht genügend gewürdigter Bedeutung ist hier
von Posts Unterscheidung in koprogene
und nicht-koprogene Bildungen.
Die koprogenen Schlamme sind wenigstens
im Süßwasser von so überwiegend höherer Be-
deutung als die nicht-koprogenen Schlamme, zu
welch letzteren, wie wir noch sehen werden, u. a.
der echte Sapropel gehört, daß z. B. in den für
die Schlammkunde grundlegenden Werken von
Früh und Schröter (1904) und von Naumann
(1917) überhaupt nur koprogene Organopelite
näher behandelt werden. Unter diesen wollen
wir vorerst nur solche behandeln, die sich aus
Abfallstoffen der Wasserfauna, sowohl der nekti-
schen und planktischen wie der limicolen, zusam-
mensetzen. Die durch fließende Gewässer in
Ströme, Seen und Meere geführten Fäkalmassen
von Landtieren und Menschen, die ganz andere
Umwandlungen durchmachen und echte Faul-
schlamme ergeben können, gehören nicht hierher,
sind übrigens auch kaum irgendwo von geologi-
scher Bedeutung. Die eigentlich koprogenen
Organopelite zerfallen in 2 Gruppen, die zuerst
H. von Post, dann Früh, Ramann, Nau-
mann u. a. auseinandergehalten haben, wogegen
andere Forscher sie bis heute vermengt haben
unter Namen wie Schlamm (Ramann, Passarge),
Mudde (C. A. Weber), Dy (so P. E. Müller
1878), Sapropel (Potonie).
Durch Verminderung des Gehalts an Mineral-
Substanz entsteht in klaren Gewässern, besonders
in nicht zu kleinen Seen, aber ebensogut auch
im Meer eine besonders aus Abfällen (Leichen,
Exuvien und Fäkalien) von Planktonorganismen
gebildete Äfja, die man daher als Plankton-
Schlamm oder Planktopel bezeichnen könnte.
(Es gehören freilich nicht alle Planktonsedimente,
und auch nicht nur solche hierher). Da die
grundlegenden Arbeiten hierüber durchwegs von
skandinavischen Forschern, besonders von Schwe-
den herrühren, ist es nur gerecht, wenn auch der
von diesen gebrauchte Terminus allgemeinen Ein-
gang findet: Gyttja (dänisch Gytje, gesprochen
gyttje oder jüttje). Die in typischer Ausbildung
nur in humusarmen, sauerstoffreichen, daher nicht
zu warmen Gewässern abgelagerte Gyttja ist eine
homogene, frisch graugrüne, sehr weiche Gallerte,
die beim Trocknen außerordentlich schwindet,
hell- bis dunkelbraun oder grau und hornartig
spröde wird. H. von Post gibt in wörtlicher
Übersetztung (a. a. 0. S. 7) folgende Definition:
„Diese Ablagerung bildet eine hauptsächlich aus
zerteilten Pflanzen und Kieselschalen von Diato-
meen bestehende, sowohl in feuchtem wie trocke-
nem Zustand graue, in feuchtem elastische Masse,
die sich auf dem Boden der klaren und reinen
Gewässer, Quellen, Bäche, Seen usw. über dem
Sand oder Lehm ablagert." Die darin enthaltenen
Pflanzen- und Tierreste sind größtenteils koprogen
umgewandelt. Da dies bei der „Wiesen- oder
Papiergyttja" (Ängsgyttja eller Pappersgyttja), dem
Wiesen- oder Meteorpapier Ehrenbergs, nicht
zutrifft, können wir sie nicht zur eigentlichen
Gyttja zählen. Bei dieser unterscheidet v. Post
Quellgyttja (Källgyttja), Teichgyttja (Dammgyttja),
Flußgyttja (Flodgyttja), Seegyttja (Sjögyttja) und
Strandgyttja, spätere schwedische Geologen auch
eine Meergyttja. Zu dieser zählen die wichtigsten
Planktonsedimente, wie der Globigerinenschlamm,
Radiolarienschlamm , Pteropodenschlamm und
höchst wahrscheinlich auch die Schreibkreide, ob-
gleich bei dieser durch völlige Zerstörung der
organischen Substanz die kolloidale Beschaffenheit
gänzlich verloren gegangen ist. Das geschieht
aber auch sehr allgemein bei der Diagenese an-
derer Gyttja-Arten, weshalb diese im fossilen Zu-
stand oft als scheinbar anorganische Tone, Mergel,
Schiefer, Kalk- und Hornsteine erscheinen und
auch von den Geologen allgemein als solche be-
zeichnet werden. Sowohl unter der marinen wie
unter der Süßwattergyttja kommt der Diatomeen-
gyttja eine besonders große praktische Bedeutung
zu. Sie ist die besonders durch Ehrenbergs
Mikrogeologie bekannt gewordene Kieselgur
(Tripel, Polierschiefer). Für die dänischen Seen
unterscheidet Wesenberg-Lund neben der
Diatomeengyttja auch noch eine „Cyanophyceen-
gyttja", eine „Chitingyttja" (hauptsächlich aus
Crustaceenpanzern gebildet) und eine Kalkgyttja,
die zu den Kreidebildungen überleitet (ein Teil
der Seekreiden gehört dazu), wogegen Cyano-
phyceen- und Chitingyttja schon besser den eigent-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
liehen Faulschlammbildungen zuzuzählen sind.
Die „Detritusgyttja", die reichlichere Beimengun-
gen von Resten höherer Pflanzen enthält, leitet
einerseits zum Dy, andererseits zum Schwemm-
torf über. Eine erst neuerdings durch Naumann
aus kalten Gewässern Schwedens beschriebene
Gyttja ist die Chrysamonadengyttja, die besonders
reich an Skeletteilen von Mallomonas und Kiesel-
Cysten von Dinobryon und anderen Chrysomonaden
ist. Im übrigen sei auf die zitierten Arbeiten von
V.Post, Andersson, Wesenberg und Nau-
mann verwiesen. Am wenigsten scheint bisher
die Quellgyttja beachtet worden zu sein, die
auch von Post nur ganz kurz anführt. Zwei
sehr schöne Vorkommnisse hiervon fand der Verf.
südlich von München. Das eine ist ein Absatz
in großen Schotterquellen bei Mühltal im Isartal.
In den dortigen Quelltrichtern wuchert üppig
Mentha aquatica. Ihre Stengel und Blätter wer-
den so stark von Kalk inkrustiert, daß die sich
ablösenden Krusten eine eigene, tuffartige Ab-
lagerung bilden. Daneben findet sich aber auch
eine echte graugrüne Gyttja, die nach meinen
Beobachtungen wohl größtenteils oder ausschließ-
lich aus den Exkrementen von Gammarus pulex
besteht. Das zweite Vorkommnis liegt an der
Säge von Gaissach bei Tölz. An einem Bach-
einschnitt ist folgendes Profil aufgeschlossen : über
2 m Moostorf 30 bis 40 cm Sand und Lehm und
darüber etwa i V2 m einer graubraunen Gyttja mit
kleineren Einlagerungen von Holz und Torf. Daß
sich diese ungewöhnlich mächtige Gyttja tatsäch-
lich in früheren Quellen gebildet hat, beweisen
die darin massenhaft enthaltenen Schalen einer
kleinen Schnecke, der Bythinella alta Clessin, die
ausschließlich in Quellen und Quellbächen mit
gleichmäßig niedriger Temperatur lebt und für
solche in Oberbayern sehr charakteristisch ist.
Daneben fand ich in der Gyttja, die wohl zur
Hauptsache aus den Exkrementen dieser Art be-
stehen dürfte, nur noch vereinzelte Schalen einer
kleinen Landschnecke (Hyalinia lenticula Held.).
An der Bildung der Seegyttja scheinen neben
Mollusken ganz besonders auch Mückenlarven,
Oligochäten, Nematoden, Rotatorien und Proto-
zoen beteiligt zu sein. Neben der koprogenen
Umwandlung kommen auch bei echter Gyttja in
geringem Umfang Oxydations- und Reduktions-
prozesse unter der Mitwirkung von Bakterien vor.
- Sernander fand über der eigentlichen Gyttja
des Säbysjö in Schweden eine Reduktionsschicht,
in der die Temperatur um 2 * höher als in der
Umgebung war. Sind Fett, Eiweiß oder Chitin
in solcher Menge vorhanden, daß Bodenfauna und
Bakterien sie nicht völlig lösen und den Rück-
stand mineralisieren können, so daß also stärkere
Fäulnis eintritt, kommt es zur Bildung des später
zu behandelnden Faulschlamms.
Wenn andererseits die mineralische Substanz
gegenüber der pflanzlichen zurücktritt, wie es be-
sonders in kalkarmen, durch Humuskolloide braun
gefärbten Gewässern der Fall ist, entsteht Dy-
gyttja und bei noch stärkerem Überwiegen ver-
torfenden Materials der Dy oder eigentliche
Lebertorf (unter letzterem Namen verstehen man-
che Autoren wie G. Andersson freilich die
Gyttja, andere vor allem Dygyttja). Vau pell
brauchte dafür „amorf Törv", Wollny „Schlamm-
torf", Ramann „Moor". C. A. Weber „Torf-
mudde". Früh und Schröter „limnischer Torf '.
Um den Verwechslungen mit echtem Faulschlamm
oder Sapropel einerseits und mit Dopplerit anderer-
seits (noch neuerdings bei Naumann 1) vorzu-
beugen, schlage ich die Bezeichnung Hei Opel')
vor, für den verfestigten Torfschlamm oder Leber-
torf (= Saprokoll Potonies) Helopelit. Der
in Schweden allgemein gebräuchliche Name Dy
verdient seiner Kürze wegen den Vorzug (Dänisch
Dynd ist dagegen nach Wesen berg echter
Faulschlamm). Dy besteht nach H. vonPost aus
pflanzlichem Detritus mit Resten von Algen und
Wassertieren, zur Hauptsache aus braunem bis
schwarzbraunem, feucht stark gequollenem Humus.
„Er bildet sich am Boden der braungefärbtes
Wasser führenden Seen (der sog. Dyseen) und
anderen kleineren Vertiefungen der Erdoberfläche"
(von Post). Das Aussehen frischen Dys wird
am besten durch die z. ß. in der Nordschweiz
volkstümlichen Bezeichnungen Lebertorf und Torf-
leber wiedergegeben. Beim Eintrocknen schrumpft
das Volumen auf V? bis Vio ""<^ ^i^ frisch ganz
amorph scheinende Gallerte wird oft (besonders
wenn Frost einwirkt) schiefrig bis blättrig, zu-
weilen auch heller graubraun. Bei der Bildung
des Dy scheinen im Gegensatz zu der der Gyttja
höhere Wassertiere wie Schnecken, Krebse und
Insektenlarven von geringerer Bedeutung zu sein.
Wichtiger sind Rhizopoden, Nematoden, Gastro-
trichen usw. ; man findet aber auch öfters im Dy
nicht oder nur wenig koprogen umgewandelte Al-
genreste, besonders gallertige Cyanophyceen, Des-
midiaceen und Diatomeen. Besonders sind auch
Sporen und Pollen oft sehr gut erhalten, so daß in den
letzten Jahren in Skandinavien selbst quantitative
Pollenuntersuchungen vorgenommen werden konn-
ten (Lagerheim, L. v. Post, Jessen, Erdt-
man, Holmsen u. a.). Die Hauptmasse der
meisten Dybildungen scheint indessen keine Äfja,
sondern aus kolloider Lösung ausgeflockte Humus-
substanz zu sein. Ausschließlich aus solcher besteht
der zu Unrecht oft mit dem Dy verwechselte Dop-
plerit, den der Schweizer Torfstecher treffend
„Gestocktes Blut" nennt. Er ist nicht koprogen,
sondern entsteht durch Koagulation im Wasser
(meist in pflanzlichen Hohlräumen, in Höhlungen
in Torf oder Ton usw.) gelöster Humuskolloide.
Frisch ist er im Gegensatz zum Lebertorf glän-
zend und etwas durchscheinend und behält den
muschligen Bruch auch nach dem Trocknen, das
bei ihm mit noch stärkerer Schrumpfung ver-
bunden ist, bei. Meist findet man ihn nester-
') Naumann gebraucht hierfür in seiner neuesten Pu-
blikation Tyrfopel. (Anm. während des Druckes.)
N. F. XX. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
575
weise oder aderweise in Moostorf, Lebertorf und
in Spalten der darunter liegenden Tone. Näheres
hierüber bei Früh und Schröter und den da-
selbst angeführten älteren Spezialarbeiten.
Der normale Gang der Verlandung sowohl
von postglazialen wie von interglazialen und
präglazialen Seen ist also der, daß sich über an-
organischem Gestein, Kies, Sand oder Lehm zu-
erst Gyttja, dann Dy, Schwemmtorf und zuletzt
eigentlicher Torf bildet.
Wie schon gesagt, rechnete Potonie Gyttja
und Dy zu den Faulschlammbildungen oder Sa-
propelen und die daraus entstehenden Gesteine
zu den Sapropeliten. Fossiler Dy sind z. B. die
meisten Gaskohlen. Nun haben wir aber bisher
noch eine Gruppe von Schlammbildungen außeracht
gelassen, und gerade sie ist es, für die Lauter-
born 1901 die Bezeichnung Faulschlamm
oder Sapropel eingeführt und deren Lebewelt
er seither ausführlich beschrieben hat. Während
Gyttja und Dy meist nahezu geruchlos sind, ist
echter Faulschlamm stets eine übelriechende, meist
dunkelbraun bis schwarz oder etwas bläulich ge-
färbte Masse, die nur zum kleinen Teil oder
überhaupt nicht aus Exkrementen, sondern zu-
meist aus pflanzlicher und (in größerem Maß fast
nur im Meer) tierischer Äfja, also abgestorbener,
in Fäulnis übergehender organischer Substanz be-
steht. Im Süßwasser treten echte Faulschlamm-
bildungen derart in den Hintergrund, daß solche
z. B. in den zitierten Werken von v. Post,
Früh und Schröter und Naumann überhaupt
nicht erwähnt werden. Ramann behandelt sie
kurz als „Schlick", Wesenberg - Lund als
„Dynd". Sie bilden sich hauptsächlich in seichten,
stillen Gewässern, in denen ein üppiger Pflanzen-
wuchs eine lebhaftere Zirkulation und Durch-
lüftung des Wassers und eine stärkere Durch-
leuchtung verhindert, so daß die in dem sauer-
stoffarmen Grundwasser nur spärlich entwickelte
Bodenfauna den organischen Detritus nicht be-
wältigen kann und dieser infolgedessen in stin-
kende Fäulnis übergeht. Es handelt sich also
zumeist um kleinere Teiche, Tümpel, Altwässer
und Gräben, andererseits aber auch um Seen
und Ströme, denen durch Kanalisation soviel
fäulnisfähige Abwässer zugeführt werden, daß die
Grundfauna ihrer nicht Herr werden kann oder
in denen diese durch Sauerstoffmangel oder gif-
tige Fabrikabwässer ganz oder zum größten Teil
(mit Ausnahme weniger polysaprober und „olig-
oxybionter", d. h. mit wenig Sauerstoff auskom-
mender Arten) vernichtet wird. In den baltischen
Seen mit ihrem üppigen Cyanophyceenplankton
und in Teichen mit Lemna und Spirodela-Decken
sind Bildungen von Faulschlamm relativ häufig
und auch schon öfter beschrieben worden (deutsch
meist als Schlick, dänisch als Dynd, englisch als
Muck), wogegen sie in den Alpen und im Norden
sehr stark zurücktreten oder erst als Folge künst-
licher Verunreinigung entstehen. Einen derartigen
Fall beschreibt z. B. Nipkow (1920) aus dem
Zürichsee. Seit 1896 bildet sich in dessen Tiefe
in jedem Winter eine schwarze Faulschlamm-
schicht (hauptsächlich aus Oscillatoria rubescens),
im Sommer dagegen helle Gyttja (hauptsächlich
aus Diatomeen). In Teichen, Altwässern u. dgl.
kann man häufig beobachten, daß sich im Winter
Faulschlamm, im Sommer dagegen infolge der
intensiven Organismentätigkeit Dy bildet. Andere
Verhältnisse bieten Brack- und Salzwasser. Der
an den meisten Küsten und besonders in Buchten
und Binnenmeeren so weit verbreitete Blau-
schlick oder blaue Kontinentalschlamm ist ein
echter Sapropel. Eine gute Übersicht über die
brackischen und marinen Sapropele gibt Andree
(1916/17). Ihre hervorragende Bedeutung als Aus-
gangsmaterial der Bitumina (gasförmige, flüssige
und feste Kohlenwasserstoffe wie Erdöl, Asphalt
usw.) legten Engler und Höfer, Potonie
(1908) und in kurz zusammenfassender Form
Blumer (1920) dar. Es ist kein Zufall, daß fast
alle primären Erdöllagerstätten in Brackwasser
und an Orten mehrfacher Wechsellagerung von
limnischen und marinen Schichten entstanden
sind. Durch das plötzliche Eindringen von Meer-
wasser in Süßwasser und umgekehrt entstehen
Massensterben, bei denen namentlich auch der
größte Teil der Bodenfauna vernichtet wird, so
daß die koprogene Umwandlung des toten Ma-
terials, der „Äfja" fortfällt. Statt „biologischer
Selbstreinigung" wie bei der Gyttja und beim
Dy tritt Fäulnis und später durch komplizierte
Umsetzungen (Reduktionen, Hydrolysen, Polyme-
risationen usw., vgl. C. Engler), Bituminierung
ein. Sowohl im Süßwasser wie im Meer ent-
stehen hierbei sehr regelmäßig Schwefelwasser-
stoff und Schwefeleisen, dieses zuerst als schwarzes,
amorphes Kolloid (FeS), das sich- später in kristal-
lisierten Pyrit (FeSj) umwandelt. Durch die bei
den Fäulnisvorgängen frei werdenden Säuren (be-
sonders Kohlensäure, aber auch Schwefelsäure)
werden nicht nur viele Tiere getötet, sondern
auch ihre Kalkskelette und Schalen gelöst. Da-
her findet man in echtem Faulschlamm so selten
Molluskenreste. Schon älteren Beobachtern fiel
es auf, daß die Ölschiefer des süd- und ostalpinen
Muschelkalkes (z. B. am Luganersee, bei Innsbruck
und in Oberbayern) zwar z. T. reich an Ab-
drücken von Ganoiden- und Reptilresten sind,
aber ganz frei von Mollusken, wogegen die
zwischenlagernden, nur schwach bituminösen Do-
lomitschichten stellenweise ganz von Ceratiten
und Daonellen erfüllt sind.
Während Pyrit auch auf anorganischem Wege
(durch Pneumatolyse usw.) entsteht, scheinen
Glaukonit (Grünsand) und Phosphorit ebenso wie
die Bitumina fast ausschließlich in marinem Faul-
schlamm gebildet zu werden. Erstere finden sich
in besonders allgemeiner Verbreitung in creta-
cischen, letztere in oligocänen Sedimenten, ohne
jedoch an diese gebunden zu sein. Die wich-
tigsten Spezialarbeiten über Glaukonit- und Phos-
phoritbildung sind bei J. Walther (1919, S. 155
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
bis 157) zusammengestellt. Aus diesen kurzen Andeu-
tungen dürfte zur Genüge hervorgehen, wie große
praktische Bedeutung den echten Sapropelen zu-
kommt, so daß eine scharfe Unterscheidung von
Planktopel und Helopel in Zukunft geboten ist.
Übergänge zu beiden kommen selbstverständlich vor.
Von viel geringerer Bedeutung sind die beiden
anderen Gruppen nicht koprogen umgewandelter
Schlammbildungen. Durch periodische Austrock-
nung von größeren Algenmassen entsteht der
Saprodil oder das Meteorpapier (Wiesenleder,
Oderhaut usw., schwedisch Flytäfja, in fossilem
Zustand Papierlehm, Papierkohle, Dysodil), das zu-
erst von Ehrenberg, zuletzt von Sernander
(1918) ausführlicher geschildert worden ist. Aus
süßem Wasser kenne ich als Dysodilbildner be-
sonders die Algengattungen Hyphaeothrix , Dia-
toma (besonders D. hiemale an periodischen
Grundwasserquellen), Spirogyra und Cladophora,
aus Brack- und Meerwasser Cladophora und En-
teromorpha. Gallertige Blau- und Grünalgen und
Rotalgen gehen dagegen auch bei verhältnismäßig
rascher Austrocknung doch meist in stinkende
Fäulnis über. Umgekehrt fand ich Froschlaich
(von Rana temporaria) wiederholt zu pergament-
artigen Häuten ausgedorrt. Von tierischen Resten
sind für limnische Dysordilbildungen neben Fischen
(Cypriniden) und Mollusken (besonders Succinea)
ganz besonders Ostracoden charakteristisch, die
ich genau wie in rezentem vor meinen Augen
aus Spirogyra Jürgensii gebildetem Meteorpapier
auch in interglazialem Papiermergel und eozäner
Papierkohle fand.
Die Schwemmtorfbildungen oder
allochthonen Torfe sind bei Potonie, Früh und
Schröter usw. so ausführlich dargestellt und
bieten gegenüber anderen Torfbildungen so wenig
wesentlich neues, daß dieser Hinweis genügen mag.
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N. F. XX. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
577
Der hypothetische Weltäther.
i
[Nicbdruck verboten. 1 Von Studienrat W.
Zuerst kommt das Wort „Äther" in der
griechischen Mythologie vor und bezeichnet die
über der von den Menschen geatmeten Erdluft-
schicht sich unendlich ausdehnende leuchtende
feine Himmelsluft. Es bedeutet auch ganz allge-
mein den Himmelsraum, in dem die Götter
wohnen, Zeus ist der Herr des Äthers.
Einen schwachen Versuch, mit dem Worte
Äther ein für die Vorstellung geeignetes Bild zu
geben, macht die aristotelische Physik. Für
Aristoteles, der schon den Begriff „Element"
als etwas Unteilbares gebraucht, gibt es neben
seinen vier irdischen Grundstoffen : Feuer, Wasser,
Luft und Erde, aus denen sich alle irdischen
Körper aufbauen, noch ein fünftes Element, das
ist die quinta essentia, der Äther, aus dem der
Himmel besteht. Auf die von Aristoteles ge-
gebene Beschreibung dieses fünften Elementes
und auf dessen Bedeutung in der Welt lohnt es
sich nicht, an dieser Stelle näher einzugehen.
Diese Erörterungen tragen zu deutlich den
Charakter willkürlicher philosophischer Speku-
lationen und enthalten so viele Unrichtigkeiten,
daß der Leser dieser Philosophie sich häufig des
Eindruckes eines rein dialektischen Wortkrams
nicht erwehren kann.
Fast 2000 Jahre nach Aristoteles äußert
sich der französische Philosoph Rene Descartes
(1596 — 1650) über das Thema Materie und Äther.
Seine Ansichten darüber sind so abenteuerlicher
Natur, daß man heute erstaunen muß, auf wie
tiefem Niveau die Naturerkenntnis damals noch
stand, und wie es möglich war, daß führende
Geister der damaligen Zeit mit einer so luftigen
Theorie ernsthaft denkende Anhänger finden
konnten.
„Vor der Schöpfung bestand — nach Des-
cartes — die Welt aus einem Klumpen, den
Gott zerschlug, worauf er die Teile desselben in
Bewegung setzte. Durch die Reibung der be-
wegten Teile entstand eine Menge kleiner Kugeln,
grobe, eckige Stücke und eine ganz feine subtile
Materie. Aus diesen drei Elementen besteht die
Welt; das feinere, subtile Element bildet die
Sonne und die übrigen Fixsterne, das aus den
kleinen Kugeln bestehende Element den inter-
mundanen Stoff, endlich das dritte gröbste Ele-
ment bildet die Erde und die Planeten oder
Kometen. Die Bestandteile der festen und
flüssigen Körper unterscheiden sich wieder von-
einander; erstere sind verästelt und verschlingen
sich mit diesen Verzweigungen, so daß sie sich
nicht frei bewegen können. Die Teilchen des
Wassers hingegen bilden längliche, glatte, kleinen
Aalen ähnliche Teilchen, welche leicht trennbar
aneinander vorübergleiten. Die Zwischenräume
der Körper sind mit der feineren Materie erfüllt,
welche die Fortpflanzung des Lichtes vermittelt"
(entnommen aus Heller: Geschichte der Physik).
Möller, Neustettin.
Das zweitfeinste Element füllt nach Des-
cartes den weiten Weltenraum, ebenso wie die
Zwischenräume der Körper. Die Lichtwirkung
wird durch diese kleinen den Himmelsraum füllen-
den Kugeln dadurch vermittelt, daß von den
leuchtenden Körpern ein Druck auf sie ausgeübt
wird. Dieser Druck pflanzt sich dann von einem
Himmelskügelchen auf das andere fort, bis er
durch seine Wirkung auf unser Auge dort die
Empfindung des Lichts auslöst. Descartes'
Äther ist atomistisch konstruiert.
Solchen unsicher fundamentierten naturphilo-
sophischen Hypothesen fehlt die Beweiskraft. Be-
weiskräftiger und damit vertrauenswürdiger als
diese sind jene Theorien, die auf dem Boden der
Erfahrung aufgebaut sind, und die in ihren weiteren
Folgerungen durch Experimente verifiziert werden
können. Die Erfahrung zur Grundlage aller Natur-
erkenntnis zu machen, ist das Bestreben der Ex-
perimentalphysik, die sich zu Descartes' Zeiten
erst allmählich aus der wissenschaftlichen Finster-
nis des Mittelalters frei machte.
Vom Standpunkte des Experimentalphysikers
ist der Gedanke an eine Mitwirkung des Zwischen-
mediums bei der Lichtübertragung auf das Auge,
wie es sich bei Descartes findet, nicht ganz
von der Hand zu weisen.
Als einer der ersten, der von seinen optischen
Experimentalarbeiten auf die Notwendigkeit der
Annahme eines Zwischenmediums geführt wurde,
ist der holländische Gelehrte Christian Huy-
gens (1629 — 169s) zu nennen. In seiner Ab-
handlung „Tractatus de lumine", Haag 1690, tritt
er überzeugungskräftig für die Undulationstheorie
des Lichtes ein. Da er das Licht für eine Wel-
lenbewegung hält, so wird für ihn auch ein Träger
der Lichtwellen nötig. Als solchen nimmt
Huygens ein überaus zartes für uns nicht wahr-
nehmbares imponderables Medium an, das den
großen Raum zwischen den Gestirnen ebenso wie
die kleinen Lücken zwischen den Molekeln und
Atomen ausfüllt. Er nennt dieses hypothetische
Medium in Anlehnung an Descartes den Äther.
Auf der Basis der Vorstellungen, daß das
Licht durch Wellenbewegungen des hypothetischen
Äthers zustandekäme, konnte Huygens die Er-
scheinungen der Reflektion, der Refraktion, ja so-
gar die schwierige Frage der Doppelbrechung im
Kalkspat erklären. Die optischen Erscheinungen
im Kalkspat waren ein Problem, das damals alle
Physiker lebhaft interessierte, und vor dem die
damals hoch in Ansehen stehende Emanations-
hypothese Newtons versagte.
Trotz dieser Erfolge konnte Huygens mit
seiner Theorie der Ätherwellen nicht durchdringen.
Er vermochte nicht, die Erscheinungen der
Farbenzerstreuung zu erklären, und bis nicht
dieser Mangel behoben war, fehlte es in dem
578
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
wissenschaftlichen IVIeinungsstreit H u y g e n s -
Newton der Ätherwellentheorie an Kampfkraft.
Tätig beteiligt an der Fortsetzung und an der
Erweiterung der Huy gen sehen Arbeiten sind
mehrere Physiker. Einer der nächsten Verfechter
war der meistens nur als Mathematiker bekannte
Leonhard Euler (1707 — 1783).
Die Hauptstütze für die Lichtwellentheorie
baute der englische Arzt Thomas Young
(1773 — 1829) in seinem Interferenzprinzip. „Wenn
zwei aus verschiedenen Quellen entsprungene
Vibrationen entweder ganz oder nahezu in gleicher
Richtung sich fortpflanzen, so ist ihre vereinigte
Wirkung eine Kombination ihrer beiden Be-
wegungen." Nur durch die Annahme der Inter-
ferenz von Wellen konnte eine Erklärung für das
beobachtete Experiment gefunden werden, in dem
Licht zu Licht gefügt unter Umständen Dunkel-
heit ergab. Young gelang es auch, die Lücke
der Farbenerklärungen in der Huygenschen
Theorie zu schließen. Die verschiedenen Farben
werden auf die Verschiedenheit in der Länge der
Atherwellen zurückgeführt, und die Newton-
schen Farbenringe werden als eine Interferenz-
erscheinung gedeutet.
Young kam mit seinen neuen Beweismitteln
in England, dem Vaterlande Newtons, nicht
gegen die Emanationstheorie auf. Derjenige,
welcher der Undulationstheorie erst die allge-
meine Anerkennung verschaffte, war der Franzose
Augustin- Jean Fresnel (1788 — 1827).
Die bisher genannten Vertreter der Äther-
schwingungstheorie dachten sich den Äther wie
eine Art außerordentlich leicht bewegliche Flüssig-
keit, die ähnlich wie die Luft nur longitudinaler
Schwingungen fähig sei. In seinem optischen
Verhalten weicht der freie Äther des Weltenraums
von dem Äther in den Molekel- und Atom-
zwischenräumen der Körper ab. Der freie Äther
hat die größte Elastizität, und er büßt von dieser
Eigenschaft um so mehr ein, je enger die Molekel-
und Atomlücken des betreffenden Stoffes sind.
Von dem Elastizitätsgrad des Äthers hängt die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes ab, die
um so kleiner ist, je dichter das betreffende Mittel
ist.') Vom Standpunkt dieser Äthervorstellung
aus gelingt es leicht, die beobachteten Erschei-
nungen der Spiegelung und Brechung zu erklären.
Da der Äther selbst der menschlichen Wahr-
nehmung bei noch so verfeinerten Beobachtungs-
mitteln nicht zugänglich ist, so können wir eine
Vorstellung von ihm nur aus den von uns be-
obachtbaren Erscheinungen an den Lichtstrahlen
gewinnen. Das Bild vom Äther schien nach
Huygens, Euler und Young bereits in greif-
bare Nähe gerückt zu sein, als dann wieder eine
Erscheinung entdeckt wurde, die das ganze Ge-
bäude der Ätherwellentheorie wieder ins Wanken
brachte, das ist die von Malus (1775 — 1812) ge-
') Das Licht pflanzt sich im Wasser 1,33 mal, in Schwefel-
kohlenstoff 1,77 mal langsamer als in Luft fort.
machte Beobachtung der Polarisation. Zwei senk-
recht zueinander polarisierte Lichtstrahlen konnten
unter keiner Bedingung zur Interferenz gebracht
werden. Diese Tatsache war mit longitudinalen
Ätherschwingungen nicht zu verstehen. Vom
Standpunkt der Wellenlehre war sie nur dadurch
zu erklären, daß die Ätherwellen nicht longitudi-
naler sondern transversaler Natur waren. Young
und Fresnel kamen beide zu diesem Resultat.
Aber mit diesem Ergebnis stimmten die bisher
dem Äther beigelegten Eigenschaften nicht über-
ein. Longitudinale Schwingungen sind immer
mit Dichteänderungen in dem betreffenden Me-
dium verbunden. Da aber longitudinale Bewegun-
gen in den Lichtstrahlen nicht vorkommen, trans-
versale Wellen aber nach den Elastizitätsgesetzen
nur in festen Körpern auftreten können, so kann
der Äther nicht mehr einer äußerst zarten Flüssig-
keit verglichen werden, sondern er muß die Eigen-
schaften eines festen vollkommen elastischen aber
inkompressiblen Stoffes haben.
Die aus der Transversalität der Lichtstrahlen
folgende Eigenschaft des Äthers als eines festen,
elastischen aber inkompressiblen Körpers bereitet
der Vorstellung außerordentliche Schwierigkeiten.
Solange der Äther von der Physik als ein zartes
Medium gedacht werden konnte, konnte auch die
Astronomie die Auffassung zu ihrer eigenen machen
und noch ergänzend hinzufügen, daß der Äther
so fein sein müsse, daß er den Himmelskörpern
bei ihren großen Geschwindigkeiten keinen Wider-
stand bereitet — Erde rast durchschnittlich mit
30 km Sekundengeschwindigkeit durch den Welten-
raum. — Anzeichen, daß der Äther in irgendeiner
Weise bremsend oder hemmend auf die durch ihn
hindurchrasenden Planeten wirke, sind aus dem
reichen Erfahrungsmaterial der Astronomie nicht
zu erkennen. War schon der Gedanke an einen
festen Äther für den Physiker eine fatale Konse-
quenz, so war er für den Astronomen vollends
unmöglich.
So führte in ihren Anwendungen die Äther-
wellentheorie des Lichtes auf ein totes Geleise.
Die Frage nach dem Wesen des Äthers vermochte
sie nicht zu lösen. Neue Hoffnungen auf die
Lösungen des Ätherproblems konnte erst die
Maxwell sehe elektromagnetische Lichttheorie
bringen. Doch bevor auf diese eingegangen wird,
sollen zunächst noch einige außerhalb der Optik
liegende Fragen behandelt werden, durch welche
die Physik ebenfalls auf die Notwendigkeit der
Annahme eines Äthers geführt wurde.
Das Coulombsche Gesetz ist der zahlen-
mäßige Ausdruck für die Kraftwirkungen zweier
magnetischer bzw. elektrischer Mengen aufeinander.
Zunächst hatte man bei diesem Gesetz nur die
Größe der Kraft in den Vordergrund des Inter-
esses gestellt, und als nebensächlich galt die F"rage,
wie die Kraftwirkung zustande kam. Man dachte
an eine Fernwirkung ebenso wie man auch bei
dem Newton sehen Gravitationsgesetz an eine
reine Fernwirkung dachte, ohne dabei irgendwie
N. F. XX. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
579
dem zwischen den Massen liegenden Medium eine
Mitwirkung bei der Kraftübertragung zuzuschreiben.
Erst später ward auch die Frage nach dem Wesen
dieser Kraftwirkung bedeutungsvoll. In Deutsch-
land neigte man im Anschluß an W. Weber
zur Ansicht der Fernkraftwirkung. In England
dagegen waren unter Faradays Einfluß andere
Vorstellungen maßgebend.
Faraday leugnete jede unvermittelte Fern-
wirkung und sah gerade in dem Medium, das
zwischen zwei elektrisch geladenen Konduktoren
bzw. zwischen zwei Magnetpolen lag, den not-
wendigen Träger, der die Kraftwirkung über-
mittelte. Faraday nannte diese vermittelnden
Medien die Dielektrika und da nicht nur materielle
Dielektrika notwendig waren, vielmehr auch Kraft-
wirkungen durch das Vakuum beobachtet wurden,
so nahm er daselbst als Träger der Kraftüber-
mittlung den Weltäther an, der als Universalstoff
im ganzen Weltenraum vorhanden sein sollte.
Die Art der Kraftvermittlung geschieht nach
Faraday in der Weise, daß sich von der
Kraftquelle aus ein gewisser Zwangszustand auf
das Dielektrikum überträgt und in diesem sich
von Teilchen zu Teilchen fortpflanzt. Helm-
holtz nennt den unter dem Einfluß elektrischer
Kräfte hervorgerufenen Zwangszustand die dielek-
trische Polarisation, den durch magnetische Kräfte
erzeugten, die magnetische Polarisation.
Der Ausbau der Faraday sehen Ansichten
durch Maxwell u. a. gab die Möglichkeit, auch
da, wo materielle Dielektrika in Frage kamenj
den Äther als den eigentlichen Träger zu betrachten
und dann die Dielektrizitätskonstante und die
magnetische Permeabilität nur als diejenigen
Größen anzusehen, durch die der Einfluß der in
den Äther gebetteten Materie auf dessen Eigen-
schaften berücksichtigt wird. ^) Beide Größen
sind dann etwa Maße für die elastische Nach-
giebigkeit des Äthers in dem betreffenden Stoff.
Faradays Arbeiten führten zu der Annahme,
daß der Weltäther die Fähigkeit hat, zwei ver-
schiedene Zwangszustände einzunehmen, nämlich
den elektrischen Zwangszustand unter dem Ein-
fluß elektrischer Kräfte und den magnetischen
unter dem Einfluß magnetischer Kräfte.
Das Bild vom Äther selbst können auch diese
Annahmen nicht entschleiern. Auch hat die
Faraday sehe Theorie eines Ätherzwangszustan-
des keine Brücke gefunden zu der Erklärung von
dem Wesen der Schwerkraft. Newton selbst
hat auch einmal an den Äther als den Vermittler
der Massenanziehungskräfte gedacht, wie aus einer
Stelle aus seinem dritten Brief an Bentley her-
vorgeht.
Drei ihrer verschiedenen Teilgebiete, Optik,
Magnetismus und Elektrizität, hatten die Physik
') Die Farbenzerstreuung oder Dispersion bei der wäg-
baren Materie von dcrem molekularen Gefüge ab. Die von
der Art des Stoffes abhängige Gröl3c der molekularen Zwischen-
räume bedingt eben, daß verschieden lange Wellen verschieden
beeinflußt werden.
zur Annahme eines imponderablen Weltäthers ge-
führt, ohne aber irgendwie in der Frage nach
dem Wesen dieses hypothetischen Stoffes Klar-
heit zu schaffen. Vielmehr war diese durch den
aus der Transversalität der Ätherlichtwellen folgen-
der Schluß in einen unlösbaren Widerspruch ge-
raten.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma fand
Maxwell. Er verwarf die Vorstellung, daß das
Licht eine mechanische Ätherwelle ist, und stellte
die elektromagnetische Lichttheorie auf. Nach ihr
eilen in jedem Lichtstrahl zwei verschiedene
Kraftfelder, ein elektrisches und senkrecht dazu
ein magnetisches, die periodisch ihre Richtung
wechseln, mit 300000 km Sekundengeschwindig-
keit durch den Raum.
Die theoretischen Arbeiten Maxwells fanden
einen ausgezeichneten Experimentator in Hein-
rich Hertz, der die von Maxwell in mathe-
matischen Formeln beschriebenen Wellen experi-
mentell herstellte und nachwies, daß seine „Strahlen
elektrischer Kraft", seine elektromagnetischen
Wellen, sich von den Lichtwellen nur quantitativ
durch die Wellenlänge, nicht aber qualitativ durch
ihre Art unterschieden. Durch H. Hertz hat die
Maxwell sehe Theorie die experimentelle Stütze
gefunden, die für ihre allgemeine Anerkennung
notwendig war.
Nach Maxwell und Hertz wird das Licht
als ein elektromagnetischer Vorgang im Äther
aufgefaßt. Elektrische und magnetische Kraftfelder
wechseln miteinander ab.
Wie aber sollen wir uns solche elektrischen
und magnetischen Kraftfelder im Äther vorstellen ?
Die Antwort, daß sie besondere Zustände im
Äther — lokale Spannungen des Äthers — sind,
kann nicht befriedigen. Wenn uns auch die
Maxwell sehe elektromagnetische Lichttheorie
vor der Notwendigkeit schützt, den Äther als
zum festen Aggregatzustand gehörig anzunehmen,
so ist sie doch andererseits noch nicht in der
Lage, in der Frage nach dem Wesen des Äthers
klärend vorwärts zu führen. Und da der Äther
selbst unbekannt ist, so bleiben auch seine in den
elektromagnetischen Feldern angenommenen Zu-
stände unbekannt. Ist der Äther etwas Stoffliches
und sind die Maxwel Ischen Ätherzustände dann
etwas Stoffliches in besonderer Form?
Eine Reihe von Fragen drängen sich beim
Nachdenken über diese Theorie auf, und um so
brennender wird der Wunsch, nähere Bekannt-
schaft mit dem wunderbaren Stoff zu machen.
Versuche, die geeignet erscheinen, dem Wesen
des Äthers näher zu kommen, sind u. a. von
Fizeau und Michelson-Morley angestellt
worden. Diesen Physikern schwebte die Lösung
der Frage vor, ob der Äther von der wägbaren
Materie mit ihren Bewegungen mitgerissen wird, so
etwa wie ein durchs Wasser gezogener Schwamm
das seine Poren füllende Wasser mitreißt. Reißt die
mit 30 km in der Sekunde durch den Äther rasende
Erde ihn mit? Die von Fizeau nach seiner
S8o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
Methode und von Michelson und Morley
nach anderer Methode mit größter Sorgfalt und
unter einwandfreien Bedingungen angestellten
Versuche führten die Physik wiederum vor ein
schweres Rätsel. Der F i z e a u sehe Versuch ergab
das Resultat, daß der Äther ruht, daß die Welt-
körper sich durch ihn hindurchbewegen, ohne
ihn trotz ihrer kolossalen Geschwindigkeiten in
seiner unbedingten Ruhe beeinflussen zu können.
Auf der Basis des im Weltenraum ruhenden Äthers
hat Lorentz eine Theorie aufgebaut, mit der
alle beobachteten optischen und elektromagneti-
schen Erscheinungen im vollen Einklang standen.
Die Annahme des unbeweglichen Äthers be-
deutet für die sich durch das Athermeer bewegende
Erde, daß ein Ätherorkan mit 30 km Sekunden-
geschwindigkeit durch alle ihre Teile hindurch-
bläst. Es ist uns danach auf der Erde gar nicht
möglich, elektrische und magnetische Beobachtun-
gen in einem ruhenden Äther zu machen, denn
der Träger unserer elektrischen und magnetischen
Kraftfelder gleitet uns andauernd außerordentlich
rasch unter unseren Händen fort. Dieser Äther-
orkan muß demnach auch alle unsere elektro-
magnetischen Versuche stören. Normale Erschei-
nungen, wie sie im ruhenden Äther Zustande-
kommen würden, können wir auf der Erde gar
nicht beobachten.
Wird die Geschwindigkeit der Lichtfortpflan-
zung in der Richtung des Äthersturms gefördert
und gegen die Richtung gehemmt.'' Das ist die
dem Michelson-Morley- Versuch zugrunde-
liegende Frage. Die Antwort paßte überraschender-
weise in den Rahmen der F'izeau-Lorentz sehen
Annahme der Ätherruhe absolut nicht hinein.
Das Michelson-Morley sehe Experiment
führte zu der Erkenntnis, daß der Äther von der
stofflichen Materie in ihren Bewegungen mitge-
führt wird. Von einem durch und um die Erde
tosenden Ätherwind ist danach nichts zu merken.
Mit diesen Versuchen, mit denen die Physik
den unbekannten Äther erkennen wollte, stehen
wir bereits am Ende der heute vorliegenden
Äthererforschung. Wenn die Physik heute den
gesamten Forschungsweg verfolgt und nach seinen
Früchten absucht, so ist leider der Erfolg nicht
ermutigend. Alle Anstrengungen und Mühen haben
leider nicht dazu führen können, irgendwelche
Eigenschaften des hypothetischen Mediums sicher
zu erkennen.
Zwar fand Lorentz durch seine Kontraktions-
hypothese *) eine Brücke von der Ruhe des Äthers
im Weltenraum und von dem F i z e a u sehen Ver-
such zu dem Michelson- Morleyschen Ver-
such, und auch die Ein st einsehe Relativitäts-
theorie konnte den Widerspruch zwischen beiden
Experimenten durch die Einführung des relativen
Raum- und Zeitbegriffes lösen, aber die Frage
^) Fitzgerald - Lorentzsche Verkürzungshypothese:
Die in die Richtung der Erdbewegung fallenden Dimensionen
eines Körpers werden in bestimmtem von der Stärke des
Äthersturras abhängigem Verhältnis verkürzt.
nach der Natur des Äthers wurde damit nicht
gefördert. Diese macht nach wie vor die größten
Schwierigkeiten, so daß viele der neueren theo-
retischen Physiker vom Standpunkte der Rela-
tivitätstheorie aus zu der Ansicht gekommen sind,
die Existenz des Äthers überhaupt zu leugnen,
so schwer ihnen auch der Entschluß zu dem Ge-
danken wurde, daß sich elektromagnetische
Schwingungen ohne ein schwingendes Medium
fortpflanzen.
Gegen diese Negation aber müssen die Ex-
perimentalphysiker die größten Bedenken äußern,
denn bei ihnen hat die Vorstellung von der Not-
wendigkeit eines Mediums, daß die verschiedenen
Kraftwirkungen übermittelt, bereits zu tiefe Wurzeln
geschlagen. F"ür die Mitwirkung eines Zwischen-
mediums spricht auch die Tatsache, daß eine be-
stimmte Zeit erforderlich ist, bis sich elektro-
magnetische Wirkungen von dem einen Körper
zum anderen fortgepflanzt haben.
Irgendwelche positiven sicheren Unterlagen,
aus denen das Wesen des Äthers erschlossen
werden kann, besitzen wir heute leider noch nicht.
Die aus der Ätherforschung vorliegenden Ergeb-
nisse lassen sich heute noch nicht in einen Rahmen
einordnen, da sie mit ihren unlösbaren Wider-
sprüchen keine einheitliche Grundlage bilden.
Auf der einen Seite zwingt der Mangel jeg-
licher Dispersion,^) die gleiche Fortpflanzungsge-
schwindigkeit für die großen elektrischen Wellen
und für die kleinen Lichtwellen ^) zu dem Schluß,
den Äther kontinuierlich den Raum erfüllend an-
zunehmen. —
Auf der anderen Seite müssen wir auf Grund
der Erscheinungen der dielektrischen Polarisation
wieder von Ätherteilchen sprechen. Was soll
aber bei Annahme der atomistischen Ätherstruktur
in den Atomlücken des Äthers enthalten sein?
H a e c k e 1 spricht einmal in diesem Zusammen-
hange von einem Interäther. Wie soll aber dieser
hypothetische Stoff wieder beschaffen sein?
Das Studium des Fizeauschen Versuches
und der Lorentzschen Theorie führen uns ein-
mal zur Vorstellung der absoluten Ätherruhe; —
ein anderes Mal sprechen wir in der elektro-
magnetischen Lichttheorie von dem Licht als
einem Vorgang im Äther und sprechen von be-
sonderen Zuständen des Äthers in den magnetischen
und elektrischen Feldern. Gegen die absolute
') Die Farbenzerstreuung oder Dispersion hängt bei der
wägbaren Materie von derem molekularen Gefüge ab. Die
von der Art des Stoffes abhängige Größe der molekularen
Zwischenräume bedingt eben, daß verschieden lange Wellen
verschieden beeinflußt werden.
") Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts in einem
ponderablen Medium hängt u. a. auch von der Wellenlänge,
also von der Farbe, ab. Michelson fand, daß rote Strahlen
im Wasser eine um 1,4% größere Geschwindigkeit als blaue
haben. Die Ursache hierfür liegt in der durch das Molekular-
gefüge bedingten Inhomogenität. Nur im freien Äther ist für /
alle verschieden langen Wellen die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit dieselbe.
N. F. XX. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
5«i
Ätherruhe spricht auch das aus der Elektronen-
theorie folgende Bild des Elektrons. Ein Elek-
tron ist das Zentrum seines elektrischen Feldes.
Dieses ist aber eine Stelle, wo der Äther seinen
Zustand verändert hat. Mit zunehmender Ent-
fernung vom Mittelpunkte geht diese Äthermodifi-
kation allmählich in unveränderten normalen
Äther über.
Noch fehlt uns der Richtpunkt, zu dem hin
der Weg aus diesen Widersprüchen herausführt.
Einzelberichte.
Röiitgenstrahlenanalyse der Kristallstruktur
von dreizehn Metallen.
Albert W. Hüll berichtet in The Physical
Review Bd. XVII, S. 571—588 (Mai 192 1) über
die Ermittlung der Kristallstruktur von Chrom,
Molybdän, Tantal, «-Kobalt, Nickel,
Rhodium, Palladium, Iridium, Platin,
/J-Kobalt, Zink, Cadmium, Ruthenium
und Indium. Die Photogramme wurden von
gepulvertem Material analog der vom Verf. be-
reits bei früheren Untersuchungen angewendeten
Methode (Physical Review X, S. 661 [191 7]) auf-
genommen. Diese deckt sich im Prinzip voll-
kommen mit der Debye-Scherre r-Methode
(Naturw. Wochenschr. 1917, S. 521 ff.). ^) Ab-
weichend davon ist nur die bei den meisten
ersten Aufnahmen erfolgende Drehung der Glas-
röhre mit dem zu untersuchenden feinen Pulver
während der ganzen Expositionszeit.
Die Auswertung der erhaltenen Photogramme
geschah gegenüber früheren Arbeiten in wesent-
lich vereinfachter Weise durch graphische Lösung.
Die Grundlagen hierzu sind in einer unmittelbar
voraufgehenden Arbeit des Verf. in Gemeinschaft
mit Wh. P. Davey niedergelegt worden. („Gra-
phische Bestimmung hexagonaler und tetragonaler
Kristallstrukturen aus Röntgenogrammen" [The
Physical Review XVII, S. 549 — 570, Mai 192 1].)
Für jede Gitterart werden die Logarithmen der
theoretischen Netzebenenabstände als Funktionen
der Achsenverhältnisse aufgetragen. Sechs der-
artige Diagramme sind zur Erläuterung beige-
geben. Indem man die Logarithmen der aus den
Photogrammen sich ergebenden Netzebenenab-
stände am Rande eines Papierstreifens aufträgt
und durch Probieren auf den Diagrammen damit
übereinstimmende Werte aufsucht, läßt sich das
Achsenverhältnis und die Gitterart in wenigen
Minuten finden.
I
') Anm. d. Ref. : A. a. O. findet sich kein Hinweis auf die Ar-
beiten von Debye und Scherrer. Anscheinend hat Hüll
unabhängig und nahezu gleichzeitig denselben Weg einge-
schlagen. Eine kurze Beschreibung seines Verfahrens ist
im Oktober 1916 vor der Amerikan. Physik. Gesellsch.
gegeben und im Januar 191 7 in der Physical Review ver-
öffentlicht worden. Debye und Scherrer (Nachr. d. k. Ges.
d. Wissenschaften, Göttingen, Math. phys. Klasse 1916, S. i
bis 26) gebührt also auf jeden Fall die Priorität.
«-Kobalt
3-554A
2,514!
8,66
8,71s
Kantenlänge des Elemenlarwürfels
Kürzester Atomabstand
berechnet
beobachtet
Dichte
Die verwendete Röntgenapparatur war die
folgende. Homogenes Röntgenlicht der Wellen-
länge 0,712 A wurde von einer wassergekühlten
Molybdän - Coolidgeröhre bei 30 000 Volt und
30 Milliamperes geliefert. Die Expositionszeit
betrug ungefähr 15 Stunden. Ein passendes Filter
mit ZrOj absorbierte fast alle Wellenlängen außer
der angegebenen. Hinter dem Aufnahmefilm war
ein Calciumwolframat-Schirm zur Verstärkung an-
gebracht, vor dem Film ein zweites, schwächeres
ZrOj-Filter zur Absorption der andernfalls sehr
störenden sekundären Fluoreszenzstrahlen des Pul-
vers. Dieses selbst war je nach Dichte in einem
dünnwandigen Glasröhrchen von V^ — 2 mm Durch-
messer im Zentrum eines halbkreisförmigen Messing-
rahmens von 20 cm Radius angebracht. Die weiteren
Einzelheiten der Auswertung können hier nicht
aufgeführt werden.
Für die einzelnen Metalle wurden zur Kon-
trolle der Richtigkeit der Strukturbestimmung
außer den beobachteten die berechneten Netz-
ebenenabstände, außerdem die relativen Inten-
sitäten der Linien der Photogramme im Vergleich
mit der Anzahl der wirksamen Ebenen angegeben.
Schließlich dient ferner zur Prüfung der Richtig-
keit der Vergleich der Werte der Dichten, die
sich aus den Röntgendaten durch Division der
Masse der Atome in einem Elementarparallel-
epiped durch dessen Volumen berechnen lassen,
mit den besten Werten der Dichten, wie sie durch
die gebräuchlichen Bestimmungen beobachtet
werden.
Auf diese Weise sind ermittelt worden:
a) als zweifach kubisches, raumzentriertes Würfel-
gitter:
Chrom Molybdän Tantal
Kantenlänge des Elementarwürfels 2,895! 3,143! 3,272!
Kürzester Atomabstand 2,508! 2,720! 2,833!
j berechnet 7,07 10,16 17,09
(^beobachtet 6,92 10,28 I4i49*
* Landolt-Börnstein (Tabellen) gibt an: 16,64.
Die Abstände beim Molybdän sind nahezu
identisch mit denen des Wolfram.
b) als vierfach kubisches, flächenzentriertes
Würfelgitter :
Nickel Rhodium Palladium Iridium Platin
3,540! 3.820! 3,950! 3.805! 3.<53o!
2,505! 2,700! 2,795! 2,690! 2,780 A
8,72 12,18 11,40 23,15 21,23
8,6-8,93 12,1 11,4-11,9 22,42 19,96
582
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
Bei den Photogrammen von Kobalt zeigten
sich zwei verschiedene kristallisierte Formen,
einmal von vierfach kubischem, das andere Mal
von zweifach hexagonalem Gitter. Ihre gegen-
seitigen Beziehungen sind noch nicht aufgeklärt.
Bezüglich des Nickels ist zu bemerken, daß in der
oben erwähnten früheren Arbeit des Verf (Physical
Review 1917) die vorläufigen Bestimmungen eben-
falls zwei kristalline Formen, eine mit zweifach
kubischem und eine mit vierfach kubischem Gitter
zu ergeben schienen. Die sorgfältigeren neueren
Untersuchungen bestätigen jedoch alle nur das
vierfach kubische Gitter.
c) als zweifach hexagonales Gitter (entsprechend
der dichtesten Kugelpackung, d. h. das zweite
Gitter mit seinen Punkten steht im Zentrum der
einen Art von dreiseitigen Elementarprismen. Das
Achsenverhältnis, Dreieckseite zur Höhe des Pris-
mas, ist von Fall zu Fall verschieden ; bei der
Kugelpackung ist es i : 1,633)
//-Kobalt Zink* Cadmium Ruthenium
Achsenverhältnis I : 1,633 ' ■ '.860 I ; 1,89 1 : 1,59
Dreieckseite des
Elementarprismas 2,5I4A 2,67oA 2,96oA 2,686Ä
{berechnet 8,66 7,04 8,74 12,56
beobachtet 8,718 7,142 8,642 12,26
* Für Magnesium wurde schon in der erwähnten früheren
Arbeit das gleiche Gitter ermittelt, Dreieckseite 3,22 Ä, Achsen-
verhältnis I : 1,624. (D. Ref.)
Für Zink wird das Achsenverhältnis aus kristallo-
graphischen Messungen angegeben zu i : 1,356,
für Cadmium zu i : 1,335, ^Iso abweichend von
dem röntgenographisch gefundenen Wert. Die
Strukturen können aufgefaßt werden als dichte
Packungen von Rotationsellipsioden mit einem
Verhältnis der Rotationsachse zum Durchmesser
bei Zink 1,140:1, bei Cadmium 1,158: i-und bei
Ruthenium 0,973 : i.
d) Schließlich wurde noch für das Indium
ein dem vierfach kubischen sehr ähnliches, flächen-
zentriertes tetragonales Gitter ermittelt, mit einem
Achsenverhältnis a : c = i : 1,06, wo a = 4,58 A die
Quadratseite des Elementarprismas ist. Die be-
rechnete Dichte ergibt sich zu 7,42 gegenüber
einer beobachteten von 7,12. Spbg.
Die Kristallstruktur des Eises.
D. M. Dennison veröffentlicht in The Phy-
sical Review (Bd. XVII (192 1) S. 20—22) Ergeb-
nisse von Röntgenaufnahmen nach dem der
Debye-Scherrer- Methode analogen Verfahren
von A. W. Hüll (siehe vorstehendes Referat). —
Ein wenig destilliertes Wasser wurde in einer
dünnwandigen Kapillare eingeschlossen und diese
schnell in flüssige Luft getaucht. Dadurch ge-
friert das Wasser so schnell, daß nur die zum
Verfahren notwendigen kleinen Kristalle gebildet
werden. Die Kapillare wurde dann bei der Tem-
peratur der flüssigen Luft gehalten und während
der zehnstündigen Expositionszeit dauernd rotiert.
Verwendet wurde zur Aufnahme eine wasser-
gekühlte Molybdän-Coolidge Röhre, bei 32000 Volt
und 25 Milliamperes. Der photographische Film
war halbkreisförmig im Radius von 19,8 cm um
die Kapillare als Achse angebracht. Es ließ sich
ein gutes 'Photogramm mit 12 Linien erhalten.
Die aus den Reflexionswinkeln sich ergeben-
den Netzebenenabstände stimmen innerhalb der
experimentellen Fehlergrenzen gut mit denen über-
ein, die sich für ein zweifach hexagonales Gitter
(siehe vorstehendes Referat) ergeben. Hüll und
Davey ermittelten in der im vorstehenden Re-
ferat angedeuteten Weise die Dimensionen des
Elementarprismas zu 4,52 Ä. Basisseitenlänge und
7,32 A Höhe. Daraus ergibt sich als Achsen-
verhältnis a : c = I : 1,62 in guter Übereinstim-
mung mit dem kristallograpliisch angegebenen
Werte a : c = i : 1,617. Ein hexagonales Gitter
aus dichtgepackten Kugeln hat ein Achsenver-
hältnis a : c := I : 1,633.
Unter Annahme der Dichte des Eises bei der
Temperatur der flüssigen Luft zu ^ = 0,944 und
unter Verwendung der oben angegebenen Aus-
maße ergibt sich die Anzahl der Moleküle HjO
im Elementarprisma zu 2. Die angegebenen
Daten genügen noch nicht um über die Anord-
nung von H und O im Gitter bestimmte Aus-
sagen zu machen. [Anm. d. Ref.: Zur gleichen
Gitteranordnung aber mit den von obigen ver-
schiedenen Ausmaßen a = 3,46 Ä und c = 5,33 Ä
gelangte auch schon früher R. Groß (Das Laue-
photogramm des Eises, Centralbl. f. Min. 19 19,
S. 201 — 207) auf Grund der Laue-Methode.]
Spbg.
Bücherbesprechungen.
Landau, Prof. Dr. E., Naturwissenschaft
und Lebensauffassung. Sozial - anthro-
pologische Betrachtungen. Bern und Leipzig
1919, Ernst Bircher.
Das Büchlein behandelt in 106 Seiten sozial-
biologische Fragen, die sich auf Grundlage einer
naturwissenschaftlich orientierten Weltanschauung
ergeben.
I. Wesen und Zweck der modernen Anthro-
pologie. Dieser Abschnitt bespricht die Stellung
des Menschen im zoologischem System und er-
örtert einige Hauptziele der Methodik, welche die
Anthropologie als modern aufstrebende, experi-
mentelle biologische Wissenschaft verfolgt. Verf.
gedenkt der Zeiten „wo es den Anschein hatte,
als wolle die Anthropologie in geistlosem Messen
in Anhäufung von Zahlenreihen und Daten ohne
jeden höheren leitenden Gedanken aufgehen"
N. F. XX. Nr. 40
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
583
Je tiefer wir aber in das Wesen der Vererbungs-
lehre eindringen, desto mehr erhöht sich der
Nützlichkeitswert anthropologischer Forschungen.
Ihre Aufgaben sind es die deskriptive Anatomie
als experimentelle Tochterwissenschaft zu unter-
stützen. Die Hauptkapitel des anthropologischen
Forschungsgebietes sind nach Landau folgende:
Die Hypothesen von der Abstammung des JVlen-
schen; die Lehre vom fossilen IMenschen; die Er-
forschung der noch lebenden primitiven Rassen;
die Klassifikation der ganzen Menschheit; anthro-
pologische Untersuchungen einzelner Systeme und
Organe des menschlichen Körpers; die Eugenik.
2. Der Staat als biologisches Problem. In das
Arbeitsgebiet der Anthropologie fällt nicht nur
das Studium des einzelnen Menschen, sondern
das ganzer Rassen und Völker. Eür ein gesundes
Gedeihen eines Volkes ist ebenso wie für das
einer Person die Harmonie aller Bestandteile
Grundbedingung. Jedermann, der sich mit gesell-
schaftlichen Fragen befaßt, muß mit den auf
biologischen Gesetzen beruhenden Problemen der
Sozialhygiene und mit denen der Sozialpsychologie
vertraut sein. Aus dem biologisch richtigen Ver-
ständnis für den Sinn und den Wert des mensch-
lichen Daseins ergeben sich die Rechte und
Pflichten des Menschen im Staate. Der Mensch
ist das einzige Lebewesen, das aufbauend auch
Zukunftswerte schafft.
3. Natur und Staat. Obwohl die biologisch-
politische Weltanschauung sicherlich kein Heil-
mittel gegen alle Übel des menschlichen Lebens
sein kann, so muß sie doch als Grundlage für
den künftigen Aufbau eines gesünderen Staats-
wesens dienen. Die naturphilosophische Staats-
lehre wird eine radikale Berücksichtigung der all-
gemein menschlichen Bedürfnisse und Rechte,
ohne Rücksicht auf Herkunft und gesellschaftliche
Stellung gewährleisten.
4. Der Patriotismus. Der engbegrenzte Lokal-
patriotismus des primitiven Menschen erhebt sich
beim modernen Kulturmenschen zum erhabenen
Gefühl eines Ideenpatriotismus, zur Liebe zum
Vaterland. — Der gute Patriot von heute liebt
die ganze soziale und politische Einheit, deren
Mitglied er ist. Rassenfragen und konfessionelle
Fragen sind dem Patriotismus unterzuordnen. Für
die Ideen seines Landes und zur Wahrung der
nationalen Eigenart seines Volkes muß man selbst
sein Leben zum Opfer zu bringen jederzeit be-
reit sein.
5. Was bezweckt die moderne Rassenhygiene ?
Der Mensch unterliegt denselben Entwicklungs-
und Vererbungsgesetzen wie die ganze Welt. Auf-
gabe der Zukunft rnuß es sein, das Menschen-
geschlecht von den Übeln (Krankheiten usw.), die
das moderne soziale Leben mit sich bringt, durch
entsprechende Maßnahmen zu befreien. Die vielen
Krankheiten, die fortschreitende Zunahme der
Geisteskranken und Verbrecher beruht darauf, daß
den Menschen das „rasseveredelnde Adelsprinzip
im naturwissenschaftlichen Sinn" fehlt.
6. Der biologische Wert der Liebe. Liebe ist
auch eine der vielen Fähigkeiten, die uns die
Natur eingepflanzt hat. Liebe ist aber nur eine
Etappe im menschlichen Leben, die Mann und
Weib zwecks Gründung einer Familie zusammen-
führt, die uns im späteren Leben die schwere
Pflicht auferlegt für die Familie und die Kinder,
die der Liebe ihre Existenz verdanken, zu sorgen
und zu arbeiten. Die Sehnsucht nach dem Kinde
nimmt beim gegenwärtigem Menschen immer
mehr ab. Um der Gefahr eines stetigen Ge-
burtenrückganges zu begegnen, verlangt der
französische Arzt Doicy ein Gesetz, demnach
Mutterschaft zu einer Art von Nationaldienst er-
hoben werden soll.
7. Die kinderreiche Familie. In diesem Kapitel
kommt der Verf. nochmals auf die Hebung der
Kindererzeugung durch zweckmäßige Mittel zu
sprechen. Geldprämien verwirft er; der Staat
müßte durch soziale Fürsorgeeinrichtungen den
Kindern während ihres Wachstums für günstige
Entwicklungsbedingungen garantieren. Bei Ehe-
schließung sind heute immer mehr soziale Momente
wie z. B. Stellung, Herkunft, pekuniäre Fragen,
Religion usw. maßgebend als geistige und körper-
liche Rüstigkeit. Der Ehekonsens soll in Zukunft
von der Beibringung eines Gesundheitsattestes
abhängig gemacht werden.
8. Intelligenz und Geschlecht. Mutter und
Vater geben ihren Kindern gleich viel Erbein-
heiten mit ins Leben, somit haben beide Eltern
gleichen Anteil an ihren Kindern. Ferner handelt
dieser Abschnitt über die allgemeinen Grundsätze
der Befruchtung, Vererbung, über sekundäre, über
die physischen und psychischen Geschlechtsunter-
schiede bei Mann und Frau. „Das kindlichere
des Weibes ist sein Typus, sein schöner, sein
herzgewinnender." Der Verf. schließt dieses
Kapitel mit folgenden Worten : „Wir wollen hoffen,
daß schönere Zeiten eintreten werden, Zeiten, in
denen auch die weibliche Intelligenz das ihrige
zur Veredelung der Menschheit beitragen wird,
ohne dabei auf das köstliche Gut der Mutterschaft
verzichten zu brauchen".
9. Der Krieg und die Eugenik. Für den Bio-
logen gibt es im Krieg nicht Sieger und Besiegte,
sondern nur „Geschädigte". 12 — 15 Millionen
Tote und wohl ebensoviele Krüppel hat der Welt
der letzte Krieg gekostet, ganz abgesehen von
all den sonstigen gesundheitlichen Schädigungen
bei Mann und Weib. Während des Krieges haben
wir einen starken Geburtenrückgang zu verzeichnen,
die Folgen der Unterernährung sind auch nicht
zu unterschätzen. Vor allem müssen wir im In-
teresse unserer zukünftigen Generationen auf Ver-
hütung von Krankheitsübertragung unser größtes
Augenmerk legen. Es ist das erste Menschen-
recht, das Recht des Ungeborenen, vom Staate
den Schutz zu verlangen, nicht mit einer unheil-
baren Krankheit belastet geboren zu werden.
Auf die reichhaltige Literaturübersicht am
Schlüsse der Arbeit muß besonders hingewiesen
werden. Ernst Frizzi München.
S84
f^aturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
Albertus Magnus, de animalibus libri XXVI.
Nach der Kölner Urschrift. 2. Band. Heraus-
gegeben von Herrn. Stadler, gr. 8", XXIV u.
772 S. (Beiträge zur Geschichte der Philos.
des Mittelalters, herausgegeben von Cl. Baeumker,
Bd. XVI.) Münster, Aschendorff. loo M.
Der Wunsch, den ich hier bei der Besprechung
des ersten Bandes ausgesprochen, daß sich ihm
in Bälde der zweite anschließen möge, ist nun wider
Erwarten, trotz der heutigen bekannten Schwierig-
keiten, in Erfüllung gegangen. Es ist ein statt-
liches Buch von beinahe 800 Druckseiten, in dem
uns, wie gesagt, der Originaltext der zweiten
Hälfte (Buch 13 bis 26) des Tierbuches des Al-
bertus Magnus geboten wird. Was den In-
halt im einzelnen betrifift, so handelt er: von den
inneren Organen (13. Buch), den äußeren Organen
der niederen Tiere, auch der Bedeutung der Hände
und Füße (14. Buch), vom Unterschied der Ge-
schlechter (15. u. 18. Buch), von der embryonalen
Entwicklung, auch Beseelung des Embryos (16.
Buch), von den Eiern der Vögel, der Entstehung
der niederen Tiere, besonders der Bienen (17. Buch),
von organischen Veränderungen (Augenfarbe,
Mutieren usw.) (19. Buch), vom chemischen Auf-
bau des Tierkörpers (20. Buch), vom Seelenleben
und Instinkt der Tiere (21. Buch), von der Stellung
des Menschen in der Natur ; darauf folgt eine Be-
sprechung der Vierfüßler 1 1 3 Nummern (22. Buch),
der Vögel 114 Nummern (23. Buch), der Wasser-
tiere 139 Nummern (24. Buch), der Schlangen
61 Nummern (25. Buch) und der niederen Tiere
49 Nummern (26. Buch).
Es ist nun die Grundlage für weitere For-
schungen gegeben ; freilich wird die Aufgabe, trotz
des guten Textes, keine leichte sein: unter dem
Wüste altertümlicher Anschauungen das ewig
bleibende Lehrgut zu finden und auszumünzen,
und den Fortschritt, den wir Albertus ver-
danken, herauszuheben. Der verdienstvolle Heraus-
geber hat, wie schon bemerkt, die Aufgabe uns
erleichtert, indem er gleich im Text Eigen- und
Lehngut (aus Avicenna) trennte, und jetzt eine
Anzahl Register anfügte, mit Hilfe deren man sich
in dem unfangreichen Texte leichter zurechtfinden
kann.
Das erste Register führt die von Albertus
zitierten Autoren und Werke vor: eine große An-
zahl, so daß man über die Belesenheit und Akribie
dieses Mannes füglich staunen muß. Das zweite
behandelt die verschiedenen Eigennamen: Land-
schaften, Städte usw. Das dritte und umfang-
reichste ist ein Sachregister; hier werden auch
die Tierarten mit den modernen Namen belegt.
Das vierte und fünfte betrifift die deutschen und
arabischen Wörter, welche bei Albertus vor-
kommen.
Alles in allem ist hiermit eine bedeutende
Leistung zum Abschluß gebracht. Nicht bloß der
Naturphilosoph und Naturhistoriker, auch der Ge-
schichts- und Namenforscher muß zu diesem Werke
greifen, das wie ein Grundstein am Anfang des
herrlichen Baues der deutschen Wissenschaft liegt.
S. Killermann.
Born, Max, Der Aufbau der Materie. Drei
Aufsätze über moderne Atomistik und Elek-
tronentheorie. VI und 81 Seiten in 8" mit
36 Abbildungen im Text. Berlin 1920, Julius
Springer. Geh. 8,60 M.
Das vorliegende Büchlein, dessen Verf. einen sehr
wesentlichen Anteil an den neueren Forschungen
über den Aufbau der Materie hat, bringt drei Auf-
sätze : „Das Atom", „Vom mechanischen Äther zur
elektrischen Materie" und „Die Brücke zwischen
Chemie und Physik", die im Laufe des Jahres 1919
in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften" ver-
öffentlicht worden sind, in Wiederabdruck. Die
Darstellung wendet sich an weitere Kreise des
wissenschaftlich gebildeten Publikums und ist ein-
wandfrei und klar. Das Büchlein kann daher ohne
Einschränkung empfohlen werden.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Literatur.
Sammlung Göschen. Berlin und Leipzig '21, Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. 4,20 M.
H. Deegener, Chemisch-technische Rechnungen.
Hoernes, Kultur der Urzeit.
EmilHaselhoff, Agrikulturchemische Untersuchungs-
methoden.
Ernst Frizzi, Anthropologie.
G. Brion, Luftsalpeter.
F. Heiderich, Länderkunde von Europa.
F. Heiderich, Länderkunde der außereuropäischen
Erdteile.
Gustav Jäger, Theoretische Physik II.
G. F. Lipps, Grundriß der Psychophysik.
Wissenschaft und Bildung. Leipzig '21, Quelle & Meyer.
Richard Lehmann, Die Einführung in die erdkund-
liche Wissenschaft. Geb. 9 M.
H. Glafey, Rohstoffe des Textilindustrie. 2. Aufl.
Geb. 10 M.
Schnee, Heinrich, Braucht Deutschland Kolonien?
Leipzig '21, Quelle & Meyer. 4 M.
Wissenschaft und Hypothese. Leipzig-Berlin '21, B. G.
Teubner.
Bd. XXII: E. Gehrcke, Physik und Erkenntnistheorie.
Broscb. 8 M., geb. lo M.
Leuchs, Kurt, Geologischer Führer durch die Kalk-
alpen vom Bodensee bis Salzburg und ihr Vorland. München
'21, J. Lindauersche Univ.-Buchh. (Schöpping). Brosch. 12 M.,
geb. 14 M.
Kettner, Alfred, Die Oberflächenformen des Festlandes.
Leipzig-Berlin '21, B. G. Teubner. Brosch. 21 M., geb. 24 M.
Inhalt: H. Gams, Übersicht der organogenen Sedimente nach biologischen Gesichtspunkten. S. 569. W. Möller, Der
hypothetische Weltäther. S. 577. — Kinzelberichte: A. W. Hüll, Röntgenstrahlenanalyse der Kristallstruktur von
dreizehn Metallen. S. 581. D. M. Dennison, Die Kristallstruktur des Eises. S. 582. — Bücherbesprechungen:
E. Landau, Naturwissenschaft und Lebensauffassung. S. 582. Albertus Magnus, de animalibus libri XXVI.
S. 584. M. Born, Der Aufbau der Materie. S. 584. — Literatur: Liste. S. 584.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganxeo Reibe 36. Band.
Sonntag, den 9. Oktober 1921.
Nummer 41>
Neuere Erfolge von Maxwells Theorie der Elektrizität.
Von Dr. Karl Kuhn.
[Nachdruck verboten,'
Mit 6 Abbildungen.
Faradays Anschauungen über das Wesen
und die Einheit der elektrischen und magnetischen
Kräfte wurden von seinem Landsmann, dem
großen englischen Physiker Clerk Maxwell
(1831 — 1879) mathematisch formuliert und die
weitestgehenden Folgerungen daraus gezogen. Seit-
dem Heinrich Hertz (1857 — 1894) die von
Maxwell geforderte Existenz elektromagnetischer
Wellen verwirklicht und damit das weite Gebiet
der Optik zu einem Zweig der Elektrizitätslehre
gemacht hatte, gelangte die Max well sehe
Theorie in der Physik zur vollen Herrschaft und
auch die moderne hochentwickelte Elektrotechnik
ist vollständig auf den Maxwellschen An-
schauungen aufgebaut. Es ist nun von hohem
Interesse, daß trotz der glänzenden Leistungen
von Hertz manche Folgerungen der Maxwell-
schen Theorie erst in unserem Jahrhundert durch
die großen Fortschritte der physikalischen Ex-
perimentierkunst bestätigt werden konnten.
l.
So ist es für die Max well sehe Theorie von
grundlegender Bedeutung, daß auch in einer un-
geschlossenen Leitungsbahn eine völlig stauungs-
freie Elektrizitätsbewegung stattfindet. Wir denken
uns diesen Fall in folgender Versuchsanordnung
(Abb. i) verwirklicht: die Pole einer elektrischen
K
K
* —
> —
> —
> —
Abb. I.
Stromquelle S sind durch 2 Drähte über einen
Stromschlüssel mit den beiden Platten K K eines
Kondensators verbunden. Zwischen den Metall-
platten KK befinde sich ein Nichtleiter oder auch
ein Vakuum. Schließt man den Stromschlüssel,
so fließt während eines sehr kurzen Zeitraums in
den Drahtverbindungen ein elektrischer Strom,
der die Kondensatorplatten auflädt. Dabei ent-
steht zwischen diesen durch die Kraftlinien E ein
elektrisches Feld. Vor Maxwell glaubte man,
hier liege in dem offenen Stromkreis während
der kurzen Ladezeit des Kondensators eine unge-
schlossene Strömung vor. Nach Maxwell er-
folgt aber während des Anwachsens des Feldes E
im Isolator zwischen den Platten KK eine Ver-
schiebung der Elektrizität, die eine stauungsfreie
Elektrizitätsbewegung ermöglicht und die den
Leiterstrom zu einer geschlossenen Strömung er-
gänzt. Der „Verschiebungsstrom" im Isolator
oder Dielektrikum befördert dieselbe Elektrizitäts-
menge, wie sie durch den Querschnitt des Metall-
drahts fließt. Wenn die Kondensatorplatten auf-
geladen sind, hören beide Ströme, Leitungs- und
Verschiebungsstrom, zu fließen auf. Maxwells
kurzdauernde Verschiebungsströme in Nichtleitern
sind keine eigentlichen Ströme im gewöhnlichen
Sinn; es werden vielmehr nur die Elementar-
quanten der positiven und negativen Elektrizität,
die in jedem Molekül des Isolators in gleich großer
Zahl und zunächst regellos gerichtet vorhanden
sind, durch das elektrische Feld auseinander ge-
zogen und soweit verschoben, bis die Größe der
sie in ihre Lage stabilen Gleichgewichts zurück-
ziehenden (quasi-elastischen) Kraft gleich der Größe
der wirkenden Feldstärke multipliziert mit der
Ladung geworden ist. Außer den Molekülen ist
aber auch noch der alles durchdringende Äther ')
vorhanden; „auch dieser wird polarisiert (jedoch
ist uns die Art der Zustandsänderung, die er da-
bei erleidet, unbekannt, da wir im Äther keine
ponderable Materie annehmen können) und liefert
einen Beitrag zu der dielektrischen Strömung".*)
Die Ketten der polarisierten Moleküle oder Di-
pole (Abb. 2) entsprechen den elektrischen Kraft-
linien Faradays. Der Sitz der elektrischen
Energie eines geladenen Kondensators ist also
nach der Max wel Ischen Theorie vor allem der
Isolator oder der Raum zwischen den Metall-
platten KK.
') „Wir verbinden mit dem Worte , Äther' keineswegs
die Vorstellung einer hypothetischen Substanz; vielmehr
gebrauchen wir dieses historisch überlieferte Wort heute als
Abkürzung, wenn wir ohne Weitschweifigkeiten von dem
Räume als Träger eines elektromagnetischen Feldes sprechen."
M. Abraham, Theorie der Elektrizität, S. 107, Bd. i, 6. Auf-
lage. Teubner, Leipzig 1921.
^) Naturwissenschaften, S. 741, Bd. 4.
S86
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
Während der Ladung des Kondensators ver-
schiebt sich durch jeden Querschnitt des Dielektri-
kums eine gewisse Elektrizitätsmenge, bis die
Trennung bzw. Richtung der Ladungen in den
Molekülen erfolgt ist. Für die Max well sehe
Theorie ist es nun wesentlich, daß sich um jeden
Verschiebungsstrom im Isolator genau wie um
den elektrischen Strom im Drahtkreis ein mag-
netisches Feld windet. Daß Verschiebungsströme,
wie Maxwell vorhergesagt hat, nach denselben
Gesetzen magnetisch wirksam sind wie Leitungs-
ströme, beweisen die von Heinrich Hertz '^)
verwirklichten elektro-magneiischen Wellen. Un-
mittelbar wurde aber erst vor 10 Jahren auf An-
regung von F. R i c h a r z durch Eduard Koch^)
„die magnetische Wirkung dielektrischer Ver-
schiebungsströme in ruhenden Isolatoren" sicher
nachgewiesen. Koch bediente sich folgender
Versuchsanordnung (Abb. 3): die Enden des
zylindrischen Dielektrikums D bilden die kreis-
förmigen Elektrodenplatten B B. Diese stehen
durch die Drähte d mit den Polen einer Wechsel-
Q Q QQO>
00000
00000
00000
00000
00000
Abb. 2.
Abb. 3.
Stromquelle in Verbindung, so daß durch die Ein-
wirkung des Wechselstroms Verschiebungsströme
von wechselnder Richtung entstehen, welche um
sich ein zeitlich und räumlich veränderliches Mag-
netfeld von kreisförmigen Kraftlinien erzeugen.
Um ein elektrisches Wechselfeld von möglichst
hoher Spannung und möglichst großer Wechsel-
zahl zu erregen, benützte Koch als Stromquelle
einen Teslatransformator. Das veränderliche
Magnetfeld der Verschiebungsströme bewirkt in
einer das Dielektrikum D umschlingenden Draht-
spirale S das Auftreten von Induktionsströmen,
die bei qualitativen Versuchen mit einem Telephon
nachgewiesen wurden. Die Stärke der Induktions-
') Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen
Kraft. J. A. Barth, Leipzig 1914.
') Dissertation. Marburg 1910.
Wirkung, welche das Magnetfeld der Verschiebungs-
ströme erzeugt, muß nach der Theorie der
Dielektrizitätskonstante des zwischen die Elek-
troden B B gebrachten Isolators proportional sein.
Tatsächlich ergaben auch die Telephonversuche
eine Zunahme der Tonstärke mit wachsender
Dielektrizitätskonstante.
Verschiebungsströme
in
Dielektrizitäts-
konstante
Stärke des Tones
Luft
Paraffin
Holz
Methylalkohol
VVasser
Metall
I
1,9
4,5
33
81
00
sehr schwach
schwach
ziemlich stark
stark
noch stärker
sehr stark
Bei seinen endgültigen Versuchen schickte
Koch die in S induzierten Wechselströme durch
eine Glühkathodenröhre als Gleichrichter und maß
sie mit einem hochempfindlichen Galvanometer.
Bei Paraffin als Isolator D ergab sich im Verhält-
nis zu Luft für die Dielektrizitätskonstante der
Wert 2,05, welcher mit dem sonst gefundenen
gut übereinstimmt. Damit ist wohl sicher er-
wiesen , daß Verschiebungsströme gemäß der
Max well sehen Theorie dieselben magnetischen
Wirkungen ausüben wie Leitungsströme.
Es ist historisch sehr interessant, daß bereits
im Jahre 1879 die Berliner Akademie (Helm-
h o 1 1 z) ') eine Preisaufgabe stellte, die den Nach-
weis der magnetischen Wirkung dielektrischer
Verschiebungsströme verlangte. Die Preisaufgabe
lautete: „Irgendeine Beziehung zwischen elektro-
dynamischen Kräften und der dielektrischen Polari-
sation der Isolatoren experimentell nachzuweisen,
sei es nun eine elektrodynamische Kraft (= Magnet-
feld), welche durch Vorgänge im Nichtleiter (=^ Ver-
schiebungsstrom) erregt würde, sei es eine Polari-
sation der Nichtleiter durch die Kräfte der elektro-
dynamischen Induktion."
II.
Der zweite Teil der Preisaufgabe fand auch
erst in unserem Jahrhundert seine Lösung; er ist
eigentlich nur eine Umkehrung des ersten Effektes
und ist ein notwendiges Postulat des Max well -
sehen Prinzips der Einheit aller elektrischen Kräfte.
Wie nämlich ein Verschiebungsstrom in einem
Isolator ein kurzdauerndes Magnetfeld zur Folge
hat, so muß auch ein veränderliches Magnetfeld,
das in einem Isolator erregt wird, einen Verschie-
bungsstrom bedingen, d. h. also eine dielektrische
Polarisation oder Ladung eines Kondensators.
Dieser von der Max well sehen Theorie geforderte
Effekt wurde im Jahre 1904 von H.A.Wilson-)
nachgewiesen. Bei seiner Versuchsanordnung
schnitten aber nicht die Kraftlinien eines ver-
änderlichen Magnetfelds einen ruhenden Isolator,
') Physik der „Kultur der Gegenwart", S. 302. Teubner,
Leipzig iqi5-
'•'; Procl Roy. Soc. 73, S. 490—492 (1904). — Beiblätter
z. d. Ann. d. Physik Bd. 28, S. 870— 871 (1904)-
N. F. XX. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
587
sondern es wurde durch Bewegung eines Isolators
in einem ruhenden Magnetfeld ein Schneiden
magnetischer Kraftlinien erzielt. Zu diesem Zweck
ließ Wilson einen Hohlzylinder aus Ebonit mit
200 Umdrehungen in der Sekunde in einem Mag-
netfeld von 1500 Gauß rotieren, das parallel der
Zylinderachse gerichtet war. Die dielektrische
Verschiebung wurde elektrostatisch gemessen.
Zu diesem Zweck wurde die innere und die äußere
Oberfläche des Ebonitzylinders mit je einem Metall-
überzug versehen, auf denen je eine Metallbürste
schleifte. Die innere Belegung war geerdet, die
äußere in Kontakt mit einem Quadrantenpaar
eines empfindlichen Elektrometers. Es ergab sich,
daß die Richtung der radialen dielektrischen Ver-
schiebung im Ebonitzylinder dieselbe ist wie in
einem Leiter. Die Größe der dielektrischen Ver-
schiebung war proportional der Stärke des Magnet-
felds und der Umdrehungszahl. Der Versuch von
H. A. W i 1 s o n bestätigte also glänzend die Gültig-
keit der von Maxwell theoretisch abgeleiteten
Folgerungen. (Über die Bedeutung des Wilson-
schen Versuchs für die Theorien von H. A. Lo-
rentz und Einstein siehe Jahrbuch der Radio-
aktivität und Elektronik Bd. 7, S. 427 (1910).)
Indirekt hatte schon Farad ay im Jahre 183 1
gezeigt, daß ein zeitlich veränderliches Magnetfeld
von elektrischen Kraftlinien umgeben ist. Er be-
obachtete nämlich in einem Metall, das von sich
ändernden magnetischen Kraftlinien geschnitten
wurde, das Auftreten eines Stromes (Induktions-
strom); es fließt aber nur dann in einem Leiter
ein elektrischer Strom, wenn ein elektrisches Feld
vorhanden ist, das die Leitungselektronen in Be-
wegung setzt.
m.
Schließlich wurde auch auf experimentellem
Wege das Problem gelöst, die elektrischen Kraft-
linien um ein veränderliches Magnetfeld durch
ihre elektrostatisch • ponderomotorische Wirkung
(= Anziehung oder Abstoßung) auf leichte, elek-
trisch geladene Körper nachzuweisen. Dies gelang
Karl Henrich 1) auf Grund folgender Über-
legung: entstehender oder verschwindender Mag-
netismus in einem Eisenstück stellt einen „mag-
netischen Verschiebungsstrom" dar. Denn man
kann sich ja den entstehenden Magnetismus so
denken, daß sich in jedem Eisenmolekül die ur-
sprünglich als zusammenfallend anzunehmenden
Nord- und Südpole in entgegengesetzten Richtun-
gen voneinander entfernen, parallel der Achse des
resultierenden Gesamtmagnetismus. Diese Be-
wegung ist dann ganz analog derjenigen der posi-
tiven bzw. negativen Elektrizitäten in einem
dielektrischen Verschiebungsstrom. Denken wir
uns ein magnetisches Feld H (Abb. 4), dessen
Kraftlinienzahl zeitliche Änderungen erleidet, so
wird in jedem Molekül eine Verschiebung der
magnetischen Mengen stattfinden, d. h. es tritt
') Auf Anregung von F. Richarz, Naturwissenschaften
S. 4—7, Bd. 1.
ein magnetischer Verschiebungsstrom auf. Um
diesen müssen sich dann elektrische Kraftlinien
von der Richtung E schlingen.
Henrich^) erzeugte einen magnetischen Strom
in einem Eisenring (Abb. 5) aus feinstem Trans-
formatorblech von I20 mm äußerem und 80 mm
innerem Durchmesser, indem er den Wechselstrom
eines rotierenden Umformers durch Drahtwick-
lungen um den Eisenkern schickte. Wenn der
Eisenkern maximal magnetisiert ist, dann ist der
magnetische Verschiebungsstrom gleich Null ge-
worden; im nächsten Augenblick kommt aber in-
folge der Verwendung von Wechselstrom ein
Stromstoß von umgekehrter Richtung; es erfolgt
Ummagnetisierung des Eisenrings und es fließt
ein magnetischer Strom entgegengesetzter Rich-
tung so lange, bis die maximale Magnetisierung
des Eisenrings im anderen Sinne erreicht ist. Der
magnetische Wechselstrom im Eisenring bedingt
die elektrischen Kraftlinien E, die im Rhythmus
des magnetischen Wechselstroms ihre Richtung
ändern.
H
Abb. 4.
Abb. 5.
In der Mitte des Ringes wurde unter einem
Winkel von 45 " zu den elektrischen Kraftlinien
eine Nadel aus Glas von 6 mm Länge beweglich
an einem Quarzfaden aufgehängt, der dünner wie
I fi war. Die elektrischen Kraftlinien E erregen
durch Influenz an den Enden des Glasstäbchens
Ladungen, welche dieses in die Richtung der
Kraftlinien hereinzudrehen versuchen. Die Um-
kehr des magnetischen Verschiebungsstroms im
Eisenring ändert zwar die Richtung des elektri-
schen Feldes E, aber es kehrt sich damit auch
das Vorzeichen der durch Influenz an den Enden
des Glasstäbchens erregten Ladungen um, so daß
dieses trotz des Wechselstroms fortgesetzt in der-
selben Weise in die Richtung der elektrischen
Kraftlinien hineingedreht wird. Die Glasnadel
bekam pro Sekunde 120 Stöße, so daß die un-
meßbar kleine Wirkung eines einzelnen magneti-
schen Stromstoßes bis zu einer quantitativ gut
meßbaren Ablenkung der Nadel gesteigert wurde.
Die beschriebene Versuchsanordnung von
Henrich ist einer Tangentenbussole ganz analog :
') Nachweis der elektrostatisch ponderomotorischen Wir-
kung der Induktion. Dissertation. Marburg 1910.
588
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
wie ein elektrischer Kreisstrom durch sein Magnet-
feld eine kleine Kompaßnadel aus ihrer Nord-
Südrichtung ablenkt, so sucht das elektrische Feld
des magnetischen Verschiebungsstroms die Glas-
nadel in die Richtung der Kraftlinien E zu drehen.
Das elektrostatische Feld der stromdurch-
flossenen Leitungsdrähte konnte durch eine be-
sondere Bewicklungsart des Eisenrings ^) von der
Glasnadel völlig abgehalten werden. Der Einfluß
der vom elektrischen Strom schwach erwärmten
Drähte wurde durch Verbringen der ganzen Appa-
ratur in ein Vakuum beseitigt. Durch die Ab-
lenkungsgröße der Glasnadel, die an einem Quarz-
faden von bekannter Torsionskraft hing, konnte die
Max well sehe Theorie sogar quantitativ bestätigt
werden. Es konnte also Henrich den lange
gesuchten experimentellen Nachweis erbringen,
daß ein sich um magnetische Ströme ausbildendes
elektrisches Feld ein Stäbchen aus einem Isolator
in die Kraftlinienrichtung hineindreht, ganz so, als
ob ein gewöhnliches elektrostatisches Feld vor-
handen wäre.
IV.
Durch einen geistreichen Versuch hat neuer-
dings Wilhelm Wien ^) gezeigt, daß die Max -
well sehen Gleichungen auch für manche Vor-
gänge bei der Ausstrahlung des Lichtes durch
Atome gültig sind. In ihrem innersten Wesen
ist Wiens Versuchsanordnung mit der H. A.
Wilsons identisch. Sie sei an der schematischen
Abb. 6 erläutert. Die z-Achse gibt die Richtung
Abb. 6.
der magnetischen Kraftlinien etwa eines Hufeisen-
magneten an; es werde nun ein Isolator durch
das Magnetfeld in der x Richtung bewegt. „Die
beiden, zur y-Achse senkrechten Grenzflächen der
Scheibe seien mit Metall belegt; die Belegungen
mögen durch Gleiikontakte mit einem Elektro-
meter G in Verbindung stehen, so daß man die
auf ihnen entstehende Ladung messen kann." ^)
Wilson zeigte 1904, daß tatsächlich eine Auf-
ladung der metallischen Grenzflächen durch das
elektrische Feld erfolgt, welches in dem Isolator
') und vor allem durch Verwendung von 2 Eisenringen.
^) Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissen-
schaften, S. 70—74. Berlin 1914.
') Max Born , Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre
physikalischen Grundlagen, S. 142. J. Springer, Berlin 1920.
beim Schneiden der magnetischen Kraftlinien er-
regt wird.
W. Wien schickte durch ein magnetisches Feld
von 17000 Gauß Stärke leuchtende WasserstofF-
kanalstrahlen von 520 bis 770 km Geschwindig-
keit in der Sekunde. An jedem leuchtenden
Wasserstoffatom, welches des Magnetfeld durcheilt,
muß dann ein elektrisches Feld als Wilson -
Effekt erregt werden. Nun hat Johannes Stark
im Jahre 1913 gefunden, daß in elektrischen Fel-
dern die Spektrallinien leuchtender Atome auf-
gespalten werden und daß polarisierte Kompo-
nenten neben den ursprünglichen Spektrallinien
auftreten (Stark- Effekt). „Wir müssen also er-
warten, daß ein kräftiges Magnetfeld auf die von
Wasserstoffkanalstrahlen ausgesandten Spektral-
linien eine analoge Wirkung ausübt, wie ein elek-
trisches Feld." Da die leuchtenden Kanal-
strahlen, die das Magnetfeld durcheilen, verschie-
dene Geschwindigkeiten haben, so ist durch das
erregte elektrische Feld nicht das Auftreten neuer
scharfer Spektrallinien zu erwarten, sondern nur
eine Verbreiterung der normalen Linien, aber mit
polarisierten Rändern. Der durch das Magnetfeld
bedingte Z e e m a n n ■ Effekt ist von so geringer
Größenordnung, daß er in erster Näherung ver-
nachlässigt werden kann.
Tatsächlich beobachtete W. Wien an den
Spektrallinien der Wasserstoffkanalstrahlen im
Magnetfeld einwandfrei den Starkeffekt, womit
— genau wie in Wilsons Versuch mit dem
Elektrometer — das Auftreten eines elektrischen
Feldes in Dielektrizis bewiesen ist, die magne-
tische Kraftlinien schneiden. „Die vorhandenen
Hilfsmittel reichten aus, um das Vorhandensein
der von der Theorie verlangten Wirkung un-
zweifelhaft festzustellen und zu zeigen, daß auch
die Größenordnung die erwartete ist." Das Ver-
^ trauen in die Gültigkeit der elektromagnetischen
X Gesetze M a x w e 1 1 s ist dadurch auch für den
Vorgang der Lichtemission in einem leuchtenden
Atom sehr gestärkt.
Seit dem Tode von Maxwell und Hertz
ist das Gebäude der Elektrizitätslehre durch die
Elektronentheorie ungeheuer erweitert worden ;
die elektrodynamischen Erscheinungen in be-
wegten Körpern sind durch die Relativitästheorie
in ihrem innersten Wesen geändert worden; aber
die unerschütterte Grundlage der theoretischen
Elektrizitätslehre ist noch immer „das System
der Maxwellschen Gleichungen", wie sich
Heinrich Hertz') einmal ausgedrückt hat.
„Schwerlich wird die spätere Entwicklung sie zu
modifizieren haben" (H. A. Loren tz^j). Max-
wells Theorie der Elektrizität ist für alle Zeiten
eine der großartigsten Leistungen des mensch-
lichen Geistes. Aber auch in der Technik und
im praktischen Leben sind Maxwells Ansichten
von ausschlaggebender Wichtigkeit: was in unseren
') Hertz, Ausbreitung der elektrischen Kraft, S. 23.
') Physik der „Kultur der Gegenwart", S. 322.
N. F. XX. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
589
elektrischen Maschinen surrt, was von den An-
tennen über Ozeane und Kontinente fortzuckt,
legt ebenso ein Zeugnis für die Richtigkeit von
Maxwells Theorie ab wie etwa die unsicht-
baren Strahlen Röntgens, die das Innere unseres
lebenden Körpers zu enthüllen vermögen.
Täaschende Ähnlichkeit mit Wespen und Bienen (Sphekoidie).
[Nachdruck verboten.]
Von Franz Heikertinger, Wien.
Die (schützende) Ähnlichkeit mit bestachelten
Hautflüglern (Wespen, Bienen, Hummeln) wird
als Sphekoidie, die Ähnlichkeit mit Ameisen
als IVIyrmekoidie bezeichnet. Beide Erschei-
nungen bilden Hauptpfeiler der Mimikryhypo-
these und sind ungezählte Male besprochen worden.
Die zeitgemäße Experimentalforschung wendet
sich nun der Erkenntnis zu, daß theoretische Er-
örterungen über diesen Gegenstand wenig Wert
haben, insolange nicht der — bis zur Stunde
noch ausständige — exakte Nachweis des
tatsächlichen Erfülltseins der Grundforderungen
erbracht ist, insolange nichtdurch Reihen
von Beo bach t ungen undVersuchen ein-
wandfrei nachgewiesen ist, daßBienen,
Wespen und Ameisen tatsächlich „ge-
schützt" sind, d. h. Von insektenfressern
nicht oder nur in vereinzelten Aus-
nahmefällen gejagt und verzehrt wer-
den. Erweist sich diese Grundforderung als
nicht erfüllt, dann erübrigt sich jede weitere Er-
örterung.
Unter Verarbeitung eines sehr reichen Materials
aus Literatur und eigener Erfahrung habe ich in
einer Anzahl von Arbeiten (vgl. das angefügte
Verzeichnis) Tatsachen zur Klärung der Fragen
vorgeführt. Dieses Tatsachenmaterial erweist, daß
ein Geschütztsein bestachelter Hautflügler nicht
feststellbar ist, daß die fundamentalen Voraus-
setzungen für die Sphekoidiehypothese nicht er-
füllt sind. Alle jene Insektenfresser, in
deren Normalnahrungskreis Insekten
von der Größe, Bewegungsart usw. der
Wespen, bzw. Bienen oder Ameisen,
fallen, machen keinen Unterschied
zwischen wehrhaften oder wehrlosen
Formen, sondern jagen, bewältigen
und verzehren beide.
Außerstande, jene Tatsachenreihen hier vorzu-
führen, muß ich den Leser, der der Angelegen-
heit tieferes Interesse entgegenbringt, bitten, in
meine zitierten Arbeiten Einblick zu nehmen und
das dort Vorgeführte vorurteilsfrei zu prüfen. Hier
soll nur kurz einiges Wesentliche (hauptsächlich
Punkte, die F. Dahl zum Gegenstande einer
Kritik nahm ^)) besprochen sein.
In meinen Arbeiten sind die kleineren Bienen-
arten unbesprochen geblieben, was Dahl be-
mängelt. Die Schuld liegt nicht an mir. Ich
besprach das, wovon in der Mimikryliteratur die
') In dieser Zeitschrift, 1921, Heft 5, S. 70 — 75. Durch
Zufall entging der Aufsatz seinerzeit meiner Aufmerksamkeit.
Rede ist, in erster Linie natürlich die bekannten
Paradebeispiele. Hätte ich anderes getan, hätte
man mir mit Recht vorgeworfen, ich wiche den
berühmtesten, also wohl bestfundierten Beispielen
aus. So behandelte ich : Schlammfliege [Eristalis)
und Honigbiene {Apis), Hummelschwärmt-r (He-
maris = Haemorrha^iä) und Hummel \Bombus),
Hornissenschwärmer (Trochümm. = Aegerta) und
Hornisse ( Vespa crabro), Widderbockkäfer ( Clytus)
und Wespe (Vcspa usw.), Wespenbockkäfer {Ne-
cydalis) und Wegwespe {Atiimop/iüa), von Exoten
den Kurzdeckbockkäfer Coloborhombiis und die
Pompilide Mypmnia usw. usw. Zu jedem dieser
aller Welt geläufigen Mimikrybeispielen habe ich
einzeln eingehend die Schwierigkeiten und zer-
störenden Widersprüche dargelegt, zu denen die
Annahme einer Mimikry führt, und habe mich
gezwungen gesehen, diese Annahme abzulehnen.
Meine Nachweise habe ich auf zwei Wegen
geführt. Den ersten möchte ich als morpho-
logisch-analytischen bezeichnen. Auf ihm
läßt sich zeigen, daß Wespenähnlichkeit durch
das Zusammentreffen einer kleinen Anzahl von
Einzeleigenschaften entsteht, von „Elementen",
welche sich in anderen Kombinationen bei vielen
anderen Arten finden, ohne eine Wespenähnlich-
keit zu bewirken. Es sind: i. ungefähre Größe
von Wespen, 2. ungefähr ähnliche Gestalt (die
Ansprüche hieran sind sehr gering), 3. querbindige
Zeichnung, 4. schwarz-gelbe Färbung (wenigstens
bei den Paradebeispielen aus Europa vorwiegend).
Das zufällige Zusammenfallen dieser vier einfachen,
sehr häufigen Merkmale erzeugt Wespenähnlich-
keit, das Fehlen eines derselben hebt sie auf.
(Der Begriff „Ähnlichkeit" ist hier natürlich nicht
in geometrischem Sinne gebraucht, sondern be-
deutet „täuschende Ähnlichkeit", Anlaß zu taf-
sächlicher Verwechslung). Die „Zufälligkeit" dieser
Ähnlichkeit beleuchtet am besten ein Beispiel.
Ein Kind, mit einem Buchstabenlegespiel be-
schäftigt, hat die Einzelbuchstaben E, E, P, S, W
in der Hand und legt Worte: „Pesew", „Sewep"
usw. Wer wird staunen, wenn das Kind mit
diesen Buchstaben zufällig einmal auch das Wort
„Wespe" legt? Wer wird im Ernst behaupten,
das Kind, das bei „Pesew" nichts gedacht hat,
müsse bei „Wespe" unbedingt an einen bestachelten
Hautflügler gedacht haben, es sei gar nicht anders
möglich? Ebenso „zufallig", wie die Natur auf
ein Insekt das Bild eines „y", eines Auges, eines
Nagels, eines Totenkopfes usw. malt, kann sie
ihm schwarzgelbe Querstreifen anmalen, ohne daß
eine zufällig gleichfalls schwarz gelb bemalte
590
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
Wespe hierbei wirklich ins Spiel zu treten brauchte.
Auch die statistische Überlegung erweist nichts
anderes. Auf ungefähr tausend Käferarten kommt
eine einzige halbwegs wespenähnliche. Ist nicht
von vornherein zu erwarten, daß jene vier ein-
fachen Elemente der Wespenähnlichkeit unter
tausend Fällen wenigstens einmal zu einer Wespen-
ähnlichkeit zusammentreffen werden } Gerade so,
wie das Kind unter vielen Fällen wohl einmal
die Buchstabenfolge „Wespe" legen wird ?
Wenn Wespenähnlichkeit so schützend wert-
voll ist, warum machen nicht mehr Käfer davon
Gebrauch ? Und wenn 999 Arten ohne Wespen-
ähnlichkeit leben und hundertfach zahlreicher sind,
warum sollten von der tausendsten Art nur jene
Individuen erhaltungsfähig gewesen sein, die einer
Wespe ähnelten, alle anderen aber untergegangen ?
Und sieht denn ein Clytus, ein Syrphus usw.
wirklich einer Wespe täuschend ähnlich? Er er-
innert wohl entfernt an sie, aber der erste schärfere
Blick läßt ihn sofort als Nicht-Wespe erkennen;
eine wirkliche Täuschung ist ausgeschlossen. Be-
sonders gegenüber insektenjagenden Tieren, die
sich — wie z. B. die Vögel — alles sehr genau
ansehen und versuchen, ehe sie es laufen lassen.
Nirgends im Naturleben findet der unbefangene
Forscher begründeten Anlaß, ein Insekt, das etwas
an eine Wespe erinnert, a priori mit wirklichen
Wespen in eine biologische Beziehung zu bringen.
Ein solcher Anlaß wäre berechtigterweise nur
durch die hundertfach gemachte, sichere, empirisch
ermittelte Erfahrung gegeben, daß Wespen von
Insektenfressern tatsächlich gemieden würden. Hier
liegt nun der zweite Weg des tatsachengemäßen
Nachweises, der biologische, der Weg der
tatsachengemäßen Untersuchung der normalen
Freilandnahrung der Insektenfresser. Hierzu bieten
Magen- und Kropfinhalte in erster, Ge-
wölle und Exkremente der Insektenfresser in
zweiter Linie reiches und sicheres Material. Denn
was ein Vogel (Vögel sind die Hauptfeinde der
Insekten) im Magen oder Kropf hat, muß er ge-
fressen haben, und was er gefressen hat, kann
nicht vor ihm geschützt gewesen sein. Ist es
eine Biene, Wespe oder Ameise, so ist damit er-
wiesen, daß er Bienen, Wespen und Ameisen
frißt, diese daher keinen Schutz vor ihm genießen.
Die Bedenken, die man gegen die Beweiskraft
von Mageninhaltsuntersuchungen vorgebracht hat,
beziehen sich nicht auf unser Problem, sondern
lediglich auf die für Land- und Forstwirtschaft so
hochwichtige Abschätzung der quantitativen
Zusammensetzung der Nahrung jeder Vogclart,
da hiervon das Urteil „nützlich" oder „schädlich"
abhängt. Die quantitative Schätzung allerdings
hat die Härte der Chitinhülle jeder einzelnen In-
sektenart kritisch in Rechnung zu stellen. Für
unser Problem genügt das Vorhandensein einer
Biene oder Wespe in einem Vogelmagen, um zu
erweisen, daß diese Vogelart Bienen oder Wespen
nicht fürchtet oder verschmäht. Nur eins erfordert
die Logik in unserem Problem: das Urteil, ein
Vogel fresse keine Bienen, Wespen oder Ameisen,
kann erst nach Untersuchung größerer Serien
von Mageninhalten einer und derselben Vogelart
abgegeben werden. ' Denn da in einem Magen-
inhalte in der Regel nur die Reste von wenigen
(meist nur etwa 2 bis 6, selten mehr) Tierarten
soweit erhalten sind, um eine sichere Art- oder
Gattungsbestimmung zu ermöglichen , so ist es
klar, daß die 10, 20 oder 30 Tierarten, die sich
in 3, 5 oder 10 untersuchten Individuen einer
Vogelart vorfinden, eine reine Zufallsauslese dar-
stellen und zur Abgabe eines negativen Urteils in
keiner Weise berechtigten. Auf einem solchen in
jeder Hinsicht unzureichenden Material fußen nun
Dahls längere Erörterungen über den Insekten-
fraß der Vögel auf den Bismarckinseln.^) Er hat
167 Mägen und 54 Insektenfresserarten untersucht,
mithin kommen auf jede Vogelart durchschnitt-
lich drei (!) untersuchte Mägen. Die 5, 10 oder
selbst 20 Insekten in diesen durchschnittlich drei
Mägen sind reine Zu fa 11s funde, die gar kein
vergleichendes Urteil ermöglichen. Ein einziger
positiver Schluß kann hieraus mit Sicherheit ge-
zogen werden: die von diesen Vögeln wirklich
gefressenen Bienen, Wespen und Ameisen sind eben-
soviele Beweise, daß diese Insekten vor der be-
treffenden Vogelart nicht „geschützt" sind. Das
Nichtvorhandensein von Bienen und Wespen in
dem Zufallsmaterial von drei Mägen aber gestattet
den Schluß nicht, diese Vogelarten fürchteten
oder mieden Wespen. Wenn ich drei Menschen
töte und im Magen des einen Käse finde, darf
ich Käse für ein menschliches Nahrungsmittel
halten. Wollte ich aber auf Grund des zufälligen
Nichtvorhandenseins von Käse in den drei Mägen
die Behauptung aufstellen, der Käse werde seines
üblen Geruches halber von den Menschen über-
haupt verschmäht, so würde ich wohl kaum mehr
als ein Lächeln ernten.
Die zur Grundlage meiner Untersuchungen
dienenden Materiale zeigen denn auch ganz andere
Ziffern, Ziffern, die ein vergleichendes Urteil ge-
statten. So kommen in Csikis musterhaften Unter-
suchungen über die Insektennahrung ungarischer
Vögel auf eine Vogelart nicht wie bei Dahl im
Durchschnitt 3, sondern 42 Mageninhalte. Dem-
entsprechend ist auch das Ergebnis ein anderes:
von den von Csiki untersuchten 60 Vogelarten
hatten 23,33 "/o Wespen und 85 "/o Ameisen ver-
zehrt (und zwar laut Mitteilung des Untersuchers
fast ausschließlich f lügeil ose Arbeiter, darunter
die wehrhaftesten Arten, z. B. Formica rufa, in
reicher Zahl). Und — um aus vielen noch ein
zweites Beispiel zu geben — F. E. L. Beals
Untersuchungen über die Nahrung nordamerika-
nischer Fliegenfänger umfassen 3398 Magen von
17 Vogelarten, also durchschnittlich rund 200
Magen von jeder Art. Auch hier das Resultat:
die Bienen, Wespen und Ameisen bilden im
Durchschnitt 34,41 "/o der Gesamtnahrung dieser
') Iq der zitierten Arbeit in dieser Zeitschr., S. 71 — 73.
N. F. XX. Nn 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
591
Vögel. Der unbefangene Leser wird den Unter-
schied zwischen der Dahlschen und meiner Be-
weisführung schon aus diesen wenigen Ziffern
ersehen.
Daß Wespen sogar zur Atzung von Nest-
jungen Verwendung finden, erweist die Tat-
sache, daß Csiki u. a. im Magen eines einzigen
Nestlings des Dorndrehers [Laiiius colhirio) 8 Stück
Vespa vulgaris fand.
Da ich die Ameisenmimikry gesondert be-
sprechen möchte, will ich auch auf Dahls unge-
rechtfertigten Vorwurf, ich habe seine (im übrigen
unbrauchbaren) Daten „gefälscht" (1) usw. erst
dort eingehen.
Ich habe umfangreiche Listen bienen- und
wespenfressender Säugetiere, Vögel, Reptilien,
Amphibien und Arthropoden gegeben und habe
Versuche und Beobachtungen in reicher Zahl vor-
geführt (vgl. meine Arbeilen Nr. i, 2, 3, 4, 6, 8,9).
Angesichts der von mir vorgeführten Fülle sorg-
fältig durchgearbeiteter Tatsachen kann der alte
Glaube an ein auch nur teilweises Geschütztsein
der Bienen, Wespen und Ameisen nicht mehr auf-
recht erhallen werden. Den hieran zweifelnden
Leser bitte ich um unbefangen prüfenden Einblick
in meine Arbeiten. Der knappe Raum gestattet
mir keine Beweisführung an dieser Stelle.
Da hl, der mir den Vorwurf macht, ich lasse
alles fort, was gegen meine Theorie (ich habe
übrigens nie eine „Theorie" vertreten) spreche, hat
dieser erdrückenden Beweisfülle mit keinem Worte
Erwähnung getan. Dafür hat Da hl Arbeiten
um so wärmer empfohlen, die auch nicht eine
einzige tatsachengemäße Untersuchung, sondern
ausschließlich sterile Wortpolemik enthalten.
Die Wespenfresser unter den Vögeln umfassen
nicht etwa nur sog. „Spezialisten", wie den Wespen-
bussard, sondern rekrutieren sich aus Angehörigen
der verschiedensten Familien (Tag- und Nacht-
raubvögel, Sänger, Meisen, Drosseln, Fliegenfänger,
Würger, Raben, Stare, Klettervögel, Hühnervögel,
Sumpfvögel). Es wäre widersinnig, anzunehmen,
daß der Wespenfraß, der einer Vogelart gelingt,
den verwandten Arten derselben Gruppe nicht
ebenso leicht gelingen sollte. Tatsächlich brauchen
die geschickt mit ihrem verhornten Schnabel und
verhornten Füßen zu Werke gehenden Vögel den
Wespenstachel ja nicht zu fürchten. "
Spinnen, auf welche Da hl als „staatlich an-
gestellter Spezialist" so viel Gewicht legt, sind
für die Herausbildung einer Bienen- oder Wespen-
ähnlichkeit auf dem Wege natürlicher Auslese
nahezu völlig bedeutungslos. Fürs erste sind die
Aufenthaltsorte der Wespennachahmer (Schweb-
fliegen, Bockkäfer, Schwärmer usw.) und der
größeren Radspinnen nur in sehr beschränktem
Ausmaße die gleichen. Fürs zweite vermeiden
die Bienen und Wespen, wie mich zahlreiche Be-
obachtungen und Versuche lehren, geschickt die
Spinnennetze und reißen sich, wenn ja einmal
daran geraien, regelmäßig rasch los. Sie sind in
dieser Beziehung ungleich stärker und energischer
als Fliegen. Zum dritten erweisen Dahls eigene
Versuche, daß sich Spinnen im großen und ganzen
um Färbungen wenig kümmern dürften. Die
Hüpfspinne Attits arcitatus z. B. nahm bei Dahl
eine Stubenfliege, die über und über gleichmäßig
mit rotem Karminstaub überzogen war und einer
(von der Spinne verschmähten 1) roten Milbe
{Trontbidium) sehr ähnlich sah, ohne jedes Zögern
an. Überdies dürfte es den schwachsichtigen, zu-
meist in gleicher Ebene mit dem Opfer befind-
lichen Spinnen schwer sein, eine für den Menschen
(der die Objekte von oben her schauend ver-
gleichi) vorhandene Wespenähnlichkeit zu über-
blicken und festzustellen. Zum vierten muß ich
nach zahlreichen neuerlichen Versuchen betonen,
daß sich weder Krabbenspinnen noch enisprechend
große Netzspinnen vor Bienen oder Wespen
fürchten. Den Bienenfang ersterer schildert selbst
Dahl. Und wer, wie ich, an die fünfzig Male
im Freien gesehen hat, wie einheimische größere
Radspinnen (Arancus = Epeira diademata, qua-
drala, marmorea und var. pyramidata) auf frisch
gefangene, große, in Netz gehängte Bienen mit
einer förmlichen Freude losfahren, sie in wenigen
Sekunden eingewickelt und gebissen haben, ohne
ein Zeichen von Furcht, ohne besondere Vorsicht,
nur mit der innen von Natur aus eigenen raschen
Geschicklichkeit, dem kann durch kein Zitieren
von alten Autoritäten das sichere Wissen um die
Bienenfurchtlosigkeit der heimischen großen Rad-
spinnen genommen werden. Ich habe an anderer
Stelle (Nr. 6) die Versuchstechnik näher beschrie-
ben und lade jeden Leser ein, sich durch eigene
Versuche zu überzeugen. Es ist dies nicht
schwierig.
Ein Weibchen von Araneus quadratus z. B.
hat im Freiland gegen 6 Uhr abends nacheinander
vier frische Bienen, die ich ins Netz hängte, mit
Feuereifer im Nu bewältigt. Sie hätte das Spiel
sicher noch fortgesetzt, wenn ich es nicht selbst
abgebrochen halte.
Natürlich muß das Größenverhältnis zwischen
Biene und Spinne entsprechend sein; jedes zu
große oder zu fahrige Tier, auch ein harmloser
Grashüpfer u. dgl., wird von der Spinne (gegebe-
nenfalls durch Abbeißen der Fäden, das ich öfter
beobachtet habe) befreit oder resigniert gewähren
lassen.
(Dahl bemängelt, daß ich die Bienen mit der
Pinzette an einem Bein oder Flügel so lange fest-
hielt, bis sie sich hinreichend ins Netz verstrickt
hatten oder die Spinne heranschoß. Ich weiß
keinen anderen Weg der Versuchsmöglichkeit, da
eine nicht festgehaltene Biene sofort abfliegt.
Jedenfalls ist meine Versuchstechnik natürlicher
als Dahls Versuch mit der „ziemlich stark ge-
drückten" Biene Nomada siiccinda)
Wenn sich aber eine Spinne einer Wespe
gegenüber ja einmal anders benehmen sollte als
gegenüber einer Fliege, so ist auch solches ohne
Mimikryannahme ohne weiteres leicht verständlich.
Die Spinne hat eben in dem einen Falle unmittel-
S92
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
bar vor sich das für sie furchtbare Gebiß eines
wuterfüllt um sich beißenden, wildfahrigen Raub-
tiers, im anderen Falle den unschuldigen Saug-
rüssel einer angstvoll zappelnden Fliege. Es be-
darf keiner Mimikryhypothese, um zu begreifen,
daß sich ein Mensch verschieden benimmt, je
nachdem ein wütend zähnefletschender Wolf oder
ein friedsames Lamm vor ihm steht. Ich habe
bei den zahlreichen Akuleaten- und Spinnen-
kämpfen, die ich veranlaßte, beobachtet, wie eine
Kreuzspinne von einer Hummel derart ins Bein
gebissen wurde, daß sie sich dauernd zurückzog.
Man nehme eine Lupe zur Hand und sehe sich
ein Wespengebiß an.
Soviel über Sphekoidie. Die Annahme einer
durch natürliche Auslese erzeugten Wespen- oder
Bienenähnlichkeit findet in den Erfahrungstatsachen
nicht nur keine Stütze, sondern wird durch sie
klar widerlegt. Schon die Grundforderung der
Hypothese erweist sich als nicht erfüllt, und da-
mit entfällt jede weitere Erörterung. Daran läßt
sich auch mit eifernden Worten nichts ändern.
Über Myrmekoidie möchte ich in einem zweiten
Artikel einige Worte bringen.
Ich mache Dahls Worte zu den meinigen:
„Ich hoffe durch meine hier gegebenen Aus-
führungen dem nicht voreingenommenen Leser
klar vor Augen geführt zu haben, wie verschieden
der Neodarwinismus und der Neolamarckismus
den aus den Vogelmagenuntersuchungen sich er-
gebenden Tatsachen gegenüberstehen."
Wobei ich einen kleinen Irrtum Dahls, der
ihm auch andernorts unterlaufen ist, richtigstellen
möchte. Ich bin nichts w eniger als ein Vertreter
des Neolamarckismus, ich habe ihn sogar — was
Dahl nicht zu wissen scheint — recht unsanft
angegriffen. Ich bin unbescheiden genug, stolz
darauf zu sein, ohne ein durch einen „. . . ismus"
abgestempeltes Vorurteil an die Naturtatsachen
herangetreten zu sein, unbefangen, so un-
modern dies auch ist, und alle jene Hypothesen
zurückgewiesen zu haben, die mit Naturtatsachen
in Widerspruch traten, gleichgültig, auf wessen
Fahne sie standen. Sofern Dahls Satz mir gilt,
muß es also statt „Neolamarckismus" heißen:
„vorurteilslose Forschung".
Schriftenverzeichnis.
1. F. Heikertinger, Die Bienenmimikry \on Eristalis.
Zeitschr. f. wissensch. Insekteobiologie. Bd. 14, 1918, S. I — 5,
73—79-
2. — — , Die WespeDmimikry der Lepidopteren. Ver-
handl. d. Zool.-bot. Gesellsch. Wien. Bd. 68, 1918, S. (164)
— (194)-
3. — — , Die metöke Myrmekoidie. Biolog. Zentralblatt.
Bd. 39, 1919, S. 65 — 102.
4. — — , Versuche und Freilandforschungen zur Mimikry-
hypothese. 1. Akuleate Hymenopteren als Spinnenbeute. Biol.
Zentralbl. Bd. 39, 1919, S. 35'— 363-
5. — — , Die morphologisch-analytische Methode in der
Kritik der Mimikryhypothese, dargelegt an der Wespenmimikry
(Sphekoidie) der Bockkäfer. Zoolog. Jahrbücher. (Im Er-
scüeinen.)
6. — — , Die Wespenmimikry oder Sphekoidie. Verhdl.
Zool.-bot. Gesellsch. Wien. Bd. 70, 1921, S. 316 — 385.
7. — — , Exakte Begriffsfassung und Terminologie im
Problem der Mimikry und verwandter Erscheinungen. Zeitschr.
f. wjss. Ins.-Biol. Bd. :5, 1920, S. 57 — 65, 162—174.
8. — — , Die Insektennabrung des Grauen Fliegenfängers
{Muscicapa grisola) im Lichte der Schutzmittelhypolhese.
Deutschest. Monatsschr. f. naturw. Fortbildung. 1919, Heft 3/4.
9. — — , Die Nahrung der Würger vom Farbenschutz-
Standpunkt. Aus der Heimat. Naturwiss. Monatsschr. des
Deutsch. Lehrer-Ver. f. Naturk. Jahrg. 33, 1920, S. 145 — 150.
Einzelberichte.
Wnndhornione als Erreger von Zellteilungen.
G. Haberlandt hat Anfang dieses Jahres
der Preußischen Akademie der Wissenschaften
seine sechste Mitteilung „Zur Physiologie der
Zellteilung" vorgelegt (Sitzungsberichte VIII, 1921,
S. 221 — 234) und sodann den dort behandelten
Gegenstand ausführlicher in seiner Zeitschrift
„Beiträge zur Allgemeinen Botanik", Bd. 2, H. i,
S. 1 — 53 (Berlin 1921) dargestellt. Über Gang
und Entwicklung der früheren Untersuchungen
sind die Leser durch die Berichte in der „Naturw.
Wochenschr." (1913, S. 443; 1915, S. 189; 1919,
S. 397, 755; 1920, S. 508) unterrichtet. Doch sei
hier noch einmal daran erinnert, daß Haber-
landt schon 1902 die Vermutung ausgesprochen
hatte, es seien beim Zustandekommen der Zell-
teilungen Enzyme beteiligt, und daß er dann
191 3 und 1914 an Gewebestückchen der Kartoffel-
knolle usw. die Ausscheidung eines „Zellteilungs-
stoffes" aus dem Leptom wahrscheinlich machte,
Ergebnisse, die durch Untersuchungen seines
Schülers Lamprecht bestätigt wurden (Naturw.
Wochenschr. 1919, S. 214). Dieser Zellteilungs-
stoff würde zu jenen vom Organismus selbst ge-
bildeten und als Vermittler zwischen dessen ver-
schiedenen Teilen wirkenden Reizstoffen gehören,
für die der englische Physiolog H. S t a r 1 i n g den
Namen Hormone vorgeschlagen und durch
seinen Vortrag auf der Stuttgarter Naturforscher-
versammlung 1906 auch in Deutschland allge-
meiner bekannt gemacht hat. Es ist spätei
zwischen Reizstoffen unterschieden worden, die in
bestimmten Organen in spezifischer Weise ge-
bildet werden, und solchen, die als End- und
Nebenprodukte des Stoffwechsels entstehen, und
man wollte nur die erste als Hormone gelten
lassen. Diese Unterscheidung lehnt Haberlandt
mit Biedl ab; er spricht, noch weitergehend,
auch von Wundhormonen, wenn es sich um
Reizstoffe handelt, die in verletzten oder ab-
sterbenden Zellen entstehen und in anderen Zellen
oder auch an ihrer Ursprungsstätte physiologische
Vorgänge, wie Zellteilungen, Kallusbildungen u.a.m.,
auslösen.
Wenn die Zellteilungen, die im Gefolge von
N. F. XX Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
593
Verwundungen auftreten, wirklich durch solche
Wundhormone angeregt werden, so müssen sie
— das war Haberlandts Voraussetzung bei
seinen neuen Versuchen — unterbleiben, wenn
die Hormonbildung durch Entfernung der Plasma-
reste der verletzten Zellen verhindert wird. Um
dies zu erreichen, verfuhr der Verf. in verschiedener
Weise. Zunächst schnitt er aus Kohlrabi- und
Kartoffelknollen je drei 1^2 cm hohe Quer-
scheiben heraus und spülte von jeder Reihe eine
Scheibe durch einen kräftigen Wasserleitungsstrahl
5 — 20 Minuten lang ab. Eine andere Scheibe
wurde unverändert gelassen, um die normal ein-
tretenden Zellteilungen festzustellen; die dritte
wurde wie die erste abgespült und dann mit
einem Gewebebrei bedeckt, der aus den Rest-
stücken der Knolle hergestellt war. Die drei zu-
sammengehörigen Stücke wurden unter gleichen
Bedingungen gehalten und spätestens nach 2 bis
3 Wochen mikroskopisch untersucht. Die mit
der Kohlrabiknolle ausgeführten Versuche hatten
ein klares Ergebnis. Unter den abgespülten
Wundflächen traten nämlich die Zellteilungen be-
deutend spärlicher oder wenigstens in einer ge-
ringeren Anzahl von Zellschichten auf als unter
den nicht abgespülten und unter den nach der
Abspülung mit Gewebebrei bedeckten Wund-
flächen. Hieraus geht hervor, daß die Teilungen
durch Stoffe aus den getöteten Zellen — Wund-
hormone — angeregt werden. Daß unter den
abgespülten Wundflächen (ohne Gewebebrei) über-
haupt noch Zellteilungen aufgetreten sind, erklärt
Haberlandt mit der Unmöglichkeit völliger
Entfernung der Plasmareste durch Abspülen.
Auf diese Schwierigkeit wäre auch das Fehl-
schlagen der Versuche mit Kartoffelknollen zurück-
zuführen, auf die hier nicht eingegangen wer-
den soll.
Die Mängel des Abspülungsverfahrens wurden
bei Versuchen mit Laubblättern von Crassulaceen,
die zu den Versuchen wegen der Leichtigkeit, mit
der sie Wundkork bilden, besonders geeignet sind,
dadurch umgangen, daß zur Herstellung von
Wundflächen die Blätter vorsichtig der Länge
nach in zwei Hälften auseinandergerissen wurden.
Die Trennung geht ganz glatt längs der Inter-
ze'lularspalten und in den Mittellamellen der Zell-
wände vor sich; die Zellen selbst (außer den
Epidermiszellen) werden dabei nicht verletzt. Die
eine Blatthälfte diente ohne weiteres als Versuchs-
objekt; an der anderen Hälfte wurde parallel zur
Rißfläche mit dem Rasiermesser eine Schnittfläche
hergestellt. Beide Hälften wurden nebeneinander
in der Glasschale auf feuchtem Sand oder Fil-
trierpapier kultiviert. Die nachfolgende Unter-
suchung hatte stets dasselbe Ergebnis: Während
unter den sich bräunenden Schnittflächen jede
Zelle der obersten Zellschicht sich teilte und
typische Wundkorkbildung eintrat, blieben die
Teilungen unter den grün bleibenden Rißflächen
fast vollständig aus; nur die unmittelbar an die
zerrissene Epidermis grenzenden Mesophyllzellen
teilten sich manchmal. Hierdurch wird einwand-
frei bewiesen, daß in Crassulaceenblättern zur Aus-
lösung der Zellteilungen unter Wundflächen Ab-
bauprodukte der getöteten Protoplasten als Wund-
hormone völlig unentbehrlich sind.
Noch eine Erscheinung mag hier erwähnt sein,
nämlich das häufig beobachtete blasenförmige
Auswachen der unter den Rißflächen gelegenen
Zellen, die im übrigen ungeteilt bleiben (Kallus-
blasen). Das Wachstum der Zellen steht also
wenigstens in diesem Falle nicht wie die Zell-
teilung unter dem Einfluß von Wundhormonen.
Klebs hat schon darauf hingewiesen, daß Volum-
vergrößerung und Teilung auf verschiedenen Be-
dingungen beruhende Faktoren sind.
Wie einige weitere Versuche zeigten, in denen
auf die Rißflächen von Crassulaceenblättern Saft
oder Brei aus Blättern anderer Pflanzen gebracht
und dann das Zellteilungsvermögen geprüft wurde,
ergab sich, daß die Wundhormone weder art-
noch gattungseigen sind, daß aber manch-
mal auch der Gewebesaft einer nahe verwandten
Gattung versagt und daß Säfte aus anderen Fa-
milien meist überhaupt nicht wirksam oder gar
schädlich sind. Ähnlich, aber etwas enger be-
grenzt ist die Wirksamkeit der von Lamprecht
geprüften Leptomhormone.
Um einzelne Zellen und Zellgruppen in ihrem
Verhalten nach mechanischen Eingriffen eingehend
zu studieren, verwendete Haberlandt besonders
mehrzellige Haare einzelner sich dazu eignender
Pflanzen. Werden Stengelhaare von Coleus
Rehneltianus mit einer Schere durchgeschnitten,
so starb häufig außer der unmittelbar vom Schnitt
betroffenen Zelle auch die darunter befindliche
Zelle ab, und fast nur in diesem Falle erfolgten
Kern- und Zellteilungen in der an diese an-
grenzenden Haarzelle. Die Plasmareste der an-
geschnittenen Zelle trocknen anscheinend zu rasch
aus, als daß sich ihnen Wundhormone bilden
könnten, während in der absterbenden Zelle mit
unversehrten Wänden solche vermutlich durch
Autolyse entstehen und die Nachbarzelle zur
Teilung veranlassen. Wenn man an dem behaarten
Blattstiel des Usambaraveilchens (Saintpaulia
ionantha) mit Daumen und Zeigefinger mehrmals
auf- und abstreifte, in der Absicht, nur eine leichte
Verletzung der Haare herbeizuführen, so starben
doch meist einzelne Zellen ab, und dann teilten
sich die darunter liegenden Zellen sehr häufig
durch eine oder mehrere Querwände (nach
typischer Kernteilung). Bei nur einmaliger Teilung
trat die Querwand im oberen Teile der Zelle auf,
also der getöteten Zelle genähert, so daß der An-
stoß von dieser auszugehen schien. Doch waren
die sich teilenden Zellen meist selbst an ihrem
Grunde geschädigt, wie das Auftreten von Fälte-
lungen zeigte, und es entstand die Frage, ob
solche Schädigung ohne Einfluß einer anderen,
verletzten Zelle nicht zur Herbeiführung von
Teilungen in der betroffenen Zelle selbst aus-
reicht. Diese Annahme wurde durch die Be-
594
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. K XX> Nr. 41
obachtung bestätigt, daß in Fällen, wo nur die
unterste Zelle eines Haares an ihrem Grunde be-
schädigt war, alle anderen Zellen sich aber unver-
sehrt zeigten, diese verletzte Zelle sich teilte, wo-
bei die Scheidewand im unteren Teile, also der
geschädigten Stelle genähert, auftrat. „Es liegt
hier demnach zum ersten Male der Fall vor, daß
eine ausgewachsene vegetative Pflanzenzelle, die
nur von intakten Zellen umgeben ist, durch eine
lokale mechanische Verletzung experimentell zur
Teilung angeregt wird."
Es ist nicht möglich, hier auch die zahlreichen
Beobachtungen an den Haaren, den Epidermis-
zellen und den Spaltöffnungsschließzellen der Blüten-
standachsen von Pelargonium zonale, die die früheren
Ergebnisse in dem einen oder dem anderen Sinne
bestätigten, aber manche Besonderheit boten, zu
verfolgen. Recht eigentümliche Vorgänge traten
an jungen Blattspreiten auf, die mit einer Roß-
haarbürste abgebürstet worden waren. In den
basalen Teilen der jüngeren, meist einzelligen
Haare dieser Blätter erfolgten Einkapselungen des
Protoplasmas mit und ohne Zellteilungen. Die
angrenzenden Epidermiszellen nun wuchsen fast
immer mit einem Teil ihrer Außenwände zu
kurzen Keulenhaaren aus, und dieser Vorgang er-
streckte sich auch auf andere, zwischen den Haaren
belegene Epidermiszellen, so daß es zur Bildung
dichter Rasen solcher an Kallus- oder gewisse
Gallen-(Erineum-)Haare erinnernden Sprossungen
kommt. Sie entstehen nicht an den Basen
kräftigerer, ungeschädigt gebliebener Haare und
lassen sich nur durch den Übertritt von Wund-
hormonen aus den verletzten Zellen erklären.
Haberlandt führt näher aus, wie der Nach-
weis von Wundhormonen (deren chemische Natur
noch unbekannt ist) auf die Teilung alternder
Pflanzenzellen, auf die Gallenbildung und auf die
Entstehung der Thyllen in den Gefäßen Licht zu
werfen vermag. Besonders anregend und auch
für die Tierzelle von Geltung sind aber seine Aus-
führungen über die Beziehungen der Wundhor-
mone zur künstlichen und natürlichen Partheno-
genese und zur Befruchtung. Die künst-
liche Parthenogenese, bei der Eizellen nach me-
chanischer Beschädigung in Teilung eintreten,
wird auf Bildung und Wirkung von teilungsaus-
lösenden Wundhormonen zurückgeführt. Bei der
natürlichen Parthenogenese würden die Wund-
hormone nicht in der Eizelle selbst gebildet,
sondern ihr aus der Umgebung zugeführt werden
(bei den Angiospermen etwa aus den absterbenden
Synergiden usw.). Für die normale Befruchtung
wird angenommen, daß sich die Eizelle deshalb
teile, weil sie beim Eindringen des Spermatozoons
oder des Spermakerns mechanisch verletzt worden
sei und teilungsauslösende Wundhormone gebildet
habe. Daß diese auch die weiterhin erfolgenden
Teilungen herbeiführen, wird nicht behauptet;
nach Einleitung der Entwicklung können die sich
teilenden embryonalen Zellen selber Teilungshor-
mone bilden. Der Einfluß eines chemischen
Stoffes aus dem Spermatozoon auf die Ent-
wicklungserregung der Eizelle ist auch sonst (von
Boveri, Ziegler, Loeb, H. Winkler u. a.)
angenommen worden. F. Moewes.
Über die schlesische Schwarzerde.
Angeregt durch die Arbeiten russischer Geo-
logen (Glinka, Kossowitsch u. a.) haben
neuerdings auch unsere deutschen Bodenforscher
der einheimischen Schwarzerde erhöhtes Interesse
entgegengebracht. Eine zusammenhängende und
erschöpfende Darstellung der ostdeutschen Schwarz-
erde verdanken wir V. Hohenstein.') Es kann
nun nach Hohensteins vergleichenden Unter-
suchungen kein Zweifel mehr bestehen, daß auch
unsere ostdeutsche Schwarzerde eine dem russi-
schen Tschernosem gleichartige Bildung darstellt.
Echte Schwarzerde (Tschernosem) kommt nach
Hohenstein in Ostdeutschland vor: in der
Gegend von Pyritz (Weizacker), bei Mewe in
Westpreußen, in der Umgebung von Hohensalza
(Kujawien) und im mittelsten Schlesien (Silingien).*)
Das umfangreichste der ostdeutschen Schwarzerd-
gebiete ist das schlesische oder Silingische, das
einen Flächenraum von lOOO — 1200 qkm ein-
nimmt und schon vor 50 Jahren von A. Orth")
eingehend untersucht worden ist.
Die schlesische oder Silingische Schwarzerde
erstreckt sich von Breslau bis an den Fuß des
Zobten und der Strehlener Berge. Einige kleinere
Schwarzerdinseln liegen auch noch auf der rechten
OJerseite. Als Mutterboden kommt hauptsäch-
lich der Löß in Betracht. Die humose Rinde
geht im allgemeinen ganz allmählich in den
Untergrund über. Nur stellenweise deutet eine
schwach ausgebildete Lehmschicht (B Horizont der
russischen Bodenforscher) über dem unveränderten
Muttergestein (C - Horizont) auf eine nachträg-
liche Umänderung der echten Schwarzerde hin.
Der Humusgehalt der bis I m mächtigen Schwarz-
erdrinde erreicht bis 4"/o. Die Entstehung der
Silingischen Schwarzerde fällt höchstwahrschein-
lich in einen frühen Abschnitt der Postglazialzeit
mit wärmerem und trockenerem Klima. Bei einer
gegenwärtigen mittleren Niederschlagsmenge von
550 — 600 mm und einer mittleren Jahrestempe-
ratur von 8" C dürfte sich echte Schwarzerde
kaum bilden können. Deshalb ist auch unsere
') Vgl. V. Hobensiein, Die ostdeutsche Schwarzerde,
Internat. Mitteilungen f. Bodenkunde 1919- — Hoffentlich er-
scheint auch nun bald die in Aussicht gestellte Hauptarbeit
über die gesamte deutsche Schwarzerde.
*) Nach dem germanischen Volks'tamm der Silinger, der
im mittelsten Schlesien seine Hauptwohnsitze hatte. Aufler
dem Schwarzerdgebiet gehört zur Silingischen Landschaft
auch noch das mittelste Odertnl von Ohlau bis zur Weistritz-
mündung und die Hügellandschaft an der oberen Lohe. Vgl.
hierzu meine Arbeit über „Die Beziehungen zwischen der
Pflanzen »lerbreitung und den ältesten raensclilichen Siedelungs-
stätten im mittelsten Schlesien" in dem nächsten Bande von
Englers bot. Jahrbüchern,
'j Vgl. A. Orth, Geognostische Durchforschung des
schles. Schwemmlandes. Berlin 1872.
N. F. XX. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
?9S
Schwarzerde den fossilen oder Reliktenböden zu-
zurechnen, deren Entwicklung in der Gegenwart
längst abgeschlossen ist.') Zur Zeit der Schwarz-
erdbildung besaß das Lößgebiet des mittelsten
Schlesien nahezu Steppencharakter. Reste dieser
einstigen Steppenvegetation haben sich noch bis
auf den heutigen Tag erhalten können, z. B. Salvia
pratensis L., Verbascum phoeniceum L., Lavatera
thuringiaca L., Astragalus Cicer L., A. danicus
Retz., Stachys germanica L., Ornithogalum tenui-
folium Guss., Rosa Jundzillii Bess. u. a. Diese
einstige Silingische Schwarzerdsteppe erwählten
sich die aus dem Donaugebiet zugewanderten
Steinzeitmenschen zu ihrem Hauptwohnsitz.-) Auch
in der Folgezeit, als das Klima feuchter und kühler
wurde, blieb das mittelste Schlesien, die Silingische
Landschaft, dicht besiedelt, während sich das
übrige Schlesien zum größten Teil mit Wald be-
deckte. So konnten sich im mittelsten Schlesien
zahlreiche Pflanzen lichter und sonniger Örtlich-
keiten erhalten, während sie sonst weithin aus-
starben. Unser Gebiet war somit ein bedeut-
sames Refugium für während der Postglazialzeit
eingewanderte Wärmepflanzen („Silingisches Re-
fugium"). So kommt es, daß die Silingische
Schwarzerde auch heute noch eine ganz eigene
Pflanzendecke trägt. Schon früher habe ich die
für unsere Schwarzerde charakteristischen Arten
zur schlesischen Schwarzerdegenossenschaft zu-
sammen gefaßt.^) Außer den vorhin genannten
Steppenpflanzen gehören auch noch etliche Halo-
phyten (Lotus siliquosus L., L, tenuifolius L.,
IVIelilotus dentatus Pers., Glaux maritima L. u. a.),
sowie einige Sumpf- und IVIoorpflanzen (Carex
aristata R. Br., C. Hornschuchiana Hoppe, Orchis
laxiflora Lam., Gentiana uliginosa W. , Scirpus
Tabernaemontani Gm. u. a.) dazu. Daraus könnte
man wohl schließen, daß zuffiindest während der
kühleren und feuchteren Zeit auch Hygrophyten-
vereine dem Pflanzenbestande der Schwarzerde
nicht gefehlt haben können. Einige der inter-
essantesten Arten sind freilich in neuester Zeit
der höchst intensiven Ackerbaukultur zum Opfer
gefallen. Besonders charakteristische Tierformen
scheint die Schwarzerde nicht zu beherbergen.
Es sei denn, daß eine gründliche Durchmusterung
der niederen Tiergruppen einige Belege zutage
fördern sollte. Auf Einzelheiten kann hier nicht
weiter eingegangen werden. Es sollte an dieser
Stelle vielmehr nur der allgemeine Charakter der
Silingischen Schwarzerde in kurzen Strichen ge-
zeichnet werden. Im übrigen muß auf die ange-
führte Literatur verwiesen werden, besonders auf
Hohensteins eingehende Behandlung der ost-
') Ausführlicher habe ich die Entstehung der Silingischen
Schwarzerde in einer Arbeit behandelt, die demnächst in den
Beiheften zum botanischen Zentralblatt erscheinen wird.
'') Vgl. hierzu besonders die Übersichtskarte bei E. Wähle,
Ostdeutschland in jungneolithischer Zeit. Mannusbibliothek
Nr. 15, Würzburg 1918.
^) Vgl. E. Schalow, Mitteilungen über die Pflanzen-
decke der schlesischen Schwarzerde. Verh. Bot. Ver. Prov.
Brandenburg 1915.
deutschen Schwarzerde, die auch für vergleichende
Betrachtungen der einzelnen ostdeutschen Schwarz-
erdgebiete die nötige Grundlage bietet. Eine
übersichtliche Behandlung der Pflanzendecke auch
der übrigen ostdeutschen Schwarzerdbezirke will
ich in nächster Zelt an anderer Stelle geben.
E. Schalow (Breslau).
Innertropische Akklimatisation.
In den Tropen, die etwa -/g der gesamten Erd-
oberfläche umfassen, stößt nicht nur die Anpassung
von Völkern und Einzelpersonen aus den ge-
mäßigten Zonen auf größere oder geringere klima-
tisch begründete Schwierigkeiten, sondern häufig
auch der Ortswechsel tropenbewohnender Men-
schen selbst. Diese bisher nur wenig beachtete
Frage der innertropischen Akklimatisation be-
handelt Prof. K. Sapper (neben anderen Gegen-
ständen) in seiner eben erschienenen Schrift „Aus-
wanderung und Tropenakklimatisalion". *) Inner-
halb der Tropenzone ist zwar die Zufuhr von
Licht und Wärme überall erheblich größer als bei
uns, aber es bestehen doch recht bedeutende
klimatische Unterschiede, die durch die Höhenlage,
die Menge und jahreszeitliche Verteilung der
Niederschläge, den Pflanzenwuchs und andere
Umstände bedingt sind. Auffallend ist der Gegen-
satz zwischen feuchten dumpfigen Urwäldern und
trockenen offenen Graslandschaften. Nur ganz
selten erstreckt sich das Wohngebiet eines Tropen-
volkes über eine dieser Landschaftsformen hinaus,
weitaus die meisten sind entweder Urwald- oder
Graslandschaftsbewohner. Im allgemeinen stellt das
offene Land die gesündere Umwelt dar, so daß der
Urwaldbewohner leichter sich ohne Schaden längere,
Zeit im trockenen Land aufhalten kann, als der
Sabanenbewohner umgekehrt im Waldgebiet ; aber
trotzdem denkt der Urwaldbewohner nicht daran
seine Heimat zu verlassen, an die er gewöhnt ist.
Große Sterblichkeit unter Tropeneingeborenen
verursacht das vielfach gebräuchliche System der
Anwerbung von Arbeitern für klimatisch anders
geartete Gebiete. Auf den Neuhebriden z. B.
kehren nur etwa 60 "/y der nach auswärts ange-
worbenen Arbeiter wieder zurück. Im Jahre 191 3
teilte der damalige Gouverneur von Deutsch-
Neuguinea mit, daß nach gemachten Stichproben
von den Angeworbenen im Verlauf der voraus-
gegangenen 26 Jahre ein Viertel im Dienst ge-
storben war, ja, es gab Gebiete mit 75 "/„ Ver-
lusten.
Noch bedeutsamer als der Akklimatisations-
gegensatz zwischen Feucht und Trocken ist in
den Tropen der thermische zwischen Hoch- und
Tiefland. In den Höhenlagen sind die Nächte
hinreichend kühl, um dem Europäer die nötige
Erfrischung zu bieten. Sapper bezeichnet es
als unökonomisch, weiße Beamte und Kaufleute,
die nicht unbedingt ihrer Beschäftigung nach im
') Würzburg 1921. Kabitzsch & Mönnicb. 86 8. 7,50 M,
596
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
Tiefland wohnen müssen, dorten festzusetzen, weil
sie im Hochland sehr viel mehr zu leisten und
viel länger Dienst zu tun vermöchten.
