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Full text of "Naturwissenschaftliche Wochenschrift"

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~^ 


Naturwissenschaftliche 
Wochenschrift 


BEGRÜNDET  VON   H.  POTONlfi 

HERAUSGEGEBEN 
VON 

Prof.  Dr  H.  MIEHE 

IN  BERLIN 


NEUE  FOLGE.    20.  BAND 

(DER  GANZEN  REIHE  36.  BAND) 

JANUAR  —  DEZEMBER  1921 

MIT  112  ABBILDUNGEN  IM  TEXT 


JENA 
VERLAG  VON  GUSTAV  FISCHER 
1921 


Alle   Rechte  vorbehalten. 


Register. 


I.  Größere  Originalartikel 
und  Sammelberlchte. 

Alvcrdes,  F.,  Erblichkeit  und  Nicht- 
Erblichkeit.   377. 

Armbruster ,  L.,  Neue  Urkunden  über 
das  älteste  Haustier.   193. 

Balss,  H.,  Über  Stridulationsorganc  bei 
dekapoden  Crustaceen.  697. 

Berger,  A.,  Über  die  Geschichte  und 
die  neuesten  Fortschritte  der  Kenntnis 
der  Kakteen.    353. 

Czepa,  A.,  Die  Reizwirkung  der  Rönt- 
gen- und  Radiumstrablen.   657. 

Dahl,  Fr.,  Täuschende  Ähnlichkeit  mit 
Bienen,  Wespen  und  Ameisen.  70. 

Dahms,  P.,  Über  Pflanzenabzüge  und 
Weingeist  zur  OrdenszeiL   177. 

Eichinger,  A. ,  Die  Entstehung  von 
Roterden  und  Laterit.  409. 

E  n  g  e  1  h  a  r  d  t ,  V.,  Dante  und  das  Welt- 
bild des  Mittelalters.  529. 

Färber,  Ed.,  Das  Kontinuitätsprinzip  in 
der  Chemie.   705. 

Fricke,  H.,  W'ind  und  Wetter  als  Feld- 
wirkungen der  Schwerkraft.  97. 

Fr  öl  ich,  W. ,  Der  Segelflug  und  ver- 
wandte Bewegungen  in  Luft  und  Was- 
ser.   197. 

Galant,  S.,  Die  .xerotherme  Ameiseninsel 
Saint  TriphoQ.  258. 

Garns,  H. ,  Übersicht  der  organogenen 
Sedimente  nach  biologischen  Gesichts- 
punkten. 569. 

Garns,  H. ,  Zur  Ameisengeographie  von 
Mitteleuropa.  4 14. 

Gicklhorn,  J.,  Notiz  über  Stentur 
igneus  als  Ursache  auffallender  Wasser- 
verfärbimg. 382. 

Goebel,  K. ,  Pöanzcn  als  Wetter- 
propheten.  129. 

Greinacher,  H. ,  Eine  umkehrbare 
Ventilröhre.  381. 

Grimpe,  G.,  Chelifer  als  Schmarotzer. 
628. 

Gumbel,  E.  J.,  Spekulatives  aber  die 
Endlichkeit  der  Welt.  85. 

Halbfafl,  W.,  Kreislaufprozeß  des  Was- 
sers. 86. 

Hansen  ,  A.,  Zur  Metamorphosenlehre.   7. 

Heikertinger,  Fr,  Täuschende 
Ähnlichkeit  mit  Wespen  und  Bienen 
(Sphekoidie).  589. 

Heikertinger,  Fr.,  Täuschende  Ähn- 
lichkeit mit  .Ameisen  (Myrmekoidie).  709. 


Heller,  H. ,  Wie  orientiert  sich  die 
Ameise."  44g. 

H  e  1 1  e  r ,  H  ,  Wilhelm  Ustwalds  Forschun- 
gen zur  Farbenlehre.    425. 

Hennig,  Edw. ,  Neue  Ansichten  von 
der  Entstehung  des  Erdbildes.  681. 

Hcrfs,  A. ,  Die  Haut  der  Schnecken  in 
ihrer  Abhängigkeit  von  der  Lebens- 
weise.  601. 

Hoppe,  W. ,  Aufbau  und  geologische 
Geschichte  der  Sinaihalbinsel.  209. 

Kästner,  M. ,  Bemerkungen  zur  Ent- 
stehtmg  und  Besiedlung  des  Trocken- 
torfs.   33. 

Keller,  R.,  Elektromikroskopie.  665. 

Killermann,  S.,  Zur  Geschichte  der 
Einführung  der  Papageien.   545. 

Klingelhöffer,  W. ,  Der  Farbensinn 
des  Menschen  und  seine  angeborenen 
Störungen.  321. 

Kobel,  F.,  Problem  der  Wirlswahl  bei 
den  parasitischen  Pilzen.    113. 

Kranich feld,  H. ,  Gemeinschaftdien- 
liche Zweckmäßigkeit,  die  Lösung  des 
Problems  der  Dysteleologien.  513. 

K  r  a  n  i  c  h  f  e  1  d  ,  H. ,  Eine  neue  Unter- 
suchung der  fremddienlichen  Zweck- 
mäßigkeit. 617. 

Krenkel,  E.,  Moorbildungen  im  tropi- 
schen Afrika.  Sl. 

Kuhn,  K.,  Die  Ausbreitung  der  elektri- 
schen Wellen  und  die  Konstitution  der 
Atmosphäre.  8. 

Kuhn,  K.,  Neuere  Erfolge  von  Max- 
wells  Theorie  der  Elektrizität.   585. 

Kuhn,  O. ,  Zur  Biologie  unserer  ein- 
heimischen Egel.  473. 

Küster,  E.,  Das  Typhetuni  in  der  frühen 
deutschen  Graphik.  49. 

Lenk,  E.,    Vom  Leben    zum  Tode.   726. 

Liek,  E. ,  Über  Altem  und  Verjüngung. 
l6l. 

Lilienthal,  G.,  Über  den  Segelflug  der 
Vögel  und  das  Fliegen  der  Fische.  64I. 

Ltndinger,  L.,  Ein  neuer  Weg  zur 
Schädlingsforschung.  255. 

Martienssen,  O. ,  Gesetz  und  Zufall 
in  der  Natur.   505. 

Mar  Zell,  H.,  Der  Holunder  (Sambucus 
nigra)    in  der  Volkskunde.    133. 

Mertens.  R.,  Über  die  Funktion  des 
Schwanzes  der  Wirbeltiere.  721. 

Meyer,  A.,  Empirie  und  Wirklichkeit. 
361. 

Mo  h  oro  V  icii  ,    St.,     Die    Folgerungen 


der  aUgemcinen  Relativitätstheorie  und 

die  Newtonsche  Physik.  737. 
Möbius,    M.,     Zur    Metamorphose    der 

Pflanzen.   739. 
Möller,    W. ,    Der    hypothetische  Welt- 

älher.  577. 
N  i  c  k  e  1 ,  G.,  Äther  und  Kelativitätstheorie. 

430- 

Nölke,  Fr.,  Über  den  Kreislaufprozeß 
des  Wassers.  310. 

Ulbricht,  K.,   Dauer  der  Eiszeit.  229. 

Olbricht,  K.,  Gedanken  über  die  Ent- 
wicklung der  menschlichen  Kultur  usw. 
476. 

Passarge,  H.,  Die  Birotationstheorie. 
118. 

Potonie,  R. ,  Zur  Bildung  der  Braun- 
kohlenflöze und  Ökologisches  über  den 
Braunkohlenwald.  225. 

Potonif,  R.,  Paläoklimatologisches  im 
Lichte  der  Paläobotanik.  382. 

Pratje,.\.,  Das  Leuchten  der  Tiere.   433. 

Prell,  H. ,  Die  Grundtypen  der  gesetz- 
mäßigen Vererbung.  289. 

Radovanovitch,  Was  ist  die  Zeit- 
669. 

Rautber,  M.,  Deszendenzprobleme,  er- 
örtert   an    den    Steinheimer    Planorben. 

US- 
Reiche,  K.,   Eine  uralte  Kochsalzgewin- 
nung in  Mexico.  498. 
R  e  i  n  k  e ,    J.,    Besitzt    ein  Vogel    Einsicht 

in  kausale  Zusammenhänge-  742. 
Schmidt,    A,    Zur    Wünschelrutenfrage. 

328- 
Scholl,    J. ,      Einsteins     Weltbild     eine 

Zablenüktion?   18 1. 
Schönherr,  Br.,  Lorentz-Einstein.   I. 
Schuster,  J.,  Hundert  Jahre  Phylopalä- 

ontologie  in  Deutschland.  305. 
Schwartz,  M.,    Was  ist  Pflanzenschutz  J 

532- 

Stromer,  E.,  Die  Rückbildung  der  Hüft- 
beine bei  Seekühen.  4 II. 

Termer,  Fr.,  Kakao  und  Schokolade 
bei  den  alten  Mexicanern  und  anderen 
mittelamerikanischen  Völkern.  65. 

Tischner,  Homöopathie  und  moderne 
Biologie.  625. 

Vierhapper,  Fr.,  Eine  neue  Einteilung 
der  Pflanzengesellschaften.  265,  281. 

Vogtherr,  K. ,  Über  die  kosmischen 
Bewegungen  des  .\thers.  393. 

Voß,  H.,  Die  künstliche  Parthenogenese 
de§  Froscheies,  3>6, 


3^^4t; 


IV 


Register. 


Weber,  Fr.,  Pflanze  und  Elektrizität. 
241,  249. 

Wiei3mann,  H.,  Die  biologisclien  Vor- 
gänge im  Boden.  489. 

Wilhelmi,  J.,  Zur  Ausgestaltung  der 
Schädlingsbekämpfung.  312. 

Will  er,  A. ,  Aus  dem  Stoffhaushalt 
unserer  Gewässer.   17. 

Willer,  A.,    Neues  über  Maränen.  561. 

Winkler,  H. ,  Christian  Gottfried  Nees 
von  Esenbeck  als  Naturforscher  und 
Mensch.  337. 

Zache,  E. ,  Die  chemischen  Nieder- 
schläge   des    norddeutschen   Diluviums. 

457- 
Zimmermann,    R.,     Vorkommen    des 
Ziesels  in  Sachsen.  102. 


II.   Einzelberichte. 

A.  Allgemeines,  Biologie, 

Zoologie,  Anatomie, 

Vererbungslehre. 

Aichel,  O.,    Kiefer-  und  Zahnwachstum 

usw.  552. 
Ariens-Kappers,    C.  U.,  Weshalb  ist 

die  Hirnrinde  gefaltet  f  iio. 
Barrows,  A.,  In  Stein  bohrende  Assclo. 

389- 

Baumann,  H.,  Anatomie  der  Tardi- 
graden.  671. 

Bro  wer,  G.  A.  und  V  erwey ,  J.,  Vogel- 
warte Noordwijk  aan  Zee.   106. 

Coccidium  bigeminum  bei  Füchsen.  304. 

D  e  c  o  p  p  e  t ,  M.,  Maikäferproblem  in  der 
Schweiz.   299. 

Eggeling,  H.  V.,  Inwieweit  ist  der  Wurm- 
fortsatz am  menschlichen  Blinddarm  ein 
rudimentäres  Gebilde?  J02. 

Fehlinger,  H. ,  Das  Carnegie-Institut 
zu  Washington.   12. 

Floericke,  K.,   GewöUuntersuchungen. 

539- 

Friedenthal,  H.,  Bildung  der  mensch- 
lichen Geschlechtszellen.   465. 

Goldschmidt,  R. ,  Die  quantitative 
Grundlage  von  Vererbung  und  Artbil- 
dung. 331. 

Grote,  H.,  Ornis  Rufllands.  523. 

Henning,  H.,  Farbige  Ölkugeln  im 
Sauropsidenauge.  692. 

Hesse,  Einfluß  des  Untergrundes  auf 
das  Gedeihen  des  Rehes.  639. 

Hermaphroditismus  bei  verschiedenge- 
schlechtlichen   Zwillingen    des    Rindes. 

233- 

Holmgren,  N.,  Parietalorgane  und 
ihre  Innervation  bei  Fischen.    346. 

Holmgren,  N. ,  Nervus  terminalis  bei 
Knochenfischen.  348. 

Jegen,  G.,  Biologie  und  Anatomie  eini- 
ger Enchylräiden.  57. 

Karstedt,  Blastogener  Hermaphroditis- 
mus. 152. 

Key,  W.  E.,  Erbveranlagung  und  soziale 
Tüchtigkeit.  349. 

Klaatsch,  H.,  Ausbildung  der  mensch- 
lichen GliedmaSen.  370. 

Komarek,    Höhlenfauna.  690. 

Kunze,  K.,  Zentralnervensystem  der 
Weinbergschnecke.  676. 

Latzin,  H.,  Möglichkeiten  der  theore- 
tischen Biologie.    453. 


Mackens  en,  C.  v..  Künstliche  Beleuch- 
tung der  Hühnerställe.   717. 

Martell,  P.,  Stammesgeschichte  des 
Hausrindes.   745. 

Math  er,  T. ,  Naturschutz  in  den  Ver- 
einigten Staaten,  55. 

Naturschutz  in  Holland.  3S8. 

Naumann,  Raubseeschwalbe.   747. 

Pax,  F.,  Schlesiens  Stellung  in  tiergeo- 
graphischer Hinsicht.  644. 

Plath,  O.  E. ,  Blutsaugende  Fliegen- 
larven. 334. 

Prell,  Problem  der  Unbefruchtbarkeit. 
440. 

Schömmer,  Geschlechtsbestimmung  im 
Hühnerei.  184. 

Schrader,  Geschlechtsbestimmung  bei 
den  Mottenläusen,  go. 

Schulze,  P.,  Deutsche  Hydren.  398. 

Schulze,  P.,  Cordylophora  lacustris. 
651. 

Schuster,  W.,  Nahrung  der  am  Wasser 
lebenden  Vögel.   109. 

Seyfarth,  C,  Langerhanssche  Inseln. 
716. 

Spemann,  H.  und  Falkenberg,  H., 
Zum  Determinationsproblem.  369. 

Steinhardt,  Elefant  des  Kaokofeldes. 
612. 

Study,  Für  und  wider  Darwin.   555. 

Verne,  J. ,  Die  Natur  des  roten  Farb- 
stoffes der  Crustaceen.   55- 

Versluys,J.,  Limulus,  eine  zum  Wasser- 
leben übergegangene  Arachnoide  ?    loö. 

Volz,  W.,  Urwald  als  Lebensraum.  202. 

Wachs,  H.,  Restitution  des  Auges  nach 
E.\stirpation  von  Retina  und  Linse  bei 
Tritonen.   123. 

Weigold,  H.,  Wanderungen  der  See- 
schwalben. 371. 

Wille,  J.,  Deutsche  Schabe.  319. 

Zeleny,  Rückbildung  der  Augen  bei 
Drosophila.  648. 

Zimmermann,  R. ,  Ende  des  Wisents. 
107,   717. 

Zimmermann,  R.,  Kurzohrige  Erdmaus, 
Microtus  subterraneus.  223. 


B.   Botanik,   Bakteriologie, 
Landwirtschaft. 

Andre,  Ursachen  des  periodischen  Dik- 
kenwachstums  des  Stammes.    153. 

Barlot,  J.,  Farbreaktionen  zur  Unter- 
scheidung der  Pilze.   154. 

Baumgärtel,  O.,  Problem  der  Zyano- 
phyzeenzelle.   loS. 

Brudeck,  M.  J.,  Desinfektionskraft  von 
Formaldehydpräparat  K.  p.  und  Kresol- 
präparat  Nr.  72.  350. 

Bracht,  E. ,  Surapfzypressenwald  in 
Florida.   124. 

Bürge  ff,  H.,  Sexualität  und  Parasitis- 
mus. 204. 

Burgeff,  H.,  Eigenartige  Form  des 
Parasitismus.   137. 

Geyr  v.  Schweppenburg,  Pflanzen- 
geographie der  inneren  Sahara.   318. 

Gothan,  W.,  Weiteres  über  die  „ältesten 
Landpflanzea".  39g. 

Heinricher,  E.,  Mistel  und  Birnbaum. 
28. 

Heinricher,  Bestäubung  der  Mistel. 
232. 

Haberlandt,  G. ,  Wundhormone  als 
Erreger  von  Zellteilungen.  592. 


Kühl,  H. ,  Bekämpfung  von  Pflanzen 
Schädlingen  mit  kolloidalem  Schwefel 
636. 

Melchior,  H. ,    Saugorgane  der  Mistel 

554- 
Molisch,  H.,  Aschenbild  und   Pflanzen 

Verwandtschaft.  234. 
Murbeck,  Sv. ,    Biologie    der    Wüsten 

pflanzen.  220. 
Riede,  ,,Hydropoten"  bei  Wasserpflanzen 

535- 
Schneider   und  Kochmann,    Hirten 

täschel  in  der  Medizin,    230. 
Schulz,    A. ,    Ein    vergessener  Botanike: 

des   16.  Jahrhunderts.  417. 
Simon,    S.  V.,    Stoffstauung    und    Neu 

bildungsvorgänge  in  isolierten  Blättern 

1S3. 
Skottsberg,     C. ,    Botanischer    Garten 

mit  Naturschutzgebiet.  691. 
Tröndle,  Aufnahme  von  Stoffen  in  die 

Zelle,   158. 
Wettstein,  F.  v.,  Reinkultur  der  Algen. 

6S9. 
Wettstein,  ^.  v,,  Künstliche   Partheno- 
genese bei  Vaucheria,  467. 
W  i  s  s  e  1  i n  g  h  ,  C,  v.,  Untersuchungen  über 

Osmose.  136. 


C.    Physiologie,  Medizin 

(einschl.  Veterinärmedizin), 

Psychologie,  Hygiene. 

Ankylostomum  in  Tierbeständen.  304. 

Biedermann,  W. ,  Wesen  und  Ent- 
stehung diastatischer  Fermente.  221. 

Carre,  Wie  eine  Infektionskrankheit  ent- 
steht. 745. 

Domo,  Einflüsse  des  Klimas  auf  die 
Gesundheit.   153. 

Ernst,  Schutzimpfung  bei  Maul-  und 
Klauenseuche.  746. 

Fox,  H.,  Erkrankung  der  Pankrfasdrüse 
bei  Tieren.  304. 

Gildemeister,  Erforschung  der  mensch- 
lichen Hörgrenze.  631. 

Gley,  Lehre  von  der  inneren  Sekretion. 

75- 
Kunze,   Die  Empfindung  der  Richtung, 

aus  der  der  Schall  kommt.   lo. 
Langer,  Chemotherapeutische  Leistung. 

693- 

L  e  u  p  o  1  d  ,  Beziehungen  zwischen  Neben- 
nieren und  Keimdrüsen.  419. 

Nervöse  Erscheinungen  bei  Tieren  infolge 
von  Eingeweidewürmern.  z6o. 

Pferderäude,  Übergang  auf  den  Menschen. 
704. 

Ratten  als  Überträger  der  Trichophytie 
beim  Pferde.   183. 

Reuter,  Spirochätenkrankheit  beiVögeln. 

155- 

S  z  ä  s  z  ,  Technik  des  Geflügelimpfens.  200. 

Zwaardemaker,  Physiologische  Wirk- 
samkeit des  Kaliums.  713. 


D.    Geologie,    Hydrographie, 
Paläontologie, 

Bärtling,  R. ,  Die  Endmoränen  der 
Hauptvereisung  zwischen  Teutoburger 
Wald  und  Rheinischen  Schiefergebirge. 

59- 

liergt,   W. ,    Das  Muttergestein  des  Ser- 


Kegisler. 


pentias  im  sächsischen  üranulitgcbirge. 

370- 

Brauns,  R.,  Meteorstein  von  Forsbach. 
276. 

Cloos,  R.,  Geologie  der  Schollen  im 
schlesiscben  Tiefengestein.   156. 

Cloos,  H.,  Mechanismus  tiefvulkanischer 
Vorgänge.  701. 

Feh  linger ,  H.,  Bergbau  in  Me.xiko.  319. 

GletscherbeweguDg  in  der  Schweiz  im 
Jahre  1919.    56. 

Haenel,  H.,  Warum  schlägt  die  Wün- 
schelrute aus?    II. 

Heim,  A.,  Deckentheorie  an  der  Grenze 
von  West-  und  Ostalpen.  204. 

Hilber,  V.,  Die  geologische  Stellung 
des  Faläolithikums.    54. 

Hohen  stein,  V.,  Die  Löß-  und  Schwarz- 
erdeböden Rheinhessens.  58. 

Hohenstein,  V.,  Schlesische  Schwarz- 
erde. 594. 

Jäger,  Fr.,  Die  Austrocknung  Südafri- 
kas. 52. 

KoSmat,  Geologische  Bedeutung  der 
Schweremessung.   453. 

Krenkcl,  G. ,  Beriebt  über  eine  For- 
schungsexpedition in  Deutsch-Ostafrika. 

53- 

Mügge,  O. ,  Petrographie  des  älteren 
Paläozoikums  zwischen  Albungen  und 
Witzenhausen.  86. 

zur  Mühlen,  L.  v.,  Magnesitbergbau 
am  Galgenberg  bei  Zobten.  333. 

zur  Mühlen,  L.  v..  Die  baltischen  Öl- 
schiefer. S50. 

Neynaber,  K.,  Wirkung  von  Spreng- 
granaten und  Minen  auf  verschiedene 
Bodenarten.   302. 

Pfizenmeyer,  Mammutvorkommen  im 
Jakutsgebiet.   732. 

Philipp,  H.,  Eine  neue  Theorie  der 
Gletscherbewegung.  274. 

Range,  P.,  Geologie  und  Mineralschätze 
Angelas.  301. 

Schmitz,  G.,  Deutsche  Olschieferlager. 
452. 

Schneider  höhn,  H.,  Asphaltgänge  im 
Fischflußsandstein  im  Süden  von  Süd- 
westafrika. 89. 

Stutzer,  O. ,  Geologie  der  oligozänen 
Pechkohlenflöze  Oberbayerns.  332. 

Werth,  E. ,  Dauer  der  Spät-  und  Post- 
glazialzeit. 29. 

Wüst,  G.,  Verdunstung  auf  dem  Meere. 
58- 


E.    Geographie. 

Klute,  F.,  Geographie  des  Kilima- 
ndscharogebiets. 235. 

Mager,  F.,  Kurland.  348. 

Rein,  G.  K.,  Abessinien.  673. 

Sapper,  K. ,  Innertropische  Akklimati- 
sation.  595. 

Skottsberg,  C. ,  Die  Juan-Fernandez- 
(Robinson-)lnseln.   596. 

Wi  tiaczil ,  E.,  Die  Grenzlage  Wiens.  11. 


F.  Völkerkunde,  Anthropologie, 
Vorgeschichte. 

Baker,    F.    C,     Eiszeitliche    Menschen- 
knochen in  Nordamerika.   598. 
Davenport,   C.  B.    und   Love,  A.  G., 


Körpeimängel  in  den  Vereinigten  Staa- 
!      tcn.   157. 

McDougall,  W. ,  Psychische  Veran- 
lagung und  Volkscharakter.  405. 

C  o  h  n ,  L. ,  Zweck  des  Tragens  von 
Nasen-,  Lippen-  und  Wangenpilöcken. 
13s-  ' 

Fischer,  E.,  Variieren  der  morphologi- 
schen    und    physiologischen    Merkmale  ' 
der  Menschen.    41Ö. 

Hilzheimer,  Ursprung  des  Menschen- 
geschlechts.  123. 

Klaatsch,  Die  Entstehung  der  artiku- 
lierten Sprache.    418. 

K  r  a  u  s  e ,  G  r.,  Ethnologie  der  Balier.  610. 

Martin,  R.,  Bedeutung  einer  anthropo- 
logischen Untersuchung  der  Jugend.  109. 

Martin,  R.,  Skelettkultur.  650. 

Montelius,      Absolute    Datierung     der 
i      älteren  und  jüngeren  Steinzeit.   170. 

Smith,  E.  VV.  und  Dale,  A.  M.,  Die 
Ilavölker  Nord-Rhodesiens.    537. 

Teßmann,  G.,  Weltanschauung  der  Na-  1 
turvölker.  63S.  ' 

Verworn,  M. ,  Bonnet,  R. ,  Stein- 
mann, G.,  Die  diluvialen  Skclettfundc 
von  Oberkassel  bei  Bonn.  402.  | 

Werth,  Altsteinzeitliche  Funde  im  Sinai- 
gebietc.  275, 


G.    Physik,  Meteorologie, 
Astronomie. 

A  b  b  o  t ,  Helligkeitsänderungen  der  Sonne. 
420. 

Bergstrand,  Entfernung  des  großen 
Orionnebels.  90. 

Dreis,  J.,  Wolkenstruktur  und  Wolken- 
flächen.  15. 

Fowler,  W.,    Doppelstern    vom    Algol- 
typus.   537. 
!  Gehlhoff,  G.  und  Schering,  H.,  Ab- 
sorptionsmessungen in  Luft.   172. 

Graff,  Hauptebene  der  Milchstraße.  446. 

G  u  ra  b  e  1  .Wahrscheinlichkeitstheoretische 
Betrachtungen  zur  Endlichkeit  der  Welt. 

731- 

Jahreszeitlypen.    186. 

John,  St.,  Keine  Bestätigung  der  Rela- 
tivitätstheorie.   420. 

Kapteyn  und  van  Rhijn,  Gesetz  der 
Verteilung  der  Fixsterne.  78. 

Lenard,   Gegen   die   Relativitätstheorie. 

S5I- 
Ludendorff  und  Heiskanen,  Radial- 
I      geschwindigkeit       der      veränderlichen 
!      Sterne.  551. 

j  Meyermann,  Ring  des  Saturn.  421. 
;  M  i  1 1  i  k  a  n  ,  Ausdehnung  des  ultravioletten 
!      Spektrums.    79. 
O  1 1  m  a  n  n  s ,  Mechanik  der  physikalischen 

Anziehungserscheinungen.  231. 
Pease  und  Anderson,    Ein    Gasstern. 

446. 
Pickering,    Durchmesserraessung    eines 

Fixsterns.  637. 
Ramsauer,  C.,  Lichtelektrische  Wirkung 

unterteilter  Lichtquanten.  611. 
Regener,  E.,    Unterschreitung  des  Ele- 

mentarquantums.   95. 
Rutherford,  Zerlegung  von  Elementen 

durch  «-Strahlen.  728. 
Shapley,    Neue  Forschungen    auf    dem 

Gebiete  der  Stellarastronomie.   536. 
Slipher,      Spiralnebel     mit     auffallend 
großen  Geschwindigkeiten.  421. 


Stcbbins,   Algol.   552. 

Tietgen,    H.,     Tönen  der  Telegraphen- 

und  Fernsprcchleitungen.  57. 
Tubandt,   C,  Die  Eleklrizitätsleitung  in 

festen  kristallisierten  Stoffen.  387. 
Walter,  B. ,    Solarisationserscheinungen. 

155- 

We  th,  M.,  Der  positive  Spitzenstrom.  121. 

Wiechert,  .Äther  im  Weltbild  der  Phy- 
sik. 037. 

Zecher,  G.,  Dopplereffekt  im  Röntgen- 
spektrum. 260. 


H.    Chemie,    Mineralogie, 
Kristallographie. 

Aminoff,  G. ,  s.   Flink. 

Asch  an,  O.,  Neue  Bestandteile  des  Ko- 
lophoniums. 647- 

Auerbach,  R.,  Polychromie  des  kollo- 
idalen Schwefels.  92. 

Bagster,  L.  S.,  s.  Dehn. 

Bamberger,  M.  und  Grengg,  R., 
Farben  von  Mineralien  bei  tiefen  Tem- 
peraturen. 317. 

Böggild,  O.  B.,    Neue  Mineralien.  316. 

Bragg,  W.  L,,  Anordnung  der  Atome. 
in  Kristallen.   608. 

Bruhns,  G.,  Hilfsmittel  für  Ablesen  an 
Büretten.  452. 

Bürki  Fr.,  und  Schaaf ,  F.,  Zerfall  des 
Hydroperoxyds  durch   Basen.  715. 

C 1  a  s  s  e  n ,  A.  und  N  e  y  ,  O.,  Atomgewicht 
des  Wismuts.  299. 

Cooling,  G,  s.  Dehn. 

Crommelin,  Elektrischer  Widerstand 
der    Metalle    bei    tiefen  Temperaturen. 

55°- 

Dehn,  M.,  Theorie  chemischer  Um- 
setzungen.  29S. 

Dennison,  D.  M. ,  Kristallstruktur  des 
Eises.   582. 

Dhar,  N.  R.  und  Ch  att erj  i,  G.,  Pepti- 
sation.  646. 

Dittler,  E. ,  Experimentelle  Versuche 
zur  Bildung  silikatischer  Nickelerze.  173. 

Eitel,  W.,  Zinkblende  im  Basalt  des 
Bühls  bei  Kassel.   104. 

Fischer, Fr.  undSchrader,  H.,  Her- 
kunft des  Benzols  bei  der  Leuchtgas- 
gewinnung. 93. 

Flink,  G.,  Neue  Mineralien.  633. 

Gibbs,  W.,  Neue  Form  der  Phasen- 
regel. 715. 

Groh,  J.  und  Hevesy,  G.  v.,  Selbst- 
diffusionsgescliwindigkeit  des  geschmol- 
zenen Bleis.   201. 

Haller,  R.,  Hydroperoxyd  als  Lösungs- 
mittel 11.  371. 

Hatschek,  E,  Abnorme  Liesegangsche 
Schichtungen.  92. 

Heß,  K.,   Aufbau  der  Zellulose.  467. 

Hieber,  W.,  Methode  zur  Bestimmung 
allelotroper  Gleichgewichte.    672. 

Hoff  mann,  Radioaktivität  aller  Ele- 
mente.  139. 

Hönigschmidt,  O.  undBirkenbach, 
Atomgewicht    des  Wismut.    56. 

Hönigschmid,  O.  und  Dir  ken  bac  h  , 
L.,   Atomgewicht  des  Berylliums.   567. 

Hüll,  A.  V/.,  Röntgenstrahlenanalyse  der 
Kristallstruktur  von  Metallen.   58 1. 

Hüll,  A.  W.,  Kristallstruktur  des  Cal- 
ciums. 671. 

Kossei,  A.  und  Giese,  G. ,  Farbstoff 
des  grünen  Eiters.  33 1. 


IV 


Register. 


Weber,  Fr.,  Pflanze  und  Elektrizität. 
241,  249. 

Wießmann,  H.,  Die  biologischen  Vor- 
gänge im  Boden.  489. 

Wilhelmi,  J.,  Zur  Ausgestaltung  der 
Schädlingsbekämpfung.  312. 

Will  er,  A. ,  Aus  dem  Stoff  haushält 
unserer  Gewässer.   17. 

Willer,  A. ,    Neues  über  Maränen.  561. 

Winkler,  H. ,  Christian  Gottfried  Nees 
von  Esenbeck  als  Naturforscher  und 
Mensch.  337. 

Zache,  E. ,  Die  chemischen  Nieder- 
schläge   des   norddeutschen  Diluviums. 

457- 
Zimmermann,    R.,     Vorkommen    des 
Ziesels  in  Sachsen.   102. 


II.   Einzelberichte. 

A.  Allgemeines,  Biologie, 

Zoologie,  Anatomie, 

Vererbungslehre. 

Aichel,  O.,    Kiefer-  und  Zahnveachstum 

usw.   552. 
Ariens-Kappers,    C.  U.,  Weshalb  ist 

die  Hirnrinde  gefaltet?   HO. 
Barre  WS,  A.,  In  Stein  bohrende  Asseln. 

389. 

Baumann,  H. ,  Anatomie  der  Tardi- 
graden.  671. 

Bro  wer,  G.  A.  und  Ve  rwey ,  J.,  Vogel- 
warte Noordwijk  aan  Zee.   106. 

Coccidium  bigeminum  bei  Füchsen.  304. 

Decoppet,  M.,  Maikäferproblem  in  der 
Schweiz.  299. 

Eggeling  ,  H.  V.,  Inwieweit  ist  der  Wurm- 
fortsatz am  menschlichen  Blinddarm  ein 
rudimentäres  Gebilde?   702. 

Fehlinger,  H. ,  Das  Carnegie-Institut 
zu  Washington.   12. 

Floericke,  K.,   Gewölluntcrsuchungen. 

539- 

Friedenthal,  H.,  Bildung  der  mensch- 
lichen Geschlechtszellen.   465. 

Goldschmidt,  R. ,  Die  quantitative 
Grundlage    von  Vererbung    und  Artbil- 

duDg.  331- 

Grote,  H.,  Ornis  Rußlands.  523. 

Henning,  H.,  Farbige  Olkugeln  im 
Sauropsidenauge.  692. 

Hesse,  Einfluß  des  Untergrundes  auf 
das  Gedeihen  des  Rehes.  639. 

Hermaphroditismus  bei  verschiedenge- 
schlechtlichen   Zwillingen    des    Rindes. 

233. 

Holmgren,  N. ,  Parietalorgane  und 
ihre  Innervation  bei  Fischen.    346. 

Holmgren,  N. ,  Nervus  terminalis  bei 
Knochenfischen.  348. 

Je  gen,  G.,  Biologie  und  Anatomie  eini- 
ger Enchyträiden.  57. 

Karstedt,  Blastogener  Hermaphroditis- 
mus. 152. 

Key,  W.  E.,  Erbveranlagung  und  soziale 
Tüchtigkeit.  349. 

Klaatsch,  H.,  Ausbildung  der  mensch- 
lichen Gliedmaßen.  370. 

Komarek,    Höhlenfauna.  690. 

Kunze,  K.,  Zentralnervensystem  der 
Weinbergschnecke.  676. 

Latzin,  II.,  Möglichkeiten  der  theore- 
tischen Biologie.    453. 


Macke nsen,  C.  v.,  Künstliche  Beleuch- 
tung der  Hühnerställe.   717. 

Mar  teil,  P. ,  Stammesgeschichte  des 
Hausrindes.   745. 

Mather,  T. ,  Naturschutz  in  den  Ver- 
einigten Staaten.   55. 

Naturschutz  in  Holland.  3S8. 

Naumann,  Raubseeschwalbe.  747. 

P  a  X ,  F.,  Schlesiens  Stellung  in  tiergeo- 
graphischer Hinsicht.  644.  1 

Plath,  O.  E. ,  Blutsaugende  Fliegen- 
larven. 334. 

Prell,    Problem    der   Unbefruchtbarkeit. 

j     440- 

ISchömmer,   Geschlechtsbestimmung  im 
Hühnerei.   184. 
Schrader,   Geschlechtsbestimmung    bei 

den  Mottenläusen.  90. 
Schulze,  P.,  Deutsche  Hydren.  398. 
[Schulze,     P.,     Cordylophora    lacustris. 
j      651. 
'Schuster,  W.,  Nahrung  der  am  Wasser 

lebenden  Vögel.  109. 
Seyfarth,    C,    Langerhanssche    Inseln. 

I       716- 

Spemann,  H.  und  Falkenberg,    H., 
i      Zum  Determinationsproblem.  369. 
jSteinhardt,    Elefant    des  Kaokofeldes. 
I      612. 

Study,  Für  und  wider  Darwin.   555. 

Verne,    J. ,    Die   Natur    des  roten  Farb- 
stoffes der  Crustaceen.   SS- 
Vers  1  u  y  s ,  J.,  Limulus,  eine  zum  Wasser- 
leben übergegangene  Arachnoide  ?    106. 

V  o  I  z ,  W.,  Urwald  als  Lebensraum.  202. 

Wachs,  H.,  Restitution  des  Auges  nach 
E.xstirpation  von  Retina  und  Linse  bei 
Tritonen.    123. 

Weigold,  H.,  Wanderungen  der  See- 
schwalben. 371. 

Wille,  J.,  Deutsche  Schabe.  319. 

Zeleny,  Rückbildung  der  Augen  bei 
Drosophila.  648. 

Zimmermann,  R. ,  Ende  des  Wisents. 
107,  717. 

Zimmermann, R.,  Kurzohrige  Erdmaus, 
Microtus  subterraneus.  223. 


B.   Botanik,   Bakteriologie, 
Landwirtschaft. 

Andre,  Ursachen  des  periodischen  Dik- 
kenwachstums  des  Stammes.   153. 

Barlot,  J.,  Farbreaktionen  zur  Unter- 
scheidung der  Pilze.   154. 

Baumgärtel,  O.,  Problem  der  Zyano- 
phyzeenzelle.   108. 

Brudeck,  M.  J.,  Desinfektionskraft  von 
Formaldehydpräparat  K.  p.  und  Kresol- 
präparat  Nr.  72.  350. 

Bracht,  E. ,  Sumpfzypressenwald  in 
Florida.   124. 

Burgeff,  H.,  Sexualität  und  Parasitis- 
mus. 204. 

Burgeff,  H. ,  Eigenartige  Form  des 
Parasitismus.   137. 

Geyrv.  Schweppenburg,  Pflanzen- 
geographie der  inneren  Sahara.   318. 

Gothan,  W.,  Weiteres  über  die  „ältesten 
Landpflanzen".  399. 

Heinricher,  E.,  Mistel  und  Birnbaum. 
28. 

Heinricher,  Bestäubung  der  Mistel. 
232. 

Haberlandt,  G. ,  Wundhormone  als 
Erreger  von  Zellteilungen.  592. 


Kühl,  II.,  Bekämpfung  von  Pflanzen 
Schädlingen  mit  kolloidalem  Schwefel 
636. 

Melchior,  H. ,    Saugorganc  der  Mistel 

554- 

Molisch,  II.,  Aschenbild  und  Pflanzen- 
verwandtschaft. 234. 

Murbeck,  Sv. ,  Biologie  der  Wüsten 
pflanzen.  220. 

Riede,  „Hydropotcn"  bei  Wasserpflanzen 

535- 
Schneider   und  Koehmann,    Hirten 

täschel  in  der  Medizin.    230. 
Schulz,    A. ,    Ein    vergessener  Botanike 

des   16.  Jahrhunderts.  417. 
Simon,    S.  V.,    StolTstauung    und    Neu 

bildungsvorgänge  in  isolierten  Blättern 

1S3. 
Skottsberg,     C. ,    Botanischer    Garten 

mit  Naturschutzgebiet.  69 1. 
Tröndle,  Aufnahme  von  Stoffen  in  die 

Zelle.   158. 
Wettstein,  F.  v.,  Reinkultur  der  Algen. 

689. 
We  ttst  ein  ,  «J.  v..  Künstliche   Partheno- 
genese bei  Vaucheria.  467. 
W  i  s  s  e  1  i  n  g  h  ,  C.  v.,  Untersuchungen  über 

Osmose.   136. 


C.    Physiologie,  Medizin 

(einschl.  Veterinärmedizin), 

Psychologie,  Hygiene. 

Ankylostomum  in  Tierbeständen.  304. 
Biedermann,    W. ,    Wesen    und    Ent- 
stehung diastatischer  Fermente.  221. 
Carre,   Wie  eine  Infektionskrankheit  ent- 
steht. 745. 
Dorno,    Einflüsse    des    Klimas    auf   die 
Gesundheit.   153. 
'  Ernst,    Schutzimpfung    bei    Maul-    und 
Klauenseuche.  746. 
Fox,  H.,  Erkrankung  der  Pankreasdrüse 
i      bei  Tieren.  304. 

;  Gildemeister,  Erforschung  der  mensch- 
I      liehen  Hörgrenze.  63I. 
j  Gley,  Lehre  von  der  inneren  Sekretion. 

75- 
[Kunze,    Die  Empfindung   der  Richtung, 
aus  der  der  Schall  kommt.   10. 
Langer,  Chemotherapeutische  Leistung. 

!    693. 

L  e  u  p  o  1  d  ,  Beziehungen  zwischen  Neben- 
nieren und  Keimdrüsen.  419. 

Nervöse  Erscheinungen  bei  Tieren  infolge 
von  Eingeweidewürmern.  260. 

Pferderäude,  Übergang  auf  den  Menschen. 
704. 

Ratten  als  Überträger  der  Trichophytie 
beim  Pferde.   183. 

Reuter,  Spirochätenkrankheit  beiVögeln. 

155- 

S  z  ä  s  z ,  Technik  des  Geflügelimpfens.  200. 

Zwaardemaker,  Physiologische  Wirk- 
samkeit des  Kaliums.  713. 


D.    Geologie,    Hydrographie, 
Paläontologie. 

Bärtling,  R.,  Die  Endmoränen  der 
Hauptvereisung  zwischen  Teutoburgcr 
Wald  und  Rheinischen  Schiefergebirge. 

59- 

Bergt,   W.  I    Das  Muttergestein   des  Scr- 


Register. 


pcütins  im  sächsischen  Granulilgebirge. 

370- 

Brauns,  R.,  Meteorstein  von  Forsbach. 
276. 

Cloos,  R.,  Geologie  der  Schollen  im 
schlesischen  Tiefengestein.   156. 

Cloos,  H.,  Mechanismus  tiefvulkanischer 
Vorgänge.   701. 

Kehlinger  ,  H.,  Bergbau  in  Mexiko.  319. 

Gletscherbewcgung  in  der  Schweiz  im 
Jahre  1919.    56, 

Uaenel,  H.,  Warum  schlägt  die  Wün- 
schelrute aus?    II. 

Heim,  A.,  Deckentheorie  an  der  Grenze 
von  West-  und  Ostalpen.  204. 

Hilber,  V,,  Die  geologische  Stellung 
des  Paläolithikums.    54. 

Hohcnstein,V.,  Die  Löfl-  und  Schwarz- 
erdeböden Rheinhessens.  58. 

llohenstein,  V.,  Schlesische  Schwarz- 
erde. 594. 

Jäger,  Fr.,  Die  Austrocknung  Südafri- 
kas. 52. 

Koßmat,  Geologische  Bedeutung  der 
Schweremessung.    453. 

Krenkel,  G. ,  Bericht  über  eine  For- 
schungsexpedition in  Deutsch-Ostafrika. 

53- 

Mügge,  O. ,  Petrographie  des  älteren 
Paläozoikums  zwischen  Albungen  und 
Witzenhausen.  86. 

zur  Mühlen,  L.  v.,  Magnesitbergbau 
am  Galgenberg  bei  Zobten.  333. 

zur  Mühlen,  L.  v..  Die  baltischen  Öl- 
schiefer. 550. 

Neynaber,  K.,  Wirkung  von  Spreng- 
granaten und  Minen  auf  verschiedene 
Bodenarten.   302. 

Pfizenmeyer,  Mammulvorkommen  im 
Jakutsgebiet.  732. 

Philipp,  H.,  Eine  neue  Theorie  der 
Gletscherbewegung.  274. 

Range,  P.,  Geologie  und  Mineralschätze 
Angelas.  301. 

Schmitz,  G.,  Deutsche  Ölschieferlager. 
452. 

Schneider  höhn,  H.,  Asphaltgänge  im 
Fischflußsandstein  im  Süden  von  Süd- 
westafrika. 89. 

Stutzer,  O. ,  Geologie  der  oligozänen 
Pechkohlenflöze  Oberbayerns.  332. 

Werth,  E. ,  Dauer  der  Spät-  und  Post- 
glazialzeit. 29. 

Wüst,  G.,  Verdunstung  auf  dem  Meere. 
58- 


E.    Geographie. 

Klute,  F.,  Geographie  des  Kih'ma- 
ndscharogebiets.  235. 

Mager,  F.,  Kurland.  34S. 

Rein,  G.  K.,  Abessinien.  673. 

Sapper,  K. ,  Innertropische  Akklimati- 
sation. 595. 

Skottsberg,  C. ,  Die  Juan-Fernandez- 
(Robinson-)Inseln.  596. 

Witlaczil,  E.,  Die  Grenzlage  Wiens.  11. 


F.  Völkerkunde,  Anthropologie, 
Vorgeschichte. 

Baker,    F.    C,     Eiszeitliche    Menschen- 
knochen in  Nordamerika.   598. 
Davcnport,   C.  B.    und   Love,  A.  G., 


j      Körperraängel  in  den  Vereinigten  Staa- 
!      ten.   157. 

McDougall,  W. ,  Psychische  Veran- 
lagung und  Volkscharakter.  405. 

C  o  h  n ,    L. ,     Zweck     des    Tragens     von 
Nasen-,    Lippen-    und  Wangenpflöcken. 
'     _i38. 

j  Fischer,  E.,  Variieren  der  morphologi- 
schen und  physiologischen  Merkmale 
der  Menschen.    416. 

Hilz heimer,  Ursprung  des  Menschen- 
geschlechts.  123. 

Klaatsch,  Die  Entstehung  der  artiku- 
lierten Sprache.   418. 

Krause,  Gr.,  Ethnologie  der  Balier.  610. 

Martin,  R.,  Bedeutung  einer  anthropo- 
logischen Untersuchung  der  Jugend.  109. 

Martin,  R.,  Skelettkultur.  650. 

Montelius,  Absolute  Datierung  der 
älteren  und  jüngeren  Steinzeit.   170. 

Smith,  E.  W.  und  Dale,  A.  M.,  Die 
Ilavölker  Nord-Rhodesiens.    537. 

Teßmann,  G.,  Weltanschauung  der  Na- 
turvölker. 63S. 

Verworn,  M. ,  Bonnet,  R. ,  Stein- 
mann, G.,  Die  diluvialen  Skelettfundc 
von  Oberkassel  bei  Bonn.  402. 

Werth,  Altsteinzeitliche  Funde  im  Sinai- 
gebietc.  275. 


G.    Physik,  Meteorologie, 
Astronomie. 

A  b  b  o  t ,  Ilelligkeitsänderungen  der  Sonne. 

420. 
Bergstrand,     Entfernung    des    großen 

Orionnebels.  90. 
Dreis,  J.,  Wolkenstruklur  und  Wolken 
I       flächen.   15. 

IFowler,  W.,    Doppelstern    vom    Algol 
I      typus.   537. 
I  Gehlhoff ,  G.  und  Schering,  H.,  Ab 

Sorptionsmessungen  in  Luft.   172. 
Graff,  Hauptebene  der  Milchstraße.  446 
G  u  m  b  e  1 , Wahrscheinlichkeitstheoretische 

Betrachtungen  zur  Endlichkeit  der  Welt 

731- 
Jahreszeittypen.    1S6. 

John,  St.,  Keine  Bestätigung  der  Rela- 
tivitätstheorie.   420. 
Kapteyn  und  van  Rhijn,   Gesetz  der 

Verteilung  der  Fixsterne.   78. 
Lenard,    Gegen   die   Relativitätstheorie. 

SSI- 
Lude  ndorff  und  Heiskanen,  Radial- 
geschwindigkeit      der      veränderlichen 

Sterne.  551. 
Meyermann,  Ring  des  Saturn.  421. 
M  i  1 1  i  k  a  n  ,  Ausdehnung  des  ultravioletten 

Spektrums.    79. 
0 1 1  m  a  n  n  s ,  Mechanik  der  physikalischen 

Anziehungserscheinungen.  231. 
Pease  und  Anderson,    Ein    Gasstern. 

446. 
Picke  ring,    Durchmessermessuog    eines 

Fixsterns.  637. 
Ramsauer,  C,  Lichtelektrische  Wirkung 

unterteilter  Lichtquanten.  61 1. 
Regener,  E,,    Unterschreitung  des  Ele- 
mentarquantums.  95. 
Rutherford,  Zerlegung  von  Elementen 

durch  «-Strahlen.  728. 
Shapley,    Neue  Forschungen    auf    dem 

Gebiete  der  Stellarastronomie.  536. 
Slipher,      Spiralnebel     mit     auffallend 

großen  Geschwindigkeiten.  421. 


Steh  bin  s,   Algol.   ^52. 

Tietgen,    H.,     Ionen  der  Telegraphen- 

und  Fernsprcchleitungen.  57. 
Tubandt,  C,  Die  Elektrizitätsleitung  in 

festen  kristallisierten  Stoffen.  387. 
Walter,  B. ,    Solarisationserscheinungen. 

ISS- 

We  th,  M.,  Der  positive  Spitzenstrom.  121. 

Wie  eher  t,  .Äther  im  Weltbild  der  Phy- 
sik. 637. 

Zecher,  G.,  Dopplereffekt  im  Röntgen- 
spektrum. 260. 


H.    Chemie,   Mineralogie, 
Kristallographie. 

Aminoff,  G.,  s.   Flink. 

Asch  an,  O.,  Neue  Bestandteile  des  Ko- 
lophoniums. 647. 

Auerbach,  R.,  Polychromie  des  kollo- 
idalen Schwefels.  92. 

Bagster,  L.  S.,  s.  Dehn. 

Bamberger,  M.  und  Grengg,  R., 
Farben  von  Mineralien  bei  tiefen  Tem- 
peraturen. 317. 

Böggild,   O.  B.,    Neue  Mineralien.  316. 

Bragg,  W.  L.,  Anordnung  der  Atome 
in  Kristallen.   608. 

Bruhns,  G.,  Hilfsmittel  für  Ablesen  an 
Büretten.  452. 

Bürki  Fr.,  und  Schaaf,  F.,  Zerfall  des 
Hydroperoxyds  durch   Basen.   715. 

C lassen,  A.  und  Ney,  O.,  Atomgewicht 
des  Wismuts.  299. 

Cooling,  G,  s.  Dehn. 

Crommelin,  Elektrischer  Widerstand 
der    Metalle    bei    tiefen  Temperaturen. 

550- 

Dehn,  M.,  Theorie  chemischer  Um- 
setzungen.  29S. 

Dennison,  D.  M. ,  Kristallstruktur  des 
Eises.  5S2. 

Dhar,  N.  R.  und  Ch  atte  rj  i,  G,  Pepti- 
sation.  646. 

Dittler,  E. ,  Experimentelle  Versuche 
zur  Bildung  silikatischer  Nickelerze.  173. 

Eitel,  W.,  Zinkblende  im  Basalt  des 
Bühls  bei  Kassel.    104. 

Fischer,  Fr.  und  Schrader,  H. ,  Her- 
kunft des  Benzols  bei  der  Leuchtgas- 
gewinnung. 93. 

Flink,  G.,  Neue  Mineralien.  633. 

Gibbs,  W.,  Neue  Form  der  Phasen- 
regeL  715. 

Groh,  J.  und  Hevesy,  G.  v.,  Selbst- 
diffusionsgeschwindigkeit des  geschmol- 
zenen Bleis.   201. 

Hall  er,  R.,  Hydroperoxyd  als  Lösungs- 
mittel II.  371. 

Hatschek,  E,  Abnorme  Liesegangsche 
Schichtungen.  92. 

Heß,  K.,  Aufbau  der  Zellulose.  467. 

Hieber,  W.,  Methode  zur  Bestimmung 
allelotroper  Gleichgewichte.    672. 

Hoff  mann,  Radioaktivität  aller  Ele- 
mente.  139. 

Hönigschmidt,  O.  und  Birken b ach, 
Atomgewicht    des  Wismut.    56. 

Hönigschmid,  O.  und  Birken  b  ach  , 
L.,  Atomgewicht  des  Berylliums.   5O7. 

Hüll,  A.  W.,  Röntgenstrahlenanalyse  der 
Kristallstruktur  von  Metallen.   58 1. 

Hüll,  A.  W.,  Krislallstruktur  des  Cal- 
ciums. 671. 

Kossei,  A.  und  Giese,  G. ,  Farbstoff 
des  grünen   Eiters.   331. 


VI 


Register. 


Leitmeier,  H.  und  H  e  1 1  w  i  g ,  H.,  Ver- 
suche über  die  Entstehung  von  Ton- 
erdephosphaten.  184. 

Lorenz,  R.,  Trennung  der  Isotopen  des 
Chlors.   566. 

Manzelius,  R.,  s.  Klink. 

Merling,  R.,  s.  Dehn. 

Müller,   A.,    Konstitution  des  Reuniols. 

TAI- 

Nishikawa,  S.  und  Asabara,  G., 
Untersuchung  von  Metallen  mittels  Rönt- 
genstrahlen.  136. 

I'aneth,  F.,  Bleiwasserstoff.  94. 

Pufahl,  O.,  Neues  Mineral  in  Dcutsch- 
Südwestafrika.  259. 

Reis,  A. ,  Zur  Kenntnis  der  Kristall- 
gitter.  13. 

Röhm,  C,  Neues  Eisensah.  715. 

Spangenberg,  K.,  Einfache  Vorrich- 
tung zur  Darstellung  von  beliebigen 
Kristallstrukturmodellen.  418. 

Tammann,  G. ,  Über  farbloses  Queck- 
silberjodid.  27. 

Tertsch,  H.,  Atomsymmetrie.  703. 

Willstätter,  R.  und  W  a  1  d  s  c  h  m  i  d  t  - 
Leitz,  E.,  Theorie  und  I'ra.'iis  kataly- 
tischer  Hydrierungen.  396. 

Willstätter,  R.  und  W  a  I  d  s  c  h  ni  i  d  t  - 
Leitz,  E.,  Seifen  mit  ringförmigen 
Kohleustoffsystemen.   746. 

Wyckoff,  R.  W.  G.,  Kristallstruktur 
einiger  Karbonate  der  Caicitgruppc. 
140. 

Vegard,  L.,  Konstitutiun  der  Misch- 
kristalle.   635. 


IV.  Bücherbesprechungen. 

Abraham,  M.,   Theorie  der  Elektrizität. 

391. 

Adametz,  L, ,  Herkunft  und  Wande- 
rungen der  Hamiten.   160. 

Albertus  Magnus,  De  animalibus. 
584. 

Alverdes,  Er.,   Rassen-  und  Artbildung. 

734- 

Andree,  K.,  Geologie  des  Meeres- 
bodens.  175. 

Arndt,  K.,  Die  Bedeutung  der  Kolloide 
für  die  Technik.  63. 

.Astronomisches  Handbuch.    749. 

Auerbach,  F.,  Wörterbuch  der  l'hysik. 
206. 

La  Baume,  W. ,  Vorgeschichte  von 
Westpreuflen.  143. 

Bavink,  B. ,  Einführung  in  die  organi- 
sche Chemie.  43      . 

Beck,  R.,  Protothamnopteris  Baldauti 
usw.  472. 

Behrend,  Fr.,  Kupfer-  und  Schwefel- 
erze Osteuropas.  487. 

Bein,  W.,  Der  Stein  der  Weisen.  320. 

Berger,  H.,  Psychophysiologie.  543. 

Berndt,  G.,  Physikalisches  Wörterbuch. 
206. 

Beutner,  K. ,  Entstehung  elektrischer 
Ströme  in  lebenden  Geweben  usw.  128. 

Bezold  W.  und  Seitz,  W.  v.,  Farben- 
lehre. 623. 

B  i  1 1  z ,  W.,  Ausführung  qualitativer  Ana- 
lysen. 406. 

Hinz,  A. ,  Schul-  und  Exkursionsflora 
der  Schweiz.   158. 

Bloch  ,  W.,  Einführung  in  die  Relativitäts- 
theorie.   504. 


Bodfors,  Sv.,  .\thyleno.\yde.   541. 
Born,  A.,  Allgemeine  Geologie.  640. 
Born,  M.,  Aufbau  der  Materie.   584. 
Born,    M.,    Relativitätstheorie    Einsteins 

und  ihre  physikalischen  Grundlagen.  483. 
Boveri-Boner,   V.,    Beiträge    zur    ver- 

gleichendfen    Anatomie    der    Nephridien 

niederer  Oligochälen.  407. 
v.  Braun,    J.,    Chemische    Konstitution 

und     physiologische    Wirksamkeit    bei 

Kokainalkaloiden.  446. 
Brigl,    P. ,    Chemische  Erforschung    der 

Naturfarbsloffe.  455. 
Br ohmer,  P.,    Fauna  von  Deutschland. 

>59- 

Broili,  I'.,  Zittels  Grundzüge  der  Palä- 
ontologie.  1.  677. 

Broili,   F.,  Paläozoologie.   640. 

B  u  b  n  o  f  f ,  S.  V.,  Grundlagen  der  Decken- 
theorie der  Alpen.  662. 

Bülschli,  O. ,  Vorlesungen  über  Ver- 
gleichende Anatomie.  616. 

Centnerszwer,  Radium  und  Radio- 
aktivität.  752. 

Le  Chatelier,  II.,  Kieselsäure  und  Sili- 
kate. 568. 

C 1  a  s  s  e  n  ,  A.,  Handbuch  der  analytischen 
Chemie.  719. 

Classen,  A.,  Handbuch  der  rjualitativen  ^ 
chemischen  Analyse  anorganischer  und  ; 
organischer  Verbindungen.    64. 

Cohen,  E.  und  Schut,  W.,  l'iezochcmie 
kondensierter  Systeme.  695. 

Dacquc,   E.,  Geologie  II.   423. 

Dannemann,  F.,  Die  Naturwissen-, 
Schäften  in  ihrer  Entwicklung.  455. 

Darwin,  Ch.,  Entstehung  der  Arten. 
Abstammung  des  Menschen.  678. 

D  e  an  e  ,   Fijian  Society.  679. 

Deutsche  Südpolar-Expedition  1  go  I  —  1 903. 
623. 

Di  eis,  P.,  Die  Slawen.   144. 

Dietrich,  W.,  Einführung  in  die  physi- 
kalische Chemie    fitf^iochemiker  usw.  . 

511-  i 

Dingler,  H.,  Kritische  Bemerkungen  zu 
den  Grundlagen  der  Relativitätstheorie. 

559- 
Dingler,    II.,    Physik    und    Hypothese. 

653- 

D  isper,  P.,  Massenverteilung  und  Ver- 
schiebung der  Druck-  und  Zugkräfte  in 
einem  Kometen.   127. 

Doflein,  Mazedonische  Ameisen.  224. 

Donath  Ed.  und  L  issner,  A.,  Kohle 
und  Erdöl.   359. 

Domo,  C,  Klimatologie  im  Dienste  der 
Medizin.    4S8. 

Eckstein,  K. ,  Die  Schmetterlinge 
Deutschlands.  423. 

Einstein,  A.,  .'\ther  und  Relativitäts- 1 
theorie.    374.  ] 

Emin  Paschas  Tagebücher.   732.  1 

Engelhardt,  V.,  Einführung  in  die 
Relativitätstheorie.  374. 

Engler,  A.,  Das  Pflanzenreich.    159. 

Euler,  H.,  Chemie  der  Enzyme.  448. 

Fehlinger,  H. ,  Geschlechtsleben  der 
Naturvölker.  279. 

Ficker,    M. ,     Einfache     Hilfsmittel    zur; 
Ausführung     bakteriologischer      Unter- 
suchungen.  718. 

Fischer,  Fr.  undSchrader,  H.,  Ent- 
stehung und  chemische  Struktur  der 
Kohle.   559. 

Fischer,  H.,  Pflanzenbau  und  Kohlen- 
säure.  749. 


Fitschen,  J.,   GehöUflora.   45. 
France,  R.  H.,  Die  Pflanze  als  Erfinder. 

335- 
Franz,  V.,  Ursprüngliches  in  der  warm- 
blütigen Tierwelt  der  Kriegsgebiete.  45. 
Fricke,    H.  ,    Der    Fehler    in     Einsteins 

Relativitätstheorie.  422. 
Fricke,    H. ,    Die    neue    Erklärung    der 

Schwerkraft.  422. 
Frizzi,  E.,  Anthropologie.   71g. 
Fröhlich,     F.    W. ,     Grundzüge     einer 

Lehre  vom  Licht-  und  Farbensinn.  55g. 
Fürth,    R. ,    Schwankungserscheinungen 

in  der  Physik.  247. 
Gebien,  H.,  Käfer  aus  der  Familie  der 

Tenebrionidae.  422. 
Gehes  Arzneipflanzentaschenbuch.  749. 
Gehrcke,    E. ,     Die    Relativitätstheorie 

eine  wissenschaftliche  Massensuggestion. 

527- 

Geiger  H.  und  Mako  wer,  W.,  Meß- 
methoden auf  dem  Gebiete  der  Radio- 
aktivität. 207. 

Geißler,  F.  J.  K.,  Gemeinverständliche 
Widerlegung  des  formalen  Relativismus. 

374- 

Gerke,  O.,  Kurzes  Lehrbuch  der  Pflan- 
zenkunde. 614. 

Gerlach,  W.,  Ex|>erimentelle  Grund- 
lagen der  Quantentheorie.  733. 

Giesenhagen,  K. ,  Lehrbuch  der  Bo- 
tanik. 614. 

Goldschmidt,  R. ,  Einführung  in  die 
Vererbungswissenschaft.   112. 

Gothan,  W.,  Paläobotanik.    502. 

Grimsehl,  E.,  Lehrbuch  der  Physik.  1, 
II.  678. 

Grossmann,  H.,  Fremdsprachiges  Lese- 
buch für  Chemiker.  46. 

Groth,  P.,  Elemente  der  physikalischen 
und  chemischen  Kristallographie.    064. 

Günther,  IL,  Elektrotechnik  für  Alle. 
158. 

Günther,   H.,  Was  ist  Elektrizität?   190. 

de  Haas,  R.,  Im  Schatten  afrikanischer 
Jäger.  360. 

Hadfield,  E.,  Aniong  thc  natives  of 
the  Loyalty  Group.    262. 

Hager,    H.,  Das  Mikroskop  usw.  351. 

Hahn,  K.,  Grundriß  der  Physik.  470. 

Harael,  G.,  Mechanik  I.  664. 

Hamilton,  L. ,  Ursprung  der  französi- 
schen Bevölkerung  Canadas.   718. 

Hansen,  A.,  Goethes  Morphologie.  279. 

Hartmann,  M.,  Praktikum  der  Proto- 
zoologie.  624. 

Häuser,  O. ,  Ins  Paradies  des  Urmen- 
schen. 503. 

Heiberg,  J.  L. ,  Naturwissenschaften, 
Mathematik  und  Medizin  im  klassischen 
Altertum.  558. 

Heilborn,  A.,  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen.  5'0. 

Hering,  E.,  Fünf  Reden.   559. 

Hertwig,  O.,  Elemente  der  Entwick- 
lungslehre.  190. 

Herz,  W.,  Leitfaden  der  theoretischen 
Chemie.  359. 

Ho  ff  mann,  B. ,  Führer  durch  unsere 
Vogelwelt.  432. 

Hörnes,  M.,  Kultur  der  Urzeit.    695. 

Jagow,  K.,  Kulturgeschichte  des  Herings. 
288. 

Jensen,  B.,  Erleben  und  Erkennen.  31. 

Isenkrahe,  C,  Zur  Elementaranalyse 
der  Relativitätstheorie.  374. 

Kammerer,  P.,    Über  Verjüngung    und 


Register. 


VII 


Verlängerung  des  persönlichen  Lebens,  i 
500.  : 

Kämmerer,  H.,  Abwehrkräfte  des  Kör- 
pers. 488. 

Karsten  G.  und  Ben  ecke,  W.,  Lehr-  ' 
buch  der  Pharmakognosie.  334. 

Kauffmann,  H.,  Beziehungen  zwischen 
physikalischen  Eigenschaften  und  chemi- 
scher Konstitution.  486. 

Kirch  berger,  F.,  Mathematische  Streif- 
züge   durch    die  Geschichte    der  Astro-  1 
nomie.  487. 

Kirchberger,  P.,  Was  kann  man  ohne 
Mathematik  von  der  Relativitätstheorie 
verstehen?  472. 

Kistner,  A.,  Geschichte  der  Physik. 
456. 

Klaatsch,    H. ,     Der    Werdegang    der! 
Menschheit    und     die    Entstehung    der 
Kultur.  237. 

Klein,  J.,    Chemie,  Anorganischer  Teil. 

43- 

Klein,  J.  Chemie.  469. 

Klein,  L.,  Unsere  Sumpf-  und  Wasser- 
pflanzen. 662. 

K  1  e  i  n  s  c  h  r  o  d  ,'  F  r.,  Lebensproblem  und 
Positivitätsprinzip  in  Zeit  und  Raum 
und  das  F.insteinsche  Relativitätsprinzip. 
542. 

Knotnerus-Meyc  r,  Zoologisches  Wör- 
terbuch. 20S. 

Kohl  rausch,  F.,  Lehrbuch  der  prak- 
tischen Physik.  751. 

Kuenen,  J.  F.,  Die  Eigenschaften  der 
Gase.  247. 

Kükenthal,  W. ,  Leitfaden  für  das 
zoologische  Praktikum.   238. 

KUster,  E. ,  Lehrbuch  der  Botanik  für 
Mediziner.  614. 

Küster,  E. ,  Anleitung  [zur  Kultur  der 
Mikroorganismen.  718. 

Lümmel,  R. ,  Wege  zur  Relativitäts- 
theorie. 374. 

L  ä  m  m  e  I ,  R.,  Grundlagen  der  Relativitäts- 
theorie. 543. 

Lampa,  A.,  Das  naturwissenschaftliche 
Märchen.   174. 

Landau,  E.,  Naturwissenschaft  und  Le- 
bensauffassung.  582.  " 

Lang,  R.,    Experimentalphysik.  II.    600. 

Lange,  O.,  Zwischenprodukte  der  Teer- 
farbenfabrikation. 557. 

Laue,  M.  v.,   Relativitätstheorie.  373. 

Legahn,  A.,  Physiologische  Chemie  II. 
Dissimilation.  46. 

Lehmann,  J.,  Ornamente  der  Natur,  und 
Halbkulturvölker.  287.  % 

Lehmann,  K.  1!.  und  Neumann,  R. 
O. ,  Atlas  und  GrundriU  der  Bakterio- 
logie. 44.  • 

Lehmann,  W.,  Energie  und  Entropie. 
750. 

Leick,  A.  und  W. ,  Physikalische  Ta- 
bellen. 423. 

Leuchs,  K.,  Geologischer  Führer  durch 
die  Kalkalpen  usw.  719.' 

Lewin,  K.,  Die  Verwandtschaftsbegriffe 
in  Biologie  und  Physik  und  die  Darstel- 
lung vollständiger  Stammbäume.  30. 

Lichtenbergs  Briefe  an  J.  Fr.  Blumen- 
bach.   680. 

Lißmann,  F.,  Eine  Sammlung  seiner 
Werke.  412. 

Littrow,  Atlas  des  gestirnten  Himmels. 
63. 

Lodge,  O.  J.,  Raymond  ou  la  vic  et  la 
mort.  320. 


Loele,  W.,  Die  Phenolreaktion.    320. 

Lorentz,  H.  A.,  Einstein,  A,  Min- 
kowski, H. ,  Das  Relativitätsprinzip. 
28S. 

Lowie,  R.  H.,  Primitive  Society.  207. 

Loe  wit ,  M., Infektion  und  Immunität.  750. 

Luschan,  F.  v. ,' .Mtertümcr  von  Benin. 
18S. 

Mach,  E.,  Mechanik.  374. 

Mach,  E.,  Prinzipien  der  physikalischen 
Optik.   750. 

Marx,E.,  Handbuch  der  Radiologie.  262. 

März  eil,  H.,  Neues  illustriertes  Kräuter- 
buch. 262. 

Meyer,  E.,  Wirklichkeitsblinde  in  Wissen- 
schaft und  Technik.  456. 

Mey  er-St  e  ineg,  Th.  und  Sudhoff, 
K.,  Geschichte  der  Medizin.   598. 

Michaelis,  L. ,  Praktikum  der  physi- 
kalischen Chemie.  4S8. 

Miehe,  H. ,  Taschenbuch  der  Botanik. 
614. 

Mieleitner,  K.,  Die  technisch  wichti- 
gen Mineralstoffe.  64. 

Moeller,  M.,  Das  Ozon.   528. 

Moser,  L. ,  Reindarstellung  von  Gasen. 
696. 

Mosler,  H.,  Einführung  in  die  moderne 
drahtlose  Telegraphie.    158. 

Moszkowski,  A.,  Einstein.  543. 

Much,  H.,  Pathologische  Biologie.   279. 

Much,  H.,  Die  Partigengesetze.  484. 

Müller,  Fr.,  Konstitution  und  Indivi- 
dualität. 511. 

Müller,  Fr.,  Werke,  Briefe,  Leben.  694. 

Müll  er- Frei  enfels,  R.,  Philosophie 
der  Individualität.  662. 

Neunzig,  l-C.,  Die  fremdländischen  Stu- 
benvögel. 407. 

Niggli,  F.,  Lehrbuch  der  Mineralogie. 
3S9. 

Noetling,  F.,  Die  kosmischen  Zahlen 
der  Cheopspyramide.   55g. 

Ochs,  R. ,    Einführung    in    die    Chemie. 

5Ö7- 
Oppenheim,    S. ,     Das     astronomische 

\Veltbild    im    Wandel  der  Zeiten.    469. 
Oppenheim  er,   C. ,  Mensch  als  Kraft- 
maschine.  471. 
Oppenheimer,  C,  Kleines  Wörterbuch 

der  Biochemie  und  Pharmakologie.  287. 
Oppenheimer    C.    und     Weiß,     O., 

Grundrifi  der  Physiologie  für  Studierende 

und   Arzte.  63. 
Ostwald,  W. ,    Die  chemische  Literatur 

und  die  Organisation  der  Wissenschaft. 

408. 
Ostwald,  W.,  Die  Farbe.    447. 
Ostwald,  W.,  Mathetische  Farbenlehre. 

542. 
Panconcelli-Calzia,    Experimentelle 

Phonetik.  510. 
Pauli,  R.,    Psychische    Gesetzmäßigkeit. 

541- 

Pauli,  Wo.,  Kolloidchemie  der  Eiweiß- 
körper. 42. 

Perzynski,  F.,  Von  Chinas  Göttern. 
27S. 

Peter,  B.,  Parallaxenbestimmungen.  469. 

Pfeiffer,  L. ,  Werkzeuge  des  Steinzeit- 
menschen.  142. 

Philipp,   R.,   Bedeutung   der  Geologie. 

752- 
P  i  r  q  u  e  t ,  C 1.,  System  der  Ernährung.  320. 
Plank,  M.,  Das  Wesen  des  Lichts.  497. 
Potonie,    Lehrbuch    der    Paläobotanik. 

502. 


Potonie,  H.,   Die  Steinkohle.   751. 

Praktikum  und  Repetitorium  der  quanti- 
tativen Analyse.   248. 

Ranke,  J.,  Der  Mensch.  4S4. 

Rehmke,  J.,  Die  Seele  des  Menschen. 
376. 

Reichenow,  A.,  Kennzeichen  der  Vögel 
Deutschlands.  423. 

Reuter,  M. ,  Hygienische  Beurteilung 
farbstoflhaltigen  Fleisches.  288. 

Kichert,  H.,  Philosophie.  558. 

Riebet,  Ch.,  Anaphylaxie.  44. 

Richter,  R. ,  Einführung  in  die  Philo- 
sophie.  55S. 

Rinne,  Fr.,  Kristalle  als  Vorbilder  des 
feinbaulichen  Wesens  der  Materie.   526. 

Rinne,   Fr.,  Gesteinskunde.    689. 

R  i  p  k  e  -  K  ü  h  n ,  L.,  Kant  contra  Einstein. 

374- 

Rivista  di  Biologia.   503. 

Robien,  P.,  Die  Vogelwelt  des  Bezirks 
Stettin.  61. 

Rohleder,  IL,  Monographien  über  die 
Zeugung  beim  Menschen.  600. 

Rohr,  M.  V.,  Brille  als  optisches  Inlru- 
ment.  733. 

Rüsberg,  F.,  Einführung  in  die  analy- 
tische Chemie.  263. 

Ruska,  J.,  Methodik  des  mineralogisch- 
geologischen Unterrichts.  352. 

Schaefer,Cl.,  Theoretische  Physik.  720 

Schaxel,  J.,  Die  allgemeine  und  expe- 
rimentelle Biologie  bei  der  Neuordnung 
des  medizinischen  Studiums.  485. 

Schlesinger,  L.,  Raum,  Zeit  und  Re- 
lativitätstheorie. 374. 

Schmal tz,  R.,  Geschlechtsleben  der 
Haussäugetiere.    656. 

Schmid,  B.,  Aufgaben  der  Tierpsycho- 
logie. 656. 

Schmidt,  C.  W.,  Geologisch-mineralogi- 
sches Wörterbuch.  527. 

Schmidt,  H.,  Probleme  der  modernen 
Chemie.  432. 

Schmidt,  j.,  Lehrbuch  der  organischen 
Chemie.  652. 

Schneider,  J,,  Raum-Zeit-Problem  bei 
Kant  und   Einstein.   559. 

Schnippenkötter,  J.,  Der  entropolo- 
gische  Gottesbeweis.  663. 

Schottler,    W.,    Der    Vogelsberg    usw. 

45- 

Schrenck-Notzing,  A.  v..  Physikali- 
sche Phänomene  des  Mediumismus.   186. 

Schroeder,  H.,  Stellung  der  grünen 
Pflanze  im  irdischen  Kosmos.    189. 

Schulz,   IL,  Das  Sehen.   128. 

Schwarz,  M.  v.,  Legierungen.   719. 

Schwinge,  O.,  Lücke  in  der  Termino- 
logie der  Einsteinschen  Relativitäts- 
theorie. 560. 

Scott,  D.  H.,  Studies  in  Fossil  Botany. 
502. 

Seidlitz,  W.  v. ,  Revolutionen  in  der 
Erdgeschichte.  390. 

Sewerzow,  N.,  Zoologische  Gebiete  der 
außerhalb  der  Tropen  gelegenen  Teile 
unseres  Kontinents.  696. 

Sohns,  Fr.,  Unsere  Pflanzen.  Ihre  Na- 
menerklärung usw.  360. 

Sommer,  G.,  Leib  und  Seele.   558. 

Steinhardt,    Vom    wehrhaften    Kiesen. 

79. 

Steinriede,  F.,  Anleitung  zur  minera- 
logischen Bodenanalyse.  751. 

Stock,  A.,  Ultra-Strukturcheniie.  16. 

Stock,  A.,  Ultra-Strukturchemie.   568. 


VIII 


Register. 


Stöckhardt,   Ad.,  Schule  der  Chemie. 
41. 

Strasburger,    Lehrbuch    der    Botanik. 
614. 

Stromer,  E.,    Paläozoologisches  Prakti- 
kum.  70. 

Tarn  mann,  G.,    Lehrbuch  der  Metallo- { 
graphie.  748. 

Taschenberg,  C).,    Bibliotheca   zoolo- 
gica  II.  624. 

Th  ormeyer,  F., Philosophisches  Wörter- 
buch.  352.  i 

Trünke!,  H.,  Repetitorium  der  Pflanzen- 
kunde. 614.  I 

Ulbrich,  E.,  PfianzenkundeBd.il.   159. 

Ulbricht,  K.,  Das  Kugelphotometer.  142. 

Urban,  Ign. ,  Plumiers  Leben  und 
Schriften.  238.  , 

Valentin  er,  S.,  Grundlagen  der  Quan- 
tentheorie. 432. 

Valentiner,  S. ,  Anwendungen  der  j 
Quantenhypothese  usw.  734. 

Vater,  R,  Technische  Wärmelehre.  470. 

Verweyen.J.  M.,  Naturphilosophie.  558. 

V  e  r  w  o  r  n  ,  M.,  Die  Anßinge  der  Kunst. 
62. 

Verworn,  M. ,  Mechanik  des  Geisles- 
lebens. 55S. 

Voigt,  A.,  Exkursionsbuch  zum  Studium 
der  Vogelstimmen.   159. 

Voigt,  A.,  Wasscrvogelleben.  392. 

Wachs,  H.,  Entwicklung,  ihre  Ursachen 
und  deren  Gestaltung.   16. 

Wächter,  W.,  Vademecum  für  Sammler 
von  Arznei-  und  Gewürzpflanzen.    IlT, 

Wagner,  G. ,  Landschaftsformen  von 
Württembergisch-Franken.  351. 

Waibel,  L. ,  Urwald  —  Veld  —Wüste. 

239. 
Walt  her,  J. ,    Vorschule    der   Geologie. 

79- 
Walther,    J. ,     Geologie    Deutschlands. 

405- 

Walther,  J.,  Geologische  Heimatkunde 
von  Thüringen.  536. 

Wasielewski,  W.  v. ,  Telepathie  und 
Hellsehen.  334. 

Wegener,  A.,  Entstehung  der  Mond- 
krater.  750. 

Weil,  A.,  Die  innere  Sekretion.  486. 

Weil,  L.  W.,  Grundlagen  der  techni- 
schen Hpdrodynamik.   143. 

Wenz,  \V.,  Geologie.    159. 

Wiegers,  Fr.,  Diluvialprähistorie  als 
geologische  Wissenschaft.  501. 


Wiesner,  J.,  Anatomie  und  Physiologie 
der  Pflanzen.    614. ' 

W  i  n  t  e  1  e  r  ,  F. ,  Die  heutige  industrielle 
Elektrochemie.  62. 

Wolf,  B.,  Das  Recht  der  Naturdenkmal- 
pflege  in  Preußen.   32. 

Wolff,  W.,  Die  Entstehung  der  Insel 
Sylt.  64. 

Ziehen,  Th.,  Lehrbuch  der  Logik.   372. 

Zwölf  länderkundliche  Studien.   55S. 


V.  Anregungen  und  Antworten. 

Ameisen,  Kettenbildung  derselben.  280. 

Athertheorie  und  Einsteineffekt.  80. 

Aufklärung,  504. 

Boden,  biologischen  Vorgänge  darin.   736. 

Cicindela- Arten,  zur  Biologie  der.   176. 

Disjunktionsproblem  Keilhacks.   392. 

Dominantes  Merkmal,  Ausbreitung  des- 
selben in  der  Natur.  47. 

Dünge- und  Futtermittel,  Untersuchung  der- 
selben.  240. 

Gesellschaft  für  positivistische  Philosophie. 
280. 

Glazialkosmogonie,    zur    Kritik    der.    735. 

Grundwasser  und  Quellen.  80. 

Haeckels  Monismus  eine  Kulturgefahr. 
190. 

Hellsehen  und  Namenraten.  48. 

Hunde,  fischende.  80. 

„Inkohlung".   736. 

Köppernickel,  Herkunft  des  N.imens.  igi, 
424,  560. 

Kreislauf  des  Wassers.    392,  504. 

Mauersegler,  Nislweise.  240. 

Naturschutz  in  den  Vereinigten  Staaten. 
279. 

„Orthogenesis,  Mutation,  Auslese",  einige 
Bemerkungen  zu  dem  Aufsatz  H.  Fischers 
darüber.  47,  239. 

Paläoklimatisches  im  Licht  der  Geophysik. 
511. 

Phyletische  Potenz.   176. 

Pilzvergiftung  durch  Tricholoma  ligrinum. 

175- 
Riesensterne,  Gaskugeln?  735' 
Schöngefärbte  Tiere.  264. 
Schwalben  in  der  deutschen  Urlandschaft. 

48. 
Singzikaden.  423. 

Sprachliche  Bemerkung  (, .anomal").    512. 
Süfiwassermeduse.   752. 
Swift,  seine  Auffassung  vom  Tierbau.  80. 


Waldschutz  durch  Vogelschutz.  736. 
Wisente  im  Plesser  Tiergarten.  392. 
Zodiakallicht.  192. 


VI.  Abbildungen. 

Abraliopsis,  Ilaulleuchtorgan.  436. 

Aschenbilder  von  Pflanzen.  234,  235. 

Atlantisches  Gebiet  im  Eozän.   685. 

Chromosomenverteilung,    Schemata.    293, 
295. 

Crustaceen,  Stridulationsorgane.  697—700. 

Drosophila,  Augen.  648,  64g, 

Erdteile  im  Karbon.  686. 

Farbkreis.  425. 

Fische,  fliegende.  Ö41. 

Geosynklinalen  des  Mesozoikums.  688. 

Gonostoma  elongatum,  Leuchtorgan.  437. 

Halicoridae,  Hüftbeine.  412. 

Hunde,  altägyptische  Darstellungen.     194 
bis   197. 

Kochsalzgewinnung  in  Mexiko.  499,  500. 

Lampyride,  Leuchtorgan.  436. 

Lilie,  Narbe  mit  keimenden  Pollenkörnern. 
667. 

Mistel,  Saugorgan.  534. 

Möwen,  im  Segelflug.  641. 

Noctiluca.  435. 

Nordatlantisches  Gebiet    zur   großen    Eis- 
zeit.    683. 

Papageien  auf  alten  Bildern.  548,  549. 

Papagei  im  Bauer.   743. 

Parietalorgane  bei  Fischen.  347. 

Penaeopsis  stridulans.  69S. 

Planorbis  multiformis,  Stammbaum.   149. 

Schnecken,  Drüsen.  603. 

Segelflugmodelle.  642,  643. 

Silene  nutans,  Blütenstand.    131. 

Stenops  gracilis,  Blinddarm.  702. 

Stubbenhorizont  bei  Senftenberg.  227. 

Tiefseetintenfisch.  435. 
i  Unbefruchtbarkeit,  Schema.  442. 

Ventilröhre,  umkehrbare.  381. 

Voratlantischer  Kontinentalblock.  685. 


VII.  Literaturlisten. 

16, 32, 48, 64, 80,  112, 128, 144, 160, 
208, 280, 288, 304,  336,  352, 376, 408, 
432. 448, 472, 488,  512.  543. 500, 584, 

600, 616, 624, 648, 680, 696,  704,  736. 


O.  PäU'sche  BiichHr.   t.ipperl  ,<i:  Co.   G. 


b.   H.,  Nanmbiirg  a. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  ao-  Band ; 
der  gatixen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  2.  Januar  igai. 


Nummer  1. 


Lorentz- Einstein. 

Einsteins  „Weltbild"  eine  Zahlenfiktion  f 
Philosophisch-kritische  Untersuchungen 


[Nachdruck  verboten.] 

Die  vorliegenden  Ausführungen  bringen  in 
kurzer  Fassung  einen  neuenZusammenhang 
zwischen  der  M  a  x  w  e  1 1  -  L  o  r  e  n  t  z  sehen  Theorie 
und  Einsteins  spezieller  Relativitätstheorie.  Als 
unmittelbare  Folgerung  ergibt  sich,  daß  Ein- 
steins „Weltbild"  als  bloße  mathematische  Ab- 
straktion zu  bewerten  ist.  Ich  erlaube  mir  zu- 
nächst zwei  Tatsachen  zur  Vergleichung 
nebeneinander  zu  stellen. 

Da  eine  Bewegung  der  Erde  relativ  zum  Licht- 
äther experimental  nicht  nachzuweisen  ist,  nahmen 
H.  A.  Lorentz  und  Fiz  Gerald  an,  daß  alle 
Körper,  die  sich  gegen  den  Äther  bewegen,  in 
der  Bewegungsrichtung   eine  Verkürzung   auf  das 


1 


I  — 


j fache  ihrer  Länge  erleiden.  —  Ein- 
steins spezielles  Relativitätsprinzip  setzt  voraus, 
daß  die  Geschwindigkeit  eines  Lichtstrahles  eine 
Invariante  in  allen  möglichen  Inertialsystemen  ist; 
Längen  und  Zeiten  werden  in  ein  Abhängigkeits- 
verhältnis gebracht;  die  weitere  Rechnung  liefert 
zahlenmäßig  die  Lorentzkontraktion. 

Lorentz  setzte  also  gewissermaßen  das 
„Kontraktionsprinzip"  als  Prämisse  und  erklärte 
die  „Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit"  (Michelson- 
versuch),  während  Einstein  umgekehrt  das 
Prinzip  von  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindig- 
keit als  Prämisse  setzt  und  die  Lorentzkontraktion 
(zahlenmäßig)  folgert. 

Dieses  Wechselspiel  erscheint  uns  äußerst  auf- 
fällig und  erinnert  uns  unwillkürlich  an  das  be- 
kannte Umformungsverfahren:  ist  a^^b,  so  ist 
log^b  =  n.  Wie  hier  in  jeder  der  beiden  Glei- 
chungen jedes  Element  nur  in  verschiedener  Zu- 
sammensetzung wiederkehrt,  so  finden  wir  dort 
in  jeder  von  beiden  Theorien  jedes  „Prinzip" 
nur  mit  verschiedener  Bedeutung  wieder.  Berück- 
sichtigen wir,  daß  die  als  Symbol  gesetzten 
Gleichungen  identische  Gleichungen  sind,  so 
wird  den  Ausgangspunkt  unserer  Untersuchung 
die  Frage  zu  bilden  haben,  ob  Einsteins  spe- 
zielle Relativitätstheorie  das  Resultat 
einer  bloßen  Umformung  der  Maxwell- 
Lorentzschen  Theorie  ist.  Daran  ist  näm- 
lich nicht  zu  zweifeln,  daß  zwischen  Einsteins 
Lorentz  -  Transformationen  und  den  Max  well - 
Lorentzschen  Gleichungen  ein  direkter  Zusam- 
menhang besteht.  —  Näheren  Einblick  in  die 
Methode  solcher  Umformung  werden  wir  offenbar 
gewinnen,    wenn  uns  folgende  Frage  beantwortet 


von  Bruno  Schönherr,  Zillerthal  (Riesengebirge). 

ist :  Zu  welchem  Zweck  wird  im  allgemeinen  eine 
neue  Theorie  aufgestellt  und  wie  geht  der  Auf- 
bau der  Gedankenelemente  bei  Aufstellung  einer 
Theorie  vor  sich?  Cournot ^)  antwortet  uns 
darauf  in  meisterhafter  Weise  mit  einem  einzigen 
Satze:  „Ini  allgemeinen  ist  jede  wissenschaftliche 
Theorie,  die  ersonnen  wurde,  um  eine  bestimmte 
Zahl  durch  Beobachtung  gegebener  Tatsachen  zu 
vereinen,  einer  Kurve  zu  vergleichen,  die  nach 
irgendeinem  geometrischen  Gesetz  unter  der  Be- 
dingung gezogen  wird,  durch  eine  Reihe  vorher 
gegebener  Punkte  hindurchzugehen".  Werden 
also  in  eine  Theorie  neue  Erfahrungswerte  ein- 
geführt, d.  h.  wird  die  Zahl  durch  Beobachtung 
gegebener  Tatsachen  vermehrt,  so  wird  dadurch 
die  ganze  Theorie  wesentlich  modifiziert;  die 
Grundbegriffe  passen  sich  den  neuen  Beobachtun- 
gen an  und  das  ganze  Tatsachengebiet  wird  auf 
eine  neue  Art  interpretiert.  Man  sagt:  die  so 
veränderte  Theorie  ist  das  Ergebnis  einer  Induk- 
tion —  sie  ist  in  der  Erfahrung  erarbeitet.  Die 
Grundbegriffe  bzw.  Grundgleichungen  einer  neuen 
Theorie  müssen  also  immer  mit  Rücksicht  auf 
die  zu  erklärenden  Tatsachen  zurechtgestutzt  und 
zurechtgerückt  werden.  Damit  z.  B.  Newton 
sagen  konnte,  daß  sich  der  Mond  wie  ein  gegen 
die  Erde  schwerer  Körper  verhält,  mußte  er  die 
Galileischen  Fallgesetze  modifizieren.^) 


')  Dieses  Zitat  und  das  folgende  von  Poinsot  entnehme 
ich  dem  erkenntnistheoretiscben  Werke  von  J.  B.  Stallo, 
„Die  Begriffe  und  Theorien  der  modernen  Physik".  Nach 
der  3.  Auflage  des  englischen  Originals  übersetzt  von  Hans 
Kleinpeter.  Mit  einem  Vorwort  von  Ernst  Mach. 
2.  Auflage.  Leipzig,  Barth  igii.  (Cournot  S.  105, 
Poinsot  S.  99.)  Die  in  diesem  vorzüglichen  Buch  (ent- 
standen in  den  siebziger  Jahren  des  vor.  Jahrh.)  entwickelten 
Gedanken  haben  obigen  Untersuchungen  als  Leitfaden  gedient. 

*)  Es  ist  gänzlich  ausgeschlossen ,  daß  ein  menschliches 
Zerebralsystem  aus  sich  heraus  aus  ganz  allgemeinen  Prinzi- 
pien den  genauen  Betrag  für  die  Perihelbewegung  des  Merkur 
ableiten  könnte,  wie  er  von  den  Astronomen  (Leverrier) 
als  Niederschlag  mühevoller  Beobachtungen  festgestellt  wor- 
den ist.  Der  auch  hier  unvermeidliche  induktive  Weg  ist  der, 
daß  zunächst  die  Grundgleichungen  der  N  e  w  t  o  n  sehen  Theorie 
und  eine  Gleichung  für  die  Perihelbewegung  mittels  eines 
geometrischen  Gesetzes  unter  einen  Hut  gebracht  werden.  Da 
in  der  Gerber  sehen  Formel  für  die  Perihelbewegung,  die 
bekanntlich  mit  der  Einstein  sehen  genau  übereinstimmt  die 
Lichtgeschwindigkeit  eingeführt  ist,  so  ermöglicht  das  'geo- 
metrische Gesetz  Minkowskis  als  Differentialgleichung  die 
Verbindung  mit  den  Bewegungsgleichungen  der  New  ton- 
sehen  Attraktionstheorie,  was  als  Resultat  die  Bewegungs- 
gleichungen der  Einstein  sehen  Gravitationstheorie  ergibt. 
Zweifellos  ist  diese  Kombination  mit  aufiergewöhnlichem  Ge- 
schick durchgeführt  worden.      Es    kann    nicht    genug    betont 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   I 


Nun  ist  auch  das  Verfahren  in  Gebrauch,  die 
Rraukateeiner  Reilie  von—Umformmigen  einer 
Gleichung,  die  eine  Hypothese  enthält  und  deren 
ElemeirteiTichts  mehr  imä  nichts  weniger  als  die 
Elemente  der  zu  erklärenden  Erscheinung  sind, 
als  neue  Hypothesen  auszugeben,  die  in  Verein 
mit  den  daraus  hervorgehenden  Folgerungen 
nicht  selten  als  physikalische  Theorien  prunken. 
Ist  der  mathematische  Ausdruck  einer  „Grund- 
hypothese" z.  B.  a"  =  b,  so  wird  auf  Grund  dieser 
Methode  die  Gleichung  nach  irgendeinem  geo- 
metrischen Gesetz,  das  jedoch  die  Eigenschaft 
besitzt  in  der  Gleichung  bereits  implizite 
enthalten  zu  sein,  in  eine  andere  Form  verwan- 
delt, sagen  wir  in  n  =  log^b  oder  a  =  yb.  (Da 
Verhältniszahlen  ursprünglich  Symbole  für  geo- 
metrische Verhältnisse,  und  da  Gleichungen  nichts 
anderes  als  ein  ökonomischer  Ersatz  für  sonst 
ausgedehnte  Tabellen  von  Verhältniszahlen  sind, 
so  kann  ein  Gleichungssystem  nur  durch  ein 
geometrisches  Gesetz  in  ein  anderes  übergeführt 
werden.)  Trotzdem  all  diese  möglichen  Gleichun- 
gen eine  so  verschiedenartige  Physiognomie 
haben,  so  sind  sie  doch  alle  identisch,  d.  h.  sie 
beschreiben  in  Wirklichkeit  alle  nur  ein  und  das- 
selbe Tatsachengebiet  und  zwar  kommt  bei  der 
mathematischen  Beschreibung  nur  der  Grad  der 
Erscheinungen  in  Betracht.  Sämtliche  auf  diesem 
Wege  umgewandelten  Gleichungen  enthalten  also 
dieselben  Erfahrungswerte,  es  sind  nirgends 
neue  Beobachtungsdaten  aufgenommen.     Ist  die 

werden,  daß  es  sich  hier  nur  um  die  Zusammenfassung  alge- 
braischer Gleichungen  unter  gleichzeitiger  Beobachtung  geo- 
metrischer Verhältnisse  handelt.  Die  Ableitung  der  allge- 
meinen Relativitätstheorie  —  die  Prinzipien  mitsamt  des  de- 
duktiven Weges  —  ist  eine  Deutung  der  Grundgleichungen 
der  Einst  einschen  Gravitationstheorie,  wie  sie  auf  dem 
soeben  in  einem  groben  Umriß  dargelegten  induktiven  Wege 
zustande  gekommen  sind,  und  ist  diesen  zurechtgerückt  und 
ihnen  angepaßt.  Sicherlich  wäre  Newton  seinen  Zeitgenossen 
als  wissenschaftlicher  Zauberkünstler  erschienen,  wenn  ihm 
daran  gelegen  hätte,  den  induktiven  Weg  seiner  Entdeckung 
in  ein  mystisches  Dunkel  zu  hüllen  und  wenn  er  dann  am 
Schluß  des  umgekehrten  deduktiven  Weges  gesagt  hätte:  Daß 
diese  aus  der  Forderung  des  Attraktionsprinzipes  auf  rein 
mathematischen  Wege  fließenden  Bewcgungsgleichungen  die 
Kepler  sehen  Gesetze  liefern,  muß  nach  meiner  Ansicht  von 
der  physikalischen  Richtigkeit  der  Theorie  überzeugen.  Aller- 
dings ist  für  Newton  diese  Methode  weniger  empfehlens- 
wert, denn  sein  mathematischer  Weg  wäre  lächerlich  kurz 
und  zu  wenig  kompliziert.  Wie  also  Newton  durch  Ein- 
beziehung der  Planetenbewegungen  nach  Kopernikus- 
Kepler  das  Galileische  konstante  ,, Fallpotential"  erweitert 
hat,  so  hat  Einstein  durch  Einbeziehung  der  Perihel- 
bewegungen  nach  Leverrier-Gerber  das  Newtonsche 
Graviialionspotential  verfeinert.  Ob  letztere  Übertragung  auf 
irdische  Verhältnisse  zulässig  ist,  das  steht  freilich  auf  einem 
anderen  Blatt.  Mit  Hinsicht  auf  den  soeben  dargestellten  Zu- 
sammenhaiig  hat  Einstein  aus  der  Deutung  seiner  Gravita- 
tionsformel nur  zwei  Schlüsse  gezogen,  wenn  man  von  seiner 
verbogenen  Welt  absieht:  die  Krümmung  der  Lichtstrahlen 
und  die  Verschiebung  der  Spektrallinien  in  Gravitationsfeldern. 
—  Ich  möchte  ferner  an  dieser  Stelle  nicht  unerwähnt  lassen, 
daß  die  bewunderungswürdigen  Arbeiten  bei  der  Errechnung 
des  Planeten  N.eptun  durch  Leverrier  und  Adams  <larin 
bestandeii  haben ,  daß  unter  meisterhafter  Ausnützung  des 
mathematischen  Handwerkzeuges  neue  Beobachtungen  in  ein 
bekanntes  Schema  eingeordnet  wurden. 


Gleichung  für  ein  Naturgesetz  durch  rechtwink- 
lige Koordinaten  festgelegt,  so  läßt  sich  dasseltre 
Gesetz  z.  B.  auch  durch  eine  Polarkoordinaten- 
gleichung  ausdrücken;  das  die  Tränsfönftattön 
vermittelnde  allgemeine  geometrische  Gesetz 
lautet  in  diesem  Falle: 

r- ■  cos^ 9 -j- r* •  sin"^ y  =  X- -j- y''. 

Das  Naturgesetz  ist  dann  in  eine  andere  mathe- 
matische Mundart  übersetzt  und  —  ein  neuer 
Gesichtspunkt  ist  gewonnen.  Besteht  nun  die 
Möglichkeit,  daß  man  einer  solchen  resultierenden 
Gleichung  eine  einigermaßen  evidente  Deutung 
geben  kann,  d.h.  läßt  sich  in  der  Gleichung  eine 
Beziehung  finden,  die  in  einem  anderweitigen 
größeren  Tatsachengebiete  als  allgemeines  Gesetz 
bekannt  ist,  so  sind  nach  der  bewußten  Me- 
thode schon  die  Grundgleichungen  für  eine 
„neue"  Theorie  gewonnen  und  vielfach  glaubt 
man,  nun  nur  so  drauflos  folgern  zu  können 
und  häufig  meint  man,  mit  solchen  Prinzipien 
alle  Geheimnisse  der  Natur  erklären  zu  können. 
Da  die  Gleichungen  für  „Grundhypothese"  und 
„resultierende  Hypothese"  in  den  meisten  Fällen 
komplizierter  Beschaffenheit  sind,  so  ist  ihre 
Identität  schwer  erkennbar  und  weil  der  for- 
schende Blick  meistens  auf  die  Natur  der  Er- 
scheinungen gerichtet  ist,  so  bemüht  man  sich 
zunächst  mit  der  Feststellung,  welche  von  beiden 
Hypothesen  die  richtige  ist  (was  nebenbei  bemerkt 
häufig  den  Anlaß  zu  weitschweifigen  Kontroversen 
bildet:  „Mit  Worten  läßt  sich  treftlich  streiten, 
mit  Worten  ein  System  bereiten")  und  sieht  da- 
bei den  Wald  vor  Bäumen  nicht,  d.  h.  bemerkt 
nicht,  daß  weiter  nichtsals  ein  mathemati- 
sches Band  die  beiden  Theorien  verbindet. 
Die  „Grundhypothese",  welche  die  Daten  der 
Beobachtung  in  die  Rechnung  eingeführt  hat, 
verblaßt  natürlich  immer  mehr,  denn  sie  wird  ja 
von  der  neuen  „alles  umfassenden"  und  daher  die 
Gedanken  am  meisten  überwältigenden  Theorie 
dem  Grade  nach  miterklärt.  Dank  des  mathe- 
matischen Vexierbildes,  in  dem  die  beiden  be- 
wußten Theorien  stehen,  ist  die  neue  Theorie  in 
der  Lage,  oft  die  haarsträubendsten  Dinge  zu 
folgern  und  sie  unbehelligt  als  unumstößliche 
Wahrheiten  zu  behaupten.  Da  so  eine  Theorie 
durchaus  ein  für  alle  Male  alles  erklären  möchte, 
so  schießt  sie  nicht  selten  mit  Hilfe  der  kargen 
Erfahrungswerte,  die  ihr  zugrunde  liegen  und  die 
sie  von  der  alten  Theorie  geliehen  hat,  bis  in  die 
magischsten  Atmosphären  und  sphärischen  Räume 
hinaus,  um  von  dort  der  festeren  und  geraderen, 
hoffnungsvollen  und  gläubigen  Welt  die  frohe 
Kunde  mitzubringen,  daß  alles  stimmt  und  stim- 
men muß.  „Sitzt  ihr  nur  immer  I  leimt  zusammen, 
braut  ein  Ragout  von  andrer  Schmaus  und  blast 
die  kümmerlichen  Flammen  aus  eurem  Aschen- 
häufchen  rausl"  usw.  Daß  es  aber  nicht  stimmen 
kann,  liegt  auf  der  Hand  und  zeigt  sich  auch  ge-  1 
wohnlich  dann,  wenn  daran  gegangen  wird,  die  I 
Folgerungen    der    „Pseudotheorie"    mit    „Hebeln 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


und  Schrauben"  zu  lockern.  Poinsot  äußert 
sich  zu  diesem  Thema  folgendermaßen : 

„Was  so  manche  Köpfe  über  die  den  mathe- 
matischen Formeln  scheinbar  zukommende  IVIacht 
getäuscht  hat,  liegt  an  dem  Umstand,  daß  man 
ziemlich  leicht  aus  ihnen  bereits  bekannte  Wahr- 
heiten ziehen  kann,  die  man  sozusagen  selbst  in 
sie  eingeführt  hat,  so  daß  es  den  Anschein  ge- 
winnt, daß  uns  die  Analyse  etwas  geben  würde, 
was  sie  in  Wirklichkeit  nur  in  eine  andere 
Sprache  gekleidet  hat.  Wenn  ein  Satz  bekannt 
ist,  braucht  man  ihn  nur  in  Gleichungen  zu  klei- 
den; ist  er  richtig,  so  muß  jede  von  ihnen  eben- 
sowie  jede  Ableitung  aus  ihnen  richtig  sein, 
gelangt  man  so  zu  einem  evidenten  oder  anders- 
woher bekannten  Satze,  braucht  man  nur  diesen 
Satz  zum  Ausgangspunkte  zu  machen  und  die 
Entwicklung  rückwärts  zu  gehen,  und  es  gewinnt 
den  Anschein,  als  ob  uns  die  Rechnung  allein  zu 
dem  Satze  geführt  hätte,  um  den  es  sich  handelt. 
Darin    eben   besteht   die  Täuschung   des  Lesers". 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  eben  ge- 
schilderte Entwicklung  in  den  meisten  Fällen  i  m 
Unbewußten  vor  sich  geht.  Der  ganze  Vor- 
gang beruht  auf  dem  psychologischen  Moment, 
daß  der  Mensch  durchaus  die  Schranken  durch- 
brechen möchte,  die  ihm  die  Natur  in  seinem 
Denken  und  Handeln  überall  setzt.  Hat  er  ein- 
mal eine  Luke,  d.  h.  einen  neuen  Gesichtspunkt 
gefunden,  so  stürmt  das  Denken  mit  einem  keine 
Grrenzen  kennenden  Elan  hindurch  und  glaubt 
nun  die  Welt  in  ihrem  innersten  Wesen  vor  sich 
ausgebreitet  zu  sehen.  Der  so  von  der  Natur 
genarrte  Theoretiker  vergißt  dabei  ganz,  daß  die 
Wissenschaft  auch  ein  Siück  Natur  ist,  und  daß 
auch  hier  die  Bäume  nicht  in  den  Himmel  wachsen 
können  und  das  Weitertreiben  der  Spekulationen 
beeinflußt  häufig  sein  dadurch  übermäßig  stark 
in  Anspruch  genommenes  abstraktes  Denken  so- 
weit, daß  ihm  immer  mehr  die  Fähigkeit  ver- 
loren geht.  Einfaches  als  einfach  anzusehen.  Die 
Naturwissenschaft  erforscht  und  erkennt  ihr  Ob- 
jekt durch  Beobachtung  und  Erfahrung,  und  es 
wird  wohl  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß 
das  Beobachten  und  Erkennen  eine  Äußerung 
der  Natur  ist.  —  Es  wird  nicht  unangebracht 
sein,  wenn  ich  an  dieser  Stelle  zu  diesem  Gegen- 
stande die  folgenden  Worte  Machs  zitiere.  Mach 
sagt  am  Eingang  seines  Vortrages  (Über  den 
Einfluß  zufälliger  Umstände  auf  die  Entwicklung 
von  Erfindungen  und  Entdeckungen):^) 

„Den  naiven  hoffnungsfrohen  Anfängen  des 
Denkens  jugendlicher  Völker  und  Menschen  ist 
es  eigentümlich,  daß  beim  ersten  Schein  des  Ge- 
lingens alle  Probleme  für  lösbar  und  an  der 
Wurzel  faßbar  gehalten  werden.  So  glaubt  der 
Weise  von  Milet,  indem  er  die  Pflanze  dem  Feuchten 
entkeimen  sieht,  die  ganze  Natur  verstanden  zu 
haben;   so  meint   auch   der  Denker  von   Samos, 


weil  bestimmte  Zahlen  den  Längen  harmonischer 
Saiten  entsprechen,  mit  den  Zahlen  das  Wesen 
der  Welt  erschöpfen  zu  können.  Philosophie  und 
Wissenschaft  sind  in  dieser  Zeit  nur  Eins.  Rei- 
chere Erfahrung  deckt  aber  bald  die  Irrtümer  auf, 
erzeugt  die  Kritik,  und  führt  zur  Teilung,  Ver- 
zweigung der  Wissenschaft.  —  Da  nun  aber 
gleichwohl  eine  allgemeine  Umschau  in  der  Welt 
dem  Menschen  Bedürfnis  bleibt,  so  trennt  sich, 
demselben  zu  entsprechen,  die  Philosophie  von 
der  Spezialforschung.  Noch  öfter  finden  wir  zwar 
beide  in  einer  gewaltigen  Persönlichkeit  wie 
Descartes  oder  Leibniz  vereinigt.  Weiter 
und  weiter  gehen  aber  deren  Wege  im  allge- 
meinen auseinander.  Und  kann  sich  zeitweilig 
die  Philosophie  soweit  der  Spezialforschung  ent- 
fremden, daß  sie  meint,  aus  bloßen  Kinderstuben- 
erfahrungen die  Welt  aufbauen  zu  dürfen,  so  hält 
dagegen  der  Spezialforscher  den  Knoten  des 
Welträtsels  für  lösbar  von  der  einzigen  Schlinge 
aus,  vor  der  er  steht,  und  die  er  in  riesiger  per- 
spektivischer Vergrößerung  vor  sich  sieht.  Er 
hält  jede  weitere  Umschau  für  unmöglich  oder 
gar  für  überflüssig,  nicht  eingedenk  des  Voltaire- 
schen  Wortes,  das  hier  mehr  als  irgendwo  zu- 
trifft: »Le  supeiflu  chose  tres  necessaire»." 

Die  eingangs  auffällig  gewordene  doppelte 
Wechselbeziehung  zwischen  Lorentzkontrakiion 
und  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  läßt  uns 
vermuten,  daß  die  Maxwell- Loren  tzsche 
Theorie  und  Einsteins  spezielle  Relativitäts- 
theorie in  einer  solchen  Korrelation  stehen,  wie 
sie  oben  dargelegt  wurde.  Unsere  Aufgabe  hat 
sich  also  nun  dahin  differenziert,  zu  untersuchen, 
ob  sich  die  den  unter  Diskussion  stehenden  Theo- 
rien zugrunde  liegenden  allgemeinen  Gleichungeti 
nach  einem  bestimmten,  in  beiden  Theorien  im- 
plizite enthaltenen  geometrischen  Gesetz  direkt 
ineinander  umrechnen  lassen.  Da  in  diesem  Falle 
die  beiden  Gleichungssysteme  identische  Glei- 
chungssysteme wären,  so  wäre  damit  der  Beweis 
geführt,  daß  die  beiden  Theorien  die  gleichen  und 
nur  die  gleichen  Erfahrungswerte  in  sich  bergen. 
Weil  die  Formel  für  die  Lorentzkontraktion  mit 
den  Maxwell-Lorentz sehen  Gleichungen  iden- 
tisch ist  ^)  und  da  ferner  die  Lorentzkontraktion 
dem  Grade  nach  aus  Einsteins  Lorentz-Trans- 
formation  gefolgert  wird,  so  hätten  wir  offenbar 
das  vermittelnde  geometrische  Gesetz  im  Prinzip 
von  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  zu 
suchen.  Machen  wir  nun  unter  diesen  Bedingungen 
ein  mathematisches  Experiment,  so  finden  wir 
aus  dem  Resultat  die  Richtigkeit  unserer  Annahme 
vollauf  bestätigt.  Setzen  wir  nämlich  die  Werte 
der  Formel  für  die  Lorentzkontraktion  in  Ein- 
steins allgemeine  Gleichung  ein,  die  das  Gesetz 
von  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  aus- 
drückt, so    liefert   die  Rechnung  unmittelbar  — 


')  E.  Mach,  „Pop.-wiss.  Vorles."  4.,  verm.  u.  durcbges. 
Aufl.     Mit  73  Abb.     Leipzig,  Barth,  1910.  (S.  290  u.  291.) 


')  Es  ist  kein  Unterschied,  ob  die  Formel  auf  wahrnehm- 
bare Körper  oder  aber  auf  Elektronenkörper  Anwendung 
findet. 


4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  1 


Einst.eins  Lorentz-Transformation.  Mit  Rück- 
sicht auf  obigen  Ausspruch  von  C  o  u  r  n  o  t  müssen 
wir  nun  argumentieren,  daß  Einstein  bei  Auf- 
stellung der  Lorentz  -  Transformation  folgende 
Bauanweisung  unbewußt  benutzt  hat: 

Die  Reihe  gegebener  Punkte  ist  in  der  von 
Lorentz  aufgestellten  Formel  für  die  Lorentz- 
kontraktion  festgelegt. 


:  =  x']/l 


I. 


worin        x  =  vt  2. 

(x'  =  Länge  des  im  Äther  ruhenden  Stabes 
X  =  Länge  desselben  verkürzten  Stabes  bei   der 
Geschwindigkeit  v.) 
Der  Schlüssel  zum  geometrischen  Gesetz  findet 
sich   im   Prinzip   von   der   Konstanz   der  Lichtge- 
schwindigkeit. 

x' '  —  c-t'"^x-  —  C't".  II. 

Die  Kurve  ist  das  Abbild    der  Lorentz-Trans- 
formation: 

x  —  vt 


l/ 

v- 

/l  - 

—   - 

c- 

V 

t  — 

c--^ 

1/ 

v-^ 

r- 

c-2 

I. 


111. 


Dieser  Zusammenhang  ist  in  der  „Einfachen  Ableitung 
der  Lorentz-Transformation"  in  Einsteins  „gemeinverständ- 
licher" Schrift  deutlich  zu  ersehen.  Faßt  man  dort  die  erste 
Gleichung  auf  S.  So  (es  liegt  hier  die  5.  Aufl.  vor)  mit  der 
Gleichung  (7b)  zusammen,  so  erhält  man  unsere  Gleichung 
(I,  l):  Zieht  man  seine  Gleichung  (6)  mit  der  darüber  stehen- 
den Gleichung  zusammen,  so  ergibt  sich  unsere  Gleichung 
(I,  2\  Diese  Gleichungen  ergeben  zusammen  mit  seinen 
Gleichungen  (5)  die  Lorentz-Transformation.  Seine  linearen 
Gleichungen  (5)  sind  aber  zusammengenommen  identisch 
mit  der  allgemeinen  Gleichung  für  das  Gesetz  von  der 
Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  (seine  Gleichung  Sa),  nur 
ist  dort  bereits  das  Verhältnis  der  Konstanten  bestimmt. 
Das  Konstanlenverhältnis  ist  -er  ausgerechneten  Lorentz- 
Transformation  entnommen.  Einstein  gibt  dem  Konstanten- 
verhältnis zusammen  mit  unserer  Gleichung  (1,  2)  eine  ,, evi- 
dente" Deutung:  spezielles  Relativitätsprinzip.  Da  in  Ein- 
steins Ableitung  die  Gleichungen  für  das  spezielle  Kelativi- 
tätsprinzip  mit  den  linearen  Gleichungen  für  das  Prinzip  von 
der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  zusammengezogen 
werden,  so  resultieit  dort  als  Ausrechnung  unsere  Gleichung 
(I,  l).  Die  weitere  Analyse  der  Theorie  bis  auf  ihre  letzten 
Grundbegriffe  bildet  eine  besondere  Aufgabe. 

Wir  haben  also  gefunden :  Die  von  Einstein 
entdeckte  Lorentz  Transformation  ist  das  Resultat 
einer  mathematischen  Analyse  der  Maxwell- 
Lorentzschen  Gleichungen  —  die  Gleichungen 
sind  nach  einem  bestimmten  Gesichtspunkte 
differenziert.  Es  soll  nun  etwas  näher  untersucht 
werden,  wie  die  Differenzierung  auf  Grund  des 
eben  genannten  Rezeptes  vor  sich  geht. 

Zunächst  ist  zu  beachten,  daß  die  Formel  für 
die  Lorentzkontraktion  an  und  für  sich  nichts  an- 
deres zum  Ausdruck  bringt  als  die  Abhängig- 
keitsbeziehung zwischen  Verkürzung  und  Ge- 
schwindigkeit der  Körper,  wobei  die  physikalische 
Ursache   der  Verkürzung   gar   keine   Rolle   spielt. 


Es  liegt  hier  der  gleiche  Kasus  vor  als  z.  B,  bei 
Anwendung  der  Formel  für  den  freien  Fall,  denn 
bei  Gebrauch  derselben  fragt  man  auch  nicht 
nach  der  Ursache  der  Fallbewegung.  Ein  Natur- 
gesetz besagt:  Es  ist  nun  einmal  so,  das  Experj-, 
ment  bestätigt  immer  wieder,  daß  es  so  ist,  aber 
warum  es  so  ist,  wissen  wir  nicht;  es  ist  ledig- 
lich das  tatsächliche  Verhalten  auf  eine  Formel 
gebracht.  Die  Formel  für  die  Lorentzkontraktion 
ist  eine  in  eine  Gleichung  gekleidete  Deutung  der 
Resultate  der  Michelson- und  ähnlicherV ersuche,  also 
eine  in  Zahlen  gesetzte  Hypothese,  womit  sich  die 
scheinbare  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit, 
das  IVIeßergebnis  der  Versuche,  beschreiben  läßt. 
Die  „Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit"  ist  also  in 
den  Maxwell-Lorentzschen  Gleichungen  im- 
plizite enthalten  1  Was  bei  Lorentz  als  schein- 
bar gilt,')  wird  nun  bei  Einstein  Wirklichkeit^ 
seine  spezielle  Relativitätstheorie  setzt  die  Kon: 
stanz  der  Lichtgeschwindigkeit  als  Prinzip  an  die 
Spitze.  Dieses  Postulat  hat  die  Abhängigkeit  von 
Längen  und  Zeiten  (und  auch  die  Verbannung 
des  Äthers)  zur  unabweisbaren  Konsequenz.  Diese 
zunächst  labile  Abhängigkeitsbeziehung  wird  in 
die  F"orm  der  allgemeinen  Gleichung  (II)  gebracht 
und  damit  die  „alles  umfassende"  Relativitäts- 
theorie die  bewährte  Maxwell-Lorentzsche 
Theorie  genau  in  sich  einschließt,  werden  die 
Werte  der  bekannten  Formel  für  die  Lorentz- 
kontraktion (I)  in  die  Gleichung  (II)  eingesetzt. 
Die  Ausrechnung  liefert  dann  die  Lorentz-Trans- 
formation (111).  Einstein  schreibt:  „Die  spe- 
zielle Relativitätstheorie  ist  aus  der  Maxwell- 
Lorentzschen  Theorie  der  elektromagnetischen 
Erscheinungen  auskristallisiert".  Aus  diesem  Zu- 
sammenhange ist  deutHch  ersichtlich,  wie  die 
„Lorentzkontraktion"  in  Einsteins  Lorentz- 
Transformation  implizite  enthalten  ist.  Da  die 
Formel  für  die  Lorentz-Kontraktion  für  gleich- 
förmige Translationsbewegungen  gilt,  so  können 
wir  ergänzend  sagen,  daß  auch  die  „spezielle 
Relativität"  in  den  Maxwell-Lorentzschen 
Gleichungen  implizite  enthalten  ist. 

Zwei  Beispiele  mögen  zur  weiteren  Klärung 
der  hier  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse 
dienen.  Es  ist  bekannt,  daß  ein  ins  Wasser  ge- 
haltener Stab  dem  Auge  gebrochen  erscheint. 
Nehmen  wir  nun  an,  es  fehlte  uns  der  Tastsinn, 
mit  dem  wir  sonst  die  Täuschung  konstatieren, 
wie  würden  wir  dann  die  augenfällige  Erscheinung 
des  gebrochenen  Stabes  deuten  können?  Wir 
würden  dann  entweder  argumentieren :  es  besteht 
in  Wirklichkeit  das  Prinzip  von  der  Brechung 
des  Lichtes  und  die  Erscheinung  des  gebrochenen 
Stabes    ist   nur    eine  scheinbare;    oder    aber:    der 


')  Neben  die  Annahme  von  Lorentz,  daß  alle  Körper 
(unabhängig  von  Material  und  sonstigem  physikalischen  Zu- 
stand) bei  der  Bewegung  gegen  einen  materiellen  Äther  durch 
dessen  Einwirkung  eine  spezifisch  gleiche  Verkürzung  erleiden, 
wäre  die  Tatsache  zu  setzen,  daß  alle  Körper  (anabhäifgig 
von  Material  und  sonstigem  physikalischen  Zustand)  im  luft- 
leeren Raum  die  gleiche  Fallbeschleunigung  erfahren. 


NF.  XX.  Nr.  1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S 


Stab   wird   beim  Eintauchen   in   das  Wasser  tat- 
sächlich   gebrochen    und    die    Lichtbrechung    ist, 
wenn  auch  eine  brauchbare  Annahme,  nur  schein- 
bar.    Entsprechend   folgert   Lorentz:   das  Kon- 
tralttionsprinzip  ist  Wahrheit  und  die  augenfällige 
Erscheinung  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindig- 
keit    beim    Michelsonversuch    ist    scheinbar,    das 
Additionstheorem    der  Lichtgeschwindigkeit    gilt ; 
und    Einstein:    das    Prinzip    von    der  Konstanz 
der  Lichtgeschwindigkeit  existiert  und  die  Lorentz- 
kontrakiion    ist    scheinbar.      Wir    sehen ,    daß    in 
beiden    Fällen    ein    gemeinsamer   Tatbestand    nur 
verschieden    gedeutet    wird.    —   Wir   denken  uns 
ferner    in    einem    unendlich  großen,    leeren  Raum 
zwei  Weltkörper  A  und  B.      Ein  Beobachter   auf 
A  nimmt  zunächst  seinen  Weltkörper   als  ruhend 
an  und  stellt  fest,  daß  B  um  A  eine  Kreisbewegung 
vollführt,    wobei    B    in    demselben    Drehungssinn 
um  seine    eigene  Achse   rotiert.     Bei  einem  Um- 
lauf um  A  macht  B  acht  Umdrehungen  um  seine 
Achse.     Der  Beobachter  setzt  sich  nun  an  seinen 
Schreibtisch   und   stellt    folgende    Reflexionen    an. 
Er  sagt  sich,  daß  sich  seine  Beobachtung  auch  da- 
mit beschreiben  läßt,  daß  man  B  als  ruhend  an- 
nimmt, wobei  dann  sein  Weltkörper  A  eine  Kreis- 
bewegung um  B  im  entgegengesetzten  Drehungs- 
sinne macht  und  in  demselben  entgegengesetzten 
Sinne    um    die    eigene    Achse    rotiert.      Bei    acht 
Umdrehungen  um  B  macht  dann  A  eine  Drehung 
um  die  eigene  Achse.     Nach  weiterem  Überlegen 
bemerkt   der   Beobachter,   daß   noch  ein    anderer 
Standpunkt  möglich  ist.    Er  sagt  sich  nämlich,  daß 
;man    ja    auch    die    Verbindungslinie    der    Mittel- 
punkte der  beiden  Weltkörper  als  ruhendes  Bezugs- 
element   auffassen  kann,    wobei  dann  A  in  dem- 
selben Sinne  wie  zuletzt  rotiert,   während  B  eine 
entgegengesetzte     Rotationsbewegung     vollführt : 
macht    nun    A  einen  Umlauf,    so    macht  B  deren 
sieben.     Nach  Analogie  mit  diesem  Beispiel  dürfen 
wir    sagen,    daß    das    spezielle    Relativitätsprinzip 
die  augenfällige  Erscheinung    der  Nichtkonstatier- 
barkeit  der  Bewegung  der  Erde  gegen  den  Licht- 
äther beim  Michelsonversuch  oder   besser  gesagt, 
das    hier   zutage    tretende    absolute    Verbindungs- 
glied zwischen  Erde  und  einem  im  Äther  ruhenden 
starren    Körper    —    die    Konstanz     der    Lichtge- 
schwindigkeit —  zum  Bezugselement   macht. 

Wir  müssen  bei  all  diesen  Beispielen  und 
ebenso  bei  der  Behandlung  des  Gegenstandes 
unserer  Untersuchung  dauernd  im  Auge  behalten, 
daß  sich  unser  Denken  nicht  mit  den  Dingen, 
wie  sie  an  sich  sind,  sondern  mit  den  Gedanken- 
vorstellungen von  denselben  beschäftigt,  und  daß 
seine  Elemente  nicht  reine  Gegenstände,  sondern 
ihre  gedanklichen  Gegenstücke  sind.  Nur  mit 
von  der  Wirklichkeit  abgerissenen  Symbolen 
lassen  sich  Gedankenexperimente  über  Relativität 
.  a  la  Einstein  anstellen,  denn  nicht  mit  Reali- 
täten, sondern  mit  Gedankenelementen  reflektieren 
wir  —  in  der  Wirklichkeit  existiert  kein  Inei  tial- 
system. ')  „Du  gleichst  dem  Geist ,  den  du  be- 
greifst, nicht  mirl'  sagt  die  Seele  der  Natur  zum 


Flaust.  Hätte  dieser  Relativitätsgedanke  den  Wert 
einer  universellen  Weltformel,  so  müßte  z.  B.  ein 
beseeltes,  durch  Erwärmen  ausgedehntes  Stück 
Eisen  die  Veränderung  auch  dahin  interpretieren 
können;  ich  habe  mich  überhaupt  nicht  verändert, 
sondern  das  ganze  Universum  hat  sich  verkleinert 
und  abgekühlt.  Oder  ein  Trunkener  wäre  be- 
rechtigt, seine  getrübten  Beobachtungen  dahin 
auszulegen :  ich  bin  das  Absolute,  Unveränderliche 
und  normal,  aber  die  ganze  Welt  ist  trunken.  — 
Der  Einstein  sehe  Relativitätsgedanke  eignet 
sich  nicht  als  Fundament  zum  Aufbau  einer  ge- 
danklichen Welt. 

Formulieren  wir  nun  das  Gesamtergebnis  un- 
serer Untersuchung  in  Verbindung  mit  den  un- 
mittelbar daraus  hervorgehenden  Folgerungen 
allgemeinster  Art,  so  erhalten  wir; 

Einsteins  Lorentz  -  Transformation  ist  das 
Resultat  einer  bloßen  Verschmelzung  der  Max- 
well- Loren  tzschen  Gleichungen  mit  der  all- 
gemeinen Gleichung,  die  das  Gesetz  von  der 
Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  ausdrückt  und 
ist  nicht  ursprünglich  aus  dem  Prinzip  von  der 
Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  und  dem  Re- 
lativitätsprinzip hervorgegangen.  Die  Gnmd- 
gleichungen  der  Maxwell  -  Lorentz  sehen 
Theorie  und  Einsteins  spezieller  Relativitäts- 
theorie sind  exakt  identische  Gleichungen.  Das 
allgemeine  geometrische  Gesetz,  das  in  beiden 
Grundgleichungen  implizite  enthalten  ist  und  das 
die  beiden  Grundgleichungen  ineinander  überführt, 
ist  das  Gesetz  von  der  Konstanz  der  Lichtge- 
schwindigkeit. In  Einsteins  Lorentz  •  Trans- 
formation sind  die  gleichen  und  nur  die  gleichen 
Erfahrungswerte  enthalten  als  in  den  Maxwell - 
Loren  tzschen  Gleichungen.  Einsteins  spe- 
zielle Relativitätstheorie  und  die  Maxwell- 
Lorentzsche  Theorie  beschreiben  das  in  Be- 
tracht kommende  Tatsachengebiet  der  Wirklich- 
keit entsprechend,  wenn  dabei  das  den  Maxwell- 
Loren  tzschen  Gleichungen  zugrunde  liegende 
Erfahrungsbereich  innegehalten  wird  —  alles 
übrige  ist  Spekulation.  Da  wir  aus  der  Erfahrung 
nicht  wissen,  ob  die  Max  well- Lo  re  ntzschen 
Gleichungen  in  jedem  Geschwindigkeitsbereich 
Gültigkeit  besitzen,  so  ist  z.  B.  dem  Begriff  von 
der  Grenzgeschwindigkeit  des  Lichtes  nur  eine  ähn- 
liche Bedeutung  beizumessen,  als  wie  sie  etwa 
dem  Elastizitätsmodul  der  Festigkeitslehre  zu- 
kommt. (Natürlich  hätte  auch  schon  Lorentz 
den  Stab  verschwinden  lassen  können,  denn  man 
braucht  nur  in  seiner  Kontraktionsformel  für  die 
Geschwindigkeit  v  die  Lichtgeschwindigkeit  c  zu 
setzen  und  schon  schrumpft  der  Stab  zu  einem 
Nichts  zusammen.)  Da  sich  Einstein  bei  Auf- 
stellung seiner  Theorie  nur  in  Zahlen  bewegt  hat, 
so  ist  er  nicht  berechtigt  mit  seinen  neuen,  er- 
rechneten   Begriffen    einen    realen,    physikalischen 


')  Für  diesen  Zusammenhang  sind  die  Überlegungen  von 
M.  Palagyi  seines  Vortrages  „Die  Relativitätstheorie  in  der 
modernen  Physik"  besonders  wichtig. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Sinn  zu  verbinden.  Eine  vorhandene  Theorie 
kann  wohl  durch  bloße  mathematische  Operationen 
ausgebreitet,  aber  niemals  vertieft  werden.  Ein 
„alles  umfassendes  physikalisches  Weltbild",  wenn 
das  menschliche  Denken  jemals  ein  solches  er- 
zeugen könnte,  ist  niemals  mit  einziger  Hilfe 
von  Mathematik  zu  konstruieren.  Einsteins 
„Weltbild"  spekuliert  unberechtigterweise  unerlaubt 
weit  über  die  zurzeit  festgestellten  Beobachtungen 
hinaus.  Einsteins  spezielle  Relativitätstheorie 
stützt  sich  nicht  auf  das  Prinzip  von  der  Anpas- 
sung der  Gedanken  an  Beobachtungen,  sondern 
beruht  auf  dem  Verfahren  der  Anpassung  von 
Gedanken  an  Gedanken  —  kurz  gesagt:  Ein- 
steins „Weltbild"  ist  eine  verunglückte  Zahlen- 
spekulation I 

Wir  wollen  uns  nun  zum  Schluß  den  hier 
wirksamen  Mechanismus  des  Gedankenanpassens 
zusammenfassend  zum  Bewußtsein  bringen.  Wir 
haben  soeben  gesehen,  daß  die  Lorentz- Trans- 
formation identisch  mit  den  Maxwell-Lorentz- 
schen  Gleichungen  ist,  und  daß  die  einzelnen 
Elemente  in  jedem  Gleichungssystem  ihre  Be- 
deutung deshalb  wechseln,  weil  jedes  System  ein 
anderes  Element  zum  Bezugselement  macht. 
Während  Lorentz  sich  auf  den  im  Äther  ruhen- 
den Körper  bezieht,  nimmt  Einstein  Bezug  auf 
die  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit.  Die 
letztere  Festsetzung  zwingt  das  Denken  mit 
logischer  Notwendigkeit  zur  Verleugnung  des 
Äthers  und  zur  Annahme  der  Abhängigkeit  von 
Längen  und  Zeiten,  und  die  Verbannung  des 
Äthers  hat  weiter  eine  neue  Erklärung  der  Ent- 
stehung des  Lichtes  zur  Folge.  Da  Einstein 
und  der  größere  Teil  der  Verfechter  seiner  Lehre 
seine  Gedankenerzeugnisse  für  unumstößliche 
Wahrheiten  halten,  so  verfallen  sie  in  den  uralten 
Fehler  metaphysischer  Theorienbildung,  die  immer 
wieder  versucht,  die  wahre  Natur  der  Dinge  aus 
den  Begriffen  von  denselben  abzuleiten.  So  kon- 
struierte man  sich  früher  zornige  Geister,  um 
sich  damit  die  Vorgänge  beim  Donnern,  bei 
Vulkanausbrüchen,  bei  Sonnenfinsternissen  usw. 
begreiflich  zu  machen;  und  wenn  nun  leere  und 
sphärische  Räume  und  errechnete  Raum-  und 
Zeitabhängigkeit  zur  Erklärung  aller  Geheimnisse 
der  Natur  dienen  sollen,  so  sehen  wir  hier  weiter 
nichts  anderes  darin  als  einen  modernen  Ersatz 
für  jene  ehemaligen  metaphysischen  Geister  —  und 
dazwischen  stellen  wir  das  wüste  Treiben  der 
modernen  Spiritisten.  Wenn  die  Alten  im  Donner 
den  Zornausbruch  eines  Geistes  sahen,  so  mag 
dies  in  Anbetracht  des  zu  jener  Zeit  herrschenden 
Aberglaubens  noch  angehen,  denn  böse  Geister 
waren  den  Menschen  schon  damals  in  der  Er- 
fahrung aus  anderen  Gebieten  zur  Genüge  be- 
kannt. Wenn  aber  heute  die  Lorentz- Kontraktion 
auf  das  Vorhandensein  eines  „Nichtstoffes"  zurück- 
geführt wird,  so  sehen  wir  in  diesem  Erklärungs- 
versuch ein  Gemenge  von  „Idem  per  idem  er- 
läutern" mit  einem  „Obscurum  per  obscurius  er- 
klären" und  identifizieren  ihn  mit  der  zeitgemäßen 


Anpassungsmethode:  daß  das  Leder  so  teuer  ist, 
daran  sind  die  hohen  Schuhpreise  schuld.  (Ich 
bitte,  die  Verwendung  solcher  Analogien  an  dieser 
Stelle  nicht  als  den  Erguß  einer  Geschmacklosig- 
keit aufzufassen;  ich  bin  mir  dabei  nur  der  Tat- 
sache bewußt,  daß  durch  Vorführung  drastischer 
Vergleiche  Bände  gespart  werden:  wissenschaft- 
liche Ökonomie!)  Die  verbreitete  Annahme,  daß 
heute  die  Metaphysik  aus  den  Naturwissenschaften 
verschwunden  sei,  beruht  leider  auf  einem  Irrtum. 
Wenn  es  heute  noch  Physiker  und  Chemiker  gibt, 
die  bei  Gebrauch  von  Abstraktionsgebilden,  wie 
Atomen  und .  Molekülen,  wie  von  wirklichen 
Dingen  reden,  so  hat  die  Philosophie  die  Pflicht, 
ihre  Kenntnisse  zwecks  rücksichtsloser  Aufklärung 
zu  verwerten  und  hat  sämtlichen  Spezialisten 
z.  B.  die  vortrefflichen  Worte  des  EuckenPhilo- 
sophen  Otto  Braun*)  vorzuhalten:  „Erfahrung 
und  Mut  des  Denkens  müssen  sich  einen:  von 
Gedanken  her  erfolgt  die  Frage  an  den  Stoff, 
die  Erfahrung  gibt  die  Antwort  —  und  nie 
dürfen  wir  den  Begriffen  zuliebe  uns 
der  Wirklichkeit  verschließen."  Atome, 
Moleküle,  Schwerpunkt  usw.  sind  Begriffe  und  es 
wird  wohl  niemand  behaupten  wollen,  daß  es 
einen  „wirklichen"  Schwerpunkt  gibt.  Neue 
Wahrheiten  von  apodiktischer  Genauigkeit  und 
Gewißheit  liefert  nur  die  experimentelle  Forschung 
—  eine  brauchbare  Theorie  schematisiert  die  Er- 
fahrungswerte. Lassen  sich  Wahrnehmungen 
sammeln  und  organisieren,  so  darf  dann  das 
Schema  und  vor  allen  Dingen  die  Art  seiner  Dar- 
legung niemals  so  beschaffen  sein,  daß  man  sich 
erst  das  Gehirn  zermartern  muß,  um  das  System 
begreifen  zu  können.  Weitgehende  Folgerungen 
einer  Theorie  haben  dann  hohen  praktischen 
Wert,  wenn  dabei  der  Forscher  die  wissenschaft- 
liche Einsicht  besitzt,  daß  seine  Forderungen  in 
Wirklichkeit  nur  approximative  Gültigkeit 
besitzen,  aber  einen  oft  zuverlässigen  Führer  für 
weitere  Untersuchungen  bilden  können.  *)  Besteht 
dann  die  Möglichkeit,  den  Verlauf  der  voraus- 
gesagten Vorgänge  durch  Versuch  genau  zu  be- 
stimmen, so  können  die  so  neu  gefundenen  Daten 
rückwärts  in  die  den  Spekulationen  zugrunde 
liegenden  Gleichungen  eingeführt  werden  (In- 
duktion), und  erst  wenn  diese  Revidierung  statt- 
gefunden hat,  sind  die  Grundgleichungen  für  eine 
weitere  neue  Theorie  geschaffen.  Brauchbare 
Theorien  fallen  den  Menschen  nicht  als  Ergeb- 
nisse von  bloßen  Gedankenexperimenten  fix  und 
fertig  abgerundet  in  den  Schoß,  sondern  sie 
müssen  erst  in  der  Erfahrung  erarbeitet  werden. 
Die  Wissenschaft  ist  nie  eine  fertige  Größe,  son- 
dern sie  ist  stets  etwas  Werdendes,  Unabge- 
schlossenes,   Bewegtes :    die    ganze    Welt    ist    in 


')  Prof.  Dr.  Otto  Braun,  „Geistesprobleme  und  Lebens- 
fragen". Ausgewählte  Abschnitte  aus  den  Werken  Rudolf 
Euckens.     Reclam  Nr.  5993—5995  (S.  29). 

')  Die  Behandlung  der  allgemeinen  Relativitätstheorie 
nach  diesem  Gesichtspunkte  mag  in  einem  folgenden  Aufsatz 
durchgeführt  werden. 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Fluß!      Ein  Werk,   das  fruchtbar   sein  soll,    muß     tivitätstheorie   glaubt   ein  Abschluß   zu   sein   und 
immer  Triebe  erkennen  und  fühlen  lassen,   damit      wäre  dann  —  der  Sarg  der  Physik, 
es    eben    leben   und   wachsen   kann.      Die   Rela- 


Zur  Metaiiiorphosenlehre. ') 


(Nachdruck  verboten.)  Von   Dr.   A, 

Dem  naiven  Realismus,  der  uns  gewisser- 
maßen angeboren  ist,  gelten  die  Dinge  so,  wie 
sie  erscheinen.  Das  ist  die  natürliche  Auffassung 
im  gewöhnlichen  Leben,  die  auch  von  Kant  ge 
billigt  wird.  Aus  der  Erkenntnis,  daß  diese  Auf- 
fassung unvollkommen  ist,  sind  Wissenschaft  und 
Forschung  erst  entstanden.  Diese  strebt  unter 
allen  Umständen  dahin,  eine  möglichst  absolute 
Erkenntnis  der  Gegenstände  zu  erlangen.  Das  ist 
durch  bloße  Anschauung  nicht  möglich.  Die 
Fähigkeit  unseres  Denkens  nur  kann  uns  Erkennt- 
nis verschaffen.  Der  natürliche  Anfang  dieser 
Tätigkeit  ist  der  Vergleich.  Wir  suchen  einen 
uns  unverständlichen  Gegenstand  dadurch  besser 
zu  verstehen,  daß  wir  ihn  mit  einem  uns  schon 
verständlichen  vergleichen.  Dadurch  kommen 
wir  aber  nur  zu  einer  relativen  Erkenntnis  und 
in  den  allermeisten  Fällen  müssen  wir  uns  auch 
in  der  Wissenschaft  mit  dieser  Art  Erkenntnis 
begnügen. 

So  ging  es  anfangs  auch  mit  den  Blüten,  die 
einen  so  auffallenden  Gegensatz  zu  den  Laub- 
organen  der  Pflanzen  bilden,  daß  sie  als  etwas 
davon  absolut  verschiedenes  erscheinen.  Mal- 
pighi  und  andere  verglichen  aber  doch 
wenigstens  die  Hüllorgane  der  Blüten,  Kelch  und 
Blumenblätter  mit  Laubblättern.  Zum  morpho- 
logischen Vergleich  der  eigentlichen  Fortpflanzungs- 
organe kam  es  aber  nicht,  weil  hier  jede  Mögliah- 
keit  eines  Vergleichs  aufhörte.  Die  bloße  be- 
griffliche Unterordnung  der  Blütenteile  unter  den 
Begriff  Blatt  ist  aber  bloße  Klassifikation 
und  keine  Hypothese,  sie  hat  für  die  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  gar  keinen  Wert.  Denn 
was  hieße  es:  ein  Staubfaden  ist  ein  Blatt,  wenn 
dies  Wort  einen  bloßen  Begriff  bedeutet.  Ein 
„Blatt"  gibt  es  in  Wirklichkeit  gar  nicht,  es  gibt 
nur  Laubblätter,  Hochblätter,  Blumenblätter,  Kelch- 
blätter, Fruchtblätter.  Es  müßte  also  gesagt  wer- 
den, was  für  eine  Art  Blatt  ein  Staubfaden  sein 
solle.  Das  eigentliche,  in  allem  Anfang  durch 
die  Sprache  so  genannte  Blatt  ist  das  große 
Organ  der  Pflanzen,  das  Laubblatt  von  flacher 
Form.  Also  wenn  eine  Beziehung  überhaupt  an- 
genommen wird,  kann  man  nur  sagen,  ein  Staub- 
faden ist  ein  Laubblatt,  d.  h.  der  Anlage  nach, 
denn  später  gleichen  sie  sich  nicht  mehr.  Es 
hat  also  nicht  bloß  den  Ort  eines  Laubblattes, 
worauf  C.  F.Wolf  das  Hauptgewicht  legte,  son- 
dern auch  gewisse  innere  Eigenschaften  der  Laub- 
biattanlage.  Dafür,  daß  das  Alte  in  neuer  Form 
erscheint,  sind  wir  gezwungen ,  eine  Ursache  an- 
zunehmen   und    da    hier    Beobachtung    nicht 


Hansen  f. 

möglich  ist,  nehmen  wir  vorläufig  eine  hypothe- 
tische Ursache  an;  die  Metamorphose.  Auf 
diesem  Standpunkt  stehen  Goethe,  Goebel  und 
andere  Botaniker  mit  ihm.  Durch  noch  un- 
bekannte Wirkungen  ändern  sich  die  Eigen- 
schaften und  danach  die  ganze  Form  der  Laub- 
blattanlage und  sie  wird  zum  Sporophyll.  Dieser 
Standpunkt  wird  in  den  meisten  Lehrbüchern 
vertreten  z.  B.  in  Strasburgers  Lehrbuch,  1 3.  Auf- 
lage, durch  Fitting  S.  169. 

Nach  Veröffentlichung  meiner  letzten  Arbeit 
über  Goethes  Morphologie ")  schrieb  mir  ein  be- 
freundeter Kollege,  daß  er  diesen  Standpunkt  nicht 
teilen  könne,  eine  Staubfadenanlage  sei  doch  von 
Anfang  an  eine  Staubfadenanlage  und  keine 
Laubblattanlage.  Dieser  Standpunkt  ist  der  oben- 
bezeichnete natürliche  Realismus,  für  den 
die  Sachen  so  sind,  wie  sie  scheinen.  Wenn  er 
auch  antitheoretisch  ist,  so  ist  er  doch  nicht  völlig 
atheoretisch.  Für  ihn  ist  ein  Staubblatt  schon  in 
der  Anlage  ein  Staubblatt,  ein  Karpell  ein  Karpell. 
Es  gibt  also  keine  Metamorphose  der  Blütenteile. 
Diese  begrifflich  doch  als  Metamorphosen  zu 
bezeichnen  ist  ganz  überflüssig  und  unverständlich, 
denn  Metamorphose  kann  nur  ein  zeitlicher  und 
räumlicher  Vorgang  sein.  Das  findet  man  schon 
bei  Kant.  Eine  Metamorphose  von  Begriffen 
ist  weder  logisch  noch  erkenntnistheoretisch  zu  be- 
gründen, sondern  führt  nur  zu  scholastischen 
Kunststücken,  die  leicht  ad  absurdum  zu  führen 
sind.  ■'  '    ^■' 

Nimmt  man  nämlich  diesen  Standpunkt  für 
die  Blüten  an,  dann  müßte  er  auch  für  die 
übrigen  Organe  gelten.  Die  Anlage  einer  Kar- 
toffel wäre  gleich  einer  Knollenanlage,  die  einer 
Blattranke  kein  Blatt,  sondern  eine  Rankenanlage, 
der  Orchideenknolle  keine  Wurzel,  sondern  eine 
Knollenanlage.  Metamorphosen  dürfte  es  dann 
auch  hier  nicht  geben,  die  Herkunft  der  Organe 
könnte  nicht  erklärt  werden,  sie  wäre  dennoch 
Tatsache.  Für  das  Verständnis  der  Funktion  ge- 
nügte das  auch.      Aber   diese    Anschauung   wircl 


')  Dieser  Aufsatz  fand  sich  unter  den  nachgelassenen  Schriften 
Adolph  Hansens  und  wurde  mir  zur  Veröffentlichung 
übergeben.  Da  die  Metamorphosenlehre  das  Gebiet  ist,  welches 
den  Verstorbenen  in  den  letzten  Jahren  bis  kurz  vor  seinem 
Tod  immer  wieder  stark  beschäftigte,  so  glaubte  ich  am 
Manuskript,  abgesehen  von  den  Literaturangaben,  keine  Ände- 
rungen vornehmen  zu  sollen.  Georg  Funk. 

•)  Adolph  Hansen,  Goethes  Morphologie  (Metamor- 
phose der  Pflanzen  und  Osteologie),  GieSen  1919,  Verlag 
A.  Töpelmann.  Auch  in  Ber.  d.  Uberhess.  Ges,  f.  Natur-  u. 
Heilk.     N.  F.     Naturw.  Abteil.  Bd.   7,   19:9,  S.   1—200. 


NaturwissenschaftKehe  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


durch  Tatsachen  sofort  erschüttert.  Bei  den 
Vegetationsorganen  sieht  man  den  Vorgang  der 
Metamorphosen  wirkUch,  worauf  Goethe  schon 
aufmerksam  gemacht  hat  und  was  wohl  niemand 
bezweifelt  (Ranken,  Kartoffel  und  OrchisknoUen, 
Wurzelknollen  usw.). 

Bei  den  Blüten  ergibt  eine  entwicklungsge- 
schichtliche Beobachtung  kein  klares  Resultat.  Die 
Anlage  der  Blütenteile  gleichen  Blattanlagen  ge- 
nau, brauchen  aber  keine  solchen  zu  sein.  Aber 
auch  hier  wird  die  naive  Ansicht  durch  Tatsachen 
erschüttert,  durch  die  sog.  Rückschläge.  Eine 
Staubblattanlage  wird  oft  ein  Blumenblatt  oder  ein 
Karpell,  bei  Vergrünungen  ein  laubblattähnliches 
Gebilde.  Das  beweist,  daß  es  nicht  von  Anfang 
an  eine  unveränderliche  Staubblattanlage  ist, 
sondern  daß  andere  Entwicklungsmöglichkeiten 
darin  verborgen  sind.    Die  Ansicht,  ein  Staubblatt 


ist   von   Anfang   an    ein   Staubblatt,  ist   also   un- 
haltbar. 

Mit  dem  naiven  Realismus  wäre  auch  die 
phylogenetische  Entstehung  der  Blüten  nicht  zu 
begreifen.  Anfangs  gab  es  keine  Blütenpflanzen. 
Die  Blüten  müssen  aus  Vegetationsorganen  ent- 
standen sein,  was  man  bei  den  Kryptogamen,  Mar- 
chantia,  Osmunda,  Ophioglossum ,  Botrychium 
deutlich  sieht,  wo  die  Umwandlung  von  Laub- 
blättern in  Sporophylle  vor  Augen  liegt. 

Die  naive  realistische  Ansicht,  welche  die  Meta- 
morphose bei  den  Blüten  leugnet,  kann  also  auf 
keine  Weise  sich  wissenschaftlichen  Halt  ver- 
schaffen und  sollte  ganz  außer  Kurs  gesetzt  wer- 
den. Es  ist  nicht  denkbar,  daß  ohne  Metamor- 
phose plötzlich  Sexualorgane  an  Pflanzen  entstan- 
den seien.  Zweifellos  liegt  darin  noch  eher  eine 
Energieersparnis,  als  wenn  ohne  vorhandene 
Grundlage    neue  Organe    entstanden    sein   sollten. 


Die  Ausbreituug  der  elektrischen  Wellen  und  die  Konstitution  der  Atniospliäre. 


Von  Karl  Kuhn. 


[Nachdruck  verboten.] 

Die  Reichweite  der  heutigen  Großstationen  für 
drahtlose    Telegraphie    beträgt    20000  km.      Die 
elektrischen  Wellen  müssen  also  der  vollen  Krüm- 
mung eines  Erdhalbmessers  folgen,  um  zur  Emp- 
fangsantenne zu  gelangen.    Durch  die  theoretischen 
Untersuchungen  von  Sommerfeld  *)  und  seinen 
Mitarbeitern   H.   W.   March    und    W.   v.   Ryb- 
czynski  wurde  nachgewiesen,  daß  die  Beugung 
der   viele   Kilometer   langen   elektrischen   Wellen 
an   der  Erdoberfläche  völlig  ausreicht,   um   trotz 
der  eigentlich  geradlinigen  Ausbreitung  genügend 
Energie    zur  Empfangsstation    gelangen  zu  lassen. 
Sommerfelds  Berechnung  der  durch  die  Beu- 
gung ankommenden  Energie  stimmt  innerhalb  der 
möglichen    Genauigkeit   mit   den  Messungen   von 
Austin   gut   überein.      Aber  schon    vor   Jahren 
hat  Marconi**)  beobachtet,   daß  die  Reichweite 
einer    Sendestation    bei    größeren    Entfernungen 
während  der  Nacht  beträchtlich  zunimmt.     Auch 
zeigten  quantitative  Messungen  der  ankommenden 
Empfangsenergie  bei  konstanter  Entfernung  wäh- 
rend der  Nacht   eine   starke  Zunahme  gegenüber 
den   Messungen  am  Tag.     Zunächst   machte  sich 
diese    Erscheinung     nur    bei    Entfernungen    über 
1 000  km  bemerkbar ;  doch  ist  es  K.  E.  F.  S  c  h  m  i  d  t  •') 
auch  gelungen,    bei    nur   400  km  Entfernung  mit 
einer  hochempfindlichen  Apparatur   die  Zunahme 
der  Empfangsenergie  bei  Nacht  zu  messen.    Den 
gleichen   Einfluß   wie   die  Nacht   zeigte   auch  die 
Sonnenfinsternis*)    vom    17.   April    191 2.      Diese 


')  Jahrbuch   d.  drahtlosen  Telegraphie  Bd.   17,    S.  2 — 15 

(1917)- 

')  J.  Zenneck,  Lehrbuch  d.  drahtlosen  Telegraphie. 
3.  Aufl.     Stuttgart   1913. 

')  Mitteil.  d.  naturforsch.  Gesellsch.  zu  Halle  a.  S,  Bd.  2, 
S.  9 — 12.     Halle   1913. 

*)  Met.  Zeitschr.  Bd.  37,  S.  177—184  (1920). 


Verhältnisse     kann     Sommerfelds     Beugungs- 
theorie nicht  erklären. 

Es  ist  deshalb  schon  viel  früher  von  Heavi- 
side,  Eccles')  u.  a.  die  Theorie  aufgestellt 
worden,  die  großen  Reichweiten  seien  durch  Re- 
flexion oder  Brechung  der  elektrischen  Wellen  an 
ionisierten  Luftschichten  zu  erklären.  Etwa  in 
der  Höhe  des  Nordlichts  soll  eine  dauernd  ioni- 
sierte Luftmasse  vorhanden  sein,  die  durch  eine 
korpuskulare  Strahlung  ^)  der  Sonne  hervorgerufen 
sein  könnte.  Diese  Tag  und  Nacht  gleichmäßig 
ionisierte  Schicht  wird  allgemein  als  die  Heaviside- 
s<Jiiicht^)  bezeichnet  und  durch  Spiegelung  der 
elektromagnetischen  Wellen  an  ihr  können  die 
außergewöhnlichen  Reichweiten  während  der 
Nacht  erzielt  werden.  Am  Tage  dagegen  sollen 
die  Wellen  der  drahtlosen  Telegraphie  gar  nicht 
bis  in  die  Höhe  der  Heavisideschicht  gelangen, 
da  sich  durch  die  ultraviolette  Sonnenstrahlung 
bereits  in  sehr  viel  geringerer  Höhe  ionisierte 
Zwischenschichten  ausbilden  sollen ,  welche  die 
elektrischen  Wellen  reflektieren  und  vom  Vor- 
dringen zur  Heavisideschicht  abhalten. 

Tatsächlich  nimmt  die  Intensität  des  Sonneh- 
ultravioletts  nach  den  Messungen  von  W ig  and,*) 
der  diese  im  Freiballon  bis  in  9425  m  Höhe  mit 
einem  Zinkkugelphotometer  nach  Elster  iirld 
G  e  i  t  e  1  untersuchte ,  außerordentlich  stark  mit 
der  Höhe  zu.  Auch  weist  die  elektrische  Leit- 
fähigkeit der  Luft  in  hohen  Atmosphärenschichten 
eine  beträchtliche  Steigerung  auf,  selbst  wenn  von 


')  Physik.  Zeitschr.  Bd.   13,  S.   1163  (1912). 

'')  Jahrbuch  d.  drahtlosen  Telegraphie  Bd.  12,   S.  175— 

l8j  (1917)- 

3)  1.  c.  S.  56—67. 

*)  Abderhalden,  Fortschritte  d.   naturwiss.  Forschung 
Bd.   10,  S.  246-269  (1914I. 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


9 


der  durch  die  Luftdruckerniedrigung  vermehrten 
Beweglichkeit  der  Ionen  abgesehen  wird.  Nach  den 
wenigen  vorliegenden  Messungen  von  Wigand  ') 
erreicht  die  Leitfähigkeit  bei  6000  m  einen  Wert, 
welcher  gleich  dem  22  fachen  Betrag  des  Pots- 
damer Mittelwertes  für  normale  Tage  ist.  In 
8865  m  Seehöhe  maß  Wigand  eine  Leitfähig- 
keit, welche  68  mal  so  groß  wie  die  gleichzeitig 
am  Erdboden  herrschende  war.  Es  ist  also  an 
der  Möglichkeit  des  Vorkommens  ionisierter  Luft- 
schichten in  niedrigeren  Höhen  wohl  nicht  zu 
zweifeln. 

Da  Sommerfelds  Beugungstheorie  die  nor- 
male Ausbreitung  der  elektrischen  Wellen  am 
Tag  völlig  einwandfrei  darstellt,  so  haben  wir 
eigentlich  „keinen  Grund,  bei  den  Tagesbeobach- 
tungen die  Mithilfe  von  reflektierenden  Luft- 
schichten mit  in  Anspruch  zu  nehmen.  Wohl 
aber  dürften  diese  zur  Erklärung  der  abnorm 
großen  und  gleichzeitig  unregelmäßigen  Reich- 
weiten bei  Nacht  heranzuziehen  sein".  (Sommer- 
feld^).) In  der  Nacht  schwankt  die  vergrößerte 
Reichweite  oft  stark;  bei  konstanter  Entfernung 
ist  die  ankommende  Energie  sehr  veränderlich. 
Wenn  die  Ursache  davon  eine  ionisierte  Luft- 
schicht in  großer  Höhe  ist,  so  kann  diese  reflek- 
tierende Schicht  (die  Heavisideschicht)  keine 
völlig  zusammenhängende  lückenlose  Kugelschale 
sein,  sondern  es  ist  wohl  die  rasche  Veränder- 
lichkeit der  ankommenden  Signale  durch  eben- 
falls veränderliche  Heavisidewolken  bedingt. 

Die  Höhe  der  ionisierten  Heavisidewolken- 
schicht  berechnet  C.  J.  d  e  G  r  o  o  t  ^)  für  die  Tro- 
pen zu  rund  200  km.  Bei  seinen  Messungen  in 
Niederländisch  -  Ostindien  konnte  de  Groot  fast 
jede  Nacht  eine  „stille  Zone"  in  etwa  3000  km 
Entfernung  beobachten,  die  völlig  der  „Zone  des 
Schweigens"  bei  starken  Schallphänomenen  ent- 
spricht. Während  also  in  der  Nacht  in  3000  km 
Entfernung  die  Zeichen  der  Sendestation  nicht 
mehr  wahrgenommen  werden  konnten,  waren  zur 
selben  Zeit  gleichstarke  Empfangsanlagen  in 
4000  bis  5000  km  Entfernung  in  sehr  guter  Ver- 
bindung mit  der  Sendestation.  Aus  der  Lage 
der  „stillen  Zonen"  ergibt  sich  die  angegebene 
Höhe  von  etwa  200  km  für  die  Heavisideschicht. 
Daß  in  Europa  bei  Nachtverbindungen  eine  stille 
Zone  selten  zur  Beobachtung  kommt,  erklärt  de 
Groot  aus  der  viel  stärkeren  Ausprägung  der 
oberen  Luftschichten  in  den  Tropen. 

Von  großer  Wichtigkeit  für  die  genaue  Höhen- 
bestimmung der  Heavisideschicht  und  von  ioni- 
sierten Zwischenschichten  wäre  die  Ausführung 
eines  Vorschlags  von  J.A.Fleming.*)  Ähnlich 
wie  L ö w y  und  Leimbach'')  die  Tiefe  von  Erz- 

')  Abderhalden,  1.  c,  S.  243 — 246  und  Verhandl.  d. 
deutsch,  phys.  Ges.  Bd.  16,  S.  232  ^^9[4). 

^)  Jahrbuch  der  drahtlosen  Telegraphie  Ed.  12,  S.  2 — 15 

(191 7)- 

')  1.  c.  S.   15-35. 

^1  1.  c.  S.  183. 

°)  Phys.  Zeilscbr.  Bd.  11,  S.  697 — 70;  (igio)  und  Bd.  13, 
S-  397—403  (I9«2). 


lagerstätten  und  vom  Grundwasserspiegel  in  der 
Erde  durch  Reflexion  oder  Absorption  von  ge- 
richteten elektrischen  Wellen  festzustellen  suchten, 
so  will  Fleming  die  Höhe  der  Heavisidewolken 
bestimmen.  „Wenn  wir  gerichtete  Luftleiter  an- 
wenden, um  elektrische  Wellen  unter  verschiede- 
nen Winkeln  nach  oben  zu  senden,  und  dann 
beobachten,  wo  diese  hauptsächlich  zur  Erde 
zurückkehren,  könnten  wir  vielleicht  in  der  Lage 
sein,  die  drahtlose  Telegraphie  als  ein  Agens  zur 
Erforschung  der  Atmosphäre  zu  verwenden ,  ge- 
rade wie  wir  einen  Scheinwerfer  benutzen  können, 
um  reflektierende  Objekte  oder  Wolken  in  den 
unteren  Schichten  der  Atmosphäre  zu  entdecken." 
Infolge  des  Weltkriegs  mußte  Fleming  die  Aus- 
führung seines  interessanten  Planes  zurückstellen. 
Nach  Sommerfelds  Hypothese  kann  man 
sich  die  in  der  drahtlosen  Telegraphie  verwandten 
elektromagnetischen  Strahlen  in  Oberflächenwellen 
und  in  Raumwellen  zerlegt  denken.  Die  Raum- 
wellen breiten  sich  in  den  Luftraum  hinein  aus, 
während  die  Oberflächenwellen  ähnlich  wie  Draht- 
wellen an  der  Erdoberfläche  entlanggleiten,  ohne 
tief  in  den  mehr  oder  weniger  leitenden  Unter- 
grund einzudringen.  Nach  oben  nehmen  die 
Oberflächenwellen,  welche  für  die  Zeichenüber- 
tragung vor  allem  in  Betracht  kommen,  langsam 
an  Intensität  ab.  Durch  Intensitätsmessung  der 
ankommenden  Zeichen,  welche  bei  Ballonfahrten 
in  verschiedenen  Höhen  angestellt  werden,  kann 
die  Theorie  der  Oberflächenwellen  auf  ihre  Richtig- 
keit geprüft  werden.  Versuche  im  Freiballon, 
auch  auf  Nachtfahrten,  wurden  von  Lutze^)  bis 
in  6500  m  Höhe  angestellt.  „Bei  den  Versuchen 
mit  Norddeich  als  Sendestation  überwiegen  die 
Oberflächenwellen  stark.  Bei  der  Erhebung  von 
1500  m  auf  6500  m   sinkt   nach  der  Theorie  die 

Energie  der  Oberflächenwellen  auf  — .   Die  Laut- 
^  2,7 

Stärkenmessungen  ergaben  eine  Abnahme  der 
Intensität  etwa  auf  die  Hälfte.  Bei  Berücksicl^ti- 
gung  des  Einflusses  der  Raumwellen,  die  den 
Oberflächenwellen  überlagert  sind,  sind  also  Theorie 
und  Meßergebnis  in  guter  Übereinstimmung."  ^) 
Bei  Paris  als  Sendestation  ergab  sich  eine  viel 
beträchtlichere  Abnahme  der  Intensität  der  elektro- 
magnetischen Wellen,  da  hier  die  Raumwellen 
durch  die  Rundung  der  Erde  abgeschirmt  sind. 
„Die  Lautstärke  in  5500  m  sinkt  etwa  auf  den 
achten  Teil  der  in  1050  m  Höhe  gemessenen. 
Die  Werte  beim  Auf-  und  Abstieg  stimmen  gut 
überein.  Diese  Resultate  liefern  den  experimen- 
tellen Nachweis  der  von  Zenneck  und  Uller 
angenommenen  Oberflächenwellen.  Den  theoreti- 
schen Existenzbeweis  hat  1909  Sommerfeld 
erbracht."-) 


')  Latze  und  Everling,  Abhandl.  d.  naturfor.'ch.  Ges. 
zu  Halle  a.  S.     Neue  Folge  Nr.  3,  79  S.  (1914). 

')  Phys.  Zeitschr.  Bd.  14,  S.  288  und  1152  (I9I3)-  — 
Jahrbuch  d.  drahtlosen  Telegraphie  Bd.  8,  S.  367  (1914).  — 
Wigand,  in:  „Abderhalden,  Fortschritte  d.  naturwiss. 
Forschung"  Bd.   10,  S.   238—239  (1914). 


10 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Diese  Iniensjtätsniessungen  der  elektrischen 
Wellen  auf  Ballonfahrten  wurden  nach  der  sog. 
Parallelohmmethode  angestellt.  Diese  Methode 
ist  aber  für  quantitative  Zwecke  fast  unbrauchbar; 
dazu  kommen  auf  Ballonfahrten  noch  eine  ganze 
Reihe  neuer  Fehlerquellen.  Lutze  und  seine 
Mitarbeiter  suchten  zwar  alle  Einwände  gegen 
ihre  Ergebnisse  zu  entkräften ;  aber  P.  L  u  d  e  w  i  g  ') 
schließt  doch  seine  eingehende  Kritik  mit  den 
Worten:  „Diese  Ergebnisse  können  jedoch  noch 
nicht  als  endgültig  betrachtet  werden."  Man  kann 
also  aus  diesen  Messungen  noch  nicht  den  Schluß 
ziehen,  daß  etwa  die  Heavisideschichten  in  recht 
niedrigen  Höhen '-)  zu  suchen  seien.  Weitere 
Messungen ,  vor  allem  auch  in  der  Stratosphäre 
(in  über  12  km  Höhe),  wären  notwendig;  es  liegt 
hier  noch  ein  weites  Feld  für  die  Betätigung  bei 
Freibaiionfahrten  vor,  denn  die  Theorie  der  Er- 
scheinungen wird  erst  beim  Vorliegen  eines 
größeren  experimentellen  Materials  eine  genauere 
Ausgestaltung  erfahren  können. 


')  Annal.  der  Hydrographie  Bd.  43,  Heft  2  (1914)  und 
Helt  5  und  6  (1915). 

')  Wolken,  welche  I — 5  8  Wasser  in  I  cbm  enthalten, 
können  außerordentlich  grofie  Werte  für  die  Dielektrizitäts- 
konstante erreichen,  die  denen  bei  vielen  flüssigen  und  festen 
Körpern  nahekominen.  „Ist  die  Dielektrizitätskonstante  der 
Wolken  von  einer  Gröfie,  wie  sie  sich  durch  Berechnung  nach 
der  Mischungsregel  ergibt,  so  kann  es  bei  senkrechtem  Ein- 
fallen der  langen  Wellen  der  drahtlosen  Telegraphie  auf 
Wolken  bis  zur  Totalreflexion  kommen."  R.  Emden,  Mün- 
cbener  Berichte  S.  417 — 435  (1918). 


Das  Versagen  der  Sendestationen  für  draht- 
lose Telegraphie  in  Flugzeugen  bei  6  bis  8  km 
Höhe  rührt  nicht  etwa  von  der  Absorption  der 
ausgesandten  elektrischen  Wellen  durch  ionisierte 
Luftschichten  her;  die  Ursache  ist  vielmehr  die 
starke  Luftdruckverminderung  in  der  Höhe,  wo- 
durch die  Funkenentladung  des  Senders  ihren 
oszillatorischen  Charakter  verliert  und  damit  auch 
keine  elektrischen  Wellen  mehr  in  den  Raum 
aussendet.  Zum  Schlüsse  sei  erwähnt,  daß  die 
Möglichkeit  durch  die  drahtlose  Telegraphie  die 
Erdkrümmung  zu  überwinden,  es  andererseits 
verwehrt ,  von  unserem  Planeten  aus  lange 
elektrische  Wellen  mit  größerer  Stärke  in  den 
Weltenraum  hinauszuschicken.  Ebenso  wird  es 
die  Heavisideschicht  unmöglich  machen,  daß  von 
einem  anderen  Planeten,  etwa  vom  Mars,  elektro- 
magnetische Wellen  an  unsere  irdischen  Empfangs- 
stationen gelangen  können.  Das  weitere  Studium 
der  Ausbreitung  der  elektrischen  Wellen  wird  uns 
noch  genauere  Aufschlüsse  über  die  elektrischen 
Zustände  unserer  Atmosphäre  geben  und  zwar 
auch  in  Höhen,  die  nie  auf  einer  wissenschaft- 
lichen Hochfahrt  im  Freiballon  erreicht  werden 
können,  aber  andererseits  wird  nach  unserem 
jetzigen  Wissen  vom  Vorhandensein  der  Heaviside- 
schicht zunächst  und  für  die  nahe  Zukunft  ein 
interplanetarischer  Verkehr  mit  den  langen  elektro- 
magnetischen Wellen  der  drahtlosen  Telegraphie 
nicht  möglich  sein. 


Einzelberichte. 


Die  Empfiudnng  der  Richtung,   aus  der  ein 
Schall  kommt. 

Diese  Empfindung  ist  besonders  sicher  für 
iinbestimmte  Geräusche  und  wurde  bisher  meist 
durch  Bezugnahme  auf  das  äußere  Ohr  erklärt. 
Die  Beweglichkeit,  Größe  und  trichterartige  Form 
des  äußeren  Ohres  bei  einzelnen  Tieren  ließ  es 
daher  verständlich  erscheinen,  daß  diese  eine  be- 
sonders ausgebildete  Fähigkeit  besitzen,  die  Rich- 
tung eines  verdächtigen  Geräusches  zu  empfinden 
und  danach  die  Flucht  in  die  zweckmäßigste 
Richiung  zu  verlegen.  Indessen  ist  auch  beim 
Menschen  diese  SchallRichtungsempfindung  ziem- 
lich scharf  ausgeprägt  und  eine  völlig  befriedigende 
Erklärung  für  dieselbe  wurde  erst  während  des 
letzten  Krieges,  in  dem  naturgemäß  genaue  Rich- 
tungsfeststellungen des  Schalls  eine  wichtige  Rolle 
spielten,  durch  Hornborstel  und  Wert- 
heimer  gefunden.  Nach  einer  von  Kunze  in 
der  physikalischen  Zeitschrift  (1920,  Seite  437) 
beschriebenen  Anwendung  der  neuen  Lehre  auf 
die  Messung  von  Windgeschwindigkeiten  entsteht 
die  Schall  Richtungsempfindung  durch  die  gefühls- 
mäßig beurteilte,  wenn  auch  sehr  kleine  Zeit- 
differenz   der   Empfindungen     in    beiden    Ohren. 


Beläuft  sich  dieser  Zeitunterschied  auf  0,00003 
Sekunden  oder  weniger,  so  verlegt  man  die  Schall- 
quelle in  die  Mittelebene,  wird  jedoch  der  Zeit- 
unterschied größer  als  drei  Hunderttausendstel 
einer  Sekunde,  so  rückt  die  vom  Horcher  ange- 
nommene Schallquelle  mehr  und  mehr  auf  die 
Seite  desjenigen  Ohres,  das  den  Schall  zuerst 
empfängt,  bis  man  bei  0,0006  Sekunden  Differenz, 
die  einem  Schallweg  von  21  cm  entspricht,  die 
Schallquelle  um  90"  seitlich  von  der  Mittelebene 
annimmt.  Bei  003  Sekunden  erst  hört  die  Ein- 
heitlichkeit des  Schalleindrucks  auf,  man  empfindet 
dann  das  Nacheinander  der  von  beiden  Ohren 
aufgenommenen  Schalleindrücke.  Bei  tatsächlich 
seitlich  gelegener  Schallquelle  kann  eine  schein- 
bare Verschiebung  derselben  in  die  Mittelebene 
dadurch  ■  erzielt  werden,  daß  man  den  kürzeren 
Schallweg  durch  Einschaltung  einer  entsprechen- 
den Schlauchleitung  dem  längeren  gleich  macht. 
Kunze  hat  diese  Theorie  mit  gutem  Erfolge 
zur  Messung  der  Windgeschwindigkeit  benutzt, 
indem  er  den  von  einer  Klopfvorrichtung  aus- 
gehenden Schall  sowohl  mit  der  Windrichtung 
als  auch  gegen  dieselbe  je  einem  Schalhrichter 
oder  Mikrophon  zuführt,  von  denen  Leitungen  zu 
je  einem  der  Ohren  führen.  Kbr. 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


II 


Warnm  sehlägt  die  Wünschelrute  aus? 

H.  Haenel  sagt  in  seinem  Vortrage:  Zur 
physiologischen  Mechanik  der  Wünschelrute  (Ber. : 
Münch.  med.  Wochenschr.  1920  Nr.  2):  „Die 
Wünschelrute  ist  ein  ebenso  einfaches  wie  wirk- 
sames Instrument,  die  Supinatoren  dem  Willens- 
einflusse mehr  oder  weniger  zu  entziehen,  und 
zeigt  feinste  Veränderungen  in  allen  Kon- 
traktionszuständen  in  vergrößertem,  augenfälligem 
Maße  an." 

Solch  feinste  Veränderungen  des  Kontraktions- 
zustandes aber  können  durch  plötzliche  Abgabe 
von  Elektrizität  durch  die  Haut  herbeigeführt 
werden.  Denn,  wie  Ar.  Adler  mit  Adolf 
Heyd weil  1er  (A.  H.,  Über  Selbstelektrisierung 
des  menschlichen  Körpers;  Ann.  d.  Physik  1902) 
nachgewiesen  hat,  führen  die  Muskelzusammen- 
ziehungen zu  beträchtlichen  statischen  Ladungen 
des  Körpers,  welche  sich  in  der  Regel  nur  all- 
mählich ausgleichen. 

Wenn  nun  die  Leitungsfähigkeit  des  Erdreichs 
durch  Vorkommen  von  Metalladern  Q.der  Wasser 
in  demselben  plötzlich  vergrößert  wird,  so  erfolgt, 
sobald  der  Rutengänger  über  ein  solches  gelangt, 
eine  momentane  Verminderung  der  elektrischen 
Ladung  der  Muskel-Disdiaklasten,  die  am  schwäch- 
sten innervierten  Supinatoren  erschlaffen,  die 
Antagonisten  bekommen  das  Übergewicht  und 
die  Wünschelrute  schlägt  aus  (Psychiatrisch-neuro- 
logische Wochenschr.  1920  S.  "]•]). 

Dr.  Ar.  Adler. 


Die  Grenzlage  Wiens. 

Die  Übereinstimmung  der  Flora,  Fauna  und  Be- 
völkerung Wiens  mit  den  geologisch- geographischen 
und  klimatischen  Verhältnissen  fiel  mir  bei  Ver- 
fassung meines  „Naturgeschichtlichen  Führers  für 
Wien"  (Wien,  Holder)  stark  ins  Auge,  und  da 
sie  wegen  der  auffälligen  Grenzlage  Wiens  in 
allen  eben  hervorgehobenen  Beziehungen  von  be- 
sonderem Interesse  ist,  möchte  ich  sie  hier  kurz 
auseinandersetzen. 

Die  Grenzlage  Wiens  tritt  zunächst  in 
landschaftlicher  (geographischer)  Be- 
ziehung hervor,  denn  es  liegt  dort,  wo  die 
Alpen  sowie  die  niedrigeren  Gebirgsmassen 
Mitteleuropas,  letztere  mit  dem  Ostrande  der 
Böhmischen  Masse,  ihr  Ende  erreichen,  und  die 
für  den  Osten  Europas  bezeichnenden  Steppen- 
gebiete über  Ungarn  und  durch  das  Wiener 
Becken  bis  an  den  Kern  dieses  Erdteiles  heran- 
reichen. Die  Lage  zusammen  mit  der  geographi- 
schen Breite  Wiens  bedingt  aber,  daß  dieses  auch 
klimatisch  an  der  Grenze  verschiedener  Ge- 
biete liegt,  nämlich  dort,  wo  die  Wirkungen  des 
wärmeren  südlichen  Klimas  aufhören,  durch 
die  böhmische  Gebirgsmasse  und  die  Karpathen 
aber  die  üblen  Wirkungen  des  kälteren  nörd- 
lich en  K 1  i  m  a  s  ferngehalten  werden,  und  durch 


die  Böhmische  Masse  zusammen  mit  den  Alpen 
zugleich  eine  Scheidewand  gegen  das  feuchtere 
und  gleichmäßigere  Klima  von  Westeuropa 
gebildet  wird.  Dieses  durch  milde  Winter  und 
verhältnismäßig  feuchte,  kühle  Sommer  gekenn- 
zeichnete Klima  stößt  hier  mit  dem  durch  ge- 
wisse Extreme  gekennzeichnete  osteuropäi- 
schen Klima  zusammen,  das  wegen  des  Zu- 
sammenhanges Europas  mit  dem  Festlande  Asiens 
ein  mehr  kontinentales,  im  Winter  kälteres,  im 
Sommer  aber  trockeneres  und  wärmeres  ist. 
Wien  hat  tatsächlich  heiße  und  trockene  Sommer, 
und  diese  haben  die  große  Landflucht  der  Wiener 
während  der  heißesten  Monate  zur  Folge.  Die 
Unterschiede  in  den  Niederschlagsmengen  treten 
scharf  hervor,  wenn  man  das  Wetter,  wenn  auch 
nur  in  dem  nordöstlichsten  Teile  der  Voralpen 
mit  jenem  der  etwas  weiter  östlich,  gegen  den 
Neusiedler  See  zu  gelegenen  Gebiete  Niederöster- 
reichs vergleicht. 

Diese  Verhältnisse  üben  natürlich  ihren  großen 
Einfluß  auf  die  Pflanzenwelt  aus.  Die  Flora 
der  Wiener  Umgebung  gehört  wohl  größtenteils 
der  mitteleuropäischen.  Baltischen  Flora  an, 
bis  hierher  reicht  aber  auch  die  östliche  Pon- 
t  i  s  c  h  e  F 1  o  r  a,  welche,  von  Osten  vordringend,  nach 
der  Eiszeit  das  Wiener  Becken,  sowie  die  trockenen, 
sonnigen  Hänge  rings  um  dasselbe  eingenommen 
hat,  und  durch  Schwarz föhrenwälder,  den 
Pontischen  Buschwald  und  Federgras- 
fluren, aber  auch  durch  den  Weinbau  ge- 
kennzeichnet ist.  Für  die  ersteren  sind  be- 
zeichnend: die  Schwarzföhre  oder  österreichische 
Kiefer  (Pinus  nigra),  der  warzige  Spindelbanm 
(Evonymus  verrucosus),  die  strauchige  Kronen- 
wicke (Coronilla  emerus),  die  Felsenbirne  (Ame- 
lanchier  ovalis),  der  wohlriechende  Seidelbast 
(Daphne  cneorum),  der  Frühlingsadonis  (Adonis 
vernalis),  das  blaue  Elfengras  (Sesleria  varia)  und 
andere.  Den  zweiten  kennzeichnen:  die  flaumige 
Eiche  (Quercus  lanuginosa),  die  Zwerg-  und  die 
Steinweichsel  (Prunus  fruticosa  und  mahaleb),  der 
Blasenstrauch  (Colutea  arborescens),  die  letzten 
aber  das  Federgras  oder  Frauenhaar  (Stipa  pen- 
nata  und  capillata),  die  Zwergschwertel  (Iris 
pumila),  gewisse  Insektenstendel  (Ophrys),  ein 
Lein  (Linum  tenuifolium),  der  Diptam  (Dictamus 
albus)  und  andere.  Auch  die  alpine  oder  besser 
subalpineFlora  reicht  in  die  Nähe  von  Wien, 
wenn  auch  nur  einige  Ausläufer  derselben  bis 
vor  seine  Tore  gehen,  wie  die  Aurikel  (Primula 
auricula)  und  die  fleischrote  Heide  (Erica  carnea), 
das  buchsbaumblättrige  Kreuzkraut  (Polygala 
chamaebuxus),  das  Alpenveilchen  (Cyclamen  euro- 
paeum),  gewisse  Steinbrech-  (Saxifraga)  und 
Hungerblümchen-  (Draba)  Arten  und  noch 
andere. 