Wie groß aber der Unterschied der Leistungs-
fähigkeit der Weißen im Hoch- und Tiefland ist,
wissen am besten die europäischen Kaufleute
lateinamerikanischer Hochlandstädte, die Zweig-
geschäfte im Hafenplatz besitzen und so die
Arbeitsleistungen ihrer Angestellten im Hochland
mit den recht minderwertigen im Tiefland ver-
gleichen können. Im Tiefland verfällt der Euro-
päer, der sich dort anzupassen vermochte, schon
nach relativ kurzer Zeit einer so wehgehenden
Verweichlichung, daß er den Wechsel in kühlere
Temperaturen nur schwer verträgt. Die farbigen
Tropeneingeborenen, namentlich jene des Tief-
landes, können keine breite thermische Spannung
ertragen, sie sind an eng umgrenzte Lebensbedin-
gungen angepaßt. Bei den mittelamerikanischen
Indianervölkern fand Sapper, daß die meisten
von ihnen ganz bestimmte Wärmeansprüche auf-
weisen und nur schwer außerhalb der von alters-
her gewohnten klimatischen Bedingungen festen
Fuß fassen können. Diese Stenothermie der
Tropenbewohner scheint einer der Hauptgründe
zu sein für die Erscheinung, daß tropische Völker
sich so schwer in anders temperierten Gegenden
ansiedeln lassen. Die Ursache der Stenothermie
der Tropenbewohner, sagt Sapper, liegt natür-
lich in der außerordentlich geringen jährlichen
Wärmeschwankung — namentlich der inneren
Tropen — und der daraus folgenden Angewöh-
nung an eine nur enge Skala von Wärmetönen.
Was darüber hinausgeht, wird schwer ertragen
und schädigt unter Umständen die Gesundheit.
Die Stenothermie ist am stärksten ausgesprochen
in den feuchten Tropenlandschaften mit ihren be-
sonders geringen Wärmeschwankungen und ihrer
schwachen nächtlichen Abkühlung; innerhalb der
feuchten Gebiete sind aber wieder die tiefgelegenen
besonders dazu angetan, ihre Bewohner zu ver-
weichlichen, weil hier auch die tägliche Wärme-
schwankung verhältnismäßig klein ist. Weniger
ausgesprochen ist die Stenothermie in trockenen
Tropenlandschaften, wo die Abkühlungen während
der Nacht und die stärkeren Wärmeerhebungen
am Tage schon beträchtliche Wärmeunterschiede
veranlassen. Neben den Wärmeverhältnissen
spielen bei den innertropischen Akklimatisations-
schwierigkeiten auch sonstige meteorologische
Verhältnisse und andere Umwelteinflüsse mit,
nicht selten geben Krankheiten den Ausschlag.
Die Empfindlichkeit gegen Wärmeschwankun-
gen ist bei den Tieflandsbewohnern größer als
bei den Hochlandsbewohnern; aber die Gebirgs-
anwohner des Tieflandes sind vielfach nicht mehr
ganz so stenotherm wie die Bewohner ausgedehnter
tropischer Tiefebenen, weil von den Bergen häufig
kalte Luftströmungen niedergehen und Abkühlung
bringen. Die Bewohner von Gebirgsorten erlangen
andererseits ein gewisses Maß von Weitwärmig-
keit insofern, als jeder größere Marsch sie im all-
gemeinen in verschiedene Höhenlagen und
damit auch in verschiedene Wärmegebiete führt,
und selbst auf hochgelegenen Ebenen durchläuft
der Bewohner eine verhältnismäßig weite Wärme-
stufenleiter, weil in der dünnen Luft die nächt-
liche Abkühlung ebenso wie die mittägliche Er-
hitzung beträchtlich sind und an manchen Tagen
eine Wärmeleiter von 25" C und darüber durch-
laufen wird. Die relative große Wärmespannung
des Hochlandsbewohners wird noch vergrößert,
wenn er Märsche unternehmen muß, die ihn etwa
durch die Hunderte , unter Umständen ja selbst
Tausende von Metern tiefen Talschluchten größerer
Flüsse und Ströme hindurchführt, wo in der Tiefe
häufig große Hitze herrscht, während oben auf
dem Hochland eisige Winde von benachbarten
Schneebergen her wehen können. Obgleich daher
in solchen Fällen der Gebirgsbewohner ein ge-
wisses Maß von Gewöhnung an sehr verschieden
hohe Temperaturen erfährt, also eine Art indivi-
dueller Eurythermie (Weitwärmigkeit) erwerben
kann, so zeigt doch die Erfahrung, daß auch solche
Hochlandsleute bei Übersiedlung ins Tiefland ge-
sundheitlichen Schädigungen in stärkstem Maße
ausgesetzt sind. Aber freilich wird man in diesen
Fällen weniger der hohen Wärme, als den Tief-
landskrankheiten, vor allem der Malaria, die Schuld
zuschreiben müssen.
Selbst bei gewissen Agrikulturnomaden, die
während einer Jahreszeit im Hochland und wäh-
rend der anderen (gewöhnlich der Trockenzeit)
im Tiefland den Boden bebauen, ist die Anpas-
sung an beide Klimate nicht vollkommen. So
sagt Sapper von den KekchiTndianern des nörd-
lichen Mittelamerika, die ein Volk von Agrikultur-
nomaden sind, daß sie trotz des regelmäßigen
Trockenzeitaufenthalts im Tiefland bei dauern-
der Übersiedlung in dasselbe leicht Schaden
leiden, ja, es kommt vor, daß binnen kurzer Zeit
ganze Familien aussterben, oder daß nach
Jahr und Tag dürftige Reste einzelner Familien
krank und geschwächt ins Hochland zurückkehren,
wo sie später allmählich wieder zu Kraft und
Gesundheit kommen.
Die Klimaanpassung beim Wechsel zwischen
Tief- und Hochland spielt in Amerika und Afrika
die größte Rolle; weniger in Betracht kommt sie
im tropischen Asien, Australien und Ozeanien,
weil dort sowieso die Hauptmasse der Bevölke-
rung im Tiefland wohnt und zudem größere
dichtbevölkerte Hochländer fehlen. Trotzdem
sind auch hier die vorhandenen stärkeren Er-
hebungen wenigstens für den Europäer von Wich-
tigkeit, da sie besonders zur Anlage von Erholungs-
stätten in Betracht kommen. H. Fehlinger.
Die Juau-Fernaiidez-(Robinson-)Inselii.
Über seine Forschungen in diesem Gebiet
sprach im Naturwissenschaftlichen Verein in Ham-
burg Prof. Dr. C. Skottsberg aus Göteborg
(Schweden), der früher Mitglied der Nordenskjöld-
N. F. XX. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
597
sehen Südpolar-Expedition gewesen und dann
1507 bis 1909 Reisen im südlichen Palagonien
und Feuerland gemacht hat.
Durch einige Entdeckungen bei seinem kurzen
Besuch im Jahre 1908 auf den westlich von Chile
gelegenen JuanFernandez-Inseln, von welchen die
näher am Lande gelegene Mas-a-tierra dadurch
eine viel größere Berühmtheit erlangte als alle
anderen dieser kleinen Eilande im weiten Ozean,
weil auf ihr bekanntlich die Geschichte des Ein-
siedlers Selkirk fußt, die Defoe als Unterlage
zu seiner unsterblichen Robinson-Erzählung diente,
wurde Skottsberg dazu veranlaßt, eine neue
Expedition zur genaueren Erforschung dieses Ge-
biets vorzunehmen, und zwar während des Süd-
sommers 191 6 auf 191 7. Dabei wurde er von
seiner Frau begleitet. Nach einem Beschluß der
chilenischen Regierung sollten die Inseln zu einem
Naturschutzdenkmal erklärt werden, wozu sie sich
besonders eignen, weil sie eine außerordentlich
interessante Flora und Fauna besitzen. Für
Deutschland im besonderen ist die Insel das Denk-
mal einer Heldentat seiner Flotte aus dem letzten
Kriege, und großen Dank wußten die Hörer dem
Vortragenden für die Demonstration des kleinen
Heldenfriedhofs.
IVIas-a-tierra, 360 Seemeilen von der Küste,
mißt 88 Quadratkilometer. Sie wird aus unzäh-
ligen Basalt- und Agglomeratbänken aufgebaut:
im östlichen Teil fallen diese gegen Norden, im
westlichen dagegen nach Süden ab, außerdem
senkt sich der schmale Höhenkamm, der im Osten
500—800 m mißt und in dem 930 m hohen Berg
El Yunque kulminiert, allmählich nach Westen,
so daß die Insel am Westende nur 75 — 100 m
hoch ist. Das Klima wird durch diese Ungleich-
förmigkeit stark beeinflußt: es ist ein warmtem-
periertes, mit einer durchschnittlichen Lufttempe-
ratur von 1 5 V2 " j f^^r wärmste IVIonat ist der
Februar, der kälteste der August, Frost ist nie be-
obachtet worden. Da die Inseln am Ostrande
der südpazifischen Antizyklonen liegt, so wehen
die Winde meist aus Süden, und dadurch erhalten
die höheren Teile der Insel viele Niederschläge,
so daß ihre Abhänge fast täglich in Nebel gehüllt
sind. Die Westhälfle der Insel nebst der kleinen
St.-Clara, die früher sicher mit Mas-a-tierra zu-
sammenliing, ist trocken und waldlos, während
die mittleren höheren und die östlich gelegenen
Teile einen reichen immergrünen Waldgürtel mit
Baumfarnen und Palmen tragen. Längs des
steilen, ungemein schmalen Basaltrückens, der die
Insel durchzieht, läuft ein enger Saum, in dem
die größten Merkwürdigkeiten der Flora versam-
melt sind. Die Höhen der Nebelregion, in der
alles von Nässe trieft, zeigen dicht mit Hänge-
moosen bewachsene Bäume. Leider wird der
Urwald durch eingeführte Arten jetzt arg bedroht.
Während auf Mas-a-tierra eine kleine Ansied-
lung von etwa 200 namentlich den Langustenfang
betreibenden Fischern vorhanden ist, ist die zweite
Hauptinsel der Gruppe, das 92 Seemeilen weiter
westwärts gelegene Mas-a-fuera, unbewohnt.
Ein Hafen fehlt. Die Küste fällt so steil zum
Meer ab, daß das Landen außerordentlich gefähr-
lich, um nicht zu sagen unmöglich ist. Früher
war hier eine chilenische Strafkolonie angelegt,
die sich aber nicht halten konnte. Die Insel
stellt einen soliden Block dar, aus nach Osten
abfallenden Schichten gebildet, die hier durch-
schnittlich härter sind, so daß die Täler eine aus-
geprägte Canonform erhalten haben mit erstaun-
lich enger Talsohle und sehr hohen Steilwänden.
Die Westseite, wo der F'elsrücken 1 500 m erreicht,
fällt fast senkrecht in das Meer ab. Diese Topo-
graphie macht die Erforschung der Insel recht
anstrengend, was aber auch von Mas-a-tierra ge-
sagt werden kann. Die basale Region ähnelt dem
trockenen Gebiet von Mas-a-tierra, dann folgt eine
Waldregion und schließlich subalpine Wiesen mit
Baumfarnen, die sich am Gipfel zu einem erstaun-
lich dichten Farnwald zusammenschließen. Ober-
halb von 1 100 m ist eine alpine Heideregion aus-
gebildet, wo eine Reihe von magellhanischen
Typen einen weit nach Norden vorgeschobenen
Standort haben. Die Blütenpflanzen sind zu Zwei-
drittel endemisch, mit mehreren merkwürdigen
endemischen Gattungen. Der Wald beider Inseln
ist dem südchilenischen Wald ziemlich ähnlich,
enthält aber auch viele Arten, die mit chilenischen
und öfters auch mit amerikanischen überhaupt
gar nicht verwandt sind , sondern deutlich nach
Westen zeigende, also transpazifische Beziehungen
haben. Dies gilt auch von der an der oberen
Waldgrenze anzutreffenden Flora von sog. Schopf-
oder Federbuschbäumen. Die eigenartigen
Typen sind Thyrsopteris (Farn), die baumförmigen
Chenopodien , Lactoris (eigene Ranales - Familie),
Selkirkia (Borag.), Cuminia (Labiat.), die baum-
förmigen Eryngien nebst Plantago fernandezia,
endlich Centaurodendron, Dendroseris, Robinsonia
und Rhetinodendron (Compos.). — Die Tierwelt
ist nicht so zahlreich. Am häufigsten kommt die
verwilderte Ziege vor, deren Fleisch auch der
Skottsbergschen Expedition während ihres
fünfwöchigen Aufenthalts auf Mas-a fuera zur
Hauptsache als Nahrung dienen mußte.
Die Hauptergebnisse dieser ersten Durch-
forschung der Robinsoninseln liegen auf biologi-
schem Gebiet. Die meisten Arten, von denen
sehr viele bisher ganz unbekannt waren, sind auf
diese Inseln allein beschränkt. Nach Skotts-
berg ist die Flora älter als die jetzigen Inseln,
welche Jungtertiär sind. Er glaubt, daß vor der
Auffaltung der Kordilleren die Küste des Fest-
landes einen anderen Verlauf hatte, und daß viel-
leicht „Groß- Juan- Fernandez" mit Südchile und
dadurch auch mit Antarktis und Neuseeland in
Verbindung stand. Mit der Hebung der Kordilleren
waren Störungen des Meeresbodens in einiger
Entfernung verbunden, wobei Groß-Juan-Fernandez
verschwand, während die jetzt vorhandenen Insel-
chen aufgebaut wurden, die von dem sinkenden
Lande besiedelt wurden. Eine direkte Irans-
S98
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
ozeanische Verbreitung der Arten glaubt Skotts-
berg ablehnen zu müssen, weil dadurch viele
Verhältnisse keine befriedigende Erklärung finden ;
auch spricht dagegen, daß nicht einmal zwischen
den beiden Inseln ein Austausch stattgefunden
hat, da ja nur ein kleiner Teil der Arten gemein-
sam ist. Auch lehnt er bestimmt die Annahme
eines großen pazifischen Kontinents wie der trans-
pazifischen Landbrücken ab. Nach beendigter
Bearbeitung des IVIaterials (K. Bäcksträm war
als zoologischer Sammler tätig) wird er auf diese
Frage näher eingehen können. Petersen.
Ein Fund eiszeitlicher Mensclienknocheu
in Nordamerika.
In den eiszeitlichen Ablagerungen Amerikas
wurden bisher menschliche Skeletreste nicht sicher
festgestellt. F. C. Baker (Kurator des naturhisto-
rischen Museums der Universität Illinois) schreibt
diesbezüglich in einem jüngst erschienenen Werke
folgendes.') In der Literatur finden sich zwar ver-
schiedentlich Hinweise auf Menschenknochen in
glazialen Bildungen Amerikas, aber die Nach-
forschungen haben fast immer ergeben, daß es
sich um neuere Bestattungen in älteren geolo-
gischen Schichten handelt. Vor etwa zwei Jahr-
zehnten wurden zu Lansing in Kansas Teile eines
menschlichen Skelets in Ablagerungen gefunden,
die man für Löß aus der letzten Zwischeneiszeit
hielt (Upham, Amer. Geol., Bd. 30, S. 135 — 150
') The Life of the Pleistocene or Glacial Period. Urbana,
1930, Uoiversity of Illinois.
und Bd. 32, S. 185 — 187). Spätere Forschungen
jedoch lieferten den Beweis, daß jene Skeletteile
jüngeren Alters waren als der Boden, der sie
enthielt (Calvin, Chamberlain und Salis-
bury in Journ. of. Geol., Bd. 10, S. 745 — 779).
In jüngster Zeit wurden wieder im Staat
Florida menschliche Knochen in früh- oder mittel-
pleistocänen Schichten gefunden, und zwar bei
Vero an der atlantischen Küste, hauptsächlich in
einem alten Bachbette, das bei Herstellung eines
Entwässerungskanales freigelegt wurde. Vor
diesen Kanalbauten waren die betreffenden Ab-
lagerungen ungestört und man nimmt an, daß
sowohl die Menschenknochen wie die Wirbeltier-
knochen derselben Lagerstätte, dem mittleren Eis-
zeitalter zugehören (E. H. Seilard s, Humain
Remains and Associated Fossils from the Plei-
stocene of Florida; Annual Report of the Geol.
Survey of Florida, 1916; ebenda 1918). Mehr
als die Hälfte der Wirbeltiere, deren Reste mit
den menschlichen zusammen zu Vero gefunden
wurden, gehören jetzt ausgestorbenen eiszeitlichen
Arten an. Die Auffassung, daß die Knochen-
funde von Vero in Florida der frühen oder
mittleren Eiszeit entstammen, wird auch von dem
bekannten Geologen Dr. Hay geteilt (Ann. Re-
port. Geol. Surv. of Florida, 191 7). Überdies
haben sich R. T. Chamberlain, A. Hrdlicka,
G. G. MacCurdy und T. W. Vaughan mit
den neuen Funden befaßt und ihre Ergebnisse in
Bd. 25 des Journal of Geology veröffentlicht.
Die fraglichen Ablagerungen liegen weit von
dem südlichsten Rande der eiszeitlichen Gletscher-
decke entfernt. H. Fehlinger.
Bücherbesprechungen.
Meyer-Steineg, Th., und Sudhoff, Karl, Ge-
schichte der Medizin im Überblick
mit Abbildungen. Jena 192 1, G. Fischer.
Ungeb. 105 M., geb. 120 M.
In der Reihe der Lehrbücher und Handbücher
der Medizingeschichte, die in Bibliotheken und im
Buchladen zu Gebote stehen, fehlt seit längerer
Zeit eines, das den wißbegierigen Nichtarzt be-
lehren und insbesondere auch den jungen Medi-
ziner von der Ersprießlichkeit des Geschichts-
studiums für seine zukünftige Kunst überzeugen
oder ihm einen Vorgeschmack der Anregung und
Freude, die später eine gründliche Beschäftigung
mit der Medizingeschichte zu gewähren pflegt,
geben könnte. Unsere Großväter studierten nach
Vollendung der Universität die schweren Werke
von Leclerc und Frei nd und Johann Hein-
rich Schulze und vertieften sich in Albrecht
von Hallers Annalen. Unsere Väter lasen
Wunderlichs Vorlesungen; lieber noch die
ausführlichen Werke von Curt Sprengel oder
Heinrich Haeser, Band für Band. Wir selbst
waren dankbar für die Grundrisse von Haeser,
Hermann Baas, O. v. Boltenstern; be-
grüßten auch das biographische Lexikon von
August Hirsch und Buschmanns Handbuch,
wurden besonders erfreut durch Max Neu-
burgers tiefes Geschichtswerk, das sogar ein
paar Bände stärker werden dürfte, wenn es nur
endlich weiter ginge. Keine der drei Generationen
fühlte sich indessen je verpflichtet, ein geschätztes
Buch von Anfang bis zu Ende zu lesen; man
genoß es schrittweise oder auch stellenweise,
nach Zeit und Laune. Die heutige Jugend ist
gründlicher und, bedient durch treffliche Kom-
pendien auf allen Gebieten, anspruchsvoller ge-
worden. Sie verlangt einen zusammenhängenden
gedrängten Vortrag über die ganze Materie, mit
der sie sich beschäftigen will. Werke, die selber
schon historisch geworden sind, lehnt sie ab.
Bücher, die mehr zum Nachschlagen eingerichtet
oder zur Auffrischung des Gedächtnisses bestimmt
sind, machen ihr keine Freude. Von Paul
Diepgens zusammengefaßter Geschichte der
Medizin bemerkt sie, daß, wer einmal aus dem
Munde des Verfassers den Gegenstand in fein
N. F. XX. Nr. 41
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
599
abgewogener Rede und edler Klarheit lebendig
übernommen habe, sich das Gedruckte gerne zur
Erinnerung aufs Bücherbrett stelle, sobald auch
das letzte Bändchen vorliege. An Pageis Ein-
führung in fünfundzwanzig akademischen Vor-
lesungen, die sie trotz einiger Weitläufigkeit ge-
eignet für ihren Zweck findet, besonders in der
durch Sudhoff neu gearbeiteten und fortge-
führten Ausgabe, sieht sie die äußere Form der
Rede, vermißt aber das eindringliche Wort, das
in den toten Lettern erstarrte. Sie verlangt ein
kurzes Buch, das gedruckt und lebendig zu-
gleich ist.
Karl Sudhoff in Leipzig und Meyer-
Steineg in Jena haben sich vereinigt, jene Forde-
rung zu befriedigen dadurch, daß sie Schrift und
Bild zugleich auf den Leser wirken lassen. Sie
teilten sich in die Arbeit entsprechend der Vor-
liebe, womit ein jeder besondere Zeiten der
Medizingeschichte erforscht und förderlich durch-
drungen hat. Meyer übernahm Altertum und
Neuzeit, Sudhoff das Mittelalter. So ist ein
Band von 444 Seiten in schönem Druck mit 208
trefflichen Bildern zustande gekommen, schwer
wie ein Foliant; dem geistigen Gewichte nach,
aber auch im leiblichen; er wiegt I150 Gramm,
ein Denkmal aus steinerner Zeit.
Wer das Buch in einem Zuge an Wort und
Bild durchwandert, der gewinnt die eindringliche
Vorstellung des wechselvollen Werdeganges einer
Kunst, die, in ihrem inneren Wesen die einheit-
lichste und schlichteste aller Künste, in ihrem
Äußern bunt und vielgestaltig wird, wie kaum
eine der bildenden oder der tönenden Künste.
Er sieht ihre Erfindung notwendig hervorgehen
aus den unertragbaren Leiden und unheilbaren
Schäden, denen das Lebendige von Urbeginn her
schon in den ersten Spuren ausgesetzt ist und
denen der hoch sich entwickelnde Mensch unter-
liegen mußte, wenn nicht besondere Hilfe kam.
Diese Hilfe übernimmt die große Lehrmeisterin
Erfahrung, die in dem Tier und in der kindlichen
Menschheit eine unbewußte und unterbewußte
Selbsthilfe erregt hatte ; den wachsenden Menschen
aber mehr und mehr zu bewußter Abwehr, Ver-
hütung und Ausgleichung treibt und dem über
sich selber nachdenkenden Menschen endlich eine
vollbewußte Heilkunst schenkt mit dem sicheren
Grunde des Gesetzes von Ursache und Folge und
mit dem übersichtlichen Wege des Versuchs. Durch
diese Kunst unterscheidet sich der höhere Mensch,
der aus dem Dunklen ins Helle strebt, von den
Dämmervölkern, die im Halbschlummer träumend
leiden, den Unbilden der Elemente und eigener
feindseliger Unvernunft preisgegeben. — In unbe-
dingte Klarheit tritt die Kunst während der großen
Zeit der Griechen durch den erstaunlichen Geist
des Lehrerarztes Hippokrates. In seinem
Namen wandert sie von Kos und Griechenland
aus, folgend dem hin- und wiederflutenden Völker-
schicksal, auf kürzeren und ferneren Wegen zu
neuen und oft wechselnden Pflanzstätten, nach
Alexandria, Rom, Antiochia, Nisibis, Edessa,
Gundisapora, Damaskus, Byzanz, Salerno, Bagdad,
Montpellier, Toledo, Paris, Bologna, Padua. Mit
dem Ausgang des Mittelalters, wo das wandernde
und kämpfende Gedränge der westlichen Menschen-
massen sich einigermaßen zu einer ortständigen
Entwicklung beruhigt, fängt die wissenschaftliche
Heilkunst überall an einheimisch zu werden. Ihre
Hochschulen entstehen in großer Zahl; sie bildet
einen starken Einschlag aller europäischen Kultur.
Zwar gehen immer wieder von einzelnen Orten
mit der Erweckung schöpferischer und drängender
Geister neue große Anregungen aus, von Ein-
siedeln, London, Paris, Leyden, Wien, Tübingen,
München ; aber die Academia hippocratica ist all-
überall ; zu ihren Grundsätzen, Zielen und Wegen
bekennen sich die denkenden Ärzte, ob sie in
Deutschland oder England, Italien oder Frankreich,
Spanien oder Holland, Skandinavien oder Griechen-
land, Ägypten oder Indien, Rußland oder Amerika
geboren und gebildet werden; europafremde Kul-
turen wie die japanische und die chinesische
werden europäisch durch das Eindringen der ziel-
bewußten wissenschaftlichen Heilkunst. Der
hippokratische Geist wird Weltbürger und siegt
überall in dem heiligen Kampf um das Licht der
naturwissenschaftlich gegründeten Lebenssicherung
über die Irrlichter glückversprechender Systeme
und über die verhüllenden Nebel des Okultismus.
Merkwürdig ist, wie die Vertreter der ärztlichen
Kunst selber in der Geschichte ruhmlos zurück-
treten. Sie haben das Ehrendenkmal ihres geistigen
Führers im Anfang ihrer Geschichte aufgestellt;
sie errichten weiterhin noch einzelne Bildnisse
mit den strahlenden Namen Celsus, Galenos,
Avicenna,Hohenheim,Sydenham,Boer-
haave, Bretonneau, Griesinger, Lister,
Pettenkofer. Aber dazwischen stellen sie weit
öfter in freudiger Anerkennung der Förderungen,
welche ihre Kunst von den Hilfswissenschaften,
Anatomie, Physiologie, Pathologie, Zoologie,
Botanik, Physik, Chemie für und für erfährt, als
Marksteine von Entwicklungsepochen Namen
großer Naturdenker und Naturforscher auf, Ari-
stoteles, Theophrastus, Albert von Boll-
städt, RogerBacon, Lionardo daVinci,
Vesal, Harvey, Francis Bacon usw. —
Mit dem siebzehnten Jahrhundert gibt man diesen
Helfern des ärztlichen Wissens und Könnens so-
gar schlechtweg den Ehrennamen Ärzte, auch
dann, wenn sie die ärztliche Kunst nie oder kaum
je geübt haben. Morgagni, Linne, Bichat,
Johannes Müller, Pasteur, Röntgen wer-
den die Heroen des Arztes.
Im großen und ganzen besteht unter den Ge-
schichtsschreibern der Medizin eine begründete
Übereinstimmung über die Auswahl solcher Vor-
bilder; daß der einzelne gelegentlich seine be-
sondere Wertschätzung übt, ist begreiflich, be-
sonders dann, wenn es sich um jüngere Zeiten
handelt. Die Vergangenheit sehen wir scharf
und abgeklärt; im unruhigen Gewimmel der
6oo
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 41
Gegenwart scheint uns manche Gestalt über die
Menge zu ragen, die nachher rasch wieder ein-
schrumpft. Das vorliegende Buch regt in seinem
letzten Teil diese Bemerkung hier und da an.
Ein Beispiel. Wir können und müssen neben
P a s t e u r auch K och gelten lassen ; aber H e n 1 e
und Koch als Überschrift der Bakteriologie geben,
heißt Phantasie und Wirklichkeit ebenmäßig
schätzen und dem bedeutenden und bescheidenen
Anatomen Henle Unrecht tun. In Behrings
Serumtherapie eine Fortsetzung des Jenn ersehen
Gedankens zu sehen und in der Syphilisblutprobe
die Höhe der Serumforschung zu feiern, lehnt
die Geschichte gleichfalls ab. Sie lächelt aber
über unsere kleinen Liebhabereien und zählt sie
ebensowenig wie einige Druckfehler bei der Wert-
schätzung eines Buches, das als Ganzes ihren Bei-
fall hat.
Das Buch klingt aus in das Geständnis, daß
unsere Zeit keine Höhe der Heilkunst bedeute,
mit der Besorgnis, daß der Medizin völlige Auf-
lösung drohe, wenn zwei üble Erscheinungen sich
weiter herausbilden. Die eine Erscheinung ist
der Versuch ministerieller und staatlicher An-
strengungen, die ärztliche Kunst in ihren Ver-
tretern zu bevormunden und zu uniformieren.
Diese Gefahr dürfte nicht groß sein; sie ist eine
gesunde Kraftprobe. Die andere Erscheinung
sieht bedenklicher aus; sie besteht in dem wilden
Wuchern überflüssigen Wissens und Redens auf
einigen Kathedern und in einer tollen Vielge-
schäftigkeit zahlreicher Praktiker. Die Kranken
sind zu bedauern und die irrenden Ärzte, aber
nicht die Kunst. Ihre Geschichte verzeichnet
solche Verirrungen zur Warnung. Sie selber ist
unverweslich und unsterblich. Unsterblich wie sie
ist die Reihe der großen Lehrerärzte, die ihr
reines Bild durch die Jahrhunderte weitergeben;
unsterblich auch die fort und fort sich erneuernde
Schar ihrer namenlosen Diener, der stillen Be-
rufsärzte. G. Sticker- Würzburg.
Lang, R., Experimentalphysik. II. Wellen-
lehre und Akustik. Zweite Auflage. 96 S.
mit 69 Figuren im Text. Sammlung Göschen
Nr. 612. Berlin und Leipzig 1920, Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter
u. Co. Kart. 4,20 M.
Mit dem Hinweis auf die vorliegende gegen
früher im wesentlichen unveränderte Neuauflage
verbinden wir gern die beste Empfehlung dieser
ansprechenden, in Form und Inhalt gleich sorg-
fältigen kurzen Darstellung der Experimentalphysik
aus der Sammlung Göschen. Nicht nur derjenige,
der aus allgemeinem Interesse für physikalische
Fragen einen ersten Einblick gewinnen will, son-
dern auch der geschultere Leser wird aus Wort
und Bild mit voller Befriedigung Nutzen ziehen
können. Besonders anzuerkennen ist die reiche
Ausstattung mit klaren schematischen Zeichnungen,
die vielfach einen guten Ersatz für das Experiment
bieten. A. Becker.
Rohleder, Hermann, Monographien über
die Zeugung beim Menschen. Bd. V:
Die Zeugung bei Hermaphroditen, Kryptorchen,
Mikrorchen und Kastraten. 143 Seiten. 26,60 M.
Bd. VII (Ergänzungsband): Die künstliche Zeu-
gung (Befruchtung) im Tierreich. 128 Seiten.
21 M. Gr. b". Leipzig 192 1, Georg Thieme.
Der Verf., Sexualarzt in Leipzig, spricht in
Band V wie in I bis VI (I: Normale, pathologi-
sche und künstliche Zeugung beim Menschen, II:
Zeugung unter Blutsverwandten , III : Funktions-
störungen beim Manne, IV: Libidinöse Funktions-
störungen beim Weibe, VI: Künstliche Zeugung
und Anthropogenie, Bastardierung Affe - Mensch)
durchaus aus seinem Fache und offenbar haupt-
sächlich zu Ärzten, obwohl auch mancher Nicht-
arzt den behandelten Gegenständen und Fragen
Interesse abgewinnen mag, in Band VII aber zu
Tierzüchtern. Alles ist, nach den vorliegenden
2 Heften, sehr ausführlich behandelt, manches
darin bleibt sicher problematisch, manches „vor
der Hand noch theoretisch", siehe Titel zu Band VI,
so auch in Band VII, der trotz solcher Weit-
schweifigkeiten dem praktischen Fisch- und Säuge-
tierzüchter empfohlen werden kann.
V. Franz, Jena.
Literatur.
Muckermann, Hermann, Neues Leben I. Freiburg
i. Br. '21, Herder & Co.
Nelson, Leonhard, Spuk, Einweihung in das Geheimnis
der Wahrsagerkunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Be-
weis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen nebst Bei-
trägen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Leipzig '21, Verlag
der neue Geist, Dr. Peter Reinhold. Brosch. 6 M., geb.
25 M.
Lehmann, W. , Energie und Entropie. Berlin '21,
Julius Springer. 5,40 M.
Druckfehlerberichtigung.
In Nr. 37, S. 529, Sp. I, Z. 12 v. o. mufl es heißen:
,, kosmischen" statt „komischen".
Inbalt: K. Kuhn, Neuere Erfolge von Maxwells Theorie der Elektrizität. (6 Abb.) S. 585. Franz Heikertinger,
Täuschende Ähnlichkeit mit Wespen und Bienen (Sphekoidie). S. 589. — Einzelberlchte: G. Haberlandt, Wund-
hormone als Erreger von Zellteilungen. S. 592. V. Hohenstein, Über die schlesische Schwarzerde. S. 594. K.
Sapper, Innertropische Akklimatisation. S. 595. C. Skottsberg, Die Juan-Fernandez-(Robinson-)Inseln. S. 596.
F. C. Baker, Ein Fund eiszeitlicher Menschenknochen in Nordamerika. S. 598. — Bücberbesprechungen : Th.
Meyer-Steineg und Karl Sudhoff, Geschichte der Medizin im Überblick mit Abbildungen. S. 598. R. Lang,
Experimentalphysik. II. Wellenlehre und Akustik. S. 600. H. Rohleder, Monographien über die Zeugung beim
Menschen. S. 600. — Literatur: Liste. S. 600 — Druckfehlerberichtigung. S. 600.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. rn. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der gaofen Reihe 36. Band.
Sonntag, den i6. Oktober 1921.
Nummer 43.
Die Haut der Schnecken in ihrer Abhängigkeit von der Lebensweise.
(Vortrag, gehalten am 12. Juli 1920 in der Niederrheinischen Gesellschaft für Natur- und
Heilkunde zu Bonn.)
Von Dr. A. Herfs.
[Nachdruck verboten.]
Mit 5 Abbildungen.
Will man die mannigfaltige Ausbildung der
Drüsenhaut bei den verschiedenen Schnecken ver-
stehen, so muß man sich zwei Dinge klar vor
Augen halten, einmal daß der Organismus ein
historisch gewordenes Gebilde darstellt, das viel-
fach unter ganz anderen Bedingungen entstanden
ist, wie es heute lebt, und dann daß der Orga-
nismus in enger Korrelation mit seiner Umwelt
steht, und jede Veränderung der Umwelt in der
Organisation der Lebewesen zum Ausdruck ge-
bracht wird.
Die Urheimat der Schnecken, wie überhaupt
aller Lebewesen, ist das Wasser, das IWeer. „Im
Feuchten ist Lebendiges entstanden", sagt Goethe
im IL Teil des Faust, und ebenda in der Klassi-
schen Walpurgisnacht preist Thales-Goethe
den Ozean als das ewig lebenspendende und
lebenerhaltende Prinzip. Schon die jonischen
Naturphilosophen Thaies und Anaximandros
von Milet haben diese Lehre vertreten.
Im Laufe der Erdperioden haben dann eine
Reihe von tierischen Meeresbewohnern in lang-
samer, steter Umwandlung und Anpassung sich
zu Landtieren umgebildet. Das war aber nur
bei solchen Tieren möglich, die noch umwandel-
bare, plastische Anlagen besaßen, die einer neuen,
teils sehr weitgehenden Anpassung fähig waren.
Tiere, die wie die Zölenteraten und Echinodermen
sich bereits zu weitgehend und einseitig an das
Meer angepaßt hatten mit ihrer vielfach fest-
sitzenden, strudelnden Lebensweise und dem durch
die Lebensweise bedingten radiären Bau, waren
zu Anpassungen an das Landleben nicht mehr
geeignet und sind so ausschließlich Wasserbe-
wohner geblieben.
Drei große Tiergruppen haben, jedoch jede für
sich, durch besondere in ihrer Organisation be-
gründete Anpassungen das Land als neues Lebens-
gebiet erobert. Zuerst nenne ich als typische
Landeroberer die Insekten und Spinnen. Die
Cuticula ist hier auf der ganzen Körperoberfläche
zu einem festen Chitinpanzer, der ein vortreff-
licher Schutz der inneren Organe gegen Aus-
trocknung ist, umgebildet. Das feste Chitinske-
let ermöglicht erst die Entwicklung von Hebel-
gliedmaßen und bietet ferner durch die ins Körper-
innere vorspringende Leisten und Skulpturen des
Chitinskelets die nötigen Ansatzstellen für eine
stark ausgebildete Bewegungsmuskulatur. Alle
diese Baueigentümlichkeiten der Arthropoden er-
möglichen ihrerseits wieder eine schnelle Fort-
bewegung auf dem Lande bzw. in der Luft. Dies
alles macht neben den Anpassungen, die auch
das Atemsystem durch völlige Verlagerung in
das Körperinnere besonders für das Trockenluft-
leben umgestalteten, die Insekten und Spinnen
unter den Arthropoden zu typischen Landbe-
wohnern. Von diesem Gesichtspunkte wird es
uns verständlich, daß mehr als *j^ aller rezenten
Landtiere Insekten sind.
Unter den Wirbeltieren sind Reptilien, Vögel
und Säuger echte Landtiere geworden. Einmal
wird die Körperoberfläche durch eine dicke Haut
bzw. durch ein Feder- oder Haarkleid vor dem
Austrocknen geschützt. Dann ist auch hier —
wenn auch in anderer Weise wie bei den Arthro-
poden — das Atemsystem völlig in das Körper-
innere verlegt. Vor allem aber ist es die Er-
werbung des „Doppelten Blutkreislaufes" und da-
durch bedingt das Auftreten der Warmblütigkeit,
die die Warmblüter, oder besser gesagt die
Homoiothermen, die Vögel und Säuger, von den
äußeren Lebensbedingungen des Klimas völlig
unabhängig machen und sie alle Landgebiete vom
eisigen Pol bis zu den heißen Wüsten der Äquator-
länder erobern lassen. Die Warmblüter haben
eigentlich nie ihr Medium, das Wasser, verlassen.
Sie leben noch immer und überall, in den arktischen
wie auch in den tropischen Ländern, im warmen
Tropenmeere, das in Form des warmen Blutes
den ganzen Körper durchströmt.
Als dritte landerobernde Gruppe nenne ich
die Gastropoden, die Schnecken. Hier sind es
wieder ganz andere Eigenschaften, die beim Über-
gang zum Landleben besonders ausgebildet oder
umgestaltet werden. Aber die Anpassungen der
Schnecken sind wieder ganz anderer Art wie bei
den Insekten und den Wirbeltieren. Die Kiemen
schwinden, und an ihre Stelle tritt die gefäßreiche
Mantelhöhle als Atemorgan, als Lunge auf. Eine
starke Cuticula aber, die etwa zu einem Haut-
panzer erstarrte, wird hier nicht gebildet. An
Stelle des Hautpanzers tritt die Schale, die von
bestimmten Hautstellen ausgeschieden wird. Doch
bedeckt die Schale beim kriechenden Tier nur
den Eingeweidesack. Der übrige Körper bleibt
ungeschützt. Infolge des Mangels eines Haut-
skelets fehlen auch die Ansatzstellen für eine
stark entwickelte Bewegungsmuskulatur. Eben-
sowenig können Hebelghedmaßen ausgebildet
602
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 42
werden. Damit ist eine schnelle Bewegung auf
dem Lande für die Schnecken völlig ausge-
schlossen. Die Schnecke ist durch ihre ganze
Organisation zur Langsamkeit verurteilt. Schnelle
Flucht kann ein Tier am sichersten feindlichen
Nachstellungen wie auch den austrocknenden
Strahlen der Sonne entziehen. Für die langsame
Schnecke müßten aber die heißen Sonnenstrahlen
und feindliche Absichten anderer Tiere unbedingt
in jedem Falle verhängnisvoll werden, wenn nicht
andere Anpassungen schützend aufträten. Ein-
mal ist es die Schale, in die sich das Tier bei
Austrocknungsgefahr und bei räuberischen Nach-
stellungen sogleich zurückziehen kann, dann sind
es besondere Anpassungen des Drüseninteguments
der Schnecken. Die Haut ist weich, ihr Epithel
einschichtig. Es besitzt meist nur eine zarte
Cuticula. Dafür aber sind die Hautdrüsen um so
stärker und besser ausgebildet. Das Sekret dieser
Hautdrüsen ist stark hydrogel, d. h. es besitzt
ein großes Bindungsvermögen für Wasser. Das
Hautdrüsensekret hält die Haut stets feucht und
verhindert so das Austrocknen. Ich muß aller-
dings hier betonen, daß nur das Sekret einer
Hautdrüsenform die Schutzfunktion gegen Aus-
trocknung besitzt. Die anderen Hautdrüsenformen
scheinen eine andere Funktion zu besitzen. Doch
davon später.
Auch die Schnecke verläßt also nie ihr Medium,
das Wasser. Sie trägt es stets in kleinen Brunnen,
in Form ihrer Hautdrüsen, mit sich herum. Wir
sehen also, in drei großen Tiergruppen vollzieht
sich der Übergang zum Landleben unabhängig
voneinander durch besondere in der Organisation
der Lebewesen bedingten Anpassungen. Wenn
man auch zugeben muß, daß die Schnecken sich
sicher nicht so weitgehend an das Landleben an-
gepaßt haben wie die Insekten und die Warm-
blüter unter den Wirbeltieren, so muß man anderer-
seits immerhin berücksichtigen, daß sie selbst bis
in die Wüste vorgedrungen sind; so lebt Helix
lactea in der Sahara (bei einer Mittagstemperatur
von 1 10" F, 61,1" C). Aucapitaine sammelte
in einer Kalkgrube der Sahara bei einer Tempe-
ratur von 67,7" C Helix lactea, wo es 5 Jahre
nicht mehr geregnet hatte. Nachdem sie 3^/0 Jahre
noch in einer Schachtel gelegen hatte, lebte sie
nach Befeuchtung wieder auf. Allerdings darf
man nicht vergessen, daß in den Wüstengegenden
häufig starker Nachttau eintritt, der den Tieren
das nötige Wasser bietet. Auch darf man durch-
aus nicht denken, daß die Schnecken jener heißen
Gegenden etwa Kümmerformen seien, die im
Kampf ums Dasein mit stärkeren Formen in die
Wüste gedrängt, hier ein notdürftiges Leben
fristen. Die klimatischen Verhältnisse jener
Gegenden müssen wohl für diese Formen recht
günstig sein; denn sonst könnte man sich nicht
erklären, daß z. B. Helix pisana der Sahara
größer und kräftiger wird wie die gewöhnliche
europäische Form. Doch muß man sich immer
die Tatsache vor Augen halten, daß die Schnecken
nur im Feuchten eine aktives Leben führen können.
Solange die Sonne brennt, halten sie sich im Ge-
häuse zurückgezogen. Erst Regen oder Tau
lockt sie aus ihrem Hause heraus. Die Schnecken
sind so im eigentlichen Sinne Jünger des Thal es,
Verehrer des feuchten Prinzips, wie umgekehrt
die Reptilien dem Feuer Heraklits als leben-
spendendem Prinzip huldigen. Bei kühleren
Temperaturen liegen sie träge, scheinbar ohne
Leben, erst die glühenden Sonnenstrahlen schaffen
in ihnen wieder ihre alte Heimat, das zum Leben
nötige Tropenmeer, und dies weckt alle ihre
Lebensgeister, so daß sie äußerst regsame und
behende Gesellen werden, wie jeder Besucher der
Mittelmeerländer bestätigen kann.
Nun will ich bei den Schnecken kurz einmal
den Versuch wagen zu zeigen, wie die verschiedenen
Lebensbedingungen, besonders der Wechsel dieser
Bedingungen beim Obergang vom Wasser- zum
Landleben, Drüsenhaut und Schale beeinflussen,
und wie Drüsenhaut und Schale in engerer Kor-
relation stehen.
Zunächst muß ich hier eine kurze Übersicht
über die Hautdrüsen der Schnecken bringen. Da
ist vor allem stark zu betonen, daß es sich bei
den Drüsen der Schnecken, wie bei allen Wirbel-
losen stets um einzellige Drüsen handelt, d. h.
die Drüse wird stets nur von einer einzigen Zelle
gebildet. Vielzellige Drüsen, vielzellige Haut-
drüsen, wie wir sie z. B. bei den Amphibien
finden, haben wir bei den Mollusken keineswegs.
Früher hielt man allerdings die subepithelialen
Hautdrüsen der Schnecken für vielzellige Gebilde.
So beschreibt Semper 1850 die Hautdrüsen der
Schnecken als vielzellig, indem er die Schleim-
granula für Kerne ansah. Der wirkliche Kern
ist im reifen Zustande der Drüsen vielfach schwer
zu sehen, weil er als ganz flaches sichelförmiges
Gebilde der basalen Zellwand eng anliegt. Die
Drüsezelle hielt Semper so für eine vielzellige
Drüse, etwa vergleichbar mit einer Hautdrüse vom
Frosch. Dieser Irrtum war aber nur auf die noch
mangelhafte mikroskopische Technik — die Färbe-
methoden fehlten ja damals noch gänzlich — zu-
rückzuführen. Während man nun bald die ein-
zellige Natur der Hautdrüsen leicht erkannte, ist
das für Drüsegebilde wie die sog. Fußdrüse der
Landschnecken schwieriger. Die „Fußdrüse" ist
aber auch nichts weiter wie eine schlauchartige
Einstülpung der äußeren Körperhaut über der
Sohle, deren Zellelemente sich hier vielfach zu
subepithelialen Drüsen umwandeln, die infolge der
Einstülpung dieser Hautstelle anstatt auf die
Körperoberfläche, in das entstandene Rohrlumen
einmünden, das vorn auf dem vorderen Fußrande
ausmündet. Um kurz die Funktion dieser Fuß-
drüse zu erwähnen, will ich bemerken, daß sie
den Hauptteil des Kriechschleimes liefert. Also
alle Drüsen, insbesondere alle Hautdrüsen der
Schnecken sind einzellige Gebilde.
Wir unterscheiden in der Schneckenhaut:
I. epitheliale und 2. subepitheliale Drüsen. Epi-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
603
thelial nennen wir sie dann, wenn die Drüsen-
zellen noch völlig im Epithelverbande liegen
(Abb. I u. 2). Sie haben meist eine rundliche
ovale Form und unterscheiden sich einmal dadurch
von den gewöhnlichen Epithelzellen, dann natür-
lich durch ihr meist intensiv gefärbtes Sekret und
die stets basale Lage des Kerns in den Drüsen.
Zweifellos aber sind diese Drüsen nichts anderes
wie sekretorisch-umgewandelte Epithelzellen.
Abb. I. Epitheliale
Drüsen von Paludina.
b = basophile,
a = acidophile Drüse,
k = Drüsenkern,
f = fadenförmiger
Fortsatz.
Abb. 2. Epitheliale Drüsen von
Cyclostoma.
b = basophile, a = acidophile Drüse.
k = Kern, c = Cuticula,
o = Drüsenöffnung.
Die subepithelialen Drüsen
sind meist größere Zellgebilde,
die sich tief ins Bindegewebe
einsenken und nur mit einem
mehr oder minder schmalen
Ausführgang durch das Epi-
thel auf die Hautoberfläche
ausmünden. Der Kern liegt
meist in dem basalen bauchi-
gen Teil der Zelle. Vielfach
ist die Gestalt bauchig, sack-
artig oder mehr flaschenför-
mig. Diese subepithelialen
Drüsen (Abb. 3 — 5) haben
wir uns ebenfalls aus Epithelzellen entstanden
zu denken. Infolge ihrer bedeutenden Größen-
entwicklung sind sie nicht auf dem Stadium
epithelialer Drüsen stehen geblieben, sondern sind
aus dem Epithelverbande herausgetreten und tief
ins subepitheliale Gewebe eingesunken.
Sowohl bei den epithelialen wie bei den sub-
epithelialen Drüsen müssen wir zwei besondere
Gruppen unterscheiden : i. basophile Drüsen, deren
Sekret sich mit basischen Farbstoffen wie Häma-
toxylin Delaf., Thionin, Toluidin usw. meist in-
tensiv färben, und 2. acidophile Drüsen, die sich
mit sauren Farbstoffen wie Eosin, Lichtgrün usw.
färben.
Sehen wir nun zu, welche Verhältnisse im
Drüsenintegument wir bei den verschiedenen
Schneckengruppen vorfinden. Interessant ist es,
daß die unstreitig primitiven Chitonen nur
epitheliale Hautdrüsen besitzen, und zwar sowohl
in der Sohle wie in der Haut der Körperseiten
kommen nur epitheliale Drüsen vor. Man könnte
wohl bei diesen im ganzen anatomischen Bau noch
sehr primitiven Formen auch ursprüngliche Verhält-
nisse im Bau der Drüsenhaut erwarten, und somit
die epithelialen Drüsen als den Ausdruck allge-
mein noch primitiver morphologischen Differen-
zierung ansehen. Doch muß man sehr vorsichtig
sein, dann den Schluß zu ziehen: Weil Chiton
eine primitive Form ist, sind hier noch keine sub-
epithelialen Drüsen aufgetreten. Treten doch sub-
epitheliale, basophile Drüsen schon bei den Ne-
mertinen, den Schnurwürmern des IVIeeres auf.
Man muß hier vor allem die Lebensweise der
Chitonen berücksichtigen. Meist sitzen die Chi-
tonen in der Brandungszone dem Felsen fest an-
gesaugt völlig ruhig und ganz bedeckt von der
schildförmigen Schale. So ist der Weichkörper
der Außenwelt wenig ausgesetzt, und deshalb wird
wohl wenig Schleim benötigt, der hier irgendeine
Schutzfunktion haben könnte. Auch scheinen die
Chitonen sehr wenig zu kriechen. Sie bedürfen
dann auch keiner großen und vielen subepithelialen
Drüsen und kommen selbst auf der Sohle mit
epithelialen Drüsen aus.
Unter den Conchifera sind wohl nach ihrer
ganzen Organisation die Prosobranchier die
primitivsten. Als Meeresform nenne ich Patella.
Das Sohlenepithel ist reich an epithelialen Drüsen.
Subepitheliale Drüsen treten nur im vorderen
Sohlenteil einigermaßen zahlreich auf. Zum Hinter-
ende hin nehmen sie an Zahl stark ab. Vereinzelt
kommen auch auf der übrigen Haut subepitheliale
Drüsen vor. Die Lebensweise von Patella
ähnelt sehr der von Chiton. Auch Patella
sitzt meist träge und unbeweglich an den Felsen
der Brandungszone festgesaugt, und sie scheint
nur sehr wenig umherzukriechen. Als Süßwasser-
form habe ich Paludina vivipara genauer
untersucht. Bei Paludina kommen in der gan-
zen Haut mit Ausnahme der Sohle nur epitheliale
Drüsen vor und zwar basophile wie acidophile
Drüsen. Die basophilen Drüsen sind aber ent-
schieden in der Überzahl. Wie erklärt sich nun
das Fehlen der subepithelialen Drüsen bei Palu-
dina? Paludina gehört zu den operculaten
Prosobranchiern, d. h. sie trägt auf dem Schwanz
einen Deckel aus Conchiolinsubstanz. Mit diesem
Deckel verschließt das Tier, wenn es sich ins
Gehäuse zurückzieht, dieses fest und sicher. Auf
diese Weise kann Paludina sich völlig von der
Außenwelt abschließen und sich allen Gefahren
und Unbilden, besonders bei ungünstigen Lebens-
bedingungen, wie sie vor allem beim Austrocknen
des Gewässers entstehen können, schnell entziehen.
So reichen hier wieder die basophilen, epithelialen
Drüsen völlig aus, um die Haut stets mit einer
gallertigen Schicht zu überziehen, die die direkte
Berührung des Wassers mit der Körperhaut ver-
hindern soll und eine osmotisch wirksame Schutz-
hülle bildet. Daß die acidophilen Drüsen, denen
ich, wie später noch ausgeführt werden soll, eine
Wehrfunktion gegen feindliche Angriffe zuschrei-
ben möchte, so selten sind, erklärt sich sicher
aus dem Umstände, daß die Schnecken allen
Nachstellungen durch Flucht ins Gehäuse
und Schließen desselben mit dem Deckel leicht
aus dem Wege gehen können. Während Palu-
dina als eine Schnecke, die stets Wasserform
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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war und geblieben ist, so keineswegs eines stark
ausgeprägten Trockenschutzes bedurfte, den der
reichliche Schleim großer subepithelialen Drüsen
gewähren kann, mußten die Hautdrüsen an solchen
Stellen, wo besonders viel Schleim benötigt wird,
dem Prinzip der Raumökonomie folgend, in die
Tiefe des Gewebes einsinken. So entstehen dann,
wie beispielsweise auf der Sohle, die den Kriech-
schleim liefert, der die Reibung zwischen Tier
und Unterlage herabsetzen muß, subepitheliale
Drüsen.
Zum Vergleich bringe ich noch einen land-
bewohnenden Prosobranchier, Cyclostoma
e 1 e g a n s , eine einheimische wärmeliebende Form,
die hier bei Rolandseck die nördlichste Ver-
breitung hat. Bei Cyclostoma finden wir
überhaupt keine subepiihelialen Hautdrüsen, auch
in der Sohle nicht. Letztere Tatsache erklärt
sich wonl aus der eigenartigen von allen übrigen
bei Paludina und Cyclostoma. Bei Palu-
d i n a sind die basophilen Drüsen stets sehr stark
basophil und färben sich intensiv blauschwarz mit
Hämatoxylin (Del.). Anders bei Cyclostoma
elegans. Hier scheinen die basophilen Drüsen
stets nur sehr schwach basophil. Sie zeigen meist
ein durchsichtiges, nur blaßblau gefärbtes Sekret
von schaumig - wabiger Struktur. Interessant ist
ferner die eigenartige Anpassung der epithelialen
Drüsen bei Paludina an die verschieden hohen
Epithelstellen. In niederem Epithel haben wir
rundlich ovale epitheliale Becherzellen (Abb. I b).
In mittelhohem Epithel, wie z. B. in der Sohle,
nimmt die epitheliale Drüse die Form einer um-
gekehrten Flasche an (Abb. i). An den sekret-
haltigen Drüsenbauch, der stets in den distalen
oberen Epithelbezirken liegt, setzt sich basal ein
halsartiger Fortsatz an, der ebenfalls noch Sekret
enthält. Im basalen, unteren Teil dieses Halses
liegt stets der Kern,
der in diesem Teile
dann den Hals völlig
ausfüllt, und so nicht
von Sekret überdeckt
wird. Der Kern ist
darum meist sehr gut
zu sehen. Er sitzt
dem Halsteil auf wie
der Pfropfen, einer
Flasche.
In ganz hohen Epi-
thelsteilen wie im
Rüsselepithel liegt die
so gebildete, flaschen-
förmige epitheliale
Drüsenzelle stets nur
in dem oberen Epithel-
bezirk. Basal am Kern,
der meist etwa auf
halber Epithelhöhe
liegt, setzt sich ein
feiner, fadenförmiger
Fortsatz an, der die
Drüsenzelle in der
Epithelbasis verankert
(Abb. if). Bei Cy-
clostoma (Abb. 2)
Schnecken verschiedenen schrittweisen Fortbe- ist dies nie der Fall. Hier reicht die Sekretzelle
wegung von Cyclostoma. Wir haben also bei mit dem Sekretbauch stets bis zur Epithelbasis.
Cyclostoma in der ganzen Haut nur epitheliale Es bildet sich in keinem Falle ein basaler Hals-
Abb. 3. Kalkschleimdrüse. Abb. 4. Echte Schleimdrüse. Abb. 5. Acidophile Drüse.
Abb. 3 — 5. Subepitheliale Drüsen der Pulmonaten,
s = Drüsensekret, k = Drüsenkern, p = Protoplasmarest,
e = Epithel, a = Ausführgang, o = Drüsenöffnung.
Drüsen, zahlreiche basophile und nur wenige aci
dophile. Die Erklärung für die oberflächliche
Lage der Hautdrüsen bei einer Landschnecke, und
besonders noch bei einer wärmebildenden Form
wie Cyclostoma liegt wohl wiederum in dem
Vorhandensein eines Deckels. Dieser Deckel ist
übrigens bei Cyclostoma relativ viel dicker wie
bei Paludina. Er besteht auch nicht wie bei
Paludina nur aus einer Conchiolinschicht, son-
dern über .dem Conchiolin liegt noch eine Kalk-
schicht. Übrigens bestehen einige interessante
teil oder gar ein Fadenfortsatz. Die epitheliale
Drüse bei Cyclostoma gleicht in den höheren
Epithelpartien vielmehr stark in ihrer Form den
subepithelialen Drüsen der Pulmonaten.
Bei den Pros obranchiern spielen also die
epithelialen Hautdrüsen die Hauptrolle, die sub-
epithelialen Drüsen treten noch völlig in den
Hintergrund.
Es fragt sich nun, welche Hautdrüsenverhält-
nisse wir bei der II. Ordnung der Gastropoden,
bei den Pulmonaten, vorfinden. Gerade bei
Unterschiede zwischen den epithelialen Drüsen den Pulmonaten ist der Übergang zum Land-
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
605
leben auf breitester Linie vollzogen. Die Pul-
monaten sind die eigentlichen Landbewohner
unter den Schnecken. Daneben finden wir aber
eine ganze Gruppe von Süßwasserformen, die so
ziemlich die gleiche Lebensweise wie Paludina
besitzen und darum schon zum Vergleich geradezu
herausfordern. Obwohl man zunächst die gleichen
oder doch ähnliche Verhältnisse im Bau des
Drüseninteguments erwarten sollte wie bei Palu-
dina, liegen bei den Süßwasserpulmonaten die
Dinge doch ganz anders. Als Vertreter der Süß-
wasserpulmonaten, der Basommatophoren,
untersuchte ich Limnaea stagnalis, Pla-
norbis corneus und Amphipeplea gluti-
nosa. Auffällig ist, daß hier die epithelialen
Hautdrüsen völlig fehlen, dafür aber zahlreiche
subepitheliale Drüsen auftreten. Diese zunächst
sonderbar erscheinende Tatsache erklärt sich je-
doch leicht aus dem Umstände, daß die Süß-
wasserpulmonaten gar keine ursprünglichen Wasser-
bewohner sondern Landbewohner sind, die wie
die Landpulmonaten durch Lungen atmosphärische
Luft atmen. Das allgemeine Auftreten der Lungen
in dieser Gastropodenordnung hat ja auch zu der
Benennung: Lungenschnecken oder Pul-
mo n a t e n geführt. Die Anpassung an das Leben
im Süßwasser ist deshalb bei den Lungenschnecken
stets als eine sekundäre Erscheinung anzusehen.
In der Periode des Landlebens sind wohl die
epithelialen Hautdrüsen verschwunden, weil sie
durch ihre oberflächliche Lage der Verdunstung
zu stark ausgesetzt wären. An ihre Stelle traten
dann subepitheliale Hautdrüsen, die durch Ver-
lagerung in die Tiefe des subepidermalen Gewebes
vor Austrocknung besser geschützt sind und durch
ihre bedeutendere Größe mehr Schleim zu liefern
imstande sind. Eine reichere Schleimsekretion
wird so auch gerade dadurch erreicht, daß durch
Verlagerung der Drüsen in das subepidermale
Gewebe nach dem Prinzip der Raumökonomie
erst das Auftreten einer größeren Anzahl Drüsen
ermöglicht wird, wie das der Fall wäre, wenn die
Drüsen lediglich im Epithelverbande lägen. Epi-
theliale Drüsen sind überhaupt nur charakteristisch
für echte Wasserformen, die nie ihr Lebenselement,
das Wasser, verlassen haben. Darum findet man
sie wohl gerade so häufig bei Meeresformen. Um
wenigstens zwei Opistobranchier oder
Hinterkiemer, die fast ausschließlich Meer-
bewohner sind, anzuführen, erwähne ich, daß epi-
theliale Drüsen bei Doris als ausschließliche
Hautdrüsen, bei Aeolis neben subepithelialen
Drüsen vorkommen. Sobald aber die Schnecken
vom Wasser- zum Landleben übergehen, wie das
die Lungenschnecken, die Pulmonaten, getan
haben, schwinden die epithelialen Drüsen, die bei
den echten Wasserformen die Hauptrolle spielten.
Dafür treten aber die subepithelialen Drüsen in
stärkerer Entwicklung auf. Daß epitheliale Drüsen
trotzdem bei der landbewohnenden Cyclostoma
vorkommen, ist ein besonders interessanter Aus-
nahmefall, für den ich schon eine Erklärung zu
geben versucht habe.
Nun wollen wir uns kurz eine Übersicht über
die subepithelialen Drüsen, die also die
einzigen Hautdrüsen der Lungen-
schnecken sind, verschaffen. Dann will ich
darzulegen versuchen, welche Funktion wir
den einzelnen Drüsentypen vielleicht zuschreiben
dürfen.
Ich unterscheide:
L Basophile Kalkschleimdrüsen.
|II. Basophile „echte Schleimdrüsen".
III. Acidophile Drüsen.
Die Kalkschleimdrüsen (Abb. 3) sind
große, bei Limax maximus und bei Eulota
fruticum bis über i mm tief ins Gewebe sich
erstreckende Drüsen von meist bauchig sackartiger
Form. Basal im Drüsenbauch liegt der meist
kleine Kern, der häufig bei reifen sekretgefüllten
Drüsen als ein äußerst schmales, sichelförmiges
Gebilde der basalen Zellwand fest angepreßt liegt,
so daß er leicht übersehen werden kann. Der
Zellbauch verjüngt sich meist allmählich zu einem
Ausführgang, der durch das Epithel nach außen
mündet. In den reifen Drüsenzellen ist das Proto-
plasma übrigens bis auf einen kaum wahrnehm-
baren Rest um den Kern völlig verschwunden.
Früher hielt man ganz allgemein diese Drüsen
für reine Schleimdrüsen und bezeichnete umge-
kehrt die Drüsen, die ich als „echte Schleim-
drüsen" bezeichne, als Kalkdrüsen. Man kam
wohl zu dieser Verwechslung hauptsächlich da-
durch: Die Granula der „echten Schleimdrüsen"
sind besonders widerstandsfähig gegen Verquellung
und als Körnchen leicht wahrzunehmen, während
das Sekret der Kalkschleimdrüsen äußerst leicht
verquillt und dann ein schaumig wabiges Aus-
sehen hat. Ich konnte aber zeigen, daß man hier
ganz allgemein eine Verwechslung begangen hat,
daß z.B. die Schleimdrüsen (Leydigs und
Sempers) in Wirklichkeit den Kalkschleim
liefern, die Kalkdrüsen aber reinen Schleim. Zu-
nächst ist die Feststellung von Bedeutung, daß
die Kalkschleimdrüsen gerade dort am häufigsten
vorkommen, wo wie auf dem Mantelwulst, den
unteren Seitenteilen des Fußes und auf dem
Schwanzrücken besonders reichlich Kalkschleim
abgeschieden wird. An diesen Stellen überwiegen
die Kalkschleimdrüsen die anderen basophilen
Drüsen stark, die hier ziemlich in den Hinter-
grund treten. Andererseits fehlen die Kalk-
schleimdrüsen völlig, wo wie auf der Sohle nur
reiner Schleim abgeschieden wird. Hier kommen
hingegen die „echten Schleimdrüsen" um so zahl-
reicher vor. Ja sie sind bei den Landlungen-
schnecken fast die einzigen Drüsen der Sohle.
Bei den „echten Schleimdrüsen" setzt sich
der Ausführgang meist schärfer vom Drüsenbauch
ab, in dem der meist zentralgelegene Kern ruht
(Abb. 4). Wie schon gesagt, sind die Schleim-
granula ziemlich wiederstandsfähig gegen Ver-
quellen in Wasser und liegen meist dicht als
dunkelgefärbte rundliche Körnchen in den Drüsen.
Diese Drüsen reichen häufig sehr tief ins Binde-
gewebe hinein und münden vielfach durch einen
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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äußerst feinen langen Ausführgang nach außen,
der häufig meist nur bei stärkster Optik nachge-
wiesen und weiter verfolgt werden kann. Die
Schleimdrüsen liegen hauptsächlich in der Sohle
und bilden hier die Sohlendrüsen. Sonst kom-
men sie nur ziemlich zerstreut in der Haut vor.
Zunächst vermutete ich, daß die beiden baso-
philen Drüsentypen verschiedene Entwicklungs-
stadien einer und derselben Drüse seien, daß etwa
die Schleimdrüsen jüngere Stadien der Kalkschleim-
drüsen seien. Dagegen spricht aber schon das
lokal getrennte Vorkommen beider Drüsenformen,
die Tatsache, daß z. B. in der Sohle der Land-
lungenschnecken überhaupt keine Kalkschleim-
drüsen in der Regel vorkommen mit Ausnahme
von Buliminus detritus, wo aber wieder
nur Kalkschleimdrüsen vorzukommen scheinen.
Dann auch das färberisch verschiedene Verhalten
beider Drüsen. Färbt man die Schnitte mit
Hämatoxylin/Del. und Bismarckbraun, so färben
sich die Kalkschleimdrüsen stets mit Bismarck-
braun, die echten Schleimdrüsen dagegen nie. Sie
färben sich in dem Falle stets intensiv mit Häma-
toxylin.
Als dritter Drüsentyp kommen ganz allgemein
acidophile Drüsen vor, die sich mit Eosin
intensiv rot färben. Nach Form und Vorkommen
gleichen sie in etwa den Kalkschleimdrüsen. Sie
haben eine fast sackartige Gestalt (Abb. 5). Basal
im Drüsenbauch Hegt der Kern, der genau wie
bei den Kalkschleimdrüsen in den sekretgefüllten
Zellen als sichelförmiges Gebilde der Zellwand
enge anliegt. Ebenso scheint das Protoplasma
bis auf einen ganz geringen Rest um den Kern
herum zu schwinden. Die Sekretgranula ver-
quellen aber nicht wie bei den Kalkschleimdrüsen
zu einer schaumig-wabigen, sondern zu einer völlig
homogenen Masse. Wie die Kalkschleimdrüsen
fehlen die acidophilen Drüsen in der Sohle zu-
meist völlig. Häufig ist übrigens das Sekret der
acidophilen Drüsen gefärbt. Besonders auffallig
ist das vor allem bei der roten Wegschnecke,
Arion empiricorum Fer. , wo die rote
Färbung des Tieres lediglich durch das rote Farb-
sekret in den acidophilen Drüsen hervorgerufen
wird. Auch die Gehäuseschnecke Levantina
mardinensis Kob. von den Kalkfelsen bei
Mardin in Kleinasien besitzt ein auffällig grün-
gefärbtes Sekret, das aus den acidophilen Farb-
drüsen stammt.
Versuchen wir nun einmal uns die Frage nach
der Funktion bzw. der ökologischen Be-
deutung der verschiedenen Drüsen typen vor-
zulegen und die verschieden starke Ausbildung
der Hautdrüsen bei den einzelnen Formen als An-
passung an die jeweiligen Lebensbedingungen zu
verstehen. Wir sahen schon, daß der Schleim in
einigen Fällen sicher ein Schutzmittel gegen
Austrocknung darstellt. Solche Fälle sind
übrigens nicht allein im Tierreiche, sondern auch
bei Pflanzen ziemlich weit verbreitet. Ich er-
innere nur an die Schleimhüllen der Nostocalgen
und anderen Cyanophyceen und an den Zell-
schleim vieler xerophilen Pflanzen (nach Radl-
kofer z. B. bei Triapsis squarrosa). Der Schleim
hat, wie gesagt, ein großes Wasserbindungsver-
mögen. Bei den Schnecken scheint gerade das
Sekret der Kalkschleimdrüsen diese Funktion
zu besitzen. Sie liegen gerade in den expor-
niertesten Stellen der Haut, die beim Kriechen
nicht durch die Schale geschützt sind. Auf der
Sohle, die ja stets der Unterlage fest aufliegt, und
die so der Verdunstung ziemlich entzogen ist,
fehlen sie vollständig. Aus dieser Funktion
heraus erklärt sich ja auch ihr starkes Auftreten
bei den Landschnecken. Um das noch einmal
stark zu betonen: Die weichhäutigen Schnecken
konnten ihre Urheimat, das Wasser nur verlassen
und ans Land steigen, indem sie das feuchte
Medium, dem sie entstiegen, geradezu selbst mit
aufs Land nahmen. Das konnte wiederum nur
geschehen durch starke Ausbildung der Haut-
drüsen, deren hydrogeles Sekret Wasser aufsaugt
und festhält. Subepitheliale Drüsen kommen
aber nur in Betracht, weil sie das Auftreten der
erforderlichen Anzahl Drüsen erst ermöglichen,
dann auch durch ihre Verlagerung in die Tiefe
vor starker Austrocknung geschützt sind. Gerade
sehr wasserliebende Formen wie Succinea
putris oder die sehr dünnschalige Laubschnecke,
Eulota fruticum besitzen die stärkste Aus-
bildung der subepithehalen Kalkschleimdrüsen,
ebenso die schalenlosen, feuchtigkeitsliebenden
Nacktschnecken. Bei allen diesen Formen ist die
schützende Schale mehr oder minder schwach
ausgebildet. Sie ist dünnschalig oder gar bei
den Nacktschnecken rudimentär geworden. Die
Kalkschleimdrüsen sind dagegen bei allen diesen
Schnecken seht gut entwickelt. Formen dagegen
wie die Laubschnecken, Arianta arbustorum
und Tachea nemoralis besonders, die selbst
die Sonne nicht sehr scheut, besitzen viel geringer
entwickelte Kalkschleimdrüsen. Hier würde bei
Tachea zu großer Drüsenreichtum eine zu starke
Verdunstung bewirken. Als Ausgleich für die
weniger drüsenreiche Haut ist hier eine festere
Schale ausgebildet. Wir haben also: eine dünne
Schale und großen Drüsenreichtum bei Eulota
einerseits, eine dicke Schale und ein weniger
reiches Drüsenintegument bei Tachea anderer-
seits. Bei diesen beiden Formen ist die Korre-
lation zwischen Schale und Drüsenhaut besonders
schön und einleuchtend ausgeprägt.
Bei den xerophilen Schnecken, den trocken-
heitliebenden Formen ist dies in noch stärkerem
Maße der Fall. Wir beobachten hier ein weit-
gehendes Zurücktreten der Kalkschleimdrüsen und
ein Dickerwerden der Schale, die meist ein
porzellanartiges weißes Aussehen gewinnt. So
bei Buliminus detritus schon und bei He-
1 i X o b v i a. Wo aber wie beiXerophila eri-
c e t o r u m die Schale nicht besonders fest und
dick wird, da scheinen die Kalkschleimdrüsen in
stärkerer Entwicklung aufzutreten, während z. B.
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die dickschalige Levantina aus Kleinasien
mit Xerophila ericetorum verglichen sehr
drüsenarm ist. Ja es scheint geradezu eine Regel,
die ganz allgemein im Tierreiche Geltung hat, zu
sein, daß bei extrem trockenheitlieben-
den Formen die Hautdrüsen (natürlich nur
soweit sie dem Trockenheitsschutz dienen) im
Vergleich zu den feuchtigkeitliebenden Formen
zurücktreten, und daß als Ausgleich andere
Anpassungen an die Trockenheit auftreten. Bei
den Schnecken war es die Schale, die bei xero-
philen Formen dicker wurde. Unter den Verte-
braten sind die Sauropsiden, Reptilien und
Vögel, die eigentlichen Trockenlufttiere. Ihnen
fehlen die Hautdrüsen völlig (mit Ausnahme der
Bürzeldrüse der Vögel, die zum Einfetten des Ge-
fieders dient). Dafür haben wir als Trockenschutz
bei den R e p t i 1 i e n die feste, lederartige Schuppen-
haut, bei den Vögeln das dichte Federkleid.
Die Amphibien und auch die Säuger mit
ihrer ursprünglich nächtlichen Lebensweise sind
die Feuchtlufttiere unter den Vertebraten. Sie
besitzen so beide Hautdrüsen. Um noch einen
Fall für das Zurücktreten der Hautdrüsen bei
Trockenheitsformen im Vergleich zu den feuchtig-
keitliebenden Arten anzuführen, weise ich auf
die Landisopoden hin, die wir in mancher
Hinsicht mit den Schnecken vergleichen können.
Da ich auf diesen Vergleich zum Schluß noch
eingehen will, soll hier dieser Hinweis genügen.
Sogar bei den Pflanzen finden wir eine inter-
essante Bestätigung für die Regel vom Zurück-
treten der Hautdrüsen bei extrem xerophilen For-
men. So schreibt Ruhland (19 15) über die
Hautdrüsen der Plumbaginaceen: „Besonders
bemerkenswert scheint mir hier, daß sich unter
solchen Verhältnissen (er meint das Leben in den
salzreichen trockenen Wüstengegenden) die Drüsen
gleichsam als zweischneidiges Schwert erweisen,
insofern ihre an sich der Pflanze nützliche Salz-
ausscheidung doch die bedenkliche Seite eines
hohen Wasserverbrauches in sich schließt (vgl.
S. 467). So sehen wir denn, daß bei manchen
Arten (z. B. Statice rhodia) die Drüsen ähn-
lich wie die Spaltöffnungen mehr oder weniger
tief unter das Niveau der Epidermis eingesenkt
werden und endlich, wie bei denwestafrika-
nischen Arten überhaupt, ihrer Zahl
nach stark vermindert werden."
Beachtenswert ist auch das Einsinken der
Hautdrüsen bei diesen Wüstenpflanzen „tief unter
das Niveau der Epidermis". Eine gans analoge
Erscheinung haben wir in dem Einsinken der
subepithelialen Drüsen der Pulmonaten vor uns.
Hier wie dort bewirkt dieser Vorgang eine Her-
absetzung der Transpiration, wie ich es für die
Landschnecken oben schon ausgeführt habe.
Ich glaube, daß nach alledem man nicht ganz
fehl geht, wenn man die Kalkschleimdrüsen der
Schnecken als Schutzdrüsen gegen Austrocknung
betrachtet. Vielleicht trägt gerade der Kalkgehalt
des Sekretes zur Erhöhung des Trockenschutzes
bei, wie ja die ungeschützten Nacktschnecken und
die xerophilen Formen einen besonders kalkreichen
Schleim besitzen.
Die „echten Schleimdrüsen" scheinen
Schmierdrüsen zu sein, bestimmt, die
Reibung zwischen der Haut und einem harten
Körper herabzusetzen. Vor allem dienen sie
dazu, die Reibung zwischen Sohle und Unterlage
zu verkleinern. Durch den Kriechschleim der
Sohle wird so die direkte Berührung der Körper-
haut mit der Unterlage verhindert. Die Schnecke
kriecht eigentlich gar nicht über steinigen Boden
oder haarige Pflanzenteile, sondern über einen
weichen Teppich, den sie in Form eines Schleim-
bandes vor sich ausbreitet. So kommen an Stellen,
wo eine größere Reibung herrscht, wie auf der
Sohle fast ausschließlich echte Schleimdrüsen und
keine anderen Drüsen vor. Auch Körperstellen,
die mit der Schale sich scheuern wie der Kopf-
rücken und die Übergangsstellen von Fuß und
Eingeweidesack, sind darum reich an Schleim-
drüsen, dagegen arm an anderen Hautdrüsen. Um
aber für die Landschnecken den hinreichenden
Kriechschleim zu liefern scheinen die gewöhnlichen
in der Sohle gelegenen Schleimdrüsen, die sog.
„Sohlendrüsen" nicht auszureichen, die im feuchten
Element für die Wasserschnecken hinreichend
Schleim sezernieren. Es bildet sich durch Ein-
stülpung der äußeren Haut ein schlauchartiges
Organ, die „F u ß d r ü s e", von welcher schon die
Rede war. Ihre Schleimdrüsen liefern vielleicht
den Hauptteil des Kriechschleims. Ihr gegenüber
treten gerade bei den schnellkriechenden L im a c e s
unter den Nacktschnecken die Sohlendrüsen ziem-
lich stark in den Hintergrund. Bei Paludina
wie bei den Süßwasserpulmonaten (Limnaea,
Planorbis, Amphipeplea) fehlt eine Fuß-
drüse. Bei den Lungenschnecken des Süßwassers
scheint sie nachträglich bei der Rückwanderung
ins Wasser rudimentär geworden zu sein.
Den acidophilen Drüsen endlich glaube
ich die Funktion von Wehrdrüsen zuschreiben
zu müssen. Bei den deckeltragenden Proso-
branchiern treten sie, wie wir schon sahen,
gegenüber den basophilen Drüsen völlig zurück.
Diese Schnecken können sich den feindlichen
Nachstellungen ja durch Flucht ins Gehäuse, das
vom Deckel fest verschlossen wird, schnell ent-
ziehen. Bei ungeschützten Formen nehmen sie
aber an Entwicklung stark zu. So sind schon bei
den Nemertinen, jenen nackten Schnurwürmern
des Meeres, die acidophilen epithelialen Drüsen
häufig stärker entwickelt wie die subepithelialen
basophilen Drüsen. Unter den Schnecken sind
besonders die Nacktschnecken, die schalenlos und
völlig ungeschützt sind, am reichsten mit acido-
philen Drüsen ausgestattet. Bei Arion empiri-
c o r u m erwähnte ich bereits, sind die acidophilen
Farbdrüsen so zahlreich, daß sie allein die rote
Färbung des Tieres bewirken. Der Schleim von
Arion empiricorum ist aber für gewöhnlich
nicht oder nur schwach gelbrot gefärbt. Nur bei
6o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 42
heftigen Reizen, Betupfen mit ätzenden Stoffen,
wie Säuren, oder auch beim Abtöten in Formol
wird ein intensiv rotgelbes Sekret ausgestoßen.
Die Tatsache scheint mir sehr geeignet zu sein
die Wehrfunktion der acidophilen Farbdrüsen
wahrscheinlich zu machen. Die Auffassung der
acidophilen Drüsen als Wehrdrüsen wird auch
noch durch die Beobachtung gestützt, daß das
Auftreten der acidophilen Drüsen vom Feuchtig-
keitsbedürfnis der Schnecke unabhängig zu sein
scheint. So haben wir eine reiche Entwicklung
acidophiler Drüsen einesteils bei der sehr dünn-
schaligen, ziemlich feuchtigkeitliebenden Eulota
und andererseits bei der trockenheitliebenden
Schnecke Buliminus detritus. Die acido-
philen Drüsen liegen auch am häufigsten an stark
exponierten Hautstellen, an geschützten Stellen
vermissen wir sie dafür fast völlig. So fehlen sie
ja in der Sohle der Landpulmonaten (mit Aus-
nahme von A r i o n e m p i r.) ganz. Übrigens hat
gerade der rote Farbschleim von A r i o n eine
stark ekelerregende Wirkung, wie Simroth
durch Fütterungsversuche im Leipziger Zoologi-
schen Garten nachweisen konnte. Einmal durch
Erfahrung gewitzigt, verschmähten selbst ausge-
sprochene Schneckenfresser wie Hühner und Peli-
kane diesen ekelerregenden Bissen. Die Sohle
allein, die arm an Farbdrüsen ist, wirkte weniger
stark ekelerregend.
Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß
wir bei den Landisopoden ein ähnliches
Verhalten der Hautdrüsen in ihrer Be-
ziehung zur Lebensweise vorfinden wie bei den
Schnecken. Bei den Isopoden scheinen die
sog. Weberschen Drüsen ähnlich wie die
Kalkscnleimdrüsen der Schnecken als Schutz gegen
Trocknis zu dienen, und zwar sollen sie vorzüg-
lich die Kiemenorgane vor Austrocknen schützen.
Sie fehlen den Wasserasseln ganz, kommen aber
bei sehr feuchtigkeitliebenden Landformen wie Tri -
choniscus sp. sehr zahlreich vor, ebenso bei
den feuchtigkeitliebenden Oniscus murarius
Cuv. Sie nehmen aber bei Formen, die trocken
leben , wie Porcellio scaber Lutr. und
Armadillidium nasutum B. L. entschieden
an Zahl ab. Auch wenn wir das Zahlenverhältnis
der sog. Epimerendrüsen, über deren Funk-
tion man sich übrigens noch nicht recht klar ist,
betrachten, ergibt sich ein interessantes Resultat.
Bei den ausgesprochen feuchtlebenden Formen,
Ligia oceanica L. und Oniscus murarius
sind die Epimerendrüsen wenig zahlreich. Bei der
trockenlebenden Form Porcellia scaber sind die
Epimerendrüsen sehr stark entwickelt: i07Thoracal-
drüsen, 14 Abdominaldrüsen, Gesamtzahl 121. Bei
extrem trockenlebenden Formen wie Armadilli-
dium nasutum B. L. haben wir dagegen nur 48
Thoracaldrüsen und 18 Abdominaldrüsen, Gesamt-
zahl 66. So sind auch bei dem sehr trocken-
lebenden Porcellio pictus Brdt. die Epi-
merendrüsen am schwächsten entwickelt. Also
auch hier haben wir wieder die gleichen Verhält-
nisse wie bei den Schnecken, nämlich das Ab-
nehmen der Drüsen bei extremen Trockenformen.
Am meisten interessiert aber wohl das Verhalten
der sog. Urostyldrüsen der Isopoden. Diese
Drüsen scheinen nach dem übereinstimmenden
Urteil von Verhoeff, Wasmann und Herold
Wehrfunktion zu besitzen. Sie treten in gleich
guter Entwicklung bei feuchtigkeitliebenden wie
extrem trockenlebenden Formen auf; sowohl bei
den sehr feuchtlebenden Trichoniscus, dem
feuchtlebenden Oniscus murarius, dem trocken-
lebenden Porcellio scaber, dem extrem
trockenlebenden Armadillidium nasutum
sind die Urostyldrüsen in reichster Entwicklung
ausgebildet. Sie sind also völlig unabhängig von
dem verschiedenen Feuchtigkeitsbedürfnis der
einzelnen Arten, was ja auch bei ihrer Funktion
als Wehrdrüsen verständlich ist. Dieselbe Unab-
hängigkeit vom Feuchtigkeitsbedürfnis der ver-
schiedenen Arten konnte ich bei den Schnecken
ja auch für die acidophilen Drüsen feststellen.
Und diese Tatsache war zugleich ein wesentlicher
Grund für mich an die Wehrfunktion der acido-
philen Schneckendrüsen zu glauben.
Alle diese mannigfaltigen Anpassungen an die
verschiedensten Lebensbedingungen bei Schnecken
wie bei Landisopoden zeigen aufs einleuchtendste,
daß der Organismus ein im höchsten Grade plasti-
sches Gebilde ist, das erst durch die Bedingungen
der lebenden und leblosen Umwelt zur jeweiligen
Erscheinungsform gestaltet wird, die, der alten
Proteusgottheit vergleichbar, unter neuen Lebens-
lagen stets andere Gestalt gewinnt.
Eine ausführlichere Arbeit des Verfassers über
die Hautdrüsen der Schnecken wird demnächst
unter dem Titel : „Studien an den Hautdrüsen der
Land- und Süßwassergastropoden" im Archiv für
mikroskopische Anatomie erscheinen. Daselbst
findet sich auch eine eingehendere Literaturangabe.
Einzelberichte.
Die Anoi'dunng der Atome in Kristallen.
Im folgenden sei so kurz als möglich be-
richtet über allgemein interessierende Unter-
suchungen, die W. L. Bragg im Philosophical
Magazine and Journal of Science, Bd. 40 (1920),
S. 169 — 189 veröffentlicht hat. — Bei manchen
einfachen Kristallstrukturen (wie beim Diamant
und bei den Alkalihalogeniden) nehmen die Atome
ganz bestimmte durch die Symmetrie bedingte
Punktlagen ein. Bei anderen dagegen sind ge-
wisse Atomlagen nicht derartig eindeutig be-
N. F. XX. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
609
stimmt, wie z. B. beim Pyrit, FeSg, die Lage der
Schwefelatome oder beim Calcit, CaCOg die Lage
der Sauerstoffatome. In solchen Fällen muß ihre
Lage durch eine quantitative Bearbeitung von
Lauephotogrammen der betreffenden Kristallstruk-
tur errechnet werden. Wenn, wie beim Korund,
AI2O3, zwei, oder wie beim Quarz, SiO,, sogar
vier derartige Parameter unbekannt sind, dann
wird die Schwierigkeit der Lösung dieser Aufgabe
derartig vergrößert, daß aus diesem Grunde bis-
her nur solche Fälle ausgewertet worden sind, bei
denen die Anzahl der der Symmetrie nach noch
unbestimmten Punktlagen gering ist.
Im ersten Teil der Braggschen Unter-
suchungen werden nun empirisch zu findende
Beziehungen der Entfernungen der einzelnen Atome
von ihren nächsten Nachbarn in den einfacheren
Kristallstrukturen aufgestellt, die bei der Analyse
komplizierterer Strukturen von Nutzen sein können.
Besonders wichtig erscheinen aber vor allem die
sich ergebenden Gesetzmäßigkeiten mit Beziehung
auf das periodische System der Elemente.
Die erwähnten Beziehungen ergeben sich, wenn
man die Atome im Kristall als eine dichte Packung
von Kugeln auffaßt, wo die Kugelmittelpunkte
mit denen der Atome zusammenfallen sollen. Der
Ort und die Größe jeder Kugel ist dadurch be-
stimmt, daß sie von mehreren, sie berührenden
Nachbarn getragen werden muß. Wenn man da-
her die Entfernung zwischen zwei Nachbaratomen
als die Summe zweier Konstanten auffaßt, die
den Radien der den betreffenden Atomen zuge-
ordneten Kugeln entsprechen, so zeigt sich, daß
innerhalb gewisser Fehlergrenzen es in der Tat
möglich ist, für jedes Atom einen für das
betreff ende Element charakteristischen
konstantenRadius zuberechnen. Daraus
folgt, daß die offenbaren verschiedenen Werte,
die sich als Anteil eines und desselben Elementes
aus dem Molekularvolumen von verschiedenen
Verbindungen dieses Elementes ergeben, im wesent-
lichen durch die Unterschiede in der Kristall-
struktur und nicht durch Unterschiede in der
Raumerfüllung des Atoms selbst bedingt sind.
Dieses additive Gesetz soll aber nur als eine erste
Annäherung betrachtet werden und bei der Ana-
lyse komplizierterer Kristallstrukturen die Größe
der zu ermittelnden Parameter beschränken.
Im folgenden wird der Durchmesser der Kugel,
die in der gedachten Weise das Atom vorstellen
soll, kurz als „Durchmesser" des Atoms bezeichnet
und in Ängströmeinheiten (i Ä^^lXiO'^cm)
gemessen. Einige Beispiele mögen erläutern, in
welcher Weise Bragg verfährt, um diese Werte
zu berechnen. Die Kristaltstruktur von metal-
lischem Eisen wurde von Hu 11 (vgl. Naturw.
Wochenschr. 1921, Nr. 40) als zweifach kubisches,
raumzentriertes Würfel gitter bestimmt, wobei die
Würfelkante zu 2,86 A und der Abstand zwischen
zwei benachbarten Fe- Atomen, d. h. also in erster
Annäherung der Durchmesser des Fe-Atoms, zu
2,47 Ä gefunden wurde. Setzt man diese Größe
fiir die Eisenatome in der Pyritstruktur ein, so
errechnet sich für die Schwefelatome ein mög-
licher Durchmesser von 2,05 Ä, und die auf diese
Weise gleichzeitig mögliche Angabe über den
Ort der S-Atome im Raumgitter weicht sehr
wenig von der durch Ewald auf Grund von
Lauephotogrammen von Pyrit bestimmten ab.
Aus dem Feinbau der Zinkblende, ZnS, ergibt
sich nun unter Verwendung des eben errechneten
Durchmessers der S-Atome ein Durchmesser von
2,65 Ä für das Zinkatom. Aus der von Bragg
kürzlich erst ermittelten Struktur des Zinkoxyds
(Philosophical Magazine, Bd. 39 (1920), S. 647)
ergibt sich danach für das Sauerstoffatom ein
Durchmesser von 1,30 Ä. In der gleichen Weise
fortgesetzt erhält man weitere Atomdurchmesser
aus den bereits bekannten Strukturen von MgO,
CaO, SrO, BaO und MgS, CaS, SrS, BaS, ferner
aus dem NaCl-Typus der Alkalihalogenide, dem
CaCOg-Typus der Karbonate von Ca, Mg, Fe und
Zn, usw.
Die auf solche Art erhaltenen Daten sind in
der folgenden Tabelle zusammengestellt:
Atom-
Element
Durchmesser
in k
Nummer
3
1
Lithium
3.00
4
Beryllium
2,30
6
Kohlenstoff
1,54
7
Stickstoff
1,30
8
Sauerstoff
1,30
9
Fluor
1.35
II
Natrium
3.55
12
Magnesium
2.85
13
Aluminium
2,70
14
Silizium
2,35
16
Schwefel
2,05
17
Chlor
2,10
19
Kalmm
4,15
20
Calcium
3.40
22
Titan
2,S0
24
Chrom
2,80
Chrom elektronegativ
2,35
25
Mangan
2,95
Mangan elektronegativ
2.35
26
Eisen
2,80
27
Kobalt
2,75
28
Nickel
2,70
29
Kupfer
2.75
30
Zink
2,65
33
Arsen
2,52
34
Selen
2,35
35
Brom
2,38
37
Rubidium
4.50
38
Strontium
3.90
47
Silber
3.55
48
Cadmium
3.20
50
Zinn
2,80
51
Antimon
2,80
52
Tellur
2,65
53
Jod
2,80
55
Cäsium
4.75
56
Barium
4,20
81
Thallium
4,50
S2
Blei
3.80
83
Wismuth
2,96
6io
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 42
Dieses Ergebnis ist in der Arbeit außerdem
graphisch dargestellt, indem die Atomnummern
als Abszisse, der Atomdurchmesser als Ordinate
aufgetragen wurden. Dabei zeigt sich deutlich,
daß die letzteren auf einer Kurve liegen, die der-
jenigen ähnelt, die schon seit langem von Lothar
Meyer für die Atomvolumina angegeben wurde
(vgl. z. B. Nernst, Theoretische Chemie). Für
jede Periode haben die Alkalimetalle, danach die
alkalischen Erden den größten Durchmesser, der
seinen kleinsten Wert jedesmal für die am Ende
der betreffenden Periode stehenden elektronegativen
Elemente erreicht. Wenn man die tatsächlich
beobachteten Abstände von 2 Atomen in einer
Anzahl von Kristallen mit denen vergleicht, die
durch Addition der beiden berechneten Halb-
messer dieser Atome erhalten werden , so ergibt
sich meist kein beträchtlicher Unterschied; er be-
trägt durchschnittlich 0,06 Ä und ist am größten
bei den elektropositiven Metallen, am geringsten
bei den elektronegativen Elementen. Mit Kugeln
vom gegenseitigen Größenverhältnis der angegebe-
nen Atomdurchmesser hat Bragg auch Struktur-
modelle, z. B. von NaCI, Zinkblende und Calcit
konstruiert und ihre Abbildungen auf einer be-
sonderen Tafel beigegeben.
Im zweiten Teile der Arbeit wird nun die
physikalische Bedeutung dieser Abstände, be-
sonders mit Beziehung auf die von Lewis ^) und
Langmuir^) vorgeschlagene Theorie des Atom-
baues besprochen. Man kann zunächst zwei
Typen chemischer Bindung unterscheiden. Die
eine erfolgt durch Angleichung der Zahl der
Elektronen zweier Elemente an die Zahl des
nächsten stabilen Edelgastypus, z. B. gibt bei KCl
das Kalium von 19 Elektronen eins ab, wird
positiv einwertig, und das Chlor erhält zu seinen
17 Elektronen eines dazu, wird negativ einwertig;
beide Ionen haben dann 18 Elektronen, die in
Zahl und wohl auch in Anordnung dem stabilen
Argonatom gleichkommen, ihre entgegengesetzte
Ladung ist der Grund zur Bindung. Andererseits
unterscheidet sich hiervon das Zustandekommen
einer Verbindung von zwei elektronegativen Ele-
menten, wie z. B. SO2 oder CO3. Da in diesem
Falle beide Elemente weniger Elektronen haben
als dem nächsten Edelgastypus zukommt, suchen
sie die zur Erreichung von dessen Anzahl und
Stabililätsform noch notwendigen Elektronen da-
durch zu erhalten, daß sie eine entsprechende
Zahl von Elektronen als gemeinsame miteinander
teilen. Die Tatsache, daß die errechneten Atom-
durchmesser der einwertig-positiven Elemente
') Journal American Chemical Society 38 (1916) S. 762
und 41 (1919) S. S68. [Diese Tlieorie deckt sicli im wesent-
lichen mit den von W. Kossei (1916, Ann. d. Physik 49,
S. 229) ausgesprochenen Ansichten über die chemischen Ver-
bindungen heteropolarer Natur, wobei sich z. B. von den
zwei zu einer Verbindung zusammentretenden Elementen das
eine durch Aufnahme , das andere durch Abgabe von Elek-
tronen dem jeweils nächstliegenden Edelgastypus aus beson-
deren Stabilitätsgründen in der Zahl der Elektronen anpaßt.
D. Ref.]
größer erscheinen als die der zweiwertigen und
dreiwertigen ist dann so zu deuten, daß infolge
der Abgabe von 2 bzw. 3 Elektronen an die sich
damit verbindenden negativen Elemente die
resultierenden Anziehungskräfte sich vergrößern
und die Wirkungssphäre der positiven Atome da-
durch verkleinern. Die zweite Wahrnehmung,
daß die kleinsten Durchmesser jeder Periode stets
die elektronegativen Elemente haben, erklärt sich
dann offenbar als Ausdruck des Effektes, der
durch den gemeinsamen Besitz von gewissen
Elektronen benachbarter Atome zustande kommt.
Dagegen sind positive Elemente stets bereits von
einer stabilen Elektronenhülle des Edelgastypus
umgeben. Die abstoßenden Kräfte zwischen dieser
und der Elektronenanordnung analoger benach-
barter Atome halten sie in größerem Abstände
voneinander als es bei den elektronegativen Ele-
menten infolge der Gemeinsamkeit bestimmter
Elektronen der Fall sein kann.
Schließlich läßt sich aus der Tatsache, daß
die Durchmesser der elektronegativen Atome jeder
Periode stets einem unteren Grenzwert zustreben,
vermuten, daß dieser Wert derjenige ist, der dem
Durchmesser der äußeren Elektronenhülle der
Edelgase zuzuschreiben wäre. So erhält Bragg
als Durchmesser für Neon 1,30 A, für Argon
2,05 Ä, für Krypton 2,35 Ä und für Xenon 2,70 Ä.
Endlich läßt sich aus den gleichen Gesichts-
punkten heraus auch jene Beobachtung deuten,
daß die empirische Beziehung der Atomdurch-
messer am schlechtesten stimmt für die elektro-
positiven Elemente, wenn sie als Elemente
kristallisieren. Langmuir stellt sich einen der-
artigen Kristall vor als aufgebaut aus positiv ge-
ladenen Ionen, die von freibeweglichen Elektronen
zusammengehalten werden. Es besteht in diesem
Falle also keinerlei Elektronenbindung zwischen
den einzelnen Atomen und ihre Anordnung wird
daher gern die Form einer Kugelpackung an-
nehmen. Tatsächlich kann die Kristallstruktur
vieler dieser meistens regulär oder hexagonal
kristallisierenden Elemente als Kugelpackung auf-
gefaßt werden (vgl. Natur w. Wochenschr., 1921,
Nr. 40). Hingegen ist es nicht weiter verwunder-
lich, wenn die elektronegativen Elemente, wo ge-
meinsame Elektronen eine ganz bestimmte Bin-
dung verursachen, im kristallisierten Zustande
eine kompliziertere Struktur annehmen, wie es
z. B. für Schwefel, Selen, Tellur, Jod, Arsen, Anti-
mon und Wismuth bekannt ist. Spbg.
Ethnologie der Balier.
Große Fruchtbarkeit des Bodens ist der indo-
nesischen Insel Bali ebenso eigen wie dem be-
nachbarten Java, mit dem sie erst in verhältnis-
mäßig später geologischer Periode den Zusammen-
hang verlor. In der westhchen Inselhälfte gibt es
noch bis ans Meer reichende Urwälder, denen je-
doch die Schwüle und Düsterkeit fehlt, die solche
Wälder gewöhnlich auszeichnen. Im Osten haben
N. F. XX. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
611
die Menschen die Urwaldhänge in weiter Er-
streckung zu einem ununterbrochenen Gefälle von
Terrassenfeldern gemacht, die dem Anbau von
Reis dienen und auch die Ebene an der Küste
ist ein ungeheures Schachbrett mit spiegelnden
Feldern. Landesnatur und Bevölkerung Balis ver-
anschaulicht Dr. Gregor Krause in Bd. 2 u. 3
der Schriftenreihe „Kunst und Leben Asiens". *)
Von den Baliern sagt uns K., daß sie in körper-
licher und kultureller Beziehung stark durch die
Einwanderung von Indo-Javanen beeinflußt wurden.
Während der Blütezeit des Hinduismus auf Java
(ungefähr von 700 bis 1158 n. Chr.) war Bali
eine javanische Kolonie. Nach dem Fall des
letzten Hindureiches auf Ostjava flüchteten zu Be-
ginn des 16. Jahrhunderts große Scharen von
Siwaiten und Buddhisten vor dem Ansturm des
Islam nach Bali, wo noch heute in der Ober-
schicht der Bevölkerung indoarische Körper- und
Gesichtsformen häufig zu sehen sind. Ein Teil
der malayischen Ureinwohner, der von dem Hindu-
ismus nichts wissen wollte, zog sich in die Berge
zurück, wo eines ihrer unabhängigen Staatswesen
noch vor etwa 100 Jahren bestand. Die übrigen
Balier übernahmen die hinduistische Kultur in be-
schränktem Umfange. Das Kastenwesen, das
einer ihrer wichtigsten Bestandteile ist, konnte
sich, dank dem Volkscharakter, nicht zu dem
starren System ausbilden und nicht so fortschritt-
hemmend wirken, wie in Vorderindien. Die kasten-
angehörigen Oberschichten bilden nur etwa 5 "/q
der Einwohnerschaft; die Masse des Volkes ist
kastenlos. Die Volkssprache gehört zu der großen
Gruppe austronesischer Sprachen, die von Mada-
gaskar bis Formosa und dem Osten Australiens
gesprochen werden, die Oberschicht gebraucht
eine durch Sanskriteinflüsse veränderte und be-
reicherte Abart davon. In den Dorfgenossen-
schaften, den Trägern der Wirtschaft, deren Wesen
K. ausführlich schildert, sowie in anderen Ver-
einigungen, hat jeder dieselben Pflichten und
Rechte, doch sind die Kastenangehörigen von ge-
wissen öffentlichen Dienstleistungen enthoben und
bei gewissen Vergehen werden sie milder bestraft
als andere. Für Eheschließungen gilt die Regel
der Hypergamie; Frauen dürfen in eine höhere
soziale Schicht hinaufheiraten, aber nicht unter
ihren Stand herabgehen. Diese Regel gilt auch
im hinduistischen Vorderindien allgemein. Die
Frauen erfreuen sich einer durchaus geachteten
Stellung und großen Einflusses. In der Öffent-
lichkeit ist aber strenge Trennung der Geschlechter
die Regel, eine Folge hinduistischer Auffassung
der Geschlechtsbeziehungen. Nur gelegentlich der
Reisernte kommen Jünglinge und Mädchen zu-
sammen und es ist Gelegenheit zur Gattenwahl.
Die Eheschließung erfolgt durch eine Scheinent-
führung, der Hochzeitsmahl und Tempelfestlich-
keiten folgen.
') Krause, Bali, Bd. l: Land und Volk, Bd. 2: Tänze,
Tempel, Feste. Mit zahlreichen photographischen Wieder-
gaben. Hagen i. W. 1920, Folkwang Verlag.
Der Grad der sexuellen Differenzierung der
Geschlechter ist gering, was K's. Bilder deutlich
beweisen. Davon abgesehen ist die Körperform
der Balier eine sehr schöne. Der weiblichen
Körperschönheit sehr förderlich ist das allgemein
übliche Tragen der Lasten auf dem Kopfe, wo-
durch der Schultergürtel und seine Muskulatur
voll entwickelt werden, so daß sich auch eine
günstige Unterlage für die Brüste ergibt. Die
Schultern sind von nahezu gleicher Breite wie die
Hüften ; die Beine sind schlank und doch von fast
männlicher Stärke. Die sozialen, rechtlichen und
wirtschaftlichen Zustände der Balier, wie sie K.
darstellt, zeigen durchweg mehr oder minder das
Ergebnis des Kontakts indo-arischer und ma-
layischer Psyche. - H. Fehlinger.
Die lichtelektrische Wirliung unterteilter
Lichtquauteu.
(Mit I Abbildung.)
Trifft ein Strahl natürlichen Lichts auf einen
Kalkspatkristall, so wird er in zwei senkrecht zu-
einander schwingende Strahlen von untereinander
gleicher Energie zerlegt. Nach der klassischen
Auffassung vom Wesen des Lichts wird hierbei
jede einzelne auf den Kalkspat auffallende Licht-
welle in zwei Anteile gespalten, die den beiden
im Kalkspat allein möglichen Schwingungsebenen
entsprechen. Bei der Annahme von Lichtquanten
in einem Strahl könnte dies aber anders sein.
Wenn es wirklich Lichtquanten gibt, so hat man
sich diese wohl als zusammenhängende (kohärente)
Wellenzüge von geringem Querschnitt in einem
Lichtstrahl vorzustellen. Der Vorgang der Doppel-
brechung im Kalkspat könnte daher so sein, daß
jedes einzelne Lichtquant als Ganzes erhalten
bleibt, indem es sich derjenigen der beiden
Schwingungsebenen im Kalkspat anpaßt, mit der
seine eigene Schwingungsebene den kleinsten
Winkel bildet.
Nun soll einer der beiden im Kalkspat ent-
standenen Lichtstrahlen auf einen zweiten ent-
sprechend orientierten Kalkspat fallen. Es erfolgt
wiederum Doppelbrechung. Das ist aber bei der
Annahme von Lichtquanten nur möglich, wenn
diese unterteilt werden. Denn die auf den zweiten
Kalkspat auffallenden Lichtquanten haben alle ein
und dieselbe Schwingungsrichtung. Bei der phy-
sikalischen Gleichartigkeit der Quanten oder kohä-
renten Wellenzüge können diese als Ganzes nicht
beliebig der einen oder der anderen im Kalkspat
möglichen Schwingungsrichtung folgen ; die er-
fahrungsgemäß im zweiten Kalkspat erfolgende
Teilung des Lichtstrahls in die zwei möglichen
Schwingungsrichtungen des Kristalls, ist nur durch
wirkliche Teilung der einzelnen Lichtquanten mög-
lich. „Benützt man also schließlich nur den einen
der beiden durch den zweiten Kalkspat gelangten
Strahlen, so stellt dieser jedenfalls ein Bündel
unterteilter Lichtquanten dar."
Von hohem Interesse ist die lichtelektrische
6l2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 42
Wirkung eines solchen Strahles, der möglicher-
weise unterteilte Lichtquanten enthält. Der licht-
elektrische Effekt besteht bekanntlich darin, daß
aus Stoffen unter dem Einfluß einer Wellenstrah-
lung freie Elektronen abgespalten werden. Die
Menge der freiwerdenden Elektronen ist durch
die Intensität der ankommenden Strahlung, die
Geschwindigkeit der Elektronen durch die Fre-
quenz der Strahlung bestimmt. Die Energie eines
Lichtquants wird beim lichtelektrischen Effekt zum
Ablösen eines Elektrons aus dem Verband eines
Atoms und zur Bescheunigung des Elektrons ver-
braucht. Enthält nun ein Lichtstrahl bestimmter
Frequenz halbierte Lichtquanten, so müßte sich
dies an der Geschwindigkeitsverteilung der Elek-
tronen und an der abgespaltenen Gesamtelektronen-
menge auf das deutlichste zeigen. Da ein halbes
Lichtquant nur die halbe Energie besitzt, so müßte
die Geschwindigkeitsverteilung der Elektronen die
gleiche wie bei Verdopplung der Wellenlänge
sein; die Elektronenmenge müßte außerordentlich
stark abnehmen.
C. Ramsauer') untersuchte experimentell
die Abhängigkeit der Geschwindigkeitsverteilung
der Elektronen von der Unterteilung der Licht-
quanten. Zu diesem Zweck wurde das Licht
einer Quecksilberquarzlampe auf die Außenfläche
eines Quarzprismas als Polarisationsspiegel geleitet
und zwar unter einem Einfallswinkel von 58 ",
einer Wellenlänge von 250/<,(i entsprechend. Das
polarisierte Licht ging dann durch ein natürliches
Kalkspatstück und der ordentliche Strahl o fiel
durch die Quarzplatte Q auf den Zinkstreifen Z.
Die hier ausgelösten Elektronen bestimmter Ge-
schwindigkeit werden durch das bestimmte IMagnet-
feld eines hier nicht gezeichneten Spulensystems
auf der durch Blenden festgelegten Kreisbahn k
in den Auffangekäfig A geleitet, welcher mit einem
Elektrometer in Verbindung stand. Die gezeich-
nete lichtelektrische Anordnung befand sich in
einem Hochvakuum röhr, das durch eine Diffusions-
pumpe und flüssige Kohlensäurekühlung evakuiert
wurde.
Es ergab sich, daß die Geschwindigkeitsvertei-
') Ann. d. Phys. Bd. 64, S. 750— 75S (1921).
lung der Elektronen auch bei Unterteilung der
Lichtquanten auf V2 und '/i genau die gleiche
bleibt. Die absoluten Mengen der maximal ver-
tretenen Geschwindigkeiten und damit die ihnen
proportionalen absoluten Mengen aller senkrecht
zu Z ausgesandten Elektronen entsprechen der
Lichtstärke.
Um schließlich auch bei weitgehendster Unter-
teilung der Lichtquanten die Abhängigkeit der
Elektronenmengen zu prüfen, wurde bei etwas
geänderter Versuchsanordnung an Stelle des Zink-
streifens Z eine Kaliumnatriumzelle verwendet.
Auch mit dem schwächsten kontinuierlichen weißen
Licht einer Glühfadenlampe wurden Versuche an-
gestellt. Die Unterteilung der Lichtquanten ge-
schah bis auf rund '/so bis Viooo- Aber selbst
bei weitgehendster Unterteilung der Lichtquanten
waren die lichtelektrisch ausgelösten Elektronen-
mengen einfach der Gesamtenergie des Licht-
strahls proportional. Ramsauer zieht daher die
Folgerung: „Das Atom summiert die Energien der
in seinen Wirkungsbereich kommenden Lichtwellen
bis zu dem Betrage des der Schwingungszahl ent-
sprechenden Quants, einerlei, ob das aus dem
emittierenden Atom stammende Lichtquant als
Ganzes ankommt oder ob nacheinander eine ent-
sprechende Anzahl kleinster Quantenbruchteile
eintreffen." Es scheint also nicht die ankommende
Lichtenergie quantenhaft gegliedert zu sein, son-
dern es scheint beim lichtelektrischen Effekt nur
der das Licht aufnehmende Atommechanismus
quantenhaft zu arbeiten.
Sieht man von allen hypothetischen Vorstel-
lungen ab, so hat Ramsau er durch seine wich-
tige Arbeit den experimentellen Nachweis erbracht,
daß der lichtelektrische Effekt eines Strahles durch
die zweimalige Passierung eines Polarisators nicht
geändert wird. Karl Kuhn.
Yoni Elefanten des Kaokofeldes.
Der eigentliche Bewohner des Kaokofeld-
Geländes in Deutsch Südwest- Afrika, der Ele-
fant, zeigt, wie Hauptmann Steinhardt, der
Verfasser des eine wertvolle Anreicherung der
wissenschaftlichen biologischen nnd Fortpflanzungs-
literatur bildende, im letzten Winter im Alster-
Verlag in Hamburg erschienene Werk : „Vom wehr-
haften Riesen", im Naturwissenschaftlichen Verein
in Hamburg ausführte, körperlich wesentliche Ab-
weichungen von den bisher bekannten Elefanten In-
diens, des Kaplandes und des übrigen Afrikas, so daß
er als besondere Art angesprochen werden
muß. Besonders auffallend ist die riesige Größe,
4V2 m Schulterhöhe durchschnittlich, und die
Form des Ohrs. Es fehlt dem Ohr der untere
spitze Ausläufer, wenigstens ist diese Spitze so
wenig ausgebildet, daß das Ohr als Ganzes „kreis-
rund" erscheint. Bemerkenswert ist ferner die
Elastizität der Fußsohle. Sie wirft sich in den-
selben Schwielen und platzt, wenn man so sagen
darf, im selben Muster auf wie die Fußhaut des
N. F. XX. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
613
Kaoi<oeingebornen. Wenn man also, durch das
Gelände bedingt, nur einen kleinen Ausschnitt
eines Fußabdruckes findet, dann ist der Jäger
nicht in der Lage, mit Sicherheit zu behaupten,
ob dieser Abdruck von dem Fuße eines Einge-
bornen oder von der Säule eines gewaltigen Ele-
fanten stammt. Durch die herrschenden Lebens-
verhältnisse bedingte Übereinstimmung mag es
weiter sein, wenn die nach verdauter Mahlzeit
erschlaffende Bauchhaut des Buschmannes sich im
selben Muster faltet wie die Bauchhaut eines in
seinem Futterzustande aus irgendwelchen Gründen
zurückgegangenen Elefanten. Das Zusammen-
leben der Elefanten in Herden und Rudeln ist
lockerer zur Regenzeit, enger während der Trocken-
periode und bietet keine Veranlassung zu einer
Inzucht, wie dies vom indischen Elefanten be-
hauptet wird. Sonst würde der Elefant des
Kaokofeldes wohl längst ausgestorben sein. Wer-
fung und Aufzucht des Kalbes findet von der
Kuh zunächst abgesondert von der Herde statt;
nur ganz ausnahmsweise trifft man einmal auf
eine Familie, bestehend aus Kuh, Bullen und bis
zu 3 Kälbern, deren Größenunterschiede es wahr-
scheinlich machen, daß sie von derselben Mutter
stammen. Vortragender selbst hatte in mehr denn
7jährigem Beobachterleben solche Familien nur
drei oder viermal gesehen, davon eine durch
5 Jahre in derselben Gegend immer wieder ange-
troffen. Unverträglich ist das Verhältnis des Ele-
fanten zum Löwen und scheu meidet letzterer die
Standreviere des Elefanten, deren inselartige Ver-
teilung über das Feld ohne ersichtlichen Grund
eigenartig sind. Jahraus, jahrein sind die Dick-
häuter an einer Wasserstelle regelmäßig anzu-
treffen, an einer aber nur 30 km davon entfernten
doch niemals, obwohl Äsungsverhältnisse und der
ganze Landschaftscharakter an beiden Wasserstellen
die durchaus gleichen sind. Fremd ist das Ver-
hältnis des Elefanten zum Nashorn, das wohl die
Standreviere, doch nur ganz ausnahmsweise die
Wasserstellen des Elefanten teilt. Elefant, Nashorn
und Zebra sind im Kaokofeld reine Bergtiere,
deren Wechsel zu begehen oft Schwindelfreiheit
voraussetzt. Gelegenheit zu besonders eingehen-
der Beobachtung gestattet die Eigenart des Ge-
ländes mit den Wasserstellen, wo Vortragender
sich in oft buchstäblich handgreiflicher Nähe von
Herden sämtlicher Wildarten aufhalten konnte,
ausgenommen derjenigen Wildart, die, wie z. B.
die Giraffe, vom Wasser absolut unabhängig sind.
Hier wurde gesehen, daß die Waffe des Elefanten
nur der Rüssel, nicht aber der Zahn ist. Der
Stoßzahn dient einzig und allein zum Graben nach
Wurzelwerk und zwar scheint es, daß abwechselnd
der eine Zahn vermehrt als Arbeitszahn gebraucht
und bei dessen erheblicher Abnutzung erst mit
dem anderen Zahn gewechselt wird. — Die Nah-
rung besteht in der Hauptsache aus Baumblättern,
Baumrinden und Wurzelwerk, Gräser und Schilf
werden nur ganz gelegentlich aufgenommen. —
Ist im Verhalten der Tiere Gutmütigkeit im all-
gemeinen auch zu vermerken, so sind sie nichts-
destoweniger im gereizten Zustande gefährlich,
ihrer Stärke sich anscheinend bewußt. Der Ge-
sichtssinn ist nicht besonders ausgebildet, desto
ausgeprägter ist der Elefant ein Nasentier. Er
muß bei Witterung als sehr vorsichtiges Wild
angesprochen werden, wenn auch vertraut eine
Elefantenherde auf der Wanderung einen recht
erheblichen Lärm macht. — Die Ausführungen
waren durch gute Lichtbilder vorteilhaft unter-
stützt. Seitens der Engländer war der Vortragende
des reichen, vorzüglichen und in langjähriger
mühevoller Arbeit in den Tropen erworbenen
Materials fast ganz beraubt worden und, wie er
zu konstatieren vor kurzem Gelegenheit hatte,
bringen englische wissenschaftliche Werke jetzt
schamlos dieses Material unter Verschweigung des
deutschen F'orschernamens und des Umstandes,
der sie in den Besitz dieses Materials gelangen
ließ, mit der Bezeichnung eines Engländers als
Autor. Petersen.
Pliiriglandnläi'e Yerjüngung.
Daß als Ursache des Alterns nicht nur die
Atrophie der Pubertätsdrüse, sondern auch die
Veränderung anderer Blutdrüsen in Frage kommt,
sucht E. Leschke in seinem Vortrag über „die
Wechselwirkungen der Blutdrüsen bei der Base-
dow sehen Krankheit, dem Diabetes mellitus und
dem Verjüngungsproblem" ^) zu erweisen. Er
erinnert an die Wechselbeziehungen zwischen
Nebennieren und Keimdrüsen und weist vor allem
auf das vorzeitige Altern, das durch Hypoplasie
der Nebennierenrinde hervorgerufen wird, hin.
Auch das frühzeitige Altern bei Atrophie des
Hypophysenvorderlappens spricht gegen eine
Überschätzung der Beziehungen zwischen Puber-
tätsdrüse und Alterserscheinungen. Dem ent-
sprechend versucht Leschke bei der Altersbe-
kämpfung nicht nur die Inkretion des Interstitiums
der Keimdrüsen, sondern auch die der Hypophyse
und der Nebennieren anzuregen. Er wendet da-
bei neben der Vasektomie der Hoden eine Reiz-
bestrahlung der genannten Blutdrüsen, wenn mög-
lich Organtransplantation an. Von einer solchen
„pluriglandulären Verjüngung" (besser Altersbe-
kämpfung) sind jedenfalls weitreichendere Erfolge
zu erhoffen, als sie bei einfacher „Neubelebung
der alternden Pubertätsdrüse" möglich sein wer-
den. Übrigens zweifelt auch Leschke nicht an
der inkretorischen Bedeutung der Zwischenzellen
der Keimdrüsen, steht also auf dem Boden der
St ei nach sehen Pubertätsdrüsenlehre. Er betont
aber die ausschlaggebende Rolle der Korrelationen
zwischen den Blutdrüsen, unter denen die Keim-
drüsen nach seiner Ansicht beim Menschen keine
beherrschende Stelle einzunehmen brauchen,
während sie z. B. bei Ratten, an denen Steinach
experimentiert, eine solche einzunehmen scheinen.
Gustav Zeuner.
') Wiener Medizinische Wochenschrift, 71. Jahrgang,
Nr. I, 1921.
6i4
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 42
Bücherbesprechungen.
(Strasburger), Lehrbuch der Botanik für
Hochschulen. 15. Aufl., bearbeitet von H.
Fitting, L. Jost, H.Schenck, G.Karsten.
8". 701 S. mit 849 z. T. farbigen Abbildungen.
Jena 192 1, G. Fischer. Brosch. 44 M., geb. 55 M.
Küster, E., Lehrbuch der Botanik für
Mediziner. 8". 420 S. mit 280 schwarzen
und farbigen Abbildungen. Leipzig 1920, F. C.
W. Vogel. Brosch. 85 M.
Giesenhagen, K., Lehrbuch der Botanik.
8. Aufl. 8". 447 S. mit 560 Abbildungen.
Leipzig 1920, B. G. Teubner. Brosch. 39,60 M.,
geb. 44 IVI.
Miehe, H., Taschenbuch der Botanik.
2. Aufl., 2 Teile (Dr. W. Klinkhardts Kolleg-
hefte 3 und 4). 8". 167 und 76 S. mit 298
und 114 Abbildungen. Leipzig 1919/20, Werner
Klinkhardt. Kart. 8 M. für Teil I und 9 M.
für Teil IL
Trunkel, H., Repetitorium der Pflanzen-
kunde. 5. Aufl. Kl. 8". 116 S. Leipzig, Joh.
Ambros. Barth. Brosch. 15 M., geb. 17,50 M.
Gerke, O., Kurzes Lehrbuch der Pflanzen-
kunde. 8°. 230 S. mit 40 Abbildungen. Han-
nover 1920, M. u. H. Schaper. Brosch. 23,80 M.
Wiesner, J., Anatomie und Physiologie
der Pflanzen (Elemente der wissenschaft-
lichen Botanik I). 6. Aufl. bearbeitet von K.
Linsbauer. 8". 412 S. mit 303 Abbildungen.
Wien und Leipzig 1920, Alfr. Holder. Brosch.
24 M.
Je höher die Preise auch der gangbaren Lehr-
bücher heute werden, um so ernsthafter wird der
Studierende, der Lehrer oder Naturfreund sich be-
mühen, gerade das für seine Absichten und Vor-
bildung geeignete Lehrbuch zu erwerben; daher
dürfte ein Vergleich einer Reihe von neu er-
schienenen Lehrbüchern der Botanik willkommen
sein. Sind auch nur wenige von vornherein auf
einen bestimmten Kreis in Umfang und Aus-
führung zugeschnitten, so tragen doch die länger
bekannten ein gewisses Gepräge, das immer selbst-
verständlicher beachtet sein will. Das von Stras-
burger und seinen drei Mitarbeitern 1894 be-
gründete Bonner Viermännerbuch hat unter
dem neuen Herausgeberkreis, in dem nur noch
H. Schenck seit Anfang wirkt, nunmehr die
hohe Ziffer der 15. Aufl. erreicht. Wenn die Zu-
nahme des wichtig erscheinenden StoiTes längst
den Umfang des Anfangs erheblich vergrößerte,
so ist doch durch das gelegentliche Umarbeiten
auch ab und an eine Kürzung möglich geworden.
Die wenig sichtbare, aber schwere Arbeit des
Streichens verhältnismäßig weniger wichtig Ge-
wordenen kennzeichnet oft am besten den Fort-
schritt des Buches, das heute für den Studierenden,
wie den Lehrer aller Anstalten das erste Nach-
schlagebuch ist und bleibt. Trotz des Umfangs
hat das Werk auch zum ersten Studium seine
Eignung behalten, da es vermittels verschiedenen
Druckes Hauptsachen abschnittweise heraushebt
und das für den Fortgeschrittenen Bestimmte
zurückschiebt. Daneben bietet es aber als einziges
der gebräuchlicheren Lehrbücher auch einen An-
hang mit der grundlegenden und der neuesten
Sonderliteratur, deren Kenntnis leider durch die
steigende Zahl und Güte der Lehrbücher sonst
Studierenden nicht so nahe gelegt wird, wie es
sein sollte. Die Schreibweise ist in allen vier
Teilen des Buches erstaunlich ausgeglichen und
ungeachtet der Menge der Einzelheiten nicht er-
müdend zusammengedrängt. Lange pädagogische
Erfahrung vermag allein dies Ergebnis zu zeitigen.
Zur näheren Übersicht sei bemerkt, daß der
Morphologie (von H. Fitting) eine die Gebiete
und Begriffe bestimmende Einleitung mit der
Aussprache über „Tier und Pflanze" vorangeht;
dieser Teil schHeßt auch die Anatomie ein. In
der Zellenlehre sind manche Veränderungen durch
schärfere Fassung, wie sie die Fortschritte des
Gebietes mit sich bringen, Zusätze physiologisch-
chemischer Art u. a. als Kennzeichen der neuen
Auflage zu nennen. - — Die Physiologie (von L.Jost)
enthält auch die Vererbungslehre; die Abschnitte
Stoffwechsel, Entwicklung und Bewegungen wer-
den sehr glücklich durch den Schluß „Rückblick
auf die Reizerscheinungen" ergänzt, der in seiner
Wissenschaftlichkeit doch geeignet sein wird, vor
Irrwegen journalistischer Literatur zu warnen, wie
das heutzutage in den beschreibenden Natur-
wissenschaften nottut. — Im systematischen Teil
(etwa der Hälfte des Buches) werden von
H. Schenck die Thallophyten, Bryophyten und
Pteridophyten, von G. Karsten die Spermato-
phyten behandelt. Auch hier ist immer noch
Neues vorteilhaft nachgetragen, von jeher ja darin
viel Allgemeines enthalten gewesen. (Hier erhebt
sich die Frage, wie weit der Wunsch nach Be-
schneidung bzw. Verbilligung des Werkes wenig-
stens bei den eigentlich systematischen Angaben
auf vollständige Sätze zu verzichten gestattete?)
Für den Gebrauch das Buches ist natürlich zu
bemerken, daß jeder werdende oder fertige
Lehrer, der sich seiner bedient, daneben eine
„Flora" nicht entbehren kann! Aber eben des-
halb lassen sich vielleicht manche Stellen, auch
über einheimische Blütenpflanzen kürzen. — Uns
darf heute besonders freuen, daß das deutsche
Viermännerbuch auch in anderen Ländern
seinesgleichen, an Zweckmäßigkeit für sehr ver-
schiedene Kreise und Stufen zugleich, nicht
hatl —
An Umfang kommt dem vorhergehenden das
Küster sehe Lehrbuch von den oben genannten
am nächsten, unterscheidet sich aber zunächst
durch seine besondere Bestimmung für Mediziner.
Der Verf. greift damit die in jüngster Zeit viel
behandelte Frage auf, ob der Mediziner von der
Botanik oder wenigstens einem wesentlichen Teil
davon entlastet und ihm als Ersatz vielleicht nur
N. F. XX. Nr. 42
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
615
eine allgemeine Biologie geboten werden soll. Er
spricht durch sein Buch sich für den von den
meisten Botanikern wohl geteilten entgegenge-
setzten Standpunkt aus, greift aber zugleich tätig
in den Kampf für Erhaltung des Faches in richtiger
Bewertung ein, indem er den Gegenstand, mehr
als bisher geschehen, den IVIedizinern mit ihrer
besonderen Einstellung gegenüber den Fragen
darzustellen bemüht ist. Man darf sagen, daß er
sich damit ein großes Verdienst erworben, zu-
gleich aber auch neue Gedankenverbindungen
und Tatsachenfolgen aus dem Gebiet der allge-
meinen Botanik einem größeren Kreis so an-
ziehend und förderlich vorgeführt hat, daß ihm
auch die engeren Fachgenossen für Anregung und
Belehrung dankbar sein können. Eine kurze Über-
sicht zeigt am besten, daß die bekanntermaßen
dem Mediziner liegenden Teilgebiete und Fragen
getroffen sein dürften: In der Einleitung über
„Tier und Pflanze" ist mehr als sonst auf das
Tier hingewiesen, wie im Buch auch anderwärts
der Vergleich natürlich stark hervortritt; eine
Darlegung des Begriffs „angewandte Botanik"
wendet sich offen an den zu gewinnenden Leser.
(Es ist interessant, daß auf dem Vergleichsmoment
„Protoplasma" für Tier und Pflanze hier weniger
Wert liegt 1) Die Morphologie trennt überraschend
Thallophyten und Kormophyten scharf: dadurch
wird ein Grundstein der Systematik vielleicht ab-
sichtlich schon vor dem speziellen Teil gelegt,
der pädagogisch mehr Schwierigkeit als anderes
bietet. Die Anatomie kann ziemlich kurz ausfallen
(24 S.). Dann aber folgen statt des sonst wohl „Physio-
logie" genannten Stoffes drei Kapitel : Physiologie
(Bewegung des Wassers usw. in der Zelle, Baustoff-
wechsel, Leitung, Betriebsstoffwechsel, Wachstum,
Bewegung, Vermehrung undVererbung) auf 50 Seiten,'
Pflanzenchemie mit 30 Seiten, Pathologie mit 35
Seiten. Die letzteren beiden Abschnitte dürften
zum erstenmal lehrbuchhaft dargestellt worden
sein. Daß sie für den Mediziner das, was er darin
sucht, besser als in anderen Teilen höchstens ein-
gestreuten Notizen bieten, ist klar. Es lag doch
gerade für diese inhaltsreichen Gebiete soviel ganz
allgemein in die Lehrbücher noch nicht so recht
eingegangenen Stoffes vor (so für die Pathologie
das weit mehr als Daten, vielmehr originelle Ge-
dankengänge bietende Buch Küsters selbst), daß
init diesem Schritt geradezu unter den Medi-
zinern der Boden auch für eigene Beobachtung,
für Vergleich und Kritik der botanischen Daten
erstmalig bereitet sein wird. Der pflanzenchemi-
sche Teil dient im Vergleich hiermit mehr auch
Niederschlagszwecken. (Bei diesen beiden für den
engeren Benutzerkreis so wesentlichen Abschnitten
ist vielleicht der Verzicht auf Literatur, wenigstens
Handbücher oder neueste Angaben bedauerlich.)
Wie der systematische Teil (160 Seiten 1) erkennen
laßt, hält der Verf. auch an diesem Gebiet für
den Mediziner noch fest, das andere Fachgenossen
sonst eher preiszugeben geneigt sind. Er hat es
indessen auch hier vermocht, durch sehr geschickte
und keineswegs trockne Hervorhebung nicht allein
der Arzneipflanzen, sondern auch der für das
„Lebensmittelgewerbe" und die Technik wertvollen
Gegenstände zum mindesten das Nachschlagen,
wenn nicht gründliches Durchstudieren anregend
und nutzbringend zu gestalten. — So ist das
ganze Buch eine interessante Erscheinung, an der
die Diskussion betreffs der Änderung im Studium
der Mediziner nicht vorübergehen kann. Übrigens
sind auch von den meist gut gelungenen Abbil-
dungen viele sehr originell und erfrischend; es
bleibe dahingestellt, ob die Ausführung eines
Teiles in Farben unentbehrlich war und nicht
vielleicht nur den Preis bedauerlich erhöhte.
Es darf angenommen werden, daß das in der
8. Auflage vorliegende knappere Lehrbuch von
Giesenhagen gleichfalls am meisten von Me-
dizinern und Pharmazeuten benutzt wird. Es hält
sich wie früher im Rahmen des Viermännerbuches,
hinter dem es aber an Menge des Stoffes natur-
gemäß zurücksteht. Seine Darstellung ist allge-
mein etwas breiter, eine Trennung des wesent-
lichsten Stoffes vom spezielleren auch hier noch
durch Druckunterschied versucht. Morphologie
und Anatomie treten mit ihrem Umfang gegen-
über der Physiologie verhältnismäßig hervor (die
beiden ersten 140, die Physiologie iio Seiten),
der speziellen Botanik gelten 170 Seiten. Die
leicht faßliche, auf wissenschaftliche Hinweise und
AJDschweifungen verzichtende Art des Lehrbuches
hält ihm wohl seinen ausgesprochenen Kreis.
Zugleich liegt von dem pädagogisch abweichen-
den und in besonderer Hinsicht zu beachtenden
Mi eh eschen Taschenbuch eine zweite Auflage
vor. Die Aufmachung des Buches, die das Er-
gänzen durch Notizen aus den zwei botanischen
Hauptvorlesungen ermöglichen soll und die das
Kollegheft in gewissem Grade auszuschalten strebt,
macht — als bekanntermaßen wertvolle Gedächtnis-
hilfe — die Eintragung von Zusätzen nach eigenem
Hören, Sehen und Geschmack möglich. Außer-
dem dient das Buch auch für das Praktikum, bei
dem ohne sehr sorgfältige Anleitung vielfach sonst
kein einwandfreier in der Tasche heimzutragender
Besitz zu entstehen pflegt, eine Gefahr, die das
Taschenbuch überwinden hilft. Der Knappheit
des Ganzen entsprechend ist der Text hier kürzer
im Ausdruck, paragraphenweise, auch mit Ergän-
zung durch die Abbildungsnoten, gefaßt. So
bietet er sicher ein gutes Hilfsmittel zur Examens-
vorbereitung. Ihn zu mehr zumachen, ist eben
die Aufgabe des Benutzers! In diesem Sinne
wird das Buch, besonders auch der spezielle (und
natürlich zunächst trocknere) Teil den Lehrern
bei den Übungen, den Medizinern, Pharmazeuten,
Landwirten usw. als Repetitorium weiter dienen.
Das der Br ei tenst einschen Sammlung von
Repetitorien angehörige Büchlein von Trunkel
scheint, wie das Erscheinen der 5. Auflage zeigt,
seinen Weg zu finden. Die akademischen Lehrer
werden dieser Tatsache (besonders auch ange-
sichts des hohen Preises!) kopfschüttelnd gegen-
6i6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 42
überstehen. Wer imstande ist, diese bescheidene
Datenmenge in ihrer nicht einmal sich einhäm-
mernden Fassung ohne Abbildungen zu anderem
Zweck als dem einer Examensstunde sich gerade
hieraus anzueignen, besitzt wohl meist auch ein
brauchbares Kollegheft oder wäre mit größerem
Nutzen imstande, ein anderes wirkliches Lehrbuch
durchzuarbeiten.
Das kurze Lehrbuch von Gerke, wie der
Verf. sich äußert für Realschüler bestimmt und
daher mit deutschen Fachausdrücken arbeitend,
ist in der Auswahl des Stoffes weniger unge-
schickt als in der Darstellung, die oft das Ver-
ständnis erschwert. Die Entfernung entbehrlicher
Fremdworte (oder ihre ausdrückliche Erklärung)
wäre so übel nicht und gewissen Kreisen Studie-
render (Tierärzte) angepaßt, aber mit der Ein-
führung des Gebrauchs von Worten wie „Ver-
ähnlichen" und „Verähnlichung" (= Assimilation)
ist der deutschen Sprache kein Gefallen getan.
Ein abgeschlossenes Teilgebiet der Botanik
behandelt endlich die von K. Linsbauer über-
nommene 6. Auflage der Wiesn ersehen Ana-
tomie und Physiologie der Pflanzen. Das Buch
hat in vielen Einzelheiten besondere Art und ist
mehr als die reichsdeutschen Lehrbücher als fort-
laufender Lesestoff für den Studierenden zu be-
zeichnen. Wiesners gewandte Art zu schreiben
ist dem Werk erhalten, manche ursprüngliche
Gruppierung des Stoffes ist (z. B. in der Physio-
logie) stets anziehend; es ist ein Buch wie ein
(guter) Vortrag, aus einem Guß. Die Nach-
tragungen sind vielfach (schon durch die sonst
nicht übliche) Namenangabe der Forscher wohl
als solche zu erraten, auf die Dauer wird es nicht
leicht sein, den einheitlichen Charakter des Buches
zu erhalten. Pädagogisch ist es sehr zu beachten
und ein Vergleich mit anderen wird stets inter-
essieren. Bei der Umgrenzung des Stoffes darf
nicht vergessen werden, daß neben diesem Band
aus Wiesners Feder eine besondere „Biologie
der Pflanzen" besteht. Literaturangaben sind ähn-
lich wie im Viermännerbuch angeschlossen.
Fr. Tobler.
Bütschli, Otto, Vorlesungen über Ver-
gleichende Anatomie. 3. Lief.: Sinnes-
organe und Leuchtorgane. 8". XIV u. 302 S.,
321 Textabbildungen. Berlin 192 1, Julius
Springer. 48 IVI.
Allen Freunden der Bütschlischen „Ver-
gleichenden Anatomie" — und welcher Zoologe
oder vergleichende Anatom würde zu denen nicht
gehören — wird es eine große Freude sein, daß
dieses Werk kein Torso bleibt. Ja aus dem Vor-
wort der vorliegenden neuen Lieferung erfahren
wir, daß Bütschli selber die Handschrift aller
noch fehlenden Abschnitte, ausgenommen Ex-
kretions- und Fortpflanzungsorgane, hinterlassen
hat und unter dem langsamen Fortschreiten des
Druckes schwer litt. Nach seinem Tode leiten
F. Blochmann und Clara Hamburger die
weitere Herausgabe des Werkes, dessen erster
Band nunmehr vollendet ist. Der zweite und
letzte mit dem in Aussicht gestellten ausführ-
lichen Sachregister wird mit nicht geringerer
Freude begrüßt werden. Soll in dieser Anzeige
auf den Inhalt der neuen Lieferung eingegangen
werden? IVIan wird von vornherein gewiß sein,
daß eine so ausführliche und gleichmäßige sorg-
fältige Bearbeitung des Gebiets vorliegt, wie wir
sie bisher noch nicht hatten. Das ist, was die
Leuchtorgane betrifft, vielleicht schon insofern fast
selbstverständlich, als diese in neuerer Zeit mehr
als früher untersuchten Organe bisher in fast
allen einschlägigen Lehr- und Handbüchern zu
kurz kamen; aber auch für die Sinnesorgane gilt
Obiges.
Die Worte „inverse" und „konverse Augen"
statt „invertierte" und „vertierte" dürften allgemein
angenommen werden.
Dem ausgezeichneten Text entsprechen an
Güte wie früher die zahlreichen, mit gleicher
Sorgfalt meist neu gezeichneten, sehr anschaulich
gehaltenen Abbildungen.
Nun werden also noch viele Generationen nicht
nur von Forschern, sondern auch von Studierenden
den Hauch von Bütschlis scharfem Geist ver-
spüren und die beste Schule der eindringenden
wissenschaftlichen Vertiefung genießen, die ein
zoologisches Lehrbuch zu bieten vermag.
V. Franz, Jena.
Literatur.
Sammlung Vieweg. Tagesfragen aus den Gebieten der
Naturwissenschaften und der Technik.
Heft 58: Walther Gerlach, Die experimentellen
Grundlagen der Quantentheorie. Braunschweig '21.
12 M.
Vorzeit. Nachweise und Zusammenfassungen aus dem
Arbeitsgebiete der Vorgeschichtsforschung. Bd. I. Jörg
Lechler, Vom Hakenkreuz. Leipzig '21, Verlag Curt Ka-
bitzsch. Brosch. 14 M,, geb. 20 M.
Küster, Ernst, Kultur der Mikroorganismen. Leipzig-
Berlin '21, B. G. Teubner. Brosch. 21 M, geb. 24 M.
Inhalt: A. Herfs, Die Haut der Schnecken in ihrer Abhängigkeit von der Lebensweise. (5 Abb.) S. 601. — Einzel-
berichte: W. L. Bragg, Die Anordnung der Atome in Kristallen. S. 60S. Gregor Krause, Ethnologie der Balier.
S. 610. C. Ramsauer, Die lichteleklrische Wirkung unterteilter Lichtquanten, (i Abb.) S. 611. Steinhardt,
Vom Elefanten des Kaokofeldes. S. 612. E. Leschke, Pluriglanduläre Verjüngung. S. 613. — Bücherbesprechungen:
(Strasburger), Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. E. Küster, Lehrbuch der Botanik für Mediziner. K. Giesen-
hagen, Lehrbuch der Botanik. H. Mi ehe, Taschenbuch der Botanik. H. Trunkel, Repetitorium der Pflanzen-
kunde. O. Gerke, Kurzes Lehrbuch der Pflanzenkunde. J. Wiesner, Anatomie und Physiologie der Pflanzen.
S. 614. O. Bütschli, Vorlesungen über Vergleichende Anatomie. S. 616. — Literatur: Liste. S. 616.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Guitav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reibe 36. Band.
Sonntag, den 23. Oktober 1921.
Nummer 43>
Eine neue Untersuchung über die fremddienliche Zweckmäßigkeit/)
[Nachdruck verboten.]
Erich Becher hat den Begriff der fremd-
dienlichen Zweckmäßigkeit in die Wissenschaft
eingeführt. ^) Er unterscheidet selbstdienliche
Zweckmäßigkeit, die im Dienste des Organismus
steht, der sie aufweist; artdienliche Zweckmäßig-
keit, die nicht dem sie aufweisenden Individuum,
sondern seiner Art zugute kommt, und fremddien-
liche Zweckmäßigkeit, die nur einem fremden
Organismus zugute kommt und geradezu für ihn
eingerichtet und bestimmt zu sein scheint. Daß
solche fremddienliche Zweckmäßigkeit in der Na-
tur besteht, weist er an den Pflanzengallen nach.
Wenn E. Becher den bestimmt formulierten
Begriff der fremddienlichen Zweckmäßigkeit auch
erst aufgestellt hat, so hat doch schon Darwin
das Problem scharf ins Auge gefaßt. Er erklärte,
daß er, sobald ihm eine einzige Tatsache vor-
gelegt werde, die beweise, „daß eine adaptive
Einrichtung der einen Art zum ausschließlichen
Nutzen für eine andere Art diene", bereit sei,
unter ihrem Gewicht seine ganze Theorie aufzu-
geben (Darwin, Origin 6. ed. p. 253). In den
Pflanzengallen erblickte er aber eine solche Tat-
sache nicht. Er erwähnt sie unter den bestimmten
Variationen (der definite variability), ohne auf die
Schwierigkeiten, welche sich aus dieser Erschei-
nung für seine Theorie ergeben, näher einzugehen
(Darwin, Origin p. 9). Nach ihm sind die
Pflanzengallen ein Produkt eines von dem mütter-
lichen Organismus ausgeschiedenen chemischen
Stoffes. Auf darwinistischer Seite wurde diese Auf-
fassung im allgemeinen beibehalten. Die außer-
ordentlich zweckmäßige Form der Pflanzengallen
erklärte man durch die Annahme, daß die Natur-
züchtung immer die Insekten zu erhalten bestrebt
gewesen sei, deren Ausscheidung besonders ge-
eignet war, die Formen von Pflanzengallen zu er-
zeugen, welche der Ernährung und dem Schutz
der Insektenlarven am förderlichsten war. Übrigens
erkannte man bald, daß nicht die Ausscheidungen
des Muttertieres, sondern der Insektenlarven es
seien, die in der Regel als die Ursache der Bil-
dung von Pflanzengallen angesehen werden müßten,
da diese aufhört, wenn die Larve abstirbt.
Wichtiger war eine andere Tatsache, auf die
jetzt E. Becher in der genannten Schrift be-
sonders hingewiesen hat. Die chemischen Aus-
scheidungen der Larven können doch nur als
Auslösungen von Entwicklungsrichtungen wirken,
die im Protoplasma der Pflanzen vorhanden sind.
Nun kommen aber in den Gallen Bildungen zu-
stande, welche den betreffenden Pflanzen sonst
fremd sind und auch nicht durch ein „Durchein-
Von Hermann Kranichfeld.
anderschütteln" der verschiedenen in der Pflanze
vorhandenen Anlagen entstehen können. Es gibt
Gallen, die in ihrem Aufbau von allem, was der
normale Formenschatz der Wirtspflanze birgt, ab-
weichen. Dahin gehören z. B. die kunstreichen
Vorrichtungen zum Öffnen der Gallen bei den
Deckelgallen.
Es muß hier eine besondere Anlage im
Protoplasma vorhanden sein, welche ausgelöst
wird. Nach Miehe (Naturw. Wochenschr., 191 7,
S. 350 ff.) gehört diese Anlage jedoch ursprüng-
lich nicht dem Erbplasma der Pflanze an, sondern
dem Erbplasma des Insektes und wird dem Erb-
plasma der Pflanze erst sekundär durch die In-
sektenlarven in deren Ausscheidungen zugeführt.
Indem dieses Erbplasma des Insektes sich in das
Erbplasma der Pflanze „einbaut", wirkt es mit
ihm organisch fort, die weiteren Entwicklungs-
vorgänge der Pflanze im Dienste des Insektes mit
bestimmend und leitend. Es kann dann in thesi
das Selektionsprinzip auf die Entwicklung dieses
Protoplasmas, das dem Insekt angehört, ange-
wandt werden. Denkunmöglich ist eine solche
Annahme nicht. Ich glaube, daß man sie sogar
durch Analogien stützen könnte. Eine entfernte
Analogie wäre vielleicht schon in der Kreuzung
von zwei verschiedenen Arten oder Varietäten zu
finden, bei der zwei verschiedene Protoplasma-
arten sich so vereinigen, daß aus dieser Verbindung
eine neue zweckmäßige Form entsteht. Näher
liegt die Analogie mit der Symbiose der Flechten.
Die Algenzellen zwingen hier die Pilzfäden Formen
anzunehmen, die denen der chlorophyllhaltigen
höheren Pflanzen entsprechen. Es wird damit
eine von der Gestalt der betreffenden Askomy-
zeten wie der Algen durchaus abweichende Form
erzeugt. Hier treten nun nicht die Keimplasmen
verschiedener Arten miteinander in Verbindung,
sondern die somatischen Protoplasmen. Auch
eine eigentliche Verschmelzung der somatischen
Protoplasmen findet nicht statt, sondern nur eine
gegenseitige Beeinflussung, wie wir sie wohl in
gleicher Weise auch bei den Insekten und den
gallenbildenden Pflanzen annehmen müßten. Schließ-
lich ist auch die Wirkung bei der Symbiose der
Flechten und bei der Gallenbildung — abgesehen
davon, daß es sich bei den Flechten nicht um
fremddienliche Zweckmäßigkeit handelt — die
') E. Was mann, S. J., Die Gastpflege der Ameisen,
ihre biologischen und philosophischen Probleme. 1920. XVII
und 176 Seiten mit 2 Tafeln. 20 M.
-) Erich Becher, Die fremddienliche Zweckmäßigkeit
der Pflanzengallen. Leipzig 1917.
6i8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 43
gleiche. Die Zellen des Pilzes bilden Gewebe,
welche durch ihre Form die Ernährung und
Assimilation der in diese Gewebe eingeschlossenen
Algenzellen ermöglichen und ihnen zugleich Schutz
gegen die Unbilden der Umgebung, in welcher
die meisten Flechten leben, gewähren.
Obgleich so verschiedene Momente für die
Annahme Miehes geltend gemacht werden können,
bleibt sie, wie er selbst hervorhebt, eine Hypo-
these. Ein Nachweis, daß es sich so verhält, ist
nicht zu führen.
Zur Erklärung solcher Erscheinungen, die, wie
die Pflanzengallen, mit der bisherigen Auffassung
des ganzen Erscheinungskreises in Widerspruch
stehen, kann man einen doppelten Weg ein-
schlagen. Entweder sieht man die hergebrachte
Auffassung . als maßgebend an und sucht die in
der besonderen Erscheinung vorhandenen Wider-
sprüche mit ihr durch Hinzunahme von Hilfshypo-
thesen zu beseitigen oder man rückt die be-
sondere Erscheinung in den Vordergrund, sucht
sie in ihrer Eigentümlichkeit zu erfassen und mißt
an der so gewonnenen neuen Erkenntnis alle ähn-
lichen schon bekannten Erscheinungen.
Der zweite Weg bietet den Vorteil, daß man
eventuell für die Beurteilung der besonderen Er-
scheinung nachträglieh eine breitere Basis ge-
winnt, und im günstigen Fall auch zu neuen Ge-
sichtspunkten für den ganzen Erscheinungskreis
gelangen kann. Geht man auf ihm hinsichtlich
der Becher sehen fremddienlichen Zweckmäßig-
keit bei den Pflanzengallen vor, so ergibt sich
schon bei einem flüchtigen Überblick über die in
Betracht kommenden Tatsachen, daß wahrschein-
lich die fremddienliche Zweckmäßigkeit durchaus
nicht so isoliert dasteht, wie Becher selbst an-
nimmt.
Eine fremddienliche Zweckmäßigkeit dürfte
z. B. nach den Ergebnissen der neueren Unter-
suchungen auch bei der Symbiose von Ameisen
und Ameisenpflanzen vorliegen. Die Pflanzen be-
dürfen nach von Ihering der Ameisen sowenig
„wie ein Hund der Flöhe". Zu demselben nega-
tiven Resultat kamen Kronfeld undNieuwen-
huis. Nach letzterem „wächst mit der Menge
des produzierten Zuckers und der dadurch erhöhten
Anziehungskraft der Pflanzen auf allerhand Tiere
im allgemeinen auch der Schaden, den die Pflanze
von den Besuchern erleidet".
Fraglich kann es ferner sein, ob sich die gegen-
seitige Anpassung der Insekten und Blüten stets
im Dienst und zum Vorteil beider Komponenten
entwickelt hat, wie man bisher annahm. Man
kann bei den Pflanzen verschiedene Gruppen
unterscheiden je nach dem Grade, in welchem
ihre Nektarien den sie besuchenden Insekten zu-
gänglich sind. Während bei den Doldenpflanzen
die Nektarien ganz ofien liegen, so daß zu ihrer
Ausnutzung keine speziellen Anpassungen erforder-
lich sind und infolgedessen sich auf ihnen In-
sekten aller Art wie Blattwanzen, Netzflügler,
Ohrwürmchen usw. tummeln, sind bei anderen
Pflanzen die Nektarien mehr oder weniger ver-
steckt. Die Ausnützung derselben ist von der
Ausbildung eines Saugrüssels von entsprechender
Länge, von einer gewissen Schärfe der Sinnes-
werkzeuge und von bestimmten Instinkten ab-
hängig. Schon vom Besuch der Blüten der Weiden-
kätzcken, der Birn- und Apfelbäume, der Berbe-
ritze usw. sind manche Insekten ausgeschlossen,
da die Nektarien hier durch Schuppen oder Haare
verdeckt sind. Für einen noch weiteren Kreis
von Insekten gilt dies bei einer dritten Gruppe
von Blüten, bei welcher die Nektarien vollständig
verborgen und in die Tiefe des Kelches versenkt
sind, wie bei Storchschnabel, Weidenröschen,
Weiderich usw. Es sind 'dies die eigentlichen
Immenblüten. Endlich gibt es Blüten, die nur
von ganz bestimmten Insekten mit besonders
langen Saugrüsseln ausgenützt werden können
(vgl. Hesse-Do fl ein, Bau und Leben der Tiere,
2. Band).
Dient hier wirklich die sich von Stufe zu Stufe
steigernde Anpassung von Blüten und Insekten
dem Nutzen beider Teile? Die angepaßten In-
sekten haben zwar einen Vorteil davon, daß die
große Anzahl der nicht angepaßten Formen von
dem Genuß des Nektars der betrefiienden Blüten aus-
geschlossen ist. Aber was gewinnen die Blüten
von diesem Ausschluß? Es soll die Möglichkeit,
daß der Pollen fremder Arten auf die Blüten über-
tragen wird , verringert werden. Eine solche
negative Wirkung kann jedoch die gegenseitige
Anpassung im allgemeinen nicht haben. Die An-
zahl der Spezies, welche zu jeder Gruppe ge-
hören, ist viel zu groß, als daß jene Möglichkeit
durch sie wesentlich herabgesetzt werden würde,
selbst wenn die den höheren Gruppen angepaßten
Insekten sich auf den Besuch dieser beschränkten.
Die Bienen und Hummeln suchen aber den Nektar
der Doldenpflanzen, der Weidenkätzchen, Obst-
baumblüten usw. wie den der eigentlichen Im-
menblüten auf (vgl. H. Kranich feld. Zum
Farbensinn der Bienen. Beobachtungen in der
freien Natur. Biol. Zentralblatt, 1915). Doch
könnte man immerhin wenigstens für die Immen-
blüten einen Vorteil aus der Beschränkung der
Insektenbesuche konstruieren. Der Besuch der
Bienen ist für die Blüten wegen der sog. Konstanz
der Bienen von besonderer Bedeutung. Indem zahl-
reiche andere Insekten von dem Besuche der Immen-
blüten ausgeschlossen sind, bleiben die Nektarien
derselben nektarreicher und bilden stärkere An-
ziehungspunkte für die Bienen. Aber worin be-
steht dann der Nutzen für die Pflanzen bei der
höheren Stufe der Anpassung, welche auch die
Bienen vom Besuche der Blüten ausschließt? Hier
ist offenbar die Anpassung für die angepaßten
Blüten nicht von günstiger, sondern von nach-
teiliger Wirkung, da sie nicht nur den Besuch
der Insekten einschränkt, sondern gerade die
wichtigsten Blütenbestäuber ausschließt, ohne daß
ein ausgleichender Vorteil nachzuweisen wäre.
Denn die zugelassenen Insekten zeigen durchaus
N. F. XX. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
619
keine Konstanz. Eine Erklärung der Erscheinung
würde auch hier in der Annahme einer fremd-
dienlichen Zweckmäßigkeit liegen.
Ähnlich ist der Sachverhalt bei 3en Früchten,
welche wie die des Seidelbastes, der Tollkirsche,
des Nachtschattens Giftstoffe enthalten und da-
durch vor dem Verzehren durch die meisten Tiere
geschützt sind. Die auffallenden lockenden Farben
dieser Früchte weisen darauf hin, daß ihre Be-
stimmung ist, verzehrt zu werden. Tatsächlich
fressen auch die Grasmücken und Bachstelzen die
giftigen Früchte des Seidelbastes, die Drosseln
die Tollkirschen und die Beeren des Nachtschattens.
Sie sind gegen die Giftwirkung gefeit und haben
den Vorteil, daß ihnen der Genuß der Früchte
nicht durch die Konkurrenz anderer Vögel beein-
trächtigt wird, während auch hier für die Pflanzen
der Nachteil entsteht, daß der Besuch der Vögel
eingeschränkt ist. In diesem Falle kann freilich
das Vorhandensein einer fremddienlichen Zweck-
mäßigkeit doch zweifelhaft sein, da durch die
Giftstoffe auch ein Schutz gegen die Vögel, welche
die Samen beim Fressen vernichten, hergestellt
werden könnte.
Es ist überhaupt in den von mir hier ange-
führten Fällen die Frage, ob wir es bei ihnen
wirklich mit fremddienlicher Zweckmäßigkeit zu
tun haben, noch näher zu untersuchen. Es han-
delt sich da zunächst nur um Vermutungen, nicht
um sichere Feststellungen.
Aus diesem Grunde ist die neuerdings als
4. Heft der Abhandlungen zur theoretischen Bio-
logie von Julius Schaxel erschienene Arbeit
von E. Wasmann von besonderem Interesse.
Der Verf., der sich seit 35 Jahren speziell der
Erforschung der Gastpflege der Ameisen gewidmet
hat — die genannte Schrift ist der 234. Beitrag
zur Kenntnis der Myrmekophilie und der Termito-
philie — untersucht diese eingehend unter dem
Gesichtspunkt der Becherschen fremddienlichen
Zweckmäßigkeit. Es liegt ihm das um so näher,
als er verschiedene Erscheinungen der Gastpflege
der Ameisen schon früher von dem gleichen
Standpunkt aus beurteilt hat, wenn er auch da-
mals nicht die gleiche Bezeichnung für das be-
treffende Gastverhältnis gebrauchte.
Seit dem Auftreten der Ameisen- und Termiten-
kolonien im Eozän haben sich einige Tausend
neuer Arten von Insekten und anderen Arthropoden
dadurch gebildet, daß sie sich dem Zusammen-
leben mit den Kolonien von Ameisen und Ter-
miten anpaßten. Die Formen des Zusammen-
lebens und der Anpassung sind sehr verschieden.
Hier handelt es sich ausschließlich um die von
Wasmann als Symphilie bezeichnete Gastpflege
der Ameisen, bei welcher die Gäste von ihren
Wirten gastlich gepflegt werden und das Kostgeld
für die Pflege in einem Exsudat zahlen, das von
den Ameisen leidenschaftlich begehrt wird. Was-
mann erblickt in diesem Gastverhältnis eine
fremddienliche Zweckmäßigkeit, weil nur die
Gäste von ihm einen das Leben fördernden Nutzen
haben, während die Wirte sich mit dem Exsudat
begnügen müssen, das nach ihm nichts als ein
angenehmes Reizmittel (kein Nahrungsmittel) ist.
Im Mittelpunkt der Wasmann sehen Erörterun-
gen steht die Symphilie von Formica sanguinea
und Lomechusa strumosa, einem zur Kurzflügler-
gruppe gehörigen Käfer, weil sie die hier in
Frage stehenden Eigentümlichkeiten des Gast-
verhältnisses am deutlichsten zeigt, indem bei ihr
nicht nur die Gäste gepflegt werden, sondern von
den Ameisen auch die Pflege der Larven der
Gäste auf Kosten der Pflege der eigenen Brut
übernommen wird.
Wasmann muß jedoch, wenn er den Begriff
der fremddienlichen Zweckmäßigkeit auf dies Ver-
hältnis der Symphilie anwenden will, vor allem
zwei Punkte gegenüber Einwänden, die früher von
Escherich u. a., in neuester Zeit wieder von
W h e e 1 e r ') erhoben werden sind, feststellen, daß
nämlich erstens der Formica sanguinea tatsächlich
kein das Leben fördernder Nutzen aus dem Ver-
hältnis der Symphilie erwächst, und das zweitens
bei ihr selbst eine erbliche Anpassung an dasselbe
stattgefunden hat.
Beides wird von Wheeler bestritten. Nach
Wheeler findet ein eigentlicher Nahrungsaus-
tausch (Trophallaxis) auch bei der Symphilie statt.
Demgegenüber weist Wasmann mit Recht dar-
auf hin, daß das Exsudat, welches die Lomechusa
Str. der Formica sanguinea als Entgelt für die
Pflege gewährt, nicht als Nahrungsmittel angesehen
werden kann. Wenn auch die chemische Zu-
sammensetzung desselben noch nicht feststeht, so
ist doch, soweit sich seine Beschaffenheit bisher
beurteilen läßt, wahrscheinlich, daß es nur ein
einem ätherischen Öl entsprechender Stoff ist, der
durch die Poren der Exsudatorgane austretend sich
auf der Oberfläche derselben ausbreitet und da-
selbst verdunstet. Eine tropfenweise Absonderung
hat bisher, wie Wasmann hervorhebt, auch unter
der Lupe nicht festgestellt werden können. Nach
den beobachteten Wirkungen übt das Exsudat auf
den Geschmacksinn einen narkotischen Reiz, ähn-
lich wie der Genuß des Tabaks, des Opiums oder
des Alkohols bei uns Menschen aus. Das spricht
dafür, daß es sich bei dem Exudat um ein Genuß-,
nicht um ein Nahrungsmittel handelt. Übrigens
scheint mir dieser Punkt gar nicht die Bedeutung
zu haben, die ihm Wheeler und Wasmann
beimessen, da selbst dann, wenn man dem Exsudat
einen gewissen das Leben fördernden Nahrungs-
wert zuschreiben wollte, dieser Nutzen doch bei
der Symphilie von sanguinea und Lomechusa str.
weit durch den Schaden übertroffen werden würde,
welchen der Gast der Brut seines Wirtes zufügt.
Den zweiten Punkt, die Erblichkeit des Sym-
philieinstinktes, hat Wasmann schon 19 10 im
Biologischen Zentralblatt S. 97 ff. eingehend be-
') W. M. Wheeler, A study of some anl larvae , with
a consideralion on the origin and meaning of the social habit
among Insects. 1918.
620
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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handelt und gegenüber den Einwänden von
Escherich u. a. vertreten. Wheeler nimmt
die Diskussion wieder auf.
Daß die Gäste zahlreiche, tiefeinschneidende
erbliche Anpassungen zeigen, wird von keiner
Seite bestritten. Doch kommt diese Tatsache
ebenso wie die Frage, auf welche Weise die be-
treffenden Anpassungen entstanden sind, und ob
die von Wasmann angenommene Amikalselek-
tion dabei beteiligt war, hier nicht in Betracht.
Wir können darum auch auf sie nicht eingehen.
Für uns handelt es sich nur darum, ob auch die
Wirte eine erbliche Anpassung erfahren haben.
Denn nur dann kann von einer fremddienlichen
Zweckmäßigkeit gesprochen werden. Morpho-
logische Anpassungen zeigen nun die Wirte nicht,
wohl aber besitzen sie ganz bestimmte Instinkte,
die als Anpassungen an das Gastverhältnis aufge-
faßt werden müssen. Der besondere Instinkt der
Formica sanguinea besteht darin, daß sie die
Lomechusa strumosa füttert und sie bei einer
Störung des Nestes vor den eigenen Larven in
Sicherheit zu bringen sucht, daß sie ferner die
Larven der Lomechusa str. pflegt, füttert und
einbettet. Das letztere geschieht auf Kosten der
eigenen Larven der Formica sanguinea, die je
länger das Gastverhältnis dauert, um so mehr
vernachlässigt werden, was schließlich zur Dege-
neration der ganzen Kolonie führt. Es werden
nämlich statt der Weibchen und Arbeiterinnen
in den späteren Perioden des Gastverhältnisses
sog. Pseudogynen erzogen, krüppelhafte IVIisch-
formen von Weibchen und Arbeiterinnen, die
weder die Funktionen der Weibchen noch die der
Arbeiterinnen erfüllen können. Den größten
Schaden fügen die Lomechusalarven ihrem Wirte
überdies durch massenhaftes Auffressen der Eier
und jungen Larven desselben zu.
Instinkte und morphologische Bildungen können
an sich als äquivalent angesehen werden. Beide
gehen ineinander über und ersetzen sich gegen-
seitig. So folgt dem Instinkt des verfolgten Tieres,
sich ruhig zu verhalten, um sich nicht von der
Umgebung abzuheben, die Schutzfärbung und
dieser Färbung wieder der Instinkt, den Ort, wel-
chem die Schutzfärbung entspricht, aufzusuchen.
Bei den Dreieckskrabben der Gattungen Hyas,
Mala, Pisa usw. wird das Schutzkleid durch den
Instinkt ersetzt, mit ihren Scherenfüßen abgerissene
Stückchen von Algen und Hydroidpolypen auf
dem Rücken zu befestigen. Wodurch sich aber
der Instinkt wesentlich von den morphologischen
Anpassungen unterscheidet, ist die viel größere
Schwingungsbreite der individuellen Modifikationen.
Wheeler sieht nun ebenso , wie es schon
früher Escherich tat, die besondere Ausbildung
des Pflegeinstinktes bei Formica sanguinea gegen-
über der Lomechusa str. nur für eine individuelle
Modifikation des allgemeinen Pflege- und Adop-
tionsinstinktes an. Sie soll, durch eine krankhafte
Steigerung der Naschhaftigkeit der Ameisen ver-
anlaßt, pathologischer Natur sein und zwar, da
sie bei allen Gliedern einer Kolonie hervortritt,
die Bedeutung einer sozialen Krankheit der
Ameisenstaaten haben. So lassen sich, wie es
scheint, in einfachster Weise die Besonder-
heiten des Symphilieverhältnisses erklären. Ähn-
liche pathologische Erscheinungen haben wir ja
z. B. in der Opiumsucht der Chinesen oder der
Trunksucht der Graubündner. Doch spricht nach
Wasmann gegen die W h e e 1 e r sehe Auffassung
besonders ein Moment, das auch mir ausschlag-
gebend zu sein scheint. Der Symphilieinstinkt
ist nämlich hinsichtlich des Gegenstandes scharf
spezialisiert. Die Lomechusini umfassen die Gat-
tungen Lomechusa und Atemeies in Eurasien und
die Gattung Xenodusa in Nordamerika. Die zahl-
reichen Arten dieser Gattungen lassen alle ihre
Larven bei Arten der Gattung Formica erziehen.
Die Larvenwirte sind also stets Formica. Nach
der interessanten Tabelle, welche Wasmann
S. 47 ff. gibt, sind es aber, soweit die Verhältnisse
bis jetzt festgestellt sind, in der Regel für jede
Art der Lomechusini auch wieder ganz bestimmte
Arten und Rassen der Formica. So gehört z. B.
die Neigung zur Pflege und Zucht der Larven
der Atemeies paradoxus zum instinktiven Spezies-
charakter der Formica rufibarbis, die Pflege und
Zucht der Larven der Atemeies emarginatus zum
instinktiven Speziescharakter der Formica fusca.
Nur bei Formica sanguinea treffen wir ferner den
erblichen Instinkt zur Pflege der Lomechusa stru-
mosa und ihrer Larven an. Bei F. pratensis und
F. truncicola werden wohl noch die Käfer der
Lomechusa strumosa gepflegt, die Larven dagegen
aufgefressen. Andere Arten der Formica verhalten
sich aber auch den Käfern der Lomechusa stru-
mosa gegenüber feindselig. Dagegen nimmt eine
Kolonie der Formica sanguinea, auch wenn die
Arbeiterinnen derselben sicher noch nie die indi-
viduelle Bekanntschaft mit einer Lomechusa ge-
macht haben — wie die, welche von Wasmann
aus frisch aus dem Kokon gezogenen Arbeiterinnen
einer lomechusafreien Kolonie gebildet worden
war — , die Lomechusa strumosa von vornherein
freundUch auf, während sie die anderen Lomechusini-
arten feindselig abweist. Diese spezifisch einge-
schränkte Ausübung der Gastpflege gilt, soviel
wir bis jetzt wissen, für alle Formicaarten in dem
weiten sich über ganz Eurasien erstreckenden Ge-
biete ihrer Ausbreitung und sie reicht wahrschein-
lich, wie Wasmann zeigt, in die geologische
Vorzeit zurück.
Danach kann es sich bei der spezifischen Aus-
bildung des Pflegeinstinktes der Wirte der Lomechu-
sini nicht wohl um eine individuelle Modifikation
des allgemeinen Pflege- und Adoptionsinstinktes,
sondern nur um einen besonderen erblichen In-
stinkt handeln. Nach der jetzt herrschenden Auf-
fassung, wie sie besonders von W. Johannsen
begründet wurde, sind die Modifikationen der
erblichen Anlagen (die Phänotypen) stets das
Produkt von Anlage und äußeren Faktoren. Ist
es aber so, dann müssen sie sich notwendig mit
N. F. XX Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
621
dem Wechsel der äußeren Faktoren auch ändern.
Ein unter allem Wechsel der äußeren Umstände
und im Verlauf langer Zeiträume gleichbleibender
Instinkt kann daher keine individuelle Modifikation
einer erblichen Anlage sein, sondern ist selbst
erbliche Anlage.
Würde ein Chinese und ein Graubündner,
die Familien angehörten, deren Angehörige seit
vielen Generationen in Gegenden gelebt hätten,
wo man von Opium und Spirituosen nichts weiß,
wenn ihnen Opium und Spirituosen einmal ange-
boten würden, sofort der eine nach dem Opium,
der andere nach den Spirituosen greifen, und ge-
schähe dies nicht nur zufallig einmal bei einem
einzelnen Individuum, sondern in zahlreichen
Fällen und bei allen Chinesen und Graubündnern
immer in der gleichen Weise, so könnte man bei
ihnen auch nicht mehr von einer nur pathologischen
Neigung sprechen. Man müßte in solchem Falle
vielmehr einen besonderen nationalen erblichen
Instinkt voraussetzen. Tatsächlich verhält es sich
jedoch nicht so. Es ist darum der Vergleich des
Symphilieverhältnisses mit den Erscheinungen der
Trunksucht, der Opiumsucht usw. nicht zutreffend.
Das ergibt sich übrigens auch bei einer anderen
Betrachtungsweise. Nach W h e e 1 e r ist die
Naschhaftigkeit der Ameisen die Ursache des
Symphilieinstinktes, wie das Verlangen nach der
Anregung durch Spirituosen die Ursache des
Lasters der Trunksucht ist. Das Laster der Trunk-
sucht besteht nun darin, daß das Verlangen nach
der Anregung durch die Spirituosen bei einzelnen
Individuen so groß wird, daß sie ihm nicht mehr
widerstehen können. Zur Pflege der Larven im
Symphilieverhältnis kann es dagegen nur dann
kommen, wenn im Individuum neben der Nasch-
haftigkeit sich noch ein anderer Trieb geltend
macht, der die Naschhaftigkeit in Zaum hält, denn
sonst würden die Larven nicht aufgezogen, sondern
aufgefressen werden. Dieser Trieb ist der Sym-
philiepflegeinstinkt. Das Verlangen nach Spiri-
tuosen ist daher tatsächlich die Ursache des Lasters
der Trunksucht. Mit diesem haben wir es da zu
tun, wo jenes Verlangen übergroß geworden ist.
Anders verhält es sich aber mit der Naschhaftig-
keit. Sie ist nicht die Ursache, sondern nur die
Auslösung eines schon vorhandenen Instinktes,
des Symphiliepflegeinstinktes, der selbst stärker
ist als die Naschhaftigkeit.
Bei der Auslösung des Symphilieinstinktes
handelt es sich übrigens nach Wasmann nicht
nur um den einfachen Geschmacksreiz, sondern
um einen „psychischen Komplex". Die ganze
sinnliche Erscheinung des Gastes macht nach ihm
auf die Ameise „den Eindruck des erblich be-
kannten Angenehmen, schon bevor sie ihn
beleckt hat". Es steht eine solche Annahme zwar
im Widerspruch mit der Auffassung von D r i e s c h,
der nur „einfache" Reize als Instinktloser gelten
lassen will, doch scheinen mir für sie nicht nur
die beim Symphilieverhältnis beobachteten Tat-
sachen, sondern auch die Goltz sehen Versuche
mit den enthirnten Fröschen zu sprechen. Letztere
lassen den Unterschied zwischen Kettenreflex und
Instinkthandlung besonders scharf hervortreten und
zeigen deutlich, daß diese durch ein Gemeinge-
fühl ausgelöst wird. So funktionierte bei den des
Großgehirns beraubten Fröschen der Schlingreflex
noch tadellos, wenn dem Frosch die Fliege ins
Maul gesteckt wurde, dagegen haschte er nicht
mehr nach der Beute, auch wenn die Fliege ihm
übers Auge weglief, weil die Auslösung des ent-
sprechenden Instinktes durch das dem enthirnten
Frosch fehlende Hungergefühl nicht mehr erfolgte.
Gegen die Tatsache des Symphilieinstinktes kann
auch die Schwierigkeit einer Erklärung der Ent-
stehung desselben nicht geltend gemacht werden.
Die gleiche Schwierigkeit besteht hinsichtlich der
Instinkte der Bienenarbeiterinnen, und doch wird
niemand die Geltung des Grundsatzes: Contra
factum non valet illatio bei diesen bestreiten.
So kommt man mit Wasmann zu dem
Resultat, daß das Vorhandensein einer fremddien-
lichen Zweckmäßigkeit auch für das Symphilie-
verhältnis von Formica sanguinea und Lomechusa
strumosa angenommen werden muß.
Man hat es nun aber hier nicht nur mit einem
zweiten Beispiel der fremddienlichen Zweckmäßig-
keit zu tun, das bloß das bestätigte, was uns die
Beziehungen zwischen den gallenerzeugenden
Pflanzen und den sie bewohnenden Insektenlarven
bereits gezeigt haben. Das Symphilieverhältnis
von Lomechusa strumosa und Formica sanguinea
läßt uns vielmehr den Charakter der fremddien-
lichen Zweckmäßigkeit in wesentlich schärferer
Beleuchtung als bei dem Gastverhältnis von gallen-
erzeugender Pflanze und Insekt erkennen. Die
Einrichtungen des letzteren ließen sich noch in
thesi auf die natürliche Zuchtwahl zurückführen.
Bei der Symphilie ist das nicht mehr der Fall.
Bei den Pflanzengallen ist zwar für den Wirt kein
Vorteil, aber auch kein ins Gewicht fallender
Nachteil ersichtlich. Ganz anders bei dem Sym-
philieverhältnis von L. Str. und F. sanguinea.
Hier wird die Wirtskolonie zweifellos durch die
Gäste auf die Dauer schwer geschädigt. Der
Schaden ist ein direkter, indem die Gäste die
Eier und Larven ihrer Wirte auffressen. Noch
größer ist jedoch der indirekte Schaden. Denn
der allmählich degenerierende ßrutpflegeinstinkt
der Ameisenarbeiterinnen führt regelmäßig, wenn
das Gastverhältnis längere Zeit dauert, zum Unter-
gang der betreff'enden Ameisenkolonie. So „züchten
die Ameisen in den Lomechusini tatsächlich ihre
schlimmsten Feinde selbst heran" (S. 94). Die
natürliche Zuchtwahl hätte daher die Neigung zur
Gastpflege der Lomechusini bei den Ameisen aus-
schalten müssen. Jedenfalls kann sie bei der Ent-
stehung des Brutpflegeinstinktes nicht mit im
Spiele gewesen sein.
Hinzu kommt, wie ich den Ausführungen von
Wasmann hinzufügen möchte, daß aus dem
Symphilieverhältnis — anders wie bei den Pflanzen-
gallen — nicht einmal den Gästen ein dauernder
622
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 43
Vorteil erwächst. Das die Pflanzengalle be-
wohnende Insekt zieht aus dem Gastverhältnis
zweifellos den größten Nutzen. Da die Brut in
den Gallen sichere Unterkunft und reichliche
Nahrung findet, steht die Einrichtung sowohl im
Dienste der Individuen wie der Erhaltung der
Arten. Bei dem Symphilieverhältnis von Lome-
chusa Str. und Formia s. ist auch das nicht der
Fall. Wenn infolge der Vernichtung der Ameisen-
eier und -larven und der Pseudogynenaufzucht
die Ameisenkolonien zugrunde gehen , verlieren
auch die Lomechusini, die auf die speziellen
Ameisenarten angewiesen sind, den Boden unter
den Füßen. Die einzelnen Individuen wandern
zwar vorher aus den geschwächten Kolonien aus
und suchen frische Kolonien auf. Doch wird da-
durch die Infektion nur von einer Kolonie zur
anderen getragen. Das Endresultat ist das Aus-
sterben ganzer Sanguineabezirke. Es ist das von
Schmitz bei Tüddern (Rheinprovinz) und von
W a s m a n n bei Exaten (Holland) beobachtet
worden. Da nun aber die Sanguineabezirke oft
weit voneinander entfernt liegen, ist dann für die
meisten Lomechusaindividuen die Möglichkeit einer
Larvenerziehung überhaupt abgeschnitten. Die
Einschränkung der Vermehrung gilt daher sowohl
für den Gast wie für den Wirt. Sie führt nicht
zur Vernichtung, aber sie hemmt die schranken-
lose Ausbreitung beider Arten.
Es erinnert so das Symphilieverhältnis der
Lomechusini und der Formicaarten nicht nur an
das Gastverhältnis bei den Pflanzengallen, sondern
mehr noch an das Verhältnis, in welchem die in
der Land- und Forstwirtschaft als Schädlinge und
Nützlinge bezeichneten Insekten zueinander stehen.
Die besondere Eigentümlichkeit desselben be-
steht, wie Ref. früher ausgeführt hat,') darin, daß
I. jeder Nutzung für seine Ernährung oder für
die Pflege seiner Brut oder für beides ausschließ-
lich auf Individuen einer bestimmten Schädlings-
art angewiesen ist und dieselben dabei vernichtet ;
daß 2. beim Auftreten des Nützlings die Ver-
mehrung des Schädlings in schneller Progression
zurückgeht, damit aber zugleich auch die Ver-
mehrung des Nützlings, dessen Existenz von der
Existenz des Schädlings abhängt, eingeschränkt
wird und daß 3. eine zweite Regulation besteht,
durch welche die völlige Vernichtung von Schäd-
ling und Nützling verhindert wird.
Wir haben daher bei den Schädlingen und
Nutzungen eine primäre und eine sekundäre Re-
gulation zu unterscheiden. Der Zweck der sekun-
dären Regulation ist die Erhaltung der Schädlings-
und Nützlingsart, sie kann in thesi auf die natür-
liche Zuchtwahl zurückgeführt werden ; der Zweck
der primären Regulation muß ein anderer sein,
da bei ihm, wenn nicht die sekundäre Regulation
eingriffe, die Art des Schädlings und des Nützlings
notwendig zugrunde gehen müßten. Ihr Zweck
*) Naturw. Wochenschr. 192 1, S. 517 ff.
liegt außerhalb der beiden Arten in der Erhaltung
des Gleichgewichts der Biozönosen. Die Zweck-
mäßigkeit ist daher eine fremddienliche oder ge-
nauer gesagt: eine gemeinschaftdienliche.
Genau die gleichen Beziehungen treten uns
nun in dem Symphilieverhältnis von Lomechusa str.
und Formica s. entgegen. Auch hier ist die
Lomechusa str. für ihre Ernährung und die Pflege
ihrer Brut ausschließlich auf eine bestimmte Art,
die Formica s. angewiesen, ebenso tritt infolge
desSymphilieverhältnisses eine schwere Schädigung
beider Arten ein. Die sekundäre Regulation be-
steht hier darin, daß in einer von der Lomechusa-
seuche ergriffenen Ameisenkolonie die vernichtende
Wirkung dieser Infektion nicht sofort Platz greift
und die Kolonie vorher noch gesunde Tochter-
kolonien in die Ferne aussenden kann, wo sie
zunächst vor Infektion geschützt sind und sich
wieder zu neuen Ameisenbezirken entwickeln
können.
Wie aber das Symphilieverhältnis von Lome-
chusa Str. und Formica s. nicht nur ein zweites
Beispiel für das Vorhandensein einer fremddien-
lichen Zweckmäßigkeit bot, sondern den Begriff
derselben, wie ihn Erich Becher aus den bei
den Pflanzengallen gemachten Beobachtungen ab-
geleitet hatte, näher bestimmte, so führt es auch
über den Begriff der fremddienlichen Zweckmäßig-
keit, der sich uns aus dem Verhältnis der Schäd-
linge und Nützlinge ergibt, hinaus.
Die Spezialisierung der Nützlinge kann nicht,
wie wir sahen, allmählich auf dem . Wege der
natürlichen Zuchtwahl herangezüchtet worden sein,
wohl aber köimte sie vielleicht plötzlich durch
Zufall entstanden sein. Es wäre dann zwar selt-
sam, daß die natürliche Zuchtwahl sie nicht wie-
der ausgeschaltet hat; aber daß auch zweckwidrige
Einrichtungen sich lange erhalten können, wie
z. B. die unpraktische Panzerdecke des Scelido-
saurus, lehrt die Geologie. Bei dem Symphilie-
verhältnis läßt sich nun aber auch eine solche
zufällige Entstehung der Spezialisierung nicht an-
nehmen, da bei ihm nicht nur der Gast an den
Wirt, sondern auch der Wirt an den Gast durch
erblichen Instinkt gekettet ist. Eine solche dop-
pelte gegenseitige Spezialisierung läßt sich nicht
aus dem Zufall erklären. Die offenbar auf ein
teleologisches Prinzip zurückzuführende Erscheinung
wirft nun auch ein Licht auf das Verhältnis von
Nützling und Schädling und läßt auch seine
Entstehung durch Zufall unwahrscheinlich er-
scheinen.
Erich Becher glaubte schon für die Erklä-
rung fremddienlicher Zweckmäßigkeit der Pflanzen-
gallen auf eine überindividuelle Ursache zurück-
gehen zu müssen. Bei der fremddienlichen oder
gemeinschaftdienlichen Zweckmäßigkeit des Sym-
philieverhältnisses drängt sich uns die Annahme
mit doppelter Gewalt auf. Und wenn E.Becher
wegen der Dysteleologie noch zweifelte, ob dieser
überindividuellen Ursache der Charakter der
N. F. XX. Nr. 43
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
623
Intelligenz zuzuerkennen sei, so fallen unter dem
Gesichtspunkt der „gemeinschaftdienlichen" Zweck-
mäßigkeit diese Bedenken hinweg. ')
Die Annahme einer überindividuellen, intelli-
genten Ursache, einer metaphysischen Finalität,
die hinter der Kausalität (nicht neben derselben)
ihren Platz hat und die kausalen Naturgesetze so
geordnet hat, daß sie in ihrem Ablauf zu der
zweckmäßigen Naturordnung führen, machen da-
her auch manche mechanistische Forscher. Mit
ihnen stimmt Wasmann insofern überein, als
auch er das Naturgeschehen nur durch natürliche
Ursachen erklären will, „die von Anfang an durch
Gottes Weisheit gesetzmäßig geordnet wurden".
') Naturw. Wochenschr. 1921, S, 519 ff. Herr Geh. Rat
E. Becher hat übrigens, worauf er mich brieflich aufmerk-
sam macht, dem Überindividuellen die Intelligenz nicht über-
haupt abgesprochen; er neigt nur dazu anzunehmen, „daß
diese Intelligenz wie die menschliche, Erfahrungen macht und
verwertet".
„Die natürliche Betätigung der Weltdinge erfolgt",
wie er sagt, „nach den von Anfang an in sie ge-
legten Gesetzen als wirkliches Naturge-
schehen, nicht als willkürliches Eingreifen
Gottes in die Tätigkeit der Geschöpfe". Zu dieser
Weltanschauung des Deismus kommt der Natur-
foscher, wenn er nur das im Auge behält, was
seine spezielle Wissenschaft ihm sagt. Dem
Metaphysiker genügt sie freilich nicht, wie schon
Goethe in seinem bekannten Wort : Was war'
ein Gott, der nur von außen stieße usw. aussprach.
Wasmann selbst gelangt, indem er vom Gottes-
begriff ausgeht, über sie hinaus zum Theismus.
Er führt das im letzten Kapitel seiner Arbeit aus.
Es kann jedoch hier auf diese Darlegungen, die
rein metaphysischer Natur sind, nicht eingegangen
werden. Wer sich für sie interessiert, muß sie
an der betreffenden Stelle (S. 125—136) nach-
lesen. Meine eigene Auffassung habe ich am
Schluß des oben zitierten Aufsatzes angedeutet.
Deutsche Südpolar-Expedition 1901— 1903, im
Auftrage des Reichsministeriums des Innern
herausgegeben von E. v. D r y g a 1 s k i. Bd. XVI
(Zoologie Bd. VIII) Heft IV. 4». XVII u. 308 S.
44 Tafeln. Berlin und Leipzig 1921, Walter de
Gruyter. 376 M.
Auch das Forterscheinen der „Deutschen
Südpolar-Expedition" darf den deutschen wissen-
schaftlichen Buchhandel mit Stolz erfüllen. Das
umfangreiche Schlußheft des vierten Bandes bringt
ein Vorwort von R. Hartmeyer, einen Nachruf
auf Ernst Vanhöffen aus der Feder des Her-
ausgebers, ferner folgende Arbeiten: Brinkmann,
Die pelagischen Nemertinen; Broman, Embryo-
nalentwicklung der Pinnipedier V; Extremitäten-
skelett, nebst Bemerkungen über die Entstehung
der Hypo- und Hyperphalangie bei den Säuge-
tieren im allgemeinen; es ist das die erste bis-
herige Untersuchung über die Embryologie der
Robbenflossen. „Die nächste Ursache der physio-
logischen Hypophalangie des Daumens und der
Großzehe bei Säugetieren ist im allgemeinen
darin zu suchen, daß die Knochen des ersten
Hand- bzw. Fußstrahls als Vorknorpelkerne zu-
letzt angelegt werden, und daß die 3. Phalange
daher hier nie gebildet wird." W. Fischer be-
handelt Gephyreen und am Schluß die Frage der
Ursachen der deutlichen Bipolarität. Entgegen
der Pfeffer-Murrayschen Hypothese, die Bi-
polarität vieler Tiergruppen und überhaupt des
marinen Faunencharakters beruhe auf dem seit
der Pliozänzeit bestehenden Reliktcharakter der-
selben, während die in Frage kommenden Arten
einst über alle Zonen verbreitet waren, entschließt
sich Fischer für seinen Fall für die Roß- Ort-
mann-v. Ihering sehe Migrationshypothese, die
Tiere seien durch die kalte Tiefsee von Pol zu
Pol gewandert, da es unter den Gephyreen in
beiden Polgebieten identische litorale
Bücherbesprechungen.
Arten gibt, die in den gewaltigen Zwischen-
gebieten vereinzelt in den lichtlosen Tiefen der
Ozeane vorkommen. J. Thiele behandelt die
Zephalopoden , Fuhrmann die Zestoden mit
dem Ergebnis, daß die Antarktis im Gegensatz
zur Arktis sehr wenige kosmopolitische Arten
dieser Plattwürmergruppe enthält ; keine Bipolarität
außer daß wie im Norden auch im Süden die
Tetrabothriiden — gegen Zschokke — und
Bothriozephaliden vorwiegend vertreten sind.
Hanns Lengebach behandelt die Stelzmeduse
Eleutheria vallentini Browne und ihre Ammen-
generation, Popofsky die Sphärozoen.
V. Franz, Jena.
Bezold, Dr. Wilh. von und Seitz, Prof. Dr. W.,
Die Farbenlehre im Hinblick auf Kunst
und Kunstgewerbe. 2. Auflage, vollständig neu
bearbeitet. Mit 60 Fig. und 12 zum Teil far-
bigen Tafeln. Braunschweig 192 1, Friedrich
Vieweg und Sohn. 35 M.
Vor 45 Jahren erschien die erste Auflage dieses
feinsinnigen Büchleins. Daß der Neubearbeiter
ganze Kapitel unverändert wiederbringen konnte,
spricht für die ganz ungewöhnliche Abgeklärtheit
und Reife, mit der farbentheoretische wissenschaft-
liche Erläuterungen und künstlerische Anwendun-
gen der so gewonnenen Erkenntnis von v. B e z o 1 d
gegeben worden sind. Der Bearbeiter hatte also
nur die durch die Namen Hering und Ost-
wald bezeichneten, allerdings beträchtlichen Fort-
schritte in der Entwicklung der Farbenlehre in
die Darstellung einzuarbeiten. Mit seltenem Ge-
schick ist ihm das gelungen 1 Man hat nirgends
den Eindruck der Inhomogenität.
Das Buch zerfällt in fünf große Abschnitte.
Die drei ersten bringen eine an Klarheit und
Schlichtheit des Stils kaum zu übertreffende und
immer allgemeinverständliche Darstellung der
624
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 43
physikalischen Grundlage der Farbenlehre, der
Spektralerscheinungen, der Körperfarben, der
Farbenmischung und des Farbsystems. Das vierte,
ganz neu geschriebene Kapitel behandelt die
künstlerisch und psychologisch so wichtige „Lehre
vom Kontrast", und das Schlußkapitel bietet die
Anwendung der gefundenen Erkenntnisse auf
Kunst und Kunstgewerbe in einer so taktvollen
und anziehenden Weise, daß auch der Kunst
Fernstehende ihre Freude daran haben müssen.
So stellt das Buch in Wahrheit eine Verbindung
der so wesensfremd scheinenden Gebiete der
Kunst und der Wissenschaft dar. Die ganz vor-
zügliche bildliche Ausstattung erhöht den Wert
des schönen Buches, dem auf das lebhafteste
weite Verbreitung gewünscht seil —
Ganz nebenher die Bemerkung, daß Bericht-
erstatter die Einwände gegen gewisse Farbbezeich-
nungen durch Ostwald nicht teilen kann. Ein
deutsches Wort, das den Sinn trifft, ist ohne
weiteres gut und also anzuwenden. — S. 55
letzter Absatz findet sich ein belustigender Druck-
fehler : „landwirtschaftlicher" statt „landschaftlicher"
Studien. H. Heller.
Taschenberg, O., Bibliotheca zoologica II.
Verzeichnis der Schriften über Zoologie, welche
in den periodischen Werken enthalten und vom
Jahre 1861 — 1880 selbständig erschienen sind,
mit Einschluß der allgemein- naturgeschicht-
lichen, periodischen und paläontologischen
Schriften. 21. — 23. Lieferung. (S. 6073 — 6312.)
Leipzig 192 1, W. Engelmann. ii6 M.
Mit diesen drei Lieferungen ist Band VII,
2. Hälfte des bekannten Werkes, enthaltend Nach-
träge zu Signatur 745 — "]"]■], beendet. Es be-
rücksichtigt sehr ausführlich alle Sprachen der
westlichen Welt, also auch die russische, und
außer den rein wissenschaftlichen auch aufs ge-
naueste die populärwissenschaftlichen Veröffent-
lichungen. Dadurch schwillt natürlich sein Um-
fang gewaltig an. Gleichwohl wird es zur ge-
legentlichen Nachsuche bekanntlich mit Vorteil
benutzt. Dem Wunsche und der Hoffnung des
Verlegers, daß dieser Band der Wiedererstarkung
unseres Vaterlandes und der Förderung inter-
nationaler Kulturarbeit helfen möge, muß man
sich anschließen, zumal die „Bibliotheca zoologica"
vermutlich auch im Ausland viel benutzt wird.
V. Franz, Jena.
Hartmann, M., Praktikum derProtozoo-
logie. Vierte, wesentlich erweiterte Auflage
(Zweiter Teil von Kißkalt und Hartmann, Prakti-
kum der Bakteriologie und Protozoologie). Mit
128 teils farbigen Abbildungen im Text. 146 S.
Jena 1921, G. Fischer. Brosch. 30 M., geb.
36 M.
Die rasche Entwicklung der Protozoenkunde
und ihre praktische Bedeutung für den Mediziner
haben es bedingt, daß das Hartmannsche
Praktikum schon in 4. Auflage vor uns liegt.
Wir erblicken darin gleichzeitig den besten Be-
weis für die treffliche Brauchbarkeit des Buches,
das übrigens nicht allein dem Mediziner, sondern
jedem Biologen, der sich mit dem Gebiet der
Protozoenkunde besonders von praktischen Ge-
sichtspunkten aus vertraut machen will, angelegent-
lich empfohlen werden kann. Die bewährte
Grundlage des Buches ist auch in der neuen Auf-
lage beibehalten worden. In knapper klarer Dar-
stellung bringt es in erster Linie alles, was für
die Untersuchungen pathogener Protozoen in Be-
tracht kommt. Der Leser wird daher ebenso
über die erforderlichen Instrumente und Chemi-
kalien, über die Technik der Untersuchung, Art
der Materialbeschaffung, wie über das Vorkommen,
die Bauart und namentlich über die Fortpflanzungs-
erscheinungen der einzelnen Formen unterrichtet.
Eine Erweiterung bringt die vorliegende Auflage
insofern, als nicht allein die Parasiten berücksichtigt
sind, sondern nunmehr auch von den meisten
Hauptgruppen freilebender Protozoen Vertreter
Aufnahme gefunden haben, was sicherlich im
Interesse der weiteren Verwendbarkeit des Buches
nur zu begrüßen ist. Sehr willkommen werden
endlich vielen auch die Hinweise und Winke sein
über die Art und Weise, wie gewisse Protozoen
am besten in Kulturen gezüchtet werden können.
R. Heymons.
Literatur.
Meisenheimer, Johannes, Ernst Stahl, Nekrolog. Ab-
druck aus den Berichten der mathematisch-physischen Klasse
der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
LX.\II. Band.
Westphal, Carl, Wirbelkristall und elektromagnetischer
Mechanismus. Braunschweig '21, Friedr. Vieweg & Sohn
4 M.
American Museum of natural history. Fifty-second annua
report for the year 1920. New-York '21.
Enke's Bibliothek für Chemie und Technik unter Be
rücksichtigung der Volkswirtschaft. Herausgegeben von Prof.
Dr. ,L. Vanino. Stuttgart '21, Ferdinand Knke.
Bd. II: Hans Schnegg, Das mikroskopische Prakti
kum des Brauers. I. Teil : Morphologie und Ana
tomie der Brauerei Roh- und Hilfsstoffe.
Mach, Ernst, Die Prinzipien der physikalischen Optik
Leipzig '21, Johann Ambrosius Barth. Brosch. 48, geb. 60 M
Kays er, Emanuel , Lehrbuch der Geologie. Sechste
vermehrte Auflage. Stuttgart '21, Ferdinand Enke.
Bd. I: Allgemeine Geologie I. Physiographische Geo-
logie und äußere Dynamik.
Bd. 11 : Allgemeine Geologie II. Innere Dynamik.
Schmitt, Waldo L., The marine decapod crustacea of
California, Berkeley, Calif. '21, University of California Press.
Inhalt: H. Kranich feld, Eine neue Untersuchung über die fremddienliche Zweckmäßigkeit. S. 617. — Bücher-
besprechungen: Deutsche Südpolar-Expedition 1901 — 1903. S. 623. W. Bezold und W. v. Seitz, Die Farben-
lehre. S. 623. O. Taschenberg, Bibliotheca zoologica 11. S. 624. M. Hartmann, Praktikum der Zoologie.
S. 624. — Literatur: Liste. S. 624.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'scben Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folffe 20. Band;
der ganten Reihe 36, Band.
Sonntag, den 30. Oktober 1921.
Nummer 44.
Homöopathie und moderne Biologie.
[Nachdruck verboten.]
Den gewaltigen Umwälzungen, die sich in
politischer und wirtschaftlicher Beziehung augen-
blicklich vollziehen, gehen andere, geistige zur
Seite, die minder geräuschvoll und offensichtlich
verlaufen aber nicht weniger einschneidend sind.
Die mechanistische Flut ebbt ab und vitalistische
Gedankengänge wagen sich immer mehr ans
Tageslicht. Da kann es denn nicht verwundern,
daß auch andere lange verpönte Anschauungen
wieder ihr Haupt erheben wie die Homöopathie,
die in ausgesprochenem Gegensatz zur mecha-
nistischen Medizin der vergangenen Jahrzehnte steht.
Wenn aber auch die Zeitstimmung der nicht
mechanistisch denkenden Homöopathie entgegen-
kommt, so kann sie doch nur hoffen als vollbe-
rechtigtes Glied in die Gesamtmedizin aufge-
nommen zu werden, wenn es ihr gelingt aus ihrer
IsoHertheit herauszukommen und nachzuweisen,
daß ihre Ansichten sich unseren sonstigen biolo-
gischen Erkenntnissen unterordnen, aus ihnen ver-
ständlich sind, ja sich aus ihnen herleiten lassen.
Bis dahin wird sie als unwissenschaftlich in Acht
und Bann getan und als „mystisch" aus dem
Kreise der Wissenschaften hinaus gewiesen.
Eine kurze Bemerkung über das so beliebte
Schlagwort „mystisch", das ebenso häufig ge-
braucht wird als es vieldeutig und mißverständ-
lich ist. Wenn man untersucht, was allem dem
gemeinsam ist, was vom modernen Naturwissen-
schaftler als mystisch in Acht und Bann getan
wird, so kommt man zu dem Ergebnis, daß er
gern alles das, was er von seinem Standpunkt
aus nicht verstehen kann, so nennt. Solch eine
Namengebung ist aber zum mindesten unpraktisch,
denn es hängt dann nur vom Standpunkt des
einzelnen ab, ob man etwas als mystisch bezeichnet
oder nicht. Ich meine man sollte den Sinn des
Wortes erheblich einschränken und nur das
„mystisch" nennen, was sich nicht nur unserem
augenblicklichen Verständnis entzieht, sondern was
prinzipiell nicht rationalistisch auflösbar ist, oder
wenn man das Wort nicht von Dingen, sondern
von geistigen Richtungen gebraucht, so sollte
man es auf die geistige Einstellung anwenden,
die nicht mit dem Verstand, sondern mit dem
Gefühl, der „Intuition" usw. einer Sache nahe
kommen will. In diesem Sinne verstanden ist
nun die Homöopathie nicht mystisch, wenn auch
gewiß manches im Rahmen unserer jetzigen
Kenntnisse noch nicht seine Erklärung findet;
vom wesentlichen der Homöopathie aber
darf gesagt werden, daß es sich durchaus in unser
sonstiges Wissen einordnen läßt.
Von Dr. med. R. Tischner.
Viele Laien und manche Mediziner wissen von
der Homöopathie nicht mehr, als daß sie eine
medizinische Richtung ist, die die Medikamente
in wesentlich kleinerer Dosis zu geben pflegt als
die andere Hauptrichtung, die man weniger
richtig als kurz als „Allopathie" zu bezeichnen
pflegt. Jedoch trifft diese Ansicht nicht das
Wesentliche der Sache, der Angelpunkt der Homöo-
pathie liegt in den schlagwortartigen Satz „Simi-
lia similibus curantur", ein Satz, der in kurzer
Umschreibung besagen will, daß die Homöopathie
das Mittel (in kleiner Dosis) zu geben pflegt, das
(in größerer Dosis) dieselben Erscheinungen her-
vorzurufen imstande ist.
Gewiß klingt der Satz recht paradox und man
fragt sich im ersten Augenblick, wie man diese
Absurdität beweisen oder auch nur auf Grund
unserer sonstigen Kenntnisse plausibel machen
will. Steht er aber wirklich so ganz isoliert da,
gibt es keine Erfahrungen, die eine Einordnung
in unser anderes Wissen ermöglichen könnten?
Natürlich ist uns nicht damit gedient, wenn ein
Anhänger auf die Erfolge hinweisen wollte, wir
wollen nicht die ärztliche Erfahrung — von je-
her ein heikles Gebiet — , sondern die theoretischen
Grundlagen kennen lernen, auf denen ein Ver-
ständnis möglich ist.
Um ein etwas günstigeres Vorurteil die Homöo-
pathie zu erwecken, könnte da ihr Anhänger auf
erlauchte Ahnen hinweisen, denn die Größten in
der Medizin wie Hippokrates und Paracelsus
haben den Grundsatz der Homöopathie anerkannt
und danach gehandelt. Dann könnte er noch
einen angesehenen modernen Kliniker, Strümpell,
anführen, der einmal sagt, darin daß eine Krank-
heit durch ein Mittel geheilt werden könne, das
diese Krankheit auch hervorzurufen imstande ist,
liege kein Widerspruch. Mit dieser Anerkennung
des homöopathischen Grundprinzips sind wir also
wenigstens davor geschützt, vom modernen Stand-
punkt das Ganze für eine Absurdität ansehen zu
müssen.
Wir wollen aber zusehen, ob es uns nicht ge-
lingt, diesen Satz unter den Schutz eines Gesetzes
zu stellen. Das ist nun allerdings meiner Meinung
nach möglich. Das „biologische Grundgesetz"
von Arndt-Schulz eröffnet uns die Möglich-
keit im Rahmen der modernen Biologie zum Ver-
ständnis der Homöopathie zu kommen. Das
biologische Grundgesetz ist in den achtziger
Jahren von dem Greifswalder Psychiater Arndt
aufgestellt und dann von dem dortigen Pharma-
kologenHugo Schulz umfassend experimentell
626
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
geprüft worden. Arndt formulierte das Gesetz
so: Kleine Reize fachen die Lebenstätigkeit an,
mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie und
stärkste heben sie auf. Ausdrücklich hebt Arndt
hervor, daß es ganz individuell sei, was als starker
und schwacher Reiz gelten müsse, ein Umstand,
der natürlich bei einem kranken Organismus mit
seiner viel tieferen Reizschwelle beachtet sein will.
Die geschichtliche Gerechtigkeit verlangt übrigens
zu bemerken, daß Virchow 1858 schon auf die
verschiedene Wirkung verschieden starker Reize
hingewiesen hat und besondere muß bemerkt
werden, daß der Dozent der Homöopathie an der
Prager Hochschule, A 1 1 s c h u 1 , schon im Jahre
1852 (in „Das therapeutische Polaritätsgesetz der
Arzneidosen als prinzipielle Grundlage zur physio-
logischen Pharmakodynamik", Prag 1852) die er-
regende Wirkung kleiner und die lähmende
großer Dosen zur Grundlage der Therapie macht.
Um so verwunderlicher ist es, daß die moderne
Pharmakologie kaum Notiz davon nimmt, und
daß in den Arbeiten die umgekehrte Wirkung
kleiner und großer Dosen meist kaum beachtet
wird und wo es geschieht, dann vielfach in der
Form, daß man schreibt: während kleine Dosen
so und so wirken, wirken große dagegen
anders, anstatt diesen Gegensatz als aus einem
Gesetze folgend mit einem „infolgedessen" her-
vorzuheben.
Was liegt nun an Tatsachen vor? Während
Arndt hauptsächlich biologisches Beobachtungs-
material brachte (Biologische Studien, 1892), stellte
Schulz ausdrücklich zum Studium des Gesetzes
Versuche an, besonders untersuchte er die Wir-
kung der Antiseptika auf Kleinlebewesen, z. B.
Hefe. Während z. B. Sublimat Hefe in starker
Konzentration (i : looo) schnell abtötet, wirken
verdünntere Lösungen weniger schnell tödlich,
noch schwächere hemmen nur die Lebentätigkeit,
die sich ja bei der Hefe an der Kohlensäure-
produktion leicht quantitativ nachweisen läßt, und
starke Verdünnungen von etwa i : 100 000 sind
indifferent, in diesen Lösungen wachsen die Hefe-
zellen so gut wie in der normalen Vergleichs-
lösung. Ohne Kenntnis des biologischen Grund-
gesetzes würde man sich nun beruhigen und hat
sich vielfach dabei beruhigt, indem man sagte:
in schwächeren Lösungen ist Sublimat unwirksam.
An der Hand des biologischen Grundgesetzes ging
Schulz jedoch weiter und er fand, daß Sublimat
in einer Verdünnung von etwa i : 700 000 stark
anregend auf die Lebenstätigkeit einwirkte. Ana-
loge Untersuchungen an anderen Organismen und
mit anderen Chemikalien zeigte die durchgängige
Wirksamkeit des Gesetzes.
Auch andere Forscher waren — z. T. unab-
hängig von Schulz — ähnliche Wege gegangen,
wie Bokorny, der die Einwirkung von Giften
auf das Pflanzenwachstum studierte und zu dem
Ergebnis kommt: Ich zweifle kaum mehr daran,
daß es bei den meisten Giften Verdünnungen
gibt, in denen sie fördernd auf das Wachstum
einwirken. — Biernacki berichtet dasselbe bei
seinen Untersuchungen über die Einwirkung von
Antiseptizis auf die Alkoholgärung. Jennings,
der berühmte Zoologe, sagt: „So kann derselbe
Stoff in schwächerer Lösung eine positive und in
stärkerer eine negative Reaktion hervorrufen und
alle Substanzen, in denen schwächere Lösungen
die Spirillen sich ansammeln, werden in stärkeren
Konzentrationen vermieden. Es ist in der Tat
eine für die Bakterien allgemeingültige Regel."
Mo lisch sagt über den Einfluß der Radium-
emanation auf Pflanzen: „Die Emanation muß
nicht hemmend oder störend auf die Pflanzen
wirken, sie kann auch, wenn sie in geringen
Mengen geboten wird, eine Förderung der Ent-
wicklung hervorrufen." So könnte man einen
großen Teil unserer biologischen Kenntnisse an-
führen, um die Richtigkeit des Gesetzes darzutun.
In der Naturwissenschaft ist es denn auch all-
mählich bekannter geworden, aber in der Medizin
hat man ihm bis zum heutigen Tage nicht die Be-
achtung geschenkt, die ihm gebühren würde. Das
hat wohl verschiedene Gründe, erstens fürchtete
man in unangenehme Berührung mit der verach-
teten Homöopathie zu kommen und außerdem
liegen beim Organismus die Verhältnisse nicht so
einfach. Der Organismus besteht aus verschiede-
nen Organen und jedes einzelne Organ wiederum
aus mehreren Systemen mit verschiedener Reiz-
schwelle; bei einer Drüse z. B. kommen neben
den Drüsenzellen noch die sekretorischen Nerven
und das Blutgefäßsystem in Betracht, wobei letz-
teres wiederum gefäß verengernde und gefäß-
erweiternde Nerven hat, alle diese Unter-
systeme haben verschieden hohe Reizschwellen.
Durch diese Verschränkung verschiedener Systeme
werden die Verhältnisse undurchsichtiger, ohne
daß jedoch das biologische Grundgesetz dadurch
aufgehoben würde, im Gegenteil, gerade durch
diesen Gesichtspunkt ist es vielfach möglich,
Klarheit in die verwickelten Versuchsergebnisse
zu bringen. Zumal sollten endlich die pharma-
kologischen Arbeiten etwas mehr zu sagen wissen,
als daß der und der Körper erregend auf ein
Organ wirke. — Eine Arbeit, die in musterhafter
Weise die verschiedenen Konzentrationen auf ein
Organ untersucht und infolgedessen auch — un-
abhängig vom B. G. — zu einem Stufengesetz
kommt, das man als eine Spezifikation des B. G.
auffassen kann, ist die Veröffentlichtung von
Ricker und Regendanz, „Beiträge zur Kennt-
nis der örtlichen Kreislaufstörungen", Virchows
Archiv, 1921, ich empfehle sie angelegentlich dem
Studium eines jeden Biologen. Besonderes Inter-
esse darf die Feststellung beanspruchen, daß
Adrenalin, das exquisit gefäß verengernde
Mittel in starker Konzentration, infolge Lähmung
der Konstriktoren erweiternd wirkt, ein ohne
Kenntnis des B. G. höchst auffallender Befund,
während er bei seiner Kenntnis zu erwarten und
vorauszusagen ist.
Es ist klar, daß das B. G. ein Verständnis für
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
627
das „Similia similibus" eröffnet. Wenn große
Dosen erfahrungsgemäß gewisse Erscheinungen
hervorrufen, dann ist nach dem B. G. zu erwarten,
daß kleine umgekehrt wirken. Es ist also ein
heuristisches Prinzip von großer Bedeutung, und
nach der tausendfältigen Erfahrung der Homöo-
pathen bewährt es sich. Auch in der „Allopathie"
sind eine Anzahl von therapeutischen Maßnahmen
üblich, die unzweifelhaft auf dem Prinzip beruhen,
ohne daß das aber erkannt und zugestanden wird.
Ich nenne nur die Anwendung von Rhabarber bei
gewissen Formen von Darmkatarrhen, „obwohl"
oder vielmehr weil Rhabarber Darmkatarrhe er-
zeugen kann, Arsen bei Blutkrankheiten, „obwohl"
es ein Blutgift ist. — Aconit macht Neuralgien
und wird dagegen angewendet, Drosera erzeugt
einen Husten und ist eins der besten Keuchhusten-
mittel, das in Gestalt des Droserins auch seinen
Einzug in den allopathischen Heilschatz gehalten
hat ; neuerdings wurde es auch von einem Phar-
makologen geprüft, er mußte bestätigen, daß es
Husten erzeugen kann und dagegen wirksam ist.
So gibt es noch manche Therapie in der Allo-
pathie, die Beziehung zu dem Similia similibus
hat, aber ohne daß letzteres als therapeutisch-
heuristisches Prinzip angewendet würde.
Wie bei jeder Bewegung Übertreibungen be-
stehen, so auch hier, und so soll durchaus nicht
die Homöopathie in Bausch und Bogen anerkannt
werden, man sollte aber ihr gegenüber noch etwas
anderes kennen, als Totschweigen und Lächerlich-
machen. Ich verkenne auch die Berechtigung
gewisser Bedenken nicht, die gegen die Unter-
stellung der Homöopathie unter das B. G. von
beiden Seiten aus geltend gemacht worden sind.
Insbesondere sehe ich auch, daß es gewisse ge-
dankliche Schwierigkeiten macht, daß ein Mittel
in kleiner Dosis bei Erscheinungen angewendet
wird, die es selbst erzeugen kann, man sollte
meinen, daß dadurch die Erkrankung noch schlim-
mer werden sollte. Aber abgesehen davon, daß
das Vorhandensein allgemein angewendeter The-
rapien dagegen spricht, daß dem Bedenken eine
durchschlagende Kraft zukommt, ist es doch wohl
denkbar, daß diese kleinsten Reize irgendwie, so-
lange der pathologische Prozeß nicht zu weit fort-
geschritten und noch umkehrbar ist, die Anregung
geben können, daß das Pendel wieder in Gang
kommt und nach der entgegengesetzten Seite
ausschlägt. Es wäre in der Wirkung also ähnlich
zu denken wie bei Anwendung von Adstringen-
tien wie Höllenstein, die, obwohl sie einen Reiz
darstellen, bei Blutüberfülle von Schleimhäuten
angewendet als Endeffekt eine Blutleere erzeugen.
Genaueres läßt sich vorerst nicht sagen, es muß
genügen, gezeigt zu haben, daß diese umgekehrte
Wirkung eines Reizes möglich ist.
Neuerdings macht die sog. parenterale Eiweiß-
therapie viel von sich reden, bei der man irgend-
einen Eiweißkörper (Milch od. dgl.) bei Entzün-
dungen injiziert und oft überraschende Heilerfolge
hat. Diese Methode erzeugt gleichfalls einen
mehr oder weniger starken Reizzustand des Kör-
pers und besonders des erkrankten Organs, in
dessen Verlauf dann der Rückgang der patholo-
gischen Erscheinungen zu erfolgen pflegt. Leider
nimmt man nach dem Grundsatz „Viel hilft viel"
oft zu starke Dosen, so daß der Reiz zu stark
ausfällt, anstatt daß man an Hand des biologi-
schen Grundgesetzes den Reiz entsprechend ab-
stuft. Gerade bei dieser parenteralen Eiweiß-
therapie hat übrigens der bekannte Berliner Chirurg
Bier und seine Schule darauf aufmerksam ge-
macht, daß das biologische Grundgesetz eine
Handhabe zum Verständnis und der zweckmäßigen
Anwendung dieser Therapie gibt.
Noch eine andere Therapie, die zudem als
ein Glanzpunkt der modernen Medizin gilt, ist
unverkennbar homöopathisch, es ist die Vakzine-
therapie wie sie bei derTuberkulose,Eiterungenusw.
angewendet wird. Sie beruht darauf, daß man
den Kranken mit denselben oder ähnlichen Stoffen
behandelt, die an der Krankheit Schuld tragen.
Die Homöopathie kennt auch diese Art der Be-
handlung im Prinzip schon lange, sie erntete aber
dafür früher nichts weiter als Spott und Hohn,
bis man in der modernen Bakteriologie und
Serumforschung auf anderem Wege zu demselben
Punkt kam. Nur wenige Forscher wie Hüppe
und Much haben auf diese Verwandtschaft mit
der Homöopathie hingewiesen, letzterer erkennt
ihr auch sonst Berechtigung zu.
Wenn wir sonach gesehen haben, daß das
Grundgesetz der Homöopathie in keinem Wider-
spruch mit unseren biologischen Einsichten steht,
ja aus unseren sonstigen Anschauungen abgeleitet
werden kann, wollen wir nun sehen, ob das auch
bei den anderen Eigenheiten der Homöopathie
möglich ist. Wie steht es da nun mit der Ver-
wendung kleiner Dosen? Man pflegt viel-
fach von den homöopathischen „Nichtsen" zu
sprechen, in der Meinung, daß die hohen Ver-
dünnungen nicht wirken könnten, ich glaube aber
auch hier zeigt sich auf Grund unserer jetzigen
biologischen Kenntnisse, daß die Verwendung
kleiner Dosen doch nicht so absurd ist. Aller-
dings bemerke ich gleich, daß ich natürlich nicht
beabsichtige, eine Lanze für die unendlich kleinen
Verdünnungen einzulegen; sie sind selbst ein
Streitpunkt in der Homöopathie, und es kann
sich natürlich nur darum handeln, das der Homöo-
pathie als Ganzem zugrunde Liegende hier zu
erörtern. Was weiß nun die moderne Forschung
von der Wirkung kleiner Stoffmengen zu be-
richten? Nach Bokorny töten die Schwer-
metallsalze Mikroorganismen noch in einer Ver-
dünnung von 1 : 1000 MilHonen, das ist die neunte
homöopathische Verdünnung. In Mineralquellen
sind die wirksamen Stoffe vielfach in der 5 — 7
Verdünnung vorhanden. Heufieberkranke rea-
gieren noch auf V^ooooooo g Pollentoxin, für nicht
Disponierte ist der Körper ganz indifferent.
Derartige Tatsachen, die leicht noch zu ver-
mehren wären, zeigen, daß jedenfalls an sich
628
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
nichts gegen diese Wirksamkeit kleiner Dosen
spricht, worauf wir gleich noch einmal zurück-
kommen.
Abgesehen davon, daß man also die Wirksam-
keit von kleinen Dosen auf Grund dieser Tat-
sachen anerkennen muß, sei noch kurz darauf
hingewiesen, daß die moderne lonentheorie, die
starke Oberflächenvergrößerung fein verteilter
Stoffe und die biologische Erscheinung der „Sum-
mantionswirkung" auch ein theoretisches Ver-
ständnis ermöglichen.
Nun kommen wir zum letzten Hauptpunkt,
der Arzneiprüfung am gesunden Men-
schen; man muß sich wundern, daß nicht ge-
rade dieser Punkt schneller allgemein zur Aner-
kennung gekommen ist; ich sollte denken, daß
es jedem einleuchten müsse, daß das eine sehr
wichtige erfahrungsgemäße Grundlage der Heil-
kunde ist, wenn es auch genug der Fehlerquellen
gibt, die gewiß auch — in früherer Zeit besonders
— von den Homöopathen nicht immer vermieden
sind, das kann aber dem Prinzip keinen Abbruch
tun. Die moderne Serumforschung hat gezeigt,
daß jede Tierart spezifisches Eiweiß und Fett
hat, es leuchtet also ein, daß bei dieser art-
spezifischen Beschaffenheit des Fettes und des
Eiweißes, auch die Reaktion auf einen Reiz ins-
besondere auf einen Arzneireiz eine spezifische
sein wird. Es ist demnach zu erwarten, daß man
erst mit den Prüfungen am Menschen die feineren
Beziehungen und Reaktionen zwischen Organis-
mus und Arzneikörper erfahren wird. Am g e ■
Sunden Menschen aber muß man die Prüfungen
vornehmen, da man nur so eine reine Erfahrung
erhalten wird, nicht gestört durch abnorme Re-
aktionen des kranken Organismus. Ganz sche-
matisch gesagt geht also der Homöopath so vor,
daß er bei den verschiedensten Mitteln Prüfungen
am Gesunden macht und die dabei gefundenen
objektiven und subjektiven Erscheinungen dann
im einzelnen Krankheitsfall mit den bei diesem
vorhandenen Erscheinungen vergleicht und dann
das oder die Mittel nimmt, die ihm am meisten
zu entsprechen scheinen. Auch gegen die be-
sondere Berücksichtigung der subjektiven
Symptome ist kaum etwas Prinzipielles einzu-
wenden, es scheint vom modernen biologischen
Standpunkt aus ganz plausibel, daß je nach den
subjektiven Symptomen auch der pathologische
Prozeß etwas verschieden geartet sein wird, wir
haben darin also ein außerordentlich feines Rea-
gens um die Arzneimittelwahl dem einzelnen
Fall anzupassen, und das „simile" zu finden.
Wir sahen oben, daß das Pollentoxin bei dem
darauf „abgestimmten" Organismus in minimalen
Dosen wirkt; in Analogie dazu steht die An-
schauung der Homöopathie, daß bei einem darauf
abgestimmten Organismus auch andere Stoffe in
sehr geringen Mengen wirken, und zwar ist sie
der Ansicht, daß eben die Symptome des Kranken
im Vergleich mit denen der Arzneiprüfungen uns
verraten auf welchen Stoff der betreffende Orga-
nismus „abgestimmt" ist. Man ersieht daraus, wie
fein der Homöopath individualisieren kann, diese
Art der „Arzneimitteldiagnose" ist eine der Homöo-
pathie eigentümliche Art des Vorgehens, für das
der „Allopath" ohne ein tiefes Hineindenken kein
Verständnis haben kann, auf seinem eigenen Ge-
biete fehlt ihm trotz alles Predigens des Indi-
vidualisierens die rechte Handhabe dafür.
Ich glaube, damit ist gezeigt, daß die Homöo-
pathie es doch verdienen würde beim biologisch
Denkenden mehr Beachtung zu finden, mag auch
manches an ihr noch befremdend oder auch
falsch und unerwiesen sein, das Wesentliche
an ihr scheint mir nicht so undiskutabel zu sein,
als man gemeinhin annimmt. (Näheres siehe
meine Schrift: „Das biologische Grundgesetz in
der Medizin"; Verlag Gmelin, München 1 9 1 4). Aller-
dings muß betont werden, daß der streng chemisch-
physikalisch Denkende ihr kaum wird gerecht
werden können, nur auf dem Boden des Vitalis-
mus wird sich einem das Verständnis erschließen.
Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade jetzt sich
das Interesse ihr wieder mehr zuwendet und daß
auch — soweit man gegnerisch gesinnt — ist,
diese Gegnerschaft vieles von ihrer früheren
Schärfe eingebüßt hat. Es erübrigt sich hier, wo
es sich nur um das Wesentliche handelt, gewisse
Schwierigkeiten zu erörtern, die die Homöopathie
dem modernen Denken noch bereitet, auch muß be-
tont werden, daß man vielfach in der Homöopathie
von manchen Einseitigkeiten zurückgekommen
ist und daß sie insbesondere auch die kausale
Therapie im Sinne der modernen Medizin kennt.
— Es ist zu hoffen, daß bei dieser Sachlage ihre
relative Berechtigung anerkannt wird, und daß
man ihr im Rahmen der Gesamtmedizin die ihr
gebührende Stellung als eine Methode oder als
besondere Disziplin einräumt, wenn man auch
gewiß sich jahrzehntelang auseinandergestritten
hat und dadurch die Verständigung erschwert ist.
[Nachdruck verboten,]
Chelifer als Schmarotzer.
Von G. Grimpe, Leipzig.
Der Zweck dieser Zeilen ist, die Aufmerksam-
keit auf ein Tier zu richten, das in diesem Jahre
als Schmarotzer unserer Stubenfliegen in und bei
Leipzig in so großer Menge auftritt, daß man
beinahe von einer Seuche zu sprechen geneigt
ist. Und zwar handelt es sich um den Bücher-
skorpion, Chelifer cancroides L. Früher ist
bereits beobachtet worden, daß dieser Pseudo-
skorpionide gelegentlich auch an Fliegen geht
(vgl. hierzu Heymons, in: Brehms Tierleben,
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
629
4. Aufl., Bd. II, S. 649); von einem eigentlichen
Parasitismus dieses Tieres ist aber, soweit ich die
Literatur überblicke, nirgends die Rede.
Es ist bekannt, daß sich Chelifer vorwiegend
von kleinsten Kerbtieren, Bücherläusen, Psociden
und ähnlichem Ungeziefer, nährt. Es ist also ur-
sprünglich ein Raubtier, und macht sich durch
Vertilgung dieser Schädlinge in Bibliotheken,
Insektensammlungen usw. recht nützlich. Daß er
zuweilen jedoch auch an größeren Kerbtieren
schmarotzt, ist dagegen meines Wissens neu.
Als Wirtstiere benutzt er, wie schon gesagt,
Stubenfliegen. Er heftet sich an deren Beine an
und zwar nicht nur mit den zu Beißzangen um-
gewandelten Pedipalpen, sondern auch mit den
Cheliceren, die er um die Fliegenbeine, mutmaß-
lich sogar in sie schlägt. Auf jeden Fall sitzt ein
solcher Bücherskorpion sehr fest an seinem Opfer,
so daß es im allgemeinen nicht imstande ist, sich
seiner durch Abstreifen mit einem anderen Bein
zu entledigen. Es machte zunächst den Anschein,
als ob hier lediglich ein „Raumparasitismus" vor-
läge, etwa in dem Sinne, daß die leichtbeschwingte
Fliege dem langsamen, unbeholfenen Chelifer als
Verbreitungsmittel dient. Auch wurde daran ge-
dacht, daß es sich um eine Art Symbiose handeln
möchte, der Bücherskorpion sich also nur der
Milben wegen, die auf Fliegen schmarotzen, an
diesen aufhält. Beides trifft, wie wir sehen wer-
den, entschieden nicht zu; denn erstens wurden
auch viele mit Chelifer behaftete, milbenlose
Fliegen angetroffen. Zweitens deshalb nicht, weil
sich die Fliegen unermüdlich, wenn auch vergeb-
lich, der Bücherskorpione zu erwehren, sie abzu-
streifen suchen, und drittens endlich, weil die
Fliege das Bein, an dem ein oder mehrere Che-
lifer eine Zeitlang gesessen haben, wie gelähmt
nachschleift. Das letztere kann man besonders
dann gut beobachten, wenn ein solcher Schma-
rotzer einmal zufällig von seinem Opfer abläßt
oder künstlich dazu gezwungen wird. Diese
Lähmungserscheinungen werden wahrscheinlich
durch das Gift verursacht, das aus den Drüsen
der Cheliceren in die von ihnen geschlagenen
I.
1 Musca
mit 9 Bücher
IL
1
7
III./IV.
2 „
„je 5
V.
I
4
VI./VII.
2 „
„ je 3
VIII./XI.
4 „
„ „ 2
XII./XV.
4
„ „ I
XVI./XVII.
2 Homalomyia
., „ I
Mai bis September gemacht, gleichzeitig auch in
dem etwa 25 km südöstlich von Leipzig gelegenen
Flecken Großsteinberg. Ob auch sonst die Er-
scheinung auftrat, konnte bis jetzt nicht ermittelt
werden. (Für sachdienliche Mitteilungen wäre
der Verf. [Adr.: Leipzig, Zool. Institut der Univ.]
deshalb sehr dankbar.) Daß diese Erscheinung
aber einer gewissen örtlichen Beschränkung unter-
worfen ist, geht schon daraus hervor, daß im
Westen und Norden Leipzigs (tiefer gelegen und
feuchter I) keine mit Chelifer behaftete Stuben-
fliege trotz eifrigen Suchens gefunden wurde.
Welchen Grund das im einzelnen haben mag, ent-
zieht sich zunächst noch völlig unserer Kenntnis.
— Tatsache ist, daß ich die ersten befallenen
Fliegen Ende Mai in meiner Wohnung beobach-
tete. In der zweiten Hälfte des Juni ging ihre
Zahl — vermutlich wegen der kalten Witterung
— stark zurück, um aber im (heißen) Juli rasch
wieder anzusteigen. Es war vorwiegend die Ge-
meine Stubenfliege, Musca domestica L., die sich
als mit Chelifer behaftet erwies ; dazu kamen einige
Hundstagsfliegen, Homalomyia canicularis L., wäh-
rend die untersuchten Calliphora (Schmeißfliege) und
Sarcophaga (graue Fleischfliege) davon frei waren
(Ursache: stärkere Behaarung?). Da es zuweit
führen würde, hier bis ins einzelne meine Be-
obachtungen wiederzugeben, mögen einige kurze
Angaben genügen.
Von 29 mit einem kleinen Schmetterlingsnetze
wahllos gefangenen Fliegen waren 13, also fast
50 "/o, mit Chelifer infiziert; von diesen gehörten
12 zu Musca, I zu Homalomyia; li Musca und
5 Homalomyia waren davon frei. Alle 29 kamen
darauf in ein kleines Glas. Als kaum eine Stunde
später von neuem der Fang untersucht wurde,
ergab sich, daß nun an 17 Fliegen (15 Musca,
2 Homalomyia) Bücherskorpione saßen. Einige
hatten sich also von ihrem ursprünglichen Wirte
gelöst und an eine neue Fliege geheftet. Es
wurden nun diese 17 befallenen Tiere einzeln vor-
genommen und die Zahl der an ihnen sitzenden
Parasiten festgestellt. Die Auszählung ergab fol-
gendes Bild:
(7)-
(10),
(4),
(6),
(8),
(4).
(2),
Zusammen: 17 Fliegen (15 M., 2 H.) mit 50 Bücherskorpionen.
Wunden fließt; daß es sich nur um eine rein
mechanische (Kneif-)verletzung durch die Pedi-
palpen handeln könnte, trifft dagegen, soweit ich
bisher festzustellen vermochte, nicht zu.
Hier zunächst einige statistische Angaben. Die
Beobachtungen wurden an verschiedenen Punkten
in den südöstlichen Stadtteilen von Leipzig von
Die Schmarotzer sitzen mit Vorliebe an den
Hinterbeinen der F"liegen, meist am Femur. Nur
im Falle einer stärkeren Invasion findet man sie
auch an den Oberschenkeln der Mittelbeine und
selten (einige Male beobachtet) an einem Vorder-
bein. Von Interesse dürfte die folgende tabellari-
sche Übersicht sein, welche die Verteilung der
630
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
Parasiten in dem herangezogenen Beispiel zeigt.
Bei gleichen Untersuchungen an anderen Fängen
ergab sich ein ganz ähnliches Bild. (In dieser
Tabelle korrespondieren die römischen Zahlen
mit denen der voranstehenden ; v bedeutet Vorder-
bein, m Mittelbein, h Hinterbein, 1 links, r rechts.)
I.: 2 ml, 2 mr, 2 hl, 3 hr;
IL: I vi, I ml, 2 mr, i hl, 2 hr;
III.: I ml, I mr, l hl, 2 hr;
IV.: I mr, i hl, 3 hr (i mal Tibia);
V.: 2 hl, 2 hr;
VI.: I hl (Tibia), 2 hr;
VII.: I mr, 2 hr;
VIII./IX.: 2 hr;
X.: I hl, 1 hr;
XL: 2 hl;
XIL/XIV.: I hr;
XV.: I hl;
XVL: I hr;
XVIL: I hl
Aus der Tabelle geht deutlich hervor, daß
namentlich die Beine der rechten Seite heimge-
sucht werden. Ein Grund dafür ist nicht bekannt;
doch glaube ich kaum, daß diese Erscheinung
rein zufällig ist, da sie immer wiederkehrt. Inter-
essant ist besonders, daß trotz der ungleichen
Belastung beider Seiten der Flug der Fliege kaum
beeinträchtigt oder gar gestört wird. Nur wenn
die Zahl der Parasiten sehr groß ist (5 Stück und
mehr), wird der Flug schwerfäUiger und weniger
ausdauernd. Immerhin vermochte selbst eine
9 Chelifer tragende Musca (Nr. I) beim Fang
mehrmals dem Netze geschickt zu entwischen.
Sitzt eine befallene Fliege, so ist sie dauernd
bemüht, sich der Peiniger zu entledigen. Vor
allem suchen die Hinterbeine sie sich gegenseitig
abzustreifen; zuweilen werden auch die Mittel-
beine und die Flügel dazu herangezogen, aber,
soweit ich gesehen habe, stets ohne Erfolg. Sonst
lassen sich die Fliegen in ihren üblichen Gewohn-
heiten durch die Gegenwart der Schmarotzer nicht
stören; sie kriechen, fressen und kopulieren sogar.
Dennoch ist die Schädigung, die sie durch den
Parasitismus von Chelifer erleiden, nicht gering.
Neben den schon erwähnten Lähmungserschei-
nungen tritt bei stärkerer Invasion eine Art Er-
schöpfung ein. Die Fliege fällt z. B. gelegentlich
auf den Rücken und muß erst eine Zeitlang kräftig
strampeln, ehe sie wieder richtig auf die Füße
kommt. Ferner konnte eine deutliche Abneigung
gegen das Klettern an senkrechten und über-
hängenden Wänden beobachtet werden. Auch
ein erhöhtes Flüssigkeitsbedürfnis scheint bei in-
fizierten Tieren vorhanden zu sein. Vor allem
spricht aber für einen wirklich schädigenden Para-
sitismus von Chelifer die Tatsache, daß befallene
Fliegen viel kurzlebiger sind als gesunde, die
unter gleichen Bedingungen gehalten wurden.
Eine große Anzahl der infizierten Tiere starb
übrigens an Empusa, so daß wohl auch damit
zu rechnen ist, die Gegenwart von Chelifer be-
günstige die Infektionsgefahr mit diesem patho-
genen Pilz. Somit erscheint mir bewiesen, daß
der Bücherskorpion hier in der Tat als gefahr-
licher Schädling und damit als Parasit auftritt.
Diese Ansicht wird noch bestärkt durch die Be-
obachtung, daß ein CheUfer tagelang an einer für
sich eingesperrten Fliege sitzen blieb, ohne selbst
den Platz zu wechseln. Wenn er nicht Nahrung
an der Fliege gefunden hätte, würde er sie wäh-
rend dieser Zeit sicher verlassen haben; der
Hunger hätte ihn dann vertreiben müssen. Es
muß angenommen werden, daß die Nahrungs-
aufnahme beim schmarotzenden Bücherskorpion in
derselben Weise stattfindet wie beim freilebenden,
bzw. bei der Mehrzahl der Cheliceraten überhaupt,
also durch Aufsaugen der außerkörperlich ver-
dauten Stoffe. — Tötet man ferner die Fliege
durch mechanische Zerquetschung von Kopf und
Brust, so läßt Chelifer sehr bald von seinem Wirte
ab und sucht an einen neuen zu kommen. Dahin-
gegen saugt er ruhig weiter, wenn man dem In-
sekt die Flügel und die nicht befallenen Beine, so
daß es sich nicht mehr fortbewegen kann, ab-
schneidet.
Zum Schlüsse wäre nur noch kurz darauf hin-
zuweisen, wie die Infektion der Fliegen mit Che-
lifer stattfindet. Man sollte meinen, daß so ge-
wandte Tiere wie unsere Stubenfliegen vor den
Nachstellungen des „schwerfälligen" Schmarotzers
sicher sein müßten. Diese Schwerfälligkeit ist
aber nur scheinbar vorhanden; denn wenn man
erst einmal gesehen hat, mit welch blitzartiger
Schnelligkeit ein Bücherskorpion eine über ihn
hinwegkriechende Fliege anfällt, ändert man bald
seine Meinung über die „Trägheit" und „Unbe-
holfenheit" dieser Pseudoskorpione. Auch bezüg-
lich seiner psychischen Fähigkeiten steht Chelifer
kaum hinter den anderen Spinnentieren zurück.
— Die Fliege wird mit den Pedipalpen so rasch
an einem Bein gepackt, daß man die einzelnen
Bewegungen, die der Parasit dabei ausführt, nicht
scharf unterstheiden kann. Es sieht so aus, als
ob er mit einem kleinen, gewaltsamen Ruck das
Insekt von unten anspringt; nur selten mißlingt
ein solcher Angriff.
Wann und unter welchen Umständen die erste
Infektion stattgefunden hat, entzieht sich natürlich
unserer Kenntnis ; auch die Ursache des in diesem
Jahre auffallend häufigen Auftretens von Chelifer
überhaupt ist mir unbekannt. Feststellen konnte
ich aber, daß die Afterskorpione sehr gierig hinter
den Fliegen her sind. Solche, die man zwangs-
weise von ihrem Wirte trennt, benutzen die nächste
Gelegenheit, um eine vorbeilaufende Fliege anzu-
fallen. So wurde beobachtet, daß bereits ^2 Stunde,
nachdem in eine flache, mit Glas überdeckte Schale
zu 20 Bücherskorpionen 10 frisch gefangene, ge-
sunde Fliegen gesetzt worden waren, 16 Parasiten
festsaßen und nur eine einzige Fliege noch unbe-
fallen herumlief. Von den übrigen 9 befanden
sich an einer 4, an einer 3, an zweien je 2 und
an fünfen je i Bücherskorpion. Wenn in der
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
631
Freiheit die Verhältnisse auch wesentlich anders versuch, daß Chelifer cancroides durchaus kein
liegen, insbesondere ein so enges Zusammentreffen harmloser Geselle, sondern ein recht gefahrlicher
zwischen Afterskorpionen und Fliegen nie statt- Schmarotzer für unsere zweiflügligen Stuben-
finden wird, so lehrt doch dieser Gefangenschafts- genossen sein kann.
Einzelberichte.
Die Erforschung der menschlichen Hörgrenze.
Mit 3 Abbildungen.
Im mündlichen Verkehr, bei so manchen Be-
rufen und Krankheiten sowie bei der wissen-
schaftlichen Beurteilung vieler Fragen und Er-
scheinungen ist es wichtig, von vornherein zu
wissen, welche tiefsten und höchsten Töne der
Mensch mit normalem Gehör noch vernimmt, zu
welcher Tages-, Jahres- und Lebenszeit dies mehr
oder weniger deutlich geschieht, ob dann besser
mit dem rechten oder linken Ohr, durch Luft-
oder Knochenleitung usw. Die Erforschung aller
dieser Fragen war und ist zum Teil auch noch
erschwert und begrenzt durch den Stand der
Leistungsfähigkeit unserer technischen Hilfsmittel.
Niemand kann z. B. sagen, ob wir heute schon
Instrumente besitzen, die ein- für allemal die zu-
gleich stärksten und lautesten sowie tiefsten oder
höchsten für unser Ohr wahrnehmbaren Töne
hervorbringen. Ebensowenig weiß man, wie
unser Trommelfell und die saitenartigen Resona-
toren unseres inneren Ohres, des sog. Cor ti-
schen Organes, auf etwaige Steigerungen der
Stärke und Höhe jener Töne antworten würden.
Außerdem stehen Stärke und Höhe jener zuein-
ander in Wechselwirkung: durch Steigerung der
Stärke kann man die nächst höheren Resonatoren
zum teilweisen Mittönen bringen, wodurch der
Klangcharakter erhöht wird ; und durch Steigerung
der Tonhöhe werden aus demselben Grunde die
mit gereizten Nebentöne in ihrer Hörbarkeit ver-
stärkt. ^) Ob sich auf diese Weise der Eigenton
des höchsten Resonators beliebig steigern läßt,
oder ob das eine bestimmte Grenze hat, weiß
man noch nicht. Mit bloßen Berechnungen ist
es da nicht getan; das zeigte die vor wenigen
Jahren von Prof M. W i e n gemachte Entdeckung.^)
Er fand nämlich die Empfindlichkeit des Ohres
für mittlere Tonhöhen von lOOO bis 3000 Schwin-
gungen in der Sekunde sehr viel größer als für
die unter lOOO und besonders für die der unteren
Hörgrenze ganz naheliegenden Töne. Nach den
Resonanzgesetzen müßten nämlich, wenn z. B.
ein tiefer Ton von 50 Schwingungen so schwach
erklingt, daß wir ihn noch nicht hören, die Reso-
natoren für den Tonbereich von 1000 bis 3000
Schwingungen eigentlich mitschwingen, unser Ohr
zeigt jedoch dafür absolut keine Empfindung.
Unter Berücksichtigung der angegebenen
') Helm hol tz, Die Lehre von den Tonempfindungen.
5. Aufl. Braunschweig 1896.
'^) Pflügers Archiv Bd. 97, 1903, S. i fi.
Schwierigkeiten muß man den durch die neuen
Forschungen zur Ermittlung der oberen mensch-
lichen Hörgrenze von Prof Martin Gilde-
meister ^) erzielten Fortschritt hoch einschätzen.
Die früheren Untersuchungen schwankten in ihren
Angaben zwischen 15 000 und 50 000 Schwingun-
gen in der Sekunde. Das lag, wie Gildemeister
jetzt nachgewiesen hat, an den mangelhaften
Untersuchungsmethoden und zwar besonders an
der meist dazu verwendeten und für diesen Zweck
schlecht geeigneten Gal ton pfeife. Bei dieser
mittels Wasserdruck angeblasenen Pfeife erklingen
nicht nur mit dem Hauptton tiefere Nebentöne,
durch die die Versuchsperson sich leicht täuschen
läßt, sondern bei dem stoßweisen Anblasen schwankt
tatsächlich die Tonhöhe ganz bedeutend. Bei
einem Prüfungs vergleich stellte Gildemeister
mittels besonderen Apparates u. a. fest, daß eine
3,45 cm lange und mit einer Mundweite von
0,65 cm versehene Pfeife bei einem Wasserdruck
von 13 cm statt der angeblichen 17180 Schwin-
gungen nur I S 720 , bei einem Wasserdruck von
26 cm 16390 Schwingungen in der Sekunde her-
vorbrachte. Ein wesentlicher Übelstand des Ar-
beiiens mit Pfeifen und anderen Untersuchungs-
apparaten, wie z. B. dem Monochord, einem
Saiteninstrument mit verschiebbaren Stegen, be-
steht ferner darin, daß die Tonstärke sich sehr
schwer und ungenau abstufen läßt. Prof. Glide-
rn e i s t e r baute sich daher einen neuen Apparat,
bei dem er die Lichtbogenmethode der draht-
losen Telegraphie zu Hilfe nahm. Er verband
einen elektrischen Kondensator von bestimmter
Fassungskraft mit einer Spule von einer be-
stimmten elektrischen Selbstüberleitung. Erteilte
er nun dem Kondensator des so entstandenen
elektrischen Systems eine Ladung, so pendelte die
elektrische Kraft hin und her und kam erst all-
mählich zur Ruhe. Diese Pendelschläge oder ge-
dämpften Schwingungen mußten nun, da sie zu
rasch verklangen, in ungedämpfte umgewandelt
werden; und zwar geschah dies, indem er Kon-
densator und Spule mit den beiden Elektroden
einer nach der Poulsenmethode von Wasser-
stoff umgebenen, pfeifenden Bogenlampe verband.
Durch Einschaltung bestimmter Kondensatoren
und Spulen des mit 220 Volt Gleichstrom ge-
speisten Apparates ließ sich leicht und schnell
jede gewünschte Tonhöhe zwischen 8000 und
25000 Schwingungen in der Sekunde erreichen,
') Zeilschr. f. Psychologie u. Physiologie d. Sinnesorgane,
Abt. II, Bd. 50, 1919, S, 161 — 191 u. 253—272.
632
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
verändern und unterbrechen. Um unerwünschte
Zischgeräusche auszuschließen, fügte Gilde-
meister noch einen besonderen Telephonkreis
mit verstellbarer Koppelung zur Verstärkung bzw.
Abschwächung des Prüftons hinzu. Neben dem
Fernsprecher und mit ihm durch eine Spule ver-
C;
PL
^3 X ^4
LfJ
DrSp
C2
S
A B
\Schl
F
Abb. I. Apparat Prof, M. Gildemeisters zur Bestimmung
der oberen Hörgrenze.
(Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane.
Abt. II, Bd. 50, 1919.)
+ — Gleichstromzuleitungen, W Widerstand, Dr Sp Drossel-
spule, PL Poulsenlampe, Cj Cj Cj C4 Kondensatoren, S Schall-
vorrichtung, um C3 oder C, oder Q und Q kurzzuschließen,
AB veränderliche Selbstinduktion, bestehend aus 2 ineinander-
zuschiebenden .Spulen, D Koppelspule, F pendelnde Spule,
Schi Schlüssel, T Telephon, X Stelle z. ev. Einschaltung
einer Selbstinduktion.
K C
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Abb. 2. Apparat zur Bestimmung der Tonhöhe.
1 aa Zuleitung des Wechselstroms, Seh Schieber des MeSdrahtes, W Wider-
sland ohne Kapazität und Selbstinduktion , C Kondensator , L veränderl.
Selbstinduktion, T Telephon. II Seh Schieber, Cj kleiner, C^ großer
Kondensator, Z Metallwalze mit daran schleifenden Drähtchen, T Telephon.
2?W0
?.•:
w
iO
Abb. 3.
SS ^.0 45
Die obere Hörgrenze, abhängig vom Lebensalter.
Nach Prof. Gildemeister, Berlin.
Die Zahlen links bedeuten die Tonhöhe, ausgedrückt in elektrischen, in Schall um-
gesetzten Schwingungen einer Bogenlampe, die unteren Zahlen das Lebensalter der
Versuchspersonen.
bunden schwebte und schwang ein schweres eisen-
freies Pendel mit 58 Schwingungen in der Minute.
Jedesmal wenn das Pendel über einer kleinen,
unten angebrachten Flachspule vorüberstrich,
„blitzte" der Ton auf. Diese Einrichtung be-
wahrte einerseits die Versuchsperson vor Ton-
ermüdung, andererseits ermöglichte sie es dem
Professor, die Gehörsangaben zu prüfen. Jeder
mußte sich nämlich mit dem Fernsprechhörer am
Ohr so aufstellen, daß er das Pendel nicht sah.
Statt dessen mußte er mit der einen Hand den
Takt des schwingenden Tonpendels schlagen.
Währenddessen wurde dessen Ton vom Prüfenden
durch Verschieben zweier Spulen immer höher
gemacht. Sobald nun die Hörgrenze überschritten
war, äußerte sich das durch falsches, zu schnelles
oder zu langsames Taktieren, und wurde erst
wieder richtig, wenn Gildemeister den Prüfton
entsprechend erniedrigte. Zur weiteren Sicherung
und Überwachung der Angaben, die übrigens
stets sehr bestimmt und bei mehrfachen Ver-
suchen miteinander übereinstimmend gemacht
wurden, dienten noch bestimmte Schaltvorrich-
tungen, ferner ein Schlüssel, der den Ton auf
Wunsch sofort zum Verschwinden brachte. Um
die von den Versuchspersonen angegebenen Hör-
grenzen hinsichtlich der erreichten Tonhöhe zahlen-
mäßig nach der Eichtabelle zu bestimmen, baute
sich Gildemeister dann noch einen besonderen
Fernsprechapparat mit einer Wheatston eschen
Brückenanlage und einem zur Bestimmung der
bei den höchsten Tönen von dem Prüfenden
selbst nicht erreichten Hörgrenze die-
nenden, sog. Schleifer oder Tikker der
drahtlosen Telegraphie. *) Das ist ein
zwischen zwei Kondensatoren ange-
brachter, sich drehender Messingzylinder
mit einem daran schleifenden feinen
Kupferdrähtchen. Solange der Prüfende
nicht haarscharf auf das Minimum der
gefundenen Hörgrenze eingestellt hat,
meldet sich dieser vortreffliche kleine
Wächter durch ein eigentümliches
Kratzen und Rauschen im Fernsprecher,
das erst im Augenblick der richtigen
Einstellung sich beruhigt.
Wir kommen nun zu den Ergeb-
nissen, die aus den Angaben
von 51 Versuchspersonen,
Schülern, Studenten, zwei Mäd-
chen, Lehrern, Beamten, Kauf-
leuten, Landwirten und Ar-
beitern verschiedener Hand-
werke erzielt wurden. Alle
diese Personen im Alter von
6 bis 47 Jahren besaßen ein
durch sorgfältige Vorunter-
suchung festgestelltes Normal-
gehör. Fast bei allen wurden
rechtes und linkes Ohr beson-
ders geprüft und zwar zuerst
durch das locker vor das be-
treffende Ohr gehaltene Siemens und Halske-
telephon mit verstellbarem Stahlmagnet, dann
mittels eines Dosentelephons von 600 Ohm
Widerstand, wobei beide Ohren durch feuchte
') J. Zenneck, Lehrbuch der drahtlosen Telegraphie.
z. Aufl. Stuttgart 1913.
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
633
Watte verstopft waren und der Hörer mit der
metallenen Rückseite stark gegen den Warzen-
fortsatz des äußeren Ohres gepreßt wurde, so daß
die Schallwellen durch die Knochen geleitet
wurden. Die obere Hörgrenze des jüngsten,
6jährigen Schülers lag für Luft- und Knochenleitung
des rechten Ohres bei 19800, die des linken für
Luftleitung bei 18700, für Knochenleitung bei
19800 Tonschwingungen in der Sekunde. Bei
einem 9jährigen Schüler endete das Hören rechts
für Luftleitung mit 20400, für Knochenleitung
mit 19200, links mit 20100 bzw. 20 000; bei
einem 12jährigen rechts mit 20400 bzw. 19500,
links mit 20400 bzw. 21000; bei einem 18-
jährigen, dem besten aller geprüften Hörer, rechts
mit 20800 bzw. 18800, links mit 20 400 bzw.
19100; bei einem 20jährigen Studenten rechts
mit 17900 bzw. 17 100, links mit 14900 bzw.
16300; bei einem 22 jährigen Techniker rechts
mit 17900 bzw. 17500, links mit 18 600 bzw.
17800; bei einem 24jährigen Bergmann rechts
mit 14200 bzw. 15800, links mit 14 900; bei
einem 33 jährigen Lehrer rechts mit 17900 bzw.
17500, links mit 17900 bzw. 17700; bei einem
34jährigen Maurer rechts mit 10400 bzw. 10 100,
links mit I0 200 bzw. 9300; bei einem 44 jährigen
Kaufmann rechts mit 12700 bzw. 10 300, links
mit 12900 bzw. 7400 ; bei einem 45 jährigen
Landwirt rechts mit 14200, links mit 14400 bzw.
14600. Bei drei älteren Personen, die nur unvoll-
ständig untersucht wurden, fand Gildemeister
schließlich noch folgende Hörgrenzen: ein 56-
jähriger Beamter hörte mit Luftleitung rechts bis
zu 9300, links bis zu 9600, ein 59jähriger Arzt
rechts bis zu 12 100, links bis zu 11 200 und end-
lich ein 77jähriger Landwirt rechts durch Luft-
leitung bis zu 8600, durch Knochenleitung bis zu
9000 Schwingungen in der Sekunde.
Aus den von Prof. Gildemeister zu einer
langen Tabelle zusammengestellten Hörproben
geht folgendes hervor. Es ist verhältnismäßig
selten, daß jemand mit dem rechten und linken
Ohr gleich gut hört. Der Hörunterschied zwischen
beiden Ohren war oft groß und blieb genau so
groß auch nach vielen am gleichen oder beliebig
späterem Tage vorgenommenen Prüfungen, so daß
von Versuchsfehlern oder Selbsttäuschungen nicht
die Rede sein kann. Eine Bevorzugung des
rechten oder linken Ohres jedoch ist durchaus
nicht nachzuweisen. Dagegen spielt das Lebens-
alter eine große Rolle. Kinder und junge Leute
bis zu 20 Jahren hören die hohen Töne am besten.
Doch findet selbst hier schon eine langsame all-
mähliche Abnahme statt. Von zwanzig bis Mitte
der dreißiger Jahren sinkt der Durchschnittswert
bedeutend, hält sich dann bis Mitte der Vierzig
auf annähernd gleicher Höhe, um von hier bis
zum Greisenalter wieder sehr beträchtlich zu
sinken. Die Abnahme beträgt vom 6. bis 47. Jahre
durchschnittlich 7000 Schwingungen, d. h. von
20000, die dem musikalischen Ton dis in der
siebenten Oktave entsprechen, bis 1 3 000, dem gis
in der sechsten Oktave ; das ist eine volle Quint.
Während man ferner bisher annahm, daß das
Hören durch Knochenleitung schärfer und besser
sei als durch Luftleitung, fand Gildemeister
das Umgekehrte: von 90 Fällen erwies sich in
52 das Hören der höchsten Töne bei Luftleitung
besser, in 11 Fällen ebensogut und nur in 27
Fällen schlechter als bei Knochenleitung. Daß
es für das Hören endlich nicht gleichgültig sein
kann, ob ein und derselbe hohe Ton schwach,
mittel oder stark erzeugt wird, war von vorn-
herein anzunehmen, aber daß die Steigerung der
Stärke die obere Hörgrenze selbst um durch-
schnittlich 1100 Schwingungen, d. h. um einen
halben Ton, bei 20 Versuchspersonen verschiedenen
Alters tatsächlich in die Höhe trieb, war doch
überraschend. Auf das Ergebnis der für später
in Aussicht genommenen Fortsetzung der Ver-
suche mit allerstärksten Tönen ist man daher
recht gespannt.
Inwiefern besondere Umstände das Hören
hoher Töne beeinflussen, hat Prof. Gildemeister
auch an sich selber beobachtet. Trotz seiner
langen Beschäftigung mit diesen Versuchen, bei
denen man durch die fortwährende Übung eine
Erweiterung der oberen Grenze erwarten sollte,
war dies nicht der Fall, im Gegenteil sie sank
binnen 4 Jahren um 200 Schwingungen. Anderer-
seits steht es fest, daß Leute, die viel telephoniert
hatten, oft stark über dem Durchschnitt liegende
obere Hörgrenzen zeigten, während letztere bei
Bergleuten durch Sprengarbeiten, bei Schmieden
durch ihr Handwerksgeräusch oft stark herabge-
drückt war. Die durch das körperliche Befinden
verursachten Schwankungen von einem Tag zum
anderen betrugen bei Prof Gildemeister nie
über 200 Schwingungen, dagegen trat eine Er-
müdung gegen hohes Tongeräusch sehr schnell
ein und erniedrigte die obere Grenze dann sofort
um mehrere hundert Schwingungen, wenn man
nicht, wie gezeigt, einen besonderen Rhythmus
durch Pendelschlag erzeugte, der die hohe Ton-
einsamkeit in bestimmten Abständen durchblitzte
und zerlegte.
Was schließlich die Hörschärfe zu den ver-
schiedenen Tageszeiten betrifft, so hat Prof. B a c h -
rach^) unlängst durch viele Versuche nachge-
wiesen, daß die beste Zeit zum guten Hören der
Spätnachmittag und nicht etwa der Abend oder
die Nacht ist, die sich nur durch das Fehlen
starker Tagesgeräusche, aber nicht durch bessere
Schalleitung der Luft oder Knochen auszeichnet.
Hermann Radestock,
Neue Mineralien.
Pyrobelonit nennt G. Flink (Medd. frän
Stockh. Högsk. Mineral. Inst. Stockholm 192 1,
Nr. 16) ein neues Blei-Mangan- Vanadat von Läng-
') Zeitschr. f. Psychol. u. Physiologie d. Sinnesorgane,
Abt. II, Bd. 49, 1916.
634
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
banshyttan. Der Name ist aus 715(1= Feuer und
ßeXovrj = ]>iadel gebildet, weil die nadeiförmigen
Kristalle meistens mit feuerroter Farbe durch-
scheinend sind. So weit mit Sicherheit bekannt
ist, kommt der Pyrobelonit nur in Form von gut
ausgebildeten Kristallen vor, die an Länge kaum
ein paar mm überschreiten und deren Querschnitt
selten Vio ^^^ Länge erreicht. Sie gehören der
prismatischen Klasse des rhombischen Systems
an. Das Achsenverhältnis ist a:b: 0 = 0,80402: i :
0,65091. Die Kristalle treten in drei Ausbildungs-
typen auf, von denen eine pyramidale, die beiden
anderen domatische Endbegrenzungen zeigen. Nach
Farbe und Glanz ist das Mineral am ehesten mit
Rotgültigerz zu vergleichen. Die optische Achsen-
ebene fallt mit der Basis zusammen. Die Brechungs-
indices des Minerals liegen so hoch, daß sie in
keiner der gewöhnlichen Einbettungsflüssigkeiten
haben bestimmt werden können. Die Härte ist
gering, H = 3,5. Das Mineral ist ziemlich spröde.
Spaltbarkeit konnte nicht festgestellt werden. Der
Bruch ist muschelig, die Strichfarbe orangegelb
oder rötlich. Das spez. Gewicht ist 5,377.
Die chemische Analyse ergab folgende Zu-
sammensetzung :
I II III
V2O5 20,03 20,03 20,20
P2O5 0,05
PbO 48,82 48,82 49,33
FeO 0,47
MnO 25,01 27,53 27,48
MgO 0,60
CaO 0,79
HjO 3.02 3,02 2,99
SiOj 0,21
100,00
Aus der Analyse wird folgende Formel ge-
deutet :
2PbO-2RO.V205 + 3[2Pb0.4RO-2H20.V2 0J.
I. Mittel aus zwei Analysen, II. gefundene,
III. berechnete (nach obiger Formel) Werte nach
Umrechnung von Fe, Mg und Ca in Mn.
Von den bekannten Mineralien dürfte der
Descloizit dem Pyrobelonit am nächsten stehen.
Von der Verbindung Mn(0H)2 war bis jetzt
nur eine rhomboedrische Modifikation bekannt,
der Pyrochroit. Eine neue rhombische Modifi-
kation beschreibt G. Am in off (Ebenda, Nr. 12)
und nennt sie Bäckstr ömit. Das neue Mineral
kommt zusammen mit Pyrochroit in den sog.
Kalkspatspalten in den Längbansgruben vor, in
bis zu 30 mm langen Kristallen. Das Achsen-
verhältnis ist a: b:c = 0,7393 : 1:0,6918. Die
Kristalle treten in viererlei Typen auf, von denen
zwei keine Spaltbarkeit, die beiden anderen eine
solche oder eine Absonderung parallel der seit-
lichen Endfläche zeigen. Diese Unregelmäßig-
keiten in bezug auf die Kohäsion können einer-
seits mit der Oxydation zu manganitartiger Sub-
stanz zusammenhängen, andererseits können sie
möglicherweise mit der Modifikationsänderung
Bäckströmit -> Pyrochroit in Zusammenhang ge-
bracht werden. Die Kristalle des einen Typus
sind oft in orientierter Verwachsung mit Pyro-
chroitkristallen überwachsen, wobei die Basis des
Pyrochroits parallel ist der seitlichen Endfläche
des Bäckströmits. Auch lamellare Verwachsungen
beider Mineralien kommen vor. Röntgenogramme
auf [oio] von solchen Kristallen, die eine deut-
liche Spaltbarkeit (Absonderung?) nach der seit-
lichen Endfläche zeigen, ergeben überraschender-
weise in allen Einzelheiten das Basisröntgeno-
gramm des Pyrochroits. Der Verf. zieht daraus
den Schluß, daß die Struktur des Bäckströmits
nicht mehr rhombisch, sondern rhomboedrisch
und der des Pyrochroits identisch ist. Man darf
also annehmen, daß die rhombische Modifikation
von Mn(0H)2 beim Fortschreiten des Kristalli-
sationsprozesses aufhört stabil zu sein und in die
rhomboedrische Modifikation umgewandelt wird.
Das in der Lösung zurückgebliebene Mn(OH).,
wird später in der Form von Pyrochroit ausge-
schieden, wobei die Pyrochroitkristalle teilweise
in gesetzmäßiger Verwachsung auf den Bäckströ-
mitkristallen kristallisieren. Da die jetzt vor-
liegenden Bäckströmitkristalle z. T. in eine manga-
nitartige Substanz durch Oxidation an der Luft
umgewandelt sind, wären sie als doppelte Pseudo-
morphosen zu betrachten (Bäckströmit -^ Pyro-
chroit ~> manganitartige Substanz). Da frisches
Material für die Analyse nicht zur Verfügung
stand, wurden oxydierte Kristalle dazu verwendet,
deren Zusammensetzung sich der des Manganits
nähert. Da gleicherweise oxydierte Pyrochroit-
kristalle eine ganz ähnliche Zusammensetzung
zeigten, nimmt der Verf. an, daß beide Mineralien
im frischen Zustand die gleiche Zusammensetzung
hatten.
Der Nachweis einer rhombischen Modifikation
der Verbindung Mn(OH)2 enthält nichts Uner-
wartetes. Zn(0H)2 ist rhombisch und von Ca(0H)2
kennt man sowohl eine hexagonale wie auch eine
rhombische Modifikation. Mangels sicherer Daten
für die rhombischen Modifikationen von Zn(OH)o
und Ca(OH)., konnte die Frage der geometrischen
Relation zwischen den drei Stoffen nicht mit
Sicherheit gelöst werden.
Ebenfalls von Längbanshyttan stammt ein
neues Arsenit, das G. Amin off und R. Man-
zelius (ebenda, Nr. 15) beschreiben und Ar-
mangit benennen, nach den Anfangssilben seiner
beiden hauptsächlichsten chemischen Komponenten
Arsen und Mangan. Das Mineral kommt zusam-
men mit Calcit, Schwerspat, Fluorit, Hämatit und
zwei noch unbekannten Mineralien in den erwähn-
ten Kalkspatspalten vor, meist kristallinisch, selten
in Kristallen. Es ist von schwarzer Farbe und
gibt braunen Strich. Mikroskopische Splitter sind
braun bis gelb. Es kristallisiert rhombocdrisch-
hemiedrisch. Die Härte ist etwa 4 ; die Spaltbar-
keit, nicht sehr ausgesprochen, geht parallel der
Basis. Optisch ist das Mineral einachsig und
negativ. Die Brechungsindizes sind sehr hoch.
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
635
höher als der einer Lösung von Schwefel in
Methylenjodid (~ 1,79), aber niedriger als amor-
pher Schwefel (= i,93)- Die Doppelbrechung
ist schwach. Pleochroismus ist nicht wahrnehm-
bar. Das spezifische Gewicht ist 4,23.
Die chemische Analyse ergab folgende Zu-
sammensetzung: As203= 42,92; SboOg = 0,40;
PbO = o,32; FeO = 2,i9; MnO^ 45,06; CaO
= 2,83; MgO = o,49; H20 = 0,7i; CO.^ = 5,08;
Unlösl. ^= 0,20; Summe ^ 100,20. Der hohe
Betrag an Kohlensäure rührt von beigemengtem
Mn-, Ca- und MgKarbonat her. Aus diesem
Analysenbefund berechnen die Verff. die Formel
Mn8(As03)3 für das neue Mineral.
Schließlich beschreibt G. F 1 i n k (ebenda Nr. 1 8)
noch zwei weitere neue Mineralien, die 1919 in
einer Tiefe von 150 m in den Gruben von Läng-
banshyttan gefunden wurden, den T r i g o n i t und
den D ixen it.
Der Trigonit, der Name ist von xQ^uovog,
Dreieck, abgeleitet, kommt in Klüften im Dolo-
mit vor zusammen mit Blei und mehreren anderen
noch nicht untersuchten Mineralien in Kristallen
bis Va cm Länge. Er gehört dem monoklinen
System an. Das Achsenwinkelverhältnis ist
a:b:c= 1,03395= i : 1.65897; /5 = 9i''3i'-
Die Farbe des Minerals ist hell schwefelgelb bis
bräunlich, es ist durchscheinend mit Glas- bis
Diamantglaz und zeigt keinen Pleochroismus. Die
Brechungsexponenten sind a = 2,o8, 7^=2,16.
Die Achsenebene geht parallel der Symmetrie-
ebene. Die Härte ist 2 — 3, die Spaltbarkeit sehr
vollkommen nach der Symmetrieebene, weniger
gut nach einem Hemidoma. Die chemische Ana-
lyse ergab: As^Og = 28,83; PbO = 63,40; CaO
0,23; FeO = o,i5; MnO = 6,79; MgO — o,ii;
0,81 ; Unlösl. = 0, 1 3 ; Summe 100,45. Der
Verf. berechnete daraus die Formel : Pb3MnH(As08)3,
die 28,4 AS2O3; 64,0 PbO; 6,7 MnO; 0,9 HjO
erfordern würde.
Der Dixenit kommt in dünnen, blättrigen
oder rundlichen Aggregaten, nicht in Kristallen,
in schmalen Adern im Roteisenerz, Serpentin oder
Dolomit vor, zusammen mit einem noch unbe-
kannten glasigen Mineral. Im durchfallenden
Licht zeigt er eine rote Farbe. Er ist optisch
einachsig und positiv. Nach dem Lauephotogramm
ist das Mineral rhomboedrisch oder hexagonal.
Die Härte ist 3 — 4, die Spaltbarkeit geht parallel
der Basalebene. Der mittlere Brechungsexponent
ist 1,96, das spezifische Gewicht ;= 4,20. Die
Analyse ergab: ASjOg = 30,55; P2O5 = 0,09;
Si02 = 8,66; CuO = 3,38; FeO = 4,54; MnO
= 48,94; MgO = 0,50; CaO = 0,28; H20 = 3,38;
Summe ;= 100,32. Der Verf. berechnete daraus
die Formel: (HOMn)2Mn3Si03(As03)2. F. H.
Die Konstitution der Mischkristalle und die
Raumerfüllung der Atome.
In Fortsetzung der Untersuchungen über den
Feinbau der Mischkristalle, die zusammen mit
H,0
H. Schjelderup schon 191 7 veröffentlicht wur-
den (vgl. Naturw. Wochenschr. 1920, S. 749, An-
merkung) teilt L. Vegard in der Zeitschrift für
Physik V. Band, S. 17 — 26 (1921) seine neuesten
Untersuchungsergebnisse mit. — In der erwähnten
früheren Arbeit wurde die Braggsche lonisations-
methode angewandt und mit ziemlicher Bestimmt-
heit erkannt, daß ein Mischkristall nicht durch
Aufeinanderlagerung homogener Schichten gebildet
wird. Bei den neueren Untersuchungen wurde
nach der Debye-Scherr er- Methode Kristall-
pulver der röntgenographischen Untersuchung
unterworfen. Als Strahlungsquelle diente eine
eigens konstruierte Röntgenröhre mit Kupfer-
antikathode, die unter kontinuierlichem Durch-
strömen von Luft und kontinuierlichem Auspum-
pen betrieben wurde. Expositionszeit war in der
Regel 3 — 4 Stunden, in einigen Fällen, wo mög-
licherweise vorhandene schwache Linien entdeckt
werden sollten, wurde 10 Stunden bestrahlt. Es
wurden die regulären Mischkristalle von KCl — KBr,
von KCl — NH4CI, außerdem die rhombischen von
K2SO4 und (NH^),S04 untersucht.
Die Aufnahmen von den Mischkristallen und
ihren reinen Komponenten wurden unter völlig
gleichen Verhältnissen gemacht. Aus den in der
Arbeit wiedergegebenen Originalphotogrammen
ergibt sich folgendes: Die Mischkristalle geben
ebenso scharfe Linien wie die reinen Komponenten,
neue für die ersteren etwa charakteristische Maxima
sind auf den Filmen nicht zu beobachten. Eine
Aufnahme von einer mechanischen Mischung von
KCl und KBr zeigt im Gegensatz hierzu für
größere Ablenkungswinkel eine Vermischung der
Linien der reinen Komponenten. Die Misch-
kristalle ergaben in den untersuchten Beispielen
auch stets Linien, deren Abstände gerade zwischen
denen der entsprechenden reinen Komponenten
lagen. Daraus leitet Vegard die Bestätigung
der auf Grund der lonisationsmethode noch un-
sicher gebliebenen Anschauung ab, daß die
Mischkristalle charakterisiert sind
durch einen unregelmäßigen Ersatz
der sich gegenseitig vertretenden
Atome.
Die Volumenänderungen, welche diese un-
regelmäßige Atomsubstitution begleiten, kenn-
zeichnen sich bei Ersatz von Br durch Cl als
eine Zusammenziehung, beim Ersatz von K durch
NH^ aber als Ausdehnung. Dies erscheint zu-
nächst auffallig, da NH^Cl ein kleineres Molekular-
volumen besitzt als KCl. Es erklärt sich aber
dies Verhalten daraus, daß im Mischkristall die
NH4- Gruppe in einem ganz anderen Raumgitter
vorliegt als im reinen NHjCI. Während daher
für das System KBr — KCl die gefundene Seiten-
länge des Elementarwürfels mit großer Genauig-
keit das bekannte Additivitätsgesetz erfüllt, läßt
sich für das System KCl — NH4CI diese Additivität
nur dann finden, wenn man für das NH^Cl in
reinem Zustand ebenfalls ein flächenzentriertes
Gitter (wie für KCl) zugrunde legt. Für dieses
636
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
1
läßt sich diese Kantenlänge aus den Mischkristallen
berechnen. Aus diesem Additivitätsgesetz würde
aber folgen, daß jede Atomart einen für das be-
treffende Element charakteristischen Raum ver-
langt. Schreibt man in erster Annäherung mit
Bragg (vgl. Naturw. Wochenschr. 1921, S. 608)
den Atomen Kugelgestalt zu, so kann man nach
Vegard folgende Extremfälle unterscheiden:
I. Die einander ersetzenden Atome haben im
IVIischkristall denselben Atomdurchmesser wie in
der reinen Substanz. 2. Die einander ersetzenden
Atome besitzen im Mischkristall beide ein und
denselben Atomdurchmesser. Letzterer müßte
dann innerhalb größerer Grenzen änderungsfähig
sein. Aus der Schärfe der Linien in den für die
Mischkristalle erhaltenen Röntgenogrammen folgert
Vegard nun, daß keine „Mikrozerstörung", wie
sie nach seiner Ansicht im ersten Falle eintreten
müßte, vorliegen kann, sondern daß der zweite
Fall eintritt, d. h. daß die einander ersetzenden
Atome sich im Mischkristall auf annähernd den-
selben Durchmesser einstellen. In der in Aus-
sicht gestellten vollständigeren Abhandlung (Vid.
Selsk. Skr. Kristiania) wird eine ausführlichere
Behandlung dieses Problems in Aussicht gestellt.
Wie oben erwähnt, wurde das Raumgitter des
reinen NH^Cl und NH^Br als vom NaCl- Typus
(flächenzentrierte Würfelgitter) abweichend gefun-
den. Dies geht schon bei flüchtiger Betrachtung
der recht verschieden aussehenden Diagramme
hervor. Die untersuchten Mischkristalle mit 20 %
NH4CI und 80 "Ig KCl schließen sich dagegen be-
reits dem reinen KCl, also dem NaCl-Typus, voll-
kommen an. Vegard findet für das reine NH^Cl
folgende Anordnung: „Ein einfach kubisches Cl-
Gitter ist durch ein ähnliches N-Gitter zentriert.
Aus Symmetriegründen müssen die H-Atome auf
den Würfeldiagonalen liegen." Die Richtigkeit
dieser Anordnung ergibt sich aus dem Vergleich
der beobachteten Lagen und Intensitäten der
Maxima mit den für diese Bauart berechneten
Werten. Es wurden auch NH^Br- Kristalle ver-
schiedener Entstehungsart untersucht und für diese
in allen Fällen die gleiche Atomanordnung wie
für NH4CI gefunden. Dagegen wurde von V e -
gard selbst für NHjJ ein flächenzentriertes Gitter
des NaCl-Typus angegeben. Dichtebestimmungen
deuten darauf hin, daß NH^Br, entsprechend seiner
Stellung zwischen NH4CI und NHJ, je nach den
Entstehungsbedingungen bei gewöhnlicher Tem-
peratur in beiden Gitterformen existieren kann.
Im letzten Teil der Arbeit werden in der
Braggschen Weise die Durchmesser der NH^-
Gruppen und des Wasserstoffatoms errechnet;
beide zeigen im NHjClTypus eine größere Raum-
erfüllung als im NaCl-Typus. Zum Schluß wird
erwähnt, daß Bragg (vgl. Naturw. Wochenschr.
192 1, S. 609) für die Elemente innerhalb einer
Gruppe des periodischen Systems annähernd die-
selbe typische Variation der aus dem kristallisierten
Zustande errechneten Atomradien findet, wie sie
Vegard selbst von theoretischen Gesichtspunkten
aus für die Radien der äußeren Atomringe abge-
leitet hat. [Philosophical Magazine, Bd. 37, S. 278
(191 9).] Spbg.
Bekänipfuug vou Fflanzeuschädliugeii mit
kolloidalem Schwefel.
Der Schwefel findet als Mittel gegen Insekten
und Schwammbildung seit langer Zeit Verwendung.
Der echte Mehltau wird sogar beinahe ausschUeß-
lich damit bekämpft. Nun wirkt der Schwefel
um so nachdrücklicher, je feiner seine Verteilung
ist. Einmal ist seine Haftfestigkeit größer, zum
anderen ist die Möglichkeit gegeben, daß ihm bei
genügend feiner Verteilung die diesem Zustand
aller Stoffe eigene erhöhte chemische Wirksam-
keit zukommt. Der Gedanke ist darum nahe-
liegend, die Verteilung des Schwefels von vorn-
herein so weit zu treiben, daß seine Teilchen in
kolloidale Größenordnung und damit in er-
fahrungsgemäß wirksamstes Gebiet gelangen.
Von der Firma de Haen, Seelze, kommt
seit einiger Zeit ein Präparat mit den zuletzt an-
gedeuteten Eigenschaften unter dem Namen
„kolloidal löslichen" Schwefels in den Handel.
Über Erfahrungen mit diesem Mittel, die auch
theoretisch recht belangreich sind, berichtet
Hugo Kühl.i) Was zunächst die Haftfestigkeit
des Präparates betrifft, so ist sie infolge der feinen
Dispersion so gut, daß auf einer Glasplatte ver-
teilte Schwefelmilch nach dem Eintrocknen einen
Überzug bildete, der sich weder in fließendem
noch in tropfendem Wasser zusammenballte. In
einem praktischen Versuch hielt eine geschwefelte
Pflanzung einen I4tägigen Dauerregen aus, ohne
Nachteile zu erleiden.
Die feine Verteilung des kolloidalen Schwefels
legt natürlich die Befürchtung nahe, daß infolge
der gesteigerten Oxydationsmöglichkeit Blatt-
verbrennungen statthaben möchten. Der
Versuch ergab jedoch, daß solche bei z. B. Wein-
stock, Stachelbeere, Kirsche und Hollunder nicht
vorkommen. Im zerstreuten Tageslicht litt darunter
ein wenig lediglich die Hundsrose, die im grellen
Sonnenlicht sogar bedeutende Schädigungen auf-
wies. Doch lassen sich derartige Fälle bei ge-
eigneter Handhabung leicht vermeiden. Immer-
hin mögen sie als Beispiel für die sehr beträcht-
lichere Oxydationsfähigkeit kolloidalen Schwefels
dienen. Dieser verhält sich dem Luftsauerstoff
gegenüber ebenso wie pyrophores Eisen, das sich
bekanntlich sogar selbst entzündet.
Beiden Umständen, großer Haftfestigkeit und
vermehrter chemischer Wirksamkeit, ist es nun
auch zuzuschreiben, daß die biologische Wirkung
des kolloidalen Schwefels so ungewöhnlich gut
und den bisher benutzten Präparaten überlegen
ist. Beide Umstände müssen zusammen
wirksam sein, denn keine der vorhandenen Theo-
rien, die sich einseitig festlegten, kann die Wirk-
') Chemiker-Zeitung 45, S. 479, 1921-
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
637
samkeit des Schwefels befriedigend erklären. Zwar
spricht für die rein mechanische Erklärung, nach
der das Mycel infolge Luftabschlusses absterbe,
die Beobachtung Chretiens von 1856, die er
seinerzeit der Akademie der Wissenschaften in
Paris demonstrierte und die im wesentlichen mit
spanischen Beobachtungen zusammenfällt. Nach
diesen blieben Stöcke einer von Mehltau befallenen
Pflanzung, die an der Straße standen, trotz Fehlens
irgendwelcher Behandlung von Mehltau fr e i. Der
in dicker Schicht den Blättern aufliegende Staub
der Straße hatte zweifellos das Wachstum des
Mycels unterbunden. Andererseits sprechen ge-
wisse Tatsachen für die chemische Erklärung.
So ist die Wirksamkeit des Schwefels in der Wärme
stärker, was nur durch Erhöhung einer chemischen
Umsetzungsgeschwindigkeit gedeutet werden kann.
Auch ist die Bildung von Schwefeldioxyd nach-
gewiesen worden. Auch dies kann in hinreichen-
der Konzentration sehr wohl tötend wirken. Wie
dem nun in Wahrheit sei : die kolloide Verteilung
des Schwefels begünstigt beide Möglichkeiten,
und so ist seine Wirksamkeit zweifellos einer Er-
höhung sowohl der chemischen Reaktionsfähigkeit
wie des intensiveren mechanischen Abschlusses
des Mycels anzurechnen : ein gutes Beispiel für
die biologische, in diesem Fall auch praktische
Bedeutung der kolloidalen Verteilungsform der
Materie. H. Heller.
Über den Äther im Weltbild der Physik
findet sich eine vielseitige, geistvolle Darstellung
vonWiechert in den Nachrichten der Göttinger
Akademie, 1921, Heft i. Am bemerkenswertesten
ist darin der scharfe Gegensatz zur Relativitäts-
theorie. Während nach Einstein die Verteilung
der Materie einen Einfluß auf die Maßverhältnisse
im Raum hat, die durch 10 Größen gekennzeichnet
werden, die die Struktur des Raumes kennzeichnen
sollen, betont W i e c h e r t die Gefährlichkeit dieser
zwar mathematisch interessanten Ausdrucksweise
für die Physik. Mit der Deutung jener 10 Größen
beginne erst das eigentliche physikalische Leben.
Der Ausdruck Äther ist schon deshalb zu ge-
brauchen, um der Physik eins ihrer wichtigsten
Probleme klar zu zeigen. Dem Einsteinschen
Grundgedanken, daß im vierdimensionalen Raum
die imaginär gemachte Zeitkoordinate den Raum-
koordinaten völlig gleich zu stellen sei, ist für
Wiechert eine zwar mathematisch interessante,
aber durch die Tatsachen in keiner Weise gebotene
Hypothese, da ja Raum und Zeit sich für die
Physik fundamental unterscheiden , was auch in
der Theorie durch den Ausdruck — i klar zum
Ausdruck kommt. Es wird darauf hingewiesen,
daß Mach mit Recht 1912 Einstein nicht
unter die Relativisten zählen konnte, da ja
dessen erste Theorie trotz ihres Namens eine
Absoluttheorie war, während die von diesem
zurückgewiesene L o r e n t z sehe Äthertheorie eine
echte Relativitätstheorie war. Läßt man sich
durch den Gedanken der Körperrelativität leiten,
so muß man im Weltuntergrund etwas Körper-
liches als wirkend annehmen, und dann wird die
Einst einsehe Theorie zur Äthertheorie. Es er-
scheint überhaupt die molekulare Materie mit
ihrem ganzen physikalischen Sein der Herrschaft
des Äthers unterworfen , während sie sich ihrer-
seits mit einem sehr geringen Einfluß begnügen
muß. Der Äther erscheint als Träger aller Kräfte
der Welt, als das, was dieser die Körperlichkeit
gibt. Die Atome der molekularen Materie sind
offenbar Stellen ausgezeichneter Beschaffenheit des
Äthers. Wir erkennen aber nur die molekulare
Materie, da wir selber aus ihr bestehen, aber hinter
der Welt, die wir schauen, liegt eine andere, deren
Wirkung wir wohl empfinden, für deren Erkennt-
nis wir aber nur sehr unvollkommen ausgerüstet
sind. Die molekulare Materie ist nicht die Grund-
lage für den Bau der Welt, vielleicht aber dürfen
wir in den Atomen Höhepunkte für das Welt-
geschehen erblicken. Riem.
Die Messimg des Durchmessers eines
Fixsterns
(siehe Nr. 30 dieses Jahrganges), und die dabei
erhaltene ungeheuere Ausmessung des Sternes
Beteigeuze oder alpha Orion geben Picke ring
Veranlassung zu folgender Überlegung. Wir
wissen, daß die Sterne an Masse ungefähr gleicher
Ordnung sind, daß also unsere Sonne nicht um
das unermeßliche an Masse übertroffen wird.
Nehmen wir also an, daß Beteigeuze unsere Sonne
um das 100 fache an Masse übertreffe, was sehr
viel ist, dann würde bei einem Querschnitt von
der Größe der Marsbahn die Dichtigkeit = V2100ÜÜ
unserer Sonne sein oder ^ibo einer Atmosphäre.
Dem entspräche eine Schwere von '/^ der auf
dem Monde, der trotz seiner Kälte keine Atmo-
sphäre zu halten vermag. Wieviel weniger jener
heiße Stern, der müßte sich, wenn eine Gasmasse,
von selbst in den Raum verflüchtigen, auch ohne
den Strahlungsdruck zu berücksichtigen. Infolge-
dessen müsse man die Meteoriten- oder Plane-
tesimalhypothese zu Hilfe nehmen. Etliche 100
Millionen Körperchen von Mondgröße und kleiner,
sollen in zwei kugelförmigen Haufen von je etwa
Neptunsbahndurchmesser umeinander laufen, sie
werden sich zum Teil berühren, durchdringen, zu-
sammenstoßen und teilweise in Glut geraten, und
uns so den leuchtenden Stern zeigen. Dieser
wird sich als unregelmäßig veränderlich erweisen,
und die Helligkeit wird durch zunehmende Zu-
sammenstöße für eine gewisse Zeit zunehmen.
Wir erhalten eine stetige Entwicklung von den
zahllosen unterschiedenen kleinen Körperchen zu
einer leuchtenden Gasmasse, von der gewisse
Teile mit verschiedenen Geschwindigkeiten um-
laufen. Es ist abzuwarten, was andere Messungen
an anderen hellen Sternen anderer Spektralklassen
und an Nebelsternen für Durchmesser ergeben
werden. An der Richtigkeit der Messung selbst
638
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
aus Interferenzen ist nicht zu zweifeln, nachdem
eine Kontrollmessung an einem sehr engen Doppel-
stern das gewünschte übereinstimmende Ergebnis
gezeitigt hatte. ""'
Riem.
Weltauschaiiung von Naturvölkern.
Als maßgebend für die Bestimmung und Ab-
grenzung der Kulturen der Naturvölker betrachtet
Günter Teßmann^) die Gesamtheit der An-
schauungen im Gebiete der Religion, des Zauber-
glaubens und des Glaubens an verschiedene Kräfte
in Stoffen und daneben auch noch die gesell-
schaftlichen Erscheinungsformen. Alles andere,
meint T., „hat für die Festlegung einer Kultur
nur sehr geringen, meist gar keinen Wert. . . .
Waffen und Musikinstrumente, Kleidung und
Schmuck, werden im Handumdrehen angenommen
oder aufgegeben, Wirtschaftsformen, Technik und
Hausbau mehr oder weniger schnell, die Welt-
anschauung aber zuletzt oder niemals". Als Bei-
spiele zieht T. die Weltanschauungen der Stämme
Kameruns heran, bei welchen er drei Urkulturen,
die auf bestimmten Weltanschauungen beruhen,
gefunden hat, nämlich die Zauberkultur, Ver-
wandlungskultur und Seelenkultur. Diese Ur-
kulturen sind jedoch durchaus nicht etwa auf
Kamerun oder auf Afrika beschränkt, sondern sie
sind überall in der alten Welt die Grundlagen
der Kulturentwicklung. Dasselbe wird in bezug
auf Amerika angenommen, doch bleibt erst fest-
zustellen, ob sie dort in relativ reiner Form wie
in der alten Welt vorkommen und welche Ent-
wicklung sie genommen haben.
Die älteste der drei Urkulturen ist die Zauber-
kultur. Sie ist in Australien am weitesten aus-
gebreitet und wird deshalb auch Australkultur
genannt. In Afrika gehören zu ihren Trägern
einige kleine Stämme in Nordkamerun, doch sind
von ihr auch viele, vielleicht die meisten anderen
Stämme dieses Festlandes mehr oder weniger be-
einflußt. Die Grundlage der Weltanschauung
dieser Stämme ist (im Gegensatz zu allen anderen
Kulturen) das Nichtbestehen eines Gottes im
Sinne einer unsterblichen übersinnlichen Persön-
lichkeit, zu der die Menschen — oder ein Teil
von ihnen — nach dem Tode wieder hinstreben.
Der Stammvater der Menschen ist durchaus
menschlich gedacht, aber doch als mit außerge-
wöhnlichen Kräften, nämlich Zauberkräften, aus-
gestattet. Daneben besteht ein Urgedanke der
Zeugung. Für die Stämme mit reiner Zauber-
kultur ist der Tod zugleich der Beginn eines
neuen Lebens auf der Erde in derselben Form,
insofern der Verstorbene in einem Kinde aufs
neue geboren wird. Die Kameruner Zauber-
stämme haben, wahrscheinlich infolge Beein-
flussung durch die Bantu, den Glauben an eine
Wiedergeburt aufgegeben, der in Australien noch
') Zeitschrift für Ethnologie, 51. Jahrgang, S. 132 — 162.
allgemein besteht. Der Zauberglaube der Kame-
runer unterscheidet sich von dem anderer Völker
dadurch, daß bei ihm der gute Zauber allein
herrschend ist; das Böse steht in einem Ab-
hängigkeitsverhältnis zu ihm. Ihren stärksten
Ausdruck findet die Zauberkultur in den geheimen
Veranstaltungen.
Die Kultur der afrikanischen Pygmäen (Rassen-
zwerge) nennt Teßmann Ver wandln ngs -
kultur oder nigritische Kultur. Ihre Grundlage
ist ein Monotheismus in ziemlich ursprünglicher
Gestalt. Das wichtigste Merkzeichen ist der Ge-
danke, daß sich die Menschen nach dem Tode
verwandeln, und zwar in Tiere. Teilweise ist
schon eine Trennung in gute und böse Menschen
entstanden, von denen die ersteren nach dem
Tode in unsichtbarer Gestalt zu Gott zurück-
kehren, während sich die bösen in Tiere wandeln.
Kulte gibt es im Bereich der Verwandlungskultur
nicht. Ebenso wie die Zauberkultur alles mit
dem Verzauberungsgedanken erklärt, geht bei der
Verwandlungskultur alles auf Verwandlung zurück.
Dualismus von Leib und Seele gibt es in keiner
Form.
Vertreter der Seelenkultur oder Südsee-
kultur sind in ganz Afrika nur die Bubi auf Fer-
nando Poo. Die Einwirkungen dieser Kultur
zeigen sich jedoch im größten Teile Afrikas mehr
oder weniger stark. Die reinste Ausprägung hat
sie in Mikronesien, aber auch in der polynesischen
Kultur ist sie das Grundelement. Bei der Seelen-
kultur hat der Gottesbegriff die stärkste Kraft
und größte Ausdehnung erlangt. Gott wird als
König in unserem Sinne gedacht und er herrscht
in einer prächtig himmlischen Stadt. Bei ihm
sind alle abgeschiedenen guten Menschen ver-
sammelt, die, welche seinen Willen befolgt haben.
Der Tod wird durch Eingriffe böser Seelen ver-
storbener Menschen erklärt, die sich besonders
im Wasser festsetzen und von dort aus auf die
Lebenden Angriffe unternehmen. Sie sind die
Verursacher aller Übel, Krankheiten und zuletzt
des Todes. Die guten Seelen wirken den bösen
entgegen und sie sind auch Vermittler zwischen
Gott und den Menschen. Einen Zauberglauben
kennt diese Kultur gar nicht.
Aus den drei Urkulturen haben sich nach
Teßmanns Auffassung die höheren Kulturen
entwickelt, und zwar durch gegenseitige Beein-
flussung. Als Hauptkennzeichen auch aller höheren
Kulturen gilt die Auffassung vom Tode. Eine
derselben ist die Auferstehungskultur, die
wohl mit hamitischen Hirtenvölkern aus Asien
nach Afrika kam. Sie ist auf dem Boden der
Verwandlungskultur erwachsen und von der Seelen-
kultur beeinflußt. Der Gottesgedanke und die
Abhängigkeit der Menschen von dem übersinn-
lichen Gott steht stark im Vordergrund, während
er bei den Völkern der ethischen Kultur
wieder mehr zurücktritt.
H. Fehlinger.
N. F. XX. Nr. 44
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
639
Eiufluß des Uiitergruudes auf das Gedeiheu
des Rehes. ^)
„Jura, Muschelkalk und Diluvium erzeugen
stärkeren Körperbau und bessere Geweihe" sagt
Forstmeister Lanz vom Rot- und Rehwild in
Wüttemberg. Ähnlich v. Gagern bezüglich des
krainisch • kroatischen Uskokengebirges. Rose
wies die Bedeutung harten Trinkwassers für die
Güte der menschlichen Zähne nach.
Die Größe von Rot- und Rehwild ist aber
nicht bloß von der chemischen Beschaffenheit des
Untergrundes abhängig. Eine wichtige Rolle
spielt auch das Klima. Seit Bergmann, 1848,
weiß man durch Feststellungen bis in die neueste
Zeit, daß kühleres Klima, in offenbarer Regulation
des Wärmehaushalts der Tiere, größere Rassen
erzeugt. Hirsch und Reh nehmen in Eurasien im
allgemeinen in Richtung der Zunahme des Tem-
peraturminimums an Größe zu. — Eine andere
Fehlerquelle wäre die Abhängigkeit des Gewichts
von der Jahreszeit. Hesse schaltet sie dadurch
aus, daß er, wo nicht genügend verteilte Einzel-
angaben zur Berechnung des wirklichen Durch-
schnittsgewichts D vorliegen, aus den zehn höch-
sten vorliegenden Gewichtsangaben deren Durch-
schnittszahl „Max. D." berechnet. Anderweitige,
nicht gerade grundsätzlich vermeidbare, aber doch
in Betracht gezogene Fehlerquellen sind: Hand-
habung des Abschusses, da der Heger zunächst
in erster Linie das Kümmerwild abschießt, später
umgekehrt um so besseren Wildstand hat; die
Pflege des Wildes durch Fütterung; Einwirkung
des Äsens auf gedüngten Feldern; endlich Ent-
artung bei inselartig abgeschlossenen Wildbestän-
den und künstliche Blutauffrischung. — „Gewicht
und Geweihbildung gehen durchaus nicht parallel,
die stärksten Hirschstangen werden oft bei Stücken
getroffen, die das Höchstgewicht nicht erreichen".
Teilweise durch Milberücksichtigung der Geweih-
und Gehirnbildung, meint Hesse, kamv. Dom-
browski zu keinem abschließenden Ergebnis
über die Abhängigkeit des Rehwilds vom Unter-
grund. Die von Hesse verwendeten Gewichts-
angaben, zum Teil aus Jagdzeitungen, sind die des
Gewichts ohne Aufbruch und Krone, somit auch
unabhängig vom Füllungszustand von Darm und
Blase.
Nach solchen Angaben wird nun zunächst auch
innerhalb Europas die Zunahme der Durchschnitts-
größe nach Osten hin für Hirsch und Reh be-
stätigt und in Übereinstimmung mit der in Jäger-
kreisen geäußerten Auffassung als Klimawirkung
gedeutet. — Württemberg liefert sodann beson-
ders günstiges Material für die Vergleichung von
Rehgewichten aus benachbarten Gebieten von
verschiedenem Untergrund : Schwarzwald kalkarm,
Schwäbische Alb aus Jurakalk; im Hügelland
wechseln Muschelkalk, Keuper und Diluvium. Das
Oberland südlich der Donau liegt auf kalkreichen
') Zoologische Jahrbücher, Abt. f. allgem. Zool., Bd. 38,
Heft 2, 1921.
alpinen Schottern. Klima „nahezu einheitlich".
Zahlenmaterial von der Forstdirektion zu Stutt-
gart, nur auf die vom Staate selbst verwalteten
Jagden bezüglich.
Der Gesamtdurchschnitt des Rehgewichts
1910—1914 betrug dort 13,8 kg nach 15 339 Einzel-
feststellungen : .,D ( 1 5 3 39) = 13,8 kg." Die Durch-
schnittszahlen D für einzelne Forstbezirke schwan-
ken zwischen 16,2 und 11,4 kg. Über dem
Gesamtdurchschnitt liegen 36 Bezirke, vor allem
die meisten Bezirke mit Jurakalk, Muschelkalk,
Anhydrit und diluvialem Löß und Lehm. Nahe
dem Durchschnitt (13,7 bis 13,9 kg) liegen 12 Be-
zirke, unter dem Durchschnitt 51 Bezirke, dar-
unter alle Schwarzwaldbezirke; die zwölf mit den
niedersten Zahlen liegen alle bis auf einen im
Schwarzwald, wo übrigens auch kein gedüngter
Untergrund vorkommt. — Für Ausnahmereviere,
die auch vorhanden sind, dürften die oben er-
wähnten unvermeidbaren Fehlerquellen meist die
genügende Erklärung enthalten. Meist ist dann
das Rehgewicht niedriger als, besonders auf Jura-
boden, erwartet.
Eine ebensolche Tabelle wie für Württemberg
gibt Hesse für den Regierungsbezirk Hildesheim ;
hier sind die Durchschnittsgewichte durchschnitt-
lich etwas höher, wofür eine bestimmte Erklärung
nicht gegeben werden kann, ihre Unterschiede
geringer, 16,3 — 13,1; wohl weil die Waldungen,
meist auf kalkarmem Boden, gleichartigen Unter-
grund haben. — Bei Oberförsterei liefeld am
Südharz wiegen die Rehe im Schutzbezirk Ilefeld
D (58) = 16,2 kg, Max. D. (10) = 18,5 kg, die
aus dem Schutzbezirk Birkenmoor nur D (25) =
15.3 kg. Max. D. (10) = 16,5 kg; dort Porphyrit,
hier dagegen sehr kalkarmer Grauwacke- Verwitte-
rungsboden, bei gleicher Hege und Pflege und
gleichem Klima. — Noch eine Anzahl ähnlicher
Beispiele bieten ähnliche Belege. — Die Hirsche
liefern nur wenige Beiträge, da die sorgsamere
Obhut des Menschen die Abhängigkeit vom Boden
sehr verschleiert. Im württembergischen Schwarz-
wald D(i5)= 96,6 kg, Höchstgewicht iio kg,
bei Leonberg auf Muschelkalk wurden dagegen
Hirsche mit Gewichten von 180 und 210 kg ge-
schossen , usf. Die schottischen und norwegischen
Hirsche, auf Urgestein, bleiben wesentlich kleiner
als die schwedischen Hirsche in Süd-Schonen.
Welcher Art ist nun der Zusammenhang
zwischen dem Kalkgehalt des Bodens und der
offenbar günstigen Entwicklung des Wildes auf
kalkreichem Boden ? „Für den Pflanzenfresser gilt,
wie für die Pflanze, das Li ebigsche Gesetz vom
Minimum: die Verwertungsmöglichkeit der Nah-
rung hängt ab von der Menge desjenigen Stoffes,
der am wenigsten vorhanden ist, und kann nur
im entsprechenden Verhältnis zur Menge des
Minimumbestandteils im Körper verarbeitet wer-
den. Raubtiere finden dagegen die Stoffe, deren
sie bedürfen, schon gesammelt vor. . ." Die Auf-
nahme der Bodensalze seitens des Wildes geschieht
in den seltensten Fällen an natürlichen Salzlecken,
640
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 44
meist in der Pflanzennahrung; diese enthält Ka-
lium, Natrium, Eisen in genügenden Mengen,
Kalk in sehr wechselnden, auch innerhalb
einer Pflanzenart stark vom Kalkgehalt des Bodens
abhängigen Mengen, Phosphorsäure in ge-
ringen, ziemlich gleichmäßigen, aber manchmal
auch vom Kalkgehalt abhängigen : kalkarmer Bo-
den trägt „ungesundes"' Heu mit knapp halb-
normalem Kalk- und Phosphorsäuregehalt; dieses
erzeugt Knochenbrüchigkeit der Rinder. Wahr-
scheinlich werden Kalk- und Phosphorsäuregehalt
der Nahrung auch vom pflanzenfressenden Tier
nicht gleichmäßig ausgenutzt, da durch Kellner
1906 nachgewiesen ist, daß Kalkzusatz die Aus-
nutzung der Phosphorsäure aus verfüttertem Di-
kalziumphosphat erhöht. Reichlicher Kalkgehalt
ist also, außer an sich, auch durch Begünstigung
der Ausnutzung der Phosphorsäure nützlich. Zeit-
weilig kalkarme Nahrung läßt in Südafrika die
Ochsen stundenlang Knochen käuen. Tharandter
Waldheu mit normalem Phosphor- und abnorm
niedrigem Kalkgehalt benachteiligte das damit
gefütterte Wild, so daß es kränkelte, schwach
wurde , spät aufsetzte und viel Fallwild vorkam,
welche t'belstände man durch Verabreichung von
kalkreicherem Eichenlaub beseitigte. Nicht die
Menge des Futters, sondern dessen Beschaffenheit
ist bedingend; sonst müßten in wildarmen Harz-
bezirken bei besonders reichlicher Äsung die Rehe
besonders groß werden, was nicht der Fall ist ;
und kalkarme, sonst gesunde Pflanzen genügen
auch in Menge nicht. Die natürliche An-
passung an geringeren Kalkgehalt ist
auf dem Wege denkbar, daß größere Tiere
einer Art mehr kränkeln und schneller im Kampf
ums Dasein zugrunde gehen als kleinere, die
somit überleben; denn an Hunden fand E. Voit
in Fütterungsversuchen, daß die kleinrassigen,
langsamer wachsenden Tiere durch Kalkmangel
viel weniger geschädigt werden als großrassige. —
Die Kalkarmut der meisten unserer Mittel-
gebirge wirkt dem Gebirgsklima, das mit dem
starken Herabsinken der Temperatur im Winter
die Wichtigkeit des Wildes fördern sollte, ent-
gegen; daher wird herkömmlich vom Gebirgsbock
und Gebirgshirsch als kleineren Formen gesprochen.