Bezüglich  der  T  i  e  r  w  e  1 1  sind  die  Verhältnisse 
ganz  ähnliche.  Wien  und  seine  Umgebung  ge- 
hört im  allgemeinen  der  für  Mitteleuropa  be- 
zeichnenden, der  Baltischen  Flora  entsprechenden 
Germanischen   Fauna   an.     Doch    hat  auch 


■1-2 


Natiirwissenschaftli€he  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  J 


die  Ton  tische  Fauna,  den  südostlich  von 
Wien  gelegenen  Tiefebenen  folgend,  manche  Ver- 
treter bis  hierher  gesendet.  Wenn  wir  von  dem 
noch  weiter  westlich,  bis  Mitteldeutschland,  vor- 
gedrungenen Hamster  absehen,  so  sind  vor  allem 
bezeichnend  das  Erdziesel  (Spermophilus  citillus), 
sowie  einige  Mausarten,  weiter  die  freilieh  eben- 
falls noch  weiter  westwärts  vorgedrungene 
Haubenlerche  (Alauda  cristata),  die  Grauammer 
(Emberiza  miliaria),  die  Kuhstelze  (Budytes  flava), 
die  Uferschwalbe  (Cotyle  riparia)  und  viele  andere 
Singvögel,  die  große  Trappe  (Otis  tarda),  der 
Kranich  (Grus  cinerea),  der  Kormoran  (Phala- 
cocorax  carbo),  die  Mandelkrähe  (Coracias  garrula) 
und  noch  manch'  anderer  Vogel.  Von  den 
wechselwarmen  Tieren  treten  östliche  und  zu- 
gleich südliche  Formen  hervor,  von  welchen  bloß 
die  Steppenotter  (Vipera  ursinii),  die  Smaragd- 
und  dife  Mauereidechse  (Lacerta  viridis  und  mu- 
ralis)  sowie  gewisse  Formen  der  Frösche  und 
Kröten  (Rana  ridibunda  und  agilis,  Bombinator 
igneus)  hervorgehoben  seien.  Von  den  wirbel- 
losen Tieren  seien  bloß  die  Miesmuschel  (Dreis- 
sensia  polymorpha),  die  Gottesanbeterin  (Mantis 
religiosa)  und  die  Weingrille  (Oecanthus  pellucens) 
genannt.  Die  al  pine  Fauna  ist  im  aligemeinen 
an  die  höheren  Gebiete  der  Alpen  gebunden,  im 
Winter  kommen  aber  manche  von  ihren  Ver- 
tretern tiefer  herunter  bis  in  die  Nähe  von 
Wien,  so  z.  B.  die  Ringdrossel  (Turdus  tor- 
quatus)  und  der  Alpenmauerläufer  (Tichodroma 
muraria). 

Die  Grenzlage  Wiens  kommt  endlich  auch  in 
völkischer  Beziehung  auffällig  zur  Geltung. 
Bei  Wien  sind  seit  jeher  die  Völker  zusammen- 
gestoßen. Bis  hierher  hatten  schon  die  Römer 
Ihre  kulturbringende  Herrschaft  ausgedehnt,  hier 
befand  sich  seit  alten  Zeiten  die  Grenzwacht  der 
Germanen,  mitten  zwischen  den  im  Norden 
(Böhmen)  und  Süden  (Südostalpen)  von  Osten 
vorgedrungenen  Slawen,  aber  auch  gegen  jene, 
bei  ihren  Zügen  nach  Westen  den  südöstlich  ge- 
legenen Tiefebenen  folgenden  asiatischen  Reiter- 
völker der  Hunnen,  Awaren  und  Madjaren, 
Sowie  später  der  Türken.  Eines  dieser  Völker 
hatte  ja  fast  vor  den  Toren  Wiens,  in  der  ungari- 
schen Tiefebene,  die  ihm  seiner  Heimat  so  ähn- 
liche Verhältnisse  bot,  für  lange  Zeit  die  Herr- 
schaft an  sich  gerissen.  Diese  Grenzlage  Wiens 
in  ethnographischer  Beziehung  führte  aber  auch 
zu  einer  Mischung  des  germanischen 
Blutes  seiner  Bewohner  mit  verschiedenen 
anderen  Einschlägen,  welche  rnit  Ursache  war 
der  Schönheit  der  Wienerin  und  des  schönheits- 
freudigen  Sinnes  des  Wieners,  freilich  auch  seines 
in  völkischer  Beziehung  viel  zu  nachgiebigen 
Wesens.  Der  frohe  Sinn  des  Wieners  sowie  seine 
^  sentimentale  Liebe  zur  Heimat  hängen  aber  auch 
mit  der  günstigen  klimatischen  Lage  Wiens  und 
dem  durch  diese  bedingten  Gedeihen  der  Wein- 
rebe sowie  der  Schönheit  seiner  Landschaft  zu- 
sammen,   die   wieder  großenteils   durch   das    Zu- 


sammenstoßen   so    verschiedenartiger    geologisch- 
geographischer Elemente  bedingt  ist. 

Wien.  Prof.  Dr.  E.  Witfaczil. 


Das  Carnegie-Institut  zu  Washington. 

Zu  den  bedeutendsten  wissenschaftlichen  For- 
schungsanstalten gehört  das  im  Jahre  1902  ge- 
gründete Carnegie  -  Institut  zu  Washington,  das 
gegenwärtig  über  ein  Vermögen  von  22  Millionen 
Dollar  verfügt.  Seine  Verwaltung  untersteht 
einem  24gliedrigen  Kuratorium,  das  alljährlich 
im  Dezember  zusammentritt  um  die  Angelegen- 
heiten der  Anstalt  im  allgemeinen,  besonders  aber 
den  Fortschritt  der  bereits  unternommenen  Ar- 
beiten und  die  Einleitung  neuer  Forschungen  zu 
besprechen  und  die  dafür  nötigen  Mittel  zu  be- 
willigen. In  der  Zeit  zwischen  den  Sitzungen  des 
Ausschusses  werden  die  Angelegenheiten  der 
Anstalt  von  einem  engeren  Ausschuß  geleitet,  der 
aus  8  Personen  besteht;  sein  Vorsitzender  ist 
gegenwärtig  Charles D.  Walcott,  der  bekannte 
Geologe.  Die  Zentralverwaltung  (Präsident  R  o  - 
bertS.  Wood  ward)  befindet  sich  in  der  Bundes- 
hauptstadt Washington. 

Die  wissenschaftliche  Tätigkeit  obliegt  For- 
schungsabteilungen für  bestimmte  Gebiete,  deren 
das  Institut  gegenwärtig  elf  zählt,  ferner  einzelnen 
Forschern,  die  ihre  ganze  Zeit  dem  Institut  und 
seinen  Aufgaben  widmen,  sowie  einer  großen 
Zahl  anderer  Mitarbeiter. 

Von  den  erwähnten  Forschungsabteilungen 
befinden  sich  zwei  zu  Cold  Spring  Harbor  auf 
Long  Island,  nämlich  eine  Anstalt  für  experi- 
mentelle Entwicklungslehre  und  das  Amt 
für  Rassen  hygiene  (Eugenik),  die  unter  Leitung 
des  Biologen  C.  B.  Davenport  stehen.  Erstere 
wurde  im  Juni  1904  errichtet  und  sie  hat  seither 
zahlreiche  und  teilweise  recht  umfangreiche  Ar- 
beiten ausgeführt,  darunter  solche  über  das  Do- 
minanzproblem; die  Erbeinheiten;  die  Biotypen 
innerhalb  der  Arten;  die  Folgen  fortgesetzter 
Züchtung  in  bestimmter  Richtung  (bei  Vermei- 
dung von  Bastardierung)  auf  die  Erbmerkmale; 
die  Beziehungen  zwischen  somatischem  Bau  und 
Chromosomen;  die  geschlechtsbeschränkte  Ver- 
erbung; die  Bestimmung  sekundärer  Geschlechts- 
merkmale; den  unmittelbaren  Einfluß  des  Alkohols 
und  anderer  Stoffe  auf  das  Keimplasma;  den 
etwaigen  Einfluß  des  Somas  auf  transplantierte 
Keimzellen  usw. 

Das  Amt  für  Rassenhygiene  hat  Aufzeichnun- 
gen über  mehrere  tausend  amerikanischer  Familien 
gesammelt  und  Erhebungen  über  die  Schicksale 
abnormal  veranlagter  Familien  während  vieler 
Geschlechterfolgen  ausgeführt ;  beachtenswert  sind 
überdies  die  Studien  betreffend  Albinos  im  Staat 
Massachusetts;  Neger-Europäerbastarde;  sterilisierte 
Männer  in  einer  Strafanstalt. 

Das  seit  Dezember  19 14  bestehende  Institut 
für   Embryologie    zu   Baltimore    befaßte    sich 


N.  F.  XX.  Nr.  I 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


'3 


bisher  hauptsächlich  mit  Problemen  der  vorgeburt- 
lichen Entwicklung  des  Menschen.  Die  Studien 
werden  gefördert  durch  das  Vorhandensein  einer 
Sammlung  von  etwa  3C00  menschlichen  Embry- 
onen, die  zum  größten  Teil  von  dem  verstorbenen 
Prof.  Mall  zusammengetragen  wurde.  Außerdem 
sind  reichliche  klinische  Aufzeichnungen  und 
photographisches  Material  vorhanden.  Von  den 
Arbeiten  des  Instituts  sind  herorzuheben  jene  über 
pathologische  Zustände  der  weiblichen  Sexual- 
organe und  ihre  Beziehungen  zur  Befruchtung; 
über  Tubenschwangerschaft  {146  Fälle);  über  die 
Ursachen  der  Abgänge  und  der  Unfruchtbarkeit; 
über  den  Bau  der  Medulla  oblongata  ;  über  die 
Entwicklung  des  Nervensystems  usw. 

Von  großer  praktischer  Bedeutung  ist  das  im 
Jahre  1907 — 1908  erbaute  Ernährungslabo- 
ratorium zu  Boston,  dessen  Direktor  F.  G. 
Benedict  ist.  Zweigstellen  befinden  sich  im  Zoo- 
logischen Garten  in  der  Stadt  New  York  sowie 
zu  Durham  in  New  Hampshire.  Die  Ausrüstung 
des  Instituts  besteht  aus  einer  Apparatur  zur  Be- 
obachtung des  Stoffwechsels,  der  Muskeltätigkeit, 
der  Atmung,  der  Körpertemperatur  und  ähnlichen 
Untersuchungen.  Beobachtungskammern  sind  für 
Menschen  und  Tiere  vorhanden.  Die  Forschungen 
des  Ernährungslaboratoriums  betreffen  den  Stoff- 
wechsel normaler  Männer  und  Frauen,  der  Kinder 
von  der  Geburt  bis  zur  Pubertät,  sowie  der  Diabe- 
tiker; dann  den  Stoffwechsel  warm-  und  kalt- 
blütiger Tiere;  den  Einfluß  verschiedener  äußerer 
Umstände  auf  den  Stoffwechsel  (wie  z.  B.  sauer- 
stoffreicher Luft;  verschiedener  Temperaturen; 
der  Muskeltätigkeit;  der  Schwangerschaft;  des 
Fastens;  des  Genusses  von  Reizmitteln);  den  Ein- 
fluß des  Alkohols  auf  die  geistige  und  körperliche 
Tätigkeit;  den  Einfluß  längerdauernder  Nahrungs- 
beschränkung und  andere  Gegenstände.  Bemer- 
kenswert ist,  daß  eine  vier  Monate  dauernde  Ein- 
schränkung von  12  jungen  Männern  auf  die  Hälfte 
bis  zwei  Drittel  ihres  normalen  Kalorienbedarfs 
keine  üblen  Folgen  von  praktischer  Bedeutung 
ergab.  Das  beweist  wieder,  daß  erst  Unterernäh- 
rung von  langer  Dauer  verhängnisvoll  wird. 

Das  botanische  Forschungsinstitut 
zu  Tuscon  im  Staat  Anzona  widmet  sich  vor- 
nehmlich dem  Studium  des  Pflanzenlebens  in  der 
Wüste;  es  wurden  nicht  nur  in  den  wüsten  und 
halbwüsten  Gebieten  im  Südwesten  der  Vereinigten 
Staaten  umfassende  Untersuchungen  ausgeführt, 
sondern  auch  Expeditionen  nach  den  Gestaden 
des  Roten  Meeres,  nach  dem  Sudan,  der  lybischen 
Wüste,  Algerien  und  Australien  unternommen. 
—  Das  Institut  für  Meeresbiologie  zu  Prince- 
ton  in  New  Jersey  (mit  einer  Zweiganstalt  zu 
Loggerhead  Key,  Tortugainseln,  am  Golfstrom) 
hat  sich  vor  allem  die  Erforschung  der  Lebens- 
bedingungen in  den  tropischen  und  subtropischen 
Meeren  zur  Aufgabe  gemacht.  Überdies  sind  noch 
zu  erwähnen  die  Anstalten  für  Erdmagnetismus 
und  Geophysik,  beide  in  der  Bundeshauptstadt, 
das    astronomische    Institut    zu    Albany,    N.   Y., 


das  Mount  Wilson  •  Observatorium  zu  Pasadena, 
Kalifornien,  und  endlich  ein  historisches  Institut 
zu  Washington  D.  C.  Die  früher  bestandene  Ab- 
teilung für  Wirtschaft  und  Soziologie  hat  Ende 
1916  ihre  Tätigkeit  eingestellt.  >:f,    -■?-•:•::.■.•     : 

Die  Veröffentlichungen  des  Carnegie-Instituts 
zu  Washington  sind  in  fast  allen  Mittelpunkten 
des  Geisteslebens  in  Deutschland  vorhanden,  und 
zwar  in  folgenden  Anstalten.  BerHn:  Preußische 
Akademie  der  Wissenschaften;  Universitätsbiblio- 
thek; in  Bonn  a.  Rhein:  Universitätsbibliothek;  in 
Bremen:  Naturwissenschaftlicher  Verein;  in  Bres- 
lau:  Universitätsbibliothek;  in  Dresden:  Öffent- 
liche Bibliothek;  in  Erlangen:  Universitätsbiblio- 
thek; in  Frankfurt  a.  M. :  Stadtbibliothek;  in 
Freiburg  i.  Br. :  Universitätsbibliothek ;  in  Gießen ; 
Universitätsbibliothek;  in  Göttingen:  Gesellschaft 
der  Wissenschaften;  Universitätsbibliothek;  in 
Greifswald:  Universitätsbiblothek ;  in  Halle:  Uni- 
versitätsbibliothek; in  Hamburg:  Stadtbibliothek; 
in  Heidelberg:  Universitätsbibliothek;  in  Jena: 
Universitätsbiblothek;  in  Karlsruhe:  Technische 
Hochschule,  Bibliothek;  in  Kiel:  Universitäts- 
bibliothek; in  Königsberg :  Universitätsbibliothek; 
in  Leipzig:  Universitätsbibliothek;  in  Marburg: 
Universitätsbibliothek;  in  München:  Universitäts- 
bibliothek; in  Rostock:  Universitätsbibliothek; 
in  Stuttgart:  Landesbibliothek:  in  Tübingen: 
Universitätsbibliothek;  in  Weimar:  Staatsbibliothek; 
in  Würzburg:  Universitätsbibliothek. 

H.  Fehlinger. 


Zur  Kenntnis  der  Kristallgitter. 

In  einer  vor  kurzem  erschienenen  Arbeit 
will  A.  Reis  (Zeitschrift  f.  Physik  I,  S.  204 — 220 
und  II,  S.  57 — 69,  1920)  einen  Beitrag  zur  Be- 
antwortung der  Frage  liefern,  inwieweit  die  Eigen: 
Schäften  der  bisher  nur  für  ganz  wenige  einfache 
Stoffe  ausgewerteten  Modelle  vom  Feinbau  der 
Kristalle  in  der  besonderen  Natur  der  betreffen- 
den Stoffe,  oder  inwieweit  sie  im  Wesen  der 
kristallisierten  Materie  überhaupt  begründet  sind, 
—  Eine  Reihe  von  Kristallographen  und 
Physikern  neigt  bekanntlich  zu  der  Auffassung, 
daß  im  Kristall  von  einem  eigentlichen  Molekül- 
verband bestimmter  Atome  überhaupt  nicht  mehr 
gesprochen  werden  könne  und  daß  gerade  diese 
Aufhebung  des  einzelnen  molekularen  Verbandes 
und  seine  Ersetzung  durch  den  Gesamtverband 
des  Kristallgitters  das  Wesentlichste  beim  Über- 
gang vom  amorphen  zum  kristallinen  Zustand 
der  Materie  sei.  Demgegenüber  scheint  es  dem 
Chemiker  nicht  so  leicht  möglich,  den  Begriff 
des  Moleküls  für  diesen  Zustand  sofort  fallen  zu 
lassen.  Diesem  Festhalten  am  Kristallmolekül 
steht  jedoch  z.  B.  entgegen,  daß  beim  Gitter- 
modell des  NaCl  (vgl.  Nat.  Wochenschr.  191 7, 
Nr.  38,  S.  522,  Fig.  I  A  u.  B.)  jedes  Na- Atom  von 
6  Cl- Atomen,  und  umgekehrt  jedes  ClAtom  von 
6  Na-Atomen    vollkommen    gleichartig    uiiigeiben 


14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  i 


erscheint.  Es  ist  hier  also  nicht  angängig, 
zwischen  irgend  zwei  bestimmten  Atomen  eine 
besonders  innige  chemische  Bindung  zu  einem 
Molekül  anzunehmen,  während  dementsprechend 
die  übrigen  Bindungen  zwischen  benachbarten 
Na-  und  Cl-Atomen  im  Verhältnis  hierzu  schwächer 
angenommen  werden  müßten.  Der  Verfasser  wirft 
darum  die  Frage  auf,  ob  nicht  diese  Schwierig- 
keit nur  durch  unzutrefifende  Verallgemeinerung 
der  an  den  einfachsten  Stoffen  aufgefundenen 
Merkmalen  entstanden  ist.  Er  unternimmt  es, 
die  Frage  durch  den  Versuch  zu  beantworten, 
den  „chemischen  Verbindungen  zwei 
verschiedene  Grundtypen  von  Kristall- 
gittern zuzuordnen",  wie  sich  ja  auch  che- 
misch die  Salze  und  die  Verbindungen  ohne  Salz- 
charakter unterscheiden  lassen. 

Die  bisher  ausgewerteten  Modelle  geben  uns 
zunächst  nur  ein  vereinfachtes  Schema  der  Atom- 
schwerpunkte oder  der  „Atomlagen",  während 
über  die  spezielle  Anordnung  der  Atomkerne 
und  Atomelektronen  nichts  ausgesagt  wird.  Die 
Entfernungen  zwischen  solchen  unmittelbar  be- 
nachbarten „Atomlagen"  soll  kurz  als  „Atom- 
abstand" bezeichnet  werden.  Man  kann  nun  stets 
gewisse,  nur  durch  „innere"  Strecken  ^j  verbundene 
Atomlagen  zu  einer  „Punktgruppe"  zusammen- 
fassen, wobei  gleichzeitig  noch  die  Vorschrift  zu 
beachten  ist,  daß  die  Summe  aller  Entfernungen 
innerhalb  der  Gruppe  möglichst  klein  werden 
soll.  Die  so  gewählten  Einheiten  sollen  als 
„natürliche  Punktgruppen"  des  Gitters  be- 
zeichnet werden.  Bei  Beachtung  dieser  Auswahl 
kann  man  nun  folgende  Gitterarten  unterscheiden : 

1 .  Setzt  sich  ein  Gilt  er  lückenlos  aus  gleichen 
Atomgruppen  zusammen,  so  entspricht  diese  Atom- 
gruppe genau  dem  Begriff  des  chemischen  Mole- 
küls; solche  Gitter  werden  vom  Verf.  Molekül- 
gitter  genannt.  In  dem  speziellen  Fall,  daß 
sich  Atomgruppen  überhaupt  nicht  unter- 
scheiden lassen,  sondern  das  Gitter  aus  lauter 
gleichen  Atomen  aufgebaut  wird,  wird  von  einem 
einatomigenGitter  gesprochen.  (Die Kristall- 
gitter der  Elemente  sind  teils  einatomige,  teils 
Molekülgitter). 

2.  Hingegen  ist  bei  chemischen  Verbindungen 
auch  ein  Aufbau  aus  ungleichen  Atomgruppen 
möglich.  Im  allgemeinen  werden  in  diesem  Falle 
wenigstens  zwei  der  vorhandenen  Arten  von 
Atomgruppen  den  Charakter  von  Ionen,  der  ganze 
Stoff  den  Charakter  eines  Salzes  haben.  Aus 
ungleichen  Atomgruppen  aufgebaute  Gitter 
werden  daher  „lonengitter"  genannt,  und  zwar 
speziell  „Radikalionengitter",  wenn  mindestens 
eine  Atomgruppe  aus  mehreren  Atomen  besteht, 
„Atomionengitter",  wenn  jedes  Atom  eine  Gruppe 
für  sich  bildet.  (Umgekehrt  müssen  aber  nicht 
etwa  alle  festen  Salze  lonengitter  bilden). 

Bei    diesem  Vorgehen   würde    z.  B.   auch  der 


')  über    die  Definition    dieses  Begriffes  siebe  a.  a.  O.  I, 
S.  2o8  und  11,  S.  57—59. 


umstrittene  Begriff  des  „Kristallmoleküls"  eine 
scharfe  Fassung  erhalten.  Nur  in  Molekülgittern 
tritt  der  „Molekülbereich"  neben  die  bisher 
üblichen  Begriffe  Fundamentalbereich  und  Ele- 
mentarparallelepiped.  —  In  bezug  auf  die  Atom- 
abstände läßt  sich  nun  für  die  verschiedenen  oben 
definierten  Gitterarten  folgendes  aussagen :  In  ein- 
atomigen Gittern  sowie  in  Atomionengittern  von 
nur  zwei  Atomarten  sind  alle  Atomabstände 
gleich.  In  allen  Molekülgittern  dagegen  müssen 
ungleiche  Atomabstände  vorkommen,  es  besteht 
wohl  kein  Zweifel,  daß  die  Abstände  der  im 
Molekül  unmittelbar  chemisch  verbundenen  Atome 
kleiner  sind  als  die  Abstände  von  benachbarten 
Atomen,  die  zu  verschiedenen  Molekülen  gehören. 
Die  ersteren  Abstände  werden  zu  ungefähr  i — 2  Ä 
geschätzt,  während  die  „zwischenmolekularen 
Atomabstände  in  Kristallen  zu  2,5 — 4  A  ange- 
geben werden.  Da  nun  die  physikalischen  Eigen- 
schaften der  festen  Stoffe  besonders  eng  mit  den 
Atomabständen  zusammenhängen  werden,  wird 
vom  Verf.  nachzuweisen  versucht,  daß  die  von 
ihm  unterschiedenen  Gitterarten  sich  tatsächlich 
auf  Grund  ihres  physikalischen  Verhaltens  unter- 
scheiden lassen.  Als  Arbeitshypothese  wird  hierzu 
angenommen,  daß  starken  Anziehungskräften 
zwischen  zwei  Atomen  kleine  Abstände  zuge- 
ordnet sind  und  umgekehrt. 

Während  in  Atom-  und  Atomionengittern  die 
Festigkeit  aller  Gittermaschen  die  gleiche  ist, 
werden  Molekül-  und  Radikalionengitter  aus 
Maschen  von  sehr  ungleicher  Festigkeit  aufgebaut 
sein.  Ein  Vergleich  ergibt,  daß  die  Kompressi- 
bilität von  Molekülgittern  meist  ungefähr  halb  so 
groß  als  die  derselben  Stoffe  in  flüssigem  Zustand 
gefunden  wird,  während  sie  die  der  lonengitter 
im  Durchschnitt  um  mehr  als  das  Zehnfache, 
diejenige  der  einatomigen  Gitter  noch  stärker 
übertrifft.  Ein  Vergleich  der  thermischen  Aus- 
dehnungskoeffizienten ist  bisher  nur  in  roher  An- 
näherung möglich,  trotzdem  ist  nach  Reis  eine 
Gruppierung  der  Gitter  nach  den  unterschiedenen 
Klassen  unverkennbar:  Die  Werte  für  Molekül- 
gitter betragen  auch  hier  das  Mehrfache  von  den 
Werten  für  lonengitter  und  für  einatomige  Gitter 
mit  Ausnahme  der  Alkalimetalle  (Diamant  und 
Graphit  fallen  durch  tiefe,  Schwefel  und  Phosphor 
durch  hohe  Werte  aus  der  Reihe).  —  Auch  über 
die  Beziehungen  zwischen  den  Eigenschaften  eines 
und  desselben  Stoffes  in  verschiedenen  Aggregat- 
zuständen gestattet  die  Klassifizierung  nach 
Reis  einige  Aussagen  zu  machen,  z.  B.  für  die 
optischen  Eigenschaften  und  den  Energieinhalt. 
Hierbei  werden  auch  Vorstellungen  über  die  Ver- 
schiedenheit polymorpher  Modifikationen  ent- 
wickelt. Schließlich  werden  noch  einige  Folge- 
rungen ausgesprochen,  die  zwischen  den  Modellen 
der  Gasmoleküle  und  denen  der  Kristallgitter  für 
die  gleichen  Stoffe  weitgehende  Beziehungen  fest- 
legen. (Es  muß  besonders  darauf  hingewiesen 
werden,    daß    für    Molekülgitter,    wie    der   Verf. 


N.  F.  XX.  Nr.  i 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


fS 


selbst  auch  erwähnt,  bisher  röntgenographisch 
noch  kein  einwandfreies  Beispiel  festgestellt 
werden  konnte.  Es  ist  aber  offenbar,  daß  vieles 
für  die  Brauchbarkeit  der  vorgeschlagenen  Ein- 
teilung zu  sprechen  scheint.     D.  Ref.)       Spbg. 


Wolkenstruktur  und  Wolkeuflächen. 

Im  „Wetter"  Jahrg.  1920,  S.  11  gibt  J.  Dreis 
folgende  interessante  Einteilung  der  Wolken : 


als  Leiche  und  vermutete  nun  das  gräßlichste 
Verbrechen.  Erfreulicherweise  erkannte  der  herbei- 
gerufene Dorfschullehrer  Meyer  sofort  die  ge- 
schichtliche Bedeutung  des  Fundes  und  sorgte 
für  dessen  Bergung.  Der  Fund  gelangte  dann  in 
das  Museum  zu  Stade.  Ein  Stück  von  der  Leiche 
selbst  kam  in  die  Sammlung  der  Moorstation  in 
Bremen.  Dieser  Moorleichenfund  von  Obenahen- 
dorf  ist  für  die  Erforschung  der  Moorgeologie, 
wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  von  beson- 
derer Wichtigkeit.     So  mag  denn  an  dieser  Stelle 


Art  derselben : 


Beispiele: 


Anfangsstadium : 


Höhepunkt: 


Auf  lösungsstadium : 


a)  Mischungswolken 


b)  Slrahlungswolken 


See-  und  Kiisten- 
nebel,  Bergsattel- 
nebel 


kleine  Fetzen- 
schwämme 


Küstennebel, 
Gebirgstalnebel 


c)  Aufstiegwolken 


Zyklonenwolken, 
Gewitter,     Haufen- 
wolken,   Schäfchen,: 
Faserwolken    hoher 
Schiebten  i 


flache,  stetig  an 
schwellende  Nebel- 
schichten 

Wellenbildung; 

kleine  Fetzen- 

schwämme 


stark  wogende 
Nebelmeere 


ruhig  liegende 
Nebelmeere   mit 
glatter  Wellenfläche 

große  Wolkenmassen 
mit  Gipfelformober- 1 
fläche  oder  Fetzen- 
obetfläche 


Schäfchenwolken- 
schichten von  grober, 
aber       verwaschener 
Struktur 

homogene  Auflösung 
durch  Sonnenstrah- 
lung oder  Wetter- 
umschläge 

Auflösung   in  Fetzen 
oder  in  Fasern 


Die  Stadien  der  Wellenbildung  und 
ihre  Folgeerscheinungen  sind  in  den  unteren 
Schichten :  Wellenbildung,  die  Erweiterung  der 
Wellenberge  führt  zu  Aufströmen,  Ausbreitung 
der  aufsteigenden  Ströme  an  ihrer  Oberseite  nach 
allen  Seiten,  evtl.  setzt  auch  volle  Wirbelbildung 
ein,  d.  h.  Wiederhinabfluten  der  Strömung.  Mit 
Erlöschen  der  Strömungen  setzt  Auflösung  der 
Wolkenformen  ein.  In  den  mittleren  sind  die 
Vorgänge  ähnlich,  doch  die  Wolkenformen  kleiner 
und  mehr  geordnet,  in  höchsten  Schichten  die 
Stadien  mehr  zur  einfachen  Wellenbildung  ver- 
schmolzen, gefolgt  von  faseriger  Auflösung  der 
Wolkenmasse. 

Die  Stadien  der  Wolkenstruktur  sind: 
Fetzen-,  Gipfelstruktur,  entweder  Zurückfließen 
zur  Fetzenstruktur  oder  Auflösung  in  Fasermassen 
je  nach  genügender  oder  ungenügender  Entwick- 
lung des  Niederschlags.  Dr.  Bl. 


Moorleiche. 

Im  Mai  1895  wurde  von  Torfgräbern  bei  der 
Bauernschaft  Obenahendorf,  Kreis  Neuhaus  a.  O. 
(Prov.  Hannover)  eine  menschliche  Leiche  im  großen 
Kehdinger  Moor  gefunden.  Die  Lage  der  Leiche  war 
Südnord.  Die  Leiche  selbst  lag  etwa  2 — a'/g  m 
unter  der  Oberfläche.  Der  Torfgräber,,  der  auf 
die  Leiche  stieß,  hatte  sie  mit  seinem  Spaten  zu- 
erst mitten  durchgeschnitten  und  die  untere 
Hälfte  wieder  verkühlt,  in  der  Meinung,  es  handele 
sich  um  den  Kadaver  von  irgendeinem  Tier.  Als 
beim  zweiten  Schnitt  Haare  und  Kleidungsstücke 
zutage  kamen,    erkannte    er    das  gefundene  Stück 


ein  Referat   über   die  jüngst   erfolgte  eingehende 
Veröffentlichung  dieser  Moorleiche  durch  H.Hahne 
in    dem     vom    Provinzialmuseum     zu    Hannover 
herausgegebenen  Sammelwerk  „Vorzeitfunde  aus 
Niedersachsen"  Lieferung  4/5   seinen  Platz  finden. 
Die  Moorleiche  von  Obenahendorf  ist  zunächst 
einmal    deshalb    von    besonderem    Interesse,    weil 
sie  die  einzige  ist,  die  sofort  vor  jeder  Austrock- 
nung, wenigstens  zu  einem  Teil,  als  Naßpräparat, 
konserviert  worden  ist.     Die  Moorleichen,  die  wir 
sonst  in  unseren  Museen  studieren  können    (z.  B. 
Provinzialmuseum  zu  Hannover,    Museen   zu  Kiel, 
Stade    usw.),    fallen    uns,   gewöhnlich    durch    das 
mumienartige     Aussehen     der    Leichenteile,     die 
lederartige  Beschaffenheit  ihrer  Haut  und  die  holz- 
artige   Härte    der  Knochen   auf.      Durch    die  Er- 
haltung   des    Fundes    von  Obenahendorf   können 
wir  feststellen,  daß  all  diese  Erscheinungen  ledig- 
lich Folgen   des  Austrocknens  sind.      So  werden 
durch  das  Aussehen   dieses  Fundes   auch  die  Be- 
richte  über   die  Auffindung  anderer  Moorleichen 
in    sehr    wertvoller  Weise    ergänzt    und    es   wird 
uns  verständlich,    weshalb   die  Weichteile   in  der 
Mehrzahl    der   Fälle    dem   uninteressierten   Moor- 
arbeiter  im  Moor   nicht   ohne   weiteres  auffallen, 
zumal  wenn  sie  zusammengepreßt  sind. 

Neben  der  Moorleiche  von  Obenaltendorf 
wurden  Teile  eines  Rumpfkleides  (Hemdrock, 
Kittel),  eine  große  Decke,  in  der  die  Leiche  ein- 
gewickelt gelegen  hat,  zwei  Hosenbeinreste  und 
zwei  Binden,  wahrscheinlich  Kniebinden,  gefunden. 
All  diese  Gewebeteile  bestehen  durchweg  aus 
Schafwolle ;  Beimengungen  anderer  Gespinstfasern 
sind  nicht  nachweisbar.  Es  liegen  zwei  Gewebe- 
formen   vor:      zweischäftiger    Taffet     und     zwei- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  P.  XX.  Nr.  I 


schäftiger   Taffet    mit    doppeltem   Einschlagfaden 
(Rips). 

Außerdem  wurden  neben  der  Leiche  zwei 
Schuhe,  je  aus  einem  Stück  tehaarten  Leders  ge- 
schnitten, und  zwei  kleine  Kapseln  aus  Silberblech 
gefunden.  Die  letzteren  beiden  Fundstücke  er- 
möglichen eine  einwandfreie  Datierung  des  Fundes 
in  die  Zeit  um  250  n.  Chr.  In  derselben  Zeit  läßt 
sich  übrigens  auch  die  gleiche  Webetechnik  nach- 
weisen. 

Irgendwelche  Spuren  einer  gewaltsamen  Tötung 
oder  Versenkung  des  lebenden  Menschen  ließen 
sich  bei  dieser  Moorleiche  nicht  nachweisen. 

Der  IVioorbotaniker  Prof.  Dr.  W  e  b  e  r  -  Bremen 
hat  die  Fundstelle  kurze  Zeit  nach  der  Auffindung 
der  Moorleiche  besucht.  Weber  sah  in  der  Wand 
der  Torfgrube  in  dem  hier  anstehenden  hellen 
oberen  Sphagnumtorf  einen  dunkel  gefärbten 
Horizont,  der  ihm  als  Rest  der  Lagerstelle  der 
Leiche  bezeichnet  wurde;  an  dieser  Stelle  zeigte 
der  Torf  deutlich  Störung,  die  aber  nicht  in  dem 
darüber  liegenden  Torf  bis  zur  Oberfläche  zu  ver- 
folgen war.  Eine  Eingrabung  der  Leiche  hatte 
also  nicht  stattgefunden.  Die  Oberfläche  des 
Moors  wird  also  zur  Zeit  der  Versenkung  der 
Leiche  nicht  wesentlich  höher  gelegen  haben  als 
die  Leiche  selbst,  und  diese  wird  dann  auch 
nicht  tief  eingesenkt  worden  sein.  Auch  diese 
Beobachtung  spricht  mit  gegen  die  Vermutung 
der  Versenkung  eines  Lebenden. 

Neuere   Abtorfungen   bei   der  Fundstätte  ver- 


hinderten gegenwärtig  die  Feststellung  der  Ge- 
samtmächtigkeit des  Moores  und  der  Mächtigkeit 
der  seit  der  Versenkung  der  Leiche  entstandenen 
Moorschichten.  Die  Leiche  lag  in  den  untersten 
Sphagnumtorfschichten  dicht  über  einer  Zone- von 
Übergangstorf  mit  viel  Wollgras,  die  ihrerseits 
Schilftorf  mit  Holzresten  überlagerte.  Da  das 
Kehdinger  Moor  ein  Niederungsmoor  ist,  in  dem 
der  ältere  Sphagnumtorf  fehlt,  so  entspricht  der 
vorhandene  Sphagnumtorf  dem  jüngeren  Sphag- 
numtorf der  Hochmoore.  Dann  ist  wohl  der 
Übergangstorf  im  liegenden  und  der  Schilftorf 
den  unteren  Schichten  des  oberen  Hochmoor- 
torfes, die  Holzreste  aber  einem  Teil  des  Grenz- 
horizontes der  Hochmoore  gleichzusetzen.  Da 
ein  Teil  des  oberen  Sphagnumtorfes  im  Keh- 
dinger Moor  zur  Zeit  der  Versenkung  der  Moor- 
leiche bereits  vorhanden  war,  darf  man  wohl  an- 
nehmen, daß  die  Zeit  des  durch  den  Grenzhori- 
zont bezeichneten  warmen  Trockenklimas,  wenn 
auch  noch  nicht  lange,  vorüber  war,  umgekehrt, 
daß  das  Ende  der  Grenzhorizontzeit  bis  gegen  das 
3.  Jahrhundert  nach  Chr.  nach  diesem  Befunde 
herabzurücken  wäre,  wenn  die  angesetzten  Glei- 
chungen zwischen  Hoch-  und  Übergangsmoor 
stichhaltig  sind,  was  nach  den  bisherigen  moorgeo- 
logischen Veröffentlichungen  allerdings  der  Fall 
zu  sein  scheint.  Dann  besitzt  aber  die  Moor- 
leiche von  Obenaltentorf  eine  besondere  Bedeutung 
für  die  Chronologie  der  Nacheiszeit  und  der 
Moore  überhaupt. 

Wernigerode  a.  H.  H.  Mötefindt. 


Bücherbesprechimgen. 


Wachs,    Dr.   H. ,    Entwicklung,    ihre    Ur- 
sachen    und     deren    Gestaltung.       Mit 
n  Textabb.    Freiburg  i.  Br.   1920,  Th.  Fischer. 
2,40  M. 
Ein  Vortrag,    der   an    der  Hand    einiger   lehr- 
reicher  neuerer  Erfahrungen  in  die  Probleme  der 
experimentellen    Entwicklungsforschung     einführt 
und  der  vermöge  der  klaren  verständlichen  Dar- 
stellung der  Beachtung    empfohlen  werden    kann. 

Miehe. 

Stock,  Alfred,  Ultra-Strukturchemie.  Ein 
leichtverständlicher  Bericht.  8 1  Seiten  in  8 " 
mit  17  Abb.  im  Text.  Berlin  1920,  Verlag  von 
Julius  Springer.  Preis  geh.  6  M.  -j-  Teuerungs- 
zuschlag. 
Der  vorliegende  Bericht    enthält  den   wesent- 


lichen Inhalt  einer  Vortragsreihe,  die  der  Verf. 
vor  den  wissenschaftlichen  Angestellten  der  Farb- 
werke vorm.  Fr.  Bayer  &  Co.  in  Leverkusen  über 
die  neuere  Entwicklung  der  Lehre  von  der  Struk- 
tur der  Atome  gehalten  hat.  Er  wendet  sich  an 
chemisch  etwas  vorgebildete  Leser,  ist  aber  im 
übrigen  ganz  allgemein  verständlich  und  bringt 
das  Wesentliche  in  klarer  und  sachlich  einwand- 
freier Darstellung.  Den  Lesern  der  Naturw. 
Wochenschr.  kann  das  Büchlein  in  jeder  Hinsicht 
empfohlen  werden. 

BerUn-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Literatur. 


Rohr,  Dr.  M.  von,  Die  binokularen  Instrumente.  2.  Aufl. 
Mit  136  Textabb.     Berlin  '20,  J.  Springer. 


Inhalt:  Br.  Schönherr,  Lorentz-Einstein.  S.  I.  A.  Hansen,  Zur  Metamorphosenlehre.  S.  7.  K.  Kuhn,  Die  Aus- 
breitung der  elektrischen  Wellen  und  die  Konstitution  der  Atmosphäre.  S.  8.  —  Einzelbeiicbte :  Kunze,  Die  Emp- 
findung der  Richtung,  aus  der  ein  Schall  kommt.  S.  10.  H.  Haenel,  Warum  schlägt  die  Wünschelrute  aus?  S.  II. 
E.  Witlaczil,  Die  Grenzlage  Wiens.  S.u.  H.  Fehlinger,  Das  Carnegie-Institut  zu  Washington.  S.  12.  A.Reis, 
Zur  Kenntnis  der  Kristallgitter.  S.  13.  J.  Dreis,  Wolkenstruktur  und  Wolkenflächen.  S.  15.  H.  Hahne,  Moorleiche. 
S.  15.  —  Bücherbesprechungen;  H.  Wachs,  Entwicklung,  ihre  Ursachen  und  deren  Gestaltung.  S.  16.  A.  Stock, 
Ultra-Strukturchemie.  S.  16.  —  Literatur:  Liste.  S.  l6. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenslrafie  41,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neu©  Folge  20.  Baod; 
der  ganten  Reihe   36.  Band, 


Sonntag,  den  9.  Januar  1921. 


Nummer  S. 


Aus  dem  Stoffhaushalt  unserer  Gewässer. 

Vortrag,  gehalten  in  der  physikalisch-ökonomischen  Gesellschaft  zu  Königsberg  i.  Pr.  am  9.  Februar  1920. 

Von  Dr.  med.  et  phil.  A.  Willer. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit  4  Kurven. 


Zur  Ernährung  des  tierischen  Organismus  sind 
einesteils  organische,  anderenteils  anorganische 
Stoffe  notwendig.  Die  anorganischen  Verbindungen, 
welche  ihre  Bedeutung  für  den  lebenden  Organis- 
mus in  ihren  physikalischen  Eigenschaften  haben 
und  sich  nur  zu  einem  geringeren  Teile  an  den 
chemischen  Umsetzungsvorgängen  beteiligen,  wer- 
den z.  T.  auch  aus  anorganischen  Bestandteilen 
entnommen,  die  organischen  Verbindungen  also 
diejenigen  Verbindungen,  welche  die  Elemente 
Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stickstoff, 
Schwefel,  Eisen  und  Phosphor  enthalten,  stammen 
entweder  direkt  aus  dem  Pflanzenreich  oder  in- 
direkt auf  dem  Wege  durch  andere  Tierkörper 
aus  diesen,  da  nur  die  Pflanze  imstande  ist,  aus 
anorganischen  Stoffen,  organische  Verbindungen, 
die  als  Energiequelle  für  den  lebenden  tierischen 
Organismus  dienen  können,  zu  bilden.  Wir  müssen 
daher,  wenn  wir  nach  den  Quellen  der  Nahrung 
für  die  Tiere  fragen,  zunächst  den  Nährquellen 
der  Pflanzen  nachgehen.  Die  Pflanzen  stellen  in 
jedem  Falle,  sowohl  im  Luftleben  wie  im  Wasser- 
leben, die  sog.  „Urnahrung"  für  die  tierischen  Or- 
ganismen dar.  Der  Stoffhaushalt  eines  Gewässers, 
also  die  Wechselwirkung  zwischen  den  im  Wasser 
vorhandenen  Nährstoffen  einerseits,  den  Pflanzen 
und  Tieren  andererseits,  wird  zunächst  abhängen 
von  der  vorhandenen  Nährstoffmenge  und  Nähr- 
stoffqualität für  die  Pflanzen  und  erst  dann  wird 
sich  die  Ausbildung  der  Tierwelt  auf  Grund  des 
Vorhandenseins  oder  Nichtvorhandenseins  von 
Nährstoffen  pflanzlicher  Natur  entwickeln.  Dazu 
treten  dann  in  der  Beeinflussung  der  Organismen- 
zusammensetzung noch  physikalische  und  che- 
mische Einwirkungen  anderer  Natur,  wie  z.  B. 
Belichtung,  Erwärmung,  Bodenbeschafifenheit, 
Strömung  usw. 

Als  Nahrungsquellen  der  Wasserpflanzen  kom- 
men in  Betracht:  i.  die  Wassermasse,  die  den 
Aufenthaltsort  der  Pflanzen  darstellt,  2.  der 
Boden  der  Gewässer,  3.  die  Luft  über  den  Ge- 
wässern, 4.  die  Zuflüsse,  einmal  die  dauernden, 
dann  aber  auch  vor  allen  Dingen  die  zeitweise 
einfließenden  Rinnsale,  welche  von  dem  benach- 
barten Lande  und  dem  höher  gelegenen  Terrain 
dem  Ufer  zufließen.  Nicht  alle  Wasserpflanzen 
sind  in  der  Lage  diese  Nahrungsquellen  in  gleicher 
Weise  oder  direkt  zu  benutzen,  so  können  z.  B. 
die  im  Boden  enthaltenen  Nährstoffe  direkt  nur 
von   den  in  diesem   wurzelnden  Pflanzen    nutzbar 


gemacht  werden,  die  Luft  und  damit  die  Kohlen- 
säure der  Luft  wird  direkt  nur  ausgenutzt  von 
denjenigen  Pflanzen,  die  ihre  Sprosse  über  die 
Wasseroberfläche  erheben  oder  Schwimmblätter 
ausbilden.  Die  wurzellosen  und  untergetaucht 
lebenden  Pflanzen  sind  allein  auf  die  im  Wasser 
gelöst  enthaltenen  Nährstoffe  angewiesen. 

Es  besteht  also  ein  Unterschied  in  der  Nahrungs- 
aufnahme zwischen  den  einzelnen  Gruppen  der 
Wasserpflanzen:  i.  den  festwurzelnden,  2.  den 
Schwimmpflanzen,  3.  den  untergetaucht  lebenden 
nicht  im  Boden  wurzelnden  Pflanzen.  Es  bestehen 
natürlich  zwischen  diesen  Pflanzen  Übergänge  und 
Zwischenformen.  Als  eine  festwurzelnde  Pflanze 
mit  zugleich  Schwimmblättern,  nenne  ich  die  See- 
rosenarten (Nymphaea,  Nuphar),  festwurzelnde 
Pflanzen  ohne  Schwimmblätter  sind  die  meisten 
Froschlaichkräuter  oder  Potamogetonaceen. 
Schwimmpflanzen  ohne  Festwurzelung  sind  die 
Wasserlinsen  oder  Lemnaceen ,  der  Froschbiß 
(Hydrocharis  morsus  ranae)  und  andere. 

Die  untergetaucht  lebenden,  nicht  im  Boden 
wurzelnden  Pflanzen  gehören  wieder  einesteils  zu 
schwimmenden  oder  schwebenden,  anderenteils  zu 
festsitzenden  epiphytisch  oder  auf  Steinen  usw. 
sitzenden.  Pflanzen.  Letztere  gehören  zum  sog. 
Aufwuchs,  jene  wenigstens  zum  Teil  zu  dem 
Plankton.  Es  ist  ersichtlich,  daß  diese  plankto- 
nischen und  Aufwuchsformen  sich  am  stärksten 
von  dem  Gehalt  des  Wassers  an  Nährstoften  ab- 
hängig zeigen  müssen,  da  sie  ja  nur  auf  diese  an- 
gewiesen sind.  Aber  auch  die  übrigen  Pflanzen 
sind  von  diesen  mehr  oder  weniger  abhängig, 
denn  einmal  müssen  die  festwurzelnden  aber  unter- 
getaucht lebenden  Formen  ihren  Kohlenstoff,  der 
bei  den  Landpflanzen  der  Kohlensäure  der  Luft 
entnommen  wird,  dem  Wasser  entnehmen,  ande- 
rerseits müssen  die  freien  Schwimmpflanzen  ihre 
Nährstoffe  mit  Ausnahme  des  Kohlenstoffes  hin- 
wiederum dem  Wasser  entziehen,  während  sie 
diesen  aus  der  Luft  gewinnen  können.  Dadurch, 
daß  von  den  festwurzelnden  Pflanzen  die  Wurzeln 
zuweilen  nur  noch  mehr  als  Haftorgane  denn  als 
Nährorgane  benutzt  werden,  kompliziert  sich  die 
ganze  Angelegenheit  noch  mehr.  Bei  ihnen  be- 
steht die  Möglichkeit,  daß  abgelöste  Sprosse  selb- 
ständig ohne  besondere  Wurzelorgane  im  Wasser 
fortleben,  so  z.  B.  bei  der  allbekannten  Wasser- 
pest (Eledea  canadensis),  die  aus  Amerika  einge- 
schleppt   in    ihren    nur    weiblichen    Pflanzen,    die 


i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


allein  bei  uns  vorkommen,  unsere  Gewässer  in 
so  überaus  massenhaftem  Auftreten  bevölkert  und 
vielfach  zu  einer  Plage  für  den  Wasserwirt  ge- 
worden ist.  In  der  Tat  gibt  es  nur  verhältnis- 
mäßig wenige  Wasserpflanzen,  die  infolge  ihres 
Wurzeins  im  Boden  von  der  Zusammensetzung 
des  sie  umgebenden  Mediums,  des  Wassers,  voll- 
kommen unabhängig  sind.  Es  sind  dies  Pflanzen, 
welche  mehr  als  Sumpf-,  denn  als  Wasserpflanzen 
angesprochen  werden  können,  z.  B.  die  Phrag- 
mites-,  Typha-,  Glyceria-,  Juncus-  usw.  Arten. 

Hiernach  ist  es  nun  auch  nicht  mehr  wunder- 
bar, wenn  ein  gewisser  Zusammenhang  zwischen 
der  Menge  des  im  Wasser  vorhandenen  Roh- 
materials und  der  organisierten,  lebenden  Sub- 
stanz besteht.  Es  gilt  für  das  pflanzliche  Leben 
im  Wasser  das  Liebigsche  Gesetz  vom  Minimum, 
nach  welchem  der  in  der  Minderheit  vertretene, 
unentbehrliche  und  unersetzliche  Nährstoff  seine 
Entwicklung  begrenzt,  wie  es  für  das  pflanzliche 
Leben  auf  dem  Lande  gilt,  und  ebenso  wie  in  der 
Landwirtschaft,  dieses  Gesetz  die  Grundlage  für 
die  moderne  Düngerlehre  abgegeben  hat,  so  hat 
man  in  der  Wasserwirtschaft  die  gleichen  Schluß- 
folgerungen gezogen  und  dort,  wo  der  Ertrag  des 
Wassers  d.  h.  also  für  uns  letzten  Endes  der  Er- 
trag an  Fischfleisch  einer  Hebung  bedarf,  die  Zu- 
fuhr von  Nährstoffen  zum  Wasser  gehoben,  indem 
man  die  zu  bewirtschaftende  Wasserfläche  düngte, 
entweder  durch  Zufuhr  von  Naturdünger  oder 
auch  seit  etwa  einem  Jahrzehnt  von  Kunstdünger. 
Man  ging  hierbei  davon  aus,  daß  durch  die 
Düngung  zunächst  die  pflanzliche  Urnahrung  und 
hierdurch  dann  auf  mehr  oder  weniger  direktem 
Wege  die  Menge  oder  Masse  der  Endproduzenten 
der  Fische  vermehrt  wird.  Diese  zunächst  theo 
retischen  Gedankengänge  haben  dann  ihre  Richtig 
keit  durch  die  praktischen  Erfahrungen  bewiesen 
Heute  wissen  wir,  daß  die  in  unserem  Sinne  er- 
tragreichsten Gewässer  diejenigen  sind,  die  von 
Natur  aus  die  meisten  Nähr-  und  Düngerstoffe 
erhalten,  die  Dorfteiche,  in  die  die  häuslichen  Ab- 
wässer und  die  Schwemmwässer  der  Dorfstraßen 
gelangen. 

Wenn  wir  nun  die  chemische  Zusammen- 
setzung des  Süßwassers  betrachten,  so  zeigt 
sich,  daß  di,eselbe  großen  Schwankungen  unter- 
liegt, analog  den  Verschiedenheiten  welche  der 
Boden  in  der  Landwirtschaft  aufweist.  Wichtig 
für  sämtliche  Organismen,  Tiere  sowohl  wie 
Pflanzen,  ist  der  Gasgehalt  des  Wassers,  zunächst 
an  Sauerstoff.  Der  Gasgehalt,  also  der  Gehalt 
an  gelöstem  O  und  CO»  ist  einmal  abhängig  von 
der  Temperatur  derart,  daß  im  kälteren  Wasser 
die  Menge  der  gelösten  Gase  größer  ist  als  im 
wärmeren  Wasser,  was  nun  auch  zu  Verschieden- 
heiten des  Gasgehaltes  in  den  verschiedenen 
Wasserschichten  führt,  so  daß  wir  in  Seen,  in 
denen  die  Verhältnisse  nicht  durch  Fäulnisprozesse 
am  Boden  und  Assimilationsprozesse  in  den  wär- 
meren Schichten  ^)  kompliziert  sind ,  im  kalten 
Wasser  den  höheren  Gasgehalt   finden,   und   daß 


im  Winter  dasselbe  gilt  gegenüber  dem  Sommer. 
So  beträgt  z.  B.  der  Sauerstoffgehalt  im  Genfersee 

im  Winter      7,3  ccm  pro  1, 

im  Sommer    5,7  ccm  pro  1, 

der  Kohlensäuregehalt  im  Winter     0,6  ccm  pro  1, 

im  Sommer    0,3  ccm  pro  1, 

der  Sauerstoffgehalt  im  Plönersee 

im  Winter   12,35  ccm  pro  1, 

im  Sommer    2,3  ccm  pro  1. 

Die  Wirkung  der  Temperaturänderungen  ist 
größer  als  die  des  Druckes,  bei  o"  bis  25"  30  bis 
40 "/(,,  bei  extremster  Druckschwankung  um  6  %. 
Die  jahreszeitlichen  Schwankungen  des  Sauerstoff- 
gehaltes im  Wasser  sind  also  recht  bedeutend. 
Die    Kurve    zeigt    diese    Schwankungen    in    der 

ccm  Opro  I. 

12 


Jan.     Febr.    MSrz    April      Mai      Juni     Juli     Aug.    Sept.     Okl       Nov      Dez. 

Abb.    I. 

Der  Sauerstoffgebalt  der  Oberflächenschicht   im  Sakrower  See 

während     eines     Jahres    gezeichnet    nach    Schickendantz 

mit      den     den      gemessenen     Temperaturen     entsprechenden 

Sättigungspunkten  für  Sauerstoff. 

Oberflächenschicht  des  Sakrower  Sees,  eines  mit 
der  Havel  in  Verbindung  stehenden  tiefen  Sees 
(s.  Abb.  i).  -)  Daneben  sind  die  einzelnen  Zahlen 
in  den  verschiedenen  Schichten  angegeben  (s.  Tab.). 
Zum  Verständnis  dieser  Zahlen  muß  noch  her- 
vorgehoben werden,  daß  wir  drei  Perioden  im 
Jahre  an  unseren  Seen  unterscheiden.  Die  erste 
Periode  ist,  die  der  teilweisen  Zirkulation.  In 
dieser,  der  Zeit  des  Sommers,  lagern  die  kältesten 
und  schwersten  Schichten,  also  die  mit  etwa  4 "  C 
Temperatur  am  Boden,  die  nächst  höheren  Schich- 


• -i j^ 

/  \  • 


auf. 


')  In  der  Regel  treten  derartige  Prozesse  in  den  Gewässern 


^)  G.  Schickendantz,  Temperaturen  und  Sauerstoff  im 
Sakrower  See  bei  Potsdam,  Intern.  Revue  f.  Hydrob.  u. 
Hydrog.  Bd.  III   igio/n,  S.  84ff. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


19 


Tiefe 
in  m 

Febr. 

April 

Mai 

Juli 

Sept. 

Okt. 

No 

V. 

Dez. 

t 

0    1 

t        0 

t 

0 

t        0 

t 

0    1 

t 

0 

l 

0 

t        0 

0 

1,0 

7,4 

8,5   10,9 

10,4 

9,5 

19,2     5,2 

17,3 

5,5 

11,6 

6,4 

5,7 

5.2 

4,0     6,1 

'h 

3.1 

8,7   10,6 

10,3 

9.8 

2 

3.2 

5,9 

8.4     9.9 

10,1 

8,5 

17.4 

11,6 

6,2 

4,0     6,2 

5 

3,2 

5.Ö 

7.7     8.1 

9,6 

16,2    2,7 

•7.5 

11,6 

6,4 

5.8 

5,' 

4,0 

6 

9,4 

17 

7 

8,3 

12,7 

11,6 

8 

7 

8.9 

",5 

9 

6.5 

6.7 

11,2 

10 

3.2 

5.7 

5.2       8 

5.7 

6,4 

5,9    2,5 

6,0 

1.6 

8.3 

0,1 

5.8 

5.0 

4,0 

15 

4.8       7 

5.0 

6.2 

5.3 

5.5 

1,3 

5,6 

0,1 

5,7 

5.1 

4.0 

20 

3.3 

4.9 

4,4     5.6 

4.6 

5.3 

4.7     «.7 

4.7 

0,4 

4,8 

0,1 

5.6 

4.1 

4,0     6,0 

25 

3.9     3,8 

4.2 

3,7 

4.4    0,1 

4.5 

0,2 

4.5 

0,1 

4.7 

0,2 

4,0     6,1 

30 

3.5 

2.7 

3.8       3 

4,1 

3.2 

4.5     0.1 

4.4 

HjS 

4,5 

H,S 

4.5 

HjS 

4,0     6,0 

Der  Sauerstoffgehalt  des  Wassers  im  Sakrower  See  während  eines  Jahres. 
Nach    Schickendantz. 
=  Wassertemperatur  in  "  C.  O  =  Sauerstoffgehalt  pro   i  1  in  ccm. 


ten  weisen  nur  geringe  Temperaturerhöhungen 
auf  bis  wir  an  eine  Schicht  kommen,  wo  die 
Temperaturerhöhung  sprungartig  mehrere  Grade 
beträgt,  wir  nennen  diese  Schicht  die  Sprung- 
schicht. Sie  ist  z.  B.  schön  ausgeprägt  in  den 
Tabellen  vom  Juli,  September  und  Oktober.  Von 
hier  aus  finden  wir  dann  die  höchst  temperierten 
Wasserschichten  des  Sees  überhaupt.  Diese 
Sprungschicht  erklärt  man  dadurch,  daß  die  über 
dieser  gelegenen  Wassermassen  von  den  täglichen 
Temperaturschwankungen  der  Luft  beeinflußt  wer- 
den und  diese  durch  Zirkulationsströmungen  mit- 
machen. Den  darunter  gelegenen  Wasserschichten 
fehlen  während  dieser  Zeit  diese  Zirkulationsbe- 
wegungen, es  befinden  sich  diese  in  einem  Zu- 
stande der  Stagnation.  Da  in  diesen  Tiefen  der 
Pflanzenwuchs  in  unseren  norddeutschen  Seen  zu- 
meist aufgehört  hat  oder  gering  ist,  so  findet  hier 
zunächst  keine  Produktion  von  Sauerstoff  durch 
diese  und  kein  Austausch  mit  der  Luft  statt,  in- 
folgedessen nimmt,  der  Sauerstoff  hier  infolge  des 
Verbrauchs  durch  Organismen  und  durch  Fäulnis- 
prozesse ständig  ab  und  der  Gehalt  an  HjS  und 
wie  sich  später  zeigen  wird  an  COj  zu.  Wir 
sehen  daher  einen  gewaltigen  Unterschied  zwi- 
schen dem  Sauerstoffgehalt  der  Zirkulations- 
schichten und  dem  der  stagnierenden  Schichten 
in  den  betreffenden  IVIonaten. 

Im  Herbst  nun  kühlen  sich  die  oberen  Schichten 
ab  und  sinken  infolge  der  zunehmenden  Schwere 
nach  unten,  die  Zirkulation  greift  immer  weiter 
nach  unten  und  es  kommt  so  schließlich  zu  einer 
Vollzirkulation  des  Seewassers.  Eine  gleiche  Voll- 
zirkulation nur  im  umgekehrten  Sinne  durch  Er- 
wärmung der  Wassermassen  tritt  dann ,  häufig 
allerdings  in  weniger  stark  ausgeprägtem  Grade 
im  Frühjahr  auf.^)     Während  des  Winters   haben 

')  Die  auf  4"  erwärmten  oberflächlichen  Wasserschichten 
sinken  als  schwerere  Wassermassen  in  die  Tiefe  ab. 


wir  dann  ein  Stadium  der  Stagnation  für  die  ge- 
samte Wassermasse  bis  auf  die  alleroberste 
Schicht,  es  schwindet  daher  in  tieferen  Seen  auch 
hier  der  Sauerstoffgehalt  in  den  Tiefen,  die  jetzt 
die  höchsten  Temperaturen  aufweisen.  Die 
Schichtung  ist  eine  umgekehrte  wie  im  Sommer. 
Wie  stark  der  Sauerstoffgehalt  der  einzelnen 
Wasserschichten  durch  diese  thermischen  Vorgänge 
beeinflußt  und  verändert  wird,  ist  leicht  aus  den 
Tabellen  zu  ersehen. 

Es  hat  sich  nun  aber  gezeigt,  daß  der 
Sättigungskoeffizient  an  Sauerstoff,  der  ja  der 
Temperatur  und  dem  Luftdruck  entsprechen  muß, 
unter  Umständen  erheblich  überschritten  wird, ') 
und  dies  hat  darauf  hingewiesen,  daß  der  Sauer- 
stoffgehalt nicht  allein  abhängt  von  dem  Wechsel- 
verkehr zwischen  Atmosphäre  und  Wasser,  son- 
dern zu  einem  großen  Teil,  vielleicht  zu  einem 
wesentlichen  von  der  Tätigkeit  der  sauerstoff- 
produzierenden grünen  Pflanzen.  In  Gewässern, 
in  denen  ein  reiches  organisches  Leben  sich  ent- 
faltet, würden  die  sauerstoffzehrenden  Prozesse 
der  abgestorbenen  Organismenleiber  die  Überhand 
gewinnen  und  zu  HjS-Mengen  führen,  die  jedes 
höhere  Leben  schließlich  verhindern  würden, 
wenn  nicht  wieder  die  Lebenstätigkeit  der 
grünen  Pflanzen  für  eine  reichliche  Sauerstoff- 
produktion sorgen  würde.  Ein  Beispiel,  wie  diese 
Anreicherung  an  Sauerstoff  durch  die  Pflanzen 
wirkt,  gibt  folgende  Tabelle: 
Es  sind  hier  fortlaufend  dreistündlich  in  einem 
Teiche  Sauerstoffbestimmungen  vorgenommen 
worden. 

Temp.  20,1"  C  0,733  ccm    0  pro  1 

„       21,0°  C  I,i;i8 

„       21,8»  C  1,605 

„       21,6"  C  1,540 

„       20,3"  C  0,937 

19,1»  C  0,930 


24.  VI.     8  Uhr  vorm. 
II     „ 
2     ,,     nachm. 

5     „ 

8     ,,     abends 
II     „     nachts 


'j  Siehe  die   Kurve  Abb.   I. 


20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


5 

S 

II 

2 


25.  VI.     2     „     nachts  Temp.  18,4»  C  0,799  ccm  U  pro  1 

morgens         ,,  18,0°  C  0,815     ■•  ••  " 

„                 „  1716°  C  1,214     I.  ..  1. 

vorm.             ,,  18,0»  C  1,304     „  „  ,, 

mittags          „  19,8»  C  1,679     „ 

Diese  Tabelle  stammt  von  S  e  y  d  e  1 , ')  sie 
zeigt  die  Sauerstoffzunahme  bei  der  Belichtung 
infolge  der  Tätigkeit  der  Pflanzen.  Man  hat  diese 
Eigenschaft  der  0-Produktion  nun  der  Fischerei- 
praxis dienstbar  gemacht,  indem  man  den  Sauer- 
stoffmangel von  verschlammten  Gewässern,  die 
unter  Eis  sich  befinden  und  infolgedessen  keinen 
Gasaustausch  mit  der  Atmosphäre  besitzen,  da- 
durch zu  bekämpfen  sucht,  daß  man  das  Eis 
schneefrei  hält  und  so  durch  die  Tätigkeit  der 
Pflanzen  im  Wasser  den  Sauerstoffgehalt  hebt. 
Die  Erfahrung  hat  nämlich  gezeigt,  daß  die  sog. 
Wintersterben  der  Fische,  welche  auf  Sauerstoff- 
mangel unter  Eis  in  fäulnishaltigen  Gewässern 
zurückzuführen  sind,  nur  dann  auftreten,  wenn  die 
Eisdecke  mit  Schnee  bedeckt  ist,  ^)  und  so  das 
Wasser  und  damit  seine  Schwebpflanzen  und 
übrigen  Pflanzen  im  Dunkeln  gehalten  werden. 
Versuche,  welche  von  mir  am  Königsberger  Ober- 
teich ausgeführt  worden  sind,  haben  gezeigt,  daß 
in  der  Tat  schneefrei  gehaltene  Stellen  unter  Eis 
einen  höheren  Sauerstoffgehalt  bereits  nach  kurzer 
Zeit  aufweisen  als  die  schneebedeckten  Stellen: 
Folgende  Zahlen  wurden  z.  B.  erhalten: 

gefegte  Stelle 
vorm.  1 1   Uhr  vor  dem  Fegen : 

a)  O  m  WT.  0,1»     8,345  ccm  O 
2  m  WT.  2«        7,28     ccm  O 

4  Uhr  30  nachm. 

b)  o  m  WT.       o,i"     7,12     ccm  O 
2  m  WT.  +1,2"     8,094  ccm  O 

ungefegte  Stelle 
vorm.   II  Uhr 

a)  o       m  WT.  0,1"     8,347  ccm  O 
1,80  m  WT.  1,2»     9,26     ccm  O 

4  Uhr  30  nachm. 

b)  o        m  WT.  0,1"     6,2     ccm  O 
i,So  m  WT.  1,2"     7,96  ccm  O 

Es  hatte  also  eine  mehr   oder  weniger  starke 
0-Abnahme    stattgefunden,    welche    wohl    darauf 
zurückzuführen  ist,  daß  sich  tierische  Organismen 
in    größerer    Menge    an    die    eingeschlagenen  Eis- 
löcher   gedrängt    und    so    durch    ihre    Atmungs- 
prozesse zu  einer  Sauerstoffabnahme  geführt  hatten. 
Es    zeigt   sich   jedoch    ein    großer  Unterschied  in 
der    Abnahme    an    beiden   Stellen,    es  betrug  die 
Abnahme  an  der  schneefrei  gemachten  Stelle 
O  m  — 1,225  ccm  in  5  Std. 
Boden  -}-o,8i4  ccm 
an  der  schneebedeckten  Stelle 
o  m  — 2,147  ccm 
Boden   — 0,284  ccm 


>)  Seydel,  E.,  Über  die  Schwankungen  des  Sauerstoff- 
gehaltes  in  Teichen.  Mitt.  d.  Fischereivereins  für  die  Provinz 
Brandenburg  Bd.  IV,  Heft  7,   1912. 

')  S  c  h  i  e  m  e  n  z. 


Es    betrug    also    das   Mehr    an    der   schneefreien 
Stelle  o  m  —0,922  ccm,  d.  h.  14,5  % 

am  Boden  1,098  ccm,  d.  h.  13,9  "/o 

Die  Versuche  wurden  unterbrochen  durch  Ein- 
treten von  Tauwetter,  das  das  Eis  milchig  und 
daher  für  Licht  stark  undurchgängig  machte,  sie 
sollen  fortgesetzt  werden. 

Weit  weniger   erforscht   als   die   Beziehungen 
zwischem    dem    Pflanzenleben    des   Wassers    und 
seinem  Sauerstoffgehalt   sind  die    zwischen  ihnen 
und    der  Kohlensäure.      Es  handelt   sich  nämlich 
hierbei  ebenfalls   nicht   um  die  COj -Aufnahme  in 
Gasform,    sondern    die    untergetauchten    Pflanzen 
vermögen    dieses   Gas    ebenfalls   fast   nur   in    ge- 
löster Form  aufzunehmen;    eine    einzige  Möglich- 
keit besteht  für  die  Wasserpflanzen,  den  Kohlen- 
stoff auch    als    gasförmiges   Kohlendioxyd    aufzu- 
nehmen,   nämlich  dasselbe  aus  den  großen  Inter- 
cellularräumen    zu    entnehmen,     die    gerade    die 
Unterwasserpflanzen    in    so    ausgeprägtem   Maße 
besitzen.     Diese  enthalten  auch  CO,,  das  aus  dem 
Wasser    hineindiffundiert.       Die    hauptsächlichste 
C- Quelle  ist  jedoch    im  Wasser  selbst  zu   suchen 
und    wird    die  Kohlensäure    durch    die  Epidermis 
hindurch  ebenso  wie  der  Sauerstoff  und  die  Nähr- 
salze   aufgenommen.      Es    ist    bekannt,    daß   den 
typischen  Unterwasserpflanzen  Spaltöffnungen  ent- 
weder   ganz   fehlen    oder   nur   in    bedeutend   ge- 
ringerer   Zahl    vorhanden    sind,     als     bei    Land- 
pflanzen.    Die  Cuticula  selbst  ist  äußerst  zart,  eine 
Kutinisierung    wie    bei    den    Landpflanzen    fehlt. 
Meines  Wissens  hat  zuerst  Z  u  n  t  z   darauf  hinge- 
wiesen,  daß  es   in   vielen  Fällen  der  Kohlenstoff 
ist,  der  sich  als  Nährstoff  im  Wasser  im  Minimum 
befindet,  und  somit  nach  dem  L  i  e  b  i  g 'sehen  Ge- 
setz  das   Gedeihen   der   pflanzlichen   Organismen 
grundlegend  beeinflußt.    Er  zeigte,  daß  bei  intensiv- 
ster Schüttelung  mit  Luft  bei  16»  C  das  Kubikmeter 
Wasser  nur  0,3  1  CO3    aufnehmen  kann,    daß  ein 
Gewässer  von  einem  Hektar  mit  7500  cbm  Inhalt 
also  enthahen  würde  2250  1  COj  =  4,  4  l<g  CO2 
entsprechend    1,2  kg  Kohlenstoff.     Nach  Zuntz' 
weiteren    Untersuchungen    wird    aber    von    einer 
reichen    Mikroflora   diese  Menge   von  Kohlenstoff 
an  einem  Tage  assimiliert.      Selbst  wenn  wir  die 
noch   nicht   bewiesene,  ja    durch    Nathansons 
und    Czensnys  Versuche    unwahrscheinlich    ge- 
machte Annahme,  daß  der  Kohlenstoff  im  Wasser 
aus  an  Alkali  gebundene  CO.,  entnommen  werden 
kann,  mit  zu  Hilfe  nehmen,  würde  nur  eine  Menge 
von  1,4  kg  C  in  dem  erwähnten  7500  cbm-Teiche, 
an    dem    die    Zuntzschen    Untersuchungen    und 
Berechnungen      ausgeführt     wurden,      resultieren. 
Die   Annahme,    daß    die   Kohlensäure    dem  Ver- 
brauch   entsprechend    nun    etwa    aus     der    Luft 
wieder   in    das  Wasser   hinein    diffundiert,    ist   zu 
Unrecht    geltend    gemacht,     da     wie    Steffen, 
Hüfner,  Hoppe-Seyler    u.  a.    gezeigt  haben, 
es    Wochen    dauert,    bis    ein    CO.,  -  Molekül    eine 
Tiefe  von  einem  Meter   erreicht  hat.      Die   Luft- 
CO,    kommt    demnach    für    die    Ernährung    der 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


21 


Mikroflora  des  Wassers  und  wohl  auch  der 
anderen  submersen  Flora  nur  in  ganz  geringem 
Maße  in  Betracht.  Als  Hauptkohlenstoffquelle 
müssen  wir  daher  für  die  Mikroflora  zum  wenig- 
sten neben  den  Atmungsprodukten  der  Tiere 
und  Pflanzen  die  in  Zersetzung  begriffenen  organi- 
schen Substanzen  am  Boden  ansehen.  Hierauf 
wird  dann  auch  die  Erfahrung  in  der  Praxis  der 
Wasserwirtschaft  zurückzuführen  sein,  daß  mit  an- 
organischen Düngesalzen  gedüngte  Gewässer  sehr 
häufig  jeden  Erfolg  vermissen  lassen,  während  die 
mit  organischem  Dünger  versehenen  erstaunliche 
Mehrerträge  bringen.  Daß  in  der  Tat  in  pflanzen- 
reichen  Teichen  die  CO.,  im  Laufe  des  Tages  völlig 
verschwinden  kann,  haben  Untersuchungen  im 
Z  u  n  t  z  sehen  Laboratorium  gezeigt.  Neuerdings 
liegen  hierfür  interessante  Zahlen  von  Czensny*) 
aus  Teichen  vor;  er  fand  folgende  Mengen 
freier  CO-,: 


3  Uhr  früh 

2  Uhr  abends 

Abnahme 

6,6  mg  pro  1 

2,6  mg 

4,0  mg 

5,4 

3,o    „ 

2,4    „ 

7,2 

3,7    ,. 

3,5    „ 

6.8        „ 

4,9    -, 

1,9    „ 

7,6        „ 

4.2    „ 

3,4    „ 

7,2 

2,1      „ 

5,1    „ 

Daß  die  CO.,  nicht  vollständig  aus  dem  Teich- 
wasser geschwunden  war,  ist  darauf  zurück- 
führen, daß  diesen  Teichen  aus  Versuchsgründen 
abgeschnittenes  Pflanzenmaterial  zugeführt  worden 
war,  das  durch  seine  Verwesung  dafür  sorgte, 
daß  der  Kohlenstoff  nicht  völlig  zum  Ver- 
schwinden kam.  Im  übrigen  konnte  Czensny 
das  Verschwinden  der  freien  CO.,  an  in  Zer- 
setzung begriffenen  Stoffen  armen  Teichen  am 
Abend,  wie  es  Knauthe  berichtet  hatte,  eben- 
falls feststellen :  '^) 

abends  (9.  VI.)       früh  (10.  VI.)       mittags  (10.  VI.) 

o  3,3  5-5 

o  1 1 ,0  2,9 

o  14.5  1,1 

o  10,3  6,6 

Wir  sehen  also,  daß  das  Verhältnis  der  Wasser- 
pflanzen zum  Kohlenstoff  ein  viel  ungünstigeres 
als  das  der  Landpflanzen  oder  besser  Luftpflanzen 
ist.  Während  der  Nacht  findet  nun  also  infolge 
des  Aufhörens  der  Assimilationstätigkeit  der 
Pflanzen  wieder  eine  Anreicherung  der  Kohlen- 
säure im  Wasser  statt  und  zwar  einerseits  durch 
die  COj-Ausatmung  der  höheren  Organismen  und 
andererseits  durch  die  auch  des  Nachts  weiter 
laufenden  Zersetzungsvorgänge  organischer  Sub- 
stanz. 

Soviel  über  den  Gasstoffwechsel  in  unseren 
Binnengewässern.  Im  Meere  liegen  die  Verhält- 
nisse etwas  anders,  doch  soll  hier  nicht  darauf 
eingegangen  werden.  Sehr  interessant  wäre  es, 
zu   untersuchen,    wie   sich   diese   Verhältnisse   an 


')  s.  Zeitschr.  f.  Fischerei,    N.   F.,    Bd.  IV,    1919,    p.   io,S 
u.    110. 

')    1.    C.    p.    121. 


polaren  Seen  verhalten,  die  ja  durch  lang  dauernde 
Belichtung  und  lang  dauernde  Verdunkelung  aus- 
gezeichnet sind.     Die  wissenschaftlich-praktischen 
Versuche   der  Hydrobiologie    und   der   speziellen 
Fischereibiologie   haben   gezeigt,   daß   neben    den 
Sauerstoff-  und  Kohlensäureverhältnissen  eine  der 
wichtigsten    Rollen    das    Kali,    der  Kalk    und    die 
Phosphorsäure    sowie  der  Stickstoff  in  ihrem  Ge- 
halt  im  Wasser   spielen.      Ich    will   hier   absehen 
von  mehr   speziellen  Fällen,    wo   etwa   durch   zu 
hohen  Eisen-    oder  Mangangehalt   das   Leben   im 
Wasser   in    besonderer  Richtung    beeinflußt   wird, 
das    sind   Spezialfälle,    die    hier    nicht    behandelt 
werden   sollen.      Ganz    besonderes  Interesse    hat 
der  Stickstoffwechsel  in  der  Hydrobiologie  erregt, 
weil    es   wichtig  war,    zu   erfahren,   wie   sich   die 
Organismenwelt     diesem     Stoffe     gegenüber     im 
Wasser    verhalten    wird.      Wir    wissen    aus    den 
landwirtschaftlichen   Forschungen,    daß   die    Rolle 
und  das  Schicksal  des  N  im  Boden  recht  mannig- 
faltig sind.      Wir  kennen  seit  vielen  Jahren  stick- 
stoffsammelnde oder  nitrifizierende  und  stickstoff- 
zehrende   oder  denitrifizierende  Prozesse  im  Erd- 
boden,   die   im   wesentlichen  auf  bakterielle  Ein- 
flüsse   zurückzuführen  sind,   wenn    auch    rein  che- 
mische Vorgänge    ebenfalls    eingreifen.      Für    die 
Verhältnisse    im    Wasser     war    diese   Frage    bis 
kurz  vor  dem  Kriege  noch  recht  ungeklärt.     Erst 
Untersuchungen    von    H.   Fischer -München  in 
Verbindung  mit  H o f e r  und  von  Zuntz,  Czensny 
und  Will  er  haben  hier  einige  Klarheit  geschaffen. 
Es    hat   sich   nun   gezeigt,    daß  auch    im  Wasser 
bakterielle    sowie    chemische    Nitrifikations-    und 
vor  allem  auch  Denitrifikationsvorgänge  sich  ab- 
spielen,   in    ähnlicher  Form    wie    im  Ackerboden. 
Als  Stickstoffquellen  sind  einmal  vor  allen  Dingen 
zerfallende     Eiweißsubstanzen     der    Organismen- 
leiber, die  Exkrete  der  Tiere,   dann  die  Luft  und 
außerdem    die    stickstoffhaltigen    Salze,    also    die 
Nitrite  und  Nitrate,  welche  im  Wasser  gelöst  auf- 
treten und  dem  Boden  mehr  oder  weniger  direkt 
als  solche  entnommen  sind,  zu  nennen.     Der  Ge- 
samtstickstoffgehalt der  Gewässer  ist  naturgemäß 
ein  verschiedener  und  schwankt  auch  im  einzelnen 
See    oder   Teich    bzw.    Fluß    mit    der  Jahreszeit. 
Czensny  fand  z.  B.    in    Sachsenhausener   Bach- 
wasser folgende  Mengen  an  Gesamtstickstoff  (1.  c.) ; 
1914 

April  0,35  mg  pro   i    1 

Mai  0,80 

Juni  0,76 

Juli  0,87 

Anfang  September  0,81  „ 

Ende  September     0,59  „ 

1915 

Juli  0,41   mg  pro   i   1 

August  0,60  „ 

Anfang  September  0,59  „ 

Ende  September      0,54  „ 

Im  Sachsenhausener  Teichwasser: 


April 


1914 

0,36  mg  pro   1   i 


22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


Mai  0,91  mg  pro  i  1 

Juni  0,81  „ 

Juli  0,98 

Anfang  September  0,58  „ 

Ende  September      0,76  „ 

1915 

Juli  0,51  mg  pro  i  1 

August  0,70  „ 

Anfang  September  0,53  „ 

Ende  September      0,37  „ 

Bedeutung  gewinnt  für  die  höheren  Organis- 
men, die  Pflanzen  und  demnächst  für  die  Tiere, 
der  N  erst,  wenn  er  als  Ammoniak  oder  Nitrat 
auftritt.  Nur  in  diesen  beiden  Formen  vermögen 
die  Wasserpflanzen  den  Stickstoff  aufzunehmen 
und  zu  Eiweiß  umzusetzen.  Es  sind  die  Bakterien, 
welche  den  in  anderem  Zustande  im  Wasser  vor- 
handenen Stickstoff  in  diese  beiden  Formen  um- 
wandeln. Einmal  sind  es  Fäulnisbakterien,  die 
die  Abbauprodukte  des  Eiweißes,  das  aus  den 
Organismen  stammt,  schließlich  in  Ammoniak 
und  Ammoniumsalze  umsetzen,  dann  aber 
kennen  wir  ähnlich  wie  im  Boden  Azotobakterien, 
die  den  gelösten  Stickstoff  des  Wassers  binden 
und  weiter  verarbeiten,  um  ihn  so  dem  Kreislauf 
der  Stoffe  im  Wasser  zuzuführen.  Auch  nitrifi- 
zierende  Bakterien  oder  vielleicht  besser  bakterielle 
nitrifizierende  Prozesse  sind  aus  dem  Süßwasser 
bekannt  geworden.  So  zeigen  folgende  Kurven 
das  Schwanken  des  Nitratgehaltes  im  Havelwasser, 
das  in  Glasbehältern  aufbewahrt  wurde  (Abb.  2). 
Der  Nachweis  von  nitratbildenden  Bakterien  im 
Wasser  ist  sehr  schwierig.  Interessant  ist  es  nun, 
daß  es  immer  dann  gelang,  Nitratbildner  in  dem 
betreffenden  Havelwasser  nachzuweisen,  wenn  die 
Kurve  im  Aufsteigen  begriffen  war.  Es  handelt 
sich  beim  Nitrifikaiionsprozeß  im  Wasser  offenbar 
um  eine  ähnliche  Erscheinung,  wie  wir  sie  in 
unseren  Gewässern  als  Wasserblüte  kennen,  d.  h. 
um  die  Erscheinung,  daß  sich  gewisse  Blaualgen 
plötzlich  ungeheuer  vermehren  und  unsere  Ge- 
wässer grün  färben. ')  Daß  es  sich  hierbei  tat- 
sächlich um  bakterielle  Vorgänge  im  Wasser 
handelt,  beweisen  Versuche  mit  ausgekochtem, 
also  sterilem  Havelwasser,  bei  denen  diese  Zacken 
ausbleiben.  Merkwürdigerweise  sind  wir  über 
das  Vorkommen  von  Nitrobakterienarten,  also 
Nitrit  zu  Nitrat  oxydierenden  Formen  und  Nitro- 
somonasarten,  also  Ammoniak  zu  Nitrit  wandeln- 
den Arten  im  Meere  besser  orientiert  als  im  Süß- 
wasser. 

In  sehr  ausgedehntem  Maße  wirken  nun  ent- 
gegengesetzt arbeitende  Spaltpilze  im  Wasser,  die 
sog.  Denitrifikanten.  In  der  landwirtschaftlichen 
Düngerlehre  spielt  die  Frage  der  Denitrifikation 
eine  große  Rolle.  Es  handelt  sich  hierbei  um  die 
Spaltung  der  Salpetersalze  und  das  dadurch  statt- 
findende Freiwerden  des  Stickstoffes,  der  dann  in 
die  Luft  entweicht.   Es  hat  sich  gezeigt,  daß  der- 


artige Denitrifikationsvorgänge  sich  im  wesent- 
lichen in  Böden  abspielen,  die  mindestens  2$  % 
Wasser  enthalten  und  gewisse  Kohlehydrate,  die 
aus  dem  Zerfall  der  Zellulose  entstehen.  Die  de- 
nitrifizierenden  Bakterien  sind  nämlich  bei  der 
Assimilation  des  Kohlenstoffs  auf  organische  Ma- 
terie angewiesen.  Es  war  nun  eigentlich  von 
vornherein  als  wahrscheinlich  anzunehmen,  daß 
gerade  das  Wasser  unter  Umständen  ein  ganz 
ausgezeichnetes  Milieu  für  Denitrifikanten  abgeben 
würde.  Auch  hier  wieder  sind  die  marinen 
Untersuchungen  zunächst  vorangegangen.  Jetzt 
wissen  wir  jedoch,  daß  im  Süßwasser  dort,  wo 
der  Boden  des  Gewässers  humusreich  ist,  die 
Denitrifikation  durch  Bakterien  eine  außerordent- 


"W'^i^i     Januar 
prol 


Mdrz 


')    WilleV,   A.,    Experimentelle    Studien    zur    Salpeter- 
düngung in  Teichen;  Fisch.-Ztg.,  Bd.   18,  1915. 


Tager  W  20  30  iO  SO  60  W    - 

Abb.  2.     Schwankungen  des  Nitratgehaltes  im  Wasser. 
Nach  Will  er. 

Havelwasser  im  Licht. 

Havelwasser  im  Dunkeln. 


lieh  große  Rolle  spielt,  und  daß  die  hier  im 
Wasser  gelösten  Nitrate  und  Nitrite  bei  günstiger 
Temperatur  außerordentlich  schnell  umgewandelt 
werden.  Dagegen  in  Gewässern,  die  mehr  auf 
humusarmem  Sandboden  sich  befinden,  spielen 
diese  Bakterien  —  Bacillus  fluorescens  liquefaciens 
hat  eine  große  Bedeutung  in  dieser  Hinsicht  — 
eine  geringere  Rolle.  Die  sog.  Teichdüngung 
hat  mit  diesen  Prozessen  daher  mehr  zu  rechnen 
als  vielleicht  die  Landwirtschaft  selbst.  Ein  Bei- 
spiel derartiger  Denitrifikationswirkung  zeigt  fol- 
gende Kurve  (Abb.  3).  Hier  sind  wiederum  im 
Havelwasser   Denitrifikanten    durch   Zugabe    von 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


23 


geringen  Mengen  Alkohol,  also  einer  Kohlenstoff- 
quelle, begünstigt  und  die  Nitrifikanten  geschädigt 
worden.  Wir  sehen  völlige  Denitrifikation  der 
zugeführten  Nitrate.  Eine  ähnliche  Kohlenstoff- 
quelle stellt  der  Kalkstickstoff  (Calciumcyanid)  dar. 
Die  dritte  Kurve  zeigt,  wie  sich  der  Nitratgehalt 
hierbei  verhält  (Abb.  4).  Hier  wird  offenbar  die 
Schädigung  der  Nitrifikanten  nicht  so  intensiv 
stattfinden,  so  daß  nach  dem  Verbrauch  des 
Kohlenstoffs  aus  dem  Kalkstickstoff  diese  wieder 
anfangen  zu  nitrifizieren  und  es  zu  einer  Neu- 
bildung von  Nitraten,   deren  Stickstoffquelle  viel- 


ZS.März 


!J.  April 


Tage  10  zq 

Abb.  3.     Denitrifikation  im  Havelwasser. 

Havelwasscr  +  ionigN205+  i  ccm  Alkohol  absol.  pro  1  1. 

Nach  WiUer. 


Denitrifikanten  die  Oberhand  haben,  während 
umgekehrt  in  den  kalten  Meeren  diese  nicht  so 
zur  Geltung  kommen  und  letztere  daher  einen 
größeren  Stickstoffgehalt  aufweisen.  Nach  Brand  t 
enthalten  die  Holsteinschen  Seen  mit  viel  Sal- 
petersäure und  salpetriger  Säure  viel  Plankton, 
die  Salpetersäure-  und  salpetrigsäurearmen  wenig 
Plankton.  Als  Lieferanten  für  den  Stickstoff  der 
Pflanzen  in  unseren  Gewässern  kommen  also  in 
erster  Linie  Bakterien  in  Frage,  die  den  vor- 
handenen Stickstoff  in  die  für  die  Pflanze  allein 
aufnahmefähige   Form   des  Ammoniaks    und   des 


2$.  April 


Z4  Mai 


OTage  70  20  30' 

.\bb.  4.     Denitrifikation  und  Nitrifikation  im  Havelwasser. 
Havelwasser  -j-  10  mg  N2O5  -|-  0,6  mg  Kalkstickstoff  pro  i  1. 
Nach  Willer. 


leicht  hier  im  Kalkstickstoff  selbst  zu  suchen  ist, 
kommt.  Wir  sehen,  es  findet  im  Wasser  ein 
dauernder  Kampf  zwischen  den  beiden  Organismen- 
gruppen, den  Nitrifikanten  und  den  Denitrifi- 
kanten statt.  Es  ist  bekannt,  daß  Brandt  den 
verhältnismäßig  großen  Reichtum  der  kalten 
Meere  an  Organismen  der  verhältnismäßigen 
Armut  an  solchen  in  den  warmen  Meeren  gegen- 
über erklären  möchte  dadurch,  daß  infolge  der 
höheren  Temperatur   in  den  warmen  Meeren  die 


Nitrats  überfuhren.  Es  sind  aber  auch  wiederum 
Bakterien,  die  diesen  Stickstoff  den  Pflanzen  zu 
entziehen  vermögen.  Die  genauen  Schwankungen 
des  Stickstoffgehaltes  in  den  einzelnen  Schichten 
der  Seen  und  während  der  verschiedenen  Jahres- 
zeiten sind  im  allgemeinen  noch  so  gut  wie  un- 
bekannt. Hier  sind  sicherlich  noch  recht  inter- 
essante und  auch  für  die  praktische  Wasserwirt- 
schaft wichtige  Ergebnisse:  zu  erwarten.  Über 
die  Rolle  der   übrigen  Nährstoffe,    vor   allem  des 


24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


auf  3  mm- 
Blattfläche 
von  Elodea 
canadensis. 


Kalis  und  der  Phosphorsäure,  sind  wir  zwar  so- 
weit unterrichtet,  daß  wir  annehmen,  diese  werden 
als  gelöste  Salze  durch  die  ganze  Epidermis  der 
Wasserpflanze  aufgenommen.  Wir  wissen,  daß 
sie  natürlich  ebenfalls,  sobald  sie  ins  Minimum 
gelangen,  die  Entwicklung  der  Pflanzenwelt  des 
Wassers  grundlegend  beeinflussen  können.  Die 
einzelnen  Arten  werden  in  ihrem  Vorkommen 
abhängig  sein  von  dem  mehr  oder  weniger 
großen  Gehalt  an  diesen  Stoffen  im  Wasser.  Wie 
gesagt,  genauere  Angaben  fehlen  hier  noch  völlig. 
V.  Alten  hat  an  gewissen  Diatomeenarten 
nachweisen  können,  daß  ihr  Vorkommen  von 
dem  Gehalt  des  Wassers  an  Phosphorsäure  über- 
haupt abhängig  ist.  Daß  eine  starke  Vermehrung 
einzelner  Diatomeenarten  durch  Zufuhr  von  P 
und  K  stattfindet,  geht  aus  folgenden  in  Ver- 
suchen von  mir  festgestellten  Zahlen  hervor,  die 
sich  auf  die  Kieselalge  Cocconeis  placentula  Ehrbg. 
beziehen: 

1.  Kultur  mit  gewöhnlichem  Wasser 
(0,25  mg  P.fi,„  5,5  mg  K^O  pro  1) 
enthielt  in  2  Kontrollproben  nach 
8  Tagen  durchschnittlich  22,05 
und  7,3  Individuen; 

2.  Kultur  mit  demselben  Wasser 
-f-  8  mg  Phosphorsäure  pro  1 
durchschnittlich  36  und  46,6  In- 
dividuen ; 

3.  Kultur  mit  demselben  Wasser 
-j-  4  mg  K  -j-  8  mg  P  pro  1  durch- 
schnittlich 46,4  und  59,3  Indi- 
viduen. 

Es  ist  also  zweifellos,  daß  die  Zahl  der 
Pflanzen  von  dem  Gehalt  gelöster  Phosphate  und 
Kalisalze  abhängig  ist.  Die  Möglichkeit  besteht 
allerdings,  daß  durch  die  Zufuhr  die  Vermehrung 
nur  zunächst  angeregt  wird  und  später  diese 
wieder  nachläßt.  Die  beendeten  Versuche  sind 
jedoch  noch  nicht  ausgearbeitet.  Ich  hoffe  später 
darüber  berichten  zu  können. 

Weiter  hat  v.  A 1 1  e  n  ^)  nachgewiesen,  daß 
nicht  nur  die  Zahl,  sondern  auch  vor  allen  Dingen 
die  Form  und  Größe  der  Diatomeen  durch  Kali- 
salze und  Phosphate  beeinflußt  wird,  indem  bei 
stärkerem  Gehalt  an  diesen  Salzen  die  Größe  der 
untersuchten  Arten  erheblich  heraufgesetzt  wird 
im  Verhältnis  zu  der  Größe  der  gleichen  Arten 
in  Gewässern  mit  weniger  Gehalt  an  diesen 
Stoffen.  Leider  hat  er  hier  keine  ganz  genauen 
und  übersichtlichen  Tabellen  gegeben.  Ähnliche 
Resultate  für  Grünalgen  fand  R  ay  s  s  (Coelastrum).^) 
Das,  was  also  von  den  Pflanzen  des  Landes  gilt, 
nämlich,  daß  sie  durch  einen  größeren  Gehalt 
ihres  Nährmediums  an  Nährsalzen  an  Größe  und 
Zahl  zunehmen,  gilt  auch  für  die  Wasserpflanzen, 
soweit  sie  vom  Boden  unabhängig  sind. 

Über  die  regionäre  Verteilung  des  Kalis  und 
der  Phosphorsäure   in  unseren  Binnenseen  wissen 


wir  zurzeit  so  gut  wie  nichts.  Über  die  jahres- 
zeitlichen Schwankungen  können  uns  einen  aller- 
dings sehr  oberflächlichen  Aufschluß  für  eine 
Gruppe  von  bestimmten  Teichen  Zahlen  von 
Czensny  geben,  die  allerdings  mehr  zu  anderen 
Zwecken  gewonnen  worden  sind.  Er  fand  fol- 
gende Zahlen  in  einem  fließenden  Wasser:^)  .-,' 

Gehalt  von  P2O5  im  Sachsenhausenfer  Zuleitet: 
1914 
30.  April  0,26  mg  pro  1 

18.  Mai  o,SS  „ 

15.  Juni  0,22  „ 

13.  Juli  0,31 

20.  Juli  0,61 

3.  September  0,69         „ 

1915 

12.  Juli  0,48  mg  pro  1 
10.  August         0,76  „ 

7.  September  0,87  „ 

29.  September  0,40         „ 
In  den  Sachsenhausener  Teichen: 

1914 

30.  April  0,30  mg  pro  1 
18.  Mai  0,59 

15.  Juni  0,25 

13.  Juli  0,92 

20.  Juli  0,51  „ 

3.  September  0,70  „ 

1915 
12.  Juli  0,57  mg  pro  1 

10.  August         0,83  „ 

7.  September  1,34 
29.  September  0,39  „ 

Es  scheint  also,  als  wenn  der  Gehalt  des 
Wassers  an  P.iOg  im  Spätsommer  am  größten  ist. 
Ähnlich  scheint  es  sich  mit  dem  Kali  zu  ver- 
halten, doch  sind  die  Zahlen  hier  noch  spärlicher, 
da  sie  sich  nur  auf  einen  ganz  kurzen  Zeitraum 
erstrecken.  Ich  gebe  sie  nur  der  Vollständigkeit 
halber  wieder: 

KjO  im  Zuleiter  im  Teich 

12.  Juli  1,43  1,33   mg  pro  1 

10.  August         2,10  2,06  „ 

7.  September  2,40  2,77  „ 

24.  September  2,93  2,75  „ 

Über  den  Kalkstoffwechsel  im  Wasser  sind 
bisher  noch  nicht  allzu  viele  Arbeiten  erschienen. 
Wir  wissen  jedoch,  daß  auch  der  Kalkgehalt 
jahreszeitlichen  Schwankungen  unterliegt,  genau 
wie  Kohlensäure  und  Sauerstoff.  Auch  hier  finden 
sich  Unterschiede  im  CaO-Gehalt  der  verschiedenen 
Schichten : 

Kulk menge  im  Kuresee 
Juni   1906  bis  Oktober  1907.-) 

Tiefe  Temperatur  CaO 

15.  VI.  06  o  m  I7i3°  C  61,0  mg  pro  1 

12  r2i4  6o,!s 


1)  Zeitschr.  f.  Fischerei,  N.  F.,  Bd.  IV,  S.  190  ff. 

-)  Beiträge  zur  Kryptogamenflora  der  Schweiz,  J915,  5,  2. 


')  1,  c. 

")  J.  N.  Brönstedt  und  C.  Wesenberg-Lund, 
Chemisch -physikalische  Untersuchungen  der  dänischen  Ge- 
wässer. Intern.  Revue  für  Hydrobiologie  und  Hydrographie 
Bd.  IV,   191 1. 


N.  F.  XX. 

Nr.  2 

N 

aturwissensch 

ai 

Tiefe 

Temperatur 

CaO 

15.  VI.  06 

i:;  m 

8,5°  C 

60,0  mg  pro 

1 

28 

0,0 

61,8 

23.  VII.  06 

0 

17.5 

59>o 

13 

i?,8 

59.4 

15 

9.5 

bI,S 

27 

7.1 

64,8 

8.  VIII.  06 

0 

19.4 

55.0 

13 

i6,s 

59,8^ 

17 

8,2 

64,0 

31 

7.2 

64,0 

24.  VIII.  Ob 

0 

i^,o 

5=;,S 

13 

15,4 

55.S 

17 

15.1 

b2,6 

30 

7.7 

63.8 

12.    IX.   00 

0 

"5,0 

^6,o 

13 

■5.4 

57,0 

17 

15.' 

Sb,2 

30 

7.7 

64,6 

S.  X.  06 

0 

12,8 

56,2 

13 

12,8 

57,2 

17 

12,,S 

57.4 

30 

7.4 

19.  X.  06 

0 

II, S 

58,0 

13 

II.5 

58.2 

17 

".5 

5'J.o 

32 

7.3 

64,4 

13.  XI.  ob 

0 

S.4 

59.5 

13 

8,4 

59,0 

24 

8,4 

59.0 

30 

^.3 

58.4 

10.  XII.  06 

0 

^.2 

59.4 

13 

5.2 

58,8 

24 

5.2 

58,0 

30 

5.2 

5S,4 

Wenn  ich  zu  Beginn  meines  Vortrages  gesagt 
habe,  daß  der  Nährstoff,  welcher  sich  im  Wasser 
im  Minimum  befindet,  für  das  Gedeihen  der 
Wasserpflanzen  maßgebend  ist,  so  gilt  naturgemäß 
ein  gleiches  Gesetz  nicht  in  dieser  Form  für  die 
Tiere.  Aber  dennoch  hängt  auch  die  Zusammen- 
setzung der  Fauna  eines  Gewässers  nicht  zuletzt 
ab  von  dem  Vorhandensein  resp.  Fehlen  der  not- 
wendigen Nahrungsstoffe  oder  besser  Nahrungs- 
organismen. Wenn  ich  sage  Nahrungsorganismen, 
so  meine  ich  nicht  durchweg  Organismen  als 
lebende  Individuen,  sondern  auch  die  Reste  der- 
selben, ja  auch  ihre  Extraktionsstoffe  usw.  Wenn 
wir  die  Tierwelt  eines  Gewässers  betrachten ,  so 
können  wir  dieselbe  nach  Art  der  systematischen 
Zoologie  einteilen  oder  aber  wir  sondern  sie  nach 
den  einzelnen  Biozönosen,  den  einzelnen  Lebens- 
gemeinschaften. Nun  müssen  wir  zwar  jedes  Ge- 
wässer als  eine  Biozönose  selbst  auffassen,  ge- 
wissermaßen als  einen  Organismus  für  sich.  Den- 
noch hat  jedes  Gewässer  wiederum  seine  Biozö- 
nosen niederer  Ordnung.  Es  sind  dies  die  Ufer- 
region, die  Bodenregion  und  die  Region  des  freien 
Wassers.  Am  ausgeprägtesten  sind  die  Biozö- 
nosen zweiter  Ordnung  an  den  Seen.  Wir  wollen 
auf  den  tierischen  Stoffhaushalt  im  Sinne  der 
Ernährung  der  Tiere  etwas  mehr  eingehen.  Zu- 
nächst ist  da  festzustellen,  daß,  wenn  auch  die 
Tier-  und  Pflanzenwelt  der  einzelnen  Regionen 
jede  für  sich  ihre  Charakteristika  aufweisen,  den- 


25 


noch  mannigfache  Wechselbeziehungen  zwischen 
ihnen  bestehen.  Als  besonders  für  uns  wichtige 
Tierformen  möchte  ich  da  zuerst  auf  die  Fische 
eingehen.  Wir  sehen,  daß  die  Mehrzahl  derselben 
zur  Laichzeit  die  Uferregion  oder  doch  die  flachen 
Stellen  aufsucht,  um  dort  den  Laich  abzulegen. 
Die  Jungfische  selbst  halten  sich  in  dieser  gut 
durchwärmten  Region  auf  und  erst  später,  wenn 
sie  eine  gewisse  Größe  erreicht  haben,  verteilen 
sie  sich  auf  die  ihrem  erwachsenen  Stadium  eigen- 
tümliche Region.  Der  Hecht  bleibt  im  allgemeinen 
in  der  Nähe  des  Ufers,  der  Blei  sucht  mehr  die 
Bodenregion  auf,  der  Zander  geht  in  das  freie 
Wasser.  Nicht  jede  Art  jedoch  sucht  eine  be- 
stimmte Region  auf,  sondern  manche  Arten  sind 
bald  in  der  einen  bald  in  der  anderen  Region. 
Als  Beispiel  hierfür  nenne  ich  den  Uklei.  Wir 
kennen  Ukleibestände,  welche  sich  am  Ufer  auf- 
halten und  solche,  welche  im  freien  Wasser  leben-*) 
Beim  Barsch  unterscheiden  wir  nach  seinem 
Aufenthaltsort,  den  Krautbarsch,  den  Jagebarsch 
und  den  Tiefenbarsch.  Diese  drei  können  wir  an 
ihrer  Farbe  unterscheiden.  Der  Krautbarsch  zeigt 
einen  messingenen  Ton,  der  Jagebarsch  mehr 
einen  helleren  Ton,  der  Tiefenbarsch  einen  dunk- 
leren Ton.-)  ,  :,  ;•  ,. 

Entsprechend  diesen  verschiedenen  Aufenthalts- 
orten ist  nun  auch  die  Ernährungsweise  der  ein- 
zelnen Lokalformen  verschieden. 

Wir  können  sagen,  daß  wir  über  die  Qualität 
der  gesamten  Nahrung  unserer  wichtigsten  mittel- 
europäischen Süßwasserfische  gut  orientiert  sind, 
weniger  gut  über  die  Quantität.  Die  Unter- 
suchungen von  iSusta,  Schiemenz,  Hofer, 
Arnold,  Walteru.  a.  haben  uns  in  dieser 
Hinsicht  genügend  aufgeklärt.  Zunächst  habein 
diese  Untersuchungen  gezeigt,  daß  die  alte  Auf- 
fassung, der  Fisch  seihe  das  Wasser  einfach  durch 
und  benutze  alles  das,  was  an  seinem  Reusen- 
apparat an  tierischen  und  pflanzlichen  Organismen 
hängen  bleibt,  als  Nahrung,  falsch  sind.  Wir 
wissen,  daß  der  Fisch  jedem  einzelnen  Nahrungs- 
tier besonders  nachstellt  und  es  sich  aus  den 
übrigen  Organismen  heraussucht.  Wir  haben  er- 
kannt, daß  nicht  jedes  niedere  Tier  im  Wasser 
für  den  Fisch  eine  gleichermaßen  geeignete  und 
begehrte  Nahrung  darstellt,  sondern,  daß  wir 
unterscheiden  müssen,  zwischen  einer  Hauptnah- 
rung, einer  Gelegenheitsnahrung  und  einer  Not- 
nahrung.^)  Nur  dort,  wo  die  Hauptnahrung  in 
einem  Gewässer  in  genügender  Menge  vorhanden 
ist,  gedeiht  der  Fisch  und  wächst  gut  ab.  Wo 
diese  nicht  vorhanden  ist,  kann  zwar  an  ihre 
Stelle  die  Notnahrung  treten,  der  Fisch  fristet 
dann  aber  ein  kümmerliches  Dasein,  er  wächst 
entweder  nur  wenig  weiter  oder  überhaupt  nicht 
mehr.     Die   Fortpflanzung   läßt    häufig   ebenfalls 


')  Schiemenz,  P. ,  Mitt.  Fischerei- Vereins  f.  d.  Prov. 
Brandenburg  Bd.  V,  H.   II. 

2)  Schiemenz,  P.,  ibid.  Bd.  XI,  H.   I. 

')  Schiemenz,  P. ,  Deutsche  Fischerei. Zeitung  1909, 
AUgcm.   Fischerei-Zeitung  30.  Jahrg.  S.  323. 


26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


nach,  kurz  und  gut  der  Bestand  eines  Gewässers 
an  dieser  Fischart  nimmt  ab,  und  sie  verschwindet 
schließlich  ganz  und  gar  aus  dem  Gewässer.  Auf 
dieser  Erkenntnis  beruht  die  ganze  moderne 
Fischereiwirtschaft. 

Es  ist  bekannt,  daß  wir  nach  dem  Ernährungs- 
modus unsere  Süßwasserfische  einteilen  in  Raub- 
fische, Kleintierfresser  und  Pflanzenfresser,  sog. 
Grünweidefische.  Zu  den  Raubfischen  gehören 
der  Hecht,  Zander,  Barsch,  Quappe  und  z.  T.  der 
Aal.  Kleintierfresser  sind  alle  diejenigen,  welche 
von  den  niederen  tierischen  Organismen  leben. 
Die  Grünweidefische  sind  bei  uns  nur  in  geringer 
Artenzahl  vertreten.  Es  sind  dies  nur  das  Röt- 
auge und  unter  Umständen  die  Plötze,  diese  leben 
auch  weniger  von  den  höheren  Pflanzen,  als 
hauptsächlich  von  dem  sog.  Aufwuchs,  den  Epi- 
phyten  der  Unterwasserpflanzen,  also  vornehmlich 
den  festsitzenden  Kieselalgen  und  Grünalgen. 
Diese  alte  Einteilung  der  Fische  nach  ihrer  Er- 
nährung, die  besonders  unter  den  Praktikern  sich 
noch  allgemeiner  Anerkennung  erfreut,  genügt 
jedoch  den  modernen  Anschauungen  der  Fischerei- 
biologie nicht  mehr.  Denn  einerseits  leben  die 
Jugendformen  der  Fische  von  anderen  Organismen 
als  die  älteren  Stadien,  andererseits  fressen  ein- 
zelne Arten  bald  so,  bald  so,  oder  gar  sie  trennen 
sich  gewissermaßen  in  Rassen  auf  Grund  ihrer 
Ernährungsweise,  die  Verhältnisse  können  dabei 
noch  ziemlich  einfach  liegen,  sie  können  aber 
auch  verwickelter  sein. 

Der  Hecht  ist  ein  Beispiel  für  die  einfache 
Form  des  Nahrungswechsels.  Der  junge  Hecht, 
welcher  in  den  flachsten  Teilen  der  Uferregion 
lebt,  ernährt  sich  von  den  Crustaceen  der  Ufer- 
region und  zwar  bilden  seine  Hauptnahrung  die 
Cladoceren:  Eurycercus  lamellatus,  Simocephalus 
vetulus,  Chydorus  sphaericus,  während  die  Kope- 
poden  kaum  oder  nur  als  Notnahrung  gefressen 
werden.  Sobald  der  Hecht  aber  eine  gewisse 
Größe  erreicht  hat,  was  bereits  im  ersten  Sommer 
in  der  Regel  geschehen  wird,  so  verlegt  er  sich 
auf  den  Raub  anderer  Fische,  die  seiner  Größe 
entsprechen. 

Anders  der  Barsch,  bei  ihm  müssen  wir  ge- 
wissermaßen drei  Stadien  der  Ernährung  unter- 
scheiden. I.  Das  Jugendstadium,  etwa  der  erste 
Sommer,  in  dem  er  sich  ebenso  ernährt  wie  der 
junge  Hecht,  nämlich  von  den  Uferformen  der 
Cladoceren,  im  zweiten  und  dritten  Jahre  dagegen 
wird  er  nicht  sogleich  Raubfisch,  sondern  benutzt 
vor  allen  Dingen  die  Amphipoden  und  Isopoden, 
also  Gammarus  pulex,  Carinogammarus  roeselii 
und  Asellus  aquaticus  als  Nahrung.  Daneben 
nimmt  er  auch  Phryganidenlarven  und  einzelne 
Molluskenarten,  vor  allen  Dingen  Bythinia.  Erst 
nach  dem  dritten  Jahr  wird  der  Barsch  zum  Raub- 
fisch. Hier  besteht  insofern  noch  eine  Unklarheit, 
als  es  mir  notwendig  zu  sein  scheint,  noch  ein 
viertes  Stadium  anzunehmen,  nämlich  das  kurz 
nach  dem  Ausschlüpfen  aus  dem  Ei.     Man  findet 


nämlich  in  dem  Darm  der  kleinsten  Barsche 
häufig  Vertreter  aus  der  Algengruppe  der  Konjur 
gaten,  die  zur  Familie  der  Desmidiaceen  gehören. 
So  wurden  von  mir  Closteriumarten  gefunden. 
Zuweilen  finden  sich  auch  Protococcoideen,  z.  B. 
Scenedesmusarten  im  Darm  als  Inhalt  vor.  Sollte 
sich  in  der  Tat  zeigen,  daß  die  Pflanzen  als  Haupt- 
nahrung in  dem  allerjüngsten  freilebenden  Stadium 
genommen  werden,  und  dies  nicht  nur  vereinzelte 
Fälle  sind,  so  würde  der  Barsch  vier  verschiedene 
Ernährungstypen  durchmachen.  Er  würde  vom 
Pflanzenfresser  zum  Phyllopodenfresser,  dann  zum 
Amphipoden-,  Isopoden-  und  Molluskenfresser  und 
schließlich  zum  Raubfisch  werden,  gerade  die  Er- 
nährung der  Jugendstadien  unserer  Nutzfische  im 
Süßwasser  ist  noch  ziemlich  unerforscht,  was 
wohl  darauf  zurückzuführen  ist,  daß  es  noch  bis- 
her keine  Bestimmungstabellen  der  Jugendstadien 
gibt,  und  eine  Kennzeichnung  der  Larvenformen 
in  der  Regel  erst  möglich  ist,  wenn  sie  die  end- 
gültige Körperform  und  vor  allen  Dingen  bei  den 
Weißfischen  die  Afterflosse  typisch  ausgebildet 
haben.  Diese  beiden  Fische  mögen  als  ein  Bei- 
spiel angeführt  werden,  wie  die  Ernährungsweise 
in  den  verschiedenen  Altersstadien  eine  verschie- 
dene ist. 

Der  Aal,  soweit  er  im  Süßwasser  lebt,  mag 
ein  Beispiel  sein  für  Fische,  welche  sich  nach  ihrer 
Ernährungsweise  in  zwei  verschiedene  körperlich 
unterschiedene  Rassen  trennen.  Wir  unterscheiden 
zwei  Formen  des  Süßwasseraals,  den  Breitkopf  und 
den  Spitzkopf.  Die  Unterschiede  in  der  Körper- 
form sind  so  groß,  daß  man  geglaubt  hat,  zwei 
besondere  Arten  von  Aalen  unterscheiden  zu 
müssen.  Schon  von  Schiemenz  ist  vor  Jahren 
behauptet  worden,  daß  der  Breitkopf  sich  im 
wesentlichen  als  Raubfisch  von  anderen  Fischen 
ernähre,  während  der  Spitzkopf  von  niederen 
Tieren,  vor  allem  der  Larve  der  Zuckmücke 
(Chironomus),  dem  Schlammröhrenwurm  (Tubifex) 
und  Mollusken  wie  Sphaerium,  Gulnaria  und 
Dreissensia  lebe.  Es  hat  sich  hierüber  in  der 
Fischereibiologie  ein  heftiger  Streit  entsponnen, 
welcher  schließlich  der  Schiemenzschen  Ansicht 
zum  Siege  verhelfen  hat. 

Auch  der  Uklei  ist  in  zwei  verschiedene 
Ernährungsformen  zu  trennen. 

Die  eine  Form  ist  durch  ihren  Aufenthalt  in 
Flüssen  und  in  der  Uferregion  der  Seen  gekenn- 
zeichnet. Sie  ernährt  sich  vorwiegend  von  der 
sog.  Luftnahrung,  d.  h.  von  den  in  das  Wasser 
fallenden  Luftinsekfen,  eine  andere  Form  lebt  im 
freien  Wasser  der  Seen  und  lebt  ausschließlich 
von  planktonischen  Organismen. 

Als  ein  Beispiel  für  Fische,  die  als  Individuen 
selbst  mit  der  Nahrung  wechseln,  erwähne  ich 
die  Plötze  und  in  geringem  Maße  auch  die  Rot- 
feder. Beide  nehmen  als  Hauptnahrung  sowohl 
pflanzliche  Organismen  als  auch  —  vor  allem  die 
Plötze  —  tierische  Organismen  und  zwar  in  allen 
Altersstadien  auf.    Ich   hatte  bereits   gesagt,   daß 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


vor  allem  als  pflanzliche  Nahrung  die  Aufwuchs- 
pflanzen in  Frage  kommen,  als  tierische  Nahrung 
kommen  im  wesentlichen  einige  Mollusken,  be- 
sonders Valvata  piscinalis  und  Sphaerium  in 
Betracht. 

Es  geht  also  aus  dem  Gesagten  hervor,  daß 
die  Nahrung  unserer  Fische  nicht  einfach  derart 
ist,  daß  sie  alles  fressen,  was  ihnen  vor  ihr  IVIaul 
kommt,  sondern,  daß  sie  eine  Auswahl  treffen. 
Weiter  geht  aber  noch  hervor,  daß  das  so  viel 
gepriesene  Plankton,  dem  man  früher  eine  so 
überragende  Rolle  für  die  Ernährung  unserer  Fische 
zuschrieb,  diese  Rolle  durchaus  nicht  spielt.  E)s 
sind  eigentlich  nur  verhältnismäßige  wenige  Fisch- 
arten, die  wir  als  Planktonfresser  bezeichnen  können. 
Das  sind  außer  dem  erwähnten  Uklei  des  freien 
Wassers  vor  allem  die  kleine  Maräne,  der  Stint 
und  der  junge  Zander,  während  der  erwachsene 
Zander  vom  Raub  anderer  Fische,  im  wesentlichen 
des  Stintes  lebt.  In  Süddeutschland  sind  einige 
Coregonenarten  Planktonfresser.  Aber  auch  das 
Plankton  wird  nicht  beliebig  gefressen,  sondern  es 
wird  auch  hier  eine  Auswahl  unter  den  Orga- 
nismen getroffen ;  so  findet  man  in  manchen 
Seen  in  dem  Darm  des  Stintes  reine  Leptodora 
hyalina-Massen ,  auch  der  junge  Zander  sucht 
diese,  wenn  möglich,  als  einzige  Hauptnahrung 
auf.  Aus  den  Untersuchungen  der  Fischerei- 
biologen an  diesen  beiden  Fischen  wissen  wir, 
daß  Leptodora  hyalina,  jener  räuberische  Kruster 
des  Planktons,  durchaus  nicht  so  selten  ist,  wie 
man  früher  annahm,  sondern  in  bestimmten 
Wasserschichten  sogar  sehr  häufig. 

Das  Bindeglied  nun  zwischen  diesen  höchst 
organisierten  Tieren  des  Süßwassers  und  den 
Pflanzen  bilden  die  Nahrungstiere,  von  denen  ich 
soeben  gesprochen  habe,  soweit  nicht  direkt 
Pflanzen  gefressen  werden.  Es  lag  nun  nahe,  daß 
die  weiteren  Untersuchungen  der  Hydrobiologen 
sich  mit  dem  Wege  näher  beschäftigten,  den  die 
von  der  Pflanze  produzierten  organischen  Be- 
standteile bis  zum  Fischkörper  zurücklegen,  eine 
Frage,  die  ja  von  großer  praktischer  Bedeutung 
ist.  In  der  Tat  hat  sich  eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen mit  der  Frage  nach  der  Nahrung  der 
Fischnährtiere  beschäftigt.  Vorangegangen  ist 
hier  wieder  die  marine  Hydrobiologie.  Aber 
auch  die  Süßwasserforschung  hat  sich  neuerdings 


dieser  Frage  zugewandt,  und  es  hat  sich,  soweit 
sich  die  bisher  spärlichen  Resultate  verallge- 
meinern lassen,  gezeigt,  daß  der  Weg  von  der 
Pflanze  zum  Fischkörper  im  allgemeinen  kein  so 
überaus  komplizierter  ist,  wie  man  vielleicht  an- 
nehmen könnte.')  Ein  großer  Teil  der  Fischnähr- 
tiere lebt  direkt  von  pflanzlichen  Stoffen,  so  daß 
nur  eine  Zwischenstufe  besteht.  Ein  anderer  Teil 
dagegen  lebt  von  tierischen  Organismen  oder 
deren  Resten,  so  daß  hier  mehrere  Zwischen- 
stufen vorliegen.  Wir  können  auch  die  Nährtiere 
der  Süßwasserfische  einteilen,  wie  es  Rauschen- 
pia t  für  die  Seefische  getan  hat  in: 

Großpflanzenfresser, 
Kleinpflanzenfresser, 
Tierfresser : 

a)  Räuber, 

b)  Aasfresser, 
Pianktonzehrer, 
Detrituszehrer. 

Zu  den  Großpflanzenfressern  gehören  nach 
unseren  Untersuchungen  die  Gammariden,  zu  den 
Kleinpflanzenfressern  oder,  wie  ich  besser  sagen 
möchte,  Aufwuchsfressern  einzelne  Arten  von 
Ephemeriden,  Stylaria  lacustris,  Sida  cristallina, 
und  in  einzelnen  Gewässern  die  Wasserassel, 
Asellus  aquaticus,  zu  den  Räubern  die  Leptodora 
hyalina  und  Corixa  striata,  zu  den  Aasfressern 
können  unter  Umständen  sowohl  Gammariden 
wie  Asellus  werden,  konstante  Aasfresser  sind 
noch  nicht  unter  den  Fischnährtieren  bekannt  ge- 
worden. Die  Gruppe  der  Pianktonzehrer  könnte 
vielleicht  besser  aufgeteilt  werden,  in  die  Tier- 
und  Kleinpflanzenfresser.  Als  Detrituszehrer 
möchte  Einar  Naumann")  einzelne  Cladozeren 
des  Plantons  betrachten.  Schiemenz  führt 
hier  auch  die  Chironomuslarven  auf,  soweit  sie 
zu  den  Schlammbewohnern  gehören. 

Eins  geht  jedenfalls  aus  den  bisherigen  Unter- 
suchungen hervor,  daß  nämlich  die  Ernährungs- 
verhältnisse der  niederen  Wassertiere  durchaus 
nicht  so  einfach  liegen,  wie  man  bisher  anzu- 
nehmen geneigt  war. 


')  Willer,  A.,  Fischerei-Zeitung  Bd.   22,  Nr.  48. 
'')  Kestkrift   utvigea   av   Lunds  Universitet   vid    dess  TrS- 
hundrafemtioärsjubileum   1918,  Lund  und   Leipzig. 


Einzelberichte. 


über  farbloses  (iuecksilberjodid. 

Von  diesem  Stoff  sind  bisher  nur  zwei  Formen 
bekannt.  Im  allgemeinen  als  prächtige,  rote, 
quadratische  Kristalle  bekannt,  wandelt  sich  der 
Stoff  beim  Erhitzen  auf  126—127"  i"  leuchtend 
gelbe  rhombische  Kristalle  um,  die  beim  Ab- 
kühlen langsam  wieder  rot  werden.     Man  hat  es 


hier  mit  einem  Schulbeispiel  der  Enantiotropie 
zu  tun,  das  im  übrigen  keine  Besonderheiten 
bietet.  Nun  sind  aber  die  Jodide  der  mit  dem 
Quecksilber  in  die  gleiche  Gruppe  gehörenden 
Metalle  Cadmium  und  Zink  farblos,  und  es 
ist  bisher  in  keiner  Weise  eine  Farbigkeit  wie 
die  der  Quecksilberverbindung  bekannt  geworden. 
Tammann  hält  nun  den  Analogieschluß  für  be- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


rechtigt,  daß  a u c h  das  Quecksilberjodid  farb- 
los sein  könne,  ebenso  wie  unter  den  geeigneten 
Bedingungen  auch  die  andern  hierher  gehörigen 
Jodide  umgekehrt  farbig  auftreten  mögen.  Den 
Beweis  für  diese  Möglichkeit  hält  der  Forscher 
für  das  Quecksilberjodid  in  der  Tat  für  geliefert.') 

Wenn  er  nämlich  10—20  g  des  Stoffes  in 
einem  schwer  schmelzbaren  Glasrohre  auf  300 
bis  350"  erhitzte,  so  trat,  wie  immer,  Sieden  des 
Stoffes  und  unzersetztes  Verdampfen  ein.  Wurde 
der  Dampf  alsdann  in  eine  Vorlage  geleitet,  in 
der  der  Druck  plötzlich  auf  0,1  Atm.  erniedrigt 
werden  konnte,  so  trat  die  Kondensation  in  auf- 
fälliger Form  ein.  Der  Stoff  fiel  dann  in  feinster 
Verteilung  „als  farbloser  Schnee"  nieder,  der  in 
wenigen  Sekunden  rosarot  und  nach  einigen  Mi- 
nuten rot  wurde.  Mit  jeder  Druckerniedrigung 
trat  neue  Schneebildung  auf  T  a  m  m  a  n  n  glaubt, 
daß  dieser  Schnee  die  vermutete  farblose  Modi- 
fikation des  Quecksilberjodids  darstellt.  Würde 
man  sie  hinreichend  abkühlen,  so  wäre  sie  viel- 
leicht längere  Zeit  beständig,  und  man  könnte 
durch  eine  Bestimmung  die  Modifikation  näher 
charakterisieren  und  sie  in  Beziehung  zu  den 
anderen  bereits  bekannten  Formen  des  Stoffes 
setzen.  — 

Für  die  Richtigkeit  der  wiedergegebenen  Be- 
funde bürgt  ohne  weiteres  der  Name  des  hervor- 
ragenden Forschers.  Zu  ihrer  Auswertung  jedoch 
möchte  ich  mir  einige  kritische  Bemerkungen  er- 
fauben.  Zunächst  muß  daran  erinnert  werden, 
daß  man  das  Quecksilberjodid  in  fast  weißer 
Form  erhalten  kann,  wenn  man  eine  ziemlich 
stark  alkoholische  Lösung  von  Quecksilberchlorid 
mit  Kaliumjodidlösung  fällt.  Infolge  der  äußerst 
feinen  Verteilung  des  Niederschlages  ist  die  ihm 
eigentlich  zukommende  Farbe  für  uns  nahezu 
gleich  reinem  Weiß,  eine  Erscheinung,  die  ja 
auch  an  anderen  farbigen  Niederschlägen  be- 
obachtet werden  kann.  Dieser  anfangs  gebildete 
Niederschlag  des  gelben  Jodids  färbt  sich  dann, 
zumal  im  Sonnenlicht,  innerhalb  weniger  Augen- 
blicke rot.  Wie  denn  überhaupt  bei  jeder  Aus- 
fällung des  Jodides  zuerst  immer  die  an  und  für 
sich  bei  gewöhnlicher  Temperatur  unbestän- 
dige gelbe  Form  fällt,  eine  auch  sonst  stehende 
und  thermodynamisch  auch  erklärliche  Erschei- 
nung. Bis  zu  einer  genauen  Bestimmung  der 
für  die  Tammann'sche  Modifikation  gültigen 
Eigenschaften  ist  mithin  die  Möglichkeit  vor- 
handen, daß  auch  bei  ihr  es  lediglich  die  feine 
Korngröße  des  schneeigen  Kondensats  sei, 
die  dem  Beobachter  dieses  als  „weiß"  erscheinen 
läßt.  Zumal  der  Umstand,  daß  der  „farblose 
Schnee"  sofort  in  rosaroten  Beschlag  über- 
geht, macht  diese  Annahme  wahrscheinlich.  Auf 
Grund  der  bisherigen  Erfahrung  sollte  mindestens 
als  momentane  Zwischenstufe  auch  eine  gelbe 
Verfärbung  auftreten.  Bei  Farbphänomenen 
dieser   Art    ist,    zumal    in    der    Gruppe    der    ge- 


')  Ztschr.  f.  anorganische  Chemie;  109,  S.  213  {1920J. 


nannten  Metalle,  weiterhin  zu  berücksichtigen,  in 
wie  hohem  Grade  solche  von  Temperaturein- 
flüssen abhängen;  vergleiche  die  starke  Gelb- 
färbung des  Zinkoxyds  beim  Erhitzen,  die 
nicht  auf  einer  neuen  Modifikation  beruht!  Und 
schließlich  ist  der  Schluß  anfechtbar,  weil  Queck- 
silberjodid gefärbt  ist,  müsse  dasselbe  für  Cad- 
mium  und  Zink  gleichfalls  gelten,  und  umgekehrt. 
Quecksilber  bildet  so  viel  stärkst  farbige  Ver- 
bindungen, daß  es  in  dieser  Beziehung  mit  den 
beiden  Metallen  gar  nicht  zu  vergleichen  ist. 
Hier  liegt  meines  Erachtens  das  eigentliche 
Problem.  Hans  Heller. 

Mistel  und  Birubaum. 

Die  auffällige  Erscheinung,  daß  die  Mistel  auf  dem 
Birnbaum  im  allgemeinen  selten  auftritt,  während 
der  Apfelbaum  eine  ihrer  besten  Wirtspflanzen  ist, 
war  von  E.Heinrich  er  vor  einigen  Jahren  auf 
Grund  neuer  Versuche  in  einer  Abhandlung  be- 
handelt worden,  die  in  den  Denkschriften  der 
Wiener  Akademie,  Math.-naturw.  Kl.,  Bd.  93,  1916, 
erschienen  ist.  Er  hatte  drei  Gruppen  von  Birn- 
bäumen mit  bezug  auf  ihre  Empfänglichkeit  gegen 
Mistelbefall  unterschieden:  echt  immune,  unecht 
immune  und  nicht  immune.  Echt  immun  sind 
danach  solche  Bäume,  an  denen  die  Mistelkeime 
absterben,  ohne  daß  an  den  Bäumen  merkbare 
Krankheitserscheinungen  auftreten,  unecht  immun 
solche,  die  unter  der  Einwirkung  der  Mistelkeime 
einen  Krankheitsprozeß  durchmachen,  dem  aller- 
dings infolge  der  Abstoßung  von  Borkenschuppen 
oder  ganzer  Zweige  auch  die  Misteln  selbst 
zum  Opfer  fallen,  und  nicht  immun  solche,  an 
denen  die  Mistelkeime  sich  weiter  entwickeln, 
ohne  daß  anfangs  schädigende  Einwirkungen  sicht- 
bar werden.  Heinricher  hatte  u.  a.  beobachtet, 
daß  unecht  immune  Birnbäume  sich  bei  einer 
zweiten  oder  dritten  Infektion  (mit  Ausnahme 
eines  noch  zu  besprechenden  Falles)  wie  echt 
immune  verhielten,  so  daß  das  Überstehen  der 
ersten  Infektion  zu  ihrer  Immunisierung  geführt 
zu  haben  scheinen.  Andererseits  wurde  an  einem 
Baume,  auf  dem  von  zehn  ausgelegten  Mistel- 
samen zwei  sich  zu  Pflanzen  entwickelten,  der 
aber  nach  zwei  Jahren  Krankheitserscheinungen 
zeigte  und  die  Misteln  wieder  ausmerzte,  bei  er- 
neuter Infektion  keine  Immunität  festgestellt,  viel- 
mehr kam  nunmehr  eine  größere  Zahl  von  Mistel- 
pflanzen als  vorher  zur  Entwicklung,  woran  aller- 
dings, wie  die  Beobachtungen  der  letzten  Jahre 
ergaben,  ein  Teil  abstarb;  wie  bei  der  ersten  In- 
fektion setzten  auch  bei  der  zweiten  erst  um  die 
schon  zu  Büschen  gewordenen  Pflanzen  jene  Re- 
aktionen ein,  die  zu  ihrer  Beseitigung  führten. 
Heinricher  schließt  nun,  daß  durch  Pfropfung 
von  Zweigen  dieses  Birnbaumes  auf  WildHnge 
oder  andere  geeignete  Unterlagen  sich  leicht 
Birnbäume  würden  erziehen  lassen,  auf  denen 
sich  die  Mistel  entwickeln  könnte,  und  er  meint, 
daß  möglicherweise   in  solchen  Pfropfungen   eine 


N.  F.  XX.  Nr.  i 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


29 


Erklärung  gebotea  wäre  für  die  Tatsache,  daß  in 
gewissen  Gegenden,  wie  in  der  Cöte-d'Or  und 
in  Luxemburg,  die  Birnbaummistel  häufig  sei. 
Das  erwähnte  Absterben  der  Misteln  falle  nicht 
ins  Gewicht,  da  die  Infektionen  in  seinen  Kultur- 
versuchen an  jungen  Bäumchen  und  an  den  Haupt- 
achsen ausgeführt  wurden,  wo  die  Misteln  schäd- 
licher wirkten  und  eher  der  Ausmerzung  unter- 
lägen, als  in  der  freien  Natur,  wo  sie  sich  ge- 
wöhnlich in  der  Krone  ansiedelten ;  hier  ge- 
fährdeten sie  das  Leben  des  Baumes  und  ihr 
eigenes  viel  weniger  und  könnten  sich  leichter  fort- 
entwickeln. In  einem  der  Versuche  mit  unecht 
immunen  Bäumen  hat  sich,  wie  bereits  angedeutet, 
herausgestellt,  daß  der  Baum  durch  die  erste  In- 
fektion noch  nicht  immun  geworden  war,  daß 
aber  die  Reaktion  auf  die  zweite  Infektion  erst 
nach  längerer  Zeit  und  dann  sehr  heftig  auftrat. 
Die  Erscheinung  war  derart,  daß  sie  nach  An- 
sicht Heinrichers  nur  durch  Giftwirkung  zu 
erklären  ist  und  seine  Annahme  von  der  Er- 
weckung von  Antitoxinen  durch  das  Misteltoxin 
zu  stützen  geeignet  ist.  „Man  gewinnt  den  Ein- 
druck, daß  durch  die  erste  Infektion  im  Baum  ein 
Antitoxin  entstanden  war,  das  zunächst  die  Wir- 
kung des  Mistelgiftes  hemmte  und  so  eine  Re- 
aktion verzögerte.  Zwischen  Antitoxin  und  Toxin 
entbrannte  gewissermaßen  ein  Kampf  um  das 
Übergewicht,  der  endlich  zugunsten  des  Toxins 
ausfiel  und  dessen  verzögerter,  aber  gründlicher 
Sieg  dann  in  der  außergewöhnlich  starken  Re- 
aktion seinen  Ausdruck  fand."  (Zeitschrilt  für 
Pflanzenkrankheiten  Bd.  30,  1920,  S.  41  —  51). 

F.  Moewes. 


Dauer  der  Spät-  und  Postglazialzeit. 

Für  die  absolute  Dauer  der  Spät-  und  Postglazial- 
zeit und  der  zugehörigen  Kulturen  haben  bekannt- 
lich die  hervorragenden  nordischen  Geologen  d  e 
GeerundSernanderunddie  deutschen  Forscher 
Keilhack,  Penck  und  Menzel  u.  a.  m.  eine 
Reihe  von  rein  zahlenmäßigen  Angaben  aufge- 
stellt, um  dadurch  klare  Vorstellungen  über  das 
wahre  Alter  und  die  Dauer  dieses  Zeitabschnittes 
zu  ermöglichen.  Wohl  hatten  die  von  diesen 
Forschern  ermittelten  Zahlen  im  wesentlichen  die 
Zustimmung  aller  in  Betracht  kommenden  Geo- 
logen gefunden.  Demungeachtet  sind  gerade  in 
den  letzten  Jahren  mehrfach  von  archäologischer 
Seite  diese  Zahlen  angegriffen  worden.  Immer 
und  immer  wieder  wurde  dabei  den  Geologen 
entgegengehalten,  daß  die  von  ihnen  ermittelten 
Zahlen  viel  zu  hoch  gegriffen  seien  und  dadurch 
eine  gänzlich  verzerrte,  phantastische  Vorstellung 
von  der  Erd-  und  ältesten  Menschengeschichte 
gäben.  Infolge  dieser  Angriffe  hat  neuerdings 
der  Eiszeitgeologe  E.  Werth  seinerseits  einmal 
eine  Nachprüfung  dieser  Zahlen  unternommen. 
Bei  dieser  Nachprüfung  kommt  Werth  im  Kor- 
respondenzblatt der  deutschen  Gesellschaft  für 
Anthropologie  51,   1920,  S.  7 — 10  zu  einer  ganzen 


Reihe  von  neuen  wertvollen  Beobachtungen,  welche 
die  Beachtung  der  weitesten  Kreise  verdienen. 

Für  die  Dauer  des  Rückzuges  des  Eises  von 
der  südschwedischen  Eisrandlage  über  die  mittel- 
schwedische bis  zur  Eisscheide,  d.  h.  bis  zum 
Ende  der  Eiszeit,  hatte  de  .  G e e r  bereits  auf 
Grund  seiner  Untersuchungen  der  Eismeertone 
5000  Jahre  angenommen.  Für  die  Postglazialzeit 
selbst  hatte  er  einen  Wert  von  7000  Jahren  ein- 
gesetzt. Mit  der  ersten  Angabe  erklärt  sich 
Werth  einverstanden,  während  ihm  die  zweite 
zu  gering  erscheint.  In  der  Frage  nach  der  Post- 
glazialzeit schließt  sich  Werth  vielmehr  mit 
Menzel  an  Keilhack  an,  welcher  allein  für 
diese  Zeitspanne  vom  Höhepunkte  der  Litorina- 
senkung  bis  heute  auf  7000  Jahre  kommt.  Der 
Höhepunkt  der  Litorinasenkung  aber  deckt  sich 
nach  unserem  Wissen  ziemlich  genau  mit  der 
Grenzzeit  zwischen  dem  sog.  Mesolithikum  und 
dem  Vollneolithikum.  Zu  diesen  7000  Jahren 
hätten  wir  dann  noch  die  Zeit  des  Mesolithikums 
hinzuzurechnen,  um  die  absolute  Zeitdauer  der 
Postglazialzeit  zu  erhalten.  Für  dieses  Mesolithi- 
kum glaubt  Werth  weitere  4000  Jahre  annehmen 
zu  müssen.  Damit  gelangen  wir  dann  für  die 
gesamte  seit  der  südschwedischen  Eisrandlage  bis 
heute  verstrichene  Zeit  auf  16000  Jahre. 

Dieselbe  Zahl  hatte  bereits  1894  A.  Heim 
auf  Grund  eines  experimentell  für  eine  bestimmte 
Zeitspanne  festgestellten  Sedimentationswertes  be- 
rechnet, die  das  die  ehemalige  Schwyzer  Bucht 
des  Vierwaldstätter  Sees  abdämmende  Delta  der 
Muota  zu  seiner  Aufschüttung  gebraucht  hat. 
Der  von  Heim  gefundene  Wert  von  etwa 
16000  Jahren  bezeichnet  zugleich  die  Zeit,  die 
bis  heute  seit  dem  Penckschen  sog.  Bühlstadium 
des  sich  zurückziehenden  eiszeitlichen  Gletschers 
verflossen  ist.  Die  zugehörigen  Bühlmoränen  finden 
sich  nach  Penck  und  Brückner  bei  demjenigen 
der  alpinen  Moränengebiete,  in  welchen  ein  typi- 
sches Zentralbecken  zur  Ausbildung  gelangt  ist 
(Rosenheimer  Becken,  Bodensee,  Genfer  See),  erst 
oberhalb  dieser  Becken  abgelagert.  Bereits  191 2 
hatte  es  jedoch  Werth  wahrscheinlich  zu  machen 
gesucht,  daß  der  Zone  dieser  großen  Becken  im 
Alpenvorlande  die  große,  im  weiteren  Vorlande 
des  skandinavischen  Gebirgsstockes  sich  hinziehende 
Depression  der  Ostsee,  der  großen  russischen 
Seen  und  des  Weißen  Meeres  mit  der  Onega- 
Dwina-  und  Mesenbai  entspricht.  Wir  hätten  da- 
mit die  dem  alpinen  Bühlstadium  entsprechenden 
Moränen  des  nordeuropäischen  diluvialen  Eises 
erst  nördlich  der  Ostsee  in  einem  der  schwedischen 
Endmoränenzüge  zu  suchen.  Für  das  Alter  der 
südlichsten  Gruppe  derselben  waren  oben  im 
Minimum  16  000  Jahre  angesetzt.  Beide  Zahlen- 
angaben stimmen  also  ungefähr  überein. 

Auch  ein  absolutes  Alter  für  den  Beginn  der  Ab- 
schmelzperiode des  letzten  eiszeitlichen  Gletschers 
in  seinem  Maximalstande  hat  Werth  zu  errechnen 
versucht.  Für  die  Gletscherrückzugsbewegung  an 
sich    vom    Maximalstande    der    letzten  Vereisung 


3ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


bis  zur  südschwedischen  Eisrandlage  hat  er  dabei 
nach  dem  Vorgange  von  Menzel  4000  Jahre 
eingesetzt.  In  diese  Zahl  hatte  jedoch  Menzel 
die  zahlreichen  auf  diesen  Weg  entfallenden  Still- 
standslagen miteingesetzt ;  ebenso  hatte  auch  de 
Geer  die  schwedischen  Stillstandslagen  ohne 
Störung  in  seine  Jahreszählungen  hineingezogen. 
Mit  dieser  Einrechnuiig  der  Stillstandslagen  in  die 
4000  Jahre  kann  sich  jedoch  Werth  nicht  ein- 
verstanden erklären.  Seiner  Überzeugung  nach 
dürfte  eine  derartige  Einreihung  für  Norddeutsch- 
land nicht  angängig  sein,  da  sich  die  schwedischen 
Eisstillstandsmarken  quantitativ  in  keiner  Weise 
mit  den  entsprechenden  Bildungen  in  Norddeutsch- 
land vergleichen  lassen;  nirgends  in  Schweden 
kenne  man  z.  B.  die  durch  massige  Häufung  von 
Eisrandbildungen  (Endmoränenzüge)  entstanden  zu 
denkende  Moränenlandschaft  (Grundmoränenland- 
schaft), wie  sie  in  Norddeutschland  die  beiden 
baltischen  Eisrandlagen  in  breiter  Zone  begleitet 
und  auch  sonst  auftritt.  Diese  Moränenlandschaft 
stelle  entweder  die  Marken  zahlreicher  unmittel- 
bar aufeinanderfolgender  Stillstandslagen  dar  oder 
bezeichne  die  Zone  einer  längere  Zeit  oszillieren- 
den Gletscherfront.  Jedenfalls  deute  sie  auf  eine 
ganz  erhebliche  Verzögerung  der  Gesamtrück- 
gangsbewegung hin.  Die  Gesamtheit  dieser  zahl- 
reichen Stillstandslagen  auf  den  dänischen  Inseln 
und  in  Norddeutschland  (bis  zur  äußersten  Jung- 
moräne) berechnet  Werth  auf  wenigstens  4000 
Jahre.  Diese  zu  den  4000  Jahren  glatter  Rück- 
zugsbewegung hinzugerechnet  ergeben  also  8000 
Jahre  für  die  Abschmelzung  des  Eises  (der  letzten 
diluvialen  Eiszeit)  von  seinem  Maximalstande  bis 
zum  südschwedischen  Halt.  Da  dieser  letztere 
nach  den  vorhin  gegebenen  Zahlen  16000  Jahre 
zurückliegen  soll,  so  würde  die  Zeit  des  be- 
ginnenden Rückzugs  (der  Beginn  der  Abschmelz- 
periode) mit  16000  und  8000  =  24  000  Jahren 
anzusetzen  sein. 

Mit  diesen  Zahlen  lassen  sich  die  von  N  ü  e  s  c  h 
auf  Grund  der  Ablagerungen  des  Schweizersbildes 
bei  Schaffhausen  gewonnenen  Daten  vergleichen. 
Nüesch  hat  hier  fünf  verschiedene  Schichten 
unterschieden,  von  denen  die  oberste  40  bis  50  cm 
starke  Humusschicht  Metallreste  der  Bronze-  und 
Eisenzeit  führte,  während  die  tieferen  Schichten 
der  jüngeren  und  die  tiefsten  der  älteren  Stein- 
zeit angehörten.  Nüesch  schätzte  nun  die  Bil- 
dungsdauer der  obersten  Metallschicht  gemäß  dem 
für     die    Bronzezeit    angenommenen     Alter     auf 


4000  Jahre  und  berechnete  danach  die  Ablage- 
rungszeit der  sechsmal  so  starken  gesamten 
Schichtenfolge  des  Schweizersbildes  auf  24000  Jahre. 
Wenn  wir  diese  Zahl  nach  oben  zu  einem  Viertel- 
hunderttausend abrunden,  so  haben  wir  Aussicht, 
auch  noch  die  Lokalschotter  mitberechnet  zu 
haben,  die  die  Kulturschichten  des  Schweizers- 
bildes unterteufend  diese  von  den  der  benachbarten 
Maximalstandmoräne  ausgehenden  fluvioglazialen 
Schottern  trennen,  und  gelangen  damit  chronolo- 
gisch an  den  Beginn  der  Abschmelzperiode  (Spät- 
glazial). Für  diesen  Zeitpunkt  haben  wir  oben 
24000  Jahre  erhalten.  Damit  würde  dann  die 
Schweizersbildsche  Schätzung  übereinstimmen,  und 
zwar  nicht  nur  in  der  Gesamtzififer,  sondern  auch 
in  den  Ziffern  für  die  einzelnen  betrachteten  Unter- 
gruppen. 

Wir  können  demnach  den  Beginn  der  Spät- 
glazialzeit rund  25000  Jahre  zurückrechnen.  Für 
diese  25000  Jahre  würde  sich  dann  die  folgende 
Chronologie  ergeben: 

Spätglazial  =  Abschmelzzeit  des  letzteiszeitlichen 
Gletschers =Magdalenien  23000 — 9000  v.Chr. 

Ancylus-     und    Litorinaperiode  =  Mesolithikum 
(Campignien)  9000— 5000  v.  Chr. 

Vollneolithikum  5000 — 2000  v.  Chr. 

Metallzeit  2000  v.  Chr.  bis  heute. 

Wohl  weist  Werth  selber  darauf  hin,  daß 
den  bei  der  Berechnung  angewandten  Methoden 
verschiedene  Mängel  anhaften,  und  warnt  deshalb 
selbst,  auf  solche  Zahlen  etwa  allzuviel  Gewicht 
zu  legen.  Aber  einmal  beruhen  die  Werth  sehen 
Angaben  doch  auf  gesunden  Grundlagen.  Gerade 
in  der  absoluten  Zeitbestimmung  für  die  Eiszeit  hat 
bis  jetzt  das  subjektive  Gefühl  eine  für  die  Wissen- 
schaft allzu  gefährliche  Rolle  gespielt  und  zu  den 
widersprechendsten  Zahlen  geführt.  Dieses  sub- 
jektive Gefühl  scheint  jedoch  in  der  Werthschen 
Arbeit  ausgeschaltet  zu  sein  und  dafür  lediglich  die 
exakte  Forschung  zu  sprechen.  Derartige  exakte 
Angaben  sind  aber  gerade  hochwillkommen ,  vor 
allem  für  die  weiteren,  sich  für  die  Eiszeitfragen 
interessierenden  Kreise.  Denn  gerade  für  diese 
ist  es  von  besonderem  Wert,  wenn  sie  sich  nicht 
immer  mit  einer  relativen  Altersangabe  für  die 
einzelnen  Perioden  und  Kulturen  zu  begnügen 
brauchen,  sondern  auch  einmal  absolute  Zahlen 
erhalten  können,  die  ja  die  Verhältnisse  ganz 
anders  klar  legen  als  komplizierte  wissenschaft- 
liche Fachangaben. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Bücherbesprechungen. 


Lewin,  Kurt,  Die  Verwandtschaftsbe- 
griffe in  Biologie  und  Physik  und  die 
Darstellung  vollständiger  Stamm- 
bäume. Heft  5  der  von  Prof  Schaxel 
herausgegebenen  Abhandlungen  zur  theoretischen 
Biologie.  Berlin  1920,  Gebr.  Borntraeger.  6,80  M. 


In  der  Physik  wird  der  Begriff  der  Verwandt- 
schaft gewöhnlich  für  die  chemische  Affinität  be- 
nutzt; bisweilen  werden  aber  auch,  ohne  damit 
einen  exakten  Begriff  zu  verbinden,  ähnliche 
Erscheinungen  als  „verwandt"  bezeichnet.  Im 
ersten  Falle  handelt  es  sich  um  die  Vereinigungs- 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


3* 


fähigkeit,  in  diesem  um  die  Eigenschafts- 
ähnlichkeit, wobei  sich  sofort  herausstellt,  daß 
diese  beiden  „Verwandtschaften"  ganz  verschiedene 
Beziehungen  bestimmen,  da  ja  eben  unähnliche 
Gebilde  sich  am  leichtesten  chemisch  zu  verbinden 
pflegen.  —  Der  in  der  Biologie  verwendete  Be- 
griff der  Blutsverwandtschaft  läßt  sich  mit  keinem 
der  genannten  physikalischen  Verwandtschaftsbe- 
griffe vergleichen;  aber  trotzdem  gibt  es  auch  in 
der  Biologie  Verwandtschaftsbegriffe,  welche  den 
Begriffen  der  Physik  entsprechen,  und  zwar  ent- 
spricht die  Fähigkeit,  gemeinsame  Nachkommen 
zu  erzeugen  der  chemischen  Affinität  und  die 
Typenverwandtschaft  der  Verwandtschaft  als  Eigen- 
schaftsähnlichkeit. Diese  Typen  Verwandtschaft 
gibt  zugleich  die  „Idee  des  Systems",  da  sie  nicht 
nur  diejenigen  biologischen  Gebilde  umfaßt,  die 
infolge  der  geschichtlich,  d.  h.  „zufällig"  verwirk- 
lichten Bedingen  tatsächlich  entstanden  sind,  sondern 
alle  überhaupt  möglichen  Organismen.  Dabei 
werden  die  Typen  nach  ihrer  „Ableitbarkeit" 
geordnet,  wobei  es  durchaus  unmotiviert  erscheint, 
an  einer  Über-  und  Unterordnung  der  Typen  fest- 
zuhalten. „Das  Beispiel  der  Chemie  zeigt  ja,  daß 
man  mit  Sinn  von  derartigen  Ableitungen,  z.  B. 
der  aliphatischen  Verbindungen  aus  dem  Methan 
reden  kann,  ohne  daß  man  die  Stoffart,  aus  der 
die  Ableitung  erfolgt,  also  das  IVIethan,  den  abge- 
leiteten StofTarten,  seinen  Derivaten  überordnet." 
—  Man  erhält  so  einen  „ideellen"  Stammbaum, 
einen  „Eigenschafts-Stammbaum",  im  Gegensatz 
zu  dem  generalogischen  Stammbaum,  welcher  die 
„Existentialbeziehung"  ausdrückt.  — 

Die  Abhandlung,  deren  Inhalt  durch  obige 
Sätze  skizziert  werden  soll,  entstammt  einer  noch 
nicht  veröffentlichten  größeren,  wissenschafts- 
theoretisch vergleichenden  Arbeit :  Der  Ordnungs- 
typus der  genetischen  Reihen  in  Physik,  organis- 
mischer Biologie  und  Entwicklungsgeschichte.  Die 
hohe  Bedeutung  der  vergleichenden  Wissenschafts- 
lehre erhellt  deutlich  schon  aus  dieser  vorweg- 
nehmenden Veröffentlichung,  wobei  gerade  durch 
das  Aufsuchen  wissenschaftstheoretischer  Äqui- 
valenzbeziehuugen  auch  die  Unterschiede  zwischen 
den  einzelnen  Wissenschaften  deutlicher  hervor- 
treten. Gerade  der  Begriff  der  „Verwandtschaft" 
in  der  Biologie  hat,  besonders  seitdem  er  von  der 
Deszendenztlieorie  übernommen  wurde,  eine  ver- 
wirrende Vielseitigkeit  erhalten,  und  jede  Unter- 
suchung ist  zu  begrüßen,  welche,  wie  die  vor- 
liegende, versucht,  diese  verschiedenen  „Verwandt- 
schaften" zu  entwirren.  Vor  allem  aber  ist  die 
Erkenntnis  wichtig,  daß  Morphologie  und  Ab- 
stammungslehre zwei  durchaus  getrennte  Gebiete 
behandeln,  daß  die  morphologische  Ableitbarkeit 
einer  Form  aus  einer  anderen  über  den  genea- 
logischen Zusammenhang  der  beiden  Formen  gar 
nichts  aussagt,  sondern  daß  ein  solcher  Zusammen- 
hang immer  von  Fall  zu  Fall  einzeln  bewiesen 
werden  muß. 

Zur  Darstellung  vollständiger  Stammbäume 
gibt  L.  bemerkenswerte  Vorschläge   für  die  Aus- 


führung chronologischer  Stammtafeln, 
welche  nicht  nur  die  Ahnen  eines  Probandus, 
sondern  auch  deren  Lebensdauer,  die  Zeit  ihrer 
Eheschließung,  die  Zahl  der  Generationsfolgen  und 
eventuelle  Generationsverluste  zur  Darstellung 
bringen. 

Zürich.  M.  Schips. 

Jensen,  B.,  Erleben  und  Erkennen.  Aka- 
demische Rede.  53  S.  Jena  1920,  Gustav 
Fischer.  Brosch.  3  M. 
Die  Rede  behandelt  den  in  neuerer  Zeit  wieder 
viel  betonten  Gegensatz  zwischen  dem  gefühls- 
mäßigen, „intuitiven"  Erleben  und  dem  wissen- 
schaftlichen, „nüchternen"  Erkennen  und  kommt 
zu  dem  Schlüsse:  „Es  läßt  sich  nur  eine  Art 
von  Erkennen  nachweisen,  die  zu  klaren,  sicheren 
Ergebnissen  führt  und  daher  den  Namen  Erkennen 
mit  Recht  trägt.  Dieser  Erkenntnis  erscheint 
...  die  mannigfaltige  materielle  Welt  und  die 
Fülle  des  Geistigen  mit  allen  seinen  Idealen  als 
eine  untrennbare  Einheit,  als  einheitlicher  Kosmos. 
Ein  Gegenstand  vielfältigster  .  ..  mit  allen 
Gefühlen  sich  auswirkenden  Erlebens,  aber 
eines  einzigen,  einheitlichen  Erkennen s" 
(S.  51).  Nach  J.  ist  nämlich  nur  das  als  wahres 
Erkennen  anzusehen,  was  sich  in  folgende  drei 
Phasen  zerlegen  läßt: 

1.  Analyse  des  im  Erlebnis  kontinuierlichen 
Gedankenbildes  in  einzelne  Komponenten 
(=  „Größen"); 

2.  Feststellung  der  quantitativen  Werte 
der  maßgebend  beteiligten  Größen  und  der  Arten 
ihrer  Beteiligung  an  dem  Zustandekommen  der 
zu  erklärenden  Erscheinungen; 

3.  Ermittlung  der  Art  und  Weise,  wie  jede 
zu  erklärende  Erscheinung  durch  die  maßgebend 
beteiligten  Größen  eindeutig  bestimmt  ist. 

Es  ist  klar,  daß  diese  Analyse  des  Erkenntnis- 
vorganges nur  gilt,  wo  es  sich  um  die  Unter- 
suchung quantitativ  bestimmbarer  Erschei- 
nungen handelt;  der  Nachweis,  daß  sie  auch  für 
den  Bereich  der  bis  jetzt  quantitativ  nicht  restlos 
faßbaren,  als  „geistig"  bezeichneten  Objekte  maß- 
gebend sei,  wird  in  der  Rede  wohl  versucht,  kann 
aber  nicht  als  gelungen  bezeichnet  werden.  Er 
lautet  (S.  24):  „Geistiges  kann  nachweislich  nie 
durch  Geistiges  allein  eindeutig  bestimmt  werden. 
Es  müssen  also  zu  den  Bedingungen,  von  denen 
eine  psychische  Erscheinung  abhängt,  stets  auch 
physische  Größen  gehören;  und  das  können 
nur  materielle  Änderungen  im  Zentralnervensystem 
sein  .  .  .  Womit  sich  für  jedes  psychische  Ge- 
schehen die  Frage  erhebt:  Von  welchen  Nerven- 
prozessen ist  es  abhängig,  wie  ist  es  von  ihnen 
abhängig  und  wie  wird  es  durch  sie  eindeutig  be- 
stimmt?" Diese  Argumentation  dürfte  sich  m.  E. 
kaum  aufrecht  halten  lassen.  Denn  wenn  Geistiges 
wirklich  durch  psychische  und  physische 
„Größen"  bestimmt  ist,  dann  kann  die  Frage,  wie 
sie  durch  physische  Größen  eindeutig 
bestimmt  sei,   gar  nicht  gestellt  werden,   sondern 


32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


N.  F.  XX.  Nr.  2 


auch  bei  dieser  Frage  müssen  psychische  und 
physische  Faktoren  berücksichtigt  werden. 
Der  „nicht  weiter  auflösbare  Rest",  der  auch  in 
der  Auffassung  Jensens  bestehen  bleibt  (S.  26 f.) 
zeigt,  daß  auch  die  qualitative  Seite  eines 
jeden  Problems  neben  der  quantitativen  nach  Auf- 
klärung verlangt,  sofern  wir  von  Erkenntnis  im 
vollen  Sinne  des  Wortes  reden  wollen.  Die  Frage, 
ob  wir  eine  solche  restlose  Erkenntnis  jemals  er- 
reichen können,  ist  hier  belanglos;  sicher  ist,  daß 
wir  sie  zu  erstreben  haben  und  daß  wir  nicht  be- 
rechtigt sind,  die  quantitative,  d.  h.  die  gewöhnlich 
so  genannte  „exakte"  Fragestellung  als  allein  be- 
rechtigt anzusehen,  wenigstens  so  lange  nicht,  als 
nicht  bewiesen  ist,  daß  sich  alle  Qualitäten  eines 
Körpers  bzw.  eines  Systems  von  Körpern  als 
Funktionen  seiner  Masse  darstellen  lassen.  —  Dies 
andere  freilich  kann  nie  genug  betont  werden, 
daß  der  Mensch  zu  allen  Zeiten  nur  zu  schnell 
bereit  war,  über  das  „Wesen"  der  Dinge  nachzu- 
sinnen, statt  in  mühevoller  Einzelarbeit  die  Dinge 
erst  zu  „ermessen".  Wir  müssen  auch  jetzt  dar- 
über klar  sein,  daß  wir  noch  viel  zu  wenig 
„Physik"  wissen,  als  daß  wir  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  „Metaphysik"  treiben  könnten.  In  diesem 
Sinne  war  es  sicher  verdienstlich,  den  Wert  des 
quantitativen  Erkennens  gegenüber  dem  viel  ge- 
priesenen „inneren  Erleben"  festzustellen. 
Zürich.  M.  Schips. 

Wolf,  Dr.  B.,  Landgerichtsrat,  Justitiar  der  Staat- 
lichen Stelle  für  Naturdenkmalpflege  in  Preußen, 
Das   Recht    der    Naturdenkmalpflege 
in    Preußen.       Mit     Unterstützung    des    Mi- 
nisteriums für  Wissenschaft,    Kunst  und  Volks- 
bildung und  mit  Benutzung  amtlicher  Quellen. 
313  S.     Berlin  1920,  Gebrüder  Bornträger. 
Während   die    Rechtsverhältnisse    der    eigent- 
lichen  Denkmalpflege    wiederholt    eingehend  be- 
handelt worden  sind,  haben  sich  die  Juristen  um 
ihre  jüngere  Schwester,   die   Naturdenkmalpflege, 
weniger  bekümmert.      Der  Gegenstand    verdient 
gerade   in  der  gegenwärtigen  Zeit,   wo   die   deut- 
schen Landschaftsbilder  und  Naturdenkmäler  mehr 
als  je  durch  Ausbeutung    aller  Art    bedroht  sind, 
nicht  geringere  Aufmerksamkeit  als  die  Pflege  der 
Bau-   und  Kunstdenkmäler.     Ohne   Kenntnis   der 
Gesetze    und    Verordnungen    aber,    die    bei    der 
Durchführung  der  Naturdenkmalpflege  zu  berück- 
sichtigen sind,   gleichen  die  Bestrebungen,   sie  im 
einzelnen  auszuüben,  häufig  dem  „Jagdhund  ohne 
Spur".    Das  Buch  von  Dr.  Wolf,  das  als  Band  7 
der  von   H.   Conwentz   herausgegebenen   „Bei- 
träge zur  Naturdenkmalpflege"  erschienen  ist,  gibt 
hier  die  bisher  vermißte  Belehrung.    Es  behandelt 


nach  einer  Übersicht  über  die  Grundbegriffe  und 
die  Organisation  der  Naturdenkmalpflege  die  ein- 
schlägigen Verfügungen  der  Ministerien,  Re- 
gierungen, Schul-  und  Kirchenbehörden,  General- 
kommissionen usw.,  um  dann  in  seinem  Haupt- 
teil die  mit  reichlichen  Erläuterungen  versehenen 
Gesetze,  die  zu  ihrer  Ausführung  bestimmten  An- 
weisungen sowie  ein  Verzeichnis  der  auf  ihnen 
beruhenden  Polizeiverordnungen  und  Bekannt- 
machungen zu  geben.  Die  Darstellung  beschränkt 
sich  aber  nicht  auf  die  gesetzlichen  Bestimmungen, 
die  für  die  Naturdenkmalpflege  im  engeren  Sinne 
in  Betracht  kommen,  sondern  sie  zieht  auch  alle 
Vorschriften  heran,  die  für  die  verwandten  Ge- 
biete des  Heimatschutzes  in  Frage  kommen.  So 
sind  nicht  nur  die  sog.  Verunstaltungsgesetze  von 
1902  und  1907,  sondern  auch  die  für  den  Schutz 
des  Orts-  und  Landschaftsbildes  wichtigen  Vor- 
schriften des  neuen  Wohnungsgesetzes  vom  28. 
März  191 8  mitgeteilt  und  erläutert.  Sonst  werden 
außer  dem  Strafgesetzbuch  u.  a.  Wassergesetz, 
Ausgrabungsgesetz,  Berggesetz,  Feld-  und  Forst- 
polizeigesetz, die  Waldwirtschaftsgesetze,  die  Jagd- 
ordnung, das  Vogelschutzgesetz,  Fischereigesetz, 
soweit  sie  für  den  Gegenstand  in  Betracht  kom- 
men, behandelt.  Im  letzten  Abschnitt  wird  die 
Sicherung  der  Naturdenkmäler  durch  Rechtsge- 
schäft und  Enteignung  erörtert.  Ein  sorgfältiges 
alphabetisches  Sachverzeichnis  erleichtert  das  Nach- 
schlagen. Alle,  die  sich  aus  Neigung  oder  Beruf 
mit  Natur-  und  Heimatschutz  beschättigen,  finden 
in  dem  Buche  wertvolle  Belehrung;  wer  sich  vor 
die  Lösung  praktischer  Fragen  gestellt  sieht,  wird 
es  nicht  entbehren  wollen.  F.  Moewes. 


Literatur. 

Mez,  Prof.  Dr.  C. ,  Das  Mikroskop  und  seine  Anwen 
düng.  Handbuch  der  praktischen  Mikroskopie.  12.,  umge 
arbeitete  Aufl.     Mit  495  Tcxtfig.     Berlin  '20,  J.  Springer. 

Pauli,  Prof.  Dr.  Wo.,  Kolloidchemie  der  Eiweißkörper 
I.  Hälfte.  Mit  27  Textabb.  Dresden  und  Leipzig  '20,  Th 
Steinkopf.     10  M. 

Penck,  Prof.  Dr.  W. ,  Der  Südrand  der  Puna  de  Ata 
cama  (NW-Argentinien).  Abh.  d.  Math.-Phys.  Kl.  d.  Sachs, 
Akad.  d.  Wissensch.  Bd.  XXXVII,  Nr.  I.  Mit  9  Tafeln^ 
I    Karte  und   17  Textfig.     Leipzig  '20,  B.  G.  Teubner.     30  M 

Lassar-Cohn,  Prof.  Dr.,  Ad.  Stöckhardts  Schule  der 
Chemie.  22.  Aufl.  Mit  200  Abb.  u.  I  färb.  Tafel.  Braun- 
schweig '20,  F.  Vieweg.     24  M. 

Ulbricht,  Dr.  K.,  Das  Kugelphotometer.  München  u. 
Berlin  '20,  P.  Oldenburg.     24  M. 

Doflein,  Prof.  Dr.  Fr.,  Mazedonische  Ameisen.  Mit 
10  Textabb.  u.  8  Tafeln.     Jena  '20,   G.  Fischer.     14  M. 

Hertwig,  Prof.  Dr.  A.,  Elemente  der  Entwicklungslehre 
des  Menschen  und  der  Wirbeltiere.  6.  Aufl.  Mit  438  Text- 
abb.    Jena  '20,  G.   Fischer.     30  M. 

Walther,  Prof.  Dr.  Joh.,  Vorschule  der  Geologie. 
7.  Aufl.     Mit   123  Abb.     Jena  '20,  G.  Fischer.      12  M. 


Inhalt:  A.  Willer,  Aus  dem  Stoffhaushalt  unserer  Gewässer.  (4  Abb.)  S.  17.  —  Einzelberichte:  G.  Tammann,  Über 
farbloses  Quecksilberchlorid.  S.  27.  E.  Heinricher,  Mistel  und  Birnbaum.  S.  28.  E.  Werth,  Dauer  der  Spät-  und 
Postglazialzeit.  S.  29.  —  Bücherbesprecbungen:  K.  Lewin,  Die  Verwandtschaftsbegriffe  in  Biologie  und  Physik  und 
die  Darstellung  vollständiger  Stammbäume.  S.  30.  B.  Jensen,  Erleben  und  Erkennen.  S.  31.  B.  Wolf,  Das  Recht 
der  Naturdenkmalpflege  in  Preußen.  S.  32.  —  Literatur:  Liste.  S.  32. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  41,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Päfz'schen  Buchdr,  Lippert  &  Co.   G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36,  Band. 


Sonntag,  den  i6.  Januar  1921. 


Nummer  3. 


Bemerkungen  zur  Entstehung  und  Besiedlung  des  Trockentorfs. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  M.  Kästner,  Frankenberg  i.  S. 


Inhaltsübersicht:    a)    Die    veralteten    Anschauungen. 

b)  Die  Waldbodenflora  als  Verhinderer  der  Trockentorfbildung. 

c)  Die  Waldbodentlora  als  Zerstörer  des  Trockentorfs,   d)  Gegen- 
überstellung der  alten  und    neuen  Auffassung,     e)  Ergebnisse. 

Die  folgenden  Ausführungen  bringen  nichts 
neues.  In  der  neuesten  (3.)  Auflage  von  E.  Ra- 
manns „Bodenkunde"  (Berlin  191 1)  kann  man 
S.  197,  208,  469  ff.  und  475  f.  fast  alles  hier  Vor- 
gebrachte in  zusammengedrängter  Form  finden. 
Wenn  ich  mir  trotzdem  erlaube,  meine  Beobach- 
tungen zu  veröffentlichen,  so  glaube  ich  dadurch 
gerechtfertigt  zu  sein,  daß  in  bezug  auf  ihren 
Gegenstand  selbst  in  Fachkreisen  noch  immer 
veraltete  Vorstellungen  herrschen.  Ist  doch  selbst 
die  neueste  Auflage  von  Warming-Graeb- 
ners  „Lehrbuch  der  ökologischen  Pfianzengeo- 
graphie"  (Berlin  1914 — 1918)  in  bezug  auf  die 
Frage  über  die  Entstehung  des  Trockentorfs 
(Rohhumus)  noch  nicht  über  die  Anschauungen 
hinausgekommen,  die  P.  E.  Müller  in  seinem 
durch  gründliche  Beobachtungen  und  vorsichtige 
Urteile  gleich  ausgezeichneten  Werke  „Studien 
über  die  natürlichen  Humusformen  und  deren 
Einwirkung  auf  Vegetation  und  Boden"  (Berlin 
1887)  bereits  in  den  Jahren  1878,  1884  und  1887 
ausgesprochen  hat.  Das  Gleiche  gilt  von 
Graebners  „Pflanzenwelt  Deutschlands"  (Leipzig 
1909).  Ich  habe  im  Gegenteil  den  Eindruck,  als 
seien  mehrere  Ansätze  zu  einer  neuen  Betrach- 
tungsweise, die  sich  an  verschiedenen  Stellen  der 
„Studien"  finden  und  von  denen  im  folgenden 
noch  die  Rede  sein  wird,  unbeachtet  geblieben. 
Nur  bei  R  a  m  a  n  n  sah  ich  —  wie  gesagt  —  meine 
Erfahrungen  bestätigt. 

a)  Die  veralteten  Anschauungen. 

Bei  Warming-Graebner  lesen  wir  S.  iiof.: 
„Rohhumus  (Trockentorf .  .  .)  ist  eine  ,Torfbildung 
auf  dem  Trocknen',  eine  schwarze  oder  schwarz- 
braune, torfartige  Masse,  die  von  dicht  verfilzten 
Pflanzenresten,  nämlich  von  Wurzeln,  Rhizomen, 
Blättern,  Moosen,  Pilzhyphen  u.  a.  gebildet  wird  . . . 
P.  E.  Müller  spricht  in  der  deutschen  Ausgabe 
seiner  Studien  von  Heidetorf,  Buchentorf,  Eichen- 
torf. Besonders  gewisse  Pflanzenarten  bilden 
Rohhumus,  weil  sie  sehr  dünne,  zahlreiche  und 
stark  verzweigte  Wurzeln  (oder  Rhizoiden)  aus- 
bilden, die  gerade  an  der  Bodenoberfläche  liegen 
und  die  Pflanzenreste  in  einen  dichten  Filz'  ver- 
weben; solche  Arten  sind  z.  B.  Rotbuche,  Cal- 
luna,  Vaccinium  myrtillus,  Picea  excelsa.  Die 
meisten  dieser  Pflanzen  besitzen  Mykorrhizen,  die 
sicher  die  Verfilzung  befördern."     „Es  finden  sich 


in  ihm  nur  wenige  Tiere,  meistens  Rhizopoden 
und  Anguilluliden,  aber  keine  Regenwürmer. 
Rohhumus  tritt  im  Walde  besonders  an  den  dem 
Winde  ausgesetzten  Stellen  auf,  während  sich  der 
gewöhnliche  Humus  mit  seinen  Regenwürmern 
und  anderen  Tieren  an  die  frischen  und  ge- 
schützten Stellen  hält ;  wenn  gewöhnlicher  Humus 
in  einem  Buchenwalde  durch  ungünstiges  Holz- 
fällen und  ähnliches  in  Rohhum.us  übergegangen 
ist,  so  kann  sich  die  Buche  nicht  weiter  ver- 
jüngen, sie  verschwindet  und  macht  in  vielen 
Fällen  der  Calluna-Heide  Platz."  Und  noch  kürzer 
S.  113:  „Der  Übergang  vom  gewöhnlichen 
Humusboden  zu  Rohhumus  wird  dadurch  her- 
vorgerufen; daß  I.  sich  Pflanzen  mit  dicht  ver- 
filzten Wurzeln  einfinden,  2.  die  Tiere,  insbe- 
sondere die  Regenwürmer,  verschwinden,  so  daß 
der  Boden  nicht  durchgearbeitet  wird,  3.  die 
Bodenteile,  namentlich  die  Sandkörner,  zusammen- 
sinken, wodurch  der  Boden  fester  und  luftärmer 
wird." 

Ähnlich  äußert  sich  Graebner  in  seiner 
„Pflanzenwelt  Deutschlands"  S.  186  über  die  Ent- 
stehung des  Trockentorfs  im  Laubwald.  Nachdem 
er  von  der  lockeren  Lagerung  des  Fallaubes  im 
geschlossenen  Walde  gesprochen  hat,  fährt  er 
fort:  „Sobald  aber  der  Wald  durch  Ausholzung 
usw.  zu  licht  wird,  sobald  Sonne,  Wind  und  Regen 
direkt  die  Bodenoberfläche  berühren,  findet  leicht 
eine  Verdichtung  des  Humus  statt,  die  Verwesung 
tritt,  wohl  infolge  der  plötzlichen  Temperatur- 
und  Feuchtigkeitsschwankungen,  zurück  und  die 
Humusbildung  wird  ausgiebiger.  Zugleich  finden 
sich  Moose  und  zwar  polsterbildende  Arten  wie 
Dicranum  und  Leucobryuvi  an,  die  stets  schlechten 
Rohhumus  im  Gefolge  haben.  Auch  schon  so- 
bald die  Bäume  ohne  Unterwuchs  hoch  und 
breitkronig  werden,  treten  infolge  der  Luftbe- 
wegung unter  ihnen  usw.  ähnliche  Verhält- 
nisse ein." 

Auch  für  die  Entstehung  des  Fichtentorfs 
macht  er  a.  a.  O.  S.  209  zunächst  die  Moosbil- 
dung verantwortlich,  indem  er  sagt:  „Eine  dicke 
Moosdecke  schon  läßt  die  Verwesung  zurück- 
treten und  befördert  die  Humusbildung,  unter 
ihr  findet  man  stets  reichlichen  Humus,  gebildet 
aus  den  Resten  des  Mooses  und  dem  Abfall  des 
Baumes."  Im  folgenden  freilich  kommt  er  der 
hier  vertretenen  Ansicht  sehr  nahe,  ohne  aber  zu 
erkennen  zu  geben,  daß  es  sich  um  den  grund- 
legenden Vorgang  aller  Trockentorf  bildung 
handelt.  „Aber",  fährt  er  fort,  „auch  ohne  viel 
Moos,  wenn  letzteres  z.  B.  in  sehr  dichten  (dunklen 


u 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Fichten-)Wäldern  zurücktritt,  geht  im  Nadelwalde 
oft  eine  ganz  andere  Humusbildung  vor  sich,  als 
im  Laubwalde.  Es  scheint  überhaupt,  als  ob  die 
Nadelstreu  (wohl  wegen  des  Harzgehaltes)  sich 
schwerer  zersetzt  als  die  meiste  Laubstreu,  auch 
auf  den  Haufen  in  Gärten  bleibt  ihre  Struktur 
länger  erhalten  .  .  .  Das  Zurücktreten  der  Ver- 
.  wesung  gegenüber  der  Humusbildung  braucht 
nur  gering  zu  sein,  es  braucht  nur  wenig  mehr 
Humus  alljährlich  erzeugt  zu  werden,  als  durch 
die  Tätigkeit  der  Verwesungsorganismen  ver- 
arbeitet wird,  als  in  die  anorganischen  Rohstoffe 
inkl.  Kohlensäure  und  Wasser  aufgelöst  wird,  so 
bringt  diese  wenn  auch  zunächst  nur  unbe- 
deutende Ansammlung  von  Humus  bald  sekun- 
däre Erscheinungen  mit  sich.  Der  Humus  wird 
bald  sauer,  durch  mehr  oder  weniger  starken  Ver- 
lust der  Struktur  setzt  er  sich  fest  zusammen, 
namentlich  bei  dem  jetzt  erfolgenden  Zurück- 
treten der  den  Boden  durchwühlenden  Tiere,  der 
Regenwürmer,  Käfer,  Käferlarven  usw."  Und 
weiter:  „Unter  für  die  Humusbildung  günstigen 
Verhältnissen  kann  eine  sehr  erheblich  dicke 
Humusschicht  auch  ohne  starke  Moosbildung  ent- 
stehen, in  dichten  Fichtenwäldern  beispielsweise 
kann  sie  oft  über  3  dm  Dicke  erreichen." 

Die  ziemlich  allgemein  verbreitete  Ansicht 
über  die  Entstehung  des  Trockentorfs  geht  also 
dahin :  Ursache  der  Bildung  von  Trockentorf  ist 
einesteils  das  Auftreten  von  Flachwurzlern  mit 
dichtem,  verpilztem  Wurzelgeflecht  und  von 
Moosen,  andernteils  der  vermehrte  Zutritt  von 
Sonne,  Wind  und  Regen  zum  Waldboden,  wie 
ihn  Durchforstung  des  Waldes  oder  Kahlheit  zur 
Folge  haben. 

b)   Die  Waldbodenflora  als  Ver- 
hinderer der  Trockentorfbildung. 

Dem  gegenüber  möchte  ich  betonen,  daß 
Trockentorf  in  meinem  Beobachtungsgebiet  ledig- 
lich von  den  Waldbäumen  gebildet  wird  und 
zwar  immer  dort,  wo  ein  Mißverhältnis  besteht 
zwischen  der  Laub-  und  Nadelschüttung  und  den 
diese  Abfallmassen  zerstörenden  Mächten.  Als 
solche  kommen  in  erster  Linie  die  meisten  Gräser, 
Kräuter  und  Stauden  des  Waldbodens  in  Frage. 
Sie  sind  gewissermaßen  die  Vortruppen  in  dem 
unübersehbar  großen  Heer  der  Mächte,  deren 
Aufgabe  es  ist,  den  toten  Abwurf  der  Wald- 
bäume wieder  in  einfachere  Pflanzennährstoffe 
zurückzuverwandeln.  Sie  leiten  diese  Arbeit  ein, 
indem  sie  durch  ihre  Wurzeln  und  vor  allem 
durch  die  alljährlich  hervorbrechenden  ober- 
irdischen Triebe  die  Bodenstreu,  die  durch  die 
winterliche  Schneedecke  zusammengepreßt  worden 
war,  wieder  lockern.  Wer  ein  einziges  Mal  be- 
obachtet hat,  welch  kräftige  Arbeit  die  jungen 
Triebe  von  Anonone  nemorosa,  Rammculus 
ficana,  Mcrcurialis  pereimis,  Corydalis  cava  u.  a. 
leisten,  der  wird  von  der  Bedeutung  dieser  Tätig- 
keit für  die  Lockerung  der  Bodenstreu  überzeugt 
sein.    —    In   dieser  Hinsicht   ist  sicher  auch    die 


Wirkung  der  zahllosen  Sporenträger  der  höheren 
Pilze  nicht  zu  unterschätzen. 