Kalkgebirge sind dagegen, da der chemische und
der Klimaeinfluß zusammenkommen, besonders
günstig. V. Franz.
Bücherbesprechungen.
Born, A., Allgemeine Geologie und
Stratigraphie; II. Band der naturwissen-
schaftlichen Reihe der „Wissenschaftlichen For-
schungsberichte". Dresden und Leipzig 192 1,
Verlag von Th. Steinkopf
Der vorliegende Band gibt einen Überblick
über die wesentlichsten Fortschritte, die in Geo-
logie und Stratigraphie während der Kriegsjahre
zu verzeichnen sind, im Sinne eines kurzen Weg-
weisers für alle die, die während dieser Jahre die
wissenschaftliche Literatur nicht verfolgen konnten.
Es sind ausführliche Literaturlisten zusammen-
gestellt, in denen kaum wichtigere Arbeiten zu
vermissen sind. An diese schließt sich eine
referierende Besprechung einzelner Arbeiten an.
Als Rückgrat der Gliederung dienen die großen
Gebiete der Allgemeinen Geologie, der Strati-
graphie und der Regionalen Geologie. Innerhalb
dieser ist die Literatur für einzelne wichtige Unter-
kapitel alphabetisch geordnet aufgeführt.
Dem Verf. werden viele Dank für diese ge-
schickte Zusammenfassung wissen, die mit der
Schwierigkeit zu kämpfen haben, sich über große
Wissenszweige rasch orientieren zu müssen. Sie
erfüllt ihren Zweck in vollem Maße. Krenkel.
Broili, F., P a 1 ä o z o o 1 o g i e. Sammlung Göschen,
Heft 836; mit 118 Abb. 1921.
Einer der besten deutschen Paläontologen gibt
in der vorliegenden Paläozoologie , dem notwen-
digen Seitenstück zu der in der gleichen Samm-
lung erschienenen „Allgemeinen Paläontologie"
von Abel, einen Überblick über die systematische
Paläontologie. Trotz der durch den knappen
Raum bedingten Kürze der Darstellung sind die
wichtigsten Diagnosen bis zu den Unterklassen
und Ordnungen gegeben; in der Aufzählung und
Beschreibung von Gattungen ist dagegen richtiger-
weise eine starke Beschränkung geübt worden.
Alle Angaben sind knapp, aber stets zuverlässig.
Als Einführung in den ungeheuer vielgestaltigen
Stoff ist die Paläozoologie Broilis warm zu
empfehlen. Hervorzuheben ist die geschickte
Auswahl, Fülle und Güte der Abbildungen, die
die Darstellung wesentlich unterstützen.
Krenkel.
Inlialt: R. Tischner, Homöopathie und moderne Biologie. S. 625. G. Grimpe, Chelifer als Schmarotzer. S. 628. ■ —
Einzelbericbte : Gildemeister, Die Erforschung der menschlichen Hörgrenze. S. 631. G. Flink, G. Aminoff,
R. Manzelius, Neue Mineralien. S. 633. L. Vegard, Die Konstitution der Mischkristalle und die Raumerfüllung
der Atome. S. 635. Hugo Kühl, Bekämpfung von Pflanzenschädlingen mit kolloidalem Schwefel. S. 636. Wiechert,
Über den Äther im Weltbild der Physik. S. 637. Pickering, Die Messung des Durchmessers eines Fixsterns. S. 637'
G. Teßmann, Weltanschauung von Naturvölkern. S. 638. Hesse, Einfluß des Untergrundes auf das Gedeihen des
Rehes. S. 639. — Bücherbesprecbungen; A. Born, Allgemeine Geologie und Stratigraphie. S. 640. F. Broili,
Paläozoologie. S. 640.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Fätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d, S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe ^6. Band.
Sonntag, den 6. November 1921.
Nummer 45«
Über den Segelflug der Vögel und das Fliegen der Fische.
[Nachdruck verboten.]
Von Gustav Lilienthal, Lichterfcldc.
Mit 6 Te.xtabbildungen.
Der von Herrn Dr. Frölich in Nr. 13 ver-
faßte Artikel über den Segelflug und verwandte
Bewegungen in der Luft und dem Wasser ent-
hält in mehreren Punkten Widersprüche mit den
wirklichen Erscheinungen und den physikalischen
Gesetzen der Bewegung der Gase. Was z. B.
über das Schwimmen der fliegenden Fische ge-
sagt ist bezüglich der Verwendung der Schwimm-
blase und der Flugflossen, stimmt mit meinen
eingehenden Beobachtungen nicht überein. Die
Fische benutzen im Wasser ihre großen Brust-
flossen überhaupt nicht. Diese sind vielmehr
eng an den Leib angelegt. Sie treiben sich nur
durch die Schwanzflosse vorwärts und breiten die
Flugflossen nur in der Luft aus. Die große
Schwimmblase wird ihnen ein verhältnismäßig
schnelles Auftauchen im Wasser ermöglichen und
das dadurch erhaltene Bewegungsmoment das
Herausschnellen aus dem Wasser erleichtern. Die
bedeutend nach unten verlängerte Schwanzflosse
gestattet noch den Vortrieb, wenn der Fisch schon
zum großen Teil aus dem Wasser heraus ist,
also dann keinen Wasserwiderstand mehr zu über-
winden hat. Hierdurch nimmt seine Vorwärts-
geschwindigkeit dann beträchtlich zu. Er bedarf
der großen Vorwärtsgeschwindigkeit aber, um
für seine Flossen den hebenden Luftwiderstand
zu erzeugen. Der Stirnwiderstand des Fisches
gegen den Wind verzehrt nach und nach die
Eigengeschwindigkeit. Der Fisch sinkt dann zum
Wasser zurück. Unter günstigen Windverhält-
nissen kann sich der Fisch bis 5 m hoch und
100 m weit in der Luft halten (Abb. i).
Daß die Luft der Schwimmblase sich einseitig
nach der Richtung, wo der Wasserdruck ver-
mindert ist, ausdehnt, widerspricht dem Verhalten
der Gase, welche immer auf alle Teile des ein-
schließenden Gefäßes gleichmäßig drücken.
Sehr richtig bemerkt Herr Dr. Frölich, daß
das Gefieder des Vogels teilweise beträchtlich
dicker ist als es für die Wärmehaltung nötig wäre.
Er nimmt an, daß der bewegungslose Segelflug
durch eine Luftverdünnung innerhalb der Feder-
lagen infolge des Vorbeiströmen des Windes zu-
stande kommt. Würde eine solche Luftverdünnung
eintreten unter den Flügeln, so würde diese den
Vogel nicht heben, sondern herniederziehen. Schon
aus diesem Grunde ist die Annahme hinfällig,
aber eine solche Luftverdünnung kann auch inner-
halb des Federbelages gar nicht eintreten, weil
er eine viel zu lockere ungeschlossene Masse
bildet.
Für die Wasservögel dagegen bilden die reich'
lieh dicken Federbälge, welche gewissenhaft von
den Vögeln durch eine Absonderung der Bürzel-
drüse eingefettet und dadurch wasserabweisend
gemacht werden, einen vorzüglichen Schwimmer.
Abb. I. Fliegender Fiscli.
Die große untere Schwanzilosse gibt dem Kisch noch Vortrieb,
während sich der Rumpf schon aus dem Wasser gehoben hat
und die l'Iügelflossen ausgebreitet sind.
Abb. 2. Möwen, dem Schiff folgend.
Hinlersteven des Schiffes.
Die Vögel folgen dem Schiff mit .Seitenwind.
642
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 45
Ein weiterer Nutzen einer starken Befiederung
wird am Schluß noch hervorgehoben werden.
Der mit ruhig ausgebreiteten Flügeln wage-
recht oder aufsteigend fliegende Vogel (Abb. 2) kann
dies nur durch Überwindung seines Gewichtes und
Aufhebung seines Stirnwiderstandes gegen den
anstehenden Wind erreichen. Die hierzu erforder-
liche mechanische Arbeit liefert dem Vogel der
Wind, denn ohne Wind ist kein Segeln möglich
und findet auch nicht statt.
1 uf/'S/-ra/77.^^ .
lofMro.
l
C\
jLuf/s/^rom
Zcfffsfrojr?
Auffs/rom
Abb. 3. Versuchsfläche senkrecht am Rundlaufaim befestigt, die Stromlinien zeigend.
Die Scheibe auf dem Draht bewegt sich durch die Strömung nach vorn und oben.
Abb. 4. Vogelmodell.
Oben Vorderansicht, unten ünteransicht.
Angesteckte Fähnchen zeigen die Richtung des Luftstromes.
Ein horizontal wehender Luftstrom könnte dem
Vogel diese Arbeit nicht leisten, da sich hieraus
keine gegen den Wind selbst gerichtete Kraft ohne
Höhenverlust ableiten läßt. Auch Pulsationen des
Windes, d. h. Schwankungen in der Windstärke,
wie Langley und Lanchester irrtümlich an-
nehmen, helfen über diese Klippe nicht hinweg.
Stärkere Geschwindigkeitsänderungen, wie sie nur
ganz ausnahmsweise eintreten, würden nur ganz
geringe hebende Wirkung theoretisch errechnen
lassen; aber selbst hierdurch könnte der Vogel
eine Vorwärtsgeschwindigkeit nicht aufrecht er-
halten, er müßte denn Höhe aufgeben, also Gleit-
flüge einlegen. Eine solch
wellenartige Bewegung findet
aber nicht statt, worüber ich
mich durch umfangreiche Be-
obachtungen überzeugt habe.
Der Vogel geht zum Segelfluge
auch bei sonst genügenden
Wind erst über, nachdem er
durch Flügelschläge zu solcher
Höhe gelangt ist, wo der Wind
stätig ist. Nur über dem Meer
segelt der Vogel in niedrigen
Lagen, weil hier der Wind
ungehemmt gleichmäßig weht.
Was Herr Dr. F r ö 1 i c h
über den wellenartigen Flug
kleinerer Vögel bemerkt, hat
mit dem Segelflug nichts zu
tun. Es sind die Flüge der
Finkenarten gemeint, die durch
energische Flügelschläge sich
staik vor- und aufwärtstreiben
zu einer Wurfparabel und dann
mit angelegten Flügeln ihre
Bewegungsenergie ausnützen,
bis sie dann zu neuen Flügel-
schlägen ausholen.
Zur Erklärung des Segel-
flugs ist zuerst derNachweis einer Kraft-
quelle zu erbringen, und dann die Aus-
nützung dieser Kraft zu Auftrieb und Vor-
trieb nachzuweisen. Beides soll nach-
stehend erfüllt werden. Wie in dem Buch
„Der Vogelflug" ') bereits 1886 veröffent-
licht wurde, erfahren alle bei Wind in
der Luft schwebende Körper einen Auf-
trieb von 4". Veranlaßt wird diese auf-
steigende Wirkung durch die Reibung des
Windes an der Erdoberfläche. Durch
meine Untersuchungen wurde ferner fest-
gestellt, daß dicke Flächen einen stärkeren
Auftrieb erhalten als dünne Profile. Zu
dieser Annahme führten die Beobachtun-
gen , welche ich an Gegenständen in
schnellfließenden Wasserläufen anstellte.
Experimente mit verschieden geformten
Flächen im Wind bestätigten die gleiche
Erscheinung in der Luft.
Vergleichende Messungen der Flügel-
') Der Vogelflug von Otto Lilienthal. R. Olden-
burgs Verlag, München. II. Auflage von Gustav Lilien-
thal.
ZofZ-j/rorrT
N. F. XX. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
643
profile von Seglern und Nichtseglern zeigten die
Verdickung der Seglerflügel und auch die größere
Länge der dicken Ober- und Unterarmglieder.
Durch diese Erkenntnis ergab sich die größere
Tragewirkung des Windes auf die Flügel der
Segler gegenüber denen der Nichtsegler. Dies
ist aber noch keine Erklärung für den Vortrieb
des Vogels gegen den Wind bzw. eine Erhaltung
der Geschwindigkeit, welche er sich vorher durch
Flügelschläge gegeben hatte. Selbst wenn der
Vogel durch den Wind nicht zurück- sondern nur
aufwärtsgetrieben würde, müßte er durch zeit-
weises Aufgeben von Höhe einen wellenartigen
Flug ausüben. Durch eingehende Beobachtungen
habe ich jedoch festgestellt, daß der Segler nie-
mals einen solchen Flug ausführt. Mit der Uhr
Seite bildet sich ein rücklaufender Wirbel in dem
Sinne, daß die Luft die Flügelvorderkante über-
schießt und dann in der Nähe des F'lügelhinter-
randes umwendet und von hinten nach vorn
strömt. Die Spiralen des Wirbels werden dabei
seitlich ausgezogen, ähnlich wie sich die Hörner
des Widders winden. Dieser seitliche Abfluß ist
für den Vogel von der allergrößten Bedeutung.
Vom Unterarmgliede nach dem Rumpf zu und
nach der Flügelspitze hat der Vorderflügel eine
schrägabwärts gerichtete Neigung. Es entsteht
daher durch die seitliche Strömung der Luft Auf-
trieb wie unter einem Drachen oder auch wie
bei den üblichen Flugzeugen. Dabei besteht aber
ein prinzipieller Unterschied. Der Drachen wie
das Flugzeug erhalten neben dem Auftrieb auch
Abb. 5. Apparat zum Messen von Vor- und Auftrieb.
Die Versuchsfläche wird angehoben und gegen den Wind vorgetrieben.
Oben links Windfahne.
Abb. 6. Versuchsfläche.
Im Winde hängend und vorgetrieben.
Versuchsturm 20 m hoch.
in der Hand habe ich einmal meine Mitreisenden,
am Hinterteil des Schiffes stehend, auf eine Möwe
aufmerksam gemacht, welche 45 Minuten lang
flügelschlaglos dem Schiff folgte, ohne dabei ihren
Standpunkt in der Luft mehr als einen Meter zu
ändern.
Jedenfalls erhält der Vogel bei entsprechender
Windstärke einen Überschuß an Auftrieb gegen-
über seinem Gewicht. Wie dieser Überschuß in
Vortrieb umgelenkt wird, habe ich zum Gegen-
stand weiterer Studien gemacht.
Versuchsflächen von Profil des Fregatvogel-
flügels am Unterarm zunächst gegen ruhende
Luft bewegt und mit kleinen Fähnchen besteckt,
ließen den Stromlinienverlauf deutlich erkennen
(Abb. 3 u. 4). An der Oberseite folgt die Luft der
konvex geformten Oberfläche, aber an der Unter-
erheblichen Rückwärtsdruck. Beim Drachen nimmt
die Schnur diesen Druck auf, und beim Flugzeug
wird die gesamte Motorleistung zur Überwindung
desselben verbraucht.
Da beim Vogel die Wirkung des Luftwider-
standes um 90" seitlich gedreht ist, liegt die
wagerechte Komponente desselben in der Längs-
richtung des Flügels. Es kann daher keine Hem-
mung der Vorwärtsbewegung mehr eintreten.
Die seitlichen Kräfte, welche auf beide Flügel
wirken, heben sich gegenseitig auf.
Es bliebe nur noch der Nachweis zu erbringen
über die Aufhebung des Stirnwiderstandes. Hierzu
steht die vortreibende Wirkung der Wirbelluft
auf den Unterarm und unter dem Vogelschwanz
zur Verfügung. Versuche mit solchen Versuchs-
flächen und ganzen Vogelmodellen, die im freien
044
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 45
Wind aufgehängt wurden , haben bewiesen , daß
bei starkem Auftrieb ein den Stirnwiderstand über-
windender Vortrieb vorhanden war.
Durch eingehende Messungen beider Kräfte
ergab sich die resultierende Kraftrichtung von 4"
vor die Senkrechte (Abb. 5 u. 6).
Man kann wohl annehmen, daß der segelnde
Vogel mindestens über diese Kraftwirkung des
Windes verfügt und so das Rätsel des Segelflugs
restlos gelöst ist.
Die außerordentlich starke Befiederung der
Armglieder und des hinteren Rumpfes wie auch
die Federhosen der Raubvögel dienen zur Ver-
dickung des Profils, und es sind diese kleinen
Federn vorzüglich geeignet, die Bewegungsenergie
der Luft aufzunehmen. Auch die Richtung der
Lamellen der Federfahne an der Flügelunterseite
ist immer quer zur Richtung der Stromlinien, so
daß möglichst große Flächenreibung entsteht,
während an der Oberseite der Flügel möglichst
glatt ist, denn hier sind die Lamellen der Fahnen
dicht miteinander verfilzt.
Sache der Flugzeugindustrie wäre es nun, von
dieser Erkenntnis Gebrauch zu mächen und un-
sere zerstörten und genommenen Flugzeuge in
verbesserter Form neu zu bauen.
Selbst bei schwachen Winden , welche ein
motorloses Segeln noch nicht gestattet, gewährt
das Vogelflügelprofil eine erhöhte Tragwirkung
und weniger Widerstand gegen die Vorwärts-
bewegung.
Durch einen Aufbau unserer Flugzeugindustrie
in diesem Sinne würden wir bald die Ausplünde-
rung durch den Friedensvertrag verschmerzen.
Einzelberichte.
Schlesiens Stellaug iu tiergeographischer
Hinsicht.
Dem rühmlichst bekannten Werke „Schlesiens
Pflanzenwelt" seines Vaters hat jetzt F". Fax:
„Die Tierwelt Schlesiens" zur Seite ge-
stellt, ein Werk, dessen Erscheinen durch den
Krieg lange hinausgeschoben, jetzt aber Dank
der finanziellen Unterstützung wohlhabender
Gönner der Wissenschaft und dem Entgegen-
kommen der Verlagsfirma Gustav Fischer, Jena
ermöglicht worden ist.
Diesem Werke sei der Hauptsache nach das
folgende entnommen.
Der Lage Schlesiens im Binnenlande ent-
sprechend gehört seine Tierwelt zur mitteleuro-
päischen Fauna, die noch jenseits des Bug herrscht.
Schlesien nimmt insofern eine Grenz- oder Mittel-
stellung ein, als vielfach östliche Formen in ihm
ihre Westgrenze, westliche ihre Ostgrenze er-
reichen. So kommt die Steindrossel in Deutsch-
land nur in Oberschlesien, die Faltereule Flusia
cheiranthi nur in Bohrau bei Breslau vor. Mehr-
fach begegnen sich stellvertretende Formen auf
unserem Gebiete, so nistet die westliche Raben-
krähe (Corvus corone) neben der östlichen Nebel-
krähe (Corvus cornis) in der niederschlesischen
Heide, so die Nachtigall neben dem Sprosser in
Oberschlesien.
Auch von Süden her dringen fremde Elemente
besonders durch die mährische Pforte vor, die in
Schlesien die Nordgrenze ihrer Verbreitung finden,
so geht der Bockkäfer Dorcadium fulvum bis
Ratibor, die Schnecke Helix austriaca bis Gogolin.
Infolge der weiten Entfernung von der Küste
sind Vertreter des atlantischen Faunenelementes
sehr spärlich vorhanden, ebenso bedingt die ge-
ringe Verbreitung des Kalkes und das damit ver-
bundene Fehlen größerer Höhlen eine gewisse
Armut unserer F'auna an kalkliebenden und Höhlen-
tieren und wegen des Mangels an Salzlagern und
Salinen fehleti auch die Charaktertiere den letzteren.
Die Zusammensetzung der Fauna ist natürlich
nicht nur von der geographischen Lage des Ge-
bietes, sondern auch von dessen Meereshöhe ab-
hängig. Fax unterscheidet in dieser Hinsicht
3 Zonen, die Ebene bis 200 m, das Hügelland
von 2CO — 500 m, das Bergland von 500 — 1600 m
und darin die montane Region von 500 — 1250 m
und die subalpine von 1250 — 160O m.
Die Ebene. Die schlesische Acker-
ebene hat als Kultursteppe die in ganz Mittel-
europa dieser Formation zugehörige Tierwelt;
hervorzuheben sind in ihr der Kunitzer See mit
seiner Möweninsel (Bachmöwe) und das Vogel-
paradies im Gebiete des künftigen Staubeckens
bei Ottmachau. — Das Odertal, das als wichtige
Zugstraße vieler Vögel und als Einwanderungs-
straße von Nord und Süd her Bedeutung hat,
zerfällt seiner Natur nach in 2 Teile, den Ober-
lauf bis zur Mündung der Malapane und den
mittelschlesischen Teil. In ersterem ist das Tal
schmal, der Fluß reißender, im zweiten erweitert
sich das Tal, tote Arme, parallel laufende, lang-
sam fließende Nebenflüsse begleiten den Strom,
Auwälder zieren seine Ufer. Alles das bedingt
ein reicheres und z. T. eigentümliches Tierleben,
das sich den häufigen Hochwassern anpassen
mußte. Tiergeographisch wichtig ist der Kott-
witzer Wald als südlichste Brutstätte des Säge-
tauchers (Mergus merganser). — Hohen Genuß
gewährt dem Naturforscher, besonders dem Orni-
thologen ein Besuch der Bartschniederung
mit ihren zahlreichen Wasserfäden und Teichen,
in der er die Graugans in größeren Mengen be-
obachten, günstigenfalls auch das Horst des
Schreiadlers sehen kann. — Tiergeographisch
wichtig ist die niederschlesische Heide mit
dem Kohlfurter Moor, das sich als eine Zufluchts-
stätte von Glazialrelikten mannigfacher Art und
N. F. XX Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
64 s
von Kulturflüchtern erweist. Auch das verlorene
Wasser bei Fanten und der Wasserwald (Kreis
Lüben) enthalten seltene Käfer als Kiszeitrelikte.
Das Hügelland Oberschlesiens weist trotz
seiner geringen durchschnittlichen Höhe von
200 — 300 m doch eine Tierwelt auf, die sonst
höhere Lagen bevorzugt (Falter) und zeigt nahe
Beziehungen zum polnischen Jura(Heckenbraunelle,
Gebirgsbachstelze), auch östliche Formen treten
auf, so der Baumschläfer (Dryomys dryas), der in
Deutschland nur hier vorkommt, und südliche
Einwanderer (Schlangenadler, die südeuropäische
Ephippigera vitium). Im Industriegebiet treten
die Falter vielfach in melanistischen Formen auf,
die Fax dem durch die rauchige Luft hervorge-
rufenen Nebelreichtum und der geringen Sonnen-
scheindauer zuzuschreiben geneigt ist. — Unter
den Vorbergen der Sudeten mit ihrer sub-
montanen Tierwelt (Feuersalamander, Schling-
natter), beansprucht das Zobtengebirge das Haupt-
interesse des Zoologen ; nicht nur sein geologischer
Aufbau, die Verschiedenartigkeit der Bewaldung,
sondern auch seine bedeutendere Erhebung be-
wirken eine größere Differenzierung der Tierwelt.
Die Felsen des Zobtengipfels beherbergen die
nordisch alpine Schnecke Pupa alpestris und die
Schnecke Patula solaria als Relikt der Eiszeit.
Die sumpfigen Silsterwitzcr Wiesen haben den
Sammlern bis in die neueste Zeit wertvolle Funde
von Kleinfaltern geliefert.
Das Bergland. Wasserstar, Alpenamsel
und Tannenhäher, zahlreiche Käfer und Falter,
unter diesen der im vorigen Jahrhundert ausge-
storbene schlesische Apollo, viele Schnecken, der
Strudelwurm Planaria alpina usw. sind entweder
nur in den Sudeten oder hauptsächlich in ihnen
und zwar in allen ihren Teilen verbreitet und
geben so der Fauna einen im wesentlichen einheit-
lichen Charakter. Im subalpinen Teil des Ge-
birges finden sich außerdem Tiere, die den
niedrigeren Teilen fehlen, z. B. der Wasserpieper
(Anthus spinoletta). Neben diesen gemeinsamen
Zügen zeigen sich aber auch sehr auffallende
Unterschiede zwischen den beiden Hauptteilen
der Sudeten. Die F"auna des Altvatergebirges ist
durch die Nähe der Karpathen beeinflußt und
daher weit reichhaltiger als die des Riesengebirges.
Das Neißetal bildet eine starke, tiergeographische
Scheidelinie, die von mehr als 100 Arten nicht
überschritten wird. Andererseits ist wieder das
Riesengebirge im Besitze einer Anzahl Arten, die
den Ostsudeten fehlen, teils weil dort anstehende
F'elsen und Schutthalden weit schwächer ent-
wickelt sind, teils weil es sich um nordische Ein-
wanderer handelt, die nicht weiter nach Süden
vordringen konnten.
Die Fauna der Ostsudeten entwickelt sich
weniger auf den eintönigen Grasmatten des Kam-
mes, als an den mit üppiger Vegetation bedeckten
Abhängen der Gebirgstäler, besonders des Teß-
tales. Auf dem Schneeberge erreichen viele
Karpathentiere ihren nördlichsten Punkt, so die
schön kobaltblaue Wegschnecke Limax schwabi.
Weit einförmiger ist die Fauna der Westsu-
deten; im Eulengebirge erreicht der F'alter Lime-
nitis sibilla seinen westlichsten Standpunkt. Bad
Reinerz mit seiner reizenden Umgebung bietet
dem Vogelkenner wie dem Entomologen reiche
Gelegenheit zur Beobachtung, und die Seefelder
am Fuße der hohen Mense enthalten auf ihrem
jetzt als Naturdenkmal geschätzten Moorgebiete
viele Seltenheiten. — Im Boberkatzbachgebirge er-
wähnen wir die Schnecke Patula rupestris als
Eiszeitrelikt (Kitzelberg bei Kauffung).
Die Waldregion mit ihrer einförmigen Be-
forstung bietet wenig Interessantes. Weit er-
giebiger sind die subalpinen Regionen für den
Zoologen ; besonders die iVIoorwiesen des Kammes
(weiße und Eibwiese) enthielten früher — als noch
nicht so viele Wege sie durchquerten und Ent-
wässerung herbeiführten — eine Fülle nordischer
Käferarten, die Sammler von weit und breit her-
beiführten. Aber auch Falter zeigen sich, be-
sonders Kleinfalter, Hautflügler treten öfters in
größerer Zahl auf. Fliegen begleiten den Kamm-
wanderer oft in sehr unangenehmer Weise, und
so darf man sich nicht wundern, daß eine starke
Kolonie der Hausschwalbe jahraus jahrein an
der Peterbaude nistet. Als Eiszeitrelikt tritt am
Basalt der kleinen Schneegrube die Schnecke
Pupa arctica auf (einziger deutscher Standpunkt).
Für den Erforscher der niederen Tierwelt sind
die größeren Wasseransammlungen (der große
und kleine, sowie der Kochelteich) besonders
wichtig. Durch ihre tiefe Temperatur und die
langandauernde Eisbedeckung erinnern sie an
manche Alpenseen und beherbergen unter ihren
71 Tierarten mehr als 50, die auch in den Alpen-
seen auftreten. Teils sind es Kosmopoliten, teils
nordische Relikte, die in dem kalten Wasser dieser
Seen Zuflucht vor dem immer wärmer werdenden
Klima fanden.
Beim Lesen des Buches entrollt sich von der
mannigfaltigen Zusammensetzung, der Verteilung
und Verbreitung der schlesischen Fauna ein
fesselndes Bild, von dem hier nur ein schwacher
Abglanz gegeben werden konnte. Fügen wir
hinzu, daß auch die Vorgeschichte der schlesischen
Fauna, ihre Wandlungen im Laufe der Zeit, be-
sonders auch unter dem Einflüsse des Menschen,
die Nutztiere und Schädlinge eingehend besprochen
werden, daß ferner die Ausstattung des Buches,
was Papier, Druck, die zahlreichen Abbildungen
und Karten (meist Originale) von der Verlags-
handlung in mustergültiger FViedensweise herge-
stellt worden sind, so können wir uns freuen und
stolz darauf sein, daß unsere heimische Literatur
mit diesem Werke bereichert worden ist, das dem
Naturforscher wie dem Laien Anregungen in Fülle
bietet. R. Dittrich.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Nene Beobachtungen über Peptisatiou.
(Mit I Abb.)
Aluminiumhydroxyd Al(OH)g löst sich, wie
jedem Chemiker aus der Analyse bekannt ist, in
Alkalihydroxydlösungen auf. Das gleiche findet
bei einer Reihe anderer verwandter Schwermetall-
hydroxyde statt. Die Natur der entstehenden
Lösungen ist bis heute, trotz zahlreicher darauf
gerichteter Untersuchungen, noch nicht ganz auf-
geklärt. Während von einer Seite der Beweis
einer chemischen Verbindung, eines Aluminates,
erbracht wird, glauben die Kolloidchemiker
andererseits, daß es sich dabei lediglich um eine
Peptisation, d.h. Lösung infolge Verringerung
der Teilchengröße handelt.
N. R. Dhar und G. Chatterj i ') (Allahabad)
haben die Angelegenheit erneut untersucht. Wenn
wirklich, wie die ältere Schule annimmt, bei
jener Auflösung eine chemische Verbindung, etwa
Al(ONa)ij oder ein Derivat davon gebildet wird,
so tritt eine Verschiebung im Gleichgewicht der
Ionen des vorhandenen Systems ein. Die Leit-
fähigkeit muß sich also ändern. Früher be-
reits-) hat Dhar gefunden, daß die ammoniaka-
lischen Lösungen von Kupfer-, Zink- und Cadmium-
hydroxyd in Ammoniak eine stark erhöhte Zu-
nahme der Leitfähigkeit gegenüber dem System
vor der Lösung aufweisen. Nunmehr ergab sich,
daß zwar auch eine Lösung von Zinkhydroxyd
in Alkalien deutlich stärker leitet als die reine
Alkalilösung. Dagegen wird die Leitfähigkeit
fast gar nicht geändert nach Zusatz von
Chrom-, Aluminium-, Blei- und Queck-
silberhydroxyd. Im Falle dieser Metalle ist
also bestimmt zum mindesten der Hauptanteil
ihrer alkalischen Hydroxydlösungen kolloider
Art, und der Vorgang der Auflösung ist eine
echte Peptisation. Beim Zink dagegen handelt
es sich vorwiegend um Bildung chemischer Ver-
bindungen, während die Peptisation eine unter-
geordnete Rolle spielt. Für die Auflösung der
betreffenden frisch gefällten Hydroxyde in ver-
dünnter Essigsäure gilt dasselbe. Diesen Schluß
zogen schon Bentley und Rose. ^) Die oben
genannten Forscher bestätigten ihn durch den
Befund, daß die Leitfähigkeit verdünnter Essig-
säure so gut wie gar nicht geändert wird durch
Auflösung von Aluminiumhydroxyd darin, wohl
aber von Zinkhydroxyd. Nur bei diesem also
bildet sich, der erhöhten Leitfähigkeit zufolge, ein
stark dissoziiertes Azetat. Dies ist durchaus ver-
ständlich, denn Zinkhydroxyd ist eine stärkere
Base als die andern vorgenannten Metalle.
Diesen Befunden möchte Berichterstatter Unter-
suchungen gegenüberstellen, die F. G o u d r i a a n *)
machte und die den indischen Forschern anschei-
nend unbekannt geblieben sind. Goudriaan
weist zuerst nachdrücklich auf die ungewöhnlich
große Unklarheit hin, die hinsichtlich der eben
genannten Vorgänge im allgemeinen, über die
Löslichkeitsverhältnisse des Z i n k hydroxyds im
besonderen besteht. Insbesondere hält er den
Chemikern, die an der Bildung von Zinkaten, also
von wohldefinierten Verbindungen festhalten, vor
Augen, daß ein auch nur entfernt exakter Be-
weis für diese Ansicht schon deshalb nicht vor-
liegt, weil infolge der Schwierigkeit der Reindar-
stellung sämtliche gefundenen Zinkate unbe-
stimmte Zusammensetzung aufweisen. In keiner
der früheren Arbeiten ist auf konstante und ganz
bestimmte Konzentrationsverhältnisse Wert gelegt
worden. Infolgedessen blieben die Stabilitäts-
bedingungen der vielen isolierten Verbindungen
unbekannt. Nach der Restmethode von Schreine-
rn akers ermittelte Goudriaan die Gleich-
gewichtsverhältnisse der sog. Zinkatlösungen, die
er als tertiäres System aus Na.jO, Zn und HjO
betrachtet. Bei gleichbleibender Temperatur
wurde das Diagramm dieses Systems bestimmt.
ZnO
H,0
— Na OHHoO —
Na,0
i) Kolloid-Zeitschr. 28, S. 235, 192 1 (Faraday-Heft).
*) Proc. Akad. v. Wetenskap. Amsterdam 1920.
ä) Journ. of the Americ. Chem. Soc. 35, S. 1490. '913-
*) Recueil des Trav. Chim. des Pays-Bas 39, S. 505, 1920.
Gleichgewicht einer alkalischen Lösung von Zinkbydroxyd
bei 30O.
Das Ergebnis der Messungen erhellt aus der
Abbildung. Es geht daraus in Kürze folgendes
hervor: das Ansteigen von AB zeigt, daß die
Löslichkeit des Zinkoxyds mit der Konzentration
des Natriumhydroxyds rasch zunimmt, daß dann
im Bereich von BC ein kristallisiertes Zinkat der
Formel ZnO-4H20 sich bildet, während CD die
Gleichgewichtslösungen des Monohydrats NaOH
• H2O, des einzigen bei 30" beständigen derartigen
Hydrates,*) darstellt. Also: bei 30" (dies war
die Versuchstemperatur) gibt es nur ein ein-
1) Nach Pickering, Journ. of the Chem. Soc. 63,
S. 890, 1893.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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ziges Zinkat. Alle anderen beschriebenen sind
entweder instabil oder bestehen überhaupt nicht.
Dieser Befund stimmt mit den mehr qualitativen
Messungen Dhars überein, denn nach diesem
handelt es sich zwar um die Bildung „chemischer
Verbindungen", aber mit der Einschränkung „vor-
wiegend". Das Diagramm Goudriaans zeigt
aufs deutlichste, daß die Unbestimmtheit dieser
Ausdrucksweise ihren Grund in den besonderen
Bedingungen dieses Systems findet. Der Bericht-
erstatter möchte ihnen den folgenden Ausdruck
geben :
Die Alkalilösungen der meisten
Schwermetallhydroxyde sind Grenz-
gebiete zwischen echten Lösungen de-
finierter chemischer Verbindungen
und kolloiden Lösungen von moleku-
laren Assoziationen. Wir haben in diesen
Systemen einen Wettbewerb zwischen atomaren
Affinitäten, die infolge der „amphoteren" Natur
der markantesten der Hydroxyde jedoch nicht
zum Durchbruch kommen, d. h. nicht zur Ab-
sättigung in chemischen Verbindungen führen.
Vielmehr treten sie zurück gegen die molekularen
Gesamtkräfte; deren Feldwirkung zu Assoziationen
unbestimmter Zusammensetzung und wechselnder
Teilchengröße führt, so daß im allgemeinen
Peptisation eintritt. Im Falle des Zinks über-
wiegen jedoch die atomistischen Kräfte, so daß
vorwiegend stöchiometrische Verhältnisse,
allerdings völlig labialer Art vorwalten. Beim
Kupfer und Cadmium liegen die Verhältnisse
ähnlich. Bei Aluminium usw. aber haben wir
den ersten F"all reiner Peptisation.
Die Auffassung H a n t z s c h s ^) über die Natur
der alkalischen Zinklösungen sind sowohl nach
Goudriaan wie nach Dhar in ihrer Ausschließ-
lichkeit nicht haltbar. Es handelt sich nicht
um kolloide Lösungen, sondern um Bildung von
Systemen, deren Habitus dem kolloider Lösungen
lediglich sehr nahe steht bzw. teilweise in diesen
übergeht. Grotesk mutet es an, wenn Zocher-)
in einer umfangreichen Arbeit den „Nachweis"
einer Unzahl von definierten Zinkaten und Zinkaten
ähnlichen Gebilden dadurch führt, daß er solche
unter den mannigfaltigsten Bedingungen „isoliert"
zu haben meint. Die Anwendung des Gibbs-
schen Dreiecks ist Zocher anscheinend unbe-
kannt. ^)
Berichterstatter gedenkt den oben erstmalig
entwickelten Auffassungen in einer ausführlichen
Arbeit an anderer Stelle bestimmtere Fassung zu
geben. H. Heller.
Nenentdeckte Bestandteile des Kolophoniums.
Vor einigen Jahren gelang es dem finnländi-
schen Forscher Ö. A s c h a n , aus den rohen Harz-
') Zeitschr. f. anorg. Chem. 30, S. 2S9, 1902.
-) Zeitschr. f. anorg. Cbem. 112, S. I, 1920.
^) Zeitschr. f. anorg. Chem. 30, S. 342 : hier ein Gegen-
beispiel für ähnliche Verhältnisse beim Wismutnitrat.
seifen, die bei der Sulfat-Zellulosefabrikation an-
fallen, eine Säure zu isolieren, die Pinabietin-
säure genannt wurde. In einer neuen Mitteilung ^)
zu diesen Untersuchungen wird nun über weitere
saure Bestandteile in diesem Rohmaterial berichtet,
die dadurch bemerkenswert sind , daß sie in ver-
schiedenen finnländischen und amerikanischen
Handelssorten des Kolophoniums vorkommen.
Die neuentdeckten Säuren besitzen die allgemeine
Formel C„H2„_ii,0,i. Daneben finden sich andere
saure Bestandteile ähnlicher Bruttozusammen-
setzung.
Die Isolierung der Säuren und ihre Trennung
untereinander war nicht einfach, was bei den
harzigen Begleitstoffen ohne weiteres verständlich
ist. Es sei nicht darauf eingegangen, sondern
alsbald die allgemeine Kennzeichnung der Säuren
gegeben. Es sind einbasische, stark unge-
sättigte Säuren, die wahrscheinlich eine Hydroxyl-
gruppe enthalten und ketoiden Charakter haben.
Sie stellen fast farblose oder doch nur schwach
gelbliche Körner oder Pulver dar. Es ist darum
bemerkenswert, daß die Lösungen ihrer Al-
k a 1 i s a 1 z e dunkelgelb bis bräunlichgelb sind,
ja die konzentrierten Lösungen sind fast kaffee-
braun gefärbt. Das Molekül der Kolophen-
säuren ist also ein Chromogen. Auf diese
braune Färbung der Alkalisalzlösungen gehen nun
höchstwahrscheinlich eine Anzahl bekannter Fär-
bungen zurück, die man bisher nicht einwandfrei
zu deuten vermochte. So beruht vor allem die
gelbe bis braune Farbe eines jeden Kolophoniums
auf dem Vorhandensein der Kolophensäuren, die
im Kolophonium in fester Lösung sich befinden.
Ferner tritt die Färbung auf in der Papierfabri-
kation. Der hier gebildete „Harzleim" scheidet
beim Stehen eine dunkelbraune Flüssigkeit, die
sog. Leimgalle aus, die man fortfließen läßt. Deren
P'arbe beruht ebenfalls auf gelösten Kolophenaten,
wie Asch an durch Isolierung einer Kolophen-
säure aus der Leimgalle beweisen konnte. Man
darf annehmen, daß alle die Stoffe, die der Lei-
mung des Papiers einen gelblichen Stich erteilen,
diese unerwünschte Eigenschaft den darin vor-
handenen Kolophensäuren verdanken. Möglicher-
weise ergibt sich aus dieser Erkenntnis ein künf-
tiger Weg, auch die sehr dunkeln und zur Papier-
leimung jetzt noch ungeeigneten Handelssorten
des Kolophoniums mittels Reinigung verwendbar
zu machen.
Die Kolophensäuren haben praktische Bedeu-
tung auch durch ihre Eigenschaft, die glasige
Konsistenz des Kolophoniums zu bewahren, wo-
durch wiederum die Luftoxydation des Kolopho-
niums unterbunden ist. Dies beruht darauf, daß
die Kolophensäure amorph und niedrigschmelzend
sind. Endlich ist das Vorkommen der Kolophen-
säuren im Bier anzunehmen. Sie lösen sich
etwas in Wasser. So kann es kommen, daß aus
der dunklen Harzschicht der Bierlagergefaße ein
') Ber. d. D. Chem. Gesellsch. 54, S. 867, Mai 1921.
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wenig der Säuren in das Bier geht. Sie machen
sich hierin durch einen eigenartigen bitteren
Geschmack bemerkbar, denselben, den man am
Kolophonium wahrnehmen kann und der hier
dieselbe Ursache hat, denn die Harzsäuren des
Kol9phoniums sind völlig geschmacklos.
Über die Konstitution der Kolophensäuren ist
noch wenig zu ermitteln gewesen. Auf Grund
gewisser Reaktionen scheint es, als besitzen sie
eine dem Cholesterin ähnliche Struktur, was
übrigens auch für die Harzsäuren gilt. Jedenfalls
gehören sie nach ihrem ganzen Verhalten einer
bisher nicht oder wenig bekannten Klasse orga-
nischer Verbindungen an. Ihre Untersuchung ist
erschwert durch ihr hohes Molekulargewicht, wo-
durch ein Umkristallisieren unmöglich ist, sowie
durch ihre Schwerverbrennlichkeit. Immerhin ist
ein erster Schritt auf dem Wege zu ihrer Kon-
stitutionsermittlung die Tatsache, daß es A s c h a n
gelang, aus der bereits bekannten Pinabietinsäure
durch Oxydation eine Kolophensäure der Formel
CnjHjoO^ künstlich darzustellen.
Neben dieser Säure sind die nächst höheren
Homologen mit 17, 18 und 20 Kohlenstofifatomen
gewonnen und gekennzeichnet worden. Bei der
Unerforschtheit des gesamten Gebietes der Harz-
chemie sind die mitgeteilten Funde verheißungs-
volle Anfänge zur Klärung desselben.
H. Heller.
Die Rückbildiiug der Augen durch Mutation
bei Drosophila.
(iVIit 3 Abbildungen.)
Unter den etwa 300 Mutationen, die bisher
bei Drosophila melanogaster, der Tau- oder
Fruchtfliege, beobachtet wurden, ist eine, genannt
bandäugig, deren wesentlichstes Merkmal in einer
Verminderung der Fazettenzahl besteht. Während
das normale Fazettenauge sich aus durchschnitt-
lich 830 Fazetten zusammensetzt (die Männchen
haben etwa 40 Fazetten mehr als die Weibchen),
haben die bandäugigen Fliegen durchschnittlich
75 Fazetten, die in der Form eines vertikalen,
unregelmäßig begrenzten Bandes angeordnet sind
(vgl. Abb. I u. 2). Allerdings ist die Fazetten-
zahl der Mutanten stark abhängig von den Außen-
bedingungen. So hat vor allem die Temperatur
einen sehr weitgehenden Kinfluß. Je höher die
Temperatur ist, in der sich die Fliegen entwickeln,
desto geringer ist ihre Fazettenzahl, und zwar
haben ausgedehnte Untersuchungen zu dem Er-
gebnis geführt, daß der Temperaturkoeffizient dem
bei chemischen Reaktionen beobachteten entspricht.
Nach dem van 'tHoffschen Gesetz erhöht sich
die chemische Reaktionsgeschwindigkeit bei einer
Temperatursteigerung von 10" auf das Doppelte
bis Dreifache. Bei den BandaugenMutanten nimmt
die Fazettenzahl bei der gleichen Temperatur-
steigerung um das 2 — 3 fache ab. Auch der Zeit-
punkt, auf dem die Einwirkung der Temperatur
erfolgt, konnte genau bestimmt werden. Bringt
man die Eier zunächst in hohe Temperatur (27")
und nach bestimmter Zeit in niedrigere (15''), so
entsteht die für die hohe Temperatur charakte-
ristische Fazettenzahl, wenn der vierte Entwick-
lungstag in dieser Temperatur zugebracht wird.
Die wirksame Periode ist nur von sehr kurzer
Dauer, im Maximum beträgt sie 18 Stunden. In
ähnlicher Weise wurde auch die Umstimmungs-
periode für 15" ermittelt. Hier liegt sie einige
Tage und ist von längerer Dauer (etwa 72 Stun-
den). Dies ist darauf zurückzuführen, daß in der
Abb. I. Kopf von Drosophila melanogaster.
Nornp.ales Fazeltenauge mit ca. 830 Fazetten. (Aus Zeleny.)
Abb. 2. Kopf des bandäugigen Mutanten.
Auge aus ca. 75 Fazetten bestehend. (Aus Zeleny.)
niederen Temperatur die Entwicklung wesentlich
langsamer vor sich geht. Eine Berechnung ergibt,
daß das Stadium, welches der Einwirkung zugäng-
lich ist, in beiden Fällen das gleiche ist. Außer
der Temperatur wirken auch die chemische Be-
schaffenheit der Nahrung und der Feuchtigkeits-
grad, wenn auch in schwächerem Maße, modifi-
zierend auf die Fazettenzahl ein. Natürlich sind
alle diese durch das Milieu hervorgerufenen Modi-
fikationen nicht erblich.
Bandäugigkeit ist eine geschlechtsgebundene
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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Kigenschaft, das mutierte Gen ist mit anderen
Worten im Geschlechtschromosom lokalisiert. Es
wird als dominant über sein normales Allelomorph
bezeichnet, doch ist die Dominanz sehr unvoll-
ständig. Bei Kreuzung eines bandäugigen Weib-
chens mit einem normaläugigen Männchen sind
die Fl -Weibchen größtenteils normaläugig, nur
etwa 23 "'„ sind bandäugig. Die Fj-Männchen
sind alle bandäugig, da sie ihr einziges X-Chro-
mosom von der Mutter erben.
Seit dem Auftreten des "STsten bandäugigen
Mutanten im Februar 191 3 ist die bandäugige
Rasse viel gezüchtet worden. Nicht nur in Ame-
rika ist sie in den zoologischen Instituten eine der
am meisten gehaltenen Mutantenrassen, auch nach
Europa ist sie gesandt worden und wird hier
weitergezüchtet. Die Rasse ist konstant geblieben,
von sehr seltenen Rückmutationen, die hin und
wieder eintreten, abgesehen. Besonderes Interesse
aber verdient eine von Zeleny') beobachtete
Abb. 3. Kopf des ultra-bandäugigen MuUintCD.
Auge aus nur ca. 22 FazeUen bestehend. (Aus Zelcny.)
Mutation des Erbfaktors für bandäugig In einem
Stamm von Bandaugen-Fliegen, die einen Schritt
vorwärts in der durch die erste Mutation einge-
schlagenen Richtung bedeutet. Es ist dies wohl
das erste Mal, daß ein derartiger zweiter Mutations-
schritt zur Beobachtung gekommen ist. Der neue
Mutant, ein Männchen, genannt Ultra-Bandauge
(Abb. 3), trat im Oktober 191 7 auf. Das Männ-
chen hatte nur 19 Fazetten. Es wurde mit einer
seiner Schwestern mit 44 Fazetten gekreuzt, und
so wurde in F.. eine reine Rasse ultrabandäugiger
Fliegen erhalten, die über 20 Monate beobachtet
wurde und konstant blieb bis auf 4 Rückmuta-
tionen, einmal zum Bandauge und dreimal zum
normalen Auge. Im letzteren Falle wurden also
zwei Mutationsschritte vorwärts in einem Schritte
rückwärts zurückgelegt. Die mittlere Fazettenzahl
der Weibchen der neuen Rasse ist 21,96, der
Männchen 23,04. Gegenüber der Bandaugen-Rasse
unterscheidet sie sich noch insofern, als die Do-
')Zeleny,Ch. , A change in Ihe bar gene of Droso-
phila melanogaster involving further decrease in facet number
and increase in dominancc. Journ. of exper. Zool., Vol. 30,
1920.
minanz zugenommen hat. Die Dominanz von
ultra-bandäugig über normaläugig beträgt 84,8,
von ultra-bandäugig über bandäugig 82,6 "/„.
Ein Vergleich der drei Abbildungen zeigt, daß
durch die zwei Mutationsschritte die Fazettenaugen
nahezu vollständig verloren gegangen sind. Es
ist aus der normaläugigen Fruchtfliege ein fast
blindes Tier geworden. Während bei sehr vielen
„Defekt" - Mutationen von Drosophila die Lebens-
fähigkeit stark herabgesetzt ist und die Mutanten
schon aus diesem Grunde wenig Aussicht haben
erhalten zu bleiben im Wettstreit mit der Stamm-
form, steht die Lebensfähigkeit der bandäugigen
und der ultra-bandäugigen Hiegen nicht im ge-
ringsten hinter der normaler Fliegen zurück.
Trotzdem und trotz der Dominanz über die Stamm-
form hätten die Mutantenrassen unter normalen
Verhältnissen in der freien Natur kaum Aussicht,
erhalten zu bleiben. Sie sind infolge des stark
herabgesetzten Sehvermögens gegenüber der
Stammform so sehr im Nachteil, daß sie im
Kampfe ums Dasein bald erliegen müßten. Wie
aber, wenn die Fliegen im Dunkeln leben würden ?
Das Auge hätte für sie dann keinen Selektions-
wert mehr, und die in dem ursprünglichen Milieu
unzweckmäßigen Mutationen würden unter den
neuen Lebensbedingungen durch die Selektion
nicht mehr eliminiert, sie würden infolge der
Dominanzverhältnisse (wenigstens gilt das für die
ultra-bandäugige Rasse) die Stammrasse bald ver-
drängen. Das Resultat wäre das Verschwinden
der Augen bei den im Dunkeln lebenden Tieren
innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit.
Es ist ja eine bekannte Tatsache, daß Höhlen-
tiere und überhaupt unter völligem oder teil-
weisem Lichtabschluß lebende Tiere mehr oder
weniger rückgebildete Augen haben. Auch hier
finden wir bisweilen verschiedene Übergänge von
nahezu normalen Augen bis zu gänzlichem Fehlen.
So ist ein sehr naher Verwandter unseres in
Müssen und Bächen, Seen und Sümpfen lebenden
gemeinen Flohkrebses der in Höhlen, Brunnen,
Bergwerksschächten und in der Tiefe der Seen
vorkommende Brunnenkrebs, Niphargus. Der
wichtigste Unterschied zwischen gemeinem Hoh-
krebs und Brunnenkrebs besteht in der Rück-
bildung der Augen bei letzterem. Aber auch
hier können wir verschiedene Typen unterscheiden,
bei denen die Rückbildung verschieden weit ge-
gangen ist, verschiedene Mutationsstufen, wie wir
vom Standpunkte des Vererbungswissenschaftlers
aus sagen könnten. So besitzt Niphargus pute-
anus nach Lampe rt noch ein gelbes, nicht
funktionsfähiges Auge, während es bei Niphargus
virei völlig fehlt oder durch unregelmäßige, gelb-
liche, in Spiritus schwindende Flecken angedeutet
ist. An Stelle des Sehorganes sind bei den
Dunkeltieren in der Regel die Tast- und Riech-
organe stärker entwickelt. Wie die Rückbildung
der Augen so läßt sich auch die Überentwicklung
anderer Sinnesorgane sehr wohl durch Mutation
und nachfolgende Selektion erklären, ja es ist
650
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 45
sehr wohl denkbar, daß die Rückbildung eines
und die Fortentwicklung eines anderen Organes
innerhalb eines einzigen Mutationsschrittes vor
sich geht. Wie wir wissen, sind die Wirkungen
eines Erbfaktors häufig sehr mannigfaltiger Art,
und so hat auch eine mutative Veränderung eines
Faktors vielfach sehr verschiedene Wirkungen an
den verschiedensten Organen im Gefolge. Eine
gleichzeitige mutative Veränderung der Augen in
negativer, der Antennen in positiver Richtung
muß nach den bisherigen Beobachtungen durch-
aus als im Bereich der Möglichkeit liegend be-
trachtet werden. Ein solcher Mutant wäre in der
Dunkelheit der Stammform gegenüber natürlich
gleich stark im Vorteil, und seine Erhaltung und
Ausbreitung wäre wahrscheinlich, auch wenn er
nicht über die Stammform dominant wäre.
Die augenlosen Höhlentiere waren bisher
immer eines der Lieblingsbeispiele des Lamarckis-
mus. Unter dem direkten Einfluß der Dunkelheit
soll eine Rückbildung der Augen vor sich ge-
gangen sein, wobei eine Vererbbarkeit der indi-
viduellen Erwerbungen vorausgesetzt wird. Zwar
geben selbst Lamarckianer zu, daß ein zwingender
Beweis für die Existenz einer solchen Vererbung
bisher nicht erbracht ist, aber die Tatsachen, so
sagen sie, sollen sich auf andere Weise kaum oder
nur sehr gezwungen erklären lassen.
Der hier skizzierte Standpunkt hat mit
lamarckistischen Vorstellungen nichts gemein. Die
Mutationen treten richtungslos auf. Sie
können zweckmäßig sein, brauchen es aber
nicht zu sein, ja sie sind sicher in der großen
Mehrzahl der Fälle sehr unzweckmäßig, die
Mutanten verschwinden in der freien Natur in-
folgedessen rasch wieder. Wie sehr aber die
Zweck- bzw. Unzweckmäßigkeit einer Mutation
von dem Milieu abhängig sein kann, das zeigt das
obige Beispiel. In dem einen Milieu vernichtet
die Selektion die Mutanten, im anderen bleiben sie
erhalten. Mutation und Selektion geben uns eine
durch die Tatsachen besser begründete Vorstellung
über die Entstehung der Höhlentiere als die dem
Laien zwar sehr einleuchtende, eines wissenschaft-
lichen Beweises aber, wie gesagt, entbehrende
Lamarcksche Theorie. Nachtsheim.
Skelettkult und verwandte Yorstelluugeu.
Über die Verbreitung und völkerpsychologische
Bedeutung des Skelettkults und verwandter Vor-
stellungen hat Prof. Rudolf Martin in den
Mitteilungen der geographisch - ethnographischen
Gesellschaft in Zürich eine gehaltvolle Studie
veröffentlicht. Die hierzu gehörigen Gebräuche
hängen zweifellos mit dem Totenkult zusammen,
dessen psychologische Basis der gewaltige Ein-
druck ist, den der Tod auf die Phantasietätigkeit
des Menschen macht. Auf dieser beruhen die
mannigfachen Vorstellungen von der Seele, vom
Weiterleben nach dem Tode, von Seelenwanderung
und Wiedergeburt. Zum Erinnerungsbild des
Verstorbenen, der „Bildseele", tritt der Mensch in
ein lebendiges, emotionelles Verhältnis. „Wie er
alle Dinge um sich herum beseelt, d. h. mit
seinen Gefühlen, Fähigkeiten und Kräften aus-
stattet und sich dann von ihnen beherrscht fühlt,
so erkennt er auch in dem Toten eine Macht,
mit der er sich auseinandersetzen muß. Da er
einerseits selbst in vielen Dingen die Hilfe seiner
Stammesgenossen braucht, andererseits aber auch
die menschliche Neigung, dem Nächsten zu schaden
kennt, so entstehen Vorstellungen und Totenge-
bräuche doppelter Art", nämlich hilfesuchende
und abwehrende. Der Glaube an das Wirken
des Toten kann so weit gehen, daß der Lebende
nicht sich, sondern jenem allen Erfolg und Miß-
erfolg zuschreibt. „Dieses Wirken des Toten ist
furchtbarer als die Zauberkraft des Lebenden,
denn es handelt sich um eine Fähigkeit, die der
Lebende nicht besitzt, die einer unsichtbaren Welt
angehört. Ahnliche Vorstellungen finden sich
übrigens auch bei Kulturvölkern; besonders im
Ahnenkultus der Chinesen sind sie nachzuweisen."
Vornehmlich aus der Furcht vor den Toten
haben sich verschiedene Bestattungsgebräuche
ausgebildet, die M. kennzeichnet. Eingehend be-
faßt er sich mit der Hockerbestattung, die
schon für das europäische Paläolitikum nachge-
wiesen ist und von manchen Völkern noch heute
gepflegt wird. Die ganz ausschließliche Be-
stattungsform ist sie aber nirgendwo und zu keiner
Zeit gewesen. Die Hockerbestattung wurde von
Prähistorikern und Ethnologen auf verschiedene
Weise gedeutet. Am meisten verbreitet ist
heute wohl die Meinung, daß diese Bestattung
zumeist, namentlich wo sie mit Umschnürung
verbunden ist, aus Furcht vor der Wiederkehr
des Toten ausgeführt wurde. Doch vermag M.
ihr nicht beizupflichten. Er sagt, die Leiche würde
deshalb zusammengebunden und verschnürt, „um
dem Menschen auch im Jenseits diejenige Körper-
haltung zu geben, die für ihn während des Lebens
die natürlichste war. Denn daß das Hocken bei
den für diese Sitte in Betracht kommenden
Völkern die gebräuchlichste Ruhestellung ist, in
die sie immer wieder zurückkehren, bedarf keines
besonderen Nachweises. Wie man dem Toten
alles ins Grab mitgibt, was er im Leben liebte
und brauchte, damit er es im Jenseits nicht ent-
behre, so brachte man ihn auch in die ihm ge-
wohnte Ruhelage, die er nach dem Tode einzu-
nehmen selbst nicht mehr imstande war. Dies
war und ist aber schon wegen der sicher ge-
fürchteten Totenstarre nur durch ein Zusammen-
pressen der Extremitäten und durch eine Um-
wicklung oder Umschnürung des Körpers zu er-
reichen," die mit „Fesselung" nichts zu tun hat.
Als ein Zeichen von Skelettkult gedeutet wird
auch die häufig angetroffene Rotfärbung
von Menschenknochen bei rezenten und vorge-
schichtlichen Völkern. Man nahm an, die Weich-
teile seien durch künstliche Mittel und Eingriffe
zerstört und die übrigbleibenden Teile des Skelettes
N. F. XX. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
651
dann mit einem Farbstoff bestrichen und von
neuem beigesetzt worden. Ein solches Vorgehen
ist für eine Reihe von Völkern, so z. B. für die
Maori, für brasilianische Indianer, für viele Stämme
Westafrikas bezeugt, aber für die europäische
prähistorische Bevölkerung ist ein schlüssiger Be-
weis noch nicht erbracht. Es ~ ist die Möglich-
keit gegeben, daß Leichen mit Farbstoffen be-
streut oder bemalt oder daß ihnen Farbstoffe ins
Grab mitgegeben wurden. „In allen diesen Fällen
hat sich der Farbstoff nach der Dekomposition
der Weichteile auf die Knochen niedergeschlagen
und ist teilweise tief in die Knochensubstanz ein-
gedrungen. Eine absichtliche und von Menschen-
hand ausgeführte Färbung der Skelette liegt also
nicht vor." Ob zwischen der Rotfärbung der
Leiche und dem Blutopfer ein Zusammenhang
besteht, wobei der Ocker gleichsam als Symbol
für das Blut eintritt, wagt M. nicht zu entscheiden.
Die Teilbestattung von Köpfen hat gleich-
falls die Aufmerksamkeit der Forschung erregt.
M. führt aus der Literatur zahlreiche diesbezüg-
liche Beispiele an. Die Veranlassungen zur Teil-
bestattung von Köpfen sind wohl nicht stets die
gleichen, aber immer liegt ihr der Gedanke zu-
grunde, daß der Kopf der wichtigste Teil des
Menschen ist. Der Kopf des Toten und sein
Schädel ist ein Fetisch, dem teils aus Liebe, teils
aus Furcht die größte Verehrung gezollt wird.
Besonderen Kult treibt man mit den Schädeln der
Häuptlinge und anderer hervorragender Menschen,
weil sie eben auch schon im Leben durch irgend-
welche Qualitäten realer oder eingebildeter Art
ihren Mitmenschen überlegen waren , dann aber
auch ganz allgemein mit den Schädeln der Ahnen."
Im Schädelkult erkennt M. auch die Wurzel der
weitverbreiteten Kopfjägerei, über die viel Tat-
sachenmaterial beigebracht wird. Die Beweg-
> gründe der Kopfjagd und die daran schließenden
Zeremonien sind so wechselnd, um den Schluß
nahezulegen, „daß die ursprünglichen Motive viel-
fach Weiterungen, Wandlungen und Umdeutungen
erfahren haben, die das Bild verändern und das
Verständnis im einzelnen Falle sehr erschweren
können. Man wird daher besonders vorsichtig
mit Deutungen sein müssen und nie vergessen
dürfen, daß äußerlich noch so ähnliche Sitten
doch ganz verschiedenen Ideen entspringen können.
— Vorherrschend aber ist die Grundvorstellung,
daß der in dem Kopf des Getöteten wohnende
Geist eine Macht, d. h. bestimmte magische Kräfte
und Eigenschaften besitzt, die man sich nutzbar
machen will". Die Weiterbehandlung mazerierter
Schädel ist vielfach Brauch ; sie scheint teils ledig-
lich dem Schmuckbedürfnis zu entspringen , teils
jedoch tiefer liegenden Motiven. Bemerkenswert
sind die mannigfachen, zum Teil sehr kunstvollen
und erfolgreichen Versuche, dem mazerierten
Schädel das Aussehen des lebenden Kopfes
wiederzugeben.
Den Gedanken einer Mumifizierung der
Leichen dürften natürliche Ursachen verschiedenen
Völkern unabhängig voneinander nahegelegt
haben. Gebräuchlich war diese Bestattungsweise
bei den alten Kulturvölkern Ägyptens und Perus,
und in moderner Zeit bei den Aleuten im äußer-
sten Nordwesten Nordamerikas, bei südamerikani-
schen Indianern und Südseevölkern.
Mit dem Ahnenkultus und mit der Vorstellung
der Übertragbarkeit der Eigenschaften eines Ver-
storbenen (sogar eines Tieres) auf den Lebenden,
durch Teile seines Körpers, hängt ferner noch
eine Reihe von Gebräuchen zusammen, von denen
M. die Verwendung des Schädels als Eß- und
Trinkgefäß und das Mitsichherumtragen von
Skelettstücken als in Beziehung zum Skelettkult
stehend in Betracht zieht.
H. Fehlinger.
Cordylophora lacustris Allm. Eiue interessante
Biozönose in der Woltersdorfer Schleuse bei
Berlin.
Der Keulenpolyp, Cordylophora lacustris Allm.,
der wegen seines Vorkommens in Brack- und Süß-
wasser und als einziger koloniebildender Hydroid-
polyp in letzterem von jeher besondere Beachtung
gefunden hat, ist 1919 (von Remane) wieder
an einer alten, von 1878 (Riehm) und 1892
(Weltner) her bekannten Berliner Fundstelle, der
Woltersdorfer Schleuse, festgestellt worden. Ob
sich die Art hier und in den benachbarten Ge-
wässern, in denen sie früher gefunden wurde
(Rüdersdorf, Müggelsee) dauernd eingebürgert hat
und an geeigneten Stellen stets zu finden gewesen
wäre, wenn auch vielleicht in ungünstigen Jahren
nur kümmerlich entwickelt, ist schwer zu sagen.
Jedenfalls muß man vorläufig mit der Möglichkeit
rechnen , daß der Polyp nach jeweiliger Ein-
schleppung durch den regen Schiffsverkehr (viel-
leicht auch durch Wasservögel) sich nur bei Kon-
kurrenz besonders günstiger Bedingungen ansiedelt
und nach einer Periode mehr oder weniger üppiger
Entwicklung wieder gänzlich verschwindet. In
der Woltersdorfer Schleuse ließ sich 1920 und
1921 mit Leichtigkeit reichliches Untersuchungs-
material gewinnen. Über die Verhältnisse im
Jahre 1920 berichtet P. Schulze in seiner Ar-
beit ') „Die Hydroiden der Umgebung Berlins
mit besonderer Berücksichtigung der Binnenland-
formen von Cordylophora" u. a. folgendes: „Die
Tiere saßen in ungeheuren Mengen in dichten
Rasen an den Wänden der Schleuse gegen den
Flakensee (= tiefgelegener See, Ref) zu, gingen
aber über diese nicht hinaus, nicht einmal auf die
sich direkt anschließenden rechtwinklig dazu
stehenden Außenmauern des Schleuseneinganges
gegen diesen See zu. . . . Diejenigen Kolonien, die
in der Schleuse an etwas vorspringenden Eisen-
teilen saßen, waren meist etwas höher als die an
den Wänden sitzenden. . . . Von großem Einfluß
auf die Tiere scheint der Sauerstoffgehalt des
') Biolog. Zentralblau, Bd. 41, 1921.
652
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
,N. F. XX. Nr. 45
Wassers zu sein. Am besten gedeihen sie an
einer Stelle, dicht am Schleusentor, wo von oben
ein Wasserrinnsal in der Schleuse und auf sie
herabfloß."
,,Die Cordylophorastöcke waren, neben einer
reichen Diatomeenflora, mit Peritrichen (Cothurnia,
Vorticella und besonders Epistylis, Carchesium
und Stentor polymorphus Ehrenb.) und ungewöhn-
lich zahlreichen Suktorien besetzt. . . . Den Cordy-
lophorastämmchen dicht angeschmiegt wuchs
überall Paludicella articulata Ehrenb., die schon
Kraepelin als Begleiter der C. für Hamburg
angibt; und weniger zahlreich Plumatella fructicosa
AUm. und vereinzelt Lophopus crystallinus Pall.
Recht kümmerliche Exemplare von Hydra atte-
nuata Pallas saßen häufig auf ihnen. Scharen des
aus dem Kaspisee eingewanderten Amphipoden
Corophium curvispinum devium Wundsch. — in
England fand man unter gleichen Umständen das
Corophium crassicorne Bruc. — bewohnten neben
großen roten Chironomuslarven und vielen Cliaeto-
gaster diaphanus Gruith. den Polypenrasen , der
nuß- bis faustgroße Stücke von Ephydatia fluvia-
tilis L. und Spongilla fragilis Leidy fast überwuchs,
während sich schlanke verzweigte Stücke von
Euspongilla lacustris L. daraus hervorschoben. An
den Kolonien saßen ferner junge Dreissensien und
vereinzelt kroch auf ihnen Lymnaea ovata Drap,
und Cristatella mucedo Cuv. herum. . . ." Von
ganz besonderem Interesse ist die Feststellung
eines zweifellosen Polypenindividuums von Micro-
hydra ryderi Potts., das in dem Detritus zwischen
den C.-Stöcken gefunden wurde, bisher leider nur
in konserviertem Material. Dieser kleine tentakel-
lose und von einer Gallerthülle umgebene Polyp
wurde erstmalig von Amerika beschrieben, später
von Goette auch bei Straßburg i. E. gefunden;
die zugehörige Meduse fing Schorn 191 1 im
Finowkanal bei Eberswalde. Es muß vorläufig
dahingestellt bleiben, ob die Art durch Schiffs-
verkehr u. dgl. zu uns gekommen ist , oder ob
ihr, wie das wahrscheinlich für einige Hydraarten
zutrifft, eine ursprünglich mehr oder weniger kos-
mopolitische Verbreitung zukommt, und sie in
Europa wegen ihrer Unscheinbarkeit bisher mei-
stens übersehen wurde. Potts fand seine Exem-
plare zwischen Bryozoenkolonien und glaubt, daß
die wegen ihrer geringen Beweglichkeit und
Tentakellosigkeit zur Ergreifung von Nahrungs-
tieren wenig geschickten Polypen auf das Zusam-
menleben mit den lebhaft herbeistrudelnden Moos-
tierchen angewiesen seien. P. Schulze: „In
unserem Fall wurden die Bryozoen durch die
Cordylophorarasen mit ihrer reichen Biozönose
ersetzt."
Auf Grund morphologischer Vergleichung der
in Binnengewässern festgestellten verschiedenen
Wuchsformen von Cordylophora und der Brack-
wasserform kommt P. S c h u 1 z e zu der bedeut-
samen Schlußfolgerung, daß die Süßwasserformen
gewissermaßen fixierte ontogenetische Entwick-
lungsstadien der als Typus anzusprechenden voll-
entwickelten Form im Brackwasser, wie sie F. E.
Schulze beschrieb, repräsentieren. Sie sind
gegenüber der letzteren also nicht Kolonien, „die
infolge ungünstiger Lebensumstände als Ganzes
eine Hemmung erfahren haben, sondern vielmehr
Gebilde, welche über eine mehr oder weniger
vorgeschrittene Entwicklung auf die Brackwasser-
form zu nicht hinausgekommen sind". Folgende
Formen werden unterschieden : a) forma white-
leggei Lendenfeld. Aus einer lang hinkriechenden
Hydrorhiza erheben sich kleine unverzweigte
Einzelpolypen (Hauptpolypen). b) f. albicola
Kirchenpaur. Am Hydrokaulus des Hauptpolypen
treten Seitenpolypen i. Ordnung auf. c) f. tran-
siens n. f. Außer den Seitenpolypen i. Ordnung
treten solche 2. Ordnung auf, die zu sich wieder
gabelnden Seitenästchen auswachsen können. Das
Material von Woltersdorf 1920/21 ist der
letzteren Form zuzurechnen.
Als Urheimat der Art ist nach P. Schulze
mit Wahrscheinlichkeit die westliche Ostsee an-
zunehmen , von wo sie in das Brackwasser der
Flußmündungen und in die östliche Ostsee vor-
gedrungen ist. Die weitere Verschleppung, z. T.
indirekt auf an Schiffen sitzenden Muscheln, findet
hauptsächlich durch den in der Hydrorhiza ein-
gekapselten Weichkörper (Menonten) statt. Für
Ansiedlung und Gedeihen scheinen Sauerstoff-
reichtum und Dunkelheit (in Woltersdorf
Abbiendung durch die Schleusenwände!), vielleicht
auch ein gewisser Gehalt des Wassers an Mineral-
salzen bestimmend zu sein.
Die oben beschriebene Biozönose auf den
Schleusentoren war, bis auf Mikrohydra, Anfang
und Mitte Juni d. J. wieder zu voller Entwicklung
gelangt. Während im Vorjahre nach Schul zes
Bericht nur (J Sporosaks bei der Cordylophora zu
finden gewesen waren, konnte Ref. diesmal eine
üppige Entwicklung von $ Gonophoren (bei viel-
fach schon retrahiertem Gonostyl mit 7 — ii Eiern
bzw. Embryonen gefüllt) feststellen.
E. Boecker-Treptow.
Bücherbesprechungen.
Schmidt, Prof. Dr. Julius, Kurzes Lehrbuch
der organischen Chemie. 2., neube-
arbeitete Auflage. Stuttgart 1920, Ferdinand
Enke. 150 M.
Der Nachteil der vorhandenen Lehrbücher der
organischen Chemie ist entweder der Mangel jeg"
lieber Literaturangaben, wodurch der Studierende
nur zu leicht verleitet wird, sich mit dem im Lehr-
buch Gebotenen zu begnügen. Dies gilt vor allem
von dem Buche von Holleman. Oder der
N. F. XX. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
653
Nachteil liegt in dem Zuviel an Stoft' und Lite-
raturhinweisen, wodurch die Lesbarkeit unmöglich
und ein aphoristischer Bei Ist ein geschaffen ist.
Typ hierfür : der „Richte r".
Das vorliegende Lehrbuch vermeidet beide
Übertreibungen. In zumeist sehr glücklicher
Weise ist in ihm tatsächlich der wissenschaftliche
Apparat dem pädagogisch notwendigen ausführ-
licheren Stil der Darstellung einverleibt. So ist
ein lesbares Buch entstanden, dessen zahlreiche,
die wichtigste Literatur nennenden Fußnoten
gleichzeitig zu den Quellen unmittelbar hinführen.
Ja, der Verf. hat noch einem weiteren fruchtbaren
Gedanken Genüge zu tun wenigstens versucht:
das Allgemeine, gewissermaßen Physikalisch-
Chemische der organischen Verbindungen von
dem schier unübersehbaren Zufälligen der stoff-
lichen Individuen zu trennen. So scheidet er
einen Allgemeinen Teil von So Seiten vom
Speziellen Teil, dem allerdings dann über 700
Seiten zukommen. Schon aus dieser Raumbe-
messung erhellt, daß der erste Teil über eine
Aufzählung der Methoden, der Isomeriearten und
einiger allgemeiner physikalischen Eigenschaften
nicht hinauskommen kann. Dieser Teil ist darum
nicht befriedigend. So fehlt im Abschnitt „Op-
tisches Verhalten" die wichtige Methode der Ab-
sorptionsspektralanalyse, der doch eine weit höhere
Bedeutung zukommt als beispielsweise der Mole-
kularrotation. Auch über Methoden zur Ortsbe-
stimmung, zumal der Benzolderivate, fehlt näheres.
Sodann ist der durch Hantzsch so geförderte
Begriff der „Pseudosäuren" nur unzulänglich er-
wähnt. • — ■
Schön angeordnet und höchst erfreulich dar-
geboten ist dagegen der Spezielle Teil, der die
drei Hauptbücher über Fettverbindungen, karbo-
zyklische und heterozyklische Verbindungen um-
faßt. In vielem von der Behandlungsweise anderer
Autoren abweichend, hat der Verf. zweifellos d a s
Maß an Stoffen und Umsetzungen gebracht, das
zum Studium unerläßliche Grundlage ist. Manches
sonst stiefmütterlich Behandelte tritt erst in diesem
Buche in das rechte Licht. Freilich geht Verf.
auch seinerseits zuweilen zu weit. Das Kapitel
über Alkaloide, an sich meisterlich dargestellt, ist
bei seinem sehr besonderen und schwierigen
Charakter entschieden zu breit geraten.
Der Verf. bringt auch neuste Arbeiten. Da
ist es um so weniger zu verstehen, wie die
wichtige Methode der Bromtitration zur Bestim-
mung von Enolen durch K. H. Meyer (S. 257)
fehlen konnte 1 Auch die optische Analyse fehlt.
— Auch die Ausführungen über Anilinschwarz
(S. 754) sind ungenügend. (Die daselbst stehende
Fußnote gehört nach S. 755!) Und die Enzyme
in eine F"ußnote (S. 126) zu verweisen, Will-
stätter und Euler dabei nicht einmal zu nennen,
ist ebenfalls anfechtbar. — Erstaunen muß so-
dann, daß nicht ein Wort über die organischen
Siliziumverbindungen gesagt ist und auch die An-
organoalkyl Verbindungen fast ganz fehlen. —
S. 636 bleibt die Formel des Dimethylpyrons
unentschieden, aber die vonBaeyer stammende
wahrscheinlichste Formulierung ist nicht
erwähnt. — Die Formulierung des Phthalylchlorids
S. 436 ist gänzlich veraltet. Die Arbeiten von
Ott u. a. sind dem Verf. anscheinend entgangen.
— Dies trifft zu auch für die schönen Unter-
suchungen Böesekens über den Einfluß der
Borsäure auf die Leitfähigkeit der Phenole, die
gleichfalls genannt werden mußten. — Schi ff sehe
Basen sind kaum angedeutet. Und auch der von
W i e 1 a n d geklärte Mechanismus der Aldehyd-
oxydation muß künftig eingehender dargestellt
werden. — Diesen schwerer wiegenden Lücken
treten ein paar geringfügige zur Seite. So S. 404,
wo die Umwandlung von Phenol in Anilin fehlt,
S. 652, wo der Verlauf der Chinolinsynthese
nach S k r a u p wohl falsch dargestellt ist, wie aus
der Chinaldinsynthese hervorgeht. Auch sonst
wird dem Kenner mancherlei auffallen. Bericht-
erstatter möchte wünschen, daß eine Neuauflage,
die hoffentlich bald nötig wird, die angemerkten
Schönheitsfehler des trefflichen Buches tilgt!
Dann hätten wir im „Schmidt" wirklich ein mo-
dernes Lehrbuch der Art, wie die heutige Chemie
es benötigt.
Das Buch ist vorzüglich gedruckt, aber wohl
zu rasch korrigiert worden. Trotz einer Zusam-
menstellung vieler Iirrata findet sich noch eine
große Anzahl davon.
Absichtlich sind dem Werk besonders strenge
Maßstäbe der Beurteilung angelegt worden. Es
ist zu gut als daß die gemachten Anstellungen
schaden könnten. So mag es nochmals als ein
im ganzen treffliches Lehrbuch angelegentlich
empfohlen sein ! Der leider hohe Preis von fast
200 M. ist hoffentlich kein Abschreckungsmerk-
mal. Hans Heller.
Dingler, H., Physik und Hypothese. Ver-
such einer induktiven Wissenschaftslehre nebst
einer kritischen Analyse der Fundamente der
Relativitätstheorie. XI, 200 S. Berlin und
Leipzig 1921, Vereinigung wissenschaftlicher
Verleger Walter de Gruyter & Co.
In einer Zeit, in der auf dem Gebiete der
Physik Anschauungen auftreten, die in so grund-
legender Weise mit den bisher gültigen brechen,
wie es die Relativitätstheorie tut, liegt die Frage
nahe, ob die Grundlagen dieser Wissenschaft auf
so unsicherem Boden stehen, daß wir auch für
die Zukunft vor derartigen Umwälzungen nie
sicher sein können. Es sei deshalb gestattet,
heute auf ein Buch hinzuweisen, das diese Frage
bis in ihre letzten Tiefen hinein zu verfolgen
sucht. Ich meine die Schrift des Münchener
Mathematikers Hugo Dingler: Physik und
Hypothese.
Von der praktischen Arbeit des Experimental-
physikers ausgehend, sucht der Verf. den Pro-
blemen nahezukommen. Der Physiker findet
irgendwelche Abhängigkeiten in den Erscheinun-
654
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 45
gen vor, etwa die, daß der Aggregatzustand des
Wassers abhängig ist von der Temperatur, und
sucht nun, diese Abhängigkeit genau zahlenmäßig
zu bestimmen, d. h. eine Messung vorzunehmen.
Alles Messen ist aber ein Vergleichen, ein Be-
ziehen des zu Messenden auf einen Maßstab. Die
Messung kann dabei naturgemäß niemals die Ge-
nauigkeit des Maßstabes übertreffen. Woher hat
der Physiker nun seinen Maßstab, oder, allge-
meiner gesprochen, den starren Körper, der zur
Herstellung physikalischer Apparate verwendet
wird ? Zunächst ist zu sagen , daß die in der
Praxis verwandten Apparate durch noch genauere
geeicht werden, diese vielleicht durch noch feinere
Apparate. Natürlich kann dieser Prozeß kein un-
endlicher sein, sondern wir sehen uns zu der
Frage geführt: wie wird der jeweils genaueste
vorhandene starre Körper, der „autogene" starre
Körper geeicht? Stellen wir uns, wie es hierfür
natürlich notwendig ist, auf den Standpunkt, daß
wir noch keinerlei physikalische Kenntnisse haben,
so ist zu fragen : Wie sollen wir experimentell
feststellen, welcher Körper geeignet ist, unsere
Messungsbasis zu werden ? Wir könnten etwa
zwei Körper von verschiedenem Material mitein-
ander vergleichen; sie mögen die gleiche Länge
zeigen. Ein Vergleich am nächsten Tage lehrt
uns, daß die Länge der beiden Körper sich gegen-
einander verschoben hat; woher sollen wir nun
wissen, welcher Körper sich verändert hat, und
welcher konstant geblieben ist, oder ob nicht viel-
mehr beide eine Veränderung erlitten haben?
Kommen wir also mit diesem Kriterium nicht
durch, so wäre daran zu denken, einen solchen
Körper als starr zu wählen, der sich dem Druck
unserer Hand als besonders widerstandsfähig er-
weist! Wir haben aber keinerlei Kriterium dafür,
daß dieser Körper auch gegenüber andern Ein-
wirkungen die gleiche Widerstandsfähigkeit zeigen
wird und somit für unsere Zwecke geeignet ist.
Verzichten wir darauf, die sonstigen Möglich-
keiten, den starren Körper experimentell zu fin-
den, durchzugehen (es würde sich zeigen, daß sie
alle auf ähnliche Schwierigkeiten stoßen), so bleibt
nur noch ein Kriterium übrig; es ist das, welches
tatsächlich die Konstrukteure in den Fabriken der
feinmechanischen und optischen Präzisionsindustrie
anwenden, nämlich die geometrischen Beziehun-
gen! Ein Körper wird dann als starr
betrachtet, wenn er bei jedesmaliger
Nachprüfung den Gesetzen der euklidi-
schen Geometrie gehorcht.
Diese Definition des starren Körpers ist aber
nicht das Ergebnis eines Experimentes, sondern
einer Festsetzung unsererseits! Sie ist eine Kon-
vention, zu der uns die Natur in keiner Weise
zwingt. In dieser Definition ist nun implizite
die Geometrie unsres Raumes festgelegt, denn
alle Abweichungen von den Gesetzen
der euklidischen Geometrie bedürfen
nunmehr einer besonderen Erklärung
und können nicht auf die Natur des
Raumes zurückgeführt werden. Ohne
eine derartige Festsetzung aber kann der Natur-
forscher keinen Schritt tun, denn angenommen,
etwa der Geodät mache eine Dreiecksmessung,
bei der die Winkelsumme nicht 2 R ist, so wäre
dieses Ergebnis so lange vieldeutig, als er noch
keine Festsetzung über die Natur unseres Raumes
getroffen hat. Er könnte etwa sagen, an dieser
Stelle sei unser Raum nicht euklidisch; tatsächlich
aber sagt er: hier liegt ein Messungsfehler vor,
der sich durch eine Ungenauigkeit der verwandten
Apparate erklärt, und in dieser Interpretation
steckt eben die vom Verf. behauptete Tatsache
darin , daß die euklidische Geometrie
des Raumes nicht durch das Experi-
ment gefunden, sondern bei diesem
vorausgesetzt wird.
Ist nunmehr die Messungsbasis hergestellt, so
kann der Physiker rein experimentell seine IVIes-
sungen vornehmen; freilich hat es bei den bloßen
Messungen nicht sein Bewenden. Der Physiker
beobachtet nicht nur die Vorgänge, sondern er
sucht sie auch zu „erklären"! Dieses Erklären
besteht darin, daß ein Vorgang auf lauter be-
kannte Einzelvorgänge zurückgeführt wird. So
wird die ungeheure Fülle der beobachteten Einzel-
vorgänge zurückgeführt auf einige Typen von
Grundvorgängen. Das Erklären hat also letztlich
seine Wurzel in dem Ordnungswillen des Physi-
kers. [Dieser Wille, in das Chaos der Erschei-
nungen Ordnung zu bringen, ist es letztlich, der
überhaupt die Überwindung des vorwissenschaft-
lichen Stadiums notwendig macht und am An-
fange aller Wissenschaft steht] Nun werden, der
Natur des Erklärens entsprechend, solche Vor-
gänge zum Erklären herangezogen werden müssen,
die uns besonders geläufig sind ; das werden aber
solche anschaulicher Natur sein. Da die einzige
Art, in der es dem Menschen möglich ist, auf
seine Umgebung einzuwirken, die durch Be-
wegungen ist, da ferner alles Messen auf einer
Feststellung von Bewegungen j^nämlich der Skala
unseres Apparates] beruht, so liegt es nahe, in
erster Linie die Erscheinungen auf Bewegungen
von Körpern zurückzuführen. Solche Erklärungen
sind gewissermaßen anschauliche Unter-
bauungen des wirklich Beobachteten.
Sie enthalten also notwendig nicht faktisch be-
obachtete Elemente; und eben deshalb ist es
möglich, einen Vorgang auf verschiedene Weisen
zu erklären, bzw. verschiedene „Hypothesen" auf-
zustellen.
Gelingt es nun durch die Hypothesenbildung,
zwei Erscheinungsgebiete, die zunächst zusammen-
hanglos nebeneinanderstehen, auf eine gemein-
same Wurzel zurückzuführen, so liegt es in der
Konsequenz dieses Verfahrens, auch zwei Hypo-
thesen wieder durch eine gemeinsame zu um-
spannen und so fort, d. h. an Stelle der Grund-
typen von Vorgängen, von denen wir vorhin
sprachen, letztlich eine einzige Art von Vorgängen
zu setzen, aus der alle anderen erklärt werden.
N. F. XX. Nr. 45
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
655
Zur Aufstellung einer solchen „Universalhypothese"
zwingt uns auch die Überlegung, daß diejenigen
Vorgänge, die zur Erklärung der anderen benutzt
werden, notwendig selbst unerklärt blei-
ben müssen; also werden wir versuchen müssen,
mit einer einzigen Art von solchen Vorgängen
auszukommen.
Zwingt uns nun, wie der Verf. zeigte, die
Natur nicht zu der Wahl einer bestimmten „Ele-
mentarkausalität", denn es können ja ganz ver-
schiedene Hypothesen einer und derselben Er-
scheinung gerecht werden, so müssen wir für
diese Wahl ein anderes Kriterium gebrauchen; es
ist dasselbe, das uns zur Wahl der euklidischen
Geometrie veranlaßte, das wir freilich an jener
Stelle noch nicht besonders hervorhoben, näm-
lich das Kriterium der logischen Ein-
fachstheitl Wie nämlich die Gerade eine ein-
fachere Kurve ist als der Kreis, weil sie nur zwei
willkürlich bestimmbare Konstanten, der Kreis
aber drei hat, so läßt sich auch zeigen, daß die
euklidische Geometrie einfacher ist als jede nicht
euklidische, und daß der einfachste mögliche Vor-
gang der Wirkung von Körpern aufeinander der
des Newtonschen Gravitationsgesetzes istl
Dieses selbst muß dann natürlich dauernd uner-
klärt bleiben I
Verf. zeigt so in dem ersten Teil seines Buches,
daß die Physik keine reine Erfahrungswissenschaft
ist, sondern zwei Punkte enthält, wo „apriorische"
Momente in ihr stecken. Wie der Physiker bei
jeder Messung O-Punkt und Maßeinheit seines
Apparates festsetzen muß und diese nie experi-
mentell bestimmen kann, so ist gewissermaßen
auch die Wahl der euklidischen Geometrie eine
Nullpunktsetzung und die Wahl der Elementar-
kausalität nach dem Newtonschen Gesetz die
Festsetzung der Maßeinheit.
Verf. beleuchtet nun in einem zweiten Teil
den Zusammenhang seiner Gedankengänge mit
der modernen Philosophie, insbesondere der Er-
kenntnistheorie und Logik. Es sei nur kurz an-
gedeutet, daß hier gezeigt wird, wie sich gewisse
Prinzipien, die jeder Wissenschaft, nicht nur der
Physik, zugrunde liegen, insbesondere das Prinzip
der Eindeutigkeit, letztlich als Konventionen er-
weisen, und wie sich hieraus wieder die logischen
Axiome ableiten lassen.
Schließlich behandelt der Verf., wie die Kon-
sequenz seiner Ausführungen zu einer Kritik der
Relativitätstheorie führt. Auf diesen letzten Punkt
sei wenigstens noch in einigen Andeutungen ein-
gegangen.
Prinzipiell zwingt uns, das ist ja die Grund-
these des Verf., die Natur nicht zu der Wahl
einer bestimmten Geometrie oder einer bestimmten
Elementarkausalität. Es wäre also auch eine
prinzipiell andere Physik und eine andere Me-
chanik möglich wie die Newton sehe. Es ließe
sich also auch die Relativitätstheorie zu einem in
sich konsequenten System der Physik ausbauen.
[Zur Zeit ist sie dies allerdings nach der Meinung
des Verf.s nicht, denn die Einst einsehe Defi-
nition der Gleichzeitigkeit hat eine andere Defi-
nition des starren Körpers zur Folge, als die in
der bisherigen Physik übliche, was bislang über-
sehen ist.] Aber selbst, wenn diese Inkonsequenzen
ausgemerzt würden, glaubt Verf. sein System „der
reinen Synthese" [wie er seine Ableitung der
Grundlagen der Physik und das daraus resultierende
System der Physik nennt] der Relativitäts-
theorie gegenüber den Vorzug geben zu dürfen.
Warum ? Die Relativitätstheorie wählt die Grund-
lagen der Physik nicht nach dem Kriterium der
logischen Einfachstheit, sondern nach dem je-
weiligen Stande der physikalischen Wissenschaft.
[Die Tatsache, daß kein Zwang zu einer solchen
Neuwahl vorliegt, ist von manchen Anhängern
der Relativitätstheorie, z. B. von M. Schlick
(Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik,
Berlin, Julius Springer, 2. Aufi. 1919, S. 83 fif.)
prinzipiell zugegeben worden.] Dieser empiristische
Gesichtspunkt, der in der Relativitätstheorie die
Bestimmung der Grundlagen der Physik leitet,
hat aber zur P"olge, daß wir in Zukunft jedesmal,
wenn sich irgendwelche experimentellen Befunde
der Physik (wie dieses Mal die bekannten Er-
scheinungen des Lichts im F i z e a u - und Michel-
son versuch) absolut nicht widerspruchsfrei wollen
erklären lassen, uns veranlaßt sehen könnten, diese
Tatsachen zum Ausgangspunkt einer neuen Physik
zu machen, das in Frage stehende Problem schei-
bar so zu lösen auf Kosten der ganzen bisherigen
Wissenschaft.
Verf. zeigt hingegen, wie mit viel größerem
Recht die Grundlagen der Physik nach von der
Erfahrung unabhängigen logischen Prinzipien be-
stimmt werden, und wie sich so ein Weg ergibt,
zu einem System der Physik zu kommen, das
vor derartigen Umwälzungen, wie sie die Rela-
tivitätstheorie bringt, ein für allemal gesichert ist.
Ein Mißverständnis wäre es zu glauben, daß
der Verf. zeigen wollte, wie die physikalische
Wissenschaft tatsächlich zustande gekommen
ist; das mag allein der Historiker der exakten
Wissenschaften entscheiden. Hier handelt es sich
vielmehr um die erkenntnistheoretisch - logische
Frage nach der Sicherstellung der letzten Grund-
lagen der Physik. Es ist also eine Problemstellung,
die, wie dem philosophisch gerichteten Leser
schon deutlich geworden sein wird, der Frage-
stellung Kants in seiner Vernunftkritik nahe
verwandt ist, so verschieden auch die Lösung der
Probleme ausgefallen ist.
Rezensent muß es sich versagen, den Ge-
dankengängen des Verfs. bis ins einzelne zu folgen,
wobei hier und da auch eine kritische Stellung-
nahme notwendig werden würde. Es konnte sich
hier nur um die Herausarbeitung der Grundge-
danken von Dinglers scharfsinnigen und geist-
vollen Ausführungen handeln.
Walter Scholz, Hannover.
656
Maturwissenschaftliclie Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 45
Schmaltz, R., Das Geschlechtsleben der
Haussäugetiere. Dritte, neubearbeitete
Auflage mit 67 Abb. 529 S. Berlin 1921,
Verlag von R. Schoetz. Geb. 75 M.
Das bekannte Buch von Schmaltz, früher
ein besonderer Band der von Harms heraus-
gegebenen „Geburtshilfe bei Haustieren" erscheint
in der vorliegenden dritten Auflage zum ersten
Male als eigenes selbständiges Werk. Es ist keines
der alltäglichen Lehrbücher, die sich mit einer
mehr oder minder vollständigen Registrierung der
vielen Einzeltatsachen begnügen, sondern ein ge-
radezu klassisches Buch, das den Leser bei der
Lektüre unwillkürlich mit sich fortreißt und in
überaus anschaulicher Form das weite Gebiet des
Geschlechtslebens unserer wichtigsten Haussäuger
behandelt. Knapp und klar finden sich die ana-
tomischen Grundlagen und embryologischen Vor-
gänge gekennzeichnet, soweit sie zur Einführung
in den Gegenstand notwendig sind, doch treten
diese Beschreibungen überall zurück im Vergleich zu
der eingehenden und verständnisvollen Würdigung,
welche die biologischen Vorgänge im Geschlechts-
leben gefunden haben. Hier zeigt sich Verf als
wahrer IVleister des Stoffs und macht den Leser
in ungezwungener sozusagen selbstverständlicher
Form mit den mannigfachen Fragen und Pro-
blemen der Fortpflanzungsgeschichte vertraut.
Eine Fülle von bemerkenswerten Belegen und
Beispielen, die in der h^achliteratur vergraben sind,
findet sich hier verzeichnet. Oft kann der Autor
aus dem Schatze seiner reichen Erfahrungen
schöpfen und führt eigene Beobachtungen an den
in Rede stehenden Säugern an. Alle einschlägigen
Dinge werden beliandelt. Die so vielfach in das
Geschlechtsleben hineinspielenden psychologischen
Momente, die in dem verschiedenartigen Benehmen
der Tiere zum Ausdruck kommen, finden sich
ebenso berücksichtigt wie die vielen anderen Er-
scheinungen, die bei der Begattung, der Be-
fruchtung, Fruchtbarkeit, der Trächtigkeitsperiode,
der Geburt usw. zu beobachten sind. Auch fehlt
es dabei nicht an Vergleichen und Hinweisen auf
entsprechende Vorgänge beim Menschen oder
bei heimischen Wildarten, die nicht unter dem
Einfluß der Domestikation stehen. So wird das
Buch von Schmaltz, das in erster Linie für
die Kreise der Tierärzte, Tierzüchter und Land-
wirte bestimmt ist , auch jedem Biologen und
Mediziner, der für die betreffenden Gebiete Inter-
esse besitzt, sehr viel Beachtenswertes und Lehr-
reiches bieten. Auszusetzen ist wenig. S. 264
hätte auf die Möglichkeit von Gattungsbastarden
aufmerksam gemacht werden können (Edelfasan
X Haushuhn). Die S. 145 genannten Wildrinder
sind keine „Auerochsen", sondern Wisente. Auch
hatte Iwan off nicht zweifelhaft gelassen, was er
unter Bison versteht und damit teils den russischen
Wisent, teils Bison amerlcanus gemeint. Da bei
der Fülle des Stoffes und dem Umfang des ganzen
Gebietes wohl nicht jeder Leser in der Lage sein
wird, gleich das ganze Werk Seite für Seite durch-
zustudieren, so ist im Interesse des raschen Zurecht-
findens eine Einrichtung getroffen, die für Bücher von
ähnlichem Charakter nachahmenswert sein dürfte:
Zahlreiche in den Text eingefügte Seitenzahlen
setzen jeden in den Stand, sobald er erst einmal
im Register nach einem Stichwort die einschlägige
Stelle gefunden hat, auch weiter sofort alle die-
jenigen Stellen im Buch aufzufinden, an denen er
über die betreffende Frage oder über verwandte
Dinge noch weiteren Aufschluß bekommen kann.
R. Heymons.
Schmid, Bastian, Von den Aufgaben der
Tierpsychologie. Mit 11 Abbildungen im
Text. 43 S. In Abhandlungen zur theoreti-
schen Biologie herausgegeben von J. Schaxel.
Heft 8. Berlin 1921, Gebr. Bornträger. 12 M.
Die Tierpsychologie stellt einen lange ver-
nachlässigten Zweig der Wissenschaft dar. Sie
bildet ein Grenzgebiet, auf dem sich Philosophie
und Naturwissenschaft, beide von verschiedenen
Voraussetzungen ausgehend, eng berühren, ohne
daß bisher weder die eine noch die andere Dis-
ziplin es fertig gebracht hat, das hier zum großen
Teil noch brach liegende Feld gründlich zu be-
arbeiten. Als Zweck seiner Schrift bezeichnet
Verf. „unter grundsätzlicher Anerkennung und Be-
tonung der Realität des Psychischen in erster
Linie auf vergessene und vernachlässigte Kapitel
der Tierpsychologie zu verweisen". Die Aufmerk-
samkeit will er namentlich auf die mannigfachen
Ausdrucksformen bei höheren Tieren lenken, an
denen Psychisches und Physisches in Erscheinung
tritt. An der Hand einwandfreier zeichnerischer
Darstellungen und photographischer Aufnahmen
werden beispielsweise die Tanzformen von Kra-
nichen, die Spiele, verschiedene Affektzustände
von Säugetieren und Vögeln besprochen, ebenso
wie die sog. rechnenden Pferde und Hunde sowie
die Sprache der Tiere in den Kreis der Betrach-
tungen gezogen sind. R. Heymons.
Inball: G. Lilienthal, Über den Segelflug der Vögel und das Fliegen der Fische. (6 Abb.) S. 641. • — Einzelberichte:
F. Pax, Schlesiens Stellung in tiergeographischer Hinsicht. S. 644. N. R. Dhar und G. Chatterji, Neue Be-
obachtungen über Peptisation. (l Abb.) S. 646. O. As eh an, Neuentdeckte Bestandteile des Kolophoniums. S. 647.
Zcleny, Die Rückbildung der Augen durch Mutation bei Drosophila. (3 Abb.) S. 648. R. Martin, Skelettkult und
verwandte Vorstellungen. S. 650. P. Schulze, Cordylophora lacustris Allm. Eine interessante Biozönose in der
Woltersdorfer Schleuse bei Berlin. S. 651. — Bücherbesprechungen: J. Schmidt, Kurzes Lehrbuch der organi-
schen Chemie. S. 652. H. Dingler, Physik und Hypothese. S. 653. R. Schmaltz, Das Geschlechtsleben der
Ilaussäugetiere. S. 656. Bastian Schmid, Von den Aufgaben der Tierpsychologie. S. 656.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band ;
der ganieo Reibe 36. Buid.
Sonntag, den 13. November 1921.
Nummer 46.
Die Reizwirkung der Röntgen- und Radiumstrahlen.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. med. et phil. Alois Czepa.
Am Hause des physikalischen Instituts der
Universität in Würzburg ist eine Gedenktafel, die
die Inschrift trägt: „In diesem Hause entdeckte
C. W. Röntgen im Jahre 1895 die nach ihm be-
nannten Strahlen". Kurz und schlicht sind die
Worte, aber von inhaltsschwerer Bedeutung.
Die Entdeckung dieser Strahlenart ist für die
Wissenschaft und für die ganze Menschheit von
ungeheuerer Bedeutung gewesen. Wir haben durch
die Kenntnis dieser Strahlenart und mit ihrer Hilfe
einen großen Schritt in der Ergründung des Atom-
baues weiter getan, haben umlernen müssen auf
dem großen Gebiet der Physik und Chemie und
haben in den Strahlen ein Hilfsmittel für den
Arzt gefunden, das noch lange nicht vollständig
ausgenützt ist.
Da gerade ein Vierteljahrhundert seit der Ent-
deckung der Strahlen verflossen ist, verlohnt es
sich eine Rundschau zu halten, über die Ent-
wicklung unserer Erkenntnis und über den Stand
ihrer Anwendung vor allem auf dem Gebiete der
Medizin und es ist mehr als ein Akt der Pietät
dabei des großen Mannes zu gedenken, der uns
diese wichtige Entdeckung geschenkt hat. Denn,
wenn auch alle Forscher, die seiner Zeit mit
Kathodenstrahlen arbeiteten, sicher Röntgen-
strahlen unter den Händen hatten, so gebührt
doch unstreitig Röntgen allein das Verdienst,
diese Strahlen erkannt zu haben, ihnen nachge-
gangen zu sein und der Welt die Entdeckung
fertig übergeben zu haben.
Als Ende 1895 die erste Mitteilung Rönt-
gens „über eine neue Art von Strahlen" erschien,
erwartete man in der physikalisch medizinischen
Gesellschaft in Würzburg voll Spannung den Abend
des 23. Januar 1896, für den der Entdecker einen
Vortrag über das gleiche Thema angekündigt
hatte. Eine große Zuhörerschaft begrüßte ihn
und brachte ihm nach Beendigung seines Vor-
trages die stürmischsten Ovationen. Kölliker
erklärte, daß er in den 48 Jahren seiner Zuge-
hörigkeit zur physikalischen Gesellschaft noch nie
eine so bedeutende Sitzung mitgemacht habe
und schlug vor, daß man diese Strahlen ihrem
Entdecker nach Röntgensche Strahlen nennen
soll. In dieser Sitzung wurde die Hand K ö 1 1 i k e r s
auf die Platte gezaubert und als Kölliker
Röntgen fragte, wie er sich die Verwendung
der Röntgenstrahlen für die Medizin vorstelle,
antwortete ihm Röntgen, daß er das ganz den
Ärzten überlassen muß, da ihm zur Fortseztung
der Versuche nach dieser Richtung hin, die Zeit
fehle. Und Röntgen ist damit den rechten
Weg gegangen. Die Ärzte haben sich mit Feuer-
eifer auf die neue Entdeckung geworfen und
haben mit ungeheuerer Mühe und mit Hintan-
setzung der eigenen persönlichen Sicherheit aus den
Strahlen soviel herausgeholt, daß heute die Rönt-
genstrahlen für die Medizin einfach unentbehrlich
geworden sind.
Heute sind wir nicht nur in der Lage durch
Photographien die Knochen des lebenden Menschen
uns sichtbar zu machen und aus ihrem Aussehen
auf ihren Zustand zu schließen, sondern haben
auch mit Hilfe des im Röntgenlichte aufleuchten-
den Ba-Cyanürschirmes und seiner Ersatzprodukte
in das Innere des Menschen hineinsehen und die
sich uns darbietenden Schattengebiide deuten ge-
lernt. Was das für das Erkennen von krankhaften
Prozessen bedeutet, mag man daraus erkennen,
daß man früher über die Funktion verschiedener
Organe im lebenden Organismus fast gar nicht,
und wie es sich durch die Röntgenuntersuchungen
ergab, oft falsch unterrichtet war. So kannte
man den menschlichen Magen nur aus den Leichen
oder den auf dem Operationstisch liegenden
Patienten. Im Röntgenbilde aber sah man den
Magen arbeiten und gewann erst nach und nach
die richtigen Vorstellungen über sein normales
Aussehen und Arbeiten allerdings erst nach Be-
kämpfung des heftigsten Widerspruches von selten
der Anatomen und Chirurgen. War z. B. früher
die Diagnose Magengeschwür sehen gestellt, so
ist sie heute nach der allgemein üblichen Röntgen-
untersuchung sehr häufig und die früher so oft
konstatierten nervösen Magenbeschwerden haben
sich zum größten Teil als Magen- und Zwölf-
fingerdarmgeschwüre entpuppt.
Die Röntgenuntersuchung ist heute ein wichtiges
Glied in dem normalen Untersuchungsgang eines
Patienten geworden, und wir könnten sie heute
nicht mehr missen.
Die Röntgenstrahlen sind aber auch noch in
anderer Beziehung für die Medizin von der größten
Bedeutung, weil sie sich als ein ganz hervorragen-
des Heilmittel für die verschiedensten Krankheiten
erwiesen haben. Daß die Strahlen überhaupt auf
den Organismus wirken, war natürlich von vorn-
herein nicht zu erwarten, zeigte sich aber sehr
bald, da sich bei den mit den Strahlen arbeitenden
Physikern sehr bald an den Hautstellen, die den
Strahlen am meisten ausgesetzt waren, Entzün-
dungen einstellten, die oft zu tiefen, nur langsam
abheilenden Geschwürsbildungen führten. Die
Ärzte wandten sich deshalb mit großem Interesse
dem Studium der biologischen Wirkung der Röntgen-
658
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 46
strahlen zu, indem sie von dem richtigen Ge-
danken ausgingen, daß die in großen Mengen
schädlichen Strahlen in gewissen geringeren
Mengen wahrscheinlich eine heilende Wirkung
haben werden.
Man hat die Strahlen bei den verschiedensten
Krankheiten auf ihre Wirksamkeit probiert und
hat erkennen müssen, daß die Verwendungs-
möglichkeit der Strahlen als Heilmittel eine schier
unbegrenzte ist. In allen Zweigen der Medizin
gibt es Krankheiten, für die die Strahlen das
geeignetste Heilmittel sind. Sogar die Chirurgie
hat einen Teil ihrer Herrschaft an die Strahlen-
heilmethode abtreten müssen. Alle diese Krank-
heiten hier aufzuzählen, die unter der Strahlen-
behandlung zur Heilung kommen, ist unmöglich.
Ich will nur erwähnen, daß wir in den Strahlen
auch ein sehr wirksames Mittel gegen eine der
Behandlung am hartnäckigsten trotzenden Krank-
heit haben, gegen die bösartigen Geschwülste,
den Krebs und das Sarkom.
Während aber in der ersten Zeit nach der
Entdeckung der Röntgenstrahlen die Wirkung der
neuen Strahlen auf den Organismus überhaupt
studiert wurden, hat man diesen Weg, nachdem
er einmal bekannt schien, ganz verlassen und hat
sich nur mehr der Behandlung der Krankheiten
gewidmet und dabei eine Wirkung der Röntgen-
strahlen fast ganz vergessen lassen , die vielleicht
noch in späterer Zeit zu besonderer Wichtigkeit
emporsteigen wird, das ist die Reizwirkung, die
die Strahlen auf das organische Gewebe ausüben.
Wir müssen zwei verschiedene Wirkungen der
Strahlen unterscheiden, die einen, die zu einer
Degeneration der bestrahlten Zellen führt und
eine zweite, die eine rein stimulierende Wirkung
auf die Zelle ausübt, die nicht von Degeneration
der Zelle gefolgt ist und die sich in einem be-
schleunigten Wachstum oder in einer gesteigerten
Zellfunktion äußert. Wie zu erwarten ist, ist
diese verschiedene Wirkung der Strahlen abhängig
von der im Gewebe absorbierten Menge von
Strahlen. Geringe Strahlenmengen setzen einen
Reiz, größere führen zur Degeneration.
Da nun die verschiedenen Zellen des Organis-
mus eine verschiedene Empfindlichkeit für die
Strahlen haben und bei der Behandlung vieler
Krankheiten eine Degeneration bestimmter Zellen
erwünscht ist, so wird heute bei der Röntgen-
behandlung von der zerstörenden Wirkung der
Strahlen viel Gebrauch gemacht. Die stimulie-
rende Wirkung der Strahlen wird heute noch sehr
wenig benutzt, vor allem deshalb, weil man ihre
Reichweite und ihre Anwendungsmöglichkeit fast
noch gar nicht kennt.
Im folgenden will ich nun versuchen, unsere
bisherigen Kenntnisse über diese Reizwirkung der
Röntgenstrahlen kurz zusammenzustellen, werde
mich also dabei nicht bloß auf die Röntgen-
strahlen allein beschränken, sondern die ganz
gleich wirkenden Strahlen der radioaktiven Sub-
stanzen, also des Radiums, Thoriums, Mesothoriums
mit einbeziehen. Denn sowohl die Röntgenstrahlen,
sowie die y- Strahlen des Radiums sind Schwin-
gungen des hypothetischen Weltäthers und unter-
scheiden sich voneinander nur durch die Schwin-
gungszahl und damit durch ihr Vermögen in die
Tiefe zu dringen. Radiumstrahlen sind penetrie-
render als die Röntgenstrahlen, sind aber in ihrer
biologischen Wirkung gleich.
Um in die folgende Darstellung der bis heute
bekannten Einzelheiten ein System zu bringen,
will ich die Reizwirkungen der Strahlen
nach ihren am meisten in die Augen fallenden
Endeffekte einteilen, in die Neigung des Wachs-
tums und in die Erhöhung der Zellfunktion, wo-
mit ich natürlich nicht sagen will, daß sich
im einzelnen Falle ein solcher strenger Unter-
schied finden wird. In ein und demselben. Orga-
nismus werden gewiß durch die Strahlen die ver-
schiedenen Zellen verschieden gereizt und wir
werden Förderung der Wachstumsfähigkeit und
Steigerung der Zellfunktion nebeneinander finden.
Diese Einteilung, die ich hier aus rein technischen
Gründen anwende, um die einzelnen Ergebnisse
nicht ganz willkürlich aneinanderzureihen , soll
nicht eine fixe Behauptung vorwegnehmen und
eine zweifache Wirkung der Reizstrahlen als ab-
solut sicher feststehend bezeichnen; sie ist ledig-
lich nach dem sinnfälligen Eindruck bei der Be-
sprechung der Gesamtwirkung getroffen. Irgend-
eine Erklärung der Strahlenwirkung, auf die ich
zum Schlüsse eingehen will, soll sie nicht bein-
halten.
Als bestes Versuchsobjekt haben sich die
Pflanzen erwiesen, weil ihre Zellen viel unempfind-
licher gegen die Röntgenstrahlen sind als die des
tierischen Organismus. Der tierische Organismus
wird schon durch Strahlenmengen geschädigt, die
den pflanzlichen Organismus noch fast unbeeinflußt
lassen.
Die ■ Versuche, die eine Reihe von Unter-
suchungen ausführten, bewegten sich in der Rich-
tung, daß von einer großen Anzahl von einer
Pflanze gewonnener Samen gleich große Mengen
verschieden stark bestrahlt und dann alle gleich-
zeitig mit unbestrahlten Samen aus derselben
Zucht ausgesät wurden. Es zeigte sich dann
regelmäßig, daß die ganz wenig bestrahlten Samen
so wie die Kontrollen wuchsen, also scheinbar
unbeeinflußt waren, daß die am stärksten be-
strahlten gegenüber den Kontrollen stark im Wachs-
tum zurückblieben und oft Anomalien in der
Form und Farbe der Blätter aufwiesen, daß aber
die mit mittleren Dosen bestrahlten Samen den
Kontrollen im Wachstum voraneilten, kräftiger im
Wuchs waren und sattere Farben der Blätter
aufwiesen.
So zeigte Cattley von der Iris, Narzisse,
Gladiole, Hyazinthe, daß eine Bestrahlung von
S — 30 Minuten Dauer eine Beschleunigung des
Wachstums hervorruft, daß bei 30 Minuten Be-
strahlungsdauer die wachstumfördernde Wirkung
ihr Maximum erreicht hat und daß bei weiterer
r»
N. F. XX. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
659
Erhöhung der Bestrahlungsdauer und Intensität
die Wirkung in das Gegenteil umschlägt und die
Pflanzen in ihrem Wachstum gehemmt werden.
So sind auch die Versuche von Schmidt,
E. Schwarz, Erler, Guillemont, Maldi-
ney und Thouvenin, Wolfenden und
Forbes-Roß. Sie experimentierten mit Bohnen,
Zuckererbsen, Kresse, Hirse, Levkojen.
Alle fanden, daß der trockene Samen weniger
empfindlich ist, als der keimende und daß die
halbwüchsige oder erwachsene Pflanze sich für
Wachstumsreize ganz unempfindlich erweist.
Interessant ist nun, daß Molisch an den
Knospen von Flieder und der Roßkastanie zeigen
konnte, daß auch die erwachsene Pflanze für
Wachstumsreize empfänglich ist, wenn man ihre
Knospen im Stadium der Ruhe bestrahlte. Er
verwendete zu seinen Versuchen Radium und
fand, daß die bestrahlten Knospen viel früher
ausschlugen, als die unbestrahlten, daß man aber
den richtigen Zeitpunkt, nämlich den des Ruhe-
stadiums, zur Bestrahlung wählen müsse. Bestrahlt
man früher, so tritt keine Wachstumsänderung
ein, bestrahlt man später, so erfolgt eine Wachs-
tumshemmung.
Stoklasa konnte zeigen, daß bei Verwendung
von geringen Mengen von Radiumemanation die
Assimilationspotenz des elementaren Stickstoffs
bei den Bakterien, die wie Azotobakter den ele-
mentaren Stickstoff" assimilieren oder die stickstoff-
haltige Substanzen zersetzen, und bei den Deni-
trifikationsbakterien, ungemein, bis über 70%,
steigt. Allerdings sind es gerade die «Strahlen,
die eine so günstige Wirkung ausüben, während
die ß- und y Strahlen des Radiums immer eine
Wachstumsverzögerung zur Folge haben. Die
«-Strahlen sind positiv geladene Heliumatome, die
infolge ihrer verhältnismäßigen Größe von den
Pflanzengewebe stark absorbiert werden, während
wir die ß Strahlen als Kathodenstrahlen, also Elek-
tronen, und die y Strahlen als reine Lichtstrahlen,
Ätherschwingungen, auffassen. Stoklasa konnte
ferner zeigen, daß bei den höheren Pflanzen, unter
Einwirkung geringer Radiumemanationsmengen
(150—160 Mach- Einheiten pro Liter Luft) die
Kohlensäureausscheidung und die Sauerstoffauf-
nahme im Tageslichte bedeutend erhöht ist, daß
aber größere Mengen den Atmungsprozeß ent-
schieden beeinträchtigen.
Stoklasa bestimmte ferner die Trockensub-
stanz an Pflanzen, die unter gleichen Bedingungen
gehalten, von denen aber ein Teil mit radioaktivem
Wasser, ein Teil mit nicht radioaktivem Wasser
begossen wurde und fand Unterschiede von 68 bis
158 "/q im Gewichte zugunsten der mit radio-
aktivem Wasser begossenen Pflanzen. Auch der
Ertrag der Samen ließ sich durch radioaktives
Wasser bis um 1 1 7 "/q erhöhen ; es fand ein
schnellerer Blütenansatz und eine raschere Be-
fruchtung statt.
Alle diese Versuche, die derzeit nur erst ein
rein theoretisches Interesse haben, lassen doch
einen Ausblick in die Zukunft und in die Praxis
offen. Vielleicht ergibt sich doch in absehbarer
Zeit eine Möglichkeit von diesen Kräften, die den
Ertrag unserer Landwirtschaft erhöhen könnten,
ausgiebigen Gebrauch zu machen.
Erwähnen möchte ich hier noch die Experi-
mente Albers-Schönbergs, der Gartenerde
mit Röntgenlicht bestrahlte, dann die Gefäße
mit Samen von Bohnen, Erbsen und Kresse be-
pflanzte und nun beobachten konnte, daß die
Samen in den bestrahlten Töpfen in mehreren
Fällen i — 2 Tage früher an die Oberfläche kamen
als die Kontrollpflanzen, daß im bestrahlten Erd-
reich mehr Keime aufgingen als im unbestrahlten
und daß die in den bestrahlten Töpfen wachsen-
den Pflanzen stärker im Längen- und Dickenwachs-
tum der Wurzel, und in der Zahl und Größe der
Blätter waren.
Ich möchte hier auf eine Erklärung dieser
merkwürdigen Ergebnisse Albers-Schönbergs,
die später von Ruediger allerdings wenig glück-
lich nachgeprüft und als richtig befunden wurden,
verzichten, weil sie, wenn man nicht annimmt,
daß eventuell die Stickstoffbakterien des Bodens
zu rascherem Wachstum und stärkerer Assimi-
lation angeregt würden, doch nur auf dem
schwankenden Boden vager Hypothesen stehen
könnte.
Diesen Versuchen mit Pflanzen lassen sich nur
wenige Versuche an Tieren anschließen.
Lazarus-Barlow und B o n n e y zeigten
an Eiern von Ascaris megalocephala, die sie mit
Röntgenstrahlen, Radium, Uranium und Thorium
behandelten, daß man mit allen diesen Strahlen
eine Beschleunigung der Zellteilung erzielen kann,
wenn man ganz kleine Dosen wählt, daß aber
die Anwendung größerer Strahlenmengen eine
deutliche Verzögerung der Zellteilung, häufig auch
das Entstehen von Mißbildungen zur Folge hat.
Die gleichen Resultate hatte auch E. Schwarz
am gleichen Objekt; auch er fand, daß die nur
ganz gering bestrahlten Eier schon deutliche
Würmchen erkennen ließen, während die unbe-
strahlten noch plumpe unbewegliche Formen ent-
hielten. Allerdings glich sich bei seinen Ver-
suchen dieser Unterschied im weiteren Verlaufe
der Entwicklung wieder aus, indem die be-
strahlten Eier in der Entwicklung zurückblieben
und von den unbestrahlten eingeholt wurden.
Viel deutlichere Ergebnisse hatten Hast in gs,
B e c t o n und W e d d, die mit Seidenraupen experi-
mentierten. Sie untersuchten in einem Zeitraum
von 3 Jahren die Reizwirkung der Röntgen- und
Radiumstrahlen auf alle Entwicklungsformen des
Insektes und kamen zu folgenden Resultaten.
Während das Stadium der Verpuppung bei
59 Kontrollen im Durchschnitt 23,55 Tage, im
Maximum 24, im Minimum 23 Tage dauerte,
dauerte es bei 38 bestrahlten Raupen im Durch-
schnitt nur 19,6 Tage.
In jedem Falle von 13 verschiedenen Serien
von Eiern (im ganzen wurden ca. 40000 Eier be-
66o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 46
obachtet) konnte eine deutliche Beschleunigung
des Auskriechens der bestrahlten Eier festgestellt
werden. Diese Beschleunigung hielt auch bei den
Nachkommen dieser bestrahlten Eier an.
Auch das Durchschnittsgewicht der Kokons
ist bei den bestrahlten Raupen größer als bei den
unbestrahlten.
Man sieht schon aus diesen wenigen Versuchen,
um wie viel feiner die Unterschiede in den Er-
gebnissen bei den Tieren als bei den Pflanzen
sind und wir werden nicht fehlgehen, wenn wir
ihre Ursache in dem verwickeiteren Körperbau
des Tieres suchen, bei dem die einzelnen Organe
verschieden empfindlich sind und bei denen ge-
wiß selbst bei schwacher Bestrahlung schon einzelne
Organe geschädigt , während andere noch voll-
ständig unbeeinflußt sind.
Deutliche, augenfällige Beweise für die Förde-
rung des Wachstums der Tiere durch Reizstrahlen
haben wir, wenn wir von den vorher erwähnten
Ergebnissen bei den Seidenraupen absehen, nicht;
die Resultate, die man an Tieren gewonnen hat,
lassen sich nur als eine Erhöhung des Funktions-
reizes gewisser Organe und Zellgruppen des
tierischen Organismus auffassen. Ob das mit
einer Zellverm.ehrung der betreffenden Organe oder
nur mit einer Beschleunigung des Stoffwechsels
zusammenhängt, läßt sich natürlich nicht so ohne
weiteres entscheiden und erst die spätere Zeit
wird darüber Aufschluß geben können.
Ich erwähne hier gleich die Versuche Hal-
bans an Triton vulgaris; dieser Molch trägt be-
kanntlich nur zur Laichzeit einen Rückenkamm.
Halban hielt die Molche im Frühjahr in Gläsern,
deren Wasser 16000, 32000, 64000 und 128000
Mach-Einheiten von Radiumemanation enthielt
und konnte sehen, daß bei den Tieren, die sich
in den am stärksten emanationshaltigen Wasser
befanden, bereits nach 48 Stunden ein deutlicher,
oft schon ein maximaler Kamm entwickelt war,
während die in den schwächeren Gläsern erst
einige Tage später den Kamm ausbildeten und
die Kontrolltiere ganz langsam in der Kamment-
wicklung vorwärts kamen. Umgekehrt ging die
Rückbildung des Kammes vor sich. Die Kon-
trolltiere verloren ihn zuerst, die Molche in den
stärksten Gläsern zuletzt. Halban fand auch,
daß die der Emanation ausgesetzten Tiere sich
rascher und stärker häuteten als die Kontrollen.
Halban versuchte dann, auch außerhalb der
Laichzeit bei Triton vulgaris einen Kamm zu er-
zielen. Das einzige Tier, das er im August auf-
treiben konnte, bildete im Wasser von 32000
Mach Einheiten innerhalb von 24 Stunden einen
deutlichen 2 mm hohen Kamm, der sich aber so-
fort wieder zurückbildete und nach 48 Stunden
wieder vollkommen verschwunden war.
Ähnlich im Ergebnis sind die Versuche von
Fellner und Neumann an Kaninchen. Die
Untersucher gaben jungen 3 Monate alten Tieren
emanationshaltiges Wasser teils zu trinken, teils
injizierten sie es ihnen intravenös. Die Unter-
suchung der Tiere ergab bei diesen Tieren im
Gegensatz zu den normalen Kontrollen eine früh-
reife der Ovarien und des Uterus.
In beiden Versuchen sehen wir die Genital-
organe zu regerer Funktion angeregt; im ersten
Fall ist es das Auftreten eines sekundären Ge-
schlechtsmerkmals, dessen Entstehen ja auf die
von den Genitalorganen ausgehenden Hormone
zurückgeführt werden muß, im zweiten Falle ist
es die frühzeitige Entwicklung der Genitalorgane
selbst. Daß die Keimdrüsen den Strahlen gegen-
über besonders empfindlich sind, ist seit langem
bekannt und alle die, die in den ersten Jahren
der Röntgenära längere Zeit ohne Schutz mit den
Röntgenstrahlen experimentierten , haben am
eigenen Leibe diese verderbliche Wirkung der
Strahlen erfahren müssen, die sie für längere Zeit
oder gar für dauernd sterilisierten. Heute wird
von dieser Empfindlichkeit der Keimdrüsen viel
Gebrauch gemacht. Während man früher die
Myome, gutartige Geschwülste der Muskularis des
Uterus bei Frauen, operierte, falls sie den Frauen
durch Verlängerung und Verstärkung der Menstru-
ation Beschwerden machten, ist heute für diese
Erkrankung die Bestrahlung das fast allein
herrschende Heilmittel. Man bestrahlt die Ovarien,
da mit deren Verödung die Menstruation und da-
mit die unangenehmen Blutungen des Myoms auf-
hören. Allerdings trifft man mit der Bestrahlung
auch die zwischen den Follikeln im Ovarium be-
findliche Substanz, die sog. Puberlätsdrüse, die
die Erzeugerin der Hormone sein soll, die die
sekundären Geschlechtscharaktere im Organismus
bedingen. Wenn man diese Drüse schädigt,
schädigt man die Hormonerzeugung, der Körper
wird rasch alt, regt man sie zu stärkerem Wachs-
tum an, so wird die Hormonerzeugung vermehrt,
der Körper bekommt wieder einen Teil der
jugendlichen Frische und Kraft. Diese Ideen
Steinachs sind heute fast Gemeingut des Volkes
geworden und die Verjüngung ist ebensoviel be-
staunt als belacht worden. Die Versuche, die
Steinach an Ratten und Meerschweinchen aus-
geführt, lassen sich begreiflicherweise nicht ohne
weiteres auf den Menschen übertragen. Die Exi-
stenz einer Pubertätsdrüse wird heute noch von
vielen Autoritäten angezweifelt und die Möglich-
keit einer Verjüngung des Menschen durch Rönt-
genstrahlen ist zumindestens heute praktisch noch
unmöglich. Die vereinzelten Fälle, die man als
einen Beweis für die Möglichkeit dieses Unter-
nehmens ins Feld führen könnte, sind bis jetzt nur
zufällige Ergebnisse und nicht bewußt erzeugt. Eine
Dosierung der Strahlen, die so beschaffen sein muß,
daß sie den Follikelapparat vernichtet, die inter-
stitielle Drüse aber reizt, ist bei dem geringen
Unterschied in der Empfindlichkeit beider Gewebe
den Strahlen gegenüber, heute und wahrscheinlich
überhaupt unerreichbar, da die individuellen Unter-
schiede viel zu groß und zu kompliziert sind. Und
ob das Aufblühen mancher Frauen nach einer
Myombestrahlung auf eine infolge erfolgter Funk-
N. F. XX. Nr. 46
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
661
tionssteigerung der Pubertätsdrüse eingetretene
Verjüngung zurückgeführt werden muß, und ob
da nicht das Aufhören der konstanten Beschwer-
den, das Sistieren des chronischen Blutverlustes
und die Befreiung von der seelischen Depression
Grund genug für eine derartige Erscheinung sind,
wollen wir hier unerörtert lassen.
Vorläufig ist gerade dieses Gebiet der Reiz-
wirkung der Röntgen- und Radiumstrahlen noch
so unsicher, daß man es mit großer Reserve be-
handeln muß und daß von einer bewußten An-
wendung auf den Menschen heute noch keine
Rede sein kann.
Dafür haben wir andere Wege, auf denen sich
die Reizstrahlen in der Heilkunde hoffentlich ein-
mal noch ein großes Gebiet erobern werden, wenn
auch die Untersuchungen, die bis heute darüber
vorliegen, noch recht spärlich sind.
Nach den Untersuchungen Frank eis heilen
schwere Knochenbrüche nach einer schwachen
Röntgenbestrahlung geradezu rätselhaft schnell,
granulierende Wunden zeigen nach den Berichten
von E. Schwarz schon nach kurzer Zeit Reini-
gung und Überhäutung, während unbestrahlte
Partien (mit Blei abgedeckt) derselben Wunde
eine derartige Heilung vermissen lassen. Die
Brustdrüse der Frauen ist gegen Röntgenstrahlen
ziemlich unempfindlich; ist sie aber entzündet, so
ist sie stark radiosensibel. Und das gleiche ist
der Fall bei den Drüsen frisch entbundener Frauen,
bei denen sich, wie Fränkel zeigen konnte, die
Milchsekretion durch Einwirkung von Röntgen-
reizdosen ganz erheblich steigern ließ. Die Chlo-
rose, die Bleichsucht junger Mädchen, ist nach
wenigen Reizbestrahlungen der Ovarien so zu
bessern, daß der Hämoglobingehalt des Blutes
binnen kurzem auf das Doppelte ansteigt, während
man gewöhnlich diese Krankheit langsam und
mühselig mit Gaben von Eisen usw. bekämpfen
muß.
Strauß bestrahlte Kranke mit akuter Nieren-
entzündung in dem Stadium, in dem es zu einem
fast vollständigen Versiegen der Harrabsonderung
gekommen war, und in dem zur Erhaltung des
Lebens nur der operative Eingriff und die Aus-
schälung einer Niere aus ihrer Kapsel zur Ermög-
lichung einer besseren Durchblutung in Frage
kam, und er konnte zu seiner Genugtuung sehen,
daß wenige Stunden nach der Bestrahlung die
Nieren in ausgiebigem Maße ihre Funktion wieder
aufnehmen. Er bestrahlte die Bauchspeicheldrüse
Zuckerkranker und konnte auch hier in einem
Teil der Fälle eine auffällige Besserung der
Krankheitssymptome konstatieren.
Wenn die Ärzte sich erst einmal bewußt der
Verwendung der Reizdosen zuwenden werden,
werden diese bald ein unentbehrliches Rüstzeug
in der Heilkunde werden.
In den letzten Jahren hat das Wort Reizdosis
in der Röntgentherapie einen etwas unangenehmen
Klang bekommen, als man entdeckt zu haben
glaubte, daß bösartige Tumoren, wenn sie nicht
kräftig genug bestrahlt wurden, stark zerstört, zu
rascherem \X^achstum angeregt wurden, allent-
halben ist die ernste Warnung zu lesen und zu
hören, bei der Bestrahlung dieser Geschwülste ja
nicht zu wenig zu bestrahlen, da man sonst die
Geschwülste zum Wachsen reize. In der Heil-
kunde ist man nur zu sehr geneigt, das post hoc
mit dem propter hoc zu verwechseln und hat da-
her das Wachsen der Geschwülste, das durch die
Bestrahlung nicht aufgehalten wurde, weil es eben
genug Geschwülste gibt, die sich durch die Strahlen
nicht beeinflussen lassen , als eine Folge einer
ungenügenden Bestrahlung aufgefaßt. Es ist bis
heute noch nicht bewiesen, daß ein Krebs durch
eine zu schwache Bestrahlung zu energischem
Wachstum gereizt wird. Es bricht sich im Gegen-
teil immer mehr die Anschauung Bahn, daß der
Krebs direkt durch die Röntgen- und Radium-
strahlen nicht vernichtet werden kann, daß er
vielmehr nur so zu heilen ist, daß das Binde-
gewebe des Körpers zu stärkerem Wachstum an-
geregt wird und den Krebs zerstört. Von diesem
Standpunkte aus verliert die Reizdosis ihren
Schrecken und kommt sogar hoch zu Ehren, weil
man durch sie dem Bindegewebe jenen Ansporn
geben kann , sich zu vermehren und den Kampf
gegen den Krebs aufzunehmen.
Wir wollen uns hier nicht weiter in dieses
uferlose Gebiet der Krebsheilung einlassen. Un-
sere Aufgabe war, Umschau zu halten, inwieweit
den Röntgen- und Radiumstrahlen die Fähigkeit
innewohnt, auf das organische Gewebe fördernd
einzuwirken, und die haben wir erfüllt.
Es erübrigte sich nur noch die Frage zu be-
antworten, wie die Strahlen überhaupt auf die
Zelle zu wirken und in ihr die genannten Reak-
tionen auslösen, also die Frage nach dem Mecha-
nismus der Wirkung. Diese Frage, auch nur bei-
läufig, zu beantworten, ist heute noch unmöglich.
Wir wissen, daß die Strahlenwirkung vor allem
am Zellkern angreift, wie sie aber angreift, ist
uns noch absolut dunkel. Wir sind heute noch
nicht einmal imstande, alle bei der Analyse der
Strahlenrcaktionen der lebenden Zelle gefundenen
Tatsachen, die sich vielfach zu widersprechen
scheinen, auf eine gemeinsame Formel zu bringen,
noch viel weniger eine Erklärung oder was einer
solchen ähnlich sähe, abzugeben. Wir müssen
uns vorläufig mit der Tatsache der Wirkung be-
scheiden und weiter arbeiten. Es wird auch hier
die Zeit der Dämmerung kommen.
663
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 46
Bücherbesprechungen.
Müller -Freienfels, R., Philosophie der Indi-
vidualität. XI und 272 Seiten. Leipzig
1921, Felix Meiner Verlag.
Der durch eine Reihe ausgezeichneter Schriften
allgemein bekannte Psycholog R. Müller-Freien-
fels vertritt in seinem neuesten Werke die An-
sicht, daß rationale Wissenschaft nur beschränkte
Erkenntnis liefert, da sie von einem beträchtlichen
Reste, der der logischen Verarbeitung widerstrebt,
absehen muß; daß sie vielmehr durch ein Denk-
mittel zu ergänzen ist, mit dem man auch der
irrationalen Wirklichkeit beizukommen vermag.
Im Probleme des Ich, sofern hierbei weniger an
das Generelle oder Typische der Individuen als
gerade an die Unterschiedenheit des Einzelnen
von allem anderen in der Welt gedacht wird, tritt
das Irrationale am ausgesprochensten zutage. Und
gerade in ihm hofft Müller-Freien fels das
Problem der Welt zu erfassen.
Die Individualität ist ein unendlich mannig-
faltiger, sich wandelnder und spaltender Strom
von Geschehnissen, der sich jedem begrifflichen
Abgrenzungsversuche entzieht, der in seinem Ver-
laufe keine Identität erkennen läßt, der einer be-
grifflichen Zusammenordnung mit anderem wider-
strebt. Bei all dem ist das Ich weder ein Chaos
noch ein Phantom. Trotz seiner Irrationalität ist
das Werden des Ich vom Drang nach Rationali-
sierung wie von einem Grundtriebe beherrscht,
und diesem Triebe verdankt die Menschheit einen
gewaltigen Teil der wirtschaftlichen und geistigen
Kultur. Aber so sehr der Mensch auf rationalem
Wege strenge Wertungen versucht, so sehr er
sich um eine allgemeingültige Wertskala bemüht,
großenteils ruhen die herrschenden Werte doch
auf irrationaler Grundlage, entsprechend der Irra-
tionalität des wertenden Subjektes.
Eine solche Erkenntnis bestimmt nun unseren
Philosophen, hinter den verschiedenen Formen der
Individualität eine besondere, und zwar irrationale
Wesenheit anzunehmen, die weder Substanz noch
Kraft noch Form ist und als eine Erfahrung be-
gründende Kategorie zu denken ist. So gelangt
denn der Verf. zu einer neovitalistischen Lehre,
die nicht nur dem Problem des Lebens, sondern
auch dem des mechanistischen Weltgeschehens,
sowie schließlich den Forderungen des praktischen
Lebens genügen soll.
Wenn wir auch die erkenntnistheoretischen
Folgerungen des Verf. entschieden ablehnen, so
müssen wir dessen ungemein anregendes Werk
doch angelegentlich allen Gebildeten, nament-
lich den naturphilosophisch interessierten, emp-
fehlen. Die drei ersten Teile des Buches, die
von der Irrationalität der Individualität, der Ratio-
nalisierung der Individualität und dem Individuum
und den Werten handeln, werden, da sie durchweg
beschreibend sind und eine Fülle wertvoller Ge-
danken in ungemein klarer Form bringen, allge-
meinen Beifalls sicher sein; der vierte Teil aber
wird wenigstens von denjenigen, die einer in den
letzten Jahrzehnten sich immer weiter ausbreiten-
den Weltauffassung huldigen, wie sie z. B. von
Bergson vertreten wird, begrüßt werden!
Angersbach.
Klein, Ludwig, Unsere Sumpf- und Wasser-
pflanzen, loi Druckseiten in kl. 8" und 96
farbige Tafeln. Verlag von C. Winter in
Heidelberg.
Der Verf. hat in diesem Bändchen, welches
der „Sammlung der Naturwissenschaftlichen
Taschenbücher" angehört, eine Auswahl von
unseren einheimischen Sumpf- und Wasserpflanzen
getroffen. Einer jeden abgebildeten Art ist un-
gefähr je I Seite Text beigegeben. Die künstle-
rische Darstellung der Farbendrucktafeln ist eine
vorzügliche; desgleichen ist auch der Text voll-
kommen ausreichend, damit auch jeder Nicht-
botaniker sich leicht und rasch orientieren kann.
Auf die unendliche Fülle von Standortsformen
unter verschiedenartigen Standortsbedingungen ist
der Verf. freilich nur da und dort mit kurzen
Notizen eingegangen; doch ist das bei einer sol-
chen Darstellung auch kaum möglich; zahlreiche
dieser Formen bleiben stets steril und sind dann
ohne spezielle Formenkenntnis nicht so ohne
weiteres bestimmbar; außerdem aber wird jeder,
der ein etwas geschultes Auge hat, solche sterile
Standortsformen schon selbst erkennen, wenn er
die Umgebung und die ganzen Begleitpflanzen
solcher Formen näher prüft. Und so darf ich
wohl den Wunsch aussprechen, es möge das
Büchlein von L. Klein dazu beitragen, den An-
fänger in der Pflanzenkunde vertraut zu machen
mit dem Reiz und mit der Schönheit, welche die
Natur dem Leben der Gewässer verliehen hat.
H. Glück, Heidelberg.
von Bubnoff, Serge, Die Grundlagen der
Deckentheorie in den Alpen. Stuttgart
1921, Schweizerbartsche Verlagsbuchhandlung.
Es fehlte bisher an einer Darstellung, die es
unternahm, die für Entstehung und Aufbau
der Alpen vor allem aufgestellte und in den
verschiedensten Formulierungen vorgebrachte
„Deckentheorie" in übersichtlicher und dem, ihren
großzügigen Gedankengängen Fernerstehenden
verständlicher Fassung zu erläutern. Es ist anzu-
erkennen, daß von Bubnoff mit seiner Dar-
stellung der keineswegs unschwierige Versuch
einer objektiven Würdigung der umfassenden,
noch heute im vollen Fluß der Entwicklung und
Erörterung stehenden Probleme wohl gelungen
ist. Denn was bisher über den alpinen Decken-
bau geschrieben wurde, befaßte sich meist nur
mit einzelnen Seiten dieses komplizierten und
weit ausgreifenden Lehrgebäudes, und ließ oft das
Bestreben vermissen, auch die Anschauungen der
N. F. XX. Nr. 4Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
663
Gegner zu würdigen und in das Verständnis seiner
Ansichten einzudringen.
Vor allem ist es zu begrüßen, daß auch die
in den Ostalpen geleistete geologische Aufnahme-
arbeit gewürdigt wird, die vielen Geologen fast
unbekannt zu sein scheint oder nur soweit be-
kannt ist, als sie von phantasievollen Theoretikern
zur Stütze ihrer Hypothesen herangezogen wurde.
Daß in dem Kapitel „das Wurzelproblem und
die alpindinarische Grenze" die wichtigste neuere
Arbeit über diesen Gegenstand, diejenige von
Koßmat, weder genannt noch in ihren sehr
beachtenswerten Schlußfolgerungen erörtert wird,
scheint verwunderlich.
Ebenso wichtig wie die über den Bau der
Alpen selbst handelnden Abschnitte sind als Ein-
führung in neuzeitliche Ansichten über Gebirgs-
bau die Kapitel „Geophysikalische Kritik" und
„Synthetische Betrachtungen". In den letzteren
werden die Synthesen von Argand, Rollier
und He ritsch und deren verschiedene Stellung-
nahme zur Deckenlehre besprochen.
Die Arbeit enthält viele beherzigenswerte
kritische Gedanken zur Deckentheorie. Selbst-
verständlich sieht auch von Bubnoff die Kon-
traktion der Erde als Erklärung der Gebirgsbil-
dung für unzulänglich an, ganz im Gegensatze zu
A. Heim, der sie noch vor kurzem als die allein
mögliche Ursache gebirgsbildender Prozesse be-
zeichnete.
Vielleicht wäre ein kurzer historischer Über-
blick über das Werden der Deckentheorie nicht
nur von Interesse, sondern auch zu ihrem Ver-
ständnis recht wünschenswert gewesen.
Krenkel.
Schnippenkötter, Dr. Josef, Der entropolo-
gische Gottesbeweis. Die physikalische
Entwicklung des Entropieprinzipes, seine philo-
sophische und apologetische Bedeutung. 109 S.
Bonn 1920. — Preis 15 M.
Der entropologische Gottesbeweis geht von
dem von C 1 a u s i u s und Thomson aufgestellten
Entropiesatz aus, der in der Fassung von Clau-
sius lautet: „Die Energie der Welt ist konstant,
die Entropie der Welt strebt einem Maximum
zu" (zweiter Hauptsatz der mechanischen Wärme-
theorie). Man glaubte aus ihm einen zeitlichen
Anfang der Welt folgern zu können. Denn es
wäre ein Widerspruch, wenn der Prozeß, der „zu
einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Er-
gebnis führt, von Ewigkeit her in Bewegung zu
diesem Ziele begriffen sein sollte" (v. H e r 1 1 i n g).
Aus dem zeitlichen Anfang der Welt schloß man
dann weiter auf eine Weltschöpfung und einen
Weltschöpfer.
Ein naturwissenschaftliches Interesse hat nur
der erste Teil des Beweises. Der zweite Teil des-
selben mündet in den kosmologischen Gottes-
beweis, der ganz dem Gebiete der Philosophie
angehört. Er schließt von dem Bedingten auf
das Unbedingte. Die Naturwissenschaft hat mit
ihm nichts zu schaffen.
Die Schrift von Schnippenkötter ist nach
dem Vorwort nur ein Auszug aus einem größeren,
noch ungedruckten Werke des Verf, welches das
Problem abschließend nach der physikalischen
und philosophischen Seite behandeln sollte; doch
ist auch dieser Auszug von Interesse, da man an
der Hand desselben den ganzen Verlauf der seit
etwa drei Jahrzehnten mit großem Eifer über das
betreffende Problem geführten Diskussion ver-
folgen kann. Das ausführliche 320 Nummern
umfassende Verzeichnis der auf die Frage bezüg-
lichen Literatur ermöglichte dabei eine genauere
Orientierung auch über die Punkte, die in der
Seh nipperkötter sehen Schrift nur kurz und
andeutungsweise berührt werden konnten.
Die erste Frage war, ob der Entropiesatz in
der Welt des Physikers eine allgemeine Geltung
besitzt. In der Fachliteratur fehlt noch eine Mono-
graphie des Gegenstandes. Schnippenkötter
gibt zum erstenmal eine allerdings nur summari-
sche Darstellung der verschiedenen Auffassungen
des Entropiesatzes. Das Resultat derselben ist,
daß er nach dem Stand der Wissenschaft als zu
Recht bestehend anerkannt werden muß, aber,
wie besonders Boltzmann geltend gemacht
hat, nur als ein „Durchschnittsgesetz". Die Mehr-
zahl der Vorgänge bewegt sich in der Richtung
der Entropie, dabei kommen aber auch beständig
Vorgänge in entgegengesetzter Richtung vor. Zu
letzteren gehören sicher die sog. Brownschen
Bewegungen, aber vielleicht auch die biologischen
und manche anderen Prozesse.
Wenn die Schlüsse, die bei dem entropologi-
schen Gottesbeweise aus dem Entropiesatz ge-
zogen werden, zwingend sein sollen, muß vorher
weiter entschieden sein, ob erstens der Satz nicht
nur für die Welt des Physikers, sondern für das
ganze Universum Geltung hat und ob aus ihm
zweitens mit Notwendigkeit das Ende des Welt-
geschehens folgt.
Die Antwort auf beide Fragen ist ein non
liquet. Alle Voraussetzungen, welche wir machen
müssen, um aus dem Entropiegesetz eine Stütze
für den kosmologischen Gottesbeweis zu kon-
struieren, sind unsicher. Es ist dies das End-
ergebnis der ganzen Diskussion. Die hervor-
ragendsten Vertreter des entropologischen Gottes-
beweises haben ihn daher gegenüber den Ein-
wänden von Isenkrahe, Aloys Müller,
Bavink u. a. ausdrücklich aufgegeben. So der
Physiker Dressel S. J., Sawicki u. a.
Es waren fast nur katholische Theologen,
Philosophen, Mathematiker und Naturforscher, die
für den entropologischen Gottesbeweis eintraten.
In der protestantischen theologischen Literatur
fand die ganze Diskussion keinen Widerhall, wird
der Name des entropologischen Gottesbeweises
kaum genannt. Es hängt dies damit zusammen,
daß die evangelische Theologie unter dem Ein-
flüsse der Kant sehen Philosophie den sog.
664-
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX; Nr. 46
ljrotte?De~yei,seo UDZ~'i.?-'>Jp': ^insn gröSe^e": theo-
retischen Wert nicht beimißt und außerdem bei
der Disiiussion des entropoiogischen Beweises im
besonderen sich mit Recht glaubte zurückhalten
zu müssen, solange nicht die naturwissenschaft-
lichen Vorfragen eine fachmäßige Erledigung ge-
funden hatten. Kranichfeld.