Auch  verhindern  die  oberirdischen  Teile  der 
Waldbodenflora  durch  ihr  bloßes  Dasein  eine 
gleichmäßige,  dichte  Lagerung  der  fallenden 
Blätter  und  Nadeln.  —  Hier  ist  besonders  der 
Moose  zu  gedenken.  Ihre  Polster  verhindern,  wie 
man  in  jedem  Fichtenwalde  beobachten  kann, 
ganz  augenscheinlich  die  Erhöhung  der  Streu 
durch  neue  Nadelschüttung;  denn  während  auf 
benachbarten  moosfreien  Stellen  die  verklebte 
alte  Streu  mit  einer  2 — 3  cm  mächtigen  Schicht 
junger  Fichtennadeln  bedeckt  ist,  liegen  auf  dem 
Moosteppich  nur  einzelne  Nadeln  verstreut.  Da- 
von aber,  daß  die  Moospolster  den  Verlust  an 
Nadelstreu  ausgleichen,  indem  sie  selbst  abge- 
storbene Teile  zur  Trockentorfdecke  liefern,  kann 
gar  keine  Rede  sein.  In  dieser  Hinsicht  sind  be- 
sonders lehrreich  die  rundlichen,  bleichgrünen 
Kissen  von  Leucohryum  glauctim.  Sie  vergrößern 
sich  mehr  seitswärts  als  aufwärts.  Auf  der  Seite, 
nach  der  ein  solches  Kissen  wächst,  liegen  die 
bis  unten  mit  toten  Blättern  dicht  besetzten  Moos- 
stämmchen  fast  wagerecht.  Die  gesamte,  bis 
2  cm  dicke  Moosschicht  ist  nicht  durch  Rhizoiden 
verfilzt.  An  den  Stellen  des  Waldbodens,  über 
die  die  Pflänzchen  hinweggeschritten  sind,  findet 
man  ihre  weißgrauen  Reste  von  neuem  mit 
Nadelstreu  überdeckt.  Leiicobryuni  beteiligt  sich 
also  anscheinend  an  der  Vermehrung  der  trocken- 
torfbildenden  Masse.  Aber  die  Restschicht  ist 
kaum  noch  '/.^  cm  stark,  und  die  Moosstämmchen 
sind  in  kurze  Stückchen  zerfallen.  Der  Beitrag, 
den  sie  zur  Masse  der  toten  Bodendecke  liefern, 
ist  also  gegenüber  dem  Fichtenabwurf  nur  gering- 
fügig. Jedenfalls  ist  er  wesenthch  geringer  als 
der  Verlust  an  Nadelstreu  ausmacht,  den  der 
Waldboden  an  den  von  lebenden  Kissen  besetzten 
Stellen  erleidet,  denn  dort  kann  sich  keine  Nadel- 
streu halten.  So  kommt  es  auch,  daß  die  Kissen 
sich  nur  wenig  über  die  ringsum  wachsende 
Nadelstreu  erheben. 

Emporheben  der  Laubstreu  durch  hervor- 
brechende Triebe  und  Verhinderung  ihres  Zu- 
sammensetzens durch  die  bereits  vorhandene  Wald- 
bodenflora wirken  in  gleichem  Sinne.  Der  Sauer- 
stoff der  atmosphärischen  Luft  erhält  Zutritt  zu 
den  Abfallmassen,  so  daß  deren  chemischer  Zer- 
fall beschleunigt  wird.  Gleichzeitig  wird  ver- 
hindert, daß  die  Streudecke  den  Erdboden  von 
der  atmosphärischen  Luft  abschließt.  So  erhalten 
Regenwürmer  und  andere  Bodentiere  und  die 
Wurzeln  der  ausdauernden  Gewächse  Atemluft. 
Erstere  können  nun  ihrerseits  die  Zerkleinerung 
der  toten  Pflanzenreste  fortsetzen,  letztere  sind 
nicht  gezwungen,  ihre  Wurzeln  in  der  obersten 
Bodenschicht  zusammenzudrängen  und  diese  da- 
durch zu  verfilzen  und  so  das  Übel  in  steigendem 
Maße  zu  verschlimmern.  Durch  die  fast  restlose 
Aufarbeitung  der  Abfallstoffe  wird  auch  ver- 
hindert, daß  der  Boden  saure  Eigenschaften  an- 
nimmt,   was    für    das    pflanzliche    und    tierische 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


35 


Leben  im  Waldboden  vielleicht  ebenso  bedeutungs- 
voll ist,  wie  die  Zufuhr  von  Atemluft. 

Was  geschieht  aber  an  den  Stellen,  wo  die 
grünen  Waldbodenbewohner,  diese  Pioniere  der 
Humusaufarbeitung,  fehlen?  Am  häufigsten  tritt 
dieser  Fall  in  den  Fichtenkulturen  ein,  wo  die 
Bäume  so  dicht  stehen,  daß  der  Waldboden  das 
ganze  Jahr  hindurch  nur  äußerst  spärliches  Licht 
empfangt.  Aber  auch  im  Buchenwalde  können 
die  Verhältnisse  so  liegen,  daß  sich  keine  Boden- 
flora zu  entwickeln  vermag.  Die  Beschaffenheit 
des  Laubdaches  scheint  hier  zunächst  nicht  aus- 
schlaggebend zu  sein,  weil  sich  auch  bei  dichte- 
stem Zusammenschluß  der  Kronen  infolge  der 
erst  später  einsetzenden  Laubentfaltung  zahlreiche 
Frühlingspfianzen  entwickeln  können,  deren  ober- 
irdische Triebe  immer  wieder  die  Laubschicht 
des  vorigen  Jahres  emporheben  und  durch- 
brechen. 

Wohl  aber  kann  in  Bodeneinsenkungen  und 
Schluchten  das  Laub  zu  solcher  Höhe  aufgehäuft 
werden,  daß  die  Frühlingspflanzen  nicht  zum  Lichte 
vordringen  können.  So  fand  ich  auf  dem  schmalen 
Gneisrücken  zwischen  zwei  tief  eingeschnittenen 
Bachtälern  folgende  Verhältnisse.  Während  der 
größte  Teil  des  Bodens  keine  Laubdecke  und  in- 
folgedessen auch  nur  eine  messerrückenstarke, 
schwarzbraune,  dichte  Humuskruste  zeigte,  war  in 
flachen  Kesseln  und  Rinnen  das  Laub  offenbar 
unter  Beteiligung  des  Windes  um  so  höher  auf- 
gehäuft. Hier  fand  ich  unter  15  cm  lockerer, 
trockener  Buchenlaubstreu  10  cm  Buchentorf. 
Die  obersten  6  cm  waren  geschichtet,  zeigten 
nach  unten  zu  immer  dunklere  Töne  von  braun 
und  festere  Packung  und  ließen  mit  abnehmender 
Deutlichkeit  Blattreste  erkennen.  Die  unteren 
4  cm  zeigten  sich  als  eine  schwarzbraune,  un- 
deutlich geschichtete  Masse,  die  von  Buchen- 
würzelchen und  Pilzfäden  mäßig,  aber  keinesfalls 
so  durchsetzt  war,  daß  man  auf  den  Gedanken 
kommen  konnte,  ihre  Dichtigkeit  rühre  in  erster 
Linie  von  der  Durchwurzelung  und  Durch- 
spinnung  mit  Pilzfäden  her.  Darunter  befand 
sich  graurosae,  lehmige  Verwitterungserde  von 
Augengneis.  Außer  Buchensämlingen,  deren 
Keimwurzel  durch  die  ganze  25  cm  mächtige 
Masse  von  Pflanzenresten  hindurch  den  Mineral- 
boden erreichte,  trug  der  Boden  keine  Pflanze. 
Daß  zum  Zustandekommen  solcher  Anhäufungen 
geschlossener  Buchenwald  gehört,  ist  selbstver- 
ständlich. 

An  solchen  unbegrünten  Stellen  des  Laub-  und 
Nadelwaldes  breitet  sich  der  Abwurf  des  Wald- 
daches, durch  Unterholz,  hohes  Gestände,  niedriges 
Geblätt,  Grasbüschel,  Blattkleinpflaster  und  Moos- 
polster nicht  behindert,  als  zusammenhängende 
Decke  über  den  Waldboden  aus.  Jeder  Gewitter- 
und  Landregen,  vor  allem  aber  die  Schneedecke 
des  Winters  durchfeuchtet  die  Masse  und  drückt 
sie  zusammen.  Im  Frühjahr  bleibt  sie  in  ihrer 
verdichteten  Form  liegen  und  empfängt  eine  neue 
Auflage   von    Knospen,    Schuppen,    Blättern    und 


Nadeln.  —  Auf  frischen  Böden  finden  Pilzmycelien 
hier  geeignete  Lebensbedingungen.  Durch  das 
Eindringen  in  die  Pflanzenreste  heften  sie  diese 
aneinander  und  erhöhen  so  die  Dichte  der  Masse. 
Aber  weder  sie  noch  die  zahlreichen  winzigen 
Tierchen  aus  dem  Geschlecht  der  Milben,  Tausend- 
füßler, Urinsekten  (z.  B.  Campodeiden)  usw.,  deren 
einige  man  bei  Lupenvergrößerung  oder  unter 
dem  Mikroskop  in  jedem  ccm  besonders  der 
jüngeren  und  jüngsten  Schichten  findet,  vermögen 
des  Reichtums  Herr  zu  werden. 

So  häufen  sich  die  Massen  Jahr  für  Jahr.  Die 
älteren  Schichten  zeigen  immer  weniger  erkenn- 
bare Reste  von  Fichtennadeln  und  Buchenblättern, 
Die  zerkleinerten  Massen  setzen  sich  um  so  dichter 
zusammen.  Ob  bei  dieser  Zerkleinerung  rein 
chemische  Vorgänge  (Selbstzersetzung  ohne  oder 
mit  nur  geringer  Beteiligung  des  atmosphärischen 
Sauerstoffs)  oder  mikroskopisch  kleine  Lebewesen 
die  Hauptrolle  spielen,  ist  kaum  zu  entscheiden, 
hat  aber  m.  E.  für  die  Entstehung  des  Trocken- 
torfs nur  untergeordnete  Bedeutung.  Jedenfalls 
kann  infoge  der  dichten  Lagerung  nicht  genügend 
Sauerstoff  zugeführt  werden,  so  daß  es  nicht  zur 
Verwesung  oder  Vermoderung  der  organischen 
Verbindungen  kommt,  sondern  eben  zur  Torf- 
bildung. —  Regenwürmer  mögen  sich  anfangs  an 
der  Zerkleinerung  der  Abfallmassen  beteiligt 
haben.  Mit  zunehmendem  Abschluß  des  Erd- 
bodens von  der  atmosphärischen  Luft,  vielleicht 
auch  mit  zunehmendem  Sauerwerden  des  Boden- 
wassers aber  gingen  ihnen  die  Lebensbedingungen 
aus. 

Im  ganzen  erhalten  wir  also  den  Eindruck, 
daß  Trockentorf  dann  entsteht,  wenn  die  Gesamt- 
heit der  humusverarbeitenden  Kräfte  mit  der  Zu- 
fuhr an  Abfallstoffen  nicht  Schritt  zu  halten  ver- 
mag^ 

Eine  Andeutung  meiner  Auffassung  finde  ich 
bereits  bei  M  ü  1 1  e  r  S.  234  (auf  Seite  33  in  der  vor- 
liegenden Arbeit  angeführt  Ij,  doch  bezieht  sich 
die  Stelle  nur  auf  die  Verarbeitung  des  Abwurfs 
durch  Gliederfüßler.  Ebenso  sei  hier  nochmals 
auf  die  S.  33  erwähnte  Arbeit  Graebners  über 
die  teilweise  Entstehung  des  Fichtentorfs  hinge- 
wiesen. 

c)    Die    Waldboden flora     als    Zerstörer 
des  Trockentorfs. 

Überall,  wo  der  Waldboden  sich  dauernd  be- 
grünen kann,  unterbleibt  die  Trockentorfbildung. i) 
Daß  man  trotzdem  so  oft  unter  Moospolstern  und 
Grasdecken  Trockentorf  findet,  erklärt  sich  folgen- 
dermaßen. Der  Trockentorf  ist  auf  die  eben  ge- 
schilderte Weise  im  geschlossenen  Walde  bei  Ab- 

•J  Vgl.  dazu  Müller  S.  292 :  „Auf  frischem,  namentlich 
lehmigem  Boden  sind  die  offenen  Stellen  und  die  Säume  der 
Bestände,  besonders  an  der  Nordseite  derselben  mit  einer 
üppigen  Vegetation  krautartiger  Pflanzen ,  namentlich  von 
Gräsern  bedeeist,  und  eine  nähere  Untersuchung  ergibt,  daß 
der  Boden  mit  Regenwurmexkrementen  bedeckt  ist  und  sich 
überhaupt  in  einem  physikalisch  günstigen  Zustande  befindet." 


36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Wesenheit  der  Bodenflora  entstanden.  Später 
werden  durch  Naturgewalten  oder  menschliche 
Eingriffe  Lücken  in  das  Walddach  gerissen.  Auf 
den  belichteten  Stellen  siedeln  sich  Moose,  Gräser, 
Riedgräser,  Simsen,  Heidekraut,  Heidelbeere  und 
wenige  andere  Pflanzen  wie  MajantJicmum  und 
Trientalis  an,  die  nur  auf  Trockentorf  stehen.  — 
So  fand  ich  in  der  Nähe  von  Frankenberg  in 
Sachsen  in  300  m  Meereshöhe  und  50  m  über 
der  nahen  Zschopautalsohle  auf  Gneisboden  im 
Rest  eines  ehemals  ausgedehnteren  Buchenwaldes, 
dem  einzelne  Fichten  eingestreut  sind,  in  einer 
flachen  Mulde  unter  lockerer  oder  wenig  verklebter 
Laub-  und  Nadelstreu  5—8  cm  schwarzbraunen, 
fest  zusammengebackenen,  wenig  durchwurzelten 
Trockentorf  auf  hellgelbem  Lößlehm,  der  mit  ein- 
zelnen Stöcken  von  Calamagrostis  aritiidi/iacca, 
Aira  flcxitosa,  Athyrhnn  Füix  fcmina,  kleinen 
Flecken  von  Vaccimnin  myrtülits  und  gerade  in 
diesem  Jahre  (Ende  Mai  1919)  zahllosen  Keim- 
pflanzen der  Rotbuche  besetzt  war.  Beim  Aus- 
graben der  Calamagrosfis-^Vi%c\\A  zeigte  sich  der 
Trockentorf  im  Bereich  des  dichten  Wurzelschopfes 
völlig  aufgelockert,  während  er  in  der  unmittel- 
baren Umgebung  der  Pflanzen  unversehrt  war. 
Die  gleiche  Erscheinung  konnte  ich  unter  den 
Pelzen  von  Aira  flexuosa  feststellen.  Hier  war 
an  ringförmigen  Stöcken  *)  der  Trockentorf  unter 
der  leeren  Mitte  des  Ringes  tiefer  hinab  zerstört 
als  unter  den  lebenden  Teilen.  Die  Stöcke  des 
Frauenfarns  Athyrium  Filix  feviina  zeigten  zwi- 
schen der  Hauptmasse  ihres  dicht  zusammenge- 
faßten, schwarzen  Wurzelschopfes  keinen  Trocken- 
torf. Derselbe  reichte  in  ungelockertem  Zustande 
nur  von  außen  heran.  Die  Pflanzen  waren  also 
älter  als  der  Trockentorf.  Die  stricknadeldicken 
Wurzeln  der  Buchenkeimlinge  durchsetzten  die 
Trockentorfschicht  auf  kürzestem  Wege,  um  in 
den  Lößlehm  zu  gelangen.  Die  derben  Grund- 
achsen von  Vacci)num  viyrtillus  lagen  fast  aus- 
schließlich in  der  Bodenstreu.  Von  ihnen  aus 
gingen  in  größeren  Abständen  feinverzweigte 
Faserwurzeln,  die  sich  zwischen  dem  in  Zersetzung 
begriffenen  Buchenlaub  wagerecht  ausbreiteten 
und  kleine  Flächen  desselben  von  Fünfmarkstück- 
bis  Handtellergröße  verklebten.  Mit  ihrem  Gewirr 
hin-  und  hergeschlängelter  Fäserchen  waren  sie 
bei  oberflächlicher  Betrachung  von  den  Blattader- 
netzen, denen  sie  sich  anschmiegten,  kaum  zu 
unterscheiden.  Den  jährlichen  Zuwachs  der 
Grundachsen  stellte  ich  mit  30  und  mehr  cm 
fest :  bei  der  geringen  oberirdischen  Vergrößerung 
eine  ganz  beträchtliche  Leistung.  Dabei  lagen 
die  neuen  Triebe  oft  dicht  neben  den  alten  oder 
verzweigten  sich  fischgrätenartig,  so  daß  auch 
hier  der  Gedanke  der  Trockentorflockerung  nicht 
ganz  von  der  Hand  zu  weisen  ist.    Den  feuchten 


')  Die  Pflanze  verjüngt  sich  immer  wieder  dadurch,  daß 
aus  den  niederliegenden  Grundgliedern  der  alten  Halme  neue 
Triebe  nach  aufien  und  oben  wachsen.  Dabei  stirbt  der 
Stock  im  Innern  allmählich  ab,  so  daß  aus  dem  Büschel 
schließlich  ein  Ring  wird. 


Grund  der  flachen  Mulde  deckte  unter  einer  klei- 
nen Lichtung  die  Flut  von  Carcx  brizoides.  Am 
Rande  des  Bestandes  ergab  der  Einstich  2  cm 
schwarzbraunen,  speckigen  Trockentorf  auf  stren- 
gem, feuchtem,  weißgrau  ausgebleichtem  Lößlehm. 
Innerhalb  des  Bestandes  war  der  Torf  samt  den 
oberen  3  cm  des  Lehms  durch  das  derbe  Grund- 
achsengeflecht  der  Pflanzen    ein  wenig  gelockert. 

In  der  Folge  habe  ich  diese  Beobachtungen 
an  zahlreichen  anderen  Stellen  der  Umgebung 
Frankenbergs  nachgeprüft  und  dabei  folgendes 
gefunden.  Im  dicht  geschlossenen  jüngeren 
Fichtenwald,  wo  der  Lichtgenuß  das  ganze  Jahr 
hindurch  so  gering  ist,  daß  sich  keine  Boden- 
flora entwickeln  kann,  lag  unter  einer  dünnen, 
lockeren  Nadelstreu  und  einer  i — 2  cm  hohen 
Schicht  krümelig  zersetzter  Nadeln  ein  dunkel- 
brauner, ungeschichteter  Trockentorf,  der  an  wenig 
geneigten  Stellen  eine  Mächtigkeit  bis  zu  27  cm 
erreichte.  Der  Torf  macht,  mit  der  Lupe  be- 
trachtet, ganz  und  gar  nicht  den  Eindruck  einer 
.verfilzten,  sondern  einer  sandkuchenartig  zusammen- 
gebackenen, mürben,  dunkelbraunen  Masse,  die 
mit  zahllosen  winzigen,  glashellen  und  daher  deut- 
lich unterscheidbaren  Quarzsplitterchen  (wahr- 
scheinlich Staubteilchen)  vermengt  ist  und  sich 
leicht  auseinanderbrechen  und  zerkrümeln  läßt. 
Erst  unter  dem  Mikroskop  erkennt  man,  daß  auch 
zarte  Pilzfäden  die  Humusteilchen  auf  kurze  Ent- 
fernung lose  miteinander  verspinnen.  Auf  größe- 
ren, noch  geformten  organischen  Resten  verdichten 
sie  sich  oft  zu  zarten  Geweben.  —  Anderwärts  ist 
bereits  die  ältere,  in  Zersetzung  begriffene  Nadel- 
streu in  2  cm  Mächtigkeit  unter  2 — 3  cm  jüngerer, 
lockerer  Streu  durch  Pilzfäden  so  versponnen,  daß 
sie  sich  als  zusammenhängende  Decke  abheben 
läßt.  Unter  solchen  Decken  ist  dann  auch  der 
Trockentorf  etwas  stärker  verfilzt.  Wieder  an 
anderen  Stellen  verleihen  Fichtenwürzelchen  mit- 
tels ihrer  Pilzwurzel  Teilen  des  Trockentorfs  einen 
höheren  Grad  von  Zusammenhalt,  wobei  seine 
Gesamtdichte  sehr  gering  sein  kann.  Einen  Grund 
für  diese  verschiedene  Entwicklung  konnte  ich 
nicht  entdecken.  Jedenfalls  hing  die  Mächtigkeit 
des  Trockentorfs  von  dem  schwächeren  oder 
stärkeren  Auftreten  von  Pilzfaden  oder  Pilzwurzeln 
nicht  ab. 

Unter  kleinen  Lücken  im  Walddach  stellen 
sich  Moospolster  ein.  Auf  frischem  Boden  über- 
ziehen Teppiche,  aus  Dicramim,  Brachythecinvi, 
Mumm  liornum  u.  a.  gemischt,  eine  zentimeter- 
starke alte,  wohlerhaltene  Nadelstreu,  unter  der 
dunkelbrauner  Fichtentorf  liegt.  Ein  Vergleich 
mit  benachbarten  moosfreien  Stellen  ergibt,  daß 
hier  wie  dort  die  ältere  Nadelstreu  von  Pilzfäden 
zu  einer  zusammenhängenden  Decke  versponnen 
und  daß  auch  der  Trockentorf  ziemlich  reichlich 
von  ihnen  durchzogen  ist.  Unter  dem  Teppich 
aber  ist  die  Erscheinung  besonders  innerhalb  der 
Nadelstreu  augenscheinlich  stärker  entwickelt.; 
Jedenfalls  hält  sich  der  Boden  unter  dem  Moos- 
teppich feuchter  als  ohne  diesen  Schutz,  so  daß 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sich  das  Pilzfadengeflecht  reicher  entwickeln 
kann.  Von  einer  Erhöhung  der  Abfallstoffe  durch 
das  Moos  selber  ist  nichts  zu  sehen. 

In  einem  schlagreifen  Fichtenbestande,  wo  der 
feinsandige  Boden  mit  einem  offenen  Büschelwuchs 
von  Aira  flexiiosa  bedeckt  war,  hatte  der  dichte 
Filz  der  zwirnfadendünnen,  aber  zugfesten  Aira- 
Wurzeln  die  2  cm  mächtige  Trockentorfdecke 
und  die  obenaufliegende  Schicht  der  Halmreste 
so  vollständig  zerkleinert,  daß  sich  beides  wie 
feines  Mehl  leicht  ausklopfen  ließ.  Der  reine 
Wurzelkörper  blieb  dann  als  eine  weiche,  werg- 
artige Masse  übrig.  Im  oberen  Teil  derselben 
waren  mehrere  wagerecht  oder  aufwärts  streichende 
Würzelchen  zu  bemerken,  die  durch  ihre  hellere 
Farbe  und  durch  spinnfadenzarte,  krause  Wurzel- 
härchen von  mehr  als  I  mm  Länge  auffielen 
(Tauwurzeln?).  Auch  an  den  Stellen,  über  die 
Aira  Pflanzen  hinweggeschritten  waren ,  erwies 
sich  der  Trockentorf  vollständig  gelockert.  Von 
einer  Erhöhung  des  Humus  durch  ^/>(?- Reste 
war  nichts  zu  sehen,  obgleich  unter  den  lebenden 
Stöcken  die  abgestorbenen  Halme  oft  bis  5  cm 
hoch  übereinanderlagen.  Diese  wohlgeschichtete 
Masse  von  Stengeln  und  Blattscheiden  war  so 
locker  und  trocken,  daß  der  zersetzende  Sauerstoff 
der  atmosphärischen  Luft  jedenfalls  leicht  ein- 
dringen kann.  Nur  einige  wenige  Blattscheiden- 
fasern auf  dem  nicht  mehr  bedeckten  Fichtentorf 
deuteten  an,  daß  Aira  ehemals  hier  gestanden 
hatte.  —  Das  nordwärts  gerichtete,  aus  Glimmer-, 
Chlorit-  und  Hornblendeschiefer  (hm)  bestehende 
linke  Zschopaugehänge  oberhalb  der  Lichtenwalder 
Hofwiese  trägt  einen  Laub-  und  Nadelmengwald, 
der  gegenwärtig  stark  gelichtet  ist.  Der  flachere 
Gehängeteil  (20")  trägt  auf  einer  4 — 14  cm  mäch- 
tigen Schicht  von  sandkuchenartig  zusammen- 
gebackenem ,  schwarzbraunem  Trockentorf  einen 
offenen  Großbüschelwuchs  von  Calamagrostis 
ariindinacea  mit  Aira  flcxiiosa,  Luzula  neviorosa, 
Majanthemum  bifoliiun  und  Vaccininm  myrtilhis. 
Unter  jedem  Calama^ rostis-^\i&c\\z\.  ist  der  Trocken- 
torf in  Pulver  umgewandelt.  Bei  größerer  Mäch- 
tigkeit des  Torfs  ist  die  Auflockerung  oben  gründ- 
licher durchgeführt  als  unten,  z.  B.  waren  bei 
14  cm  Dicke  des  Trockentorfs  nur  die  oberen 
6  cm  völlig  zerkrümelt.  Sicher  spielt  hierbei  das 
Alter  des  Büschels  eine  Rolle.  Die  Calainagrostis- 
Pflanzen  haben  sich  wahrscheinlich  erst  nach  der 
Lichtung  des  Waldes  angesiedelt,  und  die  Lichtung 
besteht  noch  nicht  so  lange,  daß  die  Wurzeln  die 
mächtigeren  Stellen  der  Trockentorfdecke  hätten 
vollständig  zerstören  können.  In  jedem  Falle 
dringen  sie  aber  bis  in  den  Verwitterungsboden 
vor.  Auch  Aira  flcxiiosa  hat  erst  vor  wenigen 
Jahren  seine  trockentorfauflockernde  Tätigkeit 
begonnen.  Zunächst  gewinnt  man  allerdings 
den  Eindruck,  als  ob  die  Pflanze  durch  ihr 
ebenfalls  bis  in  die  Verwitterungserde  vor- 
dringendes, feines  Wurzelgespinst  an  der  Ver- 
dichtung des  Humus  zu  Trockentorf  schuld  wäre. 
Aber  zahlreiche  sorgfältige  Vergleiche  mit  benach- 


barten unbesiedelten  Stellen  haben  mich  doch 
davon  überzeugt,  daß  eine  wenn  auch  geringe 
Lockerung  des  Trockentorfs  bereits  eingetreten 
ist.  Und  außerdem  beweisen  ja  die  erwähnten 
Befunde  an  anderen  Stellen,  daß  die  Pflanze  den 
Trockentoif  völlig  zu  zermürben  vermag.  Sie 
arbeitet  eben  weniger  rasch  als  Calamagrostis,  da 
ihre  Wurzeln  wesentlich  dünner  sind  und  zunächst 
auch  weiter  auseinanderstreben  als  die  ihrer  Stand- 
ortsgenossin. Auch  Luzula  itemorosa  und  Majan- 
themuin  bifüliuni  versuchen,  mit  ihren  wagerecht 
kriechenden  Grundachsen  den  Trockentorf  zu 
lockern,  halten  sich  aber  bei  dickerer  Bodenstreu 
mehr  an  diese.  Anderwärts,  so  am  rechten  Steil- 
gehänge (35")  des  Saubachtals  unterhalb  P'ranken- 
berg  habe  ich  aber  gesehen,  daß  auch  Luzula 
ucniorosa  eine  2 — 6  cm  mächtige  Trockentorf- 
schicht aus  Buchen-  und  Fichtenabfällen  unter 
I — 2  cm  verklebter  Laubstreu  vollständig  gelockert 
hatte.  Ebenso  konnte  ich  am  rechten  Gehänge 
(25  ")  der  Parkschlucht  oberhalb  Lichtenwalde  be- 
obachten, daß  die  Grundachsen  von  Alajaiilheinum 
eine  5  cm  mächtige  Trockentorfschicht  kreuz  und 
quer  durchkrochen  und  zu  zerstören  im  Begriff 
waren.  Die  Laub-  und  Nadelstreu,  an  die  sich 
die  Pflanze  sonst  gern  hält,  war  hier  freilich  nur 
I  cm  dick  und  verklebt.  —  Mit  Trockentorf 
(5 — 10  cm)  ist  ferner  fast  der  ganze  aus  ober- 
karbonischen  Sandsteinen  (co,)  aufgebaute  obere 
Teil  des  Hofwiesengehänges  oberhalb  Lichtenwalde 
bedeckt.  Auch  hier  wird  gegenwärtig  Laub-  und 
Nadelmengwald  künstlich  verjüngt,  so  daß  sich 
Gelegenheit  bietet,  den  Einfluß  der  Bloßlegung 
des  Waldbodens  auf  die  Humusdecke  zu  unter- 
suchen. Aber  auch  hier  spricht  nichts  dafür,  daß 
der  Trockendorf  erst  infolge  der  starken  Lichtung 
entstanden  sei.  Vielmehr  liegen  die  Verhältnisse 
so:  Bei  der  Ausrodung  der  alten  Baumwurzeln  ist 
die  unter  dem  geschlossenen  Walddach  vorhanden 
gewesene  Trockentorfdecke  an  vielen  Stellen  zer- 
stört worden.  An  solchen  Orten  ist  der  Ver- 
witterungsboden nur  mit  einer  messerrückenstarken, 
schwarzen  Kruste  überzogen.  Häufig  findet  sich 
hier  auch  der  schmutzigviolette,  löschpapierartige 
Filz  der  P'adenalge  Zygogoiiiuiii  cricetorum  Ktz. 
var.  terrestrc  Kirchn.  (nach  freundlicher  Bestim- 
mung durch  Herrn  Prof  Dr.  S  c  h  o  r  1  e  r  -Dresden). ') 
Wo  die  Trockentorfdecke  aber  unverletzt  geblieben 
ist,  wird  sie  durch  Aira  flexuosa  zermürbt,  und 
zwar  ist  der  Vorgang  schon  ziemlich  weit  fortge- 
schritten.    Große  Flecke  tragen  auch  Polster  von 


')  An  zahlreichen  anderen  Stellen  meines  Beobachtungs- 
gebiets sind  solche  bei  der  Veijüngung  aufgerissene  und  um- 
gestürzte Waldböden  je  nach  ihren  Feuchtigkeits-  und  Licht- 
verhältnissen mit  Massenwuchs  von  Airaflsxuosa,  Calamagrostis 
ariindinacea,  Luzitla  nemorosa,  Festuca  silvatica,  Carex  örizoides, 
Hohus  molliSy  Rttbus  Idcieus,  Senecio  Fuchsii^  PrcnaiUhes purpurea, 
Epilobinm  angtistifoutim,  Dicranella  hetcromaüa  u.  a.  bestanden. 
Ich  erwähne  das,  um  nicht  die  Meinung  aufkommen  zu  lassen, 
als  besiedelten  Aira,  Calamagrostis,  Lmula,  Carex  brizoides 
u.  a.  nur  den  Trockentorf.  Im  Gegenteil  ist  festzustellen,  daß 
sie  den  aufgebrochenen  Waldboden  ganz  entschieden  bevor- 
zugen. 


38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Polytrichum  commune.  Auch  unter  ihnen  ist  der 
Trockentorf  etwas  aufgelocl<ert ,  aber  durch  die 
Rhizoiden  des  Mooses  und  durch  Pilzfäden  neuer- 
dings verfilzt.  Daß  die  Lockerung  aber  über- 
wiegt, beweist  der  Umstand,  daß  iiberall  junge 
Pflanzen  von  Luzida,  Aira  und  Festuca  hetero- 
pJiylla  die  IVIoospolster  durchbrechen.  Sie  werden 
das  Moos  allmählich  verdrängen,  den  Trockentorf 
völlig  zerkleinern  und  so  wieder  günstigere  Ver- 
hältnisse für  anspruchsvollere  Waldpflanzen  schaffen. 

—  Zu  den  Trockentorfzerstörern  rechne  ich  ferner 
Molinia  coenilea  und  Nardiis  sfricta,  von  denen 
die  erstere  wohl  immer,  die  letztere  gelegentlich 
auf  Trockentorf  wächst.  Besonders  schön  konnte 
ich  ihre  Wirkung  feststellen  auf  trockenem  Löß- 
lehmboden am  rechten  Flachgehänge  des  sog.Stein- 
bruchtälchens  zwischen  Frankenberg  und  Alten- 
hain. Die  Pflanzen  wuchsen  am  Fichtenwaldrande 
bei  SSW- Richtung.  Die  Trockentorfschicht  war 
I  cm  stark  und  zeigte  in  der  nächsten  Umgebung 
der  Pflanzen  deutlich  das  sandkuchenartige  Ge- 
präge. Trotzdem  die  groben,  wenig  verzweigten 
Wurzeln    beider  Gräser    nicht   sehr    dicht  standen 

—  es  handelte  sich  um  kleine  Stöcke  — ,  erwies 
sich  der  Trockentorf  zwischen  ihnen  zermürbt, 
unter  den  Moli>na-VQa.nzen  so  stark,  daß  man  ihn 
aus  dem  Zwischenraum  zwischen  oberirdischen 
Trieben  und  den  im  Lößlehm  steckenden  Teil 
der  Wurzeln  herausblasen  konnte.  Die  Pflanzen 
standen  dann  wie  auf  Stelzen.  Die  kurzen,  dicht 
gedrängten  Reste  der  abgestorbenen  oberirdischen 
Molima-Tr\A>t  waren  von  den  geschlängelten 
Wurzeln  durch  den  gelockerten  Torf  hindurch  bis 
auf  die  Oberfläche  des  Lößlehms  gezogen  worden, 
so  daß  die  Reihe  der  Sprosse  ein  wenig  schräg 
im  Trockentorf  lag.  Auch  am  rechten  Flachge- 
hänge des  oberen  SaubachtRls  unterhalb  Franken- 
berg hatten  umfängliche  il/<?//;//«-Büschel  mit  ihren 
dichtstehenden  Wurzeln  eine  3 — 4  cm  dicke 
Trockentorfschicht  gut  gelockert.  —  In  noch 
kräftigerer  Weise  durchpflügt  Nardus  strida  lang- 
sam den  Trockentorf  Während  aber  z.  B.  Aira 
flexuosa  den  bei  seinem  Vorwärtsdrängen  durch- 
schrittenen  Raum  nicht  wieder  besiedelt  —  am 
rechten  Zschopaugehänge  unterhalb  Braunsdorf 
beobachtete  ich  häufig,  daß  Calamagrostis  arun- 
dmacea  diese  Stellen  besetzt  —  überlassen  Molinia 
und  Nardus  den  einmal  eroberten  Boden  nicht 
sobald  einem  Nachfolger,  da  ihre  abgestorbenen 
Teile  außerordentlich  haltbar  sind.*)  —  Am  Butter- 
berggehänge unterhalb  der  Lichtenwalder  Schloß- 
mühle (SSO)  und  am  Braunsdorfer  Gneisgehänge  (S), 
deren  Laubholzbestände  vor  mehr  als  15  Jahren 
ebenfalls  stark  gelichtet,  z.  T.  vollständig  nieder- 
gelegt worden  sind,  findet  man  an  stark  besonnten 
und  daher  beträchtlichen  Feuchtigkeitsschwankun- 
gen ausgesetzten  Stellen  den  Trockentorf  zu  einem 
nur    noch    lose    zusammenhängenden   Pulver   zer- 

'J  Vgl.  dazu  den  Querschnitt  durch  einen  .\ara'i«-Büschel 
in  Kästner,  Wie  untersuche  ich  einen  Pflanzenverein?  Samm- 
lung Biol.  Arbeit  Heft  7,  Berlin  u.  Leipzig  bei  Theodor  Fisher 
1919.  S.  37,  Abb.  28. 


fallen.  Im  oberen,  flacheren  Teil  des  Braunsdorfer 
Gneisgehänges  (8 — 10*)  wird  ein  2 — 4  cm  mäch- 
tiger, nicht  sehr  fester  Trockentorf  aus  dem  Ab- 
wurf  von  Birken,  Eichen  und  Kiefern  durch  die 
Faserwurzeln  von  Vaccinium  niyrfilliis  in  der  oben 
geschilderten  Weise  zusammengesponnen.  —  In 
ähnlicher  Weise  verhält  sich  hier  Calluna,  nur 
daß  bei  ihm  die  kriechenden  Grundachsen  fehlen. 
Auf  lichten  Stellen  des  Fichtenwaldes  im  oberen 
Saubachtal  stellte  ich  auf  frischem  Boden  im  Heide- 
kraut folgenden  Querschnitt  fest:  3  —  $  cm  offenes 
Gewirr  hauptsächlich  aus  Fichten  — ,  weniger  aus 
Heidekrautwürzelchen,  teilweise  von  Pilzfaden- 
häuten versponnen  und  locker  von  Hypiunn 
Sclircberi  gedeckt;  4  cm  lockerer,  grobdurch- 
wurzelter  Trockentorf;  4 — 5  cm  fester,  nicht  oder 
wenig  durchwurzelter  Trockentorf;  darunter  die 
Erde  durch  hellere  Töne  von  Braun  in  Bleicherde 
übergehend.  Da  die  4  cm  lockerer  Torf  keines- 
falls erst  nach  der  Ansiedlung  des  Heidekrauts 
entstanden,  sondern  augenscheinlich  alter  Fichten- 
torf waren,  so  ist  nur  die  Deutung  möglich,  daß 
auch  hier  eine  Lockerung  von  Trockentorf  vor- 
liegt, und  zwar  durch  Heidekraut.  Ob  das  oben 
aufliegende,  noch  gänzlich  frische  Gewirr  von 
Fichtenwürzelchen  sich  einmal  zu  Trockentorf 
verdichten  und  so  die  vorhandene  Masse  ver- 
mehren wird,  vermag  ich  nicht  zu  sagen.  —  Auf 
einer,  nahen  Fichtenschonung,  wo  vor  der  Neu- 
bepflanzung  der  Trockentorf  entfernt  worden  war, 
und  wo  Calluna  einen  geschlossenen,  nur  durch 
die  Flclitenbäumchen  unterbrochenen  Bestand 
bildet,  durchdringen  dessen  Wurzeln  die  obersten 
10  cm  des  Bodens.  Sie  gehen  von  einem  kurzen, 
senkrechten,  sich  rasch  verjüngenden  Erdstamm 
wagerecht  nach  allen  Seiten,  ohne  den  mehligen 
Boden  zu  verfilzen;  vielmehr  läßt  sich  dieser  leicht 
aus  der  wenig  verzweigten  Wurzelkrone  heraus- 
klopfen. Die  Anregung  zu  dieser  Beobachtung 
verdanke  ich  Herrn  Geh.  Forstrat  Dr.  Vater- 
Tharandt,  der  die  Liebenswürdigkeit  hatte,  mir 
mitzuteilen,  daß  Calluna  sich  am  leichtesten  und 
vielleicht  auch  am  üppigsten  auf  nicht  zu  unfrucht- 
barem Boden  ansiedele,  der  von  Trockentorf 
künstlich  befreit  worden  ist 

Aira,  Calamagrostis,  Molinia,  Nardus,  Carex 
brizoides,  Luzula  nemorosa  dringen  also  mit 
ihren  Wurzeln  durch  den  Trockentorf  hindurch, 
bis  sie  den  Mmeralboden  erreichen,  wobei  Luzula 
und  Carex  brizoides  mit  ihren  wagerecht  kriechen- 
den Grundach'-en  anscheinend  nur  schwächere, 
Aira,  Calamagrostis,  Molinia  und  Nardus  mit 
ihren  steil  abwärts  dringenden  Wurzeln  aber 
auch  mehr  als  dezimeterstarke  Humusdecken  zu 
bewältigen  vermögen.  Dabei  wird  der  Trocken- 
torf nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  vollständig 
gelockert  und  so  für  anspruchsvollere  Pflanzen 
wieder  bewohnbar  gemacht.  Die  anderen,  Heide- 
kraut, Heidelbeere,  Maja)itliemu7n  und  Trienfalis, 
vermögen  mit  ihren  flachstreichenden  Grund- 
achsen und  Wurzeln  in  der  lockeren  Bodenstreu 
ohne  Zusammenhang   mit   dem  Mineralboden   zu 


N.  F.  XX.  Nr.  ^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


39 


leben.  Häufig  mag  auch  für  die  beiden  letzteren 
der  Fall  so  liegen,  daß  sie  die  Nachsiedler  der 
oben  genannten  Trockentorfzerstörer,  besonders 
von  Aira  flexuosa  sind.  Zuweilen  beteiligt  sich 
MaJaiiflieiJiuin  an  der  Lockerung  des  Trocken- 
torfs, doch  kommt  es  bei  der  Kleinheit  der 
Pflanze  und  der  geringen  Dichte  ihrer  unter- 
irdischen Teile  nicht  zu  einer  durchgreifenden 
Wirkung.  Heidekraut  und  Heidelbeere  dagegen 
verfilzen  in  der  Regel  die  Bodenstreu,  lockern 
aber  den  darunterliegenden  Trockentorf.  Daß  sie 
aber  von  sich  aus  die  iWasse  des  Trockentorfs 
wesentlich  vermehren  könnten,  indem  sie  immer 
neuen  Abwurf  der  Waldbäume  oder  ihre  eigenen 
Abfälle  in  den  Verfilzungsbereich  ziehen,  ist  mir 
nicht  sehr  wahrscheinlich.  Einmal  handelt  es  sich 
bei  den  Standorten  dieser  Pflanzen  um  stark  ge- 
lichtete Stellen,  wo  der  Laub-  oder  Nadelabwurf 
infolge  der  räumigen  Stellung  der  Bäume  stark 
eingeschränkt  ist,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
fallendes  Laub  und  Genadel  den  Boden  nicht  un- 
gehindert erreichen  kann  und  so  oft  ein  Spiel 
des  Windes  werden  wird.  Sodann  ist  der  eigene 
Abfall  der  Pflanzen  so  unbedeutend,  daß  er  kaum 
in  Betracht  zu  ziehen  ist.  Ob  man  sie  daher  als 
Trockentorf  bildner  bezeichnen  darf,  ist  mir  höchst 
fraglich;  ich  sehe  in  ihnen  höchstens  Trocken- 
torferhalter, während  Aira,  Calamagrosiis,  Moliiiia, 
Nardus,  Carcx  brizoides  und  Lustda  nemorosa 
Trockentorfzerstörer  sind.  Aus  keinem  der  beiden 
Ausdrücke  darf  aber  geschlossen  werden,  daß  die 
genannten  Pflanzen  auch  Trockentorfanzeiger 
wären.  Ausgenommen  hiervon  ist  nur  Molinia. 
Die  übrigen  gedeihen  mindestens  ebensogut,  an- 
scheinend sogar  besser  auf  trockentorffreiem 
Mineralboden. 

Auch  den  Gedanken  der  Trockentorfzerstörung 
durch  grüne  Waldbodenbewohner  finde  ich  bei 
Müller  schon  angedeutet,  S.  49:  „Sowohl  in 
den  Silkeborger  (Jüiland)  als  auch  in  den  nord- 
seeländischen  Wäldern  sieht  man  schon  ein  Jahr 
oder  doch  jedenfalls  ein  paar  Jahre,  nachdem  der 
alte  Buchenwald  auf  einem  torfbekleideten  Terrain 
weggehauen  ist,  den  Boden  mit  Aira  flexuosa 
vollständig  bedeckt.  Dieses  Gras,  das  schon  in 
dem  nicht  ganz  geschlossenen  Buchenwald  in  zahl- 
reichen isolierten  Haufen  vorkam,  breitet  sich, 
wenn  das  volle  Licht  auf  den  Waldboden  herein- 
gelassen wird,  zu  einer  zusammenhängenden  Decke 
aus,  deren  dichtes  und  zähes  Wurzelgewebe  mit 
den  harten  nadelspitzen  Ausläufern  sich  in  das 
Torf  hineinbohrt  und  dasselbe  völlig  durch- 
zieht . .  .  Ich  habe  den  Torf  an  einer  Stelle  im 
Gribskov  (Seeland)  untersucht,  welche  mit  der 
dichtesten  und  üppigsten  Vegetation  von  Aira 
flexuosa  bedeckt  war,  und  wo  diese  mindestens 
zehn  Jahre,  wahrscheinlich  weit  länger,  gestanden 
hatte  .  .  .  Der  Obergrund  bestand  aus  ziemlich 
stark  lehmhaltigem  Sande  von  bedeutender 
Mächtigkeit  und  die  zwischen  diesem  und  dem 
Torf  liegenden  Schichten  haben  anscheinend  ganz 
denselben  Charakter  behalten,  den  sie  im  Buchen- 


walde hatten;  aber  das  Gras  erstreckte  sein 
Wurzelgewirr  tief  unter  die  Torfschicht,  und 
diese  selbst  hatte  eine  ihrer  Eigentümlichkeiten 
in  sehr  lehrreicher  Weise  verändert.  Die  schwarze 
Masse  war  dichter,  anscheinend  fast  strukturlos 
und  machte  den  Eindruck  eines  fetten  Schlamms. ') 
Aus  der  mikroskopischen  Analyse  ergab  sich, 
daß  fast  alle  die  Reste  von  Blättern,  Knospen- 
schuppen, Blüten  usw.,  welche  der  frische  Buchen- 
torf enthält,  zu  einem  feinen  schwarzen  Schlamm 
umgebildet  waren,  in  dem  man  zwar  die  Ele- 
mente, welche  ihn  ursprünglich  zusammengesetzt 
hatten,  noch  spüren  konnte,  wo  aber  sowohl  die 
Buchenwurzeln  wie  die  Abfälle  fast  ganz  in  eine 
seifenartige  Masse  verwandelt  waren.  Dieselbe 
enthielt,  soweit  ich  sehen  konnte,  nicht  einen 
einzigen  lebendigen  Faden  von  dem  schwarzen 
Mycelium,  -)  aber  aus  einer  unendlichen  Menge 
kleiner  Bruchstücke  desselben  war  zu  ersehen, 
wie  stark  es  ausgebreitet  gewesen  war  und  wie 
unverwüstlich  dieses  Gewebe  ist;  eine  Reihe  von 
Jahren  hat  es  nicht  ganz  zu  zersetzen  vermocht.^) 
Allerdings  war  der  Torf  noch  ungemein  reich  an 
freier  Humussäure  und  der  Regenwurm  fehlte 
noch,  aber  die  Schicht  selber  war  unzweifelhaft 
in  einem  Auflösungszustande;  ihre  Konsistenz  und 
Zähigkeit  verdankte  sie  jetzt  allein  den  Gras- 
wurzeln, welche  sie  doch  vielfach  durchbrochen 
und  eine  Reihe  von  Insektenlarven,  die  ich  nie- 
mals im  Buchentorf  bemerkt  habe  und  die  ohne 
Zweifel  das  Zersetzungswerk  fördern,  herbei- 
gerufen hatten.  Ob  es  der  Schmiele  und  ihrer 
Fauna  allmählich  gelingen  wird,  diese  Torf- 
bildung zu  zerstören  und  die  Stelle  wieder  für 
Pflanzen  und  Tiere  bewohnbar  zu  machen,  ist 
wohl  nicht  mit  Bestimmtheit  zu  sagen,  kommt 
mir  aber  doch  sehr  wahrscheinlich  vor." 

Auch  der  inmitten  größerer  ßuchentorfgebiete 
auftretende  „InsektenmuU",  von  dem  Müller 
S.  38 — 41  spricht,  und  den  er  zunächst  „für  einen 
von  Insekten  zerteilten  Torf"  ansehen  zu  müssen 
glaubt,  ist  wahrscheinlich  erst  durch  die  Boden- 
flora gelockert  worden,  ehe  ihn  die  Insekten  in 
Angriff  nahmen,  denn  aus  einer  Bemerkung  am 
Schluß  der  Seite  40  geht  hervor,  daß  es  sich  um 
begrünten  Waldboden  handelt.  „Die  meisten  der 
Bodenpflanzen  des  Buchenwaldes  können  hier 
vorkommen,  wenn  die  Schichten  größere  Mächtig- 
keit erreichen;  doch  scheint  die  Heidelbeere  auf 
einem   solchen   zerteilten  Torf  gut   zu  gedeihen." 

d)   Gegenüberstellung  der  alten  und 
neuen  Auffassung. 

Nach  der  immer  noch  herrschenden,  P.  E. 
Müller  zugeschriebenen  Auffassung  spielt  bei 
der   Entstehung   des   Trockentorfs   die  Verfilzung 

')  Wahrscheiolich  eine  Kolge  des  feuchten  Seeklimas. 
Bei  uns  habe  ich  diese  Erscheinung  nicht  beobachtet.     K. 

'^)  Der  Buchenpihwurzel.     K. 

')  Aber  die  erhaltende  Kraft  des  Trockentorfs  war  eben 
infolge  der  Durchlüftung  durch  die  /ijVa-Wurzel  im  Schwin- 
den.    K. 


40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


der  Pflanzenreste  durch  Wurzeln,  Pilzfäden  und 
Moosrhizoiden  die  Hauptrolle.  Demgegenüber  ist 
zu  bemerken,  daß  Müller  vornehmlich  vom 
Buchenwald  Jütlands  spricht,  wo  allerdings  nach 
seiner  ausführlichen  und  lebendigen  Schilderung 
die  Verfestigung  der  Bodenstreu  durch  die  Pilz- 
wurzel der  Rotbuche  so  auffällig  ist,  daß  dieser 
Vorgang  als  Ursache  der  Trockentorfbildung  er- 
scheinen kann.  Müller  lehnt  freilich  S.  78 f. 
diese  Folgerung  ausdrücklich  ab. ') 

Aber  die  Verwerter  seiner  grundlegenden 
Arbeiten  sind,  wie  die  Ausführungen  im  Ab- 
schnitt a)  beweisen,  weniger  vorsichtig  gewesen. 
—  Offenbar  handelt  es  sich  um  einen  sekundären 
Vorgang.  Wenn  Müller  zeigt,  wie  auf  dem 
„Mull"  die  ganze  Erdkruste  bis  zum  Untergrund 
zur  Ernährung  der  Bäume  beiträgt  (S.  14),  wäh- 
rend bei  Trockentorfauflage  „das  unermeßliche 
Gewebe"  der  Buchenwurzeln  in  dieser  Deckschicht 
zu  einem  dichten  Filz  zusammengedrängt  ist 
(S.  33),  so  geht  daraus  m.  E.  ohne  Zweifel  her- 
vor, daß  die  Buche  zu  dieser  Verlegung  ihrer 
Wurzelmasse  nach  oben  durch  die  Trockentorf- 
bildung gezwungen  worden  ist.  Gewiß  trägt  die 
Buchenwurzel  mit  ihrem  Pilzgeflecht  unter  den 
geschilderten  Verhältnissen  zur  Erhaltung  und 
wegen  ihrer  schweren  Zersetzbarkeit  auch  zur 
Vermehrung  der  Trockentorfmasse  bei,  aber  zuerst 
muß  doch  der  Boden  durch  Trockentorf  anderer 
Entstehung  abgedichtet  worden  sein,  ehe  die 
Buchen  ihre  Saugwurzeln  aus  Atemnot  nach  oben 
zusammendrängten. 

Daß  es  für  das  Verständnis  aller  Fragen ,  die 
mit  dem  Trockentorf  zusammenhängen ,  nicht 
gleichgültig  ist,  ob  man  in  seiner  Verfilzung  die 
Ursache  seiner  Entstehung  oder  eine  Folge  sieht, 
ergibt  sich  aus  einer  Stelle  des  Müll  ersehen 
Werkes  selbst  mit  zwingender  Logik.  S.  37  sagt 
er:  „Die  gleichförmige  Decke,  welche  der  (Buchen-) 
torf  oft  auf  große  Strecken  über  den  Waldboden 
zieht,  ist  jedoch  hin  und  wieder  durch  Flecke, 
deren  Vegetation  einen  anderen  Charakter  des 
Bodens    verrät ,    unterbrochen.     So  kann  man  na- 


')  „Wenn  wir  darauf  aufmerksam  gemacht  haben,  daß 
der  (Buchen-)Mull  im  wesentlichen  das  Gepräge  von  der  Ar- 
beit der  Regenwürmer  irägt,  und  dafi  der  (Buchen-)Torf 
hauptsächlich  durch  die  verbindenden  Elemente,  die  Buchen- 
wurzeln und  das  Pilzmycelium ,  seinen  Charakter  erhält,  so 
haben  wir  damit  noch  keinen  Aufschluß  darüber  gegeben, 
wodurch  diese  beiden  Faktoren,  jeder  an  seinem  Ort,  hervor- 
gerufen wurden.  . .  Unsere  Beobachtungen  beginnen  mit  den 
Strukturverhältnissen  des  Bodens,  und  erst  darnach  können 
unsere  Schlüsse  beginnen.  Was  dagegen  für  die  besonderen 
Formen  des  organischen  Lebens  bestimmend  ist,  darüber  be- 
sitzen wir  nur  in  den  Aufschlüssen  über  das  Vorkommen  der- 
selben schwache  Andeutungen.  ,  .  Es  ist  nämlich  wahrschein- 
lich, daß  die  hervorgehobenen  faunistischen  und  floristischen 
Eigentümlichkeiten  im  Boden  nur  als  der  Ausdruck  etnes  Zu- 
standes  von  komplizierterem  Charakter  und  mit  einer  bunteren 
Reihe  von  Voraussetzungen,  als  es  sich  überschauen  ließ,  auf- 
gefaßt werden  muß;  daß  sie  als  ein  Ausdruck,  der  im  glück- 
lichsten Falle  nur  eins  der  wichtigsten  Hauptmomente  liefern 
kann,  anzusehen  sind.  Denn  hier,  wie  überall  in  der  leben- 
den Natur,  ist  eine  Erscheinung  äußerst  selten  die  einfache 
Folge  einer  einzigen  Ursache." 


mentlich  in  den  Niederungen  und  den  kessei- 
förmigen Vertiefungen  teils  kleine  Gebüsche  von 
Himbeeren,  teils  Gruppen  recht  gedeihlicher 
junger  Buchen  sehen,  die  durch  ihre  Entwicklung 
und  Form  gegen  die  verkümmerten  und  ver- 
krüppelten kleinen  Buchenpflanzen,  welche  hin 
und  wieder  auf  dem  Torf  ihr  Dasein  fristen,  deut- 
lich abstechen.  ...  In  diesen  kleinen  Himbeer- 
gebüschen oder  Gruppen  von  recht  kräftigen 
jungen  Buchen  habe  ich  nämlich  ...  oft  einen 
vortrefflichen  Mull  angetroffen,  ohne  daß  es  mög- 
lich war,  in  der  Beschaffenheit  des  Bodens  selber 
irgendwelchen  Grund  dafür  zu  finden,  daß  die 
Zersetzung  der  organischen  Reste  auf  diesem 
Fleck  .  .  .  sich  in  anderer  Weise  als  in  den  großen 
Torfflächen,  die  ihn  umgeben,  vollziehen  sollte. 
Ich  habe  niemals  .  .  .  eine  solche  Mulloase  unter- 
sucht, ohne  dort  Regenwürmer,  sogar  in  bedeu- 
tender Menge  zu  finden,  während  in  den  angren- 
zenden Strecken  keine  Spur  von  ihnen  vorhanden 
war."  Es  handelt  sich  offenbar  um  kleine  Lich- 
tungen im  Buchenwalde,  in  denen  es  eben  wegen 
des  Auftretens  von  Himbeeren  usw.  nicht  zur 
Bildung  von  Trockentorf  kommen  konnte. 
Müller  wird  durch  seine  Stellung  zur  Frage  der 
Trockentorfentstehung  gezwungen,  solchen  Oasen- 
boden, der  nach  seinem  Sprachgebrauch  ganz 
unzweifelhafter  „Mull"  ist,  an  anderer  Stelle  seines 
Werkes  als  „mullartigen  Torf'  zu  bezeichnen,  was 
natürlich  ganz  unhaltbar  ist  —  m.  E.  ein  schlagen- 
der Beweis  dafür,  wie  wichtig  es  ist,  die  primäre 
Ursache  der  Trockentorfbildung  zu  kennen.  Daß 
Müller  den  naheliegenden  Zusammenhang  nicht 
selbst  ausspricht,  kann  ich  mir  nur  so  erklären: 
In  seinem  Untersuchungsgebiet  herrscht  der  durch 
Buchen-Pilzwurzel  verfilzte  Trockentorf  bei  weitem 
vor;  in  dem  feuchten  Seeklima  Jütlands  scheint 
das  Zusammensetzen  das  Buchenlaubs  rascher  und 
auf  größeren  Strecken  vor  sich  zu  gehen  als  bei 
uns;  die  Buchenwurzeln  werden  schneller  in  Atem- 
not versetzt;  so  können  sie  in  weiten  Gebieten 
nur  an  der  Bodenoberfläche  für  die  Ernährung 
der  Bäume  tätig  sein;  die  wenigen  Stellen,  wo 
sich  die  Buchen  anders  verhalten,  bilden  Aus- 
nähmen; kein  Wunder,  wenn  dem  Beobachter  die 
Verfilzung  des  Buchentorfs  als  zu  seinem  Wesen 
gehörig  erscheint.  Auch  Müller  kennt  (Buchen-) 
„Torf  ohne  Wurzelmasse",  doch  behandelt  er  ihn 
wegen  seines  selteneren  Vorkommens  als  Abart. 
Meiner  Meinung  nach  zeigt  dieser  „Torf  ohne 
Wurzelmasse"  die  Entstehungsbedingungen  des 
Trockentorfs  aber  reiner  als  der  durch  Wurzeln 
verfilzte.  Aus  dem  Gesagten  scheint  sich  doch 
die  Notwendigkeit  zu  ergeben,  daß  man  zur  Ver- 
meidung von  Mißverständnissen  den  ursprünglichen 
Schüttungs-  oder  Lagertorf  von  dem  nachträglich 
verfilzten  Torf  unterscheidet.  — 

Ich  stelle  also  der  Auffassung,  daß  Trocken- 
torf durch  Verfilzung  der  Abfallmassen  entstehe, 
die  Anschauung  entgegen,  daß  lediglich  über- 
mäßige, d.  h.  von  den  zerstörenden  Kräften  nicht 
zu  bewältigende  Schüttung  der  Laub-  und  Nadel- 


I 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


41 


bäume  die  Ursache  der  Trockentorfbildung  ist. 
Nebenbei  gewinnen  wir  damit  den  Vorteil,  die 
Entstehung  des  Buchentorfs  nicht  anders  erklären 
zu  müssen  wie  die  des  Fichtentorfs.  (Vgl.  dagegen 
die  Anführungen  aus  Graebners  „Pflanzenwelt 
Deutschlands"  im  Abschnitt  a  verliegender  Ar- 
beit!) 

Ferner  lehne  ich  die  Ansicht  ab,  daß  auch 
Glieder  der  Waldbodenflora  {Call/i/ia,  Vacciniitm, 
Carex  hnzoides,  Moose  usw.)  nennenswert  an 
der  Bildung  von  Trockentorf  beteiligt  seien.  Die 
gesamte  Waldbodenflora  verhindert  vielmehr  die 
Trockentorfbildung  oder  zerstört  bereits  vor- 
handenen Trockentorf,  auf  dem  sie  sich  bei  gün- 
stiger werdenden  Lichtverhältnissen  ansiedelt. 
Callmia,  Vacciiiintn  und  die  Moospolster  kommen 
höchstens  als  Erhalter  des  von  den  Waldbäumen 
erzeugten  Trockentorfs  in  Frage.  In  ursprüng- 
lichen Gr/fo«(7-Heiden  mögen  die  Verhältnisse 
anders  liegen.  Auch  die  Durchspinnung  des 
Trockentorfs  mit  den  Mycelien  der  saprophytisch 
lebenden  Pilze  bedeutet  meines  Erachtens  in 
erster  Linie  eine  sehr  langsame  Zerstörung  der 
Waldbodendecke,  die  allerdings  mehr  chemischer 
Natur  ist. 

Endlich  ergibt  sich  aus  den  voranstehenden 
Ausführungen,  daß  auch  unvorsichtige  Lichtung 
des  Waldes  oder  Kahlschlag  nicht  Ursache  der 
Trockentorfbildung  werden  kann.  Es  handelt 
sich  dabei  nur  um  Verdichtung  bereits  vor- 
handenen Trockentorfs.  Das  ist  aber  eine  vorüber- 
gehende Erscheinung;  der  freigelegte  Trockentorf 
wird  von  den  Wurzeln  der  massenhaft  sich  ein- 
stellenden Kahlschlagspflanzen  im  Laufe  weniger 
Jahre  zerstört.  Die  unleugbaren  Schädigungen, 
die  der  Waldboden  durch  zu  starkes  Pläntern 
oder  Kahlhieb  erleidet,  müssen  also  anderswo  zu 
suchen  sein  als  in  unvermeidlicher  Trockentorf- 
bildung. 

e)  Ergebnisse. 

1.  Trockentorf  wird  lediglich  durch  den  Ab- 
wurf  der  Waldbäume,  besonders  der  Buchen  und 
Fichten,  gebildet  und  zwar  immer  dort,  wo  die 
zerstörenden  Kräfte  die  Abfallmassen  nicht  be- 
wältigen können. 

2.  Da  als  solche  Zerstörer  in  erster  Linie  die 
Pflanzen  des  Waldbodens  in  Frage  kommen,  die 
zu  ihrer  Entwicklung  Licht  brauchen,  so  kann 
Trockentorf  nur  an  unbegrünten  Stellen  des 
Waldbodens  entstehen,  also  im  geschlossenen 
Fichtenwalde  und  an  solchen  Stellen  des  Buchen- 
waldes, wo  das  Fallaub  so  hoch  aufgehäuft  ist, 
daß  die  Frühlingspflanzen  nicht  durchbrechen 
können. 


3.  An  begrünten  Waldstellen  kommt  es  nicht 
zur  Bildung  von  Trockentorf,  weil  einesteils  die 
Bodenstreu  in  jedem  Frühjahr  durch  massenhaft 
empordrängende  Pflanzentriebe  gehoben  und  ge- 
lockert wird  und  weil  andernteils  Sträucher, 
Gräser  und  Moospolster  ein  festes  Zusammen- 
lagern des  Baumabwurfs  verhindern. 

4.  Werden  trockentorfbedeckte  Waldstellen 
freigelegt,  so  siedeln  sich  Gräser  und  Stauden  an, 
die  mit  ihren  Wurzeln  den  Trockentorf  vor  allem 
mechanisch  zerstören.  Solche  Trockentorfzerstörer 
sind  besonders  Aira  flcxuosa,  Calaiiiagrostis 
arimdinacca,  Moliuia  caerulea,  Nardiis  strida, 
Fesiuca  heterophylla,  Carex  brizoidcs,  Liiznla 
iicmorosa,  Alajantliemitm  bifoUum. 

5.  Cnlluna  vulgaris  und  Vacciuiitin  myrtilhts, 
die  unter  den  gleichen  Umständen  besonders  im 
Nadelwalde  auftreten,  verzögern  wohl  die  Zer- 
störung des  Trockentorfs  durch  ihre  Faserwurzeln 
und  die  sie  umspinnenden  Pilzfäden,  lockern  ihn 
aber  durch  ihre  derben  Haupt-  und  Nebenwurzeln. 
Im  ganzen  ist  der  Trockentorf  unter  ihnen 
weniger  fest  und  dicht  als  an  den  Stätten  seiner 
Entstehung,  so  daß  doch  wohl  Luft  und  Wasser 
und  andere  zerstörende  Kräfte  ihn  besser  an- 
greifen können  als  an  unbegrünten  Stellen. 

6.  Moospolster,  die  belichtete  Waldboden- 
stellen besiedeln,  scheinen  im  allgemeinen  zwar 
nicht  die  vorhandene  Trockentorfdecke  selbsttätig 
zu  lockern,  setzen  aber  ihrer  Verstärkung  durch 
Neuaufschüttung  eine  Grenze. 

7.  Die  unter  5  und  6  genannten  Pflanzen  sind 
mit  Ausnahme  von  Moliuia  und  Majaiifhevuwi 
keineswegs  Trockentorfanzeiger.  Vielmehr  ge- 
deihen sie  ebensogut,  wahrscheinlich  sogar  besser, 
auch  auf  Mullerde  {Calamagrostis,  Carex  bri- 
zoidcs, Luzula  neiiiorosa)  oder  auf  Waldböden, 
die  bei  der  Bestandsverjüngung  von  der  Trocken- 
torfdecke befreit,  aufgerissen  oder  umgestürzt 
worden  sind  {Aira  flcxuosa,  Calluna  vulgaris, 
Vacciuium  myrfillus,  Dicraiieüa  heterornalla). 

8.  An  der  Vermehrung  des  Trockentorfs  ist 
die  Waldbodenflora  entweder  gar  nicht  oder  so 
unwesentlich  beteiligt,  daß  der  in  Frage  kom- 
mende Betrag  gegenüber  den  Abwurfmassen  der 
Bäume  völlig  zurücktritt. 

9.  Als  äußerst  langsam  und  zwar  hauptsäch- 
lich chemisch  arbeitende  Trockentorfzerstörer  sind 
auch  die  saprophytisch  lebenden  Pilze  anzusehen. 
Ihre  Tätigkeit  ist  um  so  beachtlicher,  als  viele 
von  ihnen  auch  den  Trockentorf  im  geschlossenen 
Walde  in  Angriff  nehmen,  wohin  ihnen  die  grüne 
Waldbodenflora  aus  Mangel  an  Licht  nicht  zu 
folgen  vermag. 


Bücherbesprechimgen. 


Stöckhardt,  Ad., Schule  der  Chemie.   22.  Aufl., 
bearbeitet     von     Prof.    Dr.     Lassar  -  Co hn. 


Braunschweig    1920,    Friedr.  Vieweg.      24  M. 
geb.  32  M. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Bücher  wie  dieses,  das  seit  nunmehr  beinahe 
75  Jahren  im  Buchhandel  erscheint,  pflegt  die 
Kritik  als  „alte,  liebe  Bekannte"  zu  begrüßen  mit 
der  Bemerkung,  daß  sie  besonderer  Empfehlung 
nicht  mehr  bedürfen.  Ich  betone,  daß  in  diesem 
Falle  der  Eindruck  eines  alten  Werkes  bei  mir 
vorherrschend  ist.  Es  wird  immer  eine  Unmög- 
lichkeit sein,  ein  Buch,  das  vor  Jahrzehnten  sehr 
wohl  „den  Bedürfnissen  seiner  Zeit  entsprochen 
hat",  im  selben  Geiste  nur  durch  gelegentliche 
„Bearbeitungen"  über  lange  Zeiträume  auf  der 
wissenschaftlicherseits  zu  fordernden  Höhe  zu 
halten.  Es  sei  denn,  man  treibt  die  Verjüngungs- 
arbeit an  jeder  Neuauflage  so  weit,  daß  — 
schließlich  ein  neues  Buch  dabei  herauskommt. 
In  richtiger  Würdigung  dieser  Sachlage  hat  denn 
auch  der  Verlag  vor  einigen  Jahren  den  Wunsch 
geäußert,  daß  ein  „ganz  moderner  Stöckhardt" 
geschrieben  werde.  Das  ist  durch  Ostwald 
geschehen;  und  die  Tatsache  einer  vierten 
Auflage  seiner  „Schule"  beweist  schon  rein  äußer- 
lich, daß  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  Ost- 
walds  Schule  entspricht.  Es  ist  deshalb  falsche 
Ehrfurcht  vor  der  inzwischen  geschichtlich  ge- 
wordenen Leistung  Stöckhardts,  seine  „Schule" 
zum  Prokrustesbett  der  ganzen  modernen  Chemie 
zu  machen. 

Dies  aber  ist  es,  was  durch  die  vorliegende 
Neuauflage  geschehen  ist.  Zunächst  hinsichtlich 
der  geradezu  unglaublichen  Fülle  des  Stoffes. 
Was  davon  geboten  wird,  geht  weit  über  den 
Rahmen  einer  „Schule",  d.  i.  einer  ersten  Ein- 
führung, hinaus.  Nicht  allein  die  gesamte  an- 
organische, sondern  sämtliche  Kapitel  der  or- 
ganischen Chemie  sind,  neben  der  „Tierchemie" 
und  einem  2o  Seiten  langen  „Analytischen  An- 
hang", der  aber  in  keiner  Weise  eine  syste- 
matische Analyse  ermöglicht!,  als  zum  Thema 
einer  erzieherischen  Einführung  in  eine  begriff- 
lich wahrlich  nicht  einfache  Wissenschaft  gehörig 
betrachtet  worden !  Was  für  den  geringen  Um- 
fang der  Chemie  von  1846  recht  war,  ist  aber 
für  1920  nicht  billig.  Es  heißt  ein  oberflächliches 
Wissen  um  außerordentlich  viel  Tatsachen  be- 
fördern, wenn  dem  Schüler  die  Konstitutions- 
formel des  Chinins  (S.  460)  vorgesetzt  (denn 
sie  bleibt  unbegründet)  wird.  S  o  erziehen  wir 
Chemikanten,  nicht  Chemiker!  Es  ist  mir 
nicht  zweifelhaft,  daß  die  trübe  Erscheinung  der 
chemischen  Halbbildung,  die  zu  insbesondere 
pharmazeutischen  Alchimistereien  der  unerfreu- 
lichsten Art  führt,  dieser  breiten,  im  Grunde  aber 
unendlich  seichten  Schulung  zuzuschreiben  ist. 
Findet  doch  sogar  Einsteins  Theorie  S.  330 
ehrfürchtige  Erwähnung ! ! 

Nicht  verwunderlich  ist  infolgedessen  derIVlangel 
an  exakter  Erläuterung  des  Chemischen 
schlechthin  andererseits.  „Wasserfreie  Säuren 
heißen  Anhydride"  (S.  162).  „Das  Vereini- 
gungsbestreben der  Atome  versinnbildlicht  man 
durch  Striche"  (S.  50).  „Oxydieren  heißt: 
einen  Körper  mit  Sauerstoff  verbinden"  (S.  92)  — 


dies  sind  nur  einige  willkürliche  Sätze  über  An- 
gelegenheiten, die  sorgfaltigster  Begriffsbestim- 
mung bedürfen.  Die  lonentheorie  ist  auf 
einer  Seite  abgetan;  von  einer  Anwendung  oder 
sonstigen  Erwähnung  findet  sich  nichts.  In  einem 
Buch,  das  über  die  allerersten  Anfänge  fortführen 
soll,  das  „angehende  Apotheker,  Landwirte"  usw. 
unterrichten  will,  unentschuldbar.  Ebenso,  sagen 
wir;  unmodern  ist  an  der  alten,  ja  ältesten  Nomen- 
klatur hängen  geblieben  worden.  Was  Wissen- 
schaft und  Industrie  immer  und  immer  wieder 
fordern,  was  zumal  zum  Verständnis  der  heu- 
tigen Chemiesprache  unentbehrlich  ist,  nämlich 
die  folgerichtige  Anwendung  einer  sinngemäßen 
Namengebung,  findet  in  diesem  Buche  nur  neben- 
her und  nicht  einmal  hervortretende  Behandlung. 
Ja,  S.  125  werden  sogar  Namen  wie  Kalium- 
sulfat   u.  ä.    als    „recht  überflüssig"   bezeichnet! 

So  altertümlich  wie  die  genannten  Tatsachen 
sind  auch  die  Abbildungen  des  Buches.  Ihre 
Menge  und  unzweckmäßige  Stilisierung  be- 
schweren das  ohnehin  viel  zu  umfangreiche  Buch 
um  ein  weiteres.  Viele  Bilder  kommen  doppelt 
und  dreifach  vor,  teilweise  auf  einander  gegen- 
überstehenden Seiten!  So  S.  130  und  131.  Eine 
pädagogische  Geschicklichkeit  vermag  ich  darin 
nicht  zu  sehen. 

Weitere  Einzelheiten  glaube  ich  mir  nach 
obigem  ersparen  zu  dürfen.  Nicht  leichten  Herzens 
entschloß  ich  mich  zu  dieser  ablehnenden 
Besprechung,  glaube  aber,  sie  der  Chemie  und 
dem  angesehenen  Verlage,  dem  wir  eine  große 
Zahl  bester  Veröffentlichungen  danken,  schuldig 
zu  sein.  Er  hat  ja  einen  vollwertigen  Ersatz  des 
alten  St öckhardt;  möchte  er  sich  entschließen, 
künftig  nur  ihn  erscheinen  zu  lassen.  Unseres 
Dankes  darf  er  sich  versichert  halten.  Hoch- 
achtung vor  der  großen  Leistung  von  einst! 
Die  Forderung  des  Tages  aber  lautet  anders; 
und  selbst  des  großen  Berzelius  berühmtes 
Lehrbuch  hat  das  Schicksal  erlebt,  dem  Fort- 
schritt der  Wissenschaft  zum  Opfer  gefallen  zu 
sein  . .  .  Hans  Heller. 

Pauli,  Prof  Dr.  Wo.,  Kolloidchemie  der 
Eiweißkörper.  I.  Hälfte.  Dresden  und 
Leipzig  1920,  Verlag  von  Theodor  Steinkopfif. 
10  M. 

Nachdem  Graham  in  den  Kolloiden  jene 
eigenartige  Erscheinungsform  der  Materie  kennen 
gelehrt  hatte,  die  ein  scheinbar  grundsätzliches 
Gegenteil  zu  den  Kristalloiden  bildete,  hat  sich 
die  Forschung  jener  neuen  Welt  „der  vernach- 
lässigten Dimensionen"  mit  außergewöhnlichem 
Eifer  hingegeben.  Die  formalen  Ergebnisse  dieser 
Arbeiten  auf  kolloidchemischem  Gebiete  zielen 
nun  mehr  und  mehr  dahin,  den  ursprünglichen 
Gegensatz  zu  den  anderen  physikochemischen 
Erscheinungen  verschwinden  zu  lassen  und  als 
einen  nur  graduellen,  nicht  aber  wesentlichen 
zu  demonstrieren.  Den  ersten  Schritt  hierzu  tat 
schon  Zsigmondy,   indem  er  Kolloide  als  dis- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


43 


perse  Anteile  von  der  Größe  0,i  ,«  bis  o,i  ///t 
definierte  und  sie  somit  als  einen  Sonderfall  der 
Lösungen  überhaupt  kennzeichnete.  Immer- 
hin aber  sind  die  in  diesem  Bereich  zu  verzeich- 
nenden Tatsachen  und  Vorgänge  von  solcher 
Eigenart,  und  erfordern  eine  von  den  üblichen 
Methoden  stark  abweichende  Behandlung,  daß  sie 
ihre  Sonderstellung  im  Gebiete  der  Gesamtchemie 
trotz  aller  Versuche,  sie  ihnen  zu  nehmen,  beibe- 
hielten. Rein  äußerlich  fand  dieses  Verhältnis 
seinen  Ausdruck  in  der  entsprechenden  Literatur, 
die  erfahrungsgemäß  dem  „Chemiker"  schlechthin 
stets  eine  Art  Bibliophilenangelegenheit  war.  In 
neuester  Zeit  nun  macht  sich  zunehmend  eine 
Bewegung  bemerkbar,  die  die  Kolloidchemie  ihres 
eigenartigen  Charakters  berauben  und  sie  als  einen 
Sonderfall  der  allgemeinen  Chemie  auch  dann 
betrachtet  wissen  will,  wenn  unsere  bisherigen 
„klassischen"  Vorstellungen  auf  kolloidchemische 
Probleme  nicht  anwendbar  zu  sein  scheinen. 
Mit  anderen  Worten,  man  sucht  eine  Deutung 
kolloidaler  Effekte  im  Sinne  und  mit  den  Mitteln 
der  Struktur-  und  Elektrochemie  der 
echten  Lösungen. 

Dies  mußte  vorausgeschickt  werden,  um  den 
Charakter  des  vorliegenden  Buches  verständlich 
zu  machen.  Auch  Pauli  nämlich,  dem  wir  zahl- 
reiche wertvolle  Arbeiten  auf  dem  im  Titel  ge- 
nannten Gebiet  verdanken,  glaubt,  wenn  ich  den 
Sinn  des  ersten  ganz  vorzüglich  geschriebenen 
Abschnittes  seiner  Arbeit  recht  verstehe,  die  in 
den  folgenden  Kapiteln  niedergelegten  Befunde 
„mit  der  Strukturchemie  verknüpfen"  zu  können. 
Selbstverständlich  ist  dieses  Bemühen  an  sich  so 
zu  billigen  wie  jeder  Versuch  der  Zusammen- 
fassung heterogener  Tatsachen  unter  allgemei- 
nen und  einheitlichen  Gesichtspunkten.  Aber 
es  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  daß  solchen 
Versuchen  durch  den  Stoff  selbst  Grenzen 
gezogen  sind.  Und  es  bestehen  nun  einmal,  wo- 
rauf insbesondere  Wo.  Ostwald  immer  wieder 
eindringlich  hinweist,  kolloidchemische  Fakten, 
die  einstweilen  in  die  klassische  Chemie 
nicht  einzureihen  sind. 

Sie  als  solche  ausdrücklich  betont  zu  finden 
wird  man  in  dem  L  Teil  dieses  Werkes  ver- 
missen. Es  läßt  mithin  in  diesem  Betracht 
unbefriedigt.  Denn  die  vielen  exakten  Angaben 
und  Diskussionen  elektrochemischer  Verhältnisse 
an  Eiweißstoffen  sind  eben  keine  Kolloid- 
chemie dieser  Stoffel  Obwohl  ihr  einzigartiger 
Charakter  sachlich  natürlich  nicht  zu  verkennen 
ist.  Ich  denke  an  die  Maxim  u  merscheinungen, 
an  den  oft  völligen  Mangel  stöchiometrischer  Be- 
ziehungen und  schließlich  daran,  daß  die  72  Ta- 
bellen des  Buches  von  einer  Mannigfaltigkeit  der 
Versuchbedingungen,  Methodik  und  damit  also 
von  einer  Unvergleichbarkeit  sind,  die  ein- 
fach einzig  ist!  Solange  noch  eine  derartige 
„Empirie"  im  behandelten  Gebiet  notwendig  ist, 
fühlt    sich    der  Berichterstatter  außerstande,    den 


„klassisch"   gerichteten   Gedanken   und  Absichten 
des  Verf.  folgen  zu  können. 

Im  übrigen  stört,  daß  absichtlich  vorwiegend 
die  aus  Paulis  Laboratorium  hervorgegangenen 
Arbeiten  behandelt  werden.  Sie  bilden,  bei  aller 
Wertschätzung,  doch  nur  einen  Teil  der  hierher 
gehörenden  Forschungsergebnisse.  Aber  dieser 
Teil  ist  hoch  bedeutsam,  und  für  den  Arbeiter 
oder  Liebhaber  auf  diesem  Gebiet  dürfte  Paulis 
Buch  unentbehrlich  werden.  Diesem  zu  wünschen- 
den Erfolge  dient  nicht  allein  die  immer  klare 
und  gut  lesbare  Darstellung,  sondern  auch  die 
vorzüglichen  Abbildungen  und  Diagramme. 

Das  Buch  muß  also  angelegentlich  empfohlen 
werden.  Nachstehend  die  wichtigsten  Kapitel- 
überschriften: Stabilitätsbedingungen  der  Eiweiß- 
lösungen; Elektrische  Ladung  von  nativem  lös- 
lichen Eiweiß;  Eigenschaften  bei  isoelektrischer 
Reaktion;  Eiweißsalze  mit  Säuren;  desgl.  mit 
Basen;  Zeitliche  Zustandsänderungen  der  Alkali- 
proteine; Salze  des  Globulins;  Wanderungsge- 
schwindigkeit der  Proteinionen. 

H.  Heller. 

Bavink ,  Dr.  B.,  Einführung  in  die  anor- 
ganische Chemie.  Sammlung  Aus  Natur 
und  Geisteswelt.  Berlin  und  Leipzig  1920, 
B.  G.  Teubner.  1,60  M.  und  Zuschlägen. 
Klein,  Dr.  Joseph,  Chemie,  Anorganischer 
Teil.  7.,  verbesserte  Auflage.  Sammlung 
Göschen.  Vereinigung  wissensch.  Verleger. 
W.  de  Gruyter  &  Co.  2,10  M.  und  100  7o- 
Beide  Bändchen  wollen  einen  ersten  Überblick 
über  das  Gesamtgebiet  der  anorganischen  Chemie 
geben,  setzen  jedoch  verschieden  vorgebildete 
Leser  voraus.  Bavink  schrieb  „so  elementar  als 
möglich",  setzt  nur  einfachsten  Volksschulunter- 
richt voraus  und  sucht  seine  Darstellung  vor  allem 
auch  für  Volkshochschulkurse  brauchbar  zu  machen. 
Dies  würde  bedingen,  die  einfachen  Grundtat- 
sachen möglichst  eindringlich  darzulegen,  von 
jeder  weitergehenden  Vertiefung  in  Einzelheiten 
aber  abzusehen,  so  sehr  man  gerade  bei  völligen 
Laien  versucht  ist,  ihrem  Wissensdurst  durch  Hin- 
weis auf  bekannte  und  wichtige  Tatsachen  in 
Wissenschaft  und  Industrie  entgegen  zu  kommen. 
Der  Verf.  hat  auf  engem  Raum  beiden  Seiten 
der  zweifellos  schwierigen  Aufgabe  gerecht  zu 
werden  versucht.  So  kommt  leider  gerade  die 
für  den  Nichtvorgebildeten  wichtigste,  nämlich 
die  experimentelle  Seite  etwas  zu  kurz;  so 
sehr,  daß  selbst  für  wesentlichste  Versuche  auf 
„ein  gutes  Experimentierbuch"  verwiesen  werden 
muß,  z.  B.  S.  13.  Die  Notwendigkeit,  fast  auf 
jeder  Seite  auf  andere  einführende  Bücher  zu  ver- 
weisen, muß  das  Studium  immer  beeinträchtigen, 
was  um  so  mehr  zu  bedauern  ist,  als  im  gan- 
zen die  Auswahl  des  Verf.  in  verschiedenen 
Richtungen  glücklich  getroffen  und  in  recht  an- 
genehmer Weise  zur  Darstellung  gebracht  ist. 
Aber ,  wie  gesagt ,  wenn  überhaupt  eine 
wissenschaftliche      Einführung      ange- 


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strebt  wird,  darf  die  Wissenschaft  auf 
keinen  Fall  vom  bloßen  Wissen  um  gewisse 
chemische    Erscheinungen   beeinträchtigt   werden. 

Eine  Neuauflage  könnte  in  diesem  Sinne  je- 
doch unschwer  umgestaltet  werden.  Viele  durch- 
aus entbehrliche  Einzelheiten  müßten  in  Wegfall 
kommen,  so,  um  nur  einige  Beispiele  zu  nennen, 
die  Nennung  der  Loschmidt sehen  Zahl  (I)  S.  27, 
StoiTe  wie  H  y  d  r  a  z  i  n  S.  60 ,  Cäsium  S.  86, 
ferner  der  Anhang  über  Kristallsysteme 
u.  a.  m.  Ich  glaube,  daß  das  Buch  dadurch  nur 
gewinnen  wird. 

Im  einzelnen  sei  noch  bemerkt:  für  die  Salz- 
bildung der  Schwefelsäure  auf  S.  34  ist  zweck- 
mäßig die  Umsetzung  mit  Zink  zu  streichen,  mit 
Rücksicht  auf  das  Reaktionsbeispiel   S.  33    unten. 

—  Im  Literaturverzeichnis  vermisse  ich  jegliches 
Buch  von  Ostwald.  Gerade  dieser  Meister 
chemischer  Unterrichtung  sollte  aber  nachdrück- 
lich empfohlen  werden!  Bücher,  wie  die  von 
Werner,  Nernst(!)  hingegen  gehören  nicht  in 
eine  „Einführung"  wie  die  vorliegende.  — 

Für  einen  Leserkreis  mit  besserer  Vorbildung 
schrieb  Klein  seinen  gedrängten  (und  darum 
nur  dem  höher  gebildeten  Schüler  leicht  ver- 
ständlichen) Abriß,  der  nach  einer  Einleitung  über 
die  wichtigsten  Grundtatsachen  in  zwei  große  klar 
disponierte  Abschnitte  zerlegt  ist:  Gesetzmäßig- 
keiten und  Theorien,  sowie  die  Elemente  und 
ihre  Verbindungen.  Gut  an  der  Darstellung  ist 
neben  der  flotten  Schreibweise  die  scharfe  For- 
mulierung kennzeichnender  Beispiele,  von 
denen  vielleicht  nur  das  auf  S.  32  unten  gegebene 
unklar  bleibt.  Im  übrigen  zeigt  das  Buch  selb- 
ständiges Urteil  in  der  Stoffauswahl.  S.  144 
möchte  das  „graue"  Zinn  Erwähnung  finden  als 
typischer  Fall  der  bei  Metallen  als  Regel  erkannten 
Allotropieerscheinungen.  Ob  es  richtig  ist, 
unter  diese  auch  den  Ionen  zustand  zu  rechnen 
(S.  42)  bestreite  ich.  Nach  den  Forschungen  ins- 
besondere von  Hantzsch  müssen  die  Ionen  als 
Oxoniumsalze,  mindestens  aber  als  Kom- 
plexe, d.  h.  Verbindungen  aufgefaßt  werden. 

—  Die  nächste  Auflage  des  Werkchens  sollte 
einer  Durchsicht  auf  eindeutige  und  einwandfreie 
Nomenklatur  unterzogen  werden.  —  Im  Sinne 
der  so  sehr  erwünschten  Einheitlichkeit  der 
Atomge  Wichtsrechnungen  liegt  es  endlich,  daß 
grundsätzlich  nur  0=i6  zur  Grundlage  genom- 
men wird.  Die  Tabelle  auf  S.  16  sollte  längst 
dementsprechend  abgeändert  sein. 

Druck  und  Ausstattung  des  Bändchens  sind 
sehr  gut,  und  so  ist  es  für  jeden,  der  aus  irgend- 
einem Grunde  der  anorganischen  Chemie  teil- 
haftig werden  möchte,  warm  zu  empfehlen. 

.  H.  Heller. 

Lehmann,  K.  B.  und  Neumann,  R.  O.,   Atlas 

undGrundriß  derBakteriologie.  2 Teile. 

6.  Aufl.    Lehmanns  medizinische  Handatlanten. 

Bd.  X.   München,  J.  F.  Lehmanns  Verlag.    60  M. 

Endlich  ist  dies  einzigartige  Lehrbuch,  auf  das 


nicht  besonders  aufmerksam  gemacht  werden  muß, 
wieder  neu  erschienen.  Wenn  auch  die  neue 
6.  Auflage  ein  unveränderter  Abdruck  der  5.  ist, 
so  ist  doch  ein  70  Seiten  langer  übersichtlicher 
Nachtrag  dazu  gekommen,  der  die  Fortschritte, 
die  während  des  Krieges  in  der  Wissenschaft  ge- 
macht worden  sind,  in  kurzer  Form  zusammen- 
faßt. Allerdings  ist  es  unverständlich,  warum  die 
Nachträge  nicht  einfach  an  die  betreffende  Stelle 
im  Hauptteil  gestellt  worden  sind,  zumal  stets 
genau  die  Seitenzahl  des  Hauptteiles  angegeben 
ist.  Dieser  Formfehler  hätte  sich  wohl  leicht  ver- 
meiden lassen  können. 

Im  Anhange  selbst  wäre  es  S.  750  wünschens- 
wert, die  Ergebnisse  der  Kolloidchemie  ausführ- 
licher behandelt  zu  sehen,  und  S.  799  vermißt 
man  sehr  ein  genaueres  Eingehen  auf  die  Much- 
schen  Fartialantigene.  Bei  S.  808  wäre  ein  Ein- 
gehen auf  die  neusten  Arbeiten  über  die  Wasser- 
mannsche  Reaktion  (z.  B.  Nathan  u.  a.)  ange- 
bracht. Sehr  gut  ist  hingegen  der  Abschnitt  über 
Influenza  (S.  757),  Thyphus,  Dysenterie  und  Para- 
typhus (S.  763)  und  Cholera  (S.  788).  Auch  das 
Fleckfieber,  das  ja  erst  während  des  Krieges  ein 
gesteigertes  Interesse  hervorrief,  ist  vortrefflich, 
wenn  auch  etwas  sehr  kurz,  behandelt  worden. 
Alles  in  allem  aber  wird  das  Buch  jeden  be- 
friedigen, ist  es  doch  das  einzige  umfassende  Lehr- 
buch der  bakteriologischen  Diagnostik,  das  sich 
nicht  nur  auf  pathogene  Bakterien  beschränkt. 
Auch  die  Tafeln  dürfen  uneingeschränktes  Lob 
verdienen.  Collier. 

Riebet,  Charles,  Die  Anaphylaxie.  Über- 
setzt von  J.  Negrin  y  Lopez.  Leipzig  1920, 
Akadem.  Verlagsgesellschaft  m.  b.  H. 
Obwohl  das  Buch  des  bekannten  Pariser  Physio- 
logen bereits  im  Jahre  1913  geschrieben  ist  und 
nur  einen  kurzen  späteren  (191 4)  Nachtrag  über 
die  durch  Chloroform  bedingte  Anaphylaxie  ent- 
hält, ist  doch  die  deutsche  LTbertragung  mit  Freude 
zu  begrüßen.  Der  größte  Mangel,  und  es  ist  wohl 
der  einzige,  liegt  nur  darin,  daß  die  19 14— 1920 
erschienene  umfangreiche  Literatur  nicht  berück- 
sichtigt worden  ist.  Obwohl  es  sich  in  dem  Werk 
um  eine  systematische,  objektive  Betrachtung  der 
Anaphylaxie  handelt,  hat  doch  Verf,  der  1902 
selbst  dieses  Wissensgebiet  zum  ersten  Male  er- 
kannte und  selbst  den  Namen  Anaphylaxie  prägte, 
eine  große  Reihe  eigener,  unveröffentlichter  Be- 
obachtungen eingeflochten.  So  ist  das  Büchlein 
nicht  nur  eine  zusammenfassende,  kritische  Ab- 
handlung, sondern  auch  zugleich  eine  Wiedergabe 
eigener  Untersuchungen,  und  gerade  dies  ist  es, 
was  die  Arbeit  so  wertvoll  macht.  Sehr  gut  ge- 
lungen sind  neben  den  Kapiteln  über  die  Ana- 
phylaxie in  der  Medizin  und  der  geschichtlichen 
Einleitung  der  Abschnitt  über  die  alimentäre 
Anaphylaxie,  der  aus  einem  Vortrag  auf  dem 
XVII.  internationalen  Kongreß  für  Medizin  in 
London  hervorgegangen  ist. 

Die  Anaphylaxie   ist   keineswegs   nur   ein   für 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


45 


Mediziner  wichtiges  Gebiet.  Im  Gegenteil  ist  es 
notwendig,  daß  die  Biologen  sich  in  diese  Pro- 
bleme, die  mit  den  Fragen  der  Immunitätswissen- 
schaft in  engstem  Zusammenhange  stehen,  in  weit 
größerem  Umfange  vertiefen.  Alle  diese  Gebiete 
gehören  ja  auch  eigentlich  weniger  zur  Medizin 
als  zur  Biologie,  wie  schon  seit  langer  Zeit  H.  Much 
erkannt  hat,  der  sie  unter  dem  Namen  „Patho- 
logische Biologie"  zusammenzufassen  versuchte. 
So  ist  das  Werk,  das  sich  trotz  seiner  Übersetzung 
durch  einen  äußerst  guten  Stil  auszeichnet,  nicht 
nur  Medizinern,  sondern  auch  jedem  biologisch 
interessierten  Wissenschaftler  zu  empfehlen,  zu- 
mal gerade  die  Anaphylaxielehre  sich  nicht  in 
kleinste  Einzelheiten  verliert,  sondern  die  Zusam- 
menhänge und  das  Wechselspiel  der  einzelnen 
Faktoren  im  Körper  betrachtet.  Collier. 


Schottler,  Dr.  W.,  Der  Vogelsberg,  sein 
Untergrund  und  Oberbau.  Eine  gemein- 
verständliche geologische  Heimatkunde.  Mit 
4  Tafeln  und  30  Textabbildungen.  Braun- 
schweig 1920.  G.  Westermann. 
Das  vorliegende  Buch  bildet  das  12.  Heft  der 
deutschen  Heimatgeologie,  die  von  Dr.  C.  Mord- 
ziol  in  Verbindung  mit  Fachgenossen  herausge- 
geben wird.  Das  ansprechend  geschriebene  Werk 
ist  der  Niederschlag  jahrelanger  Forschungen,  die 
der  Verf  als  kartierender  Landesgeologe  in  Vogels- 
berg angestellt  hat.  Im  Gegensatz  zu  den  schon 
vorhandenen  Führern  ist  das  Büchlein  als  eine 
volkstümliche  Heimatkunde  von  Oberhessen  ge- 
schrieben, die  zugleich  als  Einführung  in  die  Geo- 
logie dienen  kann.  Untergrund  und  Oberbau  sind 
hierbei  möglichst  gleichmäßig  berücksichtigt.  Nach 
einer  kurzen  Betrachtung  der  heutigen  Landober- 
fläche werden  auf  74  Seiten  die  einzelnen  For- 
mationen vomSilur  bisTertiär  mit  ihren  organischen 
Resten  und  Mineralschätzen  behandelt,  während 
der  größte  Teil  der  restlichen  94  Seiten  dem  Auf- 
bau des  alten  Vulkans  gewidmet  ist.  An  der 
Hand  guter  Abbildungen  werden  uns  die  charakte- 
ristischen Vorkommen  der  Basalte  mit  ihren 
Schlackenagglomeraten  und  Tuffen  vor  Augen 
geführt.  Die  Schilderung  der  Diluvialzeit  mit 
ihren  eiszeitlichen  Bildungen,  die  Entstehung  des 
Lösses  und  der  Torfmoore  bildet  den  Abschluß 
des  Werkes.  Ein  ausgedehntes  Ortsverzeichnis 
sowie  eine  Zusammenstellung  der  wichtigsten 
geologischen  Karten  und  Schriften  über  Ober- 
hessen erhöhen  den  Wert  derselben.  30  gut  aus- 
gewählte Textabbildungen  und  4  Tafeln  mit  Pro- 
filen erläutern  aufs  beste  das  Dargestellte.  Somit 
dürfte  dies  Werkchen  nicht  nur  dem  Naturfreunde 
reiche  Belehrung  bieten,  sondern  auch  dem  Fach- 
manne eine  willkommene  Gabe  sein.  Möge  dies 
treffliche  Büchlein  weit  über  die  Grenzen  von 
Hessen  hinaus  Interesse   und  Verbreitung   finden. 

Haupt. 

Fitschen,  J.,  Gehölzflora.    Ein  Buch  zum  Be- 
stimmen der  in  Deutschland  und  den  angrenzen- 


den Ländern  wildwachsenden  und  angepflanzten 
Bäume  und  Sträucher.  Mit  342  Abb.  8  ".  VIII, 
221  S.  Leipzig  1920,  Quelle  u.  Meyer. 
So  viele  Hilfsmittel  uns  zum  Bestimmen  der 
einheimischen  Blütenpflanzen  zur  Verfügung  stehen : 
Jeder,  der  sich  auch  mit  den  Gehölzen  abgibt, 
mußte  immer  wieder  als  empfindliche  Lücke  ein 
Buch  entbehren,  das  ihm  ermöglichte.  Bäume  und 
Sträucher  auch  im  blütenlosen  Zustande  zu  be- 
stimmen, besonders  aber  die  in  Gärten,  Anlagen, 
Parken  usw.  angebauten.  Diese  Lücke  will  vor- 
liegendes kleines  Buch  ausfüllen.  Es  enthält  nicht 
nur  alle  bei  uns  wildwachsenden  Holzgewächse, 
sondern  auch  die  bei  uns  angepflanzten  ausländi- 
schen, mit  Ausnahme  der  größeren  Seltenheiten. 
Dagegen  sind  Bastarde,  Abänderungen  usw.  in 
größerem  Umfange  mit  angeführt.  Die  Anord- 
nung ist  die  in  neueren  Bestimmungsbüchern 
übliche  dichotomische ;  als  Merkmale  sind  in  erster 
Linie  die  an  beblätterten  Zweigen  sichtbaren,  erst 
in  zweiter  Linie  die  Blüten  und  Früchte  heran- 
gezogen. Eine  kleine  Sondertabelle  behandelt  die 
gefülltblütigen  Holzgewächse.  Die  Bearbeitung 
ist,  wie  bei  dem  Rufe  und  der  Erfahrung  des 
Verfassers  nicht  anders  zu  erwarten,  sehr  geschickt ; 
es  sind  stets  leicht  kenntliche,  scharf  charakte- 
risierte Merkmale  herangezogen  und  durch  klare, 
charakteristische  Abbildungen  deutlich  gemacht. 
Eine  Anzahl  Probebestimmungen  führte  jetzt, 
Mitte  Oktober,  sicher  und  ohne  besondere  Schwierig- 
keiten zum  Ziele.  Die  Ausstattung  ist  eine  (ür 
die  jetzigen  Verhältnisse  sehr  gute.  So  wird  das 
kleine  Buch  jedem,  der  mit  Gehölzen  zu  tun  hat 
oder  sich  dafür  interessiert,  zur  Freude  gereichen 
Reh. 

Franz,  V.,  Ursprüngliches  in  der  warm- 
blütigen Tierwelt  der  Kriegsgebiete, 
in :  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege ,  heraus- 
gegeben von  H.  Conwentz,  Band  6,  Heft  3, 
S.  313  —  412.  Berlin  1919. 
Deutschland  ist  an  warmblütigen  Tieren  wesent- 
lich ärmer  als  Rußland,  die  Karpathenländer  und 
die  Balkanhalbinsel.  Die  Fauna  des  nordöstlichen 
F"rankreichs,  das  der  Verf.  während  des  Feldzugs 
aus  eigener  Anschauung  kennen  lernte,  zeigt  in- 
folge stärkerer  Besiedlung  und  ausgiebiger  wirt- 
schaftlicher Pflege  des  Landes  zwar  viel  weniger 
Ursprünglichkeit  als  diejenige  Rußlands,  übertrifi"t 
aber  an  Reichtum  bei  weitem  die  Tierwelt  der 
meisten  Gegenden  Deutschlands.  Den  Ausdruck 
„Ursprünglichkeit"  möchte  der  Verf.,  zumal  bei 
der  Fauna  des  Westens,  allerdings  in  bedingtem 
Sinne  verstanden  wissen.  Er  besagt  nur,  daß 
manche  Arten  dort  zahlreicher  auftreten  und  sich 
günstigerer  Existenzbedingungen  erfreuen  als  bei 
uns.  Wildkatze,  Fuchs,  Marder,  Fischotter,  Wild- 
schwein, Raubvögel,  Krähen,  Haselhuhn,  Wachtel, 
wohl  auch  Wiedehopf,  Waldschnepfe  und  Grau- 
reiher, sind  im  allgemeinen  in  Ost-  und  West- 
europa häufiger  als  in  Deutschland.  Für  den 
Osten   nennt   der  Verf.   ferner  Bär,  Wolf,   Luchs, 


46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Wisent,  Elch,  Adlerarten,  Uhu,  Kolkrabe,  Auer- 
und Birkwild ,  weißen  und  schwarzen  Storch, 
Blaurake,  für  den  Südosten  außerdem  Geier, 
Kaiseradler,  Edelreiher,  Purpurreiher,  zahlreiche 
Schwimmvögel ,  Steinhuhn ,  Dohle ,  Zwergtrappe 
und  Elster.  Manche  Tierarten  führen  in  den 
Kriegsgebieten  noch  eine  ursprünglichere  Lebens- 
weise als  in  Deutschland.  Ob  die  Vorliebe  der 
Misteldrosseln  Nordfrankreichs  und  Belgiens  für 
offenes,  parkähnliches  Gelände  in  diesem  Sinne 
gedeutet  werden  darf,  ist  fraglich.  Sicher  aber 
ist  die  Amsel  in  Frankreich  ebenso  wie  in  Polen 
noch  der  scheue  Waldvogel,  der  sie  in  Deutsch- 
land einst  war.  Im  Walde  brütend  fand  man  im 
Rokitnogebiet  und  im  Urwalde  von  Bialowieza 
den  bei  uns  ganz  an  menschliche  Bauwerke  ge- 
wöhnten Mauersegler.  Auch  weißer  Storch  und 
Haussperling  bevorzugen  im  Südosten  hier  und 
da  Bäume  als  Niststätten  statt  menschlicher  Bau- 
werke. Die  Armut  Deutschlands  an  größeren 
wildlebenden  Tieren,  die  nicht  nur  bei  einem  Ver- 
gleich mit  den  östlichen  Nachbarländern,  sondern 
auch  bei  einer  Betrachtung  Frankreichs  deutlich 
hervortritt,  ist  zweifellos  eine  Folge  der  wirt- 
schaftlichen Pflege  unseres  Landes.  „Der  Fort- 
schritt der  Bodenkultur  konnte  und  durfte  nicht 
aufgehalten  werden;  aber  durch  die  schonungs- 
lose Vernichtung  der  alten  Vegetation  in  Wald 
und  Feld  und  durch  die  unmäßige,  durch  Prämien- 
zahlungen unterstützte  Verfolgung  des  Raubwildes 
ist  unsere  Tierwelt  mehr,  als  unvermeidlich  war, 
beeinträchtigt  worden."  F.  Pax  (Breslau). 


Grossmann,  Prof.  Dr.  H.,  Fremdsprachiges 
Lesebuch  für  Chemiker.  Leipzig  1920, 
Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth.  28,20  M. 
Der  Verf.,  der  während  des  Krieges  durch 
zahlreiche  Veröffentlichungen  über  den  Wirt- 
schaftskampf der  chemischen  Industrien  der  krieg- 
führenden Länder  hervortrat,  setzt  seine  damalige 
im  besten  Sinne  nationale  Arbeit  in  diesem 
Buche  fort.  Mehr  denn  je  kommt  es  für  unsere 
chemische  Wissenschaft  und  Industrie  darauf  an, 
jetzt,  wo  man  uns  trotz  des  angeblichen  „Friedens"- 
zustandes  von  der  internationalen  Arbeit  auszu- 
schließen willens  ist,  zu  zeigen,  daß  ganz  gewiß 
nicht  w  i  r  unter  solcher  wissenschaftlichen  Kalt- 
stellung zu  leiden  haben.  Es  erübrigt  sich  zu 
erläutern,  daß  und  warum  die  chemischen 
Arbeiten  Deutschlands  an  Umfang  und  Inhalt 
nach  wie  voran  erster  Stelle  im  internationalen 
Wettbewerb  stehen.  Um  diese  unsere  vielbe- 
neidete Stellung  zu  behaupten,  um  sie  zu  festigen, 
ist  es  nötig,  daß  wir  die  Torheit  der  Feinde 
nicht  nachmachen,  nämlich  in  falscher  Über- 
heblichkeit zu  glauben,  es  geht  auch  ohne  die 
andern.  Der  Verf.  betont  in  seinem  Vorwort 
darum  mit  Recht,  daß  es  jetzt  „notwendiger  als 
früher  erscheint,  daß  die  deutschen  Chemiker  in 
die  Lage  versetzt  werden,  die  Literatur  des  Aus- 
landes im  Original  kennen  zu  lernen  und  zu  ver- 
stehen." 


Diesem  Zwecke  dient  das  vorliegende  Buch 
zweifellos  in  anerkennenswerter  Weise.  In  21  Ab- 
schnitten in  französischer  und  englischer  Sprache 
sind  Lesestücke  gegeben  worden,  deren  Thema 
ausschließlich  dem  Gesamtgebiet  der  reinen  und 
angewandten  Chemie  angehört.  Da  zum  Teil 
höchst  „moderne"  Angelegenheiten  darin  abge- 
handelt sind,  wie  z.  B.  „Les  soies  de  collodion", 
„Fixation  of  Atmospheric  Nitrogen"  usw.,  so  darf 
man  hofifen,  daß  allein  das  textliche  Interesse 
eine  eindringlichere  Beschäftigung  mit  dem  rein 
Philologischen  begünstigen  wird.  Um  freilich  die 
beiden  Sprachen  „so  weit  zu  beherrschen,  daß 
man  Verhandlungen  darin  zu  führen  imstande 
ist",  muß  weit  mehr  geschehen  als  das  noch  so 
aufmerksame  Durchlesen  dieses  Buches.  Diese 
Absicht  kann  nach  meiner  Schätzung  nur  durch 
„gemeinschaftliche  seminaristische  Übungen"  voll 
erfüllt  werden.  Auf  diese  mußte  der  Verf.  den 
Haupt  ton  in  seinem  ein  wenig  flüchtig  ge- 
schriebenen Vorwort  legen  I  Erst  die  sprach- 
lichen Übungen  vermögen,  so  wie  das  che- 
mische Praktikum,  eine  einigermaßen  flotte 
Behandlung  fremder  Texte  und  Aussprachen  zu 
gewährleisten.  Es  ist  doch  leider  Tatsache,  daß 
nur  wenige  unserer  Chemiestudierenden  genügend 
Begeisterungsfähigkeit  haben,  um  der  Chemie 
willen  Sprachstudien  zu  treiben.  Das  Seminar 
mit  Gleichstrebenden  könnte  da  Segensreiches 
wirken.  Und  für  es  ist  das  Buch  von  Groß- 
mann  in  der  Tat  eine  sehr  brauchbare  und  er- 
quickliche Unterlage. 

Ein  Wörterverzeichnis  ist  für  eine  Neu- 
auflage dringend  zu  empfehlen.  Viele  Kunstaus- 
drücke, die  übrigens  in  den  üblichen  Lexiken 
großenteils  fehlen,  würden  alsdann  dem  leichten 
Lesen  kein  Hindernis  mehr  sein. 

Im  übrigen  ist  die  Sauberkeit  und  Lesbarkeit 
des  Druckes  anzuerkennen.  Form  und  Einband 
sind  einwandfrei.  H.  Heller. 


Legahn,      Dr.     med.     A.,      Physiologische 
Chemie   II.  Dissimilation.      3.  verb.  Aufl. 
Berlin  und  Leipzig   1920,   Vereinigg.   wissensch. 
Verleger,  W.  de  Gruyter  &  Co.   2,ioM.  u.  ioo"/o. 
Die    in    Einzelheiten     sehr    verbesserte    Neu- 
auflage   hat  den   Charakter   eines   angenehm    les- 
baren   und    durch    verständnisvolle    Stoffauswahl 
auffallenden  Repetitoriums    bewahrt.     Als  solches 
wird    es    insbesondere   Studierenden    der   Medizin 
und    Naturwissenschaftlern     beste    Dienste    tun 
können.     Es  sind  nacheinander  die  Körperorgane, 
der   Eiweißabbau,    die    Exkrete,   schließlich  Stoff- 
wechselanomalien   und    postmortale    Zersetzungen 
behandelt.      Neu    ist    ein    Kapitel    über    die    Li- 
poide.     Hierzu  ist  zu  bemerken,    daß  die  Mem- 
brantheorie   von  O verton  keineswegs  allgemein 
angenommen  worden  ist. 

Im  Literaturverzeichnis  sollten  die  in  Buch- 
form erschienenen  Arbeiten,  sowie  überhaupt 
einige  Lehrbücher  hervorgehoben  werden. 

H.  H. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


47 


Anregungen  und  Antworten. 


Die  Ausbreitung  eines  dominanten  Merkmales  in  der  freien 
Natur.  Den  Anlaß  zu  den  folgenden  Bemerkungen  bildet  der 
Artikel  von  Dr.  Hugo  Fischer  in  dieser  Zeitschrift.')  In 
dem  Hauptpunkte  zwar,  in  der  Überzeugung  von  der  hohen 
Bedeutung  der  Mutationen  und  der  Orthogenesis  bei  der  l'^ot- 
stehung  der  Arten,  stimme  ich  mit  dem  Verfasser  durchaus 
überein.  In  einem  Punkte  aber  ist  seine  Auffassung  richtig 
zu  stellen.  Er  nimmt  nämlich  an,  daß  ein  durch  Mutation 
neu  aufgetretenes  Merkmal,  wenn  es  nach  den  Mendelschen 
Regeln  erblich  und  zwar  dominant  ist,  daß  es  dann  bei  freier 
Kreuzung  von  selbst,  d.  h.  ohne  daß  es  Selektionswert  be- 
sitzt, sich  weiter  ausbreiten  und  „wie  eine  ansteckende  Krank- 
heit allmählich  die  ganze  Sippe  ergreifen"  werde.  Diese 
falsche  Auffassung  ist  mir  auch  sonst  in  der  Literatur  wieder- 
holt begegnet.  Johannsen  warnt  in  seiner  Erblichkeits- 
lehre'-) davor.  ,, Die  Erscheinung  der  Dominanz  hat  .  .  .  ge- 
legentlich zu  der  irrigen  Auffassung  Veranlassung  gegeben,  es 
müßte  die  Dominanz  ein  sukzessives  Überwiegen  dominierend 
charakterisierter  Individuen  mitführen.  Davon  ist  aber  keine 
Rede."  Ebensowenig  kann  andererseits  auch  von  einem  all- 
mählichen Verschwinden  eines  rezessiven  Merkmales  als  Folge 
der  Mendelschen  Gesetze  allein,  d.  h.  ohne  Eingreifen  von 
Selektion  die  Rede  sein. 

Man  kann  sich  durch  eine  einfache  Rechnung  von  diesen 
beiden  Tatsachen  überzeugen.  Sie  ist  1908  von  Hardy^) 
veröffentlicht.  Ich  habe  die  kleine  Rechnung  bald  nach  dem 
Bekanntwerden  der  Mendelschen  Gesetze  ebenfalls  durchge- 
führt und  dasselbe  nur  noch  etwas  allgemeinere  Ergebnis 
erhalten. 

Die  Aufgabe  ist  folgende :  In  einer  Population  tritt  eine 
Art  in  zwei  Varietäten  auf,  die  sich  zunächst  nur  durch  ein 
Merkmal  unterscheiden  sollen.  Außerdem  können  auch  Bastarde 
zwischen  den  beiden  Varietäten  vorhanden  sein,  die  sich,  wenn 
vollkommene  Dominanz  des  einen  Merkmales  vorliegt,  von  der 
einen  Varietät  äußerlich  nicht  unterscheiden.  Die  Anzahlen 
der  Individuen  der  ersten  Varietät  zu  denen  der  zweiten 
Varietät  zu  den  Bastarden  verhalten  sich  wie  p:q:x,  wobei 
X  im  speziellen  auch  gleich  o  sein  kann.  Die  Individuen 
kreuzen  sich ,  ohne  daß  irgendwelche  Zuchtwahl  stattfindet, 
d.  h.  nach  den  Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeitslehre.  Für 
die  Vererbung  des  unterscheidenden  Merkmales  gelten  die 
Mendelschen  Regeln.  Welches  ist  dann  das  Verhältnis  der 
Anzahlen  der  Individuen  reiner  Rasse  der  ersten  Varietät  (P) 
zu  denen  reiner  Rasse  der  zweitenVarietät  (Q)  zu  den  Bastarden  (X) 
in  der  nächsten  und  den  weiter  folgenden  Generationen  ? 

Die  drei  Gruppen  von  Individuen  können  auf  6  ver- 
schiedene Weisen  zu  zweien  kopulieren ;  es  können  nämlich 
gebildet  werden  die  Kopulae  PP,  PQ,  PX,  QQ,  QX,  XX. 
Die  Wahrscheinlichkeiten  dieser  Kombinationen  verhalten  sich 
nach  den  Regeln  der  elementaren  Wahrscheinlichkeitslehre  wie 
p(p —  l);  2pq  :2px;  q(q  —  l):2qx:x(x  —  l).  Hierfür  kann  man, 
wenn  die  Anzahl  der  vorhandenen  Individuen  nicht  gar  zu  klein 
ist,  mit  großer  Annäherung  setzen  p-:  2pq  :  2px:  q- :2qx:x'^. 
Nach  den  Mendelschen  Regeln  gehen  nun  hervor: 


Aus  der  Kombi- 
nation 

PP 

PQ 

PX        QQ        QX 

XX 

Nachkommen  in 
der  ersten  Gene- 
ration 

lauter 
P 

lauter 
X 

V2P 
V2.X 

lauter 
Q 

VaQ 

V,x 

'/*p 

V«Q 

V,x 

Daraus  erhält  man  die  relative  Häufigkeit  der  verschiedenen 
Individuen  in  der  ersten  Nachkommengeneration.  Es  ver- 
halten sich  die  Zahl  der  Individuen  P  zu  den  Q  zu  den  X  wie 

(p+£^(,  +  })^.(p  +  ^)(,  +  ^). 

*)  Hugo  Fischer:  „Orthogenesis,  Mutation,  Auslese." 
Naturw.  Wochenschr.   1920  Nr.  36. 

^)  W.  Johannsen:  , .Elemente  der  exakten  Erblichkeits- 
lehre."    G.  Fischer,  Jena   1909,  S.  378. 

^)  Hardy;  „Mendelian  Proportions  in  a  Mixed  Popu- 
lation."    Science  N.  S.  1908,  Bd.  28. 


Für  die  folgende  Generation  erhält  man  auf  entsprechen- 
dem Wege  das  Verhältnis  der  relativen  Häufigkeiten  wiederum 

P  4-  ^f  ^  (.  +  'tf  -  (P  +  I)  K  I).     -- 

kommt  also  zu  dem  Ergebnis,  daß  schon  in  der  ersten  Nach- 
kommengeneration ein  Gleichgewichtszustand  sich 
herstellt,  der  bei  weiterer  freier  Kreuzung  nicht  wieder  ver- 
lassen wird. 

Zu  demselben  Ergebnis  kommt  man  leicht  auch,  falls  das 
betrachtete  Merkmal  in  drei  oder  beliebig  vielen  verschiedenen 
Ausprägungen  auftritt.  Im  besonderen  vermehrt  sich 
nach  der  ersten  Kreuzung  die  relative  Häufig- 
keit der  d  ominan  tm  erkm  aligen  Individuen  nicht 
weiter.  Sie  kann  nur  zunehmen,  wenn  das  Merkmal  durch 
wiederholte  Mutationen  immer  neu  erzeugt  wird  oder  wenn 
es  positiven  Selektionswert  besitzt.  Johannes  Reichel. 


Einige  Bemerkungen  zu  dem  Aufsatz  von  H.  Fischer 
„Orthogenesis,  Mutation,  Auslese"  (in  Nr.  36,  1920,  S.  561 — 566). 
Über  die  Möglichkeit  einer  Artveränderung  durch  direkte  Ein- 
wirkung des  Milieus  zu  streiten,  hat  wenig  Zweck,  da  eine 
sichere  Entscheidung  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der 
experimentellen  Forschung  nicht  möglich  ist.  Immerhin  dürfte 
Fischer  (S.  561,  Sp.  2,  Z.  24)  die  N i c h t vererbbarkeit  auch 
körperlich  erworbener  Eigenschaften  nicht  als  erwiesene  Tat- 
sache hinstellen.  Er  dürfte  höchstens  sagen,  die  Vererbbar- 
keit derselben  sei  bisher  nicht  erwiesen,  was  natürlich  etwas 
ganz  anderes  ist.  Wird  doch  mancher  z.  B.  auf  Grund  der 
Umfärbungsversuche  Kammerers  mit  Salamandra  (wobei  nur 
eine  ganz  geringe  Spur  von.  Licht  zu  den  Keimzellen  dringt, 
also  sog.  Purallelinduktion  fast  ausgeschlossen  ist)  und  anderer, 
experimenteller  Daten  diese  Vererbbarkeit  somatischer  Merk- 
male sogar  für  wahrscheinlich  halten,  wenn  wir  von  allem 
nichtexperimentellem  Material  absehen,  auf  das  ja  auch  F.  — 
mit  Recht  —  wenig  Wert  legt,  wie  aus  einer  Bemerkung 
gegen  O.  Hertwig  (dessen  extreme  Stellungnahme  mit  Recht 
kritisiert  wird)  hervorgeht.  Das  hält  F.  jedoch  nicht  ab,  als 
Beispiel  für  die  Wirkung  der  Auslese  selbst  einen  nichtexperi- 
meniellen,  also  nicht  sicheren  „Fall"  zu  verwenden  (Anm. 
S.  562).  Daß  alle  Organismenarten  durch  irgendeine  Milieu- 
bedingung verändert  werden  müßten,  noch  dazu  in  gleichem 
Sinne,  hat  wohl  noch  niemand  behauptet,  Fischers  diesbe- 
zügliche Erörterungen  sind  also  überflüssig  (S.  562,  Sp.  l).  — 
Die  auf  den  späteren  Seiten  mitgeteilten  Fälle  von  nicht 
nützlichen  Merkmalen  —  daß  es  solche  gibt,  hat  schon  be- 
sonders Nägeli  hervorgehoben  (Organisationsmerkmale)  — 
sind  allerdings  kaum  durch  Auslesewirkung  zu  erklären,  weniger 
sicher  sprechen  sie  gegen  die  sog.  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften.  —  Übrigens  sind  die  Ansichten  nicht  bloß  über 
diese  letztere,  sondern  auch  über  die  von  F.  bevorzugte 
Mutationstheorie  recht  verschieden.  Denn  das  bisher  beige- 
brachte experimentelle  Mutationsmaterial  ist  für  die  Evolution 
so  gut  wie  werllos,  so  daß  als  (noch  dazu  indirekte)  Stütze 
dieser  Ansicht  eigentlich  nur  der  Mendelismus  mit  seinen  Erb- 
einheiten in  Betracht  kommt.  —  Auf  Seite  562,  Sp.  I,  Z.  8 
weist  F.  hin  auf  „die  Frage  der  Artbastarde,  die  allein  mit 
dem  einfachen  Mendelismus  nicht  aufzuklären"  sei.  Das  ist 
mindestens  mißverständlich.  Denn  daß  Artbastarde  ebenfalls 
mendeln,  haben  die  Artkreuzungsversuche  Baurs,  Lotsys 
und  anderer  mindestens  wahrscheinlich  gemacht,  wenn  nicht 
erwiesen.  Allerdings  handelt  es  sich  hierbei  nicht  um  t  oder  2, 
sondern  uro  eine  größere  Zahl  unabhängig  mendelnder  Fak- 
toren. Vielleicht  soll  sich  hierauf  Fischers  unklare  Be- 
merkung vom  „einfachen"  Mendelismus  beziehen,  wobei  man 
allerdings  nicht  wüßte,  bei  wieviel  Faktoren  dieser  einfache 
Mendelismus  aufhört.  —  Unklar  ist  auch  die  Definition  der 
Orthogenesis  (auf  S.  563,  Sp.  1,  Z.  29)  als  „Summe  erblicher 
Abänderungen,  die  in  gleicher  Richtung  erfolgen".  Hierbei 
ist  nicht  zu  erkennen,  ob  gemeint  ist  das  gleichzeitige  Auf- 
treten einer  Reihe  von  Organismen,  die  in  gleicher  Weise 
von  der  Norm  abwichen,  oder  das  Auftreten  einer  Reihe  von 
Veränderungen  nacheinander,  die  sich  in  der  gleichen  Richtung 
bewegen,    bei  demselben  Organismus  oder  wenigstens  in  der- 


48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3 


selben  Deszendenzreihe.  Dort  scheint  es,  als  wäre  beides  ge- 
meint (vgl.  S.  563,  Abschnitt  2).  —  Ganz  verfehlt  ist  end- 
lich der  Versuch,  für  die  Orthogenesis  (im  ersten  Sinne)  den 
Mendelismus  heranzuziehen  (S.  563,  Z.  54),  auf  den  ich  hier 
nicht  eingehe,  da  es  schon  von  anderer  Seite  kritisiert  wurde 
(s.  oben).  W.  Peter. 


Hellsehen  nnd  Namenraten.  Das  Referat  von  Wa sie- 
le wski  über  Tischners  Ausführungen:  ,,Über  Telepathie 
und  Hellsehen"  (diese  Zeitschrift  N.  F.  19,  Nr.  28)  veranlaßt 
mich,  hier  einige  Bemerkungen  vorzubringen,  die  auf  das  beim 
Hellsehen  stattfindende  psychische  Geschehen  ein  höchst  merk- 
würdiges Streiflicht  werfen.  Ich  kenne  die  Originalarbeit 
Tisch n er s  noch  nicht,  kann  mich  also  derzeit  nur  auf  obiges 
Referat  stützen.  In  diesem  steht  als  gelungenes  Beispiel  des 
Hellsehens  folgendes:  Die  Versuchsperson  sagt  beim  Be- 
trachten des  verschlossenen  Zettels:  ,,Ganz  schön  geschrieben, 
fremder  Name"  und  produziert  dann  die  Namen:  Zoroa, 
Zarathust,  Zarastro  (richtiger  Name  war  Sarastro).  Wie  man 
sieht,  wurde  der  aufgegebene  Name  nicht  völlig  richtig,  aber 
doch  mit  sehr  grofler  Annäherung  gefunden,  aber  —  und  das 
ist  sehr  wichtig  —  nicht  auf  einmal,  sondern  in 
stufenweisem,  tastendem  Heranraten  erarbeitet.  Ks 
ist,  als  hätte  die  Versuchsperson  das  aufgegebene  Wort  an- 
fangs wie  im  Nebel  gesehen  und  hätten  sich  ihr  allmählich 
einzelne  Buchstaben  (Vokale  und  Konsonanten)  mehr  oder 
'  minder  aufgehellt,  bis  das  ganze  Wort  klar,  d.  h.  also  richtig 
zum  Vorschein  kam. 

Genau  dasselbe  Phänomen  nun  beobachtet  man  in 
bestimmten  Fällen,  wenn  jemand  einen  ihm  aus  dem  Ge- 
dächtnis entschwundenen  Namen  wieder  aufsuchen  will.  Es 
kann  dies  häufig  sofort  oder  wenigstens  plötzlich  in  dem 
Sinne  gelingen,  daß  nach  einigem  Nachdenken  gleich  das 
richtige  Wort  hervorspringt,  oder  aber  es  gelingt  oft  überhaupt 
nicht.  In  bestimmten  Zwischenfällen  jedoch  kann  infolge 
langsamen  Ablaufes  des  psychischen  Prozesses  dieser  analysiert 
werden,  wobei  es  gelingt,  die  einzelnen  Phasen  dieses  Vor- 
ganges festzuhalten.  Ich  gebe  einige  einfachere  von  mir  ge- 
sammelte Beispiele,  in  denen  das  jeweils  letzte  Wort  das  ur- 
sprünglich vergessene,  aber  allmählich  wiedergefundene  Wort 
darstellt.  (Die  Wörter  sind  nicht  orthographisch ,  sondern 
mehr  oder  weniger  phonetisch  geschrieben);  I.  oto,  poto, 
ponto,  pontis.  —  2.  matuschek,  malischek,  marlinek.  — 
3.  pastinak,  pasternek,  partinek,  partonek.  —  4.  garibaldi, 
kanibali,  chinaldi,  califatti.  —  5.  heberdey,  humperdink, 
korumpey.  — 

Auch  hier  schwebt  eine  Art  Nebelbild  des  vergessenen 
Wortes  vor:  man  beachte,  daß  schon  der  erste  Schritt  in  der 
Anzahl  der  Silben,  oft  auch  in  der  Vokalfolge,  in  der  Bildung 
charakteristischer  Buchstabenkomple.xe  oder  Silben  bereits 
große  Ähnlichkeit  mit  dem  Endwortc  aufweist.  Stufenweise 
werden  dann  unrichtige  Buchstaben  oder  Kombinationen  aus- 
geschaltet, immer  richtigere  eingefügt,  bis  das  richtige  Wort 
hervorkommt. 

Das  nähere  Studium  dieses  Heranratens  birgt  eine  Fülle 
interessantesten  Details  und  allgemeiner  Gesetzmäßigkeiten, 
über  die  ich  gelegentlich  anderswo  berichten  will. 

Aber  auch  auf  anderen  Gebieten  spielt  das  Heranraten 
eine  auffallende  Rolle.  Am  besten  bekannt  ist  es  wohl  beim 
Kopfrechnen,  wobei  das  Wesen  desselben  in  einer  Zerlegung 
des  Rechnungsvorganges  in  Teiloperationen,  in  Annäherungs- 
Schritte  besteht.  Auch  die  Art  und  Weise,  wie  die  rechnenden 
Pferde  ihre  Aufgabe  lösen,  ist  wenigstens  in  manchen  Fällen 
als  ein  Heranraten  erkannt  worden.  In  der  Traumarbeit  auf- 
tretende   Wortbildungen     erinnern     durch    den    Verlauf    ihrer 


Bildung  mitunter  ebenfalls  an  ähnliche  Vorgänge,  Verlesen 
und  Versprechen  sind  damit  in  Zusammenhang  zu  bringen. 
Versuch  und  Irrtum  (trial  and  error)  stehen  damit  ebenfalls 
in  gewisser  Beziehung.  Und  die  Als-Ob-Philosophie  weist  in 
manchen  Fällen  von  Fiktionsbildung  auf  ähnliche  Erschei- 
nungen hin. 

Ich  konnte  hier  alle  diese  Dinge  nur  kurz  andeuten  und 
behalte  mir  ausführlichere  Mitteilungen  vor.  Jedenfalls  werfen 
die  hier  skizzierten  Fälle,  vor  allem  das  Wiederauffinden 
vergessener  Namen  durch  Gedächtnisarbeit  ein 
höchst  merkwürdig  es  Schlag  licht  aut  verschiedene 
Gebiete  psychischen  Geschehens  und  werden 
vielleicht  auch  bei  der  Untersuchung  gewisser 
Phänomene  des  Hellsehens  zu  überraschenden 
Ergebnissen  führen. 

Klosterneuburg  bei  Wien.  L.  Linsbauer. 


Dem  sehr  beachtenswerten  Aufsatz  von  O.  Schnurre: 
„Die  Schwalben  in  der  deutschen  Urlandschaft".  Naturw. 
Wochenschr.  1920,  Nr.  42,  S.  665  möchte  ich  noch  folgendes 
ergänzend  hinzufügen.  Da  unserer  Rauch-  oder  Stallschwalbe 
in  Nordamerika  die  Scheunenschwalbe  {^Chelidon  erythrogaster 
Stcyn)  entspricht,  kann  vielleicht  deren  Lebensweise  über  das 
Urlcben  unserer  Rauchschwalben  Auskunft  geben.  Vor  der 
Besiedlung  Amerikas  durcli  die  Europäer  nistete  die  Scheunen- 
schwalbe in  hohlen  Bäumen,  unter  Vorsprüngen  der  Felsen, 
an  Klippen,  in  Erdhöhlungen,  Felsenritzen  und  ähnlichen  Ort- 
lichkeiten,  und  auch  heute  noch  hält  sie  in  den  westlichen 
Gebirgen  an  dieser  ihrer  primitiven  Nistweise  fest.  „Sobald 
die  Axt  des  fleißigen  Ansiedlers  erschallt,  schreibt  H.  Nehr- 
ung („Die  nordamerikanische  Vogelwelt",  Milwaukee  1891, 
S.  277),  ertönt  auch  das  Gezwitscher  dieses  traulichen  Men- 
schenfreundes wie  ein  Echo,  und  sobald  das  primitive  Block- 
haus inmitten  des  Waldes  errichtet  ist,  hängt  sie  auch  schon 
laut  zwitschernd  unter  der  Dachtraufe,  in  der  Spitze  des 
Giebels  oder  am  Dachsparren,  um  sich  einen  passenden  Platz 
für  ihren  Erdpalast  auszusuchen." 

Auf  Grund  dieser  Tatsachen,  sowie  auch  noch  auf  Grund 
anderer  Erwägungen  möchte  ich  daher  glauben,  daß  unsere 
Rauchschwalbe  in  der  deutschen  Urlandschaft  nicht  nur 
Steppen-  sondern  auch  Waldbewohner  war,  namentlich 
natürlich  in  der  Nähe  der  Wildwechsel  sowie  der  Futterplätze 
der  großen  Tiere  und  der  Lichtungen.  Und  wenn  wir  weiter 
in  die  Diluvialzeit  zurückgehen  und  ferner  bedenken,  daß  die 
Rauchschwalbe  fast  ausschließlich  im  Innern  der  Gebäude  zu 
brüten  pflegt,  so  wird  die  Annahme  nicht  ohne  weiteres  von 
der  Hand  gewiesen  werden  können,  daß  sie  auch  am  Ein- 
gang der  damals  außergewöhnlich  wildreichen  Höhlen  ge- 
brütet haben  mag.  Dr.  W.  R.  Eckardt  in  Essen. 


Literatur. 

Oppenheimer,  Prof.  Dr.  C,  Kleines  Wörterbuch  der 
Biochemie  und  Pharmakologie.  Berlin  und  Leipzig  '20,  de 
Gruyter  &  Co.      16  M. 

Großmann,  Prof.  Dr.  H.,  Fremdsprachliches  Lesebuch 
für  Chemiker.     Leipzig  '20,  Joh.  A.  Barth.     28,20  M. 

Planck,  M.,  Die  Entstehung  und  bisherige  Entwicklung 
der  Quantentheorie.     Ebenda.     4  M. 

Boveri-Boner,  Dr.  Y. ,  Beiträge  zur  vergleichenden 
Anatomie  der  Nephridien  niederer  Oligochäten.  Mit  6  Text- 
abb.  u.  3  Tafeln.     Jena  '20,   G.  Fischer.     8  M. 

Czapek,  Prof.  Dr.  Fr.,  Biochemie  der  Pflanzen.  2.  Aufl. 
2.  Bd.     Ebenda.     66  M. 


Inhalt:  M.  Kästner,  Bemerkungen  zur  Entstehung  und  Besiedlung  des  Trockentorfs.  S.  33.  —  Bücherbesprechungen: 
Ad.  Stöckhardt,  Schule  der  Chemie.  S.  41.  Wo.  Pauli,  Kolloidchemie  der  Eiweißkörper.  S.  42.  B.  Bavink, 
Einführung  in  die  anorganische  Chemie.  J.  Klein,  Chemie,  Anorganischer  Teil.  S.  43.  K.  B.  Lehmann  und  R. 
O.  Neu  mann,  Atlas  und  Grundriß  der  Bakteriologie.  S.  44.  Ch.  Riebet,  Anaphylaxie.  S.  44.  W.  Schottler, 
Der  Vogelsberg,  sein  Untergrund  und  Oberbau.  S.  45.  J.  Fitschen,  Gehölzflora.  S.  45.  V.  Franz,  Ursprüngliches 
in  der  warmblütigen  Tierwelt  der  Kriegsgebiete.  S.  45.  H.  Grossmann,  Fremdsprachiges  Lesebuch  für  Chemiker. 
S.  46.  A.  Legahn,  Physiologische  Chemie  II.  Dissimilation.  S.  46.  —  Anregungen  und  Antworten :  Die  Ausbreitung 
eines  dominanten  Merkmales  in  der  freien  Natur.  S.  47.  Einige  Bemerkungen  zu  dem  Aufsatz  von  H.  Fischer  ,, Or- 
thogenesis, Mutation,  Auslese".  S.  47.  Hellsehen  und  Namenraten.  S.  48.  Die  Schwalben  in  der  deutschen  Urland- 
schaft. S.  48.  —  Literatur:  Liste.  S.  48. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  41,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen   Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganzen  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  23.  Januar  1921. 


Nummer  4. 


Das  Typhetum  in  der  frühen  deutschen  Graphik. 

Von  Prof.  Dr.  Ernst  Küster  in  Gießen. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit   I   Abbildung  im  Text. 


Das  Streben  der  Zeichner  und  Maler  nach 
naturgetreuer  Wiedergabe  der  Pflanzenwelt  kennt 
zwei  Ziele:  das  eine  besteht  in  der  möglichst 
porträtähnlichen  Darstellung  eines  Pflanzenindivi- 
duums oder  einer  Pflanzenspezies,  bei  dem  anderen 
handelt  es  sich  um  eine  den  natürlichen  Verhält- 
nissen entsprechende  Auswahl  und  Verteilung  der 
Pflanzen  im  Bilde. 

Wie  sorgfältig  bereits  die  Künstler  des 
15.  Jahrhunderts  die  Merkmale  zahlreicher  Pflanzen- 
arten studiert  und  im  Bilde  wiedergegeben  haben, 
lehrt  ein  Blick  auf  die  Gemälde  der  frühen  Nieder- 
länder, auf  den  Genter  Altar,  auf  die  Werke  des 
Regier  v.  d.  Weyden,  Dirk  Bouts,  Hugo 
V.  d.  Goes  u.  a.  und  lehren  noch  eindringlicher 
die  Zeichnungen  eines  Dürer,  seine  „Rasen- 
stücke", seine  „Heilpflanzen"  [Aiiagallis  usw.),  sein 
Chelidonimn.  Hervorragend  als  Pflanzenbeobachter 
waren  Botticelli,  Leonardo  da  Vinci  ^) 
und  viele  andere  italienische  Künstler  des  Quattro- 
cento und  der  ihm  folgenden  Jahrzehnte. 

Von  der  Fähigkeit  der  Maler,  auch  die  Ver- 
teilung der  Pflanzenarten  auf  verschiedenartige 
Standorte  zu  studieren  und  das  Ergebnis  solcher 
Studien  künstlerisch  zu  verwerten,  indem  von 
ihnen  wohlcharakterisierte,  leicht  erkennbare 
Pflanzenformen  für  die  Kennzeichnung  der  im 
Bilde  dargestellten  Geländearten  verwendet  werden, 
gibt  uns  eine  recht  geringe  Zahl  von  Werken 
überzeugende  Kunde.  Die  ausgezeichneten  Pflan- 
zenkenner, als  welche  wir  die  Meister  des  Genter 
*  Altars  zu  bewundern  haben,  schenkten  ihr  Inter- 
esse nicht  nur  der  Morphologie,  sondern  auch  der 
Ökologie  oder  Standortslehre  der  ihnen  zugäng- 
lichen Pflanzen.  Rosen")  macht  darauf  aufmerk- 
sam, daß  die  Brüder  van  Eyck  im  Mittelbild 
ihres  Altarwerkes  (Brunnen  des  Lebens)  nicht  nur 
sehr  zahlreiche  Pflanzenarten  abbilden,  sondern 
auch  sehr  verständnisvoll  den  Standortsbedürfnissen 
der  Pflanzen  gerecht  werden:  Nasturtutm  offici- 
nalc  und  Cardamiiie  pratensis  lassen  die  Künstler 
in  der  Nähe  des  Baches  grünen,  Asperiila  odo- 
rata  wird  im  Schatten  untergebracht,  die  Wiese 
bevölkern  sie  mit  Wiesenpflanzen. 

Das  biologische  Verständnis   der  Brüder  van 


')  Vgl.  namentlich  R  o  s  e  n  ,  Die  Natur  in  der  Kunst,  1903, 
S.  309.  —  Ich  ergänze  seine  Bemerkungen  über  Leonardo 
mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  sich  dieser  auch  mit  dem  Bau 
des  £uJ>/ioriia-Zy3,Üiium  beschäftigt  und  mit  dieser  Pflanze 
ein  von  den  Malern  und  Graphikern  seiner  Zeit  nur  selten 
dargestelltes  Objekt  studiert  hat  (Zeichnung  in  Windsor). 

-)  Rosen,   1903,  a.  a.  O.  S.  72. 


Eyck  verdient  um  so  höhere  Bewunderung,  als 
es  ihr  Werk  vor  so  vielen  gleichzeitigen  und 
späteren  niederländischen  und  deutschen  Gemälden 
oder  graphischen  Erzeugnissen  verschiedenster 
Art  hervorragend  auszeichnet:  die  Sorgfalt  der 
Genter  steht  in  auffälligem  Widerspruch  zu  der 
Unbedenklichkeit,  mit  der  die  späteren  Künstler 
Akelei  und  andere  üppig  grünende  und  prächtig 
blühende  Gewächse  zwischen  den  Backsteinen  der 
Gemäuer  und  den  Steinfliesen  ihrer  Hallen  und 
Paläste  sich  entwickeln  lassen,  Taraxacum  neben 
ConvaUaria  stellen  und  anspruchsvolle  Garten- 
pflanzen ebendort  anbringen,  wo  wir  auf  ihren 
Bildern  das  Gras  nur  büschelweise  gedeihen  sehen. 
Die  Entdeckung,  daß  man  durch  richtige  Wahl 
der  dargestellten  Pflanzen  den  Schauplatz  der 
vom  Künstler  dargestellten  Handlung  hervorragend 
gut  charakterisieren  kann,  und  daß  in  vielen  Fällen 
bestimmter  Gewächse  gar  nicht  zu  entraten  ist, 
wenn  die  naturwahre  Darstellung  eines  bestimmten 
Schauplatzes  gelingen  soll ,  ist  erst  sehr  spät  ge- 
lungen.') Die  Maler  und  Graphiker  des  15.  Jahr- 
hunderts deuten  zwar  gelegentlich  gern  den  Wald 
an ,  in  dessen  Schatten  sich  irgendein  Vorgang 
abspielt,  begnügen  sich  aber  mit  der  Darstellung 
von  Bäumen,  ohne  die  einer  bestimmten  Baumart 
—  abgesehen  von  den  Eichen,  deren  charakte- 
ristische Blattform  den  Künstlern  früh  sich  einge- 
prägt hat  —  auch  nur  zu  versuchen.  Der  Blick 
auf  „Kulturformationen"  öffnet  sich  in  vielen 
frühen  Darstellungeti,  aber  wir  erkennen  die  Ab- 
sicht der  Künstler,  Äcker  und  Felder  usw.  darzu- 
stellen, mehr  aus  der  geometrischen  Felderung 
des  Geländes,  den  Zäunen  und  Hecken,  aus  aller- 
hand landwirtschaftlichen  Zutaten  als  aus  den 
botanischen  Merkmalen  der  in  Betracht  kommen- 
den Arten.  Mit  großer  Liebe  und  oft  mit  be- 
merkenswertem Geschick  bauen  Maler  und  Gra- 
phiker des  15.  und  16.  Jahrhunderts  tropische 
Wälder  und  phantastische  Vegetationen  auf,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  Adam  und  Eva  im  Paradies, 
die  Flucht  der  hl.  Familie  nach    Ägypten  -)   oder 

')  Die  griechische  Kunst  —  von  der  minoischen  bis  zur 
hellenistischen  Periode  —  macht  von  den  Pflanzen  als  Mitteln 
für  Charakterisierung  eines  Schauplatzes  keinen  nennenswerten 
Gebrauch  (wenn  man  von  den  Darstellungen  der  P/^/j-Sprosse 
und  -Früchte  und  der  dekorativen  Verwendung  der  Bäume  ab- 
sieht). Um  so  wirkungsvoller  ist  die  Art,  mit  der  die  Künstler 
des  alten  Ägyptens  sich  des  Lotos  und  des  Papyrus  bedienen, 
um  die  am  Flußufer  spielenden  Szenen  —  Jagd  .auf  Wasser- 
geflügel usw.  —   zu  kennzeichnen. 

'■')  Vgl.  Schenck,  H.,  Martin  Schongauers  Drachenbaum 
(Naturw.  Wochenschr.   1920,  Bd.   19,  Nr.  49,  S.  775). 


50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Johannes  den  Evangelisten  auf  Patmos  zu  zeigen. 
Selbst  dann,  wenn  naturwahr  gezeichnete  Palmen 
das  tropische  Ensemble  kennzeichnen  helfen  und 
phantasievoll  erdachte  Exotenformen  zurücktreten, 
kann  auch  diese  Art,  den  Schauplatz  der  Hand- 
lung durch  richtig  gewählte  Pflanzen  zu  charakte- 
risieren, nicht  mit  der  Beobachtungsgabe  der 
van  E  y  c  k  wetteifern. 

Unter  den  vielen  Formationen  der  einheimi- 
schen Flora,  die  leicht  zu  beobachten  und  für  den 
Maler  und  Graphiker  leicht  wiederzugeben  sind, 
spielt  das  Typhetum  —  d.  h.  die  von  Sümpfen 
und  Gräben  her  wohlbekannte  aus  Typha ,  dem 
Liesch-  oder  Rohrkolben  (Schmackedutschke, 
Narrenzepter)  gebildete  Formation  —  eine  be- 
merkenswerte Rolle  in  der  Kunst  des  15.  Jahr- 
hunderts. Ihre  gewaltigen  Blätter  und  noch  mehr 
ihre  zylindrischen  schwarzen  Kolben  haben  ihr 
schon  damals  die  Aufmerksamkeit  der  Pflanzen- 
freunde  gesichert.  Beim  Studium  der  frühen 
Graphik  muß  es  auffallen,  daß  das  Typhetum  im 
15.  Jahrhundert  als  Kennzeichen  sumpfiger  Stand- 
orte, zur  Charakterisierung  der  Fluß-  und  Seen- 
ufer auch  bei  denjenigen  Künstlern,  die  im  übri- 
gen keine  besondere  Begabung  für  die  Beobach- 
tung des  Pflanzenlebens  und  die  naturwahre  Dar- 
stellung der  Standortsverhältnisse  der  Pflanzen  er- 
kennen lassen,  sich  einer  bemerkenswerten  Beliebt- 
heit erfreut. 

Der  hervorragende  oberdeutsche  Stecher,  den 
wir  als  Meister  E.  S.  zu  bezeichnen  pflegen  (1450? 
— 1467),  belebt  seine  Darstellungen  gern  mit 
reicher  Flora.  Die  Begegnung  der  tiburtinischen 
Sibylle  mit  Kaiser  Augustus  (L.  192)  findet  vor 
einem  Flusse  statt.  Daß  die  an  seinem  Ufer 
grünende  Gruppe  monokotyler  Gewächse  aus 
Typha  besteht,  halte  ich  für  wahrscheinlich;  alle 
anderen  Pflanzen,  die  der  Künstler  darstellt,  wird 
der  Botaniker  kaum  zu  benennen  wagen :  sie  sind 
unter  seiner  Hand  teils  zu  schwungvollen  Orna- 
menten geworden,  zum  Teil  zwar  von  ihm  natura- 
listisch, aber  unter  Vernachlässigung  der  spezifi- 
schen Formen  dargestellt;  der  Freude  des  Künst- 
lers am  Beobachten  vegetabilischer  Naturformen 
stellen  sie  kein  günstiges  Zeugnis  aus.  Ganz 
ohne  Zweifel  ist,  deiß  die  auf  der  Taufe  Christi 
(L.  28)  dargestellten  Kolben  eine  Typlia-G:Tü-^^z 
darstellen;  von  den  zahlreichen  roseitenbildenden 
Pflanzen  des  Vordergrundes  gilt  dasselbe  wie  von 
den  auf  L.  192  sichtbaren.  735*//(7  Gruppen  von 
befriedigender  Naturwahrheit  finden  sich  auf  der 
großen  Taufe  Christi  (L.  29),  deren  Vordergrund 
wiederum  stilisierte  Rosetten  füllen.  Nach  Be- 
trachtung dieser  Stiche  werden  wir  kaum  be- 
zweifeln können,  daß  auch  die  sterile  Wasser- 
pflanze, die  am  Ufer  des  vom  hl.  Christophorus 
durchschrittenen  Gewässers  (L.  140)  grünt,  als 
Typha  bestimmt  werden  darf  —  um  so  weniger, 
als  inmitten  des  Wassers  an  einer  felsigen  Klippe 
ein  kolbentragendes  Exemplar  sichtbar  ist. 

Die  Blätter  des  Hausbuchmeisters  geben  — 
trotz  seiner  Vorliebe  für  Kranzgewinde,  für  Garten- 


und  Walddarstellungen  —  dem  Botaniker  nur  ge- 
ringe Ausbeute.  Die  feine  Beobachtungsgabe,  die 
der  Meister  in  den  Dienst  der  Menschen-  und 
Tierdarstellung  stellt,  scheint  —  wie  bei  so  man- 
chem anderen  Künstler  —  der  Pflanzenwelt  gegen- 
über untätig  zu  bleiben.  ^)  Um^  so  überraschender 
ist,  daß  die  Typha  wiederholt  und  gut  gelungen  bei 
ihm  erscheint,  bei  den  Darstellungen  des  hl. 
Christophorus  (L.  31  und  L.  32)  an  Flußufern,  wie 
die  Ökologie  der  Pflanze  es  fordert,  —  in  anderen 
Fällen  (L.  41,  L.  67,  L.  71)  ohne  solche  örtliche 
Beziehungen.  Gerade  für  Christophorusdarstellun- 
gen  hat  aber  auch  der  Hausbuchmeister  gewiß 
schon  so  viele,  mit  Typha  ausgestattete  Vorbilder 
gehabt,  daß  wir  aus  den  wohlgelungenen  Typhetum- 
Darstellungen  seines  Griffels  nicht  auf  eigene 
Naturbeobachtung  zu  schließen  nötig  haben. 

Eine  stattliche  Kollektion  von  Typhetum- 
darstellungen  bringt  der  Illustrator  der  kölnischen 
Bibel  von  1478,  deren  schöne  Holzstöcke  später 
noch  einmal  in  der  von  Kob  erger,  dem  Nürn- 
bergischen Drucker  und  Verleger  des  Schatz- 
behalters,  der  Schedeischen  Chronik  usw.,  heraus- 
gegebenen sog.  Neunten  deutschen  Bibel  (1483) 
Verwendung  finden.  Ich  verweise  für  die  letztere 
auf  die  Darstellung  des  Opfers  von  Kain  und 
Abel  (fol.  VI),  auf  Moses  vor  seinem  göttlichen 
Gesetzgeber  (fol.  XLIX),  eine  weitere  Mosesszene 
aus  den  Numeris  (4.  Mos.  10;  fol.  LXXI),  auf 
Tobias  mit  dem  Engel  (fol.  CCXXXIIII).  Überall 
erscheint  Typha  als  leicht  erkennbarer  Begleiter  der 
Wasserläufe.  Der  Illustrator  der  genannten  Bibeln  ist 
für  unsere  Frage  besonders  ergiebig,  weil  er  es  sehr 
liebt,  seine  Bildchen  mit  Bächen,  Flüssen  oder 
Seen  zu  beleben,  auf  deren  Spiegel  sich  zumeist 
ein  Schwan  schaukelt.  Auch  durch  vegetabilische 
Zutaten  die  Wasserläufe  zu  kennzeichnen,  hat  der 
Künstler  freilich  nur  einige  Male  das  Bedürfnis 
gefühlt.  Wenn  er  auch  seine  Darstellungen  gern 
mit  Vegetation  ausstattet,  und  seine  Bäume  gut 
beobachtet  und  gezeichnet  sind,  so  bleibt  doch 
die  Typha,  auch  bei  ihm  die  einzige  mit  Sicher- 
heit bestimmbare  und  ökologisch  an  die  richtige 
Stelle  gesetzte  Pflanze.  Gar  nicht  selten  läßt  der- 
selbe Künstler  an  den  Ufern  seiner  Gewässer 
sterile  Sumpfpflanzen  sprießen ,  die  nach  dem 
Laub  zu  schließen,  recht  wohl  Typha  sein  könnten ; 
vielleicht  hat  der  Künstler  auch  bei  jenen  tat- 
sächlich an  den  Rohrkolben  gedacht. 

Auf  die  Bibel  läßt  1 49 1  K  o  b  e  r  g  e  r  den  Schatz- 
behalter  folgen,  dessen  Holzschnitte  von  Nürnberger 
Meistern  stammen.  Wir  haben  hier  auf  die 
„35.  Figur"  zu  verweisen,  die  Auffindung  Mosis: 
am  Ufer  des  Nils  läßt  der  Illustrator  ein  reiches 
Typhetum  sich  entwickeln,  das  vorn  das  Bild 
abschließt.  Die  lockenähnlich  stilisierten  Blätter 
unterscheiden  den  Schnitt  deutlich  von  dem  des 
niederrheinischen     Meisters.        Ähnliche     Formen 


')  Die  vielen  Bilder  im  „Spiegel  menschlicher  Behältnis" 
sind  vollends  so  gut  wie  vegetationslos  (vgl.  Naumann, 
HolzschniUe  des  Meisters  vom  Amsterdamer  Kabinett  z,  Sp. 
menschl.  Beh.,  Straßburg  1910). 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


5> 


zeigen  die  Typ/ia-?{iAnzen  in  Schedels  Welt- 
chronik —  ich  verweise  auf  das  Städtebild  von 
„Constancia"  (fol.  CCXLI).i)  — 

Auf  den  schönen  Holzschnitten,  die  das  von 
Bergman  von  Olpe  1494  herausgegebene 
„Narrenschiff''  Sebastian  Brants  schmücken, 
spielen  vegetabilische  Zutaten  eine  geringe  Rolle. 
Am  allerwenigsten  ist  versucht  worden,  durch 
Studium  des  natürlichen  Vorkommens  der  Pflanzen 
in  der  Vegetation  ein  Mittel  zur  Kennzeichnung 
des  Geländes  zu  finden.  Einen  schwachen  Ver- 
such hierzu  dürfen  wir  immerhin  in  der  Dar- 
stellung des  Narren  am  Vogelgarn  erkennen :  der 
Waldrand,  an  dem  der  Vogelsteller  Platz  ge- 
nommen hat,  wird  sogar  durch  Farnkraut  ge- 
kennzeichnet. Um  so  wichtiger  wird  hiernach 
die  Rolle,  welche  auch  in  dieser  Holzschnittfolge 
das  Typhetum  spielt:  den  Narren,  der  „in  pfütz 
und  moß"  watet,   zeigt   eine   der   ersten  Darstel- 


deuten.  Das  geschieht  auch  bei  den  Typha- 
Pflanzen,  deren  Kolben  als  schwarze  Massen  in 
dem  Bilde  eingetragen  sind. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  Baseler  Holz- 
schnitt ist  die  Typhetumdarstellung  bei  Felix 
H  e  m  m  e  r  1  i  n :  Varie  oblectationis  opuscula  et 
tractatus,  Argentorati  Joh.  Preiß,  1477). ')  Die 
hier  reproduzierte  Abbildung  zeigt  den  von 
Wespen  umschwärmten  Hemmerlin,  der  inmitten 
eines  7)'Ma- Bestandes  kniet.  Wir  bemerken  an 
letzterem  manche  gut  beobachtete  Einzelheit  und 
stellen  fest,  daß  Mensch  und  Typha  auf  dem 
Straßburger  Schnitt  in  richtigen  Proportionen 
dargestellt  sind. 

Von  weiteren  Holzschnittwerken  erwähne  ich 
noch  das  Exercitium  super  pater  noster  (Krems- 
münster) ^)  mit  einer  schönen  ökologisch  richtig 
angebrachten  Ty/^/^a-Gruppe.  Das  Berliner  Kabi- 
nett  bewahrt   einen    den    hl.   Christophorus    dar- 


lungen  des  Buches  inmitten  einer  dichten 
Typhagruppe;  ihre  Halme  sind  wie  das  Laub, 
allerdings  unsorgfaltig  gezeichnet  und  im  Ver- 
hältnis zur  Gestalt  des  Narren  viel  zu  klein 
geraten.  —  Wie  bekannt,  hat  man  —  wohl  mit 
Unrecht  —  versucht,  die  Holzschnitte  der  Berg- 
manschen Offizin  dem  jungen  Dürer  zuzu- 
schreiben. Ich  erwähne  in  diesem  Zusammen- 
I  hang,  daß  mir  weder  aus  Dürers  Werk  noch 
I  aus  dem  Schongauer sehen  bisher  eine  Dar- 
stellung des  Typhetum  bekannt  geworden  ist,  — 
j  wie  überhaupt  beiden  die  Pflanzenwelt  zur  Cha- 
rakterisierung des  Schauplatzes  zu  verwerten,  fern 
lag.  —  Der  Künstler  der  Bergmanschen  Offizin 
liebt  es  wie  andere  Künstler  seiner  Zeit,  einzelne 
Teile  seiner  Darstellungen  schwarz  auszufüllen, 
um   den   Lokalton   der   betreffenden  Dinge  anzu- 

')  Vgl.  auch  das  sterile  Zy/^a-Exemplar  von  „Cracovia". 


stellenden  Holzschnitt,  *)  der  vielleicht  schon  dem 
16.  Jahrhundert  angehört.  Er  zeigt  im  Vorder- 
grund eine  Typha  —  sie  ist  zwar  schlecht  be- 
obachtet, aber  doch  die  einzige  nach  der  Spezies 
bestimmbare  Pflanze,  die  auf  dem  Schnitte  sicht- 
bar ist. 

Bei  der  weiten  Verbreitung  der  Rohrkolben 
in  der  frühen  deutschen  Graphik  wäre  es  nicht 
zu  verwundern,  wenn  gar  mancher  Zeichner  von 
den  Werken  früherer  Künstler  seinen  vegetabili- 
schen Motive  entlehnt  hätte  und  hierbei  zur  Dar- 
stellung mißverstandener    und  mißratener  Typha- 


')  Hain  8425,  Proctor  581  :  vgl.  auch  Jos.  Baer&Co. 
Incunabula,  xylographica  et  typographica  1455  —  1500,  p.  52,  13. 

')  Schreiber,  Manuel  de  l'amateur  de  la  gravure  sur 
bois  et  sur  metal,  T.  VII  (1895),  tab.  LXVII ;  vgl.  auch 
T.  VIII,  1900,  tab.  LXXXVIII. 

^)  Kristeller,  Holzschnitte  im  kgl.  Kupferstichkabinelt 
zu  Berlin.     Zweite  Reihe   1915,  Tab.  LXX. 


S2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Pflanzen  gekommen  wäre.  Beispiele  für  letztere 
ließen  sich  leicht  erbringen :  ich  verweise  auf  die 
Zj'/'^ö'-Darstellungen  eines  holländischen  „Specu- 
lum  humanae  salvationis"  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert oder  auf  die  Holzschnitte  zur  Fridolins- 
legende  (Ulm,  Joh.  Zainer,  ca.  1480). 

Von  der  französischen  Graphik  erwähne  ich 
den  Pariser  Totentanz  von  i486  („Miroer  salutaire 
pour  toutes  gens").  Der  Künstler,  der  in  zahl- 
reichen kleinen  Darstellungen  den  Boden  mit 
einer  Fülle  kleiner  Blümchen  ausstattet,  weiß 
nichts  von  Naturbeobächtung  und  naturalistischer 
Darstellung  der  Gewässer;  seine  Streublumen  zu 
benennen,  ist  unmöglich  —  nur  eine  (in  natur- 
widrig kleinem  Format  erscheinende)  Typha- 
Pflanze  scheint  hiervon  eine  Ausnahme  zu  machen. 
Daß  der  Zeichner  seine  Typha  von  anderen  gra- 
phischen Darstellungen  entlehnt  und  abgeschrieben 
hat,  ist  wahrscheinlich. 

Von  den  Italienern  mag  Mantegna  genannt 
sein ;  Typheta  stellt  er  auf  seinen  Tritonenkämpfen 
dar  (B.  17,  B.  18),  die  zweite  Darstellung  zeigt 
Typha  neben  blühendem  Schilf.    — 

Die  große  Beliebtheit,  deren  sich  die  Typha 
bei  den  Künstlern  des  Quattrocento  erfreut,  und 
die  sie  auch  in  späteren  Perioden  nicht  verliert, 
ja  bis  in  unsere  Tage  behalten  zu  wollen  scheint, 
erklärt  sich  nicht  nur  durch  die  Auffälligkeit 
ihres  Habitus  und  ihrer  Färbung,  sondern  ebenso 
sehr  aus  dem  Umstände,  daß  ihre  charakteristi- 
schen formalen  Eigenschaften  mit  wenigen  Strichen 
und  bescheidenstem  Aufwand  bereits  befriedigend 
zur  Darstellung  gebracht  werden   können    und  in  ' 


allen  Techniken  leicht  zu  bewältigen  sind.  Wie 
in  Kupferstich  und  Holzschnitt  sind  die  Rohr- 
kolben auch  für  den  mit  Pinsel  und  Farbe 
arbeitenden  Künstler  leicht  wiederzugeben.  Um 
auch  hier  Beispiele  zu  nennen,  verweise  ich  auf 
das  schöne  Typhetum,  das  der  Brügger  IVIeister 
der  Ursulalegende  in  der  iVlartyriumszene  gegeben 
hat  (Kloster  der  Sceurs  noires  zu  Brügge).  Ein 
besonders  schönes  Werk  der  Miniaturmalerei 
finden  wir  in  den  Tres  heiles  heures  de  Chan- 
tilly  (tab.  VI,  VII,  XXXVII);  auf  einem  der  Bild- 
chen sehen  wir  Typha  neben  Kopfweiden  die 
Vegetation  eines  Bachufers  nicht  übel  kennzeichnen. 
Sogar  der  Bildhauer  findet  in  der  Typha  ein 
Gewächs,  das  mit  seinen  besonderen  technischen 
Mitteln  charakteristisch  wiederzugeben  leicht  mög- 
lich ist.  Beispiele  sind  mir  freilich  zunächst  nur 
aus  der  mit  heraldischen  Motiven  beschäftigten 
Bildhauerei ')  bekannt  geworden. 


Wir  besitzen  noch  keine  vergleichend-ikono- 
graphischen  Studien  für  die  Taufe  Christi,  den 
hl.  Johannes-Evangelist  auf  Patmos,  die  Christo- 
phoruslegende,  den  wunderbaren  Fischzug.  Ich 
zweifle  nicht,  daß  das  Studium  der  frühen  Dar- 
stellungen dieser  Szene  uns  noch  zahlreiche 
weitere  Belege  für  die  bevorzugte  Rolle  kennen 
lehren  würde,  welche  der  Typha -Vi.o\htn  in  der 
Kunst  des  15.  Jahrhunderts  spielt. 

^)  Typhakolben  finden  wir  im  Wappen  der  Rohrbeck 
(Siebmachers  Wappenbucli  Bd.  5,  Abt.  10,  bürgerliche 
Geschlechter  1916),  Ried  und  gewiß  noch  anderer  Familien 
in  deutlich  „redender"   Beziehung  zum   Namen. 


Einzelberichte. 


Die  Aiistrockming  Südafrikas. 

Zu  dieser  Frage  gibt  Fritz  Jäger  in  seinen 
Beiträgen  zur  Landeskunde  von  Süd- 
westafrika (Mitt.  aus  den  deutschen  Schutzge- 
bieten, Ergänzungsheft  Nr.  14,  Berlin  1920,  E.  S. 
Mittler  &  Sohn)  sehr  beachtenswertes  Tatsachen-  • 
material.  Er  weist  nach,  daß  an  eine  stetige  Ver- 
minderung der  Niederschläge  in  dem  letzten  Men- 
schenalter nicht  zu  denken  sei,  daß  vielmehr  die 
Menge  des  Grundwassers,  neben  welcher  die  des 
Oberflächenwassers  gar  keine  Rolle  spielt,  sehr  be- 
deutenden Schwankungen  unterliege,  nicht  nur  inner- 
halb einzelner  Jahrgänge,  sondern  auch  in  Zeit- 
räumen von  Jahren  und  Jahrzehnten.  Daß  die 
Abnahme  dabei  weit  häufiger  beobachtet  wird  als 
die  Zunahme,  liegt  in  der  Hauptsache  daran,  daß 
das  Wasser  fast  dauernd  allmählich 
sinkt,  also  um  so  weniger  von  künstlichen  Boh- 
rungen erfaßt  werden  kann.  Demgegenüber  kommen 
starker  örtlicher  Verbrauch,  Entwaldung,  Gras- 
brände, die  hier  und  da  lokal  die  Austrocknung 
kleiner  Gebiete  begünstigen  mögen,  im  großen 
und  ganzen  doch  kaum  in  Betracht.     Sie  ersticken 


wohl  "in  trockenen  Zeiten  den  Wasserrückgang, 
ohne  jedoch  dadurch  eine  dauernde  Verminderung 
herbeiführen  zu  können.  Wenn  häufig  das  Aus- 
trocknen des  Ngamisees  als  ein  Hauptbeweis  für 
die  fortschreitende  Austrocknung  Südafrikas  ange- 
führt wird,  so  ist  demgegenüber  die  Mitteilung 
von  A.  G.  Stigand,  Notes  on  Ngamiland,  G.  J. 
Bd.  39,  S.  3766".  von  großer  Bedeutung,  nach 
welcher  beim  Rückzug  des  Wassers  am  Westende 
des  Sees  die  Stümpfe  von  Steppenbäumen  ent- 
blößt wurden,  woraus  hervorgeht,  daß  einstmals 
an  Stelle  des  Sees  Baumsteppe  oder  Trockenwald 
stand. 

Fragt  man  nun  nach  der  Ursache  der  fast 
dauernden  Senkung  des  Wasserstandes,  so  scheint 
sich  Verf  der  Meinung  Passarges  anzuschließen, 
die  auch  Ref.  mehrfach  ausgesprochen  hat,  daß 
nämlich  die  Menge  des  in  der  Erdrinde  befind- 
lichen Bodenwassers  nicht  bloß  von  der  heutigen 
Niederschlagsmenge  abhängig  ist,  sondern  daß 
jene  noch  große  Vorräte  aus  einer  regenreicheren 
jüngsten  geologischen  Vergangenheit  besitzt,  die 
erst  allmählich  aufgezehrt  werden,  ohne  daß  des- 
wegen    die    Regenmenge     wesentlich     abnimmt. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


53 


Die  heutigen  Regen  vermögen  eben  den  Verlust 
durch  Verdunstung  und  Abfluß  nicht  zu  ersetzen, 
und  dadurch  trocknet  tatsächlich  der 
Boden  Südafrikas  langsam  aber  stetig 
aus,  ohne  daß  deswegen  eine  wesentliche  oder 
stetige  Abnahme  der  Niederschläge  zu  konstatieren 
wäre. 

Erst  wenn  das  Wasser  im  Boden  sich  dem 
heutigen  Klima  angepaßt  hat,  wird  sich  ein  Still- 
stand im  Austrocknen  des  Bodens  bemerkbar 
machen.  W.  Halbfaß. 


Berieht  über  eiue  Forschiiugsexpedition 
in  Deutsch-Ostafrika. 

G.  Krenkel  teilt  in  den  Berichten  der 
Mathematisch  •  Physischen  Klasse  d.  Sachs.  Akad. 
d.  Wissensch.  z.  Leipzig,  LXXI.  Bd.  seine 
geologischen  Ergebnisse  mit.  In  vier  Ge- 
bieten der  Kolonie  hat  er  unter  schwierigen 
Kriegsverhältnissen  —  er  kam  wenige  Wochen  vor 
Beginn  des  Krieges  dahin  —  seine  Untersuchungen 
anstellen  können:  im  Küstenland;  im  Uluguru- 
gebirge;  in  der  Landschaft  Ugogo  und  im  abfluß- 
losen Rumpfschollenland;  im  Tanganjikaseegebiet. 

Im  südlichen  Teil  der  Küstenzone  tritt  an  das 
Land  unmittelbar  der  Kontinentalsockel  an  das 
Meer  heran  (2000  m  Tiefe).  Im  mittleren  Teile 
liegt  vor  der  Küste  ein  80  km  breiter  Schelf,  aus 
dem  die  Koralleninseln  Mafia  und  Sansibar  als 
letzte  Reste  der  alten  zerstörten  Küste  hervor- 
ragen. An  der  Ostküste  des  Schelfes  findet  sich 
dann  der  Steilabfall  des  Kontinentalsockels.  Im 
Norden  trennt  ein  900  m  tiefer  Grabeneinbruch 
die  Insel  Pamba  vom  Festland.  Die  Küstenlinie 
ist  hier  vielleicht  von  tektonischen  Verhältnissen 
vorgezeichnet. 

Das  Küstenland  bauen  entweder  Riffgesteine 
(marine  Kalke,  echte  Rififkalke,  Korallensandsteine) 
oder  Gesteine  fluviatiler  Entstehung  mit  Ver- 
witterungserden. Im  mittleren  Küstenland  lagern 
diese  jungen  Gesteine  auf  dem  Sockel  aus  meso- 
zoischen Gesteinen.  Sowohl  in  den  Rififgesteinen 
als  auch  in  den  nicht  marinen  Bildungen  lassen 
sich  zwei  verschiedenaltrige  Horizonte  nachweisen. 
Das  Küstenland  ist  in  schaukelnder  Bewegung. 
Man  kann  annehmen,  daß  eine  Vernichtung  des 
Küstenlandes  vor  sich  geht.  Küstenterrassen  sind 
mehrfach  stufenförmig  übereinander  gelagert. 
Wir  haben  an  der  ostafrikanischen  Küste  entweder 
eine  Steilküste  mit  Kliff  oder  eine  Flachsandküste 
mit  Dünen  und  Strandwällen  vor  uns.  Nicht  allein, 
aber  mit  erklärt  werden  die  „ertrunkenen"  Täler 
der  ostafrikanischen  Küste. 

Das  Ulugurugebirge  steigt  aus  dem  Steppen- 
und  Buschgebiete  steil  auf  und  ist  von  einer  brei- 
teren oder  schmäleren  Vorhügelzone  umgeben. 
Kurze,  steile  Täler  führen  in  das  Gebirge,  dessen 
höhere,  regenreiche  Abhänge  von  dichtem  Urwald 
bedeckt  sind.  An  dem  Westabhang  tritt  der 
Graben  der  Mkatasteppe  heran.  Im  Mkatagraben 
fanden  sich  Schichten  der  pflanzenführenden  unteren 


Karruformation  in  Gestalt  von  dunklen  Kohlen- 
schiefern. Ob  sie  einer  versenkten  Decke  oder 
einem  Becken  angehören,  ist  noch  nicht  erwiesen. 
Im  vorgelagerten  Menduberge  fand  man  Asbest- 
lager. Das  Gebirge  wird  überwiegend  von  kristal- 
linen Schiefern  (Gneisen  und  Glimmerschiefer), 
untergeordnet  von  Graniten  und  anderen  Tiefen- 
gesteinen aufgebaut.  Kristalline  Kalke  herrschen 
im  Osten  vor.  Krenkel  glaubt,  daß  ältere  kristal- 
line Schiefer  und  granitisch-körnige  Gesteine  von 
jüngeren  Graniten  und  verwandten  Gesteinen 
durchdrungen  worden  sind.  Die  Gneise  und 
Glimmerschiefer  sind  aufgerichtet,  sogar  stellen- 
weise steilgestellt. 

Als  Ganzgesteine  treten  Pegmatite  in  15 — 20  m 
Mächtigkeit  auf.  Die  Gänge  werden  von  Längs- 
und Querverwerfungen  durchsetzt.  Die  Pegmatite 
liefern  Glimmerplatten,  die  abgebaut  werden. 

Das  Hochplateau  von  Ugogo  stellt  im  Gegensatz 
zu  den  umgebenden  Hochschollen  eine  Tiefscholle 
dar.  Morphologisch  lassen  sich  folgende  Bauele- 
mente erkennenn:  i.  die  Fastebene  von  Nord- 
ugogo;  2.  die  Fastebene  von  Südugogo;  3.  das 
Ugogomittelgebirge;  4.  das  Ugogogrenzgebirge ; 
5.  das  Rubehogebirge ;  6.  die  Turubruchstufe;  7. 
das  Bergland  von  Hochussandaui.  Das  Grund- 
gebirge Ugogos  bilden  kristalline  Gesteine.  Jünger 
sind  wenig  verbreitete  jungvulkanische  Gesteine. 
Darüber  legen  sich  die  aus  der  Zerstörung  der 
älteren  Schichten  hervorgegangenen  Deckschichten. 

Krenkel  nimmt  an,  daß  die  kristallinen  Ge- 
steine dem  Altpaläozoikum  angehören  und  bis  zum 
Präpaläozoikum  hinabreichen.  Die  jungvulkanischen 
Gesteine  sind  jungtertiären  Alters.  Die  Deck- 
schichten reichen  vom  Altquartär  bis  zur  Jetztzeit. 
Während  Grundgebirgsschichten  und  Deckschichten 
sich  immer  zusammen  vorkommend  zeigen,  sind 
die  jungvulkanischen  Gesteine  nur  auf  den  Umkreis 
zwischen  Makutupora  und  Manjoni  in  der  Turu- 
bruchstufe vorhanden.  Das  Fehlen  aller  paläo- 
zoischen und  mesozoischen  Schichten  ist  eine 
Folge  der  Abtragung  durch  Erosion.  Die  jung- 
vulkanischen Gesteine  treten  in  Gängen  oder 
Decken  auf,  sind  emporgestiegen,  als  sich  die 
großen  Brüche  der  ostafrikanischen  Schollenzone 
bildeten. 

Das  kristalline  Grundgebirge  ist  spätestens 
im  Altpaläozoikum  gefaltet  worden.  Das  Grund- 
gebirge wurde  in  der  Folgezeit  teilweise  bis  auf 
den  granitischen  Kern  abgetragen.  Im  Osten 
Ugogos  haben  sich  in  abgesenkten  Gebieten 
Schiefermassen  erhalten.  Es  entstand  eine  Fast- 
ebene. Schon  in  der  Kreidezeit,  im  jüngeren 
Tertiär  den  Höhepunkt  erreichend,  begannen 
tektonische  Ereignisse,  die  Ugogo  in  den  Bereich 
der  östlichen  ostafrikanischen  Zerrüttungszone 
führen.  Zwei  große,  landschaftlich  deutlich  hervor- 
tretende Bruchlinien  lassen  Ugogo  als  Tiefen- 
scholle aus  dem  Landschaftsbild  heraustreten. 
Durch  das  Innere  Ugogos  zieht  als  Bruchlinie 
die  Ilindilinie.  Krenkel  bezeichnet  Ugogo  als 
„Kesselbruchfeld",    das    in    seiner   südwestlichsten 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Ecke,  in  der  großen  Salzsteppe,  am  tiefsten  abge- 
sunken ist.  Im  Osten  scheint  eine  weit  gespannte 
Verbiegung  den  Übergang  zur  großen  Salzsteppe 
zu  vermitteln. 

Am  nördlichen  Ostufer  des  Tanganjikasees 
finden  sich  mächtige  sedimentäre  Ablagerungen 
mit  Diabasen  in  Form  von  Decken  und  Gängen. 
Sie  reichen  bis  zu  dem  GneisKungwestock  im 
Süden,  zu  den  kristallinen  Schiefern  beim  Orte 
Njassa  im  Norden  und  in  das  Flußgebiet  des 
Malagarassi  und  Vindi  im  Osten.  Fossilien  fehlen 
den  Schichten  bis  jetzt  völlig.  Man  hat  die  Schichten 
zur  „Tanganjikaformation"  zusammengefaßt,  die 
Krenkel  als  den  Absatz  eines  salzigen  Binnen- 
meeres auffaßt.  Diese  Formation  zerfällt  in  die 
liegenden  „Sandsteinschichten"  und  die  hangenden 
„Kalkkieselschichten".  Die  Diabase  sind  lokal  in 
ihrem  Auftreten  beschränkt.  Zusammenhängende 
JVIassen  bilden  sie  im  Plateau  von  Hochuha.  Süd- 
lich davon  zeigen  sich  Diabase  in  den  Njamuri- 
bergen.  Die  Schichten  der  Tanganjikaformation 
sind  wenig  gestört,  nur  entlang  einer  Störungs- 
zone von  15  km  Breite,  die  mit  der  Entstehung 
des  Tanganjikagrabens  zusammenhängt,  finden  sich 
auffallende  Verwerfungen.  Am  See  sind  eine 
Menge  Schollen  vorhanden.         Rudolf  Hundt. 

Die  geologische  Stellung  des  Faläolithikuins. 

In  den  Mitteilungen  der  Wiener  anthropolog. 
Gesellschaft  50,  1920,  S.  69 — 71  wirft  V.  Hilb er 
aus  Graz  von  neuem  die  Frage  nach  der  geologi- 
schen Stellung  des  Paläolithikums  auf.  Nach  der 
Boule-Obermaier sehen  Gliederung  ist  das 
ganze  Oberpaläolithikum  (vom  Aurignacien  an) 
postglazial.  Bekanntlich  hat  Penck  und  ihm  im 
wesentlichen  folgend  auch  Bayer  die  Ansicht 
vertreten,  daß  das  Solutreen  letztinterglazial,  und 
das  kalte  Mousterien  der  vorletzten  Eiszeit  ange- 
höre. Die  Stellung  der  Niederterrasse  und  des 
jüngeren  Löß  wollte  sich  mit  diesen  Ansichten 
jedoch  nicht  recht  vereinbaren  lassen.  Wenn 
die  Niederterrasse  letztglazial  ist,  so  könnte  der 
jüngere  Löß  spätestens  in  einem  früheren  Ab- 
schnitt des  Letztglazials  zwischen  den  Bildungs- 
zeiten der  Hoch-  und  Niederterrasse  entstanden 
sein.  Der  Löß  ist  aber  nach  seiner  Schnecken- 
fauna nicht  eiszeitlich;  der  jüngste  Löß  müßte 
demnach,  wie  auch  Penck  folgerichtig  annimmt, 
in  das  letzte  Interglazial  gehören  und  die  zwei 
Terrassen  würden  nach  Penck  dann  den  letzten 
beiden  Eiszeiten  entsprechen. 

Diese  Folgerungen  aber  widersprechen  un- 
zweifelhaft den  Tatsachen.  Nicht  nur  das  Solu- 
treen, sondern  auch  das  Aurignacien  und  Magda- 
lenien  liegen  im  jüngsten  Löß.  Was  also  für  das 
unbestrittene  postglaziale  Alter  des  Magdaleniens 
gilt,  gilt  für  das  ganze  Oberpaläolithikum. 

H  i  1  b  e  r  glaubt  eine  Lösung  dadurch  ge- 
funden zu  haben,  daß  er  die  Schotterterrassen 
oder,  wie  er  sie  nennt,  Baustufen,  nicht  in  Eis- 
zeiten entstanden   sein  läßt.     Da  das  Oberpaläo- 


lithikum nacheiszeitlich  ist,  so  muß  auch  der 
Junglöß,  welcher  es  enthält,  nacheiszeitlicher  Ent- 
stehung sein.  Für  die  vielfach  erwähnte  Nicht- 
bedeckung  der  Niederterrasse  durch  Löß  gibt  es 
für  ihn  nur  die  Erklärung,  daß  dieser  Löß  älter 
ist  als  diese  Terrasse.  Da  er  aber  wegen  seines 
Magdaleniengehaltes  nacheiszeitlich  ist,  muß  es 
auch  die  (jüngere)  Niederterrasse  sein.  In  der 
Nacheiszeit  haben  sich  also  zuerst  Löß  und  da- 
nach die  Niederterrasse  gebildet. 

Für  das  aus  den  Kulturen  gefolgerte  Alter 
des  jüngeren  Lößes  sucht  H  i  1  b  e  r  auch  noch 
andere  unmittelbare  Beweise  zu  geben.  Neue 
Analysen  der  Lößschneckenfauna  ergaben  nach 
ihm  in  der  strittigen  Frage  nach  dem  Klima- 
charakter dieser  Fauna  deren  gemäßigte  Natur. 
Die  entgegengesetzten  Ergebnisse  anderer  Autoren 
sollen  nach  Hilber  lediglich  durch  ausschließ- 
liche Berücksichtigung  einzelner  nordischer  Arten, 
welche  nach  Hilber  jedoch  auch  in  nicht- 
glazialen Ablagerungen  vorkommen  sollen,  ge- 
wonnen sein  (?).  Auch  aus  dem  mehrfach  be- 
obachteten Auftreten  einer  warmen  Fauna 
zwischen  zwei  kalten  im  Löß  will  Hilber  ein 
Zeichen  für  nichtglaziales,  interstadiales  Alter  des 
jüngsten  Lößes  entnehmen.  Es  sei  klar,  daß  das 
Intensitätsmaximum  einer  Klimaperiode  in  der 
Mitte  der  zugehörigen  Ablagerung  erscheinen 
müsse.  Wenn  Wiegers  also  den  jüngeren  Löß 
in  drei  Phasen,  je  eine  kältere  am  Anfang  und 
am  Schluß,  und  eine  wärmere  in  der  Mitte  ein- 
teile, so  dürfe  er  dann  nicht  auf  Eiszeit  schließen, 
da  dort  die  kalte  Fauna  in  der  Mitte  stehen 
müßte.  Es  bleibe  also  weiter  keine  andere 
Deutung  übrig  als  die,  daß  der  Löß  nicht  glazial 
sei.  Da  der  Löß  ein  Produkt  klimatischer  Fak- 
toren sei,  müssen  auch  die  älteren  Löße  nicht- 
glazial sein.  Die  Niederterrasse  sei  nach  ihrer 
Nichtbedeckung  durch  den  Löß  nach  diesem  ge- 
bildet, also  müsse  sie  ebenfalls  postglazial  sein. 

Die  geologische  Stellung  des  Paläolithikums 
denkt  sich  Hilber  dann  folgendermaßen:  Chel- 
leen  und  das  kulturell  und  faunistisch  eng  mit 
ihm  verbundene  Acheuleen  gehören  in  die  letzte 
Zwischeneiszeit,  das  Mousterien  fällt  als  Kaltzeit 
in  die  jüngste  Eiszeit  und  das  ganze  Oberpalä- 
olithikum gehört  in  die  Nacheiszeit. 

Eine  derartige  Ansetzung  löst  gewiß  „alle 
Schwierigkeiten"  —  aber  diese  Lösung  geht  nur 
zu  glatt  und  zu  einfach  vor  sich,  als  daß  sie  des- 
halb von  vornherein  als  richtig  gelten  könnte. 
Schwerlich  werden  die  Geologen  von  ihrer  Seite 
aus  der  von  Hilber  gegebenen  Ansetzung  zu- 
stimmen. Das  entscheidende  Wort  darüber  liegt 
bei  ihnen,  ich  will  ihnen  als  Archäologe  nicht 
vorgreifen. 

Zum  Schluß  nur  noch  eine  kleine  nebensäch- 
liche Bemerkung:  Hilber  schreibt  ständig 
Chellean,  Acheulean  usw.  Diese  wohl  als  „Ver- 
deutschungen" gedachten  neuen  Formen  sind 
sprachlich  ebenso  unschön  wie  durch  nichts  ge- 
rechtfertigt.    Ich  möchte  deshalb  dringend  davon 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


55 


abraten,  sie  etwa  in  die  Literatur  zu  übernehmen 
und  durch  sie  die  alten  französischen  Fachaus- 
drücke ersetzen  zu  wollen. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  iWötefindt. 

Naturschutz  in  den  Yereiuigten  Staaten  von 
Amerika. 

Im    Jahresberichte     1919     des     Nationalpark- 
dienstes     zu      Washington      berichtet      Direktor 
Stephan  T.  Math  er   über  den  Stand   des  Natur- 
schutzes in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 
Die  Zahl    der  dort    bestehenden  Naturschutz- 
parks  stieg   im  Jahre   1919   mit  Errichtung  des 
Canjonparks  am  Coloradofluß  und  des  La  Fayette- 
Nationalparks    im    Staat    Maine    auf    18.       Dazu 
kommen    noch    33   kleinere  Naturdenkmäler, 
wovon  23    durch   den  Nationalparkdienst    und   10 
durch  das  Ackerbauministerium  verwaltet  werden. 
Die    gesamte  Gebietsfläche   der   Naturschutzparks 
beträgt    27800   qkm,    jene    der   Naturdenkmäler 
5000  qkm.   Im  Hauptlande  der  Vereinigten  Staaten 
befinden    sich     16    Naturschutzparks,     außerdem 
je  einer  in  Alaska    und  auf  Hawaii.     Östlich  des 
Mississippi    liegt    nur    ein     einziger   Naturschutz- 
park, nämlich  der  La  Fayettepark  in  Maine.      Es 
ist    aber    die    Errichtung    weiterer    solcher   Parks 
im    Osten   der  Vereinigten   Staaten    zu   erwarten; 
am   meistenAussicht  auf  Verwirklichung   scheint 
von    den  bestehenden  Projekten  jenes  betreffend 
einen    Naturschutzpark    im    Sanddünengebiet    des 
Staates  Indiana  zu  haben. 

Der  erste  von  der  Regieruag  errichtete  Natur- 
schutzpark war  jener  zu  Hot  Springs  in  Arkansas; 
sein  Gebiet  wurde  schon  1832  reserviert.  Erst 
1872  folgte  dann  der  Yellowstone  Nationalpark. 
Das  erste  Naturdenkmal,  das  unter  den  Schutz 
der  Bundesregierung  genommen  wurde,  ist  die 
weltbekannte  indianische  Ruinenstätte  von  Casa 
Grande  im  Staat  Arizona,  nahe  der  mexikanischen 
Grenze ;  ein  diesbezügliches  Gesetz  kam  1 892  zu- 
stande. Dann  folgte  1908  der  sog.  Teufelsturm 
im  Staat  Wyoming. 

Als  Denkmäler  der  nordamerikanischen  Indianer 
und  ihrer  Kulturen  kommen  besonders  das  Casa 
Grandegebiet  und  der  Mesa  Verde-Naturpark  in 
Betracht,  letzterer  im  Staat  Colorado.  Die  Aus- 
grabungen im  Mesa  Verde-Park  werden  vom 
Direktor  des  Bureau  of  Ethnology  am  National- 
museum Dr.  J.  W.  Fewkes  geleitet,  der  auch 
die  Rekonstruktion  einer  Anzahl  alter  Bauten 
ausgeführt  hat.  Außerhalb  des  Parkes,  einige 
Kilometer  westlich  von  seiner  gegenwärtigen 
Grenze,  befinden  sich  am  Rande  des  Monte- 
zumatales  die  sog.  Aztekenbrunnen-Ruinen,  die 
von  ihrem  früheren  Besitzer  der  Bundesregierung 
geschenkt  wurden,  um  als  nationales  Denkmal 
erhalten  zu  werden.  Auch  im  Nordwesten  von 
Mesa  Verde,  im  Hovenweepbezirk,  liegen  zahl- 
reiche indianische  Ruinen,  deren  Schutz  dringend 
geboten  ist. 

Das  Casa  Grandenaturdenkmal  und  die  weiter 


gegen  die  mexikanische  Grenze  zu  gelegene 
Ruinenstätte  von  Tumacacori,  die  ebenfalls  als 
Naturschutzgebiet  erklärt  ist,  stehen  unter  Ver- 
waltung von  Kustos  P  i  n  k  1  e  y.  Die  Ausgrabungen 
sind  an  beiden  Plätzen  noch  nicht  weit  vorge- 
schritten. Das  Leben  der  Indianer  der  Gegen- 
wart ist  ebenfalls  in  einigen  Naturschutzparks  zu 
beobachten,  so  im  Grand  Canyonpark  des  Colo- 
radoflusses, in  dem  großen  Gletscherpark  im 
Staat  Montana  (an  der  kanadischen  Grenze)  und 
anderwärts. 

Zu  wichtigsten  Aufgaben  des  Nationalpark- 
dienstes gehört  der  Schutz  der  einheimischen 
Tier-  und  Pflanzenwelt.  Für  wilde  Tiere  sind  in 
den  meisten  Naturschutzgebieten  musterhafte  Zu- 
fluchtsstätten eingerichtet.  Das  ist  notwendig, 
nicht  nur  weil  zum  Teil  das  Wild  von  den  In- 
dianern abgeschossen  wird,  sondern  auch,  weil 
es  der  zunehmende  Touristenverkehr  noch  mehr 
bedroht.  Hatte  doch  19 19  die  Zahl  der  Besucher 
schon  755000  betragen,  verglichen  mit  253000 
1913  und  61000  1907.  Bei  Haus-  und  Wege- 
bauten usw.,  die  im  Interesse  der  Erschließung 
der  Naturschutzgebiete  für  den  Verkehr  not- 
wendig sind,  wird  stets  strenge  darauf  Bedacht 
genommen,  den  natüriichen  Zustand  der  Land- 
schaften so  wenig  wie  möglich  zu  stören.  Wo 
in  der  Vergangenheit  gegen  diesen  Grundsatz 
verstoßen  wurde,  ist  der  Naturparkdienst  bestrebt, 
die  ursprünglichen  Verhältnisse  wieder  herzu- 
stellen. Direktor  Math  er  regt  an,  daß  die  Natur- 
schutzgebiete in  Zukunft  mehr  wie  bisher  für 
Studienzwecke  seitens  der  Hochschulen,  aber  auch 
von  Einzelpersonen,  ausgenutzt  werden  sollen. 

H.  Fehlinger. 

Die  Natur  des  roten  Farbstoffes  der 
Crustaceen 

ermittelte  der  Franzose  J.  V  e  r  n  e. ')  Der  P  arb- 
stoff,  der  in  besonderer  Menge  und  Reinheit 
beim  Hummer  in  nahezu  allen  gepanzerten 
Teilen  seines  Körpers  angetroffen  wird,  gab  mit 
Jod  eine  veilchenfarbige  Anlagerungsverbindung, 
mit  Schwefelsäure  eine  Blaufärbung.  Das  Ab- 
sorptionsspektrum wurde  für  die  Identifizierung 
entscheidend.  Es  wies  nämlich  alle  die  Absorp- 
tionsstreifen auf,  die  man  auch  am  Carotin 
festgestellt  hat.  Dieser  Farbstoff  ist  bekanntlich 
sehr  verbreitet;  es  ist  der  Farbstoff"  der  Mohr- 
rübe, des  Eigelb,  -)  sowie  manch  anderer  kress- 
farbiger usw.  Pigmentierungen  Seine  Überein- 
stimmung mit  dem  Crustaceenpigment  wird  außer 
den  genannten  Farbenreaktionen  auch  durch  die 
chemische  Elementaranalyse  erwiesen.  Danach 
ist  in  ihm  das  Verhältnis  von  Kohlen-  zu  Wasser- 
stoff" wie  5:7.  Das  ergibt  in  Verbindung  mit 
ebuUioskopischen  Bestimmungen  die  Bruttoformel 
CjoHse.  die  von  WiUstätter  für  das  Carotin 
sichergestellt  ist. 

')  C.  r.  de  la  Soc.  de  Biologie;  83,  S.  963  (1920). 
'')  Vgl.  Naturw.  Wochenschr.,  N.  F.  17,  S.  545  (1918). 


56 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Da  das  Chlorophyll,  der  Farbstoff  des 
Blattgrüns,  auch  im  Tierreich  festgestellt  worden 
ist,')  so  liefert  der  oben  beschriebene  F"und  einen 
neuen  Beleg  für  die  Übereinstimmung  einer 
ganzen  Reihe  physiologischer  Bestandteile  im 
Pflanzen-  und  Tierreich.  Die  biologische  Be- 
deutung dieser  Erkenntnis  bedarf  keines  be- 
sonderen Hinweises.  H.  H. 

Atomgewicht  von  Wismut. 

O.  Hönigschmidt  und  L.  Birckenbach 
machen  über  diese  Bestimmung  eine  vorläufige 
Mitteilung,  -)  aus  der  hervorgeht,  daß  der  bisher 
international  geltende  Wert  Bi  =  208,o  als  erheb- 
lich falsch  angesehen  werden  muß.  Dieser  Wert 
beruht  auf  Bestimmungen,  die  von  Schneider, 
Marignac  (1883)  und  Gutbier  (1908)  gemacht 
wurden  und  denen  man  unbesehen  trauen  zu 
dürfen  glaubte,  weil  die  von  den  Genannten  ge- 
fundenen Werte  bis  auf  geringe  Abweichungen 
gut  miteinander  übereinstimmen.  Nun  fand  zwar 
C lassen^)  bereits  1890  einen  Wert,  der  von 
den  anderen  um  nahezu  eine  Einheit  abwich, 
nämlich  Bi  =^  208,9,  «^ber  da  dieser  Wert  einzig 
dastand,  so  fand  er  überhaupt  keine  weitere  Be- 
achtung. Ja,  Brauner,  dem  man  eine  peinliche 
Durchsicht  aller  Alomgewichtswerte  verdankt,  *) 
ging  so  weit,  die  Sicherheit  des  international  an- 
genommenen Wertes  als  bis  auf  eine  Einheil 
der  ersten  Dezimale  anzunehmen ! 

Die  Analyse  Hönigschmidts  wurde  am 
Chlorid  und  Bromid  vorgenommen.  Reinstes 
Wismut  wurde  in  einem  Quarzgefäß  durch  Er- 
hitzen im  Chlorstrom  in  das  Chlorid  überführt. 
Dieses  wurde  in  einem  Stickstoffstrom  in  ein 
anderes  Quarzgefäß  sublimiert  und  darin  einge- 
schmolzen zur  Wägung  gebracht.  Aus  dem  so 
gewogenen  Chlorid  wurde  alsdann  unter  Ver- 
wendung reinster  Reagentien  und  Beobachtung 
allergrößter  Exaktheit  mittels  Silbernitrat  das 
Chlor  bestimmt.  Aus  dem  Verhältnis  Wismut- 
chlorid :  Chlor  konnte  der  wahre  Wert  des  Atom- 
gewichtes ermittelt  werden.  Als  Mittelwert  zahl- 
reicher Bestimmungen  ergab  sich  so  der  Wert 
Bi  =  209,06  ±  0,009. 

In  vorzüglicher  Übereinstimmung  hiermit  er- 
gab die  Analyse  des  Bromids  die  Größe  209,034. 
Diese  Werte  weichen  mithin  um  eine  Einheit 
von  dem  bisher  als  richtig  angesehenen  Werte 
ab;  der  neue  Wert,  an  dessen  Richtigkeit  zu 
zweifeln  zunächst  kein  Grund  vorliegt,  ist  also  um 
nicht  weniger  als  0,5%  höher.  Da  der  Wert 
Classens  ihm  recht  nahe  kommt,  so  findet 
dieser  damit  eine  sicherlich  unerwartete  Recht- 
fertigung.  Im  übrigen  beweist  dieser  Fall  wiederum. 


•)  Naturw.  Wochenschr.,  N.   K.   18,  S.  303  (1919). 

'')  Sitzungsberichte  d.  Bayr.  Akad.  d.  Wissensch. ;  Math.- 
Phys.  Kl.;  1920,  S.  83.  Ausführliche  Mitteilung:  Zeitschr.  (. 
Elektrochemie  26,  S.  403  (1920). 

')  Ber.  d.  d.  Chem.  Ges.  23,  S.  938  (1890). 

*)  Vgl.  A b  e  g  g ,  Handb.  d.  anorg.  Chemie.    Leipzig  1 907  fl. 


daß  auch  in  den  exakten  Wissenschaften  nicht 
die  Mehrheit  ausschlaggebend  gemacht  werden 
sollte,  daß  auch  hier  gut  begründete  Annahmen 
nie  sicher  sind,  eines  Tages  von  den  besser  be- 
gründeten abgelöst  zu  werden.  H.  Heller. 


Gletscherbewegungen  in  der  Schweiz 
im  Jahre  1919. 

Seit  191 3  wurde  in  der  Schweiz,  ähnlich  wie 
in  den  österreichischen  Alpen  (vgl.  für  diese  den 
Bericht  von  Brückner  in  der  Zeitschrift  für 
Gletscherkunde,  10.  Bd.  1916,  S.  137)  der  Wieder- 
beginn des  Vorrückens  der  Gletscher  festgestellt, 
nachdem  sie  sich  seit  1888  im  Rückzug  befunden 
hatten  (vgl.  die  Berichte  in  den  Jahrbüchern  des 
Schweizerischen  Alpenklubs;  die  folgenden  An- 
gaben für  das  Jahr  191 9  sind  zum  Teil  einer  vor- 
läufigen Notiz  im  Bulletin  de  la  Societe  Vaudoise 
des  Sciences  Naturelles,  Vol.  53,  Nr.  198  ent- 
nommen). Das  Vorrücken  machte  sich  im  Jahre 
1919  viel  stärker  als  im  Vorjahre  bemerkar:  von 
100  beobachteten  Gletschern  befanden  sich  69 
im  Zunehmen  (1918:  46,5),  4  waren  stationär 
(1918:  14),  und  27  (1918:  39,5)  im  Abnehmen. 
Speziell  im  Kanton  Wallis  zeigten  von  18  be- 
obachteten Gletschern  9  einen  Vorstoß,  8  ein 
Zurückweichen,  nur  einer  (der  Mont- Fort- Gletscher 
im  Nendaztal)  blieb  stationär.  Am  stärksten, 
nämlich  um  25,30  m,  ging  der  Zinalgletscher 
zurück ;  die  Vorstöße  dagegen  erreichten  viel  be- 
trächtlichere Werte,  z.  B.  beim  Trientgletscher 
im  schweizerischen  Teil  des  Montblancmassives 
31  m,  beim  oberen  Grindelwaldgletscher  55  m, 
beim  Blattengletscher  im  Lötschental  sogar  67  m. 
Das  Vordringen  der  Gletscher  erfolgte  oft  mit 
großer  Heftigkeit:  Felsen  und  Erdreich  mit  den 
darauf  stehenden  Bäumen  wurden  mitgerissen  und 
Gebäude  zerstört,  z.  B.  eine  Steinbrücke  durch 
den  oberen  Grindelwaldgletscher. 

Im  großen  und  ganzen  scheinen  sich  die 
Gletscherschwankungen  ziemlich  gut  in  die  von 
Brückner  (vgl.  Klimaschwankungen  seit  1700. 
Pencks  Geogr.  Abhdl.  IV,  2,  1890)  aufgestellte 
35  jährige  Periode  der  Klimaschwankungen  zu 
fügen ;  die  Zeiträume  des  Vorrückens  umfassen  in 
der  Schweiz  im  vergangenen  Jahrhundert  die 
Jahre  1811  — 1822;  1840—1855;  1870—1888,  und 
seit  191 3.  Auch  regenreiche  Jahre  mit  zahl- 
reichen Bergstürzen  folgen  sich  annähernd  peri- 
odisch: 1816,  1846,  1876/78,  1908/10.  Immerhin 
scheint  die  Periode  mit  35  Jahren  etwas  zu  groß 
zu  sein;  ein  Zeitraum  von  30 — 33  Jahren  würde 
den  Tatsachen  besser  entsprechen.  —  Für  die 
Gletscher  von  Chamounix  hat  Mouzin  (Etudes 
glaciologiques  en  Savoie,  T.  II,  Paris  1910)  eine 
Periode  von  105 — 106  Jahren  (also  ein  Vielfaches 
von  35)  gefunden;  hiernach  wäre  das  mittlere  i 
Maximum  des  gegenwärtigen  Vorrückens  im 
Jahre  1925  zu  erwarten. 

Zürich.  .  M.  Schips.  S 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


57 


^ 


Biologie  und  Anatoiiiie  einiger 
Enchyträiden. 

Hierüber  wurden  in  jüngster  Zeit  von  Georg 
Jegen  in  der  Vierteljahrsschrift  der  Naturforschen- 
den Gesellschaft  in  Zürich  (65.  Jahrg.  1920,  S.  100  bis 
208)  eingehende  Untersuchungen  veröffentlicht. 
Die  Enchyträiden  sind  bekanntlich  kleine  (kaum 
einige  Millimeter  lange)  Oligochäten,  die  im 
Boden  und  in  Blumentöpfen  (daher  der  Name, 
von  chytra  =  Topf)  oft  in  ungeheuren  Mengen 
gefunden  werden.  Die  Tatsache,  daß  sich  die 
Enchyträiden  häufig  in  absterbenden  Pflanzen 
bzw.  Pflanzenteilen  vorfinden,  legt  die  bisher  all- 
gemein für  richtig  gehaltene  Ansicht  nahe,  daß 
es  sich  um  pathogene  Parasiten  handle.  Es  er- 
gaben aber  Untersuchungen  von  erkrankten 
Pflanzen,  die  weiter  noch  durch  Infektionsver- 
suche bestätigt  wurden,  daß  die  Enchyträiden 
nur  bedingt  als  pathologisch  angesehen  werden 
dürfen.  Die  Krankheit  der  Versuchspflanzen  war 
nämlich  nicht  durch  die  Enchyträiden,  sondern 
durch  Nematoden  [Tylcnchiis  devastatrix  und 
Aphclctichys  oniicroidcs)  hervorgerufen ;  die  Enchy- 
träiden dringen  den  Älchen  nach,  wobei  sie  hem- 
mend auf  die  Ausbreitung  der  Nematoden  ein- 
wirken und,  sofern  die  Schädigung  der  Pflanze 
einen  bestimmten  Grad  noch  nicht  überschritten 
hat,  die  Gesundung  der  Pflanze  herbeiführen. 
Dabei  bringen  die  Enchyträiden  die  Nematoden 
sehr  wahrscheinlich  durch  Absonderung  eines 
Verdauungssekretes  zum  Absterben,  indem  sie 
deren  Körper  in  eine  schleimige  Masse  auflösen 
und  diese  dann  als  Nahrung  aufnehmen.  Sind 
aber  die  Pflanzenteile  durch  die  Älchen  schon  in 
erheblichem  Maße  geschädigt,  dann  werden  nicht 
nur  die  Älchen,  sondern  auch  die  Pflanzenzellen 
selbst  durch  die  Drüsenabscheidung  der  Enchy- 
träiden zersetzt,  wodurch  natürlich  der  Untergang 
der  erkrankten  Pflanze  beschleunigt  wird.  Im 
Boden  selbst  dringen  die  basisch  reagierenden 
Drüsensäfte  leicht  in  abgestorbene,  pflanzliche 
Gewebe  ein  und  schaffen  so  für  die  Fäulnis- 
erreger günstige  Existenzbedingungen.  Es  sind 
also  die  Enchyträiden  nicht  als  Schädiger,  sondern 
als  Förderer  des  Pflanzenwuchses  (bzw.  der  Humus- 
bildung) anzusehen,  indem  sie,  freilich  in  anderer 
Weise  als  die  Regenwürmer,  an  der  ständigen 
Umsetzung  des  Bodens  sich  aktiv  beteiligen. 
Tatsächlich  sind  denn  auch  fruchtbare  Böden  sehr 
reich  an  Enchyträiden  (Jegen  fand  im  Humus- 
boden je  nach  Jahreszeit  11  800— 150  000  Indi- 
viduen auf  den  Quadratmeter),  während  sie  in 
unfruchtbaren  Ton-  und  Lehmböden  fast  ganz 
fehlen. 

Die  anatomischen  Untersuchungen  erstreckten 
sich  besonders  auf  die  Verdauungs-  und  auf  die 
Fortpflanzungsorgane.  Dabei  stellte  sich  heraus, 
daß  die  inneren  Organe  je  nach  dem  Alter  des 
Individuums  in  weiten  Grenzen  voneinander  ab- 
weichen. Es  lassen  sich  Jugendstadium,  Reife- 
stadium   und    Altersstadium    unterscheiden.      Im 


Jugendstadium  zeigen  besonders  die  Ge- 
schlechtsorgane, dann  auch  das  Blutgefaßsystem, 
das  Nervensystem  und  die  Segmentalorgane  ganz 
larvalen  Charakter  und  können  leicht  in  syste- 
matischer Beziehung  zu  I  äuschungen  Veranlassung 
geben.  In  diesem  Stadium  ernähren  sich  die 
Tiere  vorwiegend  von  pflanzlichen  Stoffen  (faulende 
Pflanzenreste  aus  dem  Boden),  während  die  älteren 
Individuen  ihre  Nahrung,  wie  die  Regenwürmer, 
der  Erde  selbst  entnehmen.  Das  Alters- 
stadium ist  charakterisiert  durch  den  Zerfall 
besonders  der  Geschlechtsorgane.  Für  die  syste- 
matische Einteilung  dürfen  nur  die  Merkmale  der 
reifen  Tiere  verwendet  werden;  da  dies  bis 
jetzt  nicht  immer  geschah,  ist  die  Systematik  der 
Enchyträiden  ziemlich  schwankend;  vor  allem 
sollten  die  inneren,  stark  veränderlichen  Organe 
bei  der  Aufstellung  des  Systems  möglichst  wenig 
benutzt  werden ;  ihre  Heranziehung  für  die  Syste- 
matik erscheint  aber  auch  gar  nicht  nötig,  da  die 
äußeren  Merkmale,  welche  sich  besonders  auf  das 
Borstenfeld  (Borstentaschen),  auf  die  Zahl,  Form 
und  Anordnung  der  Borsten  und  auf  die  Zahnung 
der  Mund-  und  Kopflappen  beziehen,  zur  Fest- 
stellung des  Systems  der  Enchyträiden  genügen. 
Zürich.  Dr.  M.  Schips. 

Tönen  der  Telegraplien-  und  Fernsprech- 
leitungen. 

Aus  Beobachtungen  zweier  Linien  entgegen- 
gesetzter Richtung  ermittelte  H.  Tietgen  (Das 
Wetter  1920,  S.  26)  folgende  Tatsachen:  Das 
Tönen  ist  unabhängig  vom  Wind  (bei  Windstille 
ist  es  vielfach  am  heftigsten),  von  der  Tempe- 
ratur (relativ  heftiger  bei  niedrigen  Temperaturen 
infolge  der  größeren  mechanischen  Spannung  der 
Drähte)  und  den  Tageszeiten  (es  tritt  tagsüber 
wie  nachts,  morgens  wie  abends  auf).  Es  tönen 
die  an  beiden  Enden  geerdeten  und  ungeerdeten 
Leitungen,  bei  sehr  heftigem  Tönen  läßt  sich 
häufig  eine  Grundschwingung  von  etwa  5  per/sec. 
feststellen,  dabei  tönen  die  Linien  entgegengesetzter 
Richtung  (N — S,  0 — W)  mit  wesentlicher  Inten- 
sität nie  gleichzeitig,  tönen  sie  zu  gleicher  Zeit, 
so  geschieht  es  mit  geringer  Intensität  und  wenig 
auffallend.  Nicht  zu  ermitteln  ist  ein  fester  Zu- 
sammenhang des  Tönens  mit  dem  Barometerstand, 
doch  hat  das  Tönen  der  einen  oder  anderen 
Linie  stets  einen  Witterungswechsel  im  Gefolge, 
welcher  fast  immer  innerhalb  der  auf  das  Tönen 
folgenden  nächsten  zwei  Tage  eintritt,  und  zwar 
ist  aufklärendes,  heiteres,  sog.  schönes  Wetter  zu 
erwarten,  wenn  die  N-S-Linie  tönt,  Trübung  der 
Atmosphäre  und  Niederschläge  aber  beim  Tönen 
der  0-W-Linie.  Die  Schroffheit  und  Heftigkeit 
des  Wetterumschlages  ist  proportional  der  Stärke 
des  Tönens,  wieder  einsetzendes  Tönen  der  Drähte 
deutet  auf  weitere  Verschärfung  des  eingetretenen 
Wetterzustandes,  andernfalls  nach  Eintritt  des- 
selben völlige  Beruhigung  der  Drähte.  Tietgen 
erklärt    die    das    Tönen    verursachenden    Schwin- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gungen  der  Drähte  magnetischer  Natur, 
denn  er  hatte  bei  den  Beobachtungen  stets  die 
Empfindung,  als  „ob  die  Drähte  von  mag- 
netischen Kraftl  inien  geschnitten  wür- 
den oder  magnetische  Kraftlinien 
schneiden,  wenn  sie  tönen".  Letzteres 
könnte  der  Fall  sein  infolge  der  Erdbewegung, 
und  die  magnetischen  Vorgänge  wären  kosmischer 
Natur.  Dr.  Bl. 

Verdunstung  auf  dem  Meere. 

Unter  diesem  Titel  erschien  kürzlich  eine  Ar- 
beit von  Dr.  G.  Wüst  in  den  „Veröüfentlichungen 
des  Instituts  für  IVIeereskunde  an  der  Univ.  Berlin. 
N.  F.  A.  Geogr.  naturw.  Reihe  Heft  6,  mit  1 1  Fig.' 
im  Text,  Berlin  1920",  welche  die  Versuche  zur 
direkten  Bestimmung  der  Verdunstung  auf  dem 
Ozean  zusammenfaßt  und  dabei  besonders  das 
Beobachtungsmaterial  verwertet,  daß  auf  deutschen 
Schiffen  von  191 1  bis  19 13  gesammelt  worden 
ist.  Als  Verdunstungsgefäß  dienten,  wie  bei  den 
bekannten  Lütgensschen  Messungen,  zylindrisch 
geformte  Glasgefäße,  die  ein  Volumen  von 
2,4  cdm  besaßen  und  möglichst  gleichmäßig  bei 
allen  Beobachtungsreihen  montiert  worden  waren. 
Die  Analyse  der  Wasserproben,  wobei  die  Ver- 
dunstungshöhe aus  der  Salzgehaltszunahme  er- 
mittelt wurde,  geschah  allerdings  oft  erst  mehrere 
Jahre  nach  der  Ermittlung  im  Laboratorium,  doch 
war  Vorsorge  getroffen,  daß  eine  Änderung  im 
Salzgehalt  zwischen  Entnahme  und  Titrierung  in- 
zwischen nicht  eintreten  konnte. 

Als  weitaus  wichtigste  Energiequelle  für  die 
Entstehung  der  Verdunstung  stellt  sich  die  Strah- 
lung heraus,  an  zweiter  Stelle  ist  die  Geschwindig- 
des  Windes  zu  nennen.  Bei  50  km/Stunde  erwies 
sich  die  Verdunstung  im  Durchschnitt  6  mal 
größer  als  bei  Windstille,  und  schon  bei  10  km- 
Stunde  doppelt  so  groß.  Damit  steht  im  engsten 
Zusammenhang  das  Ergebnis  eigener  Studien,  die 
W.  in  der  Ostsee  durchführte,  daß  nämlich  die 
Verdunstungsgröße  an  der  IMeeresoberfläche  eine 
im  ganzen  um  44  "/o  geringere  Verdunstung 
zeigen  würde,  als  an  Bordhöhe,  obwohl  der  Unter- 
schied im  Durchschnitt  nur  6  m  betrug.  Die 
Windgeschwindigkeit  nimmt  nämlich  in  geringer 
Höhe  über  dem  Horizont  schon  sehr  schnell  zu. 
Sehr  sorgfältig  werden  von  dem  Verf  der  Einfluß 
der  Lufttemperatur,  des  Luftdrucks,  des  Salzgehalts, 
der  Luftbewegung,  endlich  der  Größe  und  der 
Aufstellung  des  Gefäßes  erwogen,  so  daß  er  glaubt, 
instand  gesetzt  zu  sein,  aus  den  Ergebnissen  der 
Messungen  im  Beobachtungsgefäß  auf  die  Ver- 
dunstung über  dem  freien  Meer  schließen  zu 
können,  ein  Resultat,  das  bekanntlich  bei  Messun- 
gen der  Verdunstungsgröße  auf  dem  Festland 
noch  lange  nicht  erreicht  ist. 

Während  W.  Schmidt  zu  einer  mittleren 
tatsächlichen  Verdunstung  des  Weltmeeres  von 
2,07  mm;24'^  oder  76  cm/Jahr  gelangte,  wobei  er 
in  der  Hauptsache  sich  auf  die  bekannten  Ergeb- 


nisse der  Lütgensschen  Beobachtungen  stützte, 
ergibt  sich  aus  den  Wüst  sehen  Berechnungen 
eine  mittlere  Verdunstung  von  2,24  mm/24i'  oder 
82  cm/Jahr,  also  ein  etwas  höherer  Betrag,  wobei 
die  Fehlergrenze  etwa  +  12  %  beträgt.  Für  die 
Kalmen  erhielt  W.  nur  fast  45  "/^  höhere  Werte 
als  Schmidt,  während  in  den  Passaten  nahezu 
Übereinstimmung  besteht;  in  den  Nordbreiten 
findet  er  höhere  Werte  als  für  die  entsprechenden 
Zonen  der  Südhalbkugel,  während  die  Auffassung 
von  Schmidt  das  Gegenteil  ergab.  Die  zonalen 
Unterschiede  der  Verdunstung  sind  im  Weltmeer 
schwächer  ausgeprägt  als  im  Atlantischen  Ozean. 
Dennoch  ist  wegen  des  verhältnismäßig  großen 
Anteils  der  .  verdunstungsarmen  Polarmeere  der 
Mittelwert  für  den  Atlantischen  Ozean  (2,18  mm/ 
24'')  kleiner  als  für  das  ganze  Weltmeer.  Die 
Maxima  der  Verdunstung  im  Weltmeer  liegen 
zwischen  20 — 10"  n.  Br.  und  10 — 20"  s.  Br.,  die 
Minima  natürlich  in  den  Polargebieten,  sie  er- 
scheinen gegen  die  Maxima  des  Salzgehalts  um 
10 — 15"  Breite  gegeneinander  verschoben,  jeden- 
falls eine  Folge  des  Einflusses  der  Niederschläge. 
Da  wir  über  seine  absoluten  Beträge  noch  immer 
sehr  mangelhaft  unterrichtet  sind,  verzichtet  W. 
darauf,  auf  seine  Verdunstungsergebnisse  die  Bilanz 
des  Wasserhaushaltes  auf  der  Erde  aufs  neue  zu 
ziehen,  sondern  verschiebt  sie  auf  die  Zeit,  bis  wir 
über  die  Niederschlagsverhältnisse  auf  dem  Ozean 
genauer  unterrichtet  sein  werden. 

Halbfaß. 


Die  Löß-  und  Schwarzerdeböden  Rheinhessens. 

Kürzlich  hat  Victor  Hohenstein  in  den 
Mitt.  d.  Oberrhein.  Geol.  Vereins  N.  F.  Bd.  IX,  1920, 
über  dieses  Thema  Untersuchungen  veröffentlicht. 

In  regionalen  bodenkundlichen  Arbeiten  ist  es 
zweckmäßig,  der  Beschreibung  der  Böden  eine 
kurze  Charakteristik  des  geologischen  Aufbaues, 
der  Morphologie,  des  Klimas,  der  Flora  und  der 
Anbauverhältnisse  des  betreffenden  Gebietes  voran- 
gehen zu  lassen. 

Am  geologischen  Aufbau  Rheinhessens 
beteiligt  sich  hauptsächlich  das  Tertiär,  das  Dilu- 
vium und  das  Alluvium,  im  SW  und  W  als 
Liegendes  auch  noch  das  Rotliegende.  Das  Dilu- 
vium setzt  sich  aus  Schottern  und  Sanden,  sowie 
vor  allem  aus  Löß  zusammen,  welcher  eine  bis 
mehrere  Meter  mächtige  Decke  auf  den  Hoch- 
flächen und  besonders  an  den  Abhängen  (10 — 20  m 
gegen  das  Rheintal)  bildet  und  damit  zur  hohen 
Fruchtbarkeit  und  intensiven  Nutzung  des  rhein- 
hessischen Bodens  wesentlich  beiträgt. 

In  engem  Zusammenhang  mit  dem  geologi- 
schen Aufbau  steht  der  Landschaftscharak- 
ter. In  mehreren  Stufen  steigt  das  rheinhessische 
Plateau  zu  einer  größtenteils  über  200  m  über 
NN  liegenden  welligen  Hochfläche  an,  die  im  SW 
häufig  Höhen  von  300  m  über  NN  erreicht. 

Das  Klima  Rheinhessens  ist  günstig.  Die 
Niederschlagshöhe     beträgt    450—500   mm,    die 


i 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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mittlere  Jahrestemperatur  9 — 10"  C.  Rheinhessen 
gehört  somit  zu  den  trockensten  und  wärmsten 
Gebieten  Deutschlands. 

Die  Anbauverhältnisse  Rheinhessens 
stehen  ganz  im  Zeichen  einer  intensiven  Kultur. 
Auf  den  Ackerbau  entfallen  75  %.  Hauptbrot- 
frucht ist  Roggen,  Weizen  tritt  zurück.  Mangels 
an  Wiesen  und  Weiden  wird  viel  Luzerne  und 
Esparsette  angebaut.  Wein  nimmt  10  "/o  '^^'^ 
landwirtschaftlich  genutzten  Fläche  ein.  In  be- 
sonderer Blüte  und  Pflege  steht  der  Obstbau; 
riesige  Walnußbäume  sind  nicht  selten.  Die 
Dörfer  und  Landstraßen  tragen  reichlichen  Baum- 
schmuck. Wald  ist  von  Natur  her  sehr  spärlich 
vertreten.  In  der  rheinhessischen  Flora,  beson- 
ders aber  in  der  Sandflora  von  Mainz  sind  charak- 
teristische weitverbreitete  Typen  der  osteuropäisch- 
asiatischen Steppengebiete  vertreten,  wie  Adonis 
vernalis,  Gypsophila  fastigiata,  Stipa  capillata  und 
pennata  usw. 

Die  Unterlage  der  rheinhessischen  Löß-  und 
Schwarzerdeböden  bildet  der  Löß,  welcher  wie 
anderwärts  charakteristisch  als  gelber  bis  gelb- 
brauner kalkhaltiger  Staubsand  ausgebildet  ist  und 
durch  sein  außerordentlich  feines  gleichmäßiges 
staubartiges  Korn  ausgezeichnet  ist.  Der  Gehalt 
an  Feinboden  (unter  2  mm)  beträgt  im  Mittel 
98 — 99  "/q.  Auf  den  Staub  (0,05 — 0,01  mm)  allein 
entfallen  etwa  50  "/„.  Der  Kalkgehalt  beträgt  im 
Mittel  13  "/o;  8— 9  "/j  sind  seltene  Ausnahmen, 
doch  kann  er  auch  auf  18  "jg  ansteigen.  Die 
Wasseraufnahmefähigkeit  erreicht  im  Maximum 
48  Vol.-7o. 

Die  Lößböden  nehmen  in  Rheinhessen  weite 
Gebiete  ein  und  sind  durch  hervorragend  günstige 
physikalische  Eigenschaften  ausgezeich- 
net: feinkörnig,  lehmig,  schwach  humos,  licht- 
braun, warm,  wegen  des  Kalkgehaltes  gut  krümelig, 
deshalb  sehr  leicht  bearbeitbar  und  nicht  ver- 
krustend. Die  Wasserfassung  ist  groß,  so  daß 
die  Lößböden  einerseits  reichliche  Wassermengen 
aufspeichern  können,  andererseits  auch  wieder 
dieselben  bei  langanhaltenden  Trockenperioden 
an  die  Vegetation  abgeben  können,  was  bei  der 
geringen  Niederschlagshöhe  von  besonderer  Be- 
deutung ist.  Die  Absorptionskraft  für  Nährstoffe 
ist  eine  gute.  Nicht  so  günstig  sind  wie  bei 
allen  Lößböden  die  chemischen  Eigen- 
schaften, die  indessen  hier  noch  verhältnis- 
mäßig gute  sind,  da  infolge  der  geringen  Nieder- 
schlagshöhe die  Auswaschung  sehr  gering  ist. 
Der  beste  Maßstab  dafür  ist  der  hohe  Kalkgehalt, 
der  im  Mittel  5  %  beträgt. 

Die  rheinhessische  Schwarzerde  ist  eine 
dem  russischen  Tschernosem  entsprechende  klima- 
tische Bodenart  von  50 — 60  cm  Mächtigkeit  und 
schwarzbrauner  Farbe,  welche  nach  unten  allmäh- 
lich in  einen  dunkelbraun  bis  hellbraun  ge- 
sprenkelten Horizont  und  schließlich  in  den  Löß 
übergeht.  Sie  ist  in  einem  nacheiszeitlichen, 
trockenen  steppenartigen  Klima  bei  fortgesetzter 
Anreicherung   von   chemisch  ausgefälltem  Humus 


aus  den  langsam  verwesenden  Resten  einer  üppi- 
gen und  gut  bewurzelten  Gras-  und  Kräuter- 
vegetation hervorgegangen.  Ihre  Eigenschaften 
sind  ganz  hervorragende,  vielleicht  noch  etwas 
besser  als  jene  der  Lößböden:  schwarzbraun,  gut 
krümelig,  tiefgründig,  leicht  bearbeitbar,  kalkhaltig, 
sehr  warm  und  nährstoffreich.  Die  Schwarzerde 
besteht  aus  reichlichen  Wurmkrümeln,  ebenso 
reichen  senkrechte  Regenwurmgänge  bis  2  m 
Tiefe.  Nicht  selten  kommen  in  der  Schwarzerde 
wie  auch  in  dem  dicht  anschließenden  Löß  runde 
oder  ovale  Tierlöcher  von  Wühlern,  vor  allem 
dem  Hamster  vor,  welche  mit  Schwarzerde  oder 
Lößmaterial  oder  beidem  gemischt  angefüllt   sind. 

Unter  der  normalen  Oberflächenschwarzerde 
ist  in  der  ausgedehnten  Lehmgrube  der  Dampf- 
ziegelei von  Herrn  Gebrüder  Schnell  am  Bahn- 
hof in  Sprendlingen  dem  etwa  8 — 10  m  mächtigen 
Löß  ein  30 — 100  cm  mächtiger  Horizont  von  „be- 
grabener Schwarzerde"  in  4  m  Tiefe  eingelagert. 
Diese  begrabene  Schwarzerde  zeigt  weitgehende 
Übereinstimmung  mit  der  Oberflächenschwarzerde. 
Auch  hier  sind  Hamsterlöcher,  Regenwurmgänge 
und  -krümel  häufig,  woraus  hervorgeht,  daß  die 
begrabenen  Schwarzerdeböden  dereinst  echte 
Oberflächenböden  waren  und  von  Löß  wieder 
eingedeckt  wurden.  Ähnliche  Böden  hat  Verf.  in 
der  Provinz  Sachsen  nachgewiesen,  außerdem 
kommen  sie  in  Rußland  und  Kanada  vor. 

Die  rheinhessische  Schwarzerde  bildet  sich 
unter  der  augenblicklichen  landwirtschaftlichen 
Betriebsweise  nicht  mehr.  Sie  ist  als  Reliktboden 
eines  trockenen  kontinentalen  Steppenklimas  auf- 
zufassen, das  an  der  Wende  vom  Diluvium  zum 
Alluvium  geherrscht  hat.  Die  rheinhessische 
Schwarzerde   bedeckt   eine  Fläche   von  200  qkm. 

Auf  Grund  der  agrogeologischen  Untersuchun- 
gen muß  angenommen  werden,  daß  die  rhein- 
hessischen Löß-  und  Schwarzerdeböden  von 
Natur  waldfrei  waren.  Es  sind  vortreffliche  Acker- 
böden, die  sich  durch  leichte  Bearbeitbarkeit  und 
große  Fruchtbarkeit  auszeichnen;  auf  ihnen  ge- 
deihen alle  Feldfrüchte  gut.  Roggen,  Gerste  und 
Luzerne  werden  besonders  häufig  angebaut. 

V.  Hohenstein,  Halle. 


Die  Endmoräiieu  der  Hauptvereisung 

zwischen  Teutoburger  Wald  und  Klieiuischem 

Schiefergebirge 

behandelt  R.  Bärtling  in  einer  interessanten 
Arbeit,  welche  in  der  Zeitschr.  d.  Deutschen 
Geolog.  Ges.,  Monatsber.  Nr.  i — 3,  72.  Bd.  1920, 
erschienen  ist. 

Den  langwierigen  Untersuchungen  zahlreicher 
Geologen  der  Preuß.  Geol.  Landesanstalt  ist  es 
gelungen,  den  Verlauf  der  Endmoränen  im  Rand- 
gebiete des  größten  Eisvorstoßes  auch  für  Rhein- 
land und  Westfalen  festzustellen.  Während  sie 
auf  der  linken  Rheinseite  bei  verhältnismäßig 
flachem  Gelände  als  große,  das  ganze  Landschafts- 
bild beherrschende  Bergzüge   erscheinen,   sind  sie 


6o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


dagegen  im  Hügellande  rechts  des  Rheines  zu 
mehr  oder  weniger  undeutlichen  Resten  aufgelöst, 
deren  Zusammenhang  durch  die  Bergzüge  des 
alten  Gebirges,  sowie  durch  die  starke  Löß- 
bedeckung verschleiert  wird. 

Auf  der  linken  Rheinseite  endigt  der  süd- 
lichste Endmoränenzug  in  der  Gegend  von 
Krefeld.  Von  da  ab  fehlt  jede  Spur,  da  der 
Rhein  die  Reste  zerstört  oder  überschüttet  hat. 
Erst  wieder  im  Gebiete  der  Saarner  Mark  auf  der 
rechten  Rheinseite  konnten  sie  unter  den  Ablage- 
rungen der  Rheinniederterrasse  als  mächtige  lokale 
Blockpackung  festgestellt  werden,  deren  Untergrund 
(,, Flözleeres")  deutliche  Glazialschrammen  zeigte. 
Ihre  Fortsetzung  finden  diese  Endmoränen  der 
Ruhr  entlang  in  dem  großen  die  Stadt  Essen  in 
weitem  Umkreis  umziehenden  Essener  End- 
moränenbogen.  Daran  reiht  sich  der  um  die 
Stadt  Bochum  verlaufende  Bochumer  End- 
moränenbogen,  der  hauptsächlich  aus  sehr 
mächtigen,  vorwiegend  feinsandigen  Ausschüt- 
tungen besteht.  Nach  einer  Unterbrechung  durch 
Karbon-  und  Kreidehöhen  folgen  ostwärts  bei 
Dorstfeld  mächtige  Blockpackungen.  Der  an- 
stoßende Dortmunder  Bogen  erstreckt  sich 
über  die  Stadt  Horde  bis  östlich  von  Holzwickede. 
In  der  Hörder  Endmoräne  überwiegt  ein- 
heimisches Karbon,  in  der  Holzwickeder 
Endmoräne  hauptsächlich  Oberer  Turonmergel. 
Stark  nach  Süden  ausbiegend  folgt  nun  in  einem 
sehr  flachen  Bogen  die  Unnaer  Endmoräne. 
Unsere  Kenntnisse  \on  der  weiteren  östlichen 
F'ortsetzung  sind  sehr  dürftig.  Aus  dem  Vor- 
kommen der  Grundmoräne  südlich  der  Städte 
Soest,  Lippstadt  und  Paderborn,  sowie  der  dünnen 
Bestreuung  mit  vereinzelten  nordischen  Blöcken, 
die  bis  auf  die  Höhe  des  Haarstrangs  hinauf- 
gehen, wissen  wir,  daß  die  Endmoräne  in  der 
Nähe  der  Kammlinie  des  Haarstrangs  gelegen 
haben  muß,  daß  aber  der  Kamm  wahrscheinlich 
frei  vom  Eise  blieb,  wie  man  dies  wohl  auch 
vom  südlichsten  höchsten  Teile  des  Teutoburger 
Waldes  annehmen  muß. 

Im  Hinterlande  dieser  Endmoränen  liegen 
weit  ausgedehnte  eintönige  Grundmoränen,  die 
erst  wieder  durch  die  erste  Rückzugsstaft'el  in  der 
Gegend  von  Münster  eine  Unterbrechung  er- 
fahren. Hier  verläuft  der  große  Endmoränen - 
bogen  von  Münster,  an  den  sich  nach 
Norden  bis  in  die  Gegend  von  Rheine  der 
Neuenkirchener  Bogen  anschließt,  dann  die 
Emsbürener  Endmoräne  und  die  Lohner 
Berge,  während  nach  Süden  der  Beckumer 
Endmoränenbogen  sich  hinzieht.  In  der 
Münsterschen  Endmoräne  fehlen  Blockpackungen 
fast  ganz.  Ihre  Oberflächenformen  sind  wenig 
frisch  und  überaus  verwischt,  so  daß  man  an- 
nehmen muß,  daß  hier  eine  Gleichgewichtslage 
zwischen  Nachschub  und  Zurückschmelzen  des 
Eisrandes  bestand.  Der  Rückzug  vollzog  sich 
ungleichmäßig  und  zwar  im  westlichen  Teile  von 
West  nach  Ost  schneller  (90  km)  als  gleichzeitig 


im  östlichen  Teile  von  Süd  nach  Nord  (25  km). 
Vermutlich  ist  hier  der  Einfluß  der  See  oder  gar 
des  Golfstromes  bemerkbar,  wie  das  auch  bei 
später  gebildeten  Endmoränen,  wie  der  schleswig- 
holsteinischen, der  Fall  ist. 

Beim  weiteren  Zurückschmelzen  des  Eises 
kam  es  in  Westfalen  nochmals  zur  Aufschüttung 
einer  bedeutenden  Endmoräne  zwischen  den  süd- 
lichsten Kuppen  und  Kämmen  des  Teutoburger 
Waldes.  Sie  ist  vor  allem  bei  Lengerich,  Lienen, 
Iburg,  Hilter  und  Borgholzhausen  beobachtet. 
Der  Eisrand  fiel  lange  mit  den  südlichsten 
Kämmen  des  Teutoburger  Waldes  zusammen,  so 
daß  nördlich  des  Gebirges  die  Grundmoränen, 
südlich  der  Kammlinie  dagegen  glaziale  Sande 
{Schmelzwasserabsätze)  vorherrschen,  die  sich  in 
fast  allen  Schluchten  bis  nahe  an  die  Kammlinie 
hinaufziehen.  Auffallend  ist  dieser  Gegensatz  im 
Landschaftsbild:  auf  der  Nordseite  fruchtbare 
Grundmoränenflächen,  auf  der  Südseite  dagegen 
eintönige   Heidesandflächen. 

Für  die  Art  der  Ausbildung  der  End- 
moränen war  der  Einfluß  des  Untergrundes 
und  der  Gebirge  von  ganz  besonderer  Be- 
deutung. In  Holland  herrscht  der  Typ  der  Stau- 
moränen vor,  welche  in  Westfalen  fehlen  und 
hier  durch  Sandaufschüttungen  und  Blockpack- 
ungen vertreten  werden.  Nach  Ansicht  von 
Bärtling  hat  das  Eis  den  Teutoburger  Wald 
beim  ersten  Vorstoß  größtenteils  überschritten, 
während  es  sich  dem  Gebirgsrand  des  Rheinischen 
Schiefergebirges  und  des  Haarstrangs  anpassen 
mußte.  Der  Einfluß  des  Teutoburger  Waldes  mit 
seinen  geschlossenen  quer  zur  Stromrichtung  des 
Eises  verlaufenden  Kämmen  zeigt  sich  besonders 
in  der  Ausbildung  der  südlichsten  Endmoräne  auf 
der  rechten  Rheinseite,  während  links  des  Rheines 
und  vor  allem  in  Holland,  wo  keine  derartigen 
Hindernisse  bestanden,  größere  und  geschlossene 
Endmoränen  zur  Ausbildung  gelangten.  Wo  das 
Inlandeis  ungehindert  vordringen  konnte,  waren 
die  Wirkungen  wesentlich  größer  als  dort,  wo 
ein  geschwächtes  Eis  im  Lee  oder  wie  Bärtling 
es  treffend  nennt,  im  „Eisschatten"  des  Teuto- 
burger Waldes  erst  noch  die  Höhen  des  Haar- 
strangs und  der  Grafschaft  Mark  hinaufsteigen 
mußte.  Je  höher  die  vorgelagerten  Kämme, 
desto  geringer  die  Ausbildung  der  südlichen  End- 
moräne. Aber  auch  bei  der  Münsterschen  End- 
moräne zeigt  sich  ein  ähnliches  Bild,  indem  ihre 
Fortsetzungen  in  den  Lohner  Bergen  bedeutender 
sind,    als  die  Sandrücken  im  Innern  des  Beckens. 

Die  Wirkungen  des  Eises  und  vor  allem 
seiner  Schmelzwässer  auf  den  Untergrund 
beobachtete  Bärtling  im  Gebiete  zwischen 
Rhein  und  Dortmund.  Das  untere  Ruhrtal  be- 
stand damals  ebensowenig  wie  das  Rheintal.  Vor 
dem  Herannahen  des  Eises  verlief  das  Ruhrtal 
von  der  Quelle  bis  Witten  wie  heute;  bei  Witten 
aber  brach  die  Ruhr  nach  Norden  durch  und 
schüttete  mächtige  Flußschotter  auf  den  flachen 
Kreidehöhen    des    Gebirgsvorlandes    im    Gebiete 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6i 


zwischen  Witten,  Kastrop,  Herne  und  Essen  auf. 
Sie  sind  erheblich  älter  als  das  Eis,  welches  50  m 
tief  in  diese  Geröllablagerungen  eingeschnittene 
Täler  vorfand.  Die  Ausräumung  dieser  Täler  hat 
entweder  während  der  ersten  Eiszeit  oder  in  der 
ersten  Interglazialzeit  stattgefunden.  Hernach 
sind  die  Täler  wie  die  Höhen  mit  den  Grund- 
moränen des  vordringenden  Inlandeises  bedeckt 
worden.  Das  Eis  hat  wenig  umgestaltend  ge- 
wirkt, dagegen  um  so  mehr  die  vor  dem  Eis- 
rande verlaufenden  Schmelzwässer.  Die  außer- 
ordentlich tiefe  Lage  von  Eisrandbildungen  je  im 
einspringenden  Winkel  zweier  Endmoränenbögen 
ist  auf  die  Erosionswirkung  gewaltiger 
Wasserfälle  vor  dem  Eisrand  zurückzuführen, 
welche  durch  Zusammenströmen  der  auf  der 
Oberfläche  des  Eises  verlaufenden  Schmelzwasser- 
flüsse in  der  Senke  zwischen  zwei  Zügen  des 
Eisrandes  entstanden  sind.  Ähnliche  auskolkende 
Wirkungen  der  Schmelzwässer  auf  den  Unter- 
grund wurden  auch  bei  der  Münsterländischen  End- 
moräne festgestellt,  wo  sie  indessen  nicht  auf  den 
einspringenden  Winkel  beschränkt  sind,  sondern 
der  Endmoräne  über  weite  Bogenstücke  folgen. 
Bei  der  nördlicher  liegenden  Endmoräne  des 
Teutoburger  Waldes  sind  solche  Wirkungen  noch 
nicht  beobachtet,  da  hier  so  tiefgehende  Auf- 
schlüsse fehlen.  Diese  gewaltigen  Wirkun- 
gen der  Schmelzwässer  sind  nicht  zu  unter- 
schätzen; sie  machen  sich  ohne  Unterschied  der 
Härte  des  Untergrundes  bemerkbar.  Bei  Kupfer- 
dreh schufen  sie  Höhenunterschiede  von  80  m, 
ebenso  bei  Langendreer,  wo  die  Auskolkung  bis 
13  m  unter  den  heutigen  Ruhrspiegel  hinabgeht. 
Ohne  die  tiefgehenden  Schächte  wären  diese  Fest- 
stellungen nicht  möglich  gewesen.  Sie  zwingen 
uns,  vor  weitgehenden  Schlüssen  aus  der  Lage 
der  Endmoränen  zu  den  Talterrassen  zu  warnen, 
denn  die  Höhenlage  der  Endmoränen  ermöglicht 
keinerlei  Schlüsse  auf  ihre  Beziehungen  zu  den 
Talterrassen.  Während  im  Oberlaufe  der  Ruhr 
die  Terrassen  stufenweise  in  das  anstehende  Ge- 
stein eingeschnitten    sind,    haben    sie    sich  weiter 


unten  in  die  Endmoränenmassen  der  Auskolke 
eingeschnitten,  so  daß  bei  Altendorf  oberhalb  von 
Steele  Grundmoränen  unter  der  untersten  Ruhr- 
terrasse festgestellt  werden  konnten.  Die  Moränen 
sind  älter  als  die  3  Terrassen  oder  wenigstens 
gleichaltrig  mit  einer  zur  Hauptterrassenzeit  zeit- 
weilig stark  zurückgestauten  Ruhr. 

Die  Eismächtigkeit  rechnet  Bärtling 
zur  Zeit  des  größten  Eisvorstoßes  bei  Münster  auf 
fast  500  m,  da  der  Eisrand  am  Haarstrang  bis  in 
Höhen  von  über  200  m  hinaufstieg  und  man  in 
den  randlichen  Gebieten  des  Inlandeises  wenig- 
stens 5  "0  Gefälle  für  eine  Bewegung  des  Eises 
annehmen  muß. 

Da  der  Abfluß  der  Schmelzwasser  in  nörd- 
licher oder  nordwestlicher  Richtung  versperrt 
war,  so  entstanden  vielfach  Stauseen,  deren 
Abflüsse  auf  die  heutigen  Täler,  so  z.  B.  der 
Ruhr,  umgestaltend  gewirkt  haben.  Das  Hell- 
weger  Tal,  das  sich  am  ganzen  Nordrand  des 
Haarstrangs  bis  in  die  Gegend  von  Paderborn 
verfolgen  läßt  und  sich  östlich  von  Soest  mit 
dem  Lippetal  vereinigte,  stellt  wahrscheinlich  den 
Abfluß  des  großen  Sennestausees  dar.  Die 
Lippe  führte  die  Schmelzwasser  aus  der  Gegend 
von  Detmold,  Mastholte  und  Beckum  ab,  während 
die  Stever  jene  des  Münsterschen  Endmoränen- 
bogens  sammelte.  Nachdem  die  Münstersche 
Tiefebene  frei  geworden  war,  sammelte  die  Ems 
die  vom  Teutoburger  Walde  kommenden  Schmelz- 
wassermassen und  führte  sie  nach  Nordwesten 
ab.  Die  Talsysteme  der  Lippe,  Stever  und  Ems 
stehen  somit  im  Zusammenhang  mit  je  einer  ein- 
zigen Rückzugsphase  des  Inlandeises,  woraus  sich 
die  Tatsache  erklärt,  daß  diese  Täler  über  dem 
heutigen  Talboden  nur  die  eine  von  den  glazialen 
Schmelzwassermassen  aufgeschüttete  Talterrasse 
besitzen.  Die  interessanten,  z.  T.  recht  schwie- 
rigen Untersuchungen  von  Bärtling  haben  die 
Glazialgeologie  Nordwestdeutschlands  um  ein  be- 
trächtliches Stück  vorwärts  gebracht. 

V.  Hohenstein,  Halle. 


Bücherbesprechungen. 


Robien,  Paul,    Die  Vogelwelt  des  Bezirks 
Stettin.       112    Seiten,     Stettin    1920,     Leon 
Sauniers  Buchhandlung. 
Unter  „Bezirk  Stettin"  versteht  der  Verf.  nicht 
den  gleichnamigen  Regierungsbezirk,    sondern  ein 
Gebiet,  das  im  Süden  die  Kreise  Randow,  Gräfen- 
hagen  und  Pyritz,  im  Osten  Saatzig,  Regenwalde, 
Naugard    und    Kammin,    im  Westen  Ückermünde 
und  im  Norden  das  Gebiet  von  Swinemünde   bis 
zur  Regamündung  umfaßt.      Innerhalb   dieses  Be- 
zirks   wurden    von    Robien    durch    eigene    Be- 
obachtung   rund    200    Vogelarten,    darunter    127 
Brutvögel,  festgestellt.      Das  Blaukehlchen   ist  er- 
freulicherweise im  Bezirk  Stettin  nicht  selten,  der 


Ortolan,  wie  in  anderen  Gegenden  Norddeutsch- 
lands, in  Zunahme  begriffen.  Bemerkenswert  ist 
das  Vorkommen  des  Heuschreckensängers  sowie 
der  Gebirgsbachstelze,  die  ursprünglich  dem  Flach- 
lande fehlte.  1913  hat  der  Erlenzeisig  in  den 
Grabower  Anlagen  gebrütet.  Die  Wiesenweihe 
nistet  nur  westlich  von  Waldowshof  Brutplätze 
der  Sumpfohreule  liegen  in  den  Kreisen  Pyritz 
und  Greifenhagen.  Der  Wespenbussard  soll  in 
der  Ückermünder  Heide  brüten.  Der  Kolkrabe 
dürfte  im  Osten  des  Gebiets  noch  einige  Horste 
bewohnen;  das  gelegentliche  Brüten  der  Raben- 
krähe wird  vom  Verf.  nicht  für  unmöglich  ge- 
halten.   Schwarzstorch  und  Kranich  sind  in  letzter 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zeit  nicht  mehr  mit  Sicherheit  als  Brutvögel 
nachgewiesen  worden.  An  vielen  Stellen  seiner 
Schrift  tritt  R  o  b  i  e  n  warm  für  die  Idee  des  Natur- 
schutzes ein  und  wendet  sich  energisch  gegen 
das  unverantwortliche  Treiben  von  Schießern  und 
Eierräubern.  Von  dem  Erlaß  eines  radikalen 
Schießverbots  verspricht  er  sich  guten  Erfolg  für 
den  Schutz  der  einheimischen  Vogelwelt.  Den 
durch  eine  derartige  Maßnahme  bedingten  Aus- 
fall an  Fleisch  empfiehlt  er  durch  eine  groß- 
zügige Zucht  von  Tauben,  Hühnern,  Gänsen  und 
Enten  auszugleichen.  Da  die  Schrift  in  erster 
Linie  für  Vogelfreunde  bestimmt  ist,  hat  der  Verf 
auf  die  Unterscheidung  der  Subspezies  und  die 
Hinzufügung  von  Autorennamen  verzichtet.  Daß 
der  Verf.  im  Gegensatz  zu  führenden  Ornithologen 
die  Verwendung  von  Doppelnamen  (z.  B.  Cocco- 
thraustes  coccothraustes)  ohne  stichhaltigen  Grund 
prinzipiell  ablehnt,  vermag  der  Referent  nicht  zu 
billigen.  F.  Fax  (Breslau). 


Verworn,  Max,    Die  Anfänge    der   Kunst. 

2.  Aufl.   75  S.    31  Abb.  u.  3  Tafeln.    Jena  1920, 

Gustav  Fischer. 
Das  Buch  führt  uns  in  mustergültig  einfacher 
Weise  das  allmähliche  Werden  der  künstlerischen 
Ausdrucksfähigkeit  des  Menschen  vor,  von  den 
leisesten  Symptomen  an  Feuersteinfunden  des 
ältesten  Diluviums  bis  zu  den  „physioplastischen", 
ohne  jede  Ideenbildung  wiedergegebenen  Jagd- 
tieren der  Höhlenbilder  und  Beinschnitzereien  des 
mittleren  Paläolithikums.  Der  Text  ist  ergänzt 
mit  lehrreichen  Abbildungen.  Auch  prinzipiell 
ist  dem  Verfasser  seine  Auffassung  zuzugeben, 
daß  der  Naturalismus  gerade  dieser  ältesten  Figuren- 
darstellungen ein  Ergebnis  des  noch  ideenlosen 
Seelenlebens  ihrer  Verfertiger  ist.  Die  darauf 
folgende,  aus  der  nunmehr  erst  entwickelten  Ein- 
bildungskraft entstehende  „ideoplastische"  Kunst, 
die  nicht  mehr  direkt  an  das  Naturbild  sich  hält, 
sondern  aus  der  Phantasie  schafft,  rechnet  Ver- 
worn nicht  mehr  unter  die  Anfänge  der  Kunst 
und  berücksichtigt  sie  daher  nicht  weiter.  Doch 
weist  er  überzeugend  darauf  hin,  daß  deren  äußer- 
liches Ungeschick  nur  einen  relativen  Rückschritt  • 
gegenüber  der  naturalistischen  Überzeugungskraft 
der  „physioplastischen"  Kunst  bedeutet.  Denn  sie 
hat  dieser  gegenüber  den  Vorzug  eines  unbe- 
grenzten Ideengehaltes.  Da  entsteht  denn  freilich 
sogleich  eine  grundsätzliche  Frage:  Sind  die  An- 
fange dessen,  was  wir  im  eigentlichen  Sinne  Kunst 
nennen  im  Gegensatz  zu  reiner  Technik  und 
naturalistischer  Richtigkeit,  nicht  gerade  erst  da 
zu  suchen,  wo  die  „ideoplastische"  Kunst  beginnt? 
Verworn  schließt  seine  Ausführungen  mit  dem 
Hinweise,  die  Aufgabe  der  Kunst  sei,  Bewußtseins- 
inhalte zum  Ausdruck  zu  bringen.  Wie  aber, 
wenn  man  vielmehr  Gefühlsinhalte  verlangte?  In 
dem  Falle  würden  des  Verfassers  Ausführungen 
weniger  den  Anfängen  der  Kunst  als  ihren  Vor- 
stufen und  Voraussetzungen  gelten.  Rezensent  ist 
dieser  Meinung   und  bedauert   daher,   daß   die  so 


überzeugend  sachlichen  Ausführungen  am  Schluß 
durch  eine  Polemik  gegen  die  ästhetische  Nach- 
barwissenschaft ein  wenig  getrübt  worden  ist. 

K.  Steinacker. 

Winteler,  Dr.  F.,  Die  heutige  industrielle 
Elektrochemie.     Ein  Überblick  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der  schweizerischen  Ver- 
hältnisse.    Sonderabdruck  aus  der  Halbmonats- 
schrift    für     das     Gesamtgebiet     der     Technik 
„Technik  und  Wirtschaft"  Jahrg.   1918,  Heft   17 
bis  24.     80  Seiten  in    kl.  8"   mit    2ö  Abbildgn. 
im    Text    und    2  Tafeln.     Zürich   1919,   Verlag 
von  R.  Ascher  &  Co.     Preis  geh.   1,70  Frs. 
In  außerordentlich  klarer  Darstellung  gibt  der 
Verf    eine    Übersicht    über  die   allgemeinen  wirt- 
schaftlichen Grundlagen    der   Elektrochemie,    ihre 
derzeitigen    Leistungen    und    ihre    Entwicklungs- 
möglichkeiten   und    -notwendigkeiten.       Bei    der 
Besprechung  der  heute  praktisch  im  großen  durch- 
geführten Verfahren,    bei    der    die    elektrothermi- 
schen    Prozesse,    die  Schmelzelekttolyse    und    die 
Elektrolyse  der  wässerigen  Lösungen    in   gleicher 
Weise   berücksichtigt  werden,    befleißigt   er   sich 
großer    Kürze    und    bringt     so    dem    Leser    das 
Wesentliche  zur  klaren  Anschauung.     Das  Büch- 
lein verdient  daher,    auch    wenn    es    sich    in   der 
Hauptsache   auf  die   schweizerischen  Verhältnisse 
beschränkt,    doch    das    Interesse    auch    des   deut- 
schen   Publikums   —    des  allgemein  interessierten 
Wissenschafters  wegen  der  Klarheit  der  Darstellung, 
des  Spezialisten  wegen  vieler  wertvoller  Angaben 
über  den  Stand  der  elektrochemischen  Technik  in 
der  Schweiz  — ,  und  es  muß  nur  bedauert  werden, 
daß    der    —    an    sich    durchaus    angemessene   — 
Preis  von   1,70  Frs.    das   Büchlein    den   deutschen 
Interessenten  infolge  des    unglückseligen  Tiefstan- 
des unserer  Valuta  heute  fast  unzugänglich  macht; 
es    ist   dies   ein   weiteres   kleines  Beispiel    für  die 
Schwierigkeiten,    die   den   wissenschaftlich  inter- 
essierten   Deutschen   bei    der   —   in    Wirklichkeit 
unentbehrlichen  —  Benutzung  der  außerdeutschen 
Literatur  entgegenstehen. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Abel,    O.,    Lehrbuch    der    Paläozoologie. 

500  S.,  70oTextabb.    Gustav  Fischer,  Jena  1920. 

Brosch.  40  M. 
Von  dem  überaus  rührigen  Verfasser  liegt 
abermals  ein  umfangreiches,  in  gewohnter  sorg- 
fältiger Weise  illustriertes  Lehrbuch  vor.  Es  be- 
handelt diesmal  auch  die  Wirbellosen  unter  den 
Fossilien.  Freilich  ist  dabei,  um  für  lehrhafte  zu- 
sammenhängende Darstellung  Raum  zu  gewinnen, 
bewußt  nur  ein  kleiner  Bruchteil  von  Einzel- 
erscheinungen der  fossilen  Tierwelt  herausgehoben 
worden  und  mit  gleicher  Absichtlichkeit  die  Aus- 
führlichkeit von  Gruppe  zu  Gruppe  je  nach  dem 
tatsächlichen  wissenschaftlichen  Werte  durchaus 
verschieden  gehandhabt  worden,  Schematismus 
also  in  jeder  Beziehung  vermieden. 

Die  Wahl  des  Ausdrucks  Paläozoologie  anstatt 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


63 


Paläontologie  bedeutet  ein  Programm,  nämlich 
das  Streben  nach  Eingliederung  des  Wissensstoffes 
in  die  biologischen  Fächer,  nach  Unabhängigkeit 
vor  allem  von  allzu  geologisch  betonten  Bedürf- 
nissen. Daß  biologische  Betrachtungen  einen 
größeren  Raum  einnehmen,  ist  bei  der  bekannten 
Arbeitsrichtung  des  Verf.  selbstverständlich  und 
ganz  gewiß  kein  Schaden,  um  so  weniger  als 
gerade  sie  mit  Recht  als  ein  Brückenpfeiler 
zwischen  geologischem  und  paläontologischem 
Ufer  aufgefaßt  werden. 

Dem  speziell  systematischen  Teil  gehen  Kapitel 
allgemein-paläontologischen  Inhalts  voraus.  Bei 
den  sonst  nicht  zu  ausführlich  behandelten  Säuge- 
tieren finden  sich  ebenfalls  wertvolle  Bemerkungen 
allgemeineren  Inhalts  vorausgeschickt. 

Das  Werk  dürfte  neben  anderen  paläontologi- 
schen Lehrbüchern  seinen  Platz  erobern  und  be- 
haupten, insbesondere  weil  es  wirklich  mehr  auf 
Einführung  in  den  Stoff  als  eine  dem  Schüler 
doppelt  fernstehende  vollkommene  Übersicht  über 
den  gesamten  Formenschiatz  abgestellt  ist. 

Hennig. 


Oppenheimer,   C.    und   Wei§,   O. ,    Grundriß 
der   Physiologie  für   Studierende  und 
Ärzte.       I.  Teil.      Oppenheimer,     Biochemie. 
3.  Aufl.     522  S.     Leipzig  1920,  Georg  Thieme. 
22  M. 
Über    dieses   Werk,    das    nach    kaum    Jahres- 
verlauf  eine    neue    Auflage    erlebte,    erübrigt    es 
sich    eigentlich,  ein   Wort    des    Lobes    zu    sagen. 
War  schon  die  vorangehende  Auflage  ein  Kunst- 
werk, so  ist  die  jetzt  vorliegende  neue  Bearbeitung 
noch    um    vieles   verbessert  worden.     So  ist  auch 
das  schwierige  Kapitel   über   den  Zellstoffwechsel 
in    prägnanter    Weise    ausgearbeitet,    und    keine 
wichtigen    Tatsachen   sind   umgangen.     Auch  das 
Kapitel    der   Kolloide   ist    völlig    neu    umgestaltet 
worden.      Es   ist   besonders  erfreulich,    daß  hoher 
Wert  auf  möglichst  klare,  vollständige  Darstellung 
der  modernen  Zellphysiologie    gelegt    ist,    was   in 
manchem  Lehrbuch  oder  Grundriß   vermißt  wird. 
Und  doch  tritt  die  Wichtigkeit  gerade  dieses  Ge- 
bietes immer  mehr  in  den  Vordergrund. 

Auch  die  Pathologie  des  Stoffwechsels  tritt 
diesmal  in  ihr  Recht:  Es  sind  Zusätze  über  Gicht 
und  Diabetes  hinzugekommen,  Ansätze  zu  der 
wichtigen  Umgestaltung  in  der  Pathologie,  in  der 
etwas  weniger  pathologische  Anatomie  aber  desto 
mehr  pathologische  Physiologie  wünschenswert 
ist.  Ebenso  ist  der  praktische  Ausblick,  der  der 
.  Ernährungslehre  angefügt  ist,  eine  wesentliche 
Bereicherung  des  Werkes.  Oppenheimers 
Grundriß  hält  in  trefflicher  Weise  den  Mittelweg 
zwischen  kompendienhafter,  unzureichender  Kürze 
und  ermüdender  Länge  und  ist  daher  für  Studie- 
rende ebenso  wie  für  Gelehrte,  die  mit  dem  Ge- 
biete der  Biochemie  Berührung  haben,  ein  in 
seiner  Art  einzig  dastehendes  Lehrbuch. 

Collier. 


Spitta,  O.,   Grundriß   der  Hygiene.     Berlin 

1920,  Julius  Springer.  36  M. 
Ein  Lehrbuch  der  Hygiene  soll  sich  nicht  nur 
darauf  beschränken,  die  schädigenden  Wirkungen 
der  Außenwelt  auf  den  Menschen  der  Reihe  nach 
aufzuzählen,  sondern  es  soll  den  Leser  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Mensch  und  Umwelt 
vor  Augen  führen.  Es  muß  gleichsam  ein  Ge- 
samtbild der  Umwelt  mit  dem  Menschen  in  der 
Mitte  malen  und  zeigen,  wie  im  Wechselspiel 
zwischen  beiden  alles  Geschehen  darauf  hinaus- 
läuft, den  Menschen  als  Individuum  oder  als  Gat- 
tung erstarken  zu  lassen,  teils  durch  Ausschaltung 
ungünstiger  oder  gar  feindlicher  Momente,  teils 
durch  Verstärkung  der  günstigen  und  fördernden. 
Der  Spittasche  Grundriß  erfüllt  nun  diese 
Forderungen  in  vortrefflichem  Maße.  Dies  ist 
vor  allen  Dingen  der  Erfolg  der  Anordnung  des 
Stoffes,  der  nach  physiologischen  Gesichtspunkten 
eingeteilt  ist,  da  Verf.  von  dem  sehr  richtigen 
Grundsatz  ausgeht,  daß  die  Hygiene  zum  größten 
Teil  angewandte  Physiologie  und  Pathologie  ist. 
So  gibt  das  Buch  einen  einheitlichen  Überblick 
über  das  Gesamtgebiet  der  Hygiene.  Die  ange- 
fügten kurzen  Abschnitte  über  die  Untersuchungs- 
methoden werden  besonders  dem  Studierenden 
und  die  Literaturangaben  jedem  angenehm  sein, 
der  sich  in  einzelne  Kapitel  der  Hygiene  aus- 
führlicher vertiefen  will.  Die  Gesetzgebung  ist 
ebenfalls  eingehend  berücksichtigt,  ein  Umstand, 
der  das  Buch  auch  für  solche  Leser  wertvoll 
macht,  die  in  der  sozialen  Fürsorge  beschäftigt 
sind,  zumal  noch  der  klare,  leicht  faßliche  Stil 
dazukommt.  Collier. 


Arndt,  Kurt,  DieBedeutung  derKolloide 

für     die    Technik.       Allgemeinverständlich 

dargestellt.     3.  verb.  Aufl.     53  Seiten  in  kl.  8". 

Dresden  und  Leipzig  1920.    Verlag  von  Theodor 

Steinkopff.     Preis  geheftet  3  M. 

Die  kleine  Schrift,  die  sich  an  weitere  Kreise 

des  naturwissenschaftlich  interessierten  Publikums 

wendet,     gibt    zunächst    einen     ganz    kurz    und 

elementar  gehaltenen  Überblick   über   das  Wesen 

der  Kolloide    und    schildert  dann   an  einer  Reihe 

von    Beispielen     die    praktische    Bedeutung     der 

Kolloidchemie.      Daß    das    Büchlein    jetzt    schon 

in  der  dritten  —  übrigens  wesentlich  verbesserten 

und    sorgfältig    ergänzten     —     Auflage    vorliegt, 

beweist  seine  Brauchbarkeit. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Littrow,    Atlas  des   gestirnten   Himmels 
für  Freunde   der  Astronomie.     Taschen- 
ausgabe.     Mit    einer   Einleitung    von    Prof.  Dr. 
J.    PI  aß  mann.       2.    Auflage.        Berlin    1920, 
F.  Dümmler.     il  M. 
Auf   diese    unveränderte    Auflage   des   bereits 
früher  mehrfach  besprochenen  Büchleins  seien  die 
Freunde  der  Astronomie  hier  nur  hingewiesen. 

Miehe. 


64 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4 


Mieleitner,   K.,    Die    technisch    wichtigen 
Mineralstoffe,  Übersicht  ihres  Vorkommens 
und  ihrer  Entstehung.    Mit  einem  Vorwort  von 
P.  Groth.     VI  und  195  Seiten  in  8"  und  9  Ab- 
bildungen im  Text.     München  und  Berlin  1919, 
Druck   und  Verlag  von   R.  Oldenbourg.     Preis 
geheftet  15,60  M. 
Das    vorliegende    Buch    gibt    eine    Übersicht 
über  die  für  die  Chemie   und  chemische  Techno- 
logie   wichtigen  Mineralvorkommen.      Es    wendet 
sich  an  alle  die,  die  —  aus  allgemeinen  theoreti- 
schen oder  aus  praktischen  Gründen  —  Interesse 
für  die  genannten  Industrien  haben.     Es  ist  sach- 
gemäß und  sehr  übersichtlich  geschrieben  —  sein 
Verfasser   ist  Kustos  der   mineralogischen  Samm- 
lungen des  Bayerischen  Staates    in  München   und 
hat  an  der  Aufstellung  der  großen  dortigen  topo- 
graphisch geordneten  Sammlung  der  Minerallager- 
stätten   aller    Länder    hervorragenden    Anteil    — 
und  wird  zweifellos  allen  Interessenten  von  großem 
Nutzen   sein.      Wenn   der  Referent  einen  Wunsch 
aussprechen    darf,    so    möchte    er   bitten,    daß    in 
einer    etwa    notwendig   werdenden    zweiten    Auf- 
lage  auch    einige   Zahlenangaben    über    die    wirt- 
schaftliche   Bedeutung    der    einzelnen    Mineralien 
gemacht    werden ;    sie  würden    für  die  Leser   und 
Benutzer  des  Buches  von  großem  Werte  sein. 
Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Classen, Alexander,  Handbuch  der  qualita- 
tiven   chemischen    Analyse   anorgani- 
scher und  organischerVerbindungen. 
7.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage.     IX  u. 
341  Seiten  in  8".     Stuttgart  1919,  Verlag  von 
Ferdinand  Enke. 
In  dem  vorliegenden  Buche  behandelt  der  be- 
kannte   Aachener    Hochschullehrer    zunächst    die 
wichtigsten     Reaktionen      der     Metallionen     und 
schildert   im  Anschluß  daran   den    systematischen 
Gang,    der    zur  Erkennung    der    einzelnen    Metall- 
ionen   in  Mischungen  dient.     Weiter  bespricht  er 
das    für   den    Analytiker    wichtige  Verhalten    der 
anorganischen    und    eine   größere   Anzahl    organi- 
scher    Säuren     und      —      sehr      ausführlich     — 
das    der    wichtigeren    Alkaloide.       Zum     Schluß 
werden    eine    große    Anzahl    besonders    wichtiger 


organischer  Stoffe  behandelt.  Das  Buch  be- 
schränkt sich  also  nicht,  wie  die  meisten,  für  den 
Gebrauch  der  Studierenden  bestimmten  Lehr- 
bücher der  analytischen  Chemie  auf  die  Stoffe 
der  anorganischen  Chemie,  es  läßt  auch  die  Stoffe 
der  organischen  Chemie  zu  ihrem  Rechte  kommen ; 
daher  hat  es  auch  für  weitere  Kreise  Interesse. 
Für  die  Zuverlässigkeit  der  Angaben  und  die 
Klarheit  der  Darstellung  bürgt  der  Name  des 
Verfassers;  bewiesen  werden  sie  durch  die  Not- 
wendigkeit der  Herausgabe  einer  siebenten  Auflage. 
Berlin- Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Wolff,  W.,  Die  Entstehung  derlnselSylt. 

2.  Aufl.       Friedrichsen  u.  Co.,    Hamburg  1920. 

48  S.,  II  Tafeln.  Brosch.  6  M. 
Den  zahlreichen  Besuchern  der  Insel  wird  in 
kurzen  Zügen  ein  zuverlässiges  gemeinverständ- 
liches Bild  von  den  geologischen  Vorgängen  ent- 
rollt, an  deren  Ende  der  heutige  Zustand  des 
Eilandes,  seine  Gestalt,  Umgrenzung  und  sein  Bau 
stehen.  Eine  Reihe  guter  Lichtbildwiedergaben 
führen  noch  sicherer  in  das  Verständnis  des  Be- 
handelten ein.  (Daß  die  Entwicklung  des  Menschen- 
geschlechts rückwärts  „bis  in  die  Braunkohlen- 
periode hinauf  reiche,  S.  34,  ist  eine  wohl  kaum 
allgemein  geteilte  Auffassung!). 

Edw.  Hennig. 


Literatur. 

Mosler,  Dr.  H.,  Einführung  in  die  moderne  drahtlose 
Telegraphie  und  ihre  praktische  Verwendung.  Mit  2l8  Text- 
abb.     Braunschweig  '20,  Fr.  Vieweg.     24  M. 

Andree,  Prot.  Dr.  K.,  Geologie  des  Meeresbodens. 
Bd.  II  die  Bodenbeschaffenheit  und  nutzbare  Mineralien  am 
Meeresboden.  Mit  139  Textfig. ,  7  Tafeln  und  I  Karte. 
Leipzig  '20,  Gebr.  Bornträger.     92  M. 

Heiberg,  J.  L.,  Naturwissenschaften,  Mathematik  und 
Medizin  im  klassischen  Altertum.  2.  Aufl.  Leipzig  u.  Berlin  '20, 
B.  G.  Teübner.     2,80  M. 

Binz,  Dr.  A.,  Schal-  und  Exkursionsflora  der  Schweiz. 
Basel  '20,  B.  Schwabe  &  Co.     9  Fr. 

K  ü  k  e  n  t  h  a  1 ,  Prof.  Dr.  W.,  Leitfaden  für  das  zoologische 
Publikum.  8.  Aufl.  Mit  174  Textabb.  |ena '20,  G.Fischer. 
28  M. 

Mez,  Prof.  Dr.  C,  Hagers  „Mikroskop  und  seine  An- 
wendung. 12,  Aufl.  Mit  495  Textfig.  Berlin  '20,  J.  Springer. 
3S  M. 


Inhalt:  E.  Küster,  Das  Typhetum  in  der  frühen  deutschen  Graphik,  (i  Abb.)  S.  49.  —  Einzelbericbte  :  Fr.  Jäger, 
Die  Austrocknung  Südafrikas.  S.  52.  G.  Krenkel,  Bericht  über  eine  Forschungsexpedition  in  Deutsch  -  Ostafrika. 
S.  53.  V.  Hilber,  Die  geologische  Stellung  des  Paläolithikums.  S.  54.  T.  Math  er,  Naturschutz  in  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika.  S.  55.  J.  Verne,  Die  Natur  des  roten  Farbstoffes  der  Crustaceen.  S.  55.  .  O.  Hönig- 
schmidt  und_  L.  Birckenbach,  Atomgewicht  von  Wismut.  S.  56.  Gletscherbewegungen  in  der  Schweiz  im 
Jahre  1919.  S.  56.  G.  Jegen,  Zur  Biologie  und  Anatomie  einiger  Enchylräiden.  S.  57.  H.  Tietgen,  Tönen 
der  Telegraphen-  und  Fernsprechleitungen.  S.  57.  G.  Wüst,  Verdunstung  auf  dem  Meere.  S.  58.  Victor 
Hohenstein,  Die  Löl3-  und  Schwarzerdeböden  Rheinhessens.  S.  58.  R.  Bärtling,  Die  Endmoränen  der  Haupt- 
vereisung zwischen  Teutoburger  Wald  und  Rheinischen  Schiefergebirge.  S.  59.  —  Bücherbesprechungen :  1'.  Robien, 
Die  Vogelwelt  des  Bezirks  Stettin.  S.  61.  M.  Verworn,  Die  Anfänge  der  Kunst  S.  62.  F.  Winteler,  Die  heutige 
industrielle  Elektrochemie.  S.  62.  O.  Abel,  Lehrbuch  der  Paläozoologie.  S.  62.  C.  Op  penheimer  und  Q.  Weiß, 
Grundriß  der  Physiologie  für  Studierende  und  Arzte.  S.  63.  O.  Spitta,  Grundriß  der  Hypienc.  S.  63.  K.  Arndt, 
Die  Bedeutung  der  Kolloide  für  die  Technik.  S.  63.  Littrow,  Atlas  des  gestirnten  Himmels  für  Freunde  der  Astro- 
nomie. S  63.  K.  Mieleitner,  Die  technisch  wichtigen  Mineralstoffe.  S.  64.  A.  Classen,  Handbuch  der  qualita- 
tiven chemischen  Analyse  anorganischer  und  organischer  Verbindungen.  S.  64.  W.  Wolff,  Die  Entstehung  der  Insel 
Sylt.  S.  64.  —  Literatur:  Liste.  S.  64. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folgre  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  30.  Januar  1921. 


Nummer  5. 


Kakao  und  Schokolade  bei  den  alten  Mexicanern  und  anderen 
mittelamerikanischen  Völkern. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.  phil.  Frau 

Vierhundert  Jahre  sind  verflossen,  seit  Euro- 
päer zum  ersten  Male  mit  dem  Kakao  und  der 
Schokolade  bekannt  wurden,  die  heute  eine  so 
hervorragende  Rolle  in  der  Ernährungswirtschaft 
spielen.  Wie  schnell  sich  der  Kakao  als  eines 
der  beliebtesten  Genußmittel  neben  dem  Kaffee 
und  Tee  eingebürgert  hat,  beweist  nichts  besser 
als  ein  kurzer  Hinweis  auf  die  Zunahme  seines 
Verbrauches  in  Deutschland  im  Anfang  dieses 
Jahrhunderts.  Die  Einfuhrzahlen  für  Kakao  in 
den  beiden  Jahren  1900  und  1913  erreichten  eine 
Höhe  von  200000  dz  im  Werte  von  rund  29,6 
Millionen  Mark  und  eine  Höhe  von  529000  dz  im 
Werte  von  rund  67,1  Millionen  Mark.  Auf  den 
Kopf  der  Bevölkerung  entfielen   im  Jahre  0,8  kg. 

Bei  diesem  Import  spielte  die  ursprüngliche 
Heimat  der  Pflanze  überhaupt  keine  Rolle.  Mittel- 
amerika fiel  für  Deutschland  völlig  aus.  Sein 
Bedarf  wurde  vielmehr  zum  größten  Teile  durch 
Afrika  gedeckt  (297000  dz  im  Werte  von  35,8 
Millionen  Mark) , ')  erst  dann  folgten  Amerika 
(209000  dz  für  27,8  Millionen  Mark),  Asien  (10400 dz 
für  1,5  Millionen  Mark)  und  die  Südsee  (6800  dz 
für  I  Million  Mark).  Von  dem  amerikanischen 
Kakao  kamen  wiederum  die  beträchtlichsten 
Mengen  aus  Südamerika,  und  zwar  aus  Ecuador 
(71  300  dz  für  9,7  Millionen  Mark)  und  aus  Brasilien 
(63000  dz  für  8  Millionen  Mark).  Der  Rest  ver- 
teilt sich  außer  auf  die  beiden  Republiken  Co- 
lombia  und  Venezuela  ausschließlich  auf  West- 
indien, wo  die  Dominikanische  Republik  auf  Haiti 
bevorzugt  war  (32  100  dz  für  3,8  Millionen  Mark). 
Unmittelbar  vor  Ausbruch  des  Krieges  machte 
sich  bereits  auch  eine  erfreuliche  Zunahme  der 
Kakaogewinnung  in  unseren  Kolonien  bemerkbar. 

Wenn  man  die  Steigerung  des  Kakaoverbrau- 
ches, die  übrigens  in  gleichem  Maße  auch  für  die 
anderen  europäischen  Staaten  zu  verzeichnen  ist, 
in  solcher  Weise  durch  Zahlen  bestätigt  findet, 
so  darf  man  doch  nicht  außer  acht  lassen,  daß 
sie  eben  nur  in  verhältnismäßig  später  Zeit  ein- 
getreten ist.  Früher  war  das  keineswegs  der 
Fall. 

Nach  der  üblichen  Annahme  kamen  zum  ersten 
Male  in  Europa  Kakaobohnen  den  Abendländern 
zu  Gesicht,  als  Hernan  Cortes,  der  Eroberer 
Mexicos,  im  Jahre  1528  aus  der  Neuen  Welt 
heimkehrte  und  am  spanischen  Hofe  vor  den 
Augen   Karls  V.    neben   den    Kostbarkeiten    und 

')  Die  eingeklammerten  Zahlen  beziehen  sich  auf  das 
Jahr  1913.  Sie  sind  der  Statistik  des  Deutschen  Reiches  ent- 
nommen. 


z  Termer. 

seltsamen  Dingen  der  neu  eroberten  Gebiete  auch 
Proben  der  dort  heimischen  typischen  Agrikultur- 
gewächse ausbreitete.  Von  da  an  wurde  in 
Spanien  die  Herstellung  der  Schokolade  bekannt 
und  schnell  beliebt.  Durch  die  strenge  Abschließung 
der  spanischen  Kolonien  in  Amerika  gegen  andere 
Nationen  —  kein  Nichtspanier,  nicht  einmal  ein 
Portugiese  durfte  seinen  Fuß  auf  spanisch-ameri- 
kanischen Boden  setzen,  —  und  ferner  durch  das 
sich  abschließende  Wesen  der  Spanier  gegenüber 
ihren  europäischen  Nachbarn  war  es  möglich,  das 
Geheimnis  der  Schokolade  das  16.  Jahrhundert 
hindurch  zu  wahren.  Erst  1606  wurden  die 
Schranken  durchbrochen,  als  ein  längere  Zeit  in 
Spanien  ansässiger  Italiener  Antonio  Carletti 
bei  der  Rückkehr  in  sein  Heimatland  den  Lands- 
leuten Kunde  von  dem  angenehmen  Getränk 
einer  fremden  Welt  übermittelte.  Nun  schlössen 
durch  Vermittlung  der  Italiener  schnell  auch  die 
anderen  europäischen  Nationen  mit  dem  Kakao 
Bekanntschaft,  vor  allem  Frankreich,  wo  unter 
Ludwig  XIIL  und  seinem  Nachfolger  die  Schoko- 
lade zu  einem  Modegetränke  wurde.  Freilich  war 
ihr  Genuß  nur  den  Vornehmen  möglich,  da  alle 
Mengen  von  verbrauchtem  Kakao  Schmuggel- 
oder Seeräubergut  waren,  das  natürlich  sehr  teuer 
bezahlt  werden  mußte.  Zu  Beginn  ihrer  lohnen- 
den Tätigkeit  hatten  allerdings  die  englischen 
wie  holländischen  Flibustier  und  Buccaniers  die 
Kakaoladungen  spanischer  Beuteschiffe  für  nichts 
geachtet.  Sie  warfen  den  „Bockmist",  *)  wie  sie 
spottend  die  Kakaobohnen  bezeichneten,  einfach 
ins  Meer. 

Veranlassung  zur  Einbürgerung  und  Anpflan- 
zung in  anderen  Erdteilen  gaben  die  Spanier 
selbst,  die  den  Kakao  um  1670  nach  ihren  philip- 
pinischen Besitzungen  überführten.  ^)  Von  dort 
kam  er  in  die  holländischen  Kolonien  Hinter- 
indiens und  noch  später  findet  er  sich  in  Afrika. 
In  Europa  aber  blieben  Kakao  und  Schokolade 
nach  wie  vor  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  ein 
kostspieliges  und  daher  nur  von  wenigen  ge- 
nossenes Getränk,  das  dann  erst  die  zunehmende 
tropische  Produktion  und  damit  verbundene  Ver- 
billigung  der  Ware  auch  weniger  Bemittelten  zu- 
gänglich machte  und  so  den  europäischen  Völkern 


')  „cagarruta  de  carnero"  nach  Thomas  Gage,  Neue 
merkwürdige  Reisebeschreibung  nach  Neuspanien.  Leipzig 
1693,  P-  230- 

')  Vgl.  des  näheren  hierüber:  Padre  Fray  Manuel 
Blanco,  Flora  de  Filipinas.  2.  Aufl.  Manila  1S45,  P-  4 '9 
bis  423. 


66 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  s 


in  ihren  breiteren  Volksschichten  ein  ebenso  an- 
genehm schmeckendes  wie  nahrhaftes  Getränk 
übermittelte. 

Lange  bevor  die  Europäer  Mittelamerika  und 
Mexico  betreten  hatten,  war  der  Kakaobaum  in 
diesen  Ländern  eines  der  wichtigsten  Kultur- 
gewächse gewesen.  Welche  Bedeutung  er  für  das 
Kulturleben  der  alten  Zeit  errungen  hatte,  erhellt 
aus  seiner  Aufnahme  in  den  mexikanischen  My- 
thus. Kakaobohnen  finden  sich  da  des  öfteren 
unter  anderen  Attributen  bestimmter  Gottheiten; 
der  vornehmste  und  volkstümlichste  Gott  der 
alten  Mexikaner,  der  Windgott  Quetzalcouatl,  muß 
natürlich  als  Heros  und  Repräsentant  eines  golde- 
nen Zeitalters  unerschöpflicher  Fülle  an  allem 
dem  Erdenmenschen  Notwendigen  und  Begehrens- 
werten unter  seinen  Besitztümern  auch  einen  aus- 
gedehnten Garten  mit  erlesenen  Kakaobäumen 
sein  eigen  nennen,  die  poetisch  als  „Blumenkakao" 
(xochicacauatl)  bezeichnet  wurden.  Selbst  in  den 
erhaltenen  Bilderschriften  mythologischen  Inhaltes 
aus  dem  mexikanischen  Kulturreiche  wird  der 
Kakao  mit  abgebildet,  sei  es  in  der  Form  von 
Bohnen  oder  des  ganzen  Baumes,  mit  dem  dann 
der  mythische  Baum  des  Südens  gemeint  ist,  ^) 
sei  es  in  der  Form  der  Schokolade,  die  etwa  bei 
der  Göttin  der  Lebensmittel,  Tonacaciuatl,  -)  oder 
bei  der  Wassergöttin  Chalchiuhtlicue ")  in  einem 
Becher  schäumend  wiedergegeben  ist. 

Das  in  den  europäischen  Sprachen  gebräuch- 
liche Wort  „Kakao"  geht  auf  das  mexikanische 
cacauatl  zurück,  das  die  einzelne  Kakaobohne 
bezeichnet.  Die  Schoten,  die  reihenweise  die 
Bohnen  enthalten,  hießen  im  Mexikanischen 
cacauacentli,  während  für  den  Baum  mehrere 
Benennungen  üblich  waren.  Man  unterschied  be- 
sonders vier  Arten:  zwei,  die  cacauaquauitl 
hießen  und  sich  nur  durch  ihre  verschiedene  Größe 
voneinander  trennen  ließen,  xochicacaua- 
quauitl  und  tlalcacauatl.  Von  letzterer 
wurde  hauptsächlich  die  Schokolade  zubereitet. 
Linguistisch  mag  noch  hinzugefügt  werden,  daß 
die  Herkunft  und  Etymologie  des  Wortes  cacauatl 
unbekannt  ist. 

Das  Gedeihen  des  Kakaobaumes  ist  an  be- 
stimmte klimatische  Bedingungen  geknüpft  und 
daher  sein  Vorkommen  geographisch  begrenzt. 
Wärme  ist  für  ihn  eine  Hauptnotwendigkeit  seiner 
Existenz.  Daher  überschreitet  denn  auch  in 
Mittelamerika  seine  Wachstumsgrenze  nicht  die 
Meereshöhe  von  600  m. '')  Er  ist  ganz  an  die 
warme  Tieflandszone  (tierra  caliente)  mit  ihren 
Mitteltemperaturen  von  27 — 23"  C  angepaßt. 
Tiefgründige  Alluvialböden  mit  mäßigem  Zusatz 
von  Kalk  sind  für  das  Fortkommen  des  Baumes 
am    geeignetsten,    und    daher    findet    er   sich    am 


')  Codex  Fejervary-Mayer,  fol.  I.  Herausgegeben 
von  E.  Seier. 

'•')  Codex  Borgia,  Blatt  57  ed.   E.  Seier. 

ä)  Codex  Borgia,  Blatt  57  ed.  E    Seier. 

*)  Nur  selten  kommen  Exemplare  bis  über  900  m  vor. 
Sapper,  Nördl.  Mittelamerika,  S.   197. 


besten  entwickelt  in  den  Urwäldern  des  nördlichen 
Guatemala,  in  der  Feten-Landschaft,  wie  in  den 
heißen  Küstengegenden  des  atlantischen  und  pa- 
zifischen Gestades  des  östlichen  und  südöstlichen 
Mexico.  Analog  liegen  die  Verhältnisse  in  anderen 
mittelamerikanischen  Republiken,  von  denen  El 
Salvador,  Nicaragua  und  Britisch  Honduras  in 
Betracht  kommen. 

Genau  die  gleiche  Verbreitung  besaß  der  Kakao- 
baum schon  in  vorspanischer  Zeit.  Für  Mexico, 
wo  das  Kulturzentrum  beim  Eintreffen  der  Weißen 
mitten  auf  dem  Hochlande  lag,  ergab  sich  aus 
diesen  klimatischen  und  geographischen  Momenten 
ein  Import  aus  den  warmen  Tieflandsregionen 
auf  die  kühlen  Flächen  des  Hochlandes.  Die  Haupt- 
importgegenden für  diesen  Zweig  des  mexikanischen 
Handels  lagen  im  heutigen  Staate  Tabasco  und  an 
der  pazifischen  Abdachung  von  Chiapas,  also  in 
den  beiden  alten  Landschaften  Anauac  Xicalanco 
und  Anauac  Ayotlan,  dem  heutigen  Soconusco. 
Dort  waren  regelrechte  Kakaopflanzungen  ange- 
legt, in  ihrer  Einrichtung  den  modernen  gleichend.*) 
Denn  man  pflanzte  ebenso  wie  heute  höhere  Bäume 
zwischen  die  Kakaostämme,  damit  sie  vermöge 
ihres  höheren  Wuchses  dem  Kakaobaum  den  ihm 
notwendigen  Schatten  spendeten.  Die  Spanier 
nannten  diese  hilfsmäßig  gepflanzten  Stämme  später 
„Mutter  des  Kakao"  (madre  de  Cacao).-) 

In  den  anderen  bereits  erwähnten  mittelameri- 
kanischen Gebieten  waren  die  vorhandenen  Pflan- 
zungen in  ihrem  Umfange  beschränkter  und  eben 
nur  für  den  Unterhalt  ihrer  Besitzer  bestimmt. 
Überall  in  den  Urwäldern  Guatemalas,  die  zwar 
vor  langer  Zeit  von  kulturell  hoch  entwickelten 
Indianerstämmen  bewohnt  waren,  aber  später  nur 
noch  primitiv  lebende  Nachkommen  jener  beher- 
bergten, trafen  die  Spanier  im  17.  Jahrhundert 
bei  ihren  Kriegszügen  gegen  diese  „Lacandones" 
bei  jeder  kleinen  Siedelung  Kakaogärtchen  (cacaua- 
tales)  an.  Erst  in  Yucatan,  bei  den  Mayaindianern, 
und  in  Nicaragua,  bei  den  Nicarao,  einem  Stamme 
mexikanischer  Herkunft,  fanden  sich  wieder  um- 
fangreichere Plantagen. 

Über  die  Bedeutung  des  Kakaobaumes  für  die 
Wirtschaft  der  Bevölkerung  Mittelamerikas  in  vor- 
spanischer Zeit  läßt  sich  das  Wesentliche  zum 
größten  Teile  nur  aus  Mitteilungen  über  die  mexi- 
kanischen Zustände  und  denen  bei  den  Nicarao 
in  Nicaragua  entnehmen.  Nur  spärlich  fließen 
demgegenüber  die  Quellen  über  die  anderen  mittel- 
amerikanischen Gebiete.  Verwendung  von  dem 
Baume  fanden  nur  die  Bohnen  —  vielleicht  auch 
das  Holz  — ,  und  zwar  nach  zwei  ganz  entgegen- 
gesetzten Richtungen  hin,  nämüch  zur  Herstellung 

')  Oviedo  VIII.  cap.  30  (=  tom.  I,  p.  317  li.) 
*)  Wenn  Dufour  als  mexikanisches  Wort  hierfür  ,,atl- 
inan"  angibt,  so  ist  zu  bemerken,  daß  aus  alter  Zeit  ein 
solches  Wort  nicht  überliefert  ist.  Es  scheint  vielmehr  eine 
Übersetzung  des  spanischen  Wortes  zu  sein,  wobei  freilich  nur 
der  zweite  Teil  ,,inan"  (=  seine  Mutter)  versländlich  ist,  wäh- 
rend der  erste  „all"  (Wasser)  nicht  recht  am  Platze  ist.  — 
Oviedo  gibt  als  Namen  für  diese  Bäume  in  Nicaragua 
„yaguaguyt"  an   (aquauiti?). 


I 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


6? 


der  Schokolade  und  als  Zahlungsmittel  im  öffent- 
lichen Verkehr. 

Neben  dem  aus  dem  Saft  der  Agave  gewon- 
nenen Pulque  (mex.  octli)')  erregte  kein  anderes 
der  einheimischen  Getränke  so  sehr  die  Aufmerk- 
samkeit der  Eroberer  als  die  Schokolade.  Dieses 
Wort  ist  seiner  Herkunft  nach  mexikanisch.  Die  An- 
sicht eines  neueren  englischen  Autors,-)  der  ein  in 
seinen  technischen  Teilen  recht  wertvolles  Werk 
über  den  Kakao  verfaßte,  daß  es  sich  zusammensetze 
aus  „choco"  (=  Frucht  des  Baumes)  und  „latl" 
(=  Wasser),  ist  völlig  unrichtig.  Sie  zeigt,  daß 
ihr  Vertreter  nicht  genügende  Sprachkenntnisse 
besaß  und  daher  ohne  Besinnen  die  falschen  An- 
gaben eines  sonst  vortrefflichen  alten  Autors, 
Thomas  Gage,^)  übernahm,  die  er  allerdings 
insofern  modifizierte,  als  Gage  „choco"  für  eine 
Bezeichnung  des  Aufschäumens  hält,  das  ja,  wie 
sich  zeigen  wird,  auch  eine  gewisse  Rolle  spielte. 
Die  richtige  Ableitung  des  Wortes  ist  vielmehr  die 
von  „coco"  und  „atl",  wobei  „coco"  ein  Synonym 
für  „cacauatl"  ist,  wie  Oviedo  beweist  (tom.  I, 
p.  318  li.).  Die  Bedeutung  wäre  dann  einfach 
„Kakaowasser",  „Kakaogetränk". 

Die  Mexikaner  bereiteten  ihre  Schokolade  nun 
auf  folgende  Weise  zu.  Über  einem  nicht  sehr 
starken  Feuer  wurden  die  Kakaobohnen  unter  an- 
dauerndem Umrühren  zum  Schutz  gegen  An- 
brennen getrocknet.  Dann  schüttete  man  sie  auf 
den  steinernen  Mahlstein  (metlatl)  und  erhielt 
durch  das  Zerreiben  der  Bohnen  mittels  der 
steinernen  Handwalze  (metlapilli)  ein  Pulver,  das 
„cacauapinolli"  genannt  wurde.  Zu  diesem  fügte 
man  darauf  allerlei  Ingredienzien,  die  dem  Getränk 
hernach  einen  besonders  angenehmen  Geschmack 
verleihen  sollten.  Besonders  bevorzugte  Gewürze 
waren  schwarzer  und  roter  Pfeffer,  Vanille  und 
Bienenhonig.  Dieser  diente  an  Stelle  von  Zucker 
zum  Süßen.  Endlich  mußte  das  Gemisch  auch 
noch  gefärbt  werden,  meist  durch  Achiote  (Bixa 
Orellana)  in  roter  Farbe,  weil  angeblich  die  Ein- 
geborenen durch  ihre  mit  den  Kulten  zusammen- 
hängende Anthropophagie  an  Bluttrinken  gewöhnt 
waren.*)  Im  Anschluß  daran  sei  bemerkt,  daß  der 
Padre  Avendaflo,  der  sich  am  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts bei  den  Itzä  im  nördlichen  Guatemala 
aufhielt,  berichtet,  bei  diesem  Mayastamme  sei  es 
Brauch  gewesen,  den  Opfern  vor  ihrer  Hinrichtung 
einen  Kakaotrunk  zu  verabfolgen.*) 

Eine  zweite  Art  der  Herstellung  des  Kakao- 
pulvers war  einfacher.  Man  schüttete  das  Pulver 
einfach  in  Atolli,  eine  mit  Wasser  aufgekochte 
Maismasse,  und  genoß  dann  diese  ohne  besondere 
Würze.  Dem  Anschein  nach  ist  diese  zweite  Art 
die  beim  niederen  Volke  übliche  gewesen. 

')  Das  Wort  Pulque  gehört  wahrscheinlich  der  arauka- 
nischen  Sprache  Chiles  an. 

'■')  Whymper. 

')  Th.  Gage,  Neue  merkw.  Reisebeschr.  usw.  Part.  II, 
Cap.  19. 

*)  Oviedo  1.  c.  (=  tom.  I,  p.  318  li.)- 

')  cf.  Ph.  A.  Means,  History  of  the  Spanish  Conquest 
of  Yucatan  and  of  the  Itzas.    Cambridge,  Mass.   1917,  p.  134. 


In  spanischer  Zeit  wurde  es  erst  Sitte,  noch 
andere  Beitaten  zu  den  alten  hinzuzufügen,  wie 
Zimt,  Nelken,  Mandeln,  Haselnüsse,  Pomeranzen- 
blütenwasser  u.  a.^) 

Das  auf  die  erste  Art  zubereitete  Gemisch 
mußte  tüchtig  durchknetet  werden,  bis  es  einen 
guten  Teig  ergab.  Diesen  ließ  man  in  kleinen 
Tafeln  trocknen  und  bekam  so  Tafelschokolade. 
So  geschah  es  wenigstens  in  den  Zeiten  nach  der 
Unterwerfung  des  Landes,  als  die  Spanier  die  Her- 
stellung nach  ihrem  Geschmack  vorgenommen 
hatten.  In  alter  Zeit  kannte  man  Tafelschokolade 
wohl  nicht.  Vielmehr  ließ  man  es  hier  bei  der 
Zubereitung  des  Pulvers  bewenden.  Um  Schoko- 
lade zu  erhalten,  tat  man  es  einfach  in  Wasser 
und  rührte  es  mit  kleinen  —  teilweise  kunstvoll 
gearbeiteten  —  Quirlen  um.'^)  Hauptbedingung, 
die  der  mexikanische  Schokoladetrinker  an  sein 
Getränk  stellte,  war  einmal,  daß  die  Schokolade 
kalt  sein  mußte  und  ferner,  daß  sie  auf  ihrer 
Oberfläche  eine  dicke  Schaumschicht  trug  (Cacau- 
apogouallotl).  Um  den  nötigen  Schaum  zu  er- 
halten, gehörte  ein  gewisses  Geschick  und  eine 
besondere  Übung  dazu,  den  Aufguß  nicht  zu  dünn, 
aber  auch  nicht  zu  dick  werden  zu  lassen.  Zu 
geringes  Aufschäumen  wurde  stets  auf  falsche 
Zubereitung  oder  auf  eine  minderwertige  Sorte 
des  Kakaos  zurückgeführt.  Letzteres  war  fast 
stets  bei  der  Schokolade  des  kleinen  Mannes  der 
Fall. 

Trotzdem  die  Spanier  in  Einzelheiten  Neue- 
rungen in  der  Schokoladeherstellung  einführten, 
übernahmen  sie  doch  zum  größeren  Teile  das, 
was  sie  im  Lande  vorgefunden  hatten.  Auch  sie 
gewöhnten  sich  daran,  das  Getränk  mit  einer 
dichten  Schaumschicht  zu  genießen,  was  sie  frei- 
lich oft  dadurch  zu  erreichen  suchten,  daß  sie  die 
Flüssigkeit  in  einem  langen  Strahle  sich  aus  dem 
Trinkgefäße  in  den  Mund  laufen  ließen,  vielleicht 
einer  Sitte  ihrer  europäischen  Heimat  huldigend, 
der  noch  heute  der  spanische  Bauer  beim  Wein- 
trinken aus  dem  Schlauche  nachkommt.  Nur 
darin  wichen  sie  von  dem  indianischen  Vorbilde 
ab,  daß  sie  den  Trank  warm  zu  sich  nahmen.  Die 
Eingeborenen  verharrten  aber  noch  immer  bei 
ihrer  kalten  Schokolade. 

Über  die  Zubereitung  des  Getränkes  in  den 
übrigen  noch  in  Frage  kommenden  Gebieten 
Mittelamerikas  sind  Einzelheiten  nicht  überliefert 
worden.  Sie  wird  aber  ähnlich  vorgenommen 
worden  sein  wie  in  Mexico.  Denn  aus  Yucatan 
berichtet  ein  Autor  das  Vorhandensein  eines  Scho- 
koladegetränks aus  Mais  und  Kakao,  wie  es  ja 
in  Mexico  ebenfalls  genossen  wurde.  Als  das 
entsprechende  Wort  für  chocolatl  wird  für  die 
yukatekische  Mayasprache  „zaca"  angegeben.^) 
Eine   Besonderheit  findet   sich    in   Nicaragua    bei 


')  Vgl.  darüber  des  näheren  Colmenero. 
*)  Abbildungen    solcher  Quirle   bei   Caec.   Sei  er,    Auf 
alten   Wegen  usw.  S.   130. 

"]  Villagutierre  lib.  U,  cap.  2  Ifol.  89  li.). 


68 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  s 


den  mexikanischen  Nicarao  insofern,  als  dort  die 
Kakaobutter  für  den  Häuptling  reserviert  wurde.*) 

Wie  bereits  angedeutet,  kannten  die  alten 
Mexicaner  Qualitätsunterschiede  einzelner  Kakao- 
sorten. Bevorzugten  sie  schon  den  „tlalcacauatl" 
als  besonders  zur  Schokoladeherstellung  geeignet, 
so  richtete  sich  dessen  Güte  wiederum  nach  der 
Gegend  seiner  Herkunft.  Die  beste  Sorte  wurde 
in  Anauac  Ayotlan,  dem  heutigen  Soconusco 
(mex.  Xoconochco),  gewonnen,  und  selbst  bis  in 
neue  Zeiten  hinein  hat  es  damit  sein  Bewenden 
gehabt.  Denn  noch  zu  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts schreibt  der  gelehrte  Historiker  Guate- 
malas, Domenigo  Juarros  mit  Bezug  auf 
Soconusco:  „en  efecto  su  cacao  es  el  mas  apre- 
ciado  del  mundo,  y  el  que  se  gasta  en  el  Real 
Palacio"  (in  der  Tat  ist  sein  Kakao  der  am  höchsten 
geschätzte  der  Welt  und  wird  am  Hofe  des  Königs 
verwendet.)")  Außerdem  waren  noch  andere 
Kakaogegenden  in  alter  Zeit  durch  die  Qualität 
ihrer  Produkte  angesehen.  Als  solche  nennt  unter 
anderen  Sahagun  die  Gegend  von  Tochtepec, 
das  heutige  Tuxtepec  am  Rio  Papaloapan,  neben 
Guatemala  und  den  beiden  Anauac.^) 

Die  feinen  Sorten  wanderten  in  die  Küchen 
der  Vornehmen  und  in  die  des  Hofes.  In  diesen 
Kreisen  war  die  Schokolade  das  Tafelgetränk,  das 
nach  den  Mahlzeiten  in  kunstvoll  aus  edlem  Me- 
tall gearbeiteten  Trinkschalen  *)  genossen  wurde, 
genau  wie  auch  im  modernen  Europa  der  Kaffee 
im  Anschluß  an  die  Mittagsmahlzeit  eingenommen 
wird.  Wenn  auch  die  Zahlenangaben  der  spanischen 
Autoren  meist  um  ein  Vielfaches  die  wirkliche 
Zahl  übertreiben,  so  muß  doch  immerhin  nach 
dem  Überlieferten  der  Verbrauch  an  Kakao  bei 
den  in  Betracht  kommenden  Stellen  ziemlich  be- 
deutend gewesen  sein.  So  soll  der  Kakaospeicher, 
den  die  Truppen  des  Cortes  bei  der  Einnahme 
der  Hauptstadt  Mexico  plünderten,  4000  Cargas 
Kakaobohnen  enthalten  haben,*)  was  einer  Zahl 
von  96  Millionen  Bohnen  gleichkäme,  und  bei  der 
täglichen  Mahlzeit  des  Herrschers  Motecuhgoma 
sind  nach  Angabe  desBernal  Diaz  50  größere 
Gefäße  mit  Schokolade  aufgetragen  worden.*) 
Wenn  der  schon  einmal  zitierte  W  h  y  m  p  e  r  den 
jährlichen  „Verbrauch"  an  Kakao  am  mexika- 
nischen Hofe  auf  2744000  fanegas  (^=  ca.  1 10  Mil- 
lionen Kilogramm)  beziffert,   so    ist    das  ein  Miß- 


')  Oviedo,  1.  c.  (=  tom.  I,  p.  319  re.):  „El  calachuti 
.  .  ,  pönese  de  aquel  graso  por  los  labrios  e  toda  la  barba, 
e  paresge  que  esid  undato  con  agafran  desleydo  grueso,  e  re- 
luce  como  manteca." 

')  Juarros  trat.  IV,  cap.   14  (=  Band  II,  p.   77). 

')  Sahagun  Hb.  X,  cap.   18. 

*)  Bernal  Diaz  cap.  91:  ,,copas  de  oro  fino"  (ed. 
Garcia  I,   p.  280). 

°)  Herrera  II,  IX,  4  und  Torquemada  IV,  57. 

")  Bernal  Diaz,  cap.  91.  „En  ello,  mas  lo  que  yo  vi, 
que  trayan  sobre  c;inquenta  jarros  grandes  hechos  de  buen 
cacao,  bon  su  espuma".  .  .  Erst  vor  kurzem  ist  in  einem  Artikel 
der  „Woche"  über  die  Schokolade  diese  Stelle  so  ausgelegt 
worden,  als  habe  der  König  selbst  die  50  Gefäße  getrunken. 
Davon  kann  keine  Rede  sein.  Denn  aus  der  Quelle  geht  her- 
vor, daß  sie  für    die    ganze  Tafelgesellschaft   bestimmt  waren. 


Verständnis  der  benutzten  Quelle.  Bezieht  sich 
doch  diese  Zahlangabe  vielmehr  auf  die  Tribut- 
leistungen in  Form  von  Kakaobohnen  an  dem 
Hofe  des  mit  dem  mexikanischen  König  eng  ver- 
bündeten  Fürsten   Negaualcoyotl    von   Tezcoco.*) 

Diese  Tribute  zeigen  nun  gleich  den  Kakao 
in  der  zweiten  Art  seiner  Verwendung  in  Mexico 
sowohl  wie  im  übrigen  Mittelamerika,  soweit  der 
Baum  kultiviert  wurde,  nämlich  als  Münze  im 
öffentlichen  Verkehr. 

Neben  Metallstückchen,  mit  Goldstaub  ange- 
füllten Federposen,  Quetzalvogelfedern,  Decken 
und  Stoffstücken  als  Zahlungsmitteln  nahmen  die 
Kakaobohnen  eine  gleichwertige  Stellung  ein.  Sie 
bildeten  eine  der  beliebtesten  einheimischen  Geld- 
sorten. Ebenso  war  es  mit  ihnen  in  Yucatan  der 
Fall,  wo  sie  neben  Steinen,  kupfernen  Glöckchen 
und  Schellen  benutzt  wurden,  wie  auch  in  Nica- 
ragua, wo  man  sie  mit  Muschelschnüren,  Edel- 
steinen, kleinen  Beilen  und  kupfernen  Schellen 
zusammen  bei  Handelsgeschäften  verwendete.  Auch 
in  Guatemala  waren  sie  die  häufigste  Münzsorte. 
Allgemein  verwendeten  die  Indianer  zu  Münz- 
zwecken die  weniger  guten  Kakaosorten,  da  ja 
die  Qualität  dabei  nicht  in  Frage  kam. 

Überall  hatte  sich  eine  bestimmte  Währung 
herausgebildet,  und  alte  Berichte  lassen  er- 
kennen, daß  sich  das  Währungssystem  auf  der 
vigesimalen  Zählmethode  aufbante.  400  Bohnen 
bildeten  ein  „tzontli",  20  tzontli  (8000  Bohnen) 
ein  ,,xiquipilli"  und  3  xiquipilli  (24000  Bohnen) 
eine  „carga",  eine  Bezeichnung  spanischer  Her- 
kunft, für  die  die  entsprechende  mexikanische  Be- 
nennung unbekannt  ist.-)  Sie  bedeutet  „Last"  und 
ist  in  Anwendung  gebracht  worden  auf  die  weiten, 
umfangreichen  Körbe  aus  Weidengeflecht,  die  eine 
so  große  Zahl  von  Bohnen  fassen  konnten.  Es 
wird  sogar  erzählt,  daß  manche  Körbe  loo  car- 
gas, also  24  Millionen  Bohnen,  enthalten  hätten; 
sie  wären  von  einem  derartigen  Umfange  gewesen, 
daß  sechs  Männer  sie  nicht  zu  umspannen  ver- 
mocht hätten. 

Die  erwähnte  Währungseinteilung  erhielt  sich 
nicht  lange  in  die  spanische  Zeit  hinein.  Bereits 
im  Jahre  1527  setzte  ein  Königliches  Manifest 
unter,  dem  28.  Januar  fest,  daß  an  Stelle  der  Be- 
hälter, die  die  Bohnen  in  den  abgestuften  Zahlen- 
einheiten bargen,  bestimmte  durch  einen  offiziellen 
Stadtstempel  signierte  Maße  zu  treten  hätten. 
Vielleicht  waren  die  Spanier  bei  der  früheren  Me- 
thode zu  oft  von  den  Eingeborenen  betrogen 
worden,  daß  sie  auf  eigene  geeichte  Hohlmaße 
zurückgriffen.  Aber  schon  am  24.  September  1536 
kam  ein  neuer  Erlaß  heraus,  der  wiederum  die 
Abzahlung  der  Bohnen  nach  der  alten  Weise  ver- 
langte. 

Eine  der  ältesten  Quellen  über  die  Eroberung 
Mexicos,   der  Bericht   eines  ungenannten  und  bis- 


')  Torquemada  II,  53. 

ä)  Motolinia,  Historia  de  los  Indios  de  Nueva  Espana 
(bei  Icazbalceta  I,  p.  190). 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


69 


her  unbekannt  gebliebenen  Autors,  des  sog.  Con- 
quistador  Anönimo,  gibt  bereits  den  den  euro- 
päischen Münzen  damaliger  Zeit  entsprechenden 
Wert  der  Kakaomünze  bekannt.  Danach  hätte 
eine  Kakaobohne  im  Werte  einem  halben  „mar- 
chetto"  entsprochen,')  der  nach  Ansicht  des  ge- 
lehrten französischen  Herausgebers  und  Übersetzers 
spanischer  Quellen  aus  dem  ZeitaUer  der  Ent- 
deckungen, Henri  Ternaux-Co  m  pans,  etwa 
einem  französischen  Centime  gleich  gewesen  wäre. 
Demnach  müßte  also  eine  Bohne  gleich  einem 
Centime  gesetzt  werden.  Ob  diese  Rechnung 
stimmt,  mag  dahingestellt  bleiben.  Nach  späteren 
Quellen  wäre  sie  zu  hoch  gegriffen;  denn  Palacio, 
ein  Geistlicher,  der  im  Jahre  1579  Guatemala  im 
Auftrage  der  spanischen  Krone  bereiste  und  über 
die  Ergebnisse  seiner  Rundreise  einen  offiziellen 
Bericht  abfaßte,  bestimmt  den  Wert  von  200  Bohnen 
zu  einem  Real,  das  wären  20  Pfennig.  Dann  käme 
auf  eine  Bohne  Vio  Pfennig.  Er  fügt  aber  noch 
ausdrücklich  hinzu,  daß  eine  carga  im  Werte 
24000  Reales  gleichgekommen  wäre.  Eine  carga 
sind,  wie  oben  angegeben,  24000  Bohnen.  Dem- 
nach hätte  innerhalb  der  carga  eine  Bohne  den 
Wert  eines  Reals  gehabt,  also  von  20  Pfennig. 
Oviedo  hat  Angaben  hinterlassen,  aus  denen 
sich  auf  die  Kaufkraft  des  Kakaogeldes  in  der 
ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  schließen  läßt. 
Danach  hätte  ein  Sklave  100  Bohnen  gekostet, 
für  4  Bohnen  hätte  man  8  Früchte  erhalten,  ein 
käufliches  Frauenzimmer  hätte  sich  für  8—10 
Bohnen  hingegeben.  =)  Der  Wert  des  Kakaogeldes 
ist  demnach  ziemlich  hoch  gewesen. 

Bis  in  die  Gegenwart  hinein  hat  sich  der  Kakao 
als  Zahlungsmittel  neben  den  Metallmünzen  er- 
halten. Zur  Zeit,  als  Otto  Stoll  Guatemala 
bereiste,  um  die  Wende  der  siebziger  Jahre,  waren 
16  Bohnen  gleich  einem  Viertel  eines  Reals 
(i  cuartillo) ;  ^)  für  eine  Beichte  zahlte  man  in 
Nebaj  (Departamento  Vera  Paz)  1 5  Kakaobohnen 
und  IG  Maiskolben.'')  Auch  Desire  Charnay 
hatte  1863  noch  auf  dem  Markte  in  San  Christo- 
bal  (Chiapas)  Kakaobohnen  als  Münzen  im  Um- 
lauf gefunden.  ^)  Und  um  auch  noch  ein  Beispiel 
aus  dem  17.  Jahrhundert  hinzuzufügen:  so  fand 
D  a  m  p  i  e  r  auf  seinen  Seereisen  in  mittelamerika- 
nischen Gewässern  Kakaomünzen  im  Umlauf  an 
dem  Gestade  der  Bai  von  Campeche,  also  wohl 
in  Tabasco.  ®) 

Die  Verbreitung  des  Kakaos  im  mexikanischen 
Reiche  erfolgte  teils  durch  den  Handel,  teils  durch 
Tributleistungen,  die  die  aztekischen  Eroberer 
des  Landes  den  unterworfenen  Provinzen  auferlegt 

1)  „Sono  queste  alberi  (d.  h.  Kakaobäume)  in  grande 
stimaziüne  perche  quei  grani  sono  tenuli  per  la  principal 
moneta  che  corra  in  quel  paese,  et  val  ciascuno  come  un 
mtzzo  marchetto  fra  noi."  Conquistador  anönimo  (bei  Icaz- 
balceta  I,  p.  3S0/81). 

*)  Oviedo,  1.  c.  (=  tom.  1,  p.  316  re.). 

')  Stoll,  Guatemala,  S.  103. 

♦)  Stoll,  ebendort,  S.  394- 

>•)  Charney,  Cites  et  Ruines,  S.  484. 

")  Dampier,  vol.  I,  S.  91. 


hatten.  Der  Kaufmannsstand  nahm  ja  in  der 
Bevölkerung  eine  hervorragende  Stellung  ein. 
Von  seinem  Handelszentrum  in  der  Stadt  Mexico 
zogen  seine  Mitglieder  bis  in  die  Gegenden  von 
Honduras,  ja  vermutlich  sogar  bis  in  jene  von  El 
Salvador  und  Nicaragua,  also  Gebiete,  die  schon 
früher  als  besondere  Produktionsländer  des  Kakao 
genannt  wurden.  Nach  Überlieferungen  soll  der 
regelmäßige  Kakaoimport  unter  der  Regierung 
des  letzten  Königs  von  Tlaltelolco  namens  Mo- 
quiuix  aufgenommen  worden  sein.  Das  wäre 
mithin  etwa  um  1470  n.  Chr.  gewesen,  und  dieses 
Datum  hat  eine  um  so  größere  Wahrscheinlich- 
keit für  sich,  als  eben  jene  südlicheren  Provinzen 
verhältnismäßig  spät  mexikanischer  Oberhoheit 
Untertan  wurden. 

Die  Art  des  in  Frage  kommenden  Handels- 
objektes brachte  es  mit  sich,  daß  Betrug  beim 
Handel  mit  Kakao  nicht  selten  war.  So  röstete 
der  Betrüger  kleine  schlechte  Bohnen,  um  ihnen 
ein  besseres  Äußere  zu  geben,  er  tauchte  sie  in 
Wasser,  damit  sie  durch  Vollsaugen  ihren  geringen 
Umfang  vergrößerten;  bisweilen  wurden  sie  auch 
mit  Farbe  bemalt,  damit  sie  recht  frisch  erschie- 
nen. Ganz  grob  verfuhren  Fälscher,  die  in  die 
dünne  äußere  Haut  der  Bohnen  einen  aus  Wachs 
hergestellten  Kern  einschlössen. ') 

Die  Tributleistungen  werden  zumeist  aus  jenen 
Qualitäten  zusammengesetzt  gewesen  sein,  die  für 
die  Münzen  verbraucht  wurden.  Daneben  gingen 
natürlich  auch  Mengen  besserer  Sorten  ein,  durch 
die  der  Konsum  am  königlichen  Hofe  gedeckt 
wurde.  Vielfach  finden  sich  in  den  erhaltenen 
Bilderschriften  derartige  Kakaotribute  bei  einzelnen 
Städten  angegeben. 

Unter  den  zahlreichen  Kultzeremonien,  die 
einzelnen  Verrichtungen  in  der  einheimischen 
Landwirtschaft  gewidmet  waren,  finden  sich  natür- 
lich auch  solche,  die  mit  der  Pflege  des  Kakao- 
baumes in  Zusammenhang  stehen.  So  mußte 
beim  Einpflanzen  eines  Setzlings  oder  beim  Aus- 
streuen der  Samen  das  Ackerland  zuvor  mit  dem 
Blute  eines  Menschen  oder  Tieres  besprengt  wer- 
den. Bei  den  Maya-Indianern  der  Halbinsel  Yu- 
katan  und  ihren  mittelamerikanischen  Nachbarn 
hielt  man  vor  der  Aussaat  zunächst  ein  Fest  ab 
zu  Ehren  der  Götter  Ekchuah,  Chac  und  Hobnil, 
die  als  Schutzgottheiten  der  Kakaopflanzungen 
verehrt  wurden.  Auf  dem  Landstück  eines  Dorf- 
genossen abgehalten,  gipfelte  die  Feier  in  der 
Opferung  eines  Hundes,  der  auf  seinem  Fell  einen 
der  Farbe  des  Kakao  entsprechenden  Fleck  tragen 
mußte.  War  diese  auf  Analogiezauber  beruhende 
Handlung  beendet,  so  brannten  die  Anwesenden 
vor  den  Götteridolen  Weihrauch  ab,  und  zum 
Schluß  bekam  jeder  Teilnehmer  einen  Zweig  vom 
Kakaobaume,  den  er  als  guten  Talisman  für  das 
Gedeihen  seiner  Pflanzung  daheim  aufzubewahren 
hatte. 


')  Sahagun.lib.  X,  cap.  18. —  Oviedo,  1.  c.  (=tom.  I, 
p.  316  re.). 


70 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Die  Bedeutung  des  Kakaobaumes  für  die  Wirt- 
schaft der  einheimischen  Bevölkerungen  von  Mittel- 
amerika und  Mexico  ist  nach  allem  Vorhergehen- 
den sehr  hoch  zu  veranschlagen,  Oviedo  nennt 
ihn  sogar  den  von  den  Indianern  am  höchsten 
geschätzten  Baum.*)  Für  das  letztere  Land  war 
er  freilich  nur  Gegenstand  des  Importes,  und 
daher  mag  er  dort  in  alter  Zeit  bereits  nicht 
billig  gewesen  sein.  Nicht  ohne  Grund  werden 
jedenfalls  die  Quellen  fast  stets  nur  von  dem 
Schokoladegetränk  der  Vornehmen  reden.  Im 
Erzeugungslande  selbst  ist  er  neben  den  aus  Mais 
gewonnenen  Getränken  von  alters  her  auch  bei 
dem  niederen  Volke  zur  Zubereitung  der  Schoko- 
lade verwendet  worden.  Und  diese  ist  über  die 
Zeiten  der  Eroberung  hinweg  das  Nationalgetränk 
Mittelamerikas  geblieben,  ein  Beweis  mehr  dafür, 
daß  jene  Zeiten  trotz  ihrer  eingreifenden  Umwäl- 
zungen in  dem  Kulturleben  der  eingeborenen 
Nationen  vieles  von  dem  alten  Kulturgut  und  dem 
alten  Volksleben  weiter  fortbestehen  ließen.  Und 
so  sehr  ist  die  Schokolade  heute  dem  Mittel- 
amerikaner zum  Bedarfsgegenstand  geworden,  daß 
seine  Länder  für  den  Kakaoexport  so  gut  wie 
gar  nicht  in  Frage  kommen.  Nur  das  nordwest- 
liche Chiapas  mit  seinem  Departement  Pichucalco 
macht  davon  eine  Ausnahme.  ^)  Langsam  hat 
der  Kakao,  wie  anfangs  gezeigt  wurde,  Fuß  in 
Europa  gefaßt;  heute,  so  kann  man  wohl  sagen, 
ist  er  zum  Lieblingsgetränk  vieler  Millionen 
Europäer  geworden.  Aber  auch  bei  niedriger 
stehenden  Völkern ,  die  ihn  erst  später  kennen 
lernten,    hat  er  sich  bald  eine  Vorzugsstellung  zu 


erringen  gewußt,  wie  das  Beispiel  der  Philippinen 
beweisen  mag.  *) 

Literatur. 

Blanco,  Manuel,  Flora  de  Filipinas.  2.  Aufl.  Manila  1845. 

Charney,  Desire,    Cites  et  Ruines  Americaines.      1863. 

Colmenero  de  Ledesnaa,  Antonio,  De  chocolata  Inda, 
seu  de  eius  qualitate  et  natura.     Norib.   1644. 

Darapier,  William,  Voyages.  Herausgegeben  von 
Masefield,  London   1906.     2  vols. 

Diaz  del  Castillo,  Bemal,  Historia  verdadera  de  la 
Conquista  de  la  Nueva  Espana,  ed.  G.  Garcia,  Mexico   1904. 

Dufour,  Philippe  Sylvestre,  Traite  curieux  du  Cafe,  The 
et  Chocolate.     Vienne  (ohne  Jahr). 

Herrera,  Antonio  de,  Historia  general  de  los  hechos 
de  los  Castellanos  etc.     Amberes   1728. 

Icazbalceta,  Joaquin  Garcia,  Colecciön  de  Docu- 
mentos  para  la  Historia  de  Mexico.     Mexico  1858 — 60. 

Juarros,  Domenigo,  Compendio  de  la  Historia  de  la 
Ciudad  de  Guatemala.     2tom.,  Guatemala   1S08 — 18. 

Oviedo  y  Valdcs,  Historia  general  de  las  Indias, 
Madrid   1851—55. 

Sahagun,  Bernardino  de,  Histoire  generale  des  choses 
de  la  Nouvelle  Espagne,  ed.  R.  Simeon,  Paris   1880. 

Sapper,  Karl,  Das  nördliche  Mittelamerika.  Braun- 
schweig  1897. 

,  Mittelamerikanische  Reisen  und  Studien,  Braun- 
schweig 1902. 

Seier-Sachs,  Cäcilie,  Frauenleben  im  Reiche  der  Az- 
teken.    Berlin  191g. 

—  — ,  Auf  alten  Wegen  in  Mexiko  und  Guatemala,  Berlin 
1900. 

Seier,  Eduard,  Gesammelte  Abhandlungen  zur  ameri- 
kanischen Sprach-  und  Altertumskunde.     Berlin   1901  ff. 

StoU,  Otto,  Guatemala.     Leipzig  1886. 

Villagutierre  y  Sotomayor,  Historia  de  la  Pro- 
vincia  de  el  Itza  etc.     Madrid   1700. 

Whymper,  R. ,  Cocoa  and  Chocolate,  their  chemistry 
and  manufacture.     London   1912. 


')  1.  c.  (=  tom.  J,  p.  315  re.). 

')  Sapper,  Nördl.  Mittelam.  S.  197. 


')  Über  die  dortigen  Verhältnisse  unterrichtet  Padre  Kr. 
Manuel  Blanco,  Flora  de  Filipinas.  Es  scheint,  als  ob 
dort  zuerst  die  Sitte  aufgekommen  ist,  die  Schokolade  mit 
Kaffee  vermischt  zu  trinken:  „Otros  le  (dem  Kakao)  aiiaden 
cafe  tostado  en  sustancia."     2.  Aufl.     S.  422. 


Täuschende  Ähnlichkeit  mit  Bienen,  Wespen  und  Ameisen. 


[Nachdruck  vcrbotCD.] 


Von  Prof.  Dr. 


Auf  Seite  752  des  letzten  Bandes  dieser  Zeit- 
schrift kommt  Heikertinger,  bezugnehmend 
auf  meinen  Aufsatz  (S.  173)  noch  einmal  auf  den 
Bienenfang  der  Spinnen-  und  den  Ameisenfang 
der  Vögel  zurück.  —  Da  Heikertinger,  um 
seine  Theorie  stützen  zu  können,  unausgesetzt  die 
Forschungsresultate  anderer  unrichtig  wiedergibt 
und  alles  fortläßt,  was  gegen  seine  Theorie  spricht, 
würde  ich  es  nicht  für  nötig  halten,  noch  einmal 
in  diesem  Punkt  das  Wort  zu  nehmen,  wenn  ich 
es  nicht,  als  staatlich  angestellter  Spezialist  in  der 
Spinnentierkunde,  für  meine  Pflicht  hielte,  weitere 
Kreise  über   den    wahren  Sachverhalt  aufzuklären. 

Aus  der  etwas  unklaren  jetzigen  Darstellung 
Heikertingers  muß  derjenige  Leser,  der  meine 
früheren  Arbeiten  und  Ausführungen  nicht  noch 
einmal  vornimmt,  den  Eindruck  gewinnen,  i.  daß 
zwischen  den  Bienen  und  Spinnen,  mit  denen  ich 
experimentiert  habe  und  denen,  über  die  sonst 
gewöhnlich    in    der  Mimikryliteratur  die  Rede  ist. 


Friedr.  Dahl. 

ein  wesentlicher  Unterschied  bestehe,  2.  daß  auch 
nach  meiner  Ansicht  die  Kreuzspinne,  mit  der 
Heikertinger  einige  Versuche  gemacht  hat, 
zu  denjenigen  Spinnen  gehört,  welche  Bienen  in 
allen  Fällen  leicht  bewältigen  und  3.  daß 
ich  bei  meinen  Experimenten  Bienen  verwendet 
habe,  welche  im  Verhältnis  zur  Spinne  zu  groß 
waren  und  deshalb  freigegeben  wurden.  —  Ein 
unbefangener  Leser,  dem  ich  Heikertingers 
Darstellung  vorlegte,  verstand  diese  wenigstens 
so.  —  Alles  das  ist  aber  unrichtig. 

Ad  I.  Zunächst  verstehe  ich  auch  jetzt  noch 
nicht,  warum  die  kleineren  Bienen,  die,  ebenso 
wie  die  größeren,  mit  einem  Stachel  bewehrt  sind, 
und  denen,  ebenso  wie  den  größeren,  wehrlose 
Fliegen  in  Bau,  Haltung  und  Bewegungen  täuschend 
ähnlich  sind  (Mimikry),  nur  deshalb,  weil  sie  mit 
einer  Theorie  in  Widerspruch  stehen,  „außerhalb" 
bleiben  sollen.  —  Zudem  habe  ich,  wie  sich  jeder 
Leser  leicht   überzeugen   kann  (Vierteljahrsschr.  f. 


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7« 


wiss.  Philos.  Bd.  9  S.  177),  auch  mit  Tieren  ex- 
perimentiert, die  annähernd  so  groß  sind  wie  die 
Kreuzspinne  und  die  Honigbiene.  Ich  benutzte 
Arama sclopetaria,  Andrena  labialis  und Helophihis 
pcnditltis.  Bei  allen  meinen  Versuchen  mit  diesen 
Tieren  entkam  die  genannte  Biene  und  die  bienen- 
ähnliche Fliege  regelmäßig  aus  dem  Netz.  Nur 
das  Abbeißen  der  haltenden  Fäden  ging  in  diesen 
Fällen  so  schnell  vor  sich,  daß  ich  es  nicht  mit 
aller  wünschenswerten  Sicherheit  feststellen  konnte. 
Dieses  Abbeißen  habe  ich  dagegen  bei  Zilla 
x-noiata  sehr  deutlich  gesehen.  Worauf  es  aber 
bei  der  Mimikryfrage  allein  ankommt,  das  zeigte 
sich  auch  in  diesen  Fällen  sehr  klar  und  sicher: 
Die  Spinne  verhielt  sich  diesen  Tieren  gegenüber 
völlig  anders  als  noch  größeren  gewöhnlichen 
Fliegen  gegenüber  und  die  Versuchstiere  entkamen 
deshalb  regelmäßig,  während  die  größeren  ge- 
wöhnlichen Fliegen  regelmäßig  gefangen  wurden. 

—  Bei  meinen  Versuchen  ging  ich  allerdings  viel 
sorgsamer  zu  Werke  als  Heikertinger,  der  die 
Honigbiene  gewaltsam  mit  einer  Pinzette  am 
Hinterbein  packte  und  ins  Netz  hielt.  Solche  Fälle 
kommen  in  der  Natur  nicht  vor  und  können 
deshalb  bei  Schlüssen  auf  das  Naturleben  nicht 
maßgebend  sein.  Ich  habe  ausdrücklich  einen  Fall 
erwähnt,  daß  eine  ziemlich  stark  gedrückte  Biene, 
Nomada  succincta,  von  der  Aranea  sclopetaria  ein- 
gesponnen und  an  die  Wohnung  geschleppt  wurde. 

—  Was  speziell  die  Kreuzspinne  anbetrifft,  so 
verweise  ich  auf  das  Spinnenwerk  von  A.  Menge 
(Preußische  Spinnen  in:  Sehr.  d.  naturf.  Ges.  Danzig 
1866 — 78  S.46),  den  ich  in  meinem  Aufsatz  als  einen 
unserer  vorzüglichsten  Spinnenbeobachter  bezeich- 
nete, und  der  als  solcher  den  Biologen  allgemein 
bekannt  ist.  Menge  sagt:  „Erkennt  die  Spinne 
das  ins  Netz  gedrungene  Tier  als  gefahrbringend, 
z.  B.  eine  größere  Wespe  oder  Ameise,  oder  ist 
es  für  sie  ungenießbar,  so  beißt  sie  selbst  die 
zurückhaltenden  Fäden  ab  und  ist  dem  Tiere  zu 
seinem  Entkommen  behilflich."  —  Also  auch  da 
liegt  eine  durchaus  zuverlässige  Veröffentlichung 
vor.  —  Ad  2.  Über  das  Bewältigen  von  Bienen 
im  Netz  der  Spinnen,  das  ich  nur  nebenbei  er- 
wähnte, konnte  ich  die  ganze  Literatur  nicht 
bringen  und  glaubte  durch  den  allgemeinen  Hin- 
weis auf  Menge  für  jeden,  der  sich  weiter  für 
die  Frage  interessiert,  dargetan  zu  haben,  daß  die 
Kreuzspinne  nicht  zu  ihnen  gehört.  Auch  jetzt 
kann  ich  nicht  alles  bringen,  da  natürlich  kritische 
Auseinandersetzungen  nötig  sind.  Als  eine  Spin- 
nengattung, bei  der  man  den  Bienen-  und  Hummel- 
fang auch  in  der  Natur  beobachtete,  nenne 
ich  nur  die  Gattung  Argyope.  Die  Gattung  kommt 
für  Deutschland  fast  gar  nicht  in  Betracht,  weil 
sie  nur  bei  Berlin  und  am  Rhein  von  Bingen  bis 
Basel  einzeln,  selten  zahlreich,  vorkommt.  Be- 
obachtungen in  der  Natur  sind  übrigens  in  allen 
Fällen,  in  denen  es  sich  um  Schlüsse  auf  das 
Naturleben  handelt,  viel  wertvoller  als  Experi- 
mente. Experimente  bleiben  da  immer  nur  ein 
Notbehelf.   —    Ad   3.     Bei   meinen  Experimenten 


mit  Bienen  habe  ich  stets,  wie  jeder  aus  meiner 
genannten  Arbeit  ersehen  kann,  einen  Gegenver- 
such gemacht  und  zwar,  wenn  möglich,  mit  Fliegen, 
die  noch  etwas  größer  waren  als  die  Bienen. 

Wir  kommen  nun  zu  einer  zweiten  Frage,  wie- 
weit Ameisen  von  den  Vögeln  gefressen  werden. 
Heikertinger  sagt,  er  habe  „an  erdrückendem 
Tatsachenmaterial  nachgewiesen,  daß  die  Ameisen 
eine  Hauptnahrung  der  Vögel  ausmachen".  —  Er 
selbst  hat  keine  Untersuchungen  am  Objekt  ge- 
macht. —  Sehen  wir  uns  also  einmal  an,  wie  er 
die  Literatur  benutzt.  —  Da  er  meine  Arbeit  über 
„Das  Leben  der  Vögel  auf  den  Bismarckinseln" 
(Mitt.  a.  d.  zool.  Mus.  Berlin,  Bd.  i,  H.  3,  S.  107  ff.) 
nennt,  mag  uns  diese  Arbeit  als  Beispiel  dienen. 

—  In  seiner  Abhandlung  (Biol.  Zentralbl.  Bd.  39, 
S.  98)  sagt  Heikertinger:  „Eine  Arbeit  F. 
Dahls  gewährt  uns  einigen  Einblick  in  die 
Nahrung  der  Vögel  der  Bismarckinseln.  Von  63 
zumeist  insektivoren  Vogelarten  fanden  sich  in 
28  Ameisen  vor  und  zwar  ebensowohl  geflügelte 
als  ungeflügelte."  —  So  kurz  und  allgemein  diese 
Angabe  ist,  so  falsch  ist  sie  von  Anfang  bis  zu 
Ende  und  zwar  von  ihm  zugunsten  seiner  Theorie 
gefälscht.  —  Zunächst  sei  erwähnt,  daß  ich  im 
ganzen  280  Mageninhalte  von  97  Vogelarten  ge- 
nau untersuchte.  Unter  diesen  waren,  wenn  man 
von  Fällen  absieht,  in  denen  Insekten  höchstens, 
wie  angegeben  wurde,  den  hundertsten  Teil  des 
Mageninhalts  ausmachten  und  nur  zufällig  mit 
Pflanzenteilen  aufgenommen  sein  konnten,  167 
Mägen  54  insektenfressenden  Vogelarten 
entnommen.  In  41  Mägen,  die  27  Vogelarten 
entnommen  waren,  befanden  sich  Ameisen;  aber 
nur  in  10  Mägen  von  9  Vogelarten  wurden  sicher 
ungeflügelte  Ameisen,  d.  i.  Arbeiter,  nachgewiesen. 
In  19  Mägen  waren  es  sicher  nur  geflügelte,  und 
in  12  Mägen  von  10  Vogelarten  waren  die  Ameisen 
soweit  zerstört,  daß  man  nicht  erkennen  konnte, 
ob  es  Geschlechtstiere  oder  Arbeiter  waren.  — 
Die  Angabe  H ei ker tingers,  daß  in  den  Mägen 
aller  27  (bzw.  28)  ameisenfressenden  Arten  „so- 
wohl geflügelte  als  ungeflügelte"  vorhanden  ge- 
wesen seien,  ist  also  falsch.  Selbst  wenn  alle 
Ameisenbruchstücke  von  Arbeitern  hergerührt 
haben  würden,  was  als  vollkommen  ausgeschlossen 
gelten  kann,  könnten  es  höchstens  19  Vogelarten 
sein,  welche  Arbeiter  gefressen  hatten.  Nach  der 
Lebensweise  der  Vögel  zu  schließen  aber  waren 
es  gewiß  nicht  mehr  als  10 — 12  Arten.  Auf  die 
Arbeiter  aber  kommt  es  bei  der  Mimikryfrage 
allein  an;  denn  Mimikryfälle  nach  geflügelten 
Ameisen  sind  bisher  noch  nicht  bekannt  geworden. 

—  Es  kommt  hinzu,  daß  ich  nur  bei  einer  einzigen 
Vogelart  im  Bismarck- Archipel,  bei  Megaluriis 
iiiacntnis  eine  größere  Zahl  von  Arbeitern  (30) 
im  Magen  fand  und  daß  gerade  diese  Vogelart  nur 
ganz  lokal  vorkommt,  von  mir  nur  auf  der  kleinen 
Insel  Uatom,  niemals  dagegen  auf  Neupommern 
selbst  beobachtet  wurde.  Abgesehen  von  Alega- 
lurus  fand  ich  höchstens  2  Ameisenarbeiter  in 
einem  Magen.  —  Zu   diesen  Befunden  muß  noch 


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eins  berücksichtigt  werden,  worauf  ich  in  meiner 
Arbeit  „Das  Leben  der  Ameisen  im  Bismarck- 
Archipel"  (Mitt.  a.  d.  zool.  Mus.  Berlin  Bd.  2, 
H.  I III)  ganz  besonders  hingewiesen  habe :  Der 
Ameisenreichtum  ist  im  Bismarck -Archipel,  wie 
jedem  Besucher  sofort  auffällt,  ein  ungeheurer. 
Nach  meinen  zahlreichen  Köderfängen  mittels 
Selbstfängers,  die  ich  in  Norddeutschland  und  im 
Bismarck-Archipel  in  gleicher  Weise  unter  sorg- 
fältiger Vermeidung  von  Ameisennestern  und 
Ameisenstraßen,  ausführte,  ließ  sich  berechnen, 
daß  der  Ameisenreichtum,  d.  i.  der  Reichtum  an 
Ameisenarbeitern  im  Bismarck-Archipel  etwa  30 
mal  so  groß  ist  als  in  Norddeutschland.  Was  be- 
deuten da,  frage  ich,  die  wenigen  Ameisenarbeiter, 
die  ich  wirklich  in  Vogelmägen  fand? 

Vergleichen  wir  aber  nun  einmal  die  Individuen- 
zahlen der  verschiedenen  Landarthropoden,  die  in 
den  Mägen  der  Vögel  des  Bismarck- Archipels  ge- 
funden   wurden.    —    Zunächst    sei    darauf   hinge- 
wiesen,  daß,   abgesehen    von  den  Tagfaltern,    die 
täuschende  Ähnlichkeit  sich  ganz  besonders  beim 
ruhenden    und    kriechenden   Tiere    zeigt.      Damit 
steht  im  Einklang,    daß  die  fliegend  fangenden 
Vögel    des    Bismarck-Archipels,    wie    die   Magen- 
inhalte zeigen,  beim  Fange  eine  Auswahl    nur   in 
der    Größe    treffen,    sonst    aber    Fliegen,    Bienen, 
Ameisen,   Käfer   und   Wanzen   ohne   Unterschied 
fressen.  Wenn  der  Bienenfresser  f'ili/d?;'^?/'^/'  besonders 
Bienen  frißt,  so  liegt  das  lediglich  daran,  daß  an  den 
Orten,  wo  er  seine  Jagd  betreibt,   die   fliegenden 
Insekten  von  geeigneter  Größe  besonders  Bienen 
sind.      Da  die    fliegendfangenden   Vögel   für   die 
Mimikryfrage,  abgesehen  von  den  Tagfaltern,  also 
nicht    in   Betracht   kommen,   mögen   sie  zunächst 
aus  unserer  Statistik  ausscheiden.   Ebenso  scheiden 
aus  die  Seeschwalben  (Sterna),  welche  ihre  Nahrung 
auf  dem  Meere  suchen  und  gelegentlich  tote  oder 
halbtote   geflügelte   Insekten   auf  der   Oberfläche 
treibend  finden.    —    Es    ergeben    sich    dann    aus 
meinen    Magenuntersuchungen    folgende    Zahlen : 
142  Vögel   hatten   gefressen:   87   Spinnen,   mehr 
als  280  Käfer,   4  Schmetterlinge,    mehr    als    I2i 
Raupen,    159   Ameisen    (und    zwar    42    Arbeiter, 
68  Geschlechtstiere  und  49  zweifelhafte),  4  Bienen, 
2  Grabwespen,   keine  Faltenwespen  und  Schlupf- 
wespen, 23  Zweiflügler,  197  Zweiflüglerlarven,  4 
Ameisenlöwen,  39  Wanzen,    33  Zikaden,  22  Ohr- 
würmer  und   69    Geradflügler.      Die   Zahlen    ent- 
sprechen   bei    den    Käfern,    Raupen,   Zweiflügler- 
larven,   Zikaden,    Ohrwürmern    und  Geradflüglern 
etwa  dem  Eindruck,    den    man   selbst  beim  Sam- 
meln von  ihrer  Häufigkeit  bekommt.  —  Entschie- 
den   zu    niedrig   ist    die  Zahl  der  Schmetterlinge, 
Hautflügler,   Zweiflügler   und  Wanzen.      Auch  bei 
den    Spinnen    scheint    mir    die    Zahl    keineswegs 
ganz  der  Häufigkeit  zu  entsprechen.  —   Z.  T.  er- 
.    klärt  sich  das  Mißverhältnis  in  den  letztgenannten 
Tiergruppen    daraus,    daß   die   Tiere   keine   Teile 
besitzen ,    die    sich    bei    der    Druckwirkung    des 
Muskelmagens    gut    erhalten    und    die    schon    in 
Bruchstücken  erkennbar  sind.     Alle  Tiere,  welche 


feste  Mundwerkzeuge  oder  einen  festen  Kopf  be- 
sitzen, lassen  sich  leicht  der  Gruppe  und  der  Zahl 
nach  feststellen.   Feste  Mundwerkzeuge  (Cheliceren) 
haben    freilich    auch    die    Spinnen.      Wenn   diese 
trotzdem  in  zu  geringer  Zahl  erscheinen,  so  wird 
es   daran    Hegen,    daß    erfahrungsgemäß    von  den 
Vögeln    oft    nur    der    leicht    abtrennbare    weiche 
Hinterleib  gefressen  wird,  dieser  aber  im  Magen- 
inhalt schwer  zu  erkennen  ist.    Die  sicher  erkenn- 
baren   Spinnwarzen    sind    zu     klein    und    werden 
nicht  leicht  gefunden.    Daß  bei  Vögeln  gegen  die 
Spinne    als    Nahrung   irgendeine  Abneigung    vor- 
handen  wäre,   läßt  sich   also   aus   ihrer  Zahl  im 
Magen   nicht   nachweisen.   —   Viel   zu  gering   ist 
die    Zahl    der   Zweiflügler,    die,    nach  meiner  Be- 
rechnung   aus    den    Köderfängen,    im    Bismarck- 
Archipel  35  "1^1  so  individuenreich  vertreten  sind 
als  bei   uns   (Mitt.  a.  d.  zool.  Mus.  Bd.  I,  Heft  3, 
S.  1 29  f.),  was  sehr  viel   sagen  will ,   da   sie   auch 
bei  uns  schon  recht  individuenreich  vertreten  sind. 
Da  wir  wissen,  daß  Fliegen  allgemein  von  Vögeln 
gern  gefressen  werden,  könnte  man  denken,    daß 
sie  als  die   geschicktesten   Flieger   unter   den   In- 
sekten, durch  ihren  geschickten  Flug  den  Vögeln 
entgehen, ')  und  das  mag  in  einem  gewissen  Grade 
auch  richtig  sein.     Bei   ihrem    großen  Individuen- 
reichtum   erklärt    uns    der   geschickte  Flug    aber 
auch   nicht  annähernd   ihre  äußerst  geringe  Zahl 
in  den  Mageninhalten  der  Vögel;   denn  auch  bei 
den  geschickt  fliegenden,  fliegendfangenden  Vögeln 
ist    offenbar    die   Zahl    der    Dipteren    (57    in    23 
Mägen)  viel  zu  gering.    Nun  wissen  wir  aber,  daß 
die  Dipteren  durchweg  sehr  zart  gebaut  und  da- 
bei  äußerst   brüchig   sind   und  daß  sie  sehr  feste 
Teile,  die  gequetscht  leicht  erkennbar  wären,  nicht 
besitzen.      Ferner    zeigt    die    Untersuchung    der 
Mageninhalte,  daß  gerade  bei  den  Vogelarten,  bei 
denen  Dipteren  besonders   als  Nahrung   in  Frage 
kommen  könnten,    nach   den  Angaben    in  meiner 
Arbeit   fast   immer   ein   großer  Teil   des   Magen- 
inhaltes  als   unerkennbare  Masse   vorhanden  war. 
Da  diese  Masse  aber  meist  Chitinteilchen  erkennen 
ließ,    dürfen    wir    wohl    annehmen,    daß    die    ge- 
fressenen Dipteren   der  Mehrzahl   nach    unter  der 
Wirkung     des     Muskelmagens     völlig     zermalmt 
sind.     —    Dasselbe    gilt    für    die    Schmetterlinge 
namentlich    für   die   Kleinschmetterlinge    und   die 
kleineren    Heteroceren.    —   Schmetterlingsraupen 
und   Dipterenlarven    sind    zwar   auch   dünnhäutig. 
Aber  ihre  Haut  ist  verhältnismäßig    zäh ,    so    daß 
diese   trotz   ihrer   Zartheit    meist   erkannt   wurde. 
Von  den  Raupen  wurden  allerdings  bisweilen  nur 
die  Köpfe  und  die  Stigmen  erkannt.  —  Es  bleiben 
dann   nur   die    Hymenopteren    und  Wanzen,    die, 
obgleich  sie  leicht  erkennbare  Hartgebilde  besitzen, 
in    zu    geringer   Zahl    in   den  Mageninhalten   sich 
finden.     Besonders  fällt  das  bei   den  Wanzen  auf, 
die  im  Bismarck-Archipel  außerordentlich  viel  in- 
dividuenreicher  vorhanden   sind   als    die   Zikaden 


')  Die  schlimmsten  Feinde    der  Dipteren   sind   zweifellos 
die  netzbauenden  Spinnen. 


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und  sich  trotzdem  in  den  Mageninhalten  in  kaum 
größerer  Zahl  finden.  Bei  den  Hymenopteren 
muß  ganz  besonders  die  geringe  Zahl  der  Ameisen- 
a  r  b  e  i  t  e  r  auffallen,  deren  Individuenreichtum,  wie 
schon  hervorgehoben  wurde,  im  Bismarck- Archipel, 
ganz  enorm  groß  ist.  Doch  auch  die  Bienen, 
Grabwespen  und  Faltenwespen  sind  reich  ver- 
treten und  nicht  annähernd  in  entsprechender 
Zahl  in  den  Mageninhalten  vorhanden.  Bei  den 
genannten  Hautflügjern  und  den  Wanzen  bleibt 
uns  nichts  anderes  übrig,  als  anzunehmen,  daß  sie 
von  vielen  Vögeln  als  Nahrung  gemieden  werden. 
Sie  fanden  sich  auch  nur  in  dem  Magen  verhält- 
nismäßig weniger  Vogel  arten.  Während  sich 
Käfer  bei  29  nichtfliegendfangenden  Vogelarten 
und  die  verhältnismäßig  individuenärmeren  Gerad- 
flügler bei  23  Vogelarten  fanden,  hatten  nur 
8  Arten  Bienen  gefressen,  nur  14  Arten  Wanzen 
und  auch  nur  15  Arten  geflügelte  Ameisen. 
Ameisenarbeiter  werden,  wie  schon  oben  ange- 
geben wurde,  höchstens  von  12  Vogelarten  ge- 
fressen. 

Damit    ist    der    Beweis    erbracht,    daß    im 
Bismarck- Archipel  die  Ameisen,  Wespen,   Bienen 
und  Wanzen   unter   den  Vögeln   weniger  Feinde 
besitzen  als  andere  Insekten,  daß  sie  also,  während 
sie  ihrer  Nahrung    nachgehen    und    in    der    Brut- 
pflege tätig  sind,    weniger   von  Vögeln   behelligt 
werden  als  andere  Insekten.   —   Bewiesen  ist  da- 
mit  freilich    nur,    daß   sie  von  manchen  Vögeln 
gemieden   werden.     Die   Frage,   warum  sie  ge- 
mieden werden,  interessiert    uns    erst   an    zweiter 
Stelle.  —  Da  wir  wissen,  daß  besonders  in  diesen 
beiden  Ordnungen  unangenehme,  ja,  sogar  gefähr- 
liche Absonderungen  vorkommen,    liegt    der  Ge- 
danke allerdings  sehr  nahe,   das  Gemiedenwerden 
diesen    Absonderungen    zuzuschreiben.      Da    die 
Absonderungen  nicht  bei  allen  Arten  der  Gruppe 
gleich  stark   sind,  —   wissen    wir   doch,    daß   bei 
manchen    Wanzen,    namentlich    bei    gestreckten, 
unscheinbar    gefärbten    Arten,    der    Geruch    sehr 
schwach  ist,  —  würde  uns  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme    noch    klarer   vor   Augen    treten,    wenn 
wir  bei  unseren  Vergleichen  über  die  „Ordnung" 
hinaus,   wenigstens   bis   auf  die  „Familie"  weiter 
gingen.     Wir  würden  dann  sehen,  daß  unter  den 
Wanzen  manche,  z.  B.  die  sehr  lebhaft  gefärbten 
Pyrrhocoriden,    fast   nur   von  den  Kuckucken  ge- 
fressen   werden,    von    diesen   aber   ziemlich  regel- 
mäßig.    Wir  würden  weiter  sehen,   daß   es  auch 
unter  den  Käfern  einzelne  Gruppen  gibt,  die  (ab- 
gesehen von    den  fliegendfangenden  Vögeln)    nur 
von  den  Kuckucken  gefressen  werden ,   z.  B.  eine 
lebhaft  gefärbte  häufige  Coccinellide  und  die  eben- 
falls lebhaft  gefärbte  Gattung  O'idcs. 

Steht  nun  fest,  daß  Bienen,  Wespen  und 
Ameisenarbeiter  von  vielen  insektenfressenden 
Vögeln  gemieden  werden,  so  ergibt  sich  als 
logischer  Schluß,  daß  diejenigen  Tiere  anderer 
Gruppen,  die  ihnen  täuschend  ähnlich  sind,  in 
dieser  Ähnlichkeit  einen  großen  Vorteil  besitzen  und 
nur  das  setzt  die  Selektionslehre  voraus.  Diese  Lehre 


gibt  dann  für  das,  was  der  Neolamarckismus  als 
Zufall  ansehen  muß,  eine  natürliche  Er- 
klärung. 

Wie  der  Leser  an  dem  hier  gegebenen  Bei- 
spiel sieht,  muß  der  Forscher,  um  aus  Vogel- 
magenuntersuchungen sichere  Schlüsse  ziehen  zu 
können,  äußerst  sorgfältig.  Schritt  für  Schritt  vor- 
gehen. Bei  Heikertinger  bemerken  wir  von 
einer  solchen  Sorgfalt  keine  Spur.  Bei  ihm  soll 
es  die  Masse  tun.  Die  Masse  soll  das  „erdrückende 
Beweismaterial"  liefern. 

In  meiner  Arbeit  über  die  Ameisen  des  Bis- 
marck-Archipels  nannte  ich  die  Vögel  die  schlimm- 
sten Feinde  der  Ameisen,  und  das  ist  richtig.  Ich 
wies  aber  ausdrücklich  darauf  hin,  daß  gerade  die 
Vernichtung  der  Geschlechtstiere  den  Be- 
stand der  Ameisenstaaten  gefährden  könne.  Die 
wenigen  Arbeiter,  die  von  den  Vögeln  gefressen 
werden,  kommen  dabei  gar  nicht  in  Betracht. 
Meine  Worte  schließen  keineswegs  aus,  daß  die 
Vögel  anderen  Tiergruppen  noch  weit  schlimmere 
Feinde  sind.  Durch  meine  hier  gegebenen  Aus- 
führungen ist  dafür  der  Beweis  geliefert. 

Was   die  Magenuntersuchungen   einheimischer 
Vögel  anbetrifft,  so  bin  ich  bereits  in  einer  ande- 
ren Zeitschrift  („Aus  der  Heimat"  Jahrg.  33,  S.  22) 
näher   auf  dieselben    eingegangen    und    werde   in 
derselben  Zeitschrift  noch  einmal  auf  das  Thema 
zurückkommen.  —  Hier  sei  nur  noch  einmal  her- 
vorgehoben,   in    wie    geringer   Zahl    die    Arbeiter 
unserer  Waldameise,  (der  eine  einheimische  Spinne 
täuschend  ähnlich  ist),  von  Vögeln  gefressen  wer- 
den, namentlich  während  des  Sommers.     —    Man 
kann  es  nicht  genug  betonen,  daß  Tiere,   welche 
so   offen    auftreten    wie    unsere    Waldameise,    un- 
möglich viele  Feinde  haben  können,  weil  sie  dann 
schon  längst  ausgerottet  sein   würde;    und    damit 
decken  sich  alle  Vogelmagenuntersuchungen  voll- 
kommen.     Neben    den    Ameisenstraßen    könnten 
zahlreiche  Vögel  sich  gütlich  tun,  wenn  ihnen  die 
Waldameise  wirklich  ein  angenehmes  Futter  wäre. 
Jeder  Tierbeobachter  kann  sich  leicht  davon  über- 
zeugen, daß  man  mit  einer  Pinzette   eine  Ameise 
nach  der  andern  aufsammeln  kann,  ohne  von  den 
anderen  belästigt  zu  werden.  —  Man  müßte  also 
hunderte  von  Waldameisenarbeiter  in  den  Vogel- 
mägen  finden.     Und  was  findet  man?     Während 
des  Sommers   günstigenfalls   einzelne  Stücke.     Ist 
das  alles  Zufall?  — Daß  offen  auftretende  Tiere 
von    den    Vögeln    gemieden,    versteckt    lebende 
gierig  gefressen  werden,    ist  übrigens  eine  so  all- 
gemein  gültige  Erscheinung,   daß  jeder  Naturbe- 
obachter, ja,  sogar  der  Laie  sie  kennt.      Welcher 
Garten-  und  Hühnerbesitzer  wüßte  nicht,  daß  die 
zahlreich  frei  auf  dem  Kohl  lebenden  Raupen  des 
Kohlweißlings  von  den  Hühnern,  auch  einzeln  vor- 
geworfen,  verschmäht,   die    im   Innern    der  Kohl- 
köpfe lebende  Raupe  der  Kohleule  dagegen  gierig 
gefressen  wird.    Ist  das  alles  Zufall?  —  Heiker- 
ting;er  sagt:  „Eine  Unterscheidung  zwischen  ge- 
fährlichen   und    harmlosen  Ameisen    müßte    vom 
Vogel-    und    nicht    vom  Menschenstandpunkt  vor- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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genommen  werden,  was  aber  für  uns  Menschen 
undurchführbar  ist."  —  Gewiß  ist  das  durchführbar. 
Wenn  man  im  Magen  des  Wendehalses,  nach  den 
bis  jetzt  vorliegenden  Untersuchungen,  während 
des  Sommers  fast  nie  Waldameisen,  sehr  zahl- 
reich aber  andere  Ameisen  findet,  so  muß  er  sie 
doch  wohl  unterscheiden  können;  denn  daß  er 
Waldameisen,  auch  einzeln  umherlaufende,  im  Som- 
mer nicht  finden  könne,  wird  doch  wohl  keiner, 
der  das  Tierleben  der  Heimat  kennt,  glauben 
wollen.  —  Der  Vertreter  der  neolamarckistischen 
Zufallstheorie  wird  sich  also  immer  wieder  mit 
der  Annahme  beruhigen  müssen,  es  ist  Zufall, 
während  sich  für  den  Vertreter  der  Selektions- 
lehre das  eine  stets  als  notwendige  F"olge  aus  dem 
anderen  ergibt. 

Ich  hoffe  durch  meine  hier  gegebenen  Aus- 
führungen dem  nicht  voreingenommenen  Leser 
klar  vor  Augen  geführt  zu  haben,  wie  verschieden 
der  Neodarwinismus  und  der  Neolamarckismus 
den  aus  den  Vogelmagenuntersuchungen  sich 
ergebenden   Tatsachen  gegenüberstehen. 

Wundern  muß  man  sich  eigentlich  über  das 
nochmalige  Wiederaufglimmen  des  Larmarckis- 
mus,  da  er  doch  das  allgemeine  Bedürfnis  des 
Menschen,  sich  alle  Erscheinungen  in  der  lebenden 
Natur  ursächlich  zu  erklären,  so  wenig  befriedigt, 
da  doch  erst  die  Darwinsche  Selektionslehre 
kommen  mußte,  um  den  Abstammungsgedanken 
zum  vollen  Siege  zu  führen.  —  Diese  eigenartige 
Erscheinung  dürfte  in  folgenden  drei  Tatsachen 
ihre  Erklärung  finden :  Erstens  darin ,  daß  B  o  - 
taniker  die  Abstammungslehre  mehr  in  die 
Hand  nahmen,  in  der  Botanik  aber  der  Kampf 
ums  Dasein  und  das  Wirken  der  Selektion  nicht 
so  klar  zutage  tritt  wie  in  der  Zoologie.  Zweitens 
daiin,  daß  über  die  wichtigsten  Fragen  der  Se- 
lektionslehre, namentHch  über  die  Mimikryfrage  in 
erster  Linie  die  Entomologie  zu  entscheiden  hatte, 
diese  sich  aber  vorwiegend  in  den  Händen  von 
Dilettanten  befindet.  Drittens  darin,  daß  die  Ver- 
treter der  Selektionslehre  sich  über  das  Auftreten 
der  ersten  Anfangsstadien  nützlicher  Eigenschaften 
immer  noch  nicht  völlig  klar  geworden  sind. 

Dilettanten  sind  leicht  geneigt  ins  Extrem  zu 
verfallen.  Nachdem  die  Entomologen  von  der 
Selektionslehre  gehört  hatten,  suchten  sie  überall 
nach  Mimikryfällen.  Bald  gab  es  für  sie  nur  noch 
Schutzfarben,  Trutzfarben  und  Mimikry.  Jede 
auch  nur  annähernde  Ähnlichkeit  wurde  von  ihnen 
als  Mimikry  gedeutet.  — ■  Die  Folge  war,  daß  sie 
die  Mimikrylehre  und  damit  auch  die  Selektions- 
lehre gründlich  in  Mißkredit  brachten;  denn  jeder, 
der  z.  B.  Vögel  kennt,  muß  sich  sagen',  daß 
viele  Farben  der  Tiere  weder  als  Schutzfarben 
noch  als  Trutzfarben  zu  verstehen  sind.  Da  man 
aber  nicht  auf  den  eigentlich  recht  nahe  liegen- 
den Gedanken  kam,  daß  das  Weibchen  jeder 
Tierart  das  Männchen  der  eigenen  Art  von  denen 
anderer  Arten,  die  am  gleichen  Orte  vorkommen, 
zur  Paarung  muß  unterscheiden  können,  daß, 
wenn  der  Geruchssinn  versagt,  wie  bei  den  Vögeln, 


zum  Erkennen  außer  dem  Gehörssinn  nur  noch 
der  bei  Vögeln  so  hoch  entwickelte  Gesichtssinn 
in  Frage  kommen  kann,  die  Farben  also  lediglich 
Erkennungs färben  sein  werden,  so  wandte 
man  der  Selektionslehre  den  Rücken  und  ließ  unbe- 
kannte  innere   Ursachen,   ließ   den  Zufall  walten. 

—  Die  extremen  Vertreter  der  Selektionslehre 
aber,  die  in  sehr  vielen  Fällen  durch  die  Selektion 
den  Zufall  ausgeschaltet  sahen,  wollten  gar  keinen 
Zufall  mehr  anerkennen  und  alles  durch  Selektion 
erklären.  —  Beides  ist  verfehlt :  —  Wie  ein  Stück 
Feuerstein  einem  Stück  Bernstein  lecht  ähnlich 
sein  kann,  ohne  daß  beide  Substanzen  auch  nur 
das  Geringste  miteinander  gemein  hätten,  so  kann 
auch  ein  Tier  einem  Tiere  aus  einer  anderen 
Gruppe  recht  ähnlich  sein,  ohne  daß  zwischen 
beiden  auch  nur  die  geringste  Beziehung  bestände. 

—  Freilich  ist  es  viel  merkwürdiger,  wenn  einmal 
zwei  Tiere  verschiedener  Gruppen  als  wenn  zwei 
Steine  einander  ähnlich  sind,  weil  die  Ähnlichkeit 
bei  Tieren  viel  mehr  an  Einzelheiten  gebunden 
ist.  Der  Fall  ist  um  so  merkwürdiger,  je  höher 
die  einander  ähnlichen  Tiere  organisiert  sind.  — 
Je  ähnlicher  zwei  hochorganisierte  Tiere  ver- 
schiedener Gruppen  einander  sind,  um  so  seltener 
wird  es  sich  um  eine  zufällige  Ähnlichkeit 
handeln.  Sehen  wir  deshalb  eine  Ähnlichkeit  mit 
Tieren  einer  Gruppe  (z.B.  mit  Ameisen)  in  ver- 
schiedenen Gruppen  wiederkehren,  so  sind 
wir,  wegen  der  äußerst  geringen  Wahrscheinlich- 
keit eines  Zufalls,  genötigt,  anzunehmen,  daß  die 
Fälle  in  der  gleichen  oder  in  einer  sehr  ähnlichen 
Weise  zustande  gekornmen  sind.  - —  Sehen  wir 
weiter,  daß  in  der  Ähnlichkeit  ein  Vorteil  der 
einen  Tiergruppe  begründet  ist,  so  haben  wir  da- 
mit einen  Anhaltspunkt,  mittels  der  Selektions- 
lehre den  Zufall  auszuschalten.  Wir  sind  dann  aber 
genötigt,  das  Wirken  der  Naturauslese  anzu- 
erkennen. So  zwingt  uns  schon  die  öfter  wie- 
derkehrende Ähnlichkeit  von  Spinnen,  die  viele 
Feinde  besitzen,  mit  Ameisenarbeitern,  die  wenige 
Feinde  besitzen,  die  Entstehung  der  Ähnlichkeit 
duich  Selektion  anzunehmen.  Das  ist  kurz  der 
logische  Gedankengang,  welcher  der  Mimikrylehre 
zugrunde  liegt.  Es  macht  uns  also  schon  die  in 
meinem  letzten  Aufsatz  hervorgehobene,  in  ver- 
schiedenen Spinnengruppen  wiederkehrende  Ähn- 
lichkeit mit  Ameisenarbeitern,  die  von  Vögeln 
selten  gefressen  werden,  die  Selektionslehre  gleich- 
sam zur  Gewißheit,  weil  die  Wahrscheinlichkeit, 
daß  in  allen  Fällen  ein  Zufall  vorliegt,  fast  gleich 
Null  ist.  —  Die  Gewißheit  wird  noch,  größer, 
wenn  das  nähere  Eingehen  auf  irgendeinen  Einzel- 
fall weitere  Einzelheiten  ergibt :  —  Sehen  wir,  daß 
bei  der  Gattung  Myrmaradnic  (Salticus) ,  im 
Gegensatz  zu  fast  allen  anderen  Spinnen,  die  Taster 
des  Weibchens  stark  erweitert  sind  und  dadurch 
die  Kiefer  der  Ameisen  vortäuschen,  daß  die 
Vorderbeine  beim  Gehen  vorgestreckt  gehalten 
werden  und  dadurch  die  Fühler  der  Ameisen  vor- 
täuschen, daß  nicht  nur  die  Gestalt  und  Haltung, 
sondern  auch  die  Bewegungen  ameisenartig  sind, 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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so  kann  nach  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  ein 
Zufall  als  völlig  ausgeschlossen  gelten.  Schon  die 
Ameisenähnlichkeit  bei  den  Spinnen  genügt  also, 
um  die  Richtigkeit  der  Selektionslehre  dem  Neo- 
lamarckismus  gegenüber  zu  beweisen  für  jeden, 
der  es  gelernt  hat,  mathematisch  zu  denken. 
Diese  Gewißheit  darf  uns  aber  nicht  hindern, 
jeden  neuen  Fall  einer  Ähnlichkeit  einer  gründ- 
lichen Untersuchung  zu  unterwerfen.  Wir  dürfen 
niemals  ohne  erneute  Untersuchung  verallgemeinern 
wollen  und  müssen  uns  stets  darüber  klar  sein, 
daß  eine  zufällige  Ähnlichkeit  niemals  völlig 
ausgeschlossen  ist. 