Groth, Paul, Elementederphysikalischen
und chemischen Kristallographie. Mit
4 Tafeln, 962 Textfiguren und 25 Stereoskop-
bildern. 363 Seiten. IVIünchen und Berlin 1921,
R. Oldenbourg. Geb. 90 M.
Nachdem erst vor kurzer Zeit der Verf. sein
sehr wertvolles fünfbändiges Handbuch der
„chemischen Kristallographie" abge-
schlossen hat, ist er mit unermüdlicher Arbeits-
freude an die Ausarbeitung des vorliegenden Lehr-
buches der gesamten Kristallkunde herangetreten.
Es soll den Studierenden der Mineralogie und
Physik, vor allen aber auch denen der Chemie,
für die die Kristallographie eine immer unent-
behrlichere Hilfswissenschaft geworden ist, einen
Überblick bieten über alles das, was der Verf.
an Lehrstoff bereits in den vier Auflagen seiner
bekannten „Physikalischen Kristallogra-
phie" und in der „Einleitung in die che-
mische Kristallographie" niedergelegt hatte.
Die Einteilung des Buches ist dementsprechend
die folgende: a) Physikalische Kristallographie.
Allgemeiner Teil, b) Physikalische Kristallographie.
Spezieller Teil, c) Chemische Kristallographie,
dj Anhang. Anleitung zur Kristallbestimmung. —
Fast unverändert und nur entsprechend ge-
kürzt verarbeitet ist der Inhalt des ersten Teiles
aus der „physikalischen Kristallographie" des Verfs.
übernommen worden. Ein Abschnitt über die
„Experimentelle Bestimmung der Kristallstruktur"
schließt unmittelbar an die früheren theoretischen
Anschauungen des Verfs. an, die ja bekannilich
durch die Röntgenstrahlenanalyse der Kristalle
völlig bestätigt worden sind. Der Erläuterung
und Veranschaulichung dieses Abschnittes dienen
auch 22 der beigegebenen Stereoskopbilder. —
Ein Hauptziel des Verfs. war es, eine Ergänzung
der Lehrbücher der Chemie zu bieten, in denen
die wesentlichen kristallographischen Eigenschaften,
die doch zur Identifizierung so wichtig sind, meist
zu kurz behandelt werden. Im zweiten speziellen
Teile des Buches sind daher die entsprechenden
Daten von beinahe 700 verschiedenen anorganisch
und organisch chemischen Stoffen niedergelegt
worden.
Es ist schade, daß dabei die optischen Daten,
die zur Identifizierung unter dem Mikroskop so
n.ctvv'enc'i.g; ";-.a, T/eniger a'iS trüber berücksich'Qg;:
vV'order; s'nd. Mit aufgenommen worden sind da-
gegen die Daten der Kristallstrukturforschung,
falls solche für die betreffenden Substanzen vor-
gelegen haben. — Die letzten Teile des Buches i
sind wieder im wesentlichen aus früheren Werken
des Verfs. übernommen ; dabei ist im dritten Teil
alles, was sich aus dem Handbuch der chemischen
Kristallographie an Beispielen für Morphotropie,
Isomorphie und Polymorphie ergeben hat, in über-
sichtlicher Weise zusammengestellt worden.
Ein reiches Tatsachenmaterial, zum großen
Teil unter den Augen des Verfs. verarbeitet, wird
somit in diesem Lehrbuche dem Studierenden in
die Hand gegeben. Das Buch wird daher allen,
die sich mit den gesetzmäßigen Beziehungen von
chemischem und physikalischem Aufbau einer
Substanz und ihren sonstigen kristallographischen
Eigenschaften zu beschäftigen haben, ein will-
kommenes Nachschlagewerk sein.
Spangenberg.
Hamel, G., Mechanik I: Grundbegriffe
der Mechanik. Aus Natur und Geisteswelt
Nr. 684. 132 S. mit 38 Fig. im Text. Leipzig
und Beriin 1921, B. G. Teubner. — Kart. 2,80 M.
und 100 ''/o Teuerungszuschlag.
Es ist dies das erste einer auf 3 Bändchen
veranschlagten Darstellung der theoretischen Me-
chanik in elementarer Form. Es wendet sich
besonders an solche Leser, die sich aus allge-
meinem Interesse oder zur Einführung in ihren
späteren Beruf mit Mechanik beschäftigen wollen.
Verf. popularisiert aber nicht etwa auf Kosten
der Wissenschafilichkeit, sondern er bietet einen
so vorzüglichen, sachlich gründlichen Überblick
über die Mechanik, daß die Bändchen jedenfalls
auch den Studierenden an Universitäten und
Technischen Hochschulen sehr zu empfehlen sind.
An die Betrachtung der historischen Entwicklung
des Energieprinzios in der Mechanik und seiner
Bedeutung beim Gravitationsproblem wird die
Newtonsche Kraftdefinition und die auf ihr
ruhende allgemeine Mechanik angeschlossen. Von
den Massenkräften geht Verf. dann zu einigen
Beispielen von Flächenkräften, der Reibung, dem
Luftwiderstand und dem Stoß, über. Von be-
sonderem Interesse ist der letzte Abschnitt, der
sich mit den Möglichkeiten befaßt, die Mechanik
in quasigeometrischer Form darzustellen, und hier-
bei in klarer Weise das Eindringen der Einstein-
schen Relativitätstheorie in die prinzipiellen Fragen
der Mechanik beleuchtet. Den abschließenden
Bändchen sehen wir mit freudiger Erwartung
entgegen. A. Becker.
Inhalt: Alois Czepa, Die Reizwirlcung der Röntgen- und Radiumsirahlen. S. 657. — Bücberbesprecbungen : R.
Müll er- Freienfels, Philosophie der Individualität. S. 662. L. Klein, Unsere Sumpf- und Wasserpflanzen. S. 662.
Serge v, Bubnoff, Die Grundlagen der Deckentheorie in den Alpen. S. 662. J. Schnippenkö t t?r, Der entro-
pologische Goitesbeweis. S. 663. P. Groth, Elemente der physilcalischen und chemischen Kristaljiw^raphie. S. 664.
G. Hamel, Mechanik I: Grundbegriffe der Mechanik. S. 664.
Manuikripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e b e , Berlin N 4, loTalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Dnick der G. Pätz'schen Bachdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
M
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 20. November 1921.
Nummer 4:'7*
[Nachdruck verboten.]
Elektromikroskopie.
Von Rudolf Keller.
Mit 3 Abbildungen.
Verfahren zum mikroskopischen Nachweis von
Elektrizität sind seit langem im Gebrauch. Schon
im vorigen Jahrhundert hat der Physiker K u n d t
ein Bestäubungsverfahren ausgearbeitet, um durch
eine Mischung von Mennige ( — ) und Schwefel-
blumen (+) die Ladungen auf erwärmten oder
abgekühlten Kristallen, die Pyroelektrizität, nach-
zuweisen. Für die nichtisolierenden tierischen und
pflanzlichen Gewebe ist es schwieriger, elektrische
Pole aufzufinden, der amerikanische Physiologe
McClendon und der englische Physiologe
Hardy haben Versuche gemacht, durch Be-
trachtung mikroskopischer Gewebe im elektrosta-
tischen Feld einen Überblick über ihre Positivität
oder Negativität zu gewinnen, haben diese Ar-
beiten jedoch nicht fortgesetzt, wahrscheinlich
deshalb, weil man auf diese Weise nur ganz grobe
Partikelchen und auch diese nur dann sich be-
wegen sieht, wenn zufällige Kontinuitätsunter-
unterbrechungen eine Ortsverschiebung einzelner
Zellteile ermöglichen. McClendon') hat je-
doch schon erkannt, daß die Indikatorfarbe säure-
empfindlicher oder basenempfindlicher Farbstoffe
die Elektropolarität anzeigt. Die ersten Unter-
sucher, die tatsächlich mikroskopische Elektrizitäts-
pole auffanden, waren Deutsche. Der Bakterio-
loge Reichert,-) der 1910 negativ geladene
Bakterien beschrieb, und der Histologe Schule-
mann,*) der 191 7 die ersten Anoden feststellte.
Schulemann hat im Verlaufe ausgedehnter In-
jektionsversuche in den Jahren 191 2 bis 191 7
etwa 500 verschiedene Farbstoffe Versuchstieren
injiziert, um den vermeintlichen Zusammenhang
zwischen chemisch • konstitutiven Besonderheiten
der Farbstoffe und den tierischen Zellgranula
herauszuarbeiten. Die Tatsachen führten ihn je-
doch nach einigem Schwanken zu dem entgegen-
gesetzten Resultat seiner Ausgangsideen. Er
mußte erkennen, daß der Chemismus der Farb-
stoffe keinen erkennbaren Einfluß auf die Bindung
an die Zellgranula hat, sondern daß die chemisch
heterogensten Substanzen von den Granula ange-
zogen wurden, nicht bloß die chemisch hetero-
gensten F"arbstoffe, sondern auch Bakterien, Stärke,
Kohlesuspension , Metallkolloide , aber immer
nur Stoffe, die zur Anode wandern. So
wurde Schulemann, der keineswegs sich dieses
•) McClendon, Int. Zeitschr. f. physik.-chem. Biol., 1,
159, 1914. Hardy (zu Anfang des Jahrhunderts; veraltet).
*) Reichert.Centralbl. f. Bakteriol., Abt. 51, H. I, 1911.
^) Schulemann, Arch. f. mikr. Anat., 79, 1912; Biocb.
Zeitschr., 80, 191 7.
Ziel gesteckt hatte, der erste Entdecker der posi-
tiven Pole der Tiere.
Wenn man planmäßig die Elektrizitätspole
lebender Gewebe aufsucht, so liegt zunächst der
Gedanke nahe, die Kathoden der Zellen dazu aus-
zunützen, beispielsweise aus Edelmetallsalzen die
Metalle gleichsam galvanoplastisch abzubilden.
Derartige Verauche geben jedoch recht unreine
Bilder, weil die Reduktionsstoffe und Schutzkol-
loide der Zellen mit solchen Lösungen kolloide
Metallsuspensionen erzeugen, die wie bekannt,
sich nicht an den Kathoden abscheiden, sondern
einen Wanderungssinn zur Anode erhalten. Man
erhält schärfere und richtigere Kathoden mit
Eisensalzen, Kobaltsalzen u. dgl., die durch
Schwefelammonium oder Ferrocyankaliumsalzsäure
gut sichtbar gemacht werden müssen. Wenn man
darauf Bedacht nimmt, durch Eröffnung aller Zellen
mittels Schnitten gleichmäßige Permeabilitätsbe-
dingungen für alle Lösungen zu schaffen, so ge-
winnt man mit diesen Verfahren zuverlässige
Kathoden, die mit den Reduktionsbildern der
Histologen (erzeugt durch Osmiumsäure u. dgl.)
identisch zu sein pflegen. Eine schwere Unstim-
migkeit ergab sich lange Zeit daraus, daß die
„basischen" Farbstoffe, von denen man doch eben-
falls die Ausfärbung der Kathoden erwarten mußte,
zumeist entgegengesetzte Bilder lieferten. Wie
sich jedoch ergab, waren die betreffenden An-
gaben in den physikalisch-chemischen Handbüchern
ungenau und ebenso verhielt es sich mit der
kapillaranalytischen Regel der Teerfarbstoffe. In-
dem sonach die für biologische Objekte ausge-
arbeitete Mikroanalyse, die ungemein bequem ist
und verschwindend kleine Materialmengen ver-
braucht, diese eingewurzelten kolloidchemischen
und physikalisch-chemischen Irrtümer aufdeckte,')
und unabhängig davon bald Bestätigung fand, in-
dem ferner nahezu gleichzeitig Traube^) bewies,
daß auch ungefärbte kolloide Basen wie Anilin,
Toluidin, Xylidin ebenso zur Anode wandern wie
die gefärbten „basischen" Kolloide, hat die elektro-
histologische Methodik ihre Zuverlässigkeit und
Verwendbarkeit auf einem leicht nachprüfbaren
Gebiete gezeigt. Wer sich mit der mikroskopischen
Elektroanalyse befaßt, die sich in zahlreiche von-
einander unabhängige Methoden unterteilt, in
Salzelektrolyse, in Kataphorese kolloider Emul-
sionen, in Oxydations-, in Reduktionsmethoden,
') Keller , Zeitschr. f. physik. Chemie, 98. Bd., 338, 1921.
') Traube, Bloch. Zeitschr., 120, 117, 1921.
666
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
in die Säurefarbung oder Basenfärbung der Indi-
katoren, in makroskopische Nachprüfungen, in ver-
schiedenen anderen physiologischen Sicherungen,
beispielsweise in der Beachtung der Wanderungs-
richtung der elektrisch geladenen Enzyme in
Drüsen, der gewinnt bald die volle Sicherheit,
daß die Methodik auf festem Boden steht. Frei-
lich ist sie, namentlich bei zarten, kleinen proto-
plasmatischen Objekten, gerade bei den lebens-
wichtigsten, mit großen UnvoUkommenheiten be-
haftet, da man auf diese kaum eine einzige der
geschilderten Kontrollen anwenden kann. Ferner
antworten diese Zellteile, wie längst aus der
Elektrophysiologie bekannt, auf chemische Be-
handlungen mit elektrischen Ladungsänderungen.
Sie sind reizempfindlich. Der Pflanzenphysiologe
F. Weber (Graz) ') hat bei Besprechung dieses
Gegenstandes darauf hingewiesen, daß die Vitalität
der behandelten Schnitte ein zweifelhafter Faktor
ist. Diese Kritik trifft den schwächsten Punkt
der Elektrohistologie. Tatsächlich ist ein Zell-
kern, der sich anfängt zu färben, entweder als tot
zu betrachten, oder zumindest doch so schwer
geschädigt oder verändert, daß seine Elektrizitäts-
ladungen nicht mehr als intakt oder normal an-
zusehen sind.
Indessen kann man doch mit Hilfe verschieden-
artiger Annäherungsmethoden auch einige Anhalts-
punkte gewinnen über die Elektrizitätsladungen
der Kerne und ihrer Teile. Das wichtigste und
allgemeinste Resultat derartiger Studien ist die
allgemeine Erkenntnis, daß die elektrostatische
Energie praktisch gesondert von der elektro-
galvanischen Energie untersucht werden muß
und daß das Coulombsche Gesetz der
elektrostatischen Anziehung und Abstoßung nach
dem umgekehrten Quadrat der Entfer-
nung einen Hau ptfaktor der Protoplasma-
bewegungen bildet. Man hat lange geglaubt,
daß das Coulombsche Gesetz in nahen Ent-
fernungen nicht streng gültig ist. Die genaue Er-
forschung des Atominnern ist aber erst dadurch
möglich geworden, daß Bohr die Gültigkeit dieses
Gesetzes bis in das Innere des Atoms bewies und
zeigte, daß die Kräfte in jenen Dimensionen in
erster Reihe elektrostatischer Natur sind. In den
Dimensionen des Mikroskops geschieht nichts,
was gegen das Coulomb sehe Gesetz wäre.
Niemals sieht man freibewegliche Organismen
mit gleichnamigen Körperteilen aneinanderstoßen;
wann immer Infusorien oder Bakterien sich an-
einanderlegen, geschieht es mit Gegenpolen ihrer
Körperchen. Keine Kraft ist stark genug, um
der Abstoßung genau gleich negativ geladener
Körper in jenen Dimensionen entgegenzuarbeiten.
Wenn wir beispielsweise beobachten , daß eine
Eizelle ein Spermatozoon anzieht, so können wir
im Vorhinein noch ohne jede Elektroanalyse mit
Sicherheit voraussagen, daß die sich
berührenden Zellteile differente elek-
trische Ladungen besitzen müssen.
Untersucht man die Befruchtung der tierischen
Eizelle durch das Samenkörperchen elektroanaly-
tisch, so erwartet man zunächst, daß das eine
positiv, das andere negativ elektrisch ist, wenig-
stens im Augenblick der Befruchtung, da sie nach
dem Coulomb sehen Gesetz sonst heftig von-
einander abgestoßen werden müßten. Das ist je-
doch durchaus nicht der Fall. Jede dieser Zellen
— und dies ist eine Fundamentaleigenschaft
aller lebenden Zellen — unterteilt sich in eine
Vielheit von einander isolierter differenter Elek-
trizitätsladungen. Von den Spermatozoen ist
längst aus der histologischen Literatur bekannt,
daß der Vorderteil des Kopfes sich mit Vitalfarb-
stoffen (die fast ausschließlich Anodenfarbstoffe
nach Art der Schulemann sehen darstellen)
nicht färbt, Hinterkopf und Schwanz jedoch ziem-
lich stark. Das Eizellenplasma färbt sich mit
Neutralrot stark himbeerrot, ist also entschieden
anodisch, da bei Neutralrot die Himbeerfarbe die
Säurefarbe ist, die Orangefarbe die Basenfarbe.
Sonach stellt sich die Verteilung der Ladungen
im Augenblick der Befruchtung schematisch etwa
nach Abb. i dar, wobei aber in Betracht zu
ziehen ist, daß beide Zellarten zahlreichere feinere
Elektrizitätspole haben, die viel differenzierter sind
als die Sichtbarkeitsgrenze unserer Mikroskope.
+ -l■■^^■■^■^■l.^.■l■J.4■4■
') Naturw. Wochenschr., 20. Bd., Nr. 17, 1921
Abb. 1.
Der erste Blick auf vital gefärbte Spermien
enttäuscht die Erwartungen vom elektroanalyti-
schen Gesichtspunkt. Bei schwacher Vergröße-
rung erblickt man ein Gewimmel direkt anodisch
— also ebenso wie die Eizelle — , gefärbter
Samenfäden. Erst bei schärferer Vergrößerung
wird die kathodische (also ungefärbte) vordere
Kopfhälfte sichtbar, bei Meerschweinchenspermien
eine ganz schmale Zuschärfung des Kopfes (von
Waldeyer als Perforatorium bezeichnet, an-
knüpfend an die Vorstellung, daß diese Schneide
die EihüUe mechanisch perforiert). Bei näherer
Überlegung wird es klar, daß nur diese Ladungs-
verteilung, mit anodischen Oberflächen am Hinter-
teil und am Schwanz, dem Gesetz von Cou-
lomb entspricht, das in diesen Dimensionen so
N. F. XX. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
667
stark wirkt. Sonst müßte sich der Samenfaden
mit seiner ganzen Länge an die bei der ersten
Berührung sich mit einer Membran überziehenden
Eioberfläche anlegen und könnte schwerlich ein-
dringen. Erst die Abstoßung des Schwanzteils
durch das gleichnamige elektrostatische Feld
der Eioberfläche schafft jene rechtwinklige Ein-
stellung des Spermiums zur Oberfläche, die den
Beobachtern des Vorgangs vertraut ist und die
sein Eindringen in das Ei erleichtert und dessen
Oberfläcbenplasmaladung entlädt, worauf die
Plasmakolloide wie alle entladenen Kolloide aus-
flocken, die IMembran bilden und keine Spermato-
zoen mehr anziehen, ebenfalls im Einklang mit
Coulombs Gesetz.^) Im Innern des Hinterkopfs
befinden sich negative Elemente, die in Gefrier-
schnitten sichtbar gemacht werden können. In
lebenden unverletzten Zellen lassen sich kaum
kathodische Zellteile demonstrieren, da die anodi-
sche Oberflächenladung fast aller lebenden Zellen
das Eindringen kationisch wandernder Korpuskeln
behindert. Soweit liegen die Dinge ziemlich ein-
fach. Nach dem Eindringen in die Eizelle und
nach Vereinigung mit dem Keimfleck (Kern) des
Eies, welcher letzterer unleugbar auch kathodische
Elemente enthält, wird jedoch der Vorgang auch
elektrostatisch undurchsichtig und unerklärlich.
Hier müssen noch andere unbekannte Faktoren
stark mitwirken.
Auch bei der Pflanze -) ist nur der erste Akt
des Befruchtungsvorgangs, die Berührung des
negativen Pollens mit der weiblichen (stark posi-
tiven) Narbe leicht elektroanalytisch nachzuweisen.
Der männliche Blütenstaub trägt eine stark nega-
tive Gesamtladung nach außen, die mit Galvano-
meter und statischem Elektrometer auch makro-
skopisch nachgewiesen werden kann, besteht je-
doch aus zahlreichen elektrisch differenten Be-
standteilen, einer positiven Oberhaut (Exine), einer
negativen Innenhaut (Intine) und den elektrisch
sehr fein differenzierten Kernen. Die schemati-
sche Gesamtladung sei an zwei Übersichtsbildern
der weißen Lilie demonstriert. Diese Pollen-
körner haften nicht, wie in der Literatur gelegent-
lich angegeben wird, durch Klebstoff an der
Narbe, sondern die als Ganzes negativen Pollen-
körner werden elektrostatisch an der stark elektro-
positiven Papille festgehalten. Die Papillen färben
sich unbefruchtet in allen Medien auffällig stark
positiv (anodisch). Nur die Zellkerne erscheinen
hell ausgespart auf der himbeerfarbenen Grund-
masse der Abb. 2 (Neutralrotfärbung). Die Him-
beernuance ist, wie erwähnt, die Säurefarbe des
Neutralrots, das alkalisch gelbrot ist, so wie die
') Bei der Untersuchung von Hodenkanälchen sieht man
— anfangs mit Befremden — die Spermien verkehrt in
ihren Bildungszellen liegen und ausnahmslos mit dem Hinterteil
voraus in das Lumen der Kanälchen abwandern. Nach dem
Vorgesagten wird es klar, daß anders als mit dem positiven
Schwanz voraus die Spermien nicht von den negativen Tes-
tikelzellen loskommen könnten.
^) Keller, Eleklrohistologische Untersuchungen. Prag-
Smichov, Verlag Roland. 1921.
Farbe der in den Keimschläuchen in die weib-
liche Blüte eindringenden Kerne, von denen sich
einer während der Wanderung zu teilen pflegt.
Die hellen Kerne im Papillengewebe der Abb. 2
sind schematisch, sie heben sich an dieser Pflanze
nicht so scharf ab. Scharf helle Zellkerne mit
Neutralrot erhält man an einer verwandten weib-
lichen Blüte, der Narzisse, oder an Iris florentina
(Schwertlilie).
Abb. 2.
Der Lilienpollen enthält zwei Zellkerne. Wenn
er ganz ausgekeimt ist, seine Zellkerne also tief
in die Narbe eingedrungen sind, so bleibt nur die
leere Exine zurück, die sich dann auffällig positiv
färbt, während ungekeimter Pollen deutlich nega-
tiv ist.
Abb. 3 (Eisenschwefelammonium) zeigt ein
kathodisches Gegenbild. Die keulenförmigen Pa-
pillen sind ganz ungefärbt bis auf die dunklen
(überwiegend negativen) Zellkerne, die Keim-
schläuche sind grau mit schwarzen Zellkernen, die
in ihnen wandern. Auf den beiden Schwarz-
Weißbildern tritt nicht hervor, daß die oberste
Zellschicht des Narbengewebes unterhalb der Pa-
pillen entschieden negativ ist. Der Kontrast des
überwiegend negativen männlichen Spermakerns
und der überwiegend positiven Eizelle läßt sich
668
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
bis zum Embryosack der LiHen verfolgen. Am
schärfsten tritt der elektropolare Gegensatz von
Pollenapparat und Eiapparat bei 5 mm großen
Blüten der Cyclame hervor, und zwar mit Dela-
fields Hämatoxylin als Kathonreagens und einem
beliebigen der vielen scharfen Anodenreagentien.
In Übereinstimmung mit dem elektrohistolo-
gischen Kontrast steht die Tatsache, daß vor
einigen Jahren der Schwede Fähreus in Hoe-
bers Laboratorium in Kiel die Blutkörperchen
des IVIannes stärker geladen fand als die der
Frauen, eine Beobachtung, die seither von mehreren
anderen Forschern u. a. Litzenmaier bestätigt
worden ist. Da alle Blutkörperchen negativ ge-
laden sind, so hat also auch Fähreus') eine
relativ stärkere Elektron egati vi tat beim iVIanne
aufgefunden. So wie es in Gestalt, Farbe, Ge-
wicht, Hautdecke sekundäre Geschlechtsmerk-
male gibt, so deckt die elektroanalytische Unter-
suchung auch elektrostatisch sekundäre Geschlechts-
eigenschaften auf, auch an der Eizelle der Nar-
zissen und Lilien, die eine auffällig positive Epi-
dermis erkennen lassen.
Mittels der Elektromikroskopie lassen sich auch
Fragen angehen, die die makroskopische Elektro-
physiologie mit ihren gröberen Apparaten nicht
untersuchen kann, beispielsweise die Fragen der elek-
trischen Isolierung der Organteile. In Übereinstim-
mung mit der kürzlich hier erwähnten bahnbrechen-
den Untersuchung von B e u t n e r ergibt sich aus
den Färbungen, daß die Cuticula der Apfelhaut, jene
oberste dünne Schicht, eine Isolatorschicht ist,
ebenso die unverletzte Oberfläche des tierischen
Nerven, die bei Beutner ^) gleich reagieren wie
ein saures Ol. Daß diese dünnen Schichten
anodisch (d. h. sauer) reagieren, ist elektroanaiy-
tisch unabhängig von der Entdeckung Beutners
zutage getreten und beschrieben worden, bestätigt
also die Ergebnisse dieses ausgezeichneten For-
schers mit ganz anderer Methodik. Um dieselbe
Zeit, in der Beutner in New- York arbeitete,
hat F. Waiden*) in Riga den Zusammenhang
zwischen Dissoziationskonstante (elektrolytischer
Leitfähigkeit) und Dielektrizitätskonstante genau
erforscht. Substanzen mit der Dielektrizitätskon-
stante von nur 15 wie Beut ners Ölphasen lassen
die stärksten Elektrolyten nicht dissoziieren, wirken
also praktisch als Isolatoren. Während Waiden
aus bekannten Dielektrizitätskonstanten auf Dis-
soziation (elektr. Leitfähigkeit) schloß, hat Beutner
umgekehrt die Nichtdissoziation der starken Elek-
trolyte an der Apfelcuticula und Nervenoberfläche
bestimmt, woraus nunmehr nach Waiden auf
die niedrige Dielektrizitätskonstante dieser Ober-
flächenschichte geschlossen werden kann, also auf
ihre Isolatoreigenschaft trotz ihres Gehaltes an
sonst gutleitenden Salzen, die eben im nichtdis-
soziierten Zustande schlechte Leiter sind. So
wird aus scheinbar nebensächlichen Resultaten der
verschiedensten Untersucher hie und da ein Zu-
sammenhang gewonnen, der ein Licht auf Er-
scheinungen wirft, die gar nicht den Gegenstand
der betreffenden Untersuchung gebildet haben.
Beutner hat zu dem vielen anderen, daß er
entdeckt hat, die ersten Behelfe geliefert, zu
mikroskopischen Untersuchungen der Dielektrizi-
tätskonstante von organischen Membranen.
Das Hauptresultat der bisherigen Elektrohisto-
logie, die Erkenntnis, daß Frotoplasmabewegungen
nicht chemisch-konstitutiv zu deuten sind, sondern
daß die elektrostatische Oberflächen-
ladung der Korpuskeln die entscheidenden
Wirkungen hervorbringt, ist in den letzten Jahren
ganz unabhängig davon auf einem ganz anderen
Gebiete der Physiologie hervorgetreten, in der
Wirkung gewisser Salzlösungen auf die Automatic
des aus dem Organismus herausgenommenen frei-
schlagenden Herzens. In einer Reihe glänzender
Untersuchungen hat der holländische Physiologe
Zwaardemaker') zusammen mit seiner Schule
festgestellt, daß die Arbeit des Herzens von den
chemisch heterogensten Ionen entscheidend be-
einflußt wird, daß aber immer/? Strahler, das heißt,
negative Elektronen aussendende Stoffe nur durch
/5 Strahler ersetzt werden können , und ebenso
ß-Strahler nur wieder durch «Strahler (Aussender
positiv geladener Heliumatome). Mischungen von
a- und /S Strahlern in gewissen quantitativen Ver-
hältnissen kompensieren sich gegenseitig und
bringen das Herz sofort zum Stillstand. In der
Pflanzenphysiologie hat gleichzeitig der tschechische
Forscher Stoklasa") gezeigt, daß das Kalium
(/?- Strahler) durch andere /^-Strahler ersetzt wer-
den kann und daß radioaktive Strahlen für die
Pflanzen unentbehrlich sind. Ebenso zeigen die
Resultate schwedischer und holländischer Autoren
bei der Nervendurchschneidung und Nervenregene-
ration (Ingvar") und Arien- Kappe rs^)), daß
der elektrostatische Faktor bei mikroskopischen
Untersuchungen nicht länger vernachlässigt wer-
den darf, wenn man nicht auf das Studium der
in den mikroskopischen Distanzen stärksten
Energieart verzichten will. Bis man erst einmal
erfaßt haben wird, wie vergleichsweise einfach und
dabei zuverlässig und aufechlußreich die Unter-
suchung der mikroskopischen Elektrizitätserschei-
nungen ist und wieviel fertiges Material in der
älteren Literatur der Vitalfärbung der bloßen
Übertragung in die elektrohistologische Analyse
harrt, wird die elektrische Zellphysik einen ähn-
lichen Aufschwung nehmen, wie ihn- die Atom-
physik durch die verfeinerte ultraatomare Elektro-
statik genommen hat.
') Fähreus, Biochem. Zeitschr. 89, 1918, s. a. Litzen-
maier, Pflügers Arch. 1921.
") Beutner, Die Entstehung elektrischer Ströme. Stutt-
gart, Enke, 1920.
') Waiden, Zeitschr. f. physik. Chemie, 94, 263, 1920.
') Zwaardemaker, Ergebn. d. Physiol., 21, 321, Wies-
baden 1921.
'^) Stoklasa, Influence de la radioactivite Compte Ren-
dus Tome, 155, 1912 und zahlreiche spätere Arbeiten in
tschechischen Publikationen und in der „Biochem. Zeitschr.".
^) Ingvar, Reaction of Cells to the Galv. Currenl. Proc.
See. Exp. Biol., 17, 198, 191920.
*) Ariens-Kappers, On Structural Laws in Nervous
System. Brain (London), Bd. 44, 125, 1921.
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Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
669
Was ist die Zeit?
Von A. Radovanovitcb.
Wenn wir auch keinen besonderen Raumsinn
haben, so erfahren wir doch die Rauminhahe, die
Körper und ihre Bewegungen durch die sich er-
gänzenden Empfindungen unserer Sinne. Von
der Zeit erfahren wir nichts. Unsere Sinne
melden uns auch indirekt nichts von ihr, und
wenn wir meinen, eine Zeitempfindung zu erleben,
so ertappen wir uns immer bei einer Raum- bzw.
Bewegungsempfindung.
Dennoch glauben wir, die Zeit messen zu
können. Die Zeitsekunde, die kleinste konven-
tionelle Zeiteinheit, ist der 86400ste Teil eines
mittleren Sonnentages. Diesem entspricht ein
scheinbarer Gang der mittleren Sonne um die
Erde, oder eine Umdrehung der Erde um ihre
Achse, und somit entspricht der Zeitsekunde ein
Weg von rund 464 m am Äquator, oder eine
Achsendrehung der Erde um 15 Bogensekunden.
Wir messen also nicht die Zeit mit einem
Raummaßstab — dann wäre sie eben der Raum
— sondern wir nehmen an, daß der konven-
tionellen Zeiteinheit eine Wegeinheit
eines gleichförmig bewegten Bezugskörpers ent-
spricht. Mit anderen Worten : Analog der Ein-
teilung des Raumes (Äquator), teilen wir die Zeit
(Tag) ein. Und da außer dem Raum nur noch
die Zahl teilbar ist, so kann die Zeit nur als
Zahl aufgefaßt werden. — Unsere Uhren — wir
haben im kleinen den halben Äquator in der
Tasche — messen nicht die Zeit, sie zeigen nur
die verkürzten Wege des Bezugskörpers, und bei
Zeitangaben haben wir nur vom Stand und Weg
der Uhrzeiger, bzw. der Sonne eine Vorstellung,
nicht aber von einer Zeit.
Eine Bewegung ist durch die Geschwindigkeit
und die Richtung gekennzeichnet. Die Ge-
schwindigkeit V ist der Weg, den ein Körper zu-
rücklegt, wenn eine Zeiteinheit verflossen ist.
Dieser entspricht aber eine Wegeinheit des Be-
zugskörpers. Somit können wir die Zeiteinheit
eliminieren: Dem Weg vm entspricht ein Weg
von 464 m am Äquator, und die Geschwindigkeit
ist der Weg, den ein Körper zurücklegt, wenn
der Bezugskörper eine Wegeinheit (464 m am
Äquator) durchlaufen hat. Zur Bestimmung der
Geschwindigkeit benötigen wir demnach nur zwei
konkrete Wegmaße, v m und 464 m, aber
keine abstrakte Zeit.
In den Grundgleichungen der Bewegung ist
die Zeit t=— , Weg durch Geschwindigkeit und
W -r»
t=T-, Endgeschwindigkeit durch Beschleunigung
(w und k sind wie v durch 464 m am Äquator be-
stimmt). In beiden Gleichungen ist die Zeit
eine Verhältniszahl.*) Sie zeigt das Ver-
-; t und I sind Zahlen, s, v, w und k Wege.
hältnis an zwischen zurückgelegtem Weg s und
dem Weg v in der Zeiteinheit (s. o.), bzw. zwischen
der erreichten Endgeschwindigkeit w und der Ge-
schwindigkeitszunahme k in der Zeiteinheit. Oder:
Die Zeit gibt die Zahl t der vom Bezugskörper
zurückgelegten Wegeinheiten an , wenn ein mit
der Geschwindigkeit v bewegter Körper den Weg s
gemacht hat (s^vt), bzw. wenn ein Körper bei
einer Beschleunigung k die Endgeschwindigkeit w
erreicht hat (w = kt).
Die unseren Zufallsinnen zugängliche Welt ist
im großen wie im kleinen ein unaufhörliches,
verschieden schnelles Durcheinanderwogen be-
eigenschafteter Rauminhalte. Daraus nehmen wir
eine Bewegung, die Drehung der Erde um ihre
Achse, als Maßstab an, und die Zahl, die das
Verhältnis dieser Bewegung zu allen
anderen anzeigt, nennen wir die Zeit. Diese
ist es, die wir bei der Beschreibung unseres Welt-
bildes, beim Messen und Vergleichen der Be-
wegungen und Wirkungen (Kräfte) der Raumin-
halte zugrunde legen. — Als Zahl ist sie in der
Natur nicht zu finden, sie ist menschliches Denk-
produkt und nach Mauthner erst durch die
Sprache entstanden.*)
Mit der Deutung der Zeit als Zahl wird ihre
formale Behandlung in der Sprache und Mathe-
matik nicht geändert. Wir können die eingelebten
Sprachformen, die sich auf den überlieferten Zeit-
begrifif beziehen, nicht aufgeben, nur müssen wir
ihrer Bedeutung stets bewußt bleiben.") Wir
reden von der Dauer eines Geschehens, von not-
wendiger Zeit, aber Dauer und Zeit drücken
nur auf Umwegen die Drehung der Erde aus.
Wir konstatieren, daß ein Kraftwagen einen Kilo-
meter in vierzig Sekunden zurücklegt und glauben
dabei eine Ortsveränderung und einen Zeit-
ablauf gemessen zu haben. In der Tat haben
wir nur zwei Ortsveränderungen miteinander ver-
glichen, die des Wagens und die der Spitze des
Sekundenzeigers (indirekt die eines Äquator-
punktes). Von einer besonderen „Zeit" haben wir
dabei nichts erfahren 1 Ebensowenig, wenn wir
uns einbilden ruhend die „Zeit" an uns vorbei-
streichen zu lassen.
Wir wissen ja gar nicht, in welcher
„Zeit" sich die Erde einmal um ihre
Achse dreht. Wir antworten rasch, in 24
Stunden, besinnen uns aber nicht, daß wir dabei
einen angenommenen Maßstab mit ihm selbst ge-
messen haben: Die Erde dreht sich einmal um
ihre Achse, wenn sich die Erde einmal um ihre
') Fritz Mauthner, Kritik der Sprache. 3 Bände.
1906—13, Cotta.
-) Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Rhythmus von
Tag und Nacht auch zur Erfindung der Zahl und dann der
Zeit beigetragen hat , und es ist fraglich, ob sich unsere
Sprache ebenso entwickelt hätte, wenn unsere Urahnen, statt
auf einem gegen die Sonne rotierenden, auf einem gegen sie
stets gleichgerichteten Planeten zu Menschen geworden wären.
670
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
Achse gedreht hat (Münchhausens Zopfl). Mehr
wissen wir nicht.
Jahr und Monat spielen auf der als Zififerblatt
gedachten Schraubenbahn der Erde die Rolle der
Stunden und Minuten, und die eilende Erde ist
der Zeiger. Die Erdbahn ist eine Kilometer-
Zahlenreihe, mit der eine Jahres-Zahlen-
reihe mit gleichem Nullpunkt (Christi Geburt)
übereinstimmt. Zeitangaben sind also Ortsbe-
stimmungen der Erde auf ihrer Bahn. Kolum-
bus wurde im Jahre 1446 geboren bedeutet:
Als die Erde auf einem bestimmten Punkte ihrer
Bahn war, wurde Kolumbus geboren. Eine
Sonnenfinsternis wird auf einem anderen berech-
neten Punkte der Erdbahn stattfinden.
Die mittlere Geschwindigkeit der Erde bei
ihrem schiefen Schraubenflug mit der Sonne im
Weltraum beträgt ungefähr 30 km. Bei einer
Umdrehung um ihre Achse, an einem Tag, legt
sie einen mittleren Weg von 86400X30=2 592000
km zurück (in einem Jahr fast eine Milliarde).
Schon die Gegenüberstellung von einem Tag
und 2 592 000 km zeigt, daß ein Ereignis für uns
geläufiger und übersichtlicher durch Jahr und
Tag, als durch Kilometer bestimmt werden kann.
Aber wir dürfen nie vergessen, Jahr und Tag
sind nur umschriebene Erdenwege.
Unser Empfinden der Körpereigenschaften,
des sog. Nebeneinander im Raum, ist unsere
Gegenwart, die dimensionslose, mit uns auf
der Erdbahn wandernde Grenze zwischen unserer
Erinnerung, der Vergangenheit und unserer
Erwartung, der Zukunft. Es ist auch unsere
sog. Gleichzeitigkeit. Optisch objektiv zeigt
die photographische Augenblicksaufnahme vom
Standort des Apparates das der Kamera zugäng-
liche Nebeneinander und die Gleich-
zeitigkeit für einen bestimmten Punkt der
Erdbahn. Jede Platte ist wie jeder Empfindende
einzig, jedes hat sein eigenes Nebeneinander und
seine eigene Gleichzeitigkeit, denn in einem Punkte
ist nur ein Beobachter, eine Platte möglich.-')
Unsere Erinneru ng an Reihen empfundener
Nebeneinander ist das sog. Nacheinander, das
wir in der „Zeit" unterzubringen vermeinen, wäh-
rend wir es tatsächlich, wenn auch unbewußt, auf
den vom Bezugskörper zurückgelegten Weg pro-
jizieren.
Verlassen wir unsere sinnlich wahrnehmbare
Welt der bewegten Rauminhalte, in der die Zeit
als Zahl ein reeller Faktor ist, fragen wir
nach der sog. metaphysischen Zeit, die das
Erleben begleiten und dabei fließen, vergehen,
eilen usw. soll, ohne daß wir wissen, was sie ist,
wo und wohin sie fließt usw., dann geraten wir
unversehens auf den weiten Tummelplatz der ver-
') Nach der Relativitätstheorie haben gegeneinander be-
wegte Systeme verschiedene Zeiten, d. h. verschiedene Ver-
hältniszahlen und verschiedene Nebeneinander, wobei jedoch
die Frage offen bleibt, ob Beobachter und photographische
Platten im ruhenden und bewegten System dieselben Eigen-
schaften beibehalten.
antwortungslosen Sprache. Die metaphysische
Zeit steckt nur in Gedanken, sie ist ein Spuk, der
im Zwielicht der Sprache jedem so erscheint, wie
er ihn zu sehen wünscht. Alle ihre Definitionen
sind mehr oder weniger verständliche und ver-
fängliche Versetzspiele mit Worten. Die Mühle
nur mit Worten beschickt, kann nur Worte wieder-
klappern. Und mehr als Worte haben wir nicht
für die „Zeit".
Alle Bilder, die eine Zeitvorstellung oder -emp-
findung erwecken sollen, sind letzten Endes Raum-
oder Bewegungsbilder. — Aus der Unvorstellbar-
keit eines Nichts hinter den Grenzen der vorstell-
baren Rauminhalte, schließen wir auf die Unend-
lichkeit des Raumes. Analog reden wir auch
von einer unendlichen Zeit, der Ewigkeit, trotz-
dem wir uns nicht einmal eine begrenzte Zeit
vorstellen können. Wir lassen uns nur zu leicht
durch überlieferte Redensarten irre-
führen und Zeitvorstellungen, oder gar Zeit-
empfindungen suggerieren. — Befreien wir uns
vom Wortaberglauben, zwingen wir nicht das
Wort Zeit mehr zu sein als eine Zahl, dann ver-
schwindet der Spuk und wir haben vor uns nur
Bewegungen der Rauminhalte und als
Maßstab der Bewegungen die Drehung
der Erde um ihre Achse, die wir durch
Zahlen miteinander verknüpfen.
Die Bewegung des Bezugskörpers wurde als
gleichförmig bezeichnet. Gibt es überhaupt eine
gleichförmige Bewegung? Die Drehung der Erde
urh ihre Achse erscheint nur uns innerhalb der
Genauigkeitsgrenzen unserer Messungen kon-
stant. Nach unserer heutigen Weltvorstellung
kam die Erde aus einem Nebel und wird in einem
Nebel verschwinden. Die Veränderungen ihres
Zustandes und ihrer Bewegungen — vom Chaos
zur Schraubenbahn und wieder zum Chaos —
auf dem ungeheueren Wege zwischen den Nebeln
verlaufen für uns so langsam, daß zu ihrem Nachweis
unsere Beobachtungen auf dem uns verfügbaren,
verschwindend kleinen Erdenwege nicht ausreichen.
— Undwiesteht es mit den Bewegungs-
maßstäben vor, in und nach den Nebeln?
Wer stellt sie auf? Wer gebraucht sie?
Die Wegeinheit unseres Bezugskörpers ist also
nicht konstant. Die Zeit als Verhältniszahl, ge-
bunden an das Dasein des Menschen, wird davon
nicht berührt. — Aber die metaphysische, ewige
Zeit? — Aus dampfgesättigter Luft ballt sich ein
Tropfen, fliegt vom Winde getrieben einige hun-
dert Meter und verdunstet dann in einer wärme-
ren Luftschicht. Auf ihm entstehen und ver-
gehen Wesen, die unterwegs von Zeit und Ewig-
keit reden.
Die unseren Sinnen zugängliche Welt ist ein
unaufhörlicher Wechsel im Nebeneinander der
Rauminhalte, unaufhörliche Bewegung, die wir
mit einer angenommenen Grundbewegung ver-
gleichen. Die Zeit ist dabei die Maß- oder
Verhältniszahl. Sie ist erst nach der Zahl
durch die Sprache entstanden.
N. F. XX. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
671
Einzelberichte.
Die Kiistallstruktur des Calciums.
Wegen ihrer besonderen Anschauungen hin-
sichtlich der Stellung der Valenzelektronen sei
hier über Untersuchungen berichtet, die A. W. H u 1 1
in The physical Review, Bd. XVII (1921), S. 42
bis 44 veröffentlicht. — Calcium ist allgemein für
hexagonal gehalten worden, vielleicht schon wegen
der Analogie mit Magnesium und Zink. M o i s s a n
beobachtete (Comptes rendus 127, S. 585 (1898)),
daß es hexagonale Plättchen oder Rhomboeder
bildete und hexagonale Wachstumsformen zeigte.
Dagegen ermittelt die folgende Röntgenanalyse
ein kubisches, flächenzentriertes Raumgitter.
Die Aufnahmen wurden in der bereits früher
beschriebenen Weise (vgl. Naturw. Wochenschr.
1921, Nr. 40) analog der Deby e-Scherrer-
Methode hergestellt. Reines elektrolytischesCalcium
wurde in einer Kugelmühle zu sehr feinem Pulver
vermählen und danach in einem Glasröhrchen
von ca. 3 mm Durchmesser monochromatischem
Röntgenlicht einer Molybdänröhre ausgesetzt. Die
Reflexionsbanden auf dem Film waren nahezu
5 mm breit und einige ziemlich schwach. Trotz-
dem stimmen die unabhängigen Messungen rechts
und links vom zentralen Strahl auf Va % überein,
und die aus ihrem Mittelwert berechneten Netz-
ebenenabstände ergeben mit den theoretisch zu
errechnenden nur Abweichungen von Va "/o- ^^^
Ausnahme von zwei Fällen, wo die Abweichung
I % beträgt.
Da sich Ca in Luft schnell oxydiert, schien
es nicht unmöglich, daß das sehr feine verwendete
Pulver überhaupt gänzlich oxydiert war, und daß
die gefundenen Werte daher dem CaO ange-
hörten. Deshalb wurde eine zweite Aufnahnie
vorgenommen, wobei das Ca aus groben Feil-
spänen einer gegossenen Stange von elektro-
lytischem Metall bestand, die während der Auf-
nahme dauernd in Umdrehung erhalten wurden.
Dieser Versuch ergab jedoch nur Linien, die mit
denen der ersten Art der Aufnahme überein-
stimmten.
Zur endgültigen Entscheidung wurde ein
Röhrchen in der unteren Hälfte mit Ca- Pulver,
in der oberen Hälfte mit trockenem CaO gefüllt.
Eine Zwischenwand von dünnem Messing ver-
hinderte ein Übergreifen der abgebeugten Strahlen
von der einen zur anderen Hälfte. Das auf diese
Weise erhaltene Photogramm ist in der Arbeit
wiedergegeben. Es zeigt, daß die Gitter von Ca
und CaO zwar ähnlich sind, aber sehr verschiedene
Ausmaße besitzen. Die stärkste CaO-Linie ist
auch auf dem Ca-Photogramm, aber nur sehr
schwach, sichtbar, entsprechend etwa 2 7o beige-
mengtem CaO.
Als Kantenlänge des Elementarwürfels für Ca
wurde gefunden 5,56 Ä. Bei einer Dichte = 1,56
beträgt die Zahl der Atome im Elementarwürfel
vier, d. h. es liegt ein flächenzentriertes Würfel-
gitter zugrunde. Aus dem unmittelbaren Ver-
gleich der Photogramme von CaO und Ca ergibt
sich, daß die Ca-Atome im CaO ebenfalls ein
fiächenzentriertes Würfelgitter bilden; die Dimen-
sionen dieses Würfels sind aber kleiner. Daraus
folgt: Die Sauerstoffatome beanspruchen nicht
nur keinen weiteren Raum, sondern zwingen so-
gar die Ca-Atome im CaO um m"/« näher zu-
einander als im Ca-Metall, ohne dabei die An-
ordnung der Atome zu verändern.
Da das Ca im CaO ein Ca++Ion ist, mit
wahrscheinlich derselben Anzahl und Anordnung
der Elektronen wie im Argon-Atom, vermutet
Hu 11, daß die Ca-Atome im metallischen Ca
ebenfalls Ca Ionen sind. Nach seiner Ansic ht
stehen die beiden Valenzelektronen als
freie Elektronen an der gleichen Stelle,
w o i m CaFa- Gitter (Flußspat)dieF-Ionen
stehen. Dies sei nahe gelegt durch die Tat-
sache, daß die Entfernung zwischen CaAtomen
im CaFg (wo sie sich ebenfalls im flächenzen-
trierten Würfelgitter finden) nur um 2 "/o von der
des metallischen Ca abweicht. [Im CaF., ist die
Seite des Elementarwürfels 5,43 Ä.] Die F-Ionen
treten also wie die O Ionen im CaO in das Raum-
gitter des metallischen Ca ein, ohne seine Dimen-
sionen zu vergrößern. Ihre Volumina erscheinen
also jedenfalls kleiner als die Hohlräume, die im
Ca-Gitter durch die Anordnung von Ca-Atomen
gelassen werden. Spbg.
Zur Anatomie der Tardigraden
oder Bärtierchen bringt H. Baumann einige Bei-
träge nach Untersuchungen an Macrobiotus hufe-
landii.') Es war nicht seine Absicht, auf die
systematisch-phylogenetische Stellung der Tardi-
graden einzugehen, doch mußte diese Frage mehr-
mals gestreift werden. — Die Stellung der Tardi-
graden ist für Eingeweihte immer noch ebenso
umstritten wie je. Die gebräuchlichsten Lehr-
bücher führen diese Tiergruppe seit Otto Fried-
rich Müller 1785 immer noch bei den Arachnoi-
deen in der Nähe der Milben wegen der Acht-
zahl der Beine — ein sehr wenig stichhaltiger
Grund, da die Spinnenkerfe vom Skorpion ab zwar
in der Regel gleichfalls vier Paar Schreitbeine
haben, aber nicht vier Paar Extremitäten, sondern
sechs mit Einrechnung der Mundgliedmaßen, die
den Tardigraden fehlen. Ehrenberg und Max
Schultze stellten die Bärtierchen zu den Krebsen,
was eine heute völlig aufgegebene Ansicht ist,
Spätere zu den Rädertierchen oder in deren Nähe
— so Handlirsch — oder zu den Würmern
oder zwischen Würmer und Arthropoden —
F. Richters. Rauther nimmt sie 1909 gar
für rückgebildete Dipterenlarven. L. Plate sieht
1889 in ihnen die nächsten Verwandten von
>) Zeilschr. f. wiss. Zool., Bd. 118, 1921, H. 4.
672
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4;
,Peripatus, der noch sehr wurmähnlichen, bis zu
gewissem Grade annelidenähnlichen ungefähren
Ausgangsform der zum Tausendfuß und Insekt
führenden Formenreihe — was Peripatus doch
vermutlich ist, obwohl auch dies neuerdings be-
stritten wird.
Nematodenartig ist zwar nach Baumann die
terminale Lage des Mundes von Macrobiotus
hufelandii und, mit v. Erlanger und Richters,
der Schlundkopf, doch könne letztere Überein-
stimmung auf gleichartiger saugender Nahrungs-
aufnahme beruhen, und die terminale Mundlage
werde nicht die ursprüngliche sein, da bei einer
zweiten Art, Macrobiotus oberhäuseri, der Mund
ventral liegt und das Vorhandensein eines Ober-
schlundganglions mit Mundring bei beiden in
Analogie mit den Anneliden und Arthropoden
auf einen ursprünglich dorsal hervorragenden
Kopflappen schließen lasse. Viel auffallender
erinnere an die Nematoden die ventrale Lage des
Afters in einiger Entfernung vom Hinterende,
nämlich vor dem letzten Beinpaar; bei Anneliden
und Arthropoden, denen die Bärtierchen zwar durch
ihr Nervensystem — segmentale Bauchganglien-
kette I — näher stehen, liegt er terminal oder
doch — Arthropoden, insbesondere auch Milben
— nie vor dem letzten Beinpaar. Wie bei
Macrobiotus liegt der After zwar auch bei den
Rotatorien, hier aber hängt dies „wohl mit der
ursprünglich festsitzenden Lebensweise zusam-
men".!)
Neben der Extremitätenzahl sind die Krallen
an den Extremitäten meist Anlaß, die Tardigraden
zu den Arthropoden zu rechnen. Ihr Bau,
vor allem ihr Bewegungsapparat ist aber nach
Bau mann ein ganz anderer: die Chitinhülle des
Beins umhüllt die Krallen von oben her schwimm-
hautartig zum größten Teil, nämlich bis zu deren
Umbiegung nach unten; ein Muskel zieht die
Kralle mittels einer in der „Schwimmhaut" ge-
legenen Sehne nach oben ein wie die Kralle einer
Katzenpfote. Die Arthropodenkralle dagegen ist
frei und durch einen ventral angreifenden Muskel
aktiv einschlagbar, so bei Insekten, während bei
Spinnen außerdem ein dorsaler Streckmuskel vor-
handen ist, der aber, anders als bei den Tardi-
graden, gleich dem ventralen ganz hinten an der
Kralle ansetzt. — Somit ergab sich auch für die
Arthropodennatur der Tardigraden keine neue
Stütze.
Mehr in biologischer Hinsicht verdienen
besonders folgende Feststellungen Beachtung: Das
letzte Beinpaar ist nicht seitwärts bewegbar,
sondern dient zum Nachschieben des Körpers wie
die Afterfüße einer Raupe. Unter alternierenden
Bewegungen der übrigen Beine laufen die winzigen
Tiere ziemlich schnell, nämlich i mm in etwa
^/j Minute. — Macrobiotus hufelandii und ober-
häuseri haben eine hauptsächlich querstreifige,
bei letzterer Art bräunliche, bei jener durch farb-
lose Körnchen in der Hypodermis gebildete, etwas
variable Zeichnung. Bei der Eintrocknung des
Tiers zum latenten Leben kommen diese Bänder
nach außen zu liegen; die von Körnchen oder
Pigment- oder — bei Echiniseus — von Skulp-
turplatten freien Zonen entsprechen den Ein-
schnürungen des Rumpfes und werden nach innen
gezogen. — Die Haut besteht, wie schon be-
kannt, aus einer dünnen, derben, sich leicht
fältelnden „Hülle" nebst dickerer, geschmeidiger,
quellbarer Kutikula und zelliger Hypodermis.
Letztere beiden berühren sich aber bei beweg-
lichen Tieren nur an den Anheftungsstellen der
Muskeln. Erstere beiden unterliegen der Häutung.
— Der dem dorsal liegenden Ovar des weiblichen
Tieres entspringende Ovidukt zieht am Enddarm
rechts vorbei, um in diesen zu münden. An
gleicher Stelle mündet von links symmetrisch zum
Oviduktende ein winters mit Spermien gefülltes
Receptaculum seminis, wohl ein Rest des ehe-
maligen linken Genitalapparats, der im übrigen
wegen der Kleinheit der Tiere und der Größe
ihrer Eier schwand. Ein solches Organ erscheint
notwendig wegen der großen Minderzahl der
Männchen : auf 50 Weibchen kommt schätzungs-
weise nur I Männchen. V. Franz.
Eine neue Methode zur Bestimmung allelo-
troper Gleichgewichte.
Zur Ermittlung der Lage allelotroper Gleich-
gewichte kamen bisher vorwiegend drei Methoden
in Betracht. Zwei physikalische, die von dem
unterschiedlichen Verhalten der Keto- und Enol-
form in optischer Beziehung Gebrauch machten,
die Absorptionsspektralanalyse und die Bestim-
mung des Brechungsexponenten. Beiden an Ein-
fachheit und Genauigkeit überlegen ist die che-
mische Methode K. H. Meyers.*) Sie geht da-
von aus, daß in der Enol form stets eine Doppel-
bindung auftritt. Eine solche lagert bekanntlich
leicht Brom an. Man kann also aus der Menge
verbrauchten Broms, das man zu einer Lösung
des allelotropen Gemenges hinzugibt, den Anteil
an Enol ohne weiteres und den Anteil des Ke-
tons durch einfache Berechnung messen. Mit
dieser Methode sind die meisten bekannten Be-
ziehungen zwischen Temperatur, Lösungsmittel usw.
einerseits und Lage des Gleichgewichts anderer-
seits aufgefunden worden. Dennoch ist ihr Wert
begrenzt. Der bei der Bromierung gebildete Brom-
wasserstofif wirkt umlagernd auf den ketoiden An-
teil, verschiebt also das Gleichgewicht. In anderen
Fällen kommt es auf peinlich genaue Einhaltung
der Versuchsbedingungen an, um einigermaßen
genaue Ergebnisse zu erzielen. Diese Umstände,
verbunden mit dem nicht eben angenehmen Ar-
beiten mit Brom, lassen darum eine neue Be-
stimmungsmethode als einen bemerkenswerten
Fortschritt erscheinen.
') Ist diese sicher? F.
') Annalen d. Chemie, 380, 191 1.
N. F. XX. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
673
Ihr Entdecker, Walter Hieber/) nimmt
nicht die Doppelbindung, sondern die in jedem
Enol vorhandene Hydroxylgruppe zum An-
griffspunkt.
R-CO— CH3— CO-R
Keton
R— C(OH)=CH-CO-R
Enolform
Der Wasserstoff dieser Gruppe ist durch Me-
talle ersetzbar, worauf beispielsweise die Eisen-
chloridreaktion der Enole (und Phenole) beruht.
Die so entstehenden Salze sind nun typische
innere Komplexsalze, d. h. ihr Metall ist
nicht einsinnig an den Hydroxylsauersloff gebunden,
sondern steht durch abgesplitterte Valenzbeträge
mit dem zweiten Sauerstoffatom in Verbindung.
Diese Bindungsverhähnisse machen sich insbe-
sondere optisch in deutlicher Weise bemerkbar,
sodann aber auch darin, daß jene Innerkomplex-
salze abnorme Löslichkeiten aufweisen. So
ist das Kupfersalz aller Enole fast oder völlig
unlöslich in Wasser, leicht löslich dagegen in den
gebräuchlichen organischen Mitteln, wie Äther,
Benzol und Chloroform. Der Weg einer Enol-
bestimmung ist damit gegeben.
Das betreffende Enol oder das allelotrope Ge-
menge wird rasch in Alkohol oder in einem
anderen Lösungsmittel gelöst. Hierauf setzt man
eine alkoholisch-chloroformische Lösung von
Kupferazetat hinzu und schüttelt um. Momentan
setzt sich das System um, und nach Zusatz von
Wasser findet sich infolge der Unlöslichkeit des
Kupferkomplexes darin dieser quantitativ in der
Chloroformschicht. Man kann in dieser den Kom-
plex zerstören und nach Entfernung des Chloro-
forms das Kupfer (am einfachsten maßanalytisch)
bestimmen.
Die auf Grund dieser Methode gewonnenen
Ergebnisse stimmen sehr gut überein mit den
Zahlen, die nach anderen Methoden, insbesondere
nach der Meyer sehen gefunden wurden. Die
Kupfersalzmethode hat des weiteren den Vorteil,
daß sie auch in Fällen anwendbar ist, in denen
erfahrungsgemäß die Bromtitration infolge unüber-
sehbarer Verwicklungen versagt. Ist somit die
Überlegenheit der neuen Methode außer Zweifel,
so bietet sie eine weitere Möglichkeit, die theore-
tisch von hohem Belang ist.
Wie ein Blick auf die allgemeine Formel des
Enols lehrt, ist bei ihnen geometrische Iso-
mer ie möglich. Infolge der Doppelbindung ist
die Möglichkeit vorhanden, daß die Enole in cis-
und trans- Modifikationen auftreten. Diese zuerst
von A. Hantzsch'-) diskutierte Annahme hat
sich experimentell bisher nicht bestätigen lassen,
da optische Verschiedenheiten zwischen den
geometrischen Isomeren nicht vorhanden sind und
die Bromtitration sowohl die eis- wie die trans-
Form in gleicher Weise angreift. Es wird also
immer die gesamte Menge des Enols gefunden.
Das oben beschriebene und der neuen Methode
zugrunde liegende Kupferkompiexsalz aber kann
sich nach unseren heutigen Vorstellungen nur
von der cis-Form des betreffenden Enols ab-
leiten, würde also die folgende allgemeine Formel
haben müssen
R
CH Cu
R
.0=C.
\
CH
\c=o-' "^O— C^
R R
Sollte sich herausstellen, daß durch das Kupfer-
azetat nicht augenblicklich eine Umlagerung der
trans- in die cis-Form stattfindet, so hätte man
ein Mittel gefunden, den wahren Gehalt des
Systems an cis-Form kennen zu lernen. Der
Entdecker der neuen Methode beabsichtigt weitere
Untersuchungen in dieser Richtung, denen mit
Spannung entgegengesehen werden darf.
H. Heller.
Abessinien.
Über Geographie, Flora, Fauna, Anthropologie und
Ethnographie Abessiniens berichtet G. K. Rein*)
in einem jüngst erschienenen Buche, das wohl als
das reichhaltigste gelten kann, das über dieses
Gebiet vorhanden ist. Als nördlicher Teil des
ostafrikanischen Hochlands erhebt sich das ge-
birgige Abessinien aus dem flachen Vorgelände
wie eine aus dem Meere aufsteigende Insel. Das
Bergland hat die Form eines mit dem Grund-
flächen zusammenstoßenden Doppelkegels mit
unregelmäßigen Seiten, dessen Spitzen im Norden
und Süden liegen. In der Nordsüdausdehnung
erstreckt es sich über 13V.2 Breitengrade, von
West nach Ost über 6 V2 Längengrade. Im Westen
schließen die Wälder und Steppen Nubiens an,
im Norden die wasser- und pflanzenlosen Berge
Suakims, im Osten der wüste Küstenrand des
Roten Meeres, im Süden die Salzsteppen zwischen
Jubafluß und Rudolfsee. Die politischen Grenzen
Abessiniens reichen jedoch weit über das abessi-
nische Hochland hinaus in Teile der Sudansteppen,
der Afarwüste und der Somalhochebene. Das
Hochland selbst ist von zahlreichen tiefeinge-
senkten Grabenbrüchen durchzogen, die meist
meridional verlaufen und Flächen von verschiedener
Größe abteilen. Das Hochland ist vulkanischen
Ursprungs, doch sind die Vulkane erloschen,
während im Übergangsgebiete der Afar die vul-
kanische Tätigkeit noch fortdauert.
In gewaltigen Spalten, die früher vielleicht
2000 m tief waren und auch heute noch mit-
unter 800 m Tiefe und nur loo m Breite besitzen,
zeigt sich die gleichmäßige geologische Formation
') Ber. d. d. Chem. Gesellsch., 54, S. 902, 1921.
') Ber. d. d. Chem. Gesellsch., 43, S. 3052, 1910.
') Abessinien, eine Landeskunde nach Reisen und Studien.
Bd. 3. Berlin 1920, D. Reimer. 60 M.
674
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
des ganzen Hochland - Abessiniens ; oben Trachyt
auf Tonschiefer lagernd, darunter Granit, zwischen
Tonschiefer und Granit oft eingesprengter Sand-
stein, im Granit Absonderungen von Porphyr und
Syenit. Reiche Mineralschätze liegen in allen diesen
Formationen zutage.
Die Ströme Abessiniens haben ihre Betten
sowohl im Gebirge wie in dem Afargelände der
Ebenen tief eingeschnitten. Als echte Gebirgs-
wässer sind sie nicht schiffbar, sie besitzen Kata-
rakte, Wasserfälle und Untiefen. Der bedeutendste
Strom ist der Abbai, der obere Lauf des Blauen
Nils, dann der Atbara mit dem Takazze, später
Setit und dem Mareb, später Khor el Gash ge-
nannt. Zum Weißen Abiad-Nil fließt ferner ab
der Baro, der Quellfluß des Sobat. Nach Süden
zum Rudolfsee strömt der Omo, nach Südosten
gehen die Quellflüsse des Juba und des Webbi
Schebeli. Der Hawasch entspringt im Gurage-
birge, um schließlich in dem salzigen Abdebad-
see zu versickern. Im Norden entspringt noch
nahe der Marebquelle der Anseba, der dem Khor
Barka zufließt. Mit starkem Gefälle und häufig
von Katarakten unterbrochen führen diese Flüsse
zur Trockenzeit wenig Wasser, überfluten aber in
der Regenzeit oft ihr Flachland auf große Strecken.
Gering ist die Anzahl der Stromgebiete, die nur
Abessinien selbst angehören.
Die Anordnung der Flußgebiete des abes-
sinischen Hochlandes ist sehr unregelmäßig. Die
Ostseite ist weniger wasserreich als die Westseite.
Die Wasserscheide, welche die zum Roten Meer
strebenden von den dem Nil zueilenden Flüssen
scheidet, erstreckt sich in großer Länge auf den
östlichen Rand der Tafel.
Von den zahlreichen Seen ist im Westen der
bedeutendste der Tanasee, der Quellsee des Blauen
Nils. Im Norden, in der Afar- oder Danakil-
wüste, liegen größere Salzseen, Assale genannt,
teils tief unter dem Meeresspiegel. Im Süden
reicht das abessinische Gebiet bis an den Rudolf-
see, der ca. 9000 qkm umfaßt und ca. 440 Meter
über dem Meeresspiegel liegt. An seinen Ufern
scheidet sich Natron aus, das umgebende Land
ist wüst und vegetationsarm, und nur im äußersten
Norden finden wir zahlreiche Schilfdickichte und
dahinter starke Waldbildungen. Abgestorbene
Wälder erstrecken sich hier kilometerweit in den
See hinein; die längste Strecke dieser abge-
storbenen, überfluteten Wälder beträgt 35 km,
eine auffallende Erscheinung, die sich nur durch
die neuerliche Niveauerhöhung des Seespiegels er-
klären läßt. Die meisten der in den See ein-
mündenden Flüsse liegen den größten Teil des
Jahres trocken, und nur im April, in der Regen-
zeit, erhält der See von ihnen Wasserzuschüsse.
Nach außen abgedachte Plateauränder verhindern,
daß der Rudolfsee als tiefstgelegenes Becken der
ostafrikanischen Grabensenke seine Umgebung
entwässert. Der Osten, Süden und Westen des
Sees leiden besonders unter der Trockenheit,
während der tektonische Aufbau im N und SW
den Flüssen gestattet, daß sie aus einer größeren
Entfernung Wasser zum See bringen.
Die Wasserläufe des Ostens verlieren sich zu-
meist im Wüstensande, bevor sie das Meer er-
reichen. Nur im äußersten Norden am Golf von
Zeila bis zum Einfluß des Barka münden alle
Wasseransammlungen des ganzen Hochgebirges
ins Rote Meer, also etwa von 15" nördl. Breite
ab. In diesen nördlichsten Teil des Hochlandes
fehlen Sammelbecken vollständig. Erst vom 14."
nördlicher Breite südwärts treten abflußlose Becken
auf, deren nördlichstes, der Alel- Badsee, das
größte im Gebiete der Danakil wüste oder Afar
ist. Der bedeutendste Fluß des Ostabhangs, der
die Gewässer des südöstlichen Schoa fortführt,
der Hawasch, versickert ebenfalls im Sande der
Danaikilwüste. Er fließt auf der Sohle des das
abessinische Tafelland von der Somalihochfläche
trennenden Grabens. In der Dankalia finden wir
mehrere abflußlose Becken und Depressionen,
darunter den Assalzsee. Zahlreiche kleinere und
größere Seen im Südosten sind Wasseransamm-
lungen mit geringem Zufluß.
Das Klima Abessiniens weist trotz seiner Lage
nahe dem Äquator große Gegensätze auf. In
den tiefgelegenen Gegenden herrscht tropische
Hitze bis zu 40" C im Schatten und geringe Ab-
kühlung in der Nacht, wogegen in den hochge-
legenen Landschaften, wie z. B. in Semier, zeit-
weise die Kälte recht empfindlich ist. Das Klima
verändert sich so, daß man auf einer kurzen Reise
aus Palmenlandschaften in eisige vegetationslose
Gegenden gelangt. Am Roten Meer fallen Regen
nur im Winter, im Hochland nur im Sommer.
Dazwischen schiebt sich eine Zone mit typischen
Zenitairegen, mit zwei Regenzeiten zur Zeit der
höchsten Sonnenstände. In manchen Landschaften
schaffen die Regengüsse große abflußlose Seen,
einen Umstand, der es erleichtern sollte, die künst-
liche Bewässerung des Landes vorzunehmen. Die
Luft in den Bergen, sagt R., ist von wunderbarer
Klarheit, so daß das Auge in unmeßbare Fernen
dringt.
Moskitos gibt es nur da, wo stehendes Wasser
oder absterbende Flora sich befinden. Deshalb
bauen die Abessinier ihre Hütten nie im Tal. Sie
umgeben ihre Felder mit Hecken, um nicht ge-
nötigt zu sein, dieselben nachts zu bewachen.
Selbst in der Erntezeit verlassen die Einheimischen
ihre Hütten am Morgen nicht eher, als bis die
Nebel im Tal verzogen sind, und sie kehren heim,
bevor am Abend die Moskitos schwärmen könnten.
Die tropischen Täler in Abessinien finden sich
vorzugsweise im Süden und Südwesten, dann ent-
lang dem Takazze, dem Blauen Nil und ihren Zu-
flüssen. Luftdruck- und Windverhältnisse sind
kompliziert, und die klimatischen Verhältnisse
können mit dem sonstigen Afrika nicht ver-
glichen werden.
Das abessinische Hochland mit seinen
grünen Wiesenflächen erinnert an die Alpen,
doch ist dort beständig Frühling. Es herrscht
N. F. XX Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
675
hier ein gleichmäßiges Klima, die Temperatur im
Sommer ist europäisch. In den tiefer einge-
schnittenen Tälern schwankt die Temperatur
zwischen 14** und 25" C. Die Temperatur-
schwankungen des Hochlandes richten sich natür-
lich nach den Breiten- und Längengraden und
nach den verschiedenen Höhenlagen. Heißer
Sommer und Tag, mäßiger Winter und kühle
oder kalte Nacht herrschen in den mittleren
Höhenlagen der Woina Deka, der hochgelegenen
Regionen. Auch die Jahreszeiten haben in Hoch-
abessinien einen ungewöhnlichen Einfluß auf die
Wärmeverteilung. Die starken Regen des Sommers
vermindern die Wärme, und das trockene Früh-
jahr, ebenso der Herbst und der Winter, erscheinen
wärmer. Das der Woina-Deka angehörende
Gondar hat im Frühling 21,9" C, im Sommer nur
16,700, im Herbst 18,30 c und im Winter 19,3» C,
und eine Durchschnittstemperatur von etwa 19" C.
Die Stadt Ankober in Schoa, die freilich 2800 m
hoch liegt, hat aber nur eine Durchschnittsjahres-
wärme von 13" C.
Im Bereich des abessinischen Hochlands unter-
scheidet Rein, den klimatischen Verhältnissen
und den Höhenlagen entsprechend, drei Vegetations-
zonen. In der tropischen Zone, die von den
Niederungen bis zu Höhen von 1 500 m aufsteigt,
gedeihen Tamarinden, Sykomoren und Affenbrot-
bäume von gewaltigem Umfange. Stachelpalme,
Aloe, Mimose, Schirmakazie und andere Akazien
bilden die Charakteristik der Landschaften. Die
Fruchtbarkeit der Flußniederungen ist groß, grüne
Matten in und nach der Regenzeit ziehen sich
über große Flächen hin, viele Blumen blühen in
buntfarbiger Mannigfaltigkeit, besonders auffallend
vielfarbige Liliaceen und Zwiebelgewächse, erd-
ständig mit einfachem Blütenstande, aber auch als
Lianen am Strauchwerk emporkletternd.
Die zweite Vegetationszone reicht von 1500
bis 2500 m. Sie umfaßt die subtropischen Hoch-
flächen mit ausgedehnten Wiesen und auch Wäl-
dern. Stellenweise bilden noch Hochholz, Busch-
wald und Schlingpflanzen undurchdringliche
Dickichte. Die Bäume verlieren meist ihren
Blätterschmuck in der Trockenzeit. In der Nähe
der Städte ist durch künstliche Einführung außer
dem australischen Eucalyptus auch die Carica
Papaya für die Gegend charakteristisch geworden,
während in unberührten jungfräulichen Gegenden
Christusdorn (Zisyphus) säulen- und kakteen-
artige Euphorbien und Sansevieren, schon von
weitem ekelhaft riechende Aaspflanzen mit präch-
tigen Blumen, Kigelia, Phönixarten und wilde
Baumwolle, Kaffee, Ölbäume, Orangen, Bananen,
Pfirsiche, Aprikosen und Asparageen wild wachsen.
Am Mareb und Takezze wachsen Adansonia-,
Dahlbergia-, Sterculia- und Ficusgewächse ; Kaffa
speziell besitzt als Urheimat des Kaffeebaumes
große wilde Bestände davon. Bambus bedeckt
oft meilenweit die Gehänge.
Über 2000 m hinauf erscheinen bereits Ery-
thrinen, Cordia, Gardenien, Cassien, der riesige
Kolqual (Euphorbia abessinica), die Kandelaber-
Euphorbie und der abessinische Woira Ölbaum.
In den nördlichen Gegenden entzücken das Auge
Korallenbäume (Erythrina tomentosa), deren ko-
rollenrote dichte Blütenstände mit den silber-
grauhaarigen Blättern wundervoll zwischen den
anderen Waldbäumen hervortreten. Milettia fer-
ruginea mit oben blaugrünen, unten rostbraunen
Blättern und. lilaroten Blüten wächst eben-
daselbst.
In der kühlen Zone, zwischen 2500 und 4000 m,
ist u. a. der Djibarabaum (Rhychopetalum mon-
talum) usw. an humusreichen, windfreien Plätzen
zu finden. Aus seinen dracaenenartigen Blätter-
büscheln steigen fußdicke, 2 — 3 m hohe Blüten-
kerzen empor. Ferner gedeiht höher hinauf der
als Bandwurmmittellieferant dem Abessinier äußerst
wichtige und unentbehrliche schöne Kussobaum
(Hagenia abessynica) und der schwarzbraunes,
festes und schweres Holz liefernde Eisenholzbaum.
Baumartige, holzige Kugelkopfdisteln (Echinops)
mit mächtigen, knorrigen Stämmen und kopf-
großen, roten Blütenballen beleben in diesen ge-
mäßigten Gegenden trockene Hänge und Fels-
gründe. Der Dedwacholder, der sehr hoch, einer
Tanne ähnlich wächst, Celastrusarten, gegen Ma-
laria gebraucht, Kolqualeuphorbien überall ; dagegen
gibt es wenig Bambus und Rotang hier. Grüne
saftige Wiesen und Matten sind hier fast immer,
das ganze Jahr hindurch anzutreffen.
Geringe alpine Vegetation fängt über 4000 m
an. Sie ähnelt sehr der europäischen Alpenflora.
Cordia, Croton, Syzigium, Erythrina und Akazien
überragen Jasminsträucher, Carissa, Hypericum,
Cassia, Rumex, Clematis, Rhamnus, Capparis,
Rhododendron und Pterolabium. Die Baumstämme
sind oft von Lorantheen überwuchert, die mit
ihren lederglänzenden Blättern und langen Röhren-
blüten auffallen; epiphytische Angrecumorchi-
deen mit eigenartig geformten Blütenrispen er-
füllen ihre Umgebung mit starkem Duft.
Völlig abweichend ist der Pflanzenwuchs in
den an das Hochland im Nordosten und Osten
anschließenden Trockensteppen und Wüsten. Dort
sind Holzgewächse eine seltene Erscheinung und
nur an den einen Teil des Jahres trockenen Fluß-
läufen ist die Pflanzenwelt eine üppigere. Die
Sandstellen jedoch haben meist Grundwasser in
geringerer Tiefe und daher reichere Vegetation;
Oasen entstehen hier und da, die allerdings dann
weniger vom Grundwasser, sondern von Regen-
güssen abhängen, wenn nicht gerade wasserreiche
Bäche und Flüsse, von Gebirgen herabkommend,
sie durchströmen. Nach erfolgten Güssen kann
man in solchen Sandoasen in wenigen Tagen
völlig grüne Wiesen aus nichts entstehen sehen,
die aber sehr bald wieder verdorren, da die Wur-
zeln der Regenpflanzen nur in gleiche Tiefe wie
der Regen eindringen und mit der Feuchtigkeit
auch ihre Nahrung wieder verlieren. Einige Succu-
lenten halten das Wasser zurück und überstehen
die Trockenzeit bis zum nächsten Regenfall, xero-
676
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
phile Eigenschaften fehlen diesen Pflanzen meisten-
teils.
Anthropoide Affen gibt es in Abessinien nicht,
dagegen ist die Familie der Hundsafifen mit einigen
Arten vertreten. Von Raubtieren ist vor allem
der Löwe zu nennen, ferner der Leopard, Gepard,
die Wildkatze, Hyäne, der „gemalte Hund" (Lycaon
pictus), das Schakal, der Erdwolf, der wilde Wolfs-
hund, die Otter, der Honigdachs (ein Verwandter
des Vielfraß). Die Ordnung der Insektenfresser
ist nur durch wenige Arten vertreten. Von Nage-
tieren sind Mäuse und Ratten fast überall zahl-
reich. Überdies nennt Rein mehrere Arten von
Hasen und auch unser Eichhörnchen hat Vettern
in Abessinien. Charakteristische Bewohner felsiger
Gebiete sind die Klippschliefer. Ziemlich zahl-
reich sind die Wühltiere. Das Flußpferd ist im
Blauen Nil noch häufig, ebenso im Mareb, Takazze
und im Tanasee, dagegen ist es in den Flüssen
des Ostens bereits ausgestorben. Antilopen be-
völkern auch in Abessinien die Steppen. Die
Giraffe wurde östlich vom Blauen Nil, in den
Niederungen im Westen der Provinz Wolkait, be-
obachtet und soll auch am Ostrande im Danakil-
land, im Hawaschtal und südwärts bis zum
Arussigebiet vorkommen. An den zuletzt ge-
nannten Stellen trifft man auch das Zebra. Zur
nächsten Verwandtschaft des Pferdes gehören
auch die nubischen Wildesel (Equus asi-
nus), die besonders im Somaliland in einer
oder mehreren Rassen vorkommen und im
allgemeinen sich wohl mit den Zebras in der
geographischen Verbreitung weniger decken als
ergänzen. — Das Vorkommen des Rhinozeros ist
auf Gegenden bis zu 1500 m Meereshöhe be-
schränkt; es ist in manchen Landesteilen noch
recht zahlreich, nimmt aber wohl ebenso bestän-
dig ab, wie der Elefant. Dieser ist im Norden
in der Landschaft Wolkait und im Danakiliand
noch verhältnismäßig häufig, ebenso in Kaffa im
Südwesten, und während der Regenzeit erscheint
er zuweilen in ziemlich bedeutender Zahl an den
östlichen Berghängen vom Aschangifluß, der beim
Aschangisee, 2400 m, entspringt, bis zum Hawasch-
tal und im Arussi Galla Bezirk nach Südosten zu.
— Von Haustieren sind zu erwähnen die Ziege,
das Fettschwanzschaf, der Zebu oder Buchelochse,
das Pferd und das Kamel, das auf die trockenen
Gegenden des Nordostens beschränkt ist. Die
Hochlandsbewohner züchten keine Kamele.
Der Überblick der Vogelwelt Abessiniens, den
R. gibt, zeigt deren große Reichhaltigkeit. Unter
den Vögeln dieses Landes befinden sich manche,
prachtvoll gefärbte , eigenartig gestaltete und in
ihrer Lebensweise merkwürdige Geschöpfe. Ge-
rade auf dem Gebiete der Ornithologie Abessiniens
ist von R ü p p e 1 , von Heuglin, Brehm usw.
Vorzügliches geleistet worden, so daß man wohl
behaupten darf, besser als das Pflanzenreich und
die übrigen Klassen des Tierreichs sei die Vogel-
faune der „afrikanischen Schweiz" durchforscht.
Unter den Reptilien sind nur Schildkröten und
Krokodile reichlich vorhanden.
Fische sind im Hochland Abessiniens nicht
sehr häufig und können hier daher kaum als
Fastenspeise für die Befolger der religiösen Vor-
schriften ausreichen. Neben dem fischreichen
Tanasee und seinem Ausfluß, dem Blauen Nil
(Abai, Bahr el Asrak), sowie vielleicht noch dem
oberen Hawasch, kommt für die Fischerei im
wesentlichen nur das Flußgebiet des Takazza-Selit
in Betracht. H. Fehlinger.
Tom Zentralnervensystem der Weinberg-
schnecke.
In der Naturw. Wochenschr. 1919, S. 566 habe
ich auf eine Arbeit von Kretzschmar über das
Nervensystem der tropischen Landschnecke Cyclo-
phorus hingewiesen. Es ergab sich dort, daß die
Angaben B. Hallers („die Intelligenzsphären des
Molluskengehirns" 191 3) nicht bestätigt werden
konnten. Weder konnte Kretzschmar eine
„Intelligenzsphäre" nach Art der pilzförmigen
Körper der Insekten finden, noch die Behauptung
Hallers von einem innigen synzytialen Verbände
der zentralen Nervenzellen bestätigen. Diese Un-
zuverlässigkeit der Hall ersehen Befunde tritt
auch in der Arbeit von Helene Kunze, Zur
Topographie und Histologie des Zentralnerven-
systems von Helix pomatia (Zeitschr. f. wiss. Zool.
Bd. 118) zutage. Die Zellen des Protocerebrums
z. B. ergaben sich stets als unipolar. „Niemals
sind Plasmabrücken vorhanden, die von einer Zelle
zur anderen hinüberführen, sondern stets ist jede
Zelle für sich scharf begrenzt." Auch im Meso-
cerebrum und im Metacerebrum, den beiden rest-
lichen Abschnitten des Präösophagealganglions,
findet sie nur selten bipolare, meist aber unipolare
Zellen. Multipolare Zellen hat sie an den von
Haller bezeichneten Stellen „niemals gefunden,
ebensowenig das von ihm beschriebene perizel-
luläre Netz". Die histologischen Befunde Hall er s
haben sich somit auch hier wie in zahlreichen
anderen Fällen als unrichtig erwiesen. Dagegen
wird seine Hypothese, daß der vordere Gehirn-
abschnitt der Mollusken, das Protocerebrum
Kunzes, eine Intelligenzsphäre darstelle , von
Kunze bis zu einem gewissen Grade bestätigt.
Keiner der ins Protocerebrum eintretenden Nerven
endigt nämlich in demselben, alle wurzeln im
Metacerebrum. Das Protocerebrum ist daher kein
direktes Sinneszentrum oder motorisches Zentrum.
Das Hauptsinneszentrum ist vielmehr in der Faser-
masse (Punktsubstanz) des Metacerebrums zu
suchen, in der sämtliche 9 Cerebralnerven endigen.
Die metacerebrale Punktsubstanz ist mit allen
anderen Teilen des Zentralnervensystems gut ver-
bunden, sehr gut auch mit dem Protocerebrum.
Die Tatsache, daß letzteres mithin nur auf in-
direktem Wege mit peripheren Nerven in Be-
ziehung treten kann, spricht dafür, ihm eine ana-
loge Bedeutung wie den pilzförmigen Körper der
N. F. XX. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
677
Insekten beizulegen. Der unklare Ausdruck „In-
telligenzsphäre" wäre dann etwa als Sitz der In-
stinkte und eines vielleicht noch zu erweisenden
Gedächtnisses näher zu umschreiben. Auch der
histologische Befund des paarigen Protocerebrums
zeigt auffallende Ähnlichkeiten mit den ent-
sprechenden Teilen des Anneliden- und Arthro-
podengehirns: Lateral liegen dicht gedrängte
Haufen stark farbbarer Zellen von besonderer
Kleinheit (6 — 7 /t Durchmesser), aber verhältnis-
mäßig sehr großen Kern. Sie sind unipolar; ihre
Fortsätze sammeln sich meist in Bündeln, die
gegen die mediale IVlarkmasse zusammenlaufen.
So entstehen meist mehrere „Stiele der Zellrinde"
(zuweilen auch nur ein einziger). Die IVlarkmasse,
in der sie enden, ist ein dichtes, fast homogenes
Netzwerk. Es fehlen daher wesentliche Kenn-
zeichen der pilzförmigen Körper der Insekten,
nämlich die eigenartige Form und Abgrenzung
der Pilzstiele (deren einer meist rückläufig wird)
und besonders die Abgrenzung der Becher mit
ihrer charakteristischen Glomerulenstruktur, die
sich auch bei niederen Insekten wiederfindet, wo
die Becherform noch nicht ausgeprägt ist.') Von
einer „Gleichstellung" oder Homologisierung dieser
Teile muß daher jedenfalls vorläufig abgesehen
werden. Dagegen finde ich es gerechtfertigt, die
auffallende Ähnlichkeit in Zellenbau und Anord-
nung, in den stielartigen Einströmungen in die
IVlarkmasse sowie das Fehlen direkter Beziehungen
zu peripheren Nerven durch den gemeinsamen
Ausdruck Globulus für diese Assoziationszentren
zum Ausdruck zu bringen. Die pilzförmigen
') Vgl. meine Aufsätze in der Naturw. Wochenschr. 1913,
S. 154—156; 1915, S. 17—24; 1918, S. 665—674.
Körper wären dann Globuli in einer den Insekten
eigenartigen Höchstdifferenzierung.
Ist so das Protocerebrum nicht nur anatomisch
durch Abgrenzung und eigenartige Struktur,
sondern auch physiologisch als sekundäres Zen-
trum charakterisiert, so scheint mir die Trennung
des Mesocerebrums vom Metacerebrum ziemlich
willkürlich und nur auf äußerliche Kennzeichen
gestützt. Das Mesocerebrum enthält nach der
Abgrenzung Kunzes nur Zellen und gar keine
Punktsubstanz, kann daher nicht wohl eine physio-
logische Einheit darstellen. Ich betrachte es als
einen Schaden für die fleißige Arbeit Kunzes,
daß sie physiologische Gesichtspunkte kaum, ver-
gleichend-anatomische, entwicklungsgeschichtliche
und ökologische gar nicht herbeizieht. Dies hat
eine Armut an allgemeinen Ergebnissen zur Folge.
Eine so weitgehende Arbeitsteilung, wie sie hier
gehandhabt wurde, hat ihre Nachteile. Schmalz
(Zur Morphologie des Nervensystems von Helix
pomatia, Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. in) hat nur
die äußere „makroskopische" Topographie be-
arbeitet und nun ergibt die Schnittmethode
Kunzes nicht wenige Fehler in seinen Befunden,
so daß sofort eine Nachuntersuchung (Bang, Zur
IVIorphologie des Nervensystems von Helix po-
matia, Zool. Anzeiger Bd. 48) nötig ist. Es zeigt
sich hierbei wieder, daß eine äußerliche Betrachtung
ohne Schnittmeihode die Natur eines nervenähn-
lichen Stranges nicht sicher feststellen kann, wie
es bei den Insekten auch lange gedauert hat, bis
sich ein Teil des Eingeweidenervensystems als
drüsiger Natur entpuppte. Den zweiten Teil ihrer
Arbeit widmet Kunze einer ausführlichen Cyto-
logie der Ganglienzellen.
Dr. Fr. Bretschneider.
Bücherbesprechungen.
Broili, F., Zittels Grundzüge der Palä-
ontologie, I. Abt.: Invertebrata. S.Auf-
lage. 710 Seiten mit 1457 Abb. Oldenbourg,
IVIünchen und Berlin 192 1. Geh. 100 M„ geb.
HO JVI.
Von unserem führenden paläontologischen
Lehrbuche abermals eine Neuauflage 1 Diesmal
betrifft sie den ersten Teil (Wirbellose), das in
dieser Beziehung voraneilt (4. Auflage 1915, vom
II. Teil [Wirbeltiere] erfolgte die zweite Auflage
191 1, die dritte und bislang letzte 1918). IMag
auch Mancher und manche Bücherei ob der
steigenden Anschaffungskosten seufzen, es kann
nicht zweifelhaft sein, daß ein Lehrbuch dauernd
mit den Neuerfahrungen mitgehen muß, wenn es
nicht schnell veralten will. Und erfreulich muß
man vor allem vom wirtschaftlichen Standpunkte
die Möglichkeit solcher Neuauflagen auch unter
jetzigen Verhältnissen nennen. Wesentliche Ab-
änderungen oder Erweiterungen sind diesmal frei-
lich nicht zu verzeichnen. Leider kann ja die
große auswärtige Literatur nach der langen Sperre
heute ihr Echo in der unserigen nur erst z. T.
finden. Doch ist die Berücksichtigung des Er-
reichbaren ersichtlich und mancher neue Hinweis
sehr dankenswert.
In den Abschnitt über Crinoiden wurden Ar-
beiten und Abbildungen von Wanner und
Ja ekel hineingearbeitet, ohne daß dadurch
stärkere Abweichungen im System erforderlich
gewesen wären. Richthofenia findet Neudar-
stellung nach Di Stefano. Bei großen Ab-
teilungen, so z. B. Muscheln und Schnecken ist
mit Ausnahme einiger Literaturergänzungen so
gut wie nichts geändert.
Auch bei den Cephalopoden ist die neuere
Literatur aufs peinlichste verzeichnet, ein Einfluß
auf die Darstellung ihr aber nicht immer in er-
wartetem Maße gewährt (Lobenlinie) , während
das System hier einige Anpassungen aufweist.
Die alten Schätzungen bezüglich der Zahl der
Arten und Gattungen dürften bei der Fruchtbar-
678
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
keit der gesamten einschlägigen Literatur wohl
eine Erneuerung vertragen oder besser fortfallen.
Am weitestgehenden ist wohl der Abschnitt über
Dibranchiaten umgearbeitet, und zwar z. T. unter
Mithilfe von Naef Die Spirulidae wurden bei
den Sepioidea eingereiht, die Teuthoidea als neue
Unterordnung übernommen. Bei den Trilobiten
hat die biologische Einleitung gewisse Abände-
rungen erfahren.
Die Ausstattung ist die gewohnte gute. Ein
Teil der Abbildungen (Seeigel) erscheint sogar
klarer als in der letzten Auflage. Da aber große
Teile des Buches von der Neuerung völlig unbe-
rührt blieben und der Satz noch stand, ist doch
wohl die Frage am Platze, ob unter solchen Um-
ständen ein Preis erforderlich war, wie er bei
Neuerscheinungen heutzutage ja leider üblich und
unvermeidlich geworden ist. Wer dürfte denn
Studierenden zu all ihrer Not heut noch solche
Aufwendungen empfehlen oder zumuten?
Edw. Hennig.
Grimsehl, E., Lehrbuch der Physik. Zum
Gebrauche beim Unterricht, bei akademischen
Vorlesungen und zum Selbststudium. Heraus-
gegeben von W. H i 1 1 e r s unter Mitarbeit von
H. Starke.
L Band : Mechanik, Wärmelehre, Aku-
stik und Optik. Fünfte, vermehrte und ver-
besserte Auflage. 1029 S. mit 1049 Fig- i"^
Text, 10 Fig. auf 2 farbigen Tafeln und I Titel-
bild. Leipzig und Berlin 192 1, B. G. leubner.
— Geh. 32 M. und 120% Teuerungszuschlag
des Verlags.
IL Band: Magnetismus und Elektrizität.
Vierte, vermehrte und verbesserte Auflage.
634 S. mit 548 Fig. im Text. Leipzig und
Berlin 1920, B. G. Teubner. — Geh. 22 M.
und 120 "jf, Teuerungszuschlag.
Auf das Grimsehlsche Lehrbuch haben wir
bereits mehrfach empfehlend hingewiesen (vgl.
diese Zeitschr. Bd. 16, S. 279, 1917 und Bd. 19,
S. 399) 1920). Mehr noch als jede Empfehlung
spricht für dasselbe die fast beispiellos rasche
Aufeinanderfolge von Neuauflagen, aus der her-
vorgeht, daß das Werk dank seiner besonderen
Vorzüge unter den gebräuchlichen Lehrbüchern
der Experimentalphysik zurzeit mit an erster
Stelle steht. Es ist anzuerkennen, daß der Her-
ausgeber in jeder Auflage mit Eifer die Gelegen-
heit wahrnimmt, durch möglichste Vervollkomm-
nung von Form und Inhalt dem Buche diese be-
vorzugte Stellung zu festigen. Die nachstehenden
Verbesserungshinweise des Ref mögen dem
gleichen Zweck dienen.
Der erste Band hat gegen früher im wesent-
lichen nur geringe Änderungen erfahren. Sie
betreffen meist kleine Ergänzungen und kurze
mathematische Zusätze. Ref. möchte zu späterer
Berücksichtigung noch folgenden Änderungswün-
schen Ausdruck geben: In der Mechanik wäre es
wichtig, den Unterschied zwischen den gerichteten
und ungerichteten Größen (Vektoren und Skalaren)
auch in der Schreibweise deutlicher hervortreten
zu lassen; durch die Bezeichnung der Arbeit mit
einem deutschen Buchstaben beispielsweise könnte
der Leser leicht irregeführt werden. Die Defini-
tion der potentiellen Energie auf S. 95 erscheint
nicht völlig befriedigend. Der kurze Abschnitt
über Phosphoreszenz auf S. 950 entspricht auf-
fallend wenig dem heutigen Stand unserer Kennt-
nis dieser Erscheinung; er sollte eine vollständige
Neubearbeitung erfahren.
Wesentlichere Änderungen hat der zweite
Band aufzuweisen. Sein Umfang ist um nahe
100 Seiten, die Zahl der Figuren um etwa 30 ge-
wachsen. Der Herausgeber war hier bestrebt, die
Faraday-Maxwell sehen Nahewirkungsvorstel-
lungen mehr als bisher zur Veranschaulichung
der elektrodynamischen Vorgänge heranzuziehen,
was der Darstellung sehr zum Vorteil gereichte.
Eine weitgehende Ergänzung hat namentlich der
9. Abschnitt über elektrische Entladungen erfahren.
Es werden in ihm im Anschluß an die Betrach-
tung der verschiedenen Entladungsformen die
einzelnen Strahlungen, die Radioaktivität und das
Bohr sehe Atommodell besprochen. Als nicht
ganz korrekt ist dem Ref. hier nur die ungerecht-
fertigte Unterscheidung zwischen Kathoden- und
(f Strahlen aufgefallen, und als kleiner Mangel kann
es empfunden werden, daß die Natur der a Strahlen
auf S. 488 nicht erschöpfend angegeben wird.
Eine erhebliche Änderung zeigt auch der 11. Ab-
schnitt über elektrische Schwingungen, deren
praktische Anwendung in neuester Zeit wesent-
lich durch die Einführung der Glühelektronen-
röhren beeinflußt worden ist.
Zum Schluß noch einen Wunsch an den Ver-
lag. Bei der höchst anerkennenswerten, sorg-
fältigen Ausstattung des Werks durch Figuren
und Druck muß es der Leser besonders bedauern,
daß die Benutzbarkeit der gehefteten Exemplare
durch den geringen Zusammenhalt der Blätter
erheblich beeinträchtigt wird. Wäre es in diesem
Fall nicht ratsam, nur gebundene Exemplare in
den Handel zu bringen, zumal der Preisunterschied
sich dabei heute wesentlich niedriger gestaltet, als
wenn ein nachträgliches Binden des Werks er-
forderlich wirdi A. Becker.
Die Entstehung der Arten durch natürliche
Zuchtwahl. Übersetzt und herausgegeben von
Carl W. Neumann. Nr. 3071 — 76a— d. [694 S.]
Leipzig, Reclams Universalbibliothek. Auf
Dünndruckpapier geh. 1 5 M., in Bibliothekband
20 M.
Die Abstammung des Menschen und die ge-
schlechtliche Zuchtwahl. Übersetzt und her-
ausgegeben von Carl W. Neumann. 2 Bde.
Nr. 3216 — 20a — c und 3221 — 25a — b. [532 u,
468 S.] Ebenda. Auf Dünndruckpapier geh.
22,50 M. Beide Bände zusammen in Bibliothek-
band 30 M.
Nicht bei jeder Stichprobe fand ich diese neue
N. F. XX. Nr. 47
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
679
Darwinübersetzung ganz genau. So lautet die
Überschrift eines Unterkapitels von Kapitel I der
„Entstehung der Arten" im Original „Character
of Domestic Varieties". Warum „Character" mit
„Merkmale" übersetzt wird statt einfach mit
„Charakter", ist nicht ersichtlich, denn die folgen-
den Ausführungen handeln nicht von den einzelnen
Merkmalen, sondern vom Gesamtcharakter der
Haustiere, wie denn auch nach wenigen Zeilen
dasselbe Wort richtiger übersetzt wird: „Gezähmte
Ratten haben auch etwas monströsen Charakter". ')
Wenige Zeilen später eine ähnliche Ungenauigkeit
der Übersetzung: „der Unterschied" statt „die
Unterschiede". Bald darauf findet man „mere
varieties" übersetzt mit „Varietäten" ; weshalb fehlt
das Beiwort „bloße"? Weshalb fehlt im sechsten
Kapitel in „Species with habits widely different
from those of their allies" in der Übersetzung
das ,, widely" ? — Im vierten Kapitel liest man
im Orignal, daß „each creature tends to become
more and more improved . . ."; die Übersetzung
des „improved" mit „vorteilhafterer Abänderung"
und des gleich darauf folgenden „This improve-
ment" mit „Diese Veränderung" gibt den Sinn
nicht so genau wieder, wie es wünschenswert und
durch das einfachere Wort „Verbesserung",
meinelhalben „Vervollkommnung" möglich ge-
wesen wäre. Dagegen wäre „the completeness
of the division of physiological labour" nicht „die
Vollkommenheit . . ." , sondern nur die Voll-
ständigkeit der physiologischen Arbeitsteilung.
Ich gebe zu, daß ich im letzteren Falle ganz be-
sonders peinlich bin, weil ich gerade diese Be-
griffe unlängst genauer bearbeitet habe. Man
wäge also die Ausstellungen, die immerhin bei
einer Neuauflage berücksichtigt werden sollten,
nicht zu schwer für die Frage nach der Brauch-
barkeit dieser Darwinübersetzung. In vielen
anderen Stichproben fand ich zu Ausstellungen
keinen Anlaß.
Zu loben ist das richtige Maß in der Verwen-
dung von Fremdwörtern, da ja nicht jedes Fremd-
wort sich ohne Nachteil vermeiden läßt, manches
aber, wie „generisch", heute dem weniger Einge-
weihten fast unverständlich ist. So ist also
„characters of generic value" durchaus richtig mit
„Gattungsmerkmale" übersetzt, und in den „parent
species" sind sehr richtig die „Stammarten", nicht
die „Elternarten", wie andere Übersetzer sagen,
erkannt.
Die von Darwin beigegebenen Abbildungen
sind zwar zum Teil verkleinert, aber sämtlich
gut wiedergegeben.
Selbstverständlich ist das Erscheinen einer
Darwinübersetzung, zumal einer verhältnismäßig
wohlfeilen und handlichen, stets zu begrüßen, und
diesen Reclam- Bändchen, welche die beiden
Hauptwerke Darwins bringen, müssen wir
weiteste Verbreitung wünschen.
V. Franz, Jena.
^) Ebenso wird in der „Abstammung des Menschen"
„character" übersetzt mit „Charaktere" statt mit „Charakter".
Darwin gebraucht dort bald den Plural, bald den Singular,
sicher mit gutem Grund. Die Übersetzung sollte das wieder-
geben.
Deane, W., Fijian Society, or the Sociology
and Psychology of the Fijians. 16 u. 255 S.
London 1921, Macmillan.
Auf den Viti-Inseln begegneten sich die beiden
Menschenrassen, welche die weite Inselflur des
Stillen Ozeans bevölkern, nämlich Melanesier und
Polynesien Doch überwiegt in physisch • anthro-
pologischer Beziehung der polynesische Typus
und auch die Kultur der Vitianer gehört in der
Hauptsache dem polynesischen Kreise zu. Eine
gute Schilderung dieses Inselvolkes gibt Dr.
Deane in dem vorliegenden Buch, das vorwiegend
Ergebnisse eigener Beobachtungen enthält und
viel Tatsachenmaterial bringt, das zur Klärung
der völkerpsychologischen Probleme des Stillen
Ozeans dienlich ist. Eingehend befaßt sich D.
u. a. mit den beiden Formen der Abstammungs-
folge. Die für den melanesischen Kulturkreis
bezeichnende Abstammungsfolge in weiblicher
Linie besteht auf Vanua Levu, der zweitgrößten
Insel der Gruppe, deren Bevölkerung auch keine
Überlieferung einer Zuwanderung von auswärts
besitzt. Die psychische Artung der Viti-Insulaner
ist durch eine weitgehende Selbstbeherrschungs-
fahigkeit ausgezeichnet, wie man sie sonst bei
Naturvölkern recht selten antrifft. Man kann sich
kaum ein Volk denken, sagt D. , das besser im-
stande wäre, seine Gefühle zu verbergen, wenn
es die Lage erfordert. Nur die Furchtsamkeit
tritt stärker hervor, wohl deshalb, weil die Men-
schen von Viti stets in Angst vor feindlichen
Überfällen und selbst Verrätereien befreundeter
Nachbarn lebten und auch weil sie von den
eigenen Häuptlingen immer grausam behandelt
wurden. In den Vorstellungen einer übersinn-
lichen Welt ist ebenfalls die Furcht, und zwar die
Furcht vor bösen Geistern, allbeherrschend. Alle
entlegenen Orte denkt man sich von ihnen be-
völkert und stets ist man bereit, sie durch irgend-
ein Opfer versöhnen zu wollen. Von religiöser
Verehrung der Gestirne, ebenso wie von Totemis-
mus, ist keine Spur vorhanden. Auch ein richtiger
Geister kult hat sich nur in wenigen Landschaften
ausgebildet. Die übernatürlichen Wesen werden teils
als Geister Verstorbener aufgefaßt, teils aber als be-
seelte Naturobjekte; der Glaube an letztere (Ani-
mismus) scheint von der Insel Vanua Levu aus-
gegangen und melanesischen Ursprungs zu sein,
während der Glaube an Ahnengeister polynesisches
Kulturgut ist. In der sozialen Organisation fällt
die überragende Macht der Häuptlinge auf. Die
Häuptlingschaft ist erblich. Die Persönlichkeit
des Einzelnen tritt bei dem Rest des Volkes
völlig zurück, der einzelne kommt nur als Glied
der Masse zur Geltung und diese Unselbständig-
keit ist auch im geistigen Leben deutlich ausge-
prägt. In so manchen Lebenslagen — z. B. auf
Seefahrten — kann der Mangel an Persönlich-
68o
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 47
keitsempfinden leicht einer ganzen Gruppe ver-
hängnisvoll werden. Auffällig ist die Seltenheit
schwerer Vergehen gegen Person und Eigentum.
Auch in dieser Hinsicht bestehen hier eigenartige
Verhältnisse, wie sie bei geringem Kulturbesitz
nicht die Regel sind. Die einstmals bestandene
Anthropophagie ist unterdrückt vorden.
H. Fehlinger.
Rinne, Friedrich, Gesteinskunde. Für Stu-
dierende der Naturwissenschaft, Forstkunde und
Landwirtschaft, Bauingenieure, Architekten und
Bergingenieure. Sechste und siebente (Doppel-)
Auflage. Mit einem Titelbild und 509 Text-
figuren. 365 Seiten. Leipzig 1921, Dr. JVIax
Jänecke. Preis geb. 71,60 M.
Wenn der fünften Auflage im Jahre 1920
heute bereits die vorliegende sechste und siebente
gefolgt ist, so zeigt sich darin deutlich, wie be-
liebt das Buch geworden ist. Die anschauliche
Form, in der das vom Verf. erstrebte „abgerun-
dete naturwissenschaftliche Bild der Gesteinskunde"
hier geboten wird, unterstützt durch zahlreiche
Abbildungen und Zeichnungen und durch eine
ausgiebige elementare Verwendung der in Be-
tracht kommenden Lehren der physikalischen
Chemie, hat es vermocht, dem Werke immer neue
Freunde zu erringen. Es erübrigt sich daher
völlig, an dieser Stelle die einzelnen Vorzüge des
Buches in Erinnerung zu bringen.
Die Neuauflage ist, das sei jedoch erwähnt,
an zahlreichen Stellen im Sinne voranschreitender
Forschungsergebnisse ergänzt worden. So sind
einige weitere Diagramme in der „Allgemeinen
Übersicht der Erstarrung von Eruptivgesteins-
schmelzflüssen" neu aufgenommen worden. Auch
ein Abschnitt über Krisiallvorformen im Magma,
gegründet auf Anschauungen von P. Niggli,
ist neu eingefügt. Besonders sind auch die Ab-
schnitte über Entstehung und Dislokationen der
Salzlagerstätten den Fortschritten auf diesem dem
Verfasser bekanntlich besonders vertrauten Ge-
biete entsprechend angepaßt worden. Während
die Abschnitte IX und X, Übersicht über Eruptiv-
bzw. Sedimentgesteine, ausführlich behandelt wer-
den, sind, wie in den früheren Auflagen, die
Verhältnisse der kristallinen Schiefergesteine kürzer
dargestellt worden. Zwar ist zu speziellerem
Studium insbesondere auf das Werk H. Gruben-
manns, „Die kristallinen Schiefer" verwiesen,
vielleicht läßt es sich aber auch bei weiteren
Auflagen ermöglichen, noch etwas ausführlicher
als bisher auf die Gesetzmäßigkeiten und physi-
kalisch-chemischen Verhältnisse der allgemeinen
Metamorphose einzugehen. Zweifellos würde diese
Erweiterung von allen Freunden des Buches dank-
bar begrüßt werden. Spangenberg.
Lichtenbergs Briefe an Johann Friedrich
Blumenbach. Herausgegeben und erläutert
von Prof. Albert Leitzmann. 136 S. Leipzig 1921,
Dieterichsche Verlagsbuchhandlung.
Kurz nachdem Blumenbach als 23 jähriger
seine Doktorschrift „De generis humani varietate
nativa" veröffentlicht hatte, lernte er Lichten-
berg kennen und enge freundschaftliche und wis-
senschaftliche Beziehungen verbanden beide bald
und dauernd. Beide Männer hatten die Natur bis
hinauf zum Menschen zum Gegenstand ihrer
Forschungen gemacht, sie stimmten aber auch
überein in ihrer Lebens- und Weltauffassung. Die
Briefe, die Lichtenberg an Blumen bach im
Laufe von mehr als zwei Jahrzehnten schrieb, hat
nun Albert Leitzmann herausgegeben und
mit Erläuterungen versehen. Die Sammlung wird
nicht bloß dem engeren Kreis der Freunde des
großen Aphoristikers und Satirikers willkommen
sein, sondern auch die Naturwissenschafter werden
in ihr manches Lesenswerte finden. H. F.
Literatur.
Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Aka-
demie der Wissenschaften zu Leipzig. Mathematisch-physische
Klasse. 73. Band. Leipzig '21, B. G. Teubner. 7,20 IVI.
Beiträge zur Metallurgie und andere Arbeiten auf che-
mischem Gebiet. Festgabe zum 60. Geburlstag für Professor
Dr. Dr.Ing. E. H. Hans Goldschmidt. Herausgegeben von
Oscar Neuß. Dresden u. Leipzig '21, Theodor Steinkopf.
15 M.
Nernst, Walther, Theoretische Chemie. 8. — 10. Aufl.
Stuttgart '21, Ferdinand Enke. Brosch. 141 M.
V. Zittel, Karl A., Grundzüge der Paläontologie (Paläo-
zoologie), neubearbeitet von Dr. Ferdinand Broili. l. Ab-
teilung: Invertebrata. 5. verbesserte und vermehrte Auflage.
München u. Berlin '21, R. Oldenbourg. Brosch. loo, geb.
HO M.
Fritz Müller Werke, Briefe und Leben, gesammelt und
herausgegeben von Dr. Alfred Möller. Zweiter Band: Briefe
und noch nicht veröffentlichte Abhandlungen aus dem Nach-
laß 1854 — 1S97. Jena '21, Gustav Fischer. 150 M.
Sechs farbige Naturaufnahmen von Arzneipflanzen. Aus-
gabe A. Folge 14 u. 15. Nach OrigiDalaulnahmen von Josef
Ostermaier. Herausgegeben von Gehe u, Co., A.-G., Dresden-N.
Inbalt: R. Keller, Elektromikroskopie. (3 Abb.) S. 665. A. Radovanovitch, Was ist die Zeit? S. 669. — Einzel-
berichte: A. W. Bull, Die Kristallsiruktur des Calciums. S. 671. H. Bau mann, Zur Anatomie der Tardigraden.
S. 671. W. Hieber, Eine neue Methode zur Bestimmung allelotroper Gleichgewichte. S. 672. G. K. Rein,
Abessinien. S. 673. H. Kunze, Vom Zentralnervensystem der Weinbergschnecke. S. 676. — Bücberbesprecbun-
gen: F. Broili, Zittels Grundzüge der Paläontologie, 1. Abt.: Invertebrata. S. 677. E. Grimsehl, Lehrbuch der
Physik. I. Bd.: Mechanik, Wärmelehre, Akustik und Optik. 11. Bd.: Magnetismus und Elektrizität. S. 678. Die Ent-
stehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl.
S. 678. Deane, Fijian Society. S. 679. Fr. Rinne, Gesteinskunde. S. 680. Lichtenbergs Briefe an Johann Frie-
drich Blumenbach. S. 6S0. — Literatur : Liste. S. 680.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Fätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m, b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Heue Folge 20. Band;
der gansen Reibe 36. Band.
Sonntag, den 27. November 1921.
Nummer 48.
Neue Ansichten vom Entstehen des Erdbildes.
Von Prof. Dr. Edw. Hennig.
[Nachdruck verboten.]
Mit 5 Abbildungen.
Hypothesen sind die F"ühlhörner der Erkennt-
nis. Von jedem der Wissenschaft gewonnenen
Felde werden sie alsbald wieder fragend vorge-
streckt ins Nebelhafte, ins Dunkle. Ungerecht ist
es, sie mit der Erkenntnis selber vergleichen,
ihnen demgegenüber eine niedere Rangordnung
zuweisen zu wollen. Ihre Funktion ist völlig
verschieden. Sie sind die Pioniere, können sein
das eigentlich Schöpferische der Wissenschaft, in-
dem sie intuitiv den Weg erhellen, damit jene
ihn beschreiten, den Besitz sichern kann. Auch
ist es den Hypothesen nicht zur Last zu legen,
wenn das Bild, das sie erstmals skizzierten, wesent-
lich abgeändert werden muß, ehe es in den
eisernen Bestand der Wissenschaft übergeht. Das
ist natürlich kein Freibrief für das Ersinnen von
Hypothesen. Leichtsinn ist wahrlich nicht am
Platze, wo es gilt der Erkenntnis neue Bahnen zu
eröffnen.
Wert und Unwert einer Hypothese kann viel-
leicht nicht klarer erfaßt werden, als wenn eine
zweite gleichzeitig in ganz anderer Richtung vor-
zudringen sucht. Alsdann ist gegenseitige Ab-
wägung und Kontrolle der vorgebrachten Beweis-
gründe möglich, ist die Gefahr einseitiger sug-
gestiver Beeinflussung durch Darstellungskunst
und anderes entsprechend gemindert.
In dieser Lage befindet sich zurzeit die Geo-
logie oder auch die Erdkunde im weiteren Sinne.
Ihr Tatsachenbestand, das Oberflächenbild des
Erdplaneten ist seit langen Zeiten ein heiß um-
strittenes Problem. Die Geologie hat die Daten
zusammengetragen, die von der Entstehungsge-
schichte zeugen. Aber wie große Gebiete harren
noch tieferer Durchforschung, wie gewaltige Teile
sind uns völlig unzugänglich 1 Meereswasser, Eis
und Schnee, wie auch Vegetation verdecken das
weitaus Meiste vollkommen. So fußen wir bei
aller fleißigen Arbeit von Generationen noch im-
mer auf Stichproben. Je geringer aber das tat-
sächliche Wissen, um so freier das Feld für die
such ende Tastarbeit der Hypothesen , je dring-
licher fast das Bedürfnis, das Bekannte zu einem
einheitlichen Vorstellungsbilde wenn auch von be-
wußt vorläufiger Natur zusammen zu ordnen.
Eigenartig und auffallend ist die Zusammen-
drängung der Festländer auf der Nordhalbkugel.
Schon rein theoretisch „des Gleichgewichts wegen"
wurde daraus frühzeitig das Vorhandensein eines
großen Südkontinents gefordert, als noch die
Schiffahrt in die antarktischen Regionen vorzu-
dringen nicht in der Lage war; Cooks zweite
Weltumseglungsfahrt stellte sich seine Auffindung
zur Aufgabe und ergab, daß er mindestens im
gedachten Umfange nicht bestand. Hinzu kommt
die Zuspitzung der Erdteile gegen Süden. Die
geistvolle Tetraedertheo»ie Lowthar Greens
l<nüpft hier an: danach wären Antarktis, Nord-
amerika, Asien, Europa die 4 Ecken eines Tetraeders,
dessen Kanten nach Süden hin unter dem Meeres-
wasser sich ausspitzend verschwinden ebenso wie
die Flächen des Tetraeders unter der kugeligen
Wasserhülle verborgen lägen. Die Erde habe da-
mit große Oberfläche bei kleinem Rauminhalt.
Zu denken ist ferner an die längstbekannte
weitgehende Parallelität der Küsten im Westen
Afrikas und im Osten Südamerikas. Die Schwere-
messungen in Gebirgen und Niederungen, auf
Kontinenten und Ozeanen ergaben unerwartete
Gesetzmäßigkeiten. Die große Narbe im Antlitz
der Erde, die syrischostafrikanische Grabenbruch-
zone, sowie der Verlauf und das Vorhandensein
der beiden großen geophysikalisch eigenartigen
Zonen rings um den Pazifik und quer durchs
südliche Asien-Europa mit ihren Abweichungen
in Geschichte und Zustand, in Sedimentation,
Mächtigkeit und Fazies, in Gebirgsbewegung,
Vulkanismus und Erdbeben verlangen gebieterisch
eine Deutung ihres Wesens. Die Tiefseeforschung
und Ozeanographie hat weitere Rätsel aufgegeben.
Der Zustand der Wissenschaft näherte sich in
alledem mit fortschreitender Kenntnis des Tat-
sachenbestandes geradezu der Ratlosigkeit, wie
es ja zu ihren vornehmsten Aufgaben zu zählen
ist neue Problemstellungen aufzudecken.
Hier mußten die Versuche einsetzen, eine einst-
weilen befriedigende Lösung zu finden. Es ist
höchst bemerkenswert zu beobachten, mit welcher
Gier gradezu die Wissenschaft sich darauf stürzte.
Schon ein Strohhalm konnte als Rettung aus
selbstgeschaffener Not empfunden werden.
Zwei Wege wurden seit langem vorsichtig
abgetastet und erkundet: Steht das Antlitz, das
uns die Erde zeigt, in seinen Haupt- und Grund-
zügen seit langem, vielleicht seit Anfang fest und
hat es nur weniger wesentliche Variationen im Laufe
der Zeiten erfahren ? Oder sind Land und Wasser
in ruhelosem, ja kaum gesetzmäßigem Wandel
begriffen und in ihrer heutigen Begrenzung nur
ein flüchtiges, nie vordem so gewesenes und nie
wiederkehrendes Bild ? Welches sind im letzteren
Falle die unabsehbaren Wandlungen, die zum
Heute geführt haben und unfehlbar darüber hinaus
führen müssen ?
682
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
Die übliche Fassung der Frage lautet: Sind
Erdteile und Ozeane konstant oder nicht? Eine
Fülle von Beiträgen zu ihrer Beantwortung ist
von beiden Seiten herangeschleppt worden. Kein
noch so sicher aufretendes Ergebnis war eindeutig.
Das Fragezeichen steht noch immer 1
Nun sind auf deutschem Boden zwei neue
Antworten erwachsen. Wieder bewegen sie sich
in den beiden entgegengesetzten Richtungen. So
sind sie also miteinander unvereinbar, ergänzen
aber einander, indem die Argumente jedes Ver-
suchs zugleich die Einwände gegen den anderen
liefern.
Im Kriegsjahre 191 5 legte Wegener^) erst-
malig seine Ansichten über das Werden des der-
zeitigen Erdbildes aus ganz andersartigen früheren
Zuständen dar. Er fand Widerspruch, aber auch
viel Zustimmung, allerseits jedenfalls auffällig
starke Beachtung. 1920 erschien eine neue Auf-
lage -) der Theorie. Die gemachten Einwände
sind dabei berücksichtigt, neue Stützpfeiler aufge-
führt. Die Sicherheit des Auftretens, die Sieges-
gewißheit erscheinen noch gesteigert.
Fast zugleich aber erfolgt nun der Vorstoß
der Gegenseite: Vom Studium des Alpenkörpers
ausgehend, gelangt Kob er ^j wie dereinst Eduard
Sueß zu erdumspannenden Folgerungen. Hier
erscheinen die Kerne der heutigen Erdteile und
ihre Lagebeziehungen als uraltes Erbteil der Erd-
oberfläche. Sie sind der ruhende Pol in der Er-
scheinungen Flucht.
Schon- in den Titeln kommt die voneinander
völlig abweichende Grundstimmung beider Ar-
beiten — dort gestaltend, hier vorwaltend kon-
servativ — zur vollen Geltung.
Seltsam, höchst seltsam, wie der Stand unserer
Kenntnisse so grundverschiedene Ansichten neben-
einander aufkommen und bestehen lassen kann,
die einander gegenseitig geradezu aufzuheben
drohen 1 *)
Der Grundgedanke Kobers ist, daß die
Schrumpfung des Erdballs in erster Linie die
Meeresteile betroffen habe, so daß alte Fest-
landsmassen allmählich einander näher
') Alfred Wegener, Die Entstehung der Kontinente
und der Ozeaue. Nr. 23 der Sammlung „Die Wissenschaft".
Vieweg, Braunschweig IQIS'
-) Dgl. völlig umgearbeitete und wesentlich vermehrte
zweite Auflage. Ebenda Bd. 66, 1920. (X35 S., 33 Abb.).
12 M.
ä) Leopold Kober, Der Bau der Erde. Born träger
Berlin 1921. (324 S., 46 Abb., I Tafel.) 96 M.
*) Eine eigenartige und höchst interessante Mittelstellung
nimmt Kol3mat (Die mediterranen Kettengebirge in ihrer
Beziehung zum Gleichgewichtszustande der Erdrinde. Abh.
math.-phys. Kl. sächs. Ak. Wissensch. Bd. 38, Nr. II, S I — 62,
1921) ein. Die Gleitbewegungen der Erdkruste und den
Widerspruch gegen die Kontraktionslehre übernimmt er von
Wegen er, dessen Ansichten über die frühere Lage der
Kontinente und die Fortsetzung des amerikanischen Gebirgs-
stumpfs im westlichen Europa (s. die sehr instruktive Karten-
skizze auf S. 30) er mit ausgezeichneten Gründen ablehnt.
Die Anschauungen über das Herauswachsen der Kettengebirge
aus den Geosynklinalen führen ihn dagegen stark an Kobers
Seite.
gerückt wären und die Zwischenzonen gleich-
sam ausgepreßt hätten. Dabei wären die großen
Faltenketten der Erde nach beiden Seiten aus
den Senkungströgen herausgequollen und auf die
sie unterschiebenden Festländer gewissermaßen
hinaufgekrochen. Nicht alle derartigen Auf-
pressungszonen seien z. Z. über dem JVIeeres-
spiegel erhaben. Beispielsweise stelle der bekannte
südatlantische Längsrücken eine submarine Er-
scheinung dieser Art dar. Afrika und Südamerika
sollen in diesem Falle die Pressung ausüben.
Bei Wegener aber sind diese beiden Land-
massen Teile einer einst einheitlichen und hätten
sich nach Zerreißung durch Auseinander-
bewegung voneinander getrennt. Einig
sind somit beide Autoren nur in der Ablehnung
einstiger verbindender Ländermassen, die nach
landläufiger Vor- oder wenigstens Darstellung
heut im Atlantik versunken wären. In allem
anderen aber sind die Gegensätzlichkeiten völlig
unvereinbar.
Für das psychologische Verständnis beider
Versuche ist es von großer Bedeutung, zu sehen,
wie eine anders geartete Einstellung wissenschaft-
licher Betrachtungsweise und verschiedene Aus-
gangspunkte zwei so völlig voneinander ab-
weichende Suchrichtungen hervorrufen konnten.
Kober als Geologe wurzelt in Anschauungen,
die ihm die Erforschung des inneren Baus des
Alpenkörpers (besonders der Ostalpen) vermittelt
hat. Ihm widmet er längere einführende Betrach-
tungen, um von gesicherterer Basis auszugehen.
Dort gefundenen Gesetzmäßigkeiten folgt er dann
über die ganze Erde hin.
Wegener, der Geograph, ist durch morpho-
logische Züge des Erdantlitzes zu seinen Unter-
suchungen veranlaßt worden: Die eigenartigen
Beziehungen zwischen der Westküste Afrikas und
der Ostküste Südamerikas ließen intuitiv den Ge-
danken aufkommen, sie hätten einst aneinander
gelegen, die Erdkruste sei nicht durch eine ver-
sunkene Atlantis unterbrochen, sondern einfach
zerrissen (S. 1 2). Auch hierfür werden nun Parallel-
beispiele gesucht und — gefunden. IVlit großem
Eifer und vielseitiger Umschau wird eine wahre
Fülle von Stützargumenten aus Geophysik, histo-
rischer Geologie, physischer und Biogeographie
herbeigebracht.
Wie an ein Kristallzentrum gliedern sich
wesensverwandte Erfahrungen und Anschauungen
fast spielend von allen Seiten an. Was aber nicht
hineinpaßt, wird abgelehnt, wenn nicht übersehen.
Wenn Wegener die Kontraktionstheorie als
längst überwunden behandelt, so sieht sich Ko-
ber wieder ganz und gar auf deren Bahn ge-
drängt. Man wählt gewissermaßen die Stellung-
nahme zu Einzelproblemen, statt sachlich dazu
gezwungen zu werden.
Die Form der Erfahrung wird bei beiden
Autoren gleichsam von Haus aus mitgebracht,
ergibt sich keineswegs erst aus denuGesamtinhalt.
Mehr oder weniger wurzelt ja letzten Endes jede
N. F. XX. Nr. 48
Naturwisaenschaftüche Wochenschrift.
685
wissenschaftliche Einstellung in der Persönlichkeit
und, was damit zusammenhängt, in der Zeit-
strömung. Wo aber der Spielraum so entgegen-
gesetzte Bewegungen zuläßt, ist die Bindung durch
wissenschaftlichen Tatsachenbestand offenbar noch
bedrohlich gering und entsprechende Vorsicht
angebracht.
Wegener läßt (es gibt keinen treffenderen,
das Subjektive widerspiegelnden Ausdruck!), um
eine Verschiebung der Kontinentalmassen über
gewaltige Strecken der Erdoberfläche hin über-
haupt begreiflich zu machen, die „Festländer"
auf einer plastischeren Unterlage schwimmen.
Der Sueßsche Unterschied zwischen den leich-
teren obersten „Sial" ') Massen (mit vorwiegendem
Silicium und Aluminium) und dem schwereren
„Sima" (Hauplkomponenten Silicium und Magne-
sium) des äußeren Gesteinsmantels (Lithosphäre)
des Erdkörpers muß ihm dazu die Voraussetzung
liefern. Nur wird dabei wieder einmal eine prak-
tisch-begriffliche Grenzführung in die Natur hin-
einprojiziert. Während man im allgemeinen wohl
gewöhnt ist den Übergang in Zusammensetzung,
Dichte und damit spezifischem Gewicht aus einer
Zone in die andere ganz allmählich vorzustellen,
werden bei Wegener scharf getrennte Massen
daraus. Die Kontinentalschollen aus Sial „schwim-
men", gleiten, bewegen sich auf bzw. in dem
simischen Untergrunde wie ein Eisberg im Wasser.
Demnach bestünde auch der tiefere Meeresboden
der Ozeane bereits aus Simamaterial, ^) die Sial-
decke wäre also keineswegs allgemein. Recht
großzügig und treffend ist die Auffassung der
gesamten, im Durchschnitt etwa 2,4 km starken
Sedimenthülle als „oberflächliche Verwitterungs-
schicht" der ca. 100 km tief hinabreichenden
Kontinentalblöcke.
Tams^) hat neuerdings den Anregungen
Wegeners folgend die Geschwindigkeit solcher
Erdbebenwellen, deren Bahn vorwiegend der
Meeresboden abgegeben hat, daraufhin geprüft,
ob sie der vermuteten höheren Dichte entsprechend
größer ist als innerhalb der Kontinente. Sein
Ergebnis, wenn auch noch nicht eindeutig und
endgültig, fiel im ganzen im Sinne der Wegener-
sehen Voraussetzung aus. Wegener selbst
glaubt aus vielen anderen Tatsachen und Lehr-
meinungen weiteren Nutzen für seine Behauptung
zu gewinnen. Ohne hier näher darauf einzugehen,
muß nun doch aber wohl die Frage aller Fragen
an ihn gestellt werden: wie geht das Aufreißen
und Auseinandertreiben der Kontinentalschollen
vor sich, wie und unter welchen Vorbedingungen
kommt es dazu?
') So Wegener nach Pfeffers Vorgang mit vollem
Recht an Stelle des Sueßschen leicht mißzuverstehenden
terminus ,,Sal".
*) Das Sima ist bei Sue8 die tiefere Zone der Litho-
sphäre oder Gesteinshülle der Erde. Erst unter ihm beginnt
der Kern oder die Barysphäre. Die Zuteilung des Sima zur
letzteren bei Wegener ist irrig.
') Zentralbl. f. Min., Geol., Paläontol. 1921 , S. 44 — 52,
75-83-
In dieser Beziehung aber geht der Leser bei-
nahe völlig leer aus. Nur ganz nebenbei wird
auf kaum 2 Seiten gegen den Schluß hin auch
von den Ursachen der angenommenen Bewegungen
gesprochen, nachdem wir auf S. 58 kurz und
bündig „durch irgendwelche Kräfte" bei den
ersten Aufspaltungen der Erdkruste abgespeist
wurden 1 Die Rotation der Erde soll ganz ähn-
lich, wie es die Meeresströmungen zeigen, eine
westliche Richtung der Schollenverschiebungen,
also ein Zurückbleiben hinter der Kugelfläche
selbst bedingen, sei es, daß eine äquatorwärts
gerichtete Bewegung, eine „Polflucht", in solche
Westrichtung abgelenkt wird, sei es, daß Sonne
und Mond in ihrer nachgewiesenen Einwirkung
auch auf die „feste" Erde eine Gezeitenwelle
hervorrufen, deren Reibung die schwimmenden
Sialmassen unmittelbar zurückhält.
Solche Anschauungen erscheinen doch reich-
lich primitiv, völlig unannehmbar, vor allem aber
mit den sonstigen Vorstellungen des Verf.s gänz-
lich unvereinbar. Denn die Westwärtsbewegung
der Kontinente wird verantwortlich gemacht für
die Gebirgsaufstauungen an ihrer Stirn, also z. B.
die westamerikanischen Anden und Kordilleren.
Abb. I. Das nordatlantische Gebiet zur großen
Eiszeit (nach A. Wegener „Die Wissenschaft" Bd. 66,
S. loi, Fig. 31).
Das heißt doch aber, daß in diesen Kettengebirgen
geradezu unfaßbare Widerstände überwunden
wurden. Wer sich je die Mühe gegeben hat, sich
die bei der Gebirgsfaltung wirksamen Riesen-
kräfte vor Augen zu führen, wird den Gedanken,
sie in einer Rotationsströmung zu suchen , nicht
einen Augenblick auch nur diskutieren können.
Und ferner: unsere jungen Kettengebirge sind
tertiären Alters. Sind etwa all die Kräfte, von
denen die Rede ist, in den unsagbar langen Zeiten
vor dem Tertiär nicht vorhanden oder wirksam
gewesen ? Warum in aller Welt hat sich Süd-
amerika von Afrika erst im Tertiär, Nordamerika
von Europa gar erst im Verlaufe oder am Ende
des Diluviums losgelöst und seine Wanderung
684
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 4ii
begonnen, also geologisch gesprochen nahezu
erst in der Gegenwart? Und hat denn die Fal-
tung der nordamerikanischen Gebirgsketten nicht
ebenfalls schon im Tertiär eingesetzt, dann also
schon vor der Losreißung und ohne Zusammen-
hang mit der vermeintlichen Ursache ? In alledem
wird schmerzlich geologische Durcharbeitung ver-
mißt.
Die bekannte geologische Fortsetzung des
westamerikanischen Gebirgszuges sind auf der
anderen Seite des Pazifik die ostasiatischen Insel-
girlanden. Bei Wegen er sind sie ganz anderen
Ursprungs, da ja jene „Erklärung" hier füglich
versagen muß. Vom Übergang aus einem Typ
in den anderen erfahren wir freilich nichts. Sie
sollen ähnlich wie das ganz anders geartete Mada-
gaskar im „Rücken" Afrikas an der Ostküste des
wandernden asiatischen Blocks „im Sima stecken"
bleiben, über das die großen Landkomplexe so
ungeheuer leicht hinweggleiten sollten. Also
kommen zu dem vorhingenannten Widerstände
innerhalb der Sialkruste doch nicht ganz unbe-
trächtliche im Untergrunde immerhin noch hinzu 1
Ein „Offenbar" kann solche Gedankengänge kaum
schmackhafter machen. Auch tut es anscheinend
nicht viel zur Sache, daß bestimmte Inseln und
Halbinseln dem relativ zu ihrer Masse stärkeren
Widerstand des Sima nicht zu begegnen wissen,
während andere wie „die Azoren, Kanaren und
Kapverden vergleichbar mit Kalbeisstücken vor
einem schwimmenden Eisberge" fröhlich voran-
eilen; denn nicht von Südamerika sondern von
Eurafrika sollen sie „getrennt" worden sein.
Weiter: neben der Umrandung des Pazifik
wurde ja im Tertiär auch die zweite große Falten-
gebirgszone, das südliche Eurasien, in vorwiegend
ostwestlicher Erstreckung aufgetürmt. Abermals
muß eine neue Erklärung dienstbar sein. Denn
nun brauchen wir eine meridionale Schubkraft.
Daß das höchste Gebirge, der Himalaya, mit der
größten Festlandsmasse Asien in Verbindung
steht, wird mit Genugtuung festgestellt. Schließ-
lich aber ist es gar nicht der nördliche vorge-
lagerte Komplex, sondern das von Süden heran-
gerückte Indien, das den Zusammenschub be-
wirkt haben solll Ja „wahrscheinlich nahm das
ganze östliche Asien über Tibet und die Mongo-
lei hinweg bis zum Baikalsee und vielleicht so-
gar bis zur Beringstraße an diesem Zusammen-
schub teil", war also nicht Subjekt, sondern Objekt
bei dem ungeheuren Prozeß. Dessen Kraftquelle
wird dadurch nicht eben einleuchtender, ja der
Vorgang selbst stünde den mit Amerika ge-
machten vermeintlichen Erfahrungen verbindungs-
los gegenüber.
Das Ganze ist eine der mannigfachen ge-
schickten Anpassungen der Hypothese an ge-
wisse geologische Forderungen, in diesem Falle
an das Problem einstiger Zusammenhänge zwischen
Afrika und Indien über Madagaskar. Die innere
Kraft der Hypothese gewinnt durch den proteus-
artigen Wandel indessen gewiß nicht. Woher
aber die Süd-Nord-Bewegung im vorliegenden
Falle ? Eine Polflucht, die über den Äquator hin-
weg zum Gegenpol mit so ungestümer Gewalt
drängte? Nein, es ist „nur" nötig den tertiären
Äquator eben entsprechend in den Faltengürtel
selbst zu verlegen und in der Gegenwart dem
asiatischen Block die stärkere Polfluchttendenz
zuzuschreiben als Indien 1
Der alpine Faltenzug Südeuropas wird hier
nicht eingehender behandelt. Und doch kann
gerade dieser eingehender studierte Faltengürtel
uns darüber belehren, einmal daß die Faltung
selbst zwar im Tertiär ihr Maximum erfuhr, in
embryonalen Anfangen aber bis in den Ausgang
des Paläozoikums zurückzuverfolgen ist, wo sie
die nördlichere Faltung des Karbons ablöst, bzw.
aus ihr hervorwächst; zweitens aber, daß die
Faltung und spätere Hebung keineswegs die
Eigenart der Zone erschöpfen: vielmehr haben
wir es mit einem besonders labilen Teile der Erd-
oberfläche zu tun, der sich in Mächtigkeit, Ge-
steinsausbildung, Faunenführung der Schichten
und vielen anderen durch lange Zeiten hin aus-
zeichnet und geologisch vor allem Senkungs-
trog nicht Hebungszone ist! Das alles dürfte
sich schwerlich aus W e g e n e r sehen Anschauungen
heraus erklären, ja kaum mit ihnen in Einklang
bringen lassen. Für das mitteleuropäische Karbon-
gebirge und seine Fortsetzung in den Appalachen
Nordamerikas wird entsprechend abermals Lage
im damaligen Äquatorialgebiete vorausgesetzt. Die
Polflucht ist also anscheinend ganz wesentlich
früher wirksam als die Ost- West-Bewegungen ?
Pol- und damit Äquatorverlagerungen in geo-
logischer Vorzeit gehören seit langem zum Rüst-
zeug geologischer, insbesondere paläoklimatischer
Vorstellungen und drängen sich als Arbeitshypo-
thesen in der Tat immer wieder auf, sollen auch
in ihrer theoretischen Möglichkeit unbestritten
bleiben. Für die spielende Leichtigkeit aber, mit
der W e g e n e r sich dieser Denkrichtung bedient,
ist die Behandlung der Trias und des Perms
(S. 113) ein bedenkliches Beispiel. Deutschland
weist wüstenhaftes Klima auf. Das genügt schon
fast, um den Äquator aufzufinden. Es verschlägt
nichts, daß die gleichen roten Sandsteine in fast
allen heutigen Kontinenten damals und meist für
bedeutend längere Perioden bekannt sind. Texas
und Ural haben sehr gleichartige permotriassische
Landfaunen, „die es wahrscheinlich machen, daß
diese beiden Gegenden — heute in 25 " Breiten-
unterschied gelegen 1 — damals in gleicher Breite
lagen". Südafrika als Dritter im Bunde bleibt
außer Betracht I „Wir brauchen also nach Heran-
schieben von Amerika nur die Mittelsenkrechte
auf der Verbindungslinie Ural — Texas zu errichten
und haben damit auch die Richtung des Nord-
pols." Bastal Das permokarbone Glazial Süd-
afrikas wird mit den ganz anders gelagerten
Klimaverhältnissen bei Ausgang des Perms zu
einem einheitlichen Bild verschmolzen.
Wenn übrigens die Hauptverschiebungen und
N. F. XX- Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
685
Zerreißungen erst im Tertiär stattfanden, so er-
hält man für den unendlich überwiegenden Zeit-
anteil der Erdgeschichte ein merkwürdig zusam-
mengeballtes Einheitsland aus allen heutigen
Kontinenten, dem im übrigen ein einziger Riesen-
ozean gegenübergestanden haben müßte. Die
sehr interessanten kartographischen Rekonstruk-
tionen Wegeners (die übrigens in den ver-
schiedenen Fassungen auch eine erstaunliche
Bildsamkeit verraten, vgl. Abb. 2 u. 3), zeigen
das ja in folgerichtigster Weise. Ein Ausgleich
findet allerdings durch Ausplätten der in Gebirgs-
faltungen sich kundtuenden Schrumpfungen der
verschiedenen Perioden statt. Nur werden damit
die bekannten geologischen Transgressionen fast
noch unbegreiflicher. Darüber hinaus muß aber
die Gesamtheit der Erdkruste auf ein gutes Drittel
der heutigen Mächtigkeit (30 km statt 100) aus-
gewalzt werden, um der Schwierigkeit zu ent-
gehen, daß das Sial nur sehr beschränkte ursprüng-
liche Verbreitung auf der Erdoberfläche gehabt
hätte. Es heißt ganz kategorisch und sehr ein-
fach sogar: „Zu irgendeiner Zeit hat die litho-
sphärische*) Haut den ganzen Erdball bedeckt"!
Die nötigen Zeugen sind in der Literatur schnell
zur Hand. Selbst dann bleibt aber für die Kar-
bonzeit ein Erdbild übrig, das bei solchem Aus-
gangspunkt in der Landzusammenballung fast als
Endstadium erscheint (Abb. 4). Die späteren
Zerreißungen bedeuten danach unstreitig eine
Lockerung, die mit den bis dahin anzunehmenden
Veränderungen der Tendenz nach im Widerstreit
steht. '^)
Es war hier nicht beabsichtigt, den Inhalt des
sehr vielseitigen und interessanten Büchleins
wiederzugeben. Auch soll keineswegs verschwiegen
oder geleugnet werden, daß der Verf auf viele
wunde Stellen geologisch - geographischer An-
') Gemeint ist wieder nicht die ganze Lithosphäre ein-
schliefllich des Sima, sondern nur das Sial.
^) Während der Drucklegung ging der Scbriftleitung zu
eine Schrift von Dr. N. Wing Easton: On some extensions
of Wegeners Hypotheses and their bearing upon the me-
aning of the terms Geosynclines and Isostasy (Verhandel.
geolog. mijnbomokund. genootschap voor Nederland en Ko-
lonien. Geol. ser. Teil V, S. 113—133- s'Gravenhage 1921).
Verf. wäre „überrascht, wenn irgend jemand leugnen
könnte, daß die geologischen Züge einfacher und vor allem
rationaler zu erklären wären, wenn das Festland nicht als
an seinem heutigen Platze gebildet vorgestellt würde, sondern
als zusammengesetzt aus einem Mosaik kleiner und
großer Teilstücke, die zu verschiedenen Zeiten hinzu-
getrieben kamen". Das ist ungefähr das Gegenteil der
Wegn ersehen Auflockerung, aber auf der gleichen Grund-
lage treibender oder gedrängter schwimmender Sial-SchoUen.
Die Ableitung des geologischen Baus aus der Karte und
Morphologie ist hier bis zur Verzerrung getrieben (das Ober-
rheintal als „noch sichtbare" Narbe derart verschmolzener
Einzelschollen ! I)
Die zweite Hauptthese behauptet, daß alle Sial-Schollen
von der Umgebung des Südpols nach der Nordhalbkugel ge-
schwommen seien. Die südlichen sind auf diesem Wege zu-
rückgeblieben, haben infolgedessen nicht alle die gleichen
Klimazonen gequert. Die biologischen und paläoklimatischen
Verhältnisse der Erde werden unter diesen neuen Gesichts-
punkten beleuchtet und „geklärt".
Man sieht, auch das Papier unserer Landkarten muß zu-
weilen Geduld beweisen. Auf den Inhalt der immerhin inter-
essanten Schrift kann in diesem Zusammenhange nicht einge-
gangen werden.
Abb. 3. Der voratlantische Kontinentalblock,
ältere Darstellung (nach A. Wegcner 1915).
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Abb. 3, Das atlantische Gebiet im Eozän (ohne Rücksicht
auf Wasserbedeckung) neue Darstellung
(nach A. Wegener „Die Wissenschaft" Bd. 66, S. 67, Fig. 24).
686
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
schauungen der Gegenwart den Finger legt,
manches Problem erst in seiner vollen Schärfe
herausarbeitet, überraschende Gesetzmäßigkeiten
aufzeigt. Alles das erforderte weit größeren Raum.
Worum es mir einzig zu tun war, ist der Hinweis,
daß aus dem Dilemma durch die Hypothesen
Wegeners nicht herausgeholfen wird, daß sie
uns vielmehr um eine schier unerträgliche Fülle
von Unbegreiflichkeiten bereichern, daß vor allem
die Methode der Darstellung der ungeheueren
Schwere aller der Probleme nicht gerecht wird.
So unendlich viel zu allen weiteren Ausführungen
des Verfs. zu sagen wäre, über die hier heraus-
gegrififenen Schwierigkeiten vermag ich nicht hin-
weg zu weiterer Diskussion zu gelangen. Auch
die neue, ausführlicher begründete P'assung der
eigenartigen Lehre verhilft mir persönlich nicht
zum Verständnis des unleugbar tiefen Eindrucks,
den sie in der wissenschaftlichen Literatur zu ver-
zeichnen gehabt hat. Ich erblicke in der so
starken Beachtung vielmehr einen Beweis von
ungewöhnlicher Hilf- und Ratlosigkeit gegenüber
den Sphinxrätseln, die uns die Erde in ver-
schwenderischer Fülle stellt.
Abb. 4. Lagebeziehung der Erdteile im Karbon
Wasserbedeckung) (nach A. Wegener „Die Wissenschaft'
Da kann es einem gesunden Gleichgewicht nur
dienlich sein, wenn ein gleich starker Impuls in ent-
gegengesetzter Richtung gleichzeitig wirkt. Schon
von Anbeginn an spricht Kober gleichsam eine
andere Sprache als Wegener, die eine Verstän-
digung auszuschließen scheint: „Wir haben gar
keinen Grund, für die Böden der Ozeane eine andere
Zusammensetzung anzunehmen. Die Erdrinde ist
einheitlich aufgebaut. Wo immer Ozeane empor-
gewölbt wurden , finden wir die Gesteine des
Sal." (S. 14/15). Ja eine geradezu entgegenge-
setzte Meinung findet sich angedeutet: Die sog.
Archäiden als Kern der Festlandsmassen „sind
zweifellos dichter, fester, starrer gebaut, bestehen
aus schwereren Gesteinen als die orogenetischen
Zonen, besonders die jungen, die lockerer gebaut
sind." Orogene aber sind die vielfach, ja meist
vom Ozean bedeckten, die Kontinentalschollen
umlaufenden und voneinander trennenden Gürtel,
die man sonst etwa Geosynklinalen nennt. In
ihnen „ist eine mächtige Schweresynklinale ent-
standen und die auf das Pendel wirkende simatische
Zone liegt vom Pendel weiter entfernt als unter
den starren Massen" (S. 277).
Ich unterstreiche gleich die weiteren Haupt-
gegensätze : „Die Konstanz der Ozeane ist zweifel-
los eine große und es kann für alle Ozeane bis
zu einem gewissen Grade angenommen werden,
daß die heutigen Ozeane eben wieder Geosyn-
klinalen sind auf dem Boden der älteren, die aber
ausgepreßt wurden. . . . Sie sind als Geosynkli-
nalen permanent, nicht direkt als Ozeane" (S. 298).
„Wie zur Zeit die Deszendenzlehre keine Hypo-
these , keine Theorie , sondern eben eine Lehre
ist, da alle Tatsachen für sie überzeugend sprechen,
so ist auch die Kontraktionslehre keine Hypo-
these, keine Theorie mehr, sondern eine auf festen
Tatsachen aufgebaute Lehre" (S. 9. Das trifft
doch nur für die in den Gebirgsfaltungen offen-
sichtliche Schrumpfung zu, nicht für die von Sueß
aufgestellte Kontraktionslehre !).