Kurz  sei  zum  Schluß  des  Auftretens  der  ersten 
Anfange  nützlicher  Eigenschaften  bei  Tieren,  in 
unserem  Falle  der  Entstehung  der  ersten  An- 
fänge einer  Ameisenähnlichkeit  gedacht,  da  die 
Neolamarckisten  behaupten,  die  ersten  Anfänge 
einer  nützlichen  Eigenschaft  ließen  sich  durch  Natur- 
auslese nicht  erklären,  die  Vorteile  seien  zuerst 
zu  unbedeutend  um  Selektionswert  zu  besitzen. 
Den  Beweis  für  diese  Behauptung  sind  sie  uns 
freilich  schuldig  geblieben.  —  Nach  allem,  was 
der  Systematiker  täglich  beobachtet,  muß  genau 
das  Gegenteil  von  dem,  was  jene  behaupten,  als 
zutreffend  angenommen  werden.  Der  Systema- 
tiker weiß,  daß  bei  jeder  Tierart  einige  Eigen- 
schaften mehr,  andere  weniger  abändern,  und  zwar 
pflegen  alle  Eigenschaften,  die,  soweit  wir  die 
Funktion  kennen,  für  die  Erhaltung  der  Tierart 
wichtig  sind,  wenig  zu  variieren,  während  die 
weniger  lebenswichtigen  Eigenschaften  stark  ab- 
zuändern pflegen.  Schon  Darwin  wußte,  daß 
die  sog.  rudimentären  Organe,  die  keine  lebens- 
wichtige Funktion  mehr  besitzen  und  deshalb  ver- 
kümmern, meist  sehr  stark  variieren.  —  Nach 
diesen  unseren  Erfahrungen  muß  bei  den  Mimikry- 
formen, z.  B.  bei  den  ameisenähnlichen  Spring- 
spinnen die  ameisenähnliche  Gestalt,  da  sie  lebens- 
wichtig   ist,    verhältnismäßig    konstant    sein,    und 


das  trifft  zu.  Nur  die  mächtig  entwickelten  Man- 
dibeln  des  Männchens,  welche  dessen  Ameisen- 
ähnlichkeit bedeutend  herabsetzen,  variieren 
stark.  Die  Gestalt  des  Weibchens  aber  variiert 
wenig.  Als  bei  den  Vorfahren  dieser  Spinnen  die 
Ameisenähnlichkeit  noch  nicht  vorhanden  war, 
war  der  allgemeine  Habitus  noch  nicht  lebens- 
wichtig und  konnte  stark  variieren.  Durch  starke 
Variation  der  Körperform  kann,  namentlich  bei 
einer  gestreckten  Springspinne,  leicht  eine  ziem- 
lich hochgradige  Ameisenähnlichkeit  zustande 
kommen,  so  daß  die  Naturauslese  an  derartige 
Variationen  anknüpfen  konnte.  —  Starke  Variationen 
kennen  wir  auch  heute  noch  bei  vielen  Tierarten. 
Erinnert  sei  nur  an  die  verschiedenen  Farben  und 
Zeichnungen  des  Hainschneckengehäuses  (Helix 
)iemoralis) ,  einer  gemeinen  Ostseeassel  (Idothea 
haWiica)  und  an  die  starken  Farbenabänderungen 
fast  aller  Haustiere.  Der  Züchter  hatte  bei  der 
Domestikation  z.  B.  des  Rindes  natürlich  besonders 
einen  reichen  Milch-  und  Fleischertrag  im  Auge. 
Die  Haarfarbe  war  ihm  ziemlich  gleichgültig.  Des- 
halb trat  nach  Aufhören  der  Naturzüchtung  eine 
starke  Variation  der  Farbe  ein.  Verwildert  ein 
Haustier,  wie  man  es  beim  Kaninchen  kennt,  so 
tritt  sofort  wieder  die  Naturzüchtung  ein,  und  die 
Farbe  wird  wieder  konstant. 

Ich  möchte  diesen  Aufsatz  nicht  abschließen, 
ohne  auf  zwei  vorzügliche  kleine  Abhandlungen 
von  E.  Study  hingewiesen  zu  haben,  die  in  der 
Zeitschrift  „Die  Naturwissenschaften"  (7.  Jahrg. 
S.  371  ff.)  und  in  der  „Zeitschrift  für  induktive 
Abstammungs-  und  Vererbungslehre"  (Bd.  24,  S.  33  ff.) 
veröffentlicht  sind.  Die  erste  wendet  sich  gegen 
die  Anhänger  der  E  im  ersehen  Schule  und  be- 
kämpft sie  mit  ihren  eigenen  Waffen.  Die  zweite 
geht  mit  der  Logik  O.  Hertwigs  ins  Gericht. 
Beide  zeigen  klar,  daß  nur  die  Selektionslehrc 
unserem  logischen  Denken  gerecht  wird. 


Einzelberichte. 


Die  Lehre  von  der  inneren  Sekretion. 

Vor  dem  Jahre  1890  finden  sich  in  der  Lite- 
ratur nur  einige  wenige  Hinweise  auf  die  endo- 
krinen Drüsen  oder  Blutgefäßdrüsen,  welche  ihre 
Absonderungen  nicht  in  die  äußere  Umgebung 
des  Lebewesens,  sondern  ins  Blut  desselben  er- 
gießen. Immerhin  hatte  schon  1801  der  Physio- 
loge Legallois,  wie  Gley')  nachweist,  eine 
sehr  klare  Vorstellung  von  den  Beziehungen,  die 
vorhanden  sein  müssen  zwischen  den  verschiedenen 
Sekreten  auf  der  einen,  und  den  Schwankungen 
in  der  Zusammensetzung  des  venösen  Blutes  auf 
der  anderen  Seite.     Der  Göttinger  Professor  A.  A. 

')  Abhandlungen  und  Monographien  aus  dem  Gebiete  der 
Biologie  und  Medizin,  I.  Heft:  Gley,  „Die  Lehre  von  der 
inneren  Sekretion"  (Bern  J920,  Ernst  Bircher). 


Berthold  demonstrierte  1849  ^'s  erster  durch 
Versuche,  daß  die  Keimdrüsen  auf  dem  Wege  über 
das  Blut  den  ganzen  Organismus  beeinflussen 
können.  Auch  sonst  finden  sich  kurze  Hinweise 
auf  die  Drüsen  mit  innerer  Abscheidung.  Die 
wahren  Begründer  der  Lehre  von  der  inneren 
Sekretion  sind  jedoch  Claude  Bernard  und 
Brown-Sequard;  den  Anteil,  den  der  eine 
und  der  andere  an  der  Begründung  dieser  Lehre 
haben,  zeigt  Gley  auf. 

Als  wesentliche  Kennzeichen  der  Drüsen  mit 
innerer  Sekretion  werden  genannt:  i.  Die  Zellen 
der  sog.  Blutgefäßdrüsen  müssen  die  Eigenschaften 
von  drüsigen  Elementen  besitzen,  und  sie  müssen 
um  die  Blutgefäße  gelagert  sein,  die  aus  dem 
Organ  austreten;  2.  in  diesen  Zellen  und  in  dem 
venösen  Blut  der  Drüse  oder  in  der  austretenden 


1P^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Lymphe  muß  eine  spezifische  Substanz  chemisch 
nachgewiesen  werden  Icönnen;  und  3.  muß  das 
venöse  Blut  der  Drüse  die  physiologischen  Eigen- 
schaften dieser  spezifischen  Substanz  besitzen.  Für 
zahlreiche  Organe  —  sagt  Gley  —  die  zu  den 
Drüsen  mit  innerer  Sekretion  gerechnet  werden, 
„sind  ohne  Zweifel  nicht  alle  diese  Bedingungen 
erfüllt  worden ;  manche  dieser  Organe  sind  jedoch 
ganz  sicher  auch  vom  Standpunkt  der  schärfsten 
Kritik  als  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  aufzu- 
fassen, denn  obwohl  nicht  alle  oben  erwähnten 
Merkmale  zugegen  sind,  gestattet  es  eine  Reihe 
übereinstimmender  Tatsachen ,  sie  als  endokrine 
Drüsen  anzuerkennen.  .  .  .  Niemand  wird  z.  B. 
bestreiten  wollen,  daß  die  Schilddrüse  eine  Blut- 
gefäßdrüse ist,  obwohl  man  bisher  im  venösen 
Blut  dieses  Organs  keine  spezifischen  chemischen 
oder  physiologischen  Eigenschaften  nachweisen 
konnte;  aber  die  Folgen  der  Exstirpation  dieses 
Organs  sind  so  eigenartig  und  die  Wirkung  des 
Schilddrüsenextraktes,  das  diese  schädlichen  Folgen 
aufhebt,  ist  so  charakteristisch,  daß  man  gezwungen 
ist  anzunehmen,  daß  die  Stoffe,  die  in  diesem  Ex- 
trakt enthalten  sind,  das  innere  Milieu  elektiv  be- 
einflussen." 

Eine  Ausnahme  von  der  Regel,  daß  die  Drüsen 
der  inneren  Abscheidung  keine  Beziehungen  zum 
äußeren  Milieu  haben,  bilden  die  Leber,  das  Pan- 
kreas, und  auch  die  Schleimhaut  des  Zwölffinger- 
darms und  des  Leerdarms,  die  Stoffe  sowohl  nach 
außen  wie  nach  innen  abscheiden.  Überdies  be- 
stehen gewisse  Wechselbeziehungen  zwischen  äuße- 
rer und  innerer  Abscheidung.  Als  typisches  Bei- 
spiel wird  u.  a.  der  Harnstoff  erwähnt,  der  in  der 
Leber  gebildet,  ins  Blut  ausgeschieden  und  von 
der  Niere  abgefangen  wird,  um  nach  außen  ab- 
gegeben zu  werden. 

Der  direkte  Nachweis  der  Abscheidungspro- 
dukte  in  den  Drüsen  oder  im  Blut  und  die  Er- 
mittlung ihrer  chemischen  Natur  ist  bisher  erst 
ausnahmsweise  gelungen.  „Es  sind  nur  wenige 
Stoffe,  die  in  den  Drüsenzellen  chemisch  nach- 
gewiesen werden  konnten :  so  Fette  in  den  Darm- 
zellen und  in  den  Zellen  des  Fettgewebes,  sowie 
Adrenalin  in  den  Zellen  der  Nebennieren.  Man 
hat  allerdings  auch  in  den  Zellen  der  Schilddrüse 
ein  Produkt  der  Zelltätigkeit  nachgewiesen ,  die 
kolloide  Substanz;  aber  wir  wissen  nicht,  ob  diese 
kolloide  Substanz  nur  das  aktive  Prinzip  des  Schild- 
drüsensekretes enthält  und  ob  es  das  ganze  aktive 
Prinzip  in  sich  beherbergt.  Der  chemische  Nach- 
weis der  spezifischen  Produkte  der  Drüsen  mit 
innerer  Sekretion  im  venösen  Blute  ist  ebenfalls 
nur  für  eine  geringe  Anzahl  von  Drüsen  gelungen. 
In  den  Darmvenen  und  im  Ductus  thoracicus  hat 
man  Fette  gefunden  und  sogar  quantitativ  be- 
stimmt; man  hat  Zucker  und  Harnstoff  im  Blut 
der  Lebervenen  nachgewiesen,  und  man  hat  schheß- 
lich  Adrenalin  im  Blute  der  Nebennierenvene  ge- 
funden." 

Sehr  wichtig  für  den  Beweis  des  Vorliegens 
innerer  Sekretion  ist  die  Feststellung,   daß  einem 


spezifischen  Produkt  der  Drüsentätigkeit  bestimmte 
physiologische  Eigenschaften  zukommen,  die  zeit- 
weilig auf  das  Blut  übertragen  werden.  Es  wäre 
nötig,  daß  er  für  alle  endokrinen  Drüsen  erbracht 
würde;  darauf  abzielende  Untersuchungen  sind 
jedoch  selten  gemacht  worden.  Ein  diesbezüg- 
licher Nachweis  wurde  erbracht  für  jene  Drüsen, 
in  denen  Stoffe  produziert  werden,  welche  den 
Ablauf  chemischer  Reaktionen  verändern  und  nach 
der  Art  von  Fermenten  wirken,  nämlich  das  innere 
Sekret  des  Pankreas,  das  zur  Regulierung  des  nor- 
malen Zuckergehaltes  im  Blute  dient,  und  das 
Antithrombin  der  Leber,  auf  dem  die  Gerinnung 
des  Blutes  beruht.  Auch  hinsichtlich  der  beiden 
bestbekannten  inneren  Abscheidungsstoffe,  des 
Sekretin  der  Schleimhaut  des  Zwölffinger-  und  des 
Leerdarms,  sowie  des  Adrenalin,  gelang  die  Fest- 
stellung, daß  dieselben  in  das  venöse  Blut  der 
Organe  übergehen,  in  welchen  sie  gebildet  werden. 

Statt  die  Anwesenheit  der  Sekrete  im  venösen 
Blut  zu  ermitteln,  wurde  gewöhnlich  ein  einfacheres 
Verfahren  angewendet,  das  in  der  Beobachtung 
der  Wirkung  von  Organextrakten  besteht.  Das 
Resultat  jedoch  istj  meint  Gley,  daß  beinahe 
alle  Arbeiten,  die  seit  fünfzehn  Jahren  über  diese 
Frage  ausgeführt  wurden,  auf  einer  Methode  be- 
ruhen, die  zwar  nicht  absolut  mangelhaft,  jedoch 
unvollständig  und  darum  ungenügend  ist.  Ohne 
die  große  Bedeutung  mancher  Ergebnisse  zu  ver- 
kennen, zu  welchen  die  Untersuchung  mit  Organ- 
extrakten führte,  warnt  Gley  vor  Schlüssen,  die 
einzig  auf  solcher  Wirkung  beruhen;  er  sagt: 
„Wenn  die  chemischen  und  physiologischen  Merk- 
male, d.  h.  der  Nachweis  des  spezifischen  Produktes 
im  venösen  Blute,  nicht  vorhanden  sind,  so  kann 
eine  innersekretorische  Wirkung  nur  dann  ange- 
nommen werden,  wenn  eine  ganze  Reihe  von 
übereinstimmenden  physiologischen,  pathologischen 
und  therapeutischen  Momenten  vorliegt :  es  muß 
nachgewiesen  sein,  daß  die  Exstirpation  des  Or- 
gans, dessen  innersekretorische  Wirkung  vermutet 
wird,  einen  ganzen  Komplex  von  funktionellen 
Störungen  hervorruft,  die  auch  beim  Menschen  als 
Krankheit  vorkommen  können;  ferner  daß  man 
diese  Störungen  herabmindern  oder  zum.  Ver- 
schwinden bringen  kann  durch  regelmäßige  An- 
wendung von  Organextrakten  oder  durch  Organ- 
verpflanzung, wenn  die  letztere  möglich  ist.  Der 
Erfolg  einer  solchen  Substitutionstherapie  bildet 
die  Gegenprobe  zu  den  Versuchen,  in  denen  ein 
Organ  zerstört  wird.  Und  nur  weil  eine  solche 
Reihe  von  übereinstimmenden  Tatsachen  mit  Be- 
zug auf  die  Schilddrüse  und  mit  Bezug  auf  die 
interstitielle  Drüse  der  Geschlechtsdrüsen  ermittelt 
wurde,  werden  die  Schilddrüse,  die  interstitielle 
Drüse  des  Hodens  und  das  Corpus  luteum  mit 
Recht  als  Organe  mit  innerer  Sekretion  betrachtet." 
Gleys  Einwände  gegen  die  Methode  der  Organ- 
extrakte lese  man  in  seiner  Schrift  selbst  nach. 

Die  inneren  Sekrete  werden  in  vier  Gruppen 
eingeteilt:  i.  Innere  Sekrete,  die  als  Nährstoffe 
dienen  (Glukose  der  Leber ;  Fett  der  Darmschleim- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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haut  und  des  Panniculus  adiposus;  Fibrinogen  der  gänge  oder  Funktionen  reguliert  werden.  3.  Hor- 
Leber).  2.  Morphogenetische  Substanzen  oder  mone  und  4.  Parhormone.  Die  Harmozone  teilt 
Harmozone,   durch   welche   die   chemischen   Vor-     Gley  wie  folgt  ein: 


Innere  Sekrete: 


1.  Substanzen,  die  im  Stoffwechsel      Substanz,     die     die     Zuckerpro- 
eine  Rolle  spielen.  duktion  reguliert. 

2.  Substanzen,    die   dazu   dienen,     Antithrombin, 
das  innere  Milieu  unverändert 

zu  erhalten. 

3.  Morphogenetische    Substanzen,     Chemische  Natur  unbekannt, 
die  durch  ihre  chemischen  Wir- 
kungen   die   Formbildung   be- 
einflussen. 


Organe  mit  innerer  Sekretion: 
Pankreas. 


Leber. 


Interstitielle  Drüse  des  Testi- 
kels  und  Corpus  luteum. 
Schilddrüse.  Hypophyse. 
Thymus. 


Die  Hormone  und  die  Parhormone  werden   nach  ihrer  physiologischen  Funktion   wie   nach- 
stehend gruppiert: 


Innere  Sekrete: 


Organe  mit  innerer  Sekretion: 


Hormone    mit    chemischen    Wir-     Substanz,   die   das  Trypsin   akti-      Milz. 


kungen. 


Hormone   mit   physiologischen 
Wirkungen. 


Parhormone. 


viert. 


Substanz,  die  den  Stickstoffumsatz     Schilddrüse, 
und  den  Gaswechsel  steigert. 


Sekretin. 

Galaktagoge  Substanz. 

Kohlensäure. 
Harnstoff. 


Schleimhaut    des    Duodenums 
und  Jejunums. 

Myometrale    Drüse ,     Plazenta 
oder  Fötus  (?). 

Muskeln  und  Drüsen. 

Leber. 


Entgegen  dem  sonstigen  Gebrauch  beschränkt 
Gley  die  Bezeichnung  „Hormone"  auf  eine  Ab- 
teilung der  inneren  Sekrete,  welche  als  eigentliche 
Reizstoffe  aufzufassen  sind. 

Die  Nährstoffsekrete  werden  in  recht  beträcht- 
lichen Mengen  ans  Blut  abgegeben;  sie  sind  für 
den  Energieverbrauch  bestimmt  und  werden  des- 
halb auch  Verbrauchssekrete  genannt.  Anderer- 
seits sind  die  „morphogenetischen  Substanzen 
und  die  Hormone  schon  in  sehr  geringen  Dosen 
wirksam;  es  handelt  sich  um  Körper,  die  sich 
augenscheinlich  in  ähnlicher  Weise  verhalten,  wie 
nervöse  Reize  oder  Fermente.  Mit  ihnen  gelangt 
keine  Energie  zu  den  Zellen,  die  von  ihnen  be- 
einflußt werden;  sie  setzen  bloß  präexistierende 
Energie  frei,  sie  regeln  die  physiologische  Funk- 
tion und  lösen  sie  aus".  Sehr  wichtig  ist,  daß 
Harmozone  und  Hormone  in  ihrem  Ursprung  und 
in  ihrer  Wirkung  spezifisch  im  anatomischen  und 
physiologischen  Sinne  sind,  nicht  aber  im  zoolo- 
gischen Sinne,  d.  h.  „die  Sekrete,  die  mit  einer 
elektiven  Wirkung  ausgestattet  sind,  stammen  aus 
einem  ganz  bestimmten  Organ  und  ausschließlich 
aus  diesem  Organ;    aber    welcher    Art    das    Tier 


auch  angehören  mag,  dem  sie  entnommen  wur- 
den, sie  üben  ihre  Wirkung  auch  auf  Tiere  aus, 
die  anderen  Arten  angehören".  Fraglich  ist,  ob 
die  Beschränkung  der  Sekrete  auf  bestimmte  Or- 
gane absolut  ist,  oder  „ob  sich  trotz  der  Arbeits- 
teilung im  Organismus  nicht  auch  in  anderen 
Organen  Spuren  von  Eigenschaften  nachweisen 
lassen,  die  bei  einem  bestimmten  Organ  die  aus- 
schlaggebende Eigenschaft  sind." 

Im  letzten  Teil  seiner  Arbeit  unternimmt 
Gley,  festzustellen,  aus  welchen  Stoffen  die  Drüsen- 
zellen die  von  ihnen  sezernierten  spezifischen  Sub- 
stanzen bereiten,  oder  mit  anderen  Worten,  wie 
die  Drüse  geladen  wird;  weiterhin  geht  er  auf 
die  Ursachen  ein,  welche  die  Ausscheidung  aus 
den  Drüsenzellen  oder  die  Entladung  der  Drüse 
hervorrufen.  Dann  untersucht  er  den  Einfluß  des 
Nervensystems  auf  die  innere  Sekretion  und 
schließlich  die  Wechselwirkung  oder  gegenseitige 
Beeinflussung  der  Drüsen  mit  innerer  Sekretion ; 
in  dieser  letzteren  Beziehung  sind  wichtige  patho- 
logische Probleme  erstanden. 

Aus  der  Unter-  oder  Überfunktion  der  Drüsen 
mit  innerer  Sekretion  erwachsen  mehr  oder  min- 


fs 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


der  schwere  Störungen  der  Gesundheit.  Der  Be- 
griff der  Unterfunktion  ist  längst  bekannt  und 
manche  Pathologen  meinen,  daß  er  überhaupt  die 
Pathologie  zu  beherrschen  habe.  Da  die  endo- 
krinen Drüsen  nur  ganz  kleine  Mengen  von  außer- 
ordentlich wirksamen  Stoffen  liefern,  meint  Gley, 
es  sei  nicht  anzunehmen,  daß  ihre  Produktion 
allzu  leicht  ungenügend  würde.  Ebenso  wie  die 
Unterfunktion  wahrscheinlich  weniger  häufig  vor- 
kommt, als  heute  angenommen  wird,  spielt  wahr- 
scheinlich auch  die  Überfunktion  eine  verhältnis- 
mäßig bescheidene  Rolle.  Gley  sagt:  „Man  hat 
einen  großen  Mißbrauch  mit  Erklärungen  durch 
Störungen  der  inneren  Sekretion  getrieben;  man 
ging  dabei  so  weit,  daß,  wenn  man  einen  Sym- 
ptomenkomplex nicht  allein  durch  Hyper-  oder 
allein  durch  Hyposekretion  einer  Drüse  erklären 
konnte,  man  einfach  diese  beiden  Faktoren  gleich- 
zeitig heranzog ;  so  hat  man  z.  B.  behauptet,  daß 
bei  der  Akromegalie  gleichzeitig  ein  partieller 
Hyperpituitarismus  und  ein  Hypopituitarismus  vor- 
handen sind."  Auf  solche  kritiklose  Weise  kann 
man  freilich  leicht  alle  krankhaften  Erscheinungen 
erklären,  aber  die  Erklärungen  bedeuten  in  Wirk- 
lichkeit gar  nichts. 

Zum  Schlüsse  wird  die  Frage  aufgeworfen,  „ob 
nicht  in  den  endokrinen  Drüsen  toxische  Sub- 
stanzen gebildet  werden,  durch  deren  mehr  oder 
weniger  weitgehende  Resorption  krankhafte  Sym- 
ptomenkomplexe hervorgerufen  werden  könnten. 
Eine  solche  Vorstellung  ist  natürlich  hypotheti- 
scher Natur,  aber  manche  Tatsachen  lassen  sie 
von  Interesse  erscheinen".  So  hat  man  z.  B.  ge- 
funden, daß  die  Schilddrüse  bei  vielen  Infektions- 
krankheiten ein  abnormes  Kolloid  ausscheidet,  das 
nicht  mehr  seine  normalen  Farbreaktionen  gibt. 
Neuerdings  wurde  versucht,  die  Erscheinungen  der 
Akromegalie  durch  eine  Störung  in  der  inneren 
Sekretion  der  Hypophyse  zu  erklären ,  die  von 
der  physiologischen  Sekretion  qualitativ  verschie- 
den sein  soll.  Es  ist  also  möglich,  daß  die  krank- 
haften Erscheinungen  nicht  alle  aus  einer  Insuffi- 
zienz oder  gar  einem  Verlust  der  Funktion  resul- 
tieren; krankhafte  Symptome  können  auch  bedingt 
sein  durch  einen  gestörten  Stoffwechsel  des  Or- 
gans. H.  Fehlinger. 

Das  Gesetz  der  Verteilung  der  Fixsterne 
im  Räume. 

Dieses  Gesetz  versuchten  Kapteyn  und 
van  Rhijn  durch  sorgfältige  Bearbeitung  des 
reichen,  jetzt  vorliegenden  Materials  über  Paral- 
laxen, Eigenbewegungen  und  Sternhelligkeiten  zu 
erforschen  (Astrophys.  Journal,  July  1920).  In 
den  galaktischen ,  d.  h.  auf  die  Ebene  der  Milch- 
straße bezogenen  Breiten  zwischen  +  40 "  bis 
+  90"  läßt  sich  die  mittlere,  jährliche  Parallaxe 
von  Sternen  der  Größenklasse  m  und  der  Eigen- 
bewegung ft  befriedigend  darstellen  durch  die 
Formel 

\gn=  —0,691  —  0,0682  m  -|-  0,645  lg  /<. 


Durch  Kombination  dieser  Formel  mit  dem  be- 
reits früher  ebenfalls  von  Kapteyn  gefundenen 
Gesetz  der  Verteilung  der  Parallaxen  von  Sternen 
von  gegebener  Größe  und  Eigenbevvegung  er- 
geben sich  die  beiden  Hauptgesetze,  welche  die 
Anordnung  der  Sterne  im  Räume  bestimmen. 
Das  erste  dieser  Gesetze  gibt  die  Häufigkeit  der 
verschiedenen  absoluten  Helligkeiten  M ')  pro 
Raumeinheit  wenigstens  in  der  Umgebung  der 
Sonne  zwischen  —  10,6  M  und  -{-  7,4  M  an  und 
stellt  sich  als  eine  symmetrische  Wahrscheinlich- 
keitskurve dar  von  der  Gleichung: 

lg  cp  (M)  =  —  2,394  +  0,1858  M  —  0,0345  M^. 
Daraus  folgt,  daß  die  totale  Anzahl  von  Sternen 
in  der  Nachbarschaft  der  Sonne  vom  hellsten  bis 
zum  schwächsten  ganz  gleichmäßig  gleich  0,0451 
für  die  Raumeinheit  (i  parsec^)  ist.  Unter  parsec 
oder  Sternweite  ist  die  Entfernung  zu  verstehen, 
die  einer  Parallaxe  von  i  Sekunde  entspricht, 
d.h.  eine  Entfernung  206225  Erdbahnhalbmessern 
oder  3  74  Lichtjahren.  —  Nimmt  man  an,  daß  die 
für  die  Nachbarschaft  der  Sonne  abgeleitete  Funk- 
tion <p  (M)  auch  für  alle  weiteren  Entfernungen 
gilt,  so  wäre  die  mittlere  absolute  Helligkeit  aller 
Sterne  2,7  mit  einem  wahrscheinlichen  Fehler  von 
+  1,69,  d.  h.  ungefähr  2,9  M  schwächer  als  die 
Sonne;  die  Sonne  gehört  somit  zu  den  helleren 
Fixsternen  des  Milchstraßensystems. 

Das  zweite  Grundgesetz  über  die  Anordnung 
der  Sterne  im  Räume  bezieht  sich  auf  die  Raum- 
dichtigkeit der  Sterne  als  Funktion  ihrer  Entfernung 
von  der  Sonne.  Setzt  man  die  Sterndichtigkeit 
nahe  der  Sonne  gleich  I,  so  findet  Kapteyn 
folgende  Tabelle: 

Parallaxe  Sterndichte  Parallaxe  Sterndichte 


0,296" 

1,00 

0,007" 

0,60 

0,118 

1,00 

0,005 

0.45 

0,047 

1,00 

0,003 

0,30 

0,030 

0,92 

0,002 

0,18 

0,019 

0,86 

0,001 

0,09 

0,012 

0,76 

Betrachtet  man  die  Dichtigkeit  der  Sternverteilung 
in  einer  Ebene  senkrecht  zur  Milchstraßenebene,  so 
ergibt  sich  in  der  Richtung  der  Pole  der  Milch- 
straße praktisch  als  Grenze  des  ganzen  Systems 
die  Entfernung  von  1500  parsec,  während  in  der 
Milchstraßenebene  die  ebenso  geringe  Dichtigkeit 
von  Sternen  erst  in  einer  achtmal  so  großen  Ent- 
fernung angetroffen  wird.  Hierbei  ist  allerdings 
Symmetrie  rund  um  die  Pole  der  Milchstraße 
vorausgesetzt,  die  in  Wirklichkeit,  wie  schon  der 
Anblick  der  Milchstraße  zeigt,  nicht  vorhanden 
ist.  Auch  ist  bei  allen  diesen  Untersuchungen 
der  Einfachheit  halber  die  Sonne  als  im  Mittel- 
punkt des  gesamten  Systems  stehend  angenom- 
men, was  bekanntlich  ebenfalls  nicht  ganz  richtig 
ist.      Demnach    müssen    Kapteyns   Forschungs- 


')  d.  h.  der  Größe,  wie  sie  in  der  Einheit  der  Entfernung 
(i  parsec)  erscheint. 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


79 


resultate  auch  jetzt  noch  als  provisorische  be- 
zeichnet werden,  doch  glaubt  der  geschätzte 
Groninger  Astronom,  daß  die  erst  in  Zukunft  zu 
gewinnenden  definitiven  Ergebnisse  die  schon 
jetzt  erkennbaren  Gesetze  nicht  mehr  wesentlich 
umgestalten  werden.  Kbr. 

Die  Ansdehuuug  des   ultravioletten 
Spektrums. 

IVIillikan  berichtet  im  vorjährigen  Juliheft 
des  Astrophysical  Journal ,  daß  durch  hochge- 
spannte, im  Vakuum  überspringende  Funken  und 
Benutzung  eines  Hochvakuum-Spektrometers  mit 
besonders  für  diesen  Zweck  hergestelltem  Kon- 
kavgitter das  ultraviolette  Spektrum  erheblich  über 
die  bisher  bekannten  Grenzen  hinaus  verfolgt  wer- 


den konnte.  Während  Schumann  mittels  Vaku- 
umkamera das  Spektrum  Geißlerscher  Röhren  bis 

etwa  100  ixf.1  =  looo  Ängström-Einheiten  zu  ver- 
folgen vermochte,  photographierte  M  i  1 1  i  k  a  n  als 
äußerste  Linien  der  Funkenspektra  von  Kohlen- 
stoff, Zink,  Eisen,  Silber  und  Nickel  solche  von 
bzw.  260,5 ;  317.3;  271,6;  260,2;  202  Ängström- 
Einheiten.  Da  in  allen  diesen  Spektren  auch  die 
Wasserstofflinie  1215,7  auftritt,  glaubt  Millikan, 
daß  im  hochgespannten  Funken  neben  gleichfalls 
festgestellten  Röntgenstrahlen  Wasserstoff  abge- 
spalten wird.  Die  ultravioletten  Strahlen  sind 
durch  diese  Beobachtungen  den  Röntgenstrahlen, 
deren  Wellenlängen  nach  Haga  und  Wind  zwischen 
I    und    10  A.-E.  liegen,    erheblich    näher   gerückt. 

Kbr. 


Bücherbesprechungen. 


Stromer,  Ernst,  Paläozoologisches  Prak- 
tikum. 104  S.,  6  Textabb.  Borntraeger,  Berlin 
1920.     Brosch.  10  M. 

Ohne  mechanisches  Handwerk  geht  es  in 
keiner  Naturwissenschaft  ab.  Der  vorliegende 
Leitfaden  geht  von  der  sehr  beherzigenswerten 
Mahnung  aus,  solche  Hilfsarbeit  nicht  zu  gering 
zu  achten  und  etwa  grundsätzlich  Hilfskräfte 
damit  zu  betrauen.  Das  Sammeln  und  die  Prä- 
paration von  Fossilien  gewähren  nicht  nur  häufig 
unwiederbringliche  Gelegenheit  zu  wichtigen  Be- 
obachtungen, sondern  sie  müssen  oft  selbst  aus 
bestimmtem,  wissenschaftlich  bedingtem  Gesichts- 
winkel betrieben  werden  und  sind  dann  ein  un- 
lösbarer Bestandteil  der  geistigen  Stoffbearbeitung. 
So  sollte  jeder  Paläontologe  die  wichtigsten  Hand- 
griffe selbst  geübt  haben  und  kennen.  Um  sich 
im  Einzelfalle  schnell  über  die  vorteilhafteste 
Methode  zu  unterrichten,  ebenso  zur  methodischen 
Aneignung  ist  die  Stromer  sehe  Zusammenstellung 
der  wesentlichsten  mechanischen  und  chemischen 
Möglichkeiten   ein  trefflicher  Führer. 

Ein  kürzerer  spezieller  Teil  geht  zum  Schluß 
die  Tiergruppen  in  systematischer  Reihe  mit  Hin- 
blick auf  die  jeweils  in  Betracht  zu  ziehenden, 
durch  die  normale  Erhaltung  bedingten  Anwen- 
dungen durch.  Ein  sorgfältig  zusammengestelltes 
und  klar  geordnetes  Literaturverzeichnis  gibt  alle 
nötigen  weiteren  Hinweise.  Edw.  Hennig. 


einen  aufreibenden  Kampf  gegen  Sonnenglast  und 
Dürre  —  die  gekrümmten,  verzerrten  Formen  der 
Stämme  scheinen  der  Ausdruck  dieses  verzweifelten 
Ringens  zu  sein.  Trotz  seiner  Armut  beherbergt 
das  Kaokofeld  eine  zahl-  und  artenreiche  Tierwelt, 
die  St.  in  lebhaften  Bildern  vor  Augen  führt.  Wir 
erfahren  u.  a.,  wie  sehr  die  Tiere  der  Dürre  und 
Trockenheit  angepaßt  sind,  daß  sie  im  Kampfe 
ums  Dasein  andere  Eigenschaften  ausbildeten  als 
Artgenossen  im  wasserreichen  Kongobecken,  an 
den  Seen  und  den  Sümpfen  des  Sudan. 

Große  Teile  der  Steppe  bewohnt  ein  Zweig 
des  Hererovolkes,  Ovatjimba  genannt.  Viehzüchter 
sind  alle  Ovatjimba  in  gleicher  Weise;  Anfänge 
von  Ackerbau  findet  man  im  Norden  des  Kaoko- 
feldes.  Dort  werden  Felder  gerodet,  gehackt  und 
mit  Mais  oder  Hirse  bestellt.  Die  südlichen  Ova- 
tjimba, soweit  sie  südlich  des  18,45  Breitengrades 
leben,  hausen  ohne  Stammesverband  hordenweise 
im  Busch.  Über  körperliche  und  psychische 
Eigenarten  der  Ovatjimba  sagt  St.  Beachtenswertes. 
In  ihrem  friedfertigen,  ja  feigen  Wesen  unter- 
scheiden sie  sich  stark  von  ihren  Nachbarn,  den 
Ovambo.  Unter  letzteren  gibt  es  auffallend  viele 
Weißlinge  oder  Albino ;  St.  bekam  den  Eindruck, 
daß  diese  geistig  augenscheinlich  nicht  ganz  auf 
der  Höhe  stehen.  H.  Fehlinger. 


Steinhardt,   Vom    wehrhaften   Riesen  und 
seinem    Reiche.      224    S.      24    Bildertafeln, 
I  Karte.     Hamburg  1920,  Alster- Verlag. 
Eindrucksvoll  schildert  St.  die  Landesnatur  des 
südwestafrikanischen  Kaokofeldes  sowie  das  Leben 
von  Tieren   und  Menschen    in   dieser  Steppe,   die 
im    steten    Wechsel    von    Sonnenglut    und    eisiger 
Nachtkälte  steht,    die    durchzogen  ist  von  felsum- 
schlossenen Tälern,  deren  Hänge  spärlicher  Wuchs 
bedeckt;    knorriger  Steppendorn    kämpft   im  Tale 


Walther,  J.,  Vorschule  derGeologie.   Eine 
gemeinverständliche  Einführung    und  Anleitung 
zu  Beobachtungen  in  der  Heimat.    Siebente  er- 
gänzte Auflage.     Jena   1920,  Gustav  Fischer. 
Das  vor  15  Jahren  in  erster  Auflage  erschienene 
Werk  liegt  nun  in  der  siebenten  Auflage  vor,  der 
beste  Beweis  für  seine  Brauchbarkeit  und  die  An- 
erkennung,    die    es    in    geologisch    interessierten 
Kreisen  gefunden  hat.      Die  Darstellung   ist   klar, 
verständlich  und  anregend,  gegen  frühere  Auflagen 
vielfach  verändert  und  ergänzt.    Die  Literatur  für 
Exkursionen   ist  bis   in    die  neueste  Zeit  nachge- 
tragen. Krenkel. 


8o 


Natui-wissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  5 


Anregungen  und  Antworten. 


Zu  Höfers  Grundwasser  und  Quellen.  Die  Bemerkungen 
des  Herrn  W.  Halbfafi  über  mein  Buch  „Grundwasser  und 
Quellen"  (Nr.  39,  S.  624,  1920  dieser  Wochenschrift)  scheinen 
mir  geeignet,  teilweise  Irrungen  im  Leserkreise  zu  veranlassen, 
weshalb  ich  mir  erlaube,  sie  richtig  zu  stellen.  So  sagt  Herr 
Halb  faß:  „Man  weiß  nicht  recht,  ob  der  Verf.  den  Begriff 
des  juvenilen  Wassers  überhaupt  gänzlich  ablehnt  oder  nicht." 
Hierzu  habe  ich  zu  bemerken,  daß  ich  auf  S.  67  das  juvenile 
Wasser  mit  der  Bemerkung  erwähne,  daß  „es  im  Abschnitt 
Thermen  eingehender  besprochen  wird".  Da  der  Begriff  ju- 
veniles Wasser  zur  Erklärung  mancher  Thermen  von  E.  Sueß 
aufgestellt  und  auch  nur  für  diese  verwendet  wurde,  so  ist 
es  naturgemäß,  daß  jenes  bei  diesen  'besprochen  wird.  Da 
heißt  es  nach  eingehenden  Untersuchungen  über  Thermen  auf 
S.  165:  „nicht  das  heiße  Thermal  wasser,  sondern  nur  seine 
Wärme  ist  juvenil;  es  gibt  kein  juveniles  Wasser, 
wohl  jedoch  juvenile  Thermen" ,  also  ein  juveniles,  fremdes 
Heizgas,  welches  das  Bodenwasser  erwärmt.  Damit  glaube 
ich  mich  über  allen  Zweifel  klar  ausgesprochen  zu  haben.  — 

Die  Volgersche  Kondensationsbypolbese  habe  ich  auf 
6  Seiten  als  unhaltbar  bewiesen  und  durch  meine,  auch  meteo- 
rologisch begründete  Nebellheorie  ersetzt.  Die  „Umformung" 
jener  Hypothese  durch  M  e  z  g  e  r  erscheint  mir  nicht  ausreichend 
und  deshalb  zwecklos.  Ich  mußte  mit  den  Zeilen  sparen  und 
Unnotwendiges  unterdrücken.  —  Herr  Halb  faß  scheint  den 
wesentlichen  Unterschied  zwischen  dem  dickleibigen  Lehr- 
buch Keilhacks  und  meinem  kurzen  Leitfaden  manch- 
mal zu  übersehen ;  jenes  kann  die  einzelnen  Abschnitte  mit 
vielen  Einzelfällen,  Beispielen  und  Bildern  erweitern,  während 
ich,  meinem  Programm  gemäß,  stets  bemüht  sein  mußte,  mich 
auf  das  Wesentliche  zu  beschränken.  —  Den  ,, Zusammenbang 
des  Grundwassers  mit  dem  Meere"  habe  ich  auf  den  Seiten 
76,  98  und  109  besprochen,  auch  Beispiele  und  Literatur- 
hinweise gegeben,  was  mir  hydrogeologisch  als  ausreichend 
erscheint;  ich  wäre  dem  Hydrographen  Herrn  Halbfaß  dank- 
bar gewesen,  wenn  er  mir  angedeutet  hätte,  in  welcher  Art 
ich  meine  diesbezüglichen  Ausführungen  zu  ergänzen  hätte. 

Wien  III,  8.  Oktober  1920. 

Dr.  Hans  Höfer-Heimhalt. 


Äther-Theorie    und   Einstein-Effekt.      Da    das  Sonnenlicht 

elektro-magnetischer  Natur  ist,  liegt  die  Annahme  nahe,  daß 
die  Sonne  im  Äther  nicht  nur  Bewegungserscheinungen,  sondern 
auch  Zustandsänderungen  in  Form  von  Spannungen  und  Zer- 
rungen hervorruft.  Die  Stärke  derselben  wird  c.  p.  von  der 
Größe  der  Entfernung  der  betreffenden  Ätherpartie  von  der 
Sonne  abhängen  und  in  der  Nähe  derselben  vergleichsweise 
am  stärksten  sein. 

Durch  diese  magnetische  Beeinflussung  des  Äthers  durch 
die  Sonne  kann  die  Ablenkung  eines  Sternlichtstrahles  beim 
Vorbeistreichen  am  Sonnenrand  hervorgebracht  werden,  indem 
die  Verzerrungen  des  Fortpflanzungsmittels  den  Gang  des 
Lichtwellenzuges  in  ähnlicher  Weise  beeinflussen  müssen,  wie 
eine  Narbe  das  benachbarte  Gewebe,  d.  h.  an  sich  heran- 
ziehen. Hat  doch  schon  Faraday  eine  Drehung  des  polari- 
sierten Lichtstrahls  im  magnetischen  Felde  nachweisen  können. 

So  kann  der  ,,  Einst  ein- Effekt "  auch  auf  Grund  der 
Äther-Theorie  erklärt  werden. 

Die  Abweichung  in  der  Perihelbewegung  des 
Merkur  aber,  welche  eigentlich  das  Vorhandensein  von 
Planeten  innerhalb  der  Merkurbahn,  die  aber  tatsächlich 
fehlen,  erfordern  würde,  ist  ebenfalls  durch  ein,  in  der  Son- 
nennähe am  stärksten  wirkendes,  von  der  Sonne  selbst  aus- 
gehendes und  den  ihr  am  nächsten    befindlichen  Planeten  am 


meisten  beeinflussendes  Magnetfeld  einer  prinzipiellen  Er- 
klärung zugänglich,  dazu  bedarf  es  also  ebenfalls  nicht  der 
Relativitätstheorie.  Ar.  Adler. 


F'ischende  Hunde.  Am  Stagno  di  San  Giusta  bei  Orislano 
an  der  Westküste  Sardiniens  beobachtete  ich  einstmals  Hunde, 
die  regelrecht  Fische  fingen.  Als  wir  am  Ufer  des  erv/ähnten 
großen  Strandsees  (den  man  kurz  vor  dem  Kriege  trocken  zu 
legen  begann)  nach  Milben  und  Insekten  suchten,  bemerkten 
wir  wenige  Schritte  von  uns  entfernt  ganz  nahe  am  Wasser 
einen  mittelgroßen  Hund,  der  scharf  ins  Wasser  schaute.  Er 
ließ  sich  durch  unsere  Anwesenheit  nicht  stören  (wurden  doch 
die  Hunde  in  Sardinien  zumeist  in  merkwürdig  freundlicher 
Weise  behandelt,  so  daß  sie  wenig  scheu  sind).  Nachdem  der 
Hund  einige  Minuten  unbeweglich  ins  Wasser  gesehen,  fuhr 
er  plötzlich  blitzschnell  mit  dem  rechten  Fang  ins  Wasser 
und  schleuderte  einen  etwa  20  cm  langen  Fisch  ans  Land  und 
trug  ihn  davon.  Eine  Strecke  weiter  fischte  ein  zweiter  Hund 
in  derselben  Weise,  ebenfalls  mit  Erfolg.  ,  Da  ich  vermutete, 
es  könnte  sich  vielleicht  um  matte,  kranke  Fische  handeln, 
die  die  Hunde  anzögen,  weil  leicht  fangbar,  untersuchte  ich 
das  Ufer  genauer;  es  waren  aber  keine  kranken  oder  toten 
Fische  aufzufinden.  Die  Scharen  von  Fischen  schwammen 
schnell  davon,  wenn  ich  näher  hinzutrat;  sie  machten  durch- 
aus nicht  den  Eindruck  als  wären  sie  krank.  Diese  Hunde 
fischten  also  regelrecht.  Es  wäre  mir  interessant,  von  ähn- 
lichen Beobachtungen  zu  hören.  Wenn  ich  mich  recht  er- 
innere, habe  ich  einmal  in  einer  Jagdzeitschrift  im  allge- 
meinen gelesen,  daß  Hunde  zuweilen  große  Fischliebhaber 
seien  und  den  Teichwirt  dadurch  schädigten. 

Dr.  Anton  Krausse,  Eberswalde. 


Moderne,  biologische  Auffassung  des  Tierbaues  bei  J.  Swift. 
Bei  meiner  heurigen  Reiselektüre  des  bekannten  satyrischen 
Werkes  „Gullivers  Reisen"  von  Swift,  das  bereits  1726  er- 
schienen ist,  ist  mir  im  3.  Kapitel  der  Reise  in  das  Land  der 
Riesen  Brobdignag  (Ausgabe  der  Reclamschen  Universalbiblio- 
thek S.  Ill),  wo  davon  die  Rede  ist,  daß  drei  Gelehrte  Gul- 
liver untersuchen,  eine  hochinteressante  Stelle  aufgefallen,  die 
wohl  verdient,  allgemein  bekannt  gemacht  zu  werden.  Es 
heißt  dort:  „Alle  drei  stimmten  darin  überein,  daß  ich  nicht 
nach  den  regelmäßigen  Naturgesetzen  geschaffen  sein  könne, 
weil  ich  nicht  zur  Erhaltung  meines  Lebens,  durch  Erklettern 
der  Bäume  oder  durch  Eingraben  in  die  Erde,  gebildet  sei. 
Sie  sahen  ferner  aus  meinen  Zähnen,  die  sie  genau  in  Augen- 
schein nahmen,  ich  sei  ein  fleischfressendes  Tier;  da  jedoch 
die  meisten  Vierfüßler  mich  an  Kraft  bei  weitem  überträfen 
und  Feldmäuse  sowie  einige  andere  viel  zu  behende  seien, 
könnten  sie  sich  nicht  vorstellen,  wovon  ich  lebte,  wenn  ich 
mich  nicht  von  Schnecken  oder  Insekten  ernähre;  zugleich 
aber  erboten  sich  alle  drei,  durch  sehr  gelehrte  Gründe  zu 
beweisen,  auch  dies  sei  nicht  wohl  möglich."  Diese  Äuße- 
rung erinnert  lebhaft  an  die  Stelle  in  Goethes  ,,Athrois- 
mos",  der  freilich  so  manches  Jahrzehnt  später  erschienen 
ist:  „Also  bestimmt  die  Gestalt  die  Lebensweise  des  Tieres, 
und  die  Weise  zu  leben,  sie  wirkt  auf  alle  Gestalten  mächtig 
zurück." 

W'ien.  Prof.  Dr.  E.  Witlaczil. 


Literatur. 


Much,  Prof.  Dr.  H.,  Pathologische  Biologie  (Immuni 
tälswissenschaft).  3.  Aufl.  Mit  6  Tafeln  u.  7  Textabb.  Leip- 
zig '20,  C.  Kabitsch.     45  M. 


Inhalt:  Fr.  Termer,  Kakao  und  Schokolade  bei  den  alten  Mexicanern  und  anderen  mittelamerikanischen  Völkern.  S.  65. 
Fr.  Dahl,  Täuschende  Ähnlichkeit  mit  Bienen,  Wespen  und  Ameisen.  S.  70.  —  Einzelberichte:  Gley,  Die  Lehre 
von  der  inneren  Sekretion.  S.  75.  Kapteyn  und  van  Rhijn,  Das  Gesetz  der  Verteilung  der  Fixsterne.  S.  78. 
Millikan,  Die  Ausdehnung  des  ultravioletten  Spektrums.  S.  79.  —  Bücherbesprechungen:  E.  Stromer,  Paläo- 
zoologisches  Praktikum.  S.  79.  Steinhardt,  Vom  wehrhaften  Riesen  und  seinem  Reiche.  S.  79.  J.  Walther, 
Vorschule  der  Geologie.  S.  79.  —  Anregungen  und  Antworten:  Zu  Höfers  Grundwasser  und  Quellen.  S.  80.  Äther- 
Theorie  und  Einstein-Effekt.  S.  80.  Fischende  Hunde.  S.  80.  Moderne,  biologische  Auffassung  des  Tierbaues  bei 
J.  Swift.  S.  So.  —  Literatur:  Liste.  S.  80. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  41,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Fol^e  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe    36.  Band. 


Sonntag,  den  6.  Februar  1921. 


Nummer  6. 


Über  Moorbildungen  im  tropischen  Afrika. 


tNachdruck  verboten.]  Von  Prof.  Dr.  E. 

H.  Potonie,  dem  die  geologische  Wissen- 
schaft eine  Reihe  höchst  wichtiger  Forschungen 
über  die  Bildungsweise  und  den  Bau  der  rezenten 
Moore  und  über  ihre  Umwandlung  zu  Kohlen- 
lagern verdankt,  ist  seit  vielen  Jahren  dafür  ein- 
getreten, daß  die  großen  Kohlenbildungs- 
perioden der  Erde  unter  dem  Einfluß  eines 
tropisch- feuchten  Klimas  gestanden  haben. 
Auf  die  Begründung  dieser  Ansicht,  für  die  Po- 
tonie eine  Anzahl  vollgültiger  Beweise  beibringen 
konnte,  soll  hier  nicht  eingegangen  werden.  Bis 
in  die  neueste  Zeit  fand  er  Gegnerschaft,  natur- 
gemäß von  solchen,  denen  eine  sachgemäße  Ab- 
wägung aller  hierbei  in  Frage  kommenden  Materien 
unmöglich  war,  vor  allem,  weil  ihnen  eine  Kennt- 
nis tropischer  Natur  und  tropischer  Klimaeigen- 
tümlichkeiten fehlte. 

Eine  wesentliche  Stütze  fand  Potonie  durch 
die  Entdeckung  eines  800000  Hektar  großen 
Flachmoorgebietes  in  der  heißen  Ebene  des  flachen 
östlichen  Teiles  von  Sumatra  am  Kamparfluß  durch 
S.  H.  Koorders,  dessen  30  m  hoher  immer- 
grüner Mischwald  auf  mächtigen  Torflagen  wächst. 
Andere  Tropenmoore  wurden  später  von  Janensch 
aus  Deutsch  Ostafrika ,  von  R.  Lang  aus  dem 
malayischen  Archipel  und  von  K.  Keilhack  von 
Ceylon  beschrieben.^) 

Während  des  Krieges  ist  es  mir  gelungen,  die 
Zahl  der  bekannten  Tropenmoore  um  einige  zu 
vermehren,  die  sich  in  Deutsch-Ostafrika  und  in 
der  Kongokolonie  finden,  also  in  recht  verschieden- 
artigen Klimaprovinzen  liegen.  Diese  seien  im 
folgenden  kurz  geschildert. 

Kigoma,  der  Endpunkt  der  von  Daressalam 
nach  dem  Tanganjikasee  führenden  Zentralbahn 
steigt  am  Suedgehänge  einer  geräumigen  Ein- 
buchtung des  Sees  empor.  Sie  wird  durch  zwei 
Landzungen   gegen   die    heftigen   böigen   Wirbel- 

')  Über  Tropenmoore  und  die  ältere  Literatur  vgl, 
K.  Keilhack,  Über  tropische  und  subtropische  Torfmoore 
auf  der  Insel  Ceylon,  Jahrb.  Preuß.  Geol.  Landesanst.  1915, 
H.  1;  ferner  K.  Keilhack,  Über  tropische  und  subtropische 
Flach-  und  Hochmoore  auf  Ceylon ;  Mitt.  Oberrhein.  Geol. 
Vereins,  N.  F.  4,  S.  76.  Keil  hack  gibt  zum  ersten  Male 
Listen  der  gesammelten  Pflanzen,  die  wichtige  Schlüsse  und 
Vergleiche  mit  außertropischen  Mooren  erlauben.  —  Weiter 
sind  anzuführen:  4.  Bericht  über  die  Ausgrabungen  und  Er- 
gebnisse der  Tendaguru- Expedition,  Sitz.-Ber.  Ges.  Naturforsch. 
Freunde,  Berlin  1911,  S.  393. —  Janensch,  Die  Torfmoore 
im  Küstengebiet  des  südlichen  Deutsch-Ostafrikas.  Wiss.  Er- 
geh, der  Tendaguru-Expedition,  3.  H.,  S.  265.  —  R.  Lang, 
Geol.-Min.  Beobachtungen  in  Indien,  I — 3;  Centralblatt  für 
Min.,  Geol.  u.  Pal.  1914,  S.  257,  513.  —  Ausführlichere  An- 
gaben über  die  unten  beschriebenen  Moore  und  ihre  klima- 
tische Stellung  inE.  Krenkel,  Moorbildungen  im  tropischen 
Afrika,  Centralblatt  f.  Min.  1920. 


Krenkel,  Leipzig. 

winde  des  Grabensees  abgeschlossen,  der  nach 
den  neuesten,  von  Jacobs  und  Stappers  aus- 
geführten Lotungen  in  seinem  südlichen  Teil- 
becken bis  zu  1435  "^  Tiefe  erreicht  und  damit, 
655  m  unter  den  Spiegel  des  Indischen  Ozeans 
eingesenkt,  der  zweittiefste  See  der  Erde  nach 
dem  Baikal  ist.  Die  genannten  Landzungen,  die 
Anhöhen  um  die  Bucht  von  Kigoma  wie  die 
hohen  Uferberge  des  Sees  bestehen  aus  stark  ge- 
störten eintönigen  Sandsteinserien  der  Tangan- 
jikaformation. 

Die  Bucht  von  Kigoma  zeigt  an  ihrem  innersten 
Rande  einen  flachen  Strandsaum,  der  von  hellen, 
aus  der  Zerstörung  der  Sandsteine  der  Tangan- 
jikaformation  hervorgehenden  Seesanden  aufgebaut 
ist.  Die  übrigen  Seiten  der  Umrahmung  der 
Bucht  steigen  steiler  aus  dem  Wasser  empor.  An 
diesen  steiler  geneigten  Uferböschungen  läßt  sich 
um  die  ganze  Bucht  herum  ein  markantes  Bran- 
dungskliff erkennen,  wie  solche  auch  von  anderen 
Strecken  des  Sees  bekannt  geworden  sind.  Der 
Strand  der  innersten  Bucht  findet  landeinwärts 
seine  Fortsetzung  in  einem  weiten  ebenen  Tal- 
boden, der  hinter  einer  etwa  loo  m  breiten  den 
See  von  ihm  abdämmenden  Landbrücke  einen 
ausgedehnten  Sumpf  mit  einer  offenen  Wasser- 
fläche in  der  Mitte  trägt.  Sie  wird  von  einem 
wechselnd  breiten  Streifen  wasserliebender  Ge- 
wächse umzogen ,  der  sich  durch  seine  saftig 
grüne  Farbe  namentlich  zur  Trockenzeit  von  dem 
fahlen  Gelb  der  umgebenden  Vegetation  scharf 
umrissen  abhebt.  Auch  an  den  Abhängen  dieses 
Talbodens  in  der  Umgebung  des  Teiches,  der  den 
Namen  Kibirizi  trägt,  ist  ein  Strandkliff  sehr 
deutlich  zu  erkennen,  das  sich  in  das  eben  er« 
wähnte  lückenlos  fortsetzt.  Das  den  Teich  Kibi- 
rizi umziehende  Kliff  beweist,  daß  sich  die  Bucht 
von  Kigoma  einst  erheblich  tiefer  landein  er- 
streckte. Es  erklärt  zugleich  die  Entstehung  des 
Teiches,  der  als  ein  von  der  heutigen  Bucht  von 
Kigoma  abgeschnürter  Teil  einer  älteren,  ausge* 
dehnteren  Bucht  des  Sees  anzusehen  ist. 

Der  Teich  Kibirizi  und  seine  Umgebung  mit 
stagnierenden  Regenwassertümpeln  sollten,  als 
Brutstätten  malariaübertragender  Mücken,  während 
des  Krieges  der  Gesundung  Kigomas  zu  Liebe 
trockengelegt  werden.  Die  vorgenommenen  Ent- 
wässerungsarbeiten, so  die  Anlage  eines  den  Teich 
mit  der  Bucht  verbindenden  Entwässerungsgrabens, 
gaben  Gelegenheit,  die  geologische  Beschaffenheit 
des  Teichuntergrundes  kennen  zu  lernen.  Sie 
legten  zugleich  ein  recht  ausgedehntes  Tropen- 
sumpfmoor frei. 


82 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XX.  Nr.   6 


Dieses  Sumpfmoor  erhält  an  einer  Seite  kleine 
Zuflüsse  aus  den  Randbergen  des  Sees.  In  seinem 
Innern  trägt  es  eine  unregelmäßig  gestaltete,  von 
Schwimmpflanzen  lückenhaft  bestandene  Wasser- 
fläche, die  alle  Anzeichen  vorschreitender  Ver- 
sumpfung durch  Verlanderpflanzen  zeigt.  Denn 
von  dem  sie  umgebenden  innersten  Vegetations- 
gürtel aus  rücken  locker  stehende  Ausläufer  in 
sie  vor,  die  sich  nach  außen  mehr  und  mehr 
verdichten.  Dieser  innerste  Vegetations- 
gürtel besteht  aus  einem  sehr  gleichmäßigen 
Bestände  von  Sumpfgräsern  —  fast  ausschließlich 
wohl  Cyperus  Papyrus  —  von  übermannshohem 
Wuchs,  die  in  dicken  Klumpen,  die  man  als 
„Riesenbülte"  bezeichnen  könnte,  beisammen  stehen 
und  von  schmalen  Wasseradern  durchzogen  wer- 
den. Auf  diesen  innersten  „Papyrusgürtel"  folgt 
nach  außen  mit  abnehmender  Wassertiefe  ein 
zweiter,  in  dem  die  üppigen  Papyrusstauden 
zurücktreten,  kleiner  werden  und  sich  andere 
Gräser  und  Blütenpflanzen  zwischenmischen.  Am 
Rande  des  Sumpfmoores,  dem  ausdauernde  Was- 
serlachen schon  fast  völlig  fehlen,  ist  Papyrus 
nicht  mehr  zu  finden,  eine  Reihe  verschiedener 
Gräser  und  Stauden  bilden  vielmehr  das  vor- 
herrschende Pflanzenelement.  Auch  hier  stehen 
die  Süß-  und  Sauergräser  noch  in  kleinen  Bülten, 
eine  Analogie  zu  unseren  Mooren. 

Die  Verlandung  des  Kibiriziteiches  wird  also, 
genau  wie  bei  den  Seen  unseres  Klimas,  durch 
mehrere,  zonenartig  aufeinander  folgende,  wenn 
auch  nicht  scharf  getrennte  Vegetationsgürtel  be- 
zeichnet. Eine  genauere  Beschreibung  der  diese 
Gürtel  zusammensetzenden  Pflanzengemeinschaften 
zu  geben,  ist  mir  unmöglich,  so  wünschenswert 
sie  auch  wäre,  da  ich  dazu  zu  wenig  Botaniker 
bin.  Die  gesammelten  Pflanzen  mußten  in  Afrika 
zurückbleiben.  Auffällig  war  es,  daß  sich  nirgends 
Moose  und  Flechten  fanden. 

An  seiner  Grenze  wird  nun  dieser  Grassumpf 
—  ein  typisches  Tropen  flach  moor,  mit  ver- 
landenden Pflanzen  im  Innern,  Fortsetzern  der 
Torfbildung  im  bereits  landfest  gewordenen  Moor 
nach  außen  hin  —  von  einem  zweiten  Moortypus 
umzogen,  den  man  als  Gehängemoor  be- 
zeichnen könnte.  Dieses  Gehängemoor  zieht  sich 
über  dem  Sumpfmoor  an  den  Böschungen  des 
Tales  aufwärts  und  endet  da,  wo  die  oben  be- 
schriebene Strandlinie  eines  älteren,  höheren 
Standes  desTanganjikadasGehänge durchschneidet. 
Der  Pflanzenwuchs  auf  ihm  ist  vielgestaltiger  als 
im  äußersten  Sumpfmoorgürtel,  vor  allem  finden 
sich  viele  blühende  Kräuter,  so  Leguminosen.  Als 
auffallendstes  Unterscheidungsmerkmal  zum  Sumpf- 
moor, dem  ein  solcher  völlig  fehlt,  zeigt  das  Ge- 
hängemoor einen  sehr  lückenhaften  Baum-  oder 
besser  Buschwuchs  von  recht  kümmerlichem  Aus- 
sehen, was  wieder  als  Analogie  zu  unseren  Mooren 
gelten  könnte.  Das  Gehängemoor  endet  mit 
scharfer  Grenze  an  den  in  der  Umgebung  von 
Kigoma  verbreiteten  Pflanzenbeständen. 

Am    nördlichen    Rande    des   Sumpfmoores,    in 


der  Übergangszone  zum  Gehängemoor  ansetzend, 
finden  sich  üppige  Bestände  tropischer  Kulturen, 
so  schöne  Ölpalmen,  die  in  dieser  niedrigen  Ufer- 
region des  Tanganjikasees  als  Vorposten  ihres 
Hauptverbreitungsgebietes  inWestafrika  in  einzelnen 
Exemplaren  vorkommen,  Bananenhaine  und  Pa- 
payen. Sogar  zu  einzelnen  P'eldkulturen  ist  der 
trockene  Humusboden  hier  früher  benutzt  worden, 
der  dann  eine  lockere  krümelige  Struktur  durch 
das  Auflockern   mit  der  Hacke  angenommen  hat. 

Über  die  Untergrundsbeschaffenheit 
des  Kibirizisumpfmoores  wurde  folgendes  festge- 
stellt: Im  Innern  des  Moores,  unter  der  offenen, 
tiefbraun  gefärbten  Wasserfläche,  fand  sich  ein 
breiiger,  brauner  P'aulschlamm,  dessen  Mächtig- 
keit nicht  ermittelt  werden  konnte.  Am  Ent- 
wässerungsgraben dagegen,  der  ungefähr  l^/g  m 
an  seiner  tiefsten  Stelle  in  der  Landbarre  einschnitt, 
wurde  ein  Profil  erschlossen,  das  oben  Torf,  unter 
diesem  Sande  und  Kiese  mit  gelegentlichen 
Tonschmitzchen  zeigte ,  diese  ganz  ähnlich  den 
Ablagerungen  des  Buchtrandes,  jedoch  im  Gegen- 
satz zu  deren  kräftiger  Färbung  deutlich  ausge- 
bleicht und  hier  und  da  mit  beginnender  ort- 
steinartiger  Verfestigung.  Die  größte  Mächtig- 
keit des  Torfes  betrug  im  Graben  über  i  m; 
doch  ist  die  wahre  Mächtigkeit  nach  der  Lage- 
rung sicher  größer.  Die  Farbe  des  nassen  Torfes 
ist  braunschwarz  bis  schwarz,  getrocknet  dunkel- 
braun. Der  getrocknete  Torf  zeigt  ein  innig  ver- 
filztes  Pflanzengewebe,  in  dem  sich  vor  allem 
Wurzelfasern,  seltener  Reste  von  Stengeln  und 
Blattstücken  unterscheiden  lassen.  Der  im  Ge- 
hängemoor vorkommende  Torf  zeigt  eine  viel  ge- 
ringere Mächtigkeit,  die  20  cm  erreicht.  Er  ist 
sehr  viel  lockerer  als  der  vorbeschriebene.  Seine 
Farbe  ist  heller.  Unter  seinen  Bestandteilen  über- 
wiegen Wurzelteile,  während  eine  homogene,  diese 
einbettende  Grundmasse  zurücktritt. 

Außer  dem  Kibirizimoor  dehnt  sich  vielleicht 
zwischen  Kigoma  und  dem  Luitschetal  ein  anderes 
großes  Moor  aus.  Nach  seiner  Lage  und  seinem 
Pflanzenbestand  wäre  es  nicht  ausgeschlossen,  daß 
hier  ein  Tropen  hoch  moor  vorliegt.  Da  es 
nicht  besucht  werden  konnte,  mag  die  bloße  Er- 
wähnung der  Möglichkeit  eines  solchen  Vorkom- 
mens genügen. 

Zu  streifen  wären  noch  die  klimatischen 
Verhältnisse  am  nördlichen  Ostufer  des  Tanganjika- 
sees. Dieses  gehört  dem  äquatorialen  Klimatypus 
mit  zwei  Niederschlagsmaxima  an;  die  kleine 
Trockenzeit  ist  nur  schwach  entwickelt.  Udjidji, 
in  der  Nähe  Kigomas,  erhielt,  um  nur  eine  Be- 
obachtungsstation zu  nennen,  im  Jahre  191 1  eine 
Regenmenge  von  1092  mm;  das  Temperatur- 
maximum betrug  34,  das  Minimum   12,5°  C. 

Wie  gegenwärtig  die  Bedingungen  zur  Moor- 
bildung am  See  gegeben  sind ,  so  bestanden  sie 
auch  zur  Karruzeit  an  beiden  Ufern  des  noch 
nicht  gebildeten  Sees.  Karrukohlen  sind  sowohl 
im  Hinterlande  von  Karema  wie  im  Lukugagraben 
gefunden  worden. 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


H 


Nach  meinen  übrigen  Beobachtungen  und  Er- 
kundigungen dürften  Flachmoore  auch  in  ande- 
ren Teilen  Deutsch- Ostafrikas  vorkommen.  So 
wurde  mir,  um  Beispiele  aus  verschiedenen  Land- 
schaften zu  nennen,  aus  dem  „Zwischenseen- 
gebiet" berichtet,  daß  in  den  oft  versumpften, 
dicht  mit  Papyrus  bestandenen  Talsohlen  Urundis 
und  Ruandas  Torflagen  festgestellt  wurden.  Ich 
habe  ferner  im  Innern  Deutsch  -  Ostafrikas  im 
Nordugogo  in  einem  Steppenbecken  der  Land- 
schaft Mletsche  über  grauschwarzeni,  fettem  Steppen- 
beckenton eine  Torflage  von  etwa  20  cm  Dicke 
gefunden.  Es  handelt  sich  um  ein  kleines  Flach- 
moor, dessen  Bau  nicht  weiter  untersucht  wurde. 
Vorkommen  ähnlicher  Art  werden  sich  wohl  noch 
öfter  ermitteln  lassen.  Die  Moore  Ugogos  sind 
beachtenswert  deshalb,  weil  das  Klima  dieses 
Landes  starke  Extreme  zeigt:  so  eine  lange, 
scharf  ausgeprägte  Trockenzeit  mit  völliger  Regen- 
freiheit während  vieler  Monate  und  eine  kurze 
Regenzeit  mit  allerhöchstens  700  mm  Regen  in 
günstigen  Jahren,    dazu   sehr  hohe  Temperaturen. 

Zwischen  Daressalam  und  Bagamojo  habe  ich 
weiter  an  der  Küste  des  Indischen  Ozeans  mehr- 
fach dünne  Lagen  von  braunem  Torf  über  fossil- 
führenden marinen  Sanden  oder  in  diese  einge- 
lagert gesehen.  Besonders  diese  Vorkommnisse 
der  Küstenmoore  (Mangrovenmoore?)  von 
paralischem  Typus,  die  rezenten  Beispiele  für 
eine  unserer  wichtigsten  Erscheinungsformen  der 
fossilen  Kohlenlager,  erscheinen  mir  aus  vielen 
Gründen  einer  näheren  Untersuchung  wert,  so 
auch  wegen  der  sich  in  ihrer  Lagerungsweise  ab- 
spiegelnden jungen  Bewegungen  des  Küstenlandes. 

Aus  allen  diesen  Angaben  ergibt  sich  —  zu- 
sammen mit  der  Schilderung  der  Moore  aus  dem 
südlichen  Küstengebiet  Deutsch- Ostafrikas,  die 
Janensch  und  v.  St  äff  im  Hinterlande  von 
Lindi  und  Kilwa  aufgefunden  und  ausführlich  ge- 
schildert haben  —  daß  Moorbildungen  in  den 
verschiedensten  Teilen  dieses  großen  Gebietes  auf- 
treten. So  an  der  mäßig  feuchten  ozeanischen 
Küste  mit  ihren  geringen  Temperaturschwankun- 
gen, im  trockeneren  Küstenhinterland,  im  regen- 
armen heißen  Innern  mit  großen  Temperatur- 
gegensätzen, an  der  inneren,  dem  regenreichen 
Kongobecken  schon  angenäherten  Seengrenze  am 
Tanganjika,  und  in  den  kühleren,  regen-  und 
nebelreichen  Hochländern  des  Nordwestens.  Zwei- 
fellos werden  sich  noch  viele  andere  Vorkomm- 
nisse finden. 

Unter  den  ostafrikanischen  Mooren  ließen  sich 
schon  heute  nach  bestimmten  Merkmalen  ver- 
schiedene Typen  aufstellen.  Da  aber  gerade 
ihr  Pflanzenbestand,  als  eins  ihrer  wichtigsten 
Merkmale,  noch  nicht  genügend  erforscht  ist  und 
fast  nur  lücken-  und  laienhafte  Angaben  über  ihn 
vorliegen,  müßte  eine  solche  Aufstellung  als  ver- 
früht unterbleiben,  solange  nicht  der  Botaniker 
sein  Urteil  gesprochen  hat.  Trotzdem  mag  der 
Versuch  einer  nur  orientierenden  Übersicht  der 
zu  scheidenden  Typen  gewagt  werden.     Ihr  sind 


die  bisher  bekannt  gewordenen  außerafrikanischen 
Vorkommen  beigefügt.  Die  Moore  Ostafrikas 
werden  in  ihrer  Mehrzahl  den  tropischen  Flach- 
mooren angehören;  es  ist  aber  kaum  daran  zu 
zweifeln,  daß  es  auch  hier  tropische  Hochmoore 
gibt. 

Zu  unterscheiden  wären : 

I.  Tropische  Moore. 
A.   Rezente    Tropenmoore. 

1.  Tropenflachmoore 

a)  mit  tropischem  Regenhochwald,  der  deut- 
liche Anzeichen  eines  Sumpfwaldes  trägt, 
so  Pneumatophoren,  Besen-  und  Brettwurzeln ; 
Unterholz  in  verschiedenem  Grade,  oft  nur 
gering  entwickelt.  Unter  der  Wurzeldecke 
dunkler  schlammiger  Humus.  Offenen  Wasser- 
stellen nicht  selten. 

Vorkommen:  im  Kongobecken  am  Ruki; 
außerhalb  Afrikas:  Osiküste  von  und  mitt- 
leres Sumatra,  Ceylon? 

b)  mit  üppiger  Baum-  und  Buschvegetation, 
z.  T.  in  reinen,  z.  T.  in  gemischten  Bestän- 
den;  Kraut-   und  Graswuchs   zurücktretend. 

Vorkommen :  Großes  und  kleines  Narunyo- 
moor  am  Lukuledi,  Mto  Nyangi  am  Mbem- 
kuru 

c)  mit  Sumpfgräsern :  Grasmoor  (mit  Gramineen, 
Cyperaceen ,  Nymphaceen ,  Leguminosen). 
Durchsetzt  von  wenig  dichtem,  mäßig  hohem 
Busch  und  niedrigen,  nur  vereinzelt  höheren 
Bäumen. 

Vorkommen :  (3.)  Narunyomoor,  Matumbica- 
tal.  Außerhalb  Afrikas:  südliche  Westküste 
von  Ceylon 

d)  mit  reinem  oder  überwiegendem  Sumpf- 
gräserwuchs im  Innern  („Papyrusmoor"), 
meist  mit  offenen  Wasserstellen ;  ohne  Baum- 
und Buschwuchs. 

Vorkommen:  Bucht  von  Kigoma,  Hoch- 
länder des  Zwischenseengebieies,  (kleine) 
Steppenmoore,  Katanga; 

e)  paralische  (Mangroven-)  Moore:  Pflanzenbe- 
stand  noch  unbekannt. 

Vorkommen:  an  der  Küste  Deutsch-Ost- 
afrikas zwischen  Bagamojo  und  Daressalam, 
z.  T.  wohl  subrezent. 

2.  Ubergangsbildung:Gehängemoor  von 
geringer  Ausdehnung  mit  verkümmerter  Baum- 
und Buschvegetation. 

Vorkommen :  Bucht  von  Kigoma. 

3.  Tropenhochmoore,  mit  niedrigen  Gräsern, 
Farnkräutern  und  vereinzelten  Baum-  und  Busch- 
gruppen ;  Vegetation  kümmerlich. 

Vorkommen:  am  Pindirobach  im  Mbemkuru- 
tale  (Süden  von  Deutsch- Ostafrika),  zwischen 
Kigoma  und  Luitsche? 

B.   Subrezente  Tropenmoore. 
Schwammige  Torflager  zwischen  jungen  Sedi- 
menten,   mit  Resten    von  Baumstämmen  und  an- 
deren Pflanzen. 

Vorkommen :   am  Kongo  zwischen  Buma  und 
Lisala,     eingelagert     in    junge    Kongoalluvionen, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


darunter  Bleichsand;  in  Katanga.  —  Außerhalb 
Afrikas :  in  mehreren,  durch  Bleichsande  getrennten 
Lagen  übereinander  auf  der  Malayischen  Halb- 
insel bei  Ipoh  und  Tronoh. 

IL   Subtropische  Moore 
(mit  Gebirgsklima  im  tropischen  Gebiet). 

1.  Flachmoore:  Grasmoor  ohne  Bäume  und 
Sträucher:  die  Flora  zeigt  viele  Anklänge  an 
unsere  heimischen  Moorpflanzen  (mit  Apono- 
geton,  Juncus,  Scirpus,  Eriocaulon  u.  a.). 

Vorkommen:  Nurelia,  am  Talagalla  (2250  m) 
auf  Ceylon.  Hierher  gehören  wohl  am  besten 
die  Papyrusmoore  in  den  Hochländern  des 
Zwischenseengebietes  in  Deutsch-Ostafrika. 

2.  Hochmoore:  Grasmoor  mit  verkümmertem 
Baumwuchs  und  wenig  Staudenwuchs ;  ohne 
Moose. 

Vorkommen:  Nurelia  auf  Ceylon  (weitgehende 
Übereinstimmung  in  den  Familien  und  selbst 
in  den  Gattungen  zu  der  Flora  in  den  nord- 
deutschen Mooren). 

Daß  auch  außerhalb  des  eben  besprochenen 
Gebietes  Bedingungen  zur  Moorbildung  im  tropi- 
schen Afrika  vorhanden  sind,  habe  ich  durch 
vielerlei  Angaben  bestätigt  gefunden,  die  mir 
während  meiner  Reise  durch  die  Kongokolonie 
gemacht  worden  sind.  Von  diesen  mag  nur  eine 
erwähnt  werden,  die  gut  beobachtet  erscheint. 
Es  handelt  sich  nach  der  Beschreibung  um  ein 
großes  mit  Hochwald  bestandenes  Sumpfflach - 
moor.  Es  dehnt  sich  am  Unterlaufe  des  Ruki 
aus,  eines  linken  Nebenflusses  des  Kongo,  der 
sich  bei  Coquilhatville  unter  dem  Äquator  in  den 
Riesenstrom  ergießt  und  die  Urwälder  der  Mitte 
des  Kongobeckens  entwässert.  Was  mir  die 
Schilderung  dieses  Moores  als  gut  beobachtet  er- 
weist, ist  die  Erwähnung  von  „kurzen  dicken  Ge- 
bilden, die  zugespitzten  Baumstümpfen  gleichen 
und  in  großer  Anzahl  den  sumpfigen  Boden  be- 
decken". Es  kann  sich  hiernach  nur  um  die 
kegelförmigen  Atemwurzeln  sumpfständiger  Laub- 
bäume handeln,  deren  Lebensweise  also  eine 
große  Übereinstimmung  verrät  zu  der  Sumpfwald- 
vegetation, wie  sie  uns  Koorders  und  nach 
ihm  Potonie  aus  dem  ebenen  Flachlande  des 
östhchen  Sumatra  zwischen  den  Flüssen  Siak  und 
Kampar  beschrieben  haben. 

Auch  subrezente  Tropenmoore  sind 
im  Kongobecken  vorhanden.  So  sah  ich  auf  der 
Dampferfahrt  kongoabwärts  zwischen  den  an  der 
äußersten  nördlichen  Biegung  des  Kongoknies 
gelegenen  Stationen  Buma  und  Lisala  an  einer 
durch  eine  der  jüngsten  Hochfluten  mit  ihren 
riesigen  Wassermassen  frisch  abgebrochenen  Ufer- 
wand ein  wichtiges  Profil  junger  Ablagerungen 
entblößt.  Bis  zum  Wasserspiegel  lagen  Flußsande 
von  heller  Färbung,  darüber,  allmählich  aus  diesen 
hervorgehend,  eine  schwarzbraune,  etwa  I  bis  1  ^4  ni 
mächtige,  lockere  torfige  Schicht,  in  der 
noch  schwärzliches  Astwerk  zu  erkennen  war, 
und  über  dieser  als  Abschluß,  aber  nun  mit 
scharfer    Abwaschungsgrenze    ansetzend,   jüngste. 


gelb  und  braun  gefärbte  Flußablagerungen  des 
Kongo. 

Dieses  Profil  zeigt  deutlich,  wie  sich  in  einer, 
wohl  nur  wenig  zurückliegenden  Zeit  über  jungen 
Flußsedimenten  in  einer  Üferniederung  ein  Sumpf- 
flachmoor, wohl  ein  Waldmoor,  gebildet  hat.  Es 
wuchs,  nach  Analogie  des  gegenwärtigen  Wachs- 
tums der  Flora  im  tropischen,  feuchtigkeitschwan- 
geren Kongourwald  zu  urteilen,  das  in  kürzester 
Zeit  enorme  Pflanzenmassen  hervorbringt,  rasch 
heran,  wurde  dann  wieder  zerstört  und  abgetragen 
und  schließlich  von  einer  neuen  Lage  von  Sedi- 
menten eingedeckt.  Ein  Einschneiden  des  Kongo 
in  seine  Ablagerungen  brachte  das  werdende 
Kohlenflöz  wieder  ans  Tageslicht. 

Damit  ist  der  Beweis  erbracht,  daß  im  tro- 
pischen Urwald  des  Kongobeckens  Moore  in  junger 
geologischer  Zeit  entstanden  sind,  ebenso  wie  sie 
noch  heute  in  ihm  gedeihen. 

Dem  vorbesprochenen  ähnliche  subrezente  Torf- 
lager hat  C.  Guillemain  aus  der  Südprovinz 
der  Kongokolonie,  aus  Katanga,  beschrieben. 
Nur  im  Aufbaumaterial  mögen  sie  sich  unter- 
scheiden, indem  es  sich  bei  ihnen  um  die  Residuen 
ausgedehnter  Papyrussümpfe  handelt.  In  erheb- 
licher Ausdehnung  finden  sich  diese  jugendlichen 
Kohlenflözbildungen  im  unteren  Lufiratale  und  an 
anderen  Kongoquellflüssen. 

Gleichartige  subrezente  Bildungen  hat  R.  Lang, 
der  im  östlichen  Sumatra  wachsende  Waldmoore 
über  weiten  Gebieten  fand,  ähnlich  denen  am 
Ruki,  von  der  Halbinsel  Malakka  bekannt  ge- 
geben, wo  sich  in  den  Tagebauten  der  Zinngruben 
ausgezeichnete  Profile  von  vertorften  Waldsümpfen 
und  ihrer  Gesteinsunterlage  finden. 

Daß  im  Gebiete  des  feuchten  tropischen  Kongo- 
urwaldes Ansammlung  von  Rohhumus  keine  Aus- 
nahme, sondern  sogar  eine  Regel  ist,  deuten  auch 
die  Schwarzwasserflüsse  des  inneren  Kongo- 
beckens an.  Der  tropische  Urwald  bedeckt  in 
Zentralafrika  ein  ausgedehntes,  wenn  auch  nicht 
geschlossenes  Gebiet,  das  sich  zwischen  dem 
5.  Grade  nördlicher  und  dem  5.  Grade  südlicher 
Breite  zonenartig  zu  beiden  Seiten  des  Äquators 
ausstreckt,  mit  einzelnen  Ausläufern  südwärts.  Die 
das  Urwaldland  durchziehenden  zahlreichen  Ge- 
wässer sind  echte  Schwarzwasserflüsse.  Sie 
führen  von  gelöstem  Humus  tiefschwarz  bis  bräun- 
lich in  verschiedenen  Tönen  gefärbtes  Wasser. 
Obwohl  es  durch  seine  Farbe  den  Eindruck  starker 
Trübung  erweckt,  lassen  sich  eingetauchte  Gegen- 
stände viele  Meter  tief  verfolgen.  Dieses  dunkle 
Schwarzwasser  führen  die  Ströme  des  Kongo- 
beckens allein  innerhalb  des  Urwaldbereichs,  nicht 
aber  außerhalb  desselben,  ein  deutlicher  Hinweis 
darauf,  daß  die  dunkle  Färbung  mit  der  Erzeugung 
von  Rohhumus  zusammenhängt. 

Im  großen  ganzen  ist  das  Urwaldland  des 
Kongobeckens  weniger  regenreich,  als  meist  an- 
genommen wird.  Die  hier  fallenden  Regen  sind 
beträchtlich   geringer  als   auf  Sumatra   und  Java, 


I 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


8S 


wo  Regenmengen  von  weit  über  3000  mm  durch- 
aus die  Regel  sind.  Im  Kongobecken  bewirkt 
jedoch  die  Form  der  gewaltigen  geologischen  wie 
orographischen  Mulde  eine  intensive  Sammlung 
der  Niederschläge  in  der  Rinne  des  Kongo.  Dazu 
ist  die  Verdunstung  durch  die  üppige,  den  Boden 
vor  Austrocknung  bewahrende  Pflanzendecke  und 
die  meist  starke  Wolkenbildung  gehemmt.  Diese 
Momente  steigern  die  Wirksamkeit  der  kaum  je- 
mals 2000  mm  übersteigenden  Regenfälle  —  solche 
Niederschläge  finden  sich  z.  B.  als  in  einem  der 
regenreichsten  Gebiete  des  Landes  zwischen  Co- 
quilhatville  und  Lukolela  am  Kongo  —  für  die 
Urwaldstrecken  um  das  Mehrfache. 


Die  aus  dem  tropischen  Afrika  bisher  be- 
schriebenen Moore  sind  nicht  eben  zahlreich.  Sie 
werden  sich  jedoch  als  verbreitet  sehr  rasch 
herausstellen,  sobald  aufmerksam  auf  ihr  Vor- 
kommen geachtet  werden  wird. 

Ohne  hier  weiter  auf  spezielle,  mit  der  Moor- 
bildung in  den  Tropen  zusammenhängende  Fragen 
eingehen  zu  wollen,  die  geologischer  und  klima- 
tologischer  Natur  sind,  soviel  jedenfalls  ist  sicher, 
daß  die  wichtigsten  Perioden  weit  ausgedehnter 
und  langandauernder  Moorbildung  auf  der  Erde 
unter  der  Herrschaft  eines  tropisch- feuchten  Klimas 
standen  mit  allen  seinen,  einen  üppigen  Wuchs 
der  Flora  fördernden  Eigenschaften. 


Spekulatives  über  die  Endlichkeit  der  Welt. 

[N»chdjuck  verboten,]  Von  E.  J.  Gumbel  (Berlin). 

Die  folgenden  Zeilen  sollen  plausibel  machen,     Sonne   aufgehen   zu   sehen 


warum  ein  experimenteller  Nachweis  der  Endlich- 
keit der  Welt  auf  optischem  Weg  heute  und  ver- 
mutlich immer  unmöglich  ist. 

Die  Astronomen  vermuten,  daß  die  Welt  end- 
lich, aber  unbegrenzt  ist.  Die  allgemeine  Rela- 
tivitätstheorie hat  sich  dieser  Vermutung  ange- 
schlossen. Man  veranschaulicht  sich  dies,  indem 
man  zweidimensionale  Geschöpfe  betrachtet,  die 
auf  der  Oberfläche  einer  Kugel  leben.  Deren 
Welt  hat  nämlich  beide  Eigenschaften. 

Unsere  Welt  verhält  sich  geometrisch,  als  wenn 
wir  auf  der  dreidimensionalen  Oberfläche  einer 
Kugel  von  vier  Dimensionen  lebten.  (Die  Begriffe 
Welt  und  Vierdimensionalität  sind  dabei  nicht  im 
Sinn  des  raum-zeitlichen  Kontinuums  gebraucht.) 

Da  nur  das  Licht  uns  die  Erkenntnis  der  uns 
umgebenden  Sternenwelt  bringt,  so  drängt  sich 
zum  experimentellen  Nachweis  der  Endlichkeit  der 
Welt  folgender  Gedankengang  auf:  Das  Licht 
schreitet  von  einer  Lichtquelle  in  Kugelwellen  fort. 
Das  Licht  muß  also,  nachdem  es  die  ganze  Welt 
durchlaufen,  wenn  man  von  der  Absorption  ab- 
sieht, von  der  „entgegengesetzten"  Seite  wieder 
zurückkehren.  Anders  gesprochen:  Es  muß  für 
jeden  auf  der  dreidimensionalen  Oberfläche  der 
vierdimensionalen  Kugel  gelegenen  Stern  ein  Bild 
existieren ,  wo  die  Kugelwellen  zusammenlaufen 
und  wieder  auseinander  gehen.  Dieses  Bild  wird 
an  unserem  Firmament  als  Stern  erscheinen,  den 
wir  an  und  für  sich  von  den  „wirklichen"  Sternen 
nicht  unterscheiden  können. 

Nach  der  allgemeinen  Relativitätstheorie  wird 
das  Licht  beim  Durchgang  durch  Gravitations- 
felder abgelenkt.  Wir  setzen  bei  der  Überlegung 
also  voraus,  daß  die  Gravitationsfelder  das  Zu- 
standekommen des  Bildes  nicht  verhindern. 

Die  Frage  des  Nachweises  der  Endlichkeit  der 
Welt  konzentriert  sich  demnach  auf  die  Auffindung 
des  Bildsternes.  Hierzu  stehen  uns  eine  Reihe 
von  Methoden  zur  Verfügung.  Zunächst  könnte 
man  sich  auf  einen  geeigneten  Punkt  der  Erde 
stellen  und  versuchen  das  Bild  der  untergehenden 


Oder  allgemein  ge- 
sprochen, es  ist  zu  versuchen,  zu  bestimmten 
Sternen  der  einen  Himmelshalbkugel  die  zuge- 
hörigen Bildsterne  als  Sterne  der  anderen  Halb- 
kugel aufzufinden.  Die  beiden  Sterne  müssen  be- 
zogen auf  die  Ekliptik  an  der  Himmelskugel  ieinen 
Längenunterschied  von  180  Grad  und  die  gleiche, 
aber  entgegengesetzte  Breite  haben. 

Der  Nachweis  der  Zusammengehörigkeit  zweier 
Sterne  als  Stern  und  Bild  läßt  sich  auf  zwei 
Weisen  durchführen:  mit  Hilfe  der  Dopplerver- 
schiebung und  mit  Hilfe  der  Parallaxenwerte.  Wir 
betrachten  zunächst  die  Dopplerverschiebung. 
Wenn  der  eine  Stern  sich  in  einer  bestimmten 
Richtung  zur  Erde  bewegt,  so  müßte  sein  Bild 
sich  in  entgegengesetzter  Richtung  bewegen.  Also 
müßten  die  beiden  Dopplerverschiebungen  den 
gleichen  Betrag,  aber  entgegengesetzte  Richtung 
haben.  Man  müßte  demnach  die  Sterne  der  nörd- 
lichen und  südlichen  Halbkugel  einzeln  darauf 
durchsehen,  ob  sich  zwei  Sterne  mit  diesen  Eigen- 
schaften finden. 

Da  aber  zu  jedem  Stern  ein  Bildstern  gehört, 
so  könnte  man  auch  untersuchen,  ob  wenigstens 
entsprechende  Sterngebiete  der  nördlichen  und 
südlichen  Halbkugel  im  Mittel  die  gleiche,  aber 
entgegengesetzte  Dopplerverschiebung  aufweisen. 
Dem  liegt  die  Annahme  zugrunde,  daß  die  ge- 
samte durch  die  Schwerkraft  herbeigeführte  Ab- 
lenkung des  Lichtes  zwar  nicht  verschwinde,  aber 
verhältnismäßig  klein  sei.  In  Erweiterung  dieses 
Gedankens  wäre  zu  untersuchen,  ob  nicht  für  die 
nördliche  und  südliche  Halbkugel  im  ganzen  die 
gleiche,  aber  entgegengesetzte  Dopplerverschiebung 
herauskommt. 

Tatsächlich  werden  aber  im  Mittel  ebensoviele 
Sterne  sich  auf  die  Erde  zu,  als  von  ihr  weg  be- 
wegen. Daher  wird  sich  für  dieses  Mittel  in 
beiden  Fällen  Null  ergeben,  was  für  unsere  Theorie 
nichts  aussagt.  Dies  ist  nur  einer  der  Einwände, 
die  die  Unausführbarkeit  unseres  Gedankenexperi- 
ments und  damit  überhaupt  des  Nachweises  der 
Endlichkeit  der  Welt  auf  optischem  Weg  zeigen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Es  ist  nämlich  überhaupt  unwahrscheinlich,  daß 
das  Licht  seinen  Umlauf  um  die  Welt  vollendet. 
Denn  es  ist  zu  befürchten,  daß  es  von  den  schwarzen 
Massen  aufgeschluckt  wird.  Endlich  haben  wir 
bei  unserem  Vergleich  stillschweigend  vorausge- 
setzt, daß  der  Stern  seine  Geschwindigkeit  in  der 
kolossalen  Zeit,  die  das  Licht  vom  Stern  zum 
Bild  braucht,  nicht  wesentlich  verändert  hat.  (Eine 
an  sich  schon  sehr  unwahrscheinliche  Hypothese.) 
Entscheidend  aber  ist,  daß  stets  einer  der 
beiden  zusammengehörigen  Sterne  so  weit  von 
uns  entfernt  sein  muß,  daß  die  genauen  spektro- 
skopischen Untersuchungen,  die  die  Feststellung 
der  Dopplerverschiebung  verlangt,  überhaupt  nicht 
vorgenommen  werden  können.  Dies  läßt  sich 
einfach  zeigen.  Die  Entfernung  eines  Sternes  wird 
mit  Hilfe  seiner  Parallaxe  gemessen. 

Dies  gibt  uns  scheinbar  ein  zweites  Mittel  um 
die  Zuordnung  von  Stern  und  Bild  durchzuführen. 
Die  Entfernung  des  Sternes  von  der  Erde  und  die 
Entfernung  des  Bildes  von  der  Erde  müßte  näm- 
lich zusammengerechnet  den  halben  Umfang  eines 
größten  Kreises  der  vierdimensionalen  Kugel 
geben. 

Aber  eine  einfache  Überlegung  zeigt,  daß  die 
Parallaxe  des  Bildes  tatsächlich  immer  dann  un- 
meßbar ist,  wenn  die  Parallaxe  des  Sternes  meß- 
bar ist  und  umgekehrt.  Nehmen  wir  den  gün- 
stigsten Fall  für  die  gleichzeitige  Messung  von 
Bild  und  Stern,  so  müssen  beide  gleichweit  von 
der  Erde  entfernt  sein.  Dann  beträgt  ihre  Ent- 
fernung je  einen  Quadranten  eines  größten  Kreises 
der  vierdimensionalen  Kugel.  Aber  nach  einem 
Satz  der  Geometrie  ist  der  Umfang  eines  größten 
Kreises  auf  einer  n  dimensionalen  Kugel  wie  bei 
der  gewöhnlichen  Kugel  2R7T.  Wir  brauchen 
also  zur  Bestimmung  der  Parallaxe  den  Radius 
der  vierdimensionalen  Kugel.  Dieser  ist  natürlich 
nicht  exakt  bestimmbar.  Nach  den  Schätzungen 
de  Sitters  ergibt  er  sich  als  das  10*^-  bis  10'*- 
fache  des  Erdbahnradius.  Rechnen  wir  mit  der 
ersten  Zahl,  so  gibt  eine  elementare  Rechnung 
eine  Parallaxe  von  höchstens  einhunderttausendstel 
Bogensekunde.  Eine  solche  ist  aber  durch  unsere 
astronomischen  Messungen  nicht  nachweisbar.  Also 
selbst  im  günstigsten  Fall  kann  man  die  Beziehung 
für  die  Parallaxen,  die  sich  daraus  ergibt,  daß  die 
Entfernung  von  Stern  und  Bild  gleich  einen  halben 
Weltumfang  ist,  nicht  nachweisen. 

Wenn  der  Stern  sichtbar  ist,   so   ist  also  sein 
Bild  nicht  sichtbar  und  umgekehrt.    In  dem  oben 


erwähnten  günstigsten  Fall  ist,  da  der  Erdbahn- 
radius 150  MiH.  Kilometer  beträgt  und  das  Licht 
300000  km  in  der  Sekunde  macht,  die  Entfernung 
von  der  Erde  zum  Stern  ungefähr  10  Mill.  Licht- 
jahre. Der  Arcturus  ist  aber  z.  B.  nur  lOO  Licht- 
jahre entfernt.  Bei  quadratischer  Abnahme  der 
Intensität  mit  der  Entfernung  wäre  also  ein  Stern 
von  gleicher  Größe  10  milliardenmal  schwächer 
als  der  Arcturus,  also  ein  Stern  von  der  40.  Größen- 
klasse. Stern  und  Bild  können  also  nicht  gleich- 
zeitig gesehen  werden. 

Jetzt  sehen  wir  auch,  wie  unberechtigt  unsere 
frühere  Annahme  war,  daß  Stern  und  Bild  sym- 
metrisch gelegen  sein  müßten.  Denn  aus  einer 
bestimmten  Lage  eines  Bildes  zu  einer  gewissen 
Zeit  kann  nur  gefolgert  werden,  daß  der  zuge- 
hörige Stern  vor  20  Mill.  Jahren  die  dazu  sym- 
metrische Lage  eingenommen  hat. 

Da  es  unmöglich  ist,  zu  einem  Stern  das  zu- 
gehörige Bild  zu  finden,  ist  es  unmöglich  die  End- 
lichkeit der  Welt  auf  diesem  optischen  Weg  ex- 
perimentell zu  beweisen.  Dies  könnte  nur  ge- 
schehen, wenn  man  ein  Verfahren  finden  könnte, 
um  den  Bildcharakter  eines  Sternes  nachzuweisen. 
Durch  optische  Eigenschaften  ist  dies  sicher  nicht 
möglich.  Denn,  da  das  Bild  über  seine  Geschichte 
nichts  aussagt,  so  sind  für  die  Optik  Stern  und 
Bild  völlig  gleichberechtigt. 

In  mechanischer  Hinsicht  dagegen  werden 
Sterne  und  Bilder  einander  nicht  äquivalent  sein. 
Zwei  Bilder  werden  sich  ungefähr  verhalten  wie 
zwei  Sterne,  da  nahe  gelegene  Bilder  nahe  gelegenen 
Sternen  entsprechen.  Dagegen  wird  das  gegen- 
seitige Verhalten  eines  Sternes  und  eines  Bild- 
sternes gegenüber  dem  Verhalten  zweier  wirk- 
licher Sterne  bemerkenswerte  Abweichungen  zeigen. 
Denn  nur  das  vom  Bild  ausgestrahlte  Licht  wird 
durch  den  Stern  eine  Gravitationswirkung  erfahren, 
nicht  aber  das  vom  Stern  ausgestrahlte.  Eine 
Gravitationswirkung,  die  von  der  Masse  des  Bildes 
herrührt,  wird  nicht  vorhanden  sein.  Hat  man 
nun  von  zwei  Sternen,  die  wir  als  sehr  benach- 
bart sehen,  die  Parallaxen  so  genau  gemessen,  daß 
man  entscheiden  kann,  daß  sie  nicht  etwa  nur 
zufällig  auf  derselben  Gesichtslinie  stehen,  sondern 
„wirklich"  benachbart  sind,  so  ist  es  vielleicht 
einmal  möglich,  durch  den  Unterschied  in  der 
Größenordnung  der  Gravitationswirkung  des 
Lichtes  und  der  Gravitationswirkung  der  Masse 
den  Nachweis  für  den  Bildcharakter  eines  Sternes 
und  damit  der  Endlichkeit  der  Welt  zu  erbringen. 


[Nachdruck  verboten.] 


Zum  Kreislaufprozeß  des  Wassers, 

Von  Prof.  W.  Halbfaß,  Jena. 


Daß  der  Kreislaufprozeß  des  Wassers  auf  der 
Erde  nicht  in  mathematisch  genauem  Sinne  ge- 
nommen werden  darf,  bedarf  wohl  kaum  einer 
besonderen  Erwähnung.  Dennoch  geht  aus  dem 
meiner  Ansicht  nach  wohlbegründeten  Beweis- 
verfahren von  G  n  i  r  s  *)   hervor ,    daß  wenigstens 


in  den  zwei  letzten  vergangenen  Jahrtausenden 
eine  meßbare  Erniedrigung  des  Niveaus  der 
Ozeane,  die  gegenüber  der  Gesamtmasse  der 
Erde  eine  nur  verschwindend  dünne  Oberflächen- 


')  MiU.  Geogr.  Ges.  Wien  1908. 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


87 


Schicht  darstellen,  nicht  stattgefunden  hat.  Es 
hat  sich  ferner  herausgestellt,  daß  alle  Behaup- 
tungen von  einer  dauernden  Abnahme  des 
Wasserstandes  der  Flüsse  und  der  Binnenseen 
nicht  zu  erweisen  sind  und  daß  endlich  von  einer 
gleichmäßigen,  die  ganze  Erde  umspannenden, 
Abnahme  der  Niederschläge  nicht  die  Rede  sein 
kann,  daß  vielmehr  ein  vielleicht  periodisches  An- 
und  Abschwellen  im  Wasserstand  der  Flüsse  und 
Seen  und  der  Niederschlagsmengen  erfolgt. 

Auf  der  anderen  Seite  aber  läßt  sich  nicht 
bestreiten,  daß  die  Erde  beständig  von  ihrem 
Wasservorrat  einbüßen  muß.  Von  den  Ober- 
flächenschichten der  Erde  sickert  Wasser  unauf- 
hörlich in  tiefere  Schichten  der  Erdkruste,  aus 
denen  es  nur  zum  Teil  in  Gestalt  von  Quellen 
und  in  Dampfform  wieder  an  die  Oberfläche  zu- 
rückkehrt. Die  ,, Bergfeuchtigkeit"  des  Gesteins 
auch  in  den  größten  Tiefen  beweist,  daß  das 
Wasser  in  Tiefen  sinken  kann,  aus  denen  es  frei- 
willig nicht  wieder  emporsteigt.  Am  Meeres- 
boden herrscht  ein  Druck,  der  in  einer  Tiefe  von 
9000  m  mit  900  kg  auf  I  qcm  entspricht,  d.  h. 
ein  Druck,  dem  selbst  die  Wände  des  stärksten 
Dampfkessels  nicht  standhalten  könnten,  ge- 
schweige denn  der  viel  weichere  Boden  der  Welt- 
meere. Es  muß  also  in  die  unter  dem  Meeres- 
boden liegenden  Erdschichten  fortwährend  Wasser 
abfließen,  an  dessen  Wiederemporsteigen  natürlich 
nicht  zu  denken  ist.  Weiter  binden  die  unaus- 
gesetzt sich  vollziehenden  Kristallisationsvorgänge 
in  der  Natur  chemisch  Wasser  und  halten  es  fest, 
lassen  es  also  in  den  atmosphärischen  Kreislauf 
nicht  wieder  zurückgehen.  Endlich  aber  erfolgt 
in  Vulkanen,  sobald  das  durch  Erdspalten  ver- 
sinkende Wasser  mit  dem  heißen  Magma  der 
tieferen  Schichten  in  Berührung  kommt,  sofort 
eine  Zersetzung  in  seine  Bestandteile:  Wasserstoff 
und  Sauerstoff,  wobei  ersterer  wegen  seiner 
Leichtigkeit  explosionsartig  in  die  Höhe  schießt 
und  in  den  oberen  Schichten  des  gasförmigen 
Erdgürtels  der  sog.  Wasserstoffschicht  dauernd 
verbleibt. 

Es  muß  also  irgendeine  andere  Quelle  der 
Erneuerung  und  Vermehrung  des  Wassers  auf 
der  Erdoberfläche  vorhandens  sein,  welche  imstande 
ist,  alle  die  geschilderten  Verluste  zu  decken.  Da 
an  eine  irdische  Quelle  nicht  zu  denken  ist,  so 
kann  sie  nur  kosmischen  Ursprungs  sein,  auf 
welche  Tatsache  bereits  namhafte  Physiker  hin- 
gewiesen haben.  Nur  von  den  eigentlichen  Geo- 
graphen und  Hydrographen  scheint  die  Lücke, 
die  hier  in  unsere  Kenntnisse  von  einer  der  wich- 
tigsten Vorgänge  in  der  Natur  klafft,  noch  nicht 
genügend  beachtet  zu  sein. 

Eine  höchst  originelle  Erklärung  versuchten 
in  einer  sehr  umfangreichen  Schrift  —  sie  umfaßt 
nicht  weniger  als  772  Seiten  Text  im  Lexikon- 
format mit  312  Abbildungen  —  der  Ingenieur 
Hörbiger  und  der  Astronom  Fauth,*)  welche 
wohl  deswegen  bisher  so  wenig  Beachtung  ge- 
funden hat,  weil  sie   unmittelbar   vor   dem  Welt- 


krieg erschien  und  weil  sie  z.  T.  in  einem  wenig 
lesbaren  Stil  geschrieben  wurde.  Ohne  Zweifel 
gehört  dieses  Werk  zu  den  bedeutendsten  und 
gedankentiefsten  Leistungen  menschlichen  Geistes 
und  wir  Deutsche  können  stolz  darauf  sein,  daß 
es  ein  Werk  deutscher  Forscher  ist.  Vor  kurzem 
ist  von  einem  begeisterten  Anhänger  dieser  Lehre, 
dem  Ingenieur  Dr.  ing.  Voigt,")  ein  Buch  er- 
schienen, das  eine  gemeinfaßliche  Einführung  in 
Hörbiger- Fauths  Glazialkosmogonie  sein 
will,  sehr  faßlich  geschrieben  und  durch  bildliche 
und  graphische  Darstellungen  vortrefflich  unter- 
stützt, sehr  geeignet  erscheint,  solche  Leser  in  die 
Hörbigerschen  Ideenwelt  einzuführen,  denen  es 
an  Zeit  und  Geduld  gebricht,  das  umfangreiche 
Hauptwerk  selbst  zu  studieren.  Wir  können  uns 
hier  auf  die  Begründung  der  Hörbigerschen 
Glazialkosmogonie  im  einzelnen  und  auf  die 
Folgerungen,  die  aus  ihr  auf  die  Entstehung  der 
Sedimentgebirge,  Kohlen-,  Erdöl-  und  Salzlager- 
stätten gezogen  werden,  nicht  einlassen,  sondern 
wollen  nur  diejenigen  Gedankengänge  hervorheben, 
die  ein  Hineinspielen  kosmischer  Einflüsse  auf  den 
Kreislaufprozeß  des  Wassers  an  der  Erdoberfläche 
wahrscheinlich  machen  sollen  und  es  m.  E.  auch 
wirklich  tun. 

Hörbiger  weist  zunächst  auf  die  Schwierig- 
keiten hin,  welche  sich  der  Erklärung  so  gewalti- 
ger Hagelwetter  entgegenstellen,  wie  dasjenige 
vom  13.  Juli  1788,  das  durch  ganz  Frankreich 
vom  Süden  des  Landes  über  Belgien  bis  nach 
Holland  hinein  sich  erstreckte,  eine  Gesamtbreite 
von  150  km,  eine  Länge  von  über  lOOO  km  er- 
reichte oder  dasjenige  vom  24.  Mai  1830,  welches 
Rußland  vom  baltischen  bis  zum  schwarzen  Meer 
von  einer  Ausdehnung  von  15  Längegraden  und 
10  Breit egraden  verwüstete  und  eine  durch- 
schnittliche Geschwindigkeit  von  94  km  in  der 
Stunde  besaß,  oder  endlich  dasjenige,  welches  am 
7.  Juni  1894  Wien  heimsuchte,  wobei  im  Durch- 
schnitt auf  I  qm  Bodenfläche  nahezu  i  Zentner 
Eis  fiel !  Die  kurze  Dauer  des  Zerstörungswerkes, 
der  lange  schmale  Weg,  den  das  Unheil  nimmt 
und  die  schnelle  Aufklärung  nach  dem  Rasen 
und  Toben  der  Elemente  führen  eigentlich  von 
selbst  zu  den  Gedanken,  daß  hier  außerirdische 
Kraftäußerungen  vorliegen  müssen.  Sie  gehen 
weit  über  alles  hinaus,  was  man  etwa  als  Wirkung 
einer  Störung  im  atmosphärischen  Gleichgewicht 
ansehen  könnte,  welche  die  Temperatur-,  Feuchtig- 
keit- und  Schwereunterschiede  der  atmosphärischen 
Schichten  begleiten. 

Dasselbe  gilt  von  den  tropischen  Regen,  die 
mit  fast  absoluter  Pünktlichkeit  eintreffen  und 
durch  ihre  Anschmiegung  an  den  Sonnenhoch- 
stand nach  geographischer  Breite  und  Tageszeit 
auf  kosmischen  Ursprung  hinweisen.     Nach  einer 


')  Hörbiger-Fauth,  Eine  neue  Entwicklungsgeschichte 
des  Weltalls  und  des  Sonnensystems.     Kaiserslautern   1913. 

-)  Dr.  ing.  Voigt,  Eis  ein  Weltenbaustoff.  Berlin- 
Wilmersdorf,  Hermann  Paetel.  312  S.  in  8"  nebst  Atlas  in 
15   Taf.  u.  4".     24  M. 


as 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


vollkommen  klaren  Nacht,  nach  einem  klaren 
Sonnenaufgang  gegen  lo  Uhr  morgens,  bewölkt 
sich  derHimmel,  und  Regen  setzt  mit  großartiger  Ge- 
nauigkeit gegen  4  Uhr  nachmittags  ein,  der  dann 
bis  gegen  Abend  anhält,  um  dann  wieder  eine 
klare  Nacht  folgen  zu  lassen.  Wären  diese  enor- 
men Niederschläge  einfach  eine  Folge  der  Kon- 
densation von  Wasserdämpfen,  die  der  Erdboden 
verdunstet,  so  ist  absolut  nicht  abzusehen,  warum 
die  tagsüber  verdampften  Wassermengen  nicht  in 
der  kühleren  Nacht  als  Regen  niederfielen!  Von 
der  physikalischen  Erklärung  der  Hagelstürme 
und  tropischen  Regen  zu  derjenigen  der  tropischen 
Wärme  ist  nur  ein  Schritt,  den  Hör  biger  auch 
tut.  Diese  Stürme  bestehen  in  einem  stoßweisen 
Herabsteigen  rasch  bewegter  Luftschichten  in  die 
unterste  am  Erdboden  zurückgehaltene  Schicht, 
welches  selten  länger  als  i  Minute  dauert,  aber 
gewaltige  Wirkungen  hervorruft.  Der  jüngst  ver- 
storbene Mathematiker  Reye  hat  berechnet,  daß 
zur  Bewegung  der  einströmenden  Luft,  welche 
auf  Kuba  im  Jahre  1844  einen  furchtbaren  Zyklon 
hervorrief,  eine  halbe  Milliarde  PS.  3  volle  Tage 
lang  aufgewendet  worden  ist.  Solche  in  kürzester 
Zeit  sich  austobenden  Gewalten  können  unmög- 
lich Einregelungsversuche  sein,  welche  die  Atmo- 
sphäre macht,  um  das  durch  Sonnenbestrahlung 
gestörte  Gleichgewicht  wieder  herzustellen,  sie 
können  vielmehr  nur  kosmischen  Ursprungs  sein. 
Hörbiger  weist  nun  auf  die  Tatsache  hin, 
daß  schon  wiederholt  in  sehr  großen  Höhen 
Wolken  in  einer  Höhe  bis  zu  150  km  am  völlig 
klaren  Himmel  beobachtet  wurden,  welche  nur 
aus  Cirruseis  bestehen  können,  ihren  optischen 
Eigenschaften  entsprechend.  Wie  kommen  Eis- 
kristalle und  Eisblöcke  von  solchem  Umfange  in 
so  unfaßbare  Höhen,  wo  bereits  die  atmosphäri- 
sche Luft    begonnen    hat    sich   in   ihre   Elemente 


aufzulösen.?  Da  sie  sich  nur  abwärts  senken 
können,  so  müssen  sie  zumal  als  Gebilde,  die  gar 
nicht  an  die  Erdrotation  gebunden  sind ,  vom 
Weltenraume  her  hereingekommen  sein.  Sie  bil- 
den einen  quantitativen  Zuwachs  von  Wasser  zur 
Erde,  welcher  jenseits  des  irdischen  Kreislauf- 
prozesses des  Wassers  steht.  Es  gibt  also  einen 
Wasserzufluß  zur  Frde,  der  aus  dem  Weltenraum 
quillt  und  seinen  Ursprung  aus  dem  ungeheuren 
Strom  von  Flüssigkeiten  nimmt,  der  von  der 
Sonnenkorona  ausgeht  und  im  kalten  Weltenraume 
erstarrt. 

Die  sonstigen  Konsequenzen ,  welche  Hör- 
biger aus  seiner  Annahme,  daß  namentlich  die 
äußeren,  unsere  Sonne  umkreisenden  Planeten, 
aus  Eis  bestehen,  worauf  schon  ihr  spezifisches 
Gewicht  hinweist,  und  daß  unser  Mond  ursprüng- 
lich als  Planet  die  Sonne  umkreist  habe,  können 
wir  hier  beiseite  lassen,  da  sie  mit  seiner  Theorie 
des  kosmischen  Anteils  am  Kreislauf  des  Wassers 
auf  der  Erde  nur  in  einem  losen  Zusammenhang  zu 
stehen  scheinen,  wollen  aber  die  Fachmänner  nach- 
drücklichst auf  die  Lektüre  des  Originalwerkes  oder 
wenigstens  des  Voigt  sehen  Auszuges  hinweisen. 
In  der  Geschichte  der  Theorien  vom  Kreislauf- 
prozeß des  Wassers  müssen  jedenfalls  Hörbiger 
und  sein  Schüler  Fauth  mit  Achtung  genannt 
und  die  von  ihnen  beigebrachten  Tatsachen  sorg- 
fältig auf  ihre  Richtigkeit  geprüft  werden.  Dar- 
aus, daß  die  „Wissenschaft"  sie  bisher  durch- 
gehends  abgelehnt  hat,  folgt  noch  lange  nicht 
ihre  Unrichtigkeit.  Die  Geschichte  der  Wünschel- 
rute bietet  ein  glänzendes  und  schwerwiegendes 
Beispiel  dafür,  daß  Tatsachen  und  Theorien,  wel- 
che anfangs  Männer  der  Wissenschaft  mit  einer 
verächtlichen  Handbewegung  glaubten  abtun  zu 
können,  später  doch  allgemeinste  Beachtung  ge- 
funden haben. 


Einzelberichte. 


Petrographie  des  älteren  Paläozoikums 
zwischen  Albuugen  und  Witzhausen. ^) 

In  dem  behandelten  Gebiet  nehmen  nach  M  o  - 
esta  Grauwacken  den  weitaus  größten  Teil  der 
Oberfläche  ein,  am  Südrande  erscheinen  aber  in 
den  tiefsten  Geländeteilen  auch  Tonschiefer  mit 
Einlagerungen  von  Quarziten,  Kieselschiefern, 
Hornsteinen,  Kalken  und  Diabasen.  Eine  sichere 
Alterbestimmung  ist  mangels  sicher  bestimmbarer 
Versteinerungen  nicht  möglich.  Mo  esta  ver- 
gleicht die  Grauwacken  mit  den  Tanner  Grau- 
wacken und  die  Schiefer  mit  den  Wieder  Schiefern 
des  Harzes. 

Die  Schiefer  sind  namentlich  an  den  Hängen 
des  Hölltals  aufgeschlossen.  Sie  sind  reich  an 
Quarz,  ziemlich  serizitisch,  etwas  eisen-  und  kohle- 


')  O.  Mügge  in  den  Nachr.  v.  d.  Ges.  d.  Wissenschaften 
zu  GöUingen.     Math,  naturw.  Klasse.     1919. 


haltig  und  oft  sehr  zierlich  gefältelt.  Ihre  Kalk- 
einlagerungen sind  dicht  bis  marmorartig.  Die 
Kieselschiefer  sind  voll  von  meist  elliptisch  defor- 
mierten Radiolarien ;  sie  erscheinen  auch  im  Kon- 
takt mit  den  unten  besprochenen  Diabasen.  Die 
von  Moesta  als  älter  angesprochenen  Grau- 
wacken sind  sandig,  im  großen  bankig,  im  Hand- 
stück fast  kompakt.  Auf  Grund  der  Mineralge- 
mengteile und  der  z.  T.  nur  wenig  abgerollten 
Gesteinsbruchstücke  und  weil  im  Gelstertale  die 
Grauwacke,  nicht  der  Schiefer,  vom  Zechstein 
überlagert  wird,  weil  ferner  nur  die  Schiefer,  nicht 
auch  die  Grauwacken,  Diabase  eingeschaltet  ent- 
halten, endlich  auch  weil  Lagerungsverhältnisse, 
die  auf  jüngeres  Alter  der  Schiefer  hinwegweisen, 
ihm  nicht  bekannt  geworden  sind,  hält  Mügge 
die  Grauwacken  im  Gegensatz  zu  Moesta 
für  jünger  als  die  Schiefer.  Die  Grauwacken 
könnten  etwa,  wie  es  B  e  y  s  c  h  1  a  g  für  die  petro- 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


89 


graphisch  durchaus  ähnlichen  Grauwacken  von 
Oberellenbach  tut,  zum  Culm  gestellt  werden, 
wenn  die  Parallelisierung  der  Schiefer  mit  den 
Wieder  Schiefern  zu  Recht  besteht. 

Die  Diabase,  die  in  den  Schiefern  sehr  häufig 
auftreten,  sind  alle  sehr  zersetzt.  An  der  Grenze 
zu  den  Schiefern  werden  sie  zuerst  feinkörnig, 
schließlich  völlig  dicht.  In  den  dichten  Gesteinen 
ist  Olivin  reichlich  ausgeschieden,  z.  T.  als  größere 
Einsprengunge,  z.  T.  als  sehr  kleine  Einspreng- 
unge, die  im  Längsschnitt  als  zweizinkige  Doppel- 
gabeln, im  Querschnitt  als  abgestumpfte  Rhomben 
mit  großem  Grundmasseeinschluß  erscheinen.  Sie 
sind  völlig  zersetzt. 

Die  von  M  o est a  erwähnte  variolitische 
Varietät  ganz  nahe  am  Bahnhof Albungen  wurde 
vonMügge  wieder  aufgefunden.  Ihre  Variolen  haben 
dieselbe  Zusammensetzung  wie  die  dichten  Diabase, 
die  Zwischenmasse  der  Variolen  dagegen  scheint 
Glas  nur  mit  Ausscheidungen  zahlreicher  kleiner 
Olivine  gewesen  zu  sein.  Sie  ist  jetzt  vollständig 
zersetzt.  Im  Gegensatz  zu  den  Sphärolithen  der 
sauren  Ergußgesteine  lassen  sie  keinen  Kristalli- 
sationsmittelpunkt erkennen.  Warum  sie  sich 
trotzdem  längs  Kugeloberflächen  von  der  um- 
gebenden Glasmasse  abgrenzen,  dürfte  nach  des 
Verf.  Ansicht  in  folgendem  begründet  sein :  Vom 
jetzigen  Mittelpunkte  der  Variolen,  in  dem  zuerst 
Feldspatkeime  auftauchten,  wuchsen  diese  anfangs 
strahlig  nach  allen  Richtungen,  wurden  aber  als- 
bald durch  die  schon  ausgeschiedenen  zahlreichen 
kleinen  Olivineinsprenglinge,  sehr  bald  auch  durch 
die  fast  gleichzeitig  einsetzende  Kristallisation  des 
Schrnelzrestes  zu  Augit  fortwährend  unterbrochen. 
An  jeder  Unterbrechungsstelle  entstand  ein  neues 
Wachstumszentrum  und  nur,  weil  diese  Unter- 
brechungen wegen  der  großen  Zahl,  Kleinheit  und 
regellosen  Verteilung  der  Olivine  auf  allen  Seiten 
gleichmäßig  erfolgte,  blieb  die  Grenze  zwischen 
dem  durch  die  Ausscheidung  von  Plagioklas  und 
Augit  völlig  kristallin  werdenden  Teile  des  Mag- 
mas und  jenem,  der  nur  aus  Glas  mit  mikro- 
skopischen Olivineinsprenglingen  bestand,  zu  jeder 
Zeit  annähernd  eine  Kugelfläche.  Diese  „Variolen" 
stehen  also  den  „Spärolithen"  der  sauren  Erguß- 
gesteine, deren  regelmäßig  radialstrahliges  Wachs- 
tum nicht  durch  das  Vorhandensein  zahlreicher 
kleiner  älterer  Einsprengunge  behindert  wurde, 
als  kugelige  Wachstumsformen  von 
Faseraggregaten  ohne  regelmäßigen 
Bau  gegenüber. 

Aus  verschiedenen  Gründen  nimmt  der  Verf. 
an,  daß  die  Diabaseinlagerungen  als  Ergüsse  unter 
hohen  Wasserdruck  entstanden  sind.  Exogene 
Kontakterscheinungen  erheblicher  Art  fehlen.  In 
chemischer  Hinsicht  zeigen  die  Analysen  der 
Variolen  und  ihrer  Zwischenmasse  größere  Unter- 
schiede, als  nach  der  mikroskopischen  Untersuchung 
erwartet  wurde.  Die  Variolen  weisen  einen  et- 
was höheren  Gehalt  an  Alkalien  auf,  die  Zwischen- 
masse eine  starke  Anreicherung  des  Magnesia- 
eisengehaltes. F.  H. 


Asphaltgäuge  im  Fischflußsandstein  im  Süden 
von  Südwestafrika. 

In  Südwestafrika  war  schon  seit  längerer  Zeit 
das  Gerücht  verbreitet,  in  den  Sandsteinen  des 
Fischflusses  kämen  Kohlen  vor.  Im  Februar  191 5 
erhielt  H.  Schneiderhöhn  („Senkenbergiana", 
Bd.  I,  Nr.  S,  191 9)  vom  Kommando  der  Schutz- 
truppe den  Auftrag,  diese  Vorkommen  zu  unter- 
suchen. Leider  sind  später  seine  Sammlungen, 
Photographien  und  Skizzen  über  diese  Gegend 
verloren  gegangen,  indem  nach  dem  Friedensschluß 
in  Südwest  seine  Koffer  von  englischen  Offizieren 
in  Windhuk  gestohlen  worden  sind.  Es  konnte 
daher  nur  eine  kurze  Beschreibung  der  Vorkommen 
gegeben  werden. 

Die  geologischen  Verhältnisse  stellen  sich  in 
ihren  Grundzügen  nach  P.  Range')  wie  folgt 
dar :  Auf  einem  kristallinen  Sockel  der  afrikanischen 
Primärformation  liegt  eine  mächtige  Folge  kon- 
kordanter  Sedimente,  die  folgendermaßen  gegliedert 
werden : 

Karrooformation 


Fischflußschichten 
Schwarzrandschichten 

Obere 

Nama- 

Schwarzkalk 

Kuibisschichten 

Basisschichten 

Untere 

formation 

Alle  diese  Schichten  liegen  heute  so  gut  wie 
horizontal  mit  einem  kaum  merklichen  Einfallen 
nach  Südosten.  Der  Fischfluß  hat  sich  in  seinem 
Mittellauf  in  die  nach  ihm  benannten  Schichten 
eingeschnitten.  Infolge  des  ganz  schwachen  süd- 
östlichen Einfallens  kommt  man  nach  Süden  zu 
in  immer  höhere  Horizonte,  wobei  sich  deutlich 
ein  Faziesübergang  von  Flachsee-  bis  zum  reinen 
Litoralgestein  beobachten  läßt. 

Von  Bedeutung  sind  zwei  Absonderungs-  oder 
Kluftsysteme.  Sie  setzen  senkrecht  durch  die 
horizontalen  Gesteinsbänke  hindurch  und  durch- 
kreuzen sich  unter  60".  Die  eine  Kluftrichtung 
streicht  ost  —  westlich,  die  andere  südsüdwestlich 
—  nordnordöstlich.  Beide  Kluftsysteme  sind  meist 
reine  Zerrungs-  bzw.  Druckklüfte.  Die  Ost-West- 
klüfte bilden  die  Lagerstätte  des  als  Kohle  ange- 
sehenen Asphaltes. 

Eine  sehr  eigenartige  Erscheinung  ist  an  dem 
Ausstrich  dieser  Klüfte  zu  sehen.  Längs  der 
Klüfte  ist  oft  die  oberste  Gesteinslage  dachförmig 
aufgebuckelt.  Die  Aufwölbung  erreicht  manch- 
mal 50—70  cm  Höhe  und  ist  fast  nur  längs  der 
Ost- Westklüfte  entwickelt.  Sie  ziehen  sich  oft 
viele  hunderte  von  Metern  hin.  Die  Entstehung 
dieser  Aufbuckelungen  ist  auf  Kosten  der  hohen 
Erwärmung  zu  setzen,  welche  die  oberste,  durch 
keinerlei  Schutt  oder  Vegetation  geschützte  Sand- 
Steinlage  durch  die  Sonnenbestrahlung  erfährt. 
Nach  unten  setzen  sich  diese  Aufwölbungen  nicht 
fort. 


')    P.   Range:    Geologie    d.    d.    Namalandes.      Beitr.    z. 
geol.  Erforsch,  d.  d.  Schutzgebiete.     1912,  H.  2. 


90 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Die  Asphaltgänge  sind  bis  jetzt  nur  in  dem 
tiefeingeschnittenen  Fischflußtal  und  in  einigen 
Seitenschluchten  beobachtet  worden,  und  zwar  an 
folgenden  drei  Stellen : 

1.  Etwa  4  km  südlich  vom  Übergang  Unis 
gaos,  der  etwa  13  km  südöstlich  Berseba  liegt. 
Dort  sind  an  der  östlichen  Steilwand  des  Fisch- 
flußtales 2  größere  und  etwa  20— 25  kleinere  Gänge 
aufgeschlossen. 

2.  In  einer  2  km  nördlich  dieser  Stelle  von 
Westen  einmündenden  Seitenschlucht  6  kleinere 
Gänge. 

3.  Am  Übergang  Rukadomes,  50  km  südlich 
Unis  gaos  am  westlichen  Talhang  3  kleinere  Gänge. 

Sämtliche  Gänge  sind  mit  einer  brekziösen 
Gangmasse  erfüllt.  Ihre  Mächtigkeit  schwankt 
zwischen  0,75  m  bis  zu  1  mm.  Sämtlich  asphalt- 
führende Gänge  sind  dadurch  ausgezeichnet,  daß 
in  ihrer  Umgebung  das  rote  Gestein  auf  einige 
Zentimeter  fahlgrün  ausgebleicht  ist. 

Die  Gangfüllung  besteht  aus  tonig-sandigen 
Zerreibsei,  Kalkspat  und  Asphalt.  Letzterer  bildet 
stets  die  innerste,  jüngste  Gangausfüllung,  zu  beiden 
Seiten  ist  er  von  Kalkspat  umsäumt,  und  den 
äußersten  Saum  bildet  das  Zerreibsei.  Der  As- 
phalt ist  eine  geruchlose,  glänzende,  tiefschwarze 
Masse  von  der  Härte  2 — 3  und  mit  muschligem 
Bruch.  Er  läßt  sich  leicht  schon  mit  einem  Streich- 
holz zum  Entflammen  bringen  und  brennt  dann 
mit  heller,  starker,  wenig  rußender  Flamme,  die 
leicht  bituminös  riecht.  Nachdem  der  asphaltartige 
Anteil  verbrannt  ist,  bleibt  ein  erheblicher  Rest 
von  porösem,  anthrazitähnlichem  Kohlenstoff  übrig, 
der,  einmal  entzündet,  lang  nachglüht,  eine  starke 
Hitze  dabei  entwickelt  und  zum  Schluß  wenig 
Aschenbestandteile  übrig  läßt.  In  dem  breitesten 
beobachteten  Gang,  an  der  Fundstelle  i  betrug 
die  Asphaltmächtigkeit  0,25  m.  In  anderen  Gängen 
ist  sie  bedeutend  geringer  und  sinkt  bis  auf  1  mm 
herab.  Auf  dem  Plateau  konnten  einige  Gänge 
bis  zu  I  km  weit  verfolgt  werden,  dann  hinderten 
Schuttmassen  einer  Senke  daran.  Aus  den  Mächtig- 
keiten ergibt  sich,  daß  trotz  der  guten  Qualität 
an  eine  bergmännische  Gewinnung  des  Materials 
nicht  zu  denken  ist,  wenn  nicht  noch  mehr  und 
größere  Vorkommen  gefunden  werden.  Doch  ist 
das  nicht  anzunehmen,  da  die  Hottentotten  schon 
laOge  dieses  Material  zum  Feueranzünden  benützen 
und  in  dem  dortigen  gut  aufgeschlossenen  Gebiet 
andere  Gänge  sicher  schon  längst  aufgefunden  hätten. 

Der  Verf.  nimmt  für  den  Asphalt  am  Fisch- 
fluß die  anorganische  Entstehung  an  und  denkt 
an  hydrothermale  Exhalationen,  die  vielleicht  im 
Gefolge  der  Entstehung  des  Explosionstrichters 
des  Großen  Brukaros  auftraten,  der  20  km  nörd- 
lich von  Berseba  liegt.  Es  erscheint  ihm  sehr 
wahrscheinlich,  daß  im  Gefolge  dieser,  wohl  der 
Postkarroozeit  angehörigen  Explosion  auch  die 
Asphaltsubstanz  in  Form  von  Kohlenwasserstoffen 
empordrang  und  zusammen  mit  Schwerspat,  Quarz, 
Chalcedon,  Kalkspat  und  Kupferkies  der  hydro- 
thermalen Phase  angehört.  F.  H. 


Entfernung  des  großen  Orionnebels. 

Bergstrand  glaubt  durch  eine  indirekte  Er- 
mittlung der  Parallaxe  der  mit  dem  Orionnebel 
in  nahem  Zusammenhang  stehenden,  die  Helium- 
linien zeigenden  Sterne  ß,  y,  ö,  e,  C,  x  usw.  Orionis 
Aufschluß  über  die  Entfernung  des  Nebels  ge- 
wonnen zu  haben  (Astron.  Nachrichten  Nr.  5038). 
Bei  diesen  Sternen  sind  nämlich  die  Geschwindig- 
keiten im  Visionsradius  aus  den  Linienverschie- 
bungen im  Spektrum  auf  Grund  des  Doppl er- 
sehen Prinzips  ziemlich  genau  in  Kilometern  be- 
stimmt. Vergleicht  man  nun  die  durchschnittliche 
Bewegung  im  Visionsradius,  die  bei  diesen  Sternen 
von  der  Sonne  fort  gerichtet  ist,  mit  den  aus  ge- 
nauen Positionsmessungen  von  verschiedenen  Daten 
zu  ermittelnden  relativen  Eigenbewegungen,  die 
eine  langsame  perspektivische  Zusammenziehung 
der  ganzen  Gruppe  hervorbringen,  so  läßt  sich 
unter  der  Voraussetzung,  daß  die  wirklichen  Be- 
wegungen der  einzelnen  Sterne  unregelmäßig  nach 
dem  Gesetz  des  Zufalls  verteilt  sind  (daß  also 
auch  die  Bewegungen  senkrecht  zum  Visionsradius 
die  gleiche  durchschnittliche  Geschwindigkeit  haben, 
wie  diejenigen  im  Visionsradius),  die  mittlere  Ent- 
fernung dieser  Sterne  und  damit  auch  des  von 
ihnen  umgebenen  Orionnebels  abschätzen.  Berg- 
strand  findet  eine  Parallaxe  von  0,008",  d.  h. 
der  Erdbahnhalbmesser  würde  vom  Orionnebel 
aus  unter  diesem  Sehwinkel  erscheinen,  was  einer 
Entfernung   von    etwa  400  Lichtjahren  entspricht. 

Kbr. 


Die  Geschlechtsbestimmnng  bei  den  Motten- 
läusen. 

Der  sog.  Hymenopterentypus  der  Geschlechts- 
bestimmung gilt,  soweit  wir  heute  wissen,  für  alle 
Hymenopteren.  Bei  allen  Hautflüglern  entstehen 
die  Männchen  aus  unbefruchteten  Eiern,  die  zwei 
Richtungskörper  abgeschnürt  und  eine  Reduktion 
ihrer  Chromosomenzahl  erfahren  haben.  Die 
Hymenopterenmännchen  sind  infolgedessen  haplo- 
ide Organismen,  bei  deren  Samenreifung  die  Re- 
duktionsteilung ausfallen  muß.  Im  Gegensatz  zu 
ihnen  sind  alle  Weibchen  diploid.  Sie  gehen  aus 
befruchteten  Eiern  hervor  oder  aber  aus  solchen, 
die  zwar  unbefruchtet  geblieben  sind,  ihre  Chro- 
mosomenzahl aber  nicht  reduziert  haben.  Den- 
selben Modus  der  Geschlechtsbestimmung  be- 
sitzen offenbar  auch  die  heterogenen  Rädertiere, 
doch  sind  bei  diesen  die  Unsersuchungen  noch 
nicht  so  genau  durchgeführt  wie  bei  den  Hymeno- 
pteren. Nach  kürzlich  veröffentlichten  Unter- 
suchungen von  Schrader*)  gehören  auch  die 
Mottenläuse,  die  Aleurodinen,  hierher,  oder  wenig- 
stens gewisse  Formen  von  ihnen. 

Die    Mottenläuse,    kleine    zarte   Tierchen    von 


')  Schrader,  F.,  Sex  determination  in  Ihe  white  fly 
(Trialevrodes  vaporariorum).  Journ.  of  Morphology,  vol.  34, 
1920. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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I — i'/q  mm  Größe  mit  vier  mehlig  bestaubten 
Flügeln,  die  man  früher  zu  den  Schildläusen  rechnete, 
sind  eine  nicht  sehr  artenreiche  Gruppe  der  Schnabel- 
kerfe. Viele  von  ihnen  leben  als  Schädlinge  auf 
Kulturpflanzen,  so  Aleurodes  citri,  die  „weiße 
Fliege"  oder  Orangenfliege,  die  in  Orangen-  und 
Zitronenkulturen  südlicher  Länder  oft  in  derartiger 
Masse  auftritt,  daß  die  ganzen  Blätter  wie  mit 
Mehl  bestäubt  erscheinen.  Solche  Pflanzen  er- 
kranken und  liefern  nur  kümmerliche  Früchte.  In 
unseren  Breiten  finden  sich  auf  Kulturpflanzen  die 
Kohlmottenlaus  und  die  Erdbeermottenlaus,  die 
aber  in  der  Regel  nicht  in  so  großer  Zahl  auf- 
treten, daß  sie  schädlich  werden.  Außerdem  gibt 
es  viele  harmlose  Mottenläuse  auf  anderen  Pflanzen, 
so  Aleurodes  aceris  auf  dem  Ahorn ,  Aleurodes 
proletella,  wie  schon  der  Name  andeuten  soll,  eine 
der  gemeinsten  Formen,  auf  dem  Schöllkraut.  Die 
Spezies,  die  Seh  rader  zu  seinen  Untersuchungen 
gedient  hat,  ist  Trialeurodes  vaporariorum,  eine 
auf  verschiedenen  Nachtschattengewächsen  lebende 
Mottenlaus.  Bei  einer  in  Amerika  lebenden  Rasse 
dieser  Form  kommen  Männchen  und  Weibchen 
in  mehr  oder  weniger  gleichem  Verhältnis  vor. 
In  England  scheint  neben  dieser  Rcisse  eine  andere 
zu  existieren,  die  lediglich  aus  Weibchen  besteht. 
Die  Weibchen  pflanzen  sich  offenbar  partheno- 
genetisch  fort  und  erzeugen  immer  wieder  Weib- 
chen. Auch  bei  der  amerikanischen  Rasse  gibt 
es  eine  parthenogenetische  Entwicklung,  aber 
hier  gehen  aus  den  unbefruchteten  Eiern  nur 
Männchen  hervor.  Der  Modus  der  Geschlechts- 
bestimmung bei  dieser  Rasse  wurde  durch  die 
zytologische  Untersuchung  ermittelt. 

Trialeurodes  vaporariorum  besitzt  im  weib- 
lichen Geschlecht  22  Chromosomen.  Vor  der 
Reifung  der  Eizellen  findet  eine  paarweise  Ver- 
einigung der  homologen  Chromosomen  statt,  die 
Doppelchromosomen  werden  zu  Tetraden,  und  so 
treten  11  Tetraden  in  die  erste  Reifungsteilung 
ein.  Da  die  einzelnen  Komponenten  der  Tetraden 
vor  der  Reifung  miteinander  verschmelzen,  er- 
scheinen allerdings  die  Doppelchromosomen  in 
der  Äquatorialplatte  der  ersten  Reifungsspindel 
als  einfache  Gebilde.  Auf  dem  Stadium  der 
Äquatorialplatte  verharrt  die  Reifungsspindel,  bis 
das  Ei  abgelegt  ist.  Nur  wenn  die  Ablage  des 
Eies  verzögert  wird,  kann  die  erste  Reifungsteilung 
noch  etwas  weiter  ablaufen.  Die  1 1  Tetraden 
werden  geteilt,  so  daß  1 1  Dyaden  in  den  ersten 
Richtungskörper  kommen ,  11  im  Ei  verbleiben. 
Der  Richtungskörper  bleibt  unter  der  Oberfläche 
des  Eies  liegen  und  trifft  ebenso  wie  der  Eikern 
sogleich  die  Vorbereitungen  zu  einer  neuen  Tei- 
lung. Der  Richtungskörper  ist  meist  in  der  Tei- 
lung hinter  dem  Eikern  etwas  zurück,  führt  die 
Teilung  aber  auch  immer  vollständig  durch.  So 
erhalten  wir  vier  Chromosomengruppen,  jede  aus 
1 1  einfachen  Chromosomen  bestehend.  Die 
Richtungskörper  bleiben  alle  drei  im  Eiplasma 
unter  der  Oberfläche  liegen  und  gehen  nach 
einiger  Zeit  zugrunde.    Die  innerste  Chromosomen- 


gruppe stellt  den  gereiften  Eikern  dar,  oder  viel- 
mehr, sie  wandelt  sich  in  diesen  um  und  wandert 
ins  Zentrum  des  Eies. 

Ist  das  Ei  unbesamt  geblieben,  so  liefert  der 
Eikern  im  Zentrum  des  Eies  allein  die  erste 
Furchungsspindel  mit  1 1  Chromosomen,  der  haplo- 
iden Zahl.  Diese  Zahl  wird  während  der  ganzen 
Entwicklung  und  auch  beim  ausgebildeten  Indi- 
viduum beibehalten,  wie  eine  Untersuchung  der 
verschiedensten  Somazellen  zeigt.  Immer  ist  es 
ein  Männchen,  das  aus  einem  solchen  unbefruch- 
teten Ei  mit  haploider  Chromosomenzahl  hervor- 
geht. 

Ist  aber  das  Ei  besamt  worden,  so  trifft  der 
gereifte  Eikern  auf  seiner  Wanderung  ins  Eiinnere 
auf  den  Samenkern,  der  inzwischen  aus  dem  Kopf 
des  Spermatozoons  hervorgegangen  ist,  und  ver- 
schmilzt mit  diesem  zu  einem  einheitlichen  Fur- 
chungskern.  So  wird  hier  die  diploide  Chromo- 
somenzahl wieder  hergestellt,  und  in  die  erste 
Furchungsspindel  treten  22  Chromosomen  ein. 
Aus  dem  befruchteten  Ei  entsteht  ein  Weibchen. 

Wie  läuft  nun  bei  den  Männchen  dieser 
Mottenlaus  die  Samenreifung  ab  ?  Da  die  Männ- 
chen haploide  Organismen  sind,  müssen  wir  er- 
warten, daß  bei  ihnen,  ähnlich  wie  bei  den  Männ- 
chen der  Hymenopteren,  die  Reduktionsteilung 
ausfällt.  Das  ist  in  der  Tat  der  Fall.  Bei  den 
Hymenopteren  macht  die  Spermatozyte  —  man 
möchte  sagen  —  wenigstens  noch  den  Versuch  zu 
der  Reifungsteilung.  Hier  fällt  sie  vollständig  aus. 
Die  einzige  Spermatozytenteilung,  die  zur  Bildung 
der  Spermatiden  führt,  ist  eine  Äquationsteilung 
und  unterscheidet  sich  in  nichts  von  den  voraus- 
gehenden Spermatogonienteilungen.  Da  auch  im 
übrigen  die  „Spermatozyte"  nicht  die  geringsten 
Unterschiede  gegenüber  einer  Spermatogonie  auf- 
weist —  eine  Wachstumsperiode  fehlt  vollkom- 
men — ,  so  ließe  sich  darüber  streiten,  ob  über- 
haupt von  einer  Spermatozyten-  oder  Reifungs- 
teilung die  Rede  sein  kann.  Aus  allen  Sperma- 
tiden gehen  funktionsfähige  Samenfäden  hervor 
— ■  weibchenbestimmende  Spermatozoen  mit  II 
Chromosomen. 

Bleibt  ein  Weibchen  unbegattet,  so  vermag  es 
nur  Männchen  hervorzubringen,  ähnlich  wie  die 
drohnenbrütige  Bienenkönigin.  Das  regelrecht  be- 
gattete Weibchen  erzeugt  weibliche  und  männ- 
liche Nachkommen,  doch  ist  das  Geschlechtsver- 
hältnis sehr  variabel;  es  ist  wahrscheinlich  von 
äußeren  Faktoren  abhängig.  Wie  die  Hymeno- 
pterenweibchen  den  Charakter  des  abzulegenden 
Eies  bis  zu  einem  gewissen  Grade  willkürlich  zu 
bestimmen  vermögen,  so  scheint  es  auch  bei  der 
untersuchten  Mottenlaus  zu  sein. 

Es  wäre  von  besonderem  Interesse,  die  eng- 
lische Rasse  von  Trialeurodes  vaporariorum,  die  an- 
scheinend aus  rein  parthenogenetisch  sich  vermeh- 
renden Weibchen  besteht,  *)  auf  ihre  zytologischen 


')  Es  wäre  aber  auch  denkbar,  dafi  es  sich  um  eine  Form 
mit  Heterogonie   handelt. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Verhältnisse  hin  zu  untersuchen.  Ist  der  Modus 
der  Geschlechtsbestimmung  bei  dieser  Form  ganz 
ebenso  wie  bei  den  Hymenopteren,  so  sollte  man 
erwarten,  daß  die  parthenogenetisch  entstandenen 
Weibchen  diploid  sind,  daß  sie  aus  Eiern  ihren 
Ursprung  nehmen,  in  denen  die  Reduktionsteilung 
unterbleibt. 

Was  uns  aber  den  hier  beschriebenen  Fall  als 
besonders  wertvoll  erscheinen  läßt,  daß  sind  die 
so  außerordentlich  klaren  Chromosomenverhält- 
nisse, die  er  bietet.  Es  ist  kürzlich  die  Ansicht 
geäußert  worden,  haploide  Organismen  seien  nicht 
lebensfähig,  die  haploide  Natur  der  Hymenopteren- 
männchen  wurde  angezweifelt.  Läßt  sich  auch 
die  Haltlosigkeit  einer  solchen  Auffassung  ohne 
Schwierigkeit  darlegen,  so  muß  doch  zugegeben 
werden,  daß  die  Chromosomenverhältnisse  bei  den 
Hymenopteren  sehr  ungünstig  sind;  nicht  nur 
sind  die  Chromosomen  sehr  klein  und  sehr  zahl- 
reich, die  Chromosomen  der  Reifungsteilungen 
sind  Sammelchromosomen,  die  in  den  somatischen 
Zellen  wieder  in  geringerwertige  Elemente  zer- 
fallen, und  das  erschwert  weiterhin  die  Unter- 
suchungen. Alle  diese  Schwierigkeiten  bestehen 
bei  Trialeurodes  nicht,  hier  tritt  es  klar  zutage, 
daß  auch  eine  (die  mütterliche)  Chromosomen- 
garnitur vollauf  genügen  kann,  einen  lebensfähigen 
Organismus  zu  produzieren.  In  diesem  Falle  wie 
in  den  anderen  uns  bisher  bekannten  Fällen  ist 
es  immer  ein  Männchen,  das  auf  diese  Weise  ent- 
steht. Zwar  lassen  sich  bei  Trialeurodes  ebenso- 
wenig wie  bei  den  Hymenopteren  morphologisch 
dififerente  Geschlechtschromosomen  nachweisen, 
aber  wir  haben  guten  Grund  zu  der  Annahme, 
daß  wie  bei  vielen  Tieren  so  auch  hier  zwei  Ge- 
schlechtschromosomen oder  zwei  X  das  weibliche, 
ein  X  das  männliche  Geschlecht  bestimmen. 

Nachtsheim. 


(London)  mitgeteilten  Strukturen  von  abnormen 
Liesegan gschen  Schichtungen  dürften  die  Er- 
klärung noch  erschweren.^) 

Um  den  im  Organismus  auftretenden  Bestand- 
teilen möglichst  nahe  zu  bleiben,  verwendete  H  a  t  - 
schek  zum  Studium  die  Bildung  von  Kalzium- 
phosphaten in  Gelatine -Gelen.  Zu  diesem 
Zweck  wurden  Lösungen  von  Kalziumsalzen  auf 
mit  Trinatriumphosphatlösung  imprägnierte  Gela- 
tineschichten in  Probiergläsern  aufgefüllt,  so  daß 
allmähliche  Diffusion  eintrat.  Es  zeigte  sich  ein 
Unterschied  im  Reaktionsverlauf  je  nach  der  Her- 
kunft der  Gelatine.  Übereinstimmend  aber  wurde 
festgestellt,  daß  die  Schichtenbildung  von  Kalzium- 
phosphat von  sehr  großer  Schärfe  und  Regel - 
m  ä  ß  i  g  k  e  i  t  war,  vollkommen  frei  von  Umsetzungs- 
produkt in  den  Räumen  zwischen  den  Nieder- 
schlagsschichten. Aber  daneben  zeigten  sich  einige 
sonderbare  Anomalien. 

So  waren  in  einigen  Fällen  die  Schichten  g  e  - 
krümmt,  und  zwar  merkwürdigerweise  mit  der 
konkaven  Seite  nach  unten.  In  anderen 
Fällen  waren  die  Schichtungen  durch  2—3  mm 
breite  Brücken  miteinander  verbunden.  Endlich 
aber  zeigte  sich  in  einigen  Fällen,  daß  die  Schich- 
tungen weit  voneinander  entfernt  lagen,  und  daß 
gleichzeitig  zwischen  zwei  Schichten  von  mikro- 
skopischenKristallen  drei  Schichtungen 
von  makroskopischen  Aggregaten  gelegen 
waren.  Derartiges  ist  bisher  nie  beobachtet  worden. 
Eine  Deutung  mit  heutigen  Mitteln  ist  zunächst 
unmöglich. 

Es  dürfte  für  Biologen  wie  Geologen  von 
hohem  Belang  sein,  zu  erkennen,  daß,  wie  be- 
schrieben, sehr  viel  verwickeltere  Strukturen  als 
die  bisher  bekannten  durch  einfache,  von  außen 
unbeeinflußte  Diffusion   sich   zu  bilden  vermögen. 

H.  Heller. 


Abnorme  Liesegangsche  Schichtniigeu. 

Man  versteht  unter  Liesegangschen  Ringen ') 
im  allgemeinen  bekanntlich  rhythmische  Fällungen 
der  verschiedensten  Salze,  wie  sie  bei  der  Diffusion 
der  ihnen  zugrundeliegenden  Lösungen  in  Gelatine 
entstehen.  Läßt  man  beispielsweise  eine  mit 
Natriumchromat  versetzte  Gelatinelösung  erstarren, 
und  bringt  nachher  einen  Tropfen  Silbernitratlösung 
darauf,  so  diffundiert  er  in  die  Gelatine  hinein  und 
fällt  dabei  naturgemäß  das  sehr  schwerlösliche 
rote  Silberchromat  aus,  aber  merkwürdigerweise 
nicht  gleichmäßig,  sondern  in  zahlreichen 
deutlich  voneinander  abgehobenen 
Ringen.  Diese  oft  untersuchte  Erscheinung  ist 
von  hervorragender  Wichtigkeit  für  biologische 
und  geologische  Schichtungen,  beispielsweise  wer- 
den die  Achatbänderungen  darauf  zurückgeführt. 
Eine  restlos  einwandfreie  Theorie  darüber  aber 
besteht  noch  nicht.     Die  von  Emil  Hatschek 


Die  Polychromie  des  kolloidalen  Schwefels. 

Unter  geeigneten  Versuchsbedingungen  durch- 
läuft ein  System  kolloidalen  Schwefels  nahezu  alle 
Farben  der  Farbenskala.  Diese  Erscheinungen 
sind  deshalb  besonders  interessant,  weil  die  zu 
beobachtenden  Farberscheinungen  lediglich  auf 
dem  Grade  der  Verteilung  des  Dispersoids 
ohne  weitere  chemische  Veränderungen  beruhen. 
Im  Gegensatz  zu  den  Metallsolen,  bei  denen  be- 
kanntlich ebenfalls  lebhafte  Farberscheinungen 
wahrgenommen  werden,  ist  das  Dispersoid  hier 
ein  Dielektrikum.  Die  Versuche  bilden  ein 
besonders  schönes  Beispiel  für  die  Beziehungen 
zwischen  Farbe  und  Dispersitätsgrad,  ein  Thema, 
das  heute  besonders  lebhaft  erörtert  wird;  u.  a. 
werden  von  Wo.  Ostwald  auch  die  Farbum- 
schläge bei  den  gebräuchlichen  Indikatoren  auf 
kolloidale  Phänomene,  d.  h.  solche  der  Teilchen- 
größe des  Indikators  zurückgeführt,  worüber  er  in 
eine    Kontroverse    mit   Hantzsch,    dem    erfolg- 


')    Vgl.    hierzu:    ,, Liesegangsche    Ringe"    vom  Verfasser; 
Prometheus  30,  S.  409  (Nr.  1561  (1919)). 


')  KoUoid-Zeitschr.  27,  S.  225  (1920). 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


9i 


reichen  Erforscher  der  chemischen  Natur  der  In- 
dikatoren geraten  ist. 

Rudolf   Auerbach^)    geht    von    einer  ~  - 

20 
Lösung  von  Natriumthiosulfat  NaoSgOg  aus.  Wer- 
den 10  ccm  hiervon  mit  9,9  com  Wasser  und 
hierauf  0,1  ccm  Phosphorsäurelösung  (HgPOJ 
von  der  Dichte  1,70  versetzt,  so  bemerkt  man, 
wie  bei  jedem  Säurezusatz  zu  dem  genannten  Salz 
zunächst  eine  schwache  Trübung,  dann  gelbblaue 
Opaleszenz  eintritt,  und  hierauf  verschiebt  sich  die 
Durchsichtsfarbe  allmählich  von  gelb  über  kreß,  rot, 
veil  nach  blau.  Alsdann  fällt  der  abgeschiedene 
Schwefel  aus  und  setzt  sich  als  Niederschlag  zu 
Boden.  Ein  Versuch,  der  sich  im  Probierglas  an- 
stellen läßt  und  innerhalb  etwa  20  Minuten  be- 
endet ist. 

Quantitativ  ließ  sich  die  Farbenskala  nun  mes- 
sen mittels  der  Farbnormen  von  Wi.  Ostwald-) 
derart,  daß  das  Bild  der  in  einer  Küvette  befind- 
lichen Lösung  auf  einen  Schirm  von  Normalweiß 
geworfen  und  daselbst  mit  den  Ostwaldschen 
Normalaufstrichen  verglichen  wurde.  Gegen  Ende 
der  Umsetzung  wird  die  Messung  ungenau  infolge 
wachsenden  Weißgehaltes.  Der  Verlauf  der 
Trübung  des  Gesichtsfeldes  ist  nun  sehr  inter- 
essant. Man  erkennt  bei  Kreß  10  einen  Knick 
im  Weißgehalt  und  der  Schwarzgehalt  der  Farb- 
töne nimmt  plötzlich  stark  zu.  Dieser  Punkt  ist 
als  Beginn  der  Flockung  zu  betrachten.  Er 
ist  nach  etwa  3  Sekunden  erreicht.  Von  da  an 
werden  die  Farben  wachsend  trüber,  bis  nach 
Eintritt  des  Blau  der  bunte  Farbton  verschwindet 
und  man  in  die  Grau  reihe  hineinkommt.  Hier 
beginnt  der  Schwefel  sich  abzusetzen,  und  man 
kommt  durch  die  verschiedenen  Grau  nach  dem 
reinen  Weiß  zurück.  Die  Messung  ergab  einen 
hohen  Gehalt  an  Vollfarben  in  den  bunten  Sta- 
dien. Da  das  Beersche  Gesetz  als  gültig  be- 
funden wurde,  so  sind  die  Farbänderungen  nicht 
als  Folge  der  wachsenden  Schwefelkonzentration 
aufzufassen. 

Aus  Vorstehendem  ergibt  sich  eine  neue  Be- 
stätigung des  Satzes  von  Wo.  Ostwald,  nach 
dem  sich  das  Maximum  der  Absorption  disperser 
Systeme  mit  abnehmendem  Grade  der  Dis- 
persion nach  dem  langwelligen  Ende  des 
Spektrums  zu  verschieben  pflegt. 

H.  Heller. 


Die  Herkunft  des  Benzols  bei  der  Leuchtgas- 
gewinnung. 

Hierüber  liegt  eine  neue  Arbeit  von  Franz 
Fischer  und    H.  Schrader  vor.'')      Benzol  ist 

M  Kolloid-Zeitschrift  27,  S.  223   (1920). 

^)  Vgl.  „Ostwalds  Forschungen  2ur  Farbenlehre"  vom 
Verfasser,  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  19,  Heft  9,  S.  129 
(1920).  Darin  auch  Erklärung  der  hier  gebrauchten  Farb- 
benennungen. 

')  Franz  Fischer  und  H.  Schrader,  Brennstoff- 
Chemie  I.  Bd.,  S.  4  (1920). 


das  wichtigste  Ausgangsmaterial  für  die  Darstellung 
aromatischer  Verbindungen.  Es  wird  der  Haupt- 
menge nach  als  „Nebenerzeugnis"  der  Gasanstalten 
und  Kokereien  gewonnen,  also  aus  rohen  Kohlen 
bei  hohen  Temperaturen.  Die  Frage,  auf  welche 
Weise  es  hieraus  entstehe,  hat  offenbar  ein  hohes 
theoretisches,  in  gleichem  Maße  aber  auch  prak- 
tisches Interesse.  Kann  man  doch  hoffen  durch 
Kenntnis  der  Entstehung  die  dazu  führenden  Um- 
setzungen und  Bedingungen  derart  willkürlich  zu 
beeinflussen,  daß  der  wertvolle  Stoff  in  der  theo- 
retisch höchstmöglichen  Menge  gewonnen  wird. 
Für  die  Theorie  war  die  Frage  in  mehrfacher  Hin- 
sicht von  Belang. 

B  u  1 1  e  r  o  w  zuerst  gelang  es,  beim  Leiten  von 
Azetylen  durch  glühende  Röhren  Benzol  synthe- 
tisch zu  erzeugen.  Man  nahm  früher  auf  Grund 
dieser  Reaktion  an,  daß  das  Kokereibenzol  in  ähn- 
licher Weise  entstehe,  etwa  so,  daß  normale  Kohlen- 
wasserstoffe durch  thermische  Zersetzung  unter 
Ringschluß  zusammentreten.  Für  z.  B.  Hexan 
ergäbe  sich  etwa  das  Schema 


CH.2 — CHj 


CH., 


CH 


CHa, 

chJ 


CHy 

CH, 


^,CH, 
CH, 


CH, 


,CH 


chI       Jch 

CHj— CH3  CHj  CH 

1896  aber  zeigte  Haber,  daß  Hexan  bei  der 
thermischen  Zersetzung  nur  ganz  geringe  Mengen 
von  Benzol  liefert.  Dieser  Weg  konnte  also 
nicht  der  sein,  der  in  der  Kokerei  vorliegt.  Man 
dachte  dann  daran,  daß  aus  Paraffinen,  Naphtenen 
ungesättigte  Verbindungen  entstehen  könnten, 
die  sich  dem  Azetylen  ähnlich  verhielten. 
Auch  dagegen  sprach  der  Versuch,  der,  während 
des  Krieges  in  Amerika  durchgeführt,  klägliche 
Benzolausbeuten  ergab.  Endlich  meinte  man  auch, 
daß  in  den  Kokereigasen  Azetylen  selbst  entstehe 
und  sich  zum  Benzol  kondensiere.  Über  die  Her- 
kunft des  Azetylens  aber  wußte  man  nichts  aus- 
zusagen. 

Nun  ist  durch  die  Arbeiten  der  letzten  Jahre, 
an  denen  die  beiden  Forscher  hervorragenden  An- 
teil haben,  festgestellt  worden,  daß  bei  vermindertem 
Druck  und  tiefen  Temperaturen  aus  der  Kohle 
der  sog.  U  r  t  e  e  r  entsteht,  der  beim  gewöhnlichen 
Kokereiverfahren  natürlich  ebenfalls  primär  auf- 
treten muß.  Der  Urteer  also  muß  diejenigen 
Stoffe  enthalten,  aus  denen  infolge  weitergehender 
Zerlegung  das  Benzol  hervorgeht.  Urteer  besteht 
im  wesentlichen  aus  zwei  großen  Stoffklassen, 
aus  dem  Erdöl  ähnlichen  Kohlenwasserstoffen  und 
aus  Phenolen,  d.  h.  also  ringförmigen  Verbindungen. 
Aus  welchem  Anteil  kommt  das  Benzol? 

Die  Anwort  ist  nach  Obigem  naheliegend :  da 
aus  aliphatischen  Verbindungen  nicht  oder  wenig 
Benzol  entsteht,  so  müssen  die  Urteerphenole  da- 
für verantwortlich  gemacht  werden.  Ein  einfacher 
Reduktionsvorgang  würde  zur  Entstehung  hin- 
reichend sein.  Die  Untersuchung  bestätigte  den 
Schluß  in  vollem  Umfange.   Wurde  z.  B.  o-Kresol 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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mit  Wasserstoff  bei  700 — 800  Grad  durch  ein 
Porzellanrohr  geschickt,  so  trat  die  Bildung  von 
benzolartigen  Flüssigkeiten  ein.  Daneben  fand 
sich  stets  Methan.  Es  muß  mithin  eine  vollstän- 
dige Reduktion  aller  Seitenketten  stattfinden: 


CH3 

CHs 

/\0H 

+ 

H^    =     f            1    +  H 

Kresol 

Toluol 

CH3 

^^ 

H, 

=   1             1  +  CH^. 

\y 

Benzol        Methan 

Bei  dieser  in  thermochemischer  Beziehung 
wichtigen  Umsetzung  ergab  sich  nun  ein  be- 
merkenswerter Einfluß  der  Gefäßwandungen  auf 
den  glatten  Verlauf  des  Prozesses.  In  Eisenröhren 
nämlich  trat  starke  Rußabscheidung  und  Verminde- 
rung der  Benzolausbeuten  ein.  Erst  ein  ver- 
zinntes Rohr  lieferte  Benzolkohlenwasserstoffe 
bis  zu  78  "/o  ohne  jegliche  Kohlenstoffabscheidung, 
vermutlich  deshalb,  weil  Zinn  nicht  imstande  ist, 
Karbide  zu  bilden. 

Durch  diese  Versuche  ist  die  Entstehung  des 
Benzols  in  den  Kokereien  und  in  der  Gasretorte 
aufgeklärt  Daneben  ist  das  allgemein  wichtige 
Ergebnis  gezeitigt  worden,  daß  Benzolhomologe 
durch  Reduktion  quantitativ  ihre  Seitenketten 
verlieren  und  in  Benzol  übergehen  können.  Dies 
ist  ein  für  die  präparative  Chemie  zweifellos 
wichtiger  Befund.  Für  die  Technik  ist  ein 
gangbarer  Weg  gewiesen,  die  bei  der  Urteerge- 
winnung  in  großen  Mengen  anfallenden  Phenole 
in  kostbares  Benzol  überzuführen,  und  zwar  auf 
eine  Weise,  die  den  Anforderungen  wissenschaft- 
licher Betriebsweise  entspricht,  dabei  aber  nicht 
mit  Unkosten  verknüpft  ist.  H.  H. 

Bleiwasserstotf  zum  ersten  Male  dargestellt. 

Nachdem  vor  kurzem  die  Entdeckung  zweier 
neuer  gasförmiger  Hydride ,  des  Wismut-  und 
des  Zinnwasserstoffs,  gelungen  war,  lag  es 
nahe,  nach  dem  Analogen  dieser  Stoffe,  dem 
Blei  Wasserstoff,  zu  forschen.  Diese  Arbeiten  sind 
nach  vielen  vergeblichen  und  äußerst  mühevollen 
Versuchen  nunmehr  von  Erfolg  gekrönt  worden. 
Zwar  gelang  es  Fritz  Paneth  (Hamburg)  und 
O.  Nörring")  einstweilen  nicht,  wie  bei  den 
beiden  anderen  Metallen,  den  gesuchten  Bleiwasser- 
stoff aus  Blei-Magnesiumlegierungen  darzustellen, 
dagegen  führte  eine  andere  nicht  minder  inter- 
essante Methode  zum  Ziel.  Tellur  und  Arsen 
lassen    sich    durch   Gleichstromelektrolyse    in   die 

')  In  der  Urabbandlung  durch  grobe  Druckfehler  ent- 
stellt! 

')  I:  Berichte  d.  deutsch.  Chem.  Geselisch.  53,  S.  1693 
(1920).     II:  Zeitschr.  f.  Elektrochemie  26,  S.  452  (1920). 


Hydride  überführen ;  andererseits  gelingt  es  durch 
elektrische  Zerstäubung  mittels  Induktionsfunken 
in  Wasserstoffatmosphäre  oder  durch  kolloidale 
Zerteilungen ')  Hydride  herzustellen.  Beide  Wege 
versagten  beim  Blei,  führten  aber  zu  dem  ge- 
suchten Hydrid,  wenn  sie  auf  eine  ebenso  einfache 
wie  sinnreiche  Weise  miteinander  gekoppelt 
wurden. 

Eine  Schwefelsäurelösung  wurde  bei  220  Volt 
mit  einer  in  besonderer  Weise  konstruierten 
B 1  e  i  kathode  elektrolysiert.  Hierdurch  trat  augen- 
blicklich in  der  bekannten  Weise  kathodische 
Wasserstoffentwicklung  auf.  Infolge  der  besonde- 
ren Form  der  Kathode  (deren  Herstellung  im 
Original  I  nachzulesen  ist)  bildet  der  Wasserstoff 
eine  Hülle  um  das  Blei,  so  daß  momentan  Strom- 
unterbrechung eintritt.  Alsbald  hört  die  Gasent- 
wicklung auf,  die  Säure  gelangt  wieder  an  die 
Kathode,  es  tritt  neue  Wasserstoffentwicklung  auf 
usw.  Nun  ist  jede  dieser  Stromunterbrechungen 
mit  kräftigen  Funken  an  der  Kathode  verbun- 
den. Sie  bewirken  ein  teilweises  Verdampfen  des 
Metalls,  das  mit  dem  ja  unmittelbar  vorher  ent- 
standenen Wasserstoff  nunmehr  zum  Bleiwasser- 
stoff zusammentritt.  Unter  geeigneten  Versuchs- 
bedingungen ist  das  Funken  sehr  regelmäßig  und 
lebhaft  und  damit  die  Bildung  des  Hydrids  stetig 
gewährleistet. 

Mit  dem  Strom  des  molekular  entweichenden 
Wasserstoffs  geht  der  gasförmige  Bleiwasserstoff 
hinweg.  Sein  Nachweis  gestaltet  sich  nicht  eben  ein- 
fach, gelang  jedoch  schließlich  auf  folgende  Weise. 
Durch  die  Zerstäubung  entstandenes  Blei  wurde 
natürlich  im  Gasstrom  mitgerissen.  Es  wurde 
durch  dichte  Wattefilter  zurückgehalten.  Das 
gebildete  Hydrid  wurde  in  einem  mit  flüssi- 
ger Luft  gekühlten  Gefäß  kondensiert.  Wurde 
die  Kühlung  alsdann  aufgehoben,  so  verdampfte 
der  Bleiwasserstoff  wieder  und  konnte  in  einer 
angeschlossenen  Marsh  sehen  Röhre  durch  Bildung 
eines  Bleispiegels  nachgewiesen  werden.  Da- 
mit ist  einwandfrei  erwiesen,  daß  in  der  Tat  ein 
gasförmiger  Beiwasserstoff  entsteht  und  es  sich 
nicht  nur  um  eine  Suspension  von  Bleiteilchen 
kleinster  Ausmessung  in  Wasserstoff  handelt.  Die 
Identifizierung  des  Bleispiegels,  der  den  bekannten 
Arsen-  bzw.  Antimonspiegeln  ganz  analog  ist,  ge- 
schah u.  a.  durch  Zufügen  eines  Körnchen  Jods, 
wodurch  der  graue  Bleibeschlag  beim  Erwärmen 
plötzlich  in  das  gelbe  Jodid  überging. 

Nun  ließ  sich  ein  Bleispiegel  solcher  Art  dar- 
stellen gleichgültig,  ob  man  Schwefelsäure  oder 
Kaliumhydroxydlösung  elektrolysierte.  Es  kann 
mithin  nur  eine  Umsetzung  zwischen  Blei  und 
dem  beiden  Elektrolyten  gemeinsamen  Wasser 
stattgefunden  haben.  Da  ferner  gasförmige  Oxyde 
oder  Hydroxyde  des  Bleis  nicht  wahrscheinlich 
sind,  so  muß  als  sichergestellt  gelten,  daß  sich 
der  kathodisch  entwickelte  Wasserstoff  mit  dem 
Blei  zu    dem   erwarteten   Hydrid   vereinigt  hat. 


Vgl.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.   18,   S.  427  (1919)- 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


55 


allerdings ,  so  ist  hinzuzufügen,  erst  nachdem 
Funken  durchschlag  stattgefunden  hat.  Ohne 
diese  fand  keine  nachweisbare  Hydridbildung  statt. 
Es  ist  mithin  weiter  anzunehmen,  daß  entweder 
durch  die  F"unken  entstehender  atomarer  Wasser- 
stoff in  statu  nascendi  sich  mit  dem  fein  zer- 
stäubten Blei  verbindet,  oder  aber,  daß  aktiver 
Wasserstoff  Hg  ')  für  die  Hydrierung  verantwort- 
lich gemacht  werden  muß,  was  deshalb  wahr- 
scheinlich ist,  weil  er  mit  Schwefel,  Arsen  usw. 
unmittelbar  Hydride  ergibt. 

Im  Anschluß  an  diese  Untersuchungen  erörtert 
P a n e t h  die  Frage ,  welche  Elemente  gas- 
förmige Hydride  zu  bilden  imstande 
sind?  Meist  nimmt  man  an,  daß  solche  Hydride 
nur  von  Nichtmetallen  gebildet  werden,  so 
daß  man  im  allgemeinen  sie  geradezu  als  ein 
Kennzeichen  dieser  betrachtet,  während  die  Hy- 
dride von  Metallen  entweder  fest  -)  oder  nicht 
unzersetzt  vergasbar  seien.  Mit  der  Entdeckung 
des  Zinn-,  vor  allem  aber  des  Bleiwasserstoffs  ist 
jedoch  dieser  Satz  nicht  mehr  aufrecht  zu  erhalten. 
Zu  einer  überraschenden  Gruppierung  der  Ele- 
mente mit  gasförmigen  Wasserstoffverbindungen 
gelangt  man  nun,  wenn  das  periodische  Sy- 
stem in  der  Anordnung  von  Staigmüller^) 
betrachtet  wird.  Man  ersieht  daraus  sofort,  daß 
eine  scharfe  Trennungslinie  zwischen  den  genannten 
und  anderen  Elementen  mit  gasförmigen  Hydriden 
(insgesamt  sind  es  20)  und  denjenigen  Grundstoffen 
ohne  dieses  Kennzeichen  möglich  ist.  Nur  das 
Bor  steht  außerhalb  dieser  Gruppe.  Diese  Schar 
von  Elementen  aber  umfaßt  alle  die,  die  I — 4 
Stellen  vor  einem  Edelgas  stehen.  Diese 
Eigenart  steht  mit  dem  elektronen  Atombau  natur- 
gemäß in  engsten  Beziehungen,  die  hier  jedoch 
noch  nicht  berührt  werden  sollen.  Im  übrigen 
beweist  die  Entdeckung  des  Bleiwasserstoffs,  daß 
die  Stellung  des  Bleis  im  Periodischen  System 
neben  Silicium  und  Zinn  in  der  gleichen  Gruppe 
auch  valenzchemisch  gerechtfertigt  ist. 

Der  Berichterstatter  möchte  nicht  unterlassen 
hinzuzufügen,  daß  die  Arbeit  Pan  eths  ein  Muster 
chemischer  Methodik  und  bester  Experimeniier- 
kunst  ist,  und  eine  schlechthin  klassische  Leistung 
genannt  zu  werden  verdient.  H.  Heller. 

Die  Ursache  der  Unterschreitung  des 
Eienientarquantunis. 

Hierüber  macht  E.  Regener  eine  wichtige 
Mitteilung.^)  In  einem  Aufsatz  in  dieser  Zeit- 
schrift ')  hatte  der  Unterzeichnete  beiläufig  er- 
wähnt, daß  neuere  Messungen  von  F.  Ehren- 
haft*")   ergeben    haben,     daß    die    Ladung    des 


')  Vg'-  iiOzonform  des  Wasserstoffs",  Ref.  in  Naturw. 
Wochenschr.  N.  F.   19,  S.   527  (1920). 

')  ^g'-  i.Wasseritoff,  die  schwächste  Säure",  Ref.  in  Na- 
turw. Wochenschr.  N.  F.   19,  S.  782  (1920). 

')  Zeitschr.  f.  physik.  Chemie  39,  S.  245   (1902). 

*)  Königl.  PreuS.  Akad.  d.  Wissensch.,  Berlin  1920,  S.  632. 

*j  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XVIII,  Nr.  20,  S.  275. 

»)  Annalen  d.  Physik  56,   I9l8ff. 


Elektrons,  des  kleinst  möglichen  elektrischen  Quan- 
tums, Werte  annehmen  könne,  die  weit  unter- 
halb dessen  liegen,  der  bisher  auf  verschiedene 
Weise  als  die  absolut  kleinste  existenzfähige  Menge 
angenommen  werden  mußte.  Daraus  war  ohne 
nähere  Kritik  der  erwähnten  Untersuchungser- 
gebnisse gefolgert  worden,  daß  „die  Atomistik 
der  Elektrizität  sehr  in  Frage  gestellt"  sei.  Die 
Bedeutung  einer  solchen  Möglichkeit  bedarf  nicht 
der  Erörterung.  Es  ist  darum  von  Wichtigkeit, 
daß  Regener  zu  einer  ganz  anderen  Deutung 
der  an  sich  einwandfreien  Messungen  Ehren- 
hafts kommt.  Er  macht  nämlich  sehr  wahr- 
scheinhch,  daß  die  Unterschreitung  des  Elementar- 
quantums in  den  genannten  Arbeiten  nur  schein- 
bar sei. 

Die  Begründung  dieser  Auffassung  wird  ge- 
wonnen aus  Versuchen,  die  im  Auftrage  Rege- 
ners von  E.  Radel  gemacht  wurden.  Dieser 
stellte  Ladungsmessungen  an  Teilchen  an,  deren 
Größe  in  dem  weiten  Intervall  von  2,8 -lO^^  bis 
8-io~*  cm  Radius  gelegen  war.  Wurde  an  diesen 
nach  der  ursprünglichen  Methode  (Beobachtung 
der  Steig-  und  Fallgeschwindigkeit  im  elektrischen 
und  Gravitationsfeld)  gemessen,  so  ergab  sich  bei 
Anwendung  des  Widerstandsgesetzes  von  Stokes- 
Cunningham  immer  dann  der  bekannte  Wert 
der  Elementarladung  von  ca.  4,8- lo^^*^,  wenn  die 
Radien  der  Teilchen  größer  waren  als  etwa 
2,7  •  10^^  cm.  Dabei  war  es  ganz  gleichgültig,  ob 
an  Teilchen  aus  Kolophonium,  Paraffinöl,  Queck- 
silber, Gold  oder  anderen  Stoffen  gemessen  wurde. 
Bei  sehr  kleinen  Teilchen  aber  ergaben  sich 
in  der  Tat  die  von  Ehrenhaft  mitgeteilten 
großen  Unterschreitungen  des  Ladungs- 
wertes. Sie  müssen  jedoch  als  nur  scheinbar 
reell  gewertet  werden.  Denn  wenn  der  Ladungs- 
wert bei  diesen  aus  der  Brownschen  Be- 
wegung berechnet  wurde,  so  ergab  sich  eben- 
falls ein  Mhtelwert  nahe  dem  bekannten  von 
4,8-10""'*'!  Nun  kommt  bei  der  letztgenannten 
Art  der  Berechnung  ein  Faktor  nicht  vor,  der 
in  der  ersten  Rechnung  enthalten  ist:  der  Radius 
der  Teilchen.  Er  also  muß  für  den  Widerspruch 
verant wertlich  gemacht  werden. 

R  e  g  e  n  e  r  macht  über  den  Einfluß  des  Radius 
nun  folgende  Erörterungen.  Jedes  Teilchen  ver- 
dichtet auf  sich  eine  Gasschicht.  Diese  ver- 
größert die  Reibung  der  Teilchen  am  umgeben- 
den Gas.  Im  allgemeinen  ohne  Belang  wird  der 
Wert  dieser  Reibungseinflüsse  nun  von  Bedeutung, 
wenn  es  sich  um  sehr  kleine  Teilchen  handelt. 
Alsdann  nämlich  läßt  er  die  Beweglichkeit 
geringer  erscheinen.  Man  findet  infolgedessen 
rechnerisch  eine  bewegende  Kraft  der  Teilchen, 
die  ohne  den  Reibungseinfluß  größer  gefunden 
würde.  Aus  der  Bewegungskraft  aber  ermittelt 
man  die  Ladung,  und  so  wird  auch  sie  unter 
den  angegebenen  Umständen  zu  klein  ge- 
funden. 