Wer ein großes Ziel verfolgt, kann nicht im-
mer rechts und links blicken, jedem Einwand zu
begegnen oder gar alle ein-
schlägige Literatur zu berück-
sichtigen versuchen, muß viel-
mehr unter Umständen zu-
nächst die Hindernisse durch-
stoßen, um sie nachträglich,
vom gewonnenen Standpunkte
aus, für die Nachkommenden
zu beseitigen. Mir liegen also
auch bei Kober kleinliche
Einwürfe fern. Bewunderns-
würdig erscheint vielmehr die
klare, ungemein knappe und
wuchtige Sprache, die Groß-
zügigkeit des ganzen Entwurfs
in hohem Maße anerkennens-
wert die Aufdeckung einiger
sehr wichtiger Gesetzmäßig-
keiten. Dennoch kann ich mich
auch in diesem Falle dem Eindruck nicht ver-
schließen, daß der Urheber der neuen Lehre sich
die Gedankengänge vielfach zu leicht gemacht hat.
Man kann über die biogeographischen Zu-
sammenhänge zwischen heut getrennten Erdteilen,
derentwegen so viele Kontinentalbrücken versuchs-
weise rekonstruiert worden sind, nicht einfach
achtlos vorbeigehen und den Paläontologen zu-
rufen: „Da sehet Ihr zu!'' Alles was Wegener
an Beweismitteln für seine Synthese gesammelt
hat, bedarf der Widerlegung, mindestens der Er-
wägung bei einer so völlig anderen Form zu
sehen.
Auch dürfen bekannte geologische Tatsachen
nicht einfach außer Betracht bleiben, wenn sie
unmittelbar widersprechen, bisherige Vorstellungen
nicht der Theorie zuliebe ohne alle Diskussion
geradeswegs in ihr Gegenteil umgewandelt werden.
Das allgemeine Gesetz des Erdbaus lautet bei
(ohne Rücksicht auf
" Bd. 66, Fig. 23).
N. F, XX. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
687
Kober (S. 248): „Es zeigt sich die Erscheinung,
daß die Kontinentalmassen von großen allge-
meinen Störungszonen ringförmig umgeben wer-
den. Die innersten Teile der Kontinentalmassen
haben relativ ruhigen Bau. Gegen den orogenen
Ring zu werden die Bewegungen allgemeiner und
heftiger." (Dabei braucht heute nicht mehr be-
tont zu werden, daß Europa geologisch unmög-
lich als eigener Kontinent bewertet werden kann,
sondern natürlich zur Randzone des größeren
asiatisch russischen gehört.)
Nun scheint aber geologisch - historisch die
Gliederung doch nicht ganz so eindeutig: Das
Mittelmeer als einen Restteil des heute durch die
Alpenhebung großenteils trockenliegenden größeren
Geosynklinalgebiets der Tethys anzusehen, haben
wir uns längst gewöhnt. Diese trennt Europa und
Afrika. Aber seit Anbeginn ? Im Perm und Bunt-
sandstein schließen sich die Küstenregionen des
heutigen westlichen Mittelmeeres mit bunten, vor-
wiegend roten Konglomeraten und Sandsteinen
durchaus der kontinentalen Fazies an. Freilich
zeigen auch Teile des Alpenkörpers selbst damals
entsprechende Züge, während im übrigen hier
eine marine Vertretung bekannt ist, das Sedi-
ment der sich bildenden Geosynklinale. Scharf
ist die Grenze im Muschelkalk: Durch Sardinien
und Korsika läuft die TrennungsUnie in NS-
Richtung (Tornquist): östlich davon herrscht al-
pine, westlich zwar auch marine, aber germanische
Binnenmeerfazies. Erst im Keuper bricht die
Geosynklinale hier nach Westen zum Antiantik
durch, um seither zum herrschenden Zug und zur
Schranke zwischen Europa und Afrika zu werden,
aus der der vorwiegend tertiäre Faltenzug der
Alpiden hervorwuchs. Zum mindesten ist also
das Bild, das Kober entwirft, seinerseits erst
allmählich und zwar keineswegs besonders früh
entstanden.
In einem Versuch, die wechselnden Umgren-
zungen des afrikanischen Landblocks in den ver-
schiedenen Formationen zu rekonstruieren, ^) ge-
langte ich dazu, die Verbindung eines eigenartigen
triassischen Vorläufers des diluvial-rezenten Kongo-
beckens mit dem Außenmeere entgegen den
heutigen hydrographischen Verhältnissen über
Abessynien nach Osten zu suchen. Kober
ändert meinen Kartenentwurf in dieser Beziehung
entscheidend um (S. 260) und zeichnet ein breites
Tor im Westen — aus keinem anderen Grunde,
als weil sich das Bild so seinen Voraussetzungen
besser anpaßt I Das ist unzulässig zu nennen.
Auch stimmt das Kartenbild schlechterdings
nicht zu der es einrahmenden Behauptung: „Je
weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen,
d. h. je weiter wir von der orogenen Phase in
die geosynklinale Phase des orogenen Rings zu-
rückgehen, desto geringer wird im allgemeinen
die Reichweite der Transgression". In Ostafrika
') E, Hennig, Zur Entwicklungsgeschichte des afrikani-
schen Kontinents. Petermanns Milt. Perthes-Gotha 1917.
verhält es sich ziemlich genau umgekehrt. Ein-
seitigkeit ist dem Pionier erlaubt, blind darf sie
auch ihn nicht machen! Eine „konzentrische An-
ordnung der großen tektonischen und morpho-
logischen Züge" des afrikanischen Kontinents, die
Kober so augenfällig erscheint, vermag ich auch
bei inniger Versenkung in solche Gedankengänge
weder aus dem geographischen noch geologischen
Kartenbilde herauszulesen.
Andererseits unterstreicht Kober durchaus
meine Bedenken gegen eine allzu hemmungslose
Verbindung Afrikas und Südamerikas über den
atlantischen Ozean hin für beliebig gewählte For-
mationen oder gar die ganze geologische Ver-
gangenheit. Diese Bedenken gelten noch verstärkt
gegen die Art, wie Wegen er sich jenen Zu-
sammenhang bis ins Tertiär hinein denkt. Ledig-
lich für das Senon oder Teile desselben und aus-
schließlich für die Nordwestecke Afrikas könnte
ich noch den Vorbehalt einer vorübergehenden
Verbindung gelten lassen und damit wäre für die
zoogeographischen Fragen so gut wie gar nichts
gewonnen. Sind doch schon für das Perm neuer-
dings nicht nur in Deutsch-Südwestafrika, sondern
auch für Südamerika Beweise einer trennenden
Meeresschranke im südlichen Atlantik gefunden
worden. Von Norden her macht sich das Jura-
meer bis zu den Kapverden bemerkbar, Möglich-
keiten, wenn auch einstweilen sehr vage , liegen
selbst für Innerkamerun vor. Von Süden läßt
sich seit Beginn der Mittelkreide die heutige
Küstenlinie bis in die Guineabucht hinein, schon
im Turon die volle Verbindung quer durch die
Sahara nach Nordafrika, also eine unbe-
schränkte Abtrennung gegen Westen
nachweisen. Im Alttertiär ist der mauretanische
Block im Nordwesten in ungefähr heutiger Um-
randung angeschweißt, Afrika, wie wir es kennen,
in den Hauptlinien fertig. Für das Wegener-
sche Weltbild ist da noch weniger Raum als für
dasjenige Kobers. Doch das nur als europanahe
gelegene Beispiele. Die Fülle der regionalen
Einzelfragen ist unabsehbar, die durch die beiden
Arbeiten angeregt worden sind.
An Kontinentalkernen unterscheidet man auf
der Kober sehen Karte Eurasien, Nordamerika
mit Grönland, Südamerika, Arabo- Afrika, Indo-
Australien, die Antarktis und endlich zwei hypo-
thetische im nördlichen und südlichen Pazifik
völlig versunkene Schollen, insgesamt 8, zwischen
denen nun in ziemlich gleicher Breite die Geo-
synklinal- oder Tropenzonen sich hinziehen. Letz-
tere entsprechen bei früher größerem Erdumfange
breiteren Meeresräumen. Indem die Kontinente
beim Schrumpfungsprozeß näher zusammenrücken,
wird aus jenen Zonen gelegentlich ein Gebirge
über den Meeresspiegel emporgepreßt und kann
so vorübergehend zwei benachbarte Erdteile
(„Kratogene") miteinander verschweißen. Das
wäre z. Z. der Fall zwischen Afrika und Europa,
zwischen Indien und Asien. Da selbstredend bei
solchen Bewegungen auch die Kontinente nicht
688
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
unberührt bleiben und die Wassermassen hin- und
hergedrängt werden, gehen, wie das schon Haug
in seiner Geosynklinaltheorie (Abb. 5) postuliert
hatte, mit dem Emportauchen in den Zwischen-
zonen Transgressionen auf den Kontinenten, zumal
in ihren Randzonen einher. So ist der größere
Teil Indoaustraliens z. Z. vom Indischen Ozean
bedeckt, die beiden auch schon von anderen (wenig-
stens als einheitliche Masse) vorausgesetzten pazi-
fischen Schollen machen sich gegenwärtig im Ober-
flächenbilde überhaupt nicht bemerkbar.
Wie in diesen letzten Fällen, werden auch
sonst recht bemerkenswerte Abwandlungen an
früheren Hypothesen vorgenommen. Für sehr
glücklich möchte ich beispielsweise die Verlegung
der den Ostrand Afrikas begleitenden Geosynkli-
nale aus der Straße von Mozambique weiter öst-
lich in die Fortsetzung des Omangebirges über
die Inselgruppen des Indischen Ozean hinweg
halten.
Abb. j_ Geosynklinalen des Mesozoikums (nach Ha
Ungleich bedeutsamer aber sind Nachweise
von Gesetzmäßigkeiten in den uns zugänglichen
und bekannten Regionen der Erdoberfläche. Allem
voran der Hinweis darauf, daß die Bewegungs-
richtung der Falten- und Überschiebungsmassen
in den Kettengebirgen jeweils aus den Geosyn-
klinalen fort nach beiden Seiten auf die ein-
zwängenden Kontinentalmassen hinauf zielt. Was
in den Alpen als Dinariden infolge der abweichen-
den Südrichtung seit langem ein ungelöster „Rest
zu tragen peinlich", eine nicht befriedigend ver-
standene Ausnahme war, wird in dieser Dar-
stellung zur Norm. Nur daß die beiden nach
außen gekehrten Bewegungsmassen nicht immer
so innig verschmolzen sind, sondern häufig weniger
intensiv gefaltete Zentralregionen zwischen sich
einschließen. Somit wäre der Himalaya nicht die
den Alpen, sondern den Dinariden entsprechende
Fortsetzung. Die K o b e r sehe Karte gibt hier
wahrhaft überraschende Aufklärungen und An-
regungen, die seiner Gesamtdarstellung in der Tat
ein festeres Postament liefern.
Ähnliches wird nämlich auch für die fossilen
Kettengebirge aufgewiesen, die sich also dem Ge-
samtbilde viel besser einfügen als das bei Wegen er
der Fall war. Der Gneißuntergrund erscheint ja
auf der ganzen Erde gefaltet. K o b e r spricht
von Archäiden, die präkambrisch gefaltet, dann
aber während der ganzen späteren Erdgeschichte
starr geblieben sind, also die Urkerne der Kon-
tinentalschollen geliefert haben. Alle jüngeren
Überdeckungen haben in flacher ungestörter Lage-
rung verharrt, allen späteren Bewegungen der
Erdkruste widerstanden.
Vielmehr haben sich nunmehr die jüngeren
Gebirgsfalten in der besprochenen Weise auf sie
zu bewegt, sind gleichsam randlich von allen
Seiten hinaufgequollen. Das gilt für die devo-
nischen „Kaledoniden" im äußersten Nordwesten
Europas für das varistische, „zentral-
europäische" Karbongebirge, den Ural
u. a. m. Alle diese paläozoischen
Systeme werden trotz der im einzelnen
nicht unbedeutenden Altersunterschiede
nicht mit Unrecht zu einer Einheit, den
„Paläoiden" zusammengefaßt. Zwi-
schen Archäiden und Paläoiden ver-
mitteln noch die sog. Proteroiden, wie
sie beispielsweise in Finnland und
Sibirien sich im jüngeren Präkambrium
noch abtrennen lassen.
Die Wirkung war, daß aus ersten
erstarrten Kernen durch Anschweißung
immer neuer, randlicher Gebirgsmassen
jene Kontinentalmassen erwuchsen, die
nun ihrerseits ersichtlich auf ein Zu-
sammenwachsen hinstreben. Ein groß-
zügig ■ einheitliches Bild vom Bau und
Werdegang des Erdganzen, das Be-
achtung verlangt. Aber in fast allem
das diametrale Gegenteil des Wegen er-
sehen Weltbildes I
Will man aus des letzteren Vorstellungskreis
ein Hauptargument gegen die Grundanschauungen
K o b e r s herauswählen, so wird es zunächst in dem
Einwand zu suchen sein, der gegen die Kontraktions-
theorie überhaupt sich immer stärker geltend ge-
macht hat: Die „Erdhaut" (Ampferer), das
schrumpfende Kugelgewölbe wäre theoretisch viel
zu schwach, um den vermeintlichen Kontraktions-
druck auch nur in Einzelteilen, alten Tafelmassen
Widerstand leisten zu können. Stellen wir aber
dennoch solche Widerstandsfähigkeit gegen seit-
liche Pressung für größere Erdteile fest — und
Cloos ist anscheinend auf dem besten Wege uns
die Einzelheiten des Verfestigungsprozesses empi-
risch zu enthüllen! — so wird sichwie vor allem
an Ampferers Gegenlehre zur Kontraktions-
theorie von Sueß auch noch manches recht
durchgreifend ändern müssen.
Daß grundlegende Neuerungen nicht im
N. F. XX. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
689
ersten Entwurf in allen Einzelheiten das Richtige
treffen können, ist nur selbstverständlich und
nimmt ihnen nichts von ihrem Verdienst um den
Ausbau unseres Wissens und Denkens. Es ist
nicht dem Schöpfer der Hypothesen zur Last zu
legen, wenn ihre Meinungen fälschHch und vor-
eilig als fester Ankergrund der Wissenschaft an-
gesehen werden. Zu zeigen, wie sehr wir in
all den hier berührten Fragen im Zustande des
Tastens, eines freilich erfreulich intensiven Suchens
stecken, war der Zweck der Ausführungen.
Einzelberichte.
Zur Bedeutung und Technik der Reinkultur
für die Systematik und Floristik der Algen
liefert F. v. Wettstein in der österr. Botan.
Zeitschr. 70, 1921, S. 23 — 29 einen kurzen Beitrag.
Bisher vorwiegend für ernährungsphysiologische
Versuche benutzt, wurde die Reinkultur erst durch
Chodat und seine Schüler für die Systematik
schwieriger Algengruppen eingeführt. Die Me-
thoden der Reinkultur sind besonders für die Be-
obachtung der Variationsweite und Entwicklungs-
geschichte einer Art usw. von großer Wichtigkeit.
Eine genügende Methodik muß nach Wettstein
folgenden drei Anforderungen entsprechen : „Sie
muß erstens durch Anreicherung gerade jener
selteneren oder leicht übersehbaren Arten uns auf
diese aufmerksam machen, und zweitens muß sie
jene Entwicklungsstadien, die nicht ohne weiteres
klassifizierbar sind, kontrollierbar in solche über-
führen , die eine Klassifizierung ermöglichen.
Drittens muß die Methode so ausgearbeitet wer-
den, daß mit ihr unter Umgehung der Fixierung
direkt am Standort gearbeitet werden kann und
daß doch relativ viele Formen beobachtet werden
können ohne die Apparatur ins Ungemessene zu
vergrößern." Für eine ganze Anzahl von Süß-
wasseralgen ist die Zuchtmöglichkeit bereits er-
wiesen. Am besten wurden die Schizophyceen,
Diatomeen, Desmidiaceen und Protococcaceen be-
arbeitet, während die Flagellaten und Chlamy-
domonadaceen nur ganz wenig oder gar nicht in
dieser Hinsicht untersucht wurden. Immerhin
wurden schon von Cryptomonas ovata schöne Rein-
kulturen — wenn auch noch nicht ganz von Bak-
terien frei — erhalten, auch Uroglena volvox.
Synura uvella u. a. konnten schon gut kultiviert
werden. Von Euglenen gedeihen Phacus und
Euglenaarten , besonders Euglena gracilis Klebs
am besten. Alle diese Formen lassen sich gut
auf Torfagar züchten. Chlamydomonaden ge-
deihen am besten in der sog. Ben ecke -Lösung,
welche zu Agar verarbeitet, auch gut für die
Volvocales verwendet werden kann. Ebenso ge-
deihen auch Euastrum, Micrasterias u. a. Desmi-
diaceen gut auf Torfagar. Der B e n e c k e - Agar
ist nach v. Wettstein ein ausgezeichneter Nähr-
boden zur Anreicherung von Schizophyten, Proto-
coccales und Tetrasporales. Große Diatomeen wie
Pinnularia u. a. wachsen auf dem Torfagar sehr
üppig. Die Kulturen werden in folgender Weise
hergestellt. Die Algen werden in sehr dünner
Schicht auf eine dünne Agarplatte gegossen, von
welcher nach ca. 10 — 15 Tagen entwickelte Kolo-
nien in Reagenzröhrchen mit demselben Agar
abgeimpft werden können. Ergibt sich selbst bei
dünner Aussaat keine genügende Reinheit, so ist
das Impfverfahren wie üblich zu wiederholen.
Diese Reinkulturen enthalten fast stets noch Bak-
terien, genügen jedoch dem Systematiker, der oft
schon die erste Plattenkultur wird verwenden
können. Bei Chlorella, Chlamydomonas, Scenedes-
mus u. a. führt nur diese Kulturmethode zu be-
friedigenden Resultaten. Die einzelnen Arten usw.
sind oft schon durch die Anordnung der Kolonien
in den Kulturen zu unterscheiden, solange diese
nicht zu schnell und üppig zugleich wachsen.
Für die Nährlösungen resp. Agarbereitung
werden folgende Vorschriften angegeben :
;ke-Lösung: NH^NOg
0,2 g
CaCI.,
0,1
KjHPO,
0,1
MgSO,
0,1
I "/o Lösung von Fe„C)g
I Tropfen
H3O dest.
1000 g
Summe der mineral. Bestandteile: 0,5 g od. 0,05 "/„
Diese Lösung kann nach Zusatz von 10 g sehr
gut ausgewaschenem Agar zum Gießen von Platten
verwendet werden. Als
2. Lösung wird empfohlen:
A.: (NH,)3P04
0,2 g
MgSO,
0,05
CaSO,
0,05
K.HPO,
0,05
I "/o Lösung von FeaCI«
I Tropfen
H^O dest.
1000 g
Summe der mineral. Substanz: 0,4 g oder 0,04 "/o
B. : 250 g Torf werden mehrere Stunden aus-
gekocht in 1000 g dest. Wasser, die dunkelbraune
Flüssigkeit filtriert und verdünnt bis eine hell-
braune Färbung erreicht ist. Darauf werden A
und B vermischt und ein i proz. Agar hergestellt.
Für größere Algen wie Micrasterias, Pinnularia
u. a. sind — obgleich die Gallerte kaum noch
erstarrt — Konzentrationen von 0,2 — 0,5 % ^"^
geeignetsten. Die Kulturen sind gutem Licht,
aber nicht direktem Sonnenlicht auszusetzen. Da
die Nährböden leicht transportabel sind, können
die Plattenaufgüsse bei Exkursionen gleich am
Standort vorgenommen werden, ein Verfahren,
das besonders für zarte Formen, welche selbst
690
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
bei sorgfältiger Fixierung + leiden, zu empfehlen
ist. Schließlich erwähnt der Verf., daß es ihm
gelang, selbst von schon in Fäulnis übergegange-
nem Material noch gute Kulturen zu erhalten und
verspricht weitere Mitteilungen über den Torfagar
und die mit ihm gesammelten Erfahrungen folgen
zu lassen. O. C. S.
Znr Kenntnis der Höhlenfanna.
Komarek^) berichtet über seine Studien an
^on dem verstorbenen Dr. A b s o 1 o n gesammelten
Karsthöhlen Trikladen. Genau beschreibt er das
Äußere und die Anatomie einer neuen Art und
Gattung, Geopaludicola absoloni, aus Zentral-
dalmatien, die landbewohnend, aber fast ganz von
der Organisation einer Süßwassertriklade ist, wes-
halb er sie als missing link bezeichnet : Paludi-
kolen -> Geopaludicola -> Rhynchodesmus ->
Geoplana. Fundort: Höhle Golubinka in 1200 m
Höhe, unter Steinen. Ferner drei neue und meh-
rere schon bekannte Süßwasserplanarien : Dendro-
coelum subterraneum nov. spec, blind und milch-
weiß, Sorocelopsis decemoculata nov. gen. nov.
spec, milchweiß und zehnäugig, und Planaria illy-
rica nov. spec. Letztere ist ein in Gesellschaft
subterraner Formen gefundenes Oberflächentier.
PI. montenegrina Mrazek, sonst Oberflächentier, ist
in der tiefen Höhle Golubnjaca in Zentral-
dalmatien bereits milchweiß und mit fast degene-
rierten Augen, PI. anophthalma Mrazek gleich-
falls weiß und blind, also wohl schon seit längerer
Zeit höhlenbewohnend. Letztere beiden sind
polypharyngische Rassen der Planaria alpina und
konnten, da diese und ihre südeuropäischen Rassen
als Glazialrelikt gelten, „erst nach dem Diluvium
die Karsthöhlen besiedeln" oder — einige Zeilen
später — „frühestens im Diluvium". -) Viel
später kann auch die höhlenangepaßte monte-
negrina nicht eingedrungen sein, da die Höhle
sehr tief, ohne Wasserkommunikation mit der
Oberfläche, und dieselbe Art an der Oberfläche
dort nicht vorkommt. Mit anderen Worten : Die
seit der Eiszeit verstrichene Zeit genügt zum
Augenverlust, etwas kürzere Zeit hat dafür nicht
hingereicht. — Das subterrane Leben hat bei den
Tieren allgemein auf die innere Körperorganisation
konservierende Wirkung und verursacht bloß
Adaptations- und Degenerationsänderungen, wie
Verlust der Flügel, des Pigments, der Augen,
Verlängerung der Antennen, der Beine.
Sorgfältige Kleinarbeit, wie diese, mit immer-
hin verhältnismäßig ansprechenden Ergebnissen,
ist die Höhlenfaunistik meist. Im folgenden aber
können noch Ergebnisse eines Schweizer Höhlen-
forschers mitgeteilt werden, die nicht wenig Über-
raschendes an sich haben.
Th. Delachaux') beschreibt eine neue. Art
aus der bisher lebend nur aus Australien, Tas-
manien, Prag (1880) und Basel (191 3) bekannten,
sonst paläozoischen Krebsgruppe der Syncarida
oder Anomostraca, die zwischen Ringel- und
eigentlichen Krebsen vermitteln durch den arthro-
strakenähnlich geringelten Körper mit 7 oder gar
8 freien Brustsegmenten ohne Schale, doch thora-
kostrakenartige spaltfüßige Brustbeine, einen
Schwanzfächer (Telson), Stielaugen und in der
Basis der i. Antenne liegende Statozysten. Das
von Chappuis und dem Verf. in der Grotte de
Ver zwischen Boudry und Champ - du-Moulin bei
Neuchätel gefundene I mm lange Tierchen gehört
zu der europäischen Gattung Bathynella, erwies
sich aber als eine andere Art als die von Chap-
puis bei Basel — wo der Fundort, ein Brunnen,
jetzt leider zerstört ist — gefundene Bathynella
natans; sie wurde Bathynella chappuisi benannt
und, wie ein Nachwort besagt, inzwischen von
Kuenzi auch 15 km entfernt von Bern ge-
funden, in einem planktonreichen Tagesgewässer
in einem einzigen, dorthin wohl aus unterirdischen
Höhlen verirrten Stück. Demnach trennt der
Schweizer Jura die beiden Arten, über deren
Unterschiede eine Tabelle am Schluß der genauen
äußeren und anatomischen Beschreibung Auf-
schluß gibt. Bathynella chappuisi hat von beiden,
wie Verf. meint, die primitiveren Charaktere; sie
hat gestreckteren Körper und Kopf, längere Beine,
Antennen, Borsten- und Kiemenanhänge, zahl-
reichere Borsten, gleichmäßigere Telsonborsten,
länglicheres Herz, weniger rückgebildetes Nerven-
system; weniger stark umgestaltet ist der als
Kopulationsorgan dienende achte Thorakelfuß.
An demselben Fundort fand der Verf. 191 9
ein noch merkwürdigeres Tier, -) einen kleinen,
0,5 mm langen blaßgelben Polychäten. Bisher
sind ja die Polychäten oder vielborstigen Ringel-
würmer ganz marin, außer ganz vereinzelten Süß-
wasserarten, wie ein Protodrilus, also ein sog.
Urannelide, noch nicht eigentlicher Borstenwurm,
vielmehr mit Larvencharakteren, auf Madeira, und
Halicryptus, ein Priapulide, also eigentlich nicht
mehr Ringelwurm, in der stark ausgesüßten russi-
schen Ostsee. Das neue Würmchen, Troglo-
chaetus beranecki, blind, mit riesigem Keulen-
fühler, hat nach der Abbildung offenbar die für
alle höheren Polychäten kennzeichnende Ver-
wachsung des Metastomiums mit dem ersten
Rumpfsegment, ebenso nach Abbildung und Be-
schreibung deren borstenbesetzte zweiästige Para-
podien (Beine), doch nur 7 Paar. Kiemen fehlen,
Nervensystem — außer dem durch den verkürzten
Körper ziemlich groß erscheinenden Gehirngang-
lion — anscheinend noch ganz in der Oberhaut
') Komarek, Über höhlenbewohnende Trikladen der
balkanischen Rarste. Archiv für Hydrobiologie Band XII,
1920, S. 822—828.
*) Aber wer weiß denn genau , wo Planaria alpina vor
der Eiszeit lebte? F.
')Th. Delachaux, Bathynella chappuisi nov. spec,
une nouvelle espece de crustace cavernicole. Bull, de la Soc.
neuchät. des scienc. natur. Bd. 44, 1919, S. 237 — 258.
") Th. Delachaux, Un Polychete d'eau douce caver-
nicole, Troglochaetum beranecki nov. gen. nov. spec. Bull,
de la Soc. neuchät. des scienc. Bd. 45, 1921, 7 S.
N. F. XX. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
691
gelegen, Darmkanal mit ventral liegendem Mund
beginnend, gestreckt, innen überall bewimpert;
Nephridien waren zunächst nicht auffindbar, doch
schreibt mir der Verf., daß er solche und zwar
ein Hauptpaar zwischen dem 1. und 2. Para-
podienpaar seither hat finden können, ebenso im
Kopf ein Paar Statozysten. Auf der unteren
Oberfläche ist auch der Kopf vom Vorderende
bis zum Mund und eine Stelle am ersten Bein-
paar bewimpert, und es erstreckt sich vom Mund
die ganze Bauchseite entlang eine bewimperte
Rinne. Das Würmchen mag am ehesten mit
Euniziden und Nereidiformes verwandt sein, er-
scheint aber — was bei Höhlentieren selten —
stark vereinfacht und mehr oder weniger larven-
artig, letzteres ist wohl nicht zum wenigsten auch
auf die äußere Bewimperung zu beziehen, die an
Larven und Protodrilus entfernt erinnert, während
sonst erwachsenen Anneliden Wimpern fehlen.
Phylogenetisch betrachtet, mag Troglochaetus eine
teils altertümliche, teils rückgebildete Form sein.
Schon Bathynella erscheint durch das hohe
Alter ihrer Familie und seine Zartheit, die kaum
eine Ansiedlung in erst später Zeit anzunehmen
gestattet, als ein dortiger bereits präglazialer
Höhlenbewohner, und Troglochaetus bestätigt
gleichfalls die Annahme der Existenz einer solchen
„präglazialen Höhlenfauna".
V. Franz, Jena.
Ein Botanischer Garten mit Naturscliutz-
gebiet.
Eine ganz neue Art von botanischen Gärten
ist kürzlich in Schweden entstanden. In Stora
Anggärden bei Göteborg ist nämlich unter Leitung
von Prof. Carl Skottsberg ein Garten ange-
legt worden, der mit einem Naturschutzge-
biet verbunden wurde. Da diese Kombination
in Europa die einzige ihrer Art ist, dürften einige
Angaben darüber erwünscht sein. (Vgl. C. S k 0 1 1 s -
berg: En ny botanisk trädgärd. Finsk Tidskrift.
Helsingfors 1920. — Ders. : Stora Änggärdens
naturpark i Göteborg. Sveriges Natur. Stock-
holm 1920.)
Schon 1912 wurde in Göteborg die Schaffung
eines botanischen Gartens angeregt, und im
folgenden Jahre wurden die nötigen Mittel hier-
zu bewilligt. Auf Ansuchen der Stadt wählte
Prof. R. Sernander aus Uppsala ein für die
Anlage geeignetes Gelände bei Stora Änggarden
in der südwestlichen Ecke der Stadt aus, und als
tatkräftiger Vertreter des Naturschutzes in Schweden
benutzte er die Gelegenheit, dort gleichzeitig die
ursprüngliche Natur zu retten, indem er die Stadt
veranlagte, in Verbindung mit dem botanischen
Garten ein Naturschutzgebiet unter wissenschaft-
licher Aufsicht einzurichten.
Der botanische Garten umfaßt insgesamt 37 ha
und ist von einer 2,3 m hohen Einfriedigung um-
geben. Das Gebiet ist landschaftlich schön und
abwechslungsreich; es hat Berge, Wälder und
Täler, und ein kleiner Bach windet sich hindurch.
Es ist ein Stück unberührter Natur, wo man, wie
Skottsberg sagt, nicht nur glaubt, in der
Wildnis zu sein, sondern wo man tatsächlich in
der Wildnis ist. Leider reicht der Garten nicht
bis zum Meer, weshalb die für die Westküste
Schwedens so bezeichnende Strandflora ausge-
schlossen ist. Diesem Mangel könnte aber abge-
holfen werden, wenn ein Teil der Insel Särö, der
schon früher als Naturschutzgebiet vorgeschlagen
wurde, tatsächlich geschützt würde. Im übrigen
ist das Gelände des Gartens so mannigfaltig, daß
eine große Anzahl verschiedener Pflanzengemein-
schaften dort Platz findet.
Das Naturschutzgebiet soll ein treues Natur-
und Landschaftsbild der Umgegend Göteborgs
bewahren, so wie sie früher war. Vor seiner Er-
öffnung war das Gebiet drei Jahre lang einge-
hegt und jedeTn der Zutritt verboten, was einen
günstigen Einfluß auf die Vegetation ausgeübt
hat. Dennoch ist die Natur leider nicht ganz
ursprünglich, da ja Menschen früher hier tätig
gewesen sind und sie beeinflußt haben.
Am 2. Mai 1919 öffnete dieser „Naturpark"
seine Pforten für das Publikum. Er ist geschützt
nach denselben Regeln wie andere Naturschutz-
gebiete Schwedens. Es ist der Bevölkerung der
Stadt erlaubt, dort zu wandern, aber nicht nach
Belieben, da sonst seine Eigenart dadurch beein-
trächtigt werden würde. Man hat deshalb ein
anderes System gewählt. Der Park ist von einer
großen Anzahl nur i bis 2 m breiter Wege durch-
kreuzt, die für das Publikum bestimmt sind. Man
hat sie mit Absicht ziemlich zahlreich angelegt,
damit sich den Besuchern Gelegenheit bietet, so
viele verschiedene Seiten wie möglich von der
Natur kennen zu lernen.
In der südöstlichen Ecke des Gartens wird
der eigentliche, künstlich geschaffene botanische
Garten seinen Platz finden. Da dieser Teil noch
nicht fertig ist, läßt sich nicht viel darüber sagen.
Man hat die Absicht, in diesem Teil nicht so
sehr die Pflanzensystematik herrschen zu lassen,
als vielmehr geographische und biologische Prin-
zipien zur Geltung zu bringen. Hierfür sind
natürlich Gewächshäuser notwendig, und es ist
auch das Bestreben des energischen Leiters des
Gartens, in Zukunft dafür Sorge zu tragen.
Welches ist nun der Zweck der Angliederung
eines Naturschutzgebietes an einen botanischen
Garten? Zuerst und vor allem, sagt Skotts-
berg, soll das Reservat eine geschützte Wildnis
der Großstadt sein, einjPlatz, wo die Bevölkerung
hingehen kann, um in der freien Natur Ruhe und
Frieden zu genießen. Weiter ist es von groi3er
Bedeutung für die Schulen, indem die Pflanzen-
besfände in der Natur vorgeführt werden können.
Schließlich hat der Naturpark eine große wissen-
schaftliche Bedeutung. Die Pflanzenbestände wer-
den aufgenommen, und durch Beobachtungen und
Untersuchungen in bestimmten Zwischenräumen
wird die Entwicklung verfolgt. Sobald ein Labora-
6g^2
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
torium eingerichtet ist, hat man die Kombination :
Wissenschaftliches Institut — Naturpark fertig,
und dann eröffnen sich große Möglichkeiten. In
demselben Sinne hat sich schon i9i4Prof. L. Diels,
der jetzige Direktor des Botanischen Gartens in
Berlin, in seinem Aufsatze über „Naturdenkmal-
pflege und wissenschaftliche Botanik" (Naturdenk-
mäler. Vorträge und Aufsätze, Bd. I, H. 6, Ber-
lin 1914, Gebrüder Borntraeger) geäußert, indem
er sagte : „In der Tat wird die botanische Wissen-
schaft auf die Dauer ohne derartige Einrichtungen
[d. h. Naturschutzgebiete] nicht auskommen. Zu
dem Herbarium, dem Garten und dem Labora-
torium muß das Naturschutzgebiet zugefügt wer-
den, als notwendiges Element des modernen bio-
logischen Forschungsapparates, als charakteristi-
sches Bedürfnis der jüngsten Periode in der bio-
logischen Forschung."
In Europa hat Schweden jetzt mit dem Garten
den Anfang gemacht. Er wäre schön, wenn
Deutschland ihm folgen könnte I
Greta Conwentz.
Die Bedeutnug der farbigen Ölkugeln
im Sauropsideuange.
Heß hatte gefunden, daß Schildkröten von
der Welt der Farben ungefähr so viel sehen wie
wir durch eine gelbrote Brille; Tagvögel sehen
wie durch hell orangefarbenes, Nachtvögel wie
durch viel heller gelbliches Glas, Eidechsen so
wie wir. Im Dunkelraum sehen also Hühner Reis-
körner im blauen und violetten Teil des Spek-
trums nicht. Hahn hat den Einwand erhoben,
sie hätten lediglich eine Abneiung gegen die
blauen und violetten Körner: nach Gewöhnung
an blaue Körner pickten sie solche nach Dunkel-
adaptation auch aus dem blauen Teil des Spek-
trums. Hiergegen erwähnt Henning,^) daß
bei Dunkeladaptation Farben überhaupt nicht mehr
als solche, sondern nur als Helligkeitsabstufungen
gesehen werden. Dies und die Zunahme der
Lichtempfindlichkeit bei Dunkeladaptation nebst
dem Purkinj eschen Phänomen der relativen
Helligkeitszunahme des kurzwelligen Spektrum-
teils beim Dämmerungssehen erkläre das Ver-
halten ganz im Sinne von Heß. Auch die Fest-
stellung Hahns, die Hühner unterschieden bei
Tageslicht graue von blauen Körnern, beweise
nicht, daß die letzteren als blau, sondern sie seien
als grau von den dem Vogel gelblich erscheinen-
den grauen unterschieden worden. In allen diesen
und weiteren Differenzpunkten steht also Hen-
ning ganz bei Heß. Damit erleidet auch die
Lehre von den Schmuckfarben einen argen Schlag :
wohl dürfe man noch von Schmuckfarben reden,
und manche Arten von Vögeln gewinnen durch
rötlichgelbe Filter hindurch an Farbenpracht , an-
dere aber verlieren ungeheuer viel durch Ver-
sinken von Violett und Blau in Grau.
Die Bedeutung der farbigen Ölkugeln
in denZapfen derNetzhaut von Vögeln
und Reptilien vermochte Heß nicht restlos
zu ergründen. Zweifellos sind es diese Ölkugeln,
welche jene Abweichungen des Farbenbereichs
gegenüber dem menschlichen bewirken, aber die
Erklärung, warum dies : daß nämlich „die Zapfen-
außenglieder durch die vorgelagerten Kugeln mög-
lichst von der Wirkung kurzwelligen Lichtes ge-
schützt werden sollten", schien Heß selber nicht
für alle Fälle ausreichend : nur ein Teil der Zapfen
hat Ölkugeln; die vorwiegend nächtlichen Schild-
kröten haben ihrer mehr als die Tagvögel, die
sommerlichen Eidechsen weniger als die Nacht-
vögel.
Henning weist nun darauf hin, daß die
langwelligen Strahlen besser als andere .durch
neblige oder dunstige Atmosphäre dringen: eine
Landschaft im Nebel, in der unser Blick nur
300 m weit vordringt, wird für uns auf etwa
2000 m weiter erkennbar, wenn wir rotes oder
rotgelbes Glas vor unser Auge halten; dunstige
Landschaften photographiert man mit Gelbfiltern.
Personen mit getrübten Augenmedien können
am besten im roten Licht lesen; morgens und
abends ist die beste Fernsicht trotz stärkeren
Bodennebels; und so fort.
„Diesem farbigen Ölfilter verdanken die Zug-
vögel es, daß sie von Italien selbst bei dunstigem
Wetter die afrikanische Küste sehen, mit dieser
Hilfe vollführt die Brieftaube jene weiten Flüge.
Ja die rotgelben Ölkugeln ermöglichen
es allen Tagvögeln überhaupt erst, sich in der Luft
zu orientieren und sich in dunstiger Atmo-
sphäre zurechtzufinden. Es bleibt kein Rätsel
mehr, daß der Bussard aus höchster Höhe die
Maus am Boden laufen sieht." — Versuche mit
Vögeln verschiedener Art belehrten den Verf, daß
diese stets auch dann unruhig und aufgeregt
wurden, wenn ihre Feinde — ■ Jagdfalke, Katze —
oder ihre Beutetiere — Mäuse — oder ihre Küken
ihnen in irgendeiner farbigen Beleuchtung gezeigt
wurden, ') aber nicht, wenn diese Objekte nur
blau oder violett beleuchtet — also unbeleuchtet
für den Prüfling waren, den ein Gitter oder eine
Glasscheibe davon trennte, während sein Käfig
sonst dunkel umschlossen war, mit kleiner Öffnung
zur unbemerkten Beobachtung. Ferner: einge-
schobener „künstlicher Nebel", wie verdünnte Milch
oder ähnliche Flüssigkeiten oder Staub, bewirkt,
daß die Vögel auch dann noch auf die Schreck-
oder Locktiere reagieren, wenn der Nebel so
dicht war, daß er für den Menschen als undurch-
sichtig gelten konnte. — In einem dunklen, mit
Schnüren durchzogenen Keller genügten geringe
rotgelbe oder orangefarbene Lichter, daß die
fliegenden Vögel nicht anstießen ; bei grüner oder
') Hans Henning, Optische Versuche an Vögeln und
Schildkröten über die Bedeutung der roten Ölkugeln im .\ugc.
Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol., Bd. 178, S. 91 — 123, 1920,
') Geruchswirkungen , Geräusche und Erschütterungen
wurden vermieden.
U. F. XX. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschriit.
693
grünblauer Belichtung waren ganz enorme Licht-
stärken nötig, Blau und Violett versagten ganz.
Die Fernsicht der Alpenkrähe (Pyrrhocorax
graculus) und Alpendohle (P. alpinus), sagt
Hennig weiter, im Nebel ist bekannt. Vier bis
fünf Beobachter bildeten eine Postenkette auf
naheliegenden Felsen eines Berggipfels im Nebel,
einer warf ein Stück Nahrung 3 bis 5 ni von
sich, wo er sie eben noch liegen sah, und sogleich
konnte der nächste und dritte Beobachter das
Nahen der Alpendohle melden, welche den Bissen
schon aus 15 m Entfernung, also aus doppelter
bis dreifacher wie der Mensch , gesehen hatte.
Brannte gleichzeitig rotes bengalisches Licht, so
sahen der Mensch und um so mehr der Vogel
viel weiter, nicht so bei grünem. Ähnliche Ver-
suche an Brieftauben mit farbigen Masken.
Anders als die Vögel, Krokodile, Schlangen
und Eidechsen sind Schildkröten auf eine Fern-
sicht angewiesen. Die lebenswichtigen Funktionen
aller Arten erfolgen im Licht der sich neigenden
Sonne, deren rotgelbes Licht durch ihre mit roten
Ölkugeln versehenen Augen am besten ausgenutzt
wird. Aus demselben Grunde sehen sie im
Wasser und in der Luft gleichgut. Verschiedene
den vorigen ähnliche Versuchsreihen mit mehreren
Schildkrötenarten, wie Sehprüfungen im Terrarium
mit Wasserdampf, lehrten dementsprechend, daß
die Schildkröte ^) gleichfalls den Menschen an Seh-
schärfe in Dunst und trüben Medien übertrifft.
Über den mutmaßlichenEntstehungs-
grund der Ölkugeln stellt Hennig schließ-
lich folgende Betrachtungen an. Zur Saurierzeit
herrschte dunstige und feuchte Treibhausluft mit
starkem Wasser- und Kohlensäuregehalt. Hier
mußte das Sauropsidenauge tiefrote Ölkugeln be-
sitzen. Nach der Eiszeit kam es zu deren Ent-
färbung — so bei Amphibien und Fischen —
oder zur Umfärbung in Gelbrot und zum Auf-
treten von Stäbchen mit Sehpurpur für das Däm-
merungssehen — Krokodile, Schlangen, Eidechsen,
Mensch, in geringem Ausmaß Tagvögel — oder
die reine Zapfennetzhaut der Schild-
kröten wurde durch Zusatz gelber Ölkugeln zu
einem orangefarbenen Filter. „Schildkröten, die
auch sonst die alte Art am ehesten bewahren,
besitzen eine Netzhaut, welche als ganze dem
gelben Fleck im menschlichen Auge gleicht; der
gelbe Fleck im menschlichen Auge dient derselben
Funktion wie die roten und gelben Ölkugeln im
Sauropsidenauge." -) V. Franz.
') Es werden 6 Arten genannt, der Bericht ist aber leider
nicht auf diese spezialisiert.
') Nach dieser Hypothese sollen wohl die Stäbchen —
oder nur der Sehpurpur? — erst ein neuerer Erwerb bei den
Wirbeltieren sein, was jedenfalls eine völlig neue Hypothese,
aber im Hinblick auf das verbreitete Vorkommen von Stäb-
chen bei Fischen einschließlich Haien und Tiefseefischcn (bei
diesen beiden ganz besonders I, Haie auch mit Sehpurpur)
kaum zuzugeben sein wird. Auch der Parallelismus zwischen
Akkomraodationsart und Farbensehen bei Reptilien (Henning
S. 121/122) scheint noch nicht streng bewiesen; der Hinweis
auf den Sklerotikalring von Archaeopteryx kann in diesem
Zusammenhange wohl gar nichts besagen, da ein solcher den
Ichthyosauriern und Vögeln allgemein zukommt. F.
Cheniotherapentische Leistung.
Beschäftigt sich die Chemotherapie mit der
Bekämpfung von Krankheitsursachen, speziell von
pathogenen Mikroorganismen, durch chemisch
wohldefinierte Körper, so ist ein bekanntes Cha-
rakteristikum eben dieser Körper ihre Spezifität,
d. h. ihre elektive Wirkung auf eine bestimmte
Spezies oder doch eine engumschriebene Gruppe
von Krankheitserregern. Sie treten dadurch in
einen prinzipiellen Gegensatz zu den allgemeinen
Desinfizientien und Antisepticis, welche in der
Regel allgemeine Protoplasmagifte darstellen (Subli-
mat, Alkohol, Kresole usw.). Als Beispiele spezi-
fisch wirkender Substanzen seien hingegen Chinin
auf Malariaplasmodien, Salvarsankörper auf Try-
panosomen und Spirochäten, die Morgenrot h-
schen Chininderivate (Optochin, Eucupin, Vucin)
auf gewisse pathogene Kokken genannt. Ganz
analog verhalten sich Angehörige gewisser Anilin-
farbstoffgruppen (Benzidine, Safranine, Acridinium-
farbstoffe).
Diese Tatsache einer „Klassenspezifität" che-
mischer Körper kann nur dahin gedeutet werden,
daß die dieser Klasse gemeinsame und dieselbe
chemisch charakterisierende Atomgruppierung, der
„Kern", über die chemotherapeutische Wirksam-
keit entscheidet, und zwar dadurch, daß ein Stoff,
einmal in eine Mikroorganismenzelle aufgenommen,
infolge des in ihm enthaltenen Kernes den che-
misch physikalischen Ablauf der Lebensvorgänge
der Zelle zu stören oder unmöglich zu machen
imstande ist. Hat man nun eine in bezug auf
einen bestimmten Mikroorganismus wirksame
Klasse chemischer Körper ermittelt und unter-
sucht die verschiedensten chemischen Individuen
dieser Klasse, die sich alle untereinander durch
Art und Stellung der an den Kern gebundenen
Seitenketten unterscheiden, so ergibt sich eine
erhebliche Verschiedenheit in der Wirkung bei
selbst kleinsten Verschiedenheiten in der Kon-
stitution. Wollen wir diese Unterschiede wiederum
als Spezifität der einzelnen Stoffe bezeichnen, so
würden wir ihr wohl den Namen „Seitenketten-
spezifität" geben. Über das Zustandekommen
der letzteren gibt nun Langer (Deutsch, med.
Wochenschr. 1920, S. 1015) auf Grund kolloid-
chemischer Untersuchungen an Acridiniumfarb-
stoffen Aufschluß. Ordnet man nämlich diese
Farbstoffe ohne Rücksicht auf die Art ihrer
Seitenketten lediglich nach dem Gesichtspunkte
ihrer Diffusionsfähigkeit in eine Reihe, so ergibt
sich die überraschende Tatsache, daß ihre Wukung
steigt mit bis zu einem gewissen Grade ab-
nehmender Dispersität. Die wirksamsten Re-
präsentanten stellen Semikolloide dar. Langer
interpretiert dies Ergebnis wie folgt: Damit ein
Farbstoff chemotherapeutisch wirken kann, ist
seine auf osmotischem Wege erfolgende Aufnahme
in die Bakterienzelle offenbar Grundbedingung.
Der Stoff muß also diffundibel sein. Anderer-
seits muß er aber in der Zelle eine Konzentrations-
schwelle überschreiten, damit er zur Wirkung
694
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
kommt, d. h. er muß in der Zelle gespeichert
werden. Je mehr er sich der kolloidalen Natur
nähert, um so speicherungsfähiger ist er aber,
um so geringer ist seine Rückdiffusion aus der
Zelle. Der Dispersitätsgrad eines Stoffes wird
nun durch Anwesenheit eines kolloidalen Mediums
vermindert; in unserem Falle verliert also der
Farbstoff im Zellplasma an Dispersität, er nähert
sich mehr dem kolloiden Zustande und er erreicht
diesen (und damit eine hohe Speicherungsfähig-
keit) um so rascher, je geringere Dispersität er
bereits als Kristalloid hatte. In einer Klasse wirk-
samer Körper werden also diejenigen das Maxi-
mum von Wirkung entfalten, welche ein Optimum
der beiden geforderten Eigenschaften, der Dif-
fusionsfähigkeit und des Speicherungsvermögens,
besitzen, d. h. welche Semikolloide sind.
Wir betrachteten bisher den Fall des Über-
gangs eines Stoffes aus wässeriger Lösung in die
Bakterienzelle, den Fall der „chemotherapeutischen
Antisepsis" (Morgen rot h). Es ist aber weiter-
hin besonders interessant, daß durch Langer
nunmehr auch längst bekannte Beobachtungen
einer Erklärung zugeführt werden, die sich bei
Anwendung chemotherapeutischer Stoffe zu „innerer
Desinfektion", d. h. zur Abtötung von Mikro-
organismen im lebenden Wirtstier unter Vermitt-
lung des Blutes, ergaben. Oder im Reagenzglas-
versuch bei Verwendung des Stoffes gelöst in
Blutplasma. Drei Klassen chemotherapeutisch
wirksamer Agentien lassen sich hierbei unter-
scheiden :
I. Ein Stoff A wirkt nicht oder nur wenig in
wässeriger Lösung, gelöst in Blutplasma steigt
seine Wirkung.
Erklärung : Es handelt sich um ein Kristalloid,
das in wässeriger Lösung zu dispers ist, als daß
es nach der Verdichtung in der Bakterienzelle
schon gespeichert werden könnte („Verdichtung"
hier nicht mechanisch, sondern einfach als Ver-
minderung der Diffusionsfähigkeit zu verstehen).
In Blutplasma erfährt es dagegen eine Dispersitäts-
verminderung bis zum optimalen Dispersitätsgrade
eines Semikolloides (Beispiel : Trypaflavin = 3,6 Di-
amino- lomeihylacridiniumchlorid). Diese Stoffe
eigen sich somit sehr für innere Desinfektion.
2. Ein Stoff B wirkt in wässeriger Lösung an-
nähernd gleich stark wie im Blutplasma.
Erklärung: Der Dispersitätsgrad des Stoffes
liegt bereits nahe dem Optimum. Blutplasma
wird diesen zwar etwas in gutem oder schon in
schlechtem Sinne verändern, er bleibt aber immer-
hin dem Optimum nahe (da letzteres praktisch ja
Dispersitätsgrade von gewisser Breite umfaßt).
Beispiel: Salvarsan, Optochin). Diese Körper
eignen sich sowohl für innere Desinfektion als
auch für chemotherapeutische Antisepsis.
3. Ein Stoff C wirkt noch in wässeriger Lösung,
nicht mehr in Blutplasma.
Erklärung: Der Dispersitätsgrad von C lag
schon jenseits des Optimums nach der Seite der
Kolloide zu. Im Blutplasma wird er weiter ver-
ringert, so daß er in die Bakterienzelle nicht mehr
diffundieren kann.
Hierher gehören die meisten im Reagenzglas
(in Wasser) wirksamen Stoffe und sie eignen sich
vielleicht eben noch für chemotherapeutische Anti-
sepsis.
Als wesentlich fassen wir somit zusammen:
Innerhalb einer Klasse von Stoffen entscheiden
die Seitenkeiten nicht durch ihre chemische Natur,
sondern dadurch, daß sie einen gewissen Disper-
sitätsgrad bestimmen oder zum mindesten mitbe-
stimmen über die Möglichkeit, ob bei einem
chemischen Individuum der Kern überhaupt in
der notwendigen Konzentration an den Ort seiner
Wirkungsmöglichkeit gelangen kann. Es liegt
nahe, daß das für einen chemotherapeutischen
Stoff von Ehrlich geforderte Maximum von
Parasitotropie bei einem Minimum von Organo-
tropie durch analoge Faktoren bestimmt wird.
B. de Rudder.
Bücherbesprechungen.
Müller, Fritz, Werke, Briefe und Leben.
Gesammelt und herausgegeben von Dr. Alfred
Möller. Band II. Briefe und noch nicht ver-
öffentlichte Abhandlungen aus dem Nachlaß
1834 — 1897. 667 Seiten Lex. -Format. Mit
239 Abbildungen im Text und 4 Tafeln. Jena
1921, G. Fischer. Geb. 150 M.
Schneller, als man zu hoffen gewagt, ist nun-
mehr dem dritten Bande als fünfte Lieferung auch
der zweite Band der Fritz Müller sehen
Gesammelten Werke gefolgt und damit dieses
Prachtwerk, welches es durch seinen Inhalt ist,
zum Abschluß gekommen. Der Dank der Wissen-
schaft gebührt ebensowohl der vierundzwanzig-
jährigen mühsamen und pietätvollen Arbeit des
Herausgebers wie allen denen, die die Herausgabe
des Werkes materiell unterstützten. Solche Hilfe
kam zuletzt vornehmlich aus Schweden von Herrn
Gösta Fraenkel in Göteborg in Gestalt einer
sehr bedeutenden, die gesamten früheren Beihilfen
für das ganze Werk übersteigenden Summe, ferner
von Prof. Dr. R. Fries und dem preußischen Land-
wirtschaftsministerium. Der Band enthält außer
einigen Nachlaßschriften Briefe Fritz Müllers
an seinen Bruder Hermann Müller, an Max
Schultze, Oscar Schmidt, Alexander
Agassiz, Darwin, Keferstein, Haeckel,
Claus, Weismann, Ernst Krause, v. Jhe-
ring, Ludwig, Gerstaecker, Schenk,
Stahl, Ernst Uhle und einige andere nebst
einer kleineren Anzahl von Briefen der Genannten
an ihn. Der Zauber, der gewöhnlich von den
a. F. XX. Nr. 48
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
69s
Briefen bedeutender Männer ausgeht, wohnt auch
den Müll er sehen Briefen für den zoologischen
Leser — der Botaniker würde sicher mit gleichem
Rechte sagen, auch für ihn — inne. Heute ge-
klärte wissenschaftliche Probleme treten uns in
kurzen Ausschnitten aus ihrer Geschichte und Ent-
wicklung lebendig vor Augen. In allgemeinen
wie in speziellen Fragen erfreut immer wieder
die auf vielseitige Erfahrungen gestützte Be-
stimmtheit des Urteils von Fritz Müller, das
in so zahlreichen Fällen Recht behalten hat mit
seinem überzeugten Eintreten für Darwin. Zu-
dem erfährt man in der anregendsten Weise viel
Tatsächliches aus dem Pflanzen- und Tierleben
seines brasilischen Beobachtungsgebietes. Die
zahlreichen Abbildungen sind meist getreue Wie-
dergaben der bald skizzenartigen, bald genaueren
Zeichnungen aus den Briefen, dazu einige Photos
aus Brasilien vom Herausgeber.
Es ist zu verstehen, daß Fritz Müller, fern
von der deutschen Heimat und in loserem Zu-
sammenhang mit dem deutschen Bücherwesen als
wir, sich zu nicht ganz geringem Teile in seinen
Briefen wissenschaftlich auslebte, und somit durfte
diese Briefsammlung in seinen gesammelten Wer-
ken uns nicht fehlen. Vielleicht noch mehr als
die von ihm selbst veröffentlichten Schriften
wird sie durch ihren persönlicheren Inhalt an-
spornen zum Nacheifern, zur Beobachtung, zum
Lesen in der Natur. V. Franz, Jena.
Cohen, Ernst und Schul, W. , Piezochemie
kondensierter Systeme. IX und 449 S.
in gr. 8" mit 183 Tabellen und 52 Abbildungen
im Text. Leipzig 1919, Akademische Verlags-
gesellschaft m. b. H.
Piezochemie ist der Zweig der physikalischen
Chemie, der sich mit dem Einflüsse des Drucks auf
die Eigenschaften der Stoffe und ihre Reaktionen,
insbesondere in kondensierten Systemen, d. h.
solchen Systemen befaßt, die keine Gasphase ent-
halten. Demgemäß beschäftigt sich denn auch
das vorliegende Werk, dessen Verf. durch eine
größere Anzahl von selbständigen Untersuchun-
gen auf dem Gebiete der Piezochemie hervor-
getreten ist, ausschließlich mit kondensierten
Systemen. Da nun ein merkbarer Einfluß auf
den Zustand eines kondensierten Systems nur
durch verhältnismäßig hohe Drucke ausgeübt
wird, spielt die Frage der Erzeugung und der
Messung hoher Drucke in der experimentellen
Piezochemie eine besonders wichtige Rolle, und
demgemäß wird sie in dem ersten Kapitel des
Buches eingehend besprochen. In den folgenden
Kapiteln wird die Kompressibilität und der Ein-
fluß des Druckes auf den Ausdehnungskoeffizienten,
auf die Oberflächenspannung von Flüssigkeiten,
auf die Lage des Dichtemaximums des Wassers
und wässeriger Lösungen, auf Schmelz- und Um-
wandelungspunkt, auf das „Fließen" fester Stoffe,
auf die Viskosität von Flüssigkeiten, auf das elek-
trische Leitvermögen und damit zusammenhängende
Größen, auf die Löslichkeit, auf die Geschwindig-
keit chemischer Reaktionen, auf die Diffusion und
schließlich auf die optischen Eigenschaften der
Stoffe behandelt. Ergänzungen, die der lange,
zwischen der Niederschrift des Buches (1914) und
seiner Veröffentlichung (1919) liegende, wenn
auch nicht sehr produktive Zeitraum erforderlich
machte, und ein Namen- und ein Sachregister
schließen das umfangreiche Buch. Die einzelnen
Kapitel, die natürlich alle erforderlichen Literatur-
nachweise enthalten, bringen stets die theoreti-
schen Grundlagen der in ihnen erörterten Frage
und die sämtlichen bisher gewonnenen experimen-
tellen Ergebnisse. Das Werk ist daher, wie die
Verff. im Vorwort auch zum Ausdruck bringen,
weniger ein Lehrbuch, „es ist vielmehr als ein
Hand- und Nachschlagebuch für den Forscher zu
betrachten, der sich mit Untersuchungen auf die-
sem Gebiete zu befassen beabsichtigt".
Die Darstellung ist vollkommen einwandfrei,
klar und verständlich. Das Werk steht in jeder
Hinsicht auf der Höhe. Auch die Ausstattung
ist gut.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Hörnes, Moritz, Kultur der Urzeit. LDie
Steinzeit (Die vormetallischen Zeiten.
Die Steinzeit Europas. Gleichartige
Kulturen in anderen Erdteilen.) Neue
Bearbeitung besorgt durch Friedrich
Behn. Sammlung Göschen Nr. 564. 138 S.
Berlin und Leipzig 1921, Vereinigung wiss.
Verleger.
Von Moritz Hörnes' Darstellung der
Kultur der Urzeit hat jetzt neuerdings Prof. Dr.
Friedrich Behn das erste Bändchen neu be-
arbeitet. B. hat gewiß mit Recht den Text von
einigen Kürzungen oder Zusammenfassungen ab-
gesehen im wesentlichen unverändert gelassen.
Nur an einer Stelle hat er stärker eingegriffen,
indem er das ethnologische Vergleichsmaterial,
das in den von Hörnes besorgten Auflagen
durch mehrere Abschnitte verstreut war, zu einem
einheitlichen Abschnitt mit dem Titel „Gleich-
artige Kulturen in anderen Erdteilen" zusammen-
gefaßt hat. Hierdurch hat das Bändchen ent-
schieden gewonnen. Zu der bildlichen Ausstat-
tung sind ein paar neue Abbildungen hinzugefügt.
Für eine neue Auflage möchte ich einige Wünsche
aussprechen : Zunächst einmal wäre dem Abbil-
dungsmaterial wohl noch eine gute Ansicht
eines neoliihischen Megalithgrabes sowie die einer
Hockerbestattung hinzuzufügen, die beide ent-
schieden wichtiger sind als die Tafel mit der
Darstellung neolithischer Häuser, und dann wäre
auch die Literaturliste neu zu bearbeiten. Warum
ist in dieser Liste z. B. das äußerst wichtige Werk
von Oberrnaier nicht genannt, mit dem doch
Hörnes Buch über den diluvialen Menschen
sich auch nicht einmal annähernd vergleichen
läßt, warum fehlt auch Birkners instruktives
Büchlein wie D^chelettes Manuel? Warum
6g6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 48
wird ferner in dem Abschnitt Neolithikum unge-
fähr nur Schumacher genannt , hätte nicht
z. B. Götze oder Reinecke auch mit ge-
nannt werden müssen ? Auch ein paar andere
kleine Ausstellungen mögen hier noch Platz finden.
Wenn B. bei der Übersicht über die Verbindung
der geologischen Eiszeitgliederung mit der prä-
historischen eine Tabelle der Aufstellungen von
R. R. Schmidt, Penck, Boule und Bayer
gibt, hätte er auch an Wiegers nicht vorüber-
gehen dürfen, dessen System m. E. nach in vielen
Punkten weit sicherer fundiert ist als das der
vier von B. genannten Forscher. Ebenso wäre
schließlich auch die Erwähnung der Funde von
Fußabdrücken aus tertiären Gerollen von Ant-
werpen besser unterblieben, da die Fachkreise
bereits zur Genüge wissen, was sie von diesen
Funden zu halten haben.
Berlin. Hugo Mötefindt.
Sewerzow, Nikolai (f). Über die zoologi-
schen (hauptsächlich ornithologischen)
Gebiete der außerhalb der Tropen
gelegenen Teile unseres Kontinents,
übersetzt und eingeleitet von Hermann Grote.
Mit einem Bildnis Sewerzows. 32 S. München
192 1, Dultz & Co.
Die vorliegende Arbeit des russischen Zoologen
und Tiergeographen Nikolai Alexejewitsch Se-
werzow (t 1885) stellt einen am 26. Januar
1877 (russ. St.) in den vereinigten Sektionen für
physische und mathematische Geographie der
Kaiserlichen Russischen Geographischen Gesell-
schaft gehaltenen Vortrag dar und erschien dann
in den Mitteilungen (Iswestija) der genannten Ge-
sellschaft (Jg. XIII, Bd. XIII, Lfg. III, S. 125—153)
auch im Druck, ist aber trotz der großen Be-
deutung, die ihr zweifellos zukommt, in West-
europa gänzlich unbekannt geblieben und wird
nirgends zitiert. Sie ist heute natürlich von den
Anschauungen überholt und daher in erster Linie
von historischem Interesse, doch wird sie, wie
der Herausgeber, der neben einem Bildnisse Se-
werzows ihr auch eine Anzahl willkommener
biographischer Daten über den Genannten beige-
fügt hat, mit vollem Recht betont, auch der Tier-
geograph unserer Tage „nicht ohne wärmstes In-
teresse und aufrichtige Bewunderung für den
genialen Scharfblick des Autors lesen und zu der
Überzeugung kommen, daß Sewerzow in seinen
zoogeographischen Anschauungen seiner Zeit
voraus war." Rud. Zimmermann.
Moser, Ludwig, Die Reindarstellung von
Gasen. Ein Hilfsbuch für das Arbeiten im
Laboratorium. XII -f- 173 Seiten in gr. 8" mit
70 Abbildungen im Text. Stuttgart 1920,
Ferdinand Enke.
In dem vorliegenden Buche, dessen in Fach-
kreisen wohl bekannter Verf. als Professor an der
Technischen Hochschule in Wien wirkt, werden
die Verfahren zur Erzeugung und Reinigung aller
wichtigeren und einer großen Anzahl seltenerer
Gase eingehend behandelt: H3, Fj, H3F2' Clj,
HCl, CI2O, C10„, HBr, HI, O^, O3,* H^S, SO^,,
SFg. SOF2, HijSe, HgTe,* N^, NH„ N^O, NO,
2m,^N,0„ N3CI,* NOCl, PH„ PF«, PF„ POF„
AsHg, SbHg,* BiHg,* CO, CO^, CgO^, COCl^,
COS, HCNS, CH4, CHg, C3Hg, CjH^, CgH^,
CH,C1, CHjjBr, C^N^, HCN, SiH^ und Homologe,
SiF„ GeH„* BjH«, B,Hi„, BF.,, He und Ar.
Die Verfahren sind mit großer Sorgfalt aus der
Literatur zusammengestellt, beruhen aber vielfach
auch auf eigenen Erfahrungen des Verfs. Dem
praktisch arbeitenden Chemiker wird das Buch
recht nützlich sein.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
* Dieses Gas hat sich bisher nicht in „reiner" Form,
d. h. frei von anderen Gasen gewinnen lassen.
Literatur.
Salpeter, J., Einführung in die höhere Mathematik für
Naturforscher und Ärzte. 2. verbesserte und vermehrte Auf-
lage. Jena '21, Gustav Fischer. Brosch. 70, geb. 80 M.
Molisch, Hans, Pflanzenphysiologie als Theorie der
Gärtnerei. Vierte, neubearbeitete Auflage. Jena '21, Gustav
Fischer. Brosch. 40, geb. 48 M.
Meyer, Arthur, Morphologische und physiologische
Analyse der Zelle der Pflanzen und Tiere. 11. Teil, I. Liefe-
rung. Jena '21, Gustav Fischer. Brosch. 25 M.*
Geographische Abhandlungen. Herausgegeben von Prof.
Dr. Albrecht Penck in Berlin. Band X, Heft 3: Otto MauU,
Beiträge zur Morphologie des Peleponnes und des südlichen
Mittelgriechenlands. Leipzig u. Berlin '21, B. G. Teubner.
14 M.
D roste, R., Gott, Materie, Unendlichkeit, Zeit, Raum,
Bewegung, Kraft, Macht, Arbeit, Recht, Eigentum. Natur-
philosophische Bruchstücke aus meiner Entwicklungstheorie.
Leipzig, Xenienverlag. 5 M.
Mörl, Dr. A. , Das Wesen der Strahlung. Versuch
einer mechanischen Erklärung der Strahlungserscheinungen.
Innsbruck '21, Wagner.
Baur, Prof. Dr. Erwin, Die wissenschaftlichen Grund-
lagen der Pflanzenzüchtung. Ein Lehrbuch für Landwirte,
Gärtner und Forstleute. Berlin '21, Gebr. Bornträger.
So er gel, Dr. W., Die Ursachen der diluvialen Auf-
schotterung und Erosion. Berlin '21, Gebr. Bornträger. 18 M.
Inllfilt: Edw. Hennig, Neue Ansichten vom Entstehen des Erdbildes. (5 Abb.) S. 681. — Einzelberichte: F. v. Wett-
slein, Zur Bedeutung und Technik der Reinkultur für die Systematik und Floristik der Algen. S. 6S9. Komarek,
Zur Kenntnis der Höhlenfauna. S. 690. C. Skottsberg, Ein Botanischer Garten mit Naturschutzgebiet. S. 691.
H. Henning, Die Bedeutung der farbigen Ölkugeln im Sauropsidenauge. S. 692. Langer, Chemotherapeutische
Leistung. S. 693. — BUcherbesprecbungen: Fr. Müller, Werke, Briefe und Leben. S. 694. E. Cohen und
W. Schut, Piezochemie kondensierter Systeme. S. 695. M. Hörnes, Kultur der Urzeit. S. 695. N. Sewerzow(f),
Über die zoologischen (hauptsächlich ornithologischen) Gebiete der außerhalb der Tropen gelegenen Teile unseres
Kontinents. S. 696. L. Moser, Die Reindarstellung von Gasen. S. 696. — Literatur: Liste. S. 696.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. PStz'scben Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Fol^e 20. Band;
der ganzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den 4. Dezember 1921.
Nummer 49.
Über Stridulationsorgane bei dekapoden Crustaceen.
Eine zusammenfassende Übersicht.
[Nachdruck verboten.]
Von Dr. Heinrich Balss, München.
Mit 14 Abbildungen.
Es ist eine, auch bei Zoologen wenig bekannte
Tatsache, daß es bei den höheren Crustaceen, den
Zehnfüßern, eine Menge von Formen auf dem Lande
wie im Wasser gibt, welche, ähnlich wie unsere
Grillen und Heuschrecken, Einrichtungen besitzen,
mit denen sie Stridulationsgeräusche hervorrufen
können. So spricht Hesse (1910, S. 487) nur
von Landkrebsen mit Stimmapparaten und Weiß
(1914) übergeht in seiner zusammenfassenden
Übersicht über die Produktion von Tönen und
Geräuschen bei Arthropoden die Crustaceen über-
haupt. Ich will daher versuchen, im folgenden
eine Übersicht über die bisher bekannten Formen
nebst deren Einrichtungen zur Schallerzeugung zu
geben. Es wird sich dabei zeigen, daß wir in
fast allen größeren Gruppen der Dekapoden
solche Arten kennen und daß sie in sämtlichen
in Betracht kommenden Fazies, auf dem Lande,
im Süßwasser, in dem Litoral wie der Tiefsee
vorkommen.
Nahe Verwandte des bekannten Palmendiebes
Birgus latro L., der auf Kokospalmen klettert, um
die Nüsse herunterzuholen , sind die ebenfalls in
den Tropen, besonders auf den Inseln des Indo-
pazifik lebenden Arten der Gattung Coenobita
Latr. Es sind Paguriden, Einsiedlerkrebse, welche
sich nicht im Wasser, sondern am Lande auf-
halten, wo sie ihre hauptsächlich aus Früchten
von Pandanus, jedoch auch aus tierischen Sub-
stanzen bestehende Nahrung suchen und zu diesem
Zwecke auch Bäume ersteigen (Borradaile
1902). Zum Schutze ihres Hinterleibes bedienen
Abb. I. Coenobita rugosus M. E. Außenseite der linken
Schere mit Körnerreihe. Nach Hilgendorf.
sie sich wie die anderen Einsiedlerkrebse leerer
Schneckenschalen oder ausnahmsweise anderer
passenderer Objekte wie leerer Kokosschalen. Es
gibt nun 2 Arten dieser Gattung, C. rugosus M. E.
und C. perlatus M. E. , welche ein Stidulations-
organ besitzen. Auf der Außenseite der großen
Schere (Abb. 1) befindet sich eine Reihe von
größeren perlenartig aneinandergereihten Körnern ;
an ihnen reibt der Dactylus des zweiten linken
Schreitfußes, welcher eine scharfe Leiste auf seiner
Unterseite trägt. Wie der Violinbogen auf der
Saite, so streicht diese Leiste an den Körnern
entlang und erzeugt so ein Geräusch, welches
von Borradaile, der es hörte, als ein lautes
Zirpen beschrieben wird (1902, S. 92).
Von der das Süßwasser bewohnenden Familie
der Potamonidae, denen die unter dem Namen
Telephusa fluviatilis bekannte Süßwasserkrabbe
Italiens angehört, hat Calman (1908) bei 4 afri-
kanischen Arten der Gattung Potamonautes einen
Apparat zur Tonerzeugung beschrieben. Es ist
bei ihnen das erste Glied der Schreitfüße, die
sog. Coxa mit einer Reihe von Dornen bewehrt,
welche gegen die Seitenränder des Carapax reiben
und so ein Geräusch erzeugen sollen; doch ist
dieses bisher am lebenden Tiere noch nicht ge-
hört worden.
Leichter zu beobachten sind die Krabben der
Küste und hier ist denn auch von mehreren
Forschern der Ton vernommen worden. Ober-
und unterhalb der Flutgrenze lebt die Gattung
Ocypoda Fabr., deren Angehörige in den Tropen
aller Kontinente vorkommen. Sie graben sich
Löcher von der Größe ihres Körpers oder tiefer,
welche sie einzeln bewohnen. Alle Arten außer
einer einzigen haben einen Stridulationsapparat,
Abb. 2. Ocypdode ceratophthalnoa Pal). Innenseite des
Scherenfufles. L = I^eisten. C = Crista. Nach Ort mann.
der zwar bei allen nach demselben Schema ge-
baut ist, aber je nach den Arten variiert und so
zur sicheren Bestimmung benutzt werden kann.
Auf der Innenseite der großen Schere befindet
sich eine Reihe von Querleisten oder Punkten,
welche einer glatten Längsleiste am Ischium des-
selben Scherenfußes entlang fährt (Abb. 2). Ort-
mann (1894) hörte den Ton in Ostafrika bei O.
ceratophtalma Pall. und beschreibt ihn als tief,
wie von einer Baßgeige herrührend; er wird von
der Krabbe erzeugt, wenn sie in ihrem Loche
sitzt; dabei wirkt das Loch als unten gedeckte
698
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 40
Pfeife und verstärkt den Ton. Anderson (i 894)
beschreibt den Ton, den er an einem warmen
Novembermorgen einmal hörte, als dem eines
Froschquakens ähnlich.
Am Ebbestrand bauen sich auch die Krabben
der Gattungen Dotilla, Myctiris, und Uca ihre
Löcher; bei Flut sind dieselben mit Wasser be-
deckt und die Tiere sitzen im geschlossenen
Innern, während bei Ebbe die Löcher frei werden
und die Tiere in Massen herauskommen. Auri-
villius (1893) beschreibt bei Dotilla ein knir-
schendes Geräusch, das bei der Bewegung, nicht
durch das Auftreten der Füße selbst, sondern
durch das Anreiben der oben scharfen Femoral-
glieder der Beine gegen den Körper entsteht.
Abb. 3. Uca musica Rathbun. ^ Unterseite der großen
Schere mit Leisten und erster Sclireitfuß mit Crista.
Nach Rathbun.
es von den ersten Schreitfüßen hervorgebracht,
die gegen Dornen auf der Seite des Carapax
reiben; doch wurde die Tätigkeit im Leben nicht
beobachtet.
Bisher hatten wir Krebse besptochen, deren
Leben sich mehr oder weniger auf dem Lande
abspielt. Es ist nun interessant, daß auch im
Meere selbst sich Formen finden , die ein Zirpen
ertönen lassen, und zwar kommen solche im
Lltoral wie in der Tiefsee vor. Eine Analogie
findet diese Tatsache bei der heimischen Wanze
Corixa, deren Männchen ebenfalls unter Wasser
ein lautes Zirpen ertönen läßt (Weis 1914,5.270).
Bei den Krebsen sind Stridulationsorgane haupt-
sächlich bei solchen Formen bekannt, welche auf
schlammigem Grunde leben. Das Geräusch selbst
ist allerdings bisher nur bei einzelnen Arten ver-
nommen worden und es läßt oft nur der Bau der
Organe auf ihre Funktion schließen.
Wenn wir vorerst die Litoralformen behandeln,
so beginne ich mit 3 Penaeopsisarten des warmen
Indopazifik, P. stridulans Wood Mason, P. acclivis
Rathbun und P. akayebi Rathbun. Bei ihnen be-
findet sich (Abb. 4) bei beiden Geschlechtern auf
der Hinterseite des Carapax eine Reihe von 12
Abb. 4. Penaeopsis stridulans W. M. L = Leisten. Nach Alcock.
Bei der Gattung Uca, der bekannten Winkerkrabbe,
deren Männchen eine große, buntgefärbte Schere
haben, mit der sie sich den Weibchen bemerkbar
machen, existiert eine Art, Uca musica Rathbun,
in Kalifornien, bei der auf der großen Schere des
Männchens sich eine Stridulationsleiste befindet,
die gegen eine Leiste auf der Vorderseite des
ersten Schreitfußes reibt (Abb. 3).
In Mangrovesümpfen des Indopazifik lebt Tha-
lassina anomala (Hbst.), eine mit der bekannten
Gebia des Mittelmeeres und der Nordsee ver-
wandte Form, welche sich wie diese Löcher (bis
75 cm Tiefe) gräbt. Pearse (1911) erzählt, daß
er bei der Philippinenform ein Geräusch hörte,
ähnlich dem eines Korkstopfens, der aus einer
Flasche herausgezogen wird. Wahrscheinlich wird
bis 18 Körnern, welche gegen die scharfe Vorder-
kante des ersten Hinterleibsegmentes reiben. Aus
der Familie der Thalassiniden besitzt Gebia
issaeffi Balss (1914) von Wladiwostok auf dem
Dactylus des ersten Schreitfußes 2 Leistenreihen,
die eine auf der Oberseite, die andere auf der
Innenseite; hier wird wohl durch Aneinander-
reihen der beiden Füße das Geräusch erzeugt
(Abb. 5).
Die mit der bekannten Schamkrabbe des
Mittelmeeres, Calappa, verwandte Gattung Matuta
(zu den Oxystomen gehörig) aus dem Indopazifik
und Westafrika besitzt in beiden Geschlechtern
auf der Innenseite der Schere 2 erhöhte Feldchen,
die fein gerieft sind. Auf der Unterfläche des
Körpers, der Pterygostomialregion, findet sich nun
N. F. XX. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
699
eine Gruppe von Körnern und Leistchen, die
von vorn und außen nach hinten und innen ge-
richtet sind. Ort mann beobachtete nun bei
Matuta victor Fabr., daß die Tiere abwechselnd
erst die eine, dann die andere Schere gegen die
Pterygostomialgegend rieben und einen Ton her-
vorbrachten, der sich mit dem raschen Hin- und
Herreiben eines Nagels auf einer Feile vergleichen
läßt. Alcock (1902, S. 67) hat das Geräusch
bei Matuta miersii von der Orissaküste gehört
und vergleicht es dem Zirpen einer Grille ; ebenso
hörte er es bei Matuta lunaris (1896, S. 161)
(Abb. 6).
Abb. 5. Gebia issaeffi Balss.
Erster Pereiopod.
Nach Bals s.
beim Männchen vorhanden. Dagegen hat Ova-
lipes ocellatus Herbst, welche Art in Nord-
amerika an der Ostküste vorkommt, wieder Leisten
auf der Carapaxunterseite , welche sich gegen
eine Crista auf dem Merus der Chelipeden be-
wegt; hier ist der Apparat in beiden Geschlechtern
vorhanden (Hansen 1921). Ovalipes lebt bald
schwimmend an der Oberfläche, bald in der Tiefe
im Sand vergraben, so daß nur die Augen her-
vorschauen.
Abb. 7.
Metaplax longipes St. o^ Unterseite.
Nach Kölbel.
: l'erleu.
Abb. 8.
Heiice tridens D. H.
C = Crista.
</ Scherentufl von der Seite.
Original.
.\bb. 6. Matuta victor (Fabr.) von unten.
Nach Hilgendorf.
Abb. 9. V'erlenreibe von Heiice tridens D. H. ^ u. 9-
Original.
Im Prinzip ähnlich gebaute Apparate finden
sich bei der Xanthide Pseudozius bouvieri M. E.
von der Westküste Afrikas und bei Trizocarcinus
dentatus Rathbun vom Golf von Kalifornien; bei
ihnen ist eine Reihe von Leisten auf der Ptery-
gostomialregion vorhanden, gegen die der Merus
resp. Carpus des Scherenfußes reibt. Bei der
Neptunide Oi/alipes trimaculatus D. H. einer in
Japan, Südafrika, Südaustralien und Südamerika
bis 100 m Tiefe vorkommenden Art, trägt die
untere Fläche der großen Schere eine Menge
quergestellter Leisten, welche gegen eine starke
Crista am Dactylus des ersten Schreitfußes reibt;
diese Crista ist nach meinen Untersuchungen nur
Die größte Mannigfaltigkeil dieser Apparate,
die aber alle nach demselben Prinzip gebaut sind,
findet sich jedoch bei den Viereckskrabben der
meist indopazifischen Gattungen Macrophthalmus
Latr. , Brachynotus D. H., Heiice D. H., Chas-
magnathus D. H., Acmaeopleura Stimps., Gaetice G.
und Metaplax M. E. Bei ihnen ist auf der Unter-
seite des Körpers, unterhalb der Augen, beider-
seits eine gebogene Reihe von Perlen vorhanden
(Abb. 7), der sich eine hornige Leiste auf dem
Merus des Scherenfußes entlang bewegt (Abb. 8).
Die Abb. 9—14 geben ein Bild von der Mannig-
faltigkeit der Anordnung dieser Perlen, welche
je nachdem, ob sie näher oder entfernter von-
700
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 49
einander stehen, kleiner oder größer sind, einen
höheren oder tieferen Ton geben müssen. Inter-
essant ist es nun, daß meist nur die Männchen
den Apparat haben, während er den Weibchen
fehlt, so z B. bei den Gattungen Macrophthalmus,
Metaplax, Gaetice, Acmaeopleura; die Abbildungen
zeigen deutlich wie bei Gaetice depressa D. H.,
Brachynotus penicillatus D. H., Acmaeopleura
parvula St., Heiice tridens D. H. und Brachynotus
nudus Dana die Männchen viel stärkere Perlen
tragen, als die Weibchen, diese besitzen auch
nicht die hornige Merusleiste, so daß ihnen die
Fähigkeit der Tonerzeugung mit Sicherheit ab-
gesprochen werden kann. Manche dieser Formen,
wie Brachynotus penicillatus D. H. und Acmaeo-
pleura parvula St. besitzen dazu eine besondere
Einrichtung zum Reinhalten des Stridulations-
apparates. Wenigstens deute ich als solche einen
großen Pinsel langer Haare an der Innenseite der
Dactylen der Scherenfüße, welcher wohl dazu
dient, den Schmutz auf der Körnerleiste zu be-
seitigen; der Pinsel kommt ebenfalls nur bei
Männchen vor.
Abb. 10.
Abb. II.
Perlenreibe von Brachynotus nudus Dana. ^ u. 9-
Original.
_* - a
' ^ $
Perlenreihe von Acmaeopleura parvula St. a' u. 9-
Original.
Ich Übergehe hier die Langusten (Palinu-
riden), die Bewohner der felsigen Regionen des
Meeres, und die Alphaeiden, deren knarrendes
und knipsendes Geräusch schon länger bekannt
ist und auch in Aquarien leicht beobachtet wer-
den kann, und wende mich den Bewohnern der
Tiefsee zu, bei denen echte Stridulationsorgane
gefunden worden sind. Hier sind nur 2 Krabben-
gattungen zu erwähnen.
Die oxystome Gattung Acanthocarpus Stimp-
son, in 2 Arten aus 150 — 350 m Tiefe aus West-
indien bekannt, besitzt nach Hansen (1921) auf
der Innenseite der Scheren eine feine, senkrechte
Leiste quergestellter Linien, welche gegen einen
Kiel auf der Unterseite des Carapax reibend einen
hohen Ton (beim toten Tier) erzeugt.
Bei Psopheticus stridulans W. M., welche im
Indic in 300 — 785 m Tiefe vorkommt, findet sich
nach Alcock (1902, S. 224) bei beiden Ge-
schlechtern auf dem Merus des Scherenfußes ein
Dorn, der gegen einen Knopf unter dem Auge
auf dem Carapax reibt. Ob hierbei wirklich eine
Tonerzeugung stattfindet, müßte wohl erst durch
Beobachtungen am lebenden Tiere sicher gestellt
werden.
Soweit die Decapoden. Als Ergänzung möchte
ich noch einige Stomatopoden , Heuschrecken-
krebse, anführen, bei denen ebenfalls Töne fest-
gestellt wurden. Die Squilliden leben ähnlich wie
die Gebilden im Ufersand in geringen Tiefen, wo
sie sich Gänge bauen. Giesbrecht (1910),
Brooks u. a. beobachteten nun, daß Lysiosquilla
excavatrix Brooks, Squilla empusa Say aus
Nordamerika und Squilla mantis L. vom Mittel-
meere, wenn man sie packt, durch Reiben der
Uropoden an der Unterfläche des Telsons einen
Ton erzeugen. Und Gonodactylus chiragra L.
ruft nach Alcock (1902, S. 106) einen scharfen
Knall durch plötzliches öffnen seiner Schere
hervor.
Abb. 12. Perlenreihe von Gaetice depressa D. H.
Original.
</ u. 9.
Abb. 13.
Perlenreihe von Metaplax crenulata Gersl. </>.
Original.
Abb. 14. Perlenreihe von Metaplax dentipes Heller, o^.
Original.
Es erhebt sich nun die Frage nach der bio-
logischen Bedeutung, die der Schallerzeugung zu-
kommt. Sie wird bei den verschiedenen Arten
eine verschiedene sein; die Frage hat nicht nur
eine Lösung. Bei den auf dem Lande lebenden
Formen, welche alle gesellig, in großen Mengen
zusammen vorkommen, dient der Schall wohl
zum gegenseitigen Zusammenhalten der einzelnen
Arten (Coenobita, Ocypode). Bei anderen kommt
Schreckwirkung in Betracht, so bei den Squilliden.
Alcock (1902, S.214) hörte bei Ocypode macro-
cera das Geräusch einmal, als ein Tier in die
Höhle eines fremden Genossen eindringen wollte.
Hier scheint es also dazu zu dienen, um Artge-
nossen oder anderen Tieren anzudeuten, daß die
Höhle schon besetzt ist. Bei den Arten, bei
denen nur das Männchen mit dem Stridulations-
organ ausgestattet ist, das Weibchen nicht, dient
N. F. XX Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
701
dasselbe zweifellos sexuellen Zwecken bei der
Werbung.
Natürlich setzen diese Hypothesen voraus, daß
die Tiere überhaupt auf Schallreize empfänglich
sind, eine Frage die experimentell schwierig zu
prüfen ist, da Reaktionen auf akustische und
mechanische Reize oft schwer auseinander zu halten
sind. Mangold, der Bearbeiter des Kapitels
über den Gehörsinn in Wintersteins Handbuch
der vergleichenden Physiologie kommt auf Grund
der bisher vorliegenden Experimente zu dem
Schluß, daß sie für die Existenz eines Gehör-
sinnes bei Arthropoden nichts bewiesen. Meiner
Ansicht nach geht dieser Schluß zu weit, da ja
die Mannigfaltigkeit der Organe zur Tonerzeugung,
die wir bei Arthropoden finden, dann ganz zweck-
los wäre. Um bloß mechanische Erschütterungen
des Wassers oder Bodens hervorzurufen, wäre die
Existenz so fein gebauter Apparate nicht nötig;
dazu würde bei Krebsen z. B. ein Schlag mit der
großen Schere genügen. Um die Tatsache, daß
die Stridulationsorgane bei vielen Formen nur dem
männlichen Geschlechte zukommen, setzt eben-
falls eine Hörfähigkeit des Weibchens voraus.
Auch Demoll (19 17, S. 66) erachtet die Hör-
fähigkeit der Insekten gerade aus Versuchen über
die Werbung der männlichen Grillen erwiesen.
So müssen wohl auch die Decapoden eine
gewisse Hörfähigkeit besitzen, wenn auch die Or-
gane für dieselbe bisher weder morphologisch
noch physiologisch mit Sicherheit aufgedeckt
sind.
Literaturverzeichnis.
AlcocU, A., Carcinological Fauna of India. Journal of
the Asiatic Soc. of Bengal. CalcuUa Vol. 65, 1896.
Alcock, A., Naturalist in indian Seas. London 1902.
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the ocypod crab O. ceratopbtbalma Fall. Journal, asiatic Soc.
Bengal Vol. 63. Calcutta 1894.
Aurivillius, C. A., Die Beziehungen der Sinnesorgane
amphibischer Decapoden zur Lebensweise und Atmung. Nova
acta reg. soc. Upsala Ser. 3, 1893.
Borradaile, L. A., Land Cruslaceans in Fauna and
Gcography of the Maldive and Laccadive Archipelagoes i.
1902.
Calman, W. T. , On a stridulating organ in certaio
african River Crabs, in: Annais and Magazine of nat. Hist.
London 1908, Ser. 8, Vol. I.
Demoll, R., Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr
Bau und ihre Funktion. Braunschweig 1917.
Giesbrecht, W., Stomatopoden, in: Fauna und Flora
des Golfes von Neapel Vol. 33, 1910.
Hansen, H. 1., Studies on Artbropoda I. Copen-
hagen. Gyldendalske Boghandel 1921.
Hesse, R., Tierbau und Tierleben I. Leipzig ig 10.
Ort mann, A. E., Crustaceen von Semons Forschungs-
reise. Jenaische Denkschriften der med. nat. Ges. Bd. 8, 1894.
Ortmann, A. E., Decapoden, in: Bronns Klassen und
Ordnungen des Tierreichs Arthropoden Bd. 5, 2, 1901. (Zu-
sammenfassung.)
Pearse, A. S, On the habits of Tbalassina anomala.
Philippine Journal of science Vol. 6, 1911, Manila.
^A'eiß, O., Die Erzeugung von Tönen und Geräuschen,
in ; Handbuch der vergleichenden Physiologie, herausgegeben
von Winterstein Bd. 3, 1914, Jena.
Einzelberichte.
Der Mechanismus tiefvulkanischer Vorgänge.
Auf den Mechanismus tiefvulkanischer Vor-
gänge lenkt H. Cloos in einer inhaltreichen
Schrift unsere Aufmerksamkeit.^) Die der Erd-
oberfläche aufgesetzten Vulkane leiten durch enge
Schlote und Gänge zu ihrem in der Tiefe liegen-
den, weit verzweigten Unterbau, den Massiven.
Diese sind mit erstarrten Schmelzmassen (z. B.
Granit) ausgefüllt und können z. T. als Herde er-
loschener Vulkane gelten. Dafür, wie für solche
gewaltige, neu aufdringende Schmelzen Platz in
der Kruste geschaffen wird, ist noch keine in
jeder Richtung befriedigende Erklärung gefunden.
Eine Hypothese, zuerst von französischen Forschern
aufgestellt, sucht diesen Vorgang dadurch zu er-
klären, daß heiße Gase und Schmelzflüsse aus der
Tiefe die Kruste, in der sie emporstiegen, ein-
geschmolzen und damit den Raum und
wenigstens einen Teil des Stoffes für das Massiv
geschaffen haben. Eine andere, die Platztausch-
hypothese, besonders von Daly vertreten,
nimmt an, daß wesentlich mechanische Durch-
dringung im Spiele ist. Der Granit dringt noch
flüssig in das umgebende Gestein ein und löst
') Der Mechanismus tiefvulkanischer Vorgänge. Samm-
lung Viehweg, Heft 57, 1921.
aus ihm Bruchstücke vom kleinsten Fetzen bis zu
großen Schollen los, die in den Granit übertreten.
Cloos nimmt nun für das Aufdringen des
Magmas, indem er dessen Aktivismus im ganzen
leugnet, fremde, nicht vulkanische Kräfte in An-
spruch. Diese Kräfte sind in der Gebirgs-
b i 1 d u n g in Gestalt gerichteten seitlichen Druckes
zur Verfügung gestellt.
Vorhandensein und Wirkung gebirgsbildender
Kräfte auf vulkanische Vorgänge werden von
Cloos nun auch wirklich dort nachgewiesen, wo
man ihnen bisher am wenigsten Beachtung schenkte,
wenn sie auch keineswegs unbemerkt geblieben
sind: in den großen Granitarealen Deutschlands,
vor allem Schlesiens. Es ließ sich durch sorg-
fältige Untersuchungen zeigen, daß dem Gefüge
des „richtungslos-körnigen" Granites sehr häufig
eine ganz bestimmte, wenn auch oft ver-
borgene Richtung innewohnt, die nur durch
Gebirgsdruck hervorgebracht sein kann. Diese
Richtung verrät sich meist an einer, nach ver-
schiedenen Seiten ungleichen Zusammensetzung
der Teilchen des Gesteins. Jeder Granit spaltet
sich leicht nach bestimmten Richtungen, während
in anderen nur rauhe Trennungsflächen entstehen.
Meist unterscheidet man a) eine steilstehende
Fläche bester Spaltbarkeit (entsprechend der
702
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 49
Schieferungsebene in kristallinen Schiefern) = S,
sie fühlt sich glatt an, und sieht hell aus; —
b) eine flachliegende Fläche guter Spaltbar-
keit = L; — c) eine auf a) senkrecht stehende
steile Fläche schlechtester Spaltbar-
keit = K, die sich rauh anfühlt und die ge-
wöhnliche Granilfarbe zeigt. F"läche S liegt in
der Streckungsrichtung des Granits und senkrecht
zum Seitendruck; Fläche L liegt in der Streckung
und senkrecht zum Belastungsdruck; K steht da-
gegen senkrecht zur Streckung und in der Seiten-
druckrichtung.
Die Teilbarkeit des Granits ist der mechanische
Ausdruck einer leichten Streckung des Gesteins:
sie wurde erzeugt durch eine während ihrer
Erstarrung auf die Schmelze wirkenden gerichteten
Druckes, vor dem die Teilchen senkrecht aus-
wichen.
Weiter wird gezeigt, wie die den Graniten
nie fehlende K 1 ü f t u n g mit der Teilbarkeit und
dem während der Erstarrung wirkenden Seiten-
druck in Beziehung steht und durch ihn geleitet
wird. Sie gestattet wiederum, die Richtung des
Druckes festzustellen.
Klüfte und Spalten sind oft mit granitischem
Material zu Gängen aufgefüllt. Soweit diese Auf-
füllung mit der Granitintrusion ansetzt, bevor-
zugen die Gänge die in der Druckrichtung liegen-
den Hauptklüfte. Denn sie allein werden vom
Seitendruck nicht zugepreßt. Man kann diese
dainit als Zugklüfte von den senkrecht zum
Druck liegenden Druckklüften unterscheiden,
und so auch aus den Gängen die Richtung des
Gebirgsdruckes ablesen.
Die Messung der Richtung an Spaltflächen,
Klüften und Gängen brachte zwei Ergebnisse:
erstens das Vorhandensein eines unverkennbar
gerichteten Seitendruckes bis in den tiefsten Kern
eines Massivs hinein, und zweitens eine Druck-
richtung, die von der (aus anderen Gründen) an-
genommenen oft vollkommen abweicht.
Aus dieser, von C 1 o o s ausführlich formulierten
und durch Beispiele gestützten „granittek-
tonischen" Methode ergeben sich eine Reihe
neuer Gesichtspunkte für das Verständnis von
Eruptivgesteins- und Massivbildung selbst und für
die Erkenntnis vom Bau der diese Massive um-
rahmenden , nicht vulkanischen Gebirge. Im
zweiten, mehr theoretischen Teile des Werkes
(„Der Aufstieg des Magmas") werden einzelne
dieser Gesichtspunkte erläutert, so Intrusion und
Faltung, Intrusion im Anschluß an Bruchbildung,
Vulkane und Spalten. Als neue Intrusionsform
wird von der Grenze von Ost- und Westsudeten
das Massiv mit sichelförmigem Grundriß be-
schrieben. Krenkel.
Inwieweit ist der Wurmfortsatz am mensch-
lichen Blinddarm ein rudimentäres Gebilde? ')
Der Blinddarm der Halbaffen wurde von
von Eggeling länger oder ebenso lang als der
Blinddarm mit Wurmfortsatz bei Affe und Mensch
gefunden, so daß im Halbaffen-Affenstamm wahr-
scheinlich einst ein langer Blinddarm vorhanden
war, der ähnlich wie beim Pferd bei der Verdauung
mitwirkte. Die Sonderung in Anfangsteil und Wurm-
fortsatz, die auch bei menschlichen Embryonen noch
nicht ausgebildet ist, ist innerhalb der Gattungen
Chiromys und Stenops bemerkbar, wo sie bei
Stenops gracilis (Abb. i) hohen Grad erreicht hat.
Sehr groß und noch überall von gleicher Weite
ist der Blinddarm der plattnasigen oder Neuwelts-
affen; sein Innenrelief weicht von dem der Alt-
weltaffen ab, die Unterschiede sind aber nicht so
erheblich, daß sie die Annahme eines gemeinsamen
Ausgangspunktes ausschlössen. Kürzer, aber immer
noch überall gleich weit, also ohne Wurmfortsatz,
ist der Blinddarm bei den meisten Neuweltsaffen.
Die Verhältnisse bei den Anthropoiden — Gibbon,
Orang, Schimpanse wurden untersucht zur Er-
gänzung der früheren, auch auf den Gorilla be-
züglichen Angaben — entsprechen hinsichtlich
der Form — Blinddarm mit Wurmfortsatz — im
allgemeinen denen des Menschen, doch sind beide
Teile, außer bei Hylobates, immer noch größer
als bei Homo. Gleichzeitig wird jetzt der \Vurm-
fortsatz zu einem an Lymphzellen — die unbe-
kannter oder doch umstrittener Funktion sind —
und Lymphfollikeln reichen Organ, was beim
Menschen in noch höherem Grade der Fall ist.
Letzterer Umstand war öfter Anlaß, den Blind-
darm und Wurmfortsatz nicht als rudimentäres
Gebilde zu betrachten. Beim menschlichen Kinde
ist der Wurmfortsatz noch nicht so sehr verkleinert
wie beim Erwachsenen, und beide Teile gehen
noch allmählich ineinander über, welcher Zustand
beim Gibbon persistiert. Verf. faßt sein Ergebnis
dahin zusammen, daß der Wurmfortsatz des
Menschen vergleichend - anatomisch als rudimen-
täres Gebilde erscheine, da er aus der Rückbildung
eines viel umfangreicheren Blinddarms bei Vor-
fahrenformen hervorging. Dabei hat sich ein
Funktionswechsel vollzogen unter starker Aus-
bildung des lymphoiden Gewebes. Worin heute
seine Leistung und die Aufgabe dieses Gewebes
besteht, bedarf noch weiterer Klärung.
V. Franz, Jena.
'J H. V. Eggeling unter obiger Überschrift im Ana-
tomischen Anzeiger, Bd. 53, 1917, Nr. 17, S. 401—428.
N. F. XX. Nr. 49
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
703
Zur Frage der Atomsjinmetrie.
In der Festschrift aus Anlaß des 70. Geburts-
tages von Cornelio Doelter (Dresden und
Leipzig, Theodor Steinkopfi", 1920) befaßt sich
H. Tertsch in einem Abschnitt seiner „An-
merkungen zur röntgenographischen Erschließung
der Kristallstruktur" mit der heute besonders dis-
kutierten Frage der Atomsymmetrie. Soll die
Kristallsymmetrie ihre restlose Erklärung finden,
so genügen in mehr als einem Fall, wo die zu-
grunde liegende Strukturart durch Röntgenstrahlen-
analyse erschlossen worden ist, die Symmetrie-
verhältnisse des ermittelten Gitterbaues allein noch
nicht, man wird vielmehr noch zur Heranziehung
und Überprüfung der Symmetrie der Atome ge-
zwungen. Wir können mit Sicherheit annehmen,
daß rein elektrische Kräfte diese Symmetrie be-
herrschen, und es läßt sich zeigen, daß die zu-
nächst so einfach erscheinende Vorstellung einer
Kugelsymmetrie der Atome verfehlt ist. Auch
das Bohr sehe Atommodell und seine Wirtelnatur
kann zum mindesten nicht der Symmetriebe-
dingung für alle Elemente entsprechen. Dafür
liegt z. B. ein schlagender Beweis in der Tatsache,
daß bei der röntgenographisch einwandfrei er-
schlossenen Diamantstruktur zwei fiächenzentrierte
\yürfelgitter so ineinander gestellt sind, daß sich
einzetne C-Atome innerhalb des Gitters genau im
Schnittpunkte mehrerer dreizähliger Deckachsen
befinden, demnach nicht einfach wirtelig gebaut
sein können. Außerdem haben bereits B o rn und
Lande festgestellt, daß die Anordnung der Elek-
tronenbahnen in gleichen Bahnebenen, also
Wirtelbau, z. B. in bezug auf die Kompressibilität
unter Zugrundelegung elektrischer Kraftwirkungen
zu den Tatsachen widersprechenden Werten führt,
daß dagegen für das Atom mindestens die Würfel-
symmetrie gelten müsse. Sie denken sich die
Elektronen in den Ebenen eines Oktaeders zen-
trisch symmetrisch kreisen, so daß ein in den
Ecken mit Elektronen besetzter Würfel bei der
Bewegung der Elektronen in ihren Bahnen rhyth-
misch nach einer der drei Hauptachsen gedehnt
bzw. verkürzt erscheint Gegenüber der einfach
flächenhaften haben wir hier also eine räum-
liche Bahnverteilung der Elektronen, die man
sich am einfachsten auf einer Kugeloberfläche
denken kann. Zu diesen sich widersprechenden
beiden Vorstellungen bemerkt nun Tertsch, daß
zwischen dem rein flächigen Bohrschen Atom-
modell und dem räumlich isotropen Bornschen
Modell noch die Möglichkeit eines zwar räum-
lichen, aber nicht isotropen Atombaues
wenigstens für jene Elemente, denen die tesscrale
Symmetrie auf alle Fälle abgesprochen werden
muß, angenommen werden kann. Natürlich muß
dann für jedes Element gesondert die Atomsym-
metrie und die räumliche Anordnung der Elek-
tronenbahnen bestimmt werden. Unter Zugrunde-
legung der bekannten K ossel sehen *) Vor-
') Ann. d. Physik 49, 229 (1916).
Stellungen von der Bedeutung des „Edelgastypus"
für die chemischen Perloden und für das Zustande-
kommen der „heteropolaren Verbindungen", kommt
Tertsch zur Formulierung der folgenden Fragen,
die das Problem der Atomsymmetrie umschließt.*)
1. Wie kommt der Edelgastypus zustande und
woher stammt seine physikalische und chemische
Sonderstellung ? 2. Was läßt sich über die Atom-
Symmetrie der übrigen Elemente aussagen?
Bei Betrachtung der chemischen Perioden von
zweimal je 8 Elementen, darauf zweimal je 18
Elementen, die sich an das Helium anschließen
und denen die „Periode der seltenen Erden" mit
32 Elementen und schließlich noch weitere 6 Ele-
mente folgen, kommt Tertsch zu einer auf
Grund der räumlichen Verteilung der Elektronen-
bahnen sehr plausiblen Erklärung für die ge-
nannten Zahlenverhältnisse (8, 8, i8, 18, 32, 6).
Da infolge des Kräftegleichgewichtes zwischen je
zwei Elektronen bzw. einem Elektron und dem
positiven Kerne eine Annäherung nur bis zu einer
ganz bestimmten Entfernung möglich ist, kann
man sich roh bildlich jedes Elektron als Zentrum
eines mehr oder weniger kugeligen Abstoßungs-
bereiches denken, innerhalb dessen auch die Bahn
des Elektrons liegen muß. Auf diese kugeligen
Wirkungsbereiche der Elektronen sind nun ein-
fach die Gesetze der dichtesten Kugelpackung
anzuwenden, um ein Bild von ihrer wahrschein-
lichsten räumlichen Verteilung zu gewinnen. Eine
bestimmte Anzahl von Abstoßungssphären werden
rund um den Atomkern als Mittelpunkt mit ihren
Zentren auf konzentrischen Kugelschalen ange-
ordnet sein. Im Mittelpunkt des Atomes ist der
positive Kern gemeinsam mit den beiden He-
Elektronen als isotrope Masse anzunehmen. Dieser
Typus des Heliums bildet den Ausgangspunkt für
den weiteren Aufbau der folgenden Atome. Das
um 8 Elektronen reichere Neon erhält man, wie
dies Born und Lande taten, durch Anordnung
von 8 Elektronenbereichen auf einer gemeinsamen
Kugelschale in den Normalenrichtungen eines
regulären Oktaeders. Alle Kräfte sind hier so
genau ins Gleichgewicht gesetzt, daß eine wesent-
liche Außenwirkung dieses Atombaues kaum zu
erwarten ist, wie es in der Tat der völligen che-
mischen und physikalischen Indifferenz des Edel-
gastypus entspricht. — Bei dem nächsten Typus
des Argons muß der obige Gedankengang zunächst
wiederholt werden, man gelangt bei etwas größerem
Durchmesser der Abstoßungsbereiche zu weiteren
8 „Elektronenkugeln", die mit ihren Zentren ge-
nau wie die der inneren Achterschale in den Ok-
taedernormalen angeordnet sind. — Bei dem
nächsten Typus in der dritten kugeligen Elek-
tronenschale werden die nochmals etwas ver-
größerten Abstoßungsbereiche ihre Gleichgewichts-
lagen gegenüber den beiden inneren Hüllen und
') Die gleichen Fragen sind von Tertsch behandelt in
der Arbeit: „Rristallographische Bemcikungen zum Atombau".
Sitz.-Ber. d. Wiener Akademie. Math, naturw. Kl. 1, 129, 91
(1920).
704
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 49
dem anziehenden Kern bei dichtester Packung am
leichtesten dort finden, wo sozusagen „Lücken"
oder Einbuchtungen in der . Ausgestaltung der
vorhergehenden Elektronenschale bestehen. Dies
trifft für die Richtungen der Würfel- und Rhom-
bendodekaedernormalen zu, hierdurch werden
6+12=18 neue Elektronen untergebracht, was
mit dem Zuwachs an Elektronen beim Krypton
tatsächlich übereinstimmt. — Beim nächsten Typus,
beim Xenon, brauchen sich nur wie bei der
zweiten Hülle auch hier die Gruppierungen der
dritten Schale in einer vierten nochmals zu wieder-
holen, um die Elektronenzahl 2-f8-f8+i8-l-i8
dieses Edelgases zu liefern. — Geht man zur
fünften Kugelschale über, so sieht man an der
Hand eines räumlichen Modells der bisherigen
vier Elektronenschalen leicht, daß nunmehr sich
in den „Lücken" über den Oktaeder- und Tetra-
kishexaedernormalen eine größere Annäherungs-
möglichkeit an den Kern ergibt. Diese 8 -|- 24= 32
Elektronenbahnen stimmen wieder mit den 32
Elektronen zusammen, die vom Xenon zum
nächsten Edelgastypus des Emmaniums führen. —
Die weiteren 6 Elektronen, die ans Ende der
letzten chemischen Periode führen, entsprechen
offenbar wieder den Würfelnormalen als den
Richtungen, die nunmehr zu größter Annäherung
an den Kern führen.
Über die Atomsymmetrie der übrigen zwischen
diesen Edelgastypen liegenden Elemente versucht
Tertsch durch möglichst ungezwungene An-
ordnung der Elektronen in der äußersten, gegen-
über dem voraufgehenden Edelgas hinzutretenden,
aber noch unvollständigen Elektronenschale Auf-
schluß zu erhalten. Er findet auf diese Weise in
der Tat von den 43 ihrer Kristallgestalt nach
bekannten Elementen für 23 Anordnungen ihrer
Elektronenbahnen in der äußersten Schale, die
mit der tatsächlichen Symmetrie übereinstimmen,
während bei 4 zweifelhaften Fällen die übrigen
16 Elemente sich nur gezwungen oder gar nicht
hinsichtlich ihres Atombaues mit ihrer Kristall-
symmetrie in Einklang bringen lassen. Immer-
hin haben diese Darlegungen gezeigt, wie hier
eine Möglichkeit vorliegt, dem Problem der Atom-
symmetrie auf neuen Wegen näher zu kommen.
[Anm. des Ref.: Es sei darauf hingewiesen, daß
neuerdings P. Niggl i in 2 Arbeiten über Kristall-
struktur und Atombau in der Zeitschr. f. Kristallogr.
56. Band (1921), S. 12 u. S. 167, insbesondere
S. 167 — 174, überzeugend dargetan hat, wie
wichtig für die räumliche Anordnung der Elek-
tronen im Atom die Zahlen 2, 6, 8, 12 und 24
ganz zweifellos sein müssen.] Spbg.
Die Übertragung der Pferderäude auf den
Menschen.
Beim Pferde unterscheidet man als anzeige-
pflichtige Räudeformen die Sarkoptes- und Der-
matokoptesräude. Die Dermatophagus- oder Fuß-
räude ist veterinärpolizeilich ohne Bedeutung, da
sie nur lokalisiert auftritt und auch ohne Behand-
lung von selbst heilt. Nur die Sarkoptesräude
ist auf den Menschen übertragbar; wenn auch
nicht alle Personen gleich empfänglich für die
Pferderäude sind, so sind doch während dem
Kriege und seit dem Kriege Übertragungen der-
selben auf den Menschen überaus häufig be-
obachtet worden. In der „Deutschen Tierärztl.
Wochenschr." Nr. 43 von 1920 wird die Ver-
schiedenheit der Empfänglichkeit der einzelnen
Individuen hauptsächlich von der Behaarung und
Feinheit der Haut abhängig gemacht. Viele Per-
sonen scheinen daher gegen eine Infektion immun
zu sein. Die Inkubationszeit ist kurz und dauert
im Durchschnitt 18 Stunden bis zu drei Tagen.
Die gewöhnlichen Prädilektionsstellen der Krätze,
Hand, Karpealgelenk und Schulterfalten bleiben
bei der Räude frei. Die Erkrankung beginnt erst
von der Mitte des Unterarmes an. Kopf und
Gesicht werden, wenn auch äußerst selten, doch
im Gegensatz zur Krätze, die bei Erwachsenen
gar nicht auf den Kopf übergeht, auch wohl von
der Räude ergriffen. Milbengänge sind beim
Menschen auch sehr selten und dann auch nur
andeutungsweise nachzuweisen. Der Milbennach-
weis ist sehr schwierig. Im allgemeinen ist der
Prozeß gutartig, die übertragene Räude heilt in
den meisten Fällen in 2 — 8 Wochen von selbst
ab. Jedoch kommen auch schwere Fälle, Kompli-
kationen vor, die nur medikamentöser Behandlung
weichen und zu Nachkrankheiten Veranlassung
geben. Eine Übertragung vom Menschen zum
Menschen gehört zu den größten Seltenheiten.
Reuter.
Literatur.
Kühn, Prof. Dr. A., Morphologie der Tiere in Bildern.
I.Heft: Protozoen. I.Teil: Flagellalen. Berlin '21, Gebr.
Bomträger.
Wächter, Dr. W., Vademecum für Sammler von Arznei-
und Gewürzpflanzen. Cölleda, Verlag der ,,Vegeta".
Baur, Prof. Dr. E., Fischer, Prof Dr. E. und Lenz,
Dr. F., Menschliche Erblichkeitslehre. Mit 65 Textfiguren.
München '21, Lehmann. 5° ^•
Haeckel, Ernst, Entwicklungsgeschichte einer Jugend.
Briefe an die Eltern. 1852—1855. Leipzig '21, K.F.Köhler.
40 M.
Zander, Prof Dr. E., Das Leben der Biene. Mit 138
Abbildungen. 2. erweiterte Aufl. Stuttgart, E. Ulmer. 20 M.
Inbalt: H. Balss, Über Stridulationsorgane bei dekapoden Crustaceen. (14 Abb.) S. 697. — Einzelberichte: H. Cloos,
Der Mechanismus tiefvulkanischer Vorgänge. S. 701. v. Eggeling, Inwieweit ist der Wurmfortsatz am menschlichen
Blinddarm ein rudimentäres Gebilde? (I Abb.) S. 702. H. Tertsch, Zur Frage der Atomsymmetrie. S. 703. Die
. ; Übertragung der Pferderäude auf den Menschen. S. 704. — Literatur: Liste. S. 704
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der ganxen Reihe 36. Band.
Sonntag, den ii. Dezember 1921.
Nummer 50.
Das Kontinuitätsprinzip in der Chemie.
Von Dr. Eduard Färber, Mannheim.
[Nachdruck verboten. 1
1. Die folgende Betrachtung bedarf an dieser
Stelle mehr für den ersten als den zweiten Teil
des Titels eines erläuternden Vorwortes; seine Auf-
gabe soll es sein, den Begriff Stetigkeit in dem-
jenigen Teil zu erklären, der dann auf einige an
sich wohlbekannte und nur neu zusammengefaßte
Tatsachen angewendet werden soll. Dabei wird
es im ganzen wohl so gehen, wie immer bei der
Entwicklung einer allgemeineren Theorie: Die
wird auch zuerst nur dem Vorhandenen, Bekannten
entnommen und scheint insoweit gar nichts an-
deres als dies, daher bloß unfruchtbare Wieder-
holung zu sein. Aber aus der Theorie folgt dann
die Neuordnung des Bekannten unter größeren
Gesichtspunkten und die systematisch begründete
Voraussage manches noch Unbekannten.
2. Gräbt man ganz „tief" auf den Grund
unserer Erkenntnis, so fördert man im besten
Falle etwas zutage, was auch ohne diese müh-
selige Arbeit als selbstverständlich jeder schon zu
besitzen meint. Man verwechselt dann nämlich
das rein gedanklich gewonnene Ergebnis mit dem
experimentellen. Es geht einem damit ungefähr
so, wie der neueren Physik mit der Atomtheorie ;
nach gewaltiger Arbeit wurde auch hier ihr Er-
gebnis als schon lange vorher fertiges entgegen-
gehalten. Wo immer solch allgemeine oder gar
allgemeinste Ergebnisse als experimentell erwiesen
ausgegeben werden, kann man sich auf dasselbe
Schauspiel gefaßt machen. Man stritt ja auch
lange darum, ob das Erhaltungsgesetz induktiv
aus Beobachtungen gewonnen oder a priori aufge-
stellt wurde. Bei objektivem Urteilen mußte dies
unentschieden, vielmehr unentscheidbar bleiben,
solange nicht genauer erklärt wurde, was gemeint
sei: Einerseits ist es klar, daß ein Erhaltungs-
gesetz als philosophisches schon bei manchen
alten griechischen Denkern sich findet, während
doch andererseits die Bestimmung dessen, was
denn erhalten bleibt, so viel Kampf und Mühe
kostete und wirklich erst sehr spät gelang. Ich
sage nur allgemein : Erhaltungsgesetz; man findet
seine Anwendung auf die Materie schon lange
vor Lavoisier in der Chemie, aber man findet
es auch bei und nach Lavoisier gelegentlich
ganz falsch, eben weil die Glieder der konstant-
bleibenden Summe falsch bestimmt wurden. Das
Erhaltungsgesetz für die Energie läßt ganz ähn-
liche und wohl nicht weniger oft verwirklichte
falsche Schlüsse zu — wobei nie das Gesetz falsch
war, aber falsche Bestimmungsstücke eingesetzt
wurden.
Noch weniger als hier, kann für das Stetig-
keitsgesetz der rein gedankliche Anteil achtlos
übergangen werden; ja er scheint hier so stark
vorzuwiegen, daß man kaum von einer Entdeckung
des Stetigkeitsgesetzes auch nur in dem Sinne
reden kann, wie von der Entdeckung des Erhal-
tungsgesetzes. Zwischen zwei verschiedenartigen,
auseinander hervorgehenden Zuständen müssen
stetige, nämlich allerkleinste, wirklich differenzielle
Übergänge gelegen haben — das ist einfach ganz
klar und braucht nicht erst entdeckt zu werden,
da der „gesunde Menschenverstand" es nicht an-
ders sagen oder denken könne. Wäre etwas
anderes als Stetiges, so geschähe das Wunder.
Das Stetigkeitsgesetz ist so trivial von Anfang an,
wie nach seiner langen Geschichte der Inhalt des
Erhaltungsgesetzes.
Diesem hohen Grade von Selbstverständlich-
keit steht aber das häufige Vorkommen scheinbar
ebenso selbstverständlicher Unstetigkeiten gegen-
über. Die Chemie scheint so ungefähr die
Wissenschaft vom Unstetigen zu sein : Da gilt es
ja, reine Stoffe streng von allem anderen, dem
„Fremden", zu trennen und als eigenartig zu er-
kennen; dabei stellen sich Sprunggesetze ver-
schiedener und grundlegender Art heraus, für
Verbindungsgewichte und Valenzen; Atome, Elek-
tronen, auch Quanten werden von der Physik her
übernommen. Die Physik ihrerseits war früher
reichlicher mit Stetigkeitsbetrachtungen versehen
gewesen, und gewiß hat die Chemie auch von
diesen Gebrauch gemacht. Nun aber haben sich
beide Wissenschaften im Gebiete der Unstetig-
keiten getroffen.
Nachdem wir also die Stetigkeit im Geschehen
als eigentlich nicht einmal erwähnenswerte feste
Grundlage annehmen sollten, tritt nun das Gegen-
teil mit demselben Geltungsanspruche hervor.
Der Widerspruch entsteht nicht etwa zwischen
der rein gedanklichen Forderung und dem tat-
sächlich Beobachteten; der Gedanke selbst, daß
eine Veränderung stetig verlaufen soll, läßt sich
in zwei solche einander widerstreitende Extreme
zerlegen. Wir befinden uns in der merkwürdigen,
aber recht häufigen Situation, wo Entgegengesetztes
als gleich — oder gleich wenig — einleuchtend
erscheint. Das bedeutet aber in jedem dieser
Fälle, daß man zu sehr auf einen bloßen Gedan-
ken acht hatte, und zu wenig darauf, wie man
die Tatsachen dabei verwertete. Was hier not
tut, um den Widerspruch nicht zum Widersinn
werden zu lassen, ist : eindringliche Untersuchung
des Erfahrungsmaterials, sachlicher statt rein ge-
danklicher Grund für die Inhaltsbestimmung des
7o6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 50
Begriffs. Das sollte man Naturwissenschaftlern
wohl weniger zu sagen brauchen als den Philo-
sophen; aber wenn man sich gewisser diesbezüg-
licher Äußerungen erinnert, so wird man solche
Hinweise auch an dieser Stelle nicht für ganz
unnütz halten.
3. Wohl aber mag nun ein Sprung zur all-
gemeinen sachlichen Erklärung des Begriffes
Stetigkeit erlaubt sein: Rein gedanklich heißt
Stetigkeit nur eine Denkmöglichkeit; auf Erfah-
rungsbildung angewendet, würde daraus eine
ideale Forderung: eben das Stetigkeitsideal zu
erreichen. Aber was damit gefordert wird, läßt
sich zunächst nur ganz allgemein sagen : nämlich
die Gewinnung von Begriffsinhalten, die den er-
wähnten Widerspruch „aufheben". Jenem Ideale
steht selbst die mathematische Stetigkeit nur be-
sonders nahe, sie erfüllt es nicht. Man erkennt
das, wenn man einem reinen Denker das Diffe-
renzial im mathematischen Sinne zu erklären hat;
denn denkmöglich sind noch viel kleinere und
näher aneinanderliegende Teilchen, als die dx
und dt. Wie weit naturwissenschaftliche Diszi-
plinen sich dem Ideale genähert haben, dafür
bilden die kleinsten Einheiten derselben ein un-
gefähres Eikennungsmerkmal. Eine solche Ein-
heit war bis vor wenigen Jahrzehnten in der
Physik das Atom, wie in der Chemie die damalige
Valenzeinheit. Das Atom ist freilich kein mathe-
matischer Punkt; wieder mußte man auf den be-
sonderen Sinn achten, um in der Konstruktion
eines ausgedehnten und doch unteilbaren Körper-
chens nicht ein gedankliches Unding zu ver-
urteilen, wie man es ja bei alten Philosophen —
hoffentlich nur diesen — nachlesen kann. Als
man das Atom zerlegen lernte, da glaubten
manche, den Triumph ihrer durch reines Denken
gewonnenen Voraussagen über das experimentelle
Untersuchen feiern zu können; während wir doch
nur eine Veränderung des sachlichen Inhaltes,
nämlich einer physikalischen Bestimmung von
Stetigkeit erlebten. Wären die chemischen Grund-
begriffe so bekannt wie die physikalischen, so
wäre ganz ähnliches geschehen, als man die
Valenzeinheit in Teile zerlegte. Man erinnert
sich, daß auch die „kleinsten" Teilchen, die in
der Biologie gefunden wurden, derartige Entwick-
lungen durchmachten: Zerlegung in Organe, Zer-
spaltung in Zellen, Erkennung von Zellstrukturen
und Aufbau von deren Elementen aus noch
kleineren Einheiten sind darin einige Phasen ge-
wesen.
Das sind einige von den diskreten Größen,
aus denen man die jeweiligen Gegenstände zu-
sammenzusetzen vermochte, Objektivierungen
dessen, was wir gerade noch unterscheiden können,
und was doch so eng beieinander ist, daß bei
der darauffolgenden Zusammensetzung keine Lük-
ken oder Unebenheiten bleiben. Wenn man also
sagen wollte, was Stetigkeit denn „wirklich" ist,
so müßte man aus allen Wissenschaften diejenigen
Erfahrungsbegriffe untersuchen, die auf ihrem
Spezialgebiete kleinste Sprünge darstellen. Elek-
tronen, Partialvalenzen, heute letzte Zelleinheiten
sind die Differentiale der Naturwissenschaften.
Sie alle enthalten eben jenen Widerspruch, der
nur zu einer genaueren sachlichen Ergründung
veranlassen kann.
Für die Biologie ist ein derartiger Bestim-
mungsversuch veröffentlicht worden; *) daß er
recht unzureichend ausgefallen ist, liegt wohl auch
daran, daß für die Hilfswissenschaften der Biologie
noch so wenig in dieser Richtung geschehen ist.
4. Die Diskontinuität — wie man vom Stand-
orte des rein gedanklichen Betrachtens sagen
könnte — , die Art der Stetigkeitserfüllung — wie
es sachlich heißt — , die in der Chemie verwirk-
licht wird, läßt sich nicht etwa durch die 92 Ele-
mente kennzeichnen. Dazwischen besteht ja die
gewaltige Fülle der Verbindungen dieser Elemente
untereinander. Von dieser Seite her hat die
Aufgabe : Sietigkeitserfüllung einen Sinn, wie etwa
für das Verhältnis von Atom ur.d Elektron zum
wahren, greifbaren Gegenstande. Dann sollen
die chemisch reinen Stoffe Zerlegungseinheiten
sein, die eine Chemie des höchsten natürlichen
Komplexes dieser Stoffe, des „Lebens" selbst zu-
sammen zusetzen gestatten.
In gewisser Hinsicht kann die neuerdings ver-
stärkte biochemische Forschung als ein Zeichen
dafür gelten, daß die Chemie auch als Wissen-
schaft schon alt geworden ist und sich, im Sinne
jenes Wortes von Goethe, dem Leben nach
einem Umwege wieder nähert. Doch vergesse
man nicht, daß schon vor einem Jahrhundert
eifrig biochemisch gearbeitet wurde, und daß es
eigentlich seit jeher geschah. Der Unterschied
zwischen einst und jetzt liegt anderswo. Früher
versuchte man — unter anderem — eine Zettei-
lung des lebendigen Organismus in wenige Stücke;
statt eigentlich reiner Stoffe erhielt man also Ge-
mische, denen von ihrem Ursprünge noch man-
cherlei mit anhaftete. Selbst die Pottasche war
ja verschieden je nach den zum Ausgangsmateriale
genommenen Pflanzenteilen.
Es gelang nicht, mit diesen von ihrem Ur-
sprünge noch wesentlich beeinflußten wenigen
Teilen das organische Ganze zusammenzusetzen.
Das läßt sich vielleicht logisch sehr schwer ver-
stehen, man muß diese Unmöglichkeit als eine
experimentelle und historische Tatsache hin-
nehmen. Vielleicht konnte man eine Zeitlang
glauben, das Ziel doch mit den damaligen Zer-
legungseinheiten gewonnen zu haben. Es be-
durfte eben einer verfeinerten Beobachtung, um
den Unterschied zwischen dem Erreichten und
dem Geforderten auch zu erkennen; so daß ein
Fortschritt nicht allein in der Zahl der Zerlegungs-
einheiten zu bestehen braucht, sondern auch da
zutage tritt, wenn die Unzulänglichkeit der ge-
') „Das Kontinuitätsprinzip und seine Anwendung in der
Biologie" von J. Dembowski. Berlin 1920, Verlag von
Julius Springer.
N. F. XX. Nr. SO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
707
fundenen Teile im Vergleiche zur Einheit des
Ganzen bewiesen werden kann. Sehr oft — darf
man sagen: regelmäßig? — vollzog sich die Ent-
wicklung in der Chemie so, daß beide Arten von
Fortschreiten miteinander abwechselten. So ist
man zwar an gewissen Stellen wieder dahin zu-
rückgekehrt, statt chemisch definierler Verbin-
dungen „natürlichere" Gemische als Medikamente
zu benutzen; aber man darf wohl voraussehen,
daß hierauf die Isolierung derjenigen Bestandteile
folgen wird, in denen eigentlich der bedeutsame
Unterschied der Wirkung konzentriert ist. Dafür
hat man ja auch ein Beispiel mit einer längeren
Geschichte und der Darbietung auch dieser späten
Phase: Liebig, wie andere gelegentlich zu
rationalistische Chemiker, wollte das Mineral-
wasser durch die Zusammensetzung aus seinen
chemisch isolierten Bestandteilen ganz identisch
nachkonstruieren. Doch der Unterschied zwischen
der Wirkung des natürlichen und der des künst-
lichen Mineralwassers wurde in einigen Fällen
tatsächlich erkannt, erklärt freilich erst nach dem
Eindringen in die radioaktiven Vorgänge. Man
wird sich hüten, zu rasch abfällig über die dabei
begangenen früheren Irrtümer zu urteilen, wenn
man die Schwierigkeiten mancher ähnlichen
Gegenwartsaufgaben erfahren hat: etwa der
Forschung auf dem Gebiete der Ergänzungs-
nährstoffe (Vitamine).
Nicht das also ist das Wesentliche oder gar
Einzige, daß die Einheit des Organismus in dis-
krete Teile zerlegt wird; und auch die Ansicht
ist falsch, als geschähe die Zerlegung nun will-
kürlich durch die Eigenart — weniger objektiv
ausgedrückt: Unvollkommenheit — unserer Be-
obachtungsweise. Die Aufgabe heißt vielmehr,
mit den rein isolierten Stoffen eine Reihe stetiger
Übergänge zu bilden, so daß deren Summe das
Ganze ergibt. Die für sich diskreten Teile sind
doch kontinuierlich in bezug auf das Ganze.
5. Die Beispiele aus der Biochemie sind viel-
leicht nicht die einfachsten, die zur Erläuterung
des chemischen Inhalts von Stetigkeit angeführt
werden können. Aber Biochemie erscheint vor
allem dadurch schwierig, daß hier die letzte Auf-
gabe stets besonders deutlich gegenwärtig ist : die
Addition, vielmehr Integration, der chemischen
Individuen zum lebendigen Ganzen. Dagegen
läßt sich das Aufgabengebiet der Chemie der
einzelnen Verbindungen für sich abgrenzen: Die
Verbindungen gilt es dann auf die kleinste Zahl
gemeinsamer Nenner zu bringen. Auch hier muß
darum zerlegt und scharf abgegrenzt werden.
Außerdem fordert der Widerspruch, der im Be-
griffe der Grenze als Scheidendem und zugleich
Verbindendem liegt, in eigener Weise seine ex-
perimentelle Lösung.
Der Stoff als eine Verbindung wird in Teile
zerlegt; ein Überblick über die historische Ent-
wicklung dieses Zerlegens würde wohl am besten
eben an ihrem Gange die Relativität des che-
mischen Stetigkeitsinhaltes kennzeichnen können.
Nur an die allgemeinste Linie solcher Entwicklung
kann hier erinnert werden:^) In der organischen
Chemie hatte man etwa in der Zeit Lavoisiers
und kurz darnach neben die Abscheidung einer
Verbindung nur ihre Elementaranalyse zu setzen,
und nichts Vermittelndes dazwischen. Daß hier
überhaupt noch Zwischenraum vorhanden war,
war noch nicht experimentelle Tatsache geworden.
Es mußte sich erst zeigen, daß man bei der Ver-
brennung der organischen Substanz noch nicht
zu deren „nächsten" Bestandteilen gelangt. Die
offenbaren sich nur viel feineren Einwirkungen.
G. J. Mulder, besonders aus seinem Streit mit
Liebig bekannt, schrieb 1843: „Brüler les sub-
stances organiques avec l'oxyde de cuivre, n'est
pas les etudier." Damals vermochte man aller-
dings schon ganz andere Aufschlüsse beizubringen.
Man trennte nicht alle chemischen Bindungen
voneinander, sondern behielt einen Teil davon
im Radikale beisammen (Äthyl-, Benzoyl-Ra-
dikal). Viel Streit entstand über die sinngemäße
Erklärung dieses Beieinander (Berzelius, Lie-
big). So tief versenkte man sich darein, daß im
Nebel der Radikale die Atome dem Blicke entschwan-
den (nach Kekule). Tatsächlich mußte man erst
eigentlich lernen, die Atome auch chemisch,
nämlich experimentell, präparativ, zu fassen, wie
es etwa allmählich bei den Substitutionen einzelner
Atome einer Verbindung durch andere gelang.
Die Größe der Zerlegungseinheit war damit ver-
ringert, der Sprung zwischen diesen Einheiten
näherte sich dem zwischen mathematischen
Differentialen. Nun hören wir in den letzten
Tagen die Klage mancher Chemiker, daß man
doch chemisch nur so grob mit der Materie um-
gehen könnte und nicht immer bis zu den letzten
Teilchen der Physik, den Elektronen, auch che-
misch gelangte.
In den allgemeinen Richtungen gilt dieser
Entwicklungsgang auch für die anorganische Che-
mie. Berzelius setzt in seinem „Lehrbuch"
auseinander, wie relativ es gemeint sein muß,
wenn man in Kupfersulfat CuO-j-SOg oder
Cu + SO4 als „eigentliche" Konstituenten an-
nimmt. Früher einmal war „Salz" überhaupt ein
einheitlich kennzeichnender Begriff für ein Un-
trennbares gewesen, jetzt mußten nicht nur die
Elemente bestimmt werden, sondern auch ge-
nauer die Gruppen ihres Zusammenhaltens. Die
experimentelle Auflösung in die Atome und das
Vordringen bis zu den Elektronen folgt spät.
Außerdem gab es noch eine andere Entwicklungs-
linie : Verbindungen zwischen eigentlich gesättigten
Bestandteilen wurden zwar schon vor vielen Jahr-
zehnten untersucht; aber erst gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts, vor allem seit Alfred
Werners systematischer Abhandlung aus dem
Jahre 1893, gewannen diese komplexen Ver-
bindungen eigene Bedeutung. Der große Zwischen-
') Vgl. dazu: E. Färber, Die geschichtliche Entwick-
lung der Chemie. Berlin 1921, Verlag von Julius Springer.
7o8
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 50
räum zwischen den einfachen Verbindungen wurde
dadurch an vielen Stellen ausgefüllt, und physiko-
chemische Methoden lehrten die hier möglichen
Übergänge erkennen. Die Lehre von der Valenz,
als Ausdruck der gefundenen Verbindungsmög-
lichkeiten, wurde entsprechend zu größerer
Stetigkeitserfüllung erweitert : Die alte starre
Valenzeinheit wurde geteilt, und in einer um-
fassenden Theorie ein kontinuierliches Valenz-
feld als Grundlage gewählt.
6. Damit ist freilich durchaus nicht das Ge-
setz der konstanten und multiplen Proportionen
beseitigt ; aber wie es verändert wurde, das zeigt
etwa eine prinzipielle Äußerung aus der neuesten
Zeit : ,,Die neue Auffassung ist hier also liberaler
als die alte und fordert konstante, einfache Zu-
sammensetzung nicht da, wo sie in Wahrheit nicht
anzutreffen ist, wie z. B. bei den vielen amorphen
basischen Salzen^ Silikaten usw.; wie sie hier
überhaupt nicht mehr die scharfe Grenze zwischen
physikalischer und chemischer Einwirkung zieht,
welche der Natur fremd ist . . ." ^)
Man würde daraus schließen, daß die neuere
Entwicklung der Chemie zu ganz besonderer Aus-
bildung des Stetigkeitsgedankens geführt hätte.
Es gäbe ja auch zahlreiche andere Beispiele da-
für. Die Kolloidchemie bietet in der Beziehung
viel interessante Einzelheiten, und sie selbst ist
ja ein Mittelglied zwischen früher übergangslos
getrennten Gebieten. Aber man findet doch zu-
gleich auch Grundlagen für die gerade entgegen-
gesetzte Ansicht. Da zeigt sich eben auch beim
spezielleren Eindringen der Widerspruch, wie im
Gebiete des allgemeinen daran. In der Physik
trat an die Stelle einer als selbstverständlich an-
genommenen Behauptung von stetiger Energie-
aussendung die Quantentheorie. Sie wurde auch
chemisch bedeutsam. Das periodische System
halte zuerst die definitionsgemäß durchaus eigen-
artigen Elemente in Ähnlichkeitsreihen gebracht:
Übergänge fanden zwar nicht zwischen den Ele-
menten, aber doch zwischen ihren Eigenschaften
statt. Daraus ließ sich logisch die Forderung ab-
leiten, daß nun auch die materiellen Träger der
qualitativen Ähnlichkeiten erschlossen würden.
Anfangs tat man zwar so, als müßte eine solche
Forderung mit dem Prädikate : zu spekulativ aus
der Chemie verwiesen werden ; in Wirklichkeit
hatte die P r o u t sehe Hypothese nie aufgehört
lebendig iu sein. Umwandlungen eines Elementes
in andere wurden tatsächlich gefaßt; nun ist man
eifrig dabei, dies aus der Konstitution der Materie,
aus der Zurückführung aller Elemente auf ein
Urelement, zu erklären. Wären also selbst die
Elemente durch stetige Übergänge verbunden?
Man könnte darauf mit Nein antworten; früher
wußte man wenigstens nicht von den Übergängen,
jetzt wären sie jedoch als unstetige erkannt, denn
zwischen den Elementen lägen ja immer Sprünge
um Wassetstoffkerne. Selbst wenn wir manches.
') F. Arndt, Zeitschr. f. Elektrochemie 26, 312 (1920).
was bisher nur Aufgabe und Problem ist, als ge-
löst betrachten dürfen, gelangten wir doch höchstens
zu jenen bisher kleinsten Unstetigkeitsgebilden,
den Elektronen. Ist dann nicht erneut bewiesen,
daß UnStetigkeit und nicht ihr Gegenteil in der
Natur herrscht?
Bleiben wir solchen Behauptungen gegenüber
kritisch : untersuchen wir ihren sachlichen Sinn.
Das Chlor mit seinem Atomgewicht 35,46, nach
manchem älteren Streite als Element anerkannt,
wurde neuerdings in Isotope aufgelöst (Aston).
Wo früher nur Einheitlichkeit angenommen wurde,
erkennt man jetzt Bestandteile. Die sind nach
ihrer zahlenmäßigen Bestimmung freilich weit
voneinander entfernt: 35 und 37 wären z. B.
Atomgewichte der Chlorarten. Aber die Unter-
scheidung zwischen ihnen wurde ja erst an der
äußersten Grenze der experimentellen Kunst —
nicht unserer Zeit, sondern eines hervorragenden
Einzelnen — ermöglicht. Wenn der Stetigkeits-
gedanke auf solche experimentelle Ergebnisse be-
zogen werden soll, dann muß er diese auch mit
ihrer experimentellen Bedeutung aufnehmen. Dann
bedeuten die Sprünge nur wieder so viel, wie die
Differentiale in der Mathematik; und das Maß
der Sprungweite ist nicht von einer reinen Zahlen-
lehre, sondern von der Eigenart der Sache herzu-
nehmen. Jetzt nennen wir verschiedene Elemente,
was nur in der einen, und gewiß sehr schwer
feststellbaren Eigenschaft, nämlich in radioaktiver
Beziehung quantitativ verschieden ist. Das sind
also Stoffe, die noch mit allen anderen ihrer
Eigenschaften gar nicht aus dem Zusammenhange
mit gewissen anderen Stoffen abgetrennt wurden.
Wir erleben stets neue Fortschritte in der Rich-
tung, für diese Fälle auch andere Eigenschaften
als eigenartig zu bestimmen und dadurch die
Absonderung weiter auszudehnen. Dabei werden
die Zusammenhänge nicht vernichtet, sondern
gemessen, da ja auch dann das eine am anderen
erkannt wird. So war denn nicht vorher Stetig-
keit, und nun das Gegenteil: sondern wo vorher
Unbestimmtheit war, hat man nun sachlichen
Inhalt gewonnen.
7. An diesen wenigen und nur angedeuteten
Beispielen erkennt man, was Stetigkeit in der
Chemie heißen kann. Für zusammenfassende ge-
schichtliche Betrachtungen wird man wohl kaum
einen besseren Leitfaden gewinnen können, als
die Entwicklung von Stetigkeitserfüllung darin
hervorzuheben. Wenn man darnach von einer
nützlichen Fiktion sprechen wollte, so könnte man
damit nur meinen, daß noch weitere Bestätigungen
als diese nötig sind, um vom Stetigkeitsgedanken
eine „realere" Geltung behaupten zu dürfen.
Ein solches Verlangen könnte sich zunächst
darauf beziehen, daß hier, wie mit einer spezielle-
ren Theorie auch, die Voraussage auf noch Un-
bekanntes geleistet würde. Das Kontinuitäts-
prinzip läßt sich freilich nur nach gewissen Voraus-
setzungen als Theorie bezeichnen. Dennoch kann
so etwas wie eine Voraussage damit gemacht
N. F. XX. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
709
werden, eine sehr allgemeine allerdings, wie es
der Allgemeinheit des Prinzips entspricht; es
handelt sich um eine Folgerung, die allerdings
bei falscher Auffassung als das Gegenteil des
Prinzips selbst erscheinen müßte I Die Annahme
ununterscheidbarer und grundsätzlich unzerlegbarer
Gebilde oder Vorgänge wird stets nur eine vor-
läufige Annahme sein; sie geht nämlich dem
eigentlichen Erkennen voraus, sie bildet eine
Krücke dort, wo wir noch nicht bestimmte Mes-
sungen anstellen können. Schwingungszustände
zwischen chemisch ausdrückbaren Formen müssen
immer zerlegt werden in die Individuen, die zwi-
schen den Anfangs- und den Endzustand gelegt
werden können , sei es auch erst nach der Er-
weiterung früherer Annahmen. Die Übergänge
eines Elementes in andere werden erst durch die
Stufen dabei genau gekennzeichnet. Das undifife-
renzierte Valenzfeld bedarf der Bestimmung durch
diskrete Teile darin.
Doch dann ist es die weitere Aufgabe, die
gefundenen bestimmten Teile recht nahe anein-
ander zu rücken. Wohl muß man sie unter-
scheiden können — das ist fast selbstverständlich ;
aber die Unterschiedsgröße hat einen Wert, der
sich nur differentiell über denjenigen des unter-
schiedslosen Überganges erhebt. Das reine Den-
ken kann zwar noch weiter zu führen vermeinen;
aber dann geschieht es eben ohne sachliche Be-
deutung und ohne experimentellen Sinn. Wir
können noch viel kleinere Zahlen aufschreiben,
als die für Elektronen und Quanten gefundenen;
wenn das aber heißt, daß man weitere Zerteilun-
gen noch suchen kann, so bedeutet es durchaus
nicht, daß sie schon gefunden wären, also auch
nicht, daß es vollkommenere Ausdrücke für Stetig-
keit in diesen Gebieten gäbe, als eben diese dis-
kreten Gebilde.
8. Das alles ist von der Selbstverständlichkeit
durchtränkt, die allen gründlich allgemeinen Be-
hauptungen gemeinsam ist. Auch das Erhaltungs-
prinzip ist selbstverständlich in diesem Sinne und
doch so außerordentlich fruchtbar für die For-
schung. Aber darf man beide Prinzipien auch
wirklich tiefgehend vergleichen ? Aus dem Er-
haltungsprinzip sind viele spezielle Gesetze ab-
geleitet worden, und man konnte es dann in
mathematische Formen kleiden. Ist es mit dem
Kontinuitätsprinzipe ähnlich ? Sein eigentlicher
allgemeiner Ausdruck ist die Mathematik der
Differenziale ; damit wird es bekanntlich fast überall
in den Naturwissenschaften angewendet.
Doch in der Chemie gibt es viele Teile, die
sich der völligen mathematischen Fassung ent-
ziehen. Zwar sind die Forderungen alt, daß die
Qualitäten durch Zahlen auszudrücken sein sollten;
aber das ist weitgehend noch bloß Forderung
geblieben. Wir sind jetzt auf dem Wege zu
ihrer Erfüllung; aber wir sind es ja immer schon
gewesen. Nur verlangt doch die allgemeine
Richtung neuerer chemischer Forschungen nach
ihrer prinzipiellen, bewußten Fassung. Einst
konnte das Erhaltungsprinzip die Grundlage für
viele neue Erkenntnisse bilden : Man erinnert sich
etwa, außer der Erledigung der Phlogistontheorie,
auch der Beweise für die Natur der Erde, die
scheinbar aus dem reinen Wasser gebildet wurde,
oder der Chemie der Kieselfluorwasserstofifsäure
und vieler ähnlicher wichtiger Entscheidungen.
Heute kann in demselben Sinne das Stetigkeits-
prinzip fruchtbar werden : wie wir es schon in
manchen Forschungen über Katalyse erlebt haben,
wie es überall da kenntlich wird, wo man engere
und feinere Zwischenstufen bei chemischen Um-
wandlungen sucht, und wie es so oft bei Dis-
kussionen über die Beweiskraft eines Versuchser-
gebnisses für einen davon ein wenig abweichen-
den Vorgang auftritt. Ein solches Forschungs-
prinzip ist aber stets auch als Erkenntnisprinzip
wichtig: als die Grundlage, um den Umfang und
den Wert unserer wissenschaftlichen Behauptungen
zu deuten.
[Nachdruck verboten.]
Täuschende Ähnlichkeit mit Ameisen (Myrmekoidie).
Von Franz Heikertinger, Wien.
Die Ameisen gelten vielfach als von Insekten-
fressern gemieden und es wird angenommen, daß
eine Ähnlichkeit mit ihnen anderen Insekten
lebenerhaltenden Schutz gewähre.
Voraussetzung für die Richtigkeit dieser An-
nahme ist der wissenschaftliche Nachweis
eines wirklichen Geschütztseins der Ameisen selbst.
Diese Forderung steht einer objektiven Unter-
suchung ofifen.
Als Feinde ameisengroßer Insekten kommen
in Betracht: Halbparasitische Insekten (Raub-
wespen, Schlupfwespen, Schmarotzerfliegen usw.),
räuberische Insekten (Raubfliegen, Libellen usw.)
und Spinnen, ferner Amphibien, Reptilien, Vögel
und Säugetiere.
Hiervon wurden die Insekten und Spinnen
kaum je als die Urheber einer natürlichen Aus-
lese der Ameisenähnlichkeit bezeichnet. Ameisen
werden von Raubinsekten und Spinnen nicht ge-
mieden. Daß sie im allgemeinen nicht gesucht
sind, erklärt sich zwanglos aus ihren wenig ver-
lockenden Eigenschaften, ihrer Kleinheit, Fleisch-
losigkeit usw.
Nach Wasmanns Zusammenstellung z. B.
macht die Grabwespe Crossocenis (Fertoniiis)
luteicolUs (Tracheliodcs quinquenotatus) Jagd auf
die wehrhafte Ameise Tapvioma erraticmn ; Crabro
(Brachymerus) curvüarsis raubt Arbeiterinnen der
sehr kriegerischen und angrififslustigen Ameise
Liometopum micrüceplialuDi ; schon D e g e e r be-
710
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 50
richtet über den Raub der giftstachelbewehrten
Myrviica rubra durch Wespen usw. Unter den
Schlupfwespen sind zahlreiche Arten der Braco-
niden, Chalcididen und Proctotrupiden als Ameisen-
parasiten bekannt geworden. Von den Fliegen
sind manche Phoriden, z. B. der sog. Ameisen-
köpfer (Apocephalus gandei), Ameisenparasiten.
Der Ameisenlöwe hat den Namen von seinem
Beutetier erhalten und von den Spiimen sind die
Theridmm- hntn u. a. als Ameisenjäger bekannt.
Amphibien verschmähen Ameisen so wenig
wie sie Bienen und Wespen verschmähen. Der
bekannte Forscher J. H. Fabre teilt mit, daß
Kotwürstchen von Erdkröten fast ausschließlich
aus Hunderten von Ameisenköpfen bestanden. In
den Tropen sind die Engystomiden, die nord-
amerikanische Krötenechse, ferner Zonuriden,
Amphisbaenen, Geckonen usw. Ameisenfresser.
Hauptfeinde sind die Vögel. Warum ein
Vogel eine Ameise fürchten sollte, wäre auch
kaum verständlich. Die Vögel sind flink, ihre
Beine sind hornig bekleidet, ihr horniger Schnabel
gestattet ihnen, die kleinen Ameisen sicher zu
fassen und sofort zu töten. Zu alldem ist Mund-
höhle und Verdauungsweg sehr fest ausgekleidet.
Die Vögel sind sehr unempfindlich und ge-
schmacksstumpf; Futter, das in 10% Ameisen-
säure eingeweicht war oder Trinkwasser mit 5 %
Ameisensäure (beides nach menschlichen Begriffen
entsetzlich schmeckend) wird nach Liebmanns
Versuchen ohne weiteres angenommen. Was
könnte die kleine Ameise dem Vogel anhaben?
Und den Angriffen einer Ameisen schar sich zu
entziehen ist sicher jeder Vogel geschickt genug.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen be-
stehen in Fütterungsexperimenten mit gefangenen
Vögeln und in der Prüfung der Mageninhalte im
Freileben erlegter Vögel.
Von Fütterungsversuchen erwähne ich als Bei-
spiel nur den von R. I. Pocock,*) der die sehr
wehrhalte rote Waldameise, Formica rufa, drei-
zehn Arten gefangener Vögel vorlegte und zu
seinem Erstaunen fand, daß alle zu den Ver-
suchen herangezogenen Vögel davon begierig
fraßen, soviel sie erhielten. Er zieht den „unver-
meidlichen Schluß, daß diese Insekten schmack-
haft seien" und meint, Ameisenmimikry würde
mehr gegen räuberische Hautflügler (Pompiliden)
wirksam sein. Nun sind aber die Hautflügler
strenge Spezialisten, jede Art nur bestimmte In-
sekten jagend, und entwickeln beim Aufsuchen
und Erkennen ihrer Beute so eigenartige, dem
Menschen unverständliche Sinnesqualitäten, daß
für die Annahme eines Schutzes durch eine vage
äußere Ähnlichkeit mit Ameisen jede wissenschaft-
liche Berechtigung selbst dann fehlen würde, wenn
irgend eine Art Geschütztseins der Ameisen er-
wiesen wäre.
Von Mageninhaltsuntersuchungen an euro-
') Proceed. Zool. Soc, London 1911, p. 849.
päischen Vögeln sind die von E. Csiki^) wohl
die umfangreichsten und genauesten. Sie um-
fassen etwa 2520 Mageninhalte von 60 mittel-
europäischen insektenfressenden Vogelarten; es
kommen also im Durchschnitt 42 Magen auf eine
Vogelart, ein Materialumfang, der brauchbare
Schlüsse zuläßt. In 51 von diesen öoVogel-
arten fanden sich Ameisen, also in 85 "/o
der Vogelarten. Diese Vögel gehören den
verschiedensten Familien an. Zur Sicherheit über
den Punkt, ob es sich bei diesen Ameisen um
geflügelte Geschlechtstiere oder um Arbeiter
handelt, habe ich mich brieflich an Herrn Kustos
Csiki gewendet und die Mitteilung erhalten, daß
fast ausschließlich Arbeiter in Betracht
kämen.
Ähnliche Ergebnisse zeigen Untersuchungen
von E. Rey und A. Reichert, W. Baer,
G. Rörig, K. Loos, W. Schuster u. a., bei
denen indes in Betracht zu ziehen ist, daß die
Zahl der untersuchten Magen eine relativ meist
viel kleinere ist, daß Raubvögel, Wasser- und
Strandvögel, im Fluge jagende Vögel usw. aus-
zuschalten sind, da sie den Ameisenarbeitern
kaum je begegnen werden, bzw. letztere viel zu
klein für sie sind usw.
Unter den als Ameisenfressern nachgewiesenen
Vögeln ist die Mehrzahl unserer kleineren In-
sektenfresser (die ja hier in erster Linie maß-
gebend sind), ferner Spechte, Hühnervögel (wie
Haselhuhn, Birkhuhn, Auerhuhn, Rebhuhn,
Wachtel) usw.
Die Gesamtheit der vorhandenen Angaben, zu
deren Vorführung hier der Raum mangelt, er-
weist: Ameisen werden von fast allen
insektenfressenden Vögeln der Heimat
gerne und in großer Anzahl verzehrt.
Von einem wirksamen Geschütztsein auch in
kleinem Umfange kann nicht die Rede sein; sie
sind vielmehr ein Hauptbestandteil nor-
maler Vogelnahrung. Da die Ameisen selbst
ungeschützt sind, so kann auch eine mehr minder
große Ähnlichkeit mit ihnen einem anderen In-
sekt keinen Schutz gewähren.
Übereinstimmende Verhältnisse finden wir
nach den schönen Arbeiten von F. E. L. Beal,
W. L. Mac Atee, S. D. Judd u. a. in Nord-
amerika. Die Spechtuntersuchungen Beals z. B.
ruhen auf 3453 Mageninhalten von 16 Specht-
arten; mithin kommen im Durchschnitt auf eine
Art 215 Mageninhalte. In allen Arten fanden
sich Ameisen ; bei manchen Arten bildeten Ameisen
85.94 "/o> 56,75 "/'o usw. der Nahrung. Beal sagt:
„Ameisen bilden den größten Teil der
animalischen Nahrung."
Eingehende Untersuchungen über die Nahrung
indischer Vögel verdanken wir C. W. Mason
und H. Maxwell- Lefroy. Nach ihnen bilden
Ameisen „einen sehr großen Anteil an
') Positive Daten über die Nahrung unserer
Vögel. Aquila, Budapest 1904 — 1914.
N. F. XX. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
711
der Insektennahrung der indischen
Vögel. Sie sind wohl die Lieblingsnahrung der
Spechte, Wendehälse, Roller {Coracias) und einiger
Fasanen. Die meisten Vögel, welche
überhaupt Insekten fressen, verzehren
auch Ameisen dieser oder jener Ar t".
Desgleichen erweisen die Arbeiten G. L. Bates'
und G. A. K. Marshalls für Afrika, die Arbeit
I. B. Clelands für Australien u. a., die Gültig-
keit dieser Regel für die übrige Welt.
Ich habe andernorts auch eine Arbeit F. Dahls
über die Vögel der Bismarckinseln herangezogen,
was diesen Forscher zu einer Antwort in dieser
Zeitschrift veranlaßte. Ich schrieb : ^) „Eine Ar-
beit F. Dahls gewährt uns einigen Einblick in
die Nahrung der Vögel der Bismarckinseln. Von
63 zumeist insektivoren Vogelarten fanden sich
in 28 Ameisen vor und zwar ebensowohl ge-
flügelte wie ungeflügelte." Dahl ersetzt diese
Ziffern durch andere, was mich zu einer sach-
lichen Richtigstellung zwingt.
Ich habe in 28 von 63 „zumeist insektivoren"
Vogelarten Ameisen gezählt, das gibt den Prozent-
satz von 44-44"/„ Ameisenfressern. Dahl stellt
fest, daß in 27 von 54 insektenfressenden Vogel-
arten Ameisen waren, und das gibt den Prozent-
satz von 50 "/(, Ameisenfressern. Diese einfache
Rechnung zeigte, daß Dahls Ziffern weit
günstiger für meine Anschauung
sprechen als meine eigenen es tun. Und
da wohl niemand zu seinem eigenen Nachteile
„fälscht", ist Dahls Wort von der „Fälschung"
verfehlt und ich weise es zurück. Was aber die
Verschiedenheit meiner und der D ah Ischen Be-
rechnung anbelangt, so ist sie objektiv leicht auf-
geklärt.
Dahls Arbeit, so schön sie ansonsten ist, ist
hinsichtlich der Angabe über Insektennahrung
außerordentlich unübersichtlich ; die Angaben sind
bei jeder Vogelart einzeln und zwar in Textform,
nicht an gleicher Stelle gegeben; eine Zusammen-
stellung fehlt, so daß es überaus schwierig und
zeitraubend ist, Bestimmtes herauszusuchen. Ich
habe mir die Mühe gegeben und herausgefunden,
daß 63 Vogelarten , in denen sich Insektenreste
fanden, in Betracht kommen dürften. Da Dahl
aber alle jene Arten ausschaltet, in denen er nur
eine sehr geringe Zahl von Insekten fand, so erhält
er die restringierte Zahl von 54 ausgesprochenen
Insektenfressern. Ob bei der viel zu geringen
Zahl der untersuchten Magen (es kommen im
Durchschnitt nur etwa 3 auf jede Vogelart) eine
solche Scheidung zweckmäßig ist, lasse ich un-
erörtert. Jedenfalls ist meine Auffassung sachlich
ebenso gerechtfertigt wie die Dah Ische;
günstiger für mich aber ist seine, denn sie erhöht
den Prozentsatz der Ameisenfresser.
Ich zählte 28 Ameisenfresser, Dahl zählte 27.
Ich habe daraufhin Dahls Arbeit nochmals vor-
genommen und etliche Stunden der mühsamen
') Biolog. Zentralblau Bd. 39, 1919, S. 98.
zweimaligen Zählung geopfert und — finde nur
26 1 Es ist möglich, daß ich eine Angabe über-
sah; aber die muß wohl an einer Stelle stehen,
an der sie auch einem sorgfältig Zählenden ent-
gehen muß. Dahl dürfte sich indes ebenso wie
ich bei der ersten Zählung der zersplitterten
Daten in seiner eigenen Arbeit geirrt haben und
hat dann wohl keinen Grund, über den gleichen
Irrtum eines anderen in solcher Form abzuurteilen.
Mein Irrtum ist so wenig eine „Fälschung" wie
seiner; Forscher sollten ihre Worte objektiv
wählen. ')
Meine Angabe, daß sich in den Magen „eben-
sowohl geflügelte wie ungeflügelte Ameisen fan-
den", ist richtig. Daß sich in allen 28 (27, recte
26) ungeflügelte befanden, habe ich nicht be-
hauptet.
Es ist zu beachten, daß manche der 54 Insekten-
fresser ihrer Lebensweise (Jagd auf fliegende In-
sekten) nach mit Ameisenarbeitern kaum je zu-
sammentreffen werden, also bei der Beurteilung
der Frage auszuschalten wären. Dies gilt zumin-
dest von den zwei Seeschwalben {Sterna), dem
Bienenfresser Merops, den Seglern Alacropteryx
und 2 Arten Collocaüa, den Schwalben Petroche-
lidon und Hiru7ido und den Fliegenfängern RJii-
pidura (3 Arten). Es scheiden also 1 1 Arten aus
und bleiben 43. Dahl meint, daß es für 19 Arten
möglich, aber nur für etwa 1 2 Arten wahrschein-
lich sei, daß die Reste in ihren Magen von
Ameisenarbeitern (also den eigentlichen Mimikry-
modellen) herrühren. Nehmen wir nur 12 unter
43, so ergibt das einen Prozentsatz von 27,90 "/q.
Wenn aber bei einer Untersuchung, die nur die
ganz ungenügende Zufallsauslese aus
durchschnittlich je 3 Mageninhalten
einer Vogelart verarbeitet, schon in 27,90%
der Arten ungeflügelte Ameisen nachgewiesen
werden können, so erweist dies für den Kenner,
daß die Ameisenarbeiter einen außerordentlich
hohen Prozentsatz der Nahrung der hierfür
in Betracht kommenden Vögel auch auf den
Bismarckinseln ausmachen und keinen Schutz
genießen.
Ob der Reichtum an sonstigen verlockenderen
Insekten, ob die Jagdweise, der Spezialgeschmack
jeder Vogelart usw. einen Vogel veranlaßt, viel
') Ich sehe mich veranlaßt , zwei Fehler Dahls richtig-
zustellen. In der Zeitschrift „Aus der Heimat" (1920, H. 6/7,
S. 91) behauptet Dahl, Csiki habe in 136 Magen von
Würgern „keine einzige Coccinella" gefunden. Dies ist nicht
richtig. Die Anisostuta ic^-pimclata, die Csiki im Magen
eines Dorndrehers fand, ist eine Coccinella. Dahl dürfte
dies nicht wissen. In meiner von Dahl zitierten Arbeit habe
ich überdies mitgeteilt, daß L6sy Marienkäfer im Großen
Würger fand.
Weilers behauptet Dahl, für die kleinen Falken der
Untergattung Ctrchntis gelte das gleiche und wirlt mir vor,
ich hätte dies dem Leser „verschwiegen". In meiner Arbeit
ist indes ausdrücklich erwähnt, daß „Petenyi im Turm-
falken (= Cerchneis tinnunculus !) und im Star" Marien-
käfer fand.
Sollte man nicht Arbeiten, die man kritisiert, vorerst
lesen ?
712
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 50
oder wenig von den armseligen Ameisen zu fressen,
ist hier nicht von Belang; ein Vogel, der auch
nur einige wenige Ameisenarbeiter fraß, hat hier-
durch hinreichend erwiesen, daß er sie weder
verschmäht noch fürchtet. Und dies allein ist
der springende Punkt bei der Ausbildung der
mimetischen Ähnlichkeit. Die Ameisen müßten
gefürchtet, nicht ihrer Kleinheit und Armselig-
keit wegen unbeachtet sein.
Es bleibt, nachdem der Ameisenfraß der Vögel
nachgewiesen ist, die Frage zur Entscheidung:
unterscheiden die Vögel „wehrhafte"
und „harmlose" Ameisen, lassen sie
erstere laufen und fressen sie nur letz-
tere? Letzteres nimmt Dahl an.
Was sollte aber ein Vogel an einer noch so
„wehrhaften" Ameise fürchten? Er pickt sie auf,
der Schnabeldruck tötet sie, gegebenenfalls wird
sie lebend verschluckt. Die hornig ausgekleidete
Mundhöhle kann weder von den schwachen
Mandibeln einer noch so wehrhaften Art verletzt
werden und ihre Säure beachtet der Vogel gar
nicht; er nimmt bereitwillig ganz andere Quanti-
täten Ameisensäure zu sich. Auch das eisen-
fresserische Gebahren angriffslustiger Arten wird
wenig Eindruck auf ihn machen. Die Unter-
scheidung „wehrhaft" und ,, harmlos" ist anthro-
podoxisch; aber selbst der Mensch könnte unge-
straft Waldameisen essen, so viel er wollte. Es
fehlen die physiologischen Bedingungen für die
Annahme, unsere Waldameise, die Dahl als Bei-
spiel einer wehrhaften Art vorführt, vermöchte
einen Vogel irgendwie abzuwehren, ihn an unbe-
grenztem Fraß zu hindern.
Versuche und Mageninhaltsuntersuchungen er-
weisen dies auch. Ich erinnere an das oben über
Pococks Versuche mit eben dieser selben, von
Dahl als geschützt hingestellten Waldameise
Mitgeteilte: alle Vögel, denen Pocock sie
vorlegte, fraßen sie gierig in nicht be-
grenzter Anzahl. Wie stimmt dies zu Dahl s
Annahme?
Und was ihr Vorkommen in den Vogelmagen
anlangt, so ist sie in diesen nachweislich nicht
schlechter vertreten als irgendeine andere Ameisen-
art. Es ist aller Welt bekannt, daß sie Winter
und Sommer eine Lieblingsnahrung der Erdspechte
(Grünspecht, Grauspecht) bildet. Csiki fand
Formica rufa in 24 von 60 Vogelarten, also in
40 "/fl. Das ist eine sehr hohe Zahl, wenn be-
dacht wird, daß nicht jeder Vogel gerade dieser
bodennistenden Ameise begegnen mußte. Am
bezeichnendsten aber ist es, daß sich diese Ameise
in den Magen der zartesten Vogelarten, z. B. im
Zaunkönig und im Goldhähnchen fand.
Wenn diese die wehrhafte Ameise bewältigen,
dann ist die Annahme, andere, robustere Vogel-
arten könnten dies nicht, wohl hinfällig.
Dahl meint, unsere Waldameise könne un-
möglich viele Feinde haben, sonst müßte sie
schon längst ausgerottet sein. Ein solches Schluß-
verfahren müßte dahin führen, die noch häufigeren
Ameisen der Gattung Lasius z. B. als längst aus-
gerottet zu erklären, denn sie finden sich oft zu
vielen hunderten, ja tausenden in den Vogelmagen
und haben fast die ganze Vogelwelt gegen sich.
Der Schluß von reicher Entfaltung auf Feindlosig-
keit ist unzulässig; wenige Insekten werden von
fast allen Insektenfressern gieriger gefressen als
die Heuschrecken, die Maikäfer und die Stuben-
fliegen, und doch füllen sie Wiese, Wald und
Wohnung an. Mit so einfachen Formeln ergrün-
den wir das Naturleben noch nicht.
Dahl führt als Beweis des Geschütztseins der
Waldameisen den Wendehals an, der „während
des Sommers" fast nie Waldameisen fresse. Diese
Behauptung stellt Dahl nach Csikis Unter-
suchungen auf. Nun aber stammen Csikis 18
Wendehalsmagen aus folgenden Monaten: 10 aus
dem April, 4 aus dem Mai, i aus dem Juni, i aus
dem August, i aus dem September, i unbekannter
Zeit. Wie kann man nach solchen Daten, in denen
der Sommer so gut wie gar nicht vertreten ist,
behaupten , der Wendehals fresse „im Sommer"
keine Waldameisen ? Daß ein Wendehals am
24. April, also zu einer Zeit, da in Ungarn das
Insektenleben des Frühlings bereits entfaltet ist,
noch 20 Formica rufa im Magen hatte, daß die
wehrhafte For7nica rufa in 21 Exemplaren, hin-
gegen die gewiß sehr harmlose, feige Ameise
Camponotus sylvaticus nur insgesamt in einem
einzigen Exemplar in den Magen vertreten war
(nach Dahls Schlußverfahren also noch viel
geschützter sein müßte als die Formica), sei
nur nebenbei erwähnt.
Einige Ziffern mögen den Sommerfraß be-
legen. Csiki fand in einem am 17. Mai (in
Ungarn) erlegten großen Buntspecht 60 Stück
Formica rufa, in einem am 25. Juli erlegten
mittleren Buntspecht 10 Stück der ebenso wehr-
haften F. rufibarbis, in einem im April (in Un-
garn) erlegten Grünspecht 500 F. rufa (aus dem
Sommer lag Csiki kein Material vor).
Wenn D a h 1 (A. d. H., S. 92) behauptet, „kein
einheimischer Vogel füttere seine Jungen mit
Waldameisen", so darf man wohl fragen, wo die
Belege für diese apodiktische Behauptung sind.
Mit sicherlich noch wehrhafteren Wespen werden
nachweislich Nestlinge gefüttert. Aber auch wenn
jene Belege vorgewiesen würden, wäre damit
keine Wehrhaftigkeit der Waldameisen erwiesen.
Nur die selbstverständliche Tatsache wäre belegt,
daß die Vögel für ihre Brut eben im allgemeinen
die nahrhaftesten, weichsten, saftigsten Insekten
auswählen und daß ein Ameisenarbeiter derartigen
Ansprüchen in gar keiner Weise genügt. Auch
der Mensch ernährt seine Jüngsten mit Milchbrei
u. dgl., nicht aber mit Nüssen oder harter Dörr-
wurst, obgleich der Erwachsene oft wohl lieber
Nüsse und Wurst als Milchbrei genießt. Dahl
unterscheidet nicht kritisch zwischen „Nichtnehmen-
wollen" und „Nichtnehmen können", zwischen
von vornherein unterbleibendem Angriff und ab-
gewehrtem Angriff.
N. F. XX. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
713
Dahls Unterscheidung wehrhafter und wehr-
loser Ameisen ist für Vögel nicht anwendbar. Es
gibt für diese keine „wehrhaften" Ameisen.
Den ausführlichen, reichlich mit Tatsachen be-
legten Nachweis hierfür erbringe ich an anderer
Stelle, da ich den breiten Raum hierfür hier nicht
beanspruchen darf.')
Auf Dahls weitere Darlegungen einzugehen
entfällt für mich der Anlaß, da durch den Nach-
weis des Ungeschütztseins der Ameisen die Frage
objektiv erledigt ist. Mein Zweck ist, biologische
Irrtümer vorurteilslos aufzudecken, nicht aber
andere Forscher zur Änderung jener Naturan-
schauung, in der sie sich wohl fühlen, zu überreden.
Ein Wort noch zum Begriff „Zufall". Wer
unbefangen EinbHck in die ungeheure Gestalten-
fülle der Insektenwelt genommen und die hunderte
und tausende von oft seltsamen, überraschenden,
dennoch aber offenkundig zufälligen — d. h. auf
unbekannte, nicht in unserer Problemstellung ge-
') Ich verweise auf meine Arbeiten: Die metöke
Myrmekoidie. Tatsachenmaterial zur Lösung des Mirai-
kryproblems (Biolog. Zentralblatt, Bd. 39, S. 65—102, 1919),
und: Noch ein Wort zur metöken Myrmekoidie
(Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiol., im Druck).
legene Ursachen zurückzuführenden — Ähnlich-
keiten gesehen hat, dem erscheint es als das
Natürlichste, Nächstliegende, daß unter Hundert-
tausenden durcheinanderwogender Formen eine
oder die andere ganz zufällig mehr oder minder
entfernt an eine Wespe oder Ameise erinnert.
Es wäre verwunderlich, wenn dies nicht so wäre.
Es gibt ja nicht bloß Tiere, die an Steinchen,
Erdklümpchen, Früchte, Samen, Knospen, Blätter,
Ästchen usw., sondern auch solche, die an Knöpf-
chen, Bindfadenstückchen u. dgl. oder (der Ge-
stalt nach) an mannigfache menschliche Gerät-
schaften, z. B. Hammer, Zange, Schere, Keule,
IMorgenstern , Pfeil, Anker, Glocke, Rad, Teller,
Napf, Hufeisen usw. usw. erinnern, offenkundig zu-
fällig, ohne jede Beziehung zu diesen Dingen.
IVIit wessen Naturanschauung aber dieser Be-
griff des Zufalls unvereinbar sein sollte, der mag
ihn durch eine geistvolle Hypothese ersetzen. Nur
muß er darauf gefaßt sein, daß andere Forscher
an den Tatsachen überprüfen, ob die Voraus-
setzungen für diese Hypothese im Naturleben er-
füllt sind, und daß sie die Hypothese ablehnen
werden und müssen, sobald dies — wie hier —
offenkundig nicht der Fall ist.
Einzelberichte.
Die Ursache der physiologischen Wirksamkeit
des Kaliums.
Kalium ist ein für das Leben von Pflanzen
und Tieren unentbehrliches Element. Kaum eine
tierische Zelle, die frei von Kalium wäre, oder
deren Umgebungsflüssigkeit nicht einen Anteil an
Kaliumsalzen gelöst enthielte. So enthält der
Muskel 0,3 7o ^ als fixiertes, an Eiweiß gebundenes
Element, während das Blut o,oi — 0,03 "/o KCl
aufweist, das Kalium als diffundierbares Ion ge-
löst mit sich führend. Das Verhältnis der Kalium-
salze zu anderen Salzen ist nicht gleich in allen
Organen. So enthält der Muskel neben der an-
gegebenen Kaliummenge nur 0,03 % Natrium, das
Blut hingegen neben ca. 0,02 °/o Kaliumchlorid
annähernd die gleiche Menge an Calciumchlorid.
Hieraus erhellt die Sonderstellung des Kaliums
unter den anorganischen Bestandteilen des Orga-
nismus, deren hohe Bedeutung heut kaum einem
Zweifel mehr unterliegt, bis zu einem gewissen
Grade. Fraglich ist nur, welches die Ursache
der besonderen physiologischen Wirkung, der
Mechanismus der Kaliumwirkung im Organismus
sei. Zwaardemaker hat vor einigen Jahren
hierüber eine Theorie entwickelt,') die zunächst
durch ihre Eigenart überraschte. Nach ihm soll
die radioaktive Strahlung des Kaliums
dessen physiologische Wirksamkeit bedingen. In
eigenen Versuchen und mannigfachen Arbeiten
seiner Schüler hat Zwaardemaker seine Auf-
fassung zu stützen gesucht.
Kalium ist, das hat Campbell sicher ge-
macht, wirklich radioaktiv; aber nur außerordent-
lich schwach. Seine Aktivität beträgt Viooo
der /i Strahlung des Urans (im Gleichgewicht mit
Uran X), das seinerseits nur '/looooo der /? Aktivi-
tät des Radiums aufweist. Da Kalium nur ß- und
y Strahlen aussendet, so ist seine ß Strahlung, die
nach Zwaardemaker allein wirksam sein soll,
nur ganz ungewöhnlich klein. Dennoch soll sie
großer Wirkung fähig sein, wie die Versuche
am isolierten Froschherzen scheinbar be-
wiesen.
Die Reaktionen des Froschherzens sind durch
eine Reihe ausführlicher Arbeiten, z. B. von Böhm
u. a., sehr gut bekannt. Kohn und Pick')
wiesen nach, daß das Herz sehr empfindlich sei.
Wenn sie als Nähr- und Spülflüssigkeit Ringersche
Lösung mit 0,01 % KCl neben 0,01 — 0,02 "/o CaCl.,
verwendeten, so trat sofort diastolischer Stillstand
ein, wenn der Kaliumgehalt auch nur um weniges
erhöht wurde. Durch Zusatz von Radiumema-
nation zur Flüssigkeit, deren Strahlung ja auch
einen Effekt haben müßte, tritt aber keinerlei Beein-
flussung der Herzfunktion ein. Diesen Wider-
spruch erklärte Zwaardemaker durch seine
Unterscheidung von a- und/:? Strahlern. «Strahler
sind beispielsweise: Uran, Thorium, Radium,
Niton; /J- Strah 1er dagegen Kalium, Rubidium
•) Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie 173, S. 28, 1918,
') Ebenda 185, S. 235, 1920.
714
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. so
und Caesium. Beide Strahlungsarten sollen nun
biologische Antagonisten sein, d. h. in ihrer
Wirkung einander aufheben. Das ist an sich
möglich, denn die «Strahlen sind positiv geladene
Heliumkerne, die ß Strahlen aber negative Elek-
tronen. Jede Strahlung für sich allein soll auf
das Herz wirken, treffen aber beide gleichzeitig
darauf, so ist infolge elektrischer Neutralisation
natürlich keine Wirkung zu erwarten, d. h. die
Automatic des Herzens bleibt bestehen. Schon
hier sei zu dieser Theorie bemerkt, daß eine
Radioaktivität des Caesiums physikalisch
bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Da
aber Kalium durch Caesium ersetzt werden kann,
wie Zwaardemaker fand, und die Wirksam-
keit des Kaliums, wie gesagt, auf seiner Radio-
aktivität beruhen soll, so nennt Zwaardemaker
dns Caesium „biologisch radioaktiv" ... In I 1
Ringerscher Lösung sind lOO mg Kaliumchlorid
enthalten. Nach Zwaardemaker sind diese
ersetzbar durch 150 mg Rubidium- oder Cae-
si um Chlorid. Dieser Menge soll die gleiche
physiologisch wirksame Strahlungsenergie inne-
wohnen, die Mengen sind „äquiradioaktiv". Ihnen
kommen an Wirkung gleich 25 mg Uranylnitrat,
50 mg Thoriumnitrat, 0,000005 mg Radiumsalz.
In einer methodisch vortrefflich zu bezeichnen-
den Arbeit hat S. G. Zondek (Berlin) die Theo-
rie Zwaardemakers soeben einer Prüfung
unterzogen, die denn freilich zu einer glatten und
restlosen Ablehnung der radioaktiven Erklärung
führt. ^) Zondek prüfte zunächst den Einfluß
beliebiger Mengen von Radiumemanation auf das
isolierte Froschherz. Aber ob diese nun lOO,
200, 400 oder bis 1 5 000 Macheeinheiten strahlte
— es war nicht der geringste Effekt nachweisbar!
Für Uranylnitrat gilt genau dasselbe, wenn man
nicht zu hohe Konzentrationen nahm, die die
Wirkung des Uranyl Ions zur Wirkung gebracht
hätten. Die «-Strahlenwirkung der Emanation
kann durch diejenige des im Herzen anwesenden
Kaliums (ß Strahler) offenbar nicht aufgehoben
werden, die beiderseitigen Strahlungen stehen der
Menge nach in gar keinem, auch nur angenähert
äquivalenten Verhältnis. Nur „äquiradioakiive"
Mengen der Strahlung aber sollen ja einander
aufheben. Für das Herz andererseits soll das
Ladungsvorzeichen der Strahlung ganz gleich-
gültig sein. Es hätte also, bei dem von Zondek
verwendeten Überschuß an «Strahlung, ganz ge-
wiß zum mindesten zu einem diastolischen Still-
stand des Herzens kommen müssen. Diesen ebenso
einfachen wie beweiskräftigen Versuch hat Zwaar-
demaker überhaupt nicht gemacht, sondern sich
umständlicher und mißverständlicher Versuchsan-
ordnungen bedient. Wir gehen hier nicht darauf
ein, sondern teilen statt dessen einige andere be-
weiskräftige Versuche Z o n d e k s mit.
Unter völlig gleichen Bedingungen wurden
zwei Herzen durchspült: einmal mit kaliumfreier
Ringerlösung, wobei alsbald diastolischer Still-
stand des Herzens eintrat; das zweite Mal mit
ebenfalls kaliumfreier Rin gerlösung, der jeweils
10, 20 usw. bis 200 mg Uranylnitrat bzw. Radium-
emanation von 50, 100, 200, 500 bis zu 15000
Macheeinheiten zugefügt war. Der durch die
Entziehung des Kaliums bewirkte diastolische
Herzstillstand war durch diese Zufuhr ganz ver-
schieden stark radioaktiver Stoffe in keiner
Weise zu beeinflussen! Vielmehr ging in den
meisten Fällen (infolge Tonuszunahme des Ven-
trikels) der diastolische in den systolischen Still-
stand über. Ferner wurde kaliumfreie Ringer-
sche Lösung, die von Anfang an mit verschieden
konzentrierten radioaktiven Stoffen versetzt war,
durch das Herz gespült. Wiederum trat nach
diastolischem Stillstand schließlich Systole ein,
ohne daß der geringste Unterschied zum Verlauf
ohne die aktiven Stoffe zu erkennen war. Nicht
einmal zeitlich wurde der Eintritt der Reaktion
beeinflußt.
Endlich: wenn der Kaliumgehalt der Ringe r-
schen Lösung von 0,01 auf 0,08 "/o erhöht wird,
so tritt im Augenblick Diastole ein. Nun ist
Kalium ein /5-Strahler. Seine Wirkung sollte sich
also durch einen « Strahler, der ja entgegenge-
setzt wirken soll, abschwächen lassen. Zondek
gab der höher kaliumkonzentrierten Ringer-
lösung die verschiedensten Mengen « strahlender
Emanation von vornherein zu : nicht die An-
deutung einer Wirkungshemmung trat ein.
Zondek kommt zu den folgenden Schlüssen :
1 . Die Versuchsergebnisse Zwaardemakers
haben sich in keinem Falle bestätigen lassen.
2. Andere, viel einfachere Versuche ergaben
keinen Anhalt für die Richtigkeit der Theorie.
Dieser bemerkenswerte Schluß, der eine ganze
Reihe von Arbeiten Zwaardemakers hin-
fällig macht, erhält eine Stütze dadurch, daß auch
R. Loeb in Versuchen an Arabacieneiern zu einer
glatten Ablehnung der Z w aar dem ak ersehen
Theorie kommt.*) Die Methodik Zondeks ist
so einfach und logisch zwingend, daß man kaum
widersprechen kann, wenn die Arbeit Zwaarde-
makers als eine beträchtliche Selbsttäuschung
bezeichnet wird. Die richtige Fragestellung ist
nach wie vor alles. Zwaardemaker muß auch
einen Befund von Böhm (19 14) übersehen haben,
wonach diastolischer Herzstillstand nie von Dauer
ist, sondern mit automatischer Wiederkehr ab-
wechselt. Damit erklärt sich manches seiner Er-
gebnisse. Man wird nunmehr auch die „biolo-
gische Radioaktivität" des Caesiums streichen
dürfen und muß umgekehrt schließen : da das
inaktive Caesium das radioaktive Kalium ersetzen
kann, so hat die physiologische Wirksamkeit des
Kaliums mit Radioaktivität nichts zu tun.
Berichterstatter möchte hinzufügen, daß die
von Zondek gemachten Befunde auch eine
weitere Theorie Zwaardemakers, nämlich
') Biochem. Zeitschr. 121, S. 76, 1921.
') Journ. de physiol. et de path. gen. 3, S. 229, 1920.
N. F. XX. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
715
über den Zusammenhang zwischen Geruch und
elektrischen Ladungserscheinungen, verdächtig er-
erscheinen lassen. H. Heller.
Eine neue Form der Phasenregel.
Die von W. Gibbs in mathematische Form
gebrachte Phasenregel gestattet eine Orientierung
über die in ein- oder mehrphasigen Systemen
vorhandenen Variationsmöglichkeiten. Durch die
Gleichung P + F = B + 2 ist die Zahl der Rich-
tungen, in denen ich auf das System wirken kann,
der Freiheitsgrad F, eindeutig festgelegt, wenn die
Anzahl der Phasen P und der (chemischen) Be-
standteile B gegeben ist. Denn es ist
F = B + 2 — P.
Es leuchtet ein, daß für eine ganze Anzahl
von Systemen diese Form des Phasengesetzes zu
eng ist. Wenn im Verlauf einer Umsetzung re-
versible Reaktionen vorkommen, tritt eine Schwie-
rigkeit auf hinsichtlich des Bestandteilsindex B.
Im Verlauf der Umsetzung können neue Ver-
änderliche verfügbar werden, so daß F seinen
eindeutigen Charakter verliert. Endlich beschränkt
die Ziffer 2 die bei der Auswertung zu berück-
sichtigenden Energien auf nur zwei (im allge-
meinen Druck und Temperatur). Auch hier ist
eine elastischere Formulierung erwünscht. Eine
solche gibt Henry le Chatelieri) ;„ der
Gleichung
V-fv = m — q + p — r.
Die Anzahl der verfügbaren Freiheitsgrade F
(hier V = variance total) bedeutet hier die im
Verlauf der Umsetzung auftretenden Veränder-
lichen. Zu ihnen tritt v, die Veränderlichen, die
durch die Versuchsbedingungen von vornherein
festgelegt sind. Dementsprechend tritt auf der
rechten Seite der Gleichung das Glied q auf.
Es bedeutet die umkehrbaren Reaktionen, r ist
die Anzahl der Phasen (P), m bedeutet die reellen
Bestandteile (B). p endlich sind die Eiiergie-
spannungen, die Gibbs auf 2 beschränkt hatte.
Wenn man (beispielsweise bei Konzentrations-
kettenversuchen, Ref.) elektrische Erscheinungen
berücksichtigt, so wird p um eine Einheit erhöht
und so fort fiif jede weitere Energieart.
In den Lehrbüchern von W. Ostwald, die
von der Phasenregel den ausgedehntesten und
fruchtbarsten Gebrauch machen, ist sie in der
eingangs gegebenen Form geschrieben. Bericht-
erstatter möchte sich den Vorschlag erlauben, die
Abänderung von le Chatelier jener Form an-
zugleichen und für Deutschland dementsprechend
die Formel
F+f=B+n— P— r
zu benutzen. Hierin ist n (numerus) = p bei
le Chatelier, es drückt lediglich eine zahlen-
mäßige Größe von konstantem Wert aus. r ent-
spricht q, ist also mit dem r von le Chatelier
nicht identisch. r = reversible Reaktion.
Alles andere hat den üblichen Sinn. H. Heller.
'Y^ömptes rendus d. l'Acad. Kran«. 171, S. 1033. 1920.
Der Zerfall des Hydroperoxyds durch Basen.
Hydroperoxyd (Wasserstoffsuperoxyd) ist gegen
Säuren beständig. Gewöhnliche Präparate ent-
halten sogar etwas freie Säure, um den Stoff vor
der zersetzenden Wirkung des alkalisch reagieren-
den Glases zu schützen. Denn Alkalien be-
schleunigen den Zerfall des Hydroperoxyds be-
trächtlich.
Tammann.i) jer zuerst Beobachtungen hier-
über anstellte, glaubte schließen zu sollen, daß
die Beschleunigung des Zerfalls unabhängig
von Natur und Menge der Base sei, «laß
aber Spuren von Salzen von hohem Einfluß aut
die Zerfallsgeschwindigkeit seien. Da eine wich-
tige und vielfach angewendete Titrationsmethode
des F o r m a 1 d e h y d s auf dessen Oxydation durch
Hydroperoxyd in alkalischer Lösung beruht, so
war eine genauere Kenntnis der Reaktionskinetik
des Zerfalls wichtig. Fr. Bürki und F. Schaaf )
liefern hierzu einen interessanten Beitrag.
Zu ihren Versuchen verwendeten sie eine der
üblichen 3proz. Lösungen der Hydroperoxyds.
Innerhalb der Versuchszeiten erwiesen sich die
Glaswände der Gefäße nicht als katalytisch
wirksam. Ihr Einfluß konnte mithin vernach-
lässigt und aus der Menge freigemachten Sauer-
stoffs ohne weiteres die Reaktionsgeschwindigkeit
berechnet werden. Sie ergab sich als streng
monomolekularer Umsetzung entsprechend,
unter der Annahme, daß Formaldehyd nach
Euler ") als schwache Säure betrachtet wird, die
sich in großen Überschuß von Lauge befindet.
Die Verff. finden nun, daß die aui monomoleku-
lare Umsetzung berechneten Werte der Ge-
schwindigkeit keineswegs unabhängig von der
Konzentration des Alkali sind, wie man dies nach
Tammann bisher annahm. Wenn sie jeweils
20 cm'* Hydroperoxydlösung mit 80 cm-* Natron-
lauge bei 40" zersetzten, so waren die K- Werte für
0 2 normale Lauge 0.00149
0,002 „ „ 0,000315,
d. h. mit steigender Alkalikonzentration wachst
die Zerfallsgeschwindigkeit, und zwar um einen
Bruchteil, der (verhältnismäßig) kleiner ist als der-
jenige der Konzentration. Ferner nimmt die Zer-
fallsgeschwindigkeit stark zu. mit steigender Tempe-
ratur. Auch die Art der zugesetzten Base be-
einflußt die Reaktionsgeschwindigkeit; immerhin
scheint es, als sei nur der Dissoziationsgrad hier-
für verantwortlich zu machen.
Bestätigt wird der Befund, daß Alkohol,
lOproz. Gelatine- und loproz. Harnstoff lö^ung
noch bei 40" stabilisierend wirken, den Zerfall
also unterbinden. "• "•
Ein neues Eisensalz.
Vom dreiwertigen Eisen ist sowohl das Sulfat
Fe^SoJa- wie auch das Chlorid FeCl-, wohlbe-
') Zeitschr. f. physikal. Chemie 4, S. 441, 1889.
2) Helvetica Cbimica Acta 4, S. 418, igJI.
») Berichte d. Deutsch. Chera. Gesellsch. 38, 8.2551,1905.
j\6
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. so
kannt. Noch nicht isoliert war merkwürdiger-
weise das gemischte Sulfatchlorid FeSO^Cl von
III ,C1
der Stuktur
Fe
^
Man sollte denken, daß es
So 4
durch einfache Anlagerung von Chlor Cl an
Eisen-(2)-sulfat FeS04 entstehe. In der Tat haben
Jackson und seine Mitarbeiter eine Verbindung
obiger Formel in einer mittels Chlor oxydierten
Eisen(2)-sulfatlösung vermutet, aber nicht isoliert.
Dies ist nunmehr C. Röhm (Darmstadt) ge-
lungen.')
Den Anstoß zu dieser Isolierung gab die Knapp-
heit an Gerbstoffen während des Krieges, der
seinerseits eine große Nachfrage nach Leder
zeitigte. Neben die schon lange erfolgreich an-
gewendete Gerbung mit Chromsalzen trat die-
jenige mit Eisenverbindungen. Als einfachstes
Gerbmittel bietet sich hier das Eisenchlorid
FeClg-öHoO an. Es ist billig und jederzeit zu
erlangen. Aber seine Empfindlichkeit gegen
Feuchtigkeit, die bei der Hydrolyse entstehende
starke Salzsäure machen es zu einem für den
Handel wenig einladenden Stoff. Das beständige
Sulfat andererseits ist wegen seiner Schwerlöslich-
keit ungeeignet.
Das neue Eisensalz FeSO^Cl-öHgO vereint die
Vorzüge der genannten Salze ohne ihre Nachteile
zu besitzen. loo Teile Wasser lösen bei 20"
209 Teile. Dennoch ist es nicht hygroskopisch,
also lagerbeständig. Seine gerberischen Eigen-
schaften übertreffen, wie zu erwarten die des
Eisenchlorids.
Zur Herstellung geht man am einfachsten aus
von einer konzentrierten Lösung von Eisen-2-sulfat
(Ferrosulfat, Eisenvitriol), die man mit Chlor sättigt
und dann an der Luft stehen läßt. Beim Ver-
dunsten scheiden sich warzige Kristallmassen aus,
die in wenigen Minuten zu einem Kristallkuchen
zusammenschießen.
2 FeSO^ -f Cl, + 12 H20»->2 FeSO^Cl-öHoO.
Für die angegebene Formulierung ist die Be-
ständigkeit gegen Luftfeuchtigkeit ein Hinweis.
Gestützt wird sie ferner dadurch, daß Alkohol
beim Ausschütteln keine auswählende Löslichkeit
zeigt. Das Salz ist einerseits löslich in Alkohol,
wie Ferrichlorid und im Gegensatz zu Ferrisulfat,
andererseits unlöslich in Äther, worin Ferrichlorid
sich löst. H. Heller.
Zur Bedeutuug der Laugerhansschen Inseln.
Während die meisten Drüsen entweder ex-
kretorisch oder inkretorisch tätig sind, vereinigen
sowohl die Keimdrüsen als auch die Bauch-
speicheldrüse innere und äußere Sekretion. So
sondert die Bauchspeicheldrüse einerseits Stoffe
nach außen in den Darm ab, andererseits nach
innen an das Blut. Wie über den Ausgangspunkt
der inneren Sekretion der Keimdrüsen verschiedene
Ansichten bestehen, so ist um den Ort der In-
kretion des Pankreas ein ähnlicher Meinungsstreit
entstanden. Eine Reihe von Forschern meint,
das Pankreashormon würde allein von den sog.
Langer hansschen Inseln erzeugt, die als selb-
ständige Gebilde in dem eigentlichen Drüsen-
parenchym lagern. Die Gegner der „Inseltheorie"
lehnen die Selbständigkeit der Langerhans-
schen Inseln ab und halten das Parenchym allein
oder mit Einschluß der Inseln für den Ort der
inneren Sekretion.
Neuerdings hat sich zu den vielen Literatur-
erscheinungen, die diese Frage behandeln, eine
weitere umfangreiche Arbeit gesellt, die deswegen
von besonderem Wert ist, weil die darin ver-
öffentlichten Ansichten die Folgerungen genauester
Untersuchungen und Beobachtungen sind. In
seinen „Neuen Beiträgen zur Kenntnis der Lauger-
hansschen Inseln im menschlichen Pankreas und
ihrer Beziehung zum Diabetes mellitus" ') legt
C. Seyfarth die Ergebnisse seiner Untersuchun-
gen dar. Er mißt der Entstehung der
Langerhansschen- Inseln vor allem große Be-
deutung bei, um auf diese Weise auf die Funk-
tion derselben schließen zu können. Deshalb
untersuchte er die Bauchspeicheldrüsen von Em-
bryonen in den verschiedensten Entwicklungs-
stadien. Dabei machte er die Beobachtung, daß
sich die Langerhansschen Inseln aus den pri-
mären Pankreasgängen entwickeln. Die Gang-
epithelien beginnen zu wuchern, zeigen zunächst
starkes Längenwachstum und rollen sich schließ-
lich spiralig auf. Die Knäuel, die dabei entstehen,
stellen die Langerhansschen Inseln dar. Be-
merkenswert ist, daß Seyfarth noch in der 10.
und II. Schwangerschaftswoche eine Verbindung
der Langerhansschen Inseln mit den Gängen
durch stielförmige Fortsätze beobachten konnte.
Überhaupt besteht eine Einkapselung oder Ab-
grenzung der Langerhansschen Inseln nach
Seyfarth nie, demnach auch kein Hindernis für
Umwandlungsmöglichkeiten. In der 17. Woche
stellte er dann Umwandlungen der Langer-
h a n s sehen Inseln in Acini fest, die von dieser Zeit
an immer wieder zu beobachten sind. Zugleich fin-
den fortwährend Neubildungen vonLangerhans-
schen Inseln statt und zwar — wie Seyfarth sagt
— „je nach Bedarf. Neben gesunden Embryonen
untersuchte übrigens Seyfarth kongenital syphili-
tische Föten und Kinder, deren Pankreas für die
Beobachtung der Entwicklung Langerhans scher
Inseln sehr geeignet sein soll.
Vor allem auf Grund der Tatsache , daß aus
den Langerhansschen Inseln Drüsenacini ent-
stehen und sich Acini wieder in Inseln umwan-
deln können, lehnt Seyfarth die Selbständigkeit
der Langerhansschen Inseln ab und kommt
zu dem Schluß, daß sowohl Acini als auch
Langerhanssche Inseln — die letzteren
') CoUegium Nr. 614, 4. Juni 1921.
') Mit einem Vorwort von Geh. Rat Prof. Dr. F. Mar-
chand. Jena 1920, Gustav Fischer.
N. F. XX. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
717
allerdings in erster Linie — an der inneren
Sekretion beteiligt seien.
Dresden. Gustav Zeuner.
Das Ende des Wisents.
Nachdem der Wisentbestand im Waldgebiet
von Bialowies, wie ich bereits früher schon an
dieser Stelle mitgeteilt habe — Naturw. Wochenschr.
XX, 107/108 — , ein Opfer der Nachkriegszeit ge-
worden ist — der letzte Wisent endete hier nach
einer mir inzwischen von Herrn Baron Loudon
zugegangenen Mitteilung im Herbst 1919 unter
der Kugel eines Wilderers — und auch derjenige
im Kaukasus menschlichem Ermessen nach eben-
falls den Folgen des Krieges erlegen sein dürfte,
ist nun auch der PI eß sehe Bestand in Ober-
schlesien fast restlos vernichtet worden. Im
Herbst 1918 noch 74 Stück zählend und in jähr-
lich 14 — 18 Wildkälbern auch einen durchaus zu-
friedenstellenden Nachwuchs erreichend, wurde er
infolge großzügiger Wilddiebereien — die auch
von mir wiedergegebene, Prof. Pax auf der
9. Jahreskonferenz für Naturdenkmalpflege in Berlin
zu Unrecht in den Mund gelegte Angabe, daß
der deutsche Grenzschutz das Wild zusammen-
geschossen habe, hat sich erfreulicherweise als
eine irrtümliche herausgestellt und ist von ihm
auch dahin richtig gestellt worden , daß nicht
der Grenzschutz, sondern Wildererbanden das
Wild vernichtet haben — aufs schwerste ge-
schädigt, so daß im November 1920 nur noch
22 Wisente vorhanden waren. Dieser letzte kleine
Bestand 'ist nun, wie mir der Vorsitzende des
Landschaftskomitees für Naturdenkmalpflege in
Oberschlesien, Herr Prof. Eisenreich in Katto-
witz mitteilt, während des letzten Polenaufstandes
bis auf nur noch vier Stück zusammengeschrumpft:
einen Stier, zwei Alttiere und ein Kalb. Die
Hoffnung, wenigstens diese paar letzten Tiere noch
zu erhalten, ist eine geringe, und wir werden uns
daher mit der Tatsache abfinden müssen, daß
damit Europas letztes Wildrind für immer dahin
ist. . Rud. Zimmermann.
Künstliche Belenclitnug der Hühnerställe znr
Erzeugung größerer Legetätigkeit der Hühner.
In Nr. 7 der „Deutsch, landw. Geflügelzeitung"
von 1921 berichtet C. v. Mackensen, daß in
den Vereinigten Staaten von Nordamerika, sowie
in Kanada intensiv und erfolgreich mit künstlicher
Beleuchtung zur Erzielung einer höheren Eier-
produktion in den Hühnerställen gearbeitet werde.
Im Staate New York wurden während der letzten
Jahre auf etwa lOO Geflügelfarmen Versuche mit
künstlicher Beleuchtung angestellt und die Resul-
tate genau aufgezeichnet. Alle berichten von
besten Erfolgen; namentlich jene der landwirt-
schaftlichen Universität New York, veranstaltet
von Cornele, beweisen zweifellos, daß der Eier-
ertrag durch die Beleuchtung wesentlich erhöht
wird. So wurden unter sonst gleichen Verhältnissen
1 00 Hennen der weißen Leghornrasse mit künstlichem
Licht und lOO Hennen ohne Beleuchtung gehalten.
Während einer Beobachtungsdauer von 48 Wochen
wurde ein Nettogewinn von 135,37 Dutzend Eiern
in den Ställen mit künstlicher Beleuchtung gegen-
über jenen ohne dieselbe erzielt. Die Beleuchtung
geschah vom Einsetzen der Dunkelheit bis 9 Uhr
abends. Der Gewinn in der Eierproduktion
dauerte vom 28. November den ganzen Winter
hindurch bis zum 19. März. Vom 21. März bis
6. August ließ die Legetätigkeit nach und war
geringer als in den Ställen ohne Licht; vom
August bis November war sie aber wieder höher.
Der Gesamtgewinn der Hennen, die mit künst-
licher Beleuchtung gehalten wurden, betrug während
der Dauer ihrer höheren Legetätigkeit 212,90
Dutzend Eier. Vom März bis August blieben sie
dann um 77,53 Dutzend hinter den anderen zu-
rück, so daß der Reingewinn, wie bereits erwähnt,
135,57 Dutzend betrug. Zur Beleuchtung diente
hierbei elektrisches Licht ; doch können auch Gas,
Petroleum, Spiritus usw. gebraucht werden. Der
günstige Einfluß auf die Eierprodukiion besteht darin,
daß für die Hennen die Dauer der Nacht durch die
Beleuchtung abgekürzt wird und daß sie infolge-
dessen mehr Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme
haben, die dann der Eierbildung zugute kommt.
Gesundheitliche Nachteile sind nicht zu befürchten.
Dadurch, daß sich die Legetätigkeit mehr gleich-
mäßig auf das ganze Jahr verteilt, ist im Gegen-
teil sogar eine günstige Beeinflussung zu erwarten.
Nur wenn es sich um Hennen handelt, die zur
Zucht verwendet werden sollen, muß die künst-
liche Beleuchtung unterbleiben, da man von diesen
Tieren im Frühjahr, wenn das Brutgeschäft in
vollem Gange ist, die stärkste Eierproduktion er-
zielen will. Reuter.
Bücherbesprechungen.
Wächter, Dr. W., Vademecum für Samm-
ler von Arznei- und Gewürzpflanzen.
CöUeda, Verlag der „Vegeta".
Der Handel mit einheimischen Drogen hat
begünstigt durch die Zeitverhältnisse einen großen
Aufschwung genommen. Durchblättert man die
hier dargebotene Tabelle der Arznei- und Gewürz-
pflanzen, so ist man überrascht von der großen
Zahl von Drogen, die heute vom Handel verlangt
werden. In dieser sehr zweckmäßig und über-
sichtlich angeordneten Tabelle, die den Hauptteil
des Büchleins bildet, sind die Pflanzen in alpha-
betischer Reihenfolge nach ihrem deutschen Na-
men aufgeführt, daneben ist immer der botaniscV'2
718
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 50
Name angegeben, sowie weiterhin, welche Teile
und zu welcher Zeit sie zu sammeln sind, wie
ihr pharmazeutischer bzw. ihr Handelsname lautet,
und wie sich ungefähr das Frisch- zum Trocken-
gewicht verhält. Außerdem sind noch gelegent-
lich besondere praktische Hinweise für den
Sammler in einer letzten Rubrik angefügt. Vor-
ausgeschickt wird eine Zusammenstellung von
präzis gefaßten Regeln, die der Sammler zu be-
achten hat und die sich auf Gesetze und Verord-
nungen, das Einsammeln der Pflanzen, das Trocknen,
Aufbewahren und Versenden beziehen. Auch ein
Sammelkalender findet sich, der für die einzelnen
Monate die zu sammelnden Pflanzen alphabetisch
aufzählt. Den Schluß bildet em Index der phar-
mazeutischen Drogenbezeichnungen. Das prakti-
sche Heft wird nicht nur dem Drogensammler
nützliche Dienste leisten, sondern auch dem Bo-
taniker, namentlich dem Lehrer zur ersten raschen
und bequemen Orientierung über den Gebrauchs-
wert unserer einheimischen Pflanzen sehr will-
kommen sein. Miehe.
Küster, Prof. Dr. E., Anleitung zur Kultur
der Mikroorganismen. 3. vermehrte und
verbesserte Auflage. Mit 28 Textabbildungen.
Leipzig und Berlin 192 1, B. G. Teubner. 21 M.
Das nunmehr in dritter Auflage vorliegende
Buch von Küster stellt ein gutes Nachschlage-
werk dar, das jedem, der mit Mikroorganismen
zu arbeiten hat, sehr nützlich ist, namentlich dann,
wenn es gilt, sich rasch bei irgendeiner Kultur-
aufgabe über die verschiedenen methodischen
Möglichkeiten zu unterrichten. Der Verf. hat
nämlich mit großem Fleiß die weit zerstreute
Literatur über Mikroorganismen mit Rücksicht auf
die Methodik durchgearbeitet und in seinem Buche
zusammengetragen. Ein allgemeiner Teil be-
handelt die Nährböden, die Geräte, die Isolierungs-
methoden, die Sterilisierung usw., während der
zweite in systematischer Anordnung die be-
sonderen Methoden darstellt, die zur Kultur der
verschiedenen Typen von Mikroorganismen (Algen,
Pilze, Flagellaten, Bakterien usw.) angewandt wer-
den können. Für Botaniker, Zoologen, Landwirte.
Mediziner, Gärungstechniker wird das Buch weiter
ein wertvolles Hilfsmittel bleiben. Miehe.
Hamilton, Louis, Ursprung der französi-
schen Bevölkerung Canadas. Ein Bei-
trag zur Siedelungsgeschichte Nord- Amerikas.
Berlin 1920, Neufeld u. Henius.
Aus dem Grundstock von 3 5 000 Bauern,
welche im Verlauf von 1 50 Jahren aus Frankreich
nach Kanada auswanderten, hat sich im Laufe
der Zeit ohne Nachschub eine Bevölkerung von
2 Millionen Seelen entwickelt, die sich nicht nur
in Sprache, Glauben und Sitten gegenüber dem
dreimal so starken angelsächsischen Volksbestand-
teil behauptete, sondern auch trotz aller Be-
drückungen eine starke nunmehr auch offiziell
anerkannte Stellung im Lande sich errungen hat.
Louis Hamilton vom orientalischen Seminar
der Berliner Universität untersucht in der vor-
liegenden interessanten Studie, aus welchen
französischen Provinzen diese Franko-Kanadier
und FrankoAkadier stammen, die sich in auf-
fallender Weise von den Franzosen Frankreichs
unterscheiden. Er benutzt dazu in erster Linie
die Familiennamen, indem er sich mit kritischer
Vorsicht eines umfangreichen von D i o n n e im
Jahre 1914 veröffentlichten, aber von ihm un-
kritisch verwerteten Namensverzeichnisses bedient.
Er stellt auf diese Weise fest, daß die Auswanderer
ganz überwiegend aus den Küstenprovinzen stam-
men und daß unter diesen wiederum die Nor-
mandie den höchsten prozentischen Anteil auf-
weist. Namentlich gilt dies für die entscheidende
früheste Einwanderung.
Dieser Feststellung entspricht nun die sprach-
liche und ethnographische Eigentümlichkeit der
franko-kanadischen Bevölkerung aufs beste. Die
Bauweise der Häuser, vielfach auch die Tracht
der Schiffer, die häufige Blondhaarigkeit und Blau-
äugigkeit, die Reinlichkeit, sowie namentlich viele
spezifisch germanische Sitten, wie sie in Frank-
reich nie, in der Normandie nicht mehr so häufig
wie früher angetroffen werden (wie z. B. der
Richtekranz auf Neubauten), die Liebe zur Musik,
die Freude an Pferden, ihre im Gegensatz zu den
Franzosen hohe Fruchtbarkeit (Familien von 12 bis
18 Kindern sind häufig) weisen auf die germa-
nische Normandie hin. Vor allem aber die
Sprache, der, wie der Verf. im einzelnen ausführt,
zahlreiche normannische Züge ihr Hauptgepräge
verleihen. In Akadien (d. h. in Neu-Schottland,
Neu-Braunschweig und Prinz- Edward Insel) über-
wiegt das bretonische Element etwas das nächst-
stärkste normannische, im ganzen ist auch hier
die nord-westliche Küstenbevölkerung (neben der
des Hinterlandes von Bordeaux), die die meisten
Auswanderer gestellt hat. Die mit zahlreichen
Tabellen versehene Schrift schließt mit einem An-
hang, der den Einfluß des Englischen auf die
Sprache der Franko-Kanadier darstellt. Interessant
ist, wie auch durch diese Studie die ganz
ungeheuer erfolgreiche Siedelungstätigkeit der
germanischen Küstenbevölkerung bestätigt wird,
der sich nur die gewaltige, aber binnenländisch
gerichtete Kolonisation der Russen und in weiterm
Abstände diejenige der Bewohner der iberischen
Halbinsel an die Seite setzen läßt, während die
eigentlichen Franzosen als Siedler ganz zurück-
treten. Miehe.
Ficker, Prof. Dr. M. , Einfache Hilfsmittel
zur Ausführung bakteriologischer
Untersuchungen. 3. umgearbeitete Aufl.
Leipzig 1921, C. Kabitzsch. 9 M.
Diese kleine Schrift gibt eine ausgezeichnete
Anleitung, wie man auch unter schwierigen Ver-
hältnissen und mit einfachen Hilfsmitteln zuver-
lässige bakteriologische Arbeiten ausführen kann.
Sie ist in erster Linie für den Arzt bestimmt, wird
N. F. XX. Nr. 50
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
719
aber in ihren allgemeinen methodischen Teilen
auch dem Apotheker und Botaniker willkommen
sein, denen ein vollständig ausgestattetes Labo-
ratorium nicht zur Verfügung steht, ja sie ist
schließlich unter den gegenwärtigen schwierigen
Verhältnissen auch solchen eine wertvolle und
zeitgemäße Hilfe, die noch unter verhältnismäßig
günstigen Bedingungen arbeiten können. Die
bakteriologische Technik ist als bekannt voraus-
gesetzt, doch werden einige wichtige Unter-
suchungsmethoden (Nachweis von Tuberkel-,
Diphtheriebazillen, Gonokokken, Syphilisspiro-
chäten) besonders dargestellt. Daß alle Winke
und Ratschläge aus reichster eigener Erfahrung
entspringen, braucht kaum besonders hervorge-
hoben zu werden. Möge das Büchlein nament-
lich dem praktischen Arzte Lust machen, seine
häusliche Untersuchungstätigkeit auch auf das
ebenso wichtige wie anregende und reizvolle
bakteriologische Gebiet auszudehnen. Miehe.
Frizzi, Ernst, Anthropologie. Sammlung
Göschen. 133 S. mit 41 Textabb. Berlin und
Leipzig 1921, Vereinigung wissenschaftl. Ver-
leger. 2,10 M. zuzügl. 100 "/o Teuerungszu-
schlag.
Das vorliegende Buch unternimmt den Ver-
such, weitere Kreise in leichtverständlicher Form
über Wesen, Aufgabe, Ziele und Methoden der
anthropologischen Wissenschalt aufzuklären. Zu
diesem Zweck werden zunächst einmal Begriff
und Umfang der Anthropologie klargestellt. Daran
reiht sich dann eine Übersicht über die Entwick-
lung der Anthropologie und ein Umriß der Ab-
stammungs- und Vererbungsprobleme, sowie auch
der Fragen der Rassebildung, Entwicklung und
Alter des Menschengeschlechts an (27 S.). Dann
werden sehr eingehend die anthropologischen
Methoden dargestellt (38 S.). Drei weitere Ab-
schnitte behandeln die Somatologie, Kraniologie
und Geschlechtsunterschiede (62 S.), und zwei
Schlußabschnitte (in der denkbar größten Kürze)
die Kriminalanthropologie (2 '/^ S.) und die Sozial-
anthropologie (i '/^ S.).
Wir erkennen gern an, daß der Verf. sein
möglichstes getan' hat, um der schwierigen Auf-
gabe der Darstellung der Anthropologie auf solch
knappem Räume gerecht zu werden, und wir
freuen uns besonders auch darüber, daß die be-
kannte Sammlung Göschen dieses Bändchen in
ihre Serie aufgenommen hat. Wir glauben je-
doch, daß dem Eindruck auf den Leser die Stoff-
einteilung Abbruch tut, da die Darstellung der
Methoden zu sehr im Vordergrunde steht und die
Ergebnisse der Forschung zu kurz kommen. Ge-
nau dasselbe ist freilich in dem großen Lehrbuch
der Anthropologie von Martin der P'all.
Hugo Mötefindt.
580 Seiten mit 56 Abbildungen im Text. Stutt-
gart 1920, Ferdinand Enke.
Das bekannte „Handbuch der analytischen
Chemie" von Alexander Classen hat sich so-
wohl in seinem vor einigen Monaten in dieser
Zeitschrift besprochenen qualitativen als auch in
seinem, jetzt auch in neuer Auflage vorliegenden
quantitativen Teil als Lehr- und Nachschlagebuch
ausgezeichnet bewährt. Der hier zur Besprechung
stehende quantitative Teil führt in einer großen
Anzahl von anfangs einfacheren, später immer
komplizierteren, stets gut gewählten und meist auch
praktisch wichtigen Beispielen in die wichtigsten
Verfahren der quantitativen (Gewichts- und Maß-)
Analyse ein. Die Darstellung ist klar und ver-
ständlich und sachlich einwandfrei. Umfangreiche
Tabellen und ein recht brauchbares alphabetisches
Sachregister schließen das in erster Linie für
Studierende bestimmte, aber auch für Lehrer und
sonstige Freunde der experimentellen Chemie
nützliche Werk.
Die Ausstattung des Buches ist recht gut.
Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg.
Classen, Alexander, Handbuch der ana-
lytischen Chemie. II. Teil: Quantitative
Analyse. Siebente vermehrte Auflage. VIII und
V. Schwarz, M. , Legierungen. Sonderab-
druck aus der „Chemischen Technologie der
Neuzeit" Bd. II, 99 Seiten in gr. 8" mit 45 Ab-
bildungen im Text. Stuttgart 1920, Ferdinand
Enke.
Die vorliegende Monographie, zu der auch der
frühere Herausgeber der Chemischen Technologie
der Neuzeit, Dr. O. Dammer, eine Reihe von
Beiträgen geliefert hat, gibt einen kurzen, in erster
Linie die technischen Gesichtspunkte berück-
sichtigenden Überblick über Wesen, Gewinnung
und Eigenschaften der Legierungen im allge-
meinen und dann eine kurze Besprechung der
wichtigsten Gruppen von Legierungen (Bronzen,
Kupfer -Zink -Legierungen, Nickel- und Kobalt-
Legierungen, Mangan -Legierungen, Weißmetalle,
Silber-, Gold- und Platin-Legierungen). Der Haupt-
wert des Buches aber liegt in der etwa die
Hälfte seines Umfanges ausmachenden „alpha-
betischen Übersicht über die wichtigsten Legie-
rungen", in der alle bekannten Legierungen —
auch nach ihren Trivialnamen, wie Platinit, Mo-
nellmetall usw. — aufgeführt und ihre wichtigsten
Eigenschaften und ihre Verwendungszwecke an-
gegeben sind. Bei einer Stichprobe hat der Be-
richterstatter „Cereisen" vermißt, es aber schließ-
lich unter „pyrophore Legierungen" gefunden.
Das Buch wird allen denen gute Dienste leisten,
die sich eine allgemeine Übersicht über die Le-
gierungen von technischem Gesichtspunkte aus
verschaffen oder über eine gegebene Legierung
oder Legierungsart (Invar, Tombak, Weißmetall)
kurz unterrichten wollen. Es ist ein wirklich
nützliches Buch.
Berlin- Dahlem. Werner Mecklenburg.
Leuchs, K., Geologischer Führer durch
dieKalkalpen vomBodensee bisSalz-
720
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 50
bürg und ihr Vorland. Überblick über
Entstehungsgeschichte und Bau des Gebietes.
60 Abbildungen, 144 S. München 1921, Lin-
dauersche Universitätsbuchandlung. Brosch. 12,
geb. 14 M.
Ein glücklicher Griff! Kein Gebirge kann so
nachdrücklich zur Lösung der in ihm verborgenen
Rätsel auffordern wie das Hochgebirge mit seinen
Riesengewalten, keins aber ist selbst für den mit
der Sprache der Natur Vertrauten so schwer zu-
gänglich wie die Alpen, geschweige denn für den
Laien. Aus der ungeheuer verzweigten wider-
spruchsvollen Literatur sich das für den Einzel-
zweck Erforderliche und Brauchbare herauszu-
suchen ist leider ohne fachmännische Leitung so
gut wie unmöglich. Da ist es denn aufs höchste
zu begrüßen, wenn hier ein Kenner die Führer-
rolle in ansprechender Weise auf sich nimmt.
Eine Fülle von einfach gezeichneten Profilen, den
verschiedensten Werken und Autoren mit sicherer
Hand entnommen, suchen das geschriebene Wort
zu veranschaulichen und somit dem Verständnis
des Lesers möglichst weit entgegen zu kommen.
Eine kurzgehaltene Einleitung führt in den
Stoff und seine Anordnung vorläufig ein. Dann
werden die Einzellandschaften von West nach Ost
der Reihe nach in ihren Hauptzügen verständlich
geschildert. Die die Wissenschaft noch emsig
beschäftigende Problematik des Gesamtkalkalpen-
zuges bleibt dabei mit Recht außer Betracht.
Einiges an gemeinsamen, verbindenden Grund-
linien wäre indes manchem Leser vielleicht will-
kommen gewesen. Edw. Hennig.
die einzelnen Entwicklungsstufen, welche zu dem
gegenwärtigen stolzen Gebäude dieses Wissens-
gebiets geführt haben. Lobend hervorzuheben
ist hier wieder die absichtliche Beschränkung der
mathematischen Entwicklungen auf anschauliche,
physikalisch bzw. physikalisch- chemisch bedeutungs-
volle Fälle. Die Theorie der Wärmeleitung, der
das I. Kapitel gewidmet ist, erfährt in diesem
Sinne eine mustergültige Darstellung. Die darauf
folgende Betrachtung der Thermodynamik schließt
sich vorteilhaft eng an die bekannten Werke von
Planck undNernst an. Besonders wertvoll ist
die Wiedergabe des gegenwärtigen Standes der
molekular kinetischen Seite der Theorie. Sie be-
ginnt mit der elementaren kinetischen Theorie
der Gase, zeigt dann den Zusammenhang zwischen
Entropie und Wahrscheinlichkeit und geht dann
auf die allgemeinen Methoden der statistischen
Mechanik ein. Ein letztes Kapitel behandelt
schließlich das Eingreifen der Quantentheorie.
Dem Lehrenden und Lernenden wird hier eine mit
außerordentlicher Sorgfalt und seltenem päda-
gogischen Geschick durchgeführte Bearbeitung der
Wärmetheorie geboten, die sich dem ersten Band
des Werkes gleichwertig anschließt und mit ihm
weiteste Verbreitung verdient. Als nicht ganz
einwandfrei ist dem Ref. nur die Tabelle auf
S. 114 und der Absatz 38 über den Nutzeffekt
thermodynamischer Maschinen aufgefallen, und im
Absatz 45 wäre vielleicht die physikalische Seite
des Thomson-Joule sehen Versuchs etwas
deutlicher hervorzuheben. A. Becker.
Schaefer, Cl., Einführung in die theore-
tische Physik. Zweiten Bandes erster Teil:
Theorie der Wärme, Molekularkine-
tische Theorie der Materie. 562 S. mit
71 Fig. im Text. Berlin 1921, Vereinigung
wissenschaftlicher Verleger.
Die zweifellos zahlreichen Freunde des im
Jahre 191 4 erschienenen ersten Bandes (vgl. diese
Zeitschr. 13. Bd., S. 683, 19 14) haben auf die
Fortsetzung des Werks infolge des Kriegs lange
warten müssen. Jetzt liegt der stattliche erste
Teil des zweiten Bandes vor. Er enthält die
Theorie der Wärme in weitestem Umfang und
gibt damit einen vollständigen Überblick über
Jäger, G., Theoretische Physik. IL Licht
und Wärme. (Sammlung Göschen Nr. "]"])
Fünfte Auflage. 155 S. mit 47 Fig. Berlin
und Leipzig 192 1, Vereinigung wissenschaft-
licher Verleger. — Preis brosch. 2,10 M. und
100 Proz. Teuerungszuschlag des Verlags.
Diese Bändchen sind seit langem so bekannt
und geschätzt, daß es ihrer besonderen Empfeh-
lung heute nicht mehr bedarf. Die vorliegende
Neuauflage unterscheidet sich von der vorher-
gehenden nur unwesentlich; hinzugekommen ist
nur in der Darstellung der kinetischen Gastheorie
eine kurze Betrachtung der Diffusion der Gase.
A. Becker.
Intialt: Ed. Färber, Das Kominuitätsprinzip in der Chemie. S. 705. Fr. Heiker tin ge r, Täuschende Ähnlichkeit mit
Ameisen (Myrmekoidie). S. 709. — Einzelberichte: S. G. Zondek, Die Ursache der physiologischen Wirksamkeit des
Kaliums. S. 713. H. le Chatelier, Eine neue Form der Phasenregel. S. 715. Fr. Bürki und F. Schaaf, Der
Zerfall des Hydroperoxyds durch Basen. S. 715. C. Röhm, Ein neues Eisensah. S 7:5. C. Seyfarth, Zur Bedeu-
tung der Langerhansschen Inseln. S. 716. Das Ende des Wisents. S. 717. C. v. Mackensen, Künstliche Beleuchtung
der Hühnerställe zur Erzeugung größerer Legetätigkeit der Hühner. S. 717. — Bücberbesprecbungen: W.Wächter,
Vademecum für Sammlef von Arznei- und Gewürzpflanzen. S. 717. E. Küster, Anleitung zur Kultur der Mikroorga-
nismen. S. 718. L. Hamilton, Ursprung der französischen Bevölkerung Canadas. S. 718. M. Ficker, Einfache
Hillsmittel zur Ausführung bakteriologischer Untersuchungen. S. 718. E. Frizzi, Anthropologie. S. yiq. A. Classen,
Handbuch der analytischen Chemie. S. 719. M. v. Schwarz, Legierungen. S. 719. K. Leuchs, Geologischer
Führer durch die Kalkalpen vom Bodensee bis Salzburg und ihr Vorland. S. 719. Cl. Schaefer, Einführung in
die theoretische Physik. S. 720. G. Jäger, Theoretische Physik. S. 720.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstraöe 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'scben Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der glänzen Reihe 36. Band.
Sonntag, den i8. Dezember 1921.
Nummer 51.
Über die Funktion des Schwanzes der Wirbeltiere.
[Nachdiuck verboten,]
Von Dr. Rob. Mertens, Frankfurt a. M.
Ebenso mannigfaltig wie die Gestalt des
Wirbeltierschwanzes ist auch seine Funktion. Ur-
sprünglich dürfte bei den niedersten Wirbeltieren
der hinterste Körperabschnitt als ein Lokomo-
tionsorgan gedient haben. Als ein mächtiges,
durch die erste Wirbelsäuleanlage, die Chorda
dorsalis, gestütztes Ruderorgan tritt der
Schwanz schon bei den Tunikaten auf, bei denen
er entweder zeitlebens (Appendikularien) oder nur
während des Larvenstadiums (Aszidien) erhalten
bleibt.
Bei den meisten Fischen ist der Schwanz ohne
Frage das wichtigste Bewegungsorgan. Die Loko-
motion der Fische erfolgt durch schlängelnde Be-
wegung entweder des ganzen Körpers, oder —
und zwar weit häufiger — nur des Hinterendes.
Durch die Ausbildung einer Schwanzflosse
wird die Wirkung der schlängelnden Bewegung
bedeutend vergrößert. Bekannt sind die ver-
schiedenen Formen der Schwanzflossen der Fische.
Hier sei insbesondere auf die Funktion der sog.
heterozerken Flosse hingewiesen. Sie besteht
aus zwei ungleichen Teilen: einem größeren,
widerstandsfähigeren, weil durch die Wirbelsäule
gestützten, und einem kürzeren, nachgiebigeren.
Erstreckt sich das Hinterende der Wirbelsäule
in den oberen Teil der Schwanzflosse (so bei
Haifischen und Stören), so wird während der
schlängelnden Bewegung der untere F'lossenteil
nachgeschleppt und aus der vertikalen in eine
mehr oder weniger horizontale Lage gebracht.
Infolge seiner Elastizität richtet er sich aber wie-
der vertikal auf und übt dabei auf die unterliegende
Wassermasse einen Druck aus. Dadurch wird
der kaudale Teil des Fisches emporgetrieben, das
Vorderende dagegen gesenkt — also das Schwim-
men nach dem Boden erleichtert. Bei den Ich-
thyosauriern lief die Wirbelsäule dagegen in den
unteren stärkeren Flossenteil aus: der Schwanz-
ausschlag bedingte hier umgekehrt das Senken
des Hinterendes und das Heben des Kopfendes,
was leichteres Schwimmen nach der Wasserober-
fläche ermöglichte. Eine ähnliche aufsteigende
Bewegungsrichtung wird durch die homozerke
Schwanzflosse der fliegenden Fische {Exocoetiis)
erzielt. Auch hier ist der untere Teil der Schwanz-
flosse größer, als der obere.
Im allgemeinen erfährt der Ruderschwanz eine
erhebliche seitliche Kompression, wie es die
meisten Fische zeigen. Seitlich zusammengedrückte
Schwänze haben ferner viele Amphibien: so die
Larven von Fröschen und Molchen; bei den letz-
teren kann der Schwanz auch nach der Meta-
morphose als Ruderorgan fungieren. Bekannte
Beispiele hierzu sind die Molche der Gattung
Triton , namentlich männliche Individuen , die in
der Fortpflanzungsperiode — also während des
Aufenthaltes im Wasser — auf den Ruderschwänzen
häufig stark entwickelte Hautsäume, bisweilen in
Gestalt von gezackten Kämmen, wie z. B. beim
prachtvollen westasiatischen Triton vittatus, be-
kommen. Unter den Reptilien haben die Kroko-
dile und die Seeschlangen seitlich zusammen-
gedrückte Ruderschwänze, ferner eine Anzahl
wasseraufsuchender Eidechsen, unter denen einige
Tejiden {Dracae?ia gutanensis, Crocodilurus lacer-
tifius) und vor allem die Warane (wie Varanus
nüotims, indicus, varius usw.) zu nennen wären.
Auch die namentlich durch Darwins Schilderung
bekannt gewordene Meerechse (Amblyrhymchus
cristatus) schwimmt mit Hilfe ihres seitlich zu-
sammengedrückten Schwanzes. Derartig gebaute
Schwänze, die als Ruder funktionieren, sind bei
den Säugetieren seltener; als Beispiele seien von
den Insektivoren die Otterspitzmäuse {Potamogale
velox, allmannt) und die madagassische Gattung
Limnogale, von den Nagern die Bisamratte [Fiber
zibethictcs) angeführt.
Als Lokomotionsorgan ist der Schwanz auch
für zwei ausschließlich im Wasser lebende Säuge-
tiergruppen von großer Bedeutung: für die Wale
und für die Seekühe. Auch hier, wie bei Fischen,
läuft der Schwanz in eine besondere Flosse aus,
die aber morphologisch mit der Schwanzflosse
der Fische deswegen nichts zu tun hat, weil sie
nicht durch Skeleitelemente gestützt wird. Im
Gegensatz zu den Fischen hat die Schwanzflosse
der Säuger eine horizontale Lage. Die Be-
wegung erfolgt hier nach dem Prinzip des
Schlängeins in der Vertikal ebene.
Zur Fortbewegung kann der Schwanz auch
bei manchen auf dem Lande lebenden Tieren, so
bei mehreren fußlosen Formen, dienen. Er kann
nämlich als „Stemmorgan" benutzt werden, in-
dem seine Spitze gegen den Boden gedrückt und
der Körper vorwärts geschoben wird. Solche
Stemmschwänze, die bei manchen, teilweise
unterirdisch lebenden Schlangen, wie Wurm-
schlangen [Typhlopidae), Schildschwänzen [Uropel-
tidae) und Rollschlangen [Ilysiidae), nicht selten
vorkommen, sind sehr kurz, dick und steif; bis-
weilen gleicht das Schwanzende ganz verblüfi'end
dem Kopfende. Häufig sind diese Stemmschwänze
mit besonderen gekielten Schuppen oder Schild-
chen [Uropelfidae] , kleinen Dörnchen {Uropelfis
grandis) oder mit einem Stachel am Schwanz-
722
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
ende (Typhlops) besetzt ; durch diese Vorrichtungen
wird das Anstemmen erheblich erleichtert. Es
ist möglich, daß der kurze Schwanz bei manchen,
ähnlich lebenden Eidechsen, so bei den Amphis-
baeniden, eine gleiche Rolle spielt. Ebenfalls als
Stemmorgan dürfte der steife Schwanz des Beutel-
maulwurfes {Notorydes typhlops) dienen.
Bei vielen Formen, die Sprünge machen, wie
nicht wenige schnellaufende Eidechsen, dient der
Schwanz zum besseren Abstoßen vom Boden.
Der bekannte Schlammspringer (Periophthahnus),
ein Fisch, der auch auf dem Lande sich aufhält,
hüpft, indem er sich in erster Linie auf den
Schwanz stützt. Auch der Salamander {Autodax
tecaniis Cope) vermag vermittels seines Schwanzes
Sprünge auszuführen.
Es ist bemerkenswert, daß eine Anzahl springen-
der Tiere, die im Besitz eines kräftig entwickelten
Schwanzes sind, diesen bei ihren Sprüngen nicht
etwa zum Abstoßen vom Erdboden gebrauchen.
So hebt z. B. Semon ausdrücklich hervor, daß
die Känguruhs sich nur mit Hilfe ihrer Hinter-
beine abschnellen, während dabei der Schwanz
den Boden kaum berührt. Hingegen kommt der
kräftige Schwanz dem Känguruh — wenn es auf
den Hinterbeinen sitzt — als Stütze sehr zu-
statten, weil dann der Körper an drei Funkten
gestützt wird. Bei Springhasen {Pedetes caifer)
und Springmäusen {Äladaga, Jaculus), aber auch
bei vielen anderen weniger oder kaum springen-
den Nagetieren, wie unseren Mäusen, dürfte der
Schwanz ein ähnliches Stützorgan abgeben.
Als Stützorgan wichtig ist ferner der Schwanz
für die Anomaluriden oder Dornschwanzhörnchen :
bei diesen Tieren ist er auf der Unterseite seiner
Wurzel mit großen, dachziegelartig angeordneten
Schuppen besetzt, die das Tier beim Klettern
wesentlich unterstützen und das Rückwärtsgleiten
verhindern. Auch bei den Flugeidechsen der
Gattung Draco sind an der Unterseite der
Schwanzwurzel besonders stark gekielte Schuppen
vorhanden. Unter den Vögeln sind es die Spechte
und Baumläufer, deren Schwanzfedern beim Klettern
als Stützwerkzeuge mitwirken.
Nicht bei sehr vielen Wirbeltieren dürfte da-
gegen der Schwanz als ein Steuerorgan eine
wesentliche Rolle spielen. Bei den Vögeln erfolgt
das Steuern wahrscheinlich nicht durch den
Schwanz, wie es meist angenommen wird, sondern
es wird nach Milla mit Hilfe der Flügel ge-
steuert. Nur bei manchen aquatilen Geschöpfen
(wie Biber, Fischotter) dürfte der Schwanz als
Steuer dienen, während er bei Eichhörnchen, Alt-
weltsaffen und vielen anderen springenden Tieren
während des Sprunges als „Balancierstange"
funktioniert, insofern er dabei das Gleichgewicht
zu erhalten sucht. So auch bei den Vögeln beim
Ausführen plötzlicher Wendungen.
Als Balancierstange war der Schwanz auch
für die Iguanodonten von Bedeutung; er ist es
noch für solche rezente Eidechsen, die, wie die
Kragenechse {Chlamydosaurtis kingi), die Bart-
agame {Avtphibolurus bar latus), die Wasseragame
(Physignathiis lesueuri), ein kleiner Leguan Crofa-
phyfus coUans und die Basilisken {Bastliscus), bis-
weilen auf den Hinterbeinen laufen. — In diesem
Zusammenhange mag auch die Annahme Tor-
niers erwähnt sein, daß der Schwanz unserer
Eidechsen durch seinen Zug den durch Schlängel-
bewegung gekrümmten Körper wieder gerade
streckt.
Bei PtycJwzoon Jwmalocephalum, einem sprung-
gewandten Baumgecko, erstreckt sich zu beiden
Seiten des Körpers und des Schwanzes ein Haut-
saum; der Schwanz ist bei dieser Eidechse am
Zustandekommen eines Fallschirms beteiligt. Ähn-
lich verhält es sich beim Flattermaki (Galeopüheais
volaiis) und manchen Fledermäusen; bei den
letzteren stützt der Schwanz die Flughaut, das
sog. Uropatagium. Vielleicht hat der zweiseitig
befiederte Schwanz des Arthaeopteryx als ein
Fallschirm gedient. Zweifellos sind aber die
Schwanzfedern für die Vögel als Vergrößerung
der Tragflächen von Wichtigkeit.
Eine gänzlich andere Bedeutung hat der
Schwanz für nicht wenige kletternde Tiere, bei
denen er häufig die Fähigkeit hat sich in der
Vertikalebene mehr oder weniger spiralförmig
einzurollen. Bei diesen Geschöpfen hat er die
Funktion eines Greifwe rkzeugs. So ist der
Schwanz unter den Fischen bei den Seepferdchen
(Hippocampus) und den Seenadeln {Nerophis) ein
Greiforgan. Auch bei den absonderlichen, mit
diesen Formen verwandten Fetzenfischen der
Gattung Phyllopteryx dürfte der Schwanz als
Greifwerkzeug funktionieren. Einige Salamander
— wie z. B. der nordamerikanische Autodax
iecanus — haben ebenfalls Greifschwänze. Unter
den Reptilien benutzen den Schwanz als ein
Greifwerkzeug die weitaus größte Zahl der Chamä-
leons, viele Riesenschlangen und Baumottern ; von
den eigentlichen Eidechsen sind es nur einige
wenige baumbewohnende Formen, wie z. B.
Cophotts, der anolisähnliche Xipliocerciis u. a. Die
Säugetiere weisen eine Anzahl von Formen auf,
die charakteristische Wickelschwänze haben ; merk-
würdigerweise kommen die meisten von diesen
greifschwänzigen Säugern in Amerika vor. Unter
den Beuteltieren sind es die amerikanischen Beutel-
ratten der Gattung Didelphys und die australischen
Kusus der Gattungen Plialaugcr und Pseudo-
chirus. Von den Xenarthren sind der zweizehige
Ameisenfresser {Cydopcs dtdadylus) und die Ta-
mandua [Taniajidua tctradadyla) , beide in Süd-
amerika vorkommend, im Besitze eines Greif-
schwanzes. Ebenso auch — unter den Raub-
tieren — der amerikanische Wickelbär {Potos
flavus) und der[südostasiatische Binturong {Ardidis
binturong). Während die Schwänze der Halb-
affen und der Altweltsaffen sich niemals zu Greif-
organen umbilden, haben nicht wenige Affen-
arten Amerikas wohlausgebildete Greifschwänze,
die zum Teil vielleicht auch noch als Tastorgane
fungieren; mit ihren Schwänzen können z. B.
N. F. XX. Nr. si
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
723
manche Arten sogar ihre Nahrung ergreifen. Unter
diesen Formen hat die Gattung Saimiri einen
einrollbaren Schwanz, der aber zum Greifen noch
kaum benutzt wird; dagegen haben die Kapu-
zineraffen [Cebus], die Wollaffen {Lagothrix), die
Klammeraffen {Ateles) und die Brüllaffen {Alouaftd)
richtige Greifschwänze. Während bei Cebus der
Schwanz noch allseitig behaart ist, fehlt die Be-
haarung — als funktionelle Anpassung — auf der
Unterseite des Schwanzendes bei den 3 anderen
Gattungen. ') Am Schwanzende befindet sich also
bei diesen Formen eine nackte, sehr nervenreiche
Stelle, die dem Schwänze ohne Frage noch eine
zweite Funktion verleiht, nämlich die eines Tast-
organs.
Bisher haben wir nur solche Greifschwänze
erwähnt, die nach unten einrollbar waren; die
Greiffläche befand sich bei diesen Formen stets
auf der Unterseite des Schwanzes. Nun gibt es
unter den Nagetieren Formen, die zwar auch
einen Greifschwanz haben, der aber nach oben
eingerollt wird : seine Greiffläche befindet sich
also auf der Oberseite. Das sehen wir bei dem
amerikanischen Greifstachler {Coendu •vülosus) und
bei den australischen Mäusen der Gattung Chirti-
romys. Auch bei diesen Formen dürfte der
Greifschwanz als ein Tastorgan fungieren, denn
seine Oberseite — also die Greiffläche — ist meist
nackt. — Die zierliche Zwergmaus {Micromys
■mimdus) unserer Heimat benutzt ihren Schwanz
auch als ein Greifwerkzeug, das korkzieherförmig
um Grashalme geringelt wird.
Namentlich insofern erleichtern die Greif-
schwänze den Tieren das Klettern, als sie die
Tätigkeit der Extremitäten entlasten. Eine ähn-
liche Wirkung wird aber auch durch Haftlamellen
an der Schwanzspitze eines Geckos Lygodactylus
piduratus erzielt, den Werner „Hemmschwanz-
gecko" genannt hat. Diese zuerst von Tornier
nachgewiesenen Haftlamellen auf der Spitze des
— also hier kaum einrollbaren — Schwanzes,
wirken genau so, wie die bekannten Haftscheiben
an den Fingern und Zehen der Geckonen. Eine
ähnliche Vorrichtung hat Lorenz Müller auf
dem Schwänze auch bei westafrikanischen Diplo-
dadylus-hxten festgestellt.
Wie erwähnt, kann der Greifschwanz als ein
Tastorgan fungieren. Nun gibt es bei manchen
Tieren nicht einrollbare Schwänze, denen
aber von einigen Forschern doch die Tastfunktion
zugesprochen wird. So wird z. B. bei dem wunder-
hübschen Spitzhörnchen der Gattung Ptüoccrcus
der schöne, lange Schwanz von Schneider als
ein Tastorgan gedeutet, was mir aber nicht recht
verständlich ist. Wahrscheinlicher scheint es mir
schon, daß der fleischige, nackte Schwanz der
unterirdisch lebenden Taschenratten [Geomys) als
ein Tastorgan eine Bedeutung haben kann. Bei
gewissen Verwandten unserer Mauereidechse, den
•) Ebenso wie beim greifschwänzigen Schuppentier (Manis
javanica). D. Verf.
sog. Archaeolacerten, hat der bekannte ungarische
Zoologe M^hely auf den Schwanzschuppen je
eine kleine Sinnesknospe entdeckt — der Schwanz
dürfte also für diese Tiere als ein Sinnesorgan
eine Rolle spielen.
Einige bodenbewohnende Tiere können ihren
Schwanz ein- und ausrollen, ohne daß er aber
dabei ein Greiforgan ist. In den meisten
Fällen dürften diese merkwürdigen Schwanzbe-
wegungen nur Begleiterscheinungen von Er-
regungszuständen sein. So hat man be-
obachtet, daß wüsten- und steppenbewohnende
Eidechsen der Gattung Phrynocephalus, wie Phry-
nocephalus caudivolvulus, den Schwanz, nament-
lich bei Erregung einrollen. Auch von einem
Gecko Stenodactylus petriei ist das gleiche be-
kannt, ebenso wie von einigen nordamerikanischen
Urodelen.
Schwanzbewegungen bei Erregung
sind ja recht weit verbreitet ; Kaimanfische {Lept-
dosteus) teilen während ihres Fortpflanzungsge-
schäfts mächtige Schwanzschläge aus; bei starkem
Hunger soll der Fuchshai [Älopecias vulpes) mit
Hilfe von peitschenden Schwanzschlägen kleine
Fischschwärme zusammentreiben. Allgemein be-
kannt ist das Wedeln des Schwanzes bei unseren
Hunden ; wedelnde Schwanzbewegungen sind auch
bei Giraffen beobachtet worden, wenn diese Tiere
die Flucht ergreifen wollen usw.
Manche Schlangen bewegen bei Erregung
ihren Schwanz überaus lebhaft hin und her, so
Spilotcs pullatus, Coluber longissimus und CorO'
nella ^etula, den Beobachtungen des bekannten
Herpetologen F. Werner zufolge. Von den
Giftschlangen ist die gleiche Erscheinung von
Elaps fulvius, Ancistrodon contortrix^ ptscivorus,
himalayanus , blo7nhoffi und Lachesis allernatus
bekannt. Manchmal erfolgen diese Bewegungen
unter hörbarem Geräusch, ähnHch den schwanz-
rasselnden Klapperschlangen. Auch diese letzteren
Schlangen (Sistrurus und Croialus) muß man in
diesem Zusammenhange nennen: denn die Schwanz-
bewegung und das durch die bekannte Rassel er-
zeugte Geräusch zeigen stets eine besondere Er-
regung dieser Tiere an. Es ist wohl nicht aus-
geschlossen, daß die Rassel der Klapperschlangen,
deren Entstehung auf unvollständiger Häutung
beruht, auch im Dienste des Geschlechtslebens
(Verständigung, bzw. Anlockung der Geschlechter)
steht.
Rasselndes Geräusch vermögen auch die
Stachelschweine {Hysfn'x) durch das Schütteln
ihres, mit besonders modifizierten Stacheln be-
setzten, Schwanzes hervorzubringen. Fast immer
geschieht das im Zustande der Erregung.
Mit Hilfe ihres Schwanzes können aber noch
andere Geschöpfe Laute erzeugen. Ein Gecko
aus Zentralasien {Tcratoscinctis) ist befähigt durch
Reiben von großen, dachziegelförmig angeordneten
Schuppen, die seinen Schwanz bedecken, laut zu
zirpen. Welche biologische Bedeutung diese Zirp-
töne haben, ist aber nicht einzusehen. Vielleicht
724
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
dienen sie — ebenso wie bei den Klapperschlangen
— zur Anlockung der Geschlechter. Strauch —
ein russischer Herpetologe — war der Ansicht,
daß der Teratoscincus mit seinem Zirpen Heu-
schrecken, also seine Futtertiere, anlockt. Von
den Kolibris ist es auch bekannt, daß sie während
ihrer Liebesspiele durch Bewegungen der Schwanz-
federn ein Geräusch produzieren.
Schlagende und schleudernde Schwanzbe-
wegungen können für die Tiere andererseits eine
sehr wirksame Wafife abgeben. So benutzen be-
kanntlich die verschiedensten Huftiere ihre Schwänze
als Fliegenwedel. Mächtige Schläge — selbst
für den Menschen nicht ungefährlich — können
Krokodile und Warane austeilen. Aber auch die
großen Leguane [Iguaiia tuberailata, Metopoceros
coj'iintns) haben die gleiche Fähigkeit. Bei anderen
Formen wird die Wirkung der Schwanzschläge
dadurch ganz erheblich vergrößert, daß auf dem
Schwänze Stacheln zur Entwicklung gelangen. Die
Stachelrochen {Trygoiu'dac) haben solche Schwänze
mit einem oder mehreren Stacheln ; ähnlich ist es
bei den Myliobatiden, Acanthuriden und anderen
Fischen. Unter den Eidechsen sind Stachel-
schwänze recht verbreitet. Zum Teil sogar sehr
mächtig entwickelte Stacheln, die hier modifizierte
Schuppen sind, finden sich z. B. auf den Schwänzen
von Uromasfix, Zonurus, Cfeiiosaura, Cachryx ;
einen Waran {Varainis acanfhnrus aus Australien),
eine Eidechse im engeren Sinne {Laccrfa ecliinata
aus dem tropischen Westafrika) und sogar Glatt-
echsen (z. B. Egcrnia dcprcssa aus Australien)
gibt es, die ebenfalls stachlige Schwänze haben.
Auch der Urson {Erefkizo)i), der zu den Baum-
stachelschweinen gehört, schlägt mit seinem
stachHgen Schwänze: die Stacheln sitzen bei
diesem Tiere so lose in der Haut, daß sie bei
der geringsten Berührung am Körper des An-
greifers haften bleiben. Wenn das Schuppentier
{Mams) beunruhigt wird, so schlägt es seinen,
mit großen spitzen Schuppen bedeckten Schwanz
unter die empfindlichere Bauchseite und ist auf
diese Weise von allen Seiten durch sein Schuppen-
hemd geschützt.
So mag der Schwanz für manche Tiere als
Decke auch von Bedeutung sein, und zwar ent-
weder als Afterklappe (z. B. Mammut) oder als
Schutzdecke für den ganzen Körper. Verschie-
dene Eichhörnchen, so das zierliche Flughörnchen
Glancomys volaiis, decken sich beim Schlafen mit
ihrem buschigen Schwänze zu. Der Schwanz des
großen Ameisenbären {Alynnccophaga fridacfyla)
ist sehr lang und mit bis 40 cm langen Haaren
bedeckt. Wenn sich dieses merkwürdige Geschöpf
hinlegen will, hebt es seinen mächtigen Fahnen-
schwanz über seinen Körper, so daß dieser voll-
kommen von den langen Schwanzhaaren einge-
hüllt wird. So dürfte der Schwanz für den
Ameisenbären als eine Decke von Bedeutung sein,
zumal Alyrviecopliaga ein nomadisierendes Leben
führt, worauf zuerst Sokolowsky hingewiesen
hat.
Befinden sich auf dem Schwänze besondere
Drüsen, die ein giftiges oder übelriechendes
Sekret ausscheiden, so kann der Schwanz ein
weiteres Schutzmittel abgeben. So sind die
Giftdrüsen auf der Schwanzoberseite des PlefJiodoii,
oregonensis, eines nordamerikanischen Salamanders,
sehr stark ausgebildet, was ein immerhin wichti-
ges Schutzmittel gegen Schlangenangrifife sein
kann. Auf der Unterseite des Schwanzes vom
Wychuchol {Myo^ale vioschatd) befinden sich
Moschusdrüsen, die vielleicht eine ähnliche Funk-
tion — als Verteidigungswaffe — haben usw.
Bei den Mormyriden, die häufig wenig zu-
treffend als Nilhechte bezeichnet werden, liegen
beiderseits des Schwanzes zylinderförmige, ge-
fächerte elektrische Organe, die ebenfalls
als ein — allerdings kaum sehr wirksames —
Schutzmittel dienen mögen, indem sie schwache
elektrische Schläge auszuteilen imstande sind.
Auch bei einigen Rochen befinden sich schwache
elektrische Organe im Schwänze.
Von weiteren Schutzmitteln sei der bekannten
Autotomie („Selbstverstümmelung") des Schwan-
zes gedacht. Die Fähigkeit den Schwanz abzu-
werfen gestattet manchen Tieren verschiedensten
Gefahren zu entrinnen, etwa wenn sie vom Ver-
folger am Schwänze festgehalten werden. Der
Bruch erfolgt an besonderen „präformierten"
Stellen, die bei den Eidechsen bekannt-
lich innerhalb eines Wirbels, bei den Uro-
delen hingegen zwischen zwei Wirbeln liegen.
Der abgebrochene Teil des Schwanzes hat fast
immer die Fähigkeit sich noch lange hin und her
zu bewegen, und während der Verfolger sich mit
diesem Schwanzstück beschäftigt, hat der Ver-
folgte meist genug Zeit, um sich aus dem Staube
zu machen. Unter den Schwanzlurchen brechen
die Schwänze ab bei den nordamerikanischen
Spclcrpes und Bafraciwseps, ferner bei dem zier-
lichen portugiesischen Goldstreifensalamander
Chioglossa lusitanica und bei der Salama7jdra
caucasica. Bei Eidechsen ist die gleiche Erschei-
nung viel verbreiteter; Werner hebt aber aus-
drücklich hervor, daß die Schwänze nur dann
autotomieren , wenn sie nicht als Wafife oder als
Greifwerkzeug funktionieren. Je leichter der
Schwanz bei den Eidechsen abbricht, desto
schneller pflegt seine Regeneration zu erfolgen.
Wie Boulenger zuerst hervorgehoben hat,
zeichnen sich regenerierte Schwänze dadurch aus,
daß sie in der Regel eine andere — und zwar
ursprünglichere — Beschuppung bekommen.
Schwanzautotomie und Regeneration sind von
Schlangen nicht bekannt; zwar sind bei manchen
Formen (so z. B. bei Psanimophis) die Schwänze
auffallend leicht abreißbar, doch niemals regene-
rationsfähig.
Unter den Säugetieren haben die Igelratten
{Proechimys) die Fähigkeit den Schwanz abzu-
werfen. Der Bruch erfolgt an einer präformierten
Stelle, an der die Schwanzwirbel verkümmert und
die Haut nur sehr dünn ist; von einer Regene-
N. F. XX. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
72s
ration des einmal abgebrochenen Schwanzes ist
aber bei diesen Tieren nichts bekannt. Andere
Nagetiere, wie die Waldmaus {Afodemus sylvatiais),
die Brandmaus {Micromys agrarms), die Wüsten-
springmaus {Jaciiliis jaciilus) und die Bilche
{Myoxidae) können ihren Schwanz zwar ohne
weiteres nicht abbrechen, dafür aber die Schwanz-
haut abstreifen: wird ein solches Tierchen etwa
am Schwänze festgehalten, so reißt die Haut —
wenigstens bei den ersten drei Arten — an einer
präformierten Stelle und streift sich vom Schwanz ab.
Zur Ernährung eines Tieres kann der
Schwanz insofern in Beziehung stehen, als im
kaudalen Körperabschnitt bei den verschiedensten
Wirbeltieren Fett- und andere Nährstoffvorräte
abgelagert werden. Schon der Schwanz der
Froschlarve stellt einen Aufspeicherungsraum für
Nährstofife vor. Bekannt ist die Beobachtung von
Pflüger, daß die Larve der Geburtshelferkröte
{Alyies obstetricans), von etwa 8 cm Größe, die
Nahrungsaufnahme einstellt und nun fünf Wochen
lang auf Kosten ihres mächtigen Schwanzes lebt :
während dieser Zeit erfolgt die Ausbildung der
Extremitäten. Durch die Tätigkeit der Leuko-
zyten wird der Schwanz aufgezehrt, wie es aus
den Untersuchungen von Metschnikoff, van
Rees, Barfuth, Loos u. a. hervorgeht.
Auch manche Eidechsen haben eine wichtige
Nahrungsniederlage im Schwänze. Es sind wohl
meist Formen, die dürre, steppenartige Gegenden
bewohnen, wie z. B. Lygosoma monotropis und
fasciolatuni — australische Glattechsen, die einen
auffallend dicken Schwanz haben. Vielleicht sind
auch die dicken rübenförmigen Schwänze von
manchen Geckonen, so z. B. vom „Nierenschwanz-
gecko" Ncphruriis (asper und laevis) und von
Gymnodactylus müicsii in dieser Weise zu deuten.
Ferner kommen Fettanhäufungen im Schwänze
von Dromicia nana, einem kleinen Beuteltier, vor;
sehr auffallend sind dann die Fettablagerungen —
die wohl auch die Bedeutung eines Zehrvorrats
haben — bei den Dickschwanzmäusen aus der
Gattung Pachyiiromys. Man kennt sie aber auch
von mehreren madagassischen Halbaffen aus den
Gattungen AUüüemur, Cheirogalcus und Micro-
cebus. Nach Grandidier (laut Brehms Tier-
leben, 4. Aufl., Bd. XIII) halten diese Fettschwanz-
makis während der Trockenzeit einen Sommer-
schlaf ab; wenn die Tiere erwachen, ist die mäch-
tige Schwanzanschwellung, die durch eine Fett-
ansammlung bedingt wird, vollkommen ver-
schwunden. Auch das bekannte Karakul- oder
Fettschwanzschaf, dessen Fettschwanz bis 10 kg
schwer werden soll, muß in diesem Zusammen-
hange genannt werden.
Daß der Schwanz auch — allerdings nur im
Embryonalstadium — als Atmungsorgan
funktionieren kann, geht aus den Untersuchungen
von Peters an Keimlingen vom bekannten An-
tillenfrosch {Hylodes viarfinicensis) hervor. Auch
bei den Wabenkrötenembryonen, die sich in den
wabenförmigen Vertiefungen des IVIuttertieres ent-
wickeln , dürfte der Schwanz als ein Atmungs-
organ dienen.
Endlich hat der Schwanz auch bisweilen eine
Bedeutung für das Geschlechtsleben der
Wirbeltiere. Nicht selten sind sekundäre Ge-
schlechtsmerkmale gerade am kaudalen Körper-
abschnitt besonders stark ausgebildet (z. B. ab-
weichende Schwanzflossenbildung bei Xiplwpiwrus-
Männchen, Schwanzkämme bei männlichen Uro-
delen und Eidechsen, Höcker auf der Oberseite
der Schwanzwurzel bei den Männchen von Sala-
mandra caucasica und luschani, mächtig en wickelte
Schwanzfedern bei männlichen Hühner- und
Paradiesvögeln usw.). Auf die Vermutung, daß
der Schwanz der Klapperschlangen durch rasseln-
des Geräusch, oder beim Tcratoscincus durch
zirpende Töne der Schwanzschuppen für gegen-
seitige Verständigung und Anlockung der Ge-
schlechter eine Bedeutung haben mag, wurde
schon hingewiesen. Die auffallend schwarz und
weiß gefärbte Schwanzquaste der Wüstenspring-
maus {Jacidtis jacidiis) ist nach Schmidtlein
zum gegenseitigen Auffinden von Vorteil , zumal
diese Tierchen dämmerungsliebend sind; das
Weibchen soll seine Jungen gerade mit Hilfe die-
ser auffallenden Schwanzquaste führen.
Der schwertförmig ausgezogene untere Teil
der Schwanzflosse vom bekannten bunten Schwert-
kärpfling {Xiphophoriis) dient während der Liebes-
spiele als Reizorgan; man kann im Aquarium
bisweilen beobachten, wie das Männchen plötzlich
rückwärts schwimmt und dabei das Weibchen
mit seinem Schwertfortsatz zu berühren sucht,
wahrscheinlich um es zu erregen. Auch das
Männchen von der griechischen Landschildkröte
(Testudo graccd) stößt während der Paarungsspiele
mit dem Dorn seines Schwanzendes an die After-
öffnung des Weibchens. Dagegen werden die
Molchweibchen von den heftigen Schwanzbe-
wegungen der Männchen, die sie während ihrer
Liebesspiele ausführen, in der Regel nicht berührt.
Während der Begattung kann der Schwanz
als ein Greifwerkzeug benutzt werden: manche
Molche (Eiiprocfus) und Schlangen halten sich
während der Begattung mit ihren Schwänzen fest,
wie man es z. B. bei der Zornnatter (Zavienis
gemonensis) beobachten kann.
Um ein Loch für die Eiablage zu graben wird
von der europäischen Sumpfschildkröte (Emys
orbicularis), laut Beobachtungen von M i r a m, der
Schwanz benutzt, indem er mit seiner Spitze
gegen den Boden gestemmt wird; dann werden
mit dem vorderen Schwanzteil kreisförmige Be-
wegungen ausgeführt, wodurch im Boden ein
kegelförmiges Loch entsteht. Weiter wird das
Loch mit Hilfe der Hinterextremitäten gegraben.
Die chinesische Dreikielschildkröte (Gedclcmys
reevesi) verfährt dabei — wie ich kürzlich be-
obachten konnte — anders: das Weibchen hat
mit kräftigen Schwanzbewegungen in horizontaler
Ebene in ziemlich kurzer Zeit so viel Land weg-
geschaufelt, daß eine große Grube entstand, in die
726
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
die Eiablage erfolgte. Einige Fische, so z. B. die
Lachse, höhlen auch vermittels ihres Schwanzes
Gruben aus, die zur Aufnahme des Laiches be-
stimmt sind. Daß die australischen Opossumratten
{Bettongia penicillatd) mit Hilfe ihrer greiffähigen (?)
Schwänze Baumaterial für ihre Nester herbei-
schaffen sollen (vgl. Brehms Tierleben, 4. Auf-
lage, Bd. X, S. 190), erscheint mir recht unwahr-
scheinlich.
Der Schwanz kann schließlich noch viel engere
Beziehungen zur Brutpflege haben: manche
Fische halten sich bei ihrem Laich auf und ver-
setzen durch sanfte Schwanzschläge das Wasser
in Bewegung, um den Keimlingen sauerstoff-
reicheres Wasser zuzuführen. Der Salamander
Plethodan oregotiensts hält seine Eier in der
Schwanzschlinge fest und soll sie so von einem
Ort zum anderen transportieren. Vielleicht noch
merkwürdiger ist die Brutpflegegewohnheit bei
einem kleinen Fischchen, dem Spritzsalmler
{Copeina arnoldi): das Weibchen legt seinen
Laich außerhalb des Wassers ab — im Aquarium
an die Glasscheibe über dem Wasserspiegel — ;
das Männchen übernimmt nun die Brutpflege, in-
dem es durch schlagende Bewegung der Schwanz-
flosse die Eier ständig mit Wasser bespritzt.
Eine ähnliche Beobachtung am Wels {Silurus
glanis) hat der rumänische Ichthyologe A n t i p a
gemacht: im Überschwemmungsgebiet der unteren
Donau pflegt der Wels seine Eier auf die Blätter
von überschwemmten Landpflanzen abzulegen.
Sinkt dann das Wasser, so bespritzt der Wels
durch heftige Schwanzschläge den Laich, der der
Luft ausgesetzt ist.
[Nachdruck verboten.]
Vom Leiben zum Tode.
Eine naturwissenschaftliche Betrachtung
von Dr. Emil Lenk.
Die Lebewesen sind aus kolloidalem Material
aufgebaut und jeder Wechsel im funktionellen
Verhalten der Zelle geht mit einer Veränderung
der Zellkolloide parallel. Zum großen Gebiet
der koUidalen Substanzen gehören die Fermente,
chemische Stoffe, die in geringster Menge ange-
wendet, Umsetzungen relativ ungeheurer Mengen
chemischer Substanzen vollbringen können. Ein
Gramm eines Labpräparates aus einem Kalbs-
magen genommen, ist imstande die 400 000 fache
Menge Milch zum Gerinnen zu bringen. So gibt
es Fermente im Organismus, welche die ver-
schiedensten chemischen Substanzen, wie Nahrungs-
mittel abbauen und wieder zu komplizierten Ge-
bilden verketten können, in jeder Zelle, in jedem
Gewebstück. Alle im Organismus sich abspielen-
den Vorgänge werden auf fermentative zurückge-
führt. In der lebenden Zelle arbeiten die Fermente
an einem Werke, dem der Erhaltung des Lebens.
In einem abgestorbenen Gewebe sind die Zellen
zwar tot, die Fermente aber noch wirksam.
Während die Lebenseigenschaft der Zelle für eine
harmonische gemeinsame Arbeit aller Fermente
sorgte, hat sie nach dem Tode diese Möglichkeit
völlig verloren. Der Tod der Zelle beseitigt das
regulatorisch wirkende, die zweckmäßige Arbeit
der Fermente bedingende Prinzip. Das Rätsel
des Lebens ist dadurch noch lange nicht „er-
klärt". Die lebende Zelle produziert und reguliert
die Fermente. Sie schafft nur solche, deren sie
unbedingt bedarf, und vernichtet die, welche sie
nicht verwenden kann. In toten Zellen setzt jedes
Ferment seine Tätigkeit fort, es kümmert sich
nicht um die anderen und erzeugt Produkte, die
vollkommen unnötig sind. Auf dem harmonischen
Zusammenwirken der Fermente beruht das Leben,
auf einer regellosen Fermentarbeit der Tod.
Während die lebende Zelle eine sorgsame
Auswahl unter den ein- und austretenden Stoffen
traf und nicht wahllos Substanzen passieren ließ,
besitzt die tote Zelle ihr regulatorisches Prinzip
nicht mehr; Substanzen aller Art haben jetzt
freien Eintritt in die Zelle und es hindert auch
die im Zellsaftraum gelagerten Substanzen nichts
daran, aus der Zelle auszutreten.
Mit dem Leben der Zelle geht ihre Irritabili-
tät, die Reaktion auf Reize Hand in Hand. Die
meisten Beobachtungen werden an jener Form
des organisierten Protoplasmas angestellt, welche
ihrer Menge nach den Hauptanteil des lebenden
Körpers ausmacht: dem Muskelgewebe. Mit dem
Eintritt des Todes verändert sich der Muskel in
eigentümlicher Weise. Ist der Muskel tot, so ist
er unerregbar. Während er im Leben weich war,
und die Gelenke gebogen werden konnten, wird
er jetzt hart und fest, die Gelenke sind nicht mehr
biegsam. Es tritt die Totenstarre ein. Nach
2 bis 3 Tagen beginnt sie sich wieder zu lösen,
der Muskel wird wieder weich, die Gelenke
können wieder gebogen werden. Dies entspricht
der Lösung der Totenstarre. Die Frage
nach dem Wesen der Totenstarre und ihrer Lösung
gehört zu den ältesten Problemen der Physiologie.
Hat doch diese, auch für den Laien so auffällige
und geheimnisvolle Erscheinung die Wißbegierde
der Menschen erregt, seitdem sie überhaupt be-
gonnen hatten, den Rätseln des Lebens und des
Sterbens nachzugrübeln. Da der Muskel meistens
aus Eiweißstoffen besteht, diese gerinnbar sind
und dadurch fest werden (wie im Ei), folgten die
meisten Physiologen der Ansicht Kühnes, der-
zufolge die Totenstarre durch eine Gerinnung der
Eiweißkörper bedingt sein sollte. Gegen diese
Gerinnungstheorie sind nur spärlich Stimmen laut
geworden, welche die Totenstarre als eine Art
Muskelkontraktion bezeichneten, nachdem Ny st en
N. F. XX. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
727
am Beginne des vorigen Jahrhunderts die Toten-
starre vom vitalistischen Standpunkte aus, als
letzte Anstrengung des sterbenden Muskels ge-
deutet hatte. V. Fürth und Lenk') haben
das Problem der Totenstarre und ihrer Lö-
sung nochmals aufgerollt, um vom physikalisch-
chemischen Standpunkt, die sich beim Ab-
sterben der Gewebe abspielenden Vorgänge zu
betrachten. Ihr Augenmerk lenkten sie vor allem
auf das Problem der Lösung der Totenstarre, das
ganz und gar nicht geklärt war, und die angeb-
lichen Gründe zur Lösung der Totenstarre, wie
Selbstverdauung, P'äulnis, Auflösung des geron-
nenen Eiweißes durch Milchsäure nicht stichhaltig
waren. Wenn es uns nun geglückt sein sollte,
diese Naturrätsel zu lösen, so verdanken wir dies
dem früher genannten Zweige der biologischen
Wissenschaften, der Kolloidchemie. Ein wichtiges
Merkmal einer großen Gruppe kolloidaler Stoffe,
zu welchen die Eiweißkörper gerechnet werden,
die ja die Hauptmenge des Muskels ausmachen,
ist ihre Quellbarkeit. Legt man einen Gelatine-
würfel ins Wasser, so nimmt er dieses in sich auf,
ohne daß es durch Abpressen gelingt, ihn vom
geketteten Wasser zu befreien, also ganz anders,
als bei einem vollgesaugten Schwämme. Bei der
Anwesenheit einer nur minimalen Säuremenge
wird die Wasseraufnahme bedeutend beschleunigt.
Untersucht man nun die zeitliche Wasseraufnahme,
indem man zugleich einen Gelatinewürfel und
einen Fleischwürfel ins Wasser legt und von Zeit
zu Zeit zur Wägung bringt, so bemerkt man, daß
die Wasseraufnahme bei den beiden Objekten ganz
anders erfolgt. Die Leimplatte nimmt stets Wasser
auf. Ein Fleischwürfel, der einem eben getöteten
Tiere entnomrrien wird, nimmt bis zur ca. 30.
Stunde Wasser vom Außenmedium auf, um nach
dieser Zeit nicht nur sein aufgenommenes Wasser
abzugeben, sondern auch einen Teil des an und
für sich enthaltenen Wassers. Wird aber ein
Fleischstück von einem Tiere untersucht, bei dem
sich die Totenstarre bereits gelöst hat, so ist der
Muskel nicht mehr imstande Wasser aufzunehmen,
sondern gibt sein eigenes Wasser ab. Während
der lebende Muskel strenge seine Neutralität wahrt
und jede Säure bzw. Laugenbildung durch Neu-
tralisation sofort beseitigt, reagiert Fleisch nach
dem Tode sauer durch die sich im Muskel
bildende Milchsäure, die sich allmählich bis zu
einer einprozentigen Säurelösung konzentriert.
Auf zahlreiche Versuche gestützt, sind v. F ü r t h
und Lenk zur Überzeugung gelangt, daß es sich
bei der Todenstarre nicht um einen Gerinnungs-,
sondern um einen Quellungsvorgang handelt. Der
Muskel, der willkürlich beeinflußt wird, besteht
aus zahlreichen Muskelfasern, deren Breite nur
10—100 ,u (1 /' = Viooü "i'n) beträgt und von
denen jede einzelne aus dem Sarkoplasma, einer
kontraktilen (willkürlich zusammenziehbaren) Ei-
weißmasse zusammengesetzt ist, die nach außen
') Otto V. Fürth und E. Lenk: Bloch. Zeitschr., 33,
356 (191 1).
hin von einer etwas dichteren Schicht abgegrenzt
ist. In diesem Sarkoplasma liegen nun von einem
Ende der Faser bis zum anderen sich hinziehend
die Fibrillen, welche aus abwechselnd hellen und
dunklen Partien bestehen, die verschiedene Licht-
brechung besitzen; so entstehen dunkle und helle
Querstreifen (quergestreifte Muskel). Es besteht
also der Muskel aus zwei verschiedenen kolloidalen
Eiweißsubstanzen, dem Sarkoplasma und den
Fibrillen. Die nach dem Aufhören der normalen
Blutzirkulation, also nach Eintritt des Todes ein-
setzende Milchsäurebildung bringt die Fibrillen
auf Kosten der Sarkoplasmaflüssigkeit zum Quellen
und bewirkt so eine Verkürzung des ganzen
Muskels. Diese äußert sich in einem Starrezu-
stand (Totenstarre). Durch eine weitere Säure-
anhäufung kommt es zu einer allmählichen Ge-
rinnung, einer Ausflockung der Muskeleiweißstofife ;
diese geht mit einem verminderten Wasserver-
bindungsvermögen des kolloidalen Systems, mit
einer Wasserabgabe, einem Entquellungsvorgang
einher, als dessen physiologischer Ausdruck die
Lösung der Totenstarre zu betrachten ist.
Wir wissen, daß Wärme die Gerinnung der
Eiweißkörper sehr beschleunigt. Wenn die Toten-
starre einem Gerinnungsprozesse entspräche, so
müßte sich, wenn man ein eben getötetes Tier
einer Temperatur von z. B. 40 Grad aussetzte, eine
desto deutlichere Totenstarre ausbilden. Es tritt
aber, wie es ja nach unserer Theorie selbstver-
ständlich ist, gerade das Umgekehrte ein: die
Starre wird aufgehoben. Es war aber doch schon
den alten Physiologen bekannt, daß sich die
Totenstarre im Sommer früher löst als im Winter.
Ferner weiß man, daß hochgradige Muskelan-
strengungen, wie Hetzjagden, lange Märsche,
Krämpfe u. dergl. den Eintritt der Totenstarre
erheblich beschleunigen. Auf den Schlachtfeldern
fand man oft Soldaten kniend mit angelegtem
Gewehr in derselben Stellung, wie vor dem Tode,
erstarrt. Da im Sinne unserer Quellungstheorie
die Milchsäure die causa movens der Totenstarre
ist, so ist dies leicht verständlich. Ebenso kann
der Sauerstoff den Eintritt der Totenstarre ver-
zögern, weil er die Milchsäure zerstört. Wenn
Kuli ab ko das Herz eines bereits 20 Stunden
toten Kindes neu zu beleben vermag, wenn
C a r e 1 1 ganze Gewebe, wie Nieren außerhalb des
Tierkörpers lange Zeit am Leben erhält, so kann
man sich dies einfach dadurch erklären, daß die
Blutlauge, die in den Geweben sich bildende
Milchsäure neutralisiert. Auch bei pflanzlichen
Geweben ist es Lenk ') gelungen durch Quellungs-
vorgänge den genauen Eintritt des Zelltodes zu
bestimmen. Weitere Untersuchungen von v. F ü r t h
und Lenk'') gingen dahin, das Alter einer Fleisch-
•) E. Lenk: Bloch. Zeitschr., 73, 15—106 (1916).
2) O. V. Fürth und E. Lenk: Zeitschr. f. Unters, d.
Nahrungs- u. Genufimlttel, 24, 189 (1912).
S. auch O. V. Fürth: „Die Kolloidchemie des Muskeli
und ihre Beziehungen zu den Problemen der Kontraktion und
der Starre" (Ergebn. d. Physiologie, XVU, 1919).
728
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
probe dadurch genau herauszufinden , daß man
sie in verschieden konzentrierte Kochsalzlösungen
einlegte, und die Konzentration bestimmte, in der
das betreffende Fleischstück an Gewicht weder
zu- noch abnahm. Je älter das Fleisch, desto
höher die Salzkonzentration. Man kann so z. B.
zwischen frischem und durch Eisaufbewahrung
frischscheinendem Fleisch genau unterscheiden
und die Methode auch für die gerichtliche Medizin
dann mit Vorteil verwenden, wenn man das Alter
einer Leiche feststellen will.
Die harmonische Fermentarbeit und das Gleich-
gewicht zwischen Quellung und Entquellung sind
wichtige Kennzeichen des Lebens; eine regellose
Fermenttätigkeit und die Störung des Quellungs-
gleichgewichtes kennzeichnen den Tod. Der
Worte Goethes müssen wir hier gedenken : „Nach
dem Tode arbeiten sich die Kräfte, die vergebens
nach ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen,
ab an der Zerstörung der Teile, die sie sonst be-
lebten".
Einzelberichte.
DieZerleguug YonElementen durch «-Strahlen.
Wasserstoffstrahlen aus Stickstoff.
Vor 2 Jahren gelang es Rutherford durch
rasche a-Strahlen*) aus dem Stickstoffatom Wasser-
stoffteilchen abzusplittern. Die Ablenkung der
aus dem elementaren Stickstoff herausgeschossenen
Teilchen im elektrischen und magnetischen Feld
ergab aber nicht mit genügender Sicherheit den
Wert I für die Masse der neugebildeten Strahlen-
teilchen. Deshalb hat Ruther ford^) neuer-
dings die Natur der in Stickstoffgas durch «Be-
strahlung entstehenden Strahlen von großer Reich-
weite eingehend untersucht. Als wirksame
Strahlungsquelle wurde ein starkes Radium C-
Präparat verwendet. Der Spalt für die Begrenzung
des a-Strahlenbündels war sehr weit, um die
Leuchtkraft des Zinksulfidschirms zu verstärken.
Die durch die Strahlenteilchen auf dem Leucht-
schirm hervorgerufenen Szintillationen wurden
durch ein lichtstarkes Mikroskop mit Objektiven
großer Apertur beobachtet und ihre Zählung auf
diese Weise erleichtert. Die Ablenkung im Magnet-
feld der im Stickstoff erzeugten Strahlen großer
Reichweite zeigte völlige Übereinstimmung mit
dem Verhalten der Wasserstoffstrahlen, die beim
Durchgang von «-Strahlen im Wasserstoff ent-
stehen.
Damit ist der Beweis geliefert „daß einige
von den Stickstoffatomen durch ihren Zusammen-
stoß mit raschen «-Teilchen zertrümmert und daß
rasche Atome von positiv geladenem Wasserstoff
herausgestoßen werden. Daraus kann gefolgert
werden, daß das geladene Wasserstoffatom einen
der Bestandteile bildet, aus denen der Stickstoff-
kern aufgebaut ist. — Die Tatsache, daß der
Heliumkern (des «Strahls), von dem vorausge-
setzt sein möge, daß er aus 4 H-Atomen und
2 Elektronen bestehe, den Zusammenstoß zu über-
leben scheint, ist ein Zeichen, daß er von sehr
stabilem Bau sein muß. — Es ist zu bemerken,
daß die Anzahl der im Stickstoff zertrümmerten
Teilchen ausnehmend klein ist, weil wahrschein-
') a-Strablen = rasch bewegte, elektrisch geladene Kerne
Ton Heliumatomen He-f-f.
') Baker-Vorlesung, Proc. Roy. Soc. A., 97 ; deutsch von
E. Norst. Verlag S. Hirzel, Leipzig 1921.
lieh im Mittel nur ein «-Teilchen unter etwa
300000 fähig ist, dem Stickstoffkern genügend
nahe zu kommen, um das Wasserstoffatom mit
hinreichender Energie zu befreien, so daß es
durch die Szintillationsmethode gefunden werden
kann." Der Durchmesser des Stickstoffkerns be-
trägt wahrscheinlich nur 5 X io~'^ cm, so daß
sich hieraus die Seltenheit des zentralen Zusam-
menstoßes eines «Teilchens mit einem Stickstoff-
kern erklärt. Beim Durchgang von «-Strahlen
durch Wasserstoffgas werden 12 mal mehr Teil-
chen von großer Reichweite wie im Stickstoff
erzeugt.
Trifft ein «Teilchen von der Masse 4 mit
2 positiven Elementarladungen auf ein Wasser-
stoffatom von der Masse i, so muß dieses als
Wasserstoffion H+ die 16 fache Geschwindigkeit
und damit die 4 fache Reichweite der stoßenden
«-Strahlen erlangen. Tatsächlich vermögen auch
die raschen Wasserstoffteilchen noch in 28 — 29 cm
Entfernung den Leuchtschirm zu erregen, während
die sie erzeugenden «-Strahlen des Radium C
schon durch eine 7 cm dicke Luftschicht völlig
aufgehalten werden. Vor kurzem bestimmten
Rutherford und Chadwick mit großer Ge-
nauigkeit, daß Wasserstoffstrahlen, die durch
«-Strahlen von 7 cm Reichweite aus Wasserstoff
oder Wasserstoffverbindungen entstanden waren,
eine maximale Reichweite von 29 cm in Luft
haben; die Wasserstoffstrahlen des Stickstoffs
haben jedoch eine Reichweite von 40 cm, so daß
ein Teil ihrer Energie aus dem explodierenden
Stickstoffatom stammen muß. „Dies Ergebnis
zeigt, daß diese Teilchen nicht von irgendeiner
Wasserstoffverunreinigung herrühren können."^)
Da die Befreiung der Wasserstoffteilchen aus
Stickstoff ein reiner Atomvorgang ist, war zu er-
warten, daß ähnliche Teilchen auch aus Stick-
stoffverbindungen befreit werden und zwar in
einer dem Stickstoffgehalt proportionalen Anzahl.
Zu diesem Zweck schickte Rutherford-) im
Vakuum die «-Strahlen von Radium C durch ganz
dünne Schichten von Bornitrid, Natriumnitrid,
Titannitrid und Paracyan, die als feine Pulver auf
') Nature S. 41, Vol. 107, Nr. 2680. 10 III. 1921.
-j Baker-Vorlesung.
N. F. XX. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
729
dünnen Aluminiumplatten ausgebreitet waren. Die
Aluminiumplatten und Stickstofifverbindungen
waren weitgehend entgast, um die Anwesenheit
von Wasserstoff in jeder Form auszuschließen.
Aus allen untersuchten Stickstoffverbindungen ent-
standen Wasserstoffstrahlen von großer Reichweite.
Die Szintillationen des Leuchtschirms durch die
Wasserstoffstrahlen aus Bornitrid und Paracyan
waren zahlreicher als theoretisch zu erwarten war;
dies rührt wahrscheinlich von verunreinigendem
Wasserstoff her, der anscheinend trotz aller Vor-
sicht nicht zu beseitigen war. Kontrollversuche
mit reinem Graphit und mit Kieselsäure waren
sehr befriedigend, weil sie zeigten, daß Wasser-
stoffatome in einem Material, das keinen Stickstoff
enthielt nicht vorhanden waren. Nebenbei zeigten
sie, daß H-Atome aus Kohlenstoff, Silicium oder
Sauerstoff nicht in merklicher Anzahl entstehen.
Das Atom X3.
„Außer den H-Atomen mit großer Reichweite,
die aus Sauerstoff befreit werden, gibt der Durch-
gang von a-Teilchen durch Sauerstoff ebensogut
wie durch Stickstoff Anlaß zu viel zahlreicheren
raschen Atomen, die in Luft eine Reichweite von
ungefähr 9 cm haben, entsprechend einer Reich-
weite von 7,0 cm der stoßenden «-Teilchen".")
Zunächst nahm Rutherford an, daß die in
Stickstoff und Sauerstoff entstehenden neuen
Strahlen von 9 cm Reichweite Atome von Stick-
stoff und Sauerstoff seien, die eine einzelne Ladung
führen und durch einen innigen Zusammenstoß
mit a-Teilchen in rasche Bewegung gesetzt sind.
Aber die weitere Untersuchung und besonders
das Verhalten der neuen Strahlen im Magnetfeld
zeigte, daß sie wahrscheinlich rasch bewegte
Atome von der Masse 3 mit einer doppelten
positiven Elementarladung sind ; Rutherford
nennt das neue Atom X3. Die Energie eines
Xg-Strahles ist um S^/o größer wie die Gesamt-
energie des auffallenden a-Teilchens und stammt
aus dem Energievorrat des zertrümmerten O- und
N- Atoms. „Man kann sich dem Schlüsse nicht
entziehen, daß diese Atome der Masse 3 als Er-
gebnis eines heftigen Zusammenstoßes mit einem
«-Partikel aus den Atomen von Sauerstoff oder
Stickstoff in Freiheit gesetzt werden. Daher ist
es vernünftig, anzunehmen, daß Atome von der
Masse 3 sowohl am Bau des Atomkerns von
Sauerstoff als auch von Stickstoff beteiligt sind.
Wir haben früher in der Arbeit gezeigt, daß
Wasserstoff auch einer der Bausteine des Stick-
stoffkerns ist. So ist es klar, daß der Stickstoff-
kern auf zwei Weisen zertrümmert werden kann :
einmal durch die Ausstoßung eines H-Atoms, das
andere Mal durch die Ausstoßung des Atoms von
der Masse 3, das zwei Ladungen führt. Da nun
diese Atome von der Masse 3 fünf- bis zehnmal
so zahlreich sind wie die H-Atome, scheint es,
daß diese 2 Formen von Zertrümmerung unab-
hängig und nicht gleichzeitig sind. Wegen der
Seltenheit der Zusammenstöße ist es sehr un-
wahrscheinlich, daß ein einzelnes Atom beide
Arten von Zertrümmerung erleidet." 'j
Das durch «-Strahlen sowohl aus N wie aus
O befreite Element vom Atomgewicht 3 ist der
Chemie bisher unbekannt. Das neue Element
muß dem Helium vom Atomgewicht 4 chemisch
und physikalisch weitgehend gleichen. „Wir
können voraussehen, daß das Spektrum des
Heliums und dieses Isotops nahe gleich sein dürfte,
aber mit Rücksicht auf die merkliche Verschieden-
heit der relativen Massen der Kerne dürfte die
Verschiebung der Spektrallinien viel größer sein
als im Falle der Isotopen der schweren Elemente
wie Blei." *) S m e k a 1 -) hat auf Grund des B o h r-
schen Atommodells die Spektrallinien des neuen
Elements berechnet und gibt folgende Wellen-
längentabelle in lO""^ cm:
X3
He
6560,4
6560,1
541 1.9
5411,6
4859.5
4859.3
4561,8
4561,6
4338,9
4338.7
4200,1
4199.9
4100,2
4100,0
Spektrographisch kann man noch den 10. Teil
der Wellenlängendifferenzen zwischen den X3-
und Heliumlinien mit Sicherheit messen.
Wenn die ganze «Strahlung von i g Radium
in Sauerstoffgas absorbiert würde, so hätte das
Volumen aller herausgeschossenen Xg -Atome erst
in 2,5-10* Jahren 1 cmm erreicht. Man kann
also auf diesem Wege X3 nicht in spektrographisch
nachweisbarer Menge darstellen. Rutherford
vermutet, daß das in dem nicht radioaktiven
Mineral Beryll vorkommende „Helium" vielleicht
das Isotope X3 ist; dessen genaue spektrogra-
phische Untersuchung oder Atomgewichtsbestim-
mung wäre also von hohem Interesse.
Wie im Aufbau des N und O könnten die
Xj-Teilchen auch in den Atomkernen der schweren,
insbesondere der radioaktiven Elemente vorkom-
men. Nach St. Meyer und S m e k a L') ist es
möglich, daß die «Strahlen von Uran II und
Radioactinium nicht nur aus He+I - sondern auch
aus Xg^+Kernen bestehen. Radioaktinium z. B.
sendet gleichzeitig «Strahlen von 4,2 und 4,61 cm
Reichweite aus; letztere könnten X3 Strahlen sein.
Genaue Messungen über die Ablenkung der a-
Strahlen von Uran II und Radioaktinium im elek-
trischen und magnetischen Feld werden den
Nachweis von X,{ ermöglichen. Aus den Spek-
trallinien der Nebelflecken haben Bourget,
Fabry und Buisson*) auf ein Element („Ne-
bulium") von der Atommasse 2,7 — 3 geschlossen.
Es ist aber kaum einzusehen, wie die Nebulium-
linien von einem Bohrschen Atommodell der
Masse 3 emittiert werden können.
') Baker- Vorlesung.
*) Nw. 9, 96, 1921.
') Nw. 9, 36, 1921.
*) Naturw. Wochensclir. 1917, 'S. 383.
730
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
Von J. J.Thomson, Ramsay und anderen
liegen bereits seit längerer Zeit Beobachtungen
über das Auftreten von Helium und den übrigen
Edelgasen in Vakuumröhren nach der Kathoden-
bestrahlung von Elementen vor. Aber es ist bis-
her unentschieden gewesen, ob die geringen
spektralanalytisch nachgewiesenen Spuren der neu
auftretenden Edelgase nicht bloß Verunreinigungen
aus der Glaswand oder aus den Elektroden sind.
Nun ist aber in den letzten Jahren durch die
praktische Verwendung der Glühkathodenröhren
in der drahtlosen Telegraphie die Hochvakuum-
technik sehr weit ausgebildet worden und es. ist
jetzt möglich durch starkes Erhitzen die Glas-
wände der Vakuumröhren und durch andauerndes
Glühen die Elektroden völlig zu entgasen. Es
wird sich also jetzt mit Sicherheit entscheiden
lassen, ob eine Neubildung von He oder Xg aus
Elementen durch Kathodenbestrahlung stattfindet.
Versuche hierüber sind von Rutherford und
I s h i d a ^) im Gange.
Zerlegung von weiteren Elementen.
Neuerdings berichten Rutherford und
Chadwick^) über weitere erfolgreiche Versuche
zur Zertrümmerung von Elementen durch die a-
Strahlen von Radium C. Die Stoffe wurden in
Gasform und als dünne Schichten der Elemente
oder Oxyde mit a-Teilchen durchstrahlt. Dem
Leuchtschirm war noch eine Glimmerplatte vor-
geschaltet, welche in ihrem Bremsvermögen einer
32 cm dicken Luftschicht gleichwertig war. So
waren von vornherein alle Wasserstoffstrahlen
von Verunreinigungen des Materials ausgeschlossen,
da diese nur eine 29 cm dicke Luftschicht zu
durchdringen vermögen. Es ergab sich nun, daß
beim Durchgang von «Strahlen durch Bor, Fluor,
Natrium, Aluminium und Phosphor Teilchen mit
einer Reichweite von 40 cm und darüber erzeugt
werden. Eine überraschend große Reichweite
haben die in Aluminium ausgelösten Strahlen,
nämlich 80 cm in Luft von Atmosphärendruck.
Wenn es sich hier um Wasserstoffteilchen handelt,
so ist ihre Energie um 25 % größer wie die der
einfallenden a Strahlen. Mit Sicherheit konnten
bei Li, Be, C, O, Mg, Si, S, Cl, K, Ca, Ti, Mn,
Fe, Cu, Zn und Au keine Strahlen von großer
Reichweite festgestellt werden. Die Grenze der
Zerlegbarkeit liegt anscheinend beim Atomge-
wicht 31. „Wenn sich dies allgemein zutreffend
erweist (auch für a-Teilchen von größerer Ge-
schwindigkeit wie die des Radiums C), so kann
das ein Anzeichen sein, daß die Struktur der
Atomkerne an diesem Punkt einer bemerkens-
werten Änderung unterliegt. So könnten in den
leichteren Atomen die Wasserstoffkerne Satelliten
um die Hauptmasse des Kerns darstellen, während
sie vielleicht bei den schwereren Elementen einen
Teil der inneren Struktur bilden." Interessant
ist, daß bei Elementen, deren Atomgewicht ein
Vielfaches von 4 ist, keine Strahlen großer Reich-
weite auftreten. Dies deutet darauf hin, daß
deren Atom nur aus Heliumkernen von der Masse 4
aufgebaut ist.
Die Natur der Atomreste.
Bei den jetzt gelungenen Zerlegungen der Ele-
mente erhebt sich die Frage nach der Natur des
Atomrestes, wenn von einem Element ein H+-
oder X8++.Kern abgespalten ist. Mit Hilfe der
radiochemischen Verschiebungssätze von Fajans
und Soddy läßt sich voraussehen, daß beim
Stickstoff nach Ausstoßung eines H+-Kerns ein
Atomrest von der Masse 13 zurückbleibt, der
chemisch mit Kohlenstoff übereinstimmen muß.
Wenn mit dem H+ gleichzeitig ein negatives
Elektron ausgestoßen wird, so ist der Atomrest
ein Isotop vom Stickstoff.
Die Ausstoßung einer zweifach geladenen
Masse Xg"'"*' aus Stickstoff ergibt einen mit Bor
isotopen Atomrest von der Masse 11. Wenn
überdies ein Elektron entweicht, so bleibt ein
Isotop vom Kohlenstoff zurück. Aus Sauerstoff
entsteht durch Abspaltung von X3++ ein Kohlen-
stoffisotop vom Atomgewicht 13; geht noch ein
Elektron verloren, so bleibt ein Isotop vom Stick-
stoff mit der Masse 13 übrig.
Gegenwärtig kann zwischen diesen verschie-
denen Möglichkeiten nicht entschieden werden.
Es dürfte aber möglich sein, weitere Aufschlüsse
durch das Studium der a ■ Strahlenbahnen in
Sauerstoff oder Stickstoff nach der Expansions-
methode von C. T. R. W i 1 s o n zu erhalten. Hier-
bei werden die ionisierten Wege der H-, Xg- usw.
Teilchen durch die Kondensation von Wasser-
tröpfchen als feine Nebelfäden sichtbar gemacht.
Rutherford und Shimizu*) haben im Caven-
dish-Laboratorium den Wilson sehen Expansions-
apparat stark verbessert und wir können hoffen
„wertvollen Aufschluß über die Bedingungen zu
erhalten, welche die Zertrümmerung des Atoms
bestimmen und über die bezügliche Energie, die
den drei betrachteten Systemen zukommt, näm-
lich den a-Teilchen, dem herausspringenden Atom
und dem Kernrest."
Strukturbilder von Atomen.
Wenn wir die experimentell gefundenen Kerne
der 3 leichtesten Atome H+, X++ und He-H- als
wahrscheinlichste Bausteine der Elemente be-
trachten, so lassen sich von den Kernen der Ele-
mente mit niedrigem Atomgewicht bereits Struktur-
bilder aufstellen. Nach Rutherford*) kann
unter allem Vorbehalt der Kern des Lithium-
atoms in folgender dreifacher Weise konstruiert
sein:
') Baker-Vorlesung.
") Nature 1. c.
1) Baker-Vorlesung und Nature S. 694—698, Vol. 107,
Nr. 2700 (28. VII. 1921).
N. F. XX Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
731
fe*
+ +
Q Kohlenstoff
-
- Masse 12
p.
(3) Ladung 6
+ +
+ +
.©
Stickstoff
-0-
-0-
Masse 14
©
,.®,
Ladung 7
"v? — ^^^
© + + © Sauerstoff
-(*)- Masse 16
0 0 Ladung 8
© =
© =
Ht
O
H
Elektron
Tatsächlich hat jüngst F. W. Aston') in
Lithiumkanalstrahlen das Vorkommen von Atomen
mit der Masse 6 und 7 beobachtet, so daß also
wohl Rutherfords I. und 2. Atombild zu
Recht besteht. Von Kohlenstoff, Stickstoff und
Sauerstoff entwirft Rutherford folgende Kern-
bilder :
+
+
©-
■©
Masse 6
+
+
+
+
©-
.0
Masse 7
+
+
Bei allen Atomen sind die äußeren Elektronen,
welche die meisten chemischen und physikalischen
Eigenschaften der Elemente bedingen, wegge-
lassen.
Da nach den Untersuchungen von W. L e n z ^)
und anderen auch He und X3 aus Wasserstoff-
kernen aufgebaut sind, so haben wir in diesen
und in den Elektronen die beiden Bausteine
unserer sämtlichen Elemente zu erblicken. Ruther-
ford schlägt für den Wasserstoff kern H+, dem
wiederentdeckten Urstoff, den Namen Proton vor,
S o d d y und Patterson gebrauchen für H+ den
Namen Hydron. Aus diesen erfolgreichen Unter-
suchungen ist ersichtlich, daß heute die Physik
den Atombau der Elemente mit gleichem Erfolg
untersucht, wie die Chemie seit den Zeiten La-
voisiers den Molekülbau der Verbindungen.
K. Kuhn.
Wahrscheinlichkeitstheoretische Betrach-
tnngeu zur Endlichlieit der Welt.
Die Lehren der allgemeinen Relativitätstheorie
führen zu der Annahme, daß der dreidimensionale
Raum, in dem wir leben unbegrenzt, aber end-
lich ist. Man kann sich dies veranschaulichen, in-
dem man die Welt betrachtet, wie sie zwei-
dimensionalen, also unendlich flachen Wesen,
sagen wir „Wanzen", erscheinen muß, die auf
einer dreidimensionalen Kugel leben. Ihre Welt
ist unbegrenzt, denn sie ist nirgends „mit Brettern
vernagelt". Und sie ist endlich, denn nach ge-
nügend langer Zeit gelangt die Wanze, wenn sie
stets vorwärts wandert, wieder zu ihrem Aus-
gangspunkt zurück. Ebenso leben wir wahr-
scheinlich auf der dreidimensionalen Oberfläche
einer vierdimensionalen Kugel, oder eines vier-
dimensionalen EUipsoids. Die Geraden in unserem
Raum, also z. B. der Weg des Lichtes sind tat-
sächlich geschlossene Linien, nämlich sog. größte
Kreise der vierdimensionalen Kugel. Das ist nicht
weiter paradox. Denn die uns praktisch be-
+
-t-
®-
-®
Masse 8
+
+
Nature S. 72, Vol. 107, Nr. a68l (1921).
Naturw. Wocbenschr. 1930, S. 707.
kannten „Geraden" z. B. eine Bahn um die Erd-
oberfläche herum sind ja auch z. T. geschlossen.
In der Zeitschrift für Physik (Bd. 5, Heft 4,
1921) untersucht nun Gumbel, wie groß die
Wahrscheinlichkeit ist, daß ein von einem Stern
ausgehender Lichtstrahl in einer sphärischen Welt
auf keinen anderen Stern trifft, sondern nach Um-
= He
_ = Elektron
lauf um die ganze Welt wieder zum Ausgangs-
stern zurückkehrt. Dem liegt natürlich die An-
nahme zugrunde, daß eine Extinktion des Lichtes
im leeren Raum nicht stattfindet. Betrachtet man
zunächst nur zwei Sterne, so ist die Wahrschein-
lichkeit, daß ein von dem einen ausgehender
Lichtstrahl den anderen nicht trifft, gegeben durch
die Oberfläche der ganzen Kugel, abgesehen von
einer kleinen Kugelkalotte, um den ersten Stern
minus einem Streifen von der Breite eines Stern-
durchmessers dividiert durch die ganze Ober-
fläche. Denn ungünstig im Sinne der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung ist es, wenn der Lichtstrahl
in dem Streifen, günstig, wenn er irgendwo anders
verläuft. Betrachtet man jetzt n + i Sterne, so
kann man die Wahrscheinlichkeiten, daß jeder
einzelne Stern von dem Lichtstrahl des oben be-
trachteten Sterns nicht getroffen wird, als von-
einander unabhängig betrachten. Dies beruht auf
einer einfachen Vernachlässigung, die wegen der,
verglichen mit dem Gesamtraum, geringen Anzahl
der Sterne erlaubt ist. Da die Wahrscheinlichkeit
des Zusammentreffens mehrerer unabhängiger Er-
eignisse gleich dem Produkt der Wahrscheinlich-
keiten der einzelnen ist, bekommt man für die
gesuchte Wahrscheinlichkeit bei n -}- i Sternen die
n t e Potenz der Wahrscheinlichkeit für den obigen
Spezialfall. Betrachtet man endlich einen sehr
großen Raum und eine sehr große Anzahl von
Sternen, so wird die gesuchte Wahrscheinlichkeit
W = e— Sp^kRn, wobei R den Radius der Welt,
Q den mittleren Radius eines Sternes, e die Basis
der natürlichen Logarithmen, k die mittlere Dichte
der Sterne im Raum bedeutet. Diese Daten sind
natürlich numerisch nicht genau bestimmt. Wohl
aber hat man gewisse Anhaltspunkte für ihre
Größenordnung, wenigstens nach Zehnerpotenzen.