Radel  hat  sogar  die  Grenze,  bei  der  die  hier 
geschilderten    Einflüsse    wirksam    zu   werden    be- 


96 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XX.  Nr.  6 


ginnen,  genau  bestimmen  können.  Goldteilchen 
von  2,7  •  io~^  cm  Radius  zeigen  noch  das  richtige 
Quantum ,  aber  bereits  Teilchen  von  1,5  bis 
2,o.  10^^  cm  zeigen  nur  mehr  die  halbe  Ladung. 
Der  Radius  ist  in  erster  Linie  von  der  Dichte  der 
Substanz    abhängig.      Daraus    folgert    Regen  er 


weiter,  daß  die  Teilchen  mit  einer  gegen  die  Ober- 
fläche hin  zunehmenden  Gasschicht  umhüllt  sind. 
Diese  Ausführungen  sind  so  überzeugend,  daß 
sich  die  aufsehenerregenden  Versuchsergebnisse 
Ehrenhafts  damit  erledigt  haben  dürften. 

Hans  Heller. 


Bücherbesprechungen. 


Eilers ,     Georg ,     Am    Schattenstab,     eine 
Himmelskunde  in  geschichtlicher  An- 
ordnung.   192  S.    Braunschweig  1920,  Georg 
Westermann.     Geb.  16  M. 
Scheiner,  J.,  DerBau  desWeltalls.     5.  Aufl. 
Von  Prof.  Dr.  Guthnick.    120  S.    Leipzig  1920, 
Teubner. 
Peter,    B. ,   Die  Planeten.     2.  Aug.     Von  Dr. 
Hans  Naumann.    125  S.    Leipzig   1920,  Teubner. 
Voigt,   Dr.  Ing.  e.  h..    Eis,    ein  Weltenbau- 
stoff, gemeinfaßliche  Einführung  in  Hörbigers 
Glazialkosmogonie  (Welteislehre).     312  S.    mit 
Atlas,  15  Tafeln  in  Quart.     Berlin  1920,    Her- 
mann Paetel.     Geh.  24  M.,  geb.  32  M. 
Das   erste  Werk,    mit   hübschen   Bildern   und 
Zeichnungen,   wendet    sich   an   solche,    die  ohne 
Vorkenntnisse     in     die     Astronomie      eindringen 
wollen,   es  ist  sehr  anschaulich  und   mit  großem 
pädagogischen   Geschick  geschrieben,    und   stellt 
den  Werdegang   der  Astronomie   von   der   Urzeit 
her  dar,  wo   man  die   ersten  Messungen  der  Zeit 
am  Schattenstab  vornahm.    Als  Geschenk  vorzüg- 
lich geeignet,  wird  es  jedem  Anfänger  eine  reine 
Freude    bereiten.      Die    beiden    nächsten   Bücher 
sind  aus  der  Sammlung  „Natur  und  Geisteswelt", 
und   beide   durch   ihre   neuen   Verfasser   auf  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Forschung  gebracht.    Bei 
der  Beschreibung   der   Planeten   ist   leider   die  so 
sehr  ausführliche    und    brauchbare   Erklärung    der 
Marserscheinungen  von  Bau  mann  nicht  benutzt, 
die   doch    vieles    von  dem  Rätselhaften   sehr  be- 
friedigend erklärt.    Sonst  ist  das  gegebene  Material 
gut   und    reichhaltig.     Ganz   ausgezeichnet  ist  die 
Darstellung  Guthnicks  über  den  Bau  des  Welt- 
alls.    Man   stellt   auf  jeder  Seite   den  erfahrenen 
Beobachter  und  Forscher  fest,  der  hier  aus  Eige- 
nem berichtet.  Die  Ergebnisse  der  Sonnenforschung, 
die    der  Spektralanalyse   auf  allen  Gebieten   sind 
so  eingehend  dargestellt,   als   es   der  beschränkte 
Raum    gestattet.       Mit    besonderer    Befriedigung 
wird    man    aber    die    beiden    letzten    Abschnitte 


studieren  über  die  Fixsterne  und  die  Nebelflecken 
und  über  den  äußeren  Bau  des  Weltalls.  Gerade 
hier  wird  gegenwärtig  ungeheuer  viel  gearbeitet, 
und  es  ist  schwer,  die  Ergebnisse  zu  finden,  die 
hier  in  übersichtlicher  Weise  zusammengestellt 
werden,  unter  stetem  Hinweis  auf  das  Proble- 
matische, das  vielen  Ergebnissen  noch  anhaftet. 
Über  die  Hör  biger  sehe  Glazialkosmogonie 
ist  hier  Bd.  191 3,  S.  561  ausführlich  die  Rede 
gewesen.  Wegen  des  allzu  großen  Umfanges  des 
Originalwerkes  hat  hier  Voigt  die  wichtigsten 
Gedankengänge  klar  dargestellt,  der  Atlas  stellt 
die  Vorgänge  bildlich  dar,  und  gibt  Abbildungen 
aus  der  Sternenwelt.  Soviel  man  auch  kritisch 
zu  dieser  Kosmogonie  sagen  kann,  sie  ist  jeden- 
falls eine  schöpferische  Idee  und  jeder,  der  sich 
mit  kosmologischen  Problemen  befaßt,  kann  hier 
die  Vielseitigkeit  bewundern,  mit  der  der  an  sich 
einfache  Grundgedanke  vom  Welteneis  auf  Pro- 
bleme der  verschiedensten  Art  vom  Fixstern  bis 
zur  Eiszeit  und  dem  Hagelwettern  angewendet 
worden  ist.  Der  Preis  ist  für  das  Gebotene  billig 
zu  nennen.  Riem. 

Förster,  Wilhelm  Die  Freude  an  derAstro- 
nomie.  2.  Aufl.  32  S.  Berlin  1920,  Ferd. 
Dümmler.  Brosch.  2,50  M. 
An  einen  sehr  interessanten  kulturgeschicht- 
lichen Rückblick,  in  dem  eine  Szene  aus  dem  jetzt 
kaum  bekannten  Kindermärchen  von  Tieck,  „Der 
gestiefelte  Kater"  eine  Rolle  spielt,  in  der  König, 
Gelehrter  und  Hofnarr  sich  über  die  großen  Zahlen 
der  Astronomie  unterhalten,  an  Erinnerungen  an 
Alexander  v.  Humboldt  und  dessen  Kosmos 
knüpft  der  Verfasser  Betrachtungen,  wie  auch  der 
Laie  von  der  bloßen  Freude  an  der  Schönheit 
des  Sternhimmels  fortschreiten  kann  zur  tätigen 
Mitarbeit  auf  vielen  Gebieten,  auf  denen  schon 
mit  geringen  Mitteln,  aber  mit  Sorgfalt  und  Aus- 
dauer etwas  geleistet  werden  kann,  was  wissen- 
schaftlichen Wert  haben  kann.  Riem. 


Inhalt:  E.  Krenkel,  Über  Moorbildungen  im  tropischen  Afrika.  S.  81.  E.  J.  Gumbel,  Spekulatives  über  die  Endlich- 
keit der  Welt.  S.  85.  W.  Halbfaß,  Zum  Kreislaufprozefi  des  Wassers.  S.  86.  —  Einzelberichte:  O.  Mügge,  Petro- 
graphie  des  älteren  Paläozoikums  zwischen  Albungen  und  Witzhausen.  S.  86.  H.  Schneiderhöhn,  Asphaltgänge 
im  Fiscbflußsandstein  im  Süden  von  Siidwestafrika.  S.  89.  Bergstrand,  Entfernung  des  großen  Orionnebels.  S.  90. 
Schrader,  Die  Geschlechtsbestimmung  bei  den  Mottenläusen.  S.  90.  E.  Hatschek,  Abnorme  Liesegangsche  Schich- 
tungen. S.  92.  R.  Auerbach,  Die  Polychromie  des  kolloidalen  Schwefels.  S.  92.  Fr.  Fischer  und  H.  Schrader, 
Die  Herkunft  des  Benzols  bei  der  Leuchtgasgewinnung.  S.  93.  F.  Paneth,  Bleiwasserstoff  zum  ersten  Male  darge- 
stellt. S.  94.  E.  Regener,  Die  Ursache  der  Unterschreitung  des  Elementarquantums.  S.  95.  —  Bücherbesprechun- 
gen: G.  Eilers,  Am  Schattenstab.  J.  Scheiner,  Der  Bau  des  Weltalls.  B.  Peter,  Die  Planeten.  Voigt,  Eis, 
ein  Weltbaustoff.  S.  96.     W.  Förster,  Die  Freude  an  der  Astronomie.  S.  96. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  so.  Band; 
der  ganien  Reibe  j6.  Band. 


Sonntag,  den  13.  Februar  1921. 


Nummer  7. 


Wind  und  Wetter  als  Feldwirkiingen  der  Schwerkraft. 


[Nachdiuck  verboten.] 


Von  Dr.  phil.  H.  Fricke. 
Mit  5  Abbildungen  im  Text. 


Die  Ergebnisse  der  britisciien  Expeditionen 
zur  Beobachtung  der  Sonnenfinsternis  vom  30.  Mai 
1919  scheinen  die  Auffassung  zu  bestätigen,  daß 
das  Gravitationsfeld  die  Lichtstrahlen  ablenkt.  Man 
hat  darin  bekanntlich  einen  Beweis  für  die  Ein- 
steinsche  Relativitätstheorie  erblicken  wollen, 
doch  läßt  sich  die  Erscheinung  wohl  natürlicher 
mit  der  Äthervorstellung  in  Zusammenhang 
bringen.  ')  Die  neu  entdeckte  Erscheinung 
zeigt  im  Grunde  ja  weiter  nichts,  als  daß  der 
Äther  im  Schwerkraftfelde  seine  Struktur  geändert 
haben  muß,  derart,  daß  das  Licht  nicht  nach  allen 
Seiten  sich  mit  der  gleichen  Geschwindigkeit  fort- 
pflanzt. Damit  wäre  jedoch  eine  Erscheinung  ent- 
deckt, die  über  das  Wesen  der  bisher  so  geheim- 
nisvollen Schwerkraft  etwas  Wichtiges  aussagt.  Sie 
zeigt,  daß  die  Gravitation,  die  seit  Newton  durch 
ihre  Zeit-  und  Widerstandslosigkeit  eine  Sonder- 
stellung unter  den  Naturkräften  einzunehmen  schien, 
Ähnlichkeit  mit  dem  elektromagnetischen  Kraft 
felde  besitzt,  und  dieses  stellt  man  sich  seit  Fa- 
raday  bekanntlich  als  einen  elastischen  Zwangs- 
zustand im  Äther  vor.  Es  wäre  damit  eine  Un- 
vollständigkeit  in  der  von  Newton  gegebenen 
Darstellung  der  Schwerkraft  nachgewiesen.  Aller- 
dings hatte  man  diese  Lückenhaftigkeit  bereits 
lange  vor  Einstein  erkannt,  wie  die  Arbeiten  von 
Riemann,  W.  Weber,  Tisserand,  Gerber, 
Levy^)  u.  a.  beweisen.  Bei  allen  bisher  unter- 
suchten Abweichungen  von  der  Newtonschen 
Theorie  handelt  es  sich  jedoch  um  Störungen 
höherer  Ordnung,  die  eben  an  der  Grenze  der 
Nachweisbarkeit  liegen. 

Demgegenüber  soll  hier  die  Aufmerksamkeit 
auf  Wirkungen  gelenkt  werden,  die  ganz  unmittel- 
bar in  bisher  unerklärter  Weise  mit  der  Schwer- 
kraft zusammenzuhängen  scheinen  und  die  zu  den 
gewaltigsten  und  auffallendsten  Naturerscheinungen 
auf  der  Erdoberfläche  gehören.  Gemeint  ist  vor 
allem  die  unten  genauer  beschriebene  tägliche 
Doppelschwingung  des  Barometers,  die 
Ebbe  und  Flut  im  Luftmeer  der  Erde.  Es  ist 
jedoch  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  größte  Teil 
der   geophysikalischen    Erscheinungen    überhaupt 

')  Vgl.  hierzu  die  Arbeit  E.  Wiecherls;  „Die  Gravi- 
tation als  elektrodynamische  Erscheinung"  in  den  Annalen  der 
Physik,  1920,  Bd.  63,  S.  301  ;  ferner  die  Darstellung  der 
Arbeilen  L.  Silbersteins,  Physikal.  Berichte,  1920, 
S.  1514— 16. 

')  Vgl.  die  Darstellung  von  Zenneck  über  die  Gravi- 
tation in  der  Enzyclopädie  der  math.  Wissenschaften.  Leipzig, 
Teubners  Verlag,  1903.  Bd.  V,  I,  bes.  S.  35— ?3;  f"°"  <"*= 
oben  angeführte  Arbeit  von  Wjechert. 


—  Wetterstürme,  Erdbeben,  Vulkane  und  gebirgs- 
bildende  Kräfte,  für  die  eine  allgemein  anerkannte 
Erklärung  bisher  merkwürdigerweise  nicht  ge- 
funden ist  —  sich  einheitlich  als  Feld  wirkungen 
bisher  unbekannter  Art  der  sich  fortwährend  in- 
einander verdrehenden  kosmischen  Schwerkraft- 
felder darstellen  lassen.  Die  Newton  sehe  Theorie 
kann  zu  einer  solchen  Erklärung  nicht  führen,  da 
sie  Widerstände  bei  den  Bewegungen  der  Schwer- 
kraftfelder nicht  kennt.  Doch  ist  Newtons  Auf- 
fassung logisch  kaum  haltbar,  da  eine  Kraft  nur 
da  wirken  kann,  wo  sie  auf  Widerstände  stößt. 
Die  Mängel  der  Newtonschen  Theorie  scheinen 
also  viel  offener  zutage  zu  liegen,  als  man  bis- 
her ahnte. 

Es  soll  hier  nun  an  der  Hand  von  Abbil- 
dungen gezeigt  werden,  daß  die  tägliche  Doppel- 
schwingung des  Barometers  genau  mit  Struktur- 
änderungen des  Schwerkraftfeldes  parallel  läuft. 
Nur  der  Umstand,  daß  die  mehr  als  200  Jahre 
alte  Newtonsche  Theorie  Feldwirkungen  dieser 
Art  nicht  kannte,  scheint  die  klare  Einsicht  in  die 
einfachen  Zusammenhänge  bisher  verhindert  zu 
haben. 

Die  erste  Abbildung  erklärt  zunächst  einmal 
den  merkwürdigen  Umstand,  daß  wir  auf  der  Erde 
von  einer  Anziehungskraft  der  Sonne  nichts  merken. 
Man  sollte  meinen,  daß  die  Gravitation  auf  der 
Erde  einen  höheren  Wert  besitzen  müßte,  wenn 
die  Sonne  in  Richtung  des  Erdmittelpunktes  steht, 
und  ihre  Wirkung  zu  der  der  Erde  sich  addiert, 
als  wenn  sie  senkrecht  über  uns  steht  und  der 
Erde  entgegenwirkt.  Nach  der  Newtonschen 
Theorie  wird  die  Soiinenanziehung  jedoch  durch 
die  Trägheitsbewegung  der  Erde  ausgeglichen. 
Man  kann  die  Erdbahn  mit  genügender  Annähe- 
rung als  einen  Kreis  betrachten;  die  Sonnenan- 
ziehung wird  dann  durch  die  Zentrifugalkraft  der 
Erdbewegung  aufgehoben,  die  scheinbar  relativ  zu 
einer  ruhend  gedachten  Erde  entsteht.  Die  Erde 
steht  im  Schwerkraftfelde  der  Sonne  also  dauernd 
unter  der  Wirkung  zweier  entgegengesetzt  gleicher 
Kräfte,  der  Sonnenanziehung  und  der  Fliehkraft 
ihrer  Bahn.  Nach  der  Newtonschen  Auffassung, 
die  Widerstände  im  Schwerkraftfelde  nicht  kennt, 
heben  sich  diese  Kräfte  in  allen  Teilen  der  Erde 
vollständig  auf.  Viel  wahrscheinlicher  ist  jedoch, 
daß  das  Gleichgewicht  zwischen  den  beiden  gleich 
starken  Gegenkräften  erst  eintritt,  wenn  der  Erd- 
körper seine  Struktur  geändert  hat  und  in  einen 
inneren  Spannungszustand  versetzt  ist.  Schon  die 
einfache  Logik  fordert  eine  solche  Annahme ;  denn 


98 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


wenn  die  Newton  sehe  Auffassung  richtig  wäre, 
so  würde  sich  die  Erde  in  einem  vollkommen 
kräftefreien  Räume  genau  so  wie  in  dem  Schwer- 
kraft-Trägheitsfelde der  Sonne  verhalten,  in  dem 
zweifellos  in  verschiedenen  Richtungen  verschiedene 
Kräfte  wirksam  sind,  das  also  relativ  zur  Sonne 
„polarisiert"  ist.  An  elastische  Feldwirkungen  dieser 
Art,  die  bei  den  elektromagnetischen 
Kräften  stets  auftreten,  scheint  man  bei  der 
Schwerkraft   bisher   gar   nicht   gedacht  zu  haben. 


," 


^ 


Abb. 


Abb.  2  soll  nun  ganz  schematisch  die  zunächst 
als  starr  betrachtete  Erde  und  ihr  elastisches  Luft- 
meer veranschaulichen,  wie  es 


Abb.  2. 

ohne  ein  fremdes  Kraftfeld  aussehen  wird.  Abb.  3 
dagegen  soll  die  Wirkung  des  als  relativ  zur  Erde 
ruhend  gedachten  Sonnenfeldes  zeigen,  wie  es  sich 
als  Folge  der  in  Abb.  i  veranschaulichten  Kräfte 
darstellen  muß.  Die  aus  den  Schwerkraft-  und 
Trägheitswirkungen  sich  zusammensetzenden  Kraft- 
linien entsprechen  ganz  den  Kraftröhren  Fara- 
days,  in  deren  Längsrichtung  ein  Zug,  in  deren 
Querrichtung  ein  Druck  herrscht.  Der  Mechanis- 
mus der  Äiherbewegungen,  der  einen  solchen 
Spannungszustand  erklärt,  kann  vorläufig  unerörtert 
bleiben.  Doch  mag  erwähnt  werden,  daß  mög- 
licherweise infolge  einer  Schirmwirkung  des  ge- 
waltigen Erdkörpers  auf  der  der  Sonne  zuge- 
kehrten Seite  die  Sonnenanziehung,  auf  der  ent- 
gegengesetzten Seite   die  Fliehkraft   stärker  wirk- 


sam ist.  Auf  den  dadurch  elastisch  gespannten 
Erdkörper  würde  dann  noch  seitlich  die  Quer- 
kontraktion wirken  (Abb.  3). 


AA^i^^A^AtA 


Y  Y  t  t  y  V  y  t  y  V  V 


Abb.  3. 

Nun  verhält  sich  nach  Lord  Kelvin  der  Erd- 
körper kosmischen  Kräften  gegenüber  wie  der 
beste  Stahl,  aus  dem  sein  Inneres  vermutlich  auch 
besteht.  Nicht  wie  Stahl  können  sich  jedoch  die 
weicheren  Oberflächenschichten,  vor  allem  aber 
nicht  die  Lufthülle  verhalten.  Da  diese  keine 
Gestaltselastizität  besitzt,  muß  sie  den  inneren 
Kraft  wirkungen  nachgeben,  es  tritt  ein  F 1  i  e  ß  e  n  , 
eine  Strömung  ein.  Es  muß  also  auf  den  der 
Sonne  zugewendeten  und  den  ihr  gerade  gegen- 
überliegenden Teilen  der  Erde  eine  aufsteigende, 
auflockernde  Luftströmung,  auf  den  seitlich  dazu 
liegenden  Erdteilen  dagegen  eine  absteigende, 
verdichtende  Luftströmung  entstehen. 

Nun  ruht  die  Erde  jedoch  nicht  im  Schwere- 
felde, sondern  dreht  sich  fortgesetzt  darin.  Je 
nach  dem  Stande  der  Sonne  muß  die  Erscheinung 
sich  daher  im  steten  Wechselspiele  wiederholen. 
Abb.  4  stellt  einen  Querschnitt  durch  die  Äqua- 
torialebene der  Erde  dar  und  veranschaulicht  die 
Verhältnisse  zur  Zeit  der  Nachtgleichen.  Man 
kann  das  Kraftfeld  der  Sonne  in  vier  Quadranten 
teilen;  in  je  zwei  gegenüberliegenden  herrschen 
die  gleichen  Zustände.  In  dem  der  Sonne  zuge- 
kehrten und  dem  gegenüberliegenden  Quadranten 
überwiegt  die  auflockernde  Komponente,  in  den 
rechtwinklig  zur  Sonne  stehenden  die  nieder- 
drückende. Also  von  3  Uhr  morgens  bis  9  Uhr 
vormittags  erzeugt  die  Sonnengravitation  einen 
absteigenden  Luftstrom,  so  daß  um  9  Uhr  vor- 
mittags ein  Druckmaximum  eintreten  muß;  von 
da  ab   beginnt  allmählich  die  Auflockerung,   die 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


99 


bis  3  Uhr  nachmittags  dauert,  so  daß  um  diese 
Zeit  das  Minimum  eintritt.  Von  da  an  tritt  wie- 
der bis  9  Uhr  abends  Verdichtung,  weiterhin  bis 
3  Uhr  nachts  Verdünnung  ein.  -Die  Zeiten  der 
Luftverdichtung  sind  in  der  Abb.  4  durch  schraf- 
fierte Flächen  angedeutet.  Daß  die  Maxima  und 
IVIinima  in  Wirklichkeit  erst  eine  Stunde  später 
eintreten  —  morgens  um  10  Uhr  ist  ja  eine  be- 
kannte Wetterkrisis  —  erklärt  sich  zwanglos  aus 
der  Trägheit  der  Luft. 

Dieser  Verlauf  der  täglichen  Barometer- 
schwankung wird  nun  durch  die  Naturbeobachtung 
in  der  allergroßartigsten  Weise  bestätigt.  Abb.  5 
stellt  die  täghche  Doppeloszillation  für  verschiedene 
Breitengrade  dar.  Ich  entnehme  einer  Darstellung 
von  Hann')  (in  Himmel  und  Erde,  VI,  S.  345) 
das  folgende: 


9^Jtm. 


6^3Un. 


if^Tlm. 


tiefsten  Stände.  Die  Luftdruckunterschiede  er- 
reichen und  überschreiten  selbst  3  mm,  sind  also 
sehr  in  die  Augen  fallend.  Die  jetzt  schon  viel- 
fach in  Anwendung  gebrachten,  kontinuierlich  die 
Luftdruckänderungen  aufzeichnenden  Barographen 
liefern  Tag  für  Tag  die  gleichen  schönen  Doppel- 
wellen, so  daß  es  manchem  fast  langweilig  und 
unnötig  erscheinen  möchte,  in  solchen  Gegenden 
den  Luftdruck  regelmäßig  aufzuzeichnen,  der  sich 
ja  vom  Wetter  ganz  unabhängig  gemacht  hat 
und  keine  Warnung  mehr  vor  Witterungsände- 
rungen zu  geben  vermag.  In  der  Tat  finden  wir 
bei  einem  sorgfältigen  Beobachter  in  Gambia 
(Westafrika,  13^2"  nördlicher  Breite)  die  von  diesem 
Standpunkte  aus  erklärliche,  sonst  aber  doch 
kuriose  Bemerkung,  „daß  daselbst  die  Luftdruck- 
beobachtungen wohl  kein  wissenschaftliches  Inter- 
esse haben,  weil  die  Barometerschwankungen  bei 
jeder  Witterung  ganz  gleichmäßig  vor  sich  gehen 
und  der  heftigste  Tornado  nicht  den  geringsten 
Effekt  darauf  habe". 

Trotzdem  der  kosmische  Charakter  der  ganzen 
Erscheinung  eigenthch  unverkennbar  ist,   hat  die 


Abb.  4. 


bo'j\f: 


„Die  Regelmäßigkeit  der  stündlichen  Schwan- 
kungen des  Barometers  unter  den  Tropen",  sagt 
A.  V.  Humboldt,  „ist  so  groß,  daß  man  be- 
sonders in  den  Tagesstunden  die  Zeit  nach  der 
Höhe  der  Quecksilbersäule  bestimmen  kann,  ohne 
sich  im  Durchschnitte  um  15 — 17  Minuten  zu 
irren.  In  der  heißen  Zone  des  Neuen  Kontinentes, 
an  den  Küsten  wie  auf  Höhen  von  mehr  als 
12000  Fuß  (3900  m),  wo  die  mittlere  Temperatur 
auf  7 "  herabsinkt,  habe  ich  die  Regelmäßigkeit 
der  Ebbe  und  Flut  des  Luftmeeres  weder  durch 
Sturm,  noch  durch  Gewitter,  Regen  und  Erd- 
beben gestört  gefunden"  (Kosmos,  I,  S.  336).  Tag 
für  Tag  erreicht  das  Barometer  zwischen  9  und 
10 Uhr  vormittags  und  abends  seine  beiden  höchsten 
und  um  4  Uhr  morgens  und  abends  seine  beiden 

')  Vgl.  auch  Hann,  Lehrbuch  der  Meteorologie,  Leipzig 
1906,  bes.  S.  138  flf. 


meteorologische  Wissenschaft  bisher  jeden  Ver- 
such einer  solchen  Erklärung  mit  Gründen  abge- 
wiesen, deren  Unrichtigkeit  ohne  weiteres  ersicht- 
lich ist.  So  schreibt  Hann  in  dem  erwähnten 
Aufsatze  (S.  361):  „Die  tägliche  Barometerschwan- 
kung mit  ihren  zwei  Maximis  und  Minimis  hat 
auf  den  ersten  Blick  die  größte  Ähnlichkeit  mit 
der  Ebbe  und  Flut  des  Meeres.  Man  nennt  sie 
deshalb  oft  kurzweg  „eine  atmosphärische  Ebbe 
und  Flut".  So  bezeichnend  diese  Ausdrucksweise 
für  die  Art  des  Auftretens  der  täglichen  Luft- 
druckschwankung ist,  so  verfehlt  wäre  es,  dabei 
auch  an  eine  ähnliche  Ursache  zu  denken.  Die 
atmosphärischen  Gezeiten  können  keine  Gra- 
vitationserscheinung sein,  denn  sonst 
müßten  sie  vor  allem  dem  Mondtag  folgen  und 
nicht  dem  Sonnentag.  Der  Mond  hat  eine  2,2  mal 
größere  fluterzeugende  Kraft  als  die  Sonne,  was 
auch  für  die  Atmosphäre  gültig   ist.     Die  Gravi- 


100 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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tationsfluten ,  die  der  Mond  in  der  Atmosphäre 
erzeugt,  sind  aber  sowohl  nach  der  Theorie,  als 
auch  nach  dem  Ergebnis  der  Beobachtungen  un- 
merklich klein  (o,o6  mm)  und  lassen  sich  gar 
nicht  vergleichen  mit  der  geschilderten  Barometer- 
schwankung, die  in  nicht  mißzuverstehender  Weise 
vom  täglichen  Laufe  der  Sonne  abhängt." 

Der  Trugschluß  in  dieser  Argumentation  liegt 
klar  auf  der  Hand.  Die  Begriffe  „Gravitations- 
wirkungen" und  „Ebbe  und  Flut  erzeugende  Kräfte" 
sind  miteinander  verwechselt  worden.  Die  Schwer- 
kraftwirkungen    entsprechen    nach    Newton    der 

Funktion    -5  ,    worin  m  die  Masse  und  r  die  Ent- 

fernung  bedeutet.  Während  die  Schwerkraft  der 
Sonne  auf  der  Erdoberfläche  noch  0,6  Promille 
der  Erdschwere  beträgt,  ist  die  des  Mondes  nur 
0,0000033  (ein  Dreihunderttausendstel)  der  Erd- 
schwere, also  200  mal  schwächer  als  die  der 
Sonne.  Wenn  es  also  unmittelbare  Wirkungen 
des  Schwerkraftfeldes  gibt,  wie  es  hier  angenom- 
men wird,  so  müssen  diese  der  Sonne  und 
nicht  dem  Monde  folgen!  Eine  Überschlags- 
rechnung zeigt  auch,  daß  die  in  den  Tropen  be- 
obachtete Barometerschwankung  der  Größe  nach 
mit  den  Änderungen  im  Gravitationsfelde  genau 
übereinstimmt.  Bei  der  Ebbe  und  Flut  des  Meeres 
handelt  es  sich  überhaupt  nicht  um  eine  solche 
unmittelbare  Schwerkraftwirkung,  sondern  um 
eine  Störung  zweiter  Ordnung  (Differentialfunk- 
tion), bei  der  Entfernungsänderungen  infolge  der 
Erddrehung  die  Hauptrolle  spielen ;  diese  Erschei- 
nung, bei  der  der  Mond  wegen  seiner  großen 
Nähe  allerdings  einen  bedeutenderen  Einfluß  als 
die  Sonne  ausübt,  ist  von  einer  viel  geringeren 
Größenordnung  als  das  hier  betrachtete  I'hänomen. 

Da  in  der  Newtonschen  Formulierung  Feld- 
wirkungen nicht  vorkommen,  glaubte  man,  die 
der  Sonnenbewegung  genau  folgende  Luftdruck- 
änderung könne  nur  durch  die  Wirkung  der 
Sonnenstrahlung  verursacht  worden  sein.  Nun 
paßt  der  Gang  der  Temperatur  mit  seinem  nur 
einmal  täglich  eintretenden  Maximum  und  Mini- 
mum und  seinen  starken  örtlichen  Unterschieden 
zu  der  so  unverkennbar  als  Gravitationswirkung 
verlaufenden  Erscheinung  wie  die  Faust  aufs 
Auge.  Man  fand  aber  doch  einen  Ausweg;  man 
sagte  einfach,  die  tägliche  Doppeloszillation  sei 
die  erste  Oberschwingung  der  durch  rätselhafte 
Widerstände  unterdrückten  Hauptschwingung  — 
eine  Erklärung,  die  man  wohl  nur  so  lange  bei- 
behalten wird,  als  man  absolut  keine  andere  findet. 

Die  Abhängigkeit  der  täglichen  Barometer- 
schwankung von  der  geographischen  Breite,  wie 
sie  in  Abb.  5  ersichtlich  ist,  ist  nach  der  hier  ge- 
gebenen Erklärung  ohne  weiteres  verständlich, 
denn  am  Pol  ändert  die  Sonne  im  Laufe  des 
Tages  ihre  Höhe  nicht  mehr,  eine  Schwingung 
kann  daher  nicht  eintreten.  Dagegen  müßte  eine 
Drehung  des  Windes  eintreten,  und  man  hat  solche 
täglichen  Drehungen  des  Windes  mit  der  Sonne 
tatsächlich  vielfach  beobachtet. 


Die  Sonnenschwerkraft  wirkt  also  täglich  zwei- 
mal wie  die  Hübe  einer  gewaltigen  Saug- 
und  Druckpumpe  auf  die  Erde.  Dadurch  werden 
vom  Äquator  ausgehend  gewaltige  auf-  und  ab- 
steigende Luftströmungen  erzeugt,  die  die  Haupt- 
ursache der  irdischen  Luftbewegungen  und  der 
Winde  darstellen.  Indem  sich  die  periodischen 
Wirkungen  in  bestimmter  Richtung  aufsummen, 
werden  auch  Bewegungen  der  Luft,  des  Meeres, 
und  der  Erdschichten  von  längerer  Dauer  und 
bestimmter  Richtung  erzeugt  werden.  Es  ist  also 
hier  ein  ganz  neuer  Weg  zum  Verständnis  der 
das  Leben  unseres  Planeten  erhaltenden  Natur- 
kräfte aufgefunden,  lediglich  dadurch,  daß  wir  die 
leeren  Räume,  durch  die  Newton  seine  Schwer- 
kraft zeit-  und  widerstandslos  hindurchwirken  Heß, 
mit  anschaulichen  Vorstellungen  ausgefüllt  haben 
und  kontinuierlich  wirkende  Kräfte  darin  vermuten, 
wie  sie  uns  seit  Faraday  im  elektromagnetischen 
Felde  längst  geläufig  sind. 

Es  mag  zunächst  überraschend  und  befremdend 
erscheinen,  wenn  der  Gravitation,  deren  Gesetze 
man  längst  nach  jeder  Richtung  hin  für  erforscht 
und  aufgeklärt  hält,  hier  ganz  neue  Eigenschaften 
beigelegt  werden.  Man  muß  jedoch  bedenken, 
daß  wir  auf  der  Erde  mit  Schwerkraftfeldern 
wegen  deren  Kleinheit  eigentlich  gar  keine  Ex- 
perimente anstellen  können.  Wir  sind  daher  auf 
das  kosmische  Gedankenexperiment  und  die  dar- 
aus abgeleiteten  astronomischen  Berechnungen 
angewiesen,  und  diese  kann  man  meist  gar  nicht 
nachprüfen.  Die  vom  Verf.  seit  langer  Zeit  ver- 
tretene Ansicht,  daß  die  Gravitationsfelder  in 
Wirklichkeit  viel  mehr  unmittelbar  wahrnehmbare 
Eigenschaften  besitzen,  als  die  dürre  Newton- 
sche  Theorie  ahnen  läßt,  ist  daher  nicht  zu  wider- 
legen. Die  neueren  Bestrebungen  vieler  Theo- 
retiker (u.a.  Wiecherts,  s.o.),  das  Schwerkraft- 
feld als  einen  Teil  des  elektromagnetischen  Kraft- 
feldes aufzufassen,  würden  dadurch  eine  ganz  neue 
Unterstützung  erhalten.  Daß  Newtons  Formu- 
lierung sich  in  der  Astronomie  bisher  leidlich 
bewährt  hat,  liegt  vielleicht  nur  daran,  daß  die 
Schwerkraft-  und  Trägheitserscheinungen,  wie  wir 
am  Beispiel  der  Erde  in  Abb.  i  sahen,  mit  ent- 
gegengesetzt gleichem  Betrage  in  die  Formeln 
eingehen.  Man  braucht  nur  anzunehmen,  daß 
der  Einfluß  der  Zeit  und  der  räumlichen  Wider- 
stände sich  nicht  nur  bei  der  Schwerkraft,  son- 
dern in  genau  derselben  Weise  auch  bei  den 
Trägheitsbewegungen  der  Massen  geltend  macht 
—  eine  Symmetrie,  wie  sie  bei  den  Strönnungen 
einer  inkompressiblen  Flüssigkeit,  hier  des  Äthers, 
stets  zu  erwarten  ist  —  so  erklärt  es  sich  sofort, 
wie  die  Täuschung  eines  von  Zeit  und  räumlichen 
Widerständen  unabhängigen  Kraftfeldes  zustande 
kommen  mußte.  Nur  diesen  eigenartigen  Verhält- 
nissen verdankt  Newtons  seltsame,  aller  Logik 
widersprechende  Lehre  von  der  zeitlosen  Fern- 
kraft ihre  Erfolge,  wenigstens  für  eine  erste  An- 
näherung. Die  oben  erwähnten  neueren  Theorien 
von    Riemann     bis    Einstein    lassen    jedoch 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


loi 


schon  deutlich  erkennen,  daß  bei  genaueren  Be- 
rechnungen Glieder  zu  berücksichtigen  sind,  die 
vom  Quadrat  der  Lichtgeschwindigkeit  abhängen, 
und  die  die  Gravitation  somit  als  Ätherwirkung 
kennzeichnen.  Abgesehen  von  diesen  geringen, 
bisher  allein  beachteten  Unstimmigkeiten  lassen 
sich  aber,  wie  unsere  Ausführungen  zeigten,  viel 
schwerere  Bedenken  gegen  Newtons  Theorie 
geltend  machen.  Es  mag  in  diesem  Zusammen- 
hange noch  darauf  hingewiesen  werden,  daß  die 
auf  Grund  der  herrschenden  Ansichten  aus  den 
Bahnen  der  Gestirne  abgeleiteten  Berechnungen 
der  „schweren  Massen"  bei  den  meisten  Weltkörpern 
so  geringe  Werte  geliefert  haben,  daß  die  Richtig- 
keit der  Voraussetzungen  recht  zweifelhaft  er- 
scheint. So  hat  man  beispielsweise  für  den  Jupiter 
eine  mittlere  Dichte  von  1,4  (auf  Wasser  als  Ein- 
heit bezogen),  für  den  Saturn  sogar  nur  eine 
solche  von  0,7  herausgerechnet,  obgleich  man  auf 
diesen  Planeten  deutlich  vulkanische  Ausbrüche 
erkennen  zu  können  glaubt.  Auch  die  aus  den 
Bahnelementen  der  Finsternisveränderlichen  vom 
Algoltypus  errechneten  Massen  haben  ganz  un- 
wahrscheinlich geringe  Werte  ergeben.  In  allen 
diesen  Fällen  wird  die  Newton  sehe  Theorie  wohl 
gar  nicht  anwendbar  sein,  denn  es  können  offen- 
bar neben  der  Schwerkraft  noch  ganz  andere  Kräfte 
die  Bahnen  der  Gestirne  bestimmen.  Man  mag 
dabei  zunächst  an  elektromagnetische  Kräfte 
denken,  die  in  dem  Bohrschen  Atommodell  be- 
kanntlich auch  zur  Berechnung  von  Planetenbahnen 
führen.  Es  können  bei  der  ungemein  schnellen 
Rotation  der  äußeren  Planeten  jedoch  auch  Flieh- 
kräfte im.  Äther  wirksam  werden,  die  eine  schein- 
bare Verminderung  der  Schwerkraft  und  damit 
der  Massen  bewirken  würden.  Das  unbedingte 
Vertrauen,  das  namentlich  die  Astronomen  seit 
200  Jahren  der  Ne  wtonschen  Theorie  entgegen- 
bringen, dürfte  vor  einer  schärferen  Kritik  wohl 
kaum  noch  bestehen  können.  Man  mag  über  die 
dunklen  Prinzipien  Einsteins  denken  wie  man 
will,  man  wird  ihm  jedoch  das  Verdienst  zuer- 
kennen müssen,  daß  er  endlich  einmal  zu  einer 
gründlichen  Prüfung  der  Gravitationstheorie  ange- 
regt hat.  Eine  solche  Kritik  darf  jedoch  nicht  bei 
einigen  praktisch  wertlosen  kleinen  Störungen  höhe- 
rer Ordnung  Halt  machen ;  man  muß  vielmehr  die 
Möglichkeit  erwägen,  daß  die  herrschende  Schwer- 
kraftlehre ganz  große ,  unmittelbar  wahrnehm- 
bare Mängel  enthält,  und  daß  es  die  höchste  Zeit 
ist,  sie  durch  eine  rationelle  Feldwirkungslheorie 
nach  Art  der  elektromagnetischen  oder  noch  besser 
durch  eine  alle  Kraftfelder  umfassende  Äther- 
strömungstheorie zu  ersetzen.')    Dann  erst  können 

')  Die  weitere  Ausgeslallung  des  hier  entwickelten  Ge- 
dankenganges findet  sich  in  meinem,  in  Nr.  10  des  Jahrg.  1920 
dieser  Zeitschrift  besprochenen  Buche  „Eine  neue  und  ein- 
fache Deutung  der  Schwerkraft",  Wolfenbüttel,  Heckners  Ver- 
lag, 1919,  weiter  in  den  1920  cbendort  erschienenen  Schriften 
„Der  Fehler  in  Einsteins  Relativitätstheorie"  und  „Die  neue 
Erklärung  der  Schwerkraft".  Eine  kurze  Darstellung  meiner 
Äthertheorie  habe  ich  in  „Glasers  Annalen  für  Gewerbe  und 
Bauwesen",   1920,  Bd.  86,  Nr.  1032,  S.  95 — 96,  gegeben. 


wir  dem  pulsierenden  Leben  und  Atmen  unseres 
Erdballs  wirkliches  Verständnis  entgegenbringen. 
Es  erscheint  auch  keineswegs  ausgeschlossen,  daß 
die  Kenntnis  der  Vorgänge  im  Schwerkraftfelde 
uns  ganz  neue  Methoden  zur  Energiegewin- 
nung zur  Verfügung  stellen  wird. 

Es  mag  noch  zum  Schluß  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  der  Gedanke,  ein  Pulsieren  der 
Schwerkraft  sei  die  Ursache  der  Barometerschwan- 
kungen, von  keinem  Geringeren  als  von  Goethe 
herrührt.  Er  hat  ihn  nicht  nur  in  seinen  umfang- 
reichen meteorologischen  Arbeiten,  sondern  auch 
in  seinen  Dichtungen  („Zahme  Xenien")  mehrfach 
behandelt.  So  schreibt  er  am  Anfang  seiner 
„Italienischen  Reise"  während  einer  Wetterbe- 
obachtung auf  dem  Brenner :  „Ich  glaube  nämlich, 
daß  die  Masse  der  Erde  überhaupt,  und  folglich 
auch  besonders  ihre  hervorragenden  Grundfesten 
nicht  eine  beständige,  immer  gleiche  Anziehungs- 
kraft ausüben,  sondern  daß  diese  Anziehungskraft 
sich  in  einem  gewissen  Pulsieren  äußert,  so  daß 
sie  sich  durch  innere  notwendige,  vielleicht  auch 
äußere  zufällige  Ursachen,  bald  vermehrt,  bald 
vermindert.  Mögen  alle  anderen  Versuche,  diese 
Oszillation  darzustellen,  zu  beschränkt  und  roh 
sein,  die  Atmosphäre  ist  zart  und  weit  genug, 
um  uns  von  jenen  stillen  Wirkungen  zu  unter- 
richten." Goethe  verband  offenbar  mit  dem  Begriff 
der  Schwerkraft  weit  anschaulichere,  lebendigere  und 
wohl  auch  richtigere  Vorstellungen  als  der  von  ihm 
bekämpfte  Newton.  Leider  vermochte  er  nicht 
wie  dieser  durch  exakte  Formulierung  seinen  Ideen 
in  den  Augen  der  Fachphysiker  das  nötige  Gewicht 
zu  verleihen,  so  daß  seine  bedeutsamen  Anregungen 
bisher  unbeachtet  und  unverstanden  geblieben 
sind.  Wenn  die  Ausführungen  dieses  Artikels 
nun  atich  noch  keine  abgeschlossene  Theorie  ent- 
halten, so  lassen  sie  den  Weg  zu  einer  solchen 
doch  bereits  klar  erkennen;  sie  lassen  auch  die 
Fragen,  die  heute  durch  den  Kampf  um  Ein- 
stein das  allgemeine  Interesse  erregen,  in  einem 
ganz     neuen     Lichte     erscheinen.')       Newtons 

')  Einstein  geht  bekanntlich  von  dem  Widerspruche 
aus,  der  zwischen  den  Versuchen  von  Fizeau  und  Michel- 
son  bestehen  soll.  In  beiden  Fällen  bleiben  die  optischen 
Gesetze  realativ  zu  dem  auf  der  Erde  ruhenden  und  mit  ihr 
bewegten  Beobachter  konstant.  Einstein  schlofl  daraus 
etwas  voreilig  auf  eine  geheimnisvolle  Bedeutung  des  „Be- 
obachterstandpunktes" für  die  Optik,  eine  gänzlich  un- 
physikalische Idee.  Er  leitete  daraus  das  logisch  un- 
haltbare ,, Prinzip  von  der  Konstanz  der  Vakuumlicht- 
geschwindigkeit relativ  zu  beliebig  bewegten  Beobachtern" 
ab,  das  bereits  durch  die  Versuche  von  Sagnac  mit 
bewegten  Beobachtern  widerlegt  erscheint.  Denn  selbst- 
verständlich kann  ein  Beobachter  die  optischen  Erscheinungen 
nur  insoweit  beeinflussen,  als  er  mit  einem  Kraftfelde  ver- 
bunden ist.  Natürlicher  ist  wohl  die  Idee,  in  den  Versuchen 
von  Fizeau  und  Michelson  sei  nicht  dem  Beobachter, 
sondern  dem  genau  wie  dieser  bewegten  Schwerkraft felde 
der  Erde  der  entscheidende  Einfluß  zuzuschreiben,  wie  ich  in 
der  Schrift:  ,,Der  Fehler  in  Einsteins  Relativitätstheorie" 
(Wolfenbüttcl  1920)  näher  ausgeführt  habe.  Die  Physiker 
konnten  auf  diese  einfache  Lösung  bisher  nicht  kommen,  da 
optische  Feldwirkungcn  der  Schwerkraft  unbekannt  waren; 
erst  die  Ergebnisse  der  Sonnenünsternisexpedition  haben  hier 
Wandel  geschaffen.     Der  Gedanke  von  Stokes,    das  Ergeb- 


102 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Theorie  der  Schwerkraft  scheint  so  unvollständig 
zu  sein,  daß  sie  nicht  nur  den  Störungen  höherer 
Ordnung,  sondern  bereits  den  nächstliegenden, 
uns   unmittelbar  berührenden  Erscheinungen  und 


nis  des  Mich  eis onschen  Versuchs  durch  eine  Mitführung 
des  Äthers  durch  die  Erde  zu  erklären,  läßt  sich  zwanglos  mit 
tneiner  Auffassung  verbinden,  da  das  hier  behandelte„Schwer- 
kraft-Trägheitsfeld"  offenbar  nichts  anderes  als  der  „Äther"  ist. 


Kräften  gegenüber  versagt.  Der  Ersatz  der  alten 
unhaltbaren  Lehre  von  der  Fernwirkung  der 
Schwerkraft  durch  eine  moderne  Feldwirkungs- 
und Äthertheorie  dürfte  daher  zu  den  dringend- 
sten Aufgaben  der  physikalischen  Wissenschaft 
gehören.  Ihre  Lösung  wird  uns  einen  ganz  un- 
erwarteten und  überraschenden  Einblick  in  den 
Zusammenhang  der  Naturkräfte  gewähren. 


[Nachdruck  verboten.] 

Über  das  Vorkommen  des  Ziesels  in  Sachsen 
verdanken  wir  die  ersten  ausführlicheren  Mit- 
teilungen J.  Thaliwitz,  der  1895  (10)  die  Frage 
aufwarf;  „Ist  das  Ziesel  ein  Bewohner  unserer 
sächsischen  Schweiz?",  um  danach  1898  (11)  des 
Tieres  Vorkommen  im  äußersten  östlichen  Erz- 
gebirge um  Lauenstein  sowie  in  der  Gegend  der 
Orte  Olsen,  Ölsengrund,  Breitenau,  Liebenau  und 
Hellendorf  festzustellen.  Jacobi  (4)  führt  diese 
zusammenhängenden,  auf  ein  Gebiet  von  nur 
gegen  lO  qkm  Fläche  sich  erstreckenden  Vor- 
kommen unter  Berufung  auf  Thaliwitz  dann 
ebenfalls  an  und  bezweifelt  eine  ältere,aufR  eichen - 
bach  und  E.  Besser  sich  stützende  Angabe 
Reibis  ch's  (8)  von  einem  Vorkommen  des  Tieres 
auch  in  der  Lausitz.  Ihm  sowohl  wie  auch  Thall- 
witz  ist  dabei  entgangen,  daß  Citellus  citellus 
aus  Sachsen  aber  noch  früher  erwähnt  wird. 
Chrst.  Frdr.  Ludwig  (6),  dem  wir  die  erste 
umfassendere  Zusammenstellung  auch  der  sächsi- 
schen Säuger  verdanken,  führt  das  Tier  bereits 
1810  allerdings  ohne  alle  weiteren,  in  diesem  Falle 
aber  ganz  besonders  wünschenswerten  näheren 
Angaben  auf,  und  Schumann  (9)  schreibt  dann 
1822  in  seinem  Lexikon  von  Sachsen:„Der  russische 
Balk  aber,  welcher  mit  russischem  Getreide  mit- 
gekommen und  im  mittleren  Sachsen  sehr  zahl- 
reich geworden  war,  ist  glücklich  wieder  aus- 
gerottet". Endlich  bezeichnet  Fechner  (3)  unsere 
Art  1851  als  „sehr  selten  in  der  Zittauer  Gegend, 
bei  Bjnzlau  (Schlesien)  häufiger".  Nach  einer 
späteren  Angabe  in  den  Meyer  und  Helm  sehen 
Jahresberichten  der  ornithologischen  Beobachtungs- 
stationen im  Königreich  Sachsen  (7)  wurde  schließ- 
lich im  Jahre  1891  ein  Ziesel  auch  im  Vogtlande, 
und  zwar  auf  Feldern  bei  Chrieschwitz  (bei  Plauen) 
erschlagen,  wobei  gesagt  wird,  daß  „er  bisher  noch 
nicht  beobachtet,  seitdem  aber  auch  nicht  wieder 
gesehen  worden  ist".  Jacobi  (4)  äußert  hierzu 
den  Verdacht,  daß  es  sich  in  diesem  Falle  um 
ein  aus  der  Gefangenschaft  entwischtes  Tier  ge- 
handelt haben  könne. 

Aus  den  vorliegenden,  ja  nur  bescheidenen 
Angaben  ein  sicheres  Urteil  über  das  sächsische 
Vorkommen  des  Ziesels  zu  fällen,  ist  nicht  ganz 
leicht.  Das  eine  aber  steht  jedenfalls  fest,  daß 
das  Tier   in  Sachsen   ältere  Bürgerrechte   besitzt, 


Über  das  Vorkommen  des  Ziesels  in  Sachsen. 

Von  Rud.  Zimmermann,  Dresden. 
Mit  einer  Kartenskizze. 


als  man  bisher  im  allgemeinen  anzunehmen  ge- 
neigt war,  und  daß  es  bei  uns  einmal  auch  schon 
weiter  verbreitet  gewesen  zu  sein  scheint,  als  sein 
heutiges  nur  beschränktes  Vorkommen  schließen 
läßt.  Nun  sagt  ja  schon  Blasius  (i):  „Man  hat 
eine  Zeitlang  geglaubt,  daß  das  Ziesel  von  Osten 
her  in  Deutschland  eingewandert  sei;  man  kann 
aber  eher  umgekehrt  behaupten,  daß  es  allmählich 
immer  weiter  nach  Osten  zurückgedrängt  worden 
ist."  Doch  scheint  es,  daß  er  sich  bei  dieser 
Behauptung,  wie  ihm  ja  auch  entgegengehalten 
worden  ist,  lediglich  auf  eine  mißverständliche 
Auslegung  eines  alten  Schriftstellers  (Albertus 
Magnus),  nicht  aber  auf  wirkliche  beglaubigte 
Funde  gestützt  hat.  Heck  (2)  dagegen  läßt  auf 
Grund  einer  noch  zu  erwähnenden  Beobachtut  g 
Liebes  die  Möglichkeit  bestehen,  daß  Citellus 
citellus  „vor  gut  loo  Jahren  schon  einmal  viel 
weiter  westlich  gewesen  zu  sein  scheint".  —  Ist 
es  nun  schon  auffallend  genug,  daß  das  Tier  be- 
reits in  unserem  ältesten  umfassenden  Verzeichnis 
der  sächsischen  Säugetiere  genannt  wird,  so  gewinnt 
die  Möglichkeit  seiner  ehemals  größeren  Ver- 
breitung in  Sachsen  vor  allem  durch  die  Angabe 
Schumanns,  den  ich  zwar  nicht  immer  als  emen 
in  zoologischen  Dingen  absolut  zuverlässigen  Ge- 
währsmann halte,  dessen  Mitteilungen  in  diesem 
Falle  aber  doch  so  bestimmt  gehalten  sind,  daß 
man  nicht  achtlos  an  ihnen  vorübergehen  kann, 
sofort  eine  fast  zwingende  Wahrscheinlichkeit.  *) 
Inwieweit  dabei  die  Behauptung  von  einer  Ein- 
schleppung des  Ziesels  mit  russischem  Getreide 
zu  Recht  besteht,  muß  zunächst  in  Ermangelung 
aller  weiteren  Unterlagen  noch  unerörtert  gelassen 
werden.  Vielleicht  glückt  uns  noch  einmal  ein 
literarischer  Fund  —  bisher  war  allerdings  das 
Fahnden  nach  weiteren  Belegen  im  älteren  Schrift- 


')  Man  könnte  sich  höchstens  an  die  für  den  Ziesel  sonst 
nicht  gebrauchte  Bezeichnung  „Balk"  stoßen.  Mir  ist  die 
Herkunft  dieses  Ausdruckes,  den  aber  schon  der  verstorbene, 
bekannte  sächsische  Faunist  Robert  Berge  unserer  Art  zu- 
schreibt, nicht  bekannt;  doch  entsinne  ich  mich,  ihn  früher 
schon  einmal  für  den  Ziesel  gebraucht  gefunden  zu  haben, 
ohne  aber  heute  der  Quelle  nachkommen  zu  können.  Aber 
abgesehen  davon,  läßt  die  Angabe  Schumanns  schon  im 
Zusammenhang  mit  seinen  übrigen  Mitteilungen  kaum  auf  eine 
andere  Art  als  Citellus  schließen. 


N,  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


103 


tum  ein  vergebliches  ^)  — ,  der  eine  weitere  Klärung 
in  die  Angelegenheit  bringt.  Steht  die  ehemalige 
Weiterverbreitung  des  Tieres  in  Sachsen  aber  sicher, 
so  gewänne  damit  auch  die  diese  Weiterverbreitung 
bereits  stützende  Mitteilung  Liebes  (5),  nach  der 
dieser  Mitte  der  siebziger  Jahre  des  verflossenen 
Jahrhunderts  auf  dem  Wolgen  bei  Leubsdorf  in 
Ostthüringen  (unweit  der  sächsischen  Grenze)  zahl- 
reiche, von  ihm  auf  gegen  80  Jahre  alt  geschätzte 
Tierbauten  fand,  die  er  als  solche  des  Ziesels 
deutete,  ein  viel  bestimmteres  Aussehen.  Für  die 
Beurteilung  des  mittelsächsischen  Vorkommens 
des  Ziesels  ist  vielleicht  auch  die  Tatsache  nicht 
unwichtig,  daß  des  Tieres  Verschwinden  —  wenn 
seine  Einschleppung  nicht  etwa  erst  um  oder  nach 
1813,  zu  welcher  Zeit  russisches  Getreide  aller- 
dings in  ungewöhnlich  großen  Mengen  in  Sachsen 
eingeführt  wurde,  geschehen  und  einer  ungewöhn- 
lich raschen  Ausbreitung  des  Tieres  ein  ebenso 
schnelles  Wiederverschwinden  (die  Schumann- 
sche  Mitteilung  stammt  ja  schon  aus  dem  Jahre 
1822)  nachgefolgt  sein  sollte")  —  zeitlich  mit 
jenen  durchgreifenden  Veränderungen  in  der  land- 
wirtschaftlichen Ausnutzung  des  Bodens  zusammen- 
fallen würde,  die  gegen  Ausgang  des  18.  Jahr- 
hunderts begannen  und  sich  ins  19.  hinein  fort- 
setzten und  die  sich  in  dem  damals  schon  am 
intensivsten  genutzten  Nordwest-  und  Mittelsachsen 
am  auffallendsten  fühlbar  machten.  Die  bis  dahin 
übliche  Dreifelderwirtschaft  nämlich,  die  immer 
ein  Drittel  des  genutzten  Bodens  brach  liegen  ließ, 
ging  in  die  heute  noch  übliche  Reihenwirtschaft 
über,  wodurch  für  das  Tier,  das  jeder  regelmäßigen 
Bodenbearbeitung  abhold  ist,  die  Lebensbedingungen 
natürlich  zu  viel  ungünstigeren  wurden. 

Unabhängig  von  dem  mittelsächsischen  Vor- 
kommen des  Ziesels  müssen  wir  das  heute  noch 
bestehende  osterzgebirgische  betrachten,  das  m.  E. 
zu  jenem  in  keinerlei  Beziehung  steht  oder  jemals 
gestanden  hat  und  das  man  allgemein  als  eine 
Einwanderung  des  Tieres  aus  Böhmen  deutet. 
Ich  vermag  mich  dieser  Ansicht  heute  aber  nicht 
mehr  anzuschließen,  sondern  halte  das  Vorkommen, 
das  mit  dem  böhmischen  in  unmittelbarstem  Zu- 
sammenhang steht  und  sich  nur  wenige  Kilometer 
über    die    Grenze    erstreckt,    für    die    von    jeher 

')  Dieser  Mangel  an  älteren  Angaben  trifft  allerdings 
nicht  nur  für  den  Ziesel  zu,  sondern  gilt  gerade  für  Sachsen 
auch  noch  für  viele  andere,  zum  Teil  sogar  viel  auffallendere 
Tierarten.  Beispielsweise  läßt  sich  das  bis  um  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  bestandene  Vorkommen  des  sich  der  Be- 
obachtung sicherlich  kaum  entziehenden  Bibers  in  Sachsen  in- 
folge eines  derartigen  Mangels  jeglicher  älterer  Fundorts- 
bezeichnungen heute  nicht  mehr  mit  völliger  Sicherheit  um- 
grenzen; besäßen  wir  hierüber  als  einzige  nicht  auch  wieder 
eine  Angabe  Schumanns  und  drei  zufällig  erhalten  ge- 
bliebene Belegstücke,  so  wüßten  wir  heute  kaum  etwas  von 
dem  einem  erst  nach  der  Mitte  der  vierziger  Jahre  des  ver- 
flossenen Jahrhunderts  erloschenen  Vorkommen  des  Tieres  an 
der  Mulde  bei  Würzen. 

'')  Die  rasche  Ausbreitung  des  Tieres  besäße  dann  in  der 
Gegenwart  ein  Analogen  in  der  Ausbreitung  der  Bisamratte, 
sein  schnelles  Verschwinden  würde  sich  aus  den  wenig  gün- 
stigeren Lebensbedingungen  infolge  einer  intensiveren  Bear- 
beitung des  Bodens  erklären. 


bestandene  äußerste  nördliche  Ausstrahlung  des 
letzteren.  Für  ein  Vorrücken  des  Tieres  nach 
Norden  besitzen  wir  aus  Böhmen  auch  keinerlei 
Anhalt :  die  Tatsache  etwa,  daß  sein  Vorkommen 
hier  erst  in  verhältnismäßig  jüngster  Zeit  sicherer 
festgelegt  worden  ist,  berechtigt  uns  noch  nicht 
zu  dieser  Annahme.  Jeder  Faunist  weiß  es  ja 
auch,  wie  spät  die  sorgfältigere  Erforschung  der 
Kleinsäugerfauna  überall  erst  eingesetzt  hat  und 
wie  spärlich  nicht  nur  in  der  Vergangenheit, 
sondern  selbst  in  der  Gegenwart  noch  vielfach 
die  Nachrichten  über  die  meisten  unserer  Klein- 
säuger fließen  und  wie  lange  manches  alte  Vor- 
kommen sich  der  allgemeinen  Kenntnis  entzogen 
hat.  Übrigens  erwähnt  auch  schon  ein  sächsischer 
Schriftsteller  des  17.  Jahrhunderts  das  Tier  aus 
Böhmen;  Chr.  Lehmann  (f  1688)  schreibt  in 
seinem,  erst  nach  seinem  Tode  1699  erschienenen 
„Historischen  Schauplatz  derer  natürlichen  Merck- 
würdigkeiten  in  dem  Meißnischen  Ober-Ertzgebirge" 
über  unser  Tier:  „In  Böhmen  ist  eine  Hamster- 
Art  /  die  sie  Zeisele  oder  Tritschele  nennen  /  fahl 
und  grünlicht  an  der  Farbe  /  und  streiffigt  wie  die 
ramigten  Katzen  /  so  groß  als  Eichhörnchen  und 
fast  eine  Art  wie  die  Meerschweingen.  Hingegen 
sind  die  Hamster  größer  /  braun  und  weiß- 
gilbicht  .  .  .".    Daß  unser  Gewährsmann  das  sächsi- 


,     Breitenau/^Oelseri, 
Lauensleln  '»[ö£lsen'gr''"i> 
-^■,  ";*;Bieni;of,  . 

Liebenau  v*peierswäl() 
V.-.-;   ;■•  ;  -.  •..-•,■.-. 


BÖHMEN 
Vorkommen  das  Ziesels  in  Sa 


sehe  Vorkommen  nicht  kennt,  ist  aber  noch  kein 
Grund  etwa  zu  der  Annahme,  daß  es  zu  seiner 
Zeit  noch  nicht  bestanden  hätte.  Denn  einmal 
ist  dasselbe  ja  ein  räumlich  nur  ganz  beschränktes 
und  außerdem  auch  kein  besonders  häufiges,  und 
zum  anderen  bestand  zwischen  dem  Wohn-  und 
Wirkungsort  Lehmanns  (Scheibenberg)  ein  viel 
lebhafterer  Verkehr  mit  Böhmen  als  mit  dem  auch 
bedeutend  weiter  entfernteren  Osterzgebirge.  — 
Für  das  Bestehen  des  osterzgebirgischen  Vor- 
kommens von  jeher  spricht  vor  allem  auch  der 
landschaftliche  Charakter  des  Gebietes,  das  in 
reichlich  vorhandenen  und  vielfach  dürftigen  Wiesen 
noch  große  steppenartige  Anklänge  zeigt  und  in 
dem,  soweit  sich  dies  zurückverfolgen  läßt,  auch 
schon  von  jeher  mehr  als  in  anderen  sächsischen 
Landesteilen  der  Wald  zugunsten  von  Wiesen- 
und  Weideflächen  zurückgetreten  ist. 

M.  E.  besitzt    unser  Tier    auch    gar   keine    so 
große     Fähigkeit,    sein    Verbreitungsgebiet    aus- 


I04 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


zudehnen  und  sich  etwa  wie  der  Hamster  dem 
Feldbau  anzupassen.  Viel  eher  kann  man  von 
ihm  behaupten,  daß  sein  Vorkommen  immer  mehr 
an  Umfang  einbüßt  und  besonders  durch  die 
Zunahme  des  Feldbaues  stark  eingeengt  wird. 
Als  ich  191 1  die  rumänische  Dobrudscha,  in  der 
das  Tier  noch  eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung 
ist  und  wo  ich  in  reichstem  Maße  Gelegenheit 
hatte,  es  zu  beobachten,  bereiste,  wurde  mir  mehr- 
fach mitgeteilt,  daß  es  überall  dort,  wo  der  Feld- 
bau an  Ausdehnung  gewinnt,  in  seinem  Bestände 
zurückgeht  und  ich  selbst  traf  es  in  den  Weide- 
und  Steppengebieten  auch  immer  viel  häufiger 
an  als  in  solchen  mit  überwiegendem  Feldbau. 
Im  Einklang  damit  steht  ja  auch  die  von  H  e  c  k  (2) 
mitgeteilte  Erfahrung  von  Falz -Fein,  daß  auch 
in  Südrußland  die  rasch  zunehmende  Kultivierung 
der  Steppe  das  Vorkommen  des  Tieres  immer 
mehr  beschränkt.  Die  Vergrößerung  des  Ver- 
breitungsgebietes des  Tieres  in  Gebieten,  in  denen 
der  Landbau  noch  eine  ganz  andere  Rolle  spielt 
und  der  Boden  dabei  auch  viel  gründlicher  und 
tiefer  umgearbeitet  wird,  als  etwa  in  der  Dobrudscha 
und  in  Südrußland,  will  daher  auch  wenig  wahr- 
scheinlich erscheinen. 

Nun  scheint  aber  aus  der  seinerzeit  von 
Jacobi  (4)  veranstalteten  Umfrage  eine  Zunahme 
des  Ziesels  und  die  Ausdehnung  seines  Ver- 
breitungsgebietes wenigstens  in  Schlesien  festzu- 
stehen. Ich  will  mich  hier  auch,  da  ich  die 
schlesischen  Verhältnisse  zu  wenig  kenne,  jedes 
Urteils  enthalten,  möchte  aber  betonen,  daß  ich 
heute  im  allgemeinen  allen  derartigen,  auf  Rund- 
fragen sich  stützenden  und  nicht  durch  völlig 
einwandfreie  Beobachter  bekräftigten  Angaben 
sehr  skeptisch  gegenüber  stehe.  Wer  sich  mit 
faunistischen  Arbeiten  beschäftigt  und  sein  Material 
dabei  auch  auf  eigenen  Nachforschungen  im 
Lande  gesammelt  hat,  weiß,  wie  unendlich  schwer 
oft  sichere  Angaben  selbst  von  bekannteren 
Tierarten  zu  erlangen  sind  und  wie  wenig  manches 
Tier  auch  an  den  Orten  häufigeren  Vorkommens 
sogar  solchen  Personen  bekannt  ist,  von  denen 
man  die  Kenntnis  desselben  wohl  erwarten  dürfte. 
Wenn  auf  ein  derartiges  Vorkommen  aber  erst 
einmal  die  Aufmerksamkeit  der  Menge  gelenkt 
worden  ist,  wird  schärfer  auf  dasselbe  geachtet 
und  es   mehren  sich  damit  auch  die  Mitteilungen 


über  dasselbe  und  unter  ihnen  sind  sicherlich  dann 
auch  solche  wenig  geschulter  Beobachter,  die 
infolge  ihrer  erhöhten  Aufmerksamkeit  auf  ein  von 
ihnen  vorher  nicht  gekanntes  und  nicht  beachtetes 
Tier  und  der  dadurch  bewirkten  häufigeren  Be- 
obachtung desselben  ein  von  Jahr  zu  Jahr  zahl- 
reicheres Vorkommen  behaupten,  ohne  sich  bewußt 
zu  sein,  daß  sie  sich  lediglich  einer  Selbsttäuschung 
hingeben.  Meine  Schlafmausforschungen  in  Sachsen 
sind  ein  ganz  besonders  redendes  Beispiel  dafür! 
Wie  manchesmal  ist  mir  nun  nicht  schon  von 
einem  Häufigerwerden  des  Siebenschläfers  an  Orten 
berichtet  worden,  von  denen  ich  das  Vorkommen 
länger  als  meine  Gewährsmänner  kenne  und  an 
denen  sich  eine  solche  Zunahme  durchaus  nicht 
behaupten  läßt,  wie  manchesmal  mir  ein  Fundort 
nicht  als  zweifellos  neu  geschildert  worden,  an 
dem  dann  sorgfältige  persönliche  Nachforschungen 
ergaben,  daß  uralte  Leute  das  Vorkommen  schon 
aus  ihrer  Kindheit  kannten  I  Und  könnte  es  daher 
mit  dem  Ziesel  nicht  ganz  ähnhch  sein  ? 

Literatur. 

1)  Blasius.J.H.,  Naturgeschichte  der  Säugetiere  Deutsch- 
lands und  der  angrenzenden  Länder  von  Mitteleuropa.  Braun- 
schweig  1S57  (S.  276 — 278). 

2)  Breiims  Tierleben.  IV.  Auflage.  Säugetiere ,  2.  Bd. 
Leipzig  1914  (S.  498—503). 

3)  Fechner,  K.  A.,  Versuch  einer  Naturgeschichte  der 
Umgegend  von  Görlitz.  Zweiter,  zoologischer  Teil :  Wirbeltier- 
fauna. 14.  Jahresbericht  über  die  höhere  Bürgerschule  zu 
Görlitz.     Görlitz  1857. 

4)  Jacobi,  Arnold,  Der  Ziesel  in  Deutschland  nach 
Verbreitung  und  Lebensweise.  Arch.  f.  Naturgeschichte,  Jahrg. 
1902,  Bd.    I,  Heft  3,  S.   199 — 238. 

5)  Liebe,  K.  Th.  im  Zoologischen  Garten,  17.  Jahrg. 
1876,  S.   106—108. 

6)  Ludwig,  Chr.  Fried r.,  Initia  Faunae  Saxonicae. 
Fase.   I.     Leipzig   1810. 

7)  Meyer,  A.B.  und  Helm,  F.,  VII.-X.  Jahresbericht 
der  ornithologischen  Beobachtnngsstationen  im  Kgr.  Sachsen. 
Anbang:  Die  sonstige  Landesfauna  betreffende  Beobachtungen. 
Dresden  und  Berlin   1896. 

8)  Reibisch,  Th.,  Verzeichnis  der  Säugetiere  Sachsens. 
Sitzungsber.  d.  naturw.  Ges.  Isis  in  Dresden.  Jahrg.  1869, 
S.  86—89. 

9)  Schumanns  Lexikon  von  Sachsen.  9.  Bd.  Zwickau 
1822  (Säugetiere  S.  714 — 715). 

10)  Thallwitz,  J.,  Ist  das  Ziesel  (Spermophilus  citillus 
L.)  ein  Bewohner  unser  sächsischen  Schweiz?  Über  Berg  und 
Tal,   18,   1S95,  S.  139—140. 

11)  Thaliwitz,  J. ,  Über  das  Vorkommen  des  Ziesels 
in  Sachsen.  Sitzungsber.  d.  naturw.  Ges.  Isis  in  Dresden. 
Jahrg.   1898,  S.  95 — 96. 


Einzelberichte. 


Zinkblende  iiu  Basalt  des  Bühls  bei  Kassel. 

So  häufig  die  Blende  als  Gangmaterial  auftritt, 
so  selten  hat  man  sie  in  Effusivgesteinen  be- 
obachtet, und  deshalb  sind  die  Einschlüsse  einer 
schwarzen  Zinkblende,  die  sich  unter  den  zahl- 
reichen wissenschafthch  wertvollen  Einschlüssen 
in  dem  Basalte  des  Bühls  bei  Weimar  in  der  Nähe 
von   Kassel   finden,    besonders    merkwürdig.     W. 


EiteP)  konnte  an  der  Hand  eines  vorzüglichen 
Materials  aus  der  Sammlung  des  verstorbenen 
Prof.  Hornstein  die  paragenetischen  Verhält- 
nisse der  Blendevorkommnisse  klären  und  daraus 
ihre  Vorgeschichte  ableiten. 

Makroskopisch  erscheinen  die  Blendeeinschlüsse 
in    der  Regel  als    unregelmäßige,  manchmal  auch 


')  Centralbl.  f.  Min.  usw.   1920,    Nr.   17/18,  S.  273—285, 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


105 


fast  platten-  oder  linsenförmige  Einlagerungen  in 
den  normalen  Bühlbasalt.  In  den  meisten  Fällen 
ist  die  Blende  ganz  schwarz  gefärbt,  verrät  also 
sofort  ihren  hohen  Gehalt  an  beigemengtem  Eisen- 
sulfid. In  wenigen  Handstücken  aber  bemerkt 
man  eine  fast  farblose,  nur  schwach  gelbliche  oder 
honiggelbe  Zinkblende,  die  nach  dem  umgeben- 
den Basalte  zu  in  eine  Zone  von  gelblichroter 
Farbe  übergeht,  um  schließlich  am  Kontakt  in 
der  gewöhnlichen  tiefschwarzen  F'arbe  zu  er- 
scheinen. „Es  machen  derartige  Einschlüsse  ganz 
den  Eindruck,  als  hätte  eine  ursprünglich  sehr 
schwach  eisenhaltige  Zinkblende  aus  dem  Basalt 
oder  aus  anderen  Substanzen  der  unmittelbaren 
Umgebung  randlich  Eisensulfid  aufgenommen,  als 
sei  aber  die  isomorphe  Mischung  nur  an  den 
Randpartien  der  Blende  zustandegekommen, 
während  die  Zeit  nicht  ausreichte,  um  in  den 
anisotropen  Medium  durch  Diffusion  den  ungleich- 
mäßigen Sulfidgehalt  überall  auszugleichen." 

Häufig  findet  sich  eine  oft  innige  durch- 
wachsung mit  wasserklarem  Quarz  und  braunem 
Gesteinsglas.  Sehr  bemerkenswert  ist  das  Auf- 
treten von  Magnetkies,  der  sich  zuweilen  mit  der 
Blende  und  dem  Quarz  zusammen,  teils  in  den 
Basalt  direkt  eingelagert  findet,  dann  jedoch  im- 
mer in  der  nächsten  Umgebung  der  anderen 
Mineralien.  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  auch 
der  Magnetkies  mit  der  Zinkblende  und  dem  Quarz 
paragenetisch  verknüpft  ist  und  nicht  etwa  in 
Basalt  eine  primäre  Ausscheidung  darstellt.  Ein 
Dünnschliff,  der  Zinkblende,  Magnetkies  und  Quarz 
nebeneinander  zeigt,  läßt  darauf  schließen,  daß 
die  drei  Mineralien  gleichaltrig  sind.  Es  fragt 
sich  nur,  ob  der  Magnetkies  eine  primäre  Bildung 
oder  etwa  aus  Pyrit  durch  thermische  Dissoziation 
entstanden  ist.  Bemerkenswert  ist,  daß  man  keine 
Magnetkiesreste  in  der  Nachbarschaft  der  oben 
erwähnten  zonaren  Zinkblendeeinschlüsse  mehr 
findet.  An  sonstigen  Akzessorien  treten  noch  auf 
Cordierit  und  in  einem  Einschluß  auch  Zirkon, 
den  der  Verf.  für  ein  zufällig  in  die  Nähe  des 
Einschlusses  geratenes  Begleitmineral  des  Basaltes 
selbst  hält. 

Untersuchungen  im  auffallenden  Licht  zeigten, 
daß  von  einer  Abschmelzung  der  Blende  im  Ba- 
salt nicht  die  Rede  sein  kann,  sie  hat  stets  zackige, 
scharfe  Ränder.  Beim  gelinden  Anätzen  mit 
kaltem  Bromdampf  treten  mitunter  die  charakte- 
ristischen Zwillingslamellen  nach  (in)  auf.  Die 
erwähnte  Glasmasse  muß  ziemlich  leichtflüssig  ge- 
wesen sein,  denn  sie  dringt  in  äußerst  feinen 
Äderchen  in  die  aufgeblätterte  Blende  ein.  Im 
innigen  Zusammenhang  mit  dem  Glas  stehen  die 
zahlreichen  gerundeten  Quarzkörner,  die  von  un- 
regelmäßigen Sprüngen  durchsetzt  sind  und  zahl- 
reiche Interpositionen  von  Glas  enthalten.  Sehr 
wichtig  ist  das  in  einem  Schliff  festgestellte  Vor- 
kommen von  Pyrit  in  Paragenesis  mit  Quarz  und 
Zinkblende.  Dies  Mineral  war  völlig  in  die  Blende, 
einige  kleinere  Körner  z.  T.  auch  in  Quarz  ein- 
gewachsen.    Der  Verf.  kommt    zu    der  Annahme, 


daß  es  sich  in  dem  vorliegenden  Falle  nur  um 
ein  zufällig  erhalten  gebliebenes  Relikt  der  pri- 
mären Blende— Pyrit— Quarz — Paragenesis  handeln 
könne.  Nach  dem  Gesamtbild  zu  urteilen,  liegt 
in  den  Blendeeinschlüssen  jedenfalls  ein  primäres 
Gangvorkommnis  vor,  das  von  dem  Basall  aus 
der  Tiefe  nach  oben  befördert  wurde.  Irgendein 
Anhaltspunkt  für  das  geologische  Alter  dieser  Gang- 
bildungen sind  jedoch  nicht  vorhanden.  Es  ist 
immerhin  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  primären 
Quarzgänge  mit  Blende  und  Pyrit  ähnlich  wie  in 
dem  Vorkommen  des  Finkenberges  in  paläozoischen 
Horizonten,  also  in  beträchtlicher  Tiefe  gesucht 
werden  müssen. 

„Wo  ist  nun  aber  der  Pyrit,  der  zweifellos  doch 
einmal  in  größerer  Menge  in  dem  Gange  vor- 
handen war,  neben  der  Blende  verblieben?"  Bei 
Atmosphärendruck  ist  das  Eisendisulfid  von  575  " 
ab  nicht  mehr  beständig,  sondern  geht,  besonders 
rasch  bei  höheren  Temperaturen,  im  Sinne  des 
Dissoziationsgleichgewichts 

FeS.,  :<=>:  FeS  +  S 
in  Magnetkies  über.  Dieser  thermischen  Um- 
wandlung wurde  der  ursprünglich  vorhandene  Pyrit 
unterworfen.  Infolgedessen  findet  man  jetzt  reine 
Magnetkieskonkretionen  als  unmittelbare  sulfidische 
Einschlüsse  des  Bühlbasaltes  sehr  häufig,  höchst 
selten  jedoch  (erst  neuerdings  vom  Verf.  festge- 
stellt) reliktische  Pyritaggregate. 

Die  Vorgeschichte  der  Blendeeinschlüsse  ist 
nach  dem  Verf.  also  kurz  folgende:  Ein  in  unbe- 
kannter Tiefe  das  Gebirge  durchsetzender  Gang 
von  Blende  mit  wenig  Pyrit  und  viel  Quarz  wurde 
von  dem  Basalt  durchbrochen.  Mitgerissene  Bruch- 
stücke des  Ganges  erlitten  dabei  eine  weitgehende 
thermische  Umbildung,  indem  der  Pyrit  in  Magnet- 
kies und  Schwefeldampf  dissoziierte.  Bei  der 
hohen  Temperatur  konnte  der  Magnetkies  mit  der 
Blende  jedenfalls  in  isomorphe  Mischung  eingehen. 
Es  stimmt  damit  aufs  beste  überein,  daß  man 
höchstens  reliktischen  Magnetkies  in  der  nächsten 
Umgebung  eines  völlig  schwarzen,  offenbar  an 
Schwefeleisen  gesättigten  Blendekristalls  trifft, 
ferner  auch  der  Umstand,  daß  die  oben  erwähnte 
honiggelbe  Blende  randlich  dunkelbraun  bis  tief- 
schwarz gefärbt  erscheint.  Dabei  braucht  der 
Schmelzpunkt  des  Schwefeleisens  (1183"  in  H.,S- 
Atmosphäre  gemessen)  nicht  erreicht  worden  zu 
sein,  so  daß  dieses  in  flüssigem  Zustand  die  Blende 
umspült  hätte.  Es  genügt  völlig  die  Annahme, 
daß  die  festen  Phasen  P'eS  und  ZnS  bei  den  Zu- 
standsbedingungen  lebhafter  atomistischer  Beweg- 
lichkeit im  Mischkristall  koexistierten  und  demzu- 
folge ineinander  diffundierten.  Während  dieses 
Diffusionsprozesses  unterbrach  die  Erstarrung  des 
Basaltes  und  die  fortschreitende  relativ  rasche 
Abkühlung  des  Gesteinskörpers  bald  den  Aus- 
gleich der  Konzentrationsunterschiede,  und  im  ge- 
wissermaßen halbfertigen  Zustande  sind  die  Ein- 
schlüsse auf  uns  überkommen. 

Die  chemische  Untersuchung  ergab  außer  Zink, 
Eisen    und    Schwefel    Spuren    von    Mangan    und 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Kadmium.  In  einer  von  M.  D  i  1 1  r  i  c  h  analysierten 
Probe  ist  das  Verhältnis  von  FeS :  ZnS  ca.  =  i :  4, 
also  beinahe  dem  Marmatit  (1:3)  entsprechend. 
In  einem  vom  Verf.  analysierten  Stück  vom  spez. 
Gew.  4,033  +  0,005  ist  das  Verhältnis  FeS: ZnS 
etwa  wie  1:3,  also  einem  normalen  Marmatit 
ungefähr  entsprechend.  F.  H. 


Limulus,  ein  zum  Wasserleben  übergegangener 
Arachnide  ? 

Sollen,  wie  die  Lankest ersehe  Limulus- 
theorie  1881  es  will,  die  Spinnen  von  Limulus 
oder,  allgemeiner  gesagt,  die  Land  -  Arachniden 
von  den  Limuliden  abstammen,  so  müßten  die 
Tracheenlungen  der  ersteren  aus  den  Kiemen  der 
Merostomen  hervorgegangen  sein.  Der  Unter- 
schied in  der  Lage  der  Organe  —  bei  Limulus 
frei  an  der  Hinterseite  der  Blattfüße,  bei  Spinnen 
eingesenkt  und  nur  durch  ein  enges  Stigma  Luft- 
zutritt gewährend  —  läßt  sich  aus  der  verschie- 
denen Lebensweise  —  dort  Wasser-,'  hier  Land- 
leben —  erklären.  Nach  Metschnikoff  1871 
und  anderen  Untersuchern  entstehen  bei  Arachni- 
den und  zwar  bei  Skorpioniden  sowie  Araneen 
die  Tracheenlungen  als  Einstülpungen  dicht  an 
der  Hinterseite  der  Gliedmaßenanlagen  des  Ab- 
domens, die  zur  Embryonalzeit  vorhanden  sind, 
was  allgemein  mitKingsley  1885  im  Sinne  der 
Lankest  ersehen  Hypothese  aufgefaßt  wird. 
Ähnlich  Mac  Leod   1884. 

Im  Sinne  einer  entgegengesetzten  Auffassung, 
nämlich  der,  daß  die  Limuliden  —  mit  Sim- 
roth,  Jarowski,  Bütschli,  Montgomery, 
B.  Hall  er  —  von  landbewohnenden  Tieren  ab- 
stammen und  ihre  Kiemen  aus  den  Tracheen- 
lungen der  Arachniden  hervorgegangen  sind,  führt 
Versluys  etwa  folgendes  aus.  ^)  i.  Die  Ablei- 
tung der  Tracheenlungen  aus  Kiemen  bei  Deutung 
der  Limulusblattfüße  als  echte  Gliedmaßen  würde 
uns  mit  Fu  reell  1909  zur  Annahme  eines  diphy- 
letischen  Ursprungs  der  Skorpioniden  und  der 
übrigen  Arachniden  zwingen,  denn  bei  den  Skor- 
pionen erscheint  das  2.  Paar  jener  Gliedmaßen 
als  die  sog.  „Kämme"  der  Skorpione,  ohne 
Atmungsfunktion,  und  man  könnte  sich  nicht 
denken,  daß  Kämme  sich  später,  im  Araneen- 
stadium,  wieder  hätten  zu  Tracheenlungen 
umbilden  können.  Zu  einer  diphyletischen 
Ableitung  der  Arachniden  aber  kann  sich  Vers- 
luys offenbar  nicht  verstehen.  2.  Sehr  schwie- 
rig würde  auch  eine  Ableitung  der  Spinnwarzen 
der  Araneae  sein.  Die  Spinnwarzen  sollen  ja 
nach  Montgomery  1909  und  Kautsch  1910 
aus  rudimentären  Gliedmaßen  des  3.  und  4.  Ab- 
dominalsegments hervorgegangen  sein.  Dies  im 
Verein  mit  der  Limulustheorie  würde  heißen,  daß 
kiementragende  Blattfüße  zunächst,    im    Skorpio- 

')  J.  Versluys,  Die  Kiemen  von  Limulus  und  die 
Lungen  der  Arachniden.  In:  Bijdragen  tot  de  Dierkunde. 
XXI.  Feestnummer.     Leiden   1919.      15  Seiten. 


nidenstadium  der  Phylogenese,  zu  Tracheenlungen 
und  schließlich,  bei  Arachniden,  zu  Spinnwarzen 
wurden!  3.  Ferner  haben  bekanntlich  viele 
Spinnen  und  Milben,  die  Pseudoskorpione  und 
die  Phalangiden  statt  der  Tracheenlungen,  wie  sie 
den  übrigen  Arachniden  eigen  sind,  Röhren- 
tracheen. Es  würden  demnach  vielmals  Röhren- 
tracheen aus  Tracheenlungen  entstanden  sein 
müssen,  und  „dieser  Vorgang  wird  um  so  un- 
wahrscheinlicher, je  öfter  er  angenommen  werden 
muß".  4.  Ferner  treten  bei  Solifugen  und  Aka- 
riden  auch  Tracheen  auf,  deren  Stigmata  am 
Zephalothorax  liegen,  und  die  sich  somit  nicht 
von  den  abdominalen  Blattfußkiemen  des  Limulus 
ableiten  lassen.  —  Heymons  1905  war  schon 
geneigt,  Limulus  und  die  Arachniden  auf  gemein- 
same, an  feuchten  Orten  als  Ufertiere  lebende 
Vorfahren  zurückzuführen.  Es  liegen  aber,  meint 
nun  Versluys,  die  Kiemen  der  Gigantostraken 
un^i  des  Limulus  überhaupt  nicht  an  dem  Hinter- 
leib von  Gliedmaßen,  sondern  von  Sterniten, 
denn,  wie  besonders  der  Vergleich  eines  Giganto- 
straken mit  einem  Skorpion  auf  den  ersten  Blick 
lehre,  die  abdominalen  Blattfüße  von  jenen  seien 
—  mit  Sarle  1903,  Clarke  und  Ruedemann 
191 2  —  keine  echten  Gliedmaßen,  sondern  eben 
Sternite,  wie  solche  auch  die  Bauchseite  des  Prä- 
abdomens der  Skorpioniden  und  anderer  Arach- 
niden bedecken.  „Zugunsten  dieses  Vergleiches 
fällt  schwer  ins  Gewicht,  daß  neben  den  Blatt- 
füßen an  den  entsprechenden  Segmenten  keine 
Sternite  vorhanden  sind,  wohl  aber  ein  typischer 
Sternit  am  ersten  darauffolgenden  Segmente,  wo 
kein  Blattfuß  auftritt."  Die  Ähnlichkeit  der  Ab- 
dominalfüße von  Limulus  mit  den  Spaltfüßen  der 
Crustaceen  sei  eine  sehr  oberflächliche.  Höch- 
stens: „in  diesen  modifizierten  Sterniten  sind  die 
Reste  abdominaler  Gliedmaßen  mit  enthalten  und 
mögen  vielleicht  etwas  zur  Kompliziertheit  des 
Baues  der  Blattfüße  beitragen".  Die  Blattfüße  der 
Merostomen  als  bewegliche  Sternite  müssen  nun 
den  abgeleiteten  Zustand  darstellen  gegenüber  den 
unbeweglichen  Sterniten  der  Skorpione;  mithin 
seien  auch  die  Kiemen  von  Limulus  von  den 
Tracheenlungen  abzuleiten  als  Anpassungen  an 
das  Wasserleben.  V.  Franz  (Jena). 

Beobachtungen    der    „Vogelwarte   Noordwijk 

aan  Zee".') 

Die  bisher  nur  primitive  holländische  „Trek- 
station",  „eigentlich  das  Studierzimmer  der  Villa 
nova",  also  bisher  ein  privates,  aber  von  Freunden 
der  Sache  unterstütztes  wissenschaftliches  Unter- 
nehmen, fand  in  der  angesehenen  holländischen  orni- 
thologischen  Zeitschrift  „Ardea"  Aufnahme  für  ihren 
ersten  umfangreichen  Bericht  über  Beobachtungen 
von  Juni  1 9 1 8  bis  Februar  1 9 1 9,  angestellt  von  den  Ver- 

')  G.  A.  Brower  en  Jan  Verwey;  Waarnemingen 
van  het  ,,Trekstalion  Noordwijk  aan  Zee".  In;  Ardea,  Tijd- 
schrift  der  Nederlandsche  Ornithologische  Vereeniging.  Jahr- 
gang VlII,  Afl.  1,  Wageningen   1919,  S.   1 — 96. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


107 


fassern  und  einigen  Helfern  auf  zwei  hochgelegenen 
Punkten    —    Wasserturm    und    Hoteldach    —  am 
Innen-  und  Außenrand  des  Dünengürtels  bei  Tag 
und  Nacht.    Die  tagebuchmäßige  Wiedergabe  der 
Einzelbeobachtungen   nimmt,    wie    nicht   selten  in 
ornithologischen    Arbeiten,    ziemlich    bedeutenden 
Raum  ein.     Von  allgemeineren  Feststellungen    sei 
folgendes  erwähnt:    Die  kleinen  Singvögel,  Stein- 
schmätzer, Braunkehlchen,   Fliegenfänger,  Würger 
usw.  halten  sich    auf  dem  Zuge  tags  über  an  ge- 
eigneten Funkten  längs  dem  Binnenrand  des  Dünen- 
gürtels  auf,    ziehen   dagegen   abends   und   nachts 
längs  der  Küste.      Die  Beobachter   kamen  zu  der 
Überzeugung,  daß  an  den  geeigneten  Rastplätzen 
die  Vögel   meist  3  bis  6  Tage   verweilen.  —  Als 
Zugstraßen    an    der  holländischen  Küste    sind    für 
den  Herbstzug   drei   verschiedene  zu  verzeichnen: 
I.   ONO»«WZW,    längs  der  Küste,    2.   O^-'W, 
also  vom  Land    seewärts,    3.    umgekehrt:  W«->0 
(ZO).    Die  unter  i  genannte  Straße  ist  die  haupt- 
sächlichste, die  weitaus  meisten  Vögel  folgen  dem 
Küsten-  oder  Dünenstreifen,  obschon  bei  geeignetem 
Wetter  mehr  oder  minder  zahlreiche  auch  über  das 
ganze  holländische  Land  fliegen.  Die  zweite  Straße 
schlagen  Vögel  aus  Zentral-  und  Westeuropa  nach 
England  ein,    sei    es    um    dort    oder   in  Irland  zu 
überwintern,  sei  es  um   über  Großbritannien  süd- 
wärts zu  ziehen :  Saatkrähen,  Kiebitze,  wohl  auch 
Dohlen   schlagen  diesen  Weg  ein  und  ziehen  da- 
bei sehr  hoch.     Die    dritte  Zugrichtung   ist    eine 
neu  festgestellte  (während  über  die  zweite  bereits 
Eagle  Clarke   berichtet  hat):   Drosseln,   Klein- 
vögel   und  Krähen   verschiedenster  Art   sah    man 
in  der  Abenddämmerung  oder  des  Morgens  vom 
Meere  her  landwärts  fliegen,  und  gelegentlich  an- 
gespülte Vogelleichen  zeigen,  daß  der  Flug  übers 
Meer     nicht    gefahrlos    ist.    —    Hinsichtlich    der 
Schnelligkeit    des  Vogelzugs   treten    die  Verfasser 
besonders  den  übertriebenen  Vermutungen  Gät- 
kes  entgegen    und    stellen    ausführliche  Tabellen 
auf,    beruhend    auf    Beobachtung    des    Vogelzugs 
durch  zwei  um  i  km  voneinander  entfernte  Posten 
und     genaue      nachträgliche    Vergleichung     aller 
sicher  vergleichbaren  Beobachtungen.     So  fand 
sich,    daß  für  Stare  eine  Geschwindigkeit  von  30 
bis  68  km  in  der  Stunde  anzunehmen  ist,  ähnlich 
kleinere    Vögel,    unter    denen    die  Sperlinge    die 
schnellsten  sind,    worauf  Finken,    Bachstelzen  und 
Wiesenpieper    folgen.      Nebelkrähen    ziehen    ver- 
hältnismäßig am  langsamsten. 

Den  Schluß  des  Berichts  bildet  eine  Aufzählung 
sämtlicher  beobachteter  Vogelarten  mit  kurzer 
Charakterisierung  einer  jeden  hinsichtlich  ihrer 
Zugverhältnisse  im  Beobachlungsgebiet.  Besonders 
erwähnenswerte  Arten  darunter  sind  der  Kolkrabe 
und  dieGabelschwanzmöve.Xemasabinii;  vielleicht 
ist  nicht  minder  erwähnenswert,  daß  von  Meisen 
nur  zwei  Arten,  Kohl-  und  Blaumeise,  zur  Be- 
obachtung gelangten. 

Man  wird  sich  dem  Wunsche  der  Redaktion 
der    „Ardea"    anschließen,    daß    die    holländische 


„Trekstation"   fortbestehen    und    weitere   Berichte 
liefern  möge.  V.  Franz  (Jena). 

Das  Eude  des  Wiseuts. 

Von  den  beiden  europäischen  Wildrindern  hat 
sich  nur  der  Wisent  bis  in  unsere  Tage  zu  halten 
vermocht.      Neben    einem    kleinen    Bestand,    den 
der  Fürst   von   Pleß   auf  seinen   schlesischen   Be- 
sitzungen   unterhielt    und   der  aus  vier,   1865   von 
Bialowies  bezogenen  Tieren  hervorgegangen  war, 
kam    die  Art    in    freier    Wildbahn    nur    noch    an 
zwei  Stellen  vor :  einmal  in  dem  russischen  Kron- 
forst Bialowies,  wo  sich  das  Tier  des  weitgehend- 
sten Schutzes  und  einer,  im  einzelnen  freilich  stark 
übertriebenen   Pflege    erfreute,   und   zum  anderen 
an  einer  räumlich  kleinen  Stelle  im  Kaukasus.    An 
dem  einen   dieser  beiden  Vorkommen,  im  Wald- 
gebiet  von   Bialowies,   das  ja  bereits  im  August 
191 5  in  deutsche  Hände  fiel  und  bis  zum  Kriegs- 
ende   auch    unter    deutscher   Verwaltung    stand, 
lernten   wir   während   des  Krieges  das  Tier  auch 
selbst    noch    kennen.      Allerdings    hatte    es,    als 
deutsche    Truppen    in    das  Waldgebiet    einzogen, 
bereits  stark  unter  den  Kriegshandlungen  gelitten; 
der  Bestand,  der  bei  Ausbruch  des  Krieges   noch 
fast  750  Stück  betragen  hatte,  umfaßte  nur  noch 
150- 160  Stück.      Infolge    der    unmittelbar    nach 
der  Besetzung    des    Gebietes    von    der    deutschen 
Verwaltung    ergriffenen    Schutzmaßnahmen    aber 
erholte  er  sich  in   einer   recht  erfreulichen  Weise, 
und    konnte,    nachdem    das  Frühjahr  191 8    emen 
Zuwachs    von    nicht   weniger   als  23  Kälbern  ge- 
bracht hatte,  bei  einer  im  Herbst  desselben  Jahres 
vorgenommenen   Zählung  auf  wieder   gegen  200 
beziffert   werden.      Was    wir   aber   dann    bei   der 
Räumung  des  Gebietes  als    unabwendbar  hinneh- 
men mußten,   hat  sich  inzwischen  leider  auch  er- 
füllt:   der   Bialowieser   Wisent   gehört    heute  nur 
noch  der  Geschichte  an ;  er,  der  sich  ja  so  leidlich 
noch  durch  die  Kriegswirren  selbst  hindurch  ge- 
rettet hatte,  wurde  ein  Opfer  dieser  elenden  nach- 
kriegszeitlichen   Verhältnisse.      Russische    Bauern 
haben  ihm,  so  schreibt  mir  Konrad  Löns,  der 
gleichfalls  den  Bialowieser  Besatzungstruppen  an- 
gehört hatte  und  der  dann,  als  nach  jenen  trüben 
Novembertagen   1918  Offiziere    und  Mannschaften 
nur  noch  daran  dachten,  auf  raschestem  Wege  die 
Heimat  zu  erreichen,    freiwillig    mit    nur  noch  25 
Mann  in  dem  Gebiet  ausharrte,  um  den  Rückzugs- 
weg unserer  Ukrainetruppen  zu  sichern,  ein  Ende 
bereitet    und  ein  paar    der    letzten    mußte    dann 
schließlich  auch  das  kleine,  pflichttreu  ausharrende 
Häuflein    dieser    letzten    Besatzungsmannschaften 
unter  dem  eisernen  Zwange  der  Verhältnisse    für 
die    eigene  Verpflegung    abschießen.      „So   ist  er 
dahingegangen",    schließt    Löns    seinen    Bericht, 
„unrühmlich,  wie  es  das  Ende  dieses  entsetzlichen 
Völkermordens  ja  auch  war!"  — 

Zur  Geschichte  auch  des  Bialowieser  Wisents 
gibt  Szalay,  der  dabei  das  gesamte  ältere 
Schrifttum    benutzt    und   kritisch  verarbeUet   hat. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


in  seiner  fleißigen  Arbeit  „Wisente  im  Zwinger" 
im  Zoologischen  Beobachter,  57. — 59.  Jahrgang, 
1916— 1918,  interessante  und  wertvolle  Daten; 
neueres  Material  enthält  das  von  der  Militärforst 
Verwaltung  Bialowies  herausgegebene  Lieferungs- 
werk „Bialowies  in  deutscher  Verwaltung",  aus 
dem  hier  besonders 

Gent  he,    F.,   Die  Geschichte   des  Wisents  in 

Europa;  3.  Heft,  Berlin  1918,  S.  119— 140, 
Rörig,  G.,   Die  Säugetiere    [des   Waldgebiets 
von  BialowiesJ,    ebenda,    S.   141  — 171     (Der 
Wisent,  S.  142 — 150)  sowie 
E  s  c  h  e  r  i  c  h ,  G.,  In  den  Jagdgründen  des  Zaren, 
ebenda,  S.  192 — 204 
hervorgehoben  seien.     Einige    eigene  Beobachtun- 
gen und   die  Mitteilung  über  des  Tieres  Ausrottung 
habe  auch  ich  selbst  in 

Europas  letzte  Wisente,  Zeitschrift  für  Vogel- 
schutz und  andere  Gebiete  des  Naturschutzes, 
2.  Jahrg.,  Berlin  1921  (im  Druck), 
niedergelegt.  Photographische  und  kinematogra- 
phische  Aufnahmen  des  Tieres,  die  im  Januar 
19  iS  erfolgten  und  mit  deren  Leitung  ich 
betraut  worden  war,  ließ  der  Bund  für  Vogel- 
schutz in  Stuttgart  vornehmen,  das  dabei  ge- 
wonnene Material  befindet  sich  im  Besitze  des 
Bundes. 

Über  das  Vorkommen  im  Kaukasus  besitzen 
wir  keinerlei  neuere  Nachrichten.  Der  russische 
Zoologe  D.Filatow,  der  in  den  Jahren  1908 — 191 1 
drei  Reisen  in  den  Kaukasus  zur  Erforschung  des 
Tieres,  das  K.  A.  Satunin  übrigens  als  eine 
eigene  Spezies  Bos  (Bison)  bonasus  caucasicus  Sat. 
beschrieben  hat,  unternommen  und  über  die  Er- 
gebnisse seiner  Forschungen  in  einer  längeren 
Arbeit  in  den  „Memoires  de  l'Academie  Imperiale 
des  Sciences  de  St.  Petersbourg,  VIII.  Serie,  Classe 
PhysicoMathematique,  Vol.  XXX,  Nr.  8,  St.  Peters- 
burg 191 2"  berichtet  hat,  gibt  die  Ausdehnung 
des  im  Kaukasus  vom  Wisent  bewohnten  Gebietes 
mit  50  Werst  in  West-Ost-  und  20  Werst  in  Nord- 
Süd-Richtung  an  (und  das  an  Größe  damit  noch 
um  ein  Merkliches  hinter  dem  Waldgebiet  von 
Bialowies  zurückbleibt).  Über  die  Größe  des 
Bestandes  sagt  er,  daß  die  Zahl  der  Tiere  „schwer- 
lich weniger  als  100  betragen,  andererseits  aber 
wohl  kaum  an  1000  heranreichen"  wird.  Es  soll 
hier  nicht  weiter  auf  die  Filatowschen  Mit- 
teilungen, die  Hermann  Grote  in  deutscher 
Übersetzung  im  Zoologischen  Beobachter  (55,  1914, 
S.  TJ — 85)  auszugsweise  mitgeteilt  hat,  eingegangen 
werden.  Nur  das  eine  sei  noch  hervorgehoben, 
daß  schon  damals  F  i  1  a  t  o  w  den  Bestand  als  stark 
gefährdet  bezeichnete  und  vorschlug,  die  Reste 
desselben  durch  die  ungesäumte  Schaffung  günsti- 
gerer Lebensbedingungen  für  die  bedrohten  Tiere 
zu  erhalten  zu  versuchen,  vor  allem  den  Wald- 
abtrieb in  den  vom  Wisent  bewohnten  Tälern 
einzustellen  und  den  Weidebetrieb,  in  dem  Filatow 
infolge  der  damit  verknüpften  Beunruhigung  der 
Tiere  und  ihrer  Verdrängung  von  den  freien 
Weideflächen  in.  den  dumpfen  Urwald  des  Gebirges 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


eine  besonders  ernste  Gefahr  für  den  Wisent  er- 
blickte, wesentlich  einzuschränken.  Da  die  von 
ihm  vorgeschlagenen  Schutzmaßnahmen  während 
des  Krieges  aber  wohl  kaum  haben  ergriffen 
werden  können  und  zu  ihrer  Unterlassung  dann 
vor  allem  auch  noch  die  Wirkungen  dieses  letzleren 
selbst  besonders  mit  dem  Überhandnehmen  des 
Wilddiebstahls  gekommen  sind,  dürfte  nach 
menschlichem  Ermessen  auch  dem  Kaukasus- 
Bestand  das  gleiche  Schicksal  geworden  sein,  das 
den  Bialowieser  Bestand  betroften  hat.  Meine 
noch  während  des  Krieges  entstandenen  Be- 
fürchtungen teilte  auch  der  inzwischen  verstorbene 
Herr  von  Falz- Fein,  der  die  Vernichtung  auch 
des  Kaukasus- Wisentes  während  bzw.  nach  dem 
Kriege  für  eine  kaum  noch  anzuzweifelnde  Tat- 
sache hielt. 

Um  die  Tragik  des  Wisents  zu  einer  er- 
schöpfenden zu  gestalten,  machte  Prof.  P  a x  -Breslau 
auf  der  neunten  Jahreskonferenz  für  Naturdenkmal- 
pflege in  Berlin  (5.  und  6.  Dezember  1919)  die 
Mitteilung,  daß  auch  der  Pleßsche  Wisentbestand, 
der  m.  W.  zuletzt  gegen  30  Stück  umfaßte,  durch 
den  schlesischen  Grenzschutz  völlig  zusammen- 
gewildert und  (wenn  sich  nicht  inzwischen  schon 
sein  Schicksal  erfüllt  haben  sollte)  an  den  Rand 
des  Abgrundes  gebracht  worden  ist.  —  Wir  werden 
daher  den  Wisent,  wenn  nicht  schon  heute,  so 
doch  zum  mindesten  in  allernächster  Zeit,  in  die 
Annalen  der  Geschichte  einreihen  müssen. 

Rud.  Zimmermann,  Dresden. 

Das  Problem  der  Zyauophjzeenzelle. 

Seit  Ferdinand  Cohn,  1875,  ist  es  Brauch 
geworden,  die  Zyanophyzeen  und  Bakterien  mit- 
einander zu  den  Schizophyten  zu  vereinigen. 
Wesentliche  Unterschiede  zwischen  beiden  in  der 
äußeren  Morphologie  wohl  einander  ähnlichen  Grup- 
pen, den  Zyanophyzeen  und  den  eigentlichen  oder 
Eubakterien,  hat  neuerdings  namentlich  Arthur 
Meyer  hervorgehoben,  der  den  Bakterien,  wie 
191 8  auch  Paravazini,  Zellkerne  und  wegen 
der  Endosporen  —  während  die  Zyanophyzeen 
Chlamydosporen  bilden  —  Askomyzetenverwandt- 
schaft  nachsagt.  Demnach  bleiben  die  Zyano- 
phyzeen als  ganz  isoliert  stehende  Gruppe  übrig, 
zumal  sie,  sei  es  infolge  primitiver  oder  regres- 
siver Organisation,  keinen  unzweifelhaften  Zellkern 
besitzen.  Diese  Sachlage  und  der  Wunsch,  eine 
definitive  Neuorientierung  der  Blaualgen ,  Rot- 
algen und  Spaltpilze  in  der  botanischen  Stammes- 
geschichte vorzubereiten,  veranlaßte  O.  Baum- 
gärt eis  Studie  (Das  Problem  der  Zyanophyzeen- 
zelle, Archiv  für  Protistenkunde,  Bd.  41,  1920,  H.  i, 
S.  50 — 148,  I  Tafel).  Der  Arbeit  ist  eine  vor- 
zügliche Zusammenfassung  beigefügt,  deren  gekürzte 
Wiedergabe  am  besten  über  ihren  Inhalt  Auskunft 
geben  wird. 

Der  Protoplast  der  Zyanophyzeen  besteht  aus 
dem  peripheren  Chromatoplasma,  welches 
als  Assimilationspigment  ein  Gemisch  von  Chloro- 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


109 


phyll,  Phykozyan  und  Karotin  in  diffuser  Ver- 
teilung enthält,  wobei  es  zu  winzigen  Ansamm- 
lungen in  Form  Meyerscher  Granula  sich  an- 
sammeln kann,  und  dem  hyalinen  Zentro- 
plasma;  letzteres  hat  lakunösenBau  und  in  seinen 
Alveolen  „Plasten";  zunächst  die  Endop lasten, 
flüssige  bis  steifgelige  Gebilde,  die  wohl  aus 
Glyko-  und  P-Proteiden  bestehen,  und  deren  Sub- 
stanz die  Matrix  für  die  beiden  anderen  Plasten- 
arten ist :  an  der  Peripherie  der  Endoplasten  ent- 
stehen bei  optimaler  Assimilation  die  Epiplasten; 
sie  bestehen  aus  einer  sehr  resistenten  Hülle  von 
hochkondensiertenNukleoglykoproteiden  und  einem 
weniger  resistenten  Kern,  der  mehr  Proteincharakter 
zeigt.  Ektoplasten,  vorwiegend  aus  Protein- 
substanzen, entstehen  an  der  Peripherie  des  Zen- 
troplasmas,  wenn,  bei  minimalem  Lichtgenuß  und 
überwiegend  saprobiontischer  Ernährung,  die  Ei- 
weißproduktion über  die  Kohlehydralassimilation 
überwiegt. 

f  Zentroplasma  und  Plasten  stellen 
einen  offenen  Zellkern  dar,  der  außerdem 
noch  die  Rolle  von  Kohlehydratplasten  hat,  einen 
„Karyoplasten",  der  „phylogenetisch  jene  Stufe  be- 
deutet, wo  die  Arbeitsteilung  zwischen  Karyo- 
plasma  und  den  Kohlehydratplasten  noch  nicht 
durchgeführt  erscheint".  Der  Kernsaft  höherer 
Pflanzenkerne  entspricht  den  Endoplasten,  die 
Chromiolen  den  Epiplasten  und  die  proteinhaltigen 
Xukleolen  den  Ektoplasten. 

Dem  Karyoplasten  fehlt  eine  typische  mito- 
tische Verlagerung  von  chromatischen  Individuali- 
täten mittels  eines  komplizierten  Spindelfaser- 
apparates; die  vorhandenen  Plasten  werden  bei 
der  Zerschneidung  des  Zentroplasmas  ohne  be- 
sondere Gruppierungsvorgänge  auf  die  Tochter- 
zellen verteilt,  wobei  steifgelige  Plastenaggregate 
chromosomähnliche  Gebilde    vortäuschen  können. 

V.  Franz,  Jena. 

Die  Nahrung  der  am  Wasser  lebenden  Yögel. 

Folgende  drei  graphischen  Tabellen  gibt  der 
Ornithologe  Wilhelm  Schuster  in  der  Allge- 
meinen Fischereizeitung  1920: 


Tabelle! 
Fischnahrung 


1 
2 
3 
4 
5 
6 
7 
8 
9 
10 
It 

Die  Länge  der  Rechtecke    bezeichnet    die    Meoge    der  von  je 
einem  Vogel  erbeuteten  und  verzehrten  Nahrung. 

Diese  Tabellen  erscheinen  recht  anschaulich  und 
einleuchtend  und  wohl  nicht  zu  gewagt,  obwohl 
sie    der  Verf.    selbst    als    „gewagt"    hinstellt.     In 


anderen  Punkten  ist  der  Verkünder  der  „Wieder- 
kehrenden Tertiärzeit"  auch  hier  recht  hypothe- 
tisch, so  in  der  durch  Beobachtung  nicht  erhärte- 
ten Vermutung,  die  herabfallenden  flüssigen  Ex- 
kremente des  Graureihers  möchten  Plsche  anlocken, 


Tabelle2. 

Sonstige  Nahrung 


Weiß: 
Wertlose  Fische  (kleine,  kranke) 

Schwarz: 
Nutzfische  mit  Küchenwert. 

1  Grauer  oder  Fischreiher,  Ardea  cinerea. 

2  Fischadler,  Pandion  haliai-tos. 

3  Großer  und  Mittlerer  Säger. 

4  Große  Rohrdommel,  Botaurus  stellaris. 

5  Taucher  und  Möwen,   Podiceps  und   Larus. 

6  Kleiner  Säger,  Zvv-ergrohrdommel. 

7  Seeschwalben,   Sterna. 

8  Schwarzbrauner  Milan. 

9  Eisvogel  und   Wasseramsel. 

10  Enten,     Kiebitz,     Rotschenkel,     Wasser-, 
Tüpfelhuhn,   Rohrweihe. 

11  Weißer  Storch,   Ciconia  alba. 


Teich-, 


zumal  sie  —  nach  Adolf  Müllers  bisher  nicht 
bestätigter  Angabe  —  bei  Nacht  leuchten  sollen 
wie  Phosphor.  Erwähnt  wird,  daß  der  Graureiher 
auch  Wassersalamander,  Molche  und  Muscheln 
frißt.  1)  V.  Franz  (Jena). 

Die  Bedeutung  einer  anthropologisclien 
üutersucliung  der  Jugend. 

Rudolf  Martin  spricht  sich  in  einem  Vor- 
trag, der  in  einer  Versammlung  des  Münchener 
Lehrerverbandes  gehalten  wurde  (abgedruckt  im 
„Volksschulwart",  8.  Jahrg.  Heft  10)  darüber 
folgendermaßen  aus.  In  der  Vergangenheit  war 
die  Erziehungstendenz  ganz  auf  die  Entfaltung 
der  geistigen  Fähigkeiten  gerichtet.  Man  war  sich 
nicht  bewußt,  daß  alle  geistige  Entwicklung  nur 
dann  von  Dauer  sein  kann,  wenn  sie  von  einer 
adäquaten  körperlichen  begleitet  wird,  und  daß 
der  Körper  um  so  kräftiger  sein  muß,  je  größer 
die  Anforderungen  sind,  die  an  Gehirn  und  Nerven 
gestellt  werden.  Der  Begriff  der  Körperkultur 
mußte  von  unserer  Zeit  erst  neu  geschaffen  werden 
und    es   gilt    nun,    die  Geister   aufzurütteln,  damit 

')  Ich  fand  außer  Mäusen  und  Aalen  einmal  auch  den 
dreistachligen  Stichling  in  Reihermägen. 


HO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


uns  nicht  der  Vorwurf  gemacht  werden  kann, 
wir  hätten  der  Jugend  gegenüber  unsere  Pflicht 
versäumt  und  unsere  Aufgabe  verkannt. 

Um  die  körperliche  Ertüchtigung  der  Jugend 
zweckmäßig  einleiten  und  durchführen  zu  können, 
ist  vorerst  Klarheit  über  ihre  Leibesbeschaffenheit 
erforderlich.  Wir  brauchen  einen  Gradmesser  für 
die  körperliche  Beschaffenheit  des  Einzelnen,  eine 
Methode,  die  es  uns  ermöglicht,  den  physischen 
Habitus  eines  Menschen  in  meß-  und  wägbaren 
und  damit  in  vergleichbaren  Größen  auszudrücken. 
Diese  weicht  von  Person  zu  Person  stark  ab, 
erstens  wegen  der  Verschiedenheiten  der  elterlichen 
Erbanlagen,  dann  infoige  der  mannigfachen  Ein- 
wirkungen der  Umwelt,  die  schon  vor  der  Geburt 
beginnen,  jedoch  besonders  nachher  die  Entwick- 
lung weitgehend  beeinflussen. 

Bei  der  Frage  der  Berufseignung  spielt  bereits 
die  Kenntnis  der  Körperkonstitution  eine  wichtige 
Rolle,  „hängt  doch  der  Erfolg  in  den  meisten 
Berufen,  weit  mehr  als  offen  zutage  liegt,  nicht 
nur  von  dem  erworbenen  Wissen,  sondern  auch  von 
der  körperlichen  Beschaffenheit  des  Einzelnen  ab". 
Martin  macht  sich  anheischig,  „durch  ein  genaues 
Studium  der  Körperproportionen  eines  Menschen 
ein  sicheres  Urteil  abgeben  zu  können  über  die 
Funktionstüchtigkeit  seiner  einzelnen  Körperteile 
und  damit  über  seine  spezielle  Leistungsfähigkeit 
und  Eignung  zu  gewissen  Berufen". 

Da  aber  der  Körper  ein  äußerst  verwickelter 
Merkmalkomplex  ist,  gilt  es,  die  wesentlichen 
Eigenschaften  auszuwählen  und  festzustellen. 
Martin  empfiehlt  zwölf  meßbare  und  vier  nur 
zu  beschreibende  Merkmale  bei  Schulunter- 
suchungen zu  berücksichtigen.  Die  Beteiligung 
an  der  Erhebung  ist  von  selten  der  Eltern  und 
Kinder  als  eine  freiwillige  gedacht.  Erforderlich 
ist  u.  a.  die  Vornahme  aller  Messungen  nach  einer 
einheitlichen  genau  vorgeschriebenen  Technik.  Es 
handelt  sich  dabei  zwar  um  Handhabung  recht 
einfacher  Instrumente,  aber  eine  Vertrautheit  mit 
ihnen  ist  dennoch  unerläßlich;  jeder  Lehrer  kann 
sie  leicht  erwerben.  Beachtenswert  sind  Martins 
Ausführungen  über  die  Zeit  der  Beobachtung.  Die 
in  dieser  Hinsicht  bestehenden  Schwierigkeiten 
sind  am  besten  zu  beheben,  wenn  in  jeder  Schule 
am  Anfang  des  Jahres  die  Schüler  nach  ihrem 
Geburtsdatum  in  Monatslisten  zusammengestellt 
werden.  Ungefähr  zwischen  dem  lO.  und  20.  eines 
jeden  Monats  werden  dann  die  in  diesem  Monat 
geborenen  Kinder  gemessen.  Unter  Umständen 
könnte  man  sich  auch  damit  begnügen,  die  Kinder 
in  Vierteljahrsgruppen  zusammenzufassen.  Ein 
solches  Verfahren  ist  wegen  der  Wachstums- 
periodizität  der  Kinder  erforderlich.  Das  Längen- 
wachstum des  Körpers  ist  „in  der  Zeit  von  April 
bis  Ende  Juli  am  intensivsten,  in  der  Zeit  vom 
August  bis  Dezember  aber  am  geringsten.  Um- 
gekehrt fällt  die  stärkste  Gewichtszunahme  in  die 
Sommer-  und  Herbstmonate,  während  im  Winter 
und  Frühjahr  das  Körpergewicht  wenig  oder  gar 
nicht  zunimmt.     Gewicht-    und  Längenwachstum 


verhalten  sich  also  alternativ.  Die  Zeit  der  größten 
Längenzunahme  ist  für  das  Kind  in  körperlicher 
und  geistiger  Hinsicht  die  ungünstigste;  hier  besitzt 
es  die  geringste  Widerstandskraft  und  Leistungs- 
fähigkeit, während  in  der  Periode  der  größten 
Gewichtszunahme  seine  gesundheitliche  und  geistige 
Verfassung  am  besten  zu  sein  pflegt." 

Das  bei  anthropologischen  Schuluntersuchungen 
gewonnene  Material  ist  vielseitig  verwendbar.  Es 
läßt  sich  daraus  z.  B.  der  Einfluß  der  sozialen 
Umwelt  auf  das  Wachstum  und  das  Körpergewicht, 
die  Wirkung  der  geographischen  Faktoren  auf  den 
Körperbau,  die  Rassenzusammensetzung  der  Be- 
völkerung usw.  ermitteln. 

Die  geplanten  Untersuchungen  sollen  unsere 
Einsicht  in  die  physiologischen  Prozesse  vertiefen 
und  beitragen,  einer  rationellen  Körperkultur  die 
Wege  zu  ebnen.  Dabei  ist  es  besonders  wichtig, 
auch  die  Zweckmäßigkeit  der  einzelnen  körper- 
lichen Übungen  festzustellen,  denn  jede  derselben, 
das  Turnen,  der  Sport  und  die  rhythmische 
Gymnastik,  hat  ihre  spezielle  Bedeutung,  und  sie 
alle  sollen  zur  Ertüchtigung  der  Jugend  heran- 
gezogen werden. 

Leibesübungen  finden  in  der  körperlichen  Ent- 
wicklung deutlich  Ausdruck.  Es  wurden  junge 
Männer  gemessen,  die  Turnvereinen  angehören, 
wobei  sich  ergab,  daß  „die  Leute  mit  einer 
mittleren  Turnzeit  von  2^/^  Jahren  in  sämtlichen 
Köpermerkmalen  diejenigen  übertrafen,  die  nur 
eine  4^/2 -monatliche  Turnzeit  hinter  sich  hatten. 
Der  Unterschied  zugunsten  der  erstgenannten 
Gruppe  betrug  für  die  Körpergröße  13  mm,  für 
das  Gewicht  4700  g,  für  den  Brustumfang  87  mm, 
den  Oberschenkelumfang  23  mm,  den  Oberarm- 
umfang 15  mm  und  den  Unterschenkelumfang 
17  mm."  Es  zeigte  sich  auch,  daß  das  Turnen 
kein  Auslese faktor  ist,  d.  h.  daß  die  länger 
Turnenden  nicht  schon  von  vornherein  die  besser 
Entwickelten  waren,  denn  die  erst  kurze  Zeit 
Turnenden  haben  sich  in  der  F"o]gezeit  in  gleicher 
Weise  entwickelt,  wie  die  länger  Turnenden.  Die 
Kräftigung  der  Muskulatur  durch  Leibesübung 
trägt  zur  Ausbildung  normaler  Wirbelsäulen- 
krümmungen bei,  und  ein  erweiteter  Brustkorb 
dehnt  die  Lunge  und  macht  sie  widerstandsfähig 
gegen  Tuberkulose.  Namentlich  in  den  Perioden 
raschen  Wachstums  erhöhen  Leibesübungen  die 
Widerstandskraft  der  Kinder  und  verhüten  oft, 
daß  krankmachende  Einflüsse  zur  Geltung  kommen 
können.  H.  Fehlinger. 


Weshalb  ist  die  Hirnrinde  gefaltet? 

Es  steht  längst  fest,  daß  die  Faltung  der  grauen 
Hirnrinde  nur  zum  allerkleinsten  Teil  ein  Aus- 
druck der  Intelligenzhöhe  des  Tieres  sein  kann, 
da  fast  ausnahmslos  kleinere  Tiere  eine  viel 
weniger  gefaltete  Hirnrinde  haben  als  ihnen  nahe 
verwandte  größere,  ja  es  ist  zum  Beispiel  bei 
kleinen  Nagern  die  Hirnrinde  einfach  glatt,  während 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


III 


sie  bei  größeren  mehr  oder  weniger  gefaltet  ist. 
Mit  anderen  Worten :  die  Natur  scheint  es  zu  ver- 
meiden, der  Hirnrinde  eine  größere  Dicke  zu 
geben  als  bis  zu  einem  bestimmten  Maß;  wird 
das  Tier  größer,  so  wird  die  Rinde  nicht  mehr 
dicker,  sondern  stattdessen  ausgebreiteter  und  da- 
her gefaltet.  So  ist  die  Rinde  der  Walgehirne 
sehr  stark  gefaltet.  Warum  dieses  Verhältnis  be- 
steht, darauf  gab  man  bisher  die  ziemlich  ein- 
leuchtend erschienene,  obwohl  nicht  ganz  ein- 
wanddichte Antwort,  dies  diene  der  besseren  Er- 
nährung, wobei  man  sowohl  an  die  erleichterte 
Blutzufuhr  wie  auch  an  den  erleichterten  Lymph- 
abfluß dachte  und  die  Furchen  des  Gehirns  ge- 
geradezu  Nährschlitze  genannt  hat.  Seitz  1887, 
Kükenthal  und  Ziehen   1889. 

C.  U.  Ariens-Kappers  greift  neuerdings 
dieses  Problem  in  anziehender  Weise  auf.^)  Ob 
man  seinem  Gedankengang  in  allen  Stücken  folgen 
wird,  ist  wohl  die  Frage,  und  es  sei  daher,  da 
ich  nicht  alle  seine  Betrachtungen  in  seinem  Sinne 
werde  wiedergeben  können,  außer  auf  das  folgende 
Referat  auch  nachdrücklich  auf  die  Originalarbeit 
hingewiesen.  Jedenfalls  zeigt  der  Verfasser  ein- 
leuchtend, daß  die  obige  Erklärung  nicht  genügen, 
ja  wohl  kaum  irgendwie  zutreffen  kann.  Denn 
das  von  ihm  beigebrachte  Tatsachenmaterial  be- 
steht in  dem  Hinweis  auf  zahlreiche  im  Innern 
des  Gehirns  gelegene,  also  zu  den  Ernährungs- 
wegen keine  bestimmte  Beziehung  innehaltende, 
gleichwohl  aber  sich  faltende  „Kerne",  d.  h. 
Ganglienzeil-  oder  kurz  „Grau"-Massen.  Ein  solcher 
Kern  ist  zum  Beispiel  die  Oliva  inforior  in  der 
unteren  Oblongata  des  Säugetiergehirns.  Ähnlich 
erweist  sich  die  dem  weißen  Hinterhorn  im  Rücken- 
mark auflagernde  graue  Substantia  gelatinosa 
Rolandi  ihrem  gefältelten  Querschnitt  nach  als 
„Oberflächenorgan",  ähnlich  sehr  deutlich  der 
Nucleus  dentatus  im  Kleinhirn  der  Säuger,  nicht 
minder  ist  der  Gollsche  Kern  bei  Cebus,  wo  er 
sehr  groß  ist,  rindenähnlich  lamelliert,  ferner  das 
Grau  der  absteigendenTrigeminuswurzel  beim  Pferd, 
der  Nucleus  laminaris  im  Acusticuskern  ver- 
schiedener Wirbeltiere  und  andere  mehr;  bei 
Fischen  mit  starker  Funktion  des  Sehorgans  faltet 
sich  das  Mittelhirndach  ein,  ebenso  das  Corpus 
geniculatum  externum  (Franz).  —  Auch  den 
der  Länge  nach  gefalteten  Sehnerven  von  Pleu- 
ronectes  zieht  der  Verfasser  als  Beispiel  kurz 
heran,  obwohl  er  doch  kein  Grau,  sondern  eine 
weiße  Fasermasse  ist,  also  kaum  hierher  passen 
kann.  Als  roten  Faden  durch  alle  diese  Angaben 
hindurchziehend  findet  Kappers,  daß  es  sämt- 
lich „Organe  der  Sensibilität  oder  Bestandteile 
aufsteigender  Bahnen  sind",  die  bei  stärkerer  Aus- 
dehnungOberflächenausdehnung  gewinnen.  Schließ- 

')  C.  U.  Ariens-Kappers:  Über  das  Rindenproblem 
und  die  Tendenz  innerer  Hirnteile,  sich  durch  Oberflächen- 
yermehrung  statt  Volumzunahme  zu  vergrößern.  In :  Folia 
neuro-biologica,    Band    VUI,    Nr.  5,    :9I4.  Seite  507  bis  531. 


lieh  ist  die  Großhirnrinde  selber  ein  Beispiel,  das 
um  so  mehr  auffällt,  weil  gerade  in  den  olfak- 
torischen, visuellen  und  sensiblen  Regionen  die 
Rinde  am  dünnsten  bleibt,  also  ihre  Vergrößerung 
am  meisten  durch  Flächenausdehnung  stattfindet. 
Diese  Erscheinungen  im  zentralen  Nervensystem, 
meint  Verfasser  weiter,  laufen  parallel  mit  Er- 
scheinungen in  der  Peripherie.  Die  Sensibilität  der 
Haut  ist  eine  Oberflächenausdehnung,  die  Akustik 
zeigt  in  der  gewundenen  Fläche  der  Scala  tym- 
pani  ein  Oberflächenbild,  die  Retina  zeigt  eine 
exquisite  Oberflächenausdehnung  von  wenigen 
Zellschichten,  und  der  Geruch  ist  bei  vielen  Tieren, 
bei  denen  diese  Qualität  mächtig  ist,  in  einer 
stark  lamellierten  Schleimhaut  der  Nase  lokalisiert. 
Diese  Tatsachen  dienen  teils  der  vermehrten 
Exposition  gegenüber  den  Reizen,  teils  deren 
besseren  Lokalisation.  „Wäre  es  angesichts  dieser 
Tatsachen  befremdend,  wenn  dasselbe  Prinzip  im  Ge- 
hirn wiederholt  würde  ?"  Verf.  meint  in  der  Tat,  daß 
„die  Zweckmäßigkeit  für  die  vermehrte  Reizauf- 
nahme und  die  leichtere  Erhaltung  des  lokalisatori- 
schen  Stigmas  durch  Flächenausdehnung  exquisit 
rezeptorischer  Teile  klar  ist"  und  sucht  nun  ferner- 
hin —  was  ja  stets  berechtigt  ist  ■ —  auch  nach 
einer  entwicklungsmechanischen  Erklärung  für  die 
Erscheinung,  denn  „die  Zweckmäßigkeit  erklärt 
eben  nicht  den  biologischen  Prozeß,  wodurch  diese 
Flächenausdehnung  zustande  kommt".  Für  diese 
Erklärung  zieht  er  vielmehr  die  Neigung  zur 
flächenartigen  Ausbreitung  des  Dendritengezweigs 
der  in  Frage  kommenden  Zellen  heran,  und  so 
erwähnt  er  aus  der  Retina  besonders  die  Hori- 
zontalzellen, aus  dem  Kleinhirn  die  Purkinje- 
schen  Zellen,  die  Dendriten  im  Rückenmark  von 
Ammocoetes.  Diese  Flächenausdehnung  der  Den- 
driten soll  nun  ihrerseits  auf  dem  Kappers  sehen 
Gesetz  der  Neurobiotaxis  beruhen,  nach  welchem 
die    Zellausläufer    der    maximalen    Reizentladung 

entgegenwachsen. Ganz  schön,    meine  ich, 

aber  ist  diese  Neurobiotaxis  wirklich  eine  „Taxis", 
etwas  irgendwie  physikochemisch  Erklärtes? 
Kappers  meint  es,  doch  könnte  ich  dazu  nur 
meine  Auffassung  wiederholen, ')  daß  die  Neuro- 
biotaxis bisher  nur  vergleichend-anatomisch  fest- 
steht und  nur  aus  Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten 
„erklärt"  werden  kann.  —  Wie  dem  nun  auch 
sein  mag,  es  scheint  vom  Verf.  treffend  darge- 
legt, daß  die  Oberflächenausbildung  jener  grauen 
Hirnmassen  eine  „inhärente"  ist.  „So  wird 
doch  auch  kein  Mensch  annehmen,  daß  ein  Knochen, 
ein  Muskel,  ein  Sinnesorgan  sich  nur  so  und  so 
gebaut  hat  wegen  einer  bestimmten  Blutzufuhr. 
Dazu  kommt,  daß  man  Organe  findet,  wie  die 
Leber,  wo  jede  Zelle  in  der  sorgsamsten  Weise 
von  Kapillaren  umgeben  ist,  und  doch  von  einer 
Flächenausdehnung  des  Organs   keine   Rede  ist." 

V.  Franz  (Jena). 


')  Naturw.  Wochenschr.   1919.  Nr.  29,  S.  414. 


112 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  7 


Goldschmidt,  Prof.  Dr.,  Rieh.,  Einführung  in 
die  Vererbungswissenschaft.      3.  neu- 
bearbeitete Auflage  mit  178  Abb.    Leipzig  1920, 
Wilh.  Engelmann. 
Kurz    nach    dem    Erscheinen    von    E.    Baurs 
„Vererbungslehre"  ist  nun  auch  Goldschmidts 
bekannte    „Einführung   in    die    Vererbungswissen- 
schaft"   neu  herausgekommen.      Das  Buch    weist 
in  der  Anordnung  und  Auswahl    des  Stoffes  eine 
große  Anzahl    von  Änderungen  auf,    die    teils  aus 
den    auch    während    der    Kriegsjahre    gemachten 
Fortschritten    auf  dem    Gebiet    der    Vererbungs- 
forschung  resultieren,    vor    allem    aber    auf  einer 
weher    vertieften    kritischen    Durcharbeitung    des 
bekannten  Tatsachenmaterials    wie    auf  einer  teil- 
weisen Umgruppierung    des  gesamten  Stoffes  be- 
ruhen. 

Schon  der  Abschnitt  über  die  Variabilität  zeigt 
derartige  Veränderungen.  Eine  größere  Einheit- 
lichkeit ist  hier  dadurch  erzielt,  daß  in  der  ersten 
Vorlesung  die  elementaren  Tatsachen  über  die 
Zellteilung  und  die  Chromosomen  in  Reifung  und 
Befruchtung  fortgelassen  sind  und  dafür  in  einer 
besonderen  Vorlesung  Platz  gefunden  haben,  die 
im  Anschluß  an  die  Besprechung  der  Spaltungs- 
gesetze den  gesamten  Chromosomenmechanismus 
bei  der  Mendelspaltung  behandelt.  —  Auch  die 
übrigen  Vorlesungen  über  die  Variabilität  weisen 
wesentliche  Änderungen  auf  Die  jetzt  am  Schluß 
des  ganzen  Abschnittes  stehende  Vorlesung  über 
die  IVIodifikabilität  hat  eine  merkliche  Verkürzung 
erfahren. 

Es  folgt  dann  wie  früher  am  Anfang  des  Haupt- 
teiles über  den  IVIendelismus  die  Besprechung  der 
Dominanz-  und  der  einfachen  Spaltungserschei- 
nungen. Alle  schwierigeren  Fälle,  wie  das  Auf- 
treten von  Neuheiten,  die  durch  ihre  Häufigkeit 
immer  mehr  an  Bedeutung  gewinnenden  Poly- 
merien, ferner  die  Koppelungen,  die  Lethalfak- 
toren  u.  a.  sind  dagegen  in  einem  Abschnht  über 
„höheren  Mendelismus"  zusammengestellt.  Hier 
finden  sich  auch  im  Anschluß  an  die  Besprechung 
der  Tatsachen  über  Geschlechtschromosomen,  ge- 
schlechtsbegrenzte Vererbung  und  ähnliches  die 
neuen  Forschungsergebnisse  von  Morgan  und 
seinen  Schülern  (an  der  Taufliege  Drosophila).  Die 
aus  ihnen  abgeleiteten  theoretischen  Folgerungen 
Morgans,  die  den  Mechanismus  der  Mendel- 
spaltung bis  in  seine  feinsten  Einzelheiten  aufzu- 
hellen scheinen,  wie  z.  B.  über  die  Lagerung  der 


Bticherbesprechungen. 


Faktoren  im  Chromosom,  über  den  P"aktorenaus- 
tausch  zwischen  benachbarten  Chromosomen  u.  a. 
erfahren  dabei  eine  durchdringende  Erörterung. 

Das  eigentliche  Problem  der  Geschlechtsbe- 
stimmung ist  von  den  übrigen  Tatsachen  über 
Vererbung  des  Geschlechts  abgetrennt  und  in 
verkürzter  Form  in  der  vorletzten  Voriesung  dar- 
gestellt. Auch  die  früher  nur  kurz  im  Anschluß 
an  die  geschlechtsbegrenzte  Vererbung  diskutierte 
Frage  der  Intersexualität  wird  in  einer  besonderen 
Vorlesung  auf  Grund  der  neuen  Untersuchungen 
des  Verf.  und  seiner  Mitarbeiter  sehr  eingehend 
behandelt. 

In  der  Voriesung  über  die  Mutationstheorie 
hat  der  über  die  Oenotherafrage  handelnde  Teil 
eine  wesentliche  Umarbeitung  erfahren  im  Hin- 
blick auf  die  weitgehende  Klärung,  welche  dies 
Problem  inzwischen  durch  die  neu  hierzu  erschiene- 
nen Untersuchungen  insbesondere  durch  Renners 
Ergebnisse  und  ihre  Interpretation  gefunden  hat. 
Auch  der  Vorlesung  über  die  Vererbung  erwor- 
bener Eigenschaften  ist  die  kritische  Durcharbeitung 
besonders  anzumerken.  Hier  sind  Guthries 
jetzt  wohl  endgültig  widerlegte  Transplantations- 
versuche ausgemerzt.  Auch  fehlen  Kamm  er ers 
Versuche  über  die  Farbenvariationen  beim  Feuer- 
salamander und  andere  nicht  eindeutige  früher  oft 
zitierte  Befunde.  Denn  wie  der  Verf  selbst  ein- 
leitend betont,  ist  hier  „die  Interpretation  der  im 
Vordergrund  des  Diskussion  stehenden  Unter- 
suchungen in  letzter  Zeit  schwankend"  geworden. 
So  ist  in  fast  jedem  Kapitel  die  kritisch  sich- 
tende Hand  des  Verf.  zu  spüren.  Nur  einige  Un- 
genauigkeiten  auf  botanischem  Gebiet  bedürfen 
noch  der  Korrektur.  Die  Neuauflage  ist,  darin 
müssen  wir  dem  Verf.  recht  geben,  ein  fast  neues 
Buch  geworden,  das  seine  Aufgabe,  in  die  Ver- 
erbungswissenschaft einzuführen,  voll  und  ganz 
erfüllen  wird.  Um  so  mehr  ist  es  deshalb  zu  be- 
dauern, daß  es  dem  Verleger  trotz  der  Verwendung 
eines  überaus  dürftigen  Papiers  nicht  möglich  war, 
den  Preis  des  Buches  niedriger  anzusetzen.  Da- 
durch werden  naturgemäß  der  Verbreitung  dieses 
empfehlenswerten  Buches  in  den  Kreisen  der 
Studierenden  unserer  Hochschulen  leider  sehr  enge 
Grenzen  gezogen.  S.  V.  Simon-Göttingen. 

Literatur. 

Spitta,     Prof.    Dr.    O.,    Grundrifl    der    Hygiene.      Mit 
197  Textabb.     Berlin  '20,  J.  Springer.     36  M. 


Inhalt:  H.  Fncke,  Wind  und  WeUer  als  Feldwirkungen  der  Schwerkraft,  (s  Abb.)  S.  97.  Rud.  Zimmermann,  Über 
das  Vorkommen  des  Ziesels  in  Sachsen,  (i  Abb.)  S.  :o2.  —  Einzelberichte:  W.  Eitel,  Zinkblende  im  Basalt  des 
Buhls  bei  Kassel.  S.  104.  J.  Versluys,  Limulus,  ein  zum  Wasserleben  übergegangener  Arachnide?  S.  106.  G  A 
Brower  und  Jan  Verwey,  Beobachtungen  der  „Vogelwarte  Noordwijk  aan  Zee".  S.  I06.  R.  Zimmermann  Das 
Ende  des  Wisents.  S.  107.  O.  Bau  mgärtel,  Das  Problem  der  Zyanophyzeenzelle.  S.  108.  W.  Schuster'  Die 
Nahrung  der  am  Wasser  lebenden  Vögel.  (3  Abb.)  S.  109.  R.  Martin,  Die  Bedeutung  einer  anthropologischen  Unter- 
suchung der  Jugend.  S.  109.  C.  U.  Ariens -Kapp  ers,  Weshalb  ist  die  Hirnrinde  gefaltet?  S.  iio.  —  Bücher- 
besprechungen :  Rieh.  Goldschmidt,  Einführung  in  die  Vererbungswissenschaft.  S.  112.  —  Literatur:  Liste.  S.  112. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  BerUn  N  4,  luTalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  20.  Februar  1921. 


Nummer  8. 


Das  Problem  der  Wirtswahl  bei  den  parasitischen  Pilzen/) 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  Fritz 


I. 


Wenn  wir  von  parasitischen  Pilzen  sprechen, 
müssen  wir  zuerst  vorausschicken,  was  wir  unter 
diesem  Begriff  verstehen;  denn  von  den  Pilzen, 
die  nur  auf  totem  Substrat  exjstieren  können 
(Saprophyten),  gibt  es  mancherlei  Übergänge  (z.  B. 
Wundparasiten)  bis  zu  den  Formen,  die  unbedingt 
auf  lebendes  Gewebe  angewiesen  sind.  In  diesem. 
Aufsatz  werden  nur  die  letztgenannten  Typen, 
die  strengen  Parasiten,  berücksichtigt. 

Das  Problem  der  Wirtswahl  bildet  einen  guten 
Ausgangspunkt  zur  Diskussion  über  Neubildung 
biologischer  und  morphologischer 
Arten.  Doch  werde  ich  diese  Fragen  im  vor- 
liegenden Aufsatz  nicht  in  die  Besprechung  ein- 
beziehen, indem  ich  auf  einen  Vortrag  von  Ed. 
Fischer  verweise  (Fischer  1916).  Im  folgen- 
den wird  also  die  Wirtswahl  der  Parasiten  als 
gegebene  Tatsache  angenommen  und  nur  den 
Gründen  nachgegangen ,  die  sie  so  und  nicht 
anders  gestalten,  wie  sie  eben  ist. 

Daß  zwischen  den  strengen  Parasiten  und 
ihren  Wirten  innige  Beziehungen  existieren  müssen, 
ist  von  vornherein  anzunehmen;  denn  der  Pilz 
benutzt  die  Pflanze  nicht  nur  als  Wohnplatz,  son- 
dern auch  in  bezug  auf  seine  Nahrung  ist  er  voll- 
ständig auf  sie  angewiesen,  vermag  er  doch  nicht 
die  geringste  Spur  von  Baustoffen  selbst  zu  pro- 
duzieren. Dieser  tiefen  Abhängigkeit  wegen 
können  die  Gründe  von  Immunität  oder  Empfäng- 
lichkeit nicht  nur  durch  das  eine  der  beiden  Lebe- 
wesen bedingt  sein.  Pilz  und  Wirt  müssen  viel- 
mehr in  sehr  feiner  Weise  aufeinander  abgestimmt, 
aneinander  angepaßt  sein. 

Betrachten  wir  vorerst  die  Tatsachen  dieser 
Anpassung  und  der  dadurch  bedingten  Speziali- 
sation ohne  uns  über  ihre  Gründe  irgendwelche 
Vorstellung  zu  machen,  so  fällt  uns  die  außer- 
ordentliche Kompliziertheit  der  Verhältnisse  auf. 
Diese  möge  einleitend  an  Hand  einiger  Beispiele 
gezeigt  werden. 

Zuerst  möchte  ich  auf  die  bekannte  Erschei- 
nung hinweisen,  daß  die  Spezialisation  der  ein- 
zelnen Pilze  in  sehr  weiten  Grenzen  schwankt. 
So  ist  beispielsweise  der  sehr  häufige  „weiße  Rost" 
des  Hirtenläschchens  (Cystopus  candidus) 
nach  den  Untersuchungen  von  Eberhardt 
(Eberhardt  1904)  in  ein  und  derselben  biologischen 
Form  sowohl  auf  Capsella  als  auch  noch  auf 
mancher  anderen  Cruciferengattung  verbreitet. 
Für  Peronospora  parasitica  dagegen,  einer 
anderen    Kreuzblütler- bewohnenden  Peronosporee, 


Kobel  (Bern). 

hat  Gäumann  erwiesen  (Gäumann  1918),  daß 
sie  so  weitgehend  spezialisiert  ist,  daß  kaum  ein 
und  dieselbe  Form  Vertreter  verschiedener  Gattun- 
gen zu  befallen  vermag.  Ähnliche  Beispiele  ließen 
sich  aus  den  Versuchen  von  Stäger  (1905  — 10) 
mit  dem  Mutterkorn  der  Gräser  (Claviceps 
purpure a)  und  denjenigen  von  Bürens  mit 
Protomyces  (v.  Büren  191 5)  und  noch  aus 
anderen  Pilzgruppen  erwähnen.  Doch  möchte  ich 
nur  noch  anführen,  daß  man  in  den  sehr  zahl- 
reichen Untersuchungen  der  Rostpilze  fast  durch- 
weg weitgehende  Spezialisierung  gefunden  hat. 
Aber  gerade  hier  gibt  es  einige  interessante  Aus- 
nahmen, auf  die  ich  noch  zurückkommen  werde. 
Neben  Coleosporium-  Arten ,  P  u  c  c  i  n  i  a 
Isiacae  und  P.  subnitens  handelt  es  sich 
hauptsächlich  um  das  vielbesprochene  Cronar- 
tiumasclepiadeum.  Es  ist  dies  eine  Uredineen- 
Art,  die  ihre  Aezidiosporen,  d.  h.  ihre  geschlecht- 
lich entstehenden  Fortpflanzungsprodukte,  auf  der 
Kiefer  ausbildet.  Ihre  Uredo-  und  Teleutosporen- 
generation  lebt  für  gewöhnlich  auf  Vince  toxi - 
cumofficinale.  Ed.  Fischer  konnte  dann 
aber  einwandfrei  dartun  —  nachdem  schon 
Geneau  de  Liamarliere  dies  wahrscheinlich 
gemacht  hatte  — ,  daß  auch  Paeonia  befallen 
wird.  Seither  hat  besonders  Kle  bah  n  noch  eine 
ganze  Anzahl  anderer  Wirte  experimentell  aufge- 
funden und  zwar  aus  den  verschiedensten  Familien, 
wie  die  nachstehende  Zusammenstellung  zeigt: 
(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Es  ist  aber  ausdrücklich  hervorzuheben ,  daß 
dieser  Pilz  nicht  etwa  omnivor  ist ,  d.  h.,  daß  er 
nicht  auf  jede  beliebige  Pflanzenart  überzugehen 
vermag   (vgl.  hinterste  Kolonne    der   Tabelle). 

Betrachten  wir  nun  die  Wirtswahl  vom  Ge- 
sichtspunkt der  systematischen  Verwandtschaft 
der  Pilze  unter  sich  aus.  Da  sind  denn  auch 
wieder  alle  möglichen  Fälle  realisiert: 

Es  ist  allgemein  bekannt,  daß  morphologisch 
nicht  unterscheidbare  Formen  in  ihrer  Wirlswahl 
verschieden  sein  können.  Solche  biologische 
Arten  oder  Spezial  formen  hat  die  Forschung 
sehr  viele  bekannt  gemacht.  So  fand  ich,  um  nur 
ein  Beispiel  anzugeben  (Kobel  1920),  daß  Uro- 
myces  Trifolii  in  zwei  morphologisch  nicht 
verschiedene  Formen  zerfällt.  Davon  hat  die 
eine  als  Hauptwirt  Trifolium  pratense,  geht 
daneben    auch    auf  andere    Trifolien    über,    nicht 


')  Dieser  Aufsatz  wurde  als  Vortrag  im  Winter  1919/20 
in  der  ,, Bernischen  botanischen  Gesellschaft"  gehalten  und  für 
die  „Naturwissenschaftliche  Wochenschrift"  etwas  umgeändert. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Familien 
Asclepiadaceae: 

Ranunculaceae: 

Solanaceae: 
Scrophulariaceae: 

Verben  aceae: 


Balsaminaceae: 

Rosaceae: 
Tropaeolaceae: 


Wirte 

Vincetoxicum  officinale 
„  fuscatum 

Paeonia  officinalis 
„  peregrina 
„        tenuifolia 

Schizanthus  Graham! 

Fedicularis  palustris 
Nemesia  versicolor 

Verbena  teucrioides 
erinoides 


Immun 


Impatiens  balsaminea 


Grammatocarpus  volubilis 

Tropaeolum  minus 
„  majus 

„  Lobblanum 

,,  canariense 


P.  silvatica 


V.  officinalis 
„  Aublietia 
„  biseriata 
„  bonariensis 
„  bracteosa 
„  urticifolia 
„  venosa 

J.  nolitangere 
„  glandulosa 
„    parviflora 


aber  auf  T.  ochroleucum.  Die  andere  wird 
auf  T.  ochroleucum  gefunden,  ging  in  den 
Versuchen  auf  weitere  Arten  über,  nie  dagegen 
auf  T.  pratense.  Von  Interesse  für  unsere 
Frage  ist  dabei,  daß  trotz  dieser  offenbaren  bio- 
logischen Verschiedenheit  einige  gemeinsame 
Wirte  aufgefunden  wurden  (T.  alpinum,  ar- 
vense,  pannonicum,  squarrosu m). 

Angesichts  dieser  verschiedenen  Wirtswahl  von 
morphologisch  nicht  unterscheidbaren  Formen 
verwundern  wir  uns  durchaus  nicht,  daß  Pilze  aus 
Gruppen,  die  im  System  weit  auseinander  liegen, 
auf  demselben  Wirtspflanzenkreis  nicht  die  gleiche 
Auswahl  treffen.  Ich  verweise  auf  die  Umbelli- 
feren  bewohnenden  Puccinia-  und  Protomyces- 
Arten  und  auf  die  Gramineen-Bewohner  unter  den 
Rostpilz-  und  Claviceps- Arten. 

Dagegen  wurde  auch  beobachtet,  daß  mor- 
phologisch verschiedene  Arten  fast  durchweg  die- 
selben Wirte  befallen.  Dies  gilt  z.  B.  für  Pucci- 
nia Jaceae  und  P.  Centaureae  f.  spec. 
Transalpinae,  wie  Hasler  (1918)  nachge- 
wiesen hat. 

Einen  interessanten  Fall  fand  ich  auch  unter 
meinen  Versuchsobjekten  (Kobel  1.  c).  Uro- 
myces  Trifolii-hybridi,  U.  Trifolii-re- 
pentis  und  U.  flectens  sind  offenbar  einander 
nahe  verwandte  Spezies.  Denn  weder  in  ihren 
Aezidien  oder  Uredosporen  (wo  solche  vorkommen), 


noch  in  ihren  Teleutosporen  zeigen  sie  greifbare 
Unterschiede.  Auch  die  Wirtswahl  ist  in  weit- 
gehendem Maße  identisch.  Dagegen  weichen  die 
3  Arten  im  Entwicklungsgang  sehr  deutlich  von- 
einander ab. 

Von  großem  Interesse  für  die  Frage  der  Wirts- 
wahl ist  die  Erscheinung  des  Wirtswechsels, 
wie  sie  sich  am  ausgesprochensten  bei  den  Rost- 
pilzen findet.  Es  zeigt  sich,  daß  die  Wirte  der 
beiden  Entwicklungsabschnitte  aus  systematisch 
meist  weit  entfernten  Gruppen  stammen:  Cupres- 
saceen  —  Rosaceen  (Gymnosporangien),  Abieiaceen 
—  verschiedene  Dikotylenfamilien  (Coleosporien 
nnd  Cronartien),  Papilionaceen  —  Euphorbiaceen 
(verschiedene  Uromyces-Arten)  usw.  Auch  der 
Grad  der  Spezialisation  ist  oft  in  beiden  Ab- 
schnitten sehr  verschieden.  Während  z.  B.  für 
Cronartium  asclepiadeum  und  einige 
Coleosporien  die  Aezidien  -  Generation  sehr 
spezialisiert  und  die  Uredo  -  Teleuto  -  Generation 
multivor  ist,  wurde  für  Puccinia  Isiacae  und 
P.  subnitens  das  Gegenteil  erwiesen. 

Als  Komplikation  für  die  Frage  der  Wirtswahl 
tritt  hinzu,  daß  man  nicht  zwischen  Anfälligkeit 
und  Immunität  schlechtweg  unterscheiden  kann. 
Es  kommen  vielmehr  alle  möglichen  graduellen 
Abstufungen  vor  zwischen  vollkommener  Wider- 
standsfähigkeit und  leichtestem  Befall.  So  findet 
man  z.  B.  häufig  —  um  nur  einen  solchen  Emp- 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


HS 


fänglichkeitsgrad  zu  kennzeichnen  — ,  daß  auf  be- 
stimmten Pflanzen  eine  Uredinee  wohl  Pykniden, 
nicht  aber  Aezidien  zu  bilden  vermag.  Doch  ist 
noch  eines  anderen  Punktes  zu  gedenken.  Der 
Amerikaner  Siakman  (1915)  hat  nämlich  er- 
wiesen, nachdem  schon  Ward,  Klebahn  u.  a. 
darauf  aufmerksam  gemacht  hatten,  daß  der  Nicht- 
befall  einer  Pflanze  auf  zwei  diametral  entgegen- 
gesetzten Gründen  beruhen  kann :  auf  der  Immu- 
nität im  eigentlichen  Sinne  und  auf  „Überempfäng- 
lichkeit". Stak  man  konnte  nämlich  beobach- 
ten, daß  oft  die  Keimschläuche  der  Uredineen- 
sporen  in  normaler  Weise  in  eine  Wirtspflanze 
eindringen  und  sich  dort  einige  Zeit  entwickeln. 
Dann  aber  töten  sie  die  Wirtszellen  in  ihrer  Um- 
gebung ab.  Da  nun  die  Rostpilze  strenge  Para- 
siten sind,  können  sie  in  diesem  abgestoibenen 
Gewebe  nicht  weiter  gedeihen  und  schaffen  sich 
so  durch  zu  intensives  Einwirken  selbst  ein  zu 
ihrem  Fortkommen  unbrauchbares  Substrat. 

II. 

Nachdem  wir  uns  die  Haupttatsachen  der 
Spezialisation  vergegenwärtigt  haben,  wollen  wir 
ihre  Ursachen  diskutieren. 

Wir  wollen  zuerst  die  Frage  berücksichtigen, 
ob  vielleicht  rein  pflanzengeographische 
Gründe  für  die  Wirtswahl  maßgebend  seien, 
so,  daß  ein  Pilz  sich  an  die  Pflanzen  angepaßt 
hätte,  die  an  seinem  ursprünglichen  Entstehungs- 
ort gerade  wuchsen.  Es  sind  wirklich  einige 
Beispiele  bekannt  geworden,  die  für  diese  Annahme 
sprechen.  So  hat  Stäger  (1905)  vom  Mutter- 
korn der  Gräser  eine  Spezialform  gefunden,  die, 
soweit  die  Versuche  reichen,  nur  die  beiden  wald- 
bewohnenden Gramineen  Brachypodium  sil- 
vaticum  und  Milium  effusum  befiel,  nicht 
aber  ihre  verwandten  Wiesenbewohner.  Ein 
anderes  schönes  Beispiel  hat  Ed.  Fischer  be- 
kanntgegeben. Es  handelt  sich  um  Uromyces- 
caryophyUinus,  einen  Rostpilz,  der  seine 
Aezidien  auf  Euphorbia  Seguieriana  (^  E. 
Gerardiana)  bildet.  Fischer  konnte  nun  dartun, 
daß  dessen  Teleutosporengeneration  im  Wallis 
(Schweiz)  in  gleicher  Weise  sowohl  Saponaria 
ocymoidesals  auch  Tunica  prolifera  befällt. 
Mit  Infektionsmaterial  aus  dem  Großherzogtum 
Baden  konnte  er  die  Tunica  sehr  stark,  die  Silene 
aber  nur  äußerst  schwach  infizieren.  Da  die  letzte 
in  Baden  nicht  vorkommt,  liegt  hier  eine  sehr 
schöne  Kongruenz  zwischen  Pflanzengeographie 
und  Wirtswahl  vor.  Es  scheinen  dies  aber  Aus- 
nahmefälle zu  sein,  denn  in  weitaus  den  meisten 
Untersuchungen  zeigt  sich,  daß  die  Spezialisation 
mit  der  Verbreitung  der  Wirtspflanzen  nicht 
parallel  geht.  Ich  verweise  nur  auf  das  Cronartium 
asclepiadeum  (vgl.  die  Tabelle),  das  eine  Menge 
Pflanzen  zu  befallen  vermag,  die  in  seinem  natür- 
lichen Verbreitungsgebiet  —  und  dieses  ist  durch 
die  Kiefer  bedingt  —  nicht  vorkommen. 

Lange  hat  man  geglaubt,  die  Immunität  mit 
gewissen  morphologischen  Eigentümlichkeiten 


der  betreffenden  Pflanzen  erklären  zu  können. 
Es  liegt  ja  nahe,  etwa  eine  dicke  Cuticula  oder 
Epidermis  oder  einen  dichten  Haarbesatz  als  Schutz- 
mittel anzunehmen.  Dies  mag  in  einigen  Fällen 
berechtigt  sein,  ist  aber  sicher  nicht  von  großer 
oder  gar  allgemeiner  Bedeutung. 

Dann  hat  man  vielfach  versucht,  die  Empfäng- 
lichkeit mit  der  systematischenVerwandt- 
schaft  zu  parallelisieren.  Man  hat  dafür  wirklich 
einige  schöne  Beispiele  gefunden,  wovon  ich  be- 
sonders die  Puccinia  Hieracii  anführen  will. 
Diese  Sammelart  zerfallt  zuerst  in  zwei  Unterarten; 
sie  weisen  geringe  morphologische  Unterschiede 
auf;  davon  lebt  die  eine  nur  auf  Euhieracien,  die 
andere  ausschließlich  auf  der  Untergattung  der 
Piloselloiden.  Jede  von  ihnen  zerfällt  dann  weiter 
in  eine  Anzahl  Spezialformen,  die  auch  in  recht 
weitgehendem  Maße  der  weiteren  Aufteilung  der 
Gattung  Hieracium  folgen.  Als  ferneres  Beispiel 
dieser  Art  möchte  ich  die  Resultate  anführen,  die 
Schweizer  (1919)  mit  einer  Compositen  -  be- 
wohnenden Peronosporee,  dem  Verursacher  der 
unter  dem  Namen  „Salatschimmel"  bekannten 
Krankheit  des  Salates  und  vieler  anderer  Compo- 
siten, erhielt.  Diese  BremiaLactucae  zerfällt 
in  eine  Anzahl  Spezialformen,  wovon  jede  nur 
Vertreter  von  einer  Gattung  befällt,  nicht  aber 
auch  —  soweit  wenigstens  die  eingehenden  Ver- 
suche reichen  —  auf  Vertreter  anderer  Gattungen 
übergeht. 

Meist  liegen  die  Verhältnisse  aber  so,  daß  eine 
Art,  bzw.  Spezialform  vorzugsweise  Ver- 
treter einer  bestimmten  systematischen 
Gruppe  befällt,  daneben  aber  auch  auf  einzelne 
Vertreter  aus  verwandten  Gruppen  übergeht.  Je 
nach  dir  Infektionsweite  des  Pilzes  sind  diese 
Gruppen  bald  Gattungen,  bald  Untereinheiten  von 
solchen.  Daß  dem  so  ist,  zeigen  fast  alle  mit  einer 
genügend  großen  Anzahl  Pflanzen  ausgeführten 
Versuche,  so  z.  B.  die  von  mir  mit  Trifolien  ■  be- 
wohnenden Uromyces -Arten  eingeleiteten  und  die 
von  Steiner  mit  den  Alchemillen-bewohnenden 
Formen  der  SphaerothecaHumuli  gemachten 
Experimente  (Steiner  1908).  Wichtig  für  unsere 
Frage  ist  die  Tatsache,  daß  auch  innerhalb 
der  Hauptnährpflanzengruppe  einzelne 
Arten  unempfänglich  sein  können.  Bei 
den  sehr  eingehend  studierten  Getreiderosten  hat 
man  sogar  gefunden,  daß  es  innerhalb  einer 
empfänglichen  Art,  ja,  innerhalb  einer  empfang- 
lichen Varietät,  Rassen  geben  kann,  die  praktisch 
immun  sind.  Es  ist  dies  ein  Resultat,  das  für 
die  Züchtung  widerstandsfähiger  Sorten  von  Kultur- 
pflanzen von  größter  praktischer  Bedeutung  ist. 

Sehen  wir  also  schon  in  diesen  Beispielen,  daß 
die  Empfänglichkeit  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  mit  der  systematischen  Verwandtschaft 
Hand  in  Hand  geht,  so  zeigt  das  mehrfach  erwähnte 
Cronartium  asclepiadeum  ein  Verhalten, 
das  gleichsam  jeden  derartigen  Parallelisierungs- 
versuch  verhöhnt.  Dieser  oft  großen  Willkür  und 
Unregelmäßigkeit    halber    ist    es    durchaus    nicht 


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ratsam,  umgekehrt  für  Pflanzen,  die  von  denselben 
Parasiten  befallen  werden,  eine  systematische  Ver- 
wandtschaft geltend  zu  machen,  wenn  nicht  zugleich 
auch  andere  Verhältnisse  (morphologische,  genetiche 
usw.)  im  gleichen  Sinne  sprechen. 

Wenn  wir  von  der  systematischen  im  Stich 
gelassen  werden,  so  haben  manche  Forscher  auf 
die  chemischeVerwandtschaft  hingewiesen 
und  dies  sicher  mit  viel  größerer  Berechtigung. 
Der  Pilz  ist  ja  in  höchstem  Maße  von  den  Stoffen 
der  Wirtspflanze  abhängig,  da  sie  seine  einzige 
Nahrungsquelle  darstellen. 

Wir  müssen  aber  diese  Verwandtschaft  näher 
zu  definieren  trachten,  indem  wir  das  Wesentliche 
im  komplizierten  Chemismus  der  Pflanze  heraus- 
suchen. Dies  sind  nun  unzweifelhaft  die  Ei  weiß - 
Stoffe,  die  ja  als  die  eigentlichen  Träger  der 
Lebenserscheinungen  anzusehen  sind.  Obschon 
man  chemisch  von  ihnen  leider  wenig  weiß,  ist 
doch  sicher,  daß  sie  große  und  komplizierte 
Moleküle  darstellen,  und  daß  infolge  der  Isomerie 
—  worauf  für  unsere  Frage  besonders  Heske 
hinweist  —  eine  unübersehbare  Anzahl  unter  sich 
wenig  verschiedener  Eiweiße  existieren  kann. 
Daß  sie  faktisch  existiert,  hat  die  Serodiagnostik 
erwiesen,  indem  sie  verschiedene  Methoden  zur 
biologischen  Eiweißdifferenzierung  gefunden  hat. 
Diese  sind  bereits  so  verfeinert,  daß  man  sogar 
Varietäten  einer  Art  in  ihren  Eiweißen  auseinander 
halten  kann.  Daneben  existieren  aber  auch 
Methoden,  die  dazu  taugen,  große  Unterschiede, 
wie  sie  z.  B.  zwischen  Familie  und  Familie  vor- 
kommen, nachzuweisen. 

Auf  den  ersten  Blick  scheinen  die  Ergebnisse 
der  Serodiagnostik  für  unsere  Frage  keine  Be- 
deutung haben  zu  können,  denn  sie  zeigen,  daß 
die  Eiweißverwandtschaft  mit  der  systematischen 
parallel  zu  gehen  scheint,  und  diese  haben  wir 
ja  als  nicht  durchaus  maßgebend  für  die  parasitäre 
Wirtswahl  erkannt.  Aber  die  Verhältnisse  liegen 
bei  weitem  nicht  so  einfach.  Vor  allem  ist  zu 
bedenken,  daß  die  Eiweißähnhchkeit  nicht  immer 
durch  die  stammesgeschichtliche  —  was  soviel 
heißt,  wie  systematische  —  Verwandtschaft  bedingt 
sein  muß.  Es  können  vielmehr  auch  Konvergenzen 
in  den  Eiweißstoffen  systematisch  weit  auseinander 
Stehender  Lebewesen  möglich  sein,  ein  Punkt,  der 
auch  von  den  Serodiagnostikern  zugegeben  wird. 
So  müßten  denn  Vincetoxicum  officinale, 
Nemesiaversicolor,Tropaeolum  und  alle 
die  anderenWirtedesCronartium  asclepiadeum 
unabhängig  von  ihrer  Stammesgeschichte  gewisse 
Eiweißähnlichkeiten  erworben  haben.  Diese  fürs 
erste  fast  unmöglich  anmutende  Forderung  gewinnt 
durch  die  Untersuchungen  von  Thöni  und 
Thaysen  (1915)  bedeutend  an  Wahrscheinlich- 
keit. Sie  konnten  nämlich  dartun,  daß  ein  und 
dieselbe  Pflanzenart  mehrere  Eiweiße  besitzt.  Es 
gelang  ihnen  bei  Weizen,  Roggen  und  Gerste  eine 
ganze  Anzahl  durch  fraktionierte  Ausfällung  mit 
Ammoniumsulfat  zu  isolieren  und  ihre  Verschie- 
denheit  dann  auf  serodiagnostischem  Wege  dar- 


zutun. Diese  Forscher  weisen  selbst  darauf  hin, 
daß  man  das  Problem  der  parasitischen  Pilzwahl 
damit  in  Zusammenhang  bringen  könne,  sind  sich 
aber  bewußt,  daß  Einwände  dagegen  zu  gewär- 
tigen seien.  Diese  verlieren  aber  bedeutend  an 
Kraft,  wenn  man  auch  den  Einfluß  anderer  Fak- 
toren, auf  die  ich  noch  zurückkommen  werde, 
nicht  vergißt. 

Daß  unter  der  Zahl  der  Eiweißstoffe  in  den 
verschiedenen  Wirten  des  Cronartiums  asclepiadeum 
nun  auch  gewisse  gemeinsame  Typen  vorkommen 
können,  erscheint  uns  schon  viel  wahrscheinlicher. 
In  diesem  Zusammenhang  betrachtet,  erscheint  es 
interessant ,  daß  dieser  Rostpilz  zwei  Wirte  mit 
einigen  ebenfalls  mullivoren  Coleosporien  gemein- 
sam hat  (Schizanthus  Grahami  und  Tropaeolum 
minus).  Ferner  wird  Tropaeolum  majus  zugleich 
von  Cronartium  und  der  vielleicht  in  ihrer  Wirts- 
wahl noch  extremeren  Puccinia  Isiacae  befallen. 
Diese  hat  wiederum  sechs  Gattungen  mit  der 
vierten  multivoren  Uredinee,  mit  Puccinia  sub- 
nitens,  gemeinsam;  davon  stimmen  drei  sogar 
in  den  Arten  überein  (dies  nach  den  Unter- 
suchungen von  Klebahn,  Tranzschel, 
Arthur  und  Bethel  zusammengestellt).  Es 
ist  möglich,  daß  in  weiteren  Untersuchungen 
eine  noch  größere  Übereinstimmung  gefunden 
wird.  Es  scheinen  demnach  nicht  nur  die  ge- 
nannten Pilze  sehr  multivor,  sondern  ebenso  die 
betreffenden  Pflanzen  sehr  empfänglich.  Dies  kann 
seinen  Grund  darin  haben,  daß  gewisse,  von 
mehreren  Pilzen  ausnutzbare  Eiweißstoffe,  immer 
wieder  auftreten,  ohne  daß  in  den  befallenen 
Pflanzen  andere  chemische  Verbindungen  vorkom- 
men, die  einen  Befall  durch  den  Parasiten  ver- 
hindern. Es  wäre  höchst  wünschenswert  —  und 
Ed.  Fischer  hat  diesen  Gedanken  schon  1916 
(1.  c.)  geäußert  — ,  daß  Serodiagnostik  und  Myko- 
logie zusammenarbeiten ,  um  diese  interessante 
Frage  abzuklären.  Dabei  dürfte  man  allerdings 
vor  den  feinsten  Methoden,  und  besonders  vor 
einem  Isolierungsversuch  der  verschiedenen  Ei- 
weiße, nicht  zurückschrecken. 

Aus  den  bisher  gemachten  serodiagnostischen 
Versuchen  ist  für  unsere  Frage  noch  nicht  viel  abzu- 
leiten. Doch  muß  ich  eine  Angabe  vonWendelstadt 
undFellner(i9ii)erwähnen.  Sie  konnten  nämlich 
konstatieren,  daß  ImpatiensBalsaminea  mit 
Tropaeolum  minus  —  wenn  auch  nur  schwach 
—  positiv  reagierte.  Und  sie  erklären  es  als  auf- 
fallend, daß  hier  zwei  Pflanzen  aus  verschiedenen 
Familien  in  ihren  Eiweißen  so  nahe  übereinstim- 
men, daß  sie  (in  ihrer  Versuchsdisposition  1)  eine 
Verwandtschaft  anzeigen.  Für  uns  hat  dieser 
Punkt  aber  besondere  Bedeutung  dadurch,  daß 
die  beiden  Pflanzen  zugleich  Wirte  des  Cronar- 
tium asclepiadeum  sind. 

Wir  müssen  aber  noch  auf  andere  Faktoren 
hinweisen,  die  die  Verhältnisse  noch  unübersicht- 
licher gestalten  können.  Vorerst"  haben  wir  zu 
berücksichtigen,  daß  in  der  Wirtspflanze  noch 
sehr    viele    andere   Stoffe    als    nur  Eiweiße    vor- 


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banden  sind,  Verbindungen,  die  unter  Umständen 
auch    von    Bedeutung    für    den  Pilz  sein    können. 
So    hat   V.   Kirchner    gefunden,    daß    zwei    für 
Gelbrost    empfängliche    Weizensorten    einen    ge- 
ringeren Säure-,    dafür   aber  einen    bedeutenderen 
Dextrosegehalt  aufwiesen  als  zwei  wenig  empfäng- 
liche.      Ähnliches    hat    er    für    den    Befall    durch 
Steinbrand  dargetan  und  war  schon  vor  ihm  für  den 
Rebenschädling    Peronospora    viticola     be- 
kannt.     Er   ist  geneigt,    diesen  Verschiedenheiten 
die  Schuld  am  Befall  oder  Nichtbefall  zuzuschreiben. 
Dabei  darf  man  nicht  vergessen,    daß    solche  Re- 
servestoffe   (und    Stofifwechselprodukte) ,    von    Art 
zu  Art  bekanntHch,  im  Gegensatz  zu  den  Eiweißen, 
sowohl    in  quantitativer    als    auch    in    qualitativer 
Hinsicht,  sehr  variabel  sein  können.    Es  ist  daher 
sehr  virohl  möglich,  daß  ihnen  manche  Art  inner- 
halb der  oben  erwähnten  Hauptnährpflanzengruppe 
die  Immunität  gegenüber  einem  bestimmten  Para- 
siten verdankt.    Da  diese  Stoffe  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grad    auch    von    äußeren  Einflüssen,    z.  B. 
der  Düngung,  abhängig  sind,  könnten  indirekt  auch 
die  Infektionsmöglichkeiten  der  Pilze  einigermaßen 
beeinflußt    werden.      Doch    hebt    v.    Kirchner 
nachdrücklich   hervor,   daß    die  Anfälligkeit    (bzw. 
Widerstandsfähigkeit)  durchaus  erbliches  IMerkmal 
sei.     Dies    ist    natürlich    für   die   Beurteilung   der 
ganzen  Frage  von  fundamentaler  Bedeutung,  speziell 
auch    für   die  Züchtung  widerstandsfähiger  Sorten 
unserer  Kulturpflanzen. 

Ein  interessantes  Beispiel,  das  auch  in  diesen 
Zusammenhang  gehören  dürfte,  führt  Lang  an. 
Er  experimentierte  nämlich  unter  anderen  mit 
einer  für  den  Gelbrost  (Puccinia  gluniarum) 
nicht  empfänglichen  Weizensorte.  Infizierte  er 
aber  die  betreffenden  Pflanzen  vorher  mit  dem 
Brandpilze  Tilletia  Tritici,  so  verloren  sie 
ihre  Immunität  gegenüber  dem  Rostpilz.  Lang 
nimmt  wohl  mit  Recht  an,  daß  durch  das  Auf- 
lösen des  Tilletiamyzels  der  Chemismus  der  Weizen- 
sorte verändert  wurde. 

III. 

Suchen  wir  uns  zum  Schluß  noch  eine  Vor- 
stellung über  die  Vorgänge  bei  derNahrungs- 
aufnahme  der  parasitischen  Pilze  zu  machen; 
denn  das  Wie  der  Aufnahme  könnte  geeignet 
sein,  auch  einige  Anhaltspunkte  über  die  Wirts- 
wahl selbst  zu  liefern. 

Wir  dürfen  von  vornherein  nicht  annehmen, 
daß  die  Eiweißsubstanzen  der  Wirtspflanzen  als 
solche  aufgenommen  werden.  Wir  müssen  viel- 
mehr annehmen,  daß  die  Pilze  Fermente  aus- 
scheiden, die  fähig  sind,  die  komplexen  Moleküle 
zu  zerlegen.  Auf  diese  Fermentwirkung  hat  neben 
anderen  Forschern  besonders  Heske  hingewiesen. 
Die  Teilstücke  des  Eiweißes  müssen  jedenfalls  so 
klein  sein,  daß  sie  durch  die  Haustorienwand  des 
Parasiten  hindurchzutreten  vermögen.  Erst  dann 
kann  der  Pilz  sie  aufnehmen  und  in  Teile  von 
sich  selbst  umwandeln. 

Ehrlich^ denkt   sich   das  Eiweißmolekul   zu- 


sammengesetzt aus  einem  „Kern"  von  unbekannter 
chemischer  Zusammensetzung,  an  den  die  sog. 
„Seitenketten"  gebunden  sind.  Er  stellt  sich 
darunter  gewisse  chemische  Gruppierungen  vor, 
die  fähig  sind,  sich  mit  bestimmten  chemischen 
Stoffen  zu  vereinigen.  Ist  diese  Bindung  geschehen, 
so  entstehen  im  Eiweißmolekül  drin  Umlage- 
rungen,  die  die  aufgenommene  Substanz  in  Teile 
des  aufnehmenden  Organismus  selbst  umwandeln. 
Diese  Gedankengänge  bilden  die  Grundlage  zu 
E h r  1  i c h s  berühmter  „Seitenkettentheori e", 
die  in  der  Immunitätslehre  eine  so  bedeutende 
Rolle  spielt.  Die  weiteren  Punkte  dieser  Theorie 
können  wir  für  unsere  Frage  entbehren.  Für  uns 
ist  wichtig,  daß  die  Seitenketten  des  Pilzeiweißes 
—  gleichsam  als  Fangarme  wirkend  —  sich  mit 
den  durch  die  Fermente  gebildeten  Teilprodukten 
des  Pflanzeneiweißes,  unfd  mit  anderen  geeigneten 
Produkten  der  Pflanzenzelle,  verbinden  können. 
Ja,  es  erscheint  möglich,  daß  sie  diese  sogar  in- 
folge der  chemischen  Valenz  durch  die  Haustorien- 
membran  hindurchzuziehen  vermögen.  Nun  sind 
drei  Fälle  denkbar: 

1.  Die  aufgenommene  Substanz  kann  so  an 
eine  Seitenkette  gebunden  werden,  daß  sie  nach- 
her durch  intramolekulare  Umwandlungen  ver- 
arbeitbar ist. 

2.  Sie  kann  mit  einer  Seitenkette  eine  so  feste 
Bindung  eingehen,  daß  sich  dieser  intramolekulare 
Umbau  nicht  mehr  zu  vollziehen  vermag.  Abge- 
sehen davon,  daß  der  aufgenommene  Teil  so  für 
den  Pilz  nutzlos  wird,  ist  für  ihn  auch  ein  „Fang- 
arm" verloren,  da  die  Seitenkette  durch  die  feste 
Bindung  gleichsam  lahmgelegt  wird. 

3.  Und  schließlich  ist  auch  der  Fall  denkbar, 
daß  ein  aufgenommener  Stoff  zu  den  Seitenketten 
des  Pilzeiweißes  gar  keine  Affinität  besitzt  (wenn 
in  diesem  Fall  überhaupt  eine  Aufnahme  erfolgt). 

Weil  nun  sowohl  bei  den  Eiweißstoffen  der 
Wirtspflanzen  als  auch  bei  denjenigen  der  Pilze 
eine  große  Mannigfaltigkeit  möglich  ist,  und  weil 
auch  eine  große  Anzahl  von  Fermenten  in  Be- 
tracht kommen  kann,  verwundert  uns  die  große 
Vielgestahigkeit  in  der  Wirtswahl  durchaus  nicht. 
Daß  die.«e  aber  in  den  weitaus  meisten  Fällen  mit 
der  systematischen  Verwandtschaft  der  Wirte 
Hand  in  Hand  geht,  wird  verständlich  durch  die 
damit  mehr  oder  weniger  parallel  gehende  Ei- 
weißverwandtschaft. 

Die  Unempfänglichkeit  könnte  nach  dieser 
Hypothese  ihren  Grund  in  einer  Lahmlegung  der 
Seitenketten  haben,  wenn  nicht  schon  die  Fer- 
mente des  Pilzes  ungeeignet  waren  zum  Auflösen 
des  betreffenden  pflanzlichen  Eiweißes.  Die  Uber- 
empfänglichkeit  dagegen  ist  wohl  am  einfachsten 
als  zu  heftiges  Einwirken  der  Fermente  erklärbar, 
da  man  ja  ein  Absterben  der  Wirtspflanzenzellen 
konstatiert. 

Eine  geringe  Änderung  im  Chemismus  des 
Pilzes  —  sei  sie  nun  durch  Mutation  oder 
sonstwie  entstanden  —  hätte  sogleich  eine  Ände- 
rung in  der  Wirtswahl  zur  Folge,  also  die  Bildung 


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einer  neuen  Spezialform.  Von  dieser  aus  ist  der 
Schritt  zu  einer  neuen  morphologischen  Art  kein 
großer  und  kaum  mehr  prinzipieller  Natur.  Man 
weiß  im  Grund  nie,  ob  bei  den  „biologischen 
Arten"  nicht  doch  geringe,  mit  den  derzeitigen 
Hilfsmitteln  nicht  beobachtbare  morphologische 
Unterschiede  vorhanden  sind,  und  die  Übergänge 
zu  „guten  Arten"  sind  ja  allmähliche. 

Überblicken  wir  noch  einmal  unser  Problem, 
so  erscheint  es  uns  als  sehr  wahrscheinlich, 
daß  die  Wirtswahl  in  erster  Linie  ab- 
hängig ist  von  den  Eiweißsubstanzen 
der  Wirtspflanzen.  Da  aber  ein  und 
dasselbe  Lebewesen  verschiedene  Ei- 
weißkörper besitzt,  und  da  ebenfalls 
Stoffwechselprodukte  und  Reserve- 
stoffe, sowie  morphologische  Eigen- 
tümlichkeiten von  Einfluß  sein  können 
und  indem  auch  verschiedene  Fermente 
entscheidend  einwirken  werden,  treten 
in  der  Wirtswahl  eines  Parasiten  viele 
Unregelmäßigkeiten  auf,  so  daß  sie 
nicht  durchaus  mit  der  systematischen 
Verwandtschaft  der  Wirtspflanzen  par- 
allel  geht.  Mit  H.lfe  der  Ehrlichschen 
Seitenkettentheorie  kann  man  sich  einigermaßen 
eine  Vorstellung  von  den  komplizierten  Wechsel- 
beziehungen machen.  Möge  bald  die  Eiweiß- 
chemie die  Hindernisse,  die  einen  tieferen  Einblick 
in  diese  Fragen  verwehren,  überwinden.  Dann 
wird  man  für  unser  Problem,  und  auch  für  die  sich 
eng  anschließende  Frage  der  Bildung  neuer  Formen 
im  Pflanzenreich,   auf  besserer   Grundlage  stehen. 


Literatur. 
Für  die  Literatur  über  die  Rostpilze  verweise  ich  auf  die 
alljährlichen  Zusammenstellungen  von  Ed.  Fischer  (Fischer, 
Ed.,  Publikationen  über  die  Biologie  der  Uridineen,  Zeitscbr. 
f.  Botanik). 

1.  V.  Büren,  G. ,  Die  schweizerischen  Protomycetaceen 
mit  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  Entwicklungsgeschichte 
und  Biologie.  (Beilr.  zur  Kryplogamenflora  d.  Schweiz  V,  I, 
1915)- 

2.  Eberhardt,  R.,  Contiibutions  a  l'etude  de  Cystopus 
candidus  (Centralblatt  f.  Bakteriologie  usw.  2.  Abt  XII 
1904.) 

3.  Fischer,  Ed.,  Der  Speziesbegrifif  und  die  Frage  der 
Speziesentstehung  bei  parasitischen  Pilzen.  (Verhandl.  Schweiz. 
Naturf.  Ges.  98.  Jahresvers.  Schuls   1916,  II.  Teil). 

4.  Gäumann,  E.,  Über  die  Formen  der  Peronospora 
parasitica.      (Beih.    z.    Bot.  Centralbl.  XXXV,    Abt.   I,   1918.) 

5.  Hasler,  R.,  Beitr.  z.  Kenntn.  d.  Crepis- u.  Centaurea- 
Puccmien  vom  Typus  d.  P.  Hieracii.  (Centralbl.  f.  Bakterio- 
logie usw.  Abt.  11,  48,   191S). 

6.  Kobel,  F.,  Zur  Biologie  der  Trifolien-bewohnenden 
Uromyces-Arten.     (Ibidem  52,   1920). 

7  Schweizer,  J.,  Untersuchungen  am  Salatschimmel, 
Bremia  Lactucae  Regel.  (Verh.  d.  thurgauisch.  naturf.  Ges. 
Hefl  23,   1919). 

8.  S  tag  er,  R.,  Verschiedene  Publikationen  in  Bot.  Zei- 
tung 51,  1003,  Centralbl.  f.  Bakteriologie  II.  Abt.  14,  190?: 
17,  1907;  20,   1908;  27,  1910. 

9.  S  t  a  k  m  a  n ,  E.  C,  Relation  between  Puccinia  graminis 
and  plants  highly  resistant  to  its  attack.  (Journ.  of  Agric. 
Res.  Vol.  44,   1915). 

10.  Steiner,  R. ,  Die  Spezialisation  der  Alchimillen- 
bewohnenden  Sphaerotheca  Humuli.  (Centralbl.  f.  Bakterio- 
logie usw.  21,   J908). 

11.  Thöni  und  Thaysen,  Zeitschr.  f.  Immunitätsf.  I, 
23,   1915,  S.  82—107,  vgl.  besonders  S.  106. 

12.  Wendelstadt  undFellmer,  ibidem  8,  1911. 
S-  43—57- 


Die  Birotationstheorie. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Hans  Passarge 

Die  neue  Theorie  der  Schwerkraft,  deren 
Grundzüge  hier  kurz  entwickelt  werden  sollen, 
hat  ihren  Ursprung  in  erkenntniskritischen  Er- 
wägungen zur  theoretischen  Mechanik.  Sie  stellt 
im  Sinne  der  Mechanik  von  Heinrich  Hertz 
einen  Versuch  dar,  die  unter  dem  Einfluß  der 
Gravitation  verlaufenden  gleichförmig  beschleu- 
nigten Bewegungen  auf  rein  gleichförmige,  nur 
dem  Trägheitsprinzig  unterliegende  Bewegungen 
zurückzuführen  oder  mit  anderen  Worten,  eine 
mechanische  Erklärung  für  Ursprung  und  Wesen 
der  Gravitation  zu  liefern.  ^) 

Nach  der  klassischen  Mechanik  Newtons  ist 
jede  Masse  Ursache  einer  Beschleunigung,  ohne 
daß  aber  der  Begriff  „Masse"  über  seine  mathe- 
matische Richtigkeit  und  Anwendbarkeit  hinaus 
definiert  wird.  In  dieser  Gestalt  erfordert  der  auf  die 
Mechanik  der  Himmelskörper  angewandte  Begriff 
„Masse"  eindeutig  die  Annahme,  daß  den  Himmels- 
körpern  eine   verschiedene  mittlere  Dichte  eigen- 

')  Heinrich  Hertz,  Die  Prinzipien  der  Mechanik,  in 
neuem  Zusammenhang  dargestellt.     Leipzig  1894. 


(Königsberg  i.  Pr.). 

tümlich  ist,  eine  Annahme,  die  sich  nicht  ohne 
weiteres  mit  sehr  bestimmten  Ergebnissen  der 
Astrophy.sik  in  Übereinstimmung  bringen  läßt. 
Eine  unbefangene  Überlegung,  d.  h.  eine  solche, 
der  der  Begriff  „Masse"  im  Sinne  Newtons  nicht 
vertraut  ist,  würde  viel  eher  auf  die  Annahme 
verfallen,  daß  die  mittlere  Dichte  aller  Himmels- 
körper die  gleiche  ist,  und  eine  Theorie  der 
Gravitation,  die  zu  einem  solchen  Ergebnis  führen 
würde,  würde  den  geschulten  Astronomen  und 
Physiker  zwar  befremden,  eine  Überlegung  aber 
befriedigen,  die  sich  ohne  Kenntnis  des  Gravitations- 
gesetzes, aber  mit  Kenntnis  der  Ergebnisse  der 
Spekt^o^kopie  zum  ersten  Mal  der  Frage  gegenüber- 
sähe, welche  Dichte  den  einzelnen  Himmelskörpern 
eigentümlich  ist.  Der  Begriff  einer  unterschied- 
lichen Dichte  ist  uns  nur  von  den  irdischen  Stoffen 
her  unmittelbar  geläufig,  denn  ohne  weiteres  und 
logisch  widerspruchslos  führen  wir  bei  zwei  ihrem 
Volumen  nach  gleichen,  ihrem  Gewicht  nach  aber 
verschiedenen  Körpern  den  Gewichtsunterschied 
auf  die  verschiedene  Dichte  zurück.  Die  Frage 
läßt  sich  aber  nicht  abweisen:   ob  es  logisch  zu- 


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lässig  ist,  den  Himmelskörpern  einen  Dichteunter- 
schied im  gleichen  Sinne  beizulegen,  wie  den 
irdischen  Körpern,  die  wir  greifen  und  wägen 
können.  Der  Zweifel  gründet  sich  vornehmlich 
darauf,  daß  die  Ergebnisse  der  Spektralanalyse 
selbstleuchtender  Himmelskörper  eine  sehr  weit- 
gehende Übereinstimmung  der  sie  zusammen- 
setzenden Stoffe  ausweisen.  Läßt  man  daraufhin 
die  heuristische  Hypothese  zu,  daß  alle  Himmels- 
körper, von  denen  eine  Attraktionswirkung  ausgeht, 
von  gleicher  mittlerer  Dichte  sind,  so  gerät  man 
sofort  mit  dem  Gravitationsgesetz  in  Widerspruch, 
von  dem  nur  die  weitere  Hypothese  befreien  kann, 
daß  zwar  ein  gewisser  Teil  des  Himmelskörpers 
inbezug  auf  seine  Dichtigkeit  dem  Zustand  ent- 
spricht, der  aus  dem  Gravitationsgesetz  abgeleitet 
werden  muß,  daß  aber  seine  weitaus  größere  Masse 
von  gleicher  Dichte  wie  die  mittlere  Dichte  der 
Erde  ist.  Eine  solche  Hypothese  ist  deshalb  logisch 
zulässig,  weil  es  sich  bei  den  Werten,  die  wir  für 
die  Masse  und  Dichte  der  einzelnen  Himmels- 
körper kennen,  immer  nur  um  relative  Werte 
handelt. 

Auf  dieser  Hypothese  also  fußt  die  Birotations- 
theorie,  indem  sie,  zunächst  nur  in  Anwendung 
auf  die  zum  Sonnensystem  gehörigen  Himmels- 
körper, voraussetzt,  daß  nur  die  äußeren  Erstar- 
rungs-  oder  Abkühlungsrinden  der  Planeten  und 
der  Sonne  in  ihrem  Dichtigkeitsverhältnis  den  aus 
dem  Gravitationsgesetz  abgeleiteten  verschiedenen 
Werten  entsprechen,  daß  aber  der  ganze  innere 
Kern  bei  allen  von  gleicher  mittlerer  Dichte  ist. 
Unter  solcher  Voraussetzung  würde  sich  wegen 
des  unterschiedlichen  Trägheitsmoments  von  Rinde 
und  Kern  die  Rotation  eines  Planeten  unter  ver- 
schiedenen Bedingungen  vollziehen,  und  es  wäre 
die  weitere  Annahme  zulässig,  daß  die  Rotation, 
die  wirklich  beobachtet  wird,  nicht  die  ursprüng- 
liche Rotation,  des  Planeten  ist,  sondern  —  im 
Rahmen  der  über  unbegrenzte  Zeitfristen  sich 
erstreckenden  kosmischen  Entwicklung  —  ein 
posthumer  Bewegungszustand  nur  der  Planeten- 
rinde, während  das  ganze  Innere  um  eine  anders 
gerichtete  innere  Achse  in  entgegengesetzter 
Richtung  rotiert.  Einen  äußeren  Anhalt  für  eine 
solche  Annahme  bieten  die  Eigenbewegungen  der 
Gebilde  auf  der  Oberfläche  von  Saturn,  Jupiter  und 
Sonne,  aber  es  bietet  sich  eine  schwache  Analogie 
auch  auf  der  Erde  selbst,  wenn  man  sich  der  Ent- 
stehung der  äquatorialen  Meeresströmungen  und 
der  Passatwinde  erinnert.  Beschränken  wir  zu- 
nächst die  Betrachtung  allein  auf  den  Planeten 
^  Erde,  so  gewinnen  wir  folgendes  Bild:  Die 
ganze  Erdrinde,  Lithosphäre  und  Atmosphäre 
als  eine  Einheit  genommen,  rotiert  von  Westen 
nach  Osten  im  Ablauf  eines  Sterntages  einmal 
um  die  Hauptträgheitsachse;  diese  Rotation  ist  ein 
Folgevorgang  der  hypothetischen  Rotation  des 
ganzen  Erdinnern  von  Osten  nach  Westen,  die  in 
kosmischer  Vorzeit  die  einzige  und  ursprüngliche 
Rotation  der  Urerde  war,  heute  aber  noch  als 
Innenrotation  fortdauert.     Aus  beiden  Rotationen 


resultieren  „Fliehkräfte",  und  aus  Gründen,  die 
wohl  in  der  atomistischen  Struktur  der  Materie  zu 
suchen  sind,  stehen  alle  der  Erde  zugehörigen 
Körper  unter  der  Einwirkung  beider  „Fliehkräfte", 
die  wir  uns  aber  nicht  als  Fliehkräfte  im  gewöhn- 
lichen Gebrauch  des  Wortes  vorzustellen  haben, 
sondern  als  Lageverrückungen  unter  dem  Ein- 
fluß gleichförmiger  Bewegungen.  Die  so  beein- 
flußten Körper  nehmen  dann  den  Weg,  der  sich 
als  Resultierende  eines  Wegeparallelogramms  ergibt, 
und  die  Resultierende  selbst  ist  nach  Richtung 
und  Strecke  der  freie  Fall.  Ist  dies  alles  richtig, 
dann  muß  sich  nachweisen  lassen,  daß  die  von 
einem  freifallenden  Körper  in  einer  Sekunde,  unter 
der  Annahme,  seine  Bewegung  erfolge  mit  gleich- 
förmiger Geschwindigkeit,  zurückgelegte  Strecke 
abzuleiten  ist  aus  den  gleichförmigen  Bewegungen, 
die  die  beiden  Rotationen,  weil  allein  dem  Trägheits- 
prinzip gemäß  verlaufend,  darstellen.  Man  kann 
aber  die  Fallstrecke  als  mit  der  halben  End- 
geschwindigkeit in  gleichförmiger  Bewegung 
zurückgelegt  ansehen  und  also  schreiben: 
I  2  ?r  (r  —  e) 

I)  -y- — T — 

wenn  /  in  m/sec'^  die  Schwerebeschleunigung,  r  den 
ganzen  Radius  der  Erde,  q  den  Radius  der  inneren 
Erdkugel  und  T  in  Sekunden  die  Frist  eines 
Sterntages  bezeichnen.  Die  Gleichung  ist  rein 
geometrisch  und  homogen,  weil  auf  beiden  Seiten 
beschleunigungslose  Bewegung  ausgedrückt  ist, 
nachdem  man  den  Wert  für  die  beobachtete 
Schwerebeschleunigung  g  so  auf  y  reduziert  hat, 
daß  er  der  Länge  eines  Sternzeit  Sekundenpendels 
entspricht.  Indem  wir  so  verfahren,  schalten  wir, 
ganz  im  Sinne  der  Hertz  sehen  Mechanik,  den 
Begriff  „Kraft"  aus  der  Überlegung  aus  und  führen 
jede  Bewegung,  die  man  sich  gewöhnlich  als  unter 
dem  Einfluß  von  Kräften  verlaufend  vorstellt,  auf 
eine  Bewegung  zurück,  die  nur  unter  dem  Träg- 
heitsprinzip verläuft.  Das  berechtigt  oder  vielmehr 
zwingt  zu  einer  geometrischen  Behandlung  des 
Problems.  Dann  entspricht,  wenn  man  dem  Radius 
der  Erde  r  den  Wert  i  gibt,  die  Länge  des  In- 
nenradius q  bezogen  auf  die  Erdoberfläche,  der 
Länge  eines  Sternzeit- Sekundenpendels  L,  und 
es  ist: 


—  =  —  oder  o  =  rL. 
r        I  ^ 


2) 

Setzt  man  diesen  Wert  für  q  in  Gleichung  i)  ein, 
so  erhält  man,  da  y  =  sr-L,  als  Wert  für  die  Länge 
des  mittleren  Erdradius: 


1)  r  =  —  TT  T j- 

•"  4  I  —  L 

Die  Ausrechnung  ergibt  in  Übereinstimmung 
mit  den  geodätischen  Messungen  für  r^^  den  Wert 
6  367  331m.  Für  q  ergibt  sich  der  Wert  6  300  370  m, 
und  der  Abstand  x—q,  also  die  Mächtigkeit  der 
Lithosphäre,  ist  dann  66961  m,  in  Übereinstim- 
mung mit  der  Rechnung  nach  geothermischen 
Tiefenstufen,    denen    zufolge   in    einer  Tiefe  von 


120 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


rund  6;  km  unter  der  Erdoberfläche  alle  auf  ihr 
bekannten  Stoffe  schmelzflüssig  sein  müssen.  Die 
Masse  der  Erde  muß  nun  nach  der  Birotations- 
theorie  definiert  werden  nicht  als  Masse  des  ganzen 
Erdballes,  sondern  als  Produkt  des  Rauminhalts 
der  Lithosphäre  in  die  mittlere  Dichtigkeit  der 
die  Lithospäre  zusammensetzenden  Stoffe.  Diese 
Dichtigkeit  hat  nach  den  Ergebnissen  der  Geo- 
logie und  der  Geophysik  den  runden  Wert  2,6; 
dem  Rauminhalt  der  Lithosphäre  entspricht  der 
Ausdruck  (i  — L)".  Das  Resultat  muß,  wenn  die 
Birotationstheorie  richtig  ist,  das  gleiche  sein  wie 
das  aus  der  allgemeinen  Gravitation  abgeleitete 
Ergebnis  für  die  Masse  der  ganzen  Erde.  In  der 
Tat  ist  (i— L)3  ■  2,6—1  :  330593.  Wir  dürfen 
also  sagen:  Der  aus  der  Birotationstheorie  abge- 
leitete Wert  für  die  Masse  der  Lithosphäre  ist, 
bei  nicht  ganz  sicherem  Wert  für  ihre  mittlere 
Dichte,  identisch  mit  dem  auf  Grund  der  allge- 
meinen Gravitation  abgeleiteten  Wert  für  die  Masse 
der  ganzen  Erde.  Der  Wert  für  L  ist  0.9894836  m, 
Log  (i—L)  =  0,0218671 —2.  Auf  welche  geo- 
graphische Breite  bei  vorstehenden  Ausrechnungen 
die  Länge  des  Sekundenpendels  zu  beziehen  ist, 
muß  zunächst  außer  Betracht  bleiben,  um  die 
weitere  Darstellung  der  Theorie  nicht  zu  ver- 
zögern und  zu  Beweisen  zu  gelangen,  die  noch 
eindringlicher  für  sich  selbst  sprechen. 

Wir  übertragen  die  Birotationstheorie  auf  die 
Bewegung  des  Systems  Erde -Mond.  Da  beide 
Himmelskörper  gemäß  unserer  Hypothese  von 
gleicher  Dichte  sein  sollen,  berechnet  sich  die 
Lage  des  Schwerpunktes  des  Systems  nicht  aus 
den  „Massen",  sondern  aus  den  Volumina.  Be- 
deutet R  den  Abstand  des  Mondes  vom  Schwer- 
punkt des  Systems,  und  P  den  Abstand  des  Erd- 
mittelpunktes vom  Schwerpunkt  des  Systems,  ist 
also  R  -f  P  der  aus  der  Mondparallaxe  berechnete 
Abstand  Erde  Mond,  und  V:  i  das  Volumenver- 
hältnis Erde  :  Mond,  dann  liegt  der  Schwerpunkt 
des  Systems  außerhalb  der  Erde,  1317000  m  von 
der  Oberfläche  entfernt,  und  es  muß,  wenn  die 
Theorie  richtig  ist,  der  Wert  für  die  Schwerkraft 
des  Mondes  sich  aus  seiner  Bewegung  um  den 
Schwerpunkt  des  Systems  ableiten  lassen.  Wir 
können  aber  auch  einfacher  verfahren,  indem  wir 
Erde  und  Mond  als  nur  einen  Himmelskörper 
auffassen  und  auf  eine  solche  fiktive  räumliche 
Einheit  die  Birotationstheorie  unmittelbar  wie  auf 
die  Erde  allein  anwenden.  Dann  haben  wir  in 
Gleichung  2)  r  durch  R  zu  ersetzen,  und  es  ist 
der  Quotient  q:R  gleich  der  Länge  des  Sekunden- 
pendels für  den  Mond,  ein  Wert,  der  mit  tt- 
multipliziert,  die  Schwerkraft  des  Mondes  im  Ver- 
hältnis zur  Schwerkraft  der  Erde  ergeben  muß. 
Ist  also  die  mittlere  Entfernung  Erde  Mond  aus 
der  Parallaxe  zu  38442OGOO  m  bestimmt,  so 
findet  man,  wenn  V:  1=49,504  das  Volumen- 
verhältnis ausdrückt,  nach  den  obigen  Angaben 
R  =  376 808  300  m  und  P  =761 1673  m.  Dann 
ist  ?7:2j5  R-i  =  0,165  S  die  Schwerkraft  des  Mondes, 
ein  Resultat,   das   mit   den   besten  Bestimmungen 


der  „Masse"  des  Mondes,  insbesondere  mit  der 
Bestimmung  von  Hinks  aus  Störungen  in  der 
Bahn  des  kleinen  Planeten  Eros,  vollkommen  über- 
einstimmt. Die  gleiche  Auffassung,  nämlich  die 
Auffassung  des  Systems  Erde-Mond  als  einer  Ein- 
heit, führt  aber  auch  zu  den  Relationen 

4) 


„       2  TT  R  dm 

g  T    t 


5) 


2   TT  P  V^ 


vi7orin  g  in  mjsec'^  die  Schwerebeschleunigung  der 
Erde,  R,  P  und  V  wie  oben  angegeben,  dm  ein 
unendlich  kleines  Massenteilchen,  T  einen  mittleren 
Sonnentag  in  Sekunden  und  t  die  Frist  einer 
synodischen  Lunation  in  mittleren  Sonnentagen 
bedeuten. 

In  Wahrheit  sind  Erde  und  Mond  ein  Doppel- 
stern. Die  Zusammenordnung  zweier  oder  mehrerer 
Himmelskörper  zu  Systemen  von  Doppelsternen 
oder  mehrfachen  Sternen  sind  wir  vielleicht  be- 
rechtigt, als  eine  allgemeine  Regel  im  Aufbau  des 
Kosmos  zu  verstehen,  i)  Das  Verhältnis  zweier 
gleich  schwerer,  durch  eine  gewichtslose  Stange 
verbundener  Körper  a  und  b  und  ihre  gleichförmige 
Bewegung  um  den  in  der  Mitte  ihres  Abstandes 
gelegenen  gemeinsamen  Schwerpunkt  können  wir 
uns  in  der  Weise  veränderlich  denken,  daß  a  an 
Größe  stetig  bis  zur  Größe  A  zunimmt  und  b 
stetig  bis  zur  verschwindend  kleinen  Größe  ß  ab- 
nimmt; dann  rückt  der  Schwerpunkt  immer  mehr 
nach  der  Seite  des  zunehmenden  Körpers,  während 
auf  beiden  Seiten  die  Bewegungsenergie  gleich 
bleibt.  Setzen  wir  dann  die  Veränderung  soweit 
fort,  daß  b  zu  /J  und  a  zu  A,  d.  h.  daß  die  Größe 
b  verschwindend  klein  gegen  A  und  demgemäß 
der  Abstand  des  Körperchens  ß  vom  Schwerpunkt 
des  Systems  unendlich  groß  wird  gegen  den  Ab- 
stand des  Körpers  A  vom  Schwerpunkt  des  Systems, 
so  daß  wir  also  keinen  Fehler  mehr  machen,  wenn 
wir  den  Schwerpunkt  des  Systems  mit  dem 
Schwer-  und  Mittelpunkt  des  Körpers  A  zusammen- 
fallen lassen,  dann  ist  ein  so  entstanden  gedachtes 
und  bewegt  vorgestelltes  System  mit  der  Zentral- 
bewegung eines  Körpers  von  kleinstem  Gewicht 
um  einen  festen  Punkt  identisch,  und  wir  stehen 
ganz  unter  dem  Emdruck,  als  ob  von  dem  festen 
Punkt  eine  „Kraft"  ausgeht,  die  das  Körperchen  ß 
nach  einem  Zentrum,  nämlich  nach  A  hinzieht. 
Übertragen  wir  nun  diese  Betrachtungsweise  auf 
ein  fingiertes  isoliertes  System  Sonne  Erde,  so 
dürfen  wir  nach  Analogie  mit  den  Relationen  4) 
und  5)  schreiben : 

4)'  r3^27tRfi 


r«  = 


T  t 

2  TT  ff  V 

T  t 


Hierin  bedeutet /'die  zunächst  nachStrecke/sec- 


')    W.    Trabert,    Kosmische    Physik.       Leipzig    191 1, 
S.  196. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


121 


noch  unbekannte  Anziehungskraft  der  Sonne  an 
ihrer  Oberfläche,  R  den  Abstand  der  Erde  vom 
Schwerpunkt  des  Systems  Sonne-Erde,  /<  die  Masse 
der  Erde,  a  den  verschwindend  kleinen  Abstand 
des  Sonnenmittelpunktes  vom  Schwerpunkt  des 
Systems ,  V  =  i  ^  das  Volumen  der  Sonne, 
T  in  Sekunden  einen  mittleren  Sonnentag,  t  in 
mittleren  Sonnentagen  die  Frist  eines  Jahres- 
umlaufes der  Erde.  Multipliziert  man  4)'  und  5)' 
miteinander  und  gibt  zugleich  der  verschwindend 
kleinen  Strecke  0  den  Wert  i  m,  dann  muß  auch 
auf  der  linken  Seite  F  in  Metern  ausgedrückt 
werden  und  man  erhält,  wenn  G  diese  in  m/sec" 
ausgedrückte  Schwerkraft  der  Sonne  ist: 

6)  G«=^f;^. 


Die  Ausrechnung  mit  den  Zahlenwerten  der 
einzelnen  Größen  bestätigt  die  Richtigkeit,  und 
die  Auflösung  der  Gleichung  nach  R  ergibt  für 
die  Berechnung  die  astronomische  Einheit: 

worin  k  die  Gaus  sehe  Sonnenkonstante  ist.    Die 

Gleichung  enthält  aber  auch  das  dritte  Keplersche 

Gesetz : 

R« 
,,  =  const. 

und  sie  bestätigt  damit  die  Richtigkeit  der  Biro- 
tationstheorie,  deren  Voraussetzung  es  eben  war, 
daß  alle  Himmelskörper,  von  denen  eine  Attraktions- 
wirkung im  Sinne  des  Newton  sehen  Gravitations- 
gesetzes ausgeht,  von  gleicher  Dichte  sind. 


Einzelberichte. 


Der  positive  Spitzenstrom. 


Die  elektrische  Entladung  zwischen  einer  Spitze 
und  einer  Platte  als  Elektroden  erfolgt  in  Gasen 
in  Form  des  sogenannten  Spitzenstroms.  Ist  die 
Spitze  Kathode,  d.  h.  negative  Elektrode,  so  ist 
selbst  bei  Atmosphärendruck  die  selbständige  Ent- 
ladung ein  Glimmstrom  mit  den  charakteristischen 
Kathodenlichtschichten.  Auch  bei  positiver  Spitze 
kann  sich  ein  Glimmstrom  ausbilden;  nur  zeigen 
sich  dann  die  leuchtenden  Kathodenschichten  an 
der  negativen  Plattenelektrode.  Unter  besonderen 
Bedingungen  (großer  Elektrodenabstand,  geringe 
Stromstärke  und  nicht  zu  niedriger  Gasdruck)  kann 
aber  bei  einer  Spitzenanode  eine  ganz  andere 
Entladungsform  auftreten,  wobei  die  Plattenkathode 
ganz  dunkel  bleibt  und  sich  nur  an  der  positiven 
Spitze  ein  Lichtbündel  zeigt.  Diese  ganz  andere 
Art  der  Entladung  wurde  von  Johannes  Stark  der 
, .positive  Spitzenstrom"  genannt.  Durch  Erhöhung 
der  Stromstärke  geht  der  positive  Spitzenstrom 
leicht  in  die  gewöhnliche  Glimmstromentladung 
über;  an  der  vorher  dunklen  Kathodenplatte  treten 
dann  die  Glimmstromkathodenschichten  auf  und 
gleichzeitig  sinkt  der  Spannungsabfall  an  der 
Spitzenanode  von  einigen  hundert  Volt  auf  den 
kleinen  Wert  des  Glimmstromanodenabfalls. 

Auf  Veranlassung  von  J.  Stark  untersuchte 
MaxWeth')  die  Leuchterscheinungen  des  posi- 
tiven Spitzenstromes  spektrographisch.  Um  ein 
helles  großes  Anodenlichtbüschel  zu  erzielen, 
erzeugte  Weth  den  positiven  Spitzenstrom  in 
Wasserstoff  von  nur  einigen  Millimetern  Gasdruck. 
Er  fand,  daß  bei  geringem  Druck  die  Anode 
durchaus  nicht  eine  scharfe  Spitze  zu  sein  braucht. 
Weth  benützte  zur  Erzielung  großer  Lichtstärke 
als  Anode  einen  Messingstift  von  1,5  bis  5  mm 
Durchmesser,  der  bis  an  sein  Ende  in  eine  Glas- 


')  Ann.  d.  Phys.  Bd.  62,  S.  58g — 602,  1920. 


röhre  eingeschmolzen  und  mit  dieser  zusammen 
glatt  abgeschliffen  war.  Trotzdem  war  an  der 
kleinen  ebenen  Anodenfläche  der  Spannungsabfall 
zur  Ausbildung  eines  positiven  Lichtbüschels  hin- 
reichend. Als  Entladungsgefäß  diente  ein  Liter- 
kolben mit  Quarzfenster.  Der  beschriebenen 
Anode  gegenüber  war  das  untere  Drittel  des  Glas- 
kolbens innen  versilbert  und  bildete  die  Kathode. 
Als  Stromquelle  diente  eine  Hochspannungs- 
dynamomaschine von  35CO  Volt,  von  der  beliebige 
Spannungen  abgenommen  werden  konnten. 

In  Wasserstoff  von  2  mm  Druck  zeigte  der 
positive  Spitzenstrom  folgendes  Aussehen:  die 
ebene  Endfläche  der  Drahtanode  ist  von  einer 
dünnen,  weißblauen  und  ziemlich  hellen  Lichthaut 
überzogen;  dann  folgt  eine  viel  dunklere  0,3  mm 
dicke  Schicht.  Auf  dieser  sitzt  ein  weißlicher 
Kegel,  der  ganz  allmählich  in  einen  braunrötlichen 
Lichtpinsel  von  etwa  12  mm  Länge  übergeht  und 
dann  im  Gasraum  erlischt.  Bei  ganz  niedrigen 
Drucken  wird  das  Lichtbüschel  zwar  bis  25  mm 
lang,  aber  auch  äußerst  lichtschwach ;  unter  1  mm 
Gasdruck  ist  der  Spitzenstrom  nur  noch  schwierig 
zu  erhalten. 

Diese  beobachteten  Leuchterscheinungen 
stimmen  völlig  mit  der  von  Stark  aufgestellten 
Theorie  des  positiven  Spitzenstroms  überein.  Infolge 
der  kleinen  Oberfläche  der  positiven  Elektrode 
konzentriert  sich  der  Potentialabfall  an  dieser; 
daher  strömen  auf  die  Anode  aus  dem  Gasraum 
mit  wachsender  Geschwindigkeit  negative  Ionen 
und  vor  allem  Elektronen.  Die  Elektronen  treffen 
schließlich  mit  einigen  hundert  Volt  Geschwindig- 
keit auf  das  Anodenmetall  und  werden  reflektiert 
oder  lösen  sekundäre  Kathodenstrahlen  aus.  Daher 
herrscht  an  der  Anode  durch  den  dichten  Elektronen- 
schwarm  der  verschiedensten  Geschwindigkeiten 
eine  lebhafte  Oberflächenionisation;  durch  Elek- 
tronenstoß wird  unmittelbar  an  der  Anode  das 
Gas    stark    ionisiert    und    die    hier    entstehenden 


122 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Atom-  und  Molekülionen  emittieren  bei  ihrer 
Bildung  Licht,  das  uns  in  der  sehr  hellen  weiß- 
blauen Anodenlichthaut  entgegentritt. 

Aus  diesem  Gebiet  stärkster  Ionisation  unmittel- 
bar an  der  Anode  werden  die  positiven  Ionen 
abgestoßen  und  laufen  mit  zunächst  wachsender 
Geschwindigkeit  in  den  Gasraum.  In  nächster 
Nähe  der  Anode  ist  aber  die  Geschwindigkeit  der 
positiven  Ionen  noch  zu  gering,  um  beim  Zusammen- 
stoß mit  Gasmolekeln  ionisierend  oder  licht- 
erregend zu  wirken.  Wir  haben  hier  die  auf  die 
Anodenlichthaut  folgende  viel  dunklere  Schicht 
vor  uns,  welche  —  wie  oben  erwähnt  —  in  Wasser- 
stoff von  2  mm  Gasdruck  03  mm  dick  ist.  Am 
Ende  dieses  „Dunkelraumes"  ist  aber  die  Ge- 
schwindigkeit der  positiven  Ionen  so  groß  geworden, 
daß  sie  die  lonisierungsarbeit  beim  Zusammenstoß 
mit  Gasmolekeln  leisten  können. 

Auf  den  Dunkelraum  folgt  also  eine  zweite 
Zone  lebhafter  Ionisation  und  Lichterregung  durch 
den  Stoß  der  raschen  positiven  Ionen.  Dies  ist 
das  Gebiet  des  mit  dem  Auge  sichtbaren  weiß- 
lichen Lichtkegels  und  des  Lichtpinsels.  In  dem 
dichten  Gas  verlieren  allmählich  die  positiven 
Ionen  durch  Zusammenstöße  mit  Gasmolekeln 
und  durch  lonisierungsarbeit  an  Geschwindigkeit 
und  können  diese  auch  nicht  mehr  zurückgewinnen, 
da  in  größerer  Entfernung  von  der  Spitzenanode 
das  elektrische  Feld  immer  schwächer  wird.  Die 
positiven  Ionen  laufen  dann  langsam  auf  die  Platten- 
kathode zu,  wo  sie  neutralisiert  werden.  Auf  dem 
letzten  Teil  ihres  Weges  können  sie  wegen  ihrer 
geringen  Geschwindigkeit  weder  Ionisation  noch 
Leuchten  hervorrufen  und  erleiden  daher  auch 
keine  Umladungen  mehr. 

Großes  Interesse  bietet  die  spektrographische 
Untersuchung  des  positiven  Spitzenstroms.  Nach 
Starks  Theorie  werden  von  der  Spitzenanode 
positive  Ionen  in  den  Gasraum  hinausgestoßen 
und  bewirken  die  Bildung  des  positiven  Licht- 
büschels. Wenn  dieses  wirklich  von  schnellen 
leuchtenden  Ionen  (=  Kanalstrahlen)  hervorgerufen 
wird,  so  stellen  diese  eine  rasch  bewegte  Licht- 
quelle dar  und  die  Spektrallinien  der  Wasserstoff- 
ionen müssen  nach  Dopplers  Prinzip  eine  Ver- 
schiebung der  Wellenlänge  aufweisen.  Wirklich 
beobachtete  Weth  bei  den  Linien  Hß  und  Hy  des 
des  Balm  er  sehen  Serienspektrums  eine  Ver- 
schiebung um  3  Angströmeinheiten  (==  AE),  ^) 
was  einer  Geschwindigkeit  der  leuchtenden  Wasser- 
stoffteilchen im  Lichtpinsel  des  positiven  Büschel- 
lichts von  i8o-Volt  entspricht.  Da  im  Lichtpinsel 
auch  ganz  langsame  Teilchen  leuchten  und  da 
nach  Dempster  neutrale  Kanalstrahlenteilchen 
unter  50  Volt  Geschwindigkeit  nicht  mehr  leuchten, 
so  zieht  Weth  den  wichtigen  Schluß,  daß  es  nur 
die  positiv  geladenen  Wasserstoffteilchen  sind, 
welche  Licht  aussenden.  Dies  entspricht  Starks 
Hypothese,  daß  das  Balm  ersehe  Serienspektrum 

')  I  AE  ==  0,000000 1  mm. 


vom  positiven  Wasserstoffatom  emittiert  wird, 
während  nach  Bohrs  erfolgreicher  Theorie  die 
Balmerlinien  vom  neutralen  Wasserstoffatom 
stammen  sollen.  Immerhin  ist  durch  Unter- 
suchung des  positiven  Büschellichts  BohrsTheorie 
wohl  nicht  entscheidend  zu  widerlegen,  da  durch 
den  hohen  Gasdruck  im  positiven  Spitzenstrom 
die  Möglichkeit  der  Neutralisierung  und  Umladung 
der  Ionen  nicht  mit  völliger  Sicherheit  aus- 
geschlossen werden  kann. 

Das  Bandenspektrum  des  Wasserstoffs  fand 
Weth  am  stärksten  in  der  Nähe  der  Spitzenanode. 
Es  i^t  bekannt,  daß  es  vorzugsweise  von  langsamen 
Elektronenstrahlen  angeregt  wird  und  solche  haben 
wir  ja  auch  nach  Starks  Theorie  des  positiven 
Spitzenstroms  in  erheblicher  Dichte  an  der  Anoden- 
oberfläche anzunehmen.  Das  Bandenspektrum 
des  Wasserstoffs  ist  nach  Stark  dem  positiven 
Molekülion  Ho+  zuzuschreiben  und  auch  Bohr 
teilt  es  wegen  seiner  KompHziertheit  dem  Wasser- 
stoffmolekül zu. 

Auch  das  von  Stark  auf  Grund  theoretischer 
Erwägungen  entdeckte  kontinuierliche  Wasserstoff- 
spektrum ist  im  positiven  Büschellicht  in  erheblicher 
Stärke  vorhanden.  Während  sich  Elektronen  an 
positive  Atom-  oder  Molekülionen  anlagern,  gehen 
diese  aus  dem  stabilen  Zustand  des  Ions  kontinu- 
ierlich in  den  ebenfalls  stabilen  neutralen  Zustand 
über.  Deshalb  müssen  sich  die  Spektrallinien 
ebenfalls  kontinuierlich  ändern  und  während  sich 
das  Elektron  auf  einer  Spiralbahn  dem  Ion  all- 
mählich nähert,  werden  die  emittierten  Spektral- 
linien einen  gewissen  Wellenlängenbereich  über- 
streichen. Für  Auge  und  Spektrograph,  welche 
über  die  verschiedenen  Übergangsphasen  und 
über  die  Emission  vieler  einzelner  Lichtquellen 
integrieren,  entsteht  so  ein  kontinuierliches 
Spektrum.  „Seinen  Träger,  das  im  Übergang  vom 
positiven  zum  neutralen  Zustand  begriffene  Atom 
oder  Molekül  bezeichnet  Stark  als  Quantenpaar." 
Beim  positiven  Büschellicht  haben  wir  in  der  Nähe 
der  Anode  auch  langsame  Elektronen,  die  keine 
vollständige  Ionisation  bewirken  können.  Diese 
lagern  sich  an  positive  Ionen  an  und  die  so  ge- 
bildeten Quantenpaare  erklären  das  Auftreten  des 
kontinuierlichen  Wasserstoffspektrums  an  der  Anode 
des  positiven*  Spitzenstroms. 

Die  spektrographische  Untersuchung  des 
Büschellichts  durch  Weth  hat  also  ergeben,  daß 
die  Balm  ersehen  Serienlinien  des  Wasserstoff- 
spektrums, Starks  Anschauung  entsprechend, 
möglicherweise  vom  positiven  Wasserstoffatom 
stammen;  das  Auftreten  des  kontinuierlichen  und 
des  Bandenspektrums  des  Wasserstoffs,  das  nach 
der  Theorie  zu  erwarten  war,  ist  tatsächlich  fest- 
gestellt worden.  Schließlich  ist  die  Theorie  des 
positiven  Spitzenstroms  von  Stark  durch  die 
Auffindung  des  Dopplereffekts  am  Büschellicht 
glänzend  bestätigt  worden. 

Karl  Kuhn. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


123 


Restitution  des  Auges  uaoh  Exstirpation  TOn 
Retina  und  Linse  bei  Tritonen.*) 

Weitere  Prüfung  der  Frage,  inwieweit  das  Vor- 
handensein von  Netzhautzellen  notwendig  sei  für 
das  Zustandekommen  der  Linsenneubildung  aus 
der  oberen  Iris  (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1920, 
Nr.  31,  S.  492),  führte  HorstWachs  zu  folgen- 
den wiederum  sehr  beachtenswerten  Versuchen 
und  Ergebnissen.  Es  wurden  aus  dem  Auge 
gleichzeitig  Linse,  Glaskörper  und  Netzhaut  ent- 
fernt und  zwar  durch  Herausdrücken  dieser  Teile 
aus  einer  an  der  Schläfenwand  des  Augenfelds  ge- 
setzten Öffnung  an  den  mit  Y2  P^oz.  Chloreton- 
lösung  betäubten  Tieren.  Hierauf  bildet  sich  die 
Netzhaut  und  die  Linse  neu,  und  zwar  letztere  — 
wie  nach  den  früheren  Ermittlungen  des  Verf  zu 
erwarten  —  erst  nachdem  bereits  die  neue  Reiina 
den  Hohlraum  austapeziert  hat,  wobei  jedoch  deren 
Zellenmaterial  noch  nicht  die  Ausbildung  der 
Stäbchen-  und  Zapfenzellen  erreicht  zu  haben 
braucht.  Material  zur  Neubildung  der  Netzhaut 
wird  vom  Wundrande  im  Umkreise  der  ganzen 
Iris  geliefert,  wo  bekanntlich  in  der  Grenzzone 
zwischen  Netzhaut  und  innerem  Irisblatt  die 
normale  Zuwachszone  der  Netzhaut  liegt,  außerdem 
erhält  die  Anlage  der  neuen  Netzhaut  Zuwachs 
von  dem  stehengebliebenen  Figmentepithel  oder 
Außenblatt  der  Netzhaut  aus.  Dieser  Zuwachs 
erfolgt  möglicherweise  innerhalb  breiter  Berüh- 
rungsflächen, sicherlich  aber  findet  eine  Zellabgabe 
statt  an  deutlichen  Umschlagsstellen  des  Tapetums 
in  das  Material  der  neuen  Netzhaut  hinein.  Mit 
letzterem  ist  gemeint,  das  Tapetum  ringsum  er- 
hebt sich  hier  und  da  zu  Falten,  deren  Scheitel- 
kante zu  Netzhaut  wird  und  sich  mit  den  übrigen 
Netzhautregeneraten  im  Auge  vereinigt  unter  Ab- 
schnürung von  dem  gleichzeitig  sich  wieder  zu- 
sammenschließenden Tapetum  nigrum.  —  Die 
Neubildung  der  Lmse  erfolgt  in  der  bekannten 
Weise  von  der  oberen  Iris  aus.  —  An  der  Um- 
bildung von  Tapetumzellen  in  Netzhautzellen  ist 
besonders  beachtenswert,  daß  hierzu  keineswegs 
etwaige  Reservezellen  verwendet  werden,  denn 
solche  sind  gar  nicht  vorhanden,  sondern  die 
pigmenthaltigen  Zellen  des  Tapetums  entledigen 
sich  ihres  Pigments  durch  Ausstoßung,  werden 
also  „entdifferenziert"  —  nicht  rückdifferenziert 
—  treten  in  rege  Zellvermehrung  ein  und  liefern 
so  das  Material  für  oben  besagten  Zweck.  ■')  So 
vollziehen  sich  im  Grunde  des  Augapfels  Vor- 
gänge, die  durchaus  an  die  bei  der  Linsenneubil- 


')  H.  Wachs,  Restitution  des  Auges  nach  Exstirpation 
von  Rilina  und  Linse  bei  Tritonen.  Zweiter  Teil.  Archiv  f. 
Entwicklungsmech.,  Bd.  XLVI,  Heft  2  und  3,  1920,  S.  328 
— 389     7  Tafeln. 

'']  Noch  1916  schrieb  Barfurth,  gemäß  dem  damaligen 
Stande  der  Forschung,  in  ,, Regeneration  und  Transplantation, 
Rückblick  auf  die  Ergebnisse  25Jähriger  Forschung"  (Anat. 
Hefte,  ..Ergebnisse",  S.  452):  ,,üie  Regeneration  geschieht 
nicht  als  Erneuerung  bereits  differenzierter  oder  in  Rückbildung 
begriffener  Gewebe,  sondern  immer  als  vollständige  Neubil- 
dung von  undifferenzierten  Anlagen  aus,  die  in  der  typischen 
Ontogenese  reserviert  wurden," 


dung  aus  der  oberen  Iris  erinnern:  Ausstoßung 
des  Pigments  der  Zellen,  Einsetzen  reger  Zell- 
teilungen und  Abgabe  der  gebildeten  Zellen  an 
das  zu  Regenerierende  in  Gestalt  von  Umfaltungen. 
Gelegentlich  finden  sich  in  der  neuen  Retina  noch 
Klümpchen  schwachen  Pigments,  das  wahrschein- 
lich aus  den  zum  Aufbau  verwendeten  Tapetum- 
zellen stammt. 

Gegenüber  dieser  vollständigen  Netzhautregene- 
ration, bei  welcher  übrigens  anfangs  infolge  der 
starken  Verkleinerung  des  Augapfels  das  Tapetum 
gleichsam  der  neuen  Retinaschale  entgegenkommt, 
fällt  auf,  daß  nach  Spemann  1912  Entfernung 
eines  Teils  der  Augenanlage  bei  wesentlich  jün- 
geren, nämlich  Neurulastadien  nicht  mehr  die 
Bildung  eines  Auges  von  normaler  Größe  gestattet, 
sondern  statt  dessen  ein  kleineres  Auge  ent- 
steht. Somit  ist  hier,  vielleicht  entgegen  dem, 
was  man  hätte  erwarten  können,  aber  in  Über- 
einstimmung mit  früheren  Befunden  Wachs'  an 
der  Linse,  die  Regenerationsfahigkeit  nicht  am 
größten  bei  den  jüngsten  Stadien,  und  der  Verf. 
legt  des  weiteren  dar,  daß  sie,  mit  höherem  Alter 
nach  Zuwachs  zu  einem  Optimum  wieder  ab- 
sinkend, anscheinend  parallel  sei  dem  „Ausgesetzt- 
sein", vielmehr  der  Verletzungsmöglichkeit  unter 
Berücksichtigung  der  Wahrscheinlichkeit  des  Über- 
lebens der  verletzten  Tiere.  — 

In  einer  bei  uns  wenig  bekannten  Arbeit  hat 
schon  Colucci  1891  ')  die  Regeneration  der 
Netzhaut  von  Triton  untersucht  und  wenigstens 
soviel  richtig  gesehen,  daß  die  Neubildung  vom 
Tapetum  nigrum  aus  erfolgt.  Doch  erkannte  er 
weder  die  Bedeutung  der  Linsen-  noch  der  Netz- 
hautregeneration richtig,  sondern  suchte  als  Er- 
gebnis einen  Parallelismus  zwischen  den  regene- 
rativen und  den  normal-embryonalen  Vorgängen 
festzustellen.  V.  Franz. 


Der  Ursprung  des  Menschengeschlechts. 

Wieder  eine  neue  Hypothese  über  den  Ur- 
sprung des  Menschengeschlechtes!  so  könnte  man 
ausrufen.  Doch  bedeutet  das  nicht,  daß  den  Aus- 
führungen Hilzheimers,-)  die  der  Autor  selbst 
als  aphoristische  bezeichnet  und  als  solche  zur 
Diskussion  stellen  will,  geringe  Aufmerksamkeit 
gebührte.  Sie  sind  vielmehr  sehr  anregend.  Wenn 
von  zwei  verwandten  Tierarten  —  führte  H  i  1  z  - 
heim  er  schon  in  seinem  Handbuch  der  Biologie 
der  Wirbeltiere  aus  —  die  eine  den  Wald,  die 
andere  die  Steppe  oder  offene  und  Parklandschaft 
bewohnt,  so  ist  das  Waldtier  allgemein  das  pri- 
mitivere: man  vergleiche  Okapi  und  Giraffe,  Hirsch 
und  Renn,  Wisent  und  Bison,  Dendrohyrax  und 
Procavia,   Tiger   und  Löwe.     Der   höchststehende 

')  Mera.  Accad.  Sc.  Ist.  Bologna,  Ser.  5,  Vol.  I,  erwähnt 
nach  H.  Wachs,  wie  auch  die  vorangehende  Fußnote. 

^)  M.  Hilzheimer:  Aphoristische  Gedanken  über  einen 
Zusammenhang  zwischen  Erdgeschichte,  Biologie,  Menschheits- 
geschichte und  Kulturgeschichte.  Zeitschrift  für  Morphologie 
und  Anthropologie,  Band  XXI,  Heft  2,  S.  185—208. 


124 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Büffel,  der  Kaffernbüffel,  das  spezialisierteste 
Schwein,  Phacochoerus,  die  eigenartigsten  Hunde, 
die  Mähnenhunde,  die  höchststehenden  Beuteltiere, 
die  Känguruhs,  die  ihnen  konvergenten  Nagetiere 
Springhase,  Springmaus  und  Taschenmaus  sind 
Steppentiere.  Den  letztgenannten  Beispielen  eignet 
der  nach  allen  Seiten  freibewegliche  Kopf  auf 
schlankem  Hals  hoch  über  den  Schultern  —  wie 
beim  Menschen.  Also  dürfte  auch  die  Mensch- 
werdung, die  Erhebung  zum  aufrechten  Gang  bei 
verlängerten  Hintergliedmaßen,  in  der  Steppe  er- 
folgt sein.  Nur  in  ihr  konnte  sich  Kultur  ent- 
falten, weiter  entwickeln  und  den  jetzigen  Höhe- 
punkt erreichen. 

Europas  Steppen  nach  der  Eiszeit  hatten 
reiches  Säugetierleben.  Vertreter,  die  schon  durch 
ihre  Körpergröße  sich  als  fortgeschritten  erweisen 
gegenüber  ihren  im  Wald  gebliebenen  Verwandten, 
waren  Breitstirnelch,  Riesenhirsch,  wollhaariges 
Rhinozeros,  Bison  priscus  und  Mammut.  Ihre 
weniger  ursprüngliche  Organisation  ist,  wie  das 
Hilzheimer  des  näheren  ausführt,  auch  im 
einzelnen  erweisbar.  Was  diese  Tiere  vernichtete, 
war  der  Wald,  als  er  in  ihre  Wohngebiete  ein- 
zog. Edelhirsch  und  Reh  konnten,  obwohl  auch 
sie  offenbar  in  Anpassung  an  die  Steppe  oder 
offene  Landschaft  ihre  Eigentümlichkeiten  erworben 
haben,  im  Wald  noch  fortbestehen,  die  großen 
Steppensäuger  dagegen  nicht.  Mag  auch  Sibirien 
nie  Wald  gehabt  haben,  so  wurden  das  Mammut, 
Bisonten  und  Rhinozeros  an  ihren  winterlichen 
südwärts  gerichteten  Wanderungen  —  die  sie 
mutmaßlich  ausführten  —  durch  einen  Waldgürtel, 
die  heutige  Taiga  südlich  der  Tundra,  gehindert; 
in  Nordamerika  dagegen,  wo  sich  eine  gewaltige 
Prärie  unbegrenzt  nach  Süden  erstreckt,  hat  sich 
der  Bison  erhalten. 

Sucht  man  nun  die  Sätze,  daß  das  Heraus- 
treten aus  dem  Wald  Fortschritt  bewirkt  und  die 
Rückkehr  in  ihn  auf  einer  gewissen  Organisations- 
höhe nicht  mehr  möglich  ist,  auf  den  Menschen 
anzuwenden,  so  findet  man  in  der  Tat  die  körper- 
lich und  kulturell  tiefstehenden  Völker  im  Wald 
lebend:  die  zurückgebliebensten  Indianer  Amerikas 
(wenn  wir  von  den  besonders  unwirtlichen  Ver- 
hältnissen im  äußersten  Süden  absehen),  die  Zwerg- 
völker Asiens  und  Afrikas.  Die  Erwerbung  des 
aufrechten  Ganges  wird  mit  dem  Heraustreten 
aus  dem  Wald  erfolgt  sein;  die  Pygmäen,  kurz- 
beinig, sind  also  vor  Erwerbung  der  verlängerten 
Hinterextremitäten  in  den  Wald  wieder  zurück- 
gekehrt. In  einem  mehrmaligen  Vorrücken  und 
Rückgehen  der  zwischen  dem  Eis-  und  dem  Wald- 
gürtel gelegenen  Zonen  liegt  der  Anstoß  zur 
körperlichen  und  kulturellen  Entwicklung  des 
Menschen. 

Nordostafrika,  in  der  Tertiärzeit  ein  Entwick- 
lungszentrum der  Elefanten,  Sirenen,  Zetazeen 
und  mancher  Huftiere,  das  ehemalige  Wohnge- 
biet eines  Affen,  den  Schlosser  wohl  mit  Recht 
für  den  Stammvater  aller  Anthropoiden  und 
Hominiden    hält,    dürfte    auch   die  Menschenaffen 


und  den  Menschen  geliefert  haben;  irgendwo  auf 
dem  Gebiet  südlich  des  nördlichen  Waldgürtels 
treimten  sich  Menschenaffen  und  Menschen  von- 
einander. Zu  Beginn  der  Eiszeit  paßte  der  Mensch 
sich  dem  südwärts  rückenden  Walde  an.  Im 
Norden  aus  ihm  hervortretend,  ergab  er  die 
Neandertalrasse.  Er  konnte  nicht  mehr  zurück  in 
den  nordwärts  vorrückenden  Wald,  und  so  mußte 
der  Homo  primigenius  aussterben.  Mit  Beginn 
der  jungen  Altsteinzeit  drangen  ein  zweites  Mal 
Menschen  in  die  nördliche  Steppe  vor,  schon  von 
höherer  Kultur,  sie  ergaben  den  Homo  aurigna- 
censis;  auch  er  starb  aus,  getötet  von  dem  wie- 
der nach  Norden  vorrückendem  Walde.  —  Süd- 
lich des  nördlichen  Waldgürtels  ist  wohl  die  Kul- 
turentwicklung nie  gestört  worden.  Zunehmende 
Wärme  und  Trockenheit  nach  der  Eiszeit  züchtete 
Wüstennomaden  und  als  deren  ausgeprägtesten  Typ 
den  feinknochigen,  bei  guter  Muskulatur  fettarmen, 
lebhaften,  nervösen,  dem  Ackerbau  seit  alters  ab- 
holden Juden. 

In  dem  Maße  wie  Eis,  Tundra  und  Waldgürtel 
sich  nordwärts  zurückzogen,  folgte  die  Kultur:  es 
blühte  Medien  und  dann  Persien  auf.  Vor  dem 
Wald  der  nordwärts  vorliegenden  Gebirge  mußte 
die  Kultur  nach  Westen  ausweichen.  Athen, 
Sparta,  Korinth,  Frankreich.  Wir  Deutschen  da- 
gegen sind  im  Begriff,  aus  einem  Waldvolk  ein 
Steppenvolk  zu  werden,  indem  wir  unter  Mithilfe 
der  Natur  die  Kultursteppen  schaffen. 

So  hypothetisch  wie  die  Darlegungen  des  Ver- 
fassers sind,  werden  sie  unausbleiblich  auf  manches 
Bedenken  stoßen,  doch  betrachte  ich  es  gerade 
aus  diesem  Grunde  nicht  als  meine  Aufgabe,  auf 
solche  Möglichkeiten  im  einzelnen  hinzuweisen. 

V.  Franz  (Jena). 


Der  Siiiupfzypressenwald  iu  Florida.^) 

Der  Klang  dieser  Bezeichnung  erweckt  beim 
Leser  unwillkürlich  die  Vorstellung  von  Sumpf, 
Moor,  von  schlammigem  Boden  und  wuchernder 
Pflanzenwelt,  allein  von  alledem  habe  ich  soweit 
ich  gekommen  bin,  d.  h.  bis  zur  ungefähren  Hälfte 
der  Halbinsel,  nichts  angetroffen,  nichts  wie  das 
märkische  Luch,  das  Hochmoor  der  Lüneburger 
Heide,  die  unergründlichen  Moore  des  hohen 
Venns  oder  die  Sümpfe  des  norwegischen  Fjelds. 
Florida  ähnelt  in  dem  mir  bekannt  gewordenen 
Stromgebiet  des  St.  John-River,  der  amerikanischen 
Riviera,  der  weiteren  Umgebung  von  Berlin  nach 
Osten  zu  ■ —  fester  grobkörniger  Sandboden  mit 
kärglichem  Pflanzenwuchs  und  seichten  Gewässern. 
Schematisch  zerfällt  die  Landschaft  in  vier  scharf 
gegeneinander  abgegrenzte  Zonen,  die  in  unmittel- 


')  Aus  Anlaß  der  Veröffentlichung  des  Aufsatzes:  Die 
Entstehung  der  bodenständigen  Braunkohlen- 
flöze. Eine  Würdigung  des  gegenwärtigen  Stand  es 
der  Forschung  in  Nr.  38  dieser  Zeitschrfft  hat  der  Geh. 
Rat  Prof.  Eugen  Bracht,  Darmstadt,  dem  Verfasser  einen 
Brief  übersandt,  der  mit  gütiger  Erlaubnis  hier  abgedruckt 
sei, 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


125 


barer  Abhängigkeit  von  ihrer  Erhebung  über  dem 
Wasserspiegel  stehen. 

Der  Kiefernwald  als  erste  Zone,  der  auf 
einem  Boden  steht,  der  sich  dort  meist  nur  um 
wenige  Dezimeter  über  den  Nullpunkt  des  Wasser- 
spiegels erhebt,  nimmt  den  größten  Raum  ein. 
(Die  Nadeln  erreichen  eine  Länge,  daß  ich  sie 
zweimal  zusammenlegen  mußte,  um  sie  in  der 
Brieftasche  zu  bergen.)') 

Der  Boden  wird  als  Unterholz  von  einer 
kriechenden  Fächerpalme  eingenommen,  so  daß 
eine  Durchquerung  dieser  Kiefernwälder  einige 
Schwierigkeiten  bereitet. 

Von  Zeit  zu  Zeit  erblickt  man  in  Gesichts- 
höhe eine  der  gefährlichen  grafitfarbenen  dicken 
Schlangen,  die  sich  auf  einem  Fächerblatt  aufge- 
rollt hier  sonnen,  beim  Herannahen  von  Menschen 
jedoch  nach  unten  verschwinden.  Der  Biß  dieser 
Schlange  ist  tödlich.  Hier  und  da  erhebt  sich 
über  die  Kronen  der  Kiefern  ein  etwas  höheres 
Stockwerk,  das  von  hohen  Fächerpalmen  gebildet 
wird.  Diese  Fächerpalme  ist  ein  Uferbaum,  der 
nur  an  feuchten  Stellen  wächst  und  daher  den 
Lauf  der  Ströme  und  die  Seeränder  begleitet,  in 
Buchten  sogar  im  Wasser  wurzelnd  und  der  ganzen 
Landschaft  einen  tropischen  Zug  verleihend.  Die 
Kiefernwaldzone  ist  eintönig  und  wird  nur  hier 
und  da  durch  kleine  Lichtungen  oder  Teiche  unter- 
brochen; an  den  offenen  Stellen  bildet  dann  die 
Yucca  am  Boden  vereinzelte  Beete,  während  als 
größte  Laubhölzer  eine  Nußbaumart  ihre  mächtigen 
Kronen  über  alles  erhebt. 

Die  zweite  Zone  seewärts  ist  die  uns  inter- 
essierende Sumpfzypressenzone.  Sie  tritt 
am  Monroe  Lake,  wo  ich  sie  zu  beobachten  Ge- 
legenheit hatte,  nicht  als  ein  zufällig  und  willkür- 
lich begrenztes  Gebiet  auf,  sondern  ihre  Grenzen 
sind  durch  die  Wassertiefe  gegeben,  die  schätzungs- 
weise zwischen  o — 1,50  m  liegen  mag.  Auf 
dem  festen  Ufer  wuchsen  keine  Zypressen,  sondern 
nur  Fächerpalmen,  dagegen  kam  sie  vereinzelt  im 
Buschwerk  auch  auf  höherem  Standort  an  den 
Flußrändern  vor. 

Die  Zypresse  erscheint  unmittelbar  als  ein 
Anpassungsergebnis  an  sinkenden  Boden.  Nach- 
dem sich  die  Pflanze  durch  Bildung  der  Atem- 
wurzeln dem  Leben  im  stehenden  Wasser  ange- 
paßt hat,  iieht  sie  die  Seichtwasserzone  dem  Fest- 
land vor.  Sie  ist  aber  in  derselben  an  ein  be- 
grenztes Maximum  der  Wassertiefe  gebunden;  es 
gibt  somit  in  Seen  wie  dem  Monroe- Lake  keine 
Wälder  von  beliebiger  Flächenausdehnung,  sondern 
nur  mäßig  breite  Gürtel,  die  im  Seichtwasser 
wachsen,  dessen  Tiefe  zwischen  ziemlich  engen 
Grenzen  schwankt.  Der  Wald  ist  also  nur  vom 
Kahn  aus  zu  erreichen;  da  aber  die  Atemwurzeln 
den  Stamm  rings  umgeben,  so  bedarf  es  einiger 
Vorsicht,  um  ohne  Leck  durchzukommen.  Die 
eigentlichen  Wurzeln  sind  sehr  dicht  und  radial 
angeordnet    und    liegen    ganz    flach    dem    harten 


•)  Pinus  palustris,  Longleavedpine  ? 


Seegrund  auf;  Pfahlwurzeln  habe  ich  bei  ent- 
wurzelten Exemplaren  nicht  bemerkt.  Aus  den 
Wurzeln  erheben  sich  die  hohlen  flachgedrückten 
Atemwurzeln  bis  etwa  50—75  cm  über  die  Was- 
seroberfläche heraus  und  besorgen  die  Luftzufuhr 
für  das  Wurzelsystem. 

Die  äußere  Erscheinung  des  Sumpfzypressen- 
waldes ist  sehr  eigenartig;  unheimlich  ist  der 
Anblick  der  zum  Teil  mächtigen,  sehr  locker 
stehenden  Stämme  mit  ihrem  stark  verbreiterten 
Fußende!  Da  jeder  Baum  eines  ausgebreiteten 
Podiums  bedarf,  so  ist  der  lichte  Bestand  erklär- 
lich. Beim  Fehlen  jeglichen  Unterholzes  ist  kein 
Vogel  zu  sehen  noch  zu  hören  —  es  herrscht 
vollkommenes  Schweigen.  Die  Belaubung  der 
älteren  Bäume  ist  sehr  dürftig,  die  winzigen 
Schüppchen  wirken  kaum  als  Laub  und  oft  ist 
mehr  Spanisches  Gras  vorhanden  als  Laub ;  dieser 
Epiphyt  hängt  in  massigen  schwarzen  Floren 
von  den  Asten,  als  Trauerschmuck  das  unheim- 
liche der  Stimmung  unterstreichend,  und  ich  fühlte 
mich  wie  in  eine  geologische  Vergangenheit  ver- 
setzt. 

Dort  wo  die  zunehmende  Tiefe  des  Seewassers 
dem  Fortkommen  der  Zypresse  eine  Grenze  setzt, 
beginnt  die  dritte,  die  Graszone;  diese  schließt 
sich  ohne  merkliche  Übergangszone  dem  Wald- 
gürtel an  und  auch  diese  botanische  Art  ist  offen- 
bar an  eine  gewisse  Wassertiefe  gebunden.  (Zahlen 
vermag  ich  leider  nicht  anzugeben.)  Ich  kann 
nur  erwähnen,  daß  unsere  langen  Ruder  beim 
Durchqueren  der  Graszone  nicht  mehr  bis  auf 
den  Grund  reichten,  so  daß  wir  mehrfach  stecken 
blieben;  wir  mußten  alsdann  Bündel  der  über 
mannshoch  aus  dem  Wasser  ragenden  Halme  zu- 
sammenraffen und  uns  auf  diese  Weise  mit  dem 
Kahn  weiterziehen.  Ähnlich  wie  die  Zypresse 
stellt  auch  dies  Schilfgras  eine  Anpassung  an  den 
sinkenden  Boden  dar.  Bei  seinem  dichten  Bestand 
muß  es  einen  ergiebigen  Produzenten  von  Pflanzen- 
substanz abgeben,  die  sich  unter  günstigen  Ver- 
hältnissen als  abgestorbene  organische  Masse,  als 
Flöz  anhäufen  kann. 

Diese  breiten  Schilfgrasflächen  werden  nun 
seewärts  von  einem  letzten  Vegetationsgürtel,  als 
vierter  Zone,  abgelöst,  nämlich  von  einer  auf  der 
Wasserfläche  schwimmenden  Pflanzen- 
decke. Dieselbe  besteht  meiner  Erinnerung 
nach  ganz  oder  wenigstens  der  Hauptmasse  nach 
aus  entwurzeltem  Schiifgrase  und  zwar  in  so 
dichter  und  tiefer  Packung,  daß  wir  unser  Boot 
nur  mit  größter  Mühe  hindurchzubringen  ver- 
mochten. Das  Rudern  war  natürlich  ausgeschlos- 
sen und  das  Abstoßen  mit  den  Rudern,  um  von 
einer  kleinen  Lücke  zur  anderen  zu  gelangen, 
hatte  wegen  des  Ausweichens  der  schwimmenden 
Massen  nur  geringen  Erfolg. 

Diese  schwimmende  Decke  enspricht  wohl  der 
größten  Tiefe,  bis  zu  welcher  das  Schilfgras  zu 
wachsen  vermag  und  bei  der  Wind  und  Stürme 
ihre  Entwurzelungstätigkeit  ausüben. 

Was  nun  die  Senkungsvorgänge  anbetrifft,  so 


126 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


haben,  wie  ich  las,  Bohrungen  im  Gebiet  von 
New  Orleans  das  Vorkommen  von  zwei  oder  gar 
drei  Horizonten  von  Sumpfzypressenstämmen,  bei 
30 — 40  und  öo  m  ?  Tiefe  ergeben ;  zwischen  diesen 
Horizonten  lagern  anorganische  Ablagerungen; 
hiermit  dürften  frühere  Senkungen  wohl  ge- 
nügend erwiesen  sein;  in  Florida  dagegen  würde 
bei  einer  heutigen  plötzlichen  Senkung  zur 
Ausfüllung  eines  tieferen  Seebeckens,  um  den 
Boden  für  einen  neuen  Zypressenwald  zu  schaffen, 
das  Schwemmaterial  fehlen  mangels  eines  höher 
gelegenen  Hinterlandes. 

Die  Betrachtung  des  von  der  schwarzbraunen 
Kohlenumhüllung  entblößten  Stubbenhorizontes 
in  der  Lauchhammerschen  Grube  im  Senfienberger 
Revier  versetzte  mich  unwillkürlich  nach  dem  noch 
lebenden  Sumpfzypressenwald  in  Florida  und  regte 
mich  zum  Feststellen  des  Gleichartigen  sowie  der 
Unterschiede  an.  Es  lag  zunächst  kein  Grund 
vor  anzunehmen,  daß  der  einstige  deutsche  Zy- 
pressenwald wesentlich  anders  ausgesehen  habe 
wie  der  amerikanische;  dagegen  hatte  ich  keine 
klare  Vorstellung  davon,  welche  Naturereignisse 
zur  Ausbildung  eines  Stubbenhorizontes  führen 
konnten.  Schon  die  bloße  Tatsache,  daß  alle 
Bäume  in  einer  gewissen  Höhe  abgebrochen  zu 
sein  schienen,  versetzte  mich  in  Erstaunen;  auch 
vermochte  ich  mir  aus  der  Erinnerung  an  den 
heutigen  Wasserwald  ohne  jede  andere  Vegetation 
noch  Unterholz  zunächst  nicht  klarzumachen, 
welche  Pflanze,  oder  welche  Pflanzengemeinschaft 
das  IVlaterial  zu  einer  solchen  Einbettung  geliefert 
haben  konnte. 

Nun  stellt  sich  bezüglich  einer  solchen  Ein- 
bettung seit  dem  Erscheinen  der  Po  tonieschen 
Arbeiten  bei  jedem  Beobachter  unwillkürlich  der 
Begrifif  der  Vertorfung  ein,  die  ja  in  normalen 
Verhältnissen  rasch  verläuft;  es  war  mir  auch 
gegenwärtig  wie  schnell  solche  Vertorfungen  sich 
vollziehen  können. 

Auf  dem  Torfgebiet  des  Hohlohs  zwischen  Gernsbach 
und  Wildbad  pflegen  I  m  tiefe  Entwässerungsgräben  bereits 
nach  wenigen  Jahren  wieder  völlig  zugewachsen  zu  sein. 
Einen  chronologischen  Anhalt  kenne  ich  von  den  Hochmooren 
des  Hohen  Venns,  wo  die  bisherige  preußisch-belgische  Grenze 
entlang  einer  Römerstraße,  „la  Vecquee"  genannt,  verläuft. 
Diese  Straße  liegt  unter  dem  Torf  auf  der  alten  Bodenober- 
fläche und  wurde  zu  der  Zeit,  als  ich  mich  dort  aufhielt,  der 
Steingewinnung  wegen  ausgehoben.  Dicht  dabei  fanden  sich 
auf  der  alten  Bodenfläche  beträchtliche  Schlackenlager  ausge- 
breitet, die  von  einstiger  Eisenverhüttung  herrührten,  aus  einer 
Zeit,  als  die  Höhen  des  Venns  mit  Wald  bestanden  waren 
und  man  das  Erz  zum  Brennmaterial  heraufführle,  anstatt  um- 
gekehrt wie  heute.  Römerstraße  und  Schlackenlager  liegen 
2  m  unter  der  jetzigen  Torfoberfläche,  so  daß  diese  Vertorfung 
an  1700  Jahre  beansprucht  hat. 

Es  erscheint  mir  daher  verständlich,  daß  ein 
Sumpfzypressenwald  durch  eine  geringe  Senkung 
des  Bodens  gelötet  werden  kann,  um  dann  sofort 
durch  jene  Schilfgrasvegetation,  die  ich  oben  be- 
schrieb, vollkommen  eingebettet  zu  werden,  und 
zwar  schnell  genug,  daß  noch  keine  weitgehende 
Vermoderung  der  Wurzelstumpfe  eingetreten  ist. 
Es  liegt  wohl  auf  der  Hand,  daß  dieses  Schilfgras 


bei  dem  nahezu  völligen  Fehlen  einer  Winterruhe 
zu  einer  schier  unbegrenzten  Wachstumsleistung 
gelangen  konnte,  um  in  verhältnismäßig  kurzer 
Zeit  ungeheuere  Mengen  abgestorbenen  organischen 
Materials  zu  erzeugen,  so  daß  selbst  in  den 
Subtropen  eine  Art  Torfbildung  auf  diesem  Wege 
möglich  war. 

Fassen  wir  die  für  Florida  so  einschneidenden 
Senkungsvorgänge  näher  ins  Auge,  so  ergibt  sich, 
daß  dieselben  nicht  ganz  einfach  zutage  liegen. 
Mein  Eindruck  des  Landes  war  nämlich  nicht  nur 
derjenige  von  Landsenkung,  sondern  es  erweckte 
die  gänzlich  verschlissene  Oberfläche,  die  ganz 
geringe  Hügelbildung  und  das  Fehlen  von  Auf- 
schlüssen und  anstehendem  Gestein  die  Vorstellung 
von  einer  nach  früherem  Untergetauchtsein  wieder 
gehobenen  Landmasse.  An  Steinen  traf  ich  nur 
einigemal  im  Urwald  kleine  bemooste  Häufchen, 
die  dem  Begriff  einer  Indianerbestattung  ent- 
sprachen; sonst  gibt  es  da  wo  ich  war,  keinen 
Siein  und  die  Reste  einer  einstigen  Steinzeit  sind 
nur  als  Analogie  als  solche  zu  deuten.  Schon 
bei  der  Landung  in  Sanford  am  Lake  Monroe  auf 
den  paar  Schritten  vom  Garteneingang  bis  zum 
Hotel  wußte  ich,  daß  ich  auf  vorgeschichtlichem 
Material  wandelte;  die  Wege  waren  nämlich  mit 
Muschelschalentrümmern  bekiest  und  ein  fünf- 
pfennigstückgroßes  Bruchstück  eines  halbgebrannten 
Napfes  verrieten  dies.  Der  Gärtner  bestätigte  mir 
die  Herkunft  dieses  „Kieses"  aus  einem  erreich- 
baren „Shellmound",  den  ich  bald  aufsuchte. 

Wenn  nun  die  Bildung  der  Stubbenhorizonte 
an  sich  schwer  verständlich  erscheint  und  in  der 
Tat  ohne  die  Annahme  einzelner,  innerhalb  der 
säkularen  Senkung  vorgekommener  instantaner 
Senkungen  unerklärlich  bleiben  müßte,  so  bietet 
das  Bild  des  Shell-mound's  in  schroffem  Gegensatz 
hierzu  den  Begriff  äußersten  Stillstandes  und 
säkularen  Verharrens  ohne  die  leiseste  physikalische 
oder  klimatische,  botanische  sowie  zoologische 
Veränderung. 

Die  bloße  Umschau  von  den  Muschelbergen, 
8 — 10  m  hoch,  50  Schritte  breit  und  kilometerlang 
sich  am  Seeufer  hinziehend,  erweckt  zunächst  die 
Vorstellung  unermeßlich  langer  Zeiträume,  die 
erforderlich  waren,  um  bei  dem  äußerst  geringen 
täglichen  Zuwachs  an  zerstampften  Gehäusen  solche 
Anhäufungen  zu  schaffen.  Hier  haben  Geschlechter 
in  vollkommenem  kulturellen  Stillstand  eben  gerade 
nur  gelebt  und  sich  ernährt  —  ohne  Klimaänderung, 
ohne  Jahreszeiten,  ohne  Winterkälte  —  jeden 
Kulturanstoßes  enthoben  und  nur  Schnecken- 
gehäuseschichten  über  ältere  Schichten  häufend. 
Ihre  einzige  Sorge  war,  Brennholz  für  das  Rösten 
sowie  Feuer  oder  allenfalls  Ton  für  die  Herstellung 
roher  Gefäße  zu  beschaffen.  Jedes  Gehäuse  wurde 
mit  einem  Holzstäbchen  angebohrt,  um  das  ge- 
bratene Tier  herauszuholen.  Als  einziges  anderes 
Gerät  kommen  als  große  Seltenheit  fossile  Haifisch- 
zähne  vor,  die  von  anderen  Gebieten  mitgebracht 
werden  mußten.  Ich  habe  trotz  eifrigen  Suchens 
nicht   die  leiseste  Spur  eines  Gerätes  angetroffen 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


127 


—  nur  die  dünnen  Aschenschichten  fanden  sich 
in  allen  Lagen. 

Steigt  man  den  steilen  Abhang  zu  dem 
brackischen  Seewasser  hinab,  so  sieht  man,  daß 
die  Schalenmassen  bis  unter  den  Wasserspiegel 
reichen  —  und  daß  in  dem  klaren  seichten  Wasser 
heute  noch  die  gleiche  Schnecke  weilerlebt,  deren 
Schale  die  Muschelberge  bildet,  wie  ein  Zeugnis 
zugunsten  der  S  i  m  r  o  t  h  sehen  Pendulationstheorie. 
Es  hat  somit  hier  seit  den  —  wir  dürfen  wohl 
sagen  —  vielen  Jahrtausenden  seit  dem  Auf- 
treten des  Menschen  eine  wesentliche  Senkung 
des  Bodens  nicht  stattgefunden;  es  ist  dies  eine 
Tatsache,  an  der  nicht  vorbeizukommen  ist,  wie 
sie  indessen  mit  den  sonstigen  Anzeichen  und 
den  auf  „Senkung"  eingestellten  Annahmen  in 
Widerspruch  steht  1 

Dieser  Widerspruch  ist  indessen  doch  nur  ein 
scheinbarer,  denn  eine  Betrachtung  der  Tiefenkarte 
des  mexikanischen  Meerbusens  liefert  den  Schlüs- 
sel dazu. 

Da  zeigt  es  sich  nämlich,  daß  die  Halbinsel 
nicht  als  Ganzes  gleichmäßigen  Senkungsvorgängen 
unterworfen  wurde,  sondern  die  Westküste  ganz 
anders  davon  betroffen  wurde  als  die  Ostküste. 
Dies  geht  aus  dem  Verlauf  der  Steilabsturzlinie 
nach  dem  mexikanischen  Meerbusen  zu  hervor, 
die  im  Westen  bei  270  km  Entfernung  von  der 
Küste  von  200  auf  2000  m,  im  Süden  sogar  von 
95  auf  3700  m  absinkt  und  hiermit  bezeugt,  daß 
die  Halbinsel  einst  an  dieser  Westseite  mehr  als 
doppelt  so  breit  warl 

Im  Osten  dagegen  ist  der  Absturz  nur  ganz 
gering  und  verläuft  nahe  der  Küste  bei  nur  unbe- 
deutender Landeinbuße. 

Es  bedeutet  dies,  daß  die  Senkung  sich  in 
einer  Art  Kippbewegung  um  eine  Drehachse  voll- 
zog, die  fast  genau  mit  dem  Verlauf  der  Ostküste 
zusammenfallt,  welche  somit  nahezu  stillstehend 
in  ihrer  alten  Lage  verharren  konnte. 

Da  der  beschriebene  Shellmound  ganz  nahe 
der  Ostküste  gelegen  ist,  wird  dessen  Verbleib  im 
ursprünglichen  Zustande  ganz  begreiflich  und  die 
etwaigen  Senkungen  und  Hebungen,  die  hier  statt- 
gefunden haben  mögen,  müssen  vor  Anwesenheit 
des  Menschen  sich  zugetragen  haben. 

Schließlich  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß 
der  Zypressenwald  des  Monroesees  zwar  eine  be- 
stimmte Form  des  Vorkommens  im  seichten 
Seewasser  darstellt,  während  die  Verhältnisse  im 
Süden  der  Halbinsel  etwas  andere  sein  mögen, 
dennoch  aber  insofern  auf  gleiche  Wachstums- 
verhältnisse hinauskommen  als  die  Okefeno  swamps 
mit  ihrer  Fläche  von  ca.  900  qkm,  und  die  Ever- 
glades  Cypress  swamps  mit  275  km  Länge  und 
95  km  Breite,  d.  h.  20  000  qkm  ein  Seichtwasser- 


gebiet von  0,30 — I  m  Tiefe  darstellen,  die  in  der 
Regenzeit  noch  anwächst;  eine  wesentlich  ver- 
schiedene Moorvegetation,  die  für  die  Vertorfung 
in  Frage  kommen  könnte,  darf  somit  kaum  vor- 
ausgesetzt werden ! 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  der  Beobachtungen 
zusammen,  um  die  heutigen  noch  im  Sumpfzy- 
pressenwald bestehenden  Verhältnisse  mit  den 
fossilen  tertiären  Vorkommen  im  heimischen  Ge- 
biet zu  vergleichen,  so  ergeben  sich  folgende  Tat- 
sachen : 

1.  Es  gibt  in  Florida  heute  noch  Sumpfzy- 
pressenwald im  Seichtwasser  der  Seen,  der  bei  be- 
schränkter Wassertiefe  einen  Vegetationsgürtel 
darstellt. 

2.  Für  eine  eigentliche  Sumpfvegetation  ist  an 
diesen  Stellen  kein  Platz. 

3.  Die  Sumpfvegetation  wird  durch  eine  Schilf- 
graszone ersetzt,  deren  Zerfallprodukte  eine  Art 
Vertorfung  erzeugen  könnten. 

4.  Die  Einbettung  von  Strecken  des  Sumpf- 
zypressenwaldes in  organische  Schichten,  eventuell 
in  abgestorbenem  Schilfgras  ist  an  eine  Senkung 
des  Untergrundes,  beziehungsweise  an  ein  Vor- 
rücken des  Schilfgrasgebietes  landeinwärts  bei 
wachsender  Wassertiefe  gebunden. 

5.  Während  die  Bohrungen  im  Mississippigebiet, 
500  engl.  Meilen  westlich,  das  Vorhandensein  von 
Sumpfzypressenhorizonten  in  größeren  Tiefen  an- 
deuten, denen  Senkungen,  säkulare  sowie  in- 
stantane,  entsprechen  müssen,  zeigt  ein  Muschel- 
haufen eine  nur  unwesentliche  Senkung  des  Bodens 
seit  seines  Entstehens,  obwohl  die  Bildung  zwar 
unmeßbare,  aber  sicherlich  ungeheuere  Zeiträume 
in  Anspruch  genommen  hat. 

6.  Der  scheinbare  Widerspruch  zwischen  die- 
sem Stillstand  und  den  sonstigen  Anzeichen  von 
Bodensenkung  findet  seine  Erklärung  in  einem 
verschieden  gearteten  Anteil  an  den  Bodenbewe- 
gungen der  Ost-  und  der  Westküste  der  Halb- 
insel, in  dem  Sinne,  daß  während  die  erstere 
ziemlich  unberührt  verblieb,  die  Westküste  durch 
starke  Senkungen  ins  Meer  versank  und  die  Halb- 
insel auf  weniger  als  den  halben  Flächenraum 
einschrumpfte. 

7.  In  Anbetracht  der  Wahrscheinlichkeit,  daß 
organische  Ablagerungen  nur  dann  der  Zerstörung 
zu  entgehen  vermögen,  wenn  ihnen  durch  baldige 
Bedeckung  mit  anorganischen  Sedimenten  der 
nötige  Schutz  zuteil  wird,  darf  für  Florida,  bei 
dem  Fehlen  eines  abtragungsfähigen  höheren 
Hinterlandes,  die  Bildung  von  Stubbenhorizonten 
in  Verbindung  mit  Braunkohlenflözen  wie  unsere 
heimischen  nicht  vorausgesetzt  werden. 

Eugen  Bracht. 


Bücherbesprechimgen. 


Disp er,  Peter,  Über  die  Massenverteilung 
und    Verschiebung     der    Druck-     und 


Zugkräfte  in  einemKometen.  Montabau 
1919,  WUly  Kalb.     3  M. 


128 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  8 


Der  Verfasser  gibt  leider  nicht  genau  an,  wie 
er  sich  die  physikalische  und  chemische  Be- 
schaffenheit eines  Kometen  vorstellt,  was  aber 
zwischen  seinen  mathematischen  Ableitungen  an 
Bemerkungen  eingestreut  ist,  setzt  jedenfalls  ganz 
andere  Gebilde  voraus,  als  sie  über  die  Natur  der 
Kometen  durch  die  Beobachtung  bekannt  geworden 
sind.  Es  könnte  sonst  nicht  auf  S.  15  heißen: 
„Der  Schweif  besitzt  also  einen,  wenn  auch  äußerst 
geringen  Grad  von  Elastizität  und  Biegsamkeit, 
wie  sie  etwa  einem  erhitzten  und  schnell  abge- 
kühlten Stück  Eisen  eigentümlich  ist."  Der  Ko- 
metenkopf scheint  nach  Disper  eine  Gasmasse 
zu  sein,  und  keine  meteorische  Wolke,  so  daß  die 
von  ihm  abgeleiteten  Ergebnisse  für  die  wirklichen 
Kometen  kaum  in  Betracht  kommen  dürften. 
Interessant  sind  die  von  ihm  gefundenen  Be- 
ziehungen zwischen  Gravitation  und  Wärme,  die 
mit  den  Anschauungen  von  Fricke  identisch 
sind  (vgl.  S.  158  dieses  Bandes).  Riem. 

Beutner,  R.,  DieEntstehungelektrischer 
Ströme     in     lebenden     Geweben     und 
ihre     künstliche    Nachahmung     durch 
synthetische    organische  Substanzen. 
Stuttgart  1920,  Verlag  von  F.  Enke. 
In  dem  vorliegenden,  streng  wissenschaftlichen 
Werke    berichtet   der  Verf.   vor  allem    über  seine 
äußerst  interessanten  Versuche  über  die  Entwick- 
lung elektromotorischer  Kräfte   bei   der  Einschal- 
tung   einer   mit  Wasser    nicht  mischbaren  organi- 
schen Flüssigkeit  (kurz    als  „Öl"    bezeichnet)  zwi- 
schen wässrige  Lösungen  verschiedener  Salze  oder 
eines  Salzes  in  verschiedendn  Konzentrationen,  und 
über  Ketten,  die  aus  zwei  verschiedenen,  zwischen 
identische  wässrige  Salzlösungen  geschaltete  „Öle" 
aufgebaut  wurden. 

Ganz  abgesehen  vom  großen  Interesse,  daß 
diese  Ketten  und  ihre  Theorie  für  die  physikalische 
Chemie  besitzen,  sind  sie  von  außerordentlichem 
Werte  für  die  Deutung  der  elektrischen  Ströme, 
die  an  allen  lebenden  Geweben  zwischen  einer 
normalen  und  einer  verletzten  Gewebsstelle  auf- 
treten. 

So  sei  z.  B.  nur  darauf  hingewiesen,  daß  nach 
Ansicht  der  Ref  aus  Beutners  Versuchen  her- 
vorgeht, daß  alle  Versuche,  die  schädigende 
Wirkung  verschiedener  Salze  auf  tierische  Gewebe 
an  der  Größe  des  von  ihnen  hervorgerufenen 
elektrischen  Stromes  zu  messen,  ihr  Ziel  verfehlten, 
weil  nicht  die  Giftwirkung  des  Salzes,  sondern 
sein  Teilungskoefizient  zwischen  Wasser  und  Ge- 
websoberfläche  die    Ursache   der  Verschiedenheit 


der    entwickelten    elektromotorischen    Kräfte    zu 
sein  scheint. 

Die  den  Physiologen  am  meisten  interessierenden 
elektromotorischen  Wirkungen  der  tierischen  Ge- 
webe, die  „Akiionsströme"  werden  vom  Verf.  nicht 
diskutiert;  sicher  werden  auch  bei  ihrer  Deutung 
die  Beutnerschen  Versuche  zu  berücksichtigen 
sein. 

Es  ist  hocherfreulich,  daß  die  Verlagsbuch- 
handlung dieses  Buch,  obwohl  es  vielleicht  zu- 
nächst leider  nur  auf  einen  kleineren  Leserkreis 
hoffen  darf,  der  Wissenschaft  zugänglich  gemacht 
hat.  Brücke,  Innsbruck. 


Schulz,  H.,   Das  Sehen,   eine   Einführung 
in    die    physiologische    Optik.       Stutt- 
gart 1920,  Verlag  F.  Enke. 
Das   vorliegende  Werk   entstammt   der   Feder 
eines  Physikers    und    hat  die  Vorzüge  und  Nach- 
teile dieser  Abstammung. 

Es  führt  den  Leser  gut  in  die  mit  der  physio- 
logischenOptik  zusammenhängenden  physikalischen 
Probleme  ein.  In  die  Darstellung  der  speziell 
physiologischen  und  psychologischen  Tatsachen 
hat  sich  aber  leider  eine  recht  beträchtliche  Zahl 
von  Irrtümern  eingeschlichen. 

Dennoch  wird  das  Buch  als  Ganzes  weiten 
Kreisen  wertvolle  Kenntnisse   vermitteln   können. 

Brücke,  Innsbruck. 


Literatur. 

Seifert,  Prof.  Dr.  O. ,  Die  tierischen  Parasiten  des 
Menschen.  II.  Teil.  Klinik  und  Therapie  der  tierischen  Para- 
siten des  Menschen.  Mit  19  Te.xtabb.  2.  Aufl.  Leipzig  '20, 
C.  Kabitsch.     72  M. 

Pauli,  Prof.   Dr.  Wo.,  Kolloidchemie  der  Eiweifikörper. 

1.  Hälfte.      Mit    27  Textabb,      Diesden    u.    Leipzig    '20,    Th. 
Steinkopf. 

Beniner,  R. ,  Die  Entstehung  elektrischer  Ströme  in 
lebenden  Geweben  und  ihre  künstliche  Nachahmung  durch 
synthetische  organische  Substanzen.  Mit  15  Textabb.  Stutt- 
gart '20,  F.   Enke.     40  M. 

Fehlinger,  H.,  Das  Geschlechtsleben  der  Naturvölker. 
Mit  9  Textabb.     Leipzig  '21,  C.  Kabitsch.     15  M. 

Gothan,  Prof.  Dr.,  Potonies  Lehrbuch  der  Paläobotanik. 

2.  umgearb.  Aufl.     2.  Lief.     Berlin,  Gebr.  Bornträger.     22  M. 

Cassirer,  E.,  Zur  Einsteinschen  Relativitätstheorie.  Er- 
kenntnisiheoretische  Betrachtungen.     Berlin  '21,  B.  Cassirer. 

Schulz,  Dr.  H.,  Das  Sehen.  Eine  Einfuhrung  in  die 
physiologische  Optik.  Mit  86  Textabb.  Stuttgart,  F.  Enke. 
25  M. 

Donath,  Prof.  Dr.  und  Lissner,  Dr.  A. ,  Kohle  und 
Erdöl.     Mit  8  Abb.     Ebenda.     7,50  M. 

Kauffmann,  Prof.  Dr.  H.,  Beziehungen  zwischen  phy- 
sikalischen Eigenschaften  und  chemischer  Konstitution.  Ebenda 
60  M. 


Inhalt:  F.  Kobel,  Das  Problem  der  Wirtswahl  bei  den  parasitischen  Pilzen.  S.  1:3.  H.  Passarge  Die  Birotations- 
Iheorie.  S.  118.  —  Einzelberichte:  M.  Weth,  Der  positive  Spitzenstrom.  S.  121.  H.  Wachs,  Restitution  des  Auges 
nach  E.xstirpation  von  Retma  und  Linse  bei  Tritonen.  S.  123.  Hilzheimer,  Der  Ursprung  des  Menschengeschlechts. 
S.  123.  E.  Bracht,  Der  Sumpfzypressenwald  in  Florida.  S.  124.  —  Bücherbesprechungen:  P.  Disper,  Über  die 
Massenverteilung  und  Verschiebung  der  Druck-  und  Zugkräfte  in  einem  Kometen.  S.  127.  R.  B  eutner,  Die  Ent- 
stehung elektrischer  Ströme  in  lebenden  Geweben  und  ihre  künstliche  Nachahmung  durch  synthetische  organische  Sub- 
stanzen.  S.  1 28.     H.  S  c  h  u  1  z ,  Das  Sehen,  eine  Einführung  in  die  physiologische  Optik.  S.  128.  —  Literatur:  Liste.  S.  128. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  Ton  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 

Sonntag,  den  27.  Februar  1921.  Nummer  9. 


Neue  Folge  so.  Band; 
der  ganxen  Reihe  3Ö.  Band. 


[Nachdruck  verboten.] 


Pflanzen  als  Wetterpropheten. 

Von  K.  Goebel. 
Mit  2  Abbildungen. 


Das  Wetter  vorhersagen  zu  können,  war  von 
jeher  ein  eifrig  erstrebtes  Ziel  —  bekannthch  ist  es 
auch  jetzt  nur  noch  unvollkommen  erreicht.  So- 
lange man  aber  diesem  Wunsch  hilflos  gegenüber- 
stand, suchte  man  ihn  auf  einem  Umweg  zu  be- 
friedigen. Man  nahm  an,  daß  andere  Organismen 
bessere  Wetterpropheten  seien  als  der  Mensch. 

Zu  diesen  Organismen  rechnete  man  auch 
einige  Pflanzen,  die  durch  mehr  oder  minder  auf- 
fallende Bewegungen  erkennen  lassen  sollten,  ob 
gutes  oder  schlechtes  Wetter  bevorstehe.  Dieser 
Glauben  war  so  fest  begründet,  daß  manche  dieser 
Pflanzen  sogar  ihre  Artbezeichnung  daher  erhielten. 
Allgemein  bekannt  sind  bei  uns  die  „Wetterdistel" 
(Carlina  acaulis)  und  das  „Wettermoos"  (Funaria 
hygrometrica).  ^)  In  unseren  botanischen  Gärten 
aligemein  verbreitet  (auch  als  Zierpflanze  angebaut) 
ist  eine  Kappflanze,  Dimorphotheca  p  1  u  v  i  a  1  i  s ,  -) 
so  genannt,  weil  sie  ihre  Blütenköpfe  bei  Regen 
schließen  soll.  Auch  der  aus  Peru  stammende 
Strauch  Porliera  hygrometrica  verdankt  seinen  Art- 
namen einem  ähnlichen  Glauben.  Aber  auch 
solche  Pflanzen,  denen  man  es  nicht  schon  am 
Namen  anmerkt,  haben  zeitweise  als  Wetter- 
propheten Aufsehen  erregt.  So  der  unten  zu  er- 
wähnende Abrus  precatorius  und  andere. 

Wenn  wir  uns  fragen,  wie  diese  Pflanzen  zu 
ihrem  Rufe  gekommen  sind  und  ob  dieser  be- 
gründet ist,  so  sei  zunächst  daran  erinnert,  daß 
die  Bewegungen,  welche  diese  Pflanzen  ausführen, 
ganz  verschiedener  Natur  sind. 

Bei  Porliera,  Abrus,  Dimorphotheca  u.  a. 
handelt  es  sich  um  Bewegungen  lebender  Blatt- 
organe, bei  Carlina,  Funaria  u.  a.  dagegen  um 
tote  Pflanzenteile,  die  hygroskopische  Bewegungen 
ausführen.  Diese  bedürfen  hier  keiner  ausführlichen 
Besprechung  —  man  findet  sie  ja  in  jedem 
botanischen  Lehrbuch  erwähnt.  Es  sei  deshalb 
nur  weniges  hervorgehoben. 

1.  Die  hygroskopische  Empfindlichkeit  ist  eine 
außerordentlich  verschiedene.  Am  größten  ist 
sie  unter  den  mir  bekannten  Pflanzen  bei  einigen 
australischen  „Strohblumen".  Als  Strohblumen 
oder  „Immortellen"  bezeichnet  man  bekanntlich 
einige  Kompositen,  deren  Hochblatthülle  aus 
Blättern  besteht,  die,  wenigstens  in  ihrem  oberen 
Teile,  aus  totem  Gewebe  bestehen,  das  sich  ohne 


•)  Linne  führt  bei  Besprechung  des  Nutzens  des  Moose 
ausdrücklich  an;  „Mnium  hygrometricum  utwisar  luftens 
torka    eller  fuktighet  (Skrifter  afCarl  v.  Linne  II,    p.   137). 

^)  Noch  im  Katalog  für  1921  von  einer  Erfurter  Firma 
steht  bei  dieser  Pflanze  ,, zeigt  Regen  an". 


erhebliche  Schrumpfung  im  trockenen  Zustand 
erhält  und  so  dem  ungeübten  Auge  als  „lebend" 
erscheint.  Die  Bezeichnung  „Immortellen"  ist  also 
eine  ebenso  irrige,  als  die  der  „Jerichorose"  als 
„Auferstehungspfianze"  (Anastatica),  in  beiden 
Fällen  handelt  es  sich  um  totes  Gewebe,  das 
weder  nochmals  sterben  noch  wieder  aufleben  kann. 

Bekannt  sind  auch  außer  der  schon  genannten 
Wetterdistel  namentlich  die  auf  trockenen  Wiesen 
bei  uns  wachsenden  „Katzenpfötchen",  Antennaria 
dioica.  Die  hygroskopische  Empfindlichkeit  der 
Hüllblätter  dieser  Pflanzen  ist  aber  eine  recht 
bescheidene  gegenüber  der  einiger  australischer 
Helipteres  -  Arten ,  die  in  unseren  Gärten  nicht 
selten  als  Zierpflanzen  gezogen  werden,  weil 
deren  Hüllblätter  durch  ihre  lebhafte  Färbung 
(rot,  gelb  usw.)  ebenso  als  „Schauapparat"  — 
wenigstens  für  das  menschliche  Auge  —  auffallen, 
wie  bei  anderen  Kompositen  die  Randblüten. 

Diese  Hüllblätter  besitzen  eine  kurze  mittlere 
Zone,  die  als  hygroskopisches  Bewegungsgelenk 
tätig  ist. ')  Bestreicht  man  diese  Zone  auf  der 
Außenseite  mit  Wasser,  so  tritt  augenblicklich 
eine  starke  Einwärtskrümmung  des  oberen  Blatt- 
teiles ein,  während  keine  Bewegung  erfolgt,  wenn 
man  den  oberhalb  des  Gelenkteiles  gelegenen 
Teil  des  Involukralblattes  benetzt.  Das  Gelenk 
ist  eine  ganz  kurze  schmale  Zone  an  der  Grenze 
zwischen  dem  unteren,  teilweise  noch  aus  lebendem 
Gewebe  bestehenden  Teil  des  Involukralblattes 
und  dem  oberen,  schmäleren  gefärbten.  Es  ist 
dorsiventral,  denn  nur  die  Außenseite  (Unterseite) 
ist  in  erheblichem  Maße  hygroskopisch.  Diese 
aber  ist  sehr  empfindlich.  Es  genügt,  daß  man 
einen  „geöffneten"  Blütenkopf  in  einen  wasser- 
dampfreichen  Raum  bringt,  um  sofort  einen  Ver- 
schluß der  Blütenköpfe  herbeizuführen.  Als  solchen 
Raum  benutzte  ich  das  Victoria  regia- Haus  unseres 
Gartens.  Die  Blütenköpfe  von  Helipteres  roseum 
blieben  darin  dauernd  geschlossen.  Nur  bei  sta;i:em 
Sonnenschein,  der  zunächst  eine  Verminderung 
der  relativen  Luftfeuchtigkeit  bedingte,  trat  eine 
schwache  Öffnung  ein.  Es  genügt  also  Wasser- 
dampf, um  eine  Schließbewegung  herbeizuführen. 
Demgemäß  blieben  an  luftfeuchten  Tagen  auch 
die  Blütenköpfe  geschlossen.  Es  kann  keinem 
Zweifel  unterliegen,  daß  auch  der  abendliche  Ver- 
schluß derHelipteres-Blütenköpfe  auf  eine  Zunahme 
der  relativen  Luftfeuchtigkeit,  also  auf  einer  hygro- 


')  Vgl.  Goebel,  Die  Entfaltungsbcwegungen  der  Pflanzen, 
Jena   1920,  S.  93. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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skopischen  Bewegung  beruht.  Um  einigermaßen 
zahlenmäßige  Anhaltspunkte  für  die  hygroskopische 
Empfindlichkeit  dieser  Involukralblätter  zu  ge- 
winnen, wurden  im  Exsikkator  durch  Schwefelsäure 
verschiedenen  Wassergehaltes  verschiedene  Grade 
relativer  Luftfeuchtigkeit  hergestellt.  Bei  Anwendung 
von  40proz.  Schwefelsäure  (57%  relative  Luft- 
feuchtigkeit) blieben  die  Köpfe  offen.  Bei  35proz. 
(etwa  ö5"/(,  relative  Luftfeuchtigkeit)  waren  sie  halb- 
geöffnet, bei  30proz.  (/Ö^/q  relative  Luftfeuchtig- 
keit) geschlossen.  IMan  kann  also  wohl  annehmen, 
daß  Verschluß  erfolgt,  wenn  etwa  70%  relative 
Luftfeuchtigkeit  erreicht  ist.  Eine  Verminderung 
um  13%  genügt,  um  die  Offnungsbewegung  herbei- 
zuführen. 

Man  wird  geneigt  sein,  anzunehmen,  daß  diese 
starke  hygroskopische  Empfindlichkeit  der  Pflanze 
von  Nutzen  sei,  derart  etwa,  daß  nachts  die  Blüten 
durch  den  Verschluß  des  Involukrums  gegen  die 
schädliche  Einwirkung  von  Feuchtigkeit  geschützt 
seien. 

Das  ist  möglich.  Aber  es  sei  darauf  hinge- 
wiesen, daß  eine  hygroskopische  Empfindlichkeit 
auch  vorkommt,  wo  diese  Schutzbedeutung  aus- 
geschlossen ist.  So  ist  es  bei  Ammobium  alatum, 
der  bekanntesten  „Strohblume",  die  gleichfalls 
dem  australischen  Florengebiet  entstammt.  Hier 
sind  die  Hüllblätter  so  kurz,  die  Blütenköpfe  so 
dick,  daß  die  letzteren  von  ersteren  zur  Blütezeit 
nicht  mehr  ,, geschlossen"  werden  können.  Trotz- 
dem sind  die  Hüllblätter  hier  ebenfalls  hygrosko- 
pisch. Diese  Eigenschaft  ist  also  gewiß  nicht  im 
„Kampf  ums  Dasein"  zum  Schutz  der  Blüten  er- 
worben worden.  Vielmehr  sehen  wir  den  oberen 
Teil  der  Hüllblätter  an  den  Blütenköpfen  einer 
ganzen  Anzahl  von  Kompositen  aus  ganz  oder 
größtenteils  abgestorbenem  Gewebe  bestehen 
(z.  B.  Xeranthemum,  einige  Centaurea-Arten  u.  a.), 
ohne  daß  sie  ausgesprochen  hyproskopische  Be- 
wegungen ausführen.  Bei  Helipteres  ist  die  pri- 
märe Funktion  des  Gelenks  die  der  Öffnung  des 
Hüllblattapparates  beim  Austrocknen.  Das  ge- 
schieht durch  Schwinden  des  Gelenks  auf  der 
Außenseite.  Die  Schließbewegung  kann  ja  mög- 
licherweise auch  von  Nutzen  sein.  Aber  wenn 
ein  solcher  vorhanden  ist  —  was  nur  experimen- 
tell erwiesen  werden  kann  — ,  so  ist  er  nur  ein 
sekundärer. 

Die  kurz  besprochenen  hygrometrischen  Pflan- 
zen können  also  insofern  einigermaßen  als  „Wet- 
terpropheten" gelten,  als  sie  eine  Zunahme  der 
Luftfeuchtigkeit  anzeigen,  die  ja  vielfach  dem 
Regen  voran  geht. 

Geheimnisvollere  Kräfte  schrieb  man  der 
zweiten  Gruppe  von  Pflanzen  zu,  bei  denen  es 
sich  namentlich  um  Öffnungs-  und  Schließbe- 
wegungen von  Blütenköpfen  und  Blättern  handelt. 

Vaucher,  in  dessen  —  mit  Unrecht  fast  ver- 
gessenem —  Werk  sich  eine  Menge  „biologischer" 
Beobachtungen  finden,  sagt  ^)  von  Dimorphotheca: 
„Ce  que  le  Pluvialis  presente  de  remarquable,  c'est 
le    mouvement    de    ses   ligules    qui   s'ouvrent    le 


matin,  si  la  temp^rature  est  sereine,  mais  qui 
restent  fermes,  si  le  temps  annonce  une  pluie 
durable,  et  non  pas  une  pluie  d'orage."  Er  folgte 
darin  im  wesentlichen  dem,  was  Linne  von  einer 
anderen  Pflanze  anführte:  „Den  Sonchus  Sibiriens 
(=  Lactuca  sibirica)  hat  Linne-)  sogar  zum  Wet- 
terpropheten gemacht,  indem  er  sagte,  daß  der 
folgende  Tag  meistens  schön  ist,  wenn  die  Blüthen 
des  Sonchus  die  Nacht  hindurch  geschlossen  sind; 
der  folgende  Tag  wäre  aber  unbeständig  und 
regnigt,  wenn  die  Blüthen  des  Sonchus  die  ganze 
Nacht  hindurch  offen  geblieben  wären.  Ich  habe 
zwar  nicht  Gelegenheit  gehabt  den  Sonchus 
Sibiriens  des  Nachts  zu  beobachten,  aber  wahr- 
scheinlich wird  er  ein  ebenso  schlechter  Wetter- 
prophet sein,  als  die  Calendula  pluvialis,  von  der 
man  sagt,  daß  sie  sich  schließt,  wenn  Regen  bevor- 
steht; diese  Blume  richtet  sich  aber  mehr  nach 
dem  Sonnenschein,  als  nach  dem  kommenden 
Regen.  Herr  Link  sagte,  daß  er  die  Calendula 
pluvialis  sehr  oft  beobachtet  und  gefunden  habe, 
daß  sie  sich  nur  dann  an  das  Wetter  kehrt,  wenn 
es  lange  trocken  gewesen  ist,  wenn  aber  oft 
Regenschauer  kommen,  so  richtet  sie  sich  auf 
keine  Weise  darnach,  woraus  man  auf  ein  Ge- 
wöhnen an  schlechtes  Wetter  schließen  könnte."^) 
Tatsächlich  handelt  es  sich  bei  diesen  Kompositen 
aber  nicht  um  Wetterpropheten.  An  einem  warmen 
Julitage  blieben  in  unserem  Garten  die  Pflanzen 
von  Dimorphotheca  pluvialis  trotz  10  Minuten 
langem  prasselndem  Regens  geöffnet  —  während 
die  Blütenköpfe  von  Helipteres  roseum  und  H. 
Manglesii  durch  die  Bewegungen  ihrer  Involu- 
kralblätter geschlossen  waren.  Das  periodische 
Offnen  und  Schließen  dieser  Pflanzen  wird  viel- 
mehr wie  in  anderen  Fällen  durch  ihre  Empfind- 
lichkeit für  Schwankungen  der  Licht-  und  Wärme- 
intensität bedingt.  Je  nach  den  einzelnen  Pflanzen 
überwiegt  die  thermonastische  oder  die  photo- 
nastische  Reizbarkeit.  Dimorphotheca  gehört  zu 
den  ersteren  —  man  kann  sich  leicht  überzeugen, 
daß  Pflanzen  im  Victoriahaus  auch  nachts  10'', 
wenn  die  im  Freien  stehenden  längst  geschlossene 
Blütenköpfe  zeigen,  diese  noch  offen  haben.  Daß 
die  Blütenköpfe  auch  photonastisch  reizbar  sind, 
soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  indes  ver- 
dankt die  Pflanze  ihren  Namen  jedenfalls  nicht 
ihrer     photonastischen,     sondern    ihrer     thermo- 


')  Vaucher,  Histoire  pbysiologique  des  plantes  d'Eu- 
rope,  Vol.  III  (1S41),  p.   140. 

^)  Vgl.  Linne,  Phil.  bot.  ed.  II,  p.  275  wo  es  von  „Ca- 
lendula africana"  heißt:  .  .  .  at  vero  si  vigilias  non  adsumat, 
seu  non  aperiat  flores  hora  septima  matutina,  pluviae  hac 
die  cadent,  coustanti  lege  umbres  autem  ex  tonitru  evilare  non 
facile  didiscit.  Sonchus  Sibiriens  si  noctu  claudatur  proxi- 
ma  dies  plerumque  serena  erit,  si  vero  aperto  flore  per  noctem 
vigilet  insequens  dies  plerumque  erit  pluviosa."  Offenbar  be- 
ruht diese  Annahme  darauf,  daß  die  Blütenköpfe  stärker  ther- 
monastisch  als  photonastisch  sind,  in  einer  warmen  Nacht 
also  offen  bleiben.  Nach  einer  waimen  Nacht  regnet  es  öfter 
als  nach  einer  kalten.  Darauf  dürfte  Linnes  Annahme  be- 
ruhen. 

')  M  e  y  e  n ,  Neues  System  der  Pflanzenphysiologie,  III 
(1839),  S.  497- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nastischen  Reizbarkeit.     Als  Regenprophet  ist  sie 
jedenfalls  ganz  unbrauchbar. 

Die  Pflanzen,  die  man  seit  Pfeffers  Unter- 
suchungen gewöhnlich  zur  Demonstration  der 
Öffnungs-  und  Schließungsbevvegungen  der 
Blüten  zu  benutzen  pflegt:  Crocus  und  Tulipa 
sind  im  getriebenen  Zustand  nicht  sehr  empfind- 
lich. Die  thermonastisch  am  stärksten  empfind- 
liche Pflanze,  die  ich  derzeit  kenne,  ist  0.\'alis 
hirta,  eine  wie  Dimorphotheca  vom  Kap 
stammende  Oxalis-Art.  Sie  bildet  in  unserem  im 
Winter  auf  12 — 15"  gehaltenen  Kaphause  zwar 
ihre  Blütenknospen,  aber  sie  entfaltet  sie  bei 
dieser  Temperatur  nicht.  Bringt  man  aber  eine 
Pflanze  mit  noch  geschlossenen,  hinreichend  aus- 
gebildeten Blütenknospen  in  ein  Gewächshaus  mit 
25",  so  öffnen  sich  die  Knospen  innerhalb  von 
5  Minuten.  In  das  kühle  Haus  zurückgebracht, 
schließen  sich  die  Blüten  wieder,  brauchen  dazu 
aber  eine  längere  Zeit — mehrere  Stunden.  Sie  können 
sich  bei  höherer  Temperatur  dann  noch  einmal 
öffnen.^)  Gegen  Benässung  sind  die  Blüten  sehr 
empfindlich,  nicht  nur  öffnen  sie  sich  in  warmes 
Wasser  gelegt  überhaupt  nicht,  sondern  es  genügt 
ein  kurzdauernder  Aufenthalt  im  Wasser,  um  sie 
abzutöten.  Es  mag  also,  da  Regen  und  niedrigere 
Temperatur  miteinander  zusammen  aufzutreten 
pflegen,  auch  aus  diesem  Grunde  für  die  Blüten 
vorteilhaft  sein,  daß  sie  nur  bei  höherer  Tempe- 
ratur sich  öffnen. 

Es  gibt  aber  auch  Blüten,  deren  Öffnungs- 
und Schließbewegung  von  anderen  Faktoren  ab- 
hängt, die  man  bisher  meist  übersehen  hat  und 
zwar  deshalb,  weil  die  meisten  Botaniker  die 
(Jffnungs-  bzw.  Schließbewegung  nur  als  einen 
durch  Wachstumsverschiedenheit  auf  den  beiden 
Seiten  der  Blumenblätter  usw.  bedingt  betrachten. 
Es  geschah  das  auf  Grund  der  berühmten  Unter- 
suchungen von  Pfeffer.  Dieser'-)  glaubte  nach- 
gewiesen zu  haben,  daß  die  Krümmungsbewegun- 
gen der  Blüten  durch  Wachstum  vermittelt  werden. 

Gewiß  ist  das  in  den  von  Pfeffer  unter- 
suchten Blüten  und  vielen  anderen  so.  Aber  man 
kann  nicht  von  Crocus  und  Tulipa  auf  die  Ge- 
samtheit der  Blüten  schließen.  Unzweifelhaft 
handelt  es  sich  bei  manchen  davon  nicht  um 
Wachstumsverschiedenheiten  auf  Ober-  und  Unter- 
seite, sondern  um  Verschiedenheiten  der  Turgor- 
spannung.  Das  läßt  sich  besonders  leicht  bei  den 
Blüten  von  Silene  Arten  zeigen. 

Manche  davon  zeigen  bekanntlich  ein  periodi- 
sches Offnen  und  Schließen,  wobei  der  Verschluß 
durch  Einrollen  der  Blumenblätter  stattfindet. 
Letzteres  erfolgt  bei  Melandryum  noctiflorum, 
Silene  nutans  u.  a.  am  Tage,  die  Öffnung  abends. 
Man  kann  aber  auch  am  Tage  leicht  eine  Öffnung 
der  Blüten  herbeiführen,  bzw.  sie  geöffnet  er- 
halten. 


Meine  Beobachtungen  an  Silene  nutans  und 
Mel.  noctiflorum  ergaben  zunächst  folgendes. 

Wenn  man  Blüten  von  Sil.  nutans  oder  Mel. 
noctiflorum  mit  eingerollten  Petalen  in  Wasser 
legt,  findet  bald  eine  Ausbreitung  statt.   So  hatte 


Abb.   I. 


Abb.   2. 


')  Bei  Pflanzen,  die  schon  länger  im  Warmhaus  stehen, 
tritt  die  photonastische  Reizbarkeit  hervor. 

-)  Pfeffer,  Pflanzenphysiologie,  2.  Aufl.,  II,  S.  175.  Auf 
die  sonstige  Literatur  kann  hier  nicht  eingegangen   werden. 


z.  B.  die  in  Abb.  i  abgebildete  Infloreszenz  5^1$ 
nachmittags  drei  Blüten  mit  eingerollten  Petalen. 
Abb.  2  zeigt  dieselbe,  nachdem  die  Blüten  ^/^  Stun- 
den in  Wasser  von  20°  gelegen  hatten  —  bei 
höherer  Temperatur  geht  die  Ausbreitung  wesent- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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lieh  rascher  vor  sich.')  Dem  entspricht,  daß  diese 
Blüten  an  trüben  feuchten  Tagen  gleichfalls  ge- 
öffnetbleiben können,  ebenso  wenn  man  sie  öfters 
bespritzt.  Selbstverständlich  spricht  dabei  aber 
die  Wasserversorgung  der  ganzen  Pflanze  mit. 
Daß  die  Einrollung  auf  einer  Turgorverminderung 
der  Oberseite  beruht,  ist  mir  nicht  zweifelhaft. 
iVIan  kann  sie  bei  Silene  conoidea  herbeiführen 
dadurch,  daß  man  die  Blüten  wiederholt  hin-  und 
herbewegt  oder  daß  man  sie  abgeschnitten  in 
trockener  Luft  liegen  läßt.  Es  ist  derselbe  Vor- 
gang, welcher  früher  ^)  von  Gräsern  wie  Leersia 
clandestina  und  Phalaris  arundinacea  beschrieben 
wurde,  nur  daß  er  bei  Sil.  nutans  und  Mel.  nocti- 
florum  mehrere  Tage  hintereinander  sich  einstellen 
kann.  Ferner  erhielt  ich  sehr  rasche  Einrollung 
der  Blumenblätter  von  Mel.  noctiflorum,  wenn  ich 
die  abends  geöffneten  Blumenblätter  auf  ihrer 
Oberseite  mit  einem  heißen  Körper  in  Berührung 
brachte  und  dadurch  den  Turgor  aufhob.  Be- 
streichen mit  hypertonischen  Lösungen  wirkt  viel 
langsamer  und  schwächer,  weil  die  Blumenblätter 
schwer  benetzbar  sind.  Andere  Sileneen  zeigen 
die  Einrollung  nur  beim  Abblühen. 

In  dem  Ein-  und  Aufrollen  der  Blumenkrone  eine 
Anpassungserscheinung  nachzuweisen,  wird  nicht 
leicht  sein.  Man  kann  die  Einrollung  nicht  etwa  als 
eine  Schutzvorrichtung  für  die'Staubblätter  und  ihren 
Pollen  ansehen,  denn  die  Staubblätter  von  Silene 
nutans  ragen,  wie  Abb.  i  zeigt,  aus  den  einge- 
rollten Blumenkronen  weit  hervor,  die  von  Mel. 
noctiflorum  treten  über  die  „Nebenkrone"  über- 
haupt nicht  hervor,  brauchen  also  auch  keinen 
Schutz.  Die  eingerollten  Blumenblätter  versperren 
auch  durchaus  nicht  immer  den  Eingang  in  die 
Blüte.  Daß  die  Blumenblätter  aber  gegen  Schä- 
digung durch  Austrocknen  empfindlicher  seien 
als  die  anderer  Silene- Arten,  welche  keine  peri- 
odische Bewegung  zeigen  und  sich  gegen  diese 
Gefahr  durch  Einrollung  schützen,  ist  weder  nach- 
gewiesen noch  wahrscheinlich.  Es  liegt  eine  Ab- 
hängigkeit des  Turgors  der  Oberseite  von  äußeren 
Faktoren  vor  —  ähnlich  wie  in  anderen  Fällen, 
ohne  daß  man  diese  derzeit  als  eine  adaptative 
bezeichnen  könnte. 

Daß  beim  Offnungsvorgang  der  Blumenkrone 
die  Blumenblätter  noch  erheblich  heranwachsen, 
ist  auch  ohne  Messung  leicht  wahrnehmbar.  Dann 
aber  wirkt  der  Antagonismus  zwischen  Ober- 
und  Unterseite  so,  daß  nur  bei  starker  Turges- 
zenz  der  ersteren  die  Blüte  geöffnet  bleibt.  Sinkt 
die  Turgeszenz  auf  der  Oberseite,  ^)  so  tritt  Ver- 

')  Vaucher  (Histoire  physiol.  des  plan'es  d'Europe,  I 
(1841),  p.  365),  welcher  die  Bewegungen  der  Fetalen  einiger 
Silene- Arten  erwähnt,  meint,  sie  seien  ,,independants  de  tout 
ageut  exterieur,  puisqu'ils  ont  lieu  par  un  temps  pluvieux 
comme  par  un  ciel  serein,  et  dans  l'obscurile  comme  au  plein 
jour".  Daß  das  nicht  zutrifft,  geht  aus  dem  oben  Mitge- 
teilten hervor. 

'■')  Goebel,  Entfaltucgsbewegungen,  S.  44. 

^)  Wenn  man  eingerollte  Blumenblätter  ausbreitet,  schnellen 
sie  wieder  (wie  schon  Gärtner  beobachtete)  in  ihre  ur- 
sprüngliche Lage  zurück. 


Schluß  ein.  Das  kann  bei  manchen  Sileneen 
mehrmals  (periodisch)  erfolgen,  bei  anderen  ge- 
schieht es  nur  einmal  beim  Abblühen.  Künst- 
lich kann  der  Vorgang,  wie  die  bei  Silene 
conoidea  angeführte  Beobachtung  zeigt,  auch  vor 
dem  Abblühen  durch  Transpirationssteigerung, 
und  mehrmals  hervorgerufen  werden.  Der  Unter- 
schied liegt  also  nur  in  einer  größeren  Empfindlich- 
keit der  Oberseite  bei  den  Silenazeen  mit  mehr- 
mals sich  öffnenden  Blüten. 

Sehen  wir  noch  zu,  wie  es  sich  mit  den 
„Wetterpflanzen"  verhält,  deren  Blattbewegungen 
als  ein  Anzeichen  für  die  Witterungsfestslellung 
abgeben  sollten. 

Porliera  hygrometrica  ist  ein  zu  den  Zygo- 
phyllen  gehöriger  Strauch,  der  an  trockenen  Stand- 
orten in  Peru  wächst.  Der  Artname  rührt  von 
den  Beobachtungen  her,  die  schon  die  ersten  Be- 
schreiber  der  Pflanze,  Ruiz  und  Pavon')  ver- 
anlaßten,  diese  als  Wetterpropheten  zu  betrachten. 
Zunächst  sei  erwähnt,  daß  die  Blätter  sehr  schöne 
Schlafbewegungen  ausführen.  Sie  sind  doppelt 
gefiedert.  Die  Fiederbläitchen  schlagen  sich  nach 
oben  zusammen,  die  Blattspindel  senkt  sich.  Das 
Aussehen  der  ganzen  Pflanze  wird  durch  diese 
„nyktinastische"  Bewegung  so  verändert,  daß  sie 
auf  die  genannten  Forscher  den  Eindruck  machte, 
als  ob  sie  blattlos  und  vertrocknet  sei.  Die  Wet- 
terprophezeiung soll  nun  darin  bestehen,  daß 
wenn  der  folgende  Tag  trocken  sein  wird,  eine 
halbe  Stunde  vor  Sonnenuntergang  die  Blätter 
anfangen  sich  zusammenzufalten,  was  früher  ein- 
tritt, wenn  der  folgende  Tag  neblig  und  stürmisch 
sein  wird. 

Die  Zeit,  in  der  die  nyktinastische  Bewegung 
eintritt,  soll  also  anzeigen,  wie  das  Wetter  am 
folgenden  Tage  sich  gestalten  wird.  Außerdem 
kommt  das  Verhalten  zum  Regen  in  Betracht :  R  u  i  z 
und  Pa  von  geben  an,  wenn  es  nachmittags  stark 
geregnet  habe  und  die  Pflanze  naß  geworden  sei, 
so  schließen  sich  die  Blätter  vor  oder  kurz  nach 
Sonnenuntergang  vollständig.  Das  tun  sie  aber 
auch  sonst. 

Endlicher-)  dagegen  meint ,  die  Blätter 
seien  bei  heiterem  Wetter  ausgebreitet,  wenn 
Regen  bevorstehe  (instante  pluvia)  aber  geschlossen. 
Ob  das  auf  eigener  Wahrnehmung  oder  auf  einer 
mißverstandenen  Mitteilung  von  Ruiz  und  Pa- 
von  beruht,  vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Jeden- 
falls ist  die  Angabe  nicht  richtig. 

Eingehender  untersucht  wurde  das  Verhalten 
von  Porliera  von  Pantanelli. ')  Wie  zu  erwar- 
ten war,  ergab  sich  dabei,  daß  Porliera  kein 
Wetterprophet  ist.     Die  Blattbewegungen  können 


')  Ruiz  et  Pavon,  Systema  vegetabilium  florae  peru- 
vianae  et  chilensis,  1,   1798,   p.  94  u.  95. 

*)  Endlicher,  Genera  plantarum  ( 1836 — 1840),  II,  110. 

')  Enr.  Pantanelli,  Studi  d'anatomia  e  fisiologia  sui 
Pulvini  motori  di  Robinia  Pseudacacia  L.  et  Porliera  hygro- 
metrica R.  et  P.  Atti  della  societa  dei  Naturalisti  e  Matematici 
de  Modena,  Ser.  IV,  Vol.  II,  1901.  Daselbst  auch  weitere 
Literatur. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


133 


zwar  abgesehen  vom  Licht  auch  von  anderen 
äußeren  Einwirkungen  —  namentlich  der  Luft- 
feuchtigkeit —  beeinflußt  werden,  aber  wenn  die 
alten  Autoren  daraus  auf  eine  Vorahnung  des 
Wetters  am  folgenden  Tage  geschlossen  haben, 
so  beruht  das  nur  darauf,  daß  nach  einem  trüben 
feuchten  Abend  am  folgenden  Tage  häufig  schlechtes 
Wetter  eintritt.  Im  übrigen  bestätigte  Panta- 
nelli,  daß  je  nach  der  Luftfeuchtigkeit  die  Schlaf- 
bewegungen früher  oder  später  eintreten  können, 
derart,  daß  ein  Steigen  der  Luftfeuchtigkeit  im 
allgemeinen  die  „Schlafbewegung"  und  die  Wach- 
bewegung früher  eintreten  läßt,  was  nicht  zu  ver- 
wundern ist,  da  es  sich  dabei  um  Beeinflussung 
des  Turgors  der  Gelenkpolster  handelt.  Doch  ist 
der  Einfluß  ein  verhältnismäßig  wenig  starker 
gegenüber  den  „inneren",  die  Turgoränderungen 
bedingenden  Einflüssen.  Eine  höhere  Luftfeuchtig- 
keit begünstigt  nur  zeitweilig  die  Ausdehnung  der 
gerade  „aktiveren"  Hälfte  des  Gelenkpolsters. 

Außerdem  nimmt Pantan eil i  noch  eine„Regen- 
scheu"  der  Pflanze  an.  Nach  oder  während  eines 
Regens  verändern  sich  die  Öfi'nungswinkel  der 
Blättchen  und  noch  mehr  der  Blätter.  Dabei  kann 
es  sich  nicht  um  den  Einfluß  der  Luftfeuchtigkeit 
handeln,  sondern  entweder  um  den  der  Benetzung, 
einer  Temperaturdifferenz  oder  den  mechanischer 
Erschütterung.  Letzteres  lehnt  Pantanelli  ab,  aber 
er  ist  über  die  eigenthche  Ursache  nicht  ins  Klare 
gekommen.  Denn  es  ist  nur  eine  teleologische 
Zurechtlegung,  wenn  er  sagt,  „wir  stehen  also  vor 
einer  Abwehreinrichtung  gegen  das  Wasser  in  den 
Beziehungen  auf  die  Ernährungsphysiologie:  ein- 
mal um  die  Transpiration  nicht  zu  hemmen,  sodann 
um  die  Infiltration   zu  verhindern,   oder   auch   für 


beide  Zwecke.  Daß  die  Spaltöffnungen  auf  der 
Oberseite  der  Blättchen  zahlreicher  sind,  wird 
diese  Annahme  stützen".  Daß  aber  Porliera  nicht 
einen  Regen  voraus  ahnen  kann,  ist  klar.  Es  ist 
möglich,  daß  Endlichers  Angabe  darauf  beruht, 
daß  einem  Regen  starke  Licht-  oder  Temperatur- 
abnahme vorausging. 

Die  Bewegungen  von  Porliera  sind  also  zwar 
noch  nicht  vollständig  aufgehellt,  aber  sicher  ist, 
daß  sie  ihren  Artnamen  „hygrometrica"  ebenso- 
wenig zu  Recht  trägt,  wie  Dimorphotheca 
„pluvialis"  genannt  zu  werden  verdient. 

Im  Jahre  1888  tauchte  eine  neue  „Wetter- 
pflanze" auf.  Es  erschien  in  Prag  eine  Broschüre 
„J.  F.  Nowacks  Wetterpflanze,  deren  Eigen- 
schaften, Cultur  und  Pflege,  mit  Anleitung,  wie 
durch  dieselbe  jegliche  Witterungs-  und  Temperatur- 
veränderung für  den  Horizont,  die  Umgebung  und 
Local  unbedingt  verläßlich  und  genau  48  Stunden 
vorher  bestimmt  werden  kann". 

Diese  Pflanze,  deren  Eigenschaften  in  so  merk- 
würdigem Deutsch  gepriesen  wurde,  ist  Abrus 
precaiorius,  eine  Leguminose. 

Eine  sorgfältige  in  Kew  von  F.  W.  Oliver 
ausgeführte  Untersuchung  ')  ergab,  daß  die  Blatt- 
bewegungen wie  bei  anderen  Leguminosen  un- 
mittelbar von  Schwankungen  des  Lichtes  und 
der  Wärme  beeinflußt  werden,  aber  keine  Vor- 
ahnung für  künftige  Ereignisse  erkennen  lassen. 
Das  wird  nicht  hindern,  daß  solche  Wetterpflanzen 
wieder  auftauchen  —  Mysterien  haben  die  Menschen 
stets  mehr  angezogen  als  nüchterne  Beobachtung! 


')    The    weather    plant,    Bulletin   of  miscellaneous   infor- 
mation  Royal  Gardens,  Kew,  Nr.  37,  1890. 


[Nachdruck  verboten.] 


Der  Holunder  (Sainbucus  uigra)  iu  der  Volkskuudfe. 

Von  Dr.  Heinrich  Marzell,  Gunzenhausen  (Bayern). 


Obwohl  sich  der  Holunder  meist  in  nächster 
Nähe  der  menschlichen  Siedelungen  findet,  so 
daß  es  scheinen  könnte,  er  wäre  überall  der  Kul- 
tur entsprungen,  so  ist  er  doch  ein  in  Mitteleuropa 
wirklich  einheimischer  Strauch.  Seine  natürlichen 
Standorte  sind  Auenwälder  und  Flußufer.  Aller- 
dings wurde  er  sicher  schon  sehr  früh  auch  von 
den  Menschen  angepflanzt,  so  daß  ein  Vorkom- 
men im  Walde  nicht  selten  ein  Überrest  früherer 
Kultur  sein  mag.  Auch  haben  wohl  beerenfres- 
sende Vögel  viel  zu  seiner  Verbreitung  außerhalb 
seines  natürlichen  Standortes  beigetragen.  In  den 
steinzeitlichen  Niederlassungen  der  Schweiz  und 
den  bronzezeitlichen  Oberitaliens  wurden  Samen 
des  Holunders  aufgefunden.  Dies  läßt  darauf 
schließen,  daß  schon  der  prähistorische  Mensch 
die  Beeren  einsammelte  und  (zu  Mus  gekocht) 
verzehrte.^)  Da  der  Holunder  auch  in  Südeuropa 
ein   ziemlich    häufiger  Strauch  ist,    so    haben   ihn 


die  Völker  des  klassischen  Altertums  sicher  ge- 
kannt. Theophrast')  beschreibt  den  von  ihm 
,akte'  genannten  Strauch  sehr  ausführlich,  gibt  aber 
keine  arzneilichen  Verwendungen  an.  Daß  aber 
solche  bekannt  waren,  beweisen  die  Schriften  der 
Hippokratiker,  die  die  akte  als  abführendes,  harn- 
treibendes und  gynäkologisches  Mittel  nennen, 
vorausgesetzt  daß  hier  dieser  Pflanzenname  das- 
selbe bedeutet  wie  bei  Theophrast  und  nicht 
etwa  den  verwandten  Attich  (Sambucus  Ebulus). 
Dioskurides')  unterscheidet  akte  (Sambucus 
nigra)  und  chamaeakte  (^„Erdholunder";  Sam- 
bucus Ebulus).  Er  sagt  aber,  daß  Anwendung  und 
Wirkung  bei  beiden  Pflanzen  die  gleiche  sei.  Als 
solche  gibt  er  die  harntreibenden  Eigenschaften 
an,  ferner  führen  die  als  Gemüse  gekochten  Blätter 
Schleim  und  Galle  ab.  Die  in  Wein  gekochte 
Wurzel  dient  den  Wassersüchtigen;   auch  soll  sie 


Buschan  1895,  137. 


')  Hist.  plant.  3,   13. 
')  Mat.  med.  4,   173. 


134 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


gegen  Schlangenbiß  helfen.  Die  frischen  Blätter 
lindern  als  Umschlag  Entzündung  und  Geschwüre, 
ferner  helfen  sie  bei  Podagra,  wenn  sie  mit  Ochsen- 
oder Bockstalg  aufgelegt  werden.  Die  Beeren 
werden  schließlich  zum  Schwarzfärben  der  Haare 
benutzt.  Viele  dieser  von  Dioskurides  ange- 
gebenen Anwendungen  finden  wir  noch  heute  in 
der  Volksmedizin.  P 1  i  n  i  u  s  ^)  berichtet  von  einem 
Aberglauben  der  Hirten,  demzufolge  Hörner  und 
Posaunen,  die  aus  dem  Holz  des  „sabucus"  ge- 
fertigt sind,  lauter  schallen,  wenn  das  Holz  dazu 
da  geschnitten  wurde,  „wo  der  Strauch  das  Krähen 
der  Hähne  nicht  hören  kann".  An  anderer  Stelle  -) 
bespricht  er  die  Heilkraft  des  Holunders.  Seine 
Angaben  decken  sich  ungefähr  mit  dem  bei 
Dioskurides  Gesagten.  Die  Masern  werden 
vertrieben,  schreibt  Plinius,  wenn  man  die  von 
ihnen  befallenen  Körperstellen  mit  einem  Holunder- 
strauch peitscht.  Es  erinnert  dies  an  die  „Über- 
tragung" des  Rotlaufs  auf  einen  Holunderzweig, 
wie  sie  die  deutsche  Volksmedizin  kennt. 

Die  medizinischen  und  botanischen  Schriften 
des  deutschen  Mittelalters  behandeln  den  Holunder 
ausführiich,  nicht  nur  weil  ihn  die  alten  Arzte  so 
hoch  schätzten,  sondern  weil  der  Baum  auch  im 
deutschen  Volksglauben  ein  ganz  besonderes  An- 
sehen genoß.  Albertus  Magnus  (gest.  1280) 
sagt  am  Schluß  seines  Kapitels  über  den  Holunder,  ^j 
daß  er  nicht  alle  Eigenschaften  des  Strauches  be- 
sprochen habe,  weil  sie  ja  ohnehin  allgemein  be- 
kannt seien.  Ferner  behauptet  er,  daß  die  innere 
Rinde  des  Holunders,  wenn  sie  von  unten  nach 
oben  geschabt  werde,  ein  Brechmittel,  wenn  von 
oben  nach  unten  ein  Abführmittel  sei; 
ja  er  setzt  sogar  hinzu:  „et  haec  saepius  est  ex- 
pertum"  (und  dies  ist  schon  öfter  erprobt  worden). 
Daß  diesem  Glauben  eine  Art  „Sympathie"  zu- 
grunde liegt,  ist  ohne  weiteres  ersichtlich.  Ein 
schlagender  Beweis  für  die  Gleichartigkeit  des 
primitiven  Denkens  ist,  daß  wir  diese  Meinung 
bei  den  verschiedensten  Volksstämmen  finden, 
so  daß  es  ausgeschlossen  ist,  daß  sie  von  einem 
Volk  zum  anderen  gewandert  und  über- 
nommen worden  ist.  Wir  treffen  nämlich  den- 
selben Glauben  im  südlichen  und  westlichen  Ruß- 
land in  der  Form  an,  daß  der  Saft  der  frühmorgens 
von  unten  nach  oben  geschabten  Rinde  brechen- 
erregend, der  von  oben  nach  unten  geschabten 
abführend  sei.*)  Dem  Pharmakologen  Kobert 
wurde  er  aus  Sibirien  mitgeteilt  und  der  Ethno- 
graph Bartels  berichtet  ihn  von  den  Winnebago- 
Indianern,  die  der  Meinung  sind,  daß  die  Ho- 
lunderrinde (wohl  von  der  verwandten  S.  cana- 
densis  L.)  nur  dann  abführende  Wirkung  zeige, 
wenn  sie  der  Medizinmann  von  oben  nach  unten 
schabe,  d.  h.  von  den  Zweigen  nach  der  Wurzel 
zu.  Schabt  er  sie  aber  in  umgekehrter  Richtung, 
also  von  der  Wurzel  aufwärts,   so  wirkt  sie  nicht 

')  Hist.  nat.  16,  180. 

^)  Hist.  nat.  24,  52  f. 

')  De  Vegctabilius,  6,  220  f. 

*)  Demitsch   1889,  230. 


abführend,  sondern  als  Brechmittel.^)  Entsprechend 
glauben  die  Rumänen  in  der  Bukowina,  daß  man 
die  Spulwürmer  los  werde,  wenn  man  Hollerrinde, 
die  man  nach  unten  geschält  hat,  kocht  und 
diesen  Absud  trinkt,  denn  dann  „kommen  sie 
herunter",  hat  man  aber  die  Hollerrinde  nach 
oben  geschält,  dann  kommen  die  Spulwürmer 
zum  Mund  heraus.-)  Noch  heute  ist  diese  Meinung 
im  deutschen  Volksglauben  ziemlich  verbreitet. 
Aus  Röckingen  am  Hesseiberg  (Mittelfranken)  wird 
mir  berichtet  (1909),  daß  die  aufwärts  geschabte 
und  in  Milch  gekochte  Holunderrinde  Erbrechen 
bewirke  („es  geht  überschie"),  die  nach  unten  ge- 
schabte aber  Diarrhöe  („es  geht  unterschie").  Das 
Tatsächliche  an  diesem  wirklich  „internationalen" 
Aberglauben  ist  übrigens,  daß  die  Holunderrinde 
brechenerregende  und  abführende  Wirkung  zeigt. 
Wie  volkstümlich  übrigens  der  Holunder  auch  in 
früheren  Jahrhunderten  war,  beweisen  schließlich 
noch  die  Worte  Bocks:")  „In  Teutscher  Nation 
ist  freilich  der  Holder  jederman  bekant  /  darumb 
nit  von  nötten  viler  wort  /  wie  /  wo  oder  wann 
derselbig  wachse  /  sintemal  ein  jeder  zuvor  den 
Holder  kennet.  Denn  kaum  ein  gemeiner  bäum 
under  allen  zu  finden  /  als  eben  Holder." 

Soweit  die  ältere  Geschichte  des  Holunders. 
Was  seine  Stellung  in  der  Volkskunde  betrifft,  so 
kann  hier  über  dieses  Gebiet  nur  ein  kurzer 
Überblick  gegeben  werden,  denn  der  Holunder 
ist  wohl  die  Pflanze,  die  die  meisten  volkskund- 
lichen Beziehungen  aufweist,  und  eine  „Volkskunde 
des  Holunders"  würde  eine  umfassende  Arbeit 
sein.  Was  ist  nun  der  Grund,  daß  gerade  der 
Holunder  so  innig  mit  dem  Denken  und  Fühlen 
des  Volkes  verknüpft  ist?  Als  Baum,  der  schon 
in  der  Urzeit  bei  den  Wohnungen  der  Menschen 
wuchs,  der  diesem  in  allen  seinen  Teilen  Heil- 
mittel liefert  —  „die  lebendige  Hausapotheke  des 
deutschen  Einödbauern",  wie  Höfler  so  treffend 
sagt  — ,  ist  er  die  Personifikation  oder  der  Sitz 
eines  guten  Hausgeistes,  dem  der  Mensch  zu  Dank 
verpflichtet  ist.  „Vor  dem  Holunder  soll  man 
den  Hut  abnehmen",  heißt  ein  Bauernspruch.  Er 
ist  heilig,  unverietzlich.  Wenn  man  einen  Holunder- 
busch umhaut,  so  stirbt  jemand,  meint  man  auf 
der  schwäbischen  Alb  *)  und  im  Bergischen  glaubt 
man,  daß  der  Verstümmler  eines  Holunderbusches 
bisweilen  am  dritten  Tag  nach  seinem  Frevelwerk 
verschieden  sei.  ^)  Hierher  gehört  es  wohl  auch, 
wenn  man  sich  vielerorts  scheut  das  Holunder- 
holz zu  verbrennen.  In  verschiedenen  Gegenden 
wird  dies  verschieden  begründet.  In  Siebenbürgen 
glaubt  man,  daß  man  sonst  das  ganze  Jahr  Zahn- 
schmerzen habe,«)  in  der  Schweiz,  daß  man  sich 
Krankheiten  oder  andere  Unfälle  zuziehe, ')  in  der 


')  Henri ci  1894,  &• 

^)  Zeitschr.  f.  österr.  Volkskunde   7,  256. 

")  Kreutterbuch   1551,  376a. 

*)  Thierer,  Ortsgesch.  v.  Gussenstadt  1912,  1,  204. 

S)  Zeitschr.  Ver.  rliein.-westf.  Volkskunde  11  (1914),  266, 

*)  Schullerus  1901,  3. 

')  Schweiz.  Id.  2,  1185. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


135 


Altmark  würden  die  Pferde  des  Bauern,  der  mit 
Holunderholz  einheizt,  zugrunde  gehen.')  Nach 
dänischem  Glauben  sitzt  im  Holunder  ein  Geist, 
die  Hyldemoer  (Holundermutter),  ihr  opferte  man, 
indem  man  Milch  über  die  Wurzeln  des  Baumes 
goß.  Zahlreiche  Beispiele  für  die  Personifikation 
des  Holunders  als  guter  Dämon  bringt  W.  Mann- 
hardt  in  seinen  geistvollen,  für  mythologische 
und  volkskundliche  Forschungen  so  fruchtbaren 
„Wald-  und  Feldkulten". ^)  Der  Holunder  ist  nach 
dem  Volksglauben  der  geeignetste  Baum,  auf  den 
Krankheiten  „übertragen"  werden  können.  Manch- 
mal geschieht  dies  auf  eine  recht  einfache  Weise 
z.  B.  wenn  man  in  Schlesien,  um  sich  von  Zahn- 
schmerzen zu  befreien,  am  Karfreitag  in  einen 
Holunderast  beißt.^)  Oft  wird  dagegen  der  Ho- 
lunder mit  einem  Spruch  angeredet.  Einen  alten 
„Schwinsegen"  (Schwindsegen,  d.  i.  Segen  gegen 
die  Schwindsucht)  enthält  eine  161 7  niederge- 
schriebene Handschrift  aus  dem  Kloster  St.  Blasien: 
„Gang  an  einem  Sonntag  zu  Vesperzeit  zue  einem 
Holderstock  und  brich  ein  schoß  darab,  daß  in 
einem  jähr  gewachsen  ist  und  brich  dreimal  daran 
ab  und  sprich  dreimal  allemal  wann  du  es  brichst: 
Was  ich  brich  das  schwin,  und  was  ich  darmit 
bestrich  das  wachs.  Im  Namen  usw."  *)  Das 
Fieber  zu  vertreiben  bindet  man  in  Zechlin  (Ost- 
Prignitz)  in  der  Nacht  bei  abnehmendem  Mond 
einen  Bindfaden  um  einen  Fliederbaum,  der  auf 
der  Scheid'  (Grenze)  steht  und  spricht: 

Guten  Morgen,  Herr  Flieder, 

Ich  bring  dir  mein  Fieber 

Ich  binde  dich  an 

Nun  gehe  ich  in  Gottes  Namen  davon  1  °) 

In  Mecklenburg  geht  man  drei  Tage  hinter- 
einander vor  Sonnenaufgang  zu  einem  Flieder- 
baum, umfaßt  ihn  und  spricht: 

„Fleder,  ich  hevv  de  Gicht, 

Du  best  se  nich 

Nimm  se  mi  af, 

So  hevT  ik  se  nich."  ^) 

Auch  das  geschriebene  Wort  tut  seine  Wirkung. 
Auf  ein  Blatt  Papier  werden  folgende  Worte  ge- 
schrieben: Gott  der  Herr  ging  über  das  Land; 
da  begegneten  ihm  die  siebenzigerlei  Gichter  und 
Gichtinnen.  Da  sprach  der  Herr:  Ihr  siebenziger- 
lei Gichter  und  Gichterinnen,  wo  wollt  ihr  hin? 
Da  sprachen  die  siebzigerlei  Gichter  und  Gichte- 
rinnen: Wir  gehen  über  das  Land  und  bringen 
die  Menschen  um  ihre  Gesundheit  und  Glieder. 
Da  sprach  der  Herr:  ihr  sollt  zu  einer  Holler- 
staude gehen,  da  sollt  ihr  alle  Ästlein  abbrechen 
und  lassen  nur  dem  N.  N.  (Name  des  Kranken) 
seine  geraden  Glieder.  Im  Namen  usw.  Dieser 
Spruch  muß  in  Bockleder  genäht  und  dem  Kranken 
als  Amulett  umgehängt  werden." ') 


')  Danneil   1859,   53. 

2)  2.  Aufl.   1904,  z.  B.  1,   10  ff. 

')  Drechsler  1  (1903),  90. 

*)  Mones  Anz.  f.  Kde.  Vorz.  6  (1837),  461. 

^)  Zeitschr.  Ver.  f.  Volkskunde  7  (1897),  70. 

•)  Bartsch  2  (1879),  404. 

')  Panzer,  Beitr.  2  (1855),  305. 


Ganz  besondere  Wirkung  hat  der  Holunder 
am  Johannistag,  der  verchristlichsten  Feier  der 
heidnischen  Sommer- Sonnenwende,  an  der  die 
Geister  besondere  Macht  haben.  Wer  am  St. 
Johannistag  um  12  Uhr  mittag  unter  der  Feuer- 
esse (Sitz  der  Hausgeister!)  eine  Holunderdolde, 
die  in  Butter  gebraten  wurde,  ißt,  bekommt  ein 
Jahr  lang  kein  Fieber.')  Ebenso  wird,  wer  am 
Johannistag  gebackene  Hollerküchlein  ist,  das 
ganze  Jahr  nicht  krank.-) 

Daß  der  Holunder  als  „guter  Hausgeist"  die 
bösen  Geister  vertreibt,  ist  nach  dem  Gesagten 
ohne  weiteres  verständlich.  „Die  Leipziger  nehmen 
um  die  Hexen  zu  vertreiben  Holunder",  sagt 
Praetorius  (1668,  459)  im  17.  Jahrhundert  und 
die  alte  „Rockenphilosophie"  ^)  schreibt:  „Einen 
Holunder-Strauch  vor  eine  Stall-Thür  gepflantzt, 
bewahret  das  Vieh  vor  Zauberey".  Der  Holunder- 
strauch am  Haus  oder  Stall  schützt  gegen  Hexen 
und  böse  Geister,  meint  noch  heute  der  Grau- 
bündner.*)  Ähnlich  wie  mit  Hilfe  des  Gunder- 
manns kann  man  auf  der  schwäbischen  Alb  die 
Hexen  entlarven:  In  der  Nacht  vom  Gründonners- 
tag auf  den  Karfreitag  muß  man  mit  dem  Schlag 
12  Uhr  auf  dem  Kirchhof  einen  Holunderzweig 
abschneiden  und  aushöhlen.  Damit  kann  man  am 
Karfreitag  während  des  vormittägigen  Gottes- 
dienstes die  Hexen  ausfindig  machen,  die  verkehrt 
dasitzen.  Jedoch  dreht  die  Hexe  ihrem  Beobachter 
den  Kragen  um,  wenn  er  sich  nicht  vor  dem 
Läuten  aus  der  Kirche  macht.*) 

Und  doch  ist  auch  der  Holunder  in  schlechten 
Ruf  gekommen,  denn  nach  einem  weitverbreiteten 
Volksglauben  (z.  B.  Posen,  Mecklenburg,  aber  auch 
in  der  Haute-Bretagne)  hat  sich  der  Verräter  Judas 
an  ihm  aufgehängt.  Als  Erinnerung  an  diese  Be- 
gebenheit sendet  der  Strauch  einen  unangenehmen, 
leichenartigen  Geruch  aus.  Ein  Nachklang  an 
diese  Sage  ist  es,  wenn  der  an  den  Stämmen  des 
Holunders  wachsende  Holunderschwamm  (Auri- 
cularia  auricula  Judae)  häufig  als  „Judasohr"  be- 
zeichnet wird.  Dieser  zu  den  Basidiomyzeten  ge- 
hörige Pilz  war  übrigens  früher  als  Fungus  Sam- 
buci  offizineil. 

An  dem  Namen  Holunder  ist  vielfach  von 
Unberufenen  herumgedeutelt  worden,  und  er  wurde 
bald  mit  „hohl",  auch  mit  der  „Göttin  Holle" 
(Frau  Holle),  ja  sogar  mit  „heilig"  in  Verbindung 
gebracht.  Die  althochdeutsche  Form  holuntar 
zeigt,  daß  im  2.  Bestandteil  die  Ableitung  -tar 
steckt,  die  wir  auch  in  Maßholder  (ahd.  mazzaltra), 
Wacholder  (ahd.  wechalter)  finden.  Sie  bedeutet 
soviel  wie  „Baum"  (vgl.  engl.  tree).  Den  ersten 
Bestandteil  treffen  wir  z.  B.  in  hyll,  der  schwe- 
dischen Bezeichnung  des  Holunders  an.  Ein  ety- 
mologischer Zusammenhang  mit  dem  russischen 
jkalina'    (Viburnum  opulus)    wird    vermutet.      Im 


')  Mitteil.  Nordböhm.  Exk -Kl.  20,  71- 

^)  Oberösterreich;  Baumgarten  1862,  28. 

')  1707,  2,  328. 

')  Ulrich,    1S97,  39- 

''}  Alemannia  13,   199. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Oberdeutschen  ist  das  Wort  oft  zu  Holler,  Holder  sowie  Kelke,  Keilke  sind  ebenfalls  niederdeutsch, 
verkürzt.  Die  Bezeichnung  Flieder  ist  Ursprung-  Thüringisch  sind  Zwebchen,  Zwöbbeken,  Ziwecken, 
lieh    eine    niederdeutsche.      EUhorn    und    Älhorn     sächsisch  Schibicke. 


Einzelberichte. 


Untersuchungen  von  Metallen  mittels 
Röntgenstrahlen. 

Hierüber  berichten  S.  Nishikawa  und 
G.  Asahara  in  „The  Physical  Review"  (Americ. 
Phys.  Soc.)  Band  XV,  S.  38—45  (Januar  1920).  — 
Läßt  man  ein  enges  Bündel  inhomogener  (weißer) 
Röntgenstrahlen  durch  ein  dünnes  Metallblech 
gehen,  so  erhält  man  photographisch  ein  Röntgeno- 
gramm,  das  außer  von  der  allgemeinen  kristal- 
linischen Beschaffenheit  des  betr.  Metalls  abhängig 
ist  besonders  auch  von  der  Vorgeschichte  des 
untersuchten  Stückes,  d.  h.  z.  B.  von  mechanischer 
Bearbeitung  oder  von  verschiedenartiger  Bean- 
spruchung durch  Wärme  usw.  Die  Verfasser 
haben  in  dieser  Hinsicht  die  Wirkung  des  Walzens 
mit  nachfolgendem  Glühen  bei  verschiedenen 
Metallen  untersucht  und  glauben,  daß  derartige 
Studien  zu  wichtigen  Schlüssen  für  die  Metallurgie 
führen  werden.  Geprüft  wurden  AI,  Cd,  Cu,  Pb, 
Ag,  Th,  Sn,  Zn  und  verschiedene  Arten  von 
Messing.  Die  Metalle  wurden  in  jedem  Falle  zu 
Stücken  von  30X30X4  mm  geschnitten;  diese 
Platten  wurden  dann  bis  zu  einer  Dicke  von 
0,1—0,18  mm  (bei  AI  bis  0,54  mm)  ausgewalzt. 
Die  Photogramme  wurden  durch  heterogenes 
Röntgenlicht  von  einer  CoolidgeRöhre  bei  60000 
Volt  Maximalspannung  erhalten.  Abstand  von 
photographischer  Platte  und  Objekt  betrug  5  cm, 
der  Durchmesser  des  Strahlenbündels  war  3  mm. 
Expositionszeit  i  Stunde  bei  einer  Stromstärke 
von  5  Milliampere.  Insgesamt  wurden  über  100 
Photogramme  aufgenommen. 

Gewalztes  AI  uminium,Ca  dm  ium,Kupfer, 
Zink  und  Messing  lieferte  schlecht  ausgebildete, 
verwaschene  Röntgenogramme,  aber  alle  sym- 
metrisch in  bezug  auf  die  Walzrichtung 
und  in  jedem  Falle  charakteristisch  für  das  be- 
treffende Metall.  —  Silber  und  Zinn  gaben 
ebenfalls  schlecht  ausgebildete  verwaschene  Laue- 
Diagramme,  aber  diese  gingen  während  der 
folgenden  2  oder  3  Wochen  allmählich  bei  Wieder- 
holung der  Aufnahme  in  deutliche  Punktdiagramme 
über,  wie  sie  bei  den  anderen  Metallen  nur  nach 
längerem  Glühen  erhalten  werden.  Für  diese 
beiden  Metalle  tritt  also  das  Kristallwachstum, 
das  für  den  geglühten  Zustand  charakteristisch 
ist,  bereits  bei  Zimmertemperatur  ein.  Selbst  bei 
-j-S"  dauert  hier  noch  die  Erholung  der  kristalli- 
nischen Struktur  von  der  kristalldeformierenden 
Beanspruchung  durch  das  Walzen  in  gleicher 
Weise  an,  wenn  auch  weniger  schnell.  —  Blei 
und  Thallium  ergaben  unregelmäßig  verteilte 
Flecke,  die  keinerlei  Symmetrie  in  bezug  auf  die 


Walzrichtung  erkennen  ließen.  Für  diese  Metalle 
ist  also  entweder  die  kristallinischen  Struktur 
durch  das  Walzen  überhaupt  nicht  gestört  worden, 
oder  die  Wiederherstellung  der  ursprünglichen 
Struktur  ist  außerordentlich  schnell  schon  bei 
gewöhnlicher  Temperatur  erfolgt.  Beim  Thallium 
war  indessen  das  Röntgenogramm  nicht  identisch 
mit  dem  durch  Glühen  erhaltenen. 

Die  Wirkung  des  Glühens  nach  dem  Walzen 
wurde  mit  Hilfe  eines  besonderen  Ofens  beobachtet, 
der  die  Herstellung  der  Röntgenogramme  ermög- 
lichte, während  die  Metallbleche  bei  jeder  ge- 
wünschten Temperatur  bis  zu  800"  gehalten  wurden. 
Die  verschiedenen  Metalle  unterscheiden  sich  hin- 
sichtlich ihres  Verhaltens  beim  Glühen  ganz  be- 
trächtlich. Bei  Silber  und  Zinn  genügen  z.  B. 
30  Minuten  langes  Erwärmen  auf  80",  um  die 
Wirkungen  des  Walzens  zum  Verschwinden  zu 
bringen,  während  beim  Kupfer  zweistündiges 
Erwärmen  auf  800"  hierzu  noch  nicht  genügt. 
In  beigegebenen  Photogrammen  werden  die  ver- 
schiedenenWirkungen  des  Erhitzens  für  C  a  d  m  i  u  m 
bei  100",  150^',  200"  und  250"  gezeigt.  Die  Ver- 
fasser glauben  auf  Grund  ihrer  Ergebnisse  sagen 
zu  können,  daß  diese  Methode  sich  zur  Unter- 
suchung der  Wirkung  aller  Arten  von  mechanischer 
wie  thermischer  Behandlung  von  Metallen  besonders 
eignen  wird. 

Übrigens  hätten  sich  auch  auf  Grund  der  ver- 
schiedenen Röntgenogramme  die  Umwandlungs- 
punkte von  Thallium  und  Zinn  bestimmen 
lassen.  Wenn  man  nämlich  die  in  oben  geschil- 
derter Weise  erzeugten  Röntgenogramme  von 
erhitztem  Thallium  für  eine  Reihe  von  steigenden 
Temperaturen  herstellt,  so  ergibt  sich,  daß  nach 
Überschreitung  des  Umwandlungspunktes  das  Dia- 
gramm plötzlich  in  das  eines  einfachen  Kristalles 
übergeht.  Beim  Abkühlen  des  Metalles  kehrt  sich 
der  Wechsel  um.  Unter  Berücksichtigung  der 
Verzögerungserscheinungen  ergab  sich  hierdurch 
als  Umwandlungspunkt  ca.  227",  in  guter  Über- 
einstimmung mit  Bestimmungen  nach  anderen 
Methoden.  Auch  Zinn  wurde  in  dieser  Weise 
nachgeprüft  und  zwar  besonders  in  der  Nach- 
barschaft von  160",  es  wurde  jedoch  keinerlei 
Veränderung  des  Röntgenogramms  beobachtet. 

Spbg. 

Untersuchungen  über  Osmose. 

Zu  einer  neuen  Methode  der  Bestimmung  von 
Molekulargewicht  und  Dissoziationsgrad,  die  wie 
die  bekannte  de  Vriessche  Methode  der  plas- 
molytischen    Grenzkonzentration     auf     pflanzen- 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


137 


physiologischer  Grundlage  ruht,  gelangte  neuer- 
dings C.  V.  Wisse li n gh  "^j  bei  seinen  Unter- 
suchungen über  die  Epidermiszellen  der  Samen 
der  Gattung  Cuphea.  Es  handelt  sich  dabei  um 
folgendes:  Wie  die  Lythraceen  überhaupt,  so 
besitzen  auch  die  Samen  von  Cuphea  die  Eigen- 
schaft, beim  Quellen  in  Wasser  auf  ihrer  ge- 
samten Oberfläche  Haare  auszustülpen,  so  daß 
sie  nachher  aussehen  wie  ein  krauses  Lockenhaupt. 
Diese  Erscheinung,  die  man  bisher  irrtümlicher- 
weise auf  Quellungsprozesse  zurückführte,  beruht 
nach  den  Versuchen  von  Wisselingh  auf  osmo- 
tischen Vorgängen.  Normalerweise  ragen  die 
Haare  ins  Innere  der  Epidermiszellen  herein  und 
sind  dort  ihrer  Länge  halber  spiralig  aufgerollt. 
Bringt  man  nun  die  Samen  in  Wasser,  dann  ent- 
steht ein  osmotisches  Gefalle,  das  sich  dadurch 
auszugleichen  sucht,  daß  Wasser  durch  die  Plasma- 
haut in  die  Zellvakuole  eindringt.  Dadurch  wird 
der  Turgordruck  in  der  Zelle  so  erhöht,  daß  die 
Haare  mit  Gewalt  durch  die  Außenwand  heraus- 
gequetscht werden,  wobei  sie  sich  handschuh- 
fingerartig  umstülpen,  bis  sie  das  Innere  vollstän- 
dig nach  außen  gekehrt  haben.  Das  Volumen 
der  Zelle  kann  auf  diese  Weise  durch  das  ein- 
dringende Wasser  auf  das  Vierfache  erhöht  wer- 
den. Bringt  man  nun  die  Haare  während  dieses 
Vorgangs  in  immer  höher  konzentrierte  Salz- 
lösungen, dann  kommt  ein  Moment,  wo  das  Aus- 
stülpen innehält,  weil  die  Außenkonzentration  der 
Innenkonzentration  das  Gleichgewicht  hält.  Ist 
der  osmotische  Wert  der  Außenlösung  bekannt, 
dann  ist  damit  auch  derjenige  der  Zelle  in  dem 
gerade  erreichten  Ausstülpungsstadium  gegeben. 
Mit  dieser  einen  Lösung  (a)  kann  man  nun  jede 
beliebige  andere  Lösung  (b)  aichen.  Man  braucht 
zu  dem  Zwecke  nur  zu  bestimmen,  welche  Konzen- 
tration dieser  zweiten  Lösung  ein  Verharren  des 
Haares  in  genau  demselben  Stadium  bedingt,  a 
und  b  werden  dann  isosmolisch  sein.  Ist  b  ein 
Nichtelektrolyt  (z.  B.  Saccharose),  dann  kann  man 
das  Molekulargewicht  direkt  berechnen;  ist  es 
dagegen  ein  Elektrolyt,  also  dissoziiert,  dann  er- 
gibt sich  aus  dem  Gleichgewichtszustand  unmittel- 
bar der  Dissoziationsgrad  von  b.  Von  Wisselingh 
hat  diese  Bestimmung  für  verschiedene  Sub- 
stanzen (Saccharose,  Glyzerin,  NaCl,  KNOg)  be- 
stimmt und  gefunden,  daß  die  Genauigkeit 
der  Methode  der  Größenordnung  nach  hinter  den 
physikalischen  Methoden  (Gefrierpunktserniedri- 
gung, Siedepunktserhöhung,  elektrolytisches  Leit- 
vermögen) keineswegs  zurücksteht.  So  bestimmte 
er,  um  nur  2  Beispiele  anzuführen,  das  Molekular- 
gewicht von  Saccharose  auf  342,1  (statt  342,2)  und 
von  Glyzerin  auf  93,3  (statt  92,1).  Weiterhin 
kann  man  auf  Grund  des  Ausstülpungsvorganges 
auch  die  Permeabilitätsverhältnisse  bestimmter  Sub- 
stanzen näher  umgrenzen,  und  das  bildet  eine  zweite 
Analogie  zu  der  Methode  der  plasmolytischen 
Grenzkonzentration   von   de  Vries.     Handelt  es 


*)  Flora,  N.  F.   13,  1920. 


sich  um  Stoffe,  für  die  das  Plama  in  höherem 
Maße  permeabel  ist,  dann  wird  bei  der  Über- 
tragung von  Wasser  in  die  isotonische  Lösung 
kein  dauernder  Stillstand  eintreten,  sondern  in 
dem  Maße,  als  der  Stoff  eindringt  und  mithin  die 
Konzentration  im  Zellinnern  wächst,  das  Aus- 
stülpen weiter  fortschreiten,  und  die  Schnelligkeit, 
mit  der  dieser  Prozeß  sich  fortsetzt,  wird  als  Maß 
für  die  eingedrungenen  Stoffmengen  dienen  können. 
Auf  diesem  Wege  stellte  von  Wisselingh  fest, 
daß  z.  B.  für  Salze  wie  NaCl  und  KNO3  eine  leicht 
nachweisbare  Permeabilität  vorhanden  ist  und  daß 
selbst  Saccharose  —  wenn  auch  in  beschränkten 
Mengen  —  aufgenommen  wird.  Es  wird  der 
Zukunft  überlassen  bleiben,  den  Anwendungsbe- 
reich und  die  praktische  Bedeutung  dieser  neuen 
Methode  schärfer  herauszuarbeiten. 

Peter  Stark. 


Eigenartige  Form  des  Parasitismus. 

Sowohl  der  Parasit  (Chaetocladium)  als  auch 
der  Wirt  (Mucor)  gehören  der  Gruppe  der  Joch- 
pilze (Zygomyzeten)  an.  Der  Vorgang  der  In- 
fektion wurde  von  H.  Burgeff  (Zeitschr.  f.  Bo- 
tanik, 12,  1920)  Schritt  für  Schritt  auf  Objekt- 
trägerkultur beobachtet.  Sporen  von  Parasit  und 
Wirt  wurden  gemeinsam  ausgesät  und  keimten  zu 
Hyphen  aus.  Es  ergab  sich  nun  die  merkwürdige 
Tatsache,  daß  die  Fäden  des  Mucor  (Wirtspflanze !) 
—  offenbar  durch  einen  chemischen  Reiz  ange- 
lockt —  auf  die  Hyphen  des  Parasiten  gerade- 
wegs zuwuchsen,  bis  Berührung  stattfand.  Nun 
machen  sich  in  dem  Parasiten  folgende  Änderungen 
bemerkbar.  In  der  Hyphenspitze,  die  dem  Mucor- 
faden  anliegt,  reichern  sich  die  Kerne  an  und  die 
Spitze  wird  durch  eine  Zellwand  von  dem  übrigen 
Faden  abgegrenzt.  Diese  Zelle  tritt  nun  dadurch, 
daß  die  Mucorzellwand  resorbiert  wird,  in  offene 
Kommunikation  mit  dem  Plasrria  des  Wirtes.  Nun 
treten  Plasma  und  Kerne  aus  dem  Mucorfaden  in 
den  „Schröpfkopf",  wie  die  Zelle  weiterhin  ge- 
nannt werden  kann,  über,  der  also  nebeneinander 
lebende  Substanz  zweier  verschiedener  Gattungen 
enthält  und  sich  weiterhin  zu  einer  auffälligen 
Gallenbildung  auswächst.  Die  Zelle  schwillt  kugelig 
an  und  bildet  Seitenverzweigungen,  an  die  sich 
weitere  Chaetocladiumhyphen  eng  anschmiegen, 
so  daß  ein  inniger  Kontakt  zwischen  Galle  und 
Parasit  erzielt  wird  und  ein  Stoffaustausch  über 
möglichst  große  Flächen  stattfinden  kann.  Bur- 
geff nimmt  an,  daß  die  Chaetocladiumkerne  in 
der  Galle  („Pionierkerne")  die  Aufgabe  haben,  die 
Plasmahaut  permeabel  zu  machen  für  die  Stoffe, 
die  aus  dem  Wirte  übertreten  wollen.  Um  die 
Entstehungsgeschichte  dieser  seltsamen  Gallen, 
die  innerhalb  einer  einzigen  Zelle  zweierlei  art- 
fremde Kerne  friedlich  nebeneinander  beherbergen 
(„Heterocaryose")  verständlich  zu  machen,  erinnert 
Burgeff  an  die  geschlechtlichen  Vorgänge,  wie 
sie  für  die  Jochpilze  bezeichnend  sind.  In  der 
Mehrzahl  der  Fälle  werden   die   Geschlechtspro- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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dukte,    die   Zygoten,    dadurch    gebildet,    daß    die 
Hyphenenden    zweier   Mycelien    miteinander    ver- 
schmelzen.     Im  einzelnen    spielt   sich  dieser  Vor- 
gang in  folgender  Weise  ab :  ^  Fadenäste  wachsen 
aufeinander    zu,    platten    sich    an    der  Berührungs- 
stelle gegeneinander  ab  und  grenzen  sich  von  der 
Traghyphe  jeweils    durch    eine  Zellwand  ab.     An 
der   Berührungsstelle    selbst    wird     die    trennende 
Wand  gelöst    und    die  Zellinhalte    der  beiden  ab- 
gegrenzten Zellen,  der  Gametangien,  verschmelzen 
miteinander.     Die  so  entstandene  Zygote,  welche 
die   absterbenden  Myzelien   überdauert   und    einer 
neuen  Generation  den  Ursprung  gibt,  enthält  also, 
genau  wie  die  beschriebenen  Gallen,  zweierlei  Kerne' 
ist  also  ebenfalls  heterokaryotischer  Natur.    Es  be- 
steht demnach  eine  weitgehende  Anologie  zwischen 
beiderlei  Prozessen.    Da  nun  selbst  zwischen  weit 
entfernten    Arten    und    Gattungen    der    Jochpilze 
wenigstens  Versuche  sexueller  Betätigung  bestehen 
und    da   auf   der   anderen  Seite   auch  der  Parasit 
nicht  jede  beliebige  Gattung  befällt,  sondern  sich 
auf  bestimmte  systematische  Gruppen  beschränkt, 
so   besteht    die   Möglichkeit,    die   Chaetocladium- 
gallen  so  zu  erklären,  daß  sie  sich  von  Kopulations- 
vorgängen herleiten,    und    daß    erst    sekundär  die 
Entwicklung    in    andere  Bahnen  gedrängt  worden 
ist.     Eine   Entscheidung   ließe   sich   auf  folgende 
Weise    anbahnen:    es    ist    bekannt,   daß    —    von 
speziellen  Fällen  abgesehen  — ,  bei  den  Zygomy- 
ceten  nicht  jede  beliebigen  Myzelien    miteinander 
kopulieren,    sondern    daß    bereits  eine  geschlecht- 
liche Differenzierung  eingetreten  ist,  die  sich  zwar 
noch  nicht  in  morphologischen  Merkmalen,  sondern 
bloß    in    der   geschlechtlichen    Stimmung   äußert. 
Man  redet  dementsprechend   nicht  von  Männchen 
und  Weibchen,  sondern  von  -\-  und  —  Myzelien. 
Bloß  Myzelien    mit  entgegengesetzten  Vorzeichen 
besitzen  das  Vermögen,  miteinander  zu  kopulieren. 
Sollte  es  sich  im  Verlaufe  weiterer  Untersuchungen 
herausstellen,    daß  dieser  sexuelle  Charakter  auch 
über  die  Möglichkeit  der  Gallenbildung  entscheidet, 
daß  also  bloß  +  Myzelien  von  Chaetocladium  mit 
—  Myzelien  von  Mucor    in  parashäre  Verbindung 
treten    können    und    umgekehrt,    dann  würde    die 
ausgesprochene  Hypothese   eine  ganz  wesentliche 
Stütze  erhalten.  Peter  Stark. 

Zweck  des  Trasrens  toii  Nasen-,  Lippen- 
nnd  Waiigenpflöcken. 

Dieser  Brauch  ist  sehr  weit  verbreitet.  Unter- 
lippenpflöcke werden  in  Ostafrika  und  im  west- 
lichen Sudan  getragen,  ausnahmsweise  sind  Pflöcke 
in  Ober-  und  Unterlippe  zugleich  eingesetzt.  Unter- 
lippenpflöcke sind^in  Südamerika  häufig  zu  finden. 
Noch  öfter  kommt  Durchbohrung  der  Nase  vor 
und  zwar  in  zweierlei  Form:  als  solche  der  Scheide- 
wand, die  dann  einen  Quer-  oder  einen  Hänge- 
pflock trägt,  oder  als  solche  der  Nasenflügel  bzw. 
der  Nasenwand  unmittelbar  oberhalb  derselben. 

Der  Auffassung,  daß  die  Durchbohrung  und 
die  Befestigung  von  Gegenständen   in  den  durch- 


löcherten     Körperteilen      der     Befriedigung     des 
Schmuckbedürfnisses  dient,  kann  Ludwig  Cohn^) 
nicht  beipflichten.    Er  erhieh  dafür  auf  Neuguinea 
von    Eingeborenen    eine   ganz   andere    Erklärung. 
Auf  den  Admiralitätsinseln   ist  Durchbohrung  der 
Nasenscheidewand  üblich ;  Pflöcke  darin  (und  zwar 
Hängepflöcke   aus  Muscheln,   bis   zu   etwa  15  cm 
Länge  und  schön  ornamentiert)  werden   aber  nur 
bei  Festen  getragen.     Am  Alltag  steht  das  Loch 
meist  leer;  nur  gelegentlich  sieht  man  einen  Stroh- 
halm oder    ein  Endchen    von    einem  Zweig  darin 
stecken.      Auf  die  Frage,  warum  man  das  macht, 
erhielt  C.  die  Auskunft,    der  Strohhalm    sei  eben- 
sogut wie    der  Pflock,    denn    er   hindere  dadurch, 
daß    er   quer    vor   den  Nasenlöchern    stecke,    die 
Krankheit    (d.    h.    Krankheit    bringende    Geister), 
durch  die  Nase  in  den  Körper  einzudringen.    Diese 
Erklärung    wirkt   überzeugend,    schreibt    C,    denn 
sie    geht    dahin,    daß    das    Tragen    eines    Gegen- 
standes in  der  durchlöcherten  Nase  von  den  Natur- 
menschen   als    gesundheitliche    Maßregel 
aufgefaßt     wird,     als    Schutz     gegen    krankheits- 
bringende  Geister,  denen  der  Primitive,  neben  dem 
Zauber,  alle  körperlichen  Übel  zuschreibt.    Später 
allerdings  ist  dieser  ursprüngliche  Zweck  aus  dem 
Bewußtsein  der  allermeisten  Völker  verschwunden; 
in  dem  von  C.  angeführten  Fall    aber  hat  er  sich 
noch  erhalten.    Nach  der  Meinung  der  Naturvölker 
dringen  die  Krankheiten  durch  die  Körperöffnungen 
ins  Innere  hinein;  lag  da  nicht  der  Gedanke  nahe, 
ihnen  diese  Öffnungen    unzugängHch    zu  machen? 
Da    ein  Verschluß    derselben    an   Lebenden    nicht 
möglich  war,    so    griff   man    eben  zu  dem  Mittel 
der  Barrieren  und  Palisaden:  man  machte  an  der 
Nasenöffnung  entweder  ein  Loch  in  der  Scheide- 
wand und  steckte  einen  Pflock  hindurch,  oder  aber 
man  durchbohrte  die  Nasenflügel,   da  hier  hinein- 
gesteckte Stifte  die  Luftwege  ebenso  wirksam  für 
die  Eindringlinge  versperrten.     C.  hält  dafür,  daß 
die     gleichen    Gesichtspunkte     auch    maßgebend 
waren  für  Mund  und  Ohren :  Für  den  Mund  leistete 
der  melanesische  Hängepflock,  der  heute  nur  noch 
bei  Festen  getragen  wird,  den  Dienst  einer  Weg- 
sperre;  sonst    wurde    aber   sein  Eingang  dadurch 
geschützt,    daß  man    ihn   mit  scharfspitzigen  Pali- 
saden umgab :  man  durchbohre  Ober-  und  Unter- 
lippe,   wohl   auch    die  Wangen    zu    beiden  Seiten 
des  Mundes  und  steckte  spitze  Gegenstände  (mit 
der  Spite  nach  außen)  hinein,    um  der  Krankheit 
den  Eingang  zu  verleiden.    An  den  Ohren  wurden 
die  Läppchen  und  manchmal  auch  der  Rand  der 
Ohrmuschel  durchbohrt,  um  einen  gleichen  Schutz 
zu  tragen.    Späterhin,  als  der  ursprüngliche  Zweck 
all    dieser    Durchbohrungen     aus    dem    Volksbe- 
wußtsein verschwunden  war,    wurden    einige    der 
früher  zum  Schutz   eingesteckten  Gegenstände  als 
reine  Schmucksachen  weiter  ausgebildet,  so  in  der 
Nase  (unten  wie  seitlich),  in  den  Lippen  und  den 
Ohren,   während   die   Löcher  in   den  Wangen  zu 


')  Korrespondenzblau  der  deutschen  Gesellschaft  für  An- 
thropologie (51,  Jg.,  Nr.   5—10). 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


139 


Seiten  des  Mundes,  vielleicht  weil  sie  keiner  starken 
Vergrößerung  fähig  sind,  allmählich  ausgeschaltet 
wurden  und  der  Vergessenheit  anheimfielen. 

Die  Durchbohrungen,  die  Naturmenschen  an 
sich  vornehmen,  lassen  sich  aus  dem  allverbreiteten 
Geisterglauben  derselben  zwanglos  erklaren,  ürst 
nachträglich  erhiehen  sie  den  Zweck,  als  Schmuck- 
träger zu  dienen.  Bei  dieser  Erklärungsweise 
nimmt  es  auch  nicht  Wunder,  wenn  sich  aut 
Grund  altchinesischer  Quellen  das  frühere  Aut- 
treten des  Oberlippenpflocks  in  Südchina  nach- 
weisen läßt,  weitab  von  dem  Gebiet,  wo  er  heute 
noch  vorkommt.  H.  Fehlinger. 

Über  die  Radioaktivität  aller  Elemente. 

Die  Erscheinung  der  Radioaktivität  ist  bisher 
an  37  Elementen  von  hohem  Atomgewicht  fest- 
gestellt worden.  Von  Elementen  mit  niedrigem 
Atomgewicht  senden  nur  Kalium  und  Rubidium 
dauernd  sehr  weiche,  d.  h.  wenig  durchdringungs- 
fähige /S  Strahlen  aus.  Ob  bei  Kalium  und  Ru- 
bidium die  /!?  Strahlen  aus  dem  Atomkern  stam- 
men und  ob  daher  ihre  Emission  mit  einem  Atom- 
zerfall verknüpft  ist,  ist  noch  nicht  bekannt. 

Bei  /i-Strahlenumwandlung  müßte  aus  Kalium 
das  Erdalkalimetall   Kalzium    und    aus    Rubidium 
Strontium  entstehen.   Das  gebildete  Kalzium  und 
Strontium  hätten  etwasabweichende  Atomgewichte, 
doch  ist  deren  Nachweis  experimentell  kaum  mög- 
lich.    Das    Alkalimetall    mit  dem  nächst  höheren 
Atomgewicht,    das    auf  Rubidium    folgt,     ist    das 
Cäsium.    An  diesem  ließ  sich  aber  bis  jetzt  keine 
/S  Strahlung    nachweisen;    sie    könnte    jedoch    so 
schwach  und  wenig  durchdringungsfähig  sein,  daß 
sie  sich  vielleicht   der    Meßbarkeit   entzog.     Aus 
Cäsium  würde   als  Umwandlungsprodukt  Baryum 
vom  Atomgewicht  132,81   entstehen,  während  ge- 
wöhnliches Baryum  das  Atomgewicht  137.37  hat. 
O.  Hahni)    jgt  mit  der  Bestimmung   des  Atom- 
gewichts   von   Baryum    aus   den   sehr   wertvollen 
Cäsiummineralien  beschäftigt. 