Setzt man diese ein, so bekommt man für die
Wahrscheinlichkeit, daß ein von einem Stern aus-
gehender Lichtstrahl von keinem anderen Stern
verschluckt wird, sondern nach einem Umlauf um
die ganze Welt zum Ausgangsstern zurückkehrt,
einen Bruch der sich erst in der zehnten Dezimal-
stelle von der Einheit unterscheidet, also prak-
tisch die Gewißheit.
732
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
Dies läßt sich dahin interpretieren, daß es
plausibel erscheint, anzunehmen, daß es neben
den wirklichen Sternen noch Bildsterne gibt, die
tatsächlich nur Bilder von außerordentlich weit
entfernten wirklichen Sternen sind.
E. I. Gumbel (Berlin).
Maniuiiitvorkommeu im Jakutskgebiet.
Im Naturwissenschaftlichen Verein in Hamburg
berichtete Hofrat E. W. Pfizenmayer vom
Kaukasischen Museum in Tiflis über die Resultate
der von der Akademie der Wissenschaften in
St. Petersburg zur Ausgrabung von Mammut-
kadavern 1901 und 1908 in das Jakutskgebiet ent-
sandten Expeditionen. Lebhaftes Interesse für
das Vorkommen des Mammuts bzw. dessen Über-
reste hatte bei der eingesessenen Bevölkerung
Ostsibiriens die Ausschreibung von Preisen seitens
der Akademie der Wissenschaften in St. Peters-
burg geweckt. Auf Meldungen waren in den
Jahren 1901 und 1908 Expeditionen ausgesandt
worden zur Bergung im Jakutskgebiet aufgefundener
Mammutkadaver. — Den ersten Kadaver hatten
im Jahre 1900 Tungusen am Ufer der Beresowka,
einem rechten Neben flusse der ins Eismeer münden-
den Kolyma entdeckt, nachdem er durch einen
Ufersturz teilweise sichtbar geworden war. Die
Expedition gelangte unter Führung des Vor-
tragenden nach anstrengender, monatelanger Reise
durch die nordischen Urwälder und Tundren an
den Fundort und es gelang, den fast vollständig
erhaltenen Kadaver in fast 2 Monate dauernder
Arbeit zu bergen und Skelett, Haut und Weich-
teile, letztere im gefrorenem Zustande auf dem
Schlittenweg nach dem vom Fundort nahezu
6000 km entfernten Irkutsk und von dort mit
der Bahn nach Petersburg zu schaffen. — Sieben
Jahre später entsandte die Akademie den Vor-
tragenden zum zweiten Male nach Sibirien zur
Untersuchung und Bergung eines neuen Mammut-
kadavers, der in der Omulachtundra, im Eismeer-
küstengebiet zwischen Jana und Indigirka, am
Ufer des Küstenflüßchens Sangajurach entdeckt
worden war. Dieser zweite Fund war nicht so
gut erhalten wie der von der Beresowka, doch
vervollständigten einzelne seiner noch erhaltenen
Weichteile, vor allem der fast ganz intakte Rüssel,
unsere Kenntnis vom Mammut. Durch die beiden
neuen Funde ist unser Wissen über den fossilen
Elefanten, wie Vortragender darlegte, in vieler
Hinsicht sowohl was Skelett, wie Biegung und
Richtung der Stoßzähne, als auch was die Weich-
teile und Behaarung anbelangt, in wertvollster
Weise vervollständigt bzw. korrigiert worden. —
Besonders lehrreich ist der Vergleich des Beresowka-
mammuts mit den neuen Skeletten von Elephas
primigenius, die in den letzten 10 Jahren in
Deutschland entdeckt und in Leipzig, Stuttgart
und Münster i. W. aufgestellt worden sind. Auch
einzelne dort noch jetzt lebende seltene Säuge-
tiere, die in keiner europäischen Museumssamm-
lung bisher vertreten sind, eine nordische Berg-
schaf- und Murmeltierspezies und eine neue Elch-
art Nüidostsibiriens, welch letztere dem Vor-
tragenden zu Ehren jetzt den Namen Alces
Pfizenmayeri Zukow trägt, wurden im Bilde
gezeigt. Petersen.
f
Bücherbesprechungen.
Die Tagebücher von Dr. Emin Pascha. Heraus-
gegeben mit Unterstützung des Hamburgischen
Staates und der Hamburgischen Wissenschaft-
lichen Stiftung von Dr. Franz Stuhlmann.
Band 6: Zoologische Aufzeichnungen Emins
und seine Briefe an Dr. G. Hartlaub bearbeitet
von Prof. Dr. H. Schubotz. VIII u. 301 S.,
I Karte. Hamburg und Braunschweig 1921,
Georg Westermann. Brosch. 100 M.
In Emin Paschas Nachlaß fanden sich drei
Tagebücher rein zoologischen Inhalts aus den
Jahren 1876—1888. Zwei weitere Hefte mit
zoologischen Aufzeichnungen scheinen verloren
gegangen zu sein. Mit vollem Recht weist der
Herausgeber der Tagebücher, Prof. Schubotz,
darauf hin, daß „Emins Beobachtungen auch heute
noch nicht etwa nur historisches Interesse bean-
spruchen können, sondern unumgänglich sind für
jeden Bearbeiter einer Fauna der oberen Nilländer.
Sie stellen einen sehr erheblichen Teil des wenigen
dar, was wir über die Ökologie afrikanischer Vögel
und Säuger wissen, und werden immer ein wert-
volles Quellenwerk in Fragen der Verfärbung, des
Nestbaues, der Wanderung und Nahrung afrika-
nicher Vögel bleiben." Das erste Kapitel (S. i — 40)
behandelt die von Emin Pascha erwähnten
Säugetiere. Obwohl Schubotz durch eigene
Forschungsreisen sich eine gründliche Kenntnis
der Fauna der Äquatorialprovinz erworben hat,
ist in diesem Kapitel in bezug auf einzelne Art-
angaben eine gewisse Unsicherheit bestehen ge-
blieben. Sie war nicht zu beseitigen, weil unsere
Kenntnis der afrikanischen Säuger noch zu lücken-
haft ist und das von Emin Pascha gesammelte
Material leider nicht in vollem Umfange zur Be-
arbeitung gelangte. Wie Schubotz nachweist,
gehen die ersten Nachrichten über das Okapi
nicht, wie man bisher annahm, auf Stanley,
sondern auf Emin Pascha zurück. Auf viel
sichererer Grundlage ruht das zweite Kapitel (S. 41
bis 210), das sich mit der Vogelwelt beschäftigt.
Hier tritt uns Emin Pascha als ausgezeichneter
Systematiker entgegen, dessen Verdienste um die
Ornithologie Afrikas schon Hartlaub und Scha-
low anerkannt haben. Insgesamt wurden 165
Arten behandelt, etwa Vs der in der Äquatorial-
N. F. XX. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
733
provinz heimischen Spezies. Der dritte Teil
(S. 211 — 295) des Werkes enthält bisher noch
unveröffentlichte Briefe Emin Paschas an den
Bremer Ornithologen G. Hartlaub aus den
Jahren 1881 — 1891. Sie sind nicht nur für die
Beurteilung Emin Paschas als Mensch wert-
voll, sondern vermitteln uns auch ein anschau-
liches Bild von seinem inneren Verhältnis zur
Zoologie. Den Schluß des Werkes bildet ein
Verzeichnis derjenigen zoologischen Arbeiten, die
ganz oder teilweise auf Emin Paschas Samm-
lungen und Beobachtungen beruhen (S. 297 — 298),
sowie ein alphabetisches Verzeichnis der be-
handelten Arten (S. 299—301), Eine Karte der
Äquatorialprovinz im Maßstabe 1:5000000 soll
die Auffindung der Fundorte erleichtern.
F. Pax (Breslau).
Gerlach, W., Die experimentellen Grund-
lagen der Quantentheorie. Heft 58 der
„Sammlung Vieweg". 143 S. mit 43 Abb. im
Text. Braunschweig 192 1, F. Vieweg u. Sohn.
— Preis brosch. 12 M. und Teuerungszuschlag.
Die von uns mehrfach (z. B. Bd. XIV, S. 431,
1915 und Bd.XX, S. 432, 1921) erwähnte Valen-
tin ersehe Darstellung der theoretischen Grund-
lagen und der klassischen Anwendungen der
Quantentheorie in den Heften 15 und 16 der
„Sammlung Vieweg" erfährt durch die vorliegende
Veröffentlichung Gerlachs eine wertvolle Ver-
vollständigung. Sie beschäftigt sich mit den
neuesten Anwendungen der quantentheoretischen
Vorstellungen auf die experimentelle Erforschung
derjenigen Ercheinungen, deren Kenntnis für un-
seren Einblick in die Konstitution der Materie
und die vornehmlich im Prozeß der Lichtemission
sich abspielenden elektromagnetischen Vorgänge
des Atominneren von grundlegender Bedeutung
geworden sind. Es handelt sich hier insbesondere
um die Erscheinungen des Energieaustausches
zwischen Korpuskular- und Wellenstrahlung, wie
sie bei der Erregung von Licht- und Hochfrequenz-
strahlen durch Kathoden- und Kanalstrahlen und
durch Wellenstrahlung selbst, andererseits bei
der Auslösung von Kathodenstrahlen durch Kor-
puskular- und Wellenstrahlen im Falle der Sekun-
därstrahlung und der lichtelektrischen Wirkung
vorliegen, und schließlich um die Quantenvorgänge
in der Photochemie.
Verf. legt seinen Betrachtungen das wichtigste
Ergebnis der quantentheoretischen Forschung,
das Bohr sehe Atommodell zugrunde und sucht
mit seiner Hilfe die gesamten in Betracht kom-
menden, bis jetzt untersuchten Erscheinungen in
einem einheitlichen Bilde zusammenzufassen. Bei
der Neuheit des Gegenstandes und der Möglich-
keit einer späteren Modifikation mancher theore-
tischen Auffassung ist es besonders wichtig, daß
Verf. bestrebt war, experimentell festgelegte Tat-
sachen und theoretische Schlüsse soweit ausein-
anderzuhalten, als es dem Leser für die Beurtei-
lung der Sicherheit der Einzelangaben wünschens-
wert erscheinen muß. Die Quantentheorie der
Spektralserien wird nicht behandelt, da dieses
Gebiet in Sommerfelds bekanntem Werk eine
erschöpfende Bearbeitung gefunden hat. Unbe-
rücksichtigt sind leider auch wichtige Unter-
suchungen über Kathodenstrahl- und Lichterregung
durch positive Korpuskeln geblieben.
Die sorgfältige und bis auf einige Kleinigkeiten
einwandfreie Darstellung ist durchweg klar und
gemeinverständlich, wenn sie sich auch vielfach
zwecks Raumersparnis kurzer, gedrängter Sätze
bedient und daher an die Mitarbeit des Lesers
gewisse Anforderungen stellt. Zu begrüßen ist
die möglichst auf Vollständigkeit ausgehende Zu-
sammenfassung der neuesten Originalliteratur, die
Verf. am Schluß jedes Kapitels nach Autoren
geordnet angefügt hat. Wir wünschen der an-
regenden Monographie weiteste Verbreitung.
A. Becker.
Rohr, M. V., Die Brille als optisches In-
strument. 3. Aufl. XIV u. 254 S., 112 Bilder
im Text. Berlin 192 1, J. Springer. — Preis
66 M., ganz leinen 78 M.
Wie der jüngere Napoleon als Beherrscher
Frankreichs sich zwar als den dritten seines Na-
mens bezeichnete, aber der zweite war, so ist
auch die neue Auflage des mir zur Besprechung
vorliegenden Buches nicht die dritte, obwohl der
Verleger aus buchhändlerischen Gründen sie so
benennt, sondern die zweite. Während aber jener
Kaiser nur die stark verwässerte Ausgabe seines
Vorfahren darstellt, ist die neue Auflage des
Buches über die Brille an Umfang — damals 172,
jetzt 254 Seiten — sowohl als auch an Inhalt
viel reicher geworden. In der ersten Auflage
(erschienen 191 1) handelte es sich um die Errich-
tung eines ganz neuen Gebäudes, bei der jetzigen
um dessen Wohnlichmachung. Das tritt an allen
Stellen des Buches hervor. Die Anordnung des
Stoffes ist unverändert geblieben, jedoch werden
so oft wie nötig und möglich in eigenen Para-
graphen „Geschichtliche Bemerkungen" angehängt,
mitunter sehr ausführliche, denen sich allerlei
Hübsches entnehmen läßt. Besonders dem langen
§ 66, der von den Brillenformen handelt, ebenso
dem § 68 von den Fernrohr- und dem § 79 von
den Vorhängebrillen, dem § 74 von dem Augen-
drehpunkte, dem § 103 von den asphärisch-sphä-
rischen Brillen und zu guter Letzt den §§ 178 —
184, wo die „Entwicklung der Lehre von der
Brille" geschildert wird. Auf Einzelheiten, nament-
lich mathematische, gehe ich absichtlich nicht ein,
weil dann kein Ende abzusehen wäre. Nur auf
den Abschnitt über die „Brille als Sehhilfe für
beide Augen" (S. 204 — 218) möchte ich hinweisen
und besonders auf § 166 (das beidäugige Sehet*
durch die Fernbrille), weil darin gezeigt wird, daß
hierbei jedem Auge ein eigener Bildpunkt (mit
verschiedenem Hub- und Senkwinkel) zukommt,
deren Vereinigung zu einer einheitlichen Raum-
empfindung vom Physiologen oder Psychologen
734
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
genauer untersucht werden müßte. Im übrigen
hebe ich gern und nach Gebühr hervor, daß der
Verf. jetzt noch mehr als früher es versucht hat,
an die Stelle der vielen, z. T. unschwer vermeid-
baren Fremdwörter deutsche treten zu lassen,
allermeist mit Glück. Er hätte hier und da in
dieser Richtung sogar noch weiter gehen können,
z. B. gleich im Titel wäre Instrument durch
Werkzeug oder Gerät ersetzbar gewesen, indessen
man muß ihm auch so schon dankbar sein.
Mächtig gewachsen ist das „Quellen- und Namen-
verzeichnis": über 26 Seiten, während das „Lite-
raturverzeichnis" am Schlüsse der ersten Auflage
nur 10 Seiten umfaßte. Es ist womöglich noch
sorgsamer gearbeitet als das frühere.
P. Mayer (Jena).
Alverdes, Friedrich, Rassen- und Artbil-
dung. Heft 9 der Abhandlungen zur theoreti-
schen Biologie, herausgegeben von J. S c h a x e 1.
Berlin 1921, Gebr. Bornträger. 32 M.
Seit der Entstehung der experimentellen Erb-
lichkeitsforschung sind Fragen, die nach L a m a r c k
und Darwin als mehr oder weniger gelöst be-
trachtet worden waren, neu aufgeworfen worden,
und Erkenntnisse, die als gesichertes Gut ge-
golten hatten, von Neuem ins Wanken geraten.
Sie können zusammengefaßt werden als Probleme
der Rassen- und Artbildung; ihre Lösung ist
letzten Endes das Ziel aller Untersuchungen auf
den Gebieten der Abstammungs- und Vererbungs-
lehre, sowie der Entwicklungsmechanik der ver-
gangenen zwanzig Jahre.
Der ^ Verf. stellt sich die Aufgabe, die An-
sichten der verschiedenen Forscher über diese
Fragen kritisch zu untersuchen, und unterscheidet
dabei scharf einerseits zwischen Theorien, die
durch Experimente mehr oder weniger Bestätigung
fanden, und andererseits mit Sicherheit erkannten
Tatsachen.
So werden die Grundlagen der ganzen Ver-
erbungslehre eingehend erörtert, wobei der Hin-
weis darauf, daß die symbolische Darstellung einer
genotypischen Konstitution unbedingt zu trennen
ist von der tatsächlichen Zusammensetzung der
Erbsubstanzen, insofern besonders berechtigt er-
scheint, als durch manche neuere Vererbungs-
arbeiten mit stark mechanisierenden Tendenzen
dieser Gegensatz verwischt zu werden droht. Wir
sind heute noch weit davon entfernt, die kompli-
zierten physiologisch-chemischen Vorgänge im
Lebenslauf einer Zelle in Formeln ausdrücken zu
können. In diesem Zusammenhang ergibt sich
ganz von selbst eine Besprechung der von ver-
schiedenen Autoren eingeführten Fachausdrücke
und ihrer Definitionen. Im Kapitel der Phäno-
variationen wird naturgemäß das Problem der „Ver-
erbung erworbener Eigenschaften" angeschnitten.
Bereits in einer früheren Arbeit (Zum Begriff der
Scheinvererbung, Zeitschr. f. ind. Abst. Bd. 25, 1921)
hat der Verf. die falsche Fragestellung gekennzeichnet
und dargelegt, daß die Frage zu lauten hat : Durch
welche äußeren Faktoren kann die Reaktionsnorm
einer Art verändert werden ? Wie Nachwirkungen
bei Versuchen in dieser Richtung unter Berück-
sichtigung einer nur ungenügenden Generationen-
zahl zu Täuschungen Anlaß geben können, zeigen
u. a. die Kammererschen Arbeiten. Besondere
Kapitel sind auch den Mutationen und den Geno-
variationen durch Faktorenkombination gewidmet.
Schemata veranschaulichen die verschiedenen
Möglichkeiten des Zustandekommens von Ab-
änderungen.
Das Endergebnis der angestellten Betrachtungen
ist kurz folgendes: Nur wenig ist bis jetzt sicher-
gestellt, alles ist z. Z. derartig im Fluß, daß jede
neue Untersuchung die ganze Fragestellung ver-
schieben und viele der bisherigen Annahmen um-
werfen kann. Nur das Experiment kann uns
weiterbringen. Jedoch mit einiger Sicherheit läßt
sich schon heute sagen: ein einheitliches Prinzip
der Artentstehung wird sich nicht finden lassen,
sondern die Neubildung einer Art geschieht in
jedem Fall auf eine besondere Weise. Dabei
werden Mutationen und Bastardierungen die erste
Rolle spielen, ebenso wie in manchen Fällen noch
Selektion und andere Erscheinungen sekundär
dazukommen mögen.
Als zeitgemäße Behandlung dieser Fragen im
Zusammenhang, die bis jetzt fehlte, ist das Buch
außerordentlich wertvoll. Besonders hinzuweisen
ist auf die Berücksichtigung der sonst nicht zu-
gänglichen ausländischen Arbeiten wie z. B. die
neuesten Untersuchungen von Tower an Leplt-
notarsa. Otto Kuhn.
Valentiner, S., AnwendungenderQuanten-
hypothese in der kinetischen Theorie
der festenKörper und der Gase. Heft 16
der „Sammlung Vieweg". Zweite, erweiterte
Auflage. 90 S. mit 5 Abb. im Text. Braun-
schweig 192 1, F. Vieweg u. Sohn.
Die von uns bereits früher (diese Zeitschrift
N. F. Bd. XIV, S. 431, 191 5) gewürdigte treffliche
Darstellung der Quantentheorie der spezifischen
Wärmen erfährt durch die vorliegende Neuauflage
eine die seitherigen Fortschritte der Forschung
berücksichtigende wertvolle Erweiterung. Die
Zahl der Seiten ist von 72 auf 90 angewachsen,
die Zahl der Kapitel, teils lediglich infolge ver-
änderter Anordnung des Stoffes, von 4 auf 6.
Wesentliche Verfeinerungen des Inhalts beziehen
sich auf die Rotationsenergie der Gase; leider ist
hier die Krügersche Theorie der Kreiselmole-
küle unerwähnt geblieben. Etwas ausführlichere
Besprechung gegen früher hat ihrer Bedeutung
entsprechend die Debyesche Theorie erfahren.
Das Bändchen ist allen an dem Gegenstand inter-
essierten Kreisen wärmstens zu empfehlen.
A. Becker.
N. F. XX. Nr. 51
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
;3S
Anregungen und Antworten.
Zur Kritik der Glazialkosmogonie. Daß Herr F a u t h
versuchen würde, die in meioem Aufsatze über den Kreis-
laufprozeß des Wassers (Naturw. Wochenschr. 1921, H. 21)
gegen die Glazialkosmogonie erhobenen Einwände zu entkräften,
war vorauszusehen. Es ist eine häu6ge Erfahrungstatsache,
daß der Urheber einer Hypothese hartnäckig an ihr festhält,
wenn ihm auch die klarsten Gründe entgegengehalten werden.
Bei der Verteidigung ist es ein beliebter Kunstgriff, seinem
Kritiker Mißverständnis Torzuwerfen, während das Mißver-
ständnis in Wirklichkeit auf der Seite dessen liegt, der sich
mißverstanden glaubt. Eigentlich genügt es, meine Dar-
legungen in dem früheren Aufsatze dem Fauth sehen Recht-
fertigungsversuche gegenüber zu stellen, um die Haltlosigkeit
desselben zu erkennen. Trotzdem möchte ich einige Worte
zur Klarstellung sagen.
1. Daß ein Eiskörper von 100 m Durchmesser in lauter
Hagelkörner von Nußgröße zersplittern müsse, ist nur nach
der Glazialkosmogonie „naturgemäß". Ein nicht im glazial-
kosmogonischen Gedankengange Befangener wird es naturge-
mäß finden, daß ein großer Eiskörper, wie die meisten be-
obachteten Meteore, in Stücke von sehr verschiedener Größe
und Gestalt zerfällt.
2. Der zweite auf die Fortschreitungsgeschwindigkeit der
Hagelwetter sich beziehende Einwand ist völlig mißverstanden
worden. Die große Erstreckung mancher Hagelwettel- (z. B.
vom Schwarzen Meere bis zur Ostsee) zwingen den Glazial-
kosmogonen zu der Annahme, daß das Eismeteor mit seiner
kosmischen Geschwindigkeit in der Erdatmosphäre fortschreite.
Der nur mit geringer Geschwindigkeit fortschreitende Hagel-
wolkensturm würde schon nach kurzer Zeit, nach Zurück-
legung eines Weges von wenigen hundert Metern, infolge des
Widerstandes der zu verdrängenden Luft, stecken bleiben. Es
dürfte also nur zu örtlich eng begrenzten Hagelwettern kommen.
3. Wenn außer Hagelkörnern von Nußgröße gelegentlich
{übrigens im Widerspruche zu l) auch massive Brocken fallen,
von denen aber der meteorologischen Wissenschaft nichts be-
kannt ist und die Hör biger auf guten Glauben annimmt,
auf Berichte aus Indien sich stützend, wo Brocken von Ele-
fantengröße niedergestürzt sein sollen, so würde bei ihrem
Falle der einen Meteorfall stets begleitende ohrenbetäubende
Lärm zu erwarten sein. Hierüber wird jedoch auch aus dem
Märchenlande Indien nichts berichtet.
4. Wenn nur die Hagelwetter, bei denen die Hagelkörner
aus ungeschichtetem Eis bestehen, kosmischen Ursprungs sind,
so dürfte es schwer sein, ein einziges derselben nachzuweisen.
5. Daß es nicht gestattet sein soll, kosmische Eiskörper
mit Meteoren in Zusammenhang zu bringen, dürfte nicht nur
mein kritisches Verständnis übersteigen.
6. Auf diesen Punkt mache ich den teilnehmenden Leser
besonders aufmerksam. Durch eine einfache Rechnung, deren
theoretische Grundlage ganz unanfechtbar ist, habe ich ge-
zeigt, daß wenn die durch kosmische Eiszufuhr entstehende
Vermehrung der jährlichen Niederschlagsmenge der Erde auch
nur 13 cm (also weniger als Hör biger annimmt) betrüge,')
der dadurch entstehende Massenzuwachs den Erdmond zu
einer beschleunigten Bewegung zwingen würde, die 330 mal
so groß als die wirklich beobachtete wäre. Herr Fauth
glaubt diesen Einwand durch die Annahme entkräften zu
können, daß der Massengewinn durch einen bei vulkanischen
Ausbrüchen entstehenden Massenverlust (Aushauchung von
WasserstoiT) kompensiert werde. Eine solche Argumentation
•) Wenn es noch beträchtlich weniger wäre, was nach
Fauth möglicherweise zutrifft (z.B. so wenig, daß sich keine
Widersprüche mehr mit den astronomischen Forschungsergeb-
nissen zeigten), so würde die ganze Glazialmeteorologie, d. i.
der Kern der Glazialkosmogonie, an den sich alle anderen
Ausführungen nur anlehnen, gegenstandslos werden, da sie
auf der Annahme, daß ein nicht unbedeutender Teil der jähr-
lichen Niederschlagsmenge kosmischen Ursprungs sei, als
ihrem Fundamente ruht. Daß man bei der Entscheidung
einer sehr wichtigen wissenschaftlichen Frage ein Kopfrechen-
beispiel wählt und dadurch zugleich die mögliche Fehler-
haftigkeit seiner Annahmen zu entschuldigen sucht, ist übrigens
ein in die Wissenschaft ganz neu eingeführtes Verfahren.
macht es schwer, bei der Polemik den wissenschaftlichen Ernst
zu wahren. Der ausgehauchte Wasserstoff, dessen geringe
Menge übrigens mit der angenommenen Menge des kos-
mischen Wasserzuflusses gar nicht verglichen werden kann,
bleibt doch in der Erdatmosphäre (der an der Atmosphären-
grenze gemäß den Annahmen der kinetischen Gastheorie ent-
stehende Verlust an Wasserstoff ist verschwindend klein), geht
also der Erdmasse nicht verloren. — Der der Sonne nach
den Annahmen der Glazialkosmogonie zufließende Massenge-
winn bewirkt nach unserer Rechnung eine Verkürzung des
Erdenjahres um a Stunden. Wenn Herr Fauth auch diese
Rechnung glaubt als nicht beweiskräftig bezeichnen zu dürfen,
so ist zu erwidern, daß der von ihm angeführte Massenver-
lust der Sonne (durch Ausstoßung von Feineis) noch nicht
um den tausendsten Teil hinter dem Massengewinn an Roheis
zurückbleiben dürfte, wenn die Glazialkosmogonie nicht mit
feststehenden astronomischen Beobachtungstatsachen in Wider-
spruch geraten will. Wie eine solche Annahme wissenschaft-
lich zu bewerten ist, muß dem Urteil des Lesers überlassen
bleiben.
Wir haben uns bei der Kritik der Glazialkosmogonie
auf einige naheliegende Punkte beschränkt, zu denen uns der
Aufsatz von Herin Prof. Halb faß führte. Das Werk selbst
bietet deren eine Legion. Die Haupteinwände sind jedoch
rein analytisch theoretischer Art und können an dieser Stelle
nicht erörtert werden. Eine neue kleine kritische Arbeit des
Verf. über die Glazialkosmogonie wird demnächst in der
Naturwissenschaftlichen Rundschau der Chemiker - Zeitung
(Oktober-Nummer), eine weitere im Geographischen Anzeiger
erscheinen. Die Freude über das der Glazialkosmogonie
gespendete Lob gönnen wir Herrn Fauth gern; doch ver-
dient sie es leider nicht in anderem Sinne als ein Ruman
von Jules Verne.
Bremen, den 25. August 1921. Fr. Nölke.
Sind die Riesensterne Gaskugeln oder nicht? In Nr. 44
der Naturw. Wochenschr. berichtet, Herr Prof. Riem über
eine Arbeit des amerikanischen Astronomen Pickering, in
welcher dieser gewisse Vermutungen über die physische Kon-
stitution der Riesensterne äußert, zu denen z. B. der hellste
Stern im Urion, Beteigeuze, gehört, dessen Durchmesser unge-
fähr dem Durchmesser der Marsbahn gleichkommt. Picke-
ring vergleicht die Anziehung, die Beteigeuze und der Erd-
mond auf einen Punkt ihrer Oberfläche ausüben, und findet,
daß die Anziehung von Beteigeuze, wenn dieser Stern auch
die loofache Masse unserer Sonne hätte, doch nur den 4. Teil
der Anziehung des Mondes betragen würde. Weil nun schon
der kalte Mond kein Gas als Atmosphäre festhalten könne,
so sei Beteigeuze, meint Pickering, wegen der hohen
Temperatur noch viel weniger dazu imstande. Wenn die
Materie des Stern-es sich nicht im Welträume verflüchtigen
solle, so müsse daher angenommen werden, daß sie nicht
gasförmig sei, sondern vielleicht aus zwei sich durchdringenden
Schwärmen meteorartiger Körper bestehe, die gelegentlich
Zusammenstöße erleiden und dadurch ins Leuchten geraten.
Da der spektroskopische Charakter der Riesensteme
darauf schließen läßt, daß ihre Materie doch gasförmig ist, so
dürfen wir vermuten, daß Pick erings Schlüsse einen Fehler
enthalten. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Die Ge-
schwindigkeit, welche von der Oberfläche eines Sternes in
den Weltraum entweichende Gasmoleküle haben müssen, hängt
nämlich nicht, wie Pickering annimmt, nur von der Größe
der an der Oberfläche wirkenden Anziehungskraft, sondern
außerdem noch von seiner räumlichen Erstreckung ab. Dies
mathematisch zu begründen, würde hier zu weit führen.') Es
genügt, auf einige bekannte Dinge hinzuweisen. Der Planet
') Die analytische Mechanik liefert für die Endgeschwindig-
keit c eines aus großer Entfernung auf einen Stern stürzenden
Körpers, falls m die Masse des Sternes, r seinen Radius und
k die Gravitationskonstante bedeutet, die Formel c::=l'2km :r.
Dies ist umgekehrt auch die Geschwindigkeit, die ein Gas-
teilchen haben muß, wenn es sich von der Oberfläche des
Sternes beliebig weit entfernen soll.
73Ö
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 51
Mars bewegt sich mit einer sekundlichen Geschwindigkeit von
24 km in seiner Bahn. Soll ein Körper in der Entfernung
des Mars der Sonne entfliehen, so muß seine Geschwindigkeit
die parabolische sein. Diese beträgt das ['anfache der Ge-
schwindigkeit in der Kreisbahn, also rund 34 km/sec. Die
mittlere molekulare Geschwindigkeit des Wasserstoffs bei 0° C
oder 273" abs. ist 1,843 km/sec; die Temperatur, bei der sie
gleich der angegebenen parabolischen Geschwindigkeit würde,
beträgt dann, da die Temperatur dem Quadrate der mittleren
Molekulargeschwindigkeit proportional ist, ungefähr 100 000".
Wenn unsere Sonne sich als Gaskugel bis zur Marsbahn er-
streckte, so würde sie demnach eine Wasserstoffatmosphäre erst
dann am Fortfliegen nicht mehr hindern können, wenn ihre
Oberflächentemperatur höher wäre als 100000°. Da die
effektive Temperatur der Riesensterne nur einige tausend Grade
beträgt und wahrscheinlieh ihre Masse durchschnittlich etwas
gröfler als die Sonnenmasse ist, so folgt also, daß Picke-
rings Bedenken grundlos sind und der Annahme, die Sterne
seien Gaskugeln, nichts im Wege steht. Fr. Nölke.
Waldschutz durch Vogelschutz. Der RaupenfraS im
nördlich von Eisenach gelegenen Hainichwalde ist auch in
diesem Jahre sehr stark. Die Buchen werden von Hundert-
tausenden von Raupen des Bürstenspinners {Dasyckira pudi-
butidd) auf vielen und großen Flächen völlig kahl gefressen.
Im vorigen Jahre endete die Plage , süd- und ostwärts vor-
rückend, an den Grenzen des Seebacher Waldes, dem Ver-
suchsfelde der staatlich anerkannten Vogelschutzstation des
Freiherrn v. Berlepsch. Nur einige Randbäume dieses mit
einem langjährigen, erfolgreichen Vogelschutze versorgten Ge-
bietes zeigten erkennbare Spuren davon. Wiewohl nun glei-
ches schon wiederholt festzustellen war, und im heurigen Vor-
sommer überdies beobachtet wurde, daß die Meisen ihre Brut
vornehmlich mit den Faltern des Schädlings atzten, blieb doch
im vorliegenden Falle die Frage offen , ob nicht der Unter-
brechung des Buchenwaldes durch die große Oppershäuser
Blöße und die ihr angrenzenden Nadelholzbestände der aus-
schlaggebende Einfluß zuzusprechen sei. Der Befall ist nun
süd- und ostwärts durch den Seebacher Wald und weit über
ihn hinaus vorgedrungen, hat sich aber erst jenseits desselben
im Kammerforster Reviere zu vielen umfangreichen Kahlfraß-
stellen verdichtet. Der Seebacher Wald ist also ebenso wie
die angrenzenden Forsten von den Faltern beflogen worden.
Hier konnte aber nur ein geringer Teil von ihnen zur Ei-
ablage gelangen, weil sie — wie schon oben erwähnt — von
den zahlreichen Vögeln abgefangen und verzehrt wurden. Im
Seebacher Walde sind infolgedessen nur an vereinzelten Wip-
feln Fraßspuren zu erkennen , und die gesamte Vogelschutz-
fläche tritt wie schon in den Jahren 1905 und 1914 wiederum
als grüne Insel aus den entblätterten Nachbargebieten hervor.
Stellenweise nähern sich die beiden Gegensätze einander bis
auf etwa 100 m Entfernung. Interessenten mögen nicht ver-
säumen, sich durch eigene Betrachtung vom Sachverhalte zu
überzeugen !
Zum Artikel: Die biologischen Vorgänge im Boden, von
Dr. H. Wießmann, Berlin, in Nr. 34 vom 21. Aug. 1921
erlaube ich mir zu Ws. Bemerkung, daß man schon früher,
z. B. in Holland, „dem Instinkt und der Erfahrung und nicht
einer begründeten Auslegung folgend" Bodenimpfungen aus-
führte, folgenden weiteren Beleg anzuführen. In der ,,Ono-
matologia curiosa artificiosa et magica oder ganz
natürliches Zauberlexicon, welches das nötigste natürlichste
und angenehmste in allen realen Wissenschaften ... be-
schreibet zum Nutzen und Vergnügen der Gelehrten . . . und
des Landroanns . . ., Ulm, Frankfurt und Leipzig . . . 1759"
findet sich S. 13: „Aker, ungedüngten, fruchtbar
zu machen. Dieses geschieht durch Zubereitung des Samens,
indem man den Samen von Waizen und Korn in einer Mist-
pfütze, in welche zuvor etwa 2 Pfund Salpeter geworfen
worden, einweicht. Nach 6 Stuiiden aber wird er wieder
herausgenommen und getrocknet. Den andern oder dritten
Tag läßt man ihn wieder, aber nur 3 Stunden darin erweichen.
Ehe man diesen Samen aussäet, muß man ihn mit ein wenig
ThauWasser besprengen, damit er nicht klumpigt auf einander
fällt. Der Hafer und Gerste sollen nur halb so lange, als
oben gesagt worden, eingeweicht werden. Die Probe damit
auf Aeckern von verschiedener Art soll gut geraten seyn."
M. E. liegt hier nur im geringen Maße ,, künstliche"
Düngung vor, sondern vor allem Bodenimpfung durch die
Jauche, als Bakterienträger und „-fänger".
Dr. Dannmeyer.
Woher stammt der Name „Keppernikel" (Meum atha-
manticum)? Zu Naturw. Wochenschr. N. F. 20 (192 1), I9lf.,
424, 560. Der Name Keppernikel, den Meum athamanticum
im östlichen Erzgebirge führt, hat weder mit „Kupfernickel"
noch mit „Gebär würz" etwas zu tun. Der Name ist über-
haupt kein deutscher, sondern slavischen Ursprungs.
Die Pflanze heißt nämlich tschechisch (und serbisch) koprnik
(Annenkow 1878, 217), kroatisch koprc (Sulek 1879, 158).
Andere Umbelliferen führen im Slavischen ähnliche Namen,
so heißt im Kroatischen Scandix pecten Veneris koprenica,
Anethum graveolens kopar, kopric. Der verwandte Ma-
daun (Meum Mutellina) hieß nach Rauschenfels (1801)
im Pustertale Copriz, in Kärnten nach Zwanziger (1888)
Copritz. Oborny gibt den Namen K ö p e r n i k für Meum
Mutellina im Gesenke an. Alle diese Namen finden sich in
Gebieten mit früherer slavischer Bevölkerung bzw. in Gegen-
den, die an slavisches Sprachgebiet grenzen. Daß der Pflan-
zenname Kopritz slavischen Ursprungs ist, hat übrigens be-
reits H. Graßmann (Deutsche Pflanzennamen 1870, 106)
behauptet. Vielleicht ist auch Köpken (salat) wie der
Doldenblütler Chaerophyllum bulbosum nach Nemnich (Poly-
glottenlexikon 1793 ff.) in der Mark Brandenburg genannt
wird, hierher zu stellen. Ob der Ortsname Köppernig (Reg.-
Bez. Oppeln) und der Familienname Koppernigk (so hieß der
aus Krakau stammende Vater des berühmten Kopemikus I)
zu dem Pflanzennamen Keppernikel in irgendeiner Beziehung
stehen, vermag ich nicht zu entscheiden.
Dr. Marzell, Gunzenhausen.
Der auf S. 512 dieses Jahrgangs der Naturw. Wochen-
schrift als sprachlich unglücklich gerügte Fachausdruck „In-
kohlung" rührt von G um bei her, nicht von Potonie, der
nur den fast vergessenen Ausdruck wieder einführte.
Literatur.
Küster, Prof. Dr. E., Botanische Betrachtungen über
Alter und Tod. Berlin '21, Gebr. Bornträger. 12 M.
Morgan, Th. H., Die stofflichen Grundlagen der Ver-
erbung. Mit 118 Abbildungen. Vom Verfasser autorksierte
deutsche Ausgabe von Dr. Hans Nachtsheim. Berlin '21,
Gebr. Bornträger. 69 M.
Inhalt: Rob. Mertens, Über die Funktion des Schwanzes der Wirbeltiere. S. 721. E. Lenk, Vom Leben zum Tode
S. 726. — Einzelbeiichte: Rutherford, Die Zerlegung von Elementen durch «-Strahlen. S. 728. Gumbel,
j. Wahrscheinlichkeitstheoretische Betrachtungen zur Endlichkeit der Welt. S. 731. E. W. Pfizenmayer, Mammut
vorkommen im Jakutsgebiet. S. 732. — Bücberbesprechungen : Die Tagebücher von Dr. Emin Pascha. S. 732. W,
Gerlach, Die experimentellen Grundlagen der Quantentheorie. S. 733. M. v. Rohr, Die Brille als optisches Intru
ment. S. 733. Fr. Alverdes, Rassen- und Artbildung. S. 734. S. Valentiner, Anwendungen der Quantenhypo
these in der kinetischen Theorie der festen Körper und der Gase. S. 734. — Anregungen und Antworten : Zu
Kritik der Glazialkosmogonie. S. 735. Sind die Riesensterne Gaskugeln oder nicht? S. 735. Waldschutz durch Vogel
schütz. S. 736. Die biologischen Vorgänge im Boden. S. 736. Woher stammt der Name „Keppernikel" (Meum atha
manticum)f S. 736. Der Ausdruck „Inkohlung". S. 736. — Literatur: Liste. S. 736.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 20. Band;
der gaiueo Reibe 36. Band,
Sonntag, den 25. Dezember 1921.
Nummer 53«
Die Folgerungen der allgemeinen Relativitätstheorie
und die Newtonsche Physik.
[Nachdruck verboten.] Von Stjepan
Die allgemeine Relativitätstheorie hebt beson-
ders vier ihrer Folgerungen hervor „zu denen die
frühere Physik nicht führt" ; *) diese sind : Die
Perihelbewegung des Merkur, die Lichtablenkung
durch das Gravitationsfeld, die Rotverschiebung
der Spektrallinien und die Tatsache, daß alle
Körper in dem Gravitationsfelde dieselbe Be-
schleunigung erfahren. Wir werden hier be-
trachten, ob die frühere Physik imstande ist, zu
denselben Folgerungen zu gelangen.
1. Die Perihelbewegung des Merkur hat
bekanntlich P. Gerber (1902) theoretisch abge-
leitet durch die Annahme, daß die Gravitation
mit Lichtgeschwindigkeit sich ausbreitet. ^) Es
gibt außerdem noch andere Erklärungsmöglich-
keiten, wie z. B. die Hypothese von A. Hall
und die bekannte Theorie von H. Seeliger,
welche nicht nur die Perihelbewegung, sondern
auch die Knotenbewegung und die Änderung der
Bahnneigung der vier inneren Planeten erklärt.
2. Die Lichtablenkung durch das Gravi-
tationsfeld hat neuerdings E. Lihotzky -^j in der
Newtonschen Physik gezeigt, indem er das
Licht als einen Massenpunkt behandelt hat. Der
ganze Efifekt beträgt nach A. Kopff'') nur eine
Hälfte des Betrages der Einst einschen Theorie.
Zu ähnlichem Resultate sind auch Eddington
und E. Reichenbächer,^) sowie schon im
Jahre 1804 J. Söldner") gekommen. In neuester
Zeit hat T. Banachiewicz") auf die jährliche
Refraktion von Courvoisier aufmerksam ge-
macht, welche nach seiner Rechnung 0,5" in der
Nähe der Sonne betragen dürfte. Wenn man die
beiden Beträge addiert, so bekommt man den
Wert, welcher sich wenig von dem E inst ein -
Mohoroviüiü.
sehen unterscheidet, was gegen seine Theorie
sprechen würde. Dazu wird noch meistens ver-
schwiegen, daß die bei der Sonnenfinsternis am
29. Mai 19 19 nachgewiesenen Lichtablenkungen
nicht vollkommen radial sind.*)
3. Anders steht es aber mit den zwei letzt-
genannten Folgerungen. Es ist nämlich bis jetzt
nicht gelungen, sie aus der Newton sehen Physik
abzuleiten.-) Unlängst ist es mir ■') jedoch gelungen,
die Rotverschiebung der Spektrallinien vom
Standpunkt der Newtonschen Physik abzuleiten.
Da ich in dieser zitierten Arbeit eine besondere
Annahme über die Lichtstruktur gemacht habe,
so werde ich hier versuchen, dies in aller Küize
und ganz elementar zu zeigen, da ich in einer
größeren Abhandlung die Grundlagen, auf denen
die allgemeine Relativitätstheorie gebaut ist, näher
betrachten werde. Dabei werden wir keine neue
Hypothese über die Natur des Lichtes aufstellen
und die neue Theorie des Aufbaues der Materie
wird hier eine neue Stütze finden.
4. Wenn c die Lichtgeschwindigkeit im ide-
alen Vakuum (unendlicher Entfernung) ist, dann
wird sie in der Entfernung r von dem Sonnen-
mittelpunkte *)
') A. Einstein, Über die spez. u. d. al!g. Relativitäts-
theorie. 10. Aufl. S. 85. Braunschweig 1920.
'^) Die Gerb ersehe Theorie wurde heftig angegriffen
durch H. Seeliger (Ann. d. Physik Bd. 53, S. 31— 32, 1917)
und M. V. Laue (Ann. d. Physik Bd. 53, S. 214—216, 1917).
Der letztgenannte behauptet, daß die Gerb ersehe Theorie
die Perihelbewegung des Planeten gar nicht liefert, und das-
selbe wollte H. Anderson (Phil. Mag. 40, 1920) fUr die
Relativitätstheorie zeigen. Eine schöne Kritik der Gerb er-
sehen Theorie hat S. Oppenheim (Ann. d. Physik Bd. 53,
1917) gegeben.
3) E. Lihotzky, Physik. ZS. 1921, S. 69—71.
*) A. Kopff, Physik. ZS. 1921, S. 495—496.
'') E. Reichenbächer, Ann. d. Physik Bd. 61, S. 21
bis 24, 1920.
*J T. Banachiewicz, ,,Einsteiniana", ,,Antecedente"
de Einstein. Circulaire de l'Observaloire de Cracovie. Nr. 10,
1921 (geschrieben in künstlicher Sprache ,,1atino sine flexione").
') T. Banachiewicz, ,,Einsteiniana". Deflexione de
radios de luce per Sole. Ebenda S. 7.
f.
/ I kMi
0)
wo k die Newton sehe Gravitationskonstante und
M die Sonnenrnasse bedeutet. Die Gleichung (i)
können wir auch in der Form schreiben
f=c + ^c, (2)
und wenn T die Schwingungsdauer des Lichtes
in unendlicher Entfernung bedeutet, so hat man
aus (2) sofort
T.Jc = f-T — c-T (3)
oder
Al = {-T—/.. (4)
Dividieren wir die beiden Seiten von (4) mit
A = c • T, so bekommt man
(5)
z//_ f _
oder, mit Rücksicht auf (i), sofort die Rotver
Schiebung
') L. A. Bauer, Phys. Rev. 15, S. 333—335. 1920.
'') Für die Roiverschiebung hat dies A. II. Bucherer
(Physik. ZS. 1920, S. 451 — 452) versucht; er hat aber seine
Ableitung selbst später (Ebenda, S. 518) als nicht hallbar
anerkannt.
') S. Moho ro vi 1 16, Die Rotverschiebung der Spek-
Irallinicn vom Standpunkt der Newtonschen Physik (Ann. d.
Physik, im Druck).
') E. Lihotzky, 1. c.
738
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
(5)'
^._kM
und dies stimmt mit dem Einst ei nschen Wert
genau überein , ') worauf wir noch später zurück-
kommen werden. ')
5. Herr A. Einstein nimmt als besondere
Bestätigung seiner Theorie die Tatsache, daß
allen Körpern im Gravitationsfelde dieselbe Be-
schleunigung erteilt wird. Das kann man aber
ohne allgemeine Relativitätstheorie folgender-
maßen erklären : Wenn sich ein Teilchen (Atom ?)
im Gravitationsfelde befindet, so wird ihm eine
Beschleunigung erteilt. Dieselbe Beschleunigung
wird ein zweites gleiches Teilchen (Atom^ in
diesem Gravitationsfelde erfahren. Wenn sich
diese zwei Teilchen jetzt in sehr großer Nähe
befinden, ist wieder kein Grund dafür, daß sich
ihre Beschleunigung ändern möchte; usw. für den
Fall einer großen Menge solcher gleicher Teilchen.
Wir können sagen: Die Tatsache, daß alle
Körper in dem Gravitationsfelde die-
selbe Beschleunigung erfahren, ist ein
Beweis dafür, daß alleKörper ausglei-
chen Uratomen gebaut sind. Heute wird
z. B. von verschiedener Seite als solcher das H-
Atom angenommen.
6. Jetzt möchte ich nur noch ein paar Worte
über die Rotverschiebung sagen. Herr A. Ein-
stein bekennt selbst: „Wenn die Rotverschiebung
der Spektrallinien durch das Gravitationspotential
nicht existierte, wäre die allgemeine Relativitäts-
theorie unhaltbar." ^) Bis jetzt wurde die Rot-
verschiebung nur in Bonn konstatiert,^) alle
anderen Beobachtungen haben zu einem negativen
Resultate geführt. Die Theorie der Rotverschie-
bung hat eingehend Guillau me"') kritisiert;
ihm ist Einsteins Gedankengang unbegreiflich.
Da heutzutage ein großer Streit zwischen An-
hängern und Gegnern der Relativitätstheorie
herrscht, ") so sind über diesen Haupteffekt noch
weitere Beobachtungen abzuwarten. Ist die Rot-
verschiebung wirklich nicht vorhanden, dann hat
die Gravitation keinen Einfluß auf die Ausbreitung
des Lichtes. In diesem Falle wäre auch die
Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld unmög-
lich und wir dürften in der Newtonschen Physik
') A. Einstein, 1. c. S. 90; siehe auch A. H. Euche-
rer, 1. c.
") Wegen einigen Bemerkungen verweise ich auf meine
früher zitierte Arbeit, wo ich gezeigt habe, daß man auch zu
noch einigen wichtigsten Folgerungen der Relativitätstheorie
gelangen üann.
ä) 1. c. S. 91.
") L. Grebe, Physik. ZS. 1920, S. 662—666.
''} Ed. Guillaume u. Ch. VVilligens, Physik. ZS.
1921, S. leg — 114; dann Ed. Gui 1 lau me, Physik. ZS. 1921,
S. 3S6— 38S.
") Vgl. z. B. P. Lenard, Über Relativitätsprinzip, Äther
und Gravitation. 3. Aufl. Leipzig 1921 und Über Atlier und
Uräther, Leipzig 1921. Dann E. Gehrcke, Die Relativitäts-
theorie eine wissenschaftliche Massensuggestion. Berlin 1920.
Verlag K. F. Köhler-Leipzig und E. Wiechert, Der .\lher
im Weltbild der Physik usw. Gott. Nachr. 1021, S. 29 — 70,
auch Berlin 1921.
das Licht nicht als einen Massenpunkt (Licht-
quantum r) behandeln. Dies scheint mir nicht an-
nehmbar, da das Licht auch Energie besitzt und
deshalb müssen wir ihm notwendig eine Masse
zuschreiben. Wenn aber die genannten Effekte
wirklich vorhanden sind, ist noch immer kein
Grund dafür, daß wir den Boden der Newton-
schen Physik verlassen und die Relativitätstheorie
als eine neue Weltanschauung akzeptieren ') und
zwar aus Gründen, welche wir jetzt näher be-
trachten werden.
7. Die Grundlagen, auf denen die Relativitäts-
theorie gebaut ist, sind noch nicht ganz geklärt
und gefestigt — wie dies unlängst sehr schön
H. Dingler"^) gezeigt hat. Die Theorie führt
auch zu Folgerungen, welche ein Naturforscher
nicht ohne ernstliche Bedenken und Zweifel ak-
zeptieren kann. ■') Dazu kommt auch die Tat-
sache, daß auch zwischen Relativitätstheoretikern
verschiedene Ansichten herrschen.'')
Auch meiner Meinung nach ist die Gravitation
eine der Materie innewohnende Kraft, ^) ihre
Wirkung äußert sich in der Erteilung der Be-
schleunigung. Herr Einstein hat den umge-
kehrten Weg eingeschlagen : mittels der Beschleu-
nigung wollte er die Gravitation erklären. Die
Ursache und die Folgerung (Wirkung) haben ihre
Rollen gewechselt. Mir scheint es, daß Herrn
Einstein nur gelungen sei, von mathematischer
Seite die Gleichwertigkeit der Beschleunigung und
') Es ist schon lange Zeit meine Ansicht, daß die Rela-
tivitätstheorie sich zu keiner neuen Weltanschauung erheben
kann. In neuester Zeit hat dies — in einer kinetischen
Theorie des Äthers — sehr schön O. Wiener gezeigt (,,Das
Grundgesetz der Natur und die Erhaltung der absoluten Ge-
schwindigkeiten im .\ther". Abh. d. mat.-phys. Kl. d. sächs.
Akad. d. Wiss. Bd. XXXVIII, Nr. IV, Leipzig 192 1).
2) H. Dingler, Physik. ZS. 1920, S. 668^674; dann
,, Physik und Hypothese. Versuch einer induktiven Wissen-
schaftslehre nebst einer kritischen Analyse der Fundamente
der Relativitätstheorie". Berlin u. Leipzig 192 t.
") Vgl. z. B. : P. Lenard, 1. c. ; E. Gehrcke, 1. c,
H. Dingler, 1. c. und G. Mie, Die Einsteinsche Gravitations-
theorie. S. 62 u. ff. Leipzig 1921. — Bei dieser Gelegenheit bin
ich gezwungen noch ein Beispiel anzuführen: Wenn ich einen
kleinen Kreisel mit meinen Fingein in die Rotation einsetze,
dann sind von dem Standpunkte der allgemeinen Relativitäts-
theorie folgende zwei Annahmen vollkommen gleichbe-
rechtigt, und zwar I. der Kreisel rotiere in der „ruhenden"
Welt, und 2. die ganze Welt rotiere um den ,, ruhenden"
Kreisel. Wenn die zweite Annahme zulässig wäre, müßten
wir annehmen, daß ich mit meinen Fingern die ganze Welt
in die Bewegung um den „ruhenden" Kreisel gesetzt habe,
und dies ist doch unsinnig '. Die beiden Annahmen sind
nicht mal von rein mathematischem Standpunkte gleichbe-
rechtigt; von dem physikalischen Standpunkte also noch
weniger. Wir müssen froh sein, daß in der Zeit des Ptole-
mäus die moderne Vektor- und Tensoranalysis unbekannt
war, sonst hätte Kopernikus sicher nicht so viel Glück
gehabt.
*) Vgl. z. B. H. Weyl: Raum - Zeit - Materie. 3. Aufl.
Berlin 1920; dann „Elektrizität und Gravitation". Physik.
ZS. 1920, S. 649—651.
■') E. Reichenbächer, Inwiefern läßt sich die mo-
derne Gravitationstheorie ohne die Relativität begründen^ Die
Naturwiss. 1920, S. looS. — In der zitierten Arbeit hat dies
sehr elegant O. Wiener gezeigt; nach seiner groß ange-
legten .Ätherphysik sollte sich die Gravitation, welche eine
Nahwirkung ist, unendlich rasch ausbreiten.
I
N. F. XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
739
Gravitation zu zeigen.') Das allgemeine
Relativitätsprinzip hat vielleicht nur
einen heuristischen Wert. Hier nützt es
nichts, wenn Herr Einstein daraufhinweist,'-)
daß kein Gegensatz zwischen Theorie und Experi-
ment besteht (was noch sehr fraglich ist). Wenn
die Einst ein sehe Theorie konsequent wäre, so
müßte sie nicht nur die Gravitationskräfte, son-
dern auch die elektrischen Kräfte durch Bewegung
„erklären" und ableiten. Dies wird ihr nie ge-
lingen und zwar aus den Gründen, welche ich
an anderem Orte betrachten werde, wo ich auch
meine Stellung zur Relativitätstheorie näher aus-
führen werde.
8. Zum Schlüsse muß ich aufmerksam machen,
daß auch die s p e z i e 1 1 e Relativitätstheorie nicht
so geklärt und gefestigt ist, wie dies fast allge-
mein genommen wird. In einem Vortrage sagt
Herr H. Dingler:'') „Da jenes völlige Chaos
der Prinzipien besteht, so ist es kühnen, jugend-
lichen Stürmern unbenommen, noch ganz andere
Mechaniken und Physiken aufzustellen. Es ist da
gar keine Grenze . . ." Vor einigen Jahren habe
ich einen solchen Versuch gemacht*) und gezeigt,^)
daß allgemein unendlich viele spezielle Relativi-
tätstheorien möglich sind. In der Wirklichkeit
kann nur eine einzige Mechanik bestehen I Neuer-
dings hat Herr Fr. .Adler") einen ähnlichen
Weg eingeschlagen. Seine Ausführungen stimmen
in vielen Punkten mit meinen Untersuchungen
haargenau überein , obwohl ihm meine Unter-
suchung unbekannt war. Es ist aber ein großes
Verdienst, daß Herr Adler ganz exakt gezeigt
hat, daß es auch in der Einst einschen Theorie
ausgezeichnete Koordinatensysteme gibt, und daß
die spezielle Relativitätstheorie mit einer Annahme,
des Äthers verträglich ist. Hier muß ich noch
') Die bekannten Experimente von R. v. Eötvös
sprechen für die Einstein sehe Physik gerade so, wie für
die Newtonsche. — Anm. b. d. Korr.; Auf Grund dieser
Annahme ist es mir gelungen eine äußerst einfache und durch-
sichtige Theorie der Gravitation aufzustellen, ohne den Zeit-
begriff relativisieren zu brauchen.
■^) Physik. ZS. 1920, S. 667.
3) H. Dingler, Physik. ZS. 1920, S. 674
^j S. Mohorovitic, Über die räumliche und zeitliche
Translation. I — II. Bullet. H. 6/7 und H. 9/10 d südslaw.
Akad. d. Wiss. Zagreb 1916/17 und 1917/18.
^) II. Teil, S. 31—32.
*} Fr. Adler, Ortszeit-Systenzeit-Zonenzeit usw. Wien
1920. Siehe auch die Besprechung von M. Abraham in
Physik. ZS. 1921, S. 414 — 415.
auf die ausgezeichneten Untersuchungen von Ed.
Guillaume') aufmerksam machen, welcher ge-
zeigt hat, wie die Lo r e n t z sehen Transformationen
zu deuten sind, damit die Galil eischen Trans-
formationsgleichungen zulässig sind. Er setzt
voraus „die Zeit sei ein einfacher Begriff, daß
es aber unendlich viele Arten gibt, dieselbe aus-
zudrücken". Die Einst ein sehe Signalisierung
ist nur eine Interpretation der Lorentzschen
Transformationsgleichungen, worauf ich ") bereits
vor fünf Jahren aufmerksam gemacht habe.
9. Aus unseren Ausführungen folgt, daß noch
weitere theoretische und experimentelle Unter-
suchungen nötig sind ehe wir den Boden der alten
Physik verlassen. Zwischen der alten und der
neuen Physik ist beiläufig folgender Unterschied :
Newton hat ein großes und mächtiges Gebäude
aufgebaut, welches in seinem Inneren vollkommen
ausgebaut ist, nur die Fassade ist noch nicht in
vollkommenster Ordnung. Dagegen besteht das
Einsteinsche Gebäude nur aus vier Wänden
(welche auf schwachen Fundamenten ruhen) mit
einer wunderschönen Fassade (dazu haben die
hervorragendsten Mathematiker beigeholfen ^)), aber
drinnen ist das Gebäude noch ganz leer. Herr
Einstein und seine Gehilfen dürfen sich nicht
wundern, wenn wir uns nicht trauen, in dieses
Gebäude einzutreten aus Angst, daß diese vier
sehr hohen Wände uns bei der ersten größeren
Erschütterung begraben könnten.'') Lassen Sie
uns dieses Gebäude vorläufig nur von draußen
bewundern 1
10. Zusammenfassung. In dieser Mit-
teilung ^) wird gezeigt, daß man zu den meisten
Folgerungen der Relativitätstheorie auch auf Grund
der Newtonschen Auffassung gelangen kann.
Zum Schlüsse werden die Grundlagen, auf denen
die Relativitätstheorie aufgebaut ist, nur ganz kurz
gestreift.
') 1. c.
«) 1. c. I. Teil, S. 48.
^) R. Mewes hält es deshalb in mathematischer Hin-
sicht für „Bluff" (Gesammelte Arbeiten. I. Abt., Heft 4, I. T.
Berlin 1921.
■*) Der einzige Einwand, den uns die Relativitätstheoretiker
vorwerfen, ist, daß wir die Relativitätstheorie nicht verstehen.
Ich persönlich verstehe nur nicht, was an den Grundlagen der
Relativitätstheorie so schwer zu verstehen wäre ?
'') Diese Mitteilung lag schon in April d. J. druckfertig;
jetzt wurde sie etwas ergänzt. — Zagreb (Jugoslawien), April-
Oktober 1921.
Zur Metamorphose der Pflanzen.
[Nachdruck verboten.]
Aus Adolph Hansens nachgelassenen Schriften
ist in dieser Zeitschrift (1921, Nr. i) ein Aufsatz
„Zur Metamorphosenlehre" veröffentlicht worden,
in dem die Frage behandelt wird, ob eine reelle
Metamorphose des Blattes anzunehmen ist oder
ob unter Metamorphose nur die Verschieden-
Von M. Möbius.
artigkeit der Erscheinung des ideellen Blattes zu
verstehen ist. Hansen verteidigt den ersteren
Standpunkt, den er auch in seinem Buche von
1919 über Goethes Morphologie eingenommen
hatte, gegen einen ,, befreundeten ß'otaniker", der
ihm geschrieben hatte, er könne seine Ansicht
740
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
nicht teilen. Ich habe allen Grund, zu vermuten,
daß ein Brief von mir gemeint ist,, und glaube
deshalb, meine Ansicht auch an dieser Stelle be-
gründen zu müssen, obwohl unser Hansen leider
nicht mehr am Leben ist. Es scheint mir aber
eine Frage von allgemeinem Interesse zu sein, über
die man sich klar werden muß. Hansen sagt
ganz deutlich, daß ein Staubblatt eigentlich in der
Anlage ein Laubblatt sei und erst durch die
Metamorphose die Eigenschaften erhält, die es
zum Staubblatt machen, und beruft sich dabei auf
Goethe, Goebel und andere Botaniker, von
denen er besonders Fit ting (in Strasburgers
Lehrbuch, 13. Aufl. S. 169) nennt. Hier ist aber
zweimal von „umgewandelten" Blättern die Rede,
wobei die Gänsefüßchen nach meiner Auffassung
nur bedeuten können, daß es sich nicht um eine
wirkliche Umwandlung handelt. Fitting sagt
sogar selbst: „Alle diese Umwandlungen und
Weiterbildungen von Organen haben offenbar
während der phylogenetischen Entwicklung statt-
gefunden." Damit bin ich vollkommen einver-
standen, aber es handelt sich hier nicht um diese,
sondern um die ontogenetische. Wenn man mit
Hansen eine reale Metamorphose annimmt, so
ist die Anlage etwas anderes als das fertige Organ.
Goebel jedoch erklärt die reale Metamorphose
folgendermaßen: „Ein Laubblatt wird zum Laub-
blatt nicht erst im letzten Stadium seiner Ent-
wicklung, die Beschaffenheit der Anlagen — mögen
wir diese nun im Vorhandensein bestimmter Stoffe
oder einer bestimmten Struktur suchen — be-
dingt die Entwicklung." Was vom Laubblatt gilt,
muß aber auch von einem anderen Blatt gelten,
also auch vom Staubblatt. Meiner Ansicht nach
ist der Höcker von embryonalem Gewebe, aus
dem bei normaler Entwicklung ein Staubblatt ent-
steht, eine Staubblattanlage, was einerseits aus
ihrer Stellung, andererseits aus ihrer Form hervor-
geht. Anlagen, die bei der Blütenbildung inner-
halb der Kronblattanlagen auftreten, sind (bei
Gentiana z. B.) Staubblattanlagen, nicht Laubblatt-
anlagen, die zu Staubgefäßen metamorphosiert
werden. Was die Form betrifft, so pflegen gerade
die Staubgefäße schon in der ersten Anlage als
solche kenntlich zu sein, weil sie in viel mehr
abgerundeter Form als Kelch- und Kronblatt-
anlagen auftreten, als fast halbkugelige Höcker, die
dann etwa zapfenförmig emporwachsen und sehr
bald die Differenzierung in Staubfaden und
Anthere zeigen.
Gesetzt nun, es wäre die Anlage indifferent,
was Goebel als Differenzierungstheorie bezeichnet,
wann sollte dann bestimmt werden, was aus ihr
wird, und wer bestimmt es? Bestimmend ist in
erster Linie der Ort, wie wir eben gesehen haben,
der ist aber von Anfang an gegeben. Also nicht,
daß sich da, wo ein Staubblatt zu erwarten ist,
aus einer Anlage ein solches bildet, ist durch
Metamorphose zu erklären, sondern wenn sich
aus ihr etwas anderes entwickelt. Hansen hat
nämlich ganz recht, wenn er sagt, daß es nicht
eine von Anfang an unveränderliche Staubblatt-
anlage gibt, sondern das andere Entwicklungs-
möglichkeiten darin verborgen sind. Aber, füge
ich hinzu, wenn eine andere Entwicklung erfolgen
soll, dann muß ein besonderer Reiz hinzukommen,
den wir freilich nicht immer mit Sicherheit be-
zeichnen können, wie bei Füllung der Blumen und
anderen Abnormitäten. In anderen Fällen kennen
wir den Reiz und seine Wirkungsweise, wie bei
der Gallenbildung.
Wenn wir sagen, daß der Ort der Anlage den
Charakter derselben bestimme, so können wir
uns das vielleicht dadurch erklären, daß von den
früheren Anlagen ein Reiz etwa chemischer Natur
auf die über ihnen befindlichen Teile des meri-
stematischen Gewebes ausgeübt werde. Das käme
ungefähr auf dasselbe hinaus, was Goethe über
die Ursache der Metamorphose gesagt hat, das
nämlich die Veränderung der Säfte einmal zu einer
Ausdehnung und einmal zu einer Zusammen-
ziehung führe. Offenbar würde es sich aber auch
dabei nicht um eine wirkliche und nachträgliche
Metamorphose der Anlagen handeln, sondern man
müßte es sich so vorstellen, daß unter dem Ein-
fluß der Kelchblätter und der durch sie veränderten
Säfte gleich andere Anlagen, nämlich statt wieder
Kelch- nun Kronblattanlagen entstehen, und daß
weiter die Entwicklung der Kronblätter bewirke,
daß nach und über ihnen gleich Staubblatt-
anlagen gebildet werden. Es scheint mir demnach,
daß man auch durch die Goethesche Er-
klärung der Metamorphose nicht zu der Annahme
gezwungen ist, der Dichter habe an eine reale
Metamorphose gedacht. Außerdem ist der Ver-
such, die Sache physiologisch zu erklären, von
Goethe doch erst nachträglich gemacht worden,
nachdem er die Homologie der Blattorgane be-
reits erkannt hatte.
Hansen sagt nun, daß bei den Vegetations-
organen der Vorgang der Metamorphose wirklich
zu sehen sei, und führt als Beispiele an: Ranken,
Kartoffeln, Orchisknollen und Würzelknollen.
Damit scheint mir aber keineswegs bewiesen, das
nun etwa die Ranke in der Anlage noch keine
Ranke war, sondern man kann höchstens sagen,
daß die Anlage einer Ranke von der eines Blattes
in dem jüngsten Stadium nicht zu unterscheiden
ist. Denken wir etwa an Lathyrus aphaca, so
bezeichnen wir die Ranke nicht deswegen als
metamorphosiertes Blatt, weil ihre Anlage eine
Blattanlage war, sondern weil sie an der Stelle
entsteht, wo sich sonst ein Laubblatt findet: seit-
lich am Stengel zwischen zwei Nebenblättern.
Wir werden deshalb auch annehmen dürfen, daß
die Stammform von Lathyrus aphaca da, wo bei
dieser Art eine Ranke sitzt, ein richtiges grünes
Blatt gesessen hat. Wir können dies auch so
ausdrücken, daß wir sagen, die Ranke von Lythyrus
und das gewöhnliche Laubblatt sind homologe
Gebilde, obwohl sie verschiedene Funktionen über-
nommen haben, also nicht mehr analog sind. Im
Laufe der phylogenetischen Entwicklung haben
N. F. XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
741
eben homologe Organe vielfach ganz verschiedene
Funktionen übernommen und sind dadurch zu
ungleichen Organen und unähnlichen Gebilden ge-
worden.
Im Anfang bildete sich zuerst das Laubblatt
aus, bei Moosen oder schon bei einigen Algen
(Sargassum), und seine wesentliche Funktion war
die Assimilation (Photosynthese). Dann übernahm
es auch andere Funktionen, wurde zu Sporophyllen,
Schutz- und Schauapparaten der Blüte, zu Ranken,
Dornen u. dgl. Die Metamorphose ist eben
Funktionsänderung, die eine Änderung im äußeren
und inneren Bau hervorruft. Worauf diese be-
ruht, haben wir hier nicht zu untersuchen, sondern
nur zu konstatieren, daß Organe von verschiedener
Funktion und verschiedenem Aussehen doch mor-
phologisch gleichwertig sein können, weil sie an
entsprechenden Stellen und in ähnlicher Weise
angelegt werden und sich im Wachstum ähnlich
verhalten. Wir wählen dann als allgemeinen
Namen für die morphologisch gleichwertigen Organe
denjenigen, mitdemdieam häufigsten vorkommende
Form bezeichnet zu werden pflegt : Blatt, Stamm,
Wurzel.
Unter Blatt verstehen wir im gewöhnlichen
Leben das flache grüne Laubblatt, und wenn wir
in der botanischen Morphologie erfahren, daß auch
Kelch-, Krön- und Staubblätter, gewisse Früchte,
Ranken, Schläuche u. a. nichts anderes als „Blätter"
sind, so heißt das nicht, ein grünes Laubblatt hat
sich im Laufe seiner ontogenetischen Entwicklung
in eins der genannten Organe umgewandelt, sondern
wir erweitern den Begriff Blatt auf alle Organe,
die nach dem Ort, der Anlage und der Art des
Wachstums mit dem grünen Laubblatt überein-
stimmen, obwohl sie eine andere Funktion und
andere Gestalt besitzen. Wenn wir somit dazu
gelangen, an der Pflanze nur die oben genannten
Organe: Blatt, Stamm und Wurzel zu unterscheiden,
so ist das ein Erkenntnisgewinn, wie jede begriff-
liche Zusammenfassung, und zwar deswegen, weil
der Begriff einer Anschauung entspricht. Mit dem
Begriff Blatt verbinden wir eine gewisse An-
schauung, und deshalb erfahren wir etwas Neues,
wenn wir lernen, daß ein Staubblatt, eine Ranke,
eine Knospenschuppe nichts als ein Blatt ist.
Würden wir diese Dinge nur unter dem Begriff
Pflanzenteil oder gar Naturkörper zusammenfassen,
so wäre damit nichts gewonnen, weil wir das
von vornherein wissen und weil mit einem so
weiten Begriff keine Anschauung verbunden ist.
Das ist die Bedeutung der Morphologie, der Wissen-
schaft, die Goethe mit seiner Darstellung der
Pflanzenmetamorphose begründet hat. Das war
es ja gerade, worauf Goethe zielte, sein Be-
streben war, wie er selbst sagt, auf Vereinfachung
und Zusammenfassung gerichtet : „das, was L i n n e
in scharfer und geistreicher Weise auseinander zu
halten suchte, mußte nach dem innersten Bedürf-
nis seines Wesens zur Vereinigung anstreben".
Dabei war ihm aufgegangen, „daß in demjenigen
Organ, welches wir als Blatt gewöhnlich anzu-
sprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen
liege, der sich in allen Gestalten verstecken und
offenbaren könnte". Daß Goethe dieselbe Auf-
fassung von der Metamorphose hatte, wie sie oben
vorgetragen wurde, zeigt uns ferner ganz deutlich
der § 120 seines „Versuchs": „Es versteht sich hier
von selbst, daß wir ein allgemeines Wort haben
müssen, wodurch wir dieses in so verschiedenen
Gestalten metamorphosierte Organ bezeichnen und
alle Erscheinungen seiner Gestalt damit vergleichen
könnten, gegenwärtig müssen wir uns damit be-
gnügen, daß wir uns gewöhnen, die Erscheinungen
vor- und rückwärts gegeneinander zu halten. Denn
wir können ebensogut sagen, ein Staubwerkzeug
sei ein zusammengezogenes Blumenblatt, als wir
von dem Blumenblatt sagen können, es sei ein
Staubgefäß im Zustande der Ausdehnung, ein Kelch-
blatt sei ein zusaminengezogenes, einem gewissen
Grad der Verfeinerung sich näherndes Stengel-
blatt, als wir von einem Stengelblatt sagen können,
es sei ein durch Zudringen roher Säfte ausge-
dehntes Kelchblatt." Ebenso deutlich spricht
Goethe seine Auffassung aus in der 1817 ver-
öffentlichten Schrift über IBildung und Umbildung
organischer Naturen, worin es heißt: „Daß nun
das, was der Idee nach gleich ist, in der Er-
fahrung entweder als gleich oder als ähnlich, ja
sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen
kann, darin besteht eigentlich das bewegliche Leben
der Natur, das wir in diesen Blättern zu entwerfen
gedenken." Ferner: „Wollen wir also eine Morpho-
logie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt
sprechen, sondern, wenn wir das Wort brauchen,
uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder
ein in der Erfahrung nur für den Augenblick
Festgehaltenes denken." Es ist bekannt, wie übel
Goethe es Schillern genommen hat, als er ihm
mit wenigen raschen Strichen die Metamorphose
der Pflanze auf dem Papier entwarf und von jenem
die Antwort bekam : „das ist keine Erfahrung, das
ist eine Idee". Es ist aber nicht abzuleugnen, daß
Goethe später die Berechtigung von Schillers
Ausspruch anerkannt hat, „als sich im Verfolg
eines zehnjährigen Umgangs mit Schiller die
philosophischen Anlagen, inwiefern sie seine Natur
enthielt, nach und nach entwickelten". Nun ver-
stehen wir auch, worin der große Fortschritt liegt,
den Goethe machte, als er von dem Suchen
nach der Urpflanze abließ und das Blatt als Grund-
organ der Pflanze aufstellte, denn die Urpflanze
war kein Begriff, dem eine Anschauung entsprach,
wohl aber tat dies der Begriff Blatt. In diesem
Sinne heißt es in einem nicht abgesandten, aber
in der Sophienausgabe (27. Brielband, Nr. 7486)
abgedruckten Briefe anNees von Esenbeck
(von Mitte August 18 16?). „In den Tagebüchern
meiner italienischen Reise, an welchen jetzt ge-
druckt wird, werden sie nicht ohne Lächeln be-
merken, auf welchen seltsamen Wegen ich der
vegetabilischen Umwandlung nachgegangen bin
ich suchte damals die Urpflanze, bewußtlos, daß
ich die Idee, den Begriff suchte, wonach wir .sie
742
Naturwissenschaftirche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
uns ausbilden könnten." Und in einem erst 1904
bekannt gewordenen Entwurf zu Goethes Ge-
schichte seines botanischen Studiums heißt es:
„In Sizilien, umgeben von einer ganz neuen Pflanzen-
welt, aufmerksam auf neue Gestalten, erhob ich
mich von dem beschränkten Begriff einer Ur-
pflanze zum Begriff, und wenn man will, zur Idee
einer gesetzlichen, gleichmäßigen, wenn schon
nicht gleichgestalteten Bildung und Umbildung des
Pflanzenlebens von der Wurzel bis zum Samen."
In diesem Punkte scheint mir Goethe viel
konsequenter in seiner Anschauung geblieben zu
sein als in Beziehung auf phylogenetische Ab-
leitung. Die Äußerungen, die er über die letztere
getan hat, können zum Teil verschieden aufgefaßt
werden, und Goethes eigentliche Ansicht ist
nicht so leicht zu durchschauen. Goethe hat
fünfzig Jahre lang Botanik getrieben und müßte
kein wahrer Forscher gewesen sein, wenn er immer
dieselbe Ansicht von der Entwicklung der Pflanzen
behalten hätte. Nach genauer Prüfung aller seiner
Äußerungen über die Blattorgane bin ich aber
doch zu der Überzeugung gekommen, daß er
damit sagen wollte: die Bezeichnung „Blatt" ent-
spricht dem Gesamtbegriff für eine Anzahl bisher
als eigenartig unterschiedener Organe, daß er
damit der Trennung eine Einigung entgegensetzen
wollte. Wir aber können und dürfen die Sache
auch nicht anders auffassen.
[Nachdruck verbotec]
Besitzt ein Vogel Einsicht iu kausale Zusannnenhäuge J
Von Prof. J. Reinke (Kiel).
Mit I Abbildung.
Vor 12 Jahren erwarb ich aus einer Vogel-
handlung in Kiel einen kleinen Papagei, etwa von
der Größe einer Drossel. Der Vogel war an-
geblich von einem Matrosen aus Südamerika mit-
gebracht worden. Sein Gefieder ist schön ge-
färbt: der Rücken grün bis in den Hals hinauf,
ebenso die Oberseite der Flügel; die Schwanz-
federn teilweise schwärzlich; die Brust orange;
Bauch und Unterseite der Flügel hellgelb; am
Halse schließt sich die grüne Färbung auch ober-
halb der Brust ringförmig zusammen ; der Kopf
unterhalb der Augen hellgrau, oberhalb dunkel-
grau ; dies Dunkelgrau des Kopfes grenzt wie eine
Kapuze an das grüne Kolorit des Halses. Die
bei Brehm verglichenen Beschreibungen ließen
mich den Vogel als Mönchssittich bestimmen. Er
mag im folgenden kurz als Sittich bezeichnet sein.
Der Vogel wurde zunächst in einen großen
Singvogelkäfig getan, in dem sich in verschiedener
Höhe zahlreiche Querstangen befanden, auf denen
er bald umherkletterte. Abends suchte er die
höchstgelegene Stange auf, um auf ihr zu nächtigen.
Ich deutete dies dahin, daß er seinem Instinkt
gemäß die höchst gelegenen Stellen seines Be-
reichs aufsuche, um dort vor Feinden geschützt
zu sein; im Urwalde würden es die höchsten
Zweige der Bäume sein. Mit dem Licht des
neuen Tages begann er wieder, sich im Käfig
umher zu bewegen. Von Anfang an war die
Laune des Vogels wechselnd: bald ließ er sich
streicheln und hatte dies offenbar gern, dann
wieder hackte er nach dem Finger, der ihm ge-
nähert wurde. Letzteres hat niemals aufgehört,
wenn sein Futter- oder Wassernapf gewechselt
wurde. Anfangs ließ man ihn auch dann und
wann im Zimmer umherspazieren, doch da der
Hund ihm gefährlich wurde, ward davon Ab-
stand genommen.
Sittich begann bald, die Holzstangen seines
Käfigs zu zerknabbern. Es wurde deshalb ein
aus Drahtstäben, die oben kuppelartig konver-
gierten , konstruierter Papageienkäfig angeschafft
von 60 cm Höhe und 35 cm Durchmesser der
kreisrunden Basis, in dem sich außer einer einzigen
in 20 cm Höhe angebrachten hölzernen Quer-
stange noch eine Papageienschaukel befand, die
aus einem Drahtbügel und einer horizontalen
Holzstange bestand. Ich ersetzte die beiden
Holzstangen des Käfigs bald durch Stengelstücke
der im Kieler Botanischen Garten kultivierten
Arundinaria japonica, deren Zellgewebe derart
mit Kieselsäure imprägniert ist, daß der scharfe
Schnabel des Tieres ihm nichts anhaben konnte.
Anfangs hatte der Sittich Angst vor der Schaukel,
vermied sie und kletterte nur an den Drahtstäben
des Käfigs auf und ab, während er auf der
unteren (festen) Querstange nächtigte. Dann
verlor er seine Scheu, kletterte auf die Schaukel
und fand bald Vergnügen am Schaukeln. — Nach
einiger Zeit bemerkte ich, daß die Schaukel, deren
Querbalken aus Arundinaria bestand, mit diesem
Querbalken abends mit den Enden zwischen den
Drahtstäben, welche die Wand des Käfigs bilden
und einem in 40 cm Höhe über dem Boden be-
findlichen, die Stäbe verbindenden Drahtring ein-
geklemmt war, derart, daß die Enden des Schaukel-
stabes diesem Drahtringe auflagen. Der Sittich
war auf den Drahtbügel der Schaukel bis zu dessen
höchster Stelle hinaufgeklettert, so daß er mit
dem Rücken die Wölbung des Käfigs berührte,
und hier nächtigte er (s. Abb.). Am nächsten
Morgen war die Schaukel wieder gelöst, und der
Sittich benutzte sie vielfach zu seiner Unter-
haltung, ohne sie bei Tage jemals am Drahtringe
zu befestigen.
Fortan wiederholte sich dies Spiel Tag für
Tag die langen Jahre hindurch. An jedem Abende
befestigte der Vogel seine Schaukel in der an-
gegebenen Weise, kletterte auf den Bügel und
brachte hier an dessen höchster Stelle, seltener
N. F. XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
743
etwas tiefer, die Nacht zu; am frühen Morgen war
seine erste Handlung nach dem Erwachen, die
Schaukel zu lösen, so daß sie den Tag über frei
schwebte. Wenn der Sittich ganz oben auf dem
Bügel der Schaukel übernachtete, deute ich dies
wiederum dahin, daß er instinktiv bei der
Nachtruhe so hoch kletterte wie möglich.
Es gelang bald , das Verfahren des Vogels
beim Befestigen und beim Lösen der Schaukel
zu beobachten. Wollte er schlafen gehen, was
meistens geschah, wenn im Zimmer die Lampe
noch brannte, so setzte er die Schaukel in so
starke Bewegung, daß der Querbalken, auf dem
er saß, bis gegen die Wand des Käfigs flog. Hier
würde die Schaukel indes niemals von selbst fest-
geraten sein, wenn der Sittich nicht einen eigen-
artigen, man könnte sagen genialen Kunstgriff
SiUich in Nachtstellung auf dem Bügel der von ihm auf King j
befestigten Schaukel. Meistens klettert er noch höher hinauf,
als in der Skizze wiedergegeben wurde.
angewandt hätte. Die vertikalen Drahtsläbe des
Käfigs werden durch 4 Drahtringe miteinander
verbunden, deren unterster am Boden, deren
zweiter 20 cm, deren dritter 40 cm, deren vierter
und oberster 53 cm über dem Boden des Käfigs
horizontal verläuft. An dem dritten Drahtringe
wurde, wie schon mitgeteilt, die Schaukel durch
den Vogel befestigt, und zwar so, daß die Enden
ihres Querbalkens auf dem Ringe ruhten und sich
zwischen zwei Vertikalstäbe einschoben. Wenn
der Sittich die Schaukel in dieser Lage befestigen
will, so versetzt er sie zunächst in starke Schwin-
gungen, wobei er sich mit dem Schnabel von
einer beliebigen Stelle der Käfigstäbe wiederholt
abstößt. Ist dann der Balken der Schaukel hier-
bei bis dicht an die Wandung des Käfigs heran-
geschleudert, wobei er unmittelbar unter Quer-
ring 3 zu stehen kommt, so reckt der Sittich auf
einmal seinen Hals lang aus, hakt den Schnabel
in Querring 4 der Käfigwand und hebt gleich-
zeitig ein wenig durch Muskelkontraktion der
Beine den Balken der Schaukel, so daß er ober-
halb von Querring 4 des Käfigs zu liegen kommt
und mit seinen Enden sich zwischen ein Paar
Längsdrähte einschiebt. Damit ist die Schaukel
völlig befestigt, und der Vogel klettert auf ihren
Bügel bis zum Sitz seiner Nachtruhe hinauf Am
nächsten Morgen — ich habe es oft beobachtet,
wenn ich die Läden des Zimmers öffnete —
macht der Sittich seine Schaukel dadurch wieder
los, daß er mit dem Schnabel sich am oberen
Teil eines Drahtes festhält und mit den Klauen
die Schaukel aus ihrem Lager heraushebt.
In den ersten Jahren hatte ich den Eindruck,
daß die beiden Enden des Querbalkens immer
gleichzeitig und mit einem einzigen Ruck auf den
dritten Querring eingesetzt wurden ; zahlreiche
Schwingungen konnten hierbei mißlingen, doch
dauerten die vergeblichen Versuche stets nur
wenige Minuten. Später gelang es dem Vogel
noch rascher, mit völliger Sicherheit, die Be-
festigung zu erreichen, indem er das eine Ende
des Balkens einen Moment früher als das andere
Ende einsetzte; die ganze Manipulation verlief fast
blitzschnell.
Ich wiederhole, daß der Vogel diese Handlung
die Jahre hindurch Tag für Tag mit völliger
Regelmäßigkeit ausgeübt hat. Ich deute als Aus-
wirkung des Instinkts, daß er so hoch oben
im Käfig übernachtet, wie nur immer möglich
ist, obgleich es für ihn unbequemer sein muß,
den dünnen Draht der Schaukel zu umklammern,
als wenn er auf dem unteren dicken Balken des
Käfigs säße ; dagegen halte ich es für ein
Zeichen von Einsicht, von Einsicht in
den Zusammenhang von Ursache und
Wirkung, wenn der Sittich am Abend seine
Schaukel gewollt durch einen Kunstgriff befestigt
und am anderen Morgen durch einen anderen
Kunstgriff gewollt zum Spiel des Tages wieder
löst. Ich zweifle nicht daran, daß er die Erfindung
dieses Verfahrens einem Zufall verdankt; sind
doch auch die meisten Erfindungen des Menschen
auf einen Zufall zurückzuführen. Daß der Vogel
aber alsbald diesen Zufall auszunutzen wußte, um
dem Drange seines Instinkts freie Bahn zu schaffen,
liahe ich für Einsicht, die menschlicher Einsicht
verwandt ist trotz aller Verschiedenheit im Bau
des Großhirns zwischen Vogel und Mensch. Der
Sittich hat begriffen , daß bei Befestigung der
Schaukel er hoch oben im Käfig sitzen kann ;
er hat ferner begriffen, durch welches Zusammen-
wirken des Schnabels und der Muskulatur seiner
Beine die Schaukel gehoben und von oben her
in das Befestigungslager gebracht werden kann;
er hat endlich begriffen, \yic er die "Schaukel für
744
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
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deren Tageszweck wieder zu lösen vermag. Das
sind keine instinktiven Tätigkeiten, und ebenso-
wenig kann von einer Selbstdressur des Vogels
die Rede sein, sondern das ist Einsicht. Hinzu-
gefügt sei noch folgendes. Als ich eines Abends
zum ersten Male die Schaukel festsitzen sah,
dachte ich, es sei das zufällig geschehen und löste
sie mit der Hand wieder aus. Darauf ein heftiges
Geschimpfe des Vogels — et- versteht tüchtig zu
zetern, wenn ihm etwas gegen den Strich geht
— • und alsbald bewies er, daß er diese Befestigung
gewollt habe, indem er sie erneuerte. Vielleicht
ist auch folgender Zug nicht ohne Interesse.
Sittich frißt gerne Kuchen, sein scharfes Auge
erkennt es sogleich, wenn ich ein Krümchen da-
von in der Hand halte. Er bekommt von mir
Leckerbissen immer nur ausgehändigt, wenn er
auf der unteren festen Querstange des Käfigs
sitzt, wohin er sich aus der schwebenden Schaukel
oder von anderen Teilen des Käfigs her begibt,
sobald ich „komm" rufe. Saß er nun schon abends
auf dem Bügel der befestigten Schaukel, schlief
aber noch nicht, und ich brachte ihm etwas
Kuchen, so kletterte er herunter, ohne die
Schaukel erst zu lösen, und kletterte nach
Verzehren des Brockens wieder auf seinen Nacht-
sitz hinauf.
Ich habe den Sittich nunmehr folgendem Ex-
periment unterworfen. Er wurde aus dem Papa-
geienkäfig wieder in den Kanarienkäfig gebracht
und hier 14 Tage belassen. Er übernachtete dort
auf einer ganz hohen Stange, die für ihn neu
eingeschoben war. Als er dann in den Papageien-
käfig zurückversetzt wurde, machte er gleich am
ersten Abend wieder sein Experiment mit der
Schaukel; er hatte also seinen Kunstgriff nicht
vergessen, war auch in Ausübung desselben so
geschickt geblieben wie vordem.
Erst in diesem Sommer (192 1) ist der Sittich
von seiner Gewohnheit abgewichen. Mit zuneh-
mendem Alter zeigt er manchmal Erscheinungen
von Asthma. Ein solcher Anfall war besonders
heftig; der Vogel saß tagelang keuchend auf dem
Boden des Käfigs und fühlte sich offenbar gar
nicht wohl. In diesen Tagen schaukelte er über-
haupt nicht und übernachtete auf der unteren
festen Querstange des Käfigs. Auch als er dann
wieder ganz wohl zu sein schien, blieb er dabei,
die Nachtruhe auf der unteren Käfigstange zu
halten und sich die Mühe mit der Schaukel zu
sparen. Man hatte den Eindruck, als habe er
erkannt, daß hier unten ihm während der Nacht
auch kein Leid geschähe, und daß die Ruhe unten
doch vielleicht bequemer sei. Dabei schaukelte
er am Tage nach wie vor, und jetzt sah ich auch
zum ersten Male den Sittich bei Tage spielerisch
seine Schaukel festmachen und gleich darauf
wieder lösen, wie er überhaupt mit allen Gegen-
ständen zu spielen liebt, die man in seinen Käfig
hineintut. In der Folge hat er dann auch wieder
oben auf der Schaukel genächtigt, doch nicht
mehr mit völliger Regelmäßigkeit, sondern an
manchen Tagen verbringt er die Nacht wieder
auf dem unteren, festen Querbalken. Er war also
offenbar nicht mehr so stark zur Benutzung des
höchsten Platzes im Käfig angetrieben, wie es
früher der Fall war. —
Ich halte das in der Frage der Überschrift
gestellte Problem hiermit für gelöst. Es kann
kein Instinkt sein, also kein ererbter Trieb, der
den Vogel veranlaßt, eine von ihm gemachte
„Erfindung" im Sinne seines auch anderweitig
betätigten Instinkts zu verwerten; Einsicht in
Kausalbeziehungen muß ihm zuhilfe kommen, um
dies zu tun. Vielleicht wird diese Auffassung
unterstützt durch nachstehende Wahrnehmungen.
Ich habe nie versucht, den Sittich zum Plap-
pern abzurichten, wie es so viel bei Papageien
geschieht. Dagegen hat er spontane Neigung,
fremde Vogelstimmen, z. B. von Amseln, Staren,
Finken nachzuahmen, ebenso einige ihn inter-
essierende Laute der menschlichen Sprache. Ich
erwähnte schon, daß ich ihn mit dem Worte
„komm" auf seinen Futterplatz locken kann. Sind
wir beim Speisen, so hat er sich einen eigentüm-
lichen Lockton angewöhnt, der etwa „ibbet" klingt,
sobald er etwas erspäht zu haben glaubt, das ihm
schmecken dürfte; bei anderen Gerichten, z. B.
bei der Suppe, ist er stumm. Ruft er später sein
„ibbet" und ich reagiere nicht darauf, so läßt er
dann den Ruf „quomm" ertönen, was ein miß-
ratenes „komm" bedeutet, manchmal auch wie
„quaak" klingt; findet er auch dann noch keine
Beachtung, so beginnt er, in seiner Sprache heftig
zu schelten und zu kreischen. Bringe ich ihm
auf seinen Bittruf ein Stückchen trockene Salz-
kartoffel, die er gar nicht liebt, obgleich sie in
der Hungerzeit des Krieges seine Hauptnahrung
war, so schlägt er es mir mit dem Schnabel aus
der Hand und ist zornig; bringe ich ihm dagegen
eine Bratkartoffel oder einen Apfelkern, so nimmt
er diese freundlich und zart aus meinen Finger-
spitzen; denn heute ist er gewohnt, daß sein
Futter aus Hanfsamen besteht, wie er aller fett-
haltigen Nahrung zugetan ist.
Ist Sittich schlechter Laune, so haut er mit
dem Schnabel nach dem Finger, der sich ihm
nähert. Bei guter Laune läßt er sich gern den
ganzen Körper streichen, ja geradezu massieren,
wobei er oft mit dem. Schnabel in eine Draht-
stange des Käfigs beißt. Bei diesem Streicheln
sagte ich einige Male : „Sittich, du Narr". Ich war
nicht wenig verwundert, als der Vogel mir eines
Tages beim Betreten des Zimmers „arrr" zurief,
und sich nun gern streichen ließ. Das ist fortan
so geblieben. Ich sage beim Streichen öfters
„Narr" zu ihm, und meistens, wenn der Vogel
mich kommen sieht, erklingt sein „arrr", eine Auf-
forderung, mit ihm zu spielen ; bleibt die Auf-
forderung aus, so bin ich nicht sicher, ob er nicht
beißt, wenn ich ihn streicheln will. Das möge
noch in bezug auf die Sprache des Vogels bzw.
seine Unterhaltung mit Menschen hinzugefügt sein,
N. F. XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
745
die ihm doch auch bewußtes Mittel zur Erreichung
eines Zweckes sein dürfte.
Die mitgeteilten Tatsachen scheinen mir nach-
stehende kurz zusammengefaßte Analyse des Ver-
haltens des Vogels nahezulegen.
Der Sittich fühlte sich durch Ausnutzung der
Schaukel von dem ihm unbehaglichen Zustande
des Nächtigens in der Tiefe des Käfigs erlöst.
Sein Gedächtnis hielt den entdeckten Mechanis-
mus fortan fest, und er benutzte ihn bewußt für
seine Zwecke, sei es zum Schlafen oder zum
Schaukeln je nach der Tageszeit. Er verwertete
also neu erschaute Zusammenhänge der ihn um-
gebenden Dinge. Nur der psychische Zusammen-
hang seiner Erinnerungsbilder konnte den Vogel
veranlassen, dauernd an seiner Übung, der Be-
festigung der Schaukel am Abend und ihrer Lö-
sung am Morgen, festzuhalten. Zweifellos diente
der Zufall als auslösende Ursache. Der Zufall
allein kann indes keine Erfindung veranlassen;
Mensch oder Tier sind daran psychisch beteiligt.
Der Vogel beachtete die Tatsache eines zufälligen
Festhakens der Schaukel, er erkannte den zur Be-
friedigung seines Instinkts daraus sich ergebenden
Vorteil. Indem er dies Neue seinem Gedächtnis
einverleibte, bewies er damit die Fähigkeit, Er-
fahrungen zu machen. Die Leistung des Vogels
lag in seiner scharfen Aufmerksamkeit, die eine
außergewöhnliche Veränderung im Verhalten der
Schaukel sofort zu verwerten verstand, und fortan
im intuitiven Erkennen des Zusammentreffens der
einander bedingenden Erscheinungen; den Ge-
dächtniseindruck benutzte er, um allemal die ge-
wünschten Bedingungen innerhalb des ihn um-
gebenden Mechanismus wiederherzustellen. Der
Sittich hat erst psychische Kombinationsarbeit
geleistet, der dann die mechanische Arbeit von
Hals- und Beinmuskeln folgte. Durch den psy-
chischen Mechanismus der Assoziation von Er-
innerungsbildern wurde eine zweckmäßig wirkende
Funktionsbereitschaft herbeigeführt; die Befrie-
digung eines Wunsches oder Bedürfnisses (Schlaf
in der Höhe, Lust am Schaukeln bei Tage) wurde
auf dem kürzesten Wege hergestellt. In dem
Allen zeigt der Sittich wohl einen Gradunter-
schied seiner Einsicht der des Menschen gegen-
über; einen Art u nt ersc hied zu postulieren,
liegt kein zwingender Grund vor, noch weniger,
ihm Einsicht überhaupt abzusprechen. Will man
diese Auffassung anthropomorph nennen, so tue
man esl Der Vorwurf des „Anthropomorphismus"
ist meistens ein wenig überlegtes Schlagwort, da
wir — namentlich seit Kant — wissen, daß wir
nicht anders als anthropomorph vorstellen und
denken können.
Es bedarf wohl kaum des Hinweises, daß jeder
Besitzer von Haustieren, namentlich von Hunden
und Katzen, hundertfältig Wahrnehmungen machen
wird, die denen analog sind, die vorstehend be-
schrieben und analysiert wurden.
Endlich habe ich noch die angenehme Pflicht,
F"räulein A. Weinreich für die Zeichnung der
Skizze meinen Dank auszusprechen !
Einzelberichte.
Wie eine lufektionskraukheit entsteht.
Nach Carre, Revue Gen. de Med. Vet. Nr. 351
ist in Italien, der Schweiz und Spanien seit langer
Zeit eine bei Schafen und Ziegen auftretende
Agalaktie bekannt, die in Südtirol sowie in Italien,
da als besonderes Symptom neben dem Milch-
mange), die Erkrankung der Augen hervortritt,
vielfach als „Augendiesel" bezeichnet wird und in
gewisser Hinsicht Ähnlichkeit mit der während des
Krieges beobachteten Augenseuche der Gemsen hat.
Die Erscheinungen der Krankheit sind ; Mammitis,
Keratitis, Arthritis, Cachexie; dabei bestehen nie
Eiterungen. Der Erreger ist filtrierbar und wurde
1906 von Celli und Blasi entdeckt. Im Jahre
1910 wurde in den Niederalpen eine neue Seuche
beobachtet, die zwar auch unter den Erscheinun-
gen der Agalaktie verlief, sich von der bekannten
Krankheit aber wesentlich durch das Auftreten
von Eiterungen unterschied. Carre wurde mit
der Erforschung der neuen Seuche beauftragt.
Er stellte fest, daß den Erkrankungen eine Infek-
tion mit dem bekannten filtrierbaren Virus zu-
grunde lag; waren hierdurch die Abwehrkräfte
(Antigene) des Körpers geschädigt, so siedelten
sich die Eitererreger, die sich in jeder Streu be-
finden, im Organismus an und bedingten das ver-
änderte Krankheitsbild. Beobachtungen im Labo-
ratorium bestätigten die Ansicht des Verf.
Reuter.
Zur Staiiimesgeschichte des Hausriudes.
Wie der Haushund hat auch das Hausrind
schon frühzeitig mit dem Werdegang der mensch-
lichen Kultur in Beziehungen gestanden. Die
wissenschaftliche Forschung unterscheidet für
Europa fünf Stammrassen, und zwar das Urrind
(Frimigenius-Rasse), das Großstirnrind (Frontosus-
Rasse), das Langstirnrind (Brachyceros Rasse), das
Kurzkopfrind (Brachycephalus-Rasse) und das horn-
lose Rind (Akematos- Rasse). Dr. P. Mar teil
kommt jedoch in der ,,Berl. Tierärztl. Wochen-
schrift" Nr. 18 von 1921 zu der Anschauung, daß
in dem Ur (Bos primigenius) allein der Stamm-
vater alter Hausrinder zu sehen wäre. Die Ver-
breitung des Urs erstreckte sich ursprünglich über
ganz Europa, er war eine der europäischen Tier-
746
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
weh besonders charakteristische Erscheinung, die
als Wildrind erst zur Diluvialzeit aufgetreten ist.
Der Ur ist in Europa zu Anfang des 17. Jahr-
hunderts ausgestorben ; um diese Zeit geschieht,
aber mit Unrecht, seine Namensübertragung auf
den Wisent. Über die Gestalt des ausgestorbenen
Urs ist man bereits durch einige vortreffliche
Bilder aus der assyrischen und mykenischen Zeit
unterrichtet. Der dem Hausrinde ähnliche Ur
besaß einen geraden Rücken, lange Hörner, die
sich nach vorn gegeneinander krümmten und mit
den Spitzen in der Regel nach aufwärts liefen.
Eine Mähne besaß der Ur nicht; dadurch unter-
scheidet er sich vom Wisent, der außerdem einen
mehr dreieckigen Kopf, abfallenden Rücken und
kurze hochgerichtete, mit der Spitze nach innen
laufende und rückwärts zeigende Hörner besitzt.
Aristoteles und Plinius haben bereits gute
Beschreibungen vom Wisent gegeben. Das alte
Torfrind ist in prähistorischer Zeit bereits in Tur-
kestan nachweisbar und findet sich dann in Nord-
afrika klar ausgeprägt. Von da aus wanderte es
nach Südeuropa und treten Überreste dieser klei-
nen Rinderform besonders häufig in den Pfahl-
stationen der Westschweiz auf, so daß im Braun-
vieh der Alpen und in den englischen Kanal-
rindern jedenfalls die Nachkommen der alten
Torfrinder zu erblicken sind. Diö für das braune
Alpenvieh so charakteristischen Merkmale, Aal-
strich und Rehmaul, sind auch den ostasiatischen
und indischen Rindern und in Deutschland den
Rindern des bayerischen AUgäues eigen. Auch
der Zoologe Prof. Rütimeyer nimmt für die
Stammvaterschaft der etwa auf 50 Rassen des in
Europa lebenden Hausrindes zu bemessenden
Kontingentes drei verschiedene Wildrinderarten
an, den Ur (Bos primigenius) und dessen Speziali-
täten der Langstirn- und Breitstirnform. Vergleiche
der Schädel zwischen Hausrind und Ur, der ur-
sprünglich über ganz Europa, Asien und Nord-
afrika verbreitet war, so daß demnach Südafrika,
sowie auch Amerika als Entstehungsherde für die
Hausrinder nicht in Frage kommen, machen immer
wieder deutlich, daß wir mit aller Wahrscheinlich-
keit in dem Ur den Stammvater unseres Haus-
rindes zu suchen haben. Auch in Mesopotamien
haben in alter Zeit größere Herden des Urs ge-
lebt, da wir aus einer alten Inschrift entnehmen
können, daß gelegentlich einer Jagd 50 große
Wildrinder erlegt und 8 gefangen genommen
wurden. Selbst zur Zeit Herodots hat der Ur
in den Griechenland benachbarten Ländern noch
eine große Verbreitung gehabt, weil dieser Ge-
schichtsschreiber von „wilden Stieren" spricht,
deren große Hörner aus Mazedonien nach Griechen-
land in den Handel kamen. Auch wird in dem
Epigramm des Achaios der Wildstier erwähnt.
Fossile Urrinder sind außerdem in Afrika und
Palästina aufgefunden worden und mit größter
Wahrscheinlichkeit ist Ägypten das Land, in dem
die Wandlung des Rindes aus dem Wildstand
zum Haustier vor sich gegangen ist.
In Amerika fanden die Rinder erst nach der
Entdeckung durch die Europäer Eingang und
zwar führte Kolumbus schon bei seiner zweiten
Reise Rinder mit. Ein Wildrind von der Gattung
des Ur hat es in Amerika nie gegeben, dagegen
hat der dem Wisent nahe verwandte Bison (Bos
americanus), der volkstümlich als „Büffel" bekannt
ist, einst die Prärien und Wälder Nordamerikas
bevölkert und ist gleich dem europäischen Art-
genossen fast gänzlich bis auf wenige Exemplare,
die in Gehegen unter dem Schutz der amerikani-
schen Regierung gepflegt werden, von der Bild-
fläche verschwunden. Nunmehr sind in Amerika
sämtliche europäische Rinderrassen, auch das
hornlose Rind, wie man sich bei den von dort
jüngst in Deutschland eingetroffenen Transporten
überzeugen konnte, vertreten. Reuter.
Zur Frage der Schutziinpfuiig bei Maul- und
Klaueuseuche.
Direktor Dr. Ernst der veterinärpolizeilicheh
Anstalt in Schleißheim bringt in der „Münch.
Tierärztl. Wochenschr." Nr. 17 von 192 1 eine
vorläufige Mitteilung über experimentelle Über-
tragung der Maul- und Klauenseuche auf Katzen,
Meerschweinchen und Igel. Bei Impfungen am
Rüssel des Schweines wurden mikroskopische
Untersuchungen angestellt. Einschlußkörperchen
spezifischer Art konnten ebensowenig gefunden
werden als andere Gebilde, die den Guarnieri-
schen bei Pocken entsprechen. Die sehr große
Schwankung der Virulenz des Erregers der Maul-
und Klauenseuche, seine Anpassungsfähigkeit und
der Umstand, daß auf eine milde Erkrankung nur
eine geringwertige kurzdauernde Immunität folgt,
lassen die Ansicht begründet erscheinen, daß es
kaum gelingen wird , ein praktisch allgemein
durchführbares, ungefährliches aktives Impfverfah-
ren auszuarbeiten. Es vi/erden vermutlich nur
Notimpfungsverfahren in Betracht kommen, die
sich zweckmäßig an das zuerst von Del B o n o
bei Maul- und Klauenseuche mit größeren Mengen
angewandte, der Impfung von spezifisch wirk-
samem Serum oder Blut von Tieren, die kurz
vor der Entnahme des Blutes die Seuche über-
standen hatten und gleichzeitiger Ansteckung mit
dem im Stalle vorhandenen Virus eng anlehnen.
Diesem Prinzip entspricht auch das Schleißheimer
Impfverfahren. Reuter.
Seifen mit ringt'örniigeu Koblenstolfsystenieu.
Unter Seifen im engeren Sinne versteht man
ausschließlich Salze von höheren Fettsäuren, d. h.
von Kohlenstofifverbindungen kettenförmiger Struk-
tur. Es ist diesen Stoffen mit 14 bis 18 Kohlen-
stofifatomen eigentümlich, die bekannten seifen-
artigen Wirkungen auszulösen, wobei jedoch nicht
N. F XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
747
allein die Anzahl, sondern auch die Art der Ver-
knüpfung jener Atome für die physikalischen
Eigenschaften verantwortlich zu machen ist. Dies
geht hervor aus Untersuchungen von R. Will-
st ä 1 1 e r und E. Waldschmidt-Leitz^) über
Verbindungen mit der gleichen Anzahl von
Kohlenstoffen in ringförmiger Verknüpfung.
Eine derartige Struktur ist vorhanden in den
Phenyl-naphtyl-methan-karbonsäuren, z. B. in
Man dachte ursprünglich daran, Salze dieser
Säuren unmittelbar als Seifen verwenden zu kön-
nen, als die Knappheit von Fettsäuren zu Aus-
hilfsmaßnahmen zwang. Die Salze dieser aroma-
tischen, d. h. ungesättigten Säuren, sind jedoch
keine Seifen. Mittels Wasserstoff und Platinkataly-
sator kann man jene Säuren jedoch unmittelbar
in die perhydrierten Diarylmethan-karbonsäuren
überführen. Aus dem angeschriebenen Stoff ent-
steht alsdann
d. h. eine völlig gesättigte Verbindung, die von
der entsprechenden aliphatischen Säure mit der-
selben Anzahl von Kohlenstoffatomen nur durch
die ringförmige Anordnung verschieden ist. Die
Löslichkeitsverhältnisse der Salze dieser Säure, die
übrigens theoretisch in 32 isomeren Formen auf-
treten kann, sind sehr bemerkenswert. Die Erd-
alkali- und Schwermetallsalze lösen sich in Kohlen-
wasserstoffen, die Alkalisalze aber sind
Seifen. So ist das Calciumsalz in Äther und
Benzol leicht löslich, während das entsprechende
Salz der nichthydrierten, also aromatischen Naph-
tylmethanbenzoesäure in beiden Mitteln unlöslich
ist 1 Das gleiche gilt für das Kupfer- und Blei-
salz; das Quecksilbersalz ist sogar sehr leicht
löslich in Äther und Benzol.
Die Alkalisalze sind echte Seifen; sie werden
in Wasser hydrolytisch gespalten unter Abschei-
dung saurer Salze und schäumen stark, wenn
auch der Schaum nicht so lange bestehen bleibt
wie bei unsern gewöhnlichen besten Seifen. Die
freien Salze fühlen sich seifig harzig an.
Abgesehen von ihrer für die theoretische Er-
kenntnis der Chemie der Seifen wichtigen Dar-
stellung, ist mit den genannten Stoffen ein neuer
Beitrag geliefert zur Deckung heimischen Bedarfes
an Seifenmaterial aus einheimischen Rohstoffen.
Als solche dienen Phtalsäureanhydrid und Naph-
talin, also Erzeugnisse der Steinkohlendestillation,
die mittels Aluminiumchlorid glatt zur Naphtoyl-
benzoesäure kondensiert werden können. Diese
wird alsdann erschöpfend hydriert, 'j Hierbei sind,
im Gegensatz zum Hydrierungsprozeß des Benzols
oder Naphtalins selbst, Zwischenprodukte faßbar,
die unter Aufnahme von 2 Atomen Wasserstoff
entstehen. H. Heller.
Die Koustitutiou des Uetiuiols.
Die Frage nach der wahren Natur des Reu-
niols hat infolge der großen wirtschaftlichen Be-
deutung dieses intensiven und ausgiebigen Duft-
stoffes zahlreiche Arbeiten gezeitigt. Ihr Ergeb-
nis deutete darauf hin, daß das Reuniol nicht ein-
heitlich sei, sondern lediglich ein ziemlich gleich-
mäßig anfallendes Gemenge von Geraniol und
Citronellol, Duftstoffen von hoher Qualität, dar-
stelle. Diesen Befund macht Arno Müller
durch optische Untersuchungen zur Gewißheit.-)
Müller verwendete die Absorptionsspektral-
analyse, die zuerst Hautzsch^) auf Probleme
der Terpenchemie anzuwenden empfahl. Beim
Vergleich der Absorptionskurven im Ultraviolett,
die von Reuniol einerseits, von Citronellol und
Geraniol anderseits aufgenommen wurden, zeigte
sich, daß die Kurve des Reuniols zwischen denen
der beiden anderen Stoffe liegt. Dies Verhältnis
wird noch deutlicher bei den Estern, den Ace-
taten. Es beweist, auf Grund aller bisherigen
Kenntnis der Ultraviolettabsorption, daß die Kon-
stitution des Reuniols nicht charakteristisch ist,
sondern additiv aus zwei Komponenten aufge-
faßt werden muß. Werden die drei Stoffe end-
lich hydriert, so liegen die Absorptionsbanden
ganz eng beieinander. Reuniol ist also fraglos
eine Mischung aus (schätzungsweise 60 "/q)
Geraniol und Citronellol und ist damit aus
der Literatur endgültig zu streichen. H. H.
Die Raubseeschwalbe, eiu verschAvuiidener
Brutvogel Deutschlands.
Der Krieg hat auch der deutschen Vogelwelt
einen schmerzlichen Verlust zugefügt: die auf dem
Ellenbogen auf Sylt nistende Raubseeschwalbe,
Sterna caspia PalL, mit deren Verschwinden aus
der deutschen Ornis früher oder später allerdings
gerechnet werden mußte, hat aufgehört, Brutvogel
unseres Vaterlandes zu sein. Im Jahre 1819, als
Naumann, dem wir auch die erste genauere
Kunde über den Brutplatz verdanken, den Ellen-
bogen besuchte, schätzte er die Zahl der Brut-
paare noch auf 200 bis 300, doch sollte der
Vogel ,,in manchem vergangenen Jahre bei weitem
zahlreicher gewesen" sein. In den folgenden 50
Jahren, so führt Dr. Dietrich, der unserer Art
einen kleinen Nekrolog widmet, in der Ornithol.
Monatsschrift (46, 1921, 33—42) aus, muß die
Kolonie schon stark zurückgegangen sein, denn
') Berichte d. D. Chem. Gesellsch. 54, S. 1420, 1921.
') D.R.P. 336212.
-) Berichte d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 54, S. 1466, 1921.
^) Berichte d. Deutsch. Chem (lesollsch. 45, S. 553, 1912.
748
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
1870 fand der Leuchtturmwärter etwa 50 Junge,
1871 beobachtete M ö b i u s 17 Nester, 1873 Gru-
nack und Thiele etwa 30 Paare, 1879 v. Hoh-
meyer 22 Nester, 1886 Leverkühn höchstens
30 Paare, 1 890 L e e g e ebensoviel, 1 892 K r e t s c h -
mer eine kleine Kolonie auf Hörnum von 12
Paaren und auf dem Ellenbogen weitere 2 Brut-
paare. 1896 wurden 2 Brut paare auf Jordsand,
einem Eiland östlich des Ellenbogens, und 1897
hier wiederum 12 Nester festgestellt. 1901 be-
obachtete Hartlaub auf dem Ellenbogen etwa
15 Gelege, 1902 Dr.' Dietrich 5 Paare; eine
Zahl, die im folgenden Jahre auf 12 — 13 ange-
stiegen war und sich in gleicher Höhe bis 1905
hielt. Als dann 1907 der Verein Jordsand den
Schutz der Kolonie übernahm, wurden igo8 8
Nester, 1909 11, 1910 wiederum u und 1911 7
gezählt. Im folgenden Jahre sank dann, an-
scheinend durch den störenden Eingriff eines rach-
süchtigen Dritten, die Zahl auf nur 2 — 3, sie stieg
1913 aber wieder auf 5 und umfaßte 1914, aus
welchem Jahre die letzten sicheren Zahlen vor-
liegen, nur noch 2 Nester. Über die weiteren
Schicksale der Kolonie sind wir nicht unterrichtet.
Der Kriegsausbruch mit der starken Belegung
Sylts mit Militär, der uns sofort ja auch die
Kolonie unzugänglich machte, und die ver-
schiedenen feindlichen Angriffe scheinen zunächst
zu einer Abwanderung der Vögel auf benach-
barte Inseln geführt zu haben ; wenigstens wurden
1918 3 Paare bei einem leider ver'geblichen Brut-
versuch auf Jordsand und ein anderes oder eines
von diesen dreien dann auch noch auf Norderoog
beobachtet. Seitdem ist der Vogel nicht wieder
festgestellt worden. — Zu dem dauernden Rück-
gang der Kolonie mag neben der Schießerei der
Badegäste auch die große Zähigkeit beigetragen
haben, mit der die Vögel an dem Jahr für Jahr
immer wieder von neuem bezogenen, denkbar
ungünstigen Brutplatz auf dem breiten Vorstrande
an der Nordküste des Ellenbogens hingen ; stür-
mische Winde betteten hier die Eier oft völlig in
den Flugsand ein, so daß sie häufig ihren Zweck
nicht erfüllten und die Zahl der hochkommenden
Jungen nur eine kleine war.
Rud. Zimmermann.
Bücherbesprechungeii.
Tammann, Gustav, Lehrbuch der Metallo-
graphie. Chemie und Physik der Metalle
und ihrer Legierungen. Zweite verbesserte
Auflage. 219 Figuren. 402 S. Leipzig 1921,
Leopold Voß. Preis geb. 1 10 M.
Die neue Auflage des bekannten vortrefflichen
Lehrbuches der wissenschaftlichen Metallographie
unterscheidet sich von der früheren hauptsächlich
durch die Aufnahme von neuen Forschungsergeb-
nissen, die zum großen Teile dem Verf. und
seinen Schülern selbst zu verdanken sind. So ist
in dem Abschnitt „Die chemischen und elektro-
chemischen Eigenschaften binärer Legierungen"
den neuen von T. geschaffenen Tatsachen der
Einwirkungsgrenzen chemischer Agenzien auf
metallische Mischkristalle sowie der Verteilung
zweier Atomarten im Raumgitter und ihrer Be-
ziehung zu diesen Einwirkungsgrenzen ausführlich
Rechnung getragen worden. Auch der Abschnitt
über die Rekristallisation kalt bearbeiteter Metalle
und ihre Ursachen ist entsprechend modernen
atomistischen Vorstellungen über diese Vorgänge
ganz neuartig dargestellt worden. Neu sind außer-
dem beispielsweise die Abschnitte über die Ober-
flächenspannung in den Lamellen fester Körper,
über die Raumgitter der Metalle, über Anlauf-
farben von Metallen und über Reaktionen von
Metallen mit Elektrolyten, einige weitere Kapitel
in dem Abschnitt „Die Änderung der Eigenschaften
bei der Bearbeitung der Metalle" und die Kapitel
über die Kennzeichen einer chemischen Verbin-
dung und die Bildungswärmen und Schmelz-
wärmen von Metallverbindungen. Überall zeigt
sich hierbei der Verf als hervorragender Kenner
und sachlicher Beurteiler der neuen Fortschritte
auf den betreffenden Gebieten.
Um den Umfang des Buches durch diese
wesentlichen und wertvollen Erweiterungen nicht
zu vergrößern, wurden eine Reihe von Kapiteln
der ersten Auflage fortgelassen, andere gekürzt.
So wurden von den Zustandsdiagrammen spezieller
binärer Systeme nur noch die des Fe — C, Pe — Si,
Fe — Ni, die ternären Kohlenstoffstähle, das meteo-
rische Nickeleisen, Cu — Sn, Cu — Zn, Cu — Ni,
Cu— Ag, Cu— Au, Au-Ag, Pb— Sn, Mg— AI
und Sn — Sb ausführlich besprochen, während die
Systeme Fe — Mn, Fe— Cu, F'e — Zn, P"e — Co, Fe —
FeS, Cu" AI, Ni-Cr, Co-Cr und Sb— Cd nicht
wieder mit aufgenommen wurden. Eine Ent-
schädigung dafür und gleichzeitig eine sehr weit-
volle Hilfe bei speziellen Fragen bietet aber das
neu aufgenommene Verzeichnis der Metallpaare,
deren Zustandsdiagramme bekannt sind , unter
Angabe der sie betreffenden Literatur.
So ist das Buch in vielen außerordentlich
wesentlichen Stücken fortgeschritten, durch die
neugeschaffenen Teile über die alte Auflage be-
trächtlich hinausgewachsen. Sicherlich wird es
wie diese in weitem Umfange der relativ jungen
Wissenschaft der Metallographie neue Freunde
zuführen. Den Studierenden nicht nur der
technischen, sondern auch der reinen Physik
und Chemie, besonders aber auch dem Mine-
ralogen und Kristallographen, dessen
Wissenschaft viel fruchtbare Anregung auf metallo-
graphischem Gebiete findet, darf die nähere Be-
schäftigung mit dem Buche sehr empfohlen wer-
den. Spangenberg.
N. F. XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
749
Fischer, Dr. Hugo, Pflanzenbau und Kohlen-
säure. 82. S. Stuttgart 1921, Eugen Ulmer.
In einer ganzen Reihe von Publikationen seit
dem Jahre 1909 hat der Verf. auf die Bedeutung
der Kohlensäure für die Blütcnbildung und als
„Düngemittel" hingewiesen, und mit seltener
Energie hat er die Praktiker, Gärtner und Land-
wirte, durch eigene Versuche und durch Ver-
öffentlichung seiner Anschauungen in gärtnerischen
und landwirtschaftlichen Zeitschriften zu über-
zeugen versucht, daß der Kohlensäure für die
rationelle Pflanzenzucht die gleiche Bedeutung ein-
zuräumen ist, wie den übrigen Düngemitteln. —
Wer die Praktiker kennt, weiß, daß es nicht ganz
leicht ist, sie aus den gewohnten Geleisen heraus-
zulocken. Ganz besonders schwerfällig sind die
Gärtner, wohl deshalb, weil die wissenschaftliche
Durchforschung der gärtnerischen Praxis hinter
der landwirtschaftlichen um 50 Jahre oder länger
zurück ist. Es ist darum zu begreifen, daß der
Verf. mit wenig Freude an die Gärtner denkt
und aus seinem Mißmut kein Hehl macht.
Nachdem es aber Fischer jetzt gelungen ist,
die Großindustrie für seine Gedanken zu interes-
sieren und seitdem er nachgewiesen hat, daß bei
Vorhandensein billiger CO.,-Quellen (Abgase der
Hochöfen) die Kohlensäuredüngung auch im
Großen ausgezeichnete Erfolge erzielt hat, werden
wir hofifen dürfen, daß die Erkenntnis der Wichtig-
keit des Kohlendioxyds in absehbarer Zeit Ge-
meingut aller Pflanzenbauer sein wird.
In dem vorliegenden kleinen Werke gibt der
Verf. eine gemeinverständliche Darstellung der
ganzen Kohlensäurefrage. In einzelnen Kapiteln
werden des Verfs. und anderer Versuche be-
sprochen, kritisch bewertet und in Beziehung zur
allgemeinen Düngerlehre, zur Assimilation, zur
Wasseraufnahme der Pflanzen und zu anderen not-
wendigen Lebensbedingungen gebracht, so daß
wir das Büchlein fast als ein kleines Lehrbuch
der Ernährungsphysiologie der Pflanzen mit be-
sonderer Berücksichtigung der Kohlensäure be-
zeichnen können. Ein ausführliches Literaturver-
zeichnis wird besonders den Fachleuten von
Nutzen sein. — Auf Einzelheiten soll hier nicht
eingegangen werden; es mag nur noch hervor-
gehoben werden, daß durch die Kohlensäure-
düngung der doppelte bis dreifache Ertrag erzielt
werden kann.
Es ist erfreulich, daß die Verlagsbuchhandlung
es gewagt hat, die Fisch ersehe Arbeit als selb-
ständiges Werk erscheinen zu lassen, so daß die
Möglichkeit gegeben ist, daß die Kohlensäurefrage
bald die weitesten Kreise beschäftigt zum Wohle
von Deutschlands Volksernährung, der das Buch
gewidmet ist. Wächter.
Anonymus, Gehes Arzneipflanzen-Taschen-
buch. Zur textlichen Ergänzung von Gehes
Arzneipflanzenkarten - Sammlung. Dresden - N.,
Gehe & Co.
Wer die bekannten Gehe sehen Postkarten
benutzt, wird erfreut sein, in dem vorliegenden
Büchlein eine textliche Erweiterung des Unter-
nehmens der bekannten Drogenfirma zu besitzen.
Nach dem Vorwort ist das Werkchcn als Reper-
torium und Repetitorium gedacht, soll also weder
ein Lehrbuch noch eine Bestimmungsflora sein.
Eine Übersicht der besprochenen Pflanzen nach
dem natürlichen und Li nneeschen System leitet
das Buch ein, und dann werden die einzelnen
Pflanzen nach folgenden Gesichtspunkten be-
sprochen: allgemeine Beschreibung, Standort,
Blütezeit , Arzneilich verwendete Pflanzenteile,
Sammelzeit, Eigenschaften, Bestandteile, aus der
Pflanze gewonnene Präparate, Wirkung der Pflanze,
Anwendung in der Heilkunde und Hinweis auf
die Abbildungen, wenn solche vorhanden sind.
Als Nachschlagebuch ist das Werkchen ausge-
zeichnet zu gebrauchen und es wird sicher viele
Liebhaber finden.
Das Buch ist anonym erschienen, während bei
den Postkarten Josef Ostermaier als Autor
genannt wird. Aus welchem Grunde sich der
Autor des Taschenbuchs versteckt oder von der
Firma versteckt wird, ist nicht recht einzusehen.
Der Autor braucht sich seiner netten Arbeit nicht
zu schämen und die Firma Gehe & Co. braucht
sich des Autors nicht zu schämen. Das Buch
charakterisiert sich durchaus nicht als verdeckte
Reklame, denn es ist völlig objektiv gehalten und
könnte in jedem Buchverlag erschienen sein. —
Die Zeiten der üblen Gewohnheit, wissenschaft-
liche Leistungen im Dienste einer Großfirma unter
dem Namen der Firma zu publizieren, sollten
eigentlich endgültig vorüber sein.
Die neuen Kartenserien von Arzneipflanzen,
Nr. 14 bis 17 sind zum Teil recht gelungen.
Warum Solanum dulcamara in einer Steinwüste
aufgenommen wurde, ist allerdings nicht einzu-
sehen , zumal als Standort angegeben wird : an
feuchten Gebüschen, an schattigen Bach- und Fluß-
ufern. Wächter.
Astronomisches Handbuch herausgegeben vom
Bund der Sternfreunde durch R. Henseling.
287 S., 98 Abb., 15 Kunstdrucktafeln. Stutt-
gart 1921, Franckhsche Verlagsbuchhandlung.
Der Untertitel, Theoretischer und praktischer
Ratgeber für die Arbeit des Liebhabers der
Himmelskunde, entspricht durchaus den Tatsachen,
denn dies populär geschriebene Werk enthält
keine Tatsache, sondern es gibt an, wie man zu
den Beobachtungstatsachen gelangt, und wie man
sie, soweit nötig, rechnerisch auswertet. Es wird
die Benutzung eines der massenhaft vorhandenen
kleinen Fernrohre von 2 und 3 Zoll vorausgesetzt,
und gezeigt, wie es möglich ist, mit diesen schein-
bar geringen Mitteln wissenschaftlich brauchbare
und wertvolle Arbeit zu leisten. Eine Anzahl
unserer hervorragendsten Praktiker, ich nenne
nur Neugebauer, Guthnick, Wirtz, Graff
haben sich das große Gebiet in 5 theoretische
und 1 5 praktische Kapitel zerlegt und teilen nun
7SO
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
aus ihrer eigensten Erfahrung mit, wie man eine
Aufgabe anfassen oder nicht anfassen muß. Es
ist kein Gebiet vergessen, sei es Beobachtung
von Sonne, IVIond oder Planeten, Sternfarben,
Doppelsterne oder sonst irgendetwas, hier findet
sich das nötige Material und genaue Anweisung.
Auch die einschlägige Literatur und die Art ihrer
Benutzung ist sorgfältig behandelt worden. Klare
Abbildungen und schöne Tafeln machen das
Werk noch wertvoller, so daß der Preis, 45 iVI.
geh. und 60 M. geb., als billig zu bezeichnen ist.
Riem.
Lehmann, W., Energie und Entropie.
40 S. mit 8 Textfig. Berlin 192 1, J.Springer.
— Preis geh. 5,40 M.
Die kurze Schrift will dazu beitragen, die Un-
klarheiten zu beseitigen, die auch heute noch
trotz weitgehender Popularisierung der wissen-
schaftlichen Fortschritte in weiten Kreisen über
die Grundgesetze des Naturgeschehens bestehen.
Sie befaßt sich im besonderen mit den für die
gesamte Energiewirtschaft fundamentalen Begriffen
der Energie und der Entropie. Wer auf An-
schaulichkeit und klare Begrififsbildung Wert legt,
wird die sorgfältige, streng sachliche und leicht-
faßliche Darstellung zweifellos mit hoher Befrie-
digung lesen. Namentlich auf die Betrachtung
der Entropie seien auch die Studierenden ange-
legentlich hingewiesen. Ref. hätte nur noch ge-
wünscht, daß die Namen von Robert Mayer,
Helmholtz, Clausius und Boltzmann
nicht ganz unerwähnt geblieben wären.
A. Becker.
Wegener, Dr. Alfred, Die Entstehung der
Mondkrater. Mit 9 Abb. 48 S. Braun-
schweig 1921, Vieweg & Sohn.
Der Verf., dessen geophysikalische Arbeiten
sehr bekannt sind, und durch die Neuheit ihrer
Gedanken überraschen, setzt sich zunächst mit
den bisher angenommenen Erklärungen ausein-
ander, der Blasenhypothese, der Gezeiten- und
Vulkanhypothese, und zeigt ihre Unhallbarkeit.
Nach ihm ist die Aufsturzhypothese die allein
haltbare, die er freilich erst durch Einführung
neuer Gesichtspunkte brauchbar macht. Eine An-
ordnung der Krater nach Größen zeigt, daß auch
die runden Marc mit dazu zu rechnen sind, die
bis zu 1000 km Durchmesser haben. Systema-
tische eigene Versuche zu dieser Hypothese haben
dann entsprechende Gebilde mit und ohne Zen-
tralberg ergeben, so daß der Verf., auch unter
Heranziehung des bekannten Aufsturzkraters in
Arizona und unter Berücksichtigung der Lage der
größten Aufsturzspuren zu der Annahme kommt,
daß der Mond durch den Zusammensturz dis-
kreter fester Körper gebildet ist, die in nahe bei-
sammenliegenden Bahnen die Sonne umkreist
haben und später von der Erde eingefangen sind.
Zur Kulminationszeit dieses Prozesses erfolgten
die Aufstürze so schnell, daß die Temperatur des
Mondkörpers über den Schmelzpunkt der Mine-
ralien stieg, aber in der letzten Phase des Vor-
ganges überwog der V^erlust durch Ausstrahlung
so sehr, daß die letzten Aufstürze die Mare schon
gänzlich erstarrt vorgefunden haben. Vielleicht
bildeten auch die Teile einen Ring um die Erde,
woraus es sich erklären würde, daß diese Auf-
sturzkrater auf der Erde nicht vorkommen. Jeden-
falls ein höchst geistreiches Werk. Riem.
Mach, Ernst, Die Prinzipien der physi-
kalischen Optik. 444 Seiten mit 279 Fig.
im Text und 10 Bildnissen. Leipzig 1921,
J. A. Barth. Brosch. 48 M.
Machs rühmlichst bekannter Mechanik und
Wärmelehre folgt jetzt, 4 Jahre nach seinem Tode,
in analoger Darstellung die Optik. Verf. verfolgt
die Entwicklung unserer optischen Kenntnis er-
kenntniskritisch und psychologisch von den ältesten
Anfängen naturwissenschaftlichen Denkens bis zu
den hervorragenden klassischen Vertretern der
optischen Forschung, durch welche die funda-
mentalen Gesetze der Lichtausbreitung endgültig
erkannt worden sind. Die außerordentlich an-
regende, lebendige Darstellung behandelt im
einzelnen in 13 Abschnitten die geradlinige zeit-
liche Ausbreitung des Lichtes, die Reflexion und
die Brechung, Anfänge der Lehre vom Sehen,
Entwicklung der Dioptrik, die Zusammensetzung
des Lichtes, die weitere Entwicklung der P'arben-
und Dispersionslehre, Periodizität, weitere Ent-
wicklung der Interferenzlehre, Polarisation, die
mathematische Darstellung der Eigenschaften des
Lichts, weitere Entwicklung der Kenntnis der
Polarisation, die Aufklärung der geraden Strahlen,
der Reflexion und Brechung durch die zeitliche
Ausbreitung des Lichtes, weitere Aufklärung des
Lichtverhaltens durch die Periodizität und die
Beugung; ein Anhang gibt zwei kurze Original-
abhandlungen von Malus wieder, die durch eine
eigenartige Auffassung vom Wesen des reflektierten
Lichts charakteristisch sind. Sehr wertvoll ist
die sorgfältige Wiedergabe der Bildnisse von
Porta, Kepler, Newton, Grimaldi, Fou-
cault, Fresnel, Young, Malus, Arago und
Fraunhofer; nur Huygens fehlt leider.
Das Werk ist allen, die an der Entwicklung
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im allge-
meinen und der optischen Begriffe im besonderen
Interesse haben, bestens zu empfehlen. Wer sich
mit den Tatsachen der Optik bereits auf Grund
der üblichen Darstellungsweise vertraut gemacht
hat, wird einen Einblick in die historischen Zu-
sammenhänge als wesentliche Vervollständigung
seiner Kenntnis empfinden. Möge das Buch des-
halb auch beim Unterricht häufige Berücksichtigung
finden. A. Becker.
Loewit, M. , Infektion und Immunität.
Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben
von Gustav Bayer. 550 S. Berlin und
Wien 1921, Urban u. Schwarzenberg.
N. F. XX. Nr. 52
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
■5'
Es ist überaus beklagenswert, daß der Verf.
dieses großen und schönen Werkes nicht mehr
unter den Lebenden weilt. Denn die Wissen-
schaft von Infektion und Immunität hat bisher
nur wenig gründliche Bearbeiter gefunden. Der
andere, mit dessen Buch • allein man das vor-
liegende Werk in Parallele setzen kann, P. Th.
JVIüller, ist ebenfalls nicht mehr am Leben. —
Um so mehr muß man dem Herausgeber des
Loe witschen Werkes dankbar sein, daß er es
der Mit- und auch Nachwelt übermittelte. Ein
gewaltiges Werk sollte es werden, von dem wir
hier nur einen Teil vor uns haben. Der Verf.
wollte die gesamte allgemeine Pathologie be-
handeln, und das Eingangskapitel dieses Buches,
das von „Krankheitsbegriff und Krankheitsver-
erbung" handelt, deutet noch auf diese Absicht
hin. Wir haben aber hier nicht etwa einen Torso
vor uns, der nur geschichtlichen Wert haben wird.
Sondern wir haben eine P'undgrube, aus der wir
noch recht lange werden schöpfen können. Das
Buch ist mit erstaunlicher Gründlichkeit und Ge-
wissenhaftigkeit verfaßt, ein Lehr- und Handbuch
zugleich. Die Anordnung des Stoffes ist geschickt
und übersichtlich. Neben dem erwähnten Ein-
gangskapitel finden alle nur irgendwie in Betracht
kommenden Fragen der Infektions- und Immuni-
tätslehre eine eingehende und mit reichlichsten
Literaturnachweisen belegte Besprechung. So ist
das Buch eine überaus wertvolle Bereicherung
unseres Schrifttums und wird von niemand, der
sich mit irgendeiner Frage dieses Forschungs-
gebietes beschäftigt, entbehrt werden können.
Huebschmann (Leipzig).
Steinriede, Franz, Anleitung zur minera-
logischen Bodenanalyse, insbesondere
zur Bestimmung der feineren Bodenmineralien
unter Anwendung der neueren petrographischen
Untersuchungsmethoden. Zweite umgearbeitete
und erweiterte Auflage. Mit 106 Abbildungen.
238 Seiten. Leipzig 1921, Wilhelm Engelmann.
Preis geb. 60 M.
Neben den sonst gebräuchlichen Arten der
Bodenuntersuchung will der Verf. die mineralo-
gisch-petrographische Untersuchungsart in weite-
rem Umfange der Bodenkunde dienstbar machen.
Er behandelt nächst der Gewinnung der zu unter-
suchenden Bodenprobe durch das Schlämm verfahren
in anerkennenswerter Weise die dazu dienenden
Methoden (Trennungsmethoden, optische, physi-
kalische und chemische Untersuchungsmethoden).
Danach folgen ein Abschnitt über den Gang der
Untersuchung und Hilfstabellen, die den Überblick
über die im letzten Kapitel „Kennzeichnung der
Bodenmineralien" gut gelungene, kurzgefaßte
Charakteristik derselben wesentlich erleichtern
werden. Zuletzt ist noch ein Schlüssel zur Be-
stimmung der wichtigeren bodenbildenden Mine-
ralien ausgearbeitet worden, so daß das Buch
jedermann, der sich die wertvollen Aufschlüsse
dieser Art der Bodenanalyse dienstbar machen
will und kann , in den meisten Fällen zum Ziele
führen wird. Ein Literaturverzeichnis wird dem
Weiterstrebenden willkommen sein.
Spangenberg.
Potonie, Henry, Die Steinkohle, ihr.Wesen
und Werden. Herausgeg. von Rob. Potonie.
Reclams Universalbibliothek. Bücher der Natur-
wissenschaft Bd. 30. (Nr. 6212 — 6214.) Leip-.
zig 1921. 214 S., 3 Taf., 12 Textfig. Geh.
4,50 M., in Bibliothekband 6 M.
Ein nachgelassenes, vom Sohne zum Abschluß
gebrachtes Werk des Pioniers der Erforschung
brennbarer geologischer Stoffe. Mit Recht und
überzeugend weist ein Vorwort kurz darauf hin,
daß chemische Untersuchungen der Kohlengesteine
die gewünschte Klärung allein nicht bringen
können. Vieles ist geologisch zugänglich und
ablesbar, worüber auf jenem Wege Gewißheit
vergeblich erstrebt wurde und wird.
Der Titel ist viel zu eng gewählt. Es werden
nicht nur die Kohlen überhaupt, sondern auch
Öle und Harze vergleichend mitbehandelt. Der
bekannte Standpunkt des Verf., betr. das Tropen-
klima der Steinkohlenzeit, findet auch hier aus-
führliche Begründung. Statistische Tabellen über
Produktion, Verwertung und Deutschlands Aus-
und Einfuhr von Kohlen tragen mit verbindendem
Text zum Schlüsse auch den praktischen Fragen,
die der Stoff birgt, nach Möglichkeit Rechnung.
Auf knappem Raum eine Fülle des Wissenswerten
in anregender und klarer Darstellung. Es sei
nachdrücklich auf das kleine Taschenbüchlein hin-
gewiesen. Edw. Hennig.
Kohlrausch, F., Lehrbuch der praktischen
Physik. Dreizehnte, stark vermehrte Auflage.
Neu bearbeitet von H. Geiger, E. Grün-
eisen, L. Holborn, K. Scheel und E. War-
burg. 724 S. mit 353 Fig. im Text. Leipzig
und Berlin 192 1, B. G. Teubner. Geh. 30 M.
und 120 "!„ Teuerungszuschlag.
Mit dem Fortschritt der Wissenschaft und der
Vermehrung und Vervollkommnung der Meß-
methoden und Meßmittel wächst naturgemäß die
Schwierigkeit, den „großen Kohlrausch" ohne
allzu starke Vergrößerung des Umfangs auf der
Höhe der Zeit zu erhalten. Die Bearbeiter der
neuen Auflage haben sich, was durchaus zu billigen
ist, dadurch Platz geschaffen, daß sie neben einigen
veralteten physikalischen Methoden die geographi-
schen und astronomischen Bestimmungen voll-
ständig ausschieden und an geeigneten Stellen
ohne wesentliche Änderung der Darstellung ver-
wandte Aufgaben enger zusammenfaßten. Eine
größere Umarbeitung erfuhren dabei u. a. einzelne
Kapitel über die Druckmessung, die Thermometrie,
Kalorimetrie und Strahlungsmessung; ferner
namentlich die Abschnitte über Wechselströme,
elektrische Schwingungen, Hochfrequenzstrahlen
und Radioaktivität. Daß dabei der Charakter
des alten Kohlrausch voll gewahrt bleibt, ist
752
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
N. F. XX. Nr. 52
ein besonderer Vorzug. So wird, auch die Neu-
auflage zum unentbehrlichen Führer in der prak-
tischen Physik. A. Becker.
Centnerszwer, M., Das Radium und die
Radioaktivität. 405. Bändchen von „Aus
Natur und Geisteswelt". Zweite Auflage. 118
Seiten mit 33 Figuren im Text. Leipzig und
Berlin 1921, B. G. Teubner.
Das Bändchen will ohne Voraussetzung be-
sonderer Vorkenntnisse einen allgemein verständ-
lichen Überblick über das Gebiet der Radioaktivi-
tät geben. Die zweite Auflage ergänzt die schon
vor dem Kriege erschienene Erstauflage durch
die Berücksichtigung des seitherigen Fortschritts
der radioaktiven Kenntnis, der vornehmlich die
Erforschung, der Isotopie und die Stellung der
Radioelemente im periodischen System betrifft.
Die Darstellung ist recht ansprechend und wird
auch in sachlicher Hinsicht weniger großen An-
sprüchen im allgemeinen befriedigend gerecht.
Einige Stellen erscheinen etwas reichlich speku-
lativ, andere — wie namentlich der Abschnitt 36
über die Transmutation der Elemente — gehen
in der Berücksichtigung der vorhandenen fremd-
ländischen Literatur jedenfalls darin zu weit, daß
sie ganz wertlose Untersuchungen, wie diejenigen
Ramsays über die Umwandlung des Kupfers,
erwähnen. Eine strengere Fassung wäre auch,
um Mißverständnisse auszuschließen, bei den An-
gaben auf den Seiten 53 und 54 über die Ladung
der /^-Strahlen und über „ein modernes Perpetuum
mobile" zu wünschen. A. Becker.
Philipp, R., Die Bedeutung der Geologie
für Handel, Industrie und Technik,
Landwirtschaft und Hygiene. 35 S.
mit 21 Abbildgn. Ratsbuchhandlung Bamberg
Greifswald 1921.
Der verdienstvolle Organisator der Kriegs-
geologie stellt hier in einem allgemein verständ-
lichen Vortrag (vom Januar 1920, gehalten vor der
Polytechnischen Gesellschaft in Stettin) alle die
zahlreichen Fälle zusammen, in denen die geolo-
gische Wissenschaft innigste Berührung zu prak-
tischen Tagesfragen gewinnt. Gerade die Kriegs-
erfahrungen haben eine Reihe neuer Beziehungen
aufgedeckt und damit auch Aufgaben für Friedens-
zwecke erschlossen. Die Not der Gegenwart
macht sie ganz besonders dringlich. Was der
Boden an Stoffen, Eigenschaften und Werten aller
Art birgt, muß er hergeben, um unsere Selbstän-
digkeit zu stärken oder wiederherzustellen. Ratio-
nelle Verwertung ist ohne geologische Einsicht
und Beratung unmöglich.
Eine große Zahl glücklich gewählter Beispiele
aus Bergbau, Steinbruchbetrieb, Wasserversorgung, .
Tiefbau aller Art, Land- und Forstwirtschaft führt
im Zusammenhang mit Darlegung elementarster
geologischer Vorstellungen und Begriffe in die
ganze Vielseitigkeit der Betätigungsmöglichkeiten
cies Geologen ein und weist die Praxis auf die
Quellen hin, aus denen unter den jetzigen Wirt-
schaftsverhältnissen bei sachgemäßem Vorgehen
Nutzen gezogen werden kann.
Edw. Hennig.
Anregungen und Antworten.
Eine neue deutsche Sttfiwassermeduse (Microhydra spec).
Durch Zufall entdeckte im August d. J. ein Herr Chr. Alt
in Frankfurt in einem seiner Aquarien ein merkwürdiges Ge-
bilde, das er nach längerem Beobachten als eine Meduse er-
kannte. Herr Geh. -Rat zur Strassen, der Direktor des
hiesigen Senckenbergischen Nalurhistorischen iSIuseums, sprach
das hochinteressante Tier als Microhydra ryderi Potts an.
Diese Art ist aus Deutschland bis jetzt nur aus dem Finow-
kanal bekannt, wo sie laut „Brehm" Seh orn im Jahre 1911
entdeckte. Der zugehörige Polyp ist seit 1908 durch Goette
bekannt. Was nun unsere Frankfurter Meduse anbetrifft, so
dürfte es sich wohl um eine neue Art handeln, da sie, soweit
ich feststellen und vergleichen konnte, ziemlich stark von
ryderi abweicht. Vor allem durch die Zahl der Tentakeln,
die bei ryderi 8, bei der Frankfurter Art aber 16 beträgt;
auch ist der Habitus voneinander abweichend. Ein glück-
licher Zufall gestattet es sogar, den zugehörigen Polypen
zu beobachten. Dieser sitzt an einer Ludwigia, der bekannten
Aquarienpflanze, die nach Alt die „Hauspflanze" des Polypen
sein soll. Doch halte ich die Annahme, daß der Polyp durch
Futtertiere — Daphnien — eingeschleppt ist, für wahrschein-
licher und natürlicher, zumal die Pflanzen und der Boden-
grund des Beckens nach Aussage seit drei Jahren nicht ge-
wechselt wurden. Günther Hecht.
Inhalt: St. M ohorovüic, Die Folgerungen der allgemeinen Relativitätstheorie und die Newtonsche Physik. S. 737.
M. Möbius, Zur Metamorphose der Pflanzen. S. 739. J. Reinke, Besitzt ein Vogel Einsicht in kausale Zusammen-
hängef (l Abb.) S. 742. — Einzelberichte: Carre, Wie eine Infektionskrankheit entsteht. S. 745. P. Martell, Zur
Stammesgeschichie des Hausrindes. S. 745. Ernst, Zur Frage der Schutzimpfung bei Maul- und Klauenseuche. S. 746.
R. Willstätter und E. Waldschmidt-Leitz, Seifen mit ringförmigen Kohlenstoffsystemen. S. 746. A. Müller,
Die Konstitution des Reuniols. S. 747. Dietrich, Die Raubseeschw.ilbe, ein verschwundener Brutvogel Deutschlands.
S. 747. — Bücherbesprechungen; G. Tammann, Lehrbuch der Metallographie. S. 748. H.Fischer, Pflanzenbau
und Kohlensäure. S. 749. Gehes Arzneipflanzen-Taschenbuch. S. 749. Astronomisches Handbuch. S. 749. W. Leh-
mann, Energie und Entropie. S. 750. ■ A. Wegener, Die Entstehung der Mondkrater. S. 75°' E. Mach, Die
Prinzipien der physikalischen Optik. S. 750. M. Loewit, Infektion und Immunität. S. 750. F. Steinriede, An-
leitung zur raineralogischen Bodenanalyse. S. 751. H. Potonie, Die Steinkohle, ihr Wesen und Werden. S. 751.
F. Kohlrausch, Lehrbuch der praktischen Physik. S. 751. M. Centnerszwer, Das Radium und. die Radio-
aktivität. S. 752. R. Philipp, Die Bedeutung der Geologie für Handel, Industrie und Technik, Landwirtschaft und
Hygiene. S. 752. — Anregungen und Antworten; Eine neue deutsche Süßwassermeduse (Microhydra spec). S. 752.
— Titel und Register zu N. F. Bd. 20.
Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
MBL/WHOI LIBRARY
UH läNL G
k.