Für  die  Radioaktivität  aller  übrigen  Elemente 
mit    niedrigem    Atomgewicht   liegt   bis  jetzt  kein 
Anzeichen    vor.      Das    könnte    an    der    nicht    ge- 
nügenden   Empfindlichkeit    der    bisherigen    Meß- 
methoden liegen;  nun  hat  aber  G.  Hoff  mann  ) 
ein  Elektrometer  zum  Nachweis  kleinster  Elektri- 
zitätsmengen    von      ungeheurer     Empfindlichkeit 
konstruiert.    Das  neue  Elektrometer  ist  auf  Bruch- 
teile   eines    Millimeters    Gasdruck    evakuiert    und 
die    Bewegung    des    sehr    leichten    Elektrometer- 
systems  wird    durch    einen    Lichtzeiger   auf  einer 
sich  gleichmäßig  drehenden  Trommel  aufgezeichnet, 
die    mit    photographischem    Papier    bespannt    ist. 
Ein  einzelnes  a-Teilchen  erzeugt  auf  seinem  gan- 
zen  Weg  etwa    150000  Ionen.      Weil   durch  die 
Empfindlichkeit   von    Ho  ff  man  ns   Elektronieter 
bereits    5000  Ionen    einen    Ausschlag    des   Licht- 

•)  Pbys    Zeitschr.  Bd.  20,  1919. 

2)  Ann.  d.  Pbys.  Bd.  62,  S.  738—758,   i92o. 


Zeigers  um  i  mm  bewirken,  so  markiert  sich  der 
lonisationsvorgang  eines  jeden  einzelnen  «■  1  eil- 
chens  mit  einer  stoßweisen  gut  meßbaren  Be- 
wegung des  Lichtzeigers.  Über  dem  Elektrometer 
ist  ein  kugelförmiger  lonisationsraum  von  7,72  cm 
innerem  Durchmesser  aus  Messing  aufgesetzt,  in 
den  ein  mit  dem  Elektrometersystem  verbundener 
Zerstreuungskörper  hineinragt. 

Mit  diesem  Apparat  hat  H  o  f  f  m  a  n  n  810  Stoße 
des  Lichtzeigers  aufgenommen  und  hat  die  btoB- 
größe,  d.  h.  die  Menge  der  bei  jedem  Stoß  eines 
«-Teilchens    gebildeten    Ionen    in    einer   Tabelle 
mitgeteilt.      Für   die   Ionisation   ergaben    sich  fol- 
gende  Werte:    durchschnittliche    Zahl    der   Stoße 
L   :2    in    der    Stunde;    durchschnittliche    Große 
=  157  mm    =   81700   Ionen;    Zahl    der    Stoße 
pro  qcm  der  Kugeloberfläche  und  Stunde  =  0,28; 
gesamte  «Ionisation  im  Durchschnitt  =  1 190  Ionen 
in   der    Sekunde.      Die    gleichförmige    Bewegung 
des  Lichtzeigers  zwischen  den  Stößen  der  «  1  eil- 
chen   entspricht  einer  lonenbildung    von    1 39p   m 
der  Sekunde  infolge  der  durchdringenden  Strahlung 

der  Erde.  ,       ,    t>        u     „ 

Hoff  mann  hat  dann  emgehende  Berechnun- 
gen   über    die  Erklärung    der  beobachteten  btoß- 
größen    durch    eine    radioaktive    Verunreinigung 
der  Wände  des  lonisationsgefäßes  angestellt.     Bei 
einer    lonenabsättigung    von    90  «/o    ist    für    die 
kürzeren  Stöße  die  Annahme  einer  neuen  Radio- 
aktivität nötig,  die  nicht  der  gewöhnlichen  Uran- 
Radium-    und    noch    viel    weniger  •  der  Thorium- 
familie zugeschrieben  werden  kann.     Hoffmann 
nimmt  daher   eine  «-Aktivität   des  Messings  oder 
dessen  Hauptbestandteils,  des  Kupfers/)  an,    wo- 
raus   die    Wand    des    lonisationsgefäßes   besteht. 
Ein    Quadratzentimeter   Metall   sendet    sekundlich 
,.io-^  «-Teilchen   von  der  geringen  Reichweite 
von   1,8  cm    in    Luft   von    O«  und    760  ^m    aus. 
Die  Aktivität  des  Kupfers  ist  mindestens  i, 5  Mil- 
lionen mal    geringer   wie   die   des    Urans.      Kein 
Wunder,  daß  eine  derartig  geringe  Radioaktivität 
bisher  nicht  nachweisbar  war.     „Als  Resultat  der 
näheren  Diskussion   der  Stoßverteilungskurve  der 
«-Aktivität   in    einem   kugelförmigen    Metallgetaß 
ergibt  sich,    daß    es  nicht   angängig   ist,    die    be- 
obachteten  «Aktivitäten   allein   auf  das   Radiurn 
und  seine  Abkömmlinge  zu  schieben.     Es  ist  mit 
Sicherheit   das  Vorhandensein   langlebiger   Radio- 
elemente   mit    kurzer    Reichweite  nachgewiesen. 
Ob  allerdings  die  neue  Aktivität  dem  Kupfer  oder 
einem    die    Gefäßwand    verunreinigenden     unbe- 
kannten  Glied   der   Uranreihe   zuzuschreiben   ist, 
ist  noch  nicht  völlig  sicher  ausgemacht. 

Hoff  mann  hat  dann  noch  interessante  Ver- 
suche zur  Erzielung  von  Räumen  angestellt,  die 
möglichst  frei  von  a  Ionisation  sind.  Um  die  von 
der  Wand  des  lonisationsgefäßes  ausgehenden  «• 
Teilchen   zu   vermindern,    wurde   eine  Reduktion 


nToie^Ausdehnung  der  Versuche  auf  Hohlkugcin  aus 
Metallen  mit  hoben  Atomgewichten  scheint  besonders  aus- 
sichtsreich Ergab  doch  Platinfolie  emen  dreimal  so  hohen 
Wert  der  «-Aktivität  pro  qcm  Oberfläche  wie  Messmg." 


140 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


der  Wandoberfläche  durch  Ersetzung  der  massiven 
Wand  durch  ein  weitmaschiges  Drahtnetz  vorge- 
nommen. Der  Einfluß  der  Wände  gegenüber  den 
radioaktiven  Stoffen  in  der  Luft  wurde  dann  noch 
durch  eine  beträchtliche  Erhöhung  des  Gasdrucks 
vermindert.  Als  lonisationsgefäß  diente  ein  aus 
feinen  Platindrähten  zusammengeschweißter  Netz- 
korb, der  in  einem  Gefäß  aufgehängt  wurde,  in 
welchem  durch  eine  kleine  Kompressionspumpe 
bis  zu  15  Atmosphären  Druck  hergesteHt  werden 
konnte. 

Bei  5  Atmosphären  Druck  wurden  in  Luft 
und  Kohlensäure  verschiedener  Herkunft  2  bis 
14,5  Stöße  in  der  Stunde  am  Elektrometer  be- 
obachtet. „Blieb  die  Luft  tagelang  im  Beobach- 
tungsgefäß, so  stieg  die  Radioaktivität  an.  Die 
Bildungsgeschwindigkeit  entsprach  ungefähr  der 
Radiumemanation.  Offenbar  stammt  diese  Akti- 
vhät  von  einem  Radiumgehalt  der  Wandungen 
des  äußeren  Druckgefäßes,  das  aus  roh  bearbei- 
teten Eisenteilen  zusammengesetzt  war." 

Weitere  Versuche  wurden  bei  normalem  Luft- 
druck mit  2  Kupferdrahtkugeln  von  8  cm  Durch- 
messer als  lonisationsgefäße  ausgeführt.  Die 
Kugeln  wurden  in  einem  großen  Zinkgefäß  von 
solchen  Dimensionen  aufgehängt,  daß  die  «-Strah- 
lung der  Wandung  nicht  in  den  Kugelraum  ein- 
treten konnte.  Bei  der  einen  Drahtkugel  (Nr.  i) 
war  die  Maschenweite  etwa  1,5  cm,  die  andere 
Kugel  (Nr.  2)  bestand  nur  aus  3  zueinander  senk- 
rechten größten  Drahtkreisen.  Mit  Kugel  2 
glückte  es  trotz  des  Volumens  von  260  ccm  ganz 
außerordentlich  geringe  Ionisationen  bis  herab  zu 
3,1   Stößen  in  der  Stunde  zu  erzielen. 

„Das  Verhältnis  der  Stoßzahlen  für  Bomben- 
luft bei  Kugel  i  und  Kugel  2  ist  ungefähr  gleich 
dem  Verhältnis  der  Drahtoberflächen.  Man  ist 
versucht,  daraus  zu  schließen,  daß  die  Restaktivität 
im  wesentlichen  auf  radioaktiven  Stößen  beruht, 
die  von  den  Drähten  ausgehen." 

Wenn  die  Stoßzahlen  auf  3—4  Stöße  in  der 
Stunde  herabgehen,  dann  kann  mit  großer  Ge- 
nauigkeit die  gleichförmige  Ionisation  infolge  der 
durchdringenden  Strahlung  der  Erde  gemessen 
werden.  Die  Größe  der  durchdringenden  Strah- 
lung bleibt  nach  den  Aufzeichnungen  der  unmittel- 
bar aufeinanderfolgenden  Teile  der  Registrier- 
kurven bis  auf  1—2  %o  konstant.  In  jeder  Se- 
kunde werden  infolge  der  durchdringenden  Strah- 
lung im  ccm  etwa  3,88  Ionen  neu  gebildet. 

Die  Versuchsanordnung  mit  den  Drahtkugeln 
als  Ionisationskammern  ist  auch  sehr  empfindlich 
für  jede  Änderung  der  durchdringenden  Strahlung. 
„Die  Strahlung  stärkerer  Radiumpräparate  konnte 
durch  dicke  Mauern  aus  entfernteren  Teilen  des 
Gebäudes  her  beobachtet  werden.  Die  Strahlung 
eines  Gefäßes,  das  ein  Kaliumsalz  enthält,  kann 
in  wenigen  Minuten  gemessen  werden." 

In  der  Zusammenfassung  seiner  Ergebnisse 
stellt  Hoffmann  noch  einmal  folgendes  fest: 
„Es  zeigt  sich,  daß  zur  Erklärung  der  Beobach- 
tungen   die   Strahlung    des    Radiums    und    seiner 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Abkömmlinge  nicht  ausreicht,  sondern  daß  lang- 
lebige radioaktive  Substanzen  mit  Strahlungen 
kurzer  Reichweite  außerdem  vorhanden  sein 
müssen  Die  Möglichkeit  einer  Aktivität,  etwa 
des  Cu,  wird  diskutiert.  Es  wird  gezeigt,  wie 
Räume  hergestellt  werden  können,  die  eine  sehr 
geringe  ß-Ionisation  aufweisen." 

Karl  Kuhn. 


Die  Kristallstruktur  einiger  Karbonate  der 
Calcitgruppe. 

R.  W.  G.  W y  c ko  f  f  bringt  im  American  Journal 
of  Science  (IV.  Folge)  50.  Bd.  (1920)  S.  317—360 
hierüber  ausführliche  Untersuchungen  auf  Grund 
von  Röntgenaufnahmen  nach  der  Laue-Methode. 
Die  Struktur  des  Calcits  wurde  bereits  191 5  durch 
W.  L.  und  W.  H.  Bragg  mit  ihrer  Reflexions- 
methode (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1917,  S.  522) 
ermittelt,  ebenfalls  die  analoge  Struktur  des  Side- 
rits  (FeCOg)  und  Manganspats  (MnCOg).  Die 
vorHegenden  Untersuchungen  von  Wyckoff  wur- 
den ursprünglich  in  der  Hoffnung  unternommen, 
daß  die  weitgehenden  Hinweise,  welche  Laue- 
Diagramme  bei  entsprechender  Auswertung  zur 
Erforschung  einer  Struktur  liefern  können,  dazu 
dienen  könnten,  die  O- Atome  im  Gitter  mit 
größerer  Genauigkeit  als  sonst  möglich  einzuord- 
nen. Es  sollten  vor  allem  entscheidende  Anhalts- 
punkte hinsichtlich  der  Existenz  der  Baugruppe 
COg  im  Gitter  gewonnen  werden.  ^) 

Von  den  hierher  gehörigen  Karbonaten  kom- 
men nach  Wyckoff  nur  CaCOg,  FeCOg  und 
MnCOs,  seltener  auch  noch  MgCOg  und  ZnCOg 
in  für  diese  Untersuchung  geeigneten  natürlichen 
Kristallen  vor.  Von  CrCOg,  CdCO,  und  NiCOg 
ist  kein  brauchbares  natürliches  Material  verfüg- 
bar. —  Zur  Auswertung  der  in  der  üblichen  Weise 
erhaltenen  Laue-Röntgenogramme  verwendet  der 
Verf.  nicht  die  z.  B.  von  Rinne  [Ben  Verhandlgn. 
K.  Sachs.  Ges.  d.  W.  zu  Leipzig  67.  Bd.,  S.  303  ff. 
(191 5)]  vorgeschlagene  stereographische  Projektion, 
sondern  die  gnomonische,  weil  diese  ihm  folgende 
Vorteile  zu  bieten  scheint.  (Diese  Projektionsart 
wurde  übrigens  auch  schon  von  E.  Schiebold 
mit  Vorteil  angewendet.)  Die  Indizes  der 
reflektierenden  Gitterebenen  sind  sehr  leicht  und 
einfach  abzulesen.  Ferner  bietet  diese  Methode 
den  Vorteil,  daß  auch  infolge  von  ungenauer 
Orientierung    der  Kristallplatte    zur   Richtung  des 

1)  Anm.  d.  Ref.  Die  von  W.  H.  Bragg  für  den  Calcit 
als  die  wahrscheinlichste  angenommene  Struktur  besitzt  näm- 
lich hinsichtlich  der  Lage  der  0-Atome  zunächst  einen  Frei- 
beitsgrad.  Aus  diesem  Grunde  ist  auch  von  E.  Schiebold 
in  seiner  ausführlichen  Untersuchung  „Über  die  Verwer- 
tung der  Laue- Diagramme  zur  Bestimmung  der 
Struktur  des  Kalkspates"  (Abhandlungen  der  mathem.- 
phys.  Kl.  d.  S.  Ak.  d.  \V.  z.  Leipzig  XXXVI.  Bd.  (1919) 
der  gleiche  Weg  bereits  eingeschlagen  worden.  (Diese  Arbeit 
ist  dem  Verf.  offenbar  noch  nicht  bekannt  gewesen.)  Das 
Ergebnis  Schiebolds  ist  übrigens  mit  dem  des  Verf.  iden- 
tisch, das  Braggsche  Struklurmodell  wurde  als  beste  Lösung 
bestätigt. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


141 


Primärstrahles  unsymmetrisch  ausgefallene  Laue- 
Diagramme  danach  ganz  einfach  ausgewertet 
werden  können.  Der  zweckmäßigen  Herstellung 
und  Auswertung  dieser  gnomonischen  Projektionen 
werden  danach  eingehende  Betrachtungen  ge- 
widmet, besonders  hinsichtlich  der  Auswertung 
unsymmetrischer  Diagramme. 

Die  so  erhaltenen  Werte  der  Flächenindizes 
der  reflektierenden  Gitterebenen  dieser  Laue- 
Diagramme  würden  übrigens,  wie  schon  bei  NaNOg 
früher  von  Wyckoff  geschehen  (The  Physical 
Review,  American  Phys.  Soc.  Bd.  XVI  (1920) 
S.  149 — 157)  nicht  auf  die  Kanten  des  Spaltungs- 
rhomboeders  als  kristallographische  Achsen  be- 
zogen, wie  dies  nach  der  IVIill ersehen  Bezeich- 
nungsweise für  die  rhomboedischen  Kristalle  üb- 
lich ist.  Es  wurden  vielmehr  zunächst  Achsen 
zugrunde  gelegt,  die  den  Diagonalen  der  Flächen 
desSpaltungsrhomboeders  (-j-  R)  entsprechen,  d.  h. 
die  Polkanten  des  Rhomboeders  —  2  R.  Dadurch 
wird  eine  viel  größere  Einfachheit  in  den  Flächen- 
indizes der  Diagrammpunkte  erzielt.  Da  aber  bei 
der  weiteren  Auswertung  der  Intensitäten  dieser 
Diagrammpunkte  gewisse  Strukturebenen  schein- 
bar Wellenlängen  reflektieren  würden,  die  kürzer 
sind  als  sie  überhaupt  in  dem  benutzten  Röntgen- 
licht  enthalten  waren,  so  wird  man  gezwungen 
ein  besseres  Achsensystem  auszuwählen.  Wenn 
nun  die  Diagonalen  der  Flächen  dieses  bisherigen 
Bezugsrhomboeders  ( —  2  R)  zu  Achsen  genommen 
werden  (das  sind  nun  aber  die  Polkanten  des 
Rhomboeders  -}~4R).  so  verschwinden  auch  die 
erwähnten  Unstimmigkeiten.  Die  Rechnung  zeigt, 
daß  in  diesem  nunmehr  als  Struktureinheit  ge- 
wähltem Rhomboeder  2  Moleküle  CaCOg  ent- 
halten sind. ') 

Über  den  Einfluß  der  Spannung,  mit  der  die 
Röntgenröhre  betrieben  wird,  auf  die  Natur  des 
erhaltenen  Diagramms  wird  vor  Beginn  der  Mit- 
teilung der  Auswertungsversuche  noch  gesagt, 
daß  I.  die  brauchbarsten  Photogramme  mit  Hilfe 
einer  Wolfram-Antikathode  bei  einer  Spannung 
von  50000  Volt  erhalten  wurden  und  2.  daß  die 
Verwendung  verschiedenartiger  Absorptionsschirme 
unnötig  und  nicht  wünschenswert  ist. 

Die  Auswertung  der  Laue- Diagramme  des 
Calcits  führt  zunächst  zu  der  Feststellung,  daß 
das  Strukturmodell  der  Raumgruppe  D°3,\  oder 
D^s.a  angehören  muß.  Es  erwächst  hiernach  die 
Aufgabe,  alle  Möglichkeiten  zu  besprechen,  nach 
denen  CaCOg  in  einer  dieser  Raumgruppen  ange- 
ordnet   werden    kann.      Durch   Vergleich   der  in 


')  Anm.  d.  Ref.  Es  muß  nochmals  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  das  gleiche  Ergebnis  auf  analogem  Wege  schon 
in  der  älteren  Arbeit  von  E.  Schiebold  erhalten  worden 
ist  (vgl.  a.  a.  O.  S.  84  u.  85).  Die  auf  diese  Weise  aus  den 
Laue- Diagrammen  allein  abgeleitete  Struktur  stimmt  übrigens 
mit  der  von  W.  H.  Bragg  ermittelten  überein,  bei  der  bei 
näherer  Betrachtung  ebenfalls  das  Rhomboeder  4  R  als  Grund- 
einheil zu  wählen  ist.  Die  von  H  Tertsch  (Tscberm.  Min., 
petr.  Mittig.  Bd.  34  (1917)  abgeleitete  Struktur,  deren  Einheit 
das  Spaltungsrhomboeder  ist,  kann  infolgedessen  nicht  ange- 
nommen werden. 


den  Laue-Diagrammen  beobachteten  Reflexpunkte 
von  bestimmten  Strukturebenen  mit  den  lediglich 
durch  die  folgende  Annahme  errechneten  ergibt, 
daß  nur  die  Raumgruppe  D^aa  passend  sein  kann. 
Die  hierzu  notwendig  anerkannte  Annahme  ist  die, 
daß  die  Intensität  des  von  den  einzelnen  Atomen 
abgebeugten  Röntgenlichts  proportional  ist  der 
betreffenden  Atomordnungszahl.  —  Nach  der  Ent- 
scheidung über  die  Raumgruppe  bleibt  die  Frage 
nach  der  genaueren  Plazierung  von  O,  Ca  u.  C 
noch  offen.  Die  Diskussion  ergibt  dann  das  be- 
reits von  Bragg  ermittelte  Modell  (s.  Natur w. 
Wochenschr.  1917,  S.  525).  Unter  Beziehung  auf 
die  Kanten  a  der  obengenannten  Struktureinheit 
als  Achsen  ergeben  sich  folgende  Koordinaten 
der  innerhalb  einer  Einheit  liegenden  Atome: 


Ca  = 


4'  4     4 


3a  35  3^ 

4'   4'   4" 


_  a     a    a 

C  =  o,  o,  o;      — ,  — ,      . 
'  '       222 


O  :=  u,  u,  O;     u,  o,  u;     O,  u,  u; 


,    a    a  ,    a    a     a 

u  H — ,  -  ;    u  H — ,  — ,  — 
'    ■>    2  222 


u. 


—  u, 


"+2' 

worin  u  den  Wert  von  nahezu  "/^  hat  und  jeden- 
falls innerhalb  0,24  und  0,26  liegt.  Der  Winkel 
zwischen  den  Achsen  (Koordinatenwinkel)  be- 
trägt 46"  06'.  Die  Polkantenlänge  dieses  Rhom- 
boeders ist  a  =  6,16  X  10-'  cm.ij 

Während  zur  Untersuchung  beim  Calcit  islän- 
discher Doppelspat  verwendet  wurde,  stand  für 
Manganspat  solcher  von  Lake  County,  Colorado, 
zur  Verfügung  [nahezu  reines  MnCOg  nach  Ana- 
lyse vgl.  Wash.  Acad.  Science,  7.  Bd.,  365  (1917)]. 
Zur  Ermittlung  der  Ausmaße  der  Struktureinheit 
wurden  mit  den  Linien  der  L  Serie  von  Wolf- 
ram eine  vergleichende  Spektralaufnahme  von 
Calcitspaltungstücken  und  von  diesen  MnCOj- 
Spaltungsrhomboedern  hergestellt.  Wenn  der  Wert 
d=304X  io~*  cm  für  Calcit  als  genau  bekannt 
vorausgesetzt  wurde,  ergab  sich  danach  für  MnCOg 
der  Wert  d  =  2,83  X  I0~"  cm.  Dieser  weicht  aber 
erheblich  von  dem  für  MnCOg  von  Bragg  (X-rays 
and  crystal-structure)  ermittelten  Werte  ab.  Da 
für  den  dort  verwendeten  Manganspat  weder 
Fundort  noch  chemische  Zusammensetzung  ange- 
geben wird,  kann  eine  Aufklärung  dieser  Un- 
stimmigkeit nicht  versucht  werden.  —  Durch  ana- 
loge Auswertung  von  Laue  Diagrammen  desMnCOg 
wird  nun  das  gleiche  Strukturmodell  ermittelt,  wie 
bereits  für  den  Calcit  geschehen.  Der  Wert  u  bei 
den  oben  angegebenen  Koordinaten  für  O  liegt  aber 
hier  wahrscheinlich  bei  0,27  und  a^  S,6i8Xio-*  cm 
Koordinatenwirkel  ^47  "  46'. 

Die   Struktur   von   Siderit   (FeCOg,  Mol.-Gew. 


•)  Diese  Zahlen    weichen    von   den   z.  B.  bei  E.  Schie- 
bold angegebenen  ab;   dort  ist  a  =  6,345  X  ■°""''' '^'"' 


142 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


=  114,93)  wird  der  von  Manganspat  (MnCOg, 
Mol.-Gew.  =  115,85)  als  völlig  identisch  gefunden. 
Eine  Reihe  von  Laue  Photogrammen  des  Eisen- 
spats ließ  sich  nicht  von  denen  des  Manganspats 
unterscheiden.  Vergleichsspektra  von  Spaltungs- 
rhomboedern  (wie  oben  angegeben)  lieferten  für 
FeCOg  den  Wert  2,81  X  lo-^*  cm.  Innerhalb  der 
Versuchsfehler  kann  also  die  Struktur  des  FeCOg 
und  ihre  Ausmaße  mit  der  des  MnCOg  gleich  ge- 
setzt werden. 

Die  Struktur  von  MgCOg  konnte  wegen  Mangels 
an  ebensogut  geeignetem  Material  nicht  in  gleicher 
Weise  überprüft  werden. 

Aus  diesen  Daten  ergeben  sich  nun  hinsicht- 
lich der  Existenz  der  „Baugruppe"  CO.,  in  den 
untersuchten  Karbonaten  folgende  Anhaltspunkte. 
Für  CaCOg  wird  gefunden :  der  kürzeste  Abstand 
von  O  zu  C  zu  1,21  X  io~*  cm/)  von  O  zu  Ca  zu 
2,30  X  I0"~*  cm,  von  Ca  zu  C  zu  3,04  X  lO""*  cm. 


')  Auch    diese    Zahl    wird    bei    E.  Schiebold    hiervon 
abweichend  mit   1,54  X  lO"**  cm  angegeben. 


Beim  MnCOg  dagegen  sind  die  entsprechenden 
kürzesten  Abstände  vonO  zu  C=  1,225  X  io~*  cm, 
von  O  zu  Mn  =  1,96  X  io~^  cm,  von  Mn  zu  C 
=  2,83  X  io~*  cm.  Für  Siderit  wären  nach  obigem 
die  gleichen  Werte  anzunehmen.  Daraus  ergibt 
sich,  daß  die  Abstände  zwischen  den  C  Atomen 
und  den  3  dicht  darum  angeordneten  OAtomen 
in  beiden  Fällen  innerhalb  der  Versuchsfehler 
gleich  sind,  während  die  Abstände  zwischen  Mn 
bzw.  Ca  und  O  und  ebenfalls  zwischen  Mn  bzw. 
Ca  und  C  verhältnismäßig  stark  verschieden  sind. 
Daraus  darf  wohl  auf  die  Existenz  der 
Baugruppe  CO3  geschlossen  werden. 

Zum  Schluß  der  Arbeit  werden  noch  die  Mög- 
lichkeiten der  Bindungen  zwischen  den  einzelnen 
Atomen  besprochen  mit  dem  Resultat,  daß  die 
Annahme  von  elektrisch  geladenen  Ca-  bzw.  CO^- 
lonen  als  am  wahrscheinlichsten  sich  aufdrängt. 
—  Betrachtungen  über  den  Zusammenhang  der 
ermittelten  Kristallstruktur  mit  den  beim  Calcit 
in  der  Natur  beobachteten  häufigsten  Kristall- 
flächen bilden  den  Schluß  der  Arbeit.      Spbg. 


Bücherbesprechungen. 


Ulbricht,  K. ,  Das  Kugelphotometer  (Ul- 
brichische  Kugel).  1 10  Seiten  mit  31  Textabb. 
u.  3  Tafeln.  München  und  Berlin  1920,  Ver- 
lag K.  Oldenburg.  Geh.  24  M.,  geb.  28  M. 
Bringt  man  eine  Lichtquelle  in  das  Innere  einer 
Hohlkugel  (von  1,5  —  3  m  Durchmesser)  deren 
Innenwandung  mit  einem  weißen  Anstrich  von 
möglichst  vollkommenem  Zerstreuungs-  und  ge- 
ringem Absorptionsvermögen  versehen  ist,  dann 
ergibt  sich  nach  dem  Lambertschen  Gesetz, 
daß  die  Wandbeleuchtung  durch  das  von  den 
Wand  flächen-  zurückgeworfene  Licht 
überall  die  gleiche  ist  ganz  unabhängig  davon,  an 
welcher  Stelle  der  Hohlkugel  die  Lichtquelle  an- 
gebracht ist.  Verschiedenheiten  in  der  Wandbe- 
leuchtung treten  lediglich  durch  die  unmittel- 
bare Bestrahlung  der  Lichtquelle  auf.  Schaltet 
man  durch  Anbringung  einer  Blende  diese  an 
einer  Stelle  der  Kugelwandung  aus,  trennt  man 
also  auf  diese  Weise  das  zurückgeworfene  Licht 
von  der  unmittelbaren  Bestrahlung,  dann  kann 
man  an  dieser  Stelle  die  Wandbeleuchtung  messen, 
indem  man  in  der  Wand  eine  Öffnung  anbringt 
und  das  heraustretende  Licht  mit  einem  Photo- 
meter mißt;  man  erhält  auf  diese  Weise  eine 
Größe,  die  in  geradem  Verhältnis  zur  mittleren 
räumlichen  Lichtstärke  des  Leuchtkörpers 
steht  und  sonach  als  Maß  derselben  dienen  kann. 
Das  ist  der  Gedanke,  der  dem  Kugelphotometer 
von  Ulbricht  (auch  Integrator  genannt)  zugrunde 
liegt.  Es  ist  das  Meßinstrument,  das  heute, 
namentlich  seitdem  es  seit  1906  in  den  Vor- 
schriften des  Verbandes  deutscher  Elektrotechniker 
aufgenommen  ist,  vorwiegend  für  die  Photo- 
metrierung  von  Glüh-  und  Bogenlampen  verwendet 


wird.  Die  Arbeiten  des  Verfassers  darüber  sind 
in  den  Jahren  1900  bis  1910  in  der  elektrotech- 
nischen Zeitschrift  erschienen.  Das  vorliegende 
Buch  ist  eine  Neubearbeitung  dieser  Aufsätze  unter 
Benutzung  fremder  Veröffentlichungen;  es  enthält 
an  Theorie  und  Praxis  alles,  was  über  das  Kugel- 
photometer wissenswert  ist.  K.  Seh. 


Pfeiffer,  L.,  Die  Werkzeuge  des  Steinzeit- 
menschen. Aus  der  technologischen  Ab- 
teilung des  Städtischen  Museums  in  Weimar. 
415  S.  mit  540  Textabbildungen.  Jena  1920, 
Gustav  Fischer. 
Für  die  Erforschung  der  vorgeschichtlichen 
Technik  ist  bisher  außerordentlich  wenig  getan. 
Um  so  dankbarer  müssen  wir  dem  Städtischen 
Museum  in  Weimar  dafür  sein,  daß  es  in  mühe- 
voller Arbeit  Jahrzehnte  hindurch  all  das  zu  sam- 
meln versuchte,  was  uns  über  die  steinzeitliche 
Technik  ein  klares  Bild  geben  kann.  Die  An- 
regung zu  dieser  Sammelarbeit  ging  von  dem 
Medizinalrat  Dr.  Pfeiffer  aus,  der  die  Sammel- 
arbeit auch  während  der  ganzen  Zeit  mit  dem 
größten  Interesse  begleitete  und  durch  persönliche 
Opfer  sowie  durch  Gewinnung  von  Geldmitteln 
ermöglichte.  Pf.  hat  sich  mit  dieser  Sammelar- 
beit jedoch  nicht  begnügt,  sondern  auch  versucht, 
die  Ergebnisse  dieses  Sammeins  in  einer  Reihe 
von  Arbeiten,  darunter  mehreren  Büchern,  bekannt, 
zugeben.  All  diese  Arbeiten  will  das  jetzt  er- 
schienene neue  Buch  zu  einem  abschließenden 
Werk  zusammenfassen,  gleichzeitig  aber  auch  ein 
Leitfaden  zur  Einführung  in  die  Technik,  „speziell 
für  Museen,  Volkshochschulen,  landwirtschaftliche 
und  technische   Schulen,    für  Sammler"  sein. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


143 


Das  Werk  wird  gewiß  von  Fachleuten  als 
Materialsammlung  benutzt  werden  können;  sie 
werden  dann  einmal  darin  blättern  und  dankbar 
des  Verfassers  gedenken.  Eine  Verbreitung  über 
die  Fachkreise  hinaus  dürfen  wir  dem  Werke  je- 
doch aus  rein  wissenschaftlichen  Erwägungen 
heraus  nicht  wünschen.  Denn  das  Buch  steht 
keineswegs  mit  dem  in  Einklang,  was  Pf.  durch 
die  Förderung  des  Museums  durch  seine  Einzel- 
forschungen geleistet  hat;  und  so  fürchte  ich,  daß 
Pf.  sich  selbst  den  schlechtesten  Dienst  erwies,  als 
er  dieses  Werk  als  seine  Lebensarbeit  bezeichnete. 

Doch  zum  Inhalt.  Drei  Leitgedanken  hat  der 
Verf.  wie  einen  roten  Faden  in  den  Aufbau  des 
Ganzen  hineingewebt.  Einmal  seine  eigene  An- 
schauung von  der  Chronologie:  das  Solutreen  ge- 
höre hinter  das  Magdalenien,  weil  es  an  der  ihm 
sonst  eingeräumten  Stelle  nicht  in  Pf.s  Theorien 
hineinpaßt.  Zweitens:  Der  Übergang  zur  Jung- 
steinzeit und  die  in  der  Jungsteinzeit  auftretenden 
neuen  Kulturgüter  seien  lediglich  durch  die  Ein- 
wanderung eines  neuen  Volkes  zustande  gekom- 
men. Drittens:  In  der  Technik  lasse  sich  von  der 
jüngeren  Steinzeit  an  ein  „Dualismus"  erkennen, 
der  sich  durch  eine  Oberschicht  in  der  Bevölke- 
rung erkläre,  die  immer  neues,  feineres  Werkzeug 
habe  anfertigen  lassen,  während  die  in  Sklaven- 
stellung stehende  Unterschicht  sich  mit  den  alten 
Werkzeugen  habe  begnügen  müssen.  Mit  diesen 
drei  Leitsätzen  werden  sich  jedoch  wohl  die 
wenigsten  Fachgenossen  befreunden  können. 

Der  Gesamteindruck  des  Buches  ist  entschieden 
nicht  günstig.  Allzuoft  finden  sich  langatmige 
Wiederholungen.  Die  Gliederung  ist  des  öfteren 
nicht  innegehalten.  Was  soll  z.  B.  in  dem  Ab- 
schnitt Werkzeuglehre  die  Schilderung  der  Jagd- 
tiere oder  in  dem  gleichen  Abschnitt  unter  der 
Überschrift  Rhinoceros  die  Angabe  über  Vogel- 
eier usw.  Und  was  hat  schließlich  das  Kapitel 
„Rösten  der  Getreidekörner"  überhaupt  mit  Prä- 
historie zu  tun? 

Jede  Benutzung  des  Buches  wird  übrigens  sehr 
beeinträchtigt  durch  zahlreiche  Druckfehler  und 
Entstellungen. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


La  Baume,  Wolfgang,  Vorgeschichte   von 
Westpreußen      in      Grundzügen     allgemein 
verständlich    dargestellt.      Herausgegeben    von 
der    naturforschenden    Gesellschaft    in    Danzig. 
102  S.,  i8  Tafeln,  84  Textabbildungen.     Danzig 
1920,  in  Kommission    bei    R.  Friedländer    und 
Sohn  in  Berlin. 
Einstmals     hatte     die     Provinz     Westpreußen 
mehrere  Jahrzehnte  lang  im  Vordergrund  der  vorge- 
schichtlichen Forschung   gestanden,    als  Abraham 
Lissauer    in  Danzig    ansässig    war    und   sich    mit 
Feuereifer  den  vorgeschichtlichen  Studien  zuwandte. 
Seine  Arbeiten  und  die  seiner  Freunde  Anger  und 
Dorr  waren  für  ihre  Zeit  mustergültig  und  gehören 
noch  heute  zu  dem  unentbehrlichen  Rüstzeug  des 
Vorgeschichtsforschers.       Die     von     diesen     drei 


Forschern  geleistete  Arbeit  versuchte  der  hoch- 
verdiente Direktor  des  ProvinziaJmuseumsConwentz 
fortzusetzen.  Aber  zu  seiner  Unterstützung  fanden 
sich  keine  Mitarbeiter,  und  so  bereitete  sich  all- 
mählich ein  Stillstand  vor,  der  dann  dazu  führte, 
daß  Westpreußen  zu  derjenigen  Provinz  wurde,  die 
am  allerwenigsten  literarische  Veröffentlichungen 
auf  vorgeschichtlichem  Gebiet  aufzuweisen  hat. 
Merkwürdig  fügt  es  nun  das  Schicksal,  daß  gerade 
in  dem  Augenblick,  wo  die  Provinz  durch  die 
Bestimmung  des  Friedens  von  1919  zerstückelt 
wurde,  sie  sich  noch  einmal  zu  einer  mustergültigen 
Verarbeitung  ihrer  vorgeschichtlichen  Funde  auf- 
raffte. Von  sachkundiger  Hand  erhalten  die  aus 
ihr  vorliegenden  reichen  Funde  in  der  La  Baume- 
schen Vorgeschichte  eine  für  die  weitesten  Kreise  be- 
rechnete Zusammenfassung,  eine  Zusammenfassung, 
wie  ich  sie  mir  gar  nicht  besser  und  klarer  denken 
kann  und  für  die  es  eigentlich  auch  nur  ein  Gegen- 
stück in  dem  von  Oskar  Mertins  verfaßten  „Weg- 
weiser durch  die  Urgeschichte  Schlesiens"  (2.  Aufl. 
Breslau  1906)  gibt.  In  übersichtlicher  zusammen- 
hängender Form  wird  ein  gutdurchdachter  Über- 
blick über  die  Vorgeschichte  der  Landschaft  ge- 
boten. Dabei  werden  die  wichtigsten  Funde  aus- 
führlich erörtert  und  in  gut  gewählten  Abbildungen 
vorgeführt.  Am  Schlüsse  der  einzelnen  Abschnitte 
findet  sich  jeweilig  die  wichtigste  Literatur  ver- 
zeichnet. Möchte  das  Buch  zu  ähnlichen  gleich- 
guten zusammenfassenden  Darstellungen  der  Vor- 
und  Frühgeschichte  der  übrigen  Provinzen  und 
Landschaften  Deutschlands  anregen  und  möchte 
gleichzeitig  mit  seinem  Erscheinen  für  die  hart- 
geprüfte Landschaft,  der  es  gewidmet  ist,  eine 
neue  Periode  eifrigster  Forschung  und  reichster 
wissenschaftlicher  Ergebnisse  auf  dem  Gebiete 
der  Vorgeschichte  heranbrechen  I 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Weil,  L.  W.,  Neue  Grundlagen  der  tech- 
nischen Hydrodynamik.  München  und 
Berlin,  Verlag  R.  Oldenburg.  219  Seiten  mit 
133  Abbildungen.  Preis  geh.  26  M.,  geb.  30  M. 
Die  Hydrodynamik  hat  für  zahlreiche  Strömungs- 
probleme, die  wissenschaftlich  und  wirtschaftlich 
von  der  größten  Bedeutung  sind,  noch  keine 
exakte  Erklärung  bzw.  analytische  Lösung  finden 
können,  da  einerseits  die  experimentelle  Erforschung 
außerordentlich  schwer  ist,  andererseits  die  rein 
theoretische  Behandlung  auf  oft  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  stößt,  die  zur  Aufsteilung  ver- 
einfachender Annahmen  über  den  Strömungs- 
verlauf geführt  haben.  Das  hat  zur  Folge  gehabt, 
daß  der  praktische  Hydrodynamiker  seine  mathe- 
matischen Beziehungen  ausschließlich  aus  der 
praktischen  Erfahrung  auf  empirischem  Wege 
gewinnt,  während  er  das  Feld  der  wissenschaft- 
lichen Bearbeitung  derselben  vollständig  den 
Theoretikern  überläßt.  Zwischen  beiden  besteht 
eine  Kluft.  Das  vorliegende  Buch  (es  ist  in  mehr- 
jähriger Kriegsgefangenschaft  geschrieben)  macht 
den  Versuch,    diese  Kluft    zu    überbrücken ;    alle 


144 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  9 


durch  theoretische  Betrachtung  gewonnenen  Er- 
gebnisse werden  sorgfältig  geprüft,  ob  sie  quali- 
tativ und  quantitativ  mit  der  praktischen  Erfahrung 
übereinstimmen.  Folgende  Themata  werden  in 
den  einzelnen  Abschnitten  behandelt:  i.  Die  turbu- 
lente Strömung,  2.  die  Zentralströmung,  3.  das 
Ausfluß  oder  iVIündungsproblem,  4.  der  Energie- 
satz der  kreisenden  Flüssigkeit,  5.  der  hydraulische 
Stoß,  6.  die  Kreiselräder.  K.  Seh. 


Diels,  Paul,  Die  Slawen.  141  S.  (Aus Natur  und 
Geistes  weit  Nr.  740.)  Leipzig  1920,  B.  G.  Teubner. 
Das  Büchlein  D  i  e  1  s'  ist  recht  zeitgemäß  heraus- 
gekommen. Es  enthält  reichliches  Tatsachen- 
material u.  a.  über  die  Urheimat  der  Slawen,  ihre 
Gliederung  in  Sprachstämme,  deren  geographische 
Verbreitung,  die  Sprachen,  Schrift,  Religionen 
und  kulturellen  Eigenarten.  Die  Abschnitte  über 
die  Kaschuben,  Polen  und  Tschechen  verdienen 
besondere  Beachtung,  weil  es  sich  hier  um  Nach- 
barvölker handelt,  deren  Sprachgebiete  in  geringer 
Ausdehnung  über  Deutschlands  Grenzen  herein- 
reichen. Ganz  innerhalb  unserer  Grenzen  lebt 
nur  der  kleine  Slawenstamm  der  Sorben  oder 
Wenden.  So  manche  Tatsachen,  wie  etwa  gerade 
die  Erhaltung  der  sorbischen  Sprache  in  der 
Lausitz  und  des  Kaschubischen  und  Polnischen  in 
Ostpommern,  sind  noch  nicht  klar  gedeutet,  sie  haben 
vielleicht  auch  mehr  als  eine  Ursache.  Es  scheint 
(und  das  ist  ganz  natürlich),  daß  die  Intensität 
der  deutschen  Besiedelung  nach  Osten  zu  abnahm ; 
daß  wir  jenseits  der  Lausitz  und  Pomerellens,  in 
Schlesien  und  Preußen,  wieder  eine  starke  und 
siegreiche  deutsche  Kolonisation  vorfinden,  muß 
(und  kann)  aus  der  besonderen  Geschichte  der 
letztgenannten  Länder  erklärt  werden.  Stellen- 
weise mag  auch  die  Bodenbeschaffenheit  die 
deutschen  Ansiedler  weniger  angezogen  und  somit 
der  alten  Bevölkerung  zum  Schutz  gedient  haben 
(Kaschubenland).  Auch  die  für  uns  ganz  unlösbare 
Frage  erhebt  sich,  ob  nicht  die  Slawenbevölkerung 
Ostdeutschlands  von  vornherein  verschiedene 
Grade  der  Dichtigkeit  aufwies.  —  Nicht  in  den 
Bereich  der  Darstellung  gezogen  sind  die 
materielle  Kultur,  Lebensweise  und  Gebräuche 
der  slawischen  Völker.  H.  Fehlinger. 


Literatur. 


Herz,  Prof.  Dr.  W.,  Leitfaden  der  theoretischen  Chemie, 
Als  Einführung  in  das  Gebiet  für  Studierende  der  Chemie, 
Naturwissenschaften  und  Pharmazie ,  Arzte  und  Techniker, 
2,  Aufl.     Ebenda.     50  M. 


Virchow,  H. ,  Die  menschlichen  Skelettreste  aus  dem 
Kämpfeschen  Bruch  im  Travertin  von  Ehringsdorf  bei  Weimar. 
Mit  42  Textabb.  u.  S  Tafeln.  Jena  '20,  G.  Fischer.  100  M. 
Neumayer,  M.,  Erdgeschichte.  3.  Aufl.,  gänzlich  neu- 
bearbeitet von  Prof.  F.  E.  Sueß.  I.  Bd.  Dynamische  Geo- 
logie. Mit  132  Te.xtabb.  30  Tafeln  u.  2  Karten.  Leipzig 
und  Wien  '20,  Bibliographisches  Institut. 

Praktikum  und  Repetitorium  der  quantitativen  Analyse. 
111.  Teil :  Elektroanalyse.  Mit  27  Textfig.  Leipzig  '20,  J.  A. 
Barth.     10,80  M. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig  und  Berlin ,  B.  G. 
Teubner. 

Rüsberg,  Dr.  F.,  Einführung  in  die  analytische  Che- 
mie.    I.  Teil:  Theorie  und   Gang  der  Analyse.    Mit 
15  Textfig.     2.  Teil:   Die  Reaktionen.     Mit  4  Textfig. 
Sommer,  Dr.  G,  Leib  und  Seele  in  ihrem  Verhältnis 

zueinander. 
Egerer,   Dr.  A.,  Kartenkunde.      I.   Einführung  in  das 

Kartenversländnis.     Mit  49  Textabb. 
Krantz,    Prof.    P. ,     Sphärische     Trigonometrie     zum 

Selbstunterricht.     Mit  27  Textfig. 
Schmidt,  Prot.  Dr.  F.  A. ,    Wie    erhalte    ich    Körper 

und  Geist  gesund? 
Bloch,  Dr.  W.,  Einführung  in  die  Relativitätstheorie. 

2.  verb.  Aufl.     Mit   18  Fig. 
Scheiner,  Piof.  Dr.  J.  f ,    Der    Bau    des    Weltalls. 
5.  Aufl.  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  P.  Guthnick.     Mit 
28  Textfig. 
Peter,  Prof.  Dr.  B.  f.  Die  Planeten.     2.  Aufl.  durch- 
gesehen von  Dr.  H.  Naumann.     Mit  16  Textfig. 
Roth,    A.,    Grundlagen    der    Elektrotechnik.     3.  Aufl. 

Mit  70  Abbildungen. 
Vater,   Prof.   R.  'f ,     Einführung     in     die     technische 
Wärmelehre.     2.  erweiterte    Aufl.    bearb.    von    Dr. 
F.  Schmidt,     Mit  46  Textabb. 
Thomes,    Prof.  Dr.  K. ,    Nahrung  und  Ernährung.     Mit 
einer  Erläuterung  von  Rubners    Nahrungsmilteltafel.     Ebenda. 
10  M. 

U  h  1  i  c  h ,  Prof.  Dr.  R. ,  Untersuchungen  zur  Erklärung 
der  fernwirkenden  Kräfte.     Ebenda.     4  M. 

Hahn,  Dr.  K.,  Grundriß  der  Physik.  Für  höhere  Lehr- 
anstalten und  Fachschulen,  sowie  zum  Selbstunterricht.  Mit 
326  Figuren.     Ebenda   16  M. 

Bader,  Dr.  H.  G.,  Grundlagen  der  Flugtechnik.  Ent- 
werfen und  Berechnen  von  Flugzeugen.  Mit  47  Textfiguren. 
Ebenda.     36  M. 

Voigt,  Prof.  Dr.  A.,  Exkursionsbuch  zum  Studium  der 
Vogelstimmen.     8.  vcrm.  u.  verb.  Aufl.     Ebenda.     20  M. 

Fitschen,  J.,  Gehölzflora.  Ein  Buch  zum  Bestimmen 
der  in  Deutschland  und  den  angrenzenden  Ländern  wild- 
wachsenden und  angepflanzten  Bäume  und  Sträucher.  Mit 
342  Abb.     Ebenda.      15   M. 

Brohmer,  Dr.  P.,  Fauna  von  Deutschland.  Ein  Be- 
stimmungsbuch unserer  heimischen  Tierwelt.  Mit  935  Abb. 
Ebenda.     22  M. 

Guenther,  Prof.  Dr.  K.,  Kultur  und  Tierwelt.  Mit 
33  Abb.     Ebenda.     6  M. 

Graebner,  Prof.  Dr.  P.,  Lehrbuch  der  nichtparasitären 
Pflanzenkrankheiten.     Mit  244  Textabb.     Berlin  '20,  P.  Parey. 
Kirchberger,  Prof.  Dr.  P.,   Was  kann  man  ohne  Ma- 
thematik von  der  Relativitätstheorie  verstehen?    Karlsruhe  '20, 
C.  F.  Müller.     8  M. 

Reichenbach,  Dr.  H.,  Relativitätstheorie  und  Erkennt- 
nis a  priori.     Berlin  '20,  J.  Springer. 

Born,  M.,  Die  Relativitätstheorie  Einsteins.  Mit  129 
Textabb.  u.   einem  Porträt  Einsteins.     Ebenda.     34  M. 


Inhalt:  K.  Goebel,  Pflanzen  als  Wetterpropheten.  (2  Abb.)  S.  129.  H.  Marzell,  Der  Holunder  (Sambucus  nigra)  in 
der  Volkskunde.  S.  133.  —  Einzelberichte :  S.  Nishikawa  und  G.  Asahara,  Untersuchungen  von  Metallen  mittels 
Röntgenstrahlen.  S.  136.  C.  v.  Wisselingh ,  Untersuchungen  über  Osmose.  S.  136.  H.  Burgeff,  Eigenartige  Form 
des  Parasitismus.  S.  137.  L.  Cohn,  Zweck  des  Tragens  von  Nasen-,  Lippen-  und  Wangenpflöcken.  S.  138.  Hoff- 
raann,  Über  die  Radioaktivität  aller  Elemenie.  S.  139.  R.  W.  G.  Wyckoff,  Die  Kristallstruktur  einiger  Karbonate 
der  Calcitgruppe.  S.  140.  —  Bücherbesprechungen:  K.  Ulbricht,  Das  Kugelphotometer.  S.  142.  L.  Pfeiffer, 
Die  Werkzeuge  des  Steinzeitmenschen.  S.  142.  W.  La  Baume,  Vorgeschichte  von  Westpreufien.  S.  143.  L.  W. 
Weil,  Neue  Grundlagen  der  technischen  Hpdrodynamik.  S.  I43.     P.  Diels,  Die  Slawen.  S.  144.  —  Literatur:  Liste.  S.  144. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miebe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe   36.  Band, 


Sonntag,  den  6.  März  1921. 


Nummer  10. 


Deszendenzprobleme,  erörtert  am  Fall  der  Steinheimer  Planorben. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  M.  Rauther  (Stutlgart). 
Mit  3  Abbildungen. 


Das  Mittel  einer  denkmäßigen  Ordnung  ge- 
gebener Mannigfaltigkeiten  ist  der  Vergleich.  Ver- 
gleichbarkeit der  Lebewesen  besagt,  daß  diese, 
obwohl  im  ganzen  konkret- gestaltlich  verschieden, 
doch  „in  gewisser  Hinsicht"  gleich  sein  können. 
Der  Ausdruck  umfassenderer  oder  engerer  Grade 
dieser  relativen  Gleichheit  ist  das  vielgliedrige 
System  der  Organismen.  Was  aber  ist  das 
gleiche,  das  systematische  Zusammengehörigkeit 
bedingt?  Etwa  ein  einzelner  konkreter  Teil  der 
verglichenen  Wesen?  Wenn  wir  Säuger,  Vögel, 
Fische  usw.  „Wirbeltiere"  nennen,  so  tun  wir  das, 
weil  sie  alle  sich  im  Besitz  einer  Wirbelsäule 
gleichen.  Aber  die  Wirbelsäule  haben  sie  nicht 
als  gestaltlich  identisches  Gebilde  gemein:  nicht 
als  eine  Wirbelsäule  von  dieser  Größe,  Form 
und  Beschaffenheit;  sondern  nur  als  eine  Wirbel- 
säule überhaupt,  d.  h.  ein  sinnlich  wahrnehm- 
barer, Qualitäten  entbehrendes,  unwirkliches  Ge- 
dankengebilde. Und  so  ist  auch  „das  Wirbeltier", 
dem  wir  außerdem  noch  ein  Rückenmark-über- 
haupt,  ein  Bauchherz-überhaupt  u.  a.  m.,  sowie 
ein  allgemeines  Lageschema  dieser  Teile  zu- 
schreiben mögen,  ein  Gedankengebilde.  Also: 
nur  in  denkhaft-abstrakten  Zügen  spricht  sich 
das  Gemeinsame,  die  Einheit  systematischer 
Gruppen  aus. 

Sollte  was  hinsichtlich  der  mehr  oder  minder 
umfassenden  „Genera"  sehr  einleuchtend,  nun 
nicht  auch  für  die  Art,  als  engste  „systematische 
Kategorie",  Geltung  haben?  Auch  die  Art  er- 
scheint ja  vielen  Naturforschern  nur  als  künstliche 
Zusammenfassung  des  Gemeinsamen  vieler  unter 
sich,  wenn  auch  meist  nur  geringfügig  verschie- 
dener Individuen  oder  „Personen".  Pendeln  diese 
nur  wenig  um  eine  „Normalform",  so  scheint 
es  in  der  Tat  möglich,  auch  das  Wesen  der  Art 
in  einem  abstrakt  allgemeinen  Charakter  auszudrük- 
ken.  Tritt  aber  eine  Art  in  mehreren  gut  gekenn- 
zeichneten Formen  (geographischen  usw.)  auf  oder 
ist  sie  physiologisch  in  höherem  Grade  dimorph 
oder  polymorph,  so  wird  es  deutlich,  daß  ihr 
Wesen  nur  in  eine  umständliche  Beschreibung 
unter  Berücksichtigung  der  konkreten  Grenzfälle 
zu  fassen  ist. 

Die  Art  kann  also  in  der  Tat  nicht  gleich  den 
übrigen  systematischen  Kategorien  wie  ein  „Genus" 
behandelt  werden.  Und  zwar  darum  nicht,  weil 
artgleiche  Wesen  nicht  nur  durch  allgemeine  Be- 
griffe, sondern  auch  konkret-körperlich  zusammen- 
hängen. Die  Art,  als  ein  ununterbrochener  Strom 
durch  Zeugung  sich  wiederholender,  „voneinander 


abstammender"  Personen,  ist  demnach  selbst  durch- 
aus ein  reales  Wesen.  Sie,  nicht  die  Person 
(wie  meist  gelehrt  wird),  ist  das  eigentliche 
Element  des  Systems,  nicht  aber  selbst  schon 
begriffliche  Kategorie  desselben. 

Der  Zusammenhang  durch  Zeugung  erscheint 
nun  als  der  eigentlich  der  Natur  eigene,  allein 
wirkliche,  gegenüber  dem  nur  denkhaften  der 
systematischen  Einheiten.  Nichts  lag  daher  näher 
als  daß  es  den  Naturforscher  reizte,  diesen 
Dualismus  zu  überwinden  und  das  Hineinspielen 
von  nur  Denkhaftem  in  die  Natur  zugunsten 
durchaus  wirklicher  Verknüpfungen  zu  beseitigen. 
Diesen  Schritt  tat  die  Abstammungslehre. 

Es  scheint  so  einfach,  daß,  wie  die  Personen 
zum  allgemeineren  Charakter  der  Art  hinzutretende 
Besonderheiten  zum  Ausdruck  bringen,  so  auch 
verschiedene  Arten  nur  allmählich  sich  ausbildende 
Sonderungen  aus  einer  ihnen  als  leiblicher  Vor- 
fahr zugrundeliegenden  Siammart  von  allge- 
meinerem Charakter  seien.  „Varietäten  sind  be- 
ginnende Arten"  (D  arw  in).  Wie  jene  von  ihren 
Ahnen  die  Artähnlichkeit  „erbten",  so  könnte  ja 
auch  das  Gemeinsame  mehrerer  Arten  Erbgut 
von  selten  der  gemeinsamen  einfacheren  Stamm- 
art sein.  Hier  liegt  aber  eine  trügerische  Analogie 
vor;  denn  jede  Art  ist  eben  nichts  Einfacheres, 
als  die  ihr  zugerechneten  Personen,  sie  ist  kein 
Regriff,  sondern  ein  mehr  oder  minder  hohe 
konkrete  Mannigfaltigkeit  umschließendes  Wesen. 

Übersieht  man  dies,  so  erscheint  freilich  das 
System  mit  einem  Schlage  in  einem  neuen  Sinn : 
die  Gattungsbegriffe  (mehr  oder  minder  hoher 
Ordnung)  werden  zu  Repräsentanten  von  (dennoch 
als  konkret  geforderten)  Ahnenformen.  Und  das 
logische  Gesetz  der  mit  ihrem  Umfang  fort- 
schreitenden inhaltlichen  Verarmung  der  systema- 
tischen Begriffe  erscheint  nun  als  Naturgesetz  des 
Wurzeins  aller  Organismenmannigfaltigkeit  in  ge- 
staltlich Einfachem  —  der  „Entwicklung"  vom 
Niederen  zum  Höheren.  —  Wie  die  Abstammungs- 
lehre sich  die  Triebkräfte  dieses  Fortgangs  denkt, 
braucht  hier  nicht  erörtert  zu  werden.  Jedenfalls 
würde  sie  den  Verstand  schon  in  hohem  Maße 
befriedigen,  wenn  es  ihr  gelänge,  alle  Organismen 
unter  der  Voraussetzung  genealogisch  historischer 
Folge  einstämmig  widerspruchsfrei  zu  ordnen. 
Hiermit  steht  und  fällt  im  Grunde  die  ganze 
Deszendenztheorie  (was  ihre  konsequenten  Ver- 
fechter auch  stets  gefühlt  haben).  Denn  gäbe  es 
zahlreiche  oder  gar  so  viele  von  Grund  auf  besondere 
Abstammungsfolgen     wie     besondere    Arten,     so 


146 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


verlöre  sie  das  ihr  wesentliche  Erklärungsprinzip 
für  das  Dasein  systematischer  Einheiten:  die  Ab- 
stammung aller  Unterglieder  dieser  von  gleichen 
realen  Ahnen. 

Läßt  sich  denn  nun  die  im  System  zwar  nur 
denkhaft,  aber  doch  in  engster  Anlehnung  des 
Denkens  an  das  Naturwirkliche  gegebene  Ee- 
ziehungsstruktur  durch  den  Stammbaum  ange- 
messen abbilden?  Wir  sehen  dabei  davon  ab, 
daß  die  durch  Vergleich  gewonnenen  Generalia 
des  Systems  selbst  sich  nie  mit  in  noch  so 
nebelhafter  Vorzeit  lebenden  Stammarten  decken 
können;  denn  alle  Bestimmungen  sind  bei  jenen 
selbst  wieder  begrifflicher,  bei  diesen  konkret- 
gegenständlicher Art.  Aber  die  begriffliche 
Dichotomie  des  Systems  scheint  doch  zum 
Stammbaumbilde  trefflich  zu  passen? 

Auf  den  ersten  Blick  wohl.  Nicht  aber,  sobald 
man  ins  einzelne  geht.  Die  Dipnoer  z.  B.  zeigen 
in  ihrem  knöchernen  Skelett,  ihrer  Beschuppung, 
ihren  Flossenstrahlen  u.  a.  sicherlich  generelle' 
Übereinstimmung  mit  den  Ganoiden,  so  daß  man 
sie  mit  diesen  aus  einer  Wurzel  herleiten  möchte; 
andererseits  aber  lehnen  sie  sich  durch  ihren 
autostylen  Schädel,  uneingeschränkte  Chorda,  Lage 
des  Geruchsorgans  u.  a.  an  die  Holocephalen  an, 
die  mit  den  Ganoiden  gar  nichts  (außer  dem  all- 
gemeinsten Fischcharakter)  gemein  haben,  sich 
vielmehr  enger  an  die  Plagiostomen  anschließen. 
Solche  Doppelbeziehungen  stören  die  Logik  des 
Systems  nicht  (ein  Begriff  kann  ja  mit  vielen 
anderen  Begriffen  einzelne  Bestimmungen  gemein 
haben);  abstammungsmäßig  aber  sind  sie  nicht 
zu  erklären.  Denn  da  man  sich,  der  Einwurzelig- 
keit  zuliebe,  den  hypothetischen  Artenzuwachs 
des  Stammbaums  gleichsam  auf  dem  Wege  der 
ungeschlechtlichen  Vermehrung  (analog  dem 
Wachsen  eines  wirklichen  Baumes)  vorstellt,  so 
kann  jede  Art  nur  zu  einer  Ahnenart,  bzw.  einer 
Linie  von  Ahnenarten;  blutsverwandtschaftliche 
Beziehungen  haben.  Man  muß  also  den  Erbgutwert 
der  akzessorischen  Ähnlichkeitsbeziehungen  leugnen 
und  sie  für  phylogenetisch  belanglose,  auf  diesen 
oder  jenen  Zufallsgründen  beruhende  „Konver- 
genzerscheinungen" erklären.  Etwas  anderes  wäre 
es,  wenn,  wie  jede  Tierperson  in  der  Regel  zwei 
Eltern  hat,  jede  Art  zwei  Elternarten  hätte  und 
so  auch  hier  eine  Doppelbeerbung,  bzw.  von  den 
„väterlichen"  und  „mütterlichen"  Ahnenartenketten 
her  eine  Mehrfachbeerbung,  eintreten  könnte. 
Wäre  dergleichen  irgendwie  denkbar? 

Erst  jüngst  hat  W.  Lu  bosch  i)  die  nicht  nur 
innerhalb  der  Arten,  sondern  in  jedem  Kreise 
und  auf  jeder  Stufe  des  Systems  begegnenden 
„netzförmigen"  Ähnlichkeitsbeziehungen  mit  der 
Vorstellung  einer  progressiven  Umbildung  der 
Lebewesen  in  Einklang  zu  bringen  versucht.  Die 
Ergebnisse  verschiedener  Erfahrungsgebiete  haben 

')  Das  Problem  der  tierischen  Genealogie.  Nebst  einer 
Erörterung  des  genealogischen  Zusammenhangs  der  Stein- 
heimer  Schnecken,  in:  Arch.  mikr.  Anat.  Festschr.  Hertwig 
1920.  ^ 


in  diesem  Versuch  eine  sehr  geistvolle  Ver- 
knüpfung erfahren.  Bei  ihrer  gedrängten  Dar- 
legung werde  ich  mich  indessen  nicht  rein 
referierend  verhalten. 

Das    erste     ist    die    klarere    Einsicht    in    die 
genealogischen    Verhältnisse    überhaupt. 
Man  verdankt   sie  sehr  wesentlich  einem  von  den 
Biologen    anfangs    wenig    beachteten    Werke    des 
Historikers      Lorenz.  1)        Später      erst      haben 
O.    Hertwig,    Lewin    u.    a.    das    Genealogie- 
problem   in    biologischer    Rücksicht    durchdacht. 
Die  Grundtatsache  ist,  daß  bei  allen  zweielterlich 
gezeugten  Organismen  —  und  es    ist   zweifelhaft, 
ob    es    tierische  Organismenarten    gibt,    die    sich 
dauernd    nur    durch    ein-    oder    ungeschlechdiche 
Zeugung    erhalten  —  die  Zahl    der  Ahnen    jeder 
Person    rückwärts    in    geometrischer    Progression 
zunimmt.      Stellt    man    die    wirkliche    Ahnentafel 
eines   „Probandus"  auf,    so  ergibt  sich  gerade  das 
umgekehrte  Bild  eines  Stammbaums,  d.  h.  die  Ab- 
stammungslinien    zweigen    sich,     je    weiter    man 
zurückgeht,    um  so  mehr  auf.     Dabei    ist   freilich 
zu    berücksichtigen,    daß    nicht    die    Ahnenlinien 
aller  Personen  selbständig  bleiben.    Da  Geschwister 
nur    ein    gemeinsames  Elternpaar    haben    und    da 
nahe    und  fernere  Verwandten-    sowie    Mehrehen 
auch  in  der  Natur  nichts  Seltenes  sind,  so  werden 
die  Aszendenzlinien  verschiedener  Personen  kommu- 
nizieren,   d.  h.  das   Bild    eines   Netzwerks    geben. 
Das    Bild    eines    Stammbaums    können    wir    aus 
diesem  Netz  nur  herauslösen,  wenn  wir  allein  den 
Mannes-  oder  Weibesstamm  verfolgen.     Da  sich 
in  unseren  menschlichen  Familien  der  Name  allein 
im  Mannesstamm  vererbt,    so   ist    uns   die    männ- 
liche Stammtafel  ganz  besonders  geläufig. 

Infolge  des  „Ahnenverlustes"  durch  Verwandten- 
ehen wird  die  Zahl  der  Ahnen  jeder  Person  nie 
so  groß  sein,  wie  sie  theoretisch  sein  könnte. 
Soweit  wir  aber  auch  zurückgehen,  so  muß  doch 
als  „Stamm"  jedes  Personenbestandes  einer  Art 
eine  Vielheit  von  Personen  bleiben,  allermindestens 
ein  Stammvater  und  eine  Stammutter,  die  nach 
der  Definition  der  Art  als  genealogischer  Einheit 
unter  sich  und  mit  ihren  Nachkommen  bereits 
artgleich  sein  mußten.  Wäre  es  dennoch  und 
wie  wäre  es  etwa  denkbar,  daß  in  diesem  strengen 
Rahmen  genealogischen  Geschehens  Neuentstehen 
von  Arten  stattfindet? 

Hier  treten  nun  zweitens  Erfahrungen  und 
Theorien  der  Variabilitäts-  und  Ver- 
erbungslehre ein.  —  Wir  wissen,  daß  Personen 
und  Personenfolgen  einer  Art  unter  wechselnder 
„Umwelt"  sich  ihrer  Erscheinung  nach  verändern 
können.  Größe,  Gestalt,  Färbung,  Gewohnheiten 
usw.  können  auf  bestimmte  durch  Nahrung, 
Temperatur,  Licht,  Bewegung  u.  a.  m.  gegebene 
Bedingungen  in  bestimmter  Weise  (meist  aber 
durch  ein  Mehr  oder  Weniger)  antworten.  Erblich 
sind  diese  „Modifikationen",  wenngleich  sie 

')  Lehrbuch  d.  gesamten  wissensch.  Genealogie,  usw. 
Berlin  1898. 


N.  F.  XX.  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


147 


sog.  Nachwirkungen  zeigen  können,  im  strengen 
Sinne  nicht.  Andern  sich  die  äußeren  Bedingun- 
gen, so  ändert  sich  auch  bei  den  Nachkommen 
wieder  der  Habitus.  —  Im  Grunde  müßte  man 
schon  hieraus  die  Konsequenz  ziehen,  daß  das 
Wesen  einer  Art  nicht  in  einem  festen  Komplex 
von  erscheinungsmäßigen  IVIerkmalen  zu  sehen 
ist,  sondern  in  etwas  Dynamischem,  einem  s  p  e  - 
zi  fischen  Reaktionsvermögen  auf  die 
Umwelt.  D  a  aber  allein  die  wechselnden  gestalt- 
lichen Reaktionen  ein  sichtbarer  Ausdruck  dieses 
dauernden  Wesens  sind,  so  bleibt  praktisch  nichts 
übrig,  als  jede  Art  nach  den  unter  den  normalen, 
d.  h.  häufigsten  Bedingungen  vorkommenden  IVIerk- 
malen zu  kennzeichnen,  aber  mit  einem  durch 
die  Berücksichtigung  anderer  Bedingungen  ge- 
setzten Spielraum.  Wie  wichtig  es  ist,  sich  vor 
Augen  zu  halten,  daß  in  jeder  Person  einer  Art 
viel  mehr  an  Möglichkeit  stecke,  als  sich  unter 
jeweiligen  Bedingungen  erscheinungsmäßig  reali- 
siert, wird  sich  weiterhin  noch  eindringlich  zeigen. 
Eben  darum  aber  ist  bei  der  Bewertung  dessen, 
was  sich  etwa  unter  ungewöhnlichen  Bedingungen 
realisiert,  als  artlich  neu  stetes  Mißtrauen  ge- 
boten. 

Für  die,  wie  gesagt ,  nicht  erblichen  Modifika- 
tionen leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  sie  auch 
durch  Zuchtwahl  extremer  Abweicher  sich  nicht 
zu  einem  als  artlich  neu  anzusprechenden  Maße 
steigern  lassen.  Man  nimmt  an,  daß  von  der 
Veränderung  hier  nur  das  Soma,  nicht  aber  die 
Erbmasse  betroffen  wird,  und  nennt  sie  daher 
auch  Somationen(Plate).  Andere  Abweichun- 
gen hält  man  auf  Grund  ihrer  Vererbbarkeit  für 
auf  Veränderung  der  Keimkonstitution  beruhend 
und  faßt  sie  jetzt  —  ungeachtet  ihres  Charakters 
und  Ausmaßes  —  als  Mutationen  zusammen. 
Die  besonderen  Gesetze  ihrer  Erblichkeit  machen 
bekanntlich  das  hauptsächliche  Arbeitsfeld  der 
modernen  Vererbungsforscher  aus.  Mutanten  er- 
scheinen nun  meist  als  ganz  ausgesprochene 
„Nova";  oft,  wenn  auch  nicht  ausnahmslos,  als 
sprungweise  Abweichungen  von  der  Norm.  Diese 
können  sich  auf  alles  erdenkliche  Eigenschaftliche 
erstrecken:  Form,  Größe,  Proportionen,  Farbe, 
Zeichnung  usw. 

Mutation  gilt  gegenwärtig  für  das  wahrschein- 
lichste Mittel  der  Natur  zur  Bildung  neuer  Arten. 
Indessen  sehen  wir  wohl,  daß  durch  sie  erblich 
gefestigte  Rassen  entstehen  können,  aber  —  nicht 
mehr.  Diese  Rassen  kreuzen  sich  stets  unter- 
einander und  mit  der  Normalform  unbegrenzt 
fruchtbar,  während  selbst  nahe  verwandte  Arten 
in  der  Regel  keine  fruchtbaren  Bastarde  ergeben. 
Tritt  diese  Rassenkreuzung,  etwa  bei  Verwilde- 
rung, ungehemmt  ein,  so  erfolgt  in  der  Regel 
auch  gestaltlicher  Rückschlag  in  die  Wildform 
(Hybridatavismus).  Selbst  veränderte  Lebenslage 
scheint  gleiches  bewirken  zu  können  (Spontan- 
atavismus). Sonach  haben  wir  gar  keinen  Grund 
anzunehmen,  daß  durch  Mutation  irgend  etwas 
Konstitutives  zur  Keimesveranlagung  hinzukommt 


Wir  dürfen  uns  nach  gegenwärtiger  Erfahrung 
vorstellen,  daß  die  durchschnittliche  Erscheinungs- 
form jeder  Art  das  Produkt  zahlreicher,  meist 
antagonistischer  Bildungstendenzen  (Erbeinheiten, 
Faktoren)  ist,  die  sich  in  einem  fein  abgestimmten 
Gleichgewicht  befinden.  Die  ausgebildete  Er- 
scheinung eines  Mutanten  mag  nun  noch  so  be- 
fremdend sein,  schwerlich  nötigt  sie  je  zu  der 
Annahme  anderer  als  der  normalerweise  bei  der 
Art  anzunehmenden  Faktoren;  nur  scheinen  diese 
in  ungewöhnlichen  Wechselbeziehungen  wirksam 
zu  sein.  Gewisse  Faktoren  werden  zugunsten 
anderer  gehemmt,  ohne  doch  vielleicht  dauernd  aus- 
geschaltet zu  werden.  Sehr  häufig  erscheinen  die 
Mutanten  daher  als  ausgesprochene  „Defekt- 
variationen"; will  man  in  anderen  Fällen  die  Ent- 
bindung eines  sonst  kompensierten  Faktors  „pro- 
gressiv" nennen,  so  ist  das  lediglich  Geschmack- 
sache. Man  wird  also  sagen  dürfen,  daß  das 
dynamische  Wesen  der  Art  (s.  o.)  in  den 
Mutanten  nicht  an  sich  selbst  geändert  oder  gar 
bereichert,  wohl  aber  durch  eine  Störung  seines 
ersten  Werkzeugs,  der  Keimesanlagen  nämlich, 
zu  einer  abnormen  Äußerung  gedrängt  sei.  Da- 
mit ist  wohl  verträglich,  daß  Mutanten  einzelne 
Charaktere  in  exzessiver,  auch  qualitativ  weit 
von  der  Norm  abweichender  Ausbildung  auf- 
weisen. Neu  —  (und  zwar  auch  wohl  meist  nur 
in  dem  .Sinne:  zum  erstenmal  wissenschaftlich 
festgestellt)  —  ist  an  den  Mutanten  nur  die  ak- 
tuelle Störung  einer  spezifischen  Anlagenkonsti- 
tution,  ohne  daß  diese  aber  in  ihrem  potentiellen 
Charakter  bereichert  würde. 

Sollte  nun  die  progressive  Artenumwandlung 
ein  notwendiges  Postulat  der  Biologie  sein,  so 
muß  man,  da  die  Somationen  als  Material  aus- 
scheiden, dennoch  das  Neuauftreten  von  Faktoren, 
oder  wenigstens  die  dauernde  Verselbständigung 
von  Rassen  mit  neuen  Faktorenkombinationen, 
auch  postulieren.  Und  da  Mutation  oft  plötzlich 
bei  zahlreichen  Personen  eines  Artbestandes  zu- 
gleich auftritt  (bisweilen  scheinbar  spontan,  aber 
meist  im  Zusammenhang  mit  der  Verpflanzung 
unter  ungewöhnliche  Bedingungen,  Kultivation 
usw.),  so  liegt  die  Annahme  nahe,  daß  im  Lebens- 
lauf der  Arten  labile,  d.  h.  zu  mutativer  Abände- 
rung disponierte  Perioden  mit  solchen  der  Konstanz 
abwechseln. 

Daß  auch  bei  den  „wilden"  Arten  normaler- 
weise mutative  Erscheinungen  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  mitspielen,  geht  aus  züchterischen 
Erfahrungen  hervor,  die  deren  Peisonenbestände 
(Populationen)  als  der  Keimesveranlagung  nach 
(genotypisch)  gemischt  erscheinen  lassen.  Man 
kann  züchterisch  aus  einer  äußerlich  in  kontinu- 
ierlichen Übergängen  variierenden  Population 
mehr  oder  minder  zahlreiche  Stämme  (Biolypen) 
isolieren ,  die  für  sich  eine  geringere  somatische 
Variationsbreite  haben  als  die  Gesamtart  (Jo- 
hannsen).  Es  gibt  also  im  Rahmen  dieser  wohl 
stets  verschiedene  Konstellationen  der  Erbfaktoren. 
Die   Biotypen    entsprechen    etwa    dem,    was    de 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Vries  „elementare  Arten"  nennt  —  („die 
verschiedenen  konstanten  Faktorenkombinationen, 
welche  bei  heterozygoten  Eltern  vornehmlich  ent- 
stehen müssen"). 

Innerhalb  einer  „Großart"  oder  Population, 
deren  Personen  sich  trotz  leichter  genotypischer 
Verschiedenheiten  beliebig  kreuzen,  kann  es  also 
gar  nicht  ausbleiben,  daß  ein  bestimmtes  geno- 
typisch bedingtes  Merkmal  bei  mehreren  Elementar- 
arten in  verschiedener  Kombination  wiederkehrt. 
Denn  es  kann  ja  die  ihm  entsprechende  Faktoren- 
konstellation auf  den  netzartigen  genealogischen 
Linien  in  der  mannigfachsten  Weise  sich  ver- 
teilen. —  Nehmen  wir  nun  aber  das  Auftreten 
eines  nicht  nur  kombinativ,  sondern  konstitutiv 
neuen  IVIerkmals  von  Artwert  in  einer  Personen- 
gruppe als  möglich  an!  Müßte  es  nicht  als  sol- 
ches die  fruchtbare  Kreuzbarkeit  mit  dieser  und 
damit  die  Verteilungsmöglichkeit  des  neuen  Merk- 
mals auf  die  Stammart  oder  Schwestermutanten 
aufheben  ? 

Lubosch  glaubt  nun  „die  Lösung  des  genea- 
logischen Problems"  in  einer  kühnen  Hypothese 
zu  finden:  in  Mutationsperioden  —  Zeiten  der 
„Labilität  einer  Art"  —  könnte  zunächst  doch 
noch  die  Möglichkeit  fruchtbarer  Kreuzung  trotz 
bereits  eingeleiteter  genotypischer  Sonderung  von 
Personengruppen  der  Art  bestehen.  Diese  Kreu- 
zungen, denen  eine  Nachkommenschaft  mit 
mannigfachen  konstanten  Kombinationen  der 
neuen  Merkmale  entwüchse,  würden  die  Erklärung 
geben  „für  die  so  oft  im  Tierreiche  beobachteten 
Erscheinungen,  daß  das  gleiche  Merkmal  sich  in 
verschiedenen  Arten  und  Ordnungen  vorfindet, 
und  daß  eine  Art  oder  Ordnung  Merkmale  in 
sich  vereinigt,  die  bei  anderen  Arten  isoliert  vor- 
kommen". 

*  * 

* 

Lubosch  hat  vor  weiterem  Ausbau  zunächst 
getrachtet,  seine  Gedankengänge  an  einem  reichen 
Tatsachenmaterial,  dem  aus  dem  Tertiärbecken 
von  Steinheim  a.  A.  gehobenen  Formenschatz 
des  Planorbis  (Gyrauhis)  viulHformis,  zu  prüfen. 
Da  es  sich  hier  in  der  Tat  um  „eines  der 
wichtigsten  Demonstrationsobjekte  der 
Deszendenztheorie"^)  handelt,  das  zudem 
durch  neue  (leider  erst  nach  dem  Abschluß  von 
Luboschs  Abhandlung  erschienene)  p-orschungen 
in  ein  verändertes  Licht  gerückt  wird,  so  lohnt 
es  sich  wohl,  den  Deutungen  jenes  Materials  er- 
neute Aufmerksamkeit  zu  schenken. 

Das  Steinheimer  Becken  enthält  Ablagerungen 
aus  einem  später  anscheinend  völlig  abgeschlos- 
senen Süßwassersee.    Es  läßt  sich  aus  den  älteren 

•)  Die  Gründe,  mit  denen  Fleischmann  (Die  Deszen- 
denztheorie, l<;oi)  die  Steinheimer  Planorben  als  solches  zu 
diskreditieren  suchte,  hat  Plate  (Biol.  Centralbl.,  21.  Bd., 
1901),  wie  mir  scheint,  nicht  ohne  Erfolg  bekämpft.  Eine 
sehr  sorgfältige  Abwägung  der  Beweiskraft  der  Planorbisreihen 
m  Wigands  „Darwinismus"  (i.  Bd ,  1874,  S.  427  ff.)  ist, 
soweit  ich  sehe,  von  allen  neueren  Erörterern  der  Frage  unbe- 
achtet geblieben. 


Schichten  eine  17  Arten  umfassende  Schnecken- 
fauria  nachweisen  (Gottschick).  In  den  jüngeren 
Schichten  finden  sich  dagegen  nur  die  Reste  von 
dreien  dieser  Arten;  Linmaea  dilatata  Noulet, 
Pseudamnicola  ps6ndoglobulus  d'Orbigny  und  PI. 
vmüiformis  Bronn.  Diese  letztere  erregt  eben 
hier  besonderes  Interesse  durch  ihre  erstaunliche 
Variabilität.  Ältere  Autoren  —  Klein,  Sand- 
berger,  Quenstedt,  auch  noch  Miller  — 
rechneten  die  einzelnen  Formen  verschiedenen 
Gattungen  zu.  Diese  Ansicht  kann  aber  schwer- 
lich aufrechterhalten  werden  seitdem  Hilgen- 
dorfi)  ein  rundes,  glattes,  in  einer  Ebene  auf- 
gerolltes Embryonalende  2)  und  die  schiefe  voll- 
ständige Mündung  als  gemeinsamen  Charakter  und 
zwischen  allen  Formen  fortlaufende  Übergänge 
nachwies. 

Es  ist  H  i  1  g  e  n  d  o  r  f  s  Verdienst,  die  Verteilung 
dieser  Formen  auf  verschiedene  Horizonte  im 
ganzen  durchaus  zutreffend  erkannt  und  sie  da- 
nach in  einen  zeitlichen  Zusammenhang  gebracht 
zu  haben.  Als  gemeinsame  Stammform  betrachtet 
Hilgendorf  vermutungsweise  die  Varietät 
aeqiieumbüicahis.  Von  ihr  läßt  er  eine  Haupt- 
und  zwei  Nebenreihen  ausgehen  (Abb.  i). 

DieHauptreihe  enthält  den  gröfleren  steinheimensis,  den 
mit  leichter  Spiralfurche  versehenen  teiiuis;  bei  sukatus  tritt 
hierzu  eine  Abflachung  der  Winduogswandungen.  Bei  discoi- 
dms  erfährt  der  obere  Rand  der  Windungen  eine  lei.'Jtenartige 
Verdickung,  während  sich  zugleich  die  Unterseite  der  Spirale 
eintieft.  Durch  stärkere  Ausprägung  dieses  Charakters  zweigt 
sich  hier  eine  Seitenlinie  rotundatiis  —  aber  ohne  Leisten- 
bildung I  —  ab.  Die  Hauptreihe  setzt  sich  fort  in  den  hoch- 
gewundenen und  mit  Leisten  versehenen  trochiformis,  von  dem 
wiederum  eine  Seitenlinie  zu  dem  niederen  elegans  führt.  An 
trochiformis  schließen  sich  dann  in  den  obersten  Schichten 
Formen,  die  wieder  früheren  sich  nähern  (oxystoma,  sufremus), 
ja  fast  zur  Ausgangsform  zurückkehren  {„revertem"). 

Von  den  Nebenreihen  ist  die  eine  sehr  formenarm; 
sie  führt  über  kraussi  nur  zu  dem  winzigen,  in  der  Trochi- 
formiszeit  aussterbenden  pseudottnuis.  Reichhaltiger  ist  die 
Nebenreihe,  die  über  parvus  und  nmiutus  zu  crescens  und  in 
Seitenlinien  einerseits  zu  Iriguitrus,  andererseits  zu  dem  stark 
gerippten  costahis  und  dem  hochgetürmten,  aber  winzigen  und 
rippenlosen  denudatus  führt. 

Dies  Stammbaumbild  ist  in  seiner  schematischen 
Klarheit  natürlich  sehr  verblüffend.  Zieht  man 
aber  die  vielen  neben  den  charakteristischen  vor- 
kommenden „Zwischenformen"  in  Betracht,  so 
wird  die  Eindeutigkeit  der  Zusammenhänge  bald 
zweifelhaft.  Schon  Hilgendorf  selbst  hat 
abweichende  Möglichkeiten  in  Einzelfällen  erwogen 
—  z.  B.  den  Übergang  auch  von  rotundatus  in 
trochiformis,  der  dann  „zwei  Wurzeln"  hätte,  was 
aber  „ein  höchst  unwahrscheinliches  Verhalten" 
wäre  —  und  Wigand  (a.  a.  O.  S.  433)  hat  in 
seiner  Kritik  gerade  auf  die  vielfachen  „Konver- 
genzen" gebührenden  Nachdruck  gelegt;  doch 
wollen  wir  darauf  erst  später  eingehen. 

Eine   sehr   eingehende  Bearbeitung   der  Stein- 

')  Planorbis  raultiformis  im  Steinheimer  Süfl wasserkalk, 
in:  Monatsber.  Akad.  d.  Wissensch.  Berlin,   1866. 

')  Nach  Gottschick  sind  „kleine  Unterschiede  an  den 
Embryonalwindungen  der  einzelnen  Formen  immerhin  wahr- 
nehmbar". 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


149 


heimer  Planorben  durch  H  y  a  1 1 ')  brachte  eine 
sehr  vertiefte  Kenntnis  der  enormen  Formenmenge 
und  ihrer  Wechselbeziehungen.  Hinsichtlich  der 
Abstammungsverhältnisse  äußert  sich  Hyatt  sehr 
vorsichtig;  doch  neigt  er  dazu,  bei  der  IBewertung 
dieser  die  bloße  Formenvergleichung  gegenüber 
der  genauen  Beachtung  der  Schichtenfolge  zu  be- 


•#■ 

Abb.   I.     Hilgendorfs  Stammbaum  von  Planorhis  midtiforniis 
(ausgezogene  Linien). 

günstigen.  Eine  erhebliche  und  theoretisch  wich- 
tige Abweichung  von  Hilgendorf  liegt  darin, 
daß  Hyatt  keine  in  sich  gleichartige  Ausgangs- 
form annimmt,  sondern  bereits  4  ursprünglich  in 
den  See  eingewanderte  Varietäten  von  PI.  levis. 
Diese  umfassen  aber  auch  ihrerseits  schon  eine 
solche  Fülle  verschieden  gerichteter  Untervarietäten, 
daß  man  sagen  kann,  es  komme  in  der  späteren 
Entwicklung  kaum  noch  etwas  Neues,  vielmehr 
lediglich  eine  Steigerung  der  hier  bereits  ange- 
deuteten Tendenzen  zum  Vorschein.  Und  zwar 
entsprechen  den  4  Ausgangsformen  auch  4  Stamm- 

')  The    genesis    of  the    tertiary    species    of    Planorbis    at 
Steinheini,  in:  Anivers.  Mem.  Boston  Soc.  nat,  Hist.,  1882. 


reihen,  von  denen  die  I.  ungefähr  Hilgendorfs 
Hauptreihe  bis  trocJiiformis,  die  II.  deren  Strecke 
oxystoma-siipremits  verselbständigt  enthält,  während 
die  III.  und  IV.  Hilgendorfs /rr;-7w^- Nebenreihe 
modifiziert  darstellen.  Schon  diese  IVleinungsver- 
schiedenheiten  sehr  sorgfältiger  Beobachter  weisen 
ja  wieder  auf  verschiedene  Verknüpfungsmöglich- 
keiten hin.  Die  Ableitung  der  oxystoma-^€\\i^ 
von  levis  dürfte  allerdings,  nach  Gottschick, 
einem  „Mißgeschick"  (Vermengung  des  levis  mit 
einer  nicht  nach  Steinheim  gehörigen  Form)  zu- 
zuschreiben sein. 

Gottschick,*)  zu  dessen  Darstellung  der 
Verwandtschaftsverhältnisse  wir  uns  nun  zunächst 
wenden  wollen,  hat  gerade  die  stratigraphischen 
Befunde  mit  erhöhter  Sorgfalt  berücksichtigt  und 
dabei  Hilgendorfs  Ansichten  über  die  zeitliche 
Reihenfolge  der  Formen  weitgehend  bestätigen 
können.  Mit  Hyatt  aber  berührt  er  sich  inso- 
fern, als  auch  er  die  Umbildung  nicht  von  einer 
Stammrasse  ausgehen  läßt,  sondern  von  einem 
vor  dem  Abschluß  des  Sees  eingewanderten,  inner- 
halb gewisser  Grenzen  vielgestaltigen ,  aber  alle 
Übergänge  aufweisenden  (somit  wohl  allgemeine 
Promiskuität  der  Personen  erlaubenden)  Formen- 
kreise. 3  „Normalformen"  lassen  sich  daraus  her- 
vorheben (Abb.  2):  I.  der  extreme  G.  m.  appla- 
)iatus  Thomae  mit  bis  zu  5^/2  in  einer  Ebene 
liegenden,  stark  involuten  und  mit  scharfer  Außen- 
kante versehenen  Windungen;  2.  der  extreme 
G.  m.  kleini  Gottsch.  et  Wenz  mit  3V2 — 4  weniger 
involuten,  rasch  zunehmenden  und  im  Querschnitt 
rundlichen  Windungen;  3.  zwischen  beiden  die 
Mitte  haltend  G.  )ii.  dcalbatus  Sandb.  Hinsicht- 
lich der  gleich  tiefen  oberen  und  unteren  Ein- 
nabelung  entsprechen  sie  H ii g e n d o r f s  aegtieian- 
lilicatHS.  An  diese  3  Normalformen  lassen  sich  die 
3  Hilgendorfschen  Reihen  passend  anknüpfen; 
und  zwar  die  Hauptreihe  an  dealbatus,  die  kraiissi- 
Reihe  an  kleini,  die  minitttis  Reihe  an  applauatus. 

Im  einzelnen  ist  dazu  folgendes  zu  bemerken.  Alle  3  Ur- 
rassen  gehen  zunächst  gleichsinnig  in  eine  als  stci'ihcimcitsis 
Hilg.  zu  kennzeichnende  Form  über,  deren  Vertreter  sich  zwar 
jeweils  mehr  oder  weniger  eng  an  a/>pliuialus,  dealbatus  oder 
kleini  anschließen,  aber  durch  Größe,  Dickschaligkeit  und  be- 
sonders geringe  Einsenkung  der  Mitte  der  Oberseite  durchweg 
ausgezeichnet  sind  (Abb.  3  a).  Ganz  allmählich  nimmt  dann 
der  obere  Rand  der  Windungen  das  Aussehen  einer  stumpfen 
Kante  an  und  die  Oberseite  der  Windungen  senkt  sich  zu 
einer  Ilachen  Furche  ein.  —  Bei  einem  Teil  der  Stücke  mit 
besonders  rasch  zunehmenden  Umgängen  tritt  dagegen  starke 
Einsenkung  der  Umgänge  ineinander  ein,  so  daß  sich  ein 
sieinheimeiisis  involutiis  Hilg.  unterscheiden  läßt.  Dieser  be- 
hält die  rundlichen  Umgänge  bei  und  geht  allmählich  in  iraussi 
über,  doch  bleiben  auch  ferner  Übergänge  mit  ab- 
geplatteten Umgängen  bestehen.  Es  ist  also  die 
/!vi7Kjj(-„Reihe''  von  der  Hauptreihe  nicht  scharf  gesondert, 
iraussi  vielmehr  nur  eine  extreme  Form  innerhalb  eines  ge- 
schlossenen Formenstroms.  Überhaupt  ist  durchweg  zu  be- 
denken, daß  jede  unterschiedene  ,,Form"  auf  charakte- 
ristischen Repräsentanten  beruht,  neben  denen  Individuen 
von  minder  reinem  Charakter   beständig    in  Menge    hergehen. 

Eine     andere    Schar    behält    die    starke    Abplattung    von 


')  Die  Umbildung  der  Süflwasserschncckcn  des  Terliär- 
beckens  von  Steinheim  a.  A.  usw.,  in;  Jena.  Zeitschr.  f.  Na- 
turw.,  56.  Bd.,   1920. 


ISO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  lo 


applanatus  bei,  zeigt  aber  sehr  geringe  Gröfle ;  sie  entsprecheD 
dem  (als  besondere  Form  nicht  aufrerhtzuerhaltenden)  par- 
fus  Hilg,  scheinen  sich  aber  nicht  weiter  fortzusetzen.  Die 
minu/tis-Reihe  ist  eher  an  kleine  und  sich  abplattende  äeal- 
batiis-  und  /i'/d'/«/-ähnliche  Formen  anzuknüpfen. 

Die  Hauptreihe  geht  dann  durch  völlige  Abflachung 
der  Umgänge,  Einfurchung  der  Oberseite,  Ausbildung  einer 
oberen  und  Verschärfung  der  unteren  Außenkante  und  Ein- 
nabelung  der  Unterseite  in  tentiis  (Abb.  3  b)  über  —  wie  ge- 
sagt mit  ständiger  Bewahrung  der  Hinneigung  zum  imvliilus- 
Typ.  Rasch  vollzieht  sich  dann  der  Übergang  zum  siilcattis 
Hilg.  mit  starker  Wulstbildung  entlang  der  Naht  des  stark  in- 
volutcn  Gehäuses.  Und  bald  schließt  sich  hieran  der  typische 
planotbiformis  (==  dtscoideus  Hilg.)  mit  flacherem  Längswulst, 
schärferer  (bis  kielförmiger)  Außenkante  und  geringerer  In- 
volution der  Windungen  — ,  anfangs  noch  klein,  dann  an 
Größe  zunehmend. 


Abb.  2.    Querschnitte  von  Gyrauliis  imtltiformis  applanatus  (a), 
dealbatus  [y]  und  klehn  (c) ;  nach  Gottschick. 


CP?32D 


Abb.  3.     Querschnitte  von   Gyrauliis  multiformis  steinhcimeiisis 
(a)  und  teniiis  (b);  nach  Gottschick. 

In  den  oberen  planoriiformisScinchien  finden  sich  be- 
reits mehrfach,  aber  nicht  kontinuierlich,  Ansätze  zur  Erhöhung 
der  Spiralenmitte.  Ziemlich  plötzlich,  obwohl  Übergänge  nicht 
ganz  fehlen,  treten  dann  die  hochgewundenen  trochiformis  auf. 
Der  Übergangsperiode  gehört  wohl  auch  der  etwas  zweifel- 
hafte rotitndatus  Hilg.  an.  Trochiforviis  selbst  ist  in  viele 
Unterformen  zerlegbar;  zunächst  ist  das  Gehäuse  noch  ziem- 
lich stumpf,  erst  später  wird  es  spitzer.  Anfangs  skalarid, 
legen  sich  die  Windungen  später  oberhalb  der  Kante  des  vor- 
hergehenden Umgangs  an.  Oft  sind  die  Gehäuse  ganz  be- 
sonders dickschalig.  —  Sehr  rasch,  trotzdem  aber  mit  allen 
Zwischenstufen,  tritt  dann  oxysloma  Klein  auf,  indem  bei 
trochiformis  mit  schwachem  Kiel  das  Gehäuse  niedriger  wird. 
Trochiformis  mit  starkem  Kiel  bilden  sich  entsprechend  in 
elegans  Hilg.  um.  Die  Übergänge  von  trochiformis  zu  oxy- 
stoma  erweisen  sich  insofern  bereits  als  rückläufig,  als  sie 
wieder  rundliche  Windungen,  weiten  perspektivischen  Nabel 
und  dünne  Schale  haben;  doch  nimmt  die  Schalendicke  beim 
typischen  oxystoma  wieder  zu  und  häufig  tritt  eine  kräftige 
Lippenbildung  auf. 


Das  Überraschendste  an  der  Hauptreihe  war  von  jeher 
der  ,, Rückschlag"  der  fast  jüngsten  Form  revertetis  in  die  Aus- 
gangsform, bezeichnet  durch  Größenabnahme,  prallrunde  Um- 
gänge, allerdings  etwas  tiefere  Einnabelung  als  bei  steinhei*nensis. 
Und  dann  setzt  mit  siipremus  nochmals  eine  Umbildung  in 
der  alten  Richtung  ein,  die  durch  Wulst-  und  Furchenbildung, 
Zunahme  der  Größe  und  Schalendicke  wieder  an  teiiuis  er- 
innert. 

Was  nun  die  Nebenreihen  angeht,  so  wurde  die  An- 
knüpfung von  miiiutus  schon  erwähnt.  Triqiietrtis  Hilg.  ist 
nur  ein  miniiiiis  mit  etwas  kantigen  Umgängen,  aber  von 
diesem  nicht  scharf  zu  trennen;  er  ,, berührt  sich"  auch  mit 
pseudolemiis ,  der  andererseits  ,,in  der  Hauptsache  [1]  von 
kraiissi  abzuleiten  ist '.  —  Mehr  rundliche  minutiis  zeigen  in 
der  planorbiformis-'Ltxi  Ansätze  zur  Rippenbildung,  die  sich 
dann  zum  Habitus  des  typischen  costalus  Klein  steigern.  Auch 
hier  treten  nun  gleichzeitig  mit  trochiformis  Skalaridenforraen 
auf  mit  allmählich  bis  zu  völligem  Schwund  sich  ausflachenden 
Rippen,  die  endlich  den  korkzirherförmig  gewundenen  demi- 
ciatus  Hilg.  ergeben  (Skalariden,  aber  mit  kantigen  Umgängen, 
sind  auch  von  viinitttts  selbst  aus  der  pla>iorbiformiS'Y.t'\\.  be- 
kannt). —  Andererseits  erfährt  minutus  auch  eine  Zunahme 
der  Umgänge,  wobei  diese  flacher  (im  Querschnitt  herzförmig) 
werden.  So  entsteht  mit  crescens  Hilg.  wieder  eine  Foim,  die 
sich  der  Ausgangsform  applanatus  täuschend  anähnlicht  — 
eine  bemerkenswerte  Parallele  zum  gleichzeitigen  Rückschlag 
von  „revertens". 

Auch  die  Anknüpfung  der  Nebenreihe  kraussi  an  stein- 
heimensis-involutus  und  deren  Verwachsung  mit  der  /«««'i-Bahn 
wurde  schon  berührt.  Selbst  die  Umbildung  zum  trochiforinis- 
Typ  ,, macht  kraussi  einigermaßen  mit,  indem  er  seine  Mitte 
erhöht",  doch  nicht  durchweg.  Für  pseudotenuis  ist  die  Ab- 
leitung von  kraussi  oft  zweifelhaft;  derartige  Formen  könnten 
z.  T.  ebensogut  ,,von  verkümmerten  planorbiformis  oder  von 
kantigen  minutus"  (s.  o.)  abgeleitet  werden. 

Überblicken  wir  das  Tatsächliche,  so  zeigen 
sich  zwischen  den  „Reihen"  sehr  viel  innigere 
Beziehungen,  als  sie  der  Hilgendorfsche 
Stammbaum  erkennen  ließ.  Alle  scheinen  in  der 
Tat  einen  ähnlichen  Fond  von  Bildungstendenzen 
mitbekommen  zu  haben,  die  nur  jeweils  schwächer 
oder  stärker  hervortreten.  Bedenkt  man  die 
Variationsbreite  bei  jeder  der  unterschiedenen 
Formen,  so  darf  man  kaum  mehr  von  selbständi- 
gen Reihen  sprechen,  sondern  nur  von  einem 
breiten,  allenfalls  durch  inselartige  Lücken  unter- 
brochenen, bald  mehr  bald  minder  polymorphen 
Formenstrom.  Nur  indem  man  extreme  Formen 
herausgreift,  benennt  und  durch  Linien  verbindet 
(so  daß  sie  als  alleinige  Stammväter  der  nächst- 
jüngeren extremen  Form  erscheinen),  entsteht  das 
Bild  des  Stammbaums.  Auf  die  enge  Verschmel- 
zung der  kratissi-pseitdo(emiis-Kt\ht  mit  der 
Hauptreihe  wurde  schon  hingewiesen;  desgleichen 
auf  die  Anlehnung  von  pscmioteniiis  an  friqiietnis. 
Die  Tendenz  zur  Gehäuseerhöhung  tritt  mehrfach 
hervor.  Die  terminalen  Formen  verschiedener 
„Reihen"  (revertens  und  cresccns)  nähern  sich  ein- 
ander fast  bis  zur  UnUnterscheidbarkeit  (Gott- 
schick S.  177)  USW.  Also:  ein  netzförmiges 
Bild  —  es  ist  durch  einige  punktierte  Linien  in 
Abb.  I  wenigstens  angedeutet  —  der  gestaltlichen 
Beziehungen  liegt  hiermit  unbedingt  vor. 

Lubosch  hat  auf  Grund  der  Darlegungen 
Hyatts  bereits  grundsätzlich  ähnliche  Schlüsse 
gezogen.  Als  Schulfall  zum  Belege  der  Kreu- 
zungshypothese sind  die  Befunde  geeignet  zunächst 
unter  der  Voraussetzung,   daß  alle   die   beschrie- 


N.  F.  XX.  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


ISI 


benen  Hauptumbildungsfcfrmen  „genotypisch  be- 
dingt" seien.  Wenn  aber  ihre  Kreiizbarkeit  nur 
in  statu  nascendi  möglich  sein  soll ,  so  müßten 
sie  nach  Ablauf  der  „Labilitätsperioden"  wohl 
sogar  als  neue  Arten  bewertet  werden.  Hyatt 
entschied  sich  auch  in  diesem  Sinne;  dies,  wie 
auch  die  von  älteren  Autoren  geübte  Aufteilung 
in  verschiedene  Gattungen,  beruht  aber  sicherlich 
auf  einem  Überschätzen  von  bloßen  Habitusunter- 
schieden. Hilgendorf  und  Gottschick 
sprechen  auch  als  Systematiker  nur  von  Varie- 
täten. 

Nun  hat  die  Gottschicksche  Untersuchung 
ein  —  übrigens  schon  von  IM  i  11  er')  nebenher 
berührtes  —  IVIoment  in  den  Vordergrund  ge- 
rückt, wodurch  auf  die  merkwürdige  Umbildungs- 
intensität dieser  Schnecken  helleres  Licht  fällt. 
Das  Vorkommen  von  Arragonit  in  den  Stein- 
heimer  Schichten,  erst  spärlicher,  dann  reichlicher, 
endlich  zurücktretend  und  Kieselsäureab- 
scheidungen  Platz  machend,  weist  nämlich 
darauf  hin,  daß  jener  tertiäre  See  • — •  wohl  im 
Zusammenhang  mit  den  dort  nachgewiesenen 
vulkanischen  Vorgängen  —  zeitweilig  einen  reichen 
Zufluß  aus  Thermalquellen  erhielt.  In  der 
Zeit  der  ursprünglichen  3  rniilti/oniiis-Wznt\'ä.\.en 
ist  davon  noch  nichts  nachzuweisen;  sie  waren 
also  wohl  Kaltwasserformen,  wie  sie  auch  außer- 
halb des  Sees  lebten.  Die  regste  Abartung  setzt 
eben  dann  ein,  als  sich  die  Einwirkungen  der 
heißen  Zuflüsse  am  meisten  bemerkbar  machten, 
zur  piano rbisformis-  und  trochiformis-T.€\\.  Daß 
neben  dem  wechselnden  Chemismus  des  Wassers 
(Ca-  und  COa- Gehalt  u.  a.)  die  Wärme  schon 
durch  Veränderung  des  ganzen  Lebensrhythmus 
(in  Ernährung,  Wachstum,  Fortpflanzung,  senso- 
rischen und  motorischen  Reaktionen)  auch  starke 
gestaltliche  Abänderungen  gleichsam  herausfordern 
mußte,  ist  leicht  auszudenken.  Als  endlich  die 
Einflüsse  der  Thermen  zu  schwinden  begannen, 
kehrten  auch  die  Planorben  annähernd  wieder 
zur  Normalform  zurück ;  —  ein  Vorgang,  der  mit 
einem  Widerspruch  gegen  das  „Gesetz"  von  der 
Unumkehrbarkeit  der  Phylogenese  in  seinem  ur- 
sprünglichen Sinne  wenig  zu  schaffen  hat.  Denn 
hier  liegt  eben  gar  keine  phyletische  Entwicklung 
vor,  sondern  nur  Abänderung  im  Rahmen  einer 
Art  unter  dem  Einfluß  besonderer  Außenbedingun- 
gen; Abänderungen,  wie  sie  in  mehr  oder  minder 
ähnlicher  Weise  auch  von  Thermalformen  anderer 
Mollusken  bekannt  geworden  sind  (s.  bei  Gott- 
schick S.   192  ff.). 

Im  Steinheimer  See  selbst  erhielten  sich  nach 
dem  Wirksamwerden  der  Thermalwasser  außer 
G.  multiformis  nur  noch  2  weitere  Schnecken- 
arten :  Limnaea  dilatata  und  Pseudamiiicola  pseii- 
doglobiilus.  Auch  für  sie  konnte  Gottschick 
zeigen,  daß  sie,  eben  zur  Zeit  als  bei  den  Planor- 
ben die  Abartung  einsetzte,  gleichfalls,  wenn  auch 


')  Die  Schaeckcnfauna  des  Steinheimer  Obermiozäns,  in : 
Jahresh.  Ver.  f.   vaterl.  Naturk.  Württemberg.   56.  Jahrg.,  1900. 


nicht  in  so  vielen  und  ausgeprägten  Richtungen, 
entsprechende  Umbildungen  erlitten  (Dicken- 
zunahme der  Schale,  zeitweilige  Größenzunahme, 
Änderungen  des  Windungstyps).  Ps.  kehrt  end- 
lich, ähnlich  und  gleichzeitig  mit  den  Planorben, 
wieder  zu  der  Ausgangsform  weitgehend  gleichen- 
den Formen  zurück.  Die  Lünuaea  dagegen  ver- 
mochte offenbar  nicht,  unter  den  veränderten 
Verhältnissen  ihr  physiologisches  Gleichgewicht 
dauernd  zu  behaupten,  denn  sie  stirbt  schon  zur 
trocJnfonins-2.€\\.  aus. 

Daß  bei  den  Planorben  die  gestaltlichen  Re- 
aktionen auf  die  qualitativ  gleichartigen  Thermal- 
einflüsse  mehrere  Haupt-  und  Nebenrichtungen 
aufweisen,  kann  —  angesichts  des  Umstandes, 
daß  Formen  aller  „Reihen"  durcheinanderlebten, 
örtliche  Besonderheiten  also  wohl  kaum  maß- 
gebend waren,  und  auch  selektive  Einflüsse  nicht 
näher  zu  begründen  sind  —  wohl  am  ehesten 
aus  dem  Vorhandensein  mehrerer  Biotypen 
(Stammrassen  Hyatts  und  Gottschicks!)  in 
der  Ausgangspopulation  verstanden  werden.  (Auch 
in  anderen  Fällen,  z.B.  in  den  bekannten  Tower- 
schen  Versuchen  mit  dem  Coloradokäfer,  traten 
übrigens  auf  den  gleichen  Reiz  hin  —  Wärme 
und  Feuchtigkeit  —  verschiedene  Mutanten  auf.) 
Im  übrigen  ist  es  so  ganz  leicht  nicht  zu  ent- 
scheiden, wieweit  die  Variabilität  der  Planorben 
auf  genotypischen  Umordnungen  oder  auf  regu- 
lativen, nur  somatischen  Modifikationen  beruhe. 
Für  letzteres  spricht  gerade  die  Kontinuität  der 
Umbildungen.  Das  Auftreten  auch  ungewöhn- 
licher qualitativer  Merkmale  ohne  ersichtlichen 
adaptativen  Wert  macht  indessen  ersteres  wahr- 
scheinlich, wie  denn  auch  nach  anderweitiger  Er- 
fahrung abnorme  Außenbedingungen  Mutation  zu 
begünstigen  scheinen. 

Sicherlich  müssen  wir  nun  erwarten,  daß  die 
Verteilung  der  etwa  genotypisch  in  den  Stamm- 
rassen abgeänderten  Merkmale  nach  den  bei 
Kreuzung  zwischen  Mutanten  geltenden  Regeln 
vor  sich  gehe;  wie  dabei  das  gleiche  Merkmal 
in  verschiedenen  Kombinationen  auf  die  abge- 
leiteten Rassen  übergehen  könne,  hat  Lubosch 
sehr  einleuchtend  gezeigt.  Trat  dann  etwa  aus 
physiologischen  oder  ökologischen  Gründen  — 
aus  konstitutionellen  ist  es  kaum  anzunehmen  — 
eine  sexuelle  Isolierung  der  Rassen  ein,  so  wer- 
den sich  doch  innerhalb  dieser  bei  neuen  Muta- 
tionen wieder  die  gleichen  Regeln  der  unter  ge- 
kreuzten Mutanten  möglichen  Merkmalkombina- 
tionen geltend  machen.  Nimmt  man  aber  an, 
daß  etwa  hier  (entgegen  der  Regel)  die  Mutationen 
an  sich  schon  die  weitere  genealogische  Einheit 
aufhoben,  so  ist  es  allerdings  schwierig,  sich  die 
Verteilung  der  Neukombinationen  durch  Kreuzung 
vorzustellen;  die  Annahme  besonderer  nur  wäh- 
rend der  „Labilität"  der  Art  gegebener  Bedingun- 
gen hilft  darüber  schlecht  hinweg.  —  Aber  auch 
ohne  Kreuzung  wäre  es  nicht  so  wunderbar,  wenn 
gleiche  Teiltendenzen  hier  und  dort  wieder  zum 
Ausdruck    kämen;     da    doch     alle    Rassen     die 


152 


gleiche     Artveranlagung     mit     sich    nahmen,   — 
wie    denn     auch     das    Wiedereinlenken     in     die 
Ausgangsgestalt    sich    in    divergenten  Reihen    als 
möglich  erweist  (Spontanatavismus!).      Nur  wenn 
irgendwo  etwas  konstitutiv  Neues  aufträte,  so  wäre 
es  allerdings  nur  durch  Kreuzung  verteilbar.      Es 
kann  aber  nicht   sicher  ausgemacht   werden,    daß 
etwa   die   Leisten-    oder  Rippenbildung   oder   die 
Gehäuseerhöhung    etwas    den    Rahmen    der    von 
vornherein     arteigenen     Potenz     überschreitendes 
Neues   sei;    denn    der   Habitus    der   Stammrassen 
zeigt   ja  nur,    was    die  Art    unter  „normalen"  Be- 
dingungen vorzugsweise  realisierte,  nicht  aber,  was 
sie    potentiell   bedeutet.      Auch  Lub ose  h    steht 
dieser  Auffassung  nicht  fern.    Unterstreicht  er  doch 
selbst    Hyatts    Ausführungen    über    die    Vorbe- 
reitungaller später  sich  steigernden  Abwandlungen 
schon    in    den  Stammrassen    und    bringt    er  doch 
das  ganze  Phänomen    schließlich    auf  die  Formel, 
daß   „die    einwandernden   Steinheimer   Schnecken 
und    ihre    nächsten    Abkömmlinge    gruppenweise 
oder    insgesamt    unter    dem    Einfluß    des    neuen 
Milieus  ein  sich  immer  mehr  steigerndes  und  im- 
mer   weiter    um    sich    greifendes    Freiwerden    ge- 
bundener Grundfaktoren  erlebten,  die  das  IVIaterial 
zu  verhältnismäßig  wenigen   echten  Neubildungen 
und  zahlreichen  Neukombinationen  lieferten."   Die 
von  V.  Haecker^)  erfolgreich  angebahnte  weitere 
Durchdenkung  der  Pluripotenzerscheinungen 
dürfte    auch    den    in  manchen  Fällen  von  Artum- 
bildung noch  nötig  erscheinenden  Annahmen  des 
Auftretens     von    konstitutiv    Neuem    den    Boden 
vollends  entziehen. 

Bei  dieser  Deutung  büßen  die  Stein- 
heimer Planorben  allerdings  ihren  ver- 
meintlichen Wert  als  hervorragendes 
Belegstück  der  Deszendenztheorie  ein.-') 
Und  dann  scheinen  sie  auch  wenig  geeignet  zu 
zeigen,  wie  sich  die  Kommunikationen  der  Ver- 
zweigungen vermeintlich  progressiver  Stammbäume 
vom  genealogischen  Netzwerk  aus  verstehen  ließen. 

')  Über  Gedächtnis,  VererbuDg  und  Pluripotenz,  Jena 
1914.  und  Entwicklungsgeschichtliche  Eigenschaftsanal  vse. 
Jena   1918  (Kap.  25).  ^ 

2j  Plate  (in  seinen  der  Gottschickschen  Abhandlung 
angeschlossenen  „Bemerkungen")  geht  sogar  so  weit,  den 
Multiformis-Stammbaum  nur  für  „eine  Kette  von  Somationen" 
zu  erklären.  Wenn  er  in  ihm  zugleich  den  Ausdruck  einer 
orthogenetischen  „Zickzackevolution"  sieht,  so  ist  das  also 
offenbar  nicht  im  üblichen  Sinne  einer  artlichen  Umbildung 
zu  verstehen. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


Eine  andere  Frage  wäre,  ob  nicht  etwa  die  bei  der 
rassenmäßigen  Differenzierung  einer  Art  auftreten- 
den gestaltlichen  Wechselbeziehungen  eine  ana- 
logienhafte  Beurteilung  des  „systematischen  Netz- 
werks" erlauben  würden.? 

In  einer  früheren  Abhandlung  i)  versuchte  ich 
am    historischen    Gange    zu    zeigen,    daß    die  An- 
sichten über  die  Zusammenhänge  der  Lebewesen 
zunächst,    gemäß    der    Natur    des    menschlichen 
Denkens,  in  zwei  Richtungen  gehen  können:  man 
kann  sie  in  abstrakt -generellen  Zügen  suchen  (den 
Einheiten    des   Systems)    oder    in    mehr   konkret- 
gegenständlichen   („Affinitäten",     worunter    dann 
nicht    nur   die   spezifische  Ähnlichkeit    der  Artge- 
nossen, sondern  auch  viele  „Konvergenzen"  zwischen 
Genera  fallen).    Beide  Möglichkeiten  verschmelzen 
endlich  in  der  insbesondere  von  Goethe  ausge- 
bildeten (den  Pluripotenzgedanken  in  umfassendster 
Form  enthaUenden)  Idee  des  Typus.    Des  Typus 
nicht  etwa  in  demSinne  eines  abstrakten  Grundplans 
(Schema),  sondern  als  konkret  anzunehmendes,  aber 
die  ganze  gestaltliche  Mannigfaltigkeit  der  Einzelfor- 
men potentiell  umfassendes  Wesen.    Einer  Gemein- 
schaft solcher  wahrhaft  ursprünglicher  Wesen  müßte 
begriffliche  Einheit  mit  der  realen  genealogischen 
Einheit  (wie  jetzt  nur  bei  der  Art)  zugeschrieben 
werden ;  damit  bestände  aber  die  Möglichkeit  der 
„Metamorphose"  in  Unterformen    mit    mannigfach 
gekreuzten  Merkmalskombinationen.     Man  könnte 
also  die  Artenbildung  nach  Analogie  der  Rassen- 
bildung in  der  Art  immerhin  denken,   d.  h.   wie 
Rassen    in    der  Art    wurzeln,    so  Arten    in    einer 
realen  „Überart".     Freilich    ist   damit    das  Prinzip 
des  Naturfortschritts  preisgegeben    (aber  dies  darf 
auch    nur   Folgerung,   nicht    Dogma    sein).      Und 
freilich  kommen  wir  auch  dabei  ins  Hypothetische 
und    zunächst   sogar   schwer    Faßbare    (die  Arten 
sind  eben  nicht  nur   kombinativ,    sondern    poten- 
tiell   —    ihrer  begrifflich  -  systematischen  Stellung 
nach  —  etwas   Besonderes,   vgl.  a.  a.  O.  S.  133). 
Aber   wir    bleiben  doch  auf  dem  Boden  denknot- 
wendiger   Deutung    des    Tatsächlichen    (während 
progressive  Mutationsperioden  weder  denknotwen- 
dig, noch  tatsächlich  erweisbar  sind),  und  müssen 
uns  damit  trösten,  daß  alle  Deutungen  des  Natür- 
lichen doch  in  irgendeinem  Sinne    letzten    Endes 
auf  „Wunderbares"  hinführen. 


')  Über  den  Begriff  der  Verwandtschaft,  in:  Zool    Jahrb 
Suppl.  XV.  3.  Bd.  (Festschrift  Spengel),   1912. 


Einzelberichte. 


Blastogener  Hermaphroditismus. 

Im  Gegensatz  zum  somatischen  oder  erworbe- 
nen und  unechten  Hermaphroditismus,  wie  er 
durch  das  Auftreten  sekundärer  heterogener  Ge- 
schlechtsmerkmale sich  manifestiert,  ist  der  blasto- 
gene  bei  den  hochentwickehen  Tieren  eine  seltene 


Erscheinung.  Ein  ausgeprägter  Fall  von  ange- 
borenem und  echten  Hermaphroditismus,  bei  dem 
sogar  die  Feststellung,  ob  weiblicher  oder  männ- 
licher Zwitter  in  Frage  kommt,  unentschieden 
bleibt,  wird  in  der  „Berl.  Tier.  W."  Nr.  49,  1920, 
von  Oberstabsveterinär  K  a  r  s  t  e  d  t  mitgeteilt.  Im' 
Jahre  1915    wurde   dem   Berichterstatter  auf  dem 


N.  F.  XX.  Nr.  lo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


153 


Vormarsch  in  Kurland  ein  Pferd  einer  Kolonne 
vorgeführt  mit  dem  Bemerken,  daß  es  ein  „Zwitter" 
wäre.  Das  betreffende  Pferd  war  ein  kleines 
Bauern-  sog.  Panjepferd. 

Die  Untersuchung  ergab  folgendes  Bild:  „Die 
Scheide  zieht  sich  bedeutend  weiter  nach  unten, 
sie  hat  fast  die  doppelte  normale  Länge,  sie  steht 
dauernd  offen  und  an  Stelle  der  Klitoris  sitzt  ein 
normal  ausgebildeter  Penis,  welcher  aus  der  Scheide 
heraushängt.  Dieser  Miniaturpenis  hat  die  Länge 
von  etwa  8 — 10  cm,  beim  Urinieren  wird  er  aber 
steif  und  erigiert  und  hat  in  diesem  Zustand  eine 
Länge  von  etwa  20  cm.  Der  Penis  ist  vollkom- 
men normal  ausgebildet,  er  besitzt  einen  Schwell- 
körper und  Eichel,  welche  von  der  Harnröhre 
durchbohrt  ist.  Nach  dem  Urinieren  schwillt  der 
Penis  wieder  ab.  Ein  Gehänge  ist  nicht  vorhan- 
den, an  seiner  Stelle  sitzt  ein  Gebilde,  einem  ver- 
kümmerten Hodensack  ähnlich.  Hoden  sind  in 
ihm  nicht  nachweisbar.  IVlangel  an  Zeit  erlaubte, 
da  die  Untersuchung  auf  dem  Marsche  stattfand, 
dem  Berichterstatter  nicht,  noch  eine  innere 
Untersuchung,  ob  ein  Uterus  vorhanden  wäre, 
vorzunehmen.  Bei  solcher  Sachlage,  da  ebenso 
viele  Kriterien  für  das  mäunliche,  wie  für  das 
weibliche  Geschlecht  vorliegen,  das  Entscheidende 
für  das  weibliche  Geschlecht,  nämlich  das  Vor- 
handensein eines  Uterus,  aber  nicht  erhoben  ist, 
ist  es  nach  dem  Berichte  tatsächlich  unmöglich, 
die  Natut  des  Zwitters  festzustellen. 

Der  Fall  hat  in  gewisser  Hinsicht  Ähnlichkeit 
mit  der  „Trächtigkeit  eines  männlichen  Hasen", 
den  der  römische  Geschichtsschreiber  A  e  1  i  a  n 
in  seinem  Werke  „De  venatione"  berichtet:  „Ein 
Jäger,  dessen  Wahrheitsliebe  zu  mißtrauen  er  sich 
nicht  entschließen  könne",  schreibt  Aelian,  „habe 
beobachtet,  daß  ein  erbeuteter  Rammler  in  seinem 
Leibe  zwei  vollkommen  ausgebildete  Junge  ge- 
tragen habe.  Da  sein  Bauch  sehr  stark  ange- 
schwollen war,  habe  man  ihn  aufgeschnitten  und 
aus  ihm  zwei  Junge  entfernt.  „Unter  den  beleben- 
den Strahlen  der  Sonne"  hätten  sie  sich  bald  er- 
holt und  dargebotene  Nahrung  begierig  angenom- 
men." Trotzdem  die  Erzählung  aufgelegtes  Jäger- 
latein ist,  hat  sie  doch  eine  tatsächliche  Grundlage. 
Der  trächtige  Rammler  war  nämlich  ein  weiblicher 
Hermaphrodit;  infolge  der  starken  Schwellung 
des  Bauches  traten  die  männlichen  Geschlechts- 
organe, die  die  Natur  des  Rammlers  dokumen- 
tierten, deutlich  hervor.  Der  Beobachter  unter- 
ließ es  aber,  sich  nach  der  Geschlechtsöffnung 
umzusehen,  oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  er  ver- 
schwieg, daß  auch  diese  vorhanden  war. 

Tatsächlich  sollen  unter  den  Feldhasen  bis- 
weilen echte  Zwitter  vorkommen.  Im  Altertum 
bis  hinein  in  die  neueste  Zeit  war  daher  in  Jäger- 
kreisen vielfach  der  Aberglaube  verbreitet,  daß 
der  Hase  sein  Geschlecht  manchmal  auch  „ändern" 
könne,  eine  Anschauung,  welche  erstmals  „Her- 
mann Döbel"  in  seinem  1745  erschienenen 
Werke  „Neueröffnete  Jägerpraktika",  das  beste 
Werk  über  Jagdhunde  seiner  Zeit,  als  im  Bereiche 


der  JVIöglichkeit  gelegen,   mit  Entschiedenheit  be- 
kämpft. Reuter. 

t'ber  die  Ursachen  des  periodischen  Dicken- 
wachstums des  Stammes. 

In  früheren  Versuchen  bemühte  sich  Klebs, 
durch  bestimmte  Kulturbedingungen  die  Ruhe- 
periode bei  gewissen  tropischen  Holzpflanzen 
auszuschalten,  d.  h.  sie  zu  ständigen  Treiben  zu 
bringen.  Auf  Veranlassung  von  Klebs  stellte 
sich  nun  Andre  (Zeitschr.  f.  Bot.  12,  1920),  die 
Aufgabe,  zu  untersuchen,  ob  es  durch  entsprechende 
Eingriffe  gelingt,  auch  die  Periodizität,  die  sich 
bei  den  meisten  Holzpflanzen  in  der  Jahresring- 
bildung äußert,  zu  unterdrücken,  d.  h.  den  Unter- 
schied zwischen  Frühholz  und  Spälholz  auszu- 
merzen. Es  ergab  sich,  daß  Nicotiana  und  Lan- 
tana  Camara  die  Fähigkeit  besitzen,  dauernd  ihr 
Kambium  weiter  wachsen  zu  lassen  und  bei  kon- 
stanter Wasser-  und  Nährsalzversorgung  homogenes 
Holz  zu  bilden.  Welchen  Charakter  dieses  Holz 
besitzt,  hängt  von  den  gewählten  Ernährungs- 
bedingungen ab.  Einschränkung  der  Nährsalz- 
zufuhr, die  bewirkt  werden  kann  durch  Bewurze- 
lung  von  Stecklingen  in  Leitungswasser,  durch 
Kultur  bereits  bewurzelter  Stecklinge  in  Nähr- 
lösung, durch  Reduktion  des  Wurzelsystems  bei 
normal  kultivierten  Pflanzen  und  schließlich  durch 
Züchtung  relativ  großer  Exemplare  in  relativ 
kleinem  Topf,  verursacht  die  Bildung  von  Engholz. 
Umgekehrt  wird  bei  reichlicher  Nährsalzzufuhr 
Weitholz  produziert.  Der  Experimentator  hat  es 
also  in  der  Hand,  durch  willkürliche  Eingriffe 
die  Ausgestaltung  des  Holzes  nach  der  einen  oder 
der  anderen  Richtung  zu  verschieben  und  mög- 
licherweise die  Jahresringbildung  zu  unterdrücken. 
Damit  ist  aber  gezeigt,  daß  die  Periodizität  in 
hohem  IVIaße  von  äußeren  Faktoren  abhängig  ist. 
Ob  sie  sich  aber,  wie  Klebs  will,  restlos  durch 
solche  Einflüsse  erklären  läßt,  das  erscheint  auch 
nach  den  Versuchen  H.  Andres  recht  fragUch. 
Er  führt  selbst  ein  Beispiel  an,  wo  es  nicht  ge- 
lang, die  Periodizität  zu  unterdrücken  (Zimmer- 
linde) und  weist  mit  Recht  auf  die  Fälle  hin,  wo 
innerhalb  eines  Jahres  der  Charakter  des  Holzes 
mehrmals  zonenweise  wechselt,  ohne  daß  äußere 
Faktoren  dafür  verantwortlich  gemacht  werden 
könnten.  Da  ist  es  immerhin  noch  das  Nahe- 
liegendste, diese  Prozesse  auf  einen  autonomen, 
im  Wesen  der  Pflanze  selbst  beruhenden  inneren 
Rhythmus  zurückzuführen.  P.  Stark. 


Einflüsse  des  Klimas  auf  die  Gesundheit. 

Einige  Beispiele  der  Beeinflussung  der  Gesund- 
heit durch  das  Klima  seien  aus  der  beachtens- 
werten Schrift  von  C.  Domo  „Klimatologie  im 
Dienste  der  Medizin" ')  hier  angeführt.  Für  Sonnen- 
bestrahlungskuren ist  der  Wechsel  der  spektralen 


')  Sammlung  Vieweg,  Nr.   50.     Braunschweig  1926. 


154 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


Zusammensetzung   der    Sonnenstrahlung    mit    der 
Tages-  und  Jahreszeit  von  großer  Bedeutung     Be- 
obachtungen   in    Davos    haben    gezeigt,    wie    ver- 
schieden schnell  die  Hauptwirkungen  der  Sonnen- 
strahlung  mit   steigender  Sonne    zunehmen.     Am 
wenigsten  schwankt  die  Wärmestrahlung,  während 
die  ultraviolette  Intensität   sowohl  im  Tages    wie 
im   Jahreslaufe    ganz    gewaltige  Verschiedenheiten 
aufweist.      „Wenn    Wärme-    und    ultraviolette   In- 
tensität   für  den   15.  Juli    mittags    einander   gleich 
gedacht  sind,    so    ist  die  Wärmeintensität  am   15. 
Januar  mittags  etwa  10  mal  so  groß,  am  15.  Januar 
morgens  fast  20  mal  so   groß  als  die  ultraviolette 
Strahlung.    Es  ist  also  nicht  die  größere  Intensität 
der    Sonne,    welche    im    Sommer    bei    forzierten 
Sonnenkuren    die    Haut    verbrennt,    sondern    der 
größere    Gehalt    an    ultravioletter    Strahlung,    die 
Wärmeintensität    nimmt   sogar    ein    wenig   ab  in- 
folge des    erhöhten  Wasserdampfgehaltes   der  At- 
mosphäre."   Dazu  kommt  ein  „großer  Unterschied 
zwischen    Frühjahrs-    und    Herbstsonne    trotz    der 
annähernd  gleichen  Sonnenhöhen ;  die  Herbstsonne 
ist  viel    reicher   an    ultravioletten  Strahlen".      Der 
winterlichen    Sonnenstrahlung    fehlen    auch    dort, 
wo  sie  verhältnismäßig    stark    und    anhaltend    ist 
(im  Hochgebirge),  die  kürzesten  Strahlen,  die  zur 
Pigmentbildung    am    meisten    beitragen    und    die 
Haut  muß    sich    im  Frühjahr   stets    aufs    neue  an 
sie     gewöhnen.       Die     Betrachtungen     über     die 
Schwankungen  der  Wärme-  und  uhravioletten  In- 
tensität   mit   der  Tages-    und  Jahreszeit  führen  zu 
dem  Schluß,  daß  es  nicht  die  Gesamtiniensität  der 
Sonne    ist,    welche    im    Hochsommer,    etwa    bei 
Sonnenkuren,  Schaden  anrichten  kann,  sondern  der 
zu  große  Gehalt  an  ultravioletten  Strahlen.  Schirmt 
man   diese   ab,    was    durch    einen    einfachen  Glas- 
schirm geschehen  kann,    so  bringt  die  Sonnenkur 
keine  Gefahren  mit  sich.    Auch  bei  partiellen  Be- 
strahlungen   müßten   wohl    aus    dem  spektral  zer- 
legten Sonnenlicht  geeignet  ausgewählte  Strahlen- 
gattungen    spezifische    und     daher     energischere 
Wirkungen  ausüben. 

Mit  Recht  wird  beim  Klimawechsel  dem 
psychischen  Moment  großer  Wert  beigelegt.  Es 
ist  gut,  daß  anscheinend  überall  psychische  und 
physische  Einflüsse  einander  entgegenwirken,  einen 
Ausgleich  schaffen.  Das  Hochgebirgstal  z.  B. 
bietet  ein  Bild  absoluter  Ruhe;  die  Küstenland- 
schaft dagegen  ist  durch  nie  rastende  von  Tönen 
verschiedener  Höhe  begleitete  Bewegung  ausge- 
zeichnet, die  Nervenreiz  erzeugen,  während  die 
übrigen  begleitenden  Faktoren  (mittelhohe  und 
wenig  schwankende  Temperatur,  geringe  Ver- 
dunstung, großer  Luftdruck,  geringe  Strahlung) 
beruhigend  wirken,  im  großen  Kontrast  zum  Hoch- 
gebirgstal, in  welchem  alle  durch  das  Auge  auf- 
genommenen Erscheinungen  das  Bild  voller  Ruhe 
bieten,  alle  anderen  genannten  Faktoren  aber  in 
hohem  Maße  stimulierend  wirken.  In  dem  Zu- 
sammenhang kommt  Domo  auf  Störungen  des 
Wohlbefindens  auf  Reisen  zu  sprechen.  Er  weist 
darauf  hin,    daß    schon    das    bei    plötzlichem  An- 


fahren und  plötzlichem  Anhalten  von  Wagen  aus- 
gelöste Gefühl  ein  recht  unangenehmes  ist;  „im 
Lift  macht  sich  das  recht  deutlich  geltend,  wer 
es  aber  je  einmal  im  Fesselballon  kennen  gelernt 
hat,  weiß,  daß  die  allermeisten  da  ihren  Tribut 
zahlen  müssen.  Die  Ursache?  Induktionsströme? 
Das  würde  auf  das  schlüpfrige  Kapitel  des  tierischen 
Magnetismus  führen.  Genügt  nicht  neben  der 
Annahme  psychischer  Einwirkungen  die  Erklä- 
rung durch  verschiedene  Elastizität  der  Zellen- 
wände und  des  flüssigen  Zellinhaltes  sowie  durch 
den  Wechsel  des  Druckes,  unter  welchen  die  in 
Körperhöhlen  eingeschlossenen  Gase  kommen? 
Haben  wir  nicht  in  der  Seekrankheit  dieselben 
Momente,  also  auch  wohl  die  gleichen,  soeben 
erwogenen  Ursachen  ?  Das  Ausbleiben  der  Krank- 
heit bei  ganz  kleinen  Kindern  würde  für  diese 
Deutung  sprechen. 

Es  ist  bekannt,  daß  das  Tropenklima  auf  den 
Europäer  nachteilig  einwirkt,  doch  gilt  es,  in  dieser 
Hinsicht  noch  manches  zu  klären.  Man  weiß, 
daß  sich  der  Europäer  in  den  Tropen  nicht  unbe- 
deckten Hauptes  der  Sonne  aussetzen  darf,  aber 
man  kennt  bisher  die  Ursache  der  Gefahr  des 
Hitzschlages  nicht.  Die  Wärmestrahlung,  meint 
Domo,  „dürfte  diesen  Effekt  schwerlich  aus- 
lösen, denn  der  starke  Wasserdampfgehalt  schwächt 
dieselbe  sehr  erheblich,  auch  ist  ja  die  Lufttempe- 
ratur im  allgemeinen  kaum  heißer  als  an  heißen 
Tagen  in  der  gemäßigten  Zone.  Ungeklärt  ist  also 
noch,  ob  der  ultraviolette  Anteil  an  der  Strahlung 
der  Tropensonne  so  verderbenbringend  gesteigert 
ist  oder  ob  die  Ursache  der  Erscheinung  in  dem 
überaus  geringen  physiologischen  Sättigungsdefizit 
liegt.  Tatsache  ist,  daß  in  den  Tropen  zur  heißen 
Jahreszeit  am  Tage  die  leichteste  Bewegung  ein 
Ausbrechen  des  Schweißes  über  den  ganzen  Körper 
zur  Folge  hat  und  daß  zur  Mittagszeit  trotz  der 
gesteigerten  Temperatur  die  unerträgliche  Schwüle 
etwas  weniger  belästigt,  da  das  Sättigungsdefizit 
sich  bei  Zunahme  der  Temperatur  wenigstens  ein 
klein  wenig  erhöht."  Zum  Schluß  gibt  Domo 
Hinweise  darauf,  wie  die  Bearbertung  meteoro- 
logischer Beobachtung  gestaltet  werden  sollte,  um 
sie  der  Medizin  besser  dienlich  zu  machen. 

H.  Fehlinger. 


Neue  Farbreaktionen  zur  llutersclieidung 
der  Pilze. 

J.  Barlot  (Sitzung  vom  22.  November  1920 
der  Pariser  Akademie)  ließ  wässerige  oder  alko- 
holische, 20— 40proz.  Pottasche-  oder  Sodalösungen 
auf  verschiedene  Pilze  einwirken.  Mycena  pura 
wurde  augenblicklich  grünlichgelb  verfärbt,  wäh- 
rend die  äußerlich  ähnliche  amethystfarbene  Va- 
rietät der  Laccaria  laccata  schwarzbraune  Färbung 
ergab.  Die  beiden  häufigen  Goniphidius- kn^n 
verhalten  sich  ebenfalls  verschieden:  G.  viscidus 
färbt  sich  violettbraun,  G.  glutinosus  schwach 
gelbbraun.  Herten 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


IS5 


Solarlsationserscileiniiiieen     (Uiiikehrerschei- 

nungeu)  in  photoKraphiscIien   und  röutgeuo- 

graphischen  Aufnahmen. 

Professor  Dr.  B.  Walter  vom  Hamburger 
Physikalischen  Siaatslaboratorium  führte  in  dem 
Naturwissenschaftlichen  Verein  in  Hamburg  hier- 
über folgendes  aus:  Während  bei  normaler  Be- 
lichtung einer  photographischem  Platte  auf  der- 
selben ein  sog.  Negativ  entsteht,  von  dem  das 
eigentliche  Positivbild  erst  durch  einen  abermaligen 
photographischen  Prozeß,  nämlich  durch  emen 
Abdruck  auf  lichtempfindlichen  Papier  oder  sog. 
Diapositivplatte  erhalten  wird,  kann  man  durch 
sehr  starkes  oder  auch  sehr  langes  Belichten  auch 
schon  direkt  auf  der  Originalplatte  ein  positives 
Bild  erhalten,  das  allerdings  niemals  so  gute  Kon- 
traste zeigt  wie  das  auf  normalem  Wege  zustanden 
gekommene.  Derartige  direkte  Positivbilder  be- 
zeichnet man  als  „solarisierte"  Bilder  —  von  sol, 
die  Sonne  — ,  weil  nämlich  die  Erscheinung  zu- 
erst bei  den  Bildern  dieses  Gestirns  beobachtet 
wurde.  Die  Belichtung,  welche  zur  Erzielung 
eines  solchen  solarisierten  Bildes  nötig  ist,  ist  bei 
den  verschiedenen  Plattensorten  des  Handels,  auch 
wenn  sie  für  normale  Belichtungen  die  gleiche 
Empfindlichkeit  haben,  sehr  verschieden,  sie  liegt 
nämlich  etwa  zwischen  der  hundert-  und  der 
hunderttausendfachen  von  derjenigen,  welche  zur 
Erzielung  eines  normalen  Negativs  nötig  ist. 
Solarisationserscheinungen  ganz  besonderer  Art 
treten  ferner  bei  Aufnahmen  von  Blitzen  oder 
elektrischen  Funken  auf,  hier  nämlich  nur  dann, 
wenn  die  Platte  nach  der  Aufnahme  des  Blitzes 
oder  F"unkens  noch  einer  schwachen  allgemeinen 
Belichtung  ausgesetzt  wird.  Man  erhält  dann  im 
normalen  Positivbitd  einen  schwarzen  Blitz  bzw. 
Funken.  Die  Erscheinung  wird  nach  dem  Eng- 
länder Clay  den,  der  sie  zuerst  beobachtete  und 
auch  aufklärte,    als  Claydeneffekt   bezeichnet. 

Auch  bei  Aufnahmen  mit  Röntgenstrahlen 
können,  wenn  man  übermäßig  lange  Expositions- 
zeiten anwendet,  Solarisationserscheinungen  auf- 
treten. Eine  solche  liegt  z.  B.  bei  den  zuerst  vor 
einigen  Jahren  von  dem  Röntgenarzt  Professor 
Köhler  in  Wiesbaden  am  äußeren  Schattenrande 
der  Röntgenbilder  gewöhnlicher  menschlicher 
Gliedmaßen  beobachteten  hellen  Randstre  ifen 
vor,  einer  Erscheinung,  welche,  da  sie  zunächst 
nicht  einwandfrei  erklärt  werden  konnte,  das  leb- 
hafteste Interesse  der  Physiker  erregte,  weil  man 
dabei  an  eine  neue  Art  von  Beugungs-  oder  In- 
terferenzerscheinungen, ja  sogar  an  eine  Total- 
reflexion der  Röntgenstrahlen  dachte,  bis  sie  von 
dem  Vortragenden  eben  als  eine  Solarisations- 
erscheinung  erkannt  wurde.  Dieselbe  entsteht 
nämlich  dann,  wenn  die  photographische  Platte 
bei  der  Aufnahme  so  stark  bestrahlt  wird,  daß 
der  freie  Hintergrund  derselben  schon  solarisiert 
ist  und  daher  das  Maximum  der  Schwärzung  ' 
nicht  mehr  hier,  sondern  in  dem  der  Randlinie 
des   abgebildeten  Organs   entsprechenden  Streifen 


liegt.  Jener  Randlinie  entspricht  nämlich  in  einem 
solchen  Röntgenbilde  keine  genaue  mathematische 
Linie,  sondern  —  wegen  der  nicht  punktförmigen 
Gestalt  des  Brennflecks  der  Röntgenröhre  —  ein 
mehr  oder  weniger  breiter  Streifen.  In  diesem 
Streifen  ferner  findet  in  unserem  Falle  von  außen 
nach  innen  zu  ein  sehr  starker  Abfall  der  Strahlungs- 
intensität statt,  so  daß  wir  also  darin  im  Negativ 
ein  verhältnismäßig  schmales  Schwärzungsmaxi- 
mum oder  eben  im  Positivbilde  einen  solchen 
hellen  Streifen  erhalten,  wie  ihn  die  Kohl  er- 
sehen Bilder  zeigen.  Die  Richtigkeit  seiner  Auf- 
fas'^ung  konnte  der  Vortragende  u.  a.  dadurch  er- 
härten, daß  es  ihm  auf  Grund  derselben  gelang, 
die  Köhler  sehen  Streifen  mit  zum  mindesten 
derselben  Deutlichkeit  zu  erhalten  wie  ihr  Ent- 
decker. Daß  ferner  der  letztere  die  Erscheinung 
bei  seinen  diesbezüglichen  Aufnahmen  nicht  im- 
mer, sondern  nur  gelegentlich  erhielt  liegt  daran, 
daß  auch  hinsichtlich  der  Solarisierbarkeit  für 
Röntgenstrahlen  nicht  bloß  die  photographischen 
Platten  verschiedener  Fabriken,  sondern  auch  so- 
gar die  verschiedenen  Emulsionen  einer  bestimmten 
Plattensorte  einer  und  derselben  Fabrik  oft  ganz 
gewaltige  Unterschiede  zeigen,  und  daß  ferner 
auch  die  Erscheinung  bei  der  Aufnahme  mensch- 
licher Organe  nur  auf  einer  sehr  leicht  solarisieren- 
den  Platte  mit  größerer  Deutlichkeit  hervortritt. 
Noch  sehr  viel  deutlicher  aber  als  bei  solchen 
Organen  lassen  sich  die  Randstreifen,  wie  zuerst 
von  dem  Münchener  Oberingenieur  Janus  be- 
obachtet wurde,  in  den  Röntgenbildern  von  Me- 
tallstücken erzeugen;  und  der  Grund  hierfür 
liegt  nun,  wie  in  einer  kürzlich  in  den  „Fort- 
schritten auf  dem  Gebiete  der  Röntgenstrahlen" 
veröffentlichten  Abhandlung  des  Vortragenden 
gezeigt  wurde,  darin,  daß  man  in  diesem  Falle 
die  Platte  viel  länger  bestrahlen  und  also  auch 
den  freien  Hintergrund  derselben  viel  stärker 
solarisieren  kann,  ohne  daß  deswegen  hier  —  wie 
bei  jenen  menschlichen  Organen  —  die  durch  den 
bestrahlten  Gegenstand  hindurchgegangene  Strah- 
lung schon  so  stark  wird,  daß  die  von  ihr  be- 
wirkte Schwärzung  fast  ebenso  stark  ist  wie  die- 
jenige in  dem  nach  dem  Obigen  in  der  Rand- 
zone des  abzubildenden  Gegenstandes  liegenden 
Schwärzungsmaximums.  Denn  wenn  dies  der  Fall 
ist,  so  kann  ein  Randstreifen  der  in  Rede  stehen- 
den Art  natürlich  nicht  mehr  zustande  kommen, 
da  ja  dann  die  innere  Seite  desselben  von  der 
hindurchgegangenen  Strahlung  sozusagen  wegge- 
wischt wird.  Bei  dickeren  Metallstücken  tritt  dies 
aber  erst  bei  viel  stärkerer  Bestrahlung  ein;  und 
es  ist  dann  auch  meist  nicht  die  durch  sie  hin- 
durchgegangene primäre,  sondern  die  in  der  Unter- 
lage der  Platte  erzeugte  sekundäre  Strahlung, 
welche  hier  die  Verwischung  der  inneren  Seite 
des  Randstreifens  bewirkt. 

Spiropterakrankheit  bei  Vögeln. 

Nach  dem  „Journ.  of  comp.  Path.  and  Therap." 
starben  in  7  Jahren  135  Vögel,   davon  ii8  Papa- 


156 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  lo 


geien  an  Spiroptera  incerta.  Die  Würmer  wurden 
nicht  über  14  mm  lang  und  0,45  mm  dick.  Sie 
verursachten  den  Tod  der  Tiere  durch  die  Zer- 
störung der  für  die  Vögel  unentbehrlichen  pro- 
ventrikulären Drüsen,  Verstopfung  des  Schlundes, 
Zerreißung  des  Proventrikels  und  durch  Hervor- 
treten toxischer  Wirkungen.  Die  Lebensgeschichte 
des  Parasiten  ist  unbekannt.  Er  kann  spontan 
absterben  und  die  befallenen  Tiere  werden  dann 
wieder  gesund.  Therapeutisch  sind  die  Würmer 
nicht  zu  beeinflussen.  Die  Bekämpfung  der  Krank- 
heit ist  auf  hygienischen  Maßnahmen  aufgebaut. 
Mittels  Kalium  hydroxyd  werden  die  Exkremente 
gelöst  und  zentrifugiert.  Der  Bodensatz  wird  nach 
Eiern  der  Spiropteren  durchsucht.  Bei  positivem 
Befund  ist  das  Tier  zu  isolieren.  Mit  dieser  Me- 
thode gelang  es  in  dem  beschriebenen  Falle  der 
Seuche  Herr  zu  werden. 

Eine  ähnliche  Bedeutung  wie  dem  Innen- 
schniarotzer  Spiroptera  kommt  dem  Ektoparasiten 
Laminosioptes  gallinarum  sive  Sarcoptes  cysticola 
insofern  zu,  als  derselbe  seine  pathogene  Wirkung 
auf  endogenem  Wege  im  Gegensatz  zu  den  übrigen 
Milbenarten  entfaltet.  Die  Sarcoptes  cysticola 
lebt  im  Unterhautgewebe,  also  nicht  wie  die 
Räudemilbe  in  den  Gängen  der  Oberhaut,  welche 
sie  gegraben  hat  und  bewirkt  dort  die  Bildung 
kleiner  flacher,  fettiger  Knötchen,  die  mitunter  so 
zahlreich  werden,  daß  die  Schlachtstücke  ein  un- 
appetitliches Aussehen  bekommen.  Das  Fleisch 
ist  zwar  genießbar,  aber  minderwertig.  Eine  Be- 
handlung ist  nicht  möglich.  Die  bei  der  Spiro- 
ptera erprobten  hygienischen  Bekämpfungsmaß- 
nahmen sind  auch  gegen  diesen  Schmarotzer  von 
Erfolg.  Vgl.  Reuter,  Die  Geflügel  Krankheiten 
und  ihre  Behandlung.  Verlag  von  Dr.  Paul  Trüben- 
bach, Chemnitz.  Reuter. 

Geologie  der  Scholleu  iu  schlesischen  Tiefen- 
gesteinen. 

Neue    Untersuchungen    im    Grenzgebiet    der    Ge- 
birgsbildung. 

Die  Arbeit  von  R.  C 1  o  o  s  (Abhandl.  d.  Preuß. 
Geolog.  Landesanstalt,  N.  F.  H.  81)  ist  be- 
merkenswert dadurch,  daß  in  ihr  eine  ganz  neue 
Forschungsmethode  angewendet  wird.  Damit 
werden  weite,  bisher  so  gut  wie  völlig  verschlossene 
Gebiete  der  geologischen,  insbesondere  der  tekto- 
nischen  Untersuchung  zugänglich.  Es  handelt 
sich  um  die  großen  Massive  von  granitisch-körnigem 
Tiefengestein,  die  sich  überall  auf  der  Erde  im 
Gebiete  alter,  jüngerer  und  jüngster  Faltengebirge 
finden.  Der  Geologe  empfand  sie  nicht  selten 
als  unerwünschte  Störung,  wenn  sie  ihm  tektonisch 
wichtige  Glieder  des  Gebirgsbaus  gewissermaßen 
„aufgefressen"  oder  fossil  führende  Schicht  gruppen 
durch  Metamorphose  unkenntlich  gemacht  hatten. 

Cloos  geht  nun  den  Gängen,  Stöcken,  Lak- 
kolithen  und  Batholithen  mit  geologischen  Mitteln, 
mit  Kompaß  und  Meßband,  zu  Leibe.  Den  Granit 
untersucht  er  auf  die  Richtung  von  Bankung  und 


Klüftung,  sowie  auf  die  oft  nur  angedeutete 
Streckung;  bei  den  gangförmigen  Nachschüben 
des  Magmas  wird  besonders  die  Lagerung  studiert. 
Die  im  Granit  eingeschlossenen  Schollen  werden 
behandelt  „als  ob  sie  tektonische  Gebirgsteile 
wären";  Streichen  und  Fallen  ihrer  Begrenzungs- 
flächen werden  bestimmt,  schließlich  wird  der 
Kontakt  mit  dem  Nebengestein  und  das  Neben- 
gestein selbst,  soweit  es  von  Gängen  durchzogen 
ist,  in  die  Untersuchung  einbezogen. 

Dem  beschreibenden  Teil  der  Arbeit  geht  ein 
kurzer  Überblick  über  die  geologische  Struktur 
Schlesiens  voraus;  er  wird  in  einer  Skizzenkarte 
illustriert.  Die  jungen  Sedimente  im  Sudetenvor- 
land werden  abgedeckt  und  dadurch  der  schein- 
bare Gegensatz  zwischen  dem  Bau  der  Sudeten 
und  dem  ihres  Vorlandes  beseitigt.  Ihr  Unter- 
grund bildet  eine  zusammengehörige  Einheit.  Auf 
Grund  der  Kulmkonglomerate  werden  vier  schon 
in  unterkarbonischer  Zeit  bestehende  „Blöcke"  aus 
kristallinem  Gestein  und  altpaläozoischen  Schichten 
unterschieden. 

Im  jüngeren  Karbon  erhielten  nun  drei  dieser 
Blöcke  einen  neu  empordringenden  Granitbatho- 
lithen  als  Kern  eingeschaltet. 

Diese  jüngeren  Granitmassive  und  einige  der 
in  ihnen  eingeschlossenen  Schollen  werden  sodann 
beschrieben.  Es  handelt  sich  meist  um  diskor- 
dante  Schollen,  d.  h.  solche,  deren  Begrenzung  in 
keiner  Beziehung  zur  Schichtung  und  Schieferung 
der  die  Scholle  bildenden  Sedimentgesteine  steht. 
Bei  konkordantem  Verband  dagegen  drängt  sich 
der  Granit  zwischen  die  einzelnen  Lagen  und 
Blätter  der  schiefrig  struierten  Scholle  und  be- 
rührt sie  auch  außen  an  Schichtfugen  oder  Schiefe- 
rungsflächen. 

Diese  Verhältnisse  finden  sich  vor  allem  bei 
den  älteren  vorkulmischen  Graniten  und  Gneisen. 
Die  Gleichzeitigkeit  von  Faltung  und  Intrusion 
ist  für  die  Konkordanz  verantwortlich  zu  machen. 
Im  allgemeinen  Teil  zieht  Cloos  nun  aus  den 
angedeuteten  Beobachtungen  seine  Folgerungen. 
Der  Granit  ist  durch  sein  Emporsteigen  in  die 
Zone  der  gebirgsbildenden  Prozesse  geraten  und 
daher  dem  gerichteten  Druck,  dem  Tangential- 
druck,  ausgesetzt.  Je  nach  dem  Zustand,  in  dem 
sich  der  Granit  befindet,  hat  der  Druck  ver- 
schiedene Wirkungen. 

Im  völlig  erstarrten  Granit  kommt  es  entweder 
zu  echter  Kataklase,  mechanischer  Quetschung 
und  Zertrümmerung,  oder  es  entstehen  Klüfte,  die 
sich  auch  ins  Nebengestein  fortsetzen.  Ihre  große 
Mehrzahl  streicht  parallel  NO,  N,  oder  in  anderen 
Teilen  Schlesiens  NW.  Das  ist  die  Richtung  der 
Druckkraft,  der  sie  ihren  Ursprung  verdanken. 

Ganz  anders  verhält  sich  der  Granit,  bevor  er 
völlig  erstarrt  ist.  Er  ähnelt  dann  nicht  einem 
festen  Körper,  sondern  einer  großen  ungeschichteten 
Tonmasse.  Auf  den  gerichteten  Druck  reagiert 
er  durch  seitliches  Ausweichen.  Daraus  folgt  dann 
eine  Paralleleinstellung  der  Glimmerblättchen  und 
der  scheibenförmigen  Einschlüsse. 


N.  F.  XX.  Nr.   10 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


157 


Da  wir  es  aber  mit  einer  zähen,  nicht  mehr 
flüssigen  Masse  zu  tun  haben,  reißen  auch  Spalten 
auf,  und  zwar  in  der  Druckrichtung,  senkrecht 
auf  der  Ebene  der  Streckung.  Daß  dies  die  erst- 
entstehenden Spalten  sind,  wird  durch  Füllung 
mit  Aplit  bewiesen. 

Die  ersten  Anzeichen  der  horizontalen  Bankung 
sind  auf  die  Kontraktion  infolge  von  Abkühlung 
zurückzuführen.  Der  noch  flüssige  Granit  zeigt 
sich  den  Streckungserscheinungen  noch  beträcht- 
lich zugänglicher. 

Die  Bedeutung  des  graniti^chen  Magmas  für 
die  gebirgsbildenden  Bewegungen  wird  am  Bei- 
spiel des  Werdegangs  des  Riesengebirges  verfolgt. 
Der  ältere  Granit  tritt  konkordant  mit  den  Sedi- 
menten verfaltet  und  verwebt  auf;  dann  erfolgt 
Erstarrung  und  eine  längere  Pause  in  der  Gebirgs- 
bildung.  Mit  dem  Zutritt  des  jüngeren  Granits 
„kommt  neues  Leben  in  die  tektonische  Werk- 
statt". Aber  diesmal  sind  es  nicht  Faltenbe- 
wegungen, denn  der  Gebirgsteil  hat  durch  die 
erste  Intrusion  die  Fähigkeit  dazu  eingebüßt.  Man 
trifft  vielmehr  Schollentektonik  und  diskordante 
Kontakte  an.  Mit  der  Erkaltung  und  Erstarrung 
des  jüngeren  Granits  ersterben  die  Bewegungen. 
Der  Granit  hat  sich  aus  einem  Förderer  und  Leiter 
der  tektonischen  Kräfte  in  ein  grobklotziges  Hinder- 
nis verwandelt.  Cloos  bezeichnet  ihn  dann  ge- 
radezu als  eine  tektonische  Insel  im  Meere  der  im 
Sedimentgebiet    fortdauernden    Faltungsvorgänge. 

Zum  Schluß  betont  Cloos  nochmals  die  engen 
Beziehungen  zwischen  Vulkanismus  und  Tektonik. 
Dabei  teilt  er  dem  Magma  jedoch  weniger  eine 
aktive  als  eine  passive  Rolle  gewissermaßen  als 
Schmier-  und  Füllmittel  zu. 

Bis  in  jene  Zone,  wo  kein  Seitendruck  mehr 
auf  das  granitische  Magma  wirkte,  reichen  die 
Aufschlüsse  im  schlesischen  Granit  nicht  hinab. 
Überall  ist  die  Wirkung  tektonischen  Druckes  zu 
verspüren.  Kockel,  Leipzig. 


Körpermängel  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika. 

C.  B.  Davenport  undA.  G.  Love  behandeln 
im  Scientific  Monthly,  Bd.  10,  1920  ein  auf  Grund 
militärischer  Rekrutierungsaufzeichnungen  aus  dem 
Weltkrieg  gewonnenes  Material,  umfassend  2754000 
iVIänner  im  Alter  von  18  bis  30  Jahren.  Ver- 
hältniszahlen wurden  auf  je  lOOO  der  ßeobachtungs- 
masse  berechnet.  Im  Durchschnitt  hatten  je 
468  von  1000  Männern  körperliche  Mängel,  die 
jedoch  größtenteils  nicht  schwerer  Natur  waren. 
Da  manche  Männer  mehrere  Defekte  aufwiesen, 
kamen  deren  557  auf  je  1000  Männer. 

Am  häufigsten  waren  Defekte  mechanischer 
Art,  welche  die  Knochen,  Gelenke,  Arme,  Beine, 
Hände  und  Füße  betrafen ;  sie  bildeten  39  "/^  aller 
festgestellten  Körpermängel.  Den  zweiten  Platz 
nehmen  Mängel  der  Sinnesorgane  mit  la"/,,  ein, 
dann  folgt  Tuberkulose  mit  1 1 "',  usw.     Von  den 


einzelnen  Mängeln  des  Körperbaues  waren  schwäch 
lieh  gebildete  oder  mißgebildete  Füße  am  zahl 
reichsten,  es  kamen  ihrer  124  auf  1 000  Männer, 
Vom  biologischen  Standpunkt,  sagen  Davenport 
und  Love,  ist  dieses  Versagen  der  Füße  bei 
jungen  Männern  ein  Zeichen  dafür,  daß  diese  Or 
gane  den  Ansprüchen,  welche  das  moderne  Kul- 
turleben stellt,  schlecht  angepaßt  sind.  Unter  den 
Fußdefekten  wiegt  wieder  Plattfuß  vor,  und  zwar 
ani  stärksten  in  den  Staaten  an  der  Küste  des 
Stillen  Ozeans  und  den  nördlichen  Felsengebirgs- 
staaten  (145—231  von  lOOo),  während  er  in  den 
Siidoststaaten  am  seltensten  ist  (47—79  von  looo, 
mit  Ausnahme  von  Florida  und  Alabama);  hier 
lebt  der  weitaus  größte  Teil  der  mit  Vorliebe 
barfuß  gehenden  Neger,  die  ebenso  wie  die  weißen 
Südstaater  weniger  massig  im  Körperbau  sind  als 
die  Nordstaater. 

Die  Hammerzehe  und  gebogene  große  Zehe 
kommt  am  häufigsten  vor  in  einigen  Neuengland- 
und  mittelatlantischen  Staaten,  am  oberen  Mis- 
sissipi  und  in  den  meisten  Staaten  des  fernen 
Westens. 

Mißbildete  oder  verstümmelte  Hände  und 
Finger  hatten  je  8  von  looo  Männern.  Verhält- 
nismäßig am  häufigsten  ist  dieser  Mangel  in  Neu- 
england   und    im  Nordwesten  festgestellt  worden. 

Mißbildung,  Atrophie  oder  Verlust  der  Arme 
wurde  in  mehr  als  15000  Fällen  festgestellt  und 
zwar  am  öftesten  in  den  mittelatlantischen  und 
Südost  Zentralstaaten  und  am  Stillen  Ozean.  Noch 
um  so  7o  häufiger  ist  Beinmißbildung  oder  Verlust. 

Hernien  und  vergrößerte  Leistenringe  kamen 
bei  durchschnittlich  40  von  1000  Männern  vor. 
Die  Häufigkeitsverteilung  nach  Staaten  ist  ganz 
unregelmäßig;  obenan  stehen  Neu-Jersey,  die 
beiden  Virginia,  Florida,  Wyoming,  Nevada,  Ore- 
gon und  Californien  (51  — 116). 

Überraschend  häufig  ist  die  doch  hauptsäch- 
lich auf  mangelhafter  Erbveranlagung  beruhende 
Rückgratsverkrümmung  usw.,  sie  trifft  auf  55  von 
1000  Männern.  Mehr  wie  60  Behaftete  kamen 
auf  1000  in  Neuengland  und  den  meisten  der 
dichtbevölkerten  Staaten  an  den  großen  Seen, 
dann  in  Tennessee,  Virginia,  Colorado,  Utah  und 
Oregon.  In  den  westlichen  Präriestaaten  und 
den  meisten  Südstaaten  ist  dieses  Entartungs- 
zeichen selten. 

Eine  andere  Überraschung  ist,  daß  der  Kropf 
in  Amerika  gar  nicht  so  selten  vorkommt  als 
dort  bisher  angenommen  wurde.  Seine  relative 
Häufigkeit  ist  8  auf  1000,  doch  kommt  er  meist 
im  Gebiet  der  großen  Seen  und  im  Nordwesten 
vor,  in  den  Südstaaten  vom  Kap  Fearfluß  bis 
Colorado  ist  er  dagegen  fast  unbekannt. 

Von  den  Defekten  des  Nervensystems  steht 
Geistesschwäche  obenan;  sie  wurde  bei  der  ersten 
Untersuchung  der  Auszuhebenden  in  fast  40000 
Fällen  (15  auf  loOO),  nachher  aber  noch  vielfach 
durch  psychologische  Prüfungen  festgestellt. 

Fehlinger. 


158 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


Nene  Untersnchnngen  über  die  Aufnahme  von 
Stoffen  in  die  Zelle. 

Auf  Grund  früherer  Untersuchungen  gelangte 
Tröndle  zu  der  Auffassung,  daß  die  Stoffauf- 
nahme in  die  Pflanze  kein  reiner  Diffusionsprozeß 
ist,  sondern  daß  dabei  das  lebende  Plasma  wesent- 
lich beteiligt  ist.  Es  zeigte  sich  nämlich,  daß  die 
Aufnahmegeschwindigkeit  nicht  dem  Fickschen 
Diffusionsgesetz  folgt  (d.  h.  proportional  geht  der 
Außenkonzentration),  sondern  zunächst  konstant 
bleibt,  um  späterhin  abzunehmen.  Das  deutet 
Tröndle  in  folgender  Weise:  „Die  Salze  reizen 
das  Protoplasma;  die  Reaktion  besteht  darin,  daß 
das  Protoplasma  die  Salze  zufolge  aktiver  Tätigkeit 
in  die  Vakuole  hineinschafft.  Wenn  eine  bestimmte 
IVIenge  Salz  aufgenommen  ist,  so  macht  sich  eine 
Ermüdung  geltend,  die  dem  Weber  sehen  Gesetz 
folgt."  Diese  Deutung  wurde  nun  in  weiteren  Experi- 
menten geprüft  und  bestätigt. *)  Von  dem  Gedanken 
ausgehend,  daß  die  aktive  Beteiligung  des  Plasmas 
durch  Narkose  ausgeschaltet  werden  kann,  wurde 
das  Palisadengewebe  von  Buche  und  Ahorn  vor 
dem  Verbringen  in  die  Salzlösungen  der  Ein- 
wirkung von  Äther  und  Chloralhydrat  ausgesetzt. 
Es  trat  nun  tatsächlich  der  erwartete  Erfolg  ein: 
Die  Salzaufnahme  in  die  Zellen  blieb  völlig  aus. 
Weiterhin  wurde  dann  dasselbe  Gewebe  mit  ver- 
dünnter Säure  behandelt;  dadurch  wird  das  Proto- 
plasma, ohne  dauernd  Not  zu  leiden,  vorübergehend 
geschädigt.  Unter  diesen  Umständen  nun  findet 
die  Salzaufnahme  nicht  wie  bei  normalem  Ver- 
halten mit  konstanter  Geschwindigkeit  statt, 
sondern  sie  geht  der  Außenkonzentration  propor- 

')  Biochem.  Zeitschr.   igzi. 


tional,  d.  h.  das  Ficksche  Diffusionsgesetz  ist  hier 
verwirklicht.  Das  dauert  aber  bloß  so  lange,  bis 
die  Zelle  den  schädigenden  Einfluß  der  Säure 
überwunden  hat.  In  einer  dritten  Reihe  von 
Versuchen  wurde  die  Aufnahme  von  Alkaloiden 
in  die  Spirogyrazellen  untersucht.  Das  Ein- 
dringen ist  hier  sehr  leicht  zu  erkennen 
dadurch,  daß  die  Alkaloide  den  in  der  Vakuole 
vorhandenen  Gerbstoff  ausfällen.  Es  zeigt  sich 
nun,  daß  die  freien  Alkaloidbasen  sehr  rasch 
eindringen,  während  zugesetztes  Alkaloidsalz 
erst  nach  wesentlich  längerer  Zeit  einen  Nieder- 
schlag bildet.  Dieser  Niederschlag  ist  aber  bloß 
auf  die  gleichzeitige  Anwesenheit  freier  Alkaloid- 
ionen  zurückzuführen,  das  undissozisierte  Salz  dif- 
fundiert nicht.  Das  kann  man  derart  erweisen, 
daß  man  dem  Salz  eine  Spur  Säure  zusetzt;  da- 
durch wird  die  Hydrolyse  vollständig  zurückge- 
drängt und  eine  Fällung  bleibt  nun  völlig  aus. 
Diese  Tatsache,  daß  die  Zelle  zwar  die  freien 
Alkaloide  passieren  läßt,  nicht  aber  deren  Salze, 
ist  wiederum  auf  die  Einwirkung  des  lebenden 
Plasmas  zurückzuführen.  Das  läßt  sich  in  sehr 
einfacher  Weise  dartun:  „Wenn  man  in  einer 
Vergleichsreihe  freie  Alkaloidbase ,  Alkaloidsalz 
und  Alkaloidsalz  -|-  verdünnte  Säure  in  äquimo- 
laren  IVlengen  anwendet,  aber  alle  3  Lösungen  mit 
Chloroform  sättigt,  dann  erfolgt  der  Niederschlag 
zu  derselben  Zeit,  und  das  ist  eine  Folge  davon, 
daß  durch  das  Chloroform  die  Zellen  zumeist 
rasch  abgetötet  werden.  Insgesamt  genommen 
bilden  die  Versuche  wieder  einmal  einen  deut- 
lichen Hinweis  darauf,  wie  ferne  wir  noch  einer 
rein  physikalisch- chemischen  Deutung  der  Stoff- 
aufnahmeprozesse stehen.  Peter  Stark. 


Bücherbesprechungen. 


Mosler,  H.,    Einführung    in    die    moderne 
drahtlose  Telegraphie  und  ihre  prak- 
tische   Anwendung.     240   Seiten    mit    218 
Figuren.       Braunschweig     1920,     Fr.    Vieweg. 
Geb.  24  M. 
Das  Buch    kommt    einem  Bedürfnis    entgegen. 
Durch  den  Weltkrieg  wurde  die  Entwicklung  der 
drahtlosen  Telegraphie  und  ihre  Anwendung  ganz 
außerordentlich  gefördert.     Die  vorhandenen  vor- 
züglichen größeren  Werke,  die  vor  bzw.  während 
des    Krieges    entstanden    sind,    bringen    meistens 
noch    nichts    über    die    Kathodenröhe,    der    vor- 
wiegend   der     große    Aufschwung     der    Funken- 
telegraphie  zu  danken  ist,   und  über  die  Rahmen- 
antenne.     Das    vorliegende    Buch    gibt    in    sehr 
dankenswerter   Weise    eine    wissenschaftliche    Zu- 
sammenstellung alles  dessen,  was  in  der  drahtlosen 
Telegraphie    von    Interesse    und    Bedeutung    ist. 
Der  Stoff  wird  vornehmlich  vom  Standpunkt  der 
Praxis   aus    behandelt.     Allen    denen,  die  sich  für 
die  Telegraphie    ohne    Draht    interessieren,    kann 
das  Buch  warm  empfohlen  werden.        K.  Seh. 


Günther,  Hanns,  Elektrotechnik  für  Alle, 
eine  volkstümliche  Darstellung   der  Lehre  vom 
elektrischen  Strom  und  der   modernen  Elektro- 
technik.    2.  stark  verm.  u.  verb.  Aufl.  von  „Der 
elektrische  Strom".     318  S.  mit   373  Abbildgn. 
Stuttgart  1920,  Franksche  Verlagshandlung. 
Wie    der    Untertitel    andeutet,    ist    das    Buch 
nicht  für  Fachleute,  sondern  für  Laien  geschrieben 
und  zwar  für  die  vielen,  die  gern  wissen  möchten, 
wie    und    warum    die    elektrischen  Straßenbahnen 
sich  bewegen,  die  Telephone  sprechen,  die  elektri- 
schen Lampen  leuchten.     Der  Stoff  ist    in  4  Ab- 
schnitte gegliedert:   Die  Grundlagen  der  Elektro- 
technik, elektrische  Maßeinheiten    und  Maßinstru- 
mente, die  Erzeugung  des  elektrischen  Stroms,  die 
Anwendung   der    Elektrizität.      Dieser   letzte   Ab- 
schnitt umfaßt  nahezu  ^/j  des  ganzen  Buches. 
K.  Seh. 

Binz,  Dr.  A.,  Schul-  und  Exkursionsflora 
der  Schweiz.  Basel  1920,  L.  Schwabe  &  Co. 
9  Fr. 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift . 


159 


Da  diese  Flora  außer  dem  Gesamtgebiet  der 
Schweiz  auch  die  angrenzenden  Teile  Badens  und 
des  Eisasses  berücksichtigt,  reicht  ihre  Benutzbar- 
keit  über  die  Schweizer  Grenzen  hinaus.  Sie  ist 
sorgfältig  abgefaßt  und  würde  auch  denen  zu 
empfehlen  sein,  die  in  der  Schweiz  reisend  ein 
zuverlässiges  Bestimmungsbuch  zu  benutzen  wün- 
schen. Abbildungen  sind  nicht  beigegeben,  der 
Verf.  meint,  daß  reichliche  Abbildungen  dazu  ver- 
leiten, das  genaue  Studium  der  Pflanze  selber  zu 
vernachlässigen;  scharfe  Beschreibungskunst  ersetze 
die  Bilder  und  erziehe  zu  scharfer  Beobachtung. 
Das  ist  in  gewisser  Hinsicht  richtig,  doch  würde 
das  Bild  so  gut  wie  das  Wort  eine  eingehende 
Vergleichung  veranlassen  müssen,  und  schließlich 
bleibt  dem  wahren  Pflanzenfreunde  doch  immer 
die  Aufgabe,  sich  seine  Objekte  viel  genauer  an- 
zusehen, als  es  durch  die  Feststellung  der  für 
die  Bestimmung  erforderlichen  Merkmale  geschieht. 
Wollte  man  in  der  Hinsicht  ein  übriges  tun,  so 
würden  kurze,  das  Gesamtbild  der  Pflanze  be- 
lebende Zusätze  über  allerhand  andere  wissens- 
werte Eigenschaften  und  Eigenheiten  sehr  wün- 
schenswert sein.  Freilich  würde  eine  solche  Be- 
reicherung bald  mit  den  Rauminteressen  zusam- 
menstoßen. Miehe. 

Voigt,  Prof.  Dr.  A.,  Exkursionsbuch  zum 
Studium  der  Vogelstimmen.  8.  verb. 
Aufl.  Leipzig  1920,  Quelle  &  Meyer.  20  M. 
Dies  hübsche  Büchlein,  dessen  Beliebtheit  und 
Brauchbarkeit  durch  die  zahlreichen  Auflagen  be- 
wiesen ist,  will  dem  Vogelfreunde  eine  Anleitung 
geben,  wie  er  draußen  im  Feld  und  Wald  rasch 
und  zuverlässig  die  Vogelstimmen  erkennen  kann, 
bzw.  wie  er  möglichst  praktisch  selber  Notizen 
über  seine  Wahrnehmungen  machen  kann.  Die 
schriftliche  Fixierung  des  Vogelgesanges  ist  eine 
außerordentlich  schwere  Aufgabe.  Dem  Verf. 
kommt  es  drauf  an,  eine  durch  eigene  langjährige 
Erfahrung  ausgestaltete  und  ausgeprobte  Methode 
anzugeben,  die  dem,  der  sich  in  sie  hineinarbeitet, 
erlaubt,  die  Vögel  auch  unter  den  schwierigen 
Verhältnissen  der  freien  Natur  zu  erkennen.  Er 
hat  sogar  die  Laute  in  einer  Tabelle  angeordnet, 
nach  der  eine  Bestimmung  ausgeführt  werden 
kann.  Im  speziellen  Teil  sind  unsere  wichtigsten 
Vögel  im  einzelnen  geschildert,  wobei  naturgemäß 
auch  das  Aussehen,  die  Lebensweise,  das  Vor- 
kommen usw.  dargestellt  werden.  Miehe. 


Das  Pflanzenreich.  Herausgegeben  von  A.  Engler. 

Leipzig   1920,  W.  Engelmann.     Heft  71  (30  M.), 

72  (24  M.j,  73  (60  M),  74  (16  M.). 

Mit   dem    Heft   74,    das    den    allgemeinen  Teil 

und    das    Register    enthält,    ist    die    interessante 

Familie    der    Araceen    zum    Abschluß    gebracht. 

Auch    das    Heft    73,    in    welchem    die    Araceae- 

Aroideae    und  -Pistioideae    von   Engler   bearbeitet 

wurden,  sowie  Heft  71,    das   die   von  Engler  und 

K.  Krause  dargestellte  Gruppe  der  Araceae  Coloca- 

sioideae   sowie   einen   Nachtrag   zu    den  Araceae- 


Philodendroideae  bringt,  waren  noch  dieser  Familie 
gewidmet.  Im  72.  Heft  hat  A.  Lingelsheim  die 
Familie  der  Olaceen  fortgesetzt,  in  dem  er  die 
Gattungen  Fraxinus,  Fontanesia,  Syringa,  Schrebera 
und  Forsythia  behandelt.  Miehe. 


Brohmer,  Dr.  P.,  Fauna  von  Deutschland. 

2.  vermehrte  Aufl.  Mit  935  Abbildungen.  Leipzig 

1920,  Quelle  und  Meyer.  22  M. 
Dies  Bestimmungsbuch  ist  seinerzeit  mit  Recht 
freudig  begrüßt  worden.  War  es  doch  der  erste 
Versuch,  den  Zoologen  ein  auch  auf  Exkursionen 
benutzbares  Hilfsmittel  zum  Bestimmen  von  Tieren 
zu  geben.  Naturgemäß  hafteten  einem  solchen 
ersten  Versuch  noch  allerlei  Mängel  an,  doch 
zeigt  der  verhältnismäßig  rasche  Absatz  der  ersten 
Auflage,  daß  das  Büchlein  viel  benutzt  wurde. 
Die  neue  Auflage  ist  nach  manchen  Richtungen 
verbessert,  wobei  sich  aber  der  Umfang  des  Buches 
sogar  noch  hat  ,  verringern  lassen.  Nicht  auf- 
genommen sind  die  Meerestiere,  dagegen  sind  die 
mikroskopischen  Tiere  (z.  B.  die  Protozoen)  ein- 
bezogen. Dadurch,  daß  die  einzelnen  Gruppen 
von  Fachleuten  bearbeitet  wurden,  ist  Gewähr  für 
Zuverlässigkeit  gegeben.  Eine  Auswahl  hat  natür- 
lich immer  stattfinden  müssen,  es  ist  aber  über- 
raschend, wie  reichhaltig  das  handliche  Büchlein 
ist,  das  überdies  eine  große  Zahl  lehrreicher 
Bilder  enthält.  Miehe. 

Wenz,  W.,  Geologie.  Aus  der  Sammlung: 
„Die  Auskunft."  Nr.  5 — 7.  Heidelberg  1920, 
Willy  Ehrig. 
Diese  reichhaltige  Zusammenstellung  von  Fach- 
ausdrücken in  alphabetischer  Folge  aus  den  Ge- 
bieten der  Geologie  und  Stratigraphie  und  in  be- 
schränkterem Maße  aus  denen  der  Petrographie, 
Mineralogie  und  Bergbaukunde  ist  für  weitere 
Kreise  bestimmt,  die  sich  mit  Geologie  beschäftigen, 
und  bezweckt,  als  erste  Orientierung  das  Verständ- 
nis der  Fachausdrücke  zu  fördern.  Bei  der  Er- 
klärung der  stratigraphischen  Begriffe  sind  die 
deutschen  und  mitteleuropäischen  Verhältnisse 
besonders  berücksichtigt;  dem  ist  auch  in  der 
Weise  Rechnung  getragen,  daß  bei  den  einzelnen 
Formationen  die  Gliederung  in  den  wichtigsten 
deutschen  Verbreitungsgebieten  in  tabellarischer 
Form  gegeben  wird. 

Die  Erläuterungen  zu  den  Schlagwörtern  sind 
knapp,  aber  klar  und  zuverlässig,  so  daß  das  Werk 
empfohlen  werden  kann.  Krenkel. 


Ulbrich,  E.,  Pflanzenkunde.  Band  II:  Die 
Blutenpflanzen.  Leipzig  1920,  Ph.  Reclam  jun. 
Der  erste  Band  der  Ulbrich  sehen  Pflanzen- 
kunde wurde  in  Nr.  40  des  vor.  Jahrg.  besprochen. 
Der  vorliegende  2.  Band  grenzt  zunächst  die 
Blütenpflanzen  von  den  niederen  Pflanzen  ab,  und 
bringt  sodann  eine  gedrängte  Über>icht  über  das 
System  der  Gymnospermen  und  der  Angiospermen. 
Der  Besprechung  der  einzelnen  Familien  und 
ihrer   wichtigsten   Vertreter   geht   beide  Male  ein 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  10 


allgemeiner  Abschnitt  über  die  Vegetations-  und 
Reproduktionsorgane  sowie  die  phylogenetischen 
Verwandtschaftsverhältnisse  voraus.  Bei  dem 
knappen  Raum  mußte  sich  der  Verf.  natürlich 
auf  das  Wichtigste  beschränken;  er  hat  es  aber 
verstanden,  durch  übersichtliche  Gliederung  und 
ansprechende  Darstellung  dem  Leser  Interesse 
für  den  immerhin  etwas  spröden  Stoff  abzuge- 
winnen. 

Eine  ganze  Reihe  von  Textabbildungen,  sowie 
mehrere  z.  T.  farbige  Tafeln  sind  dem  empfehlens- 
werten Büchlein  beigegeben.  Esmarch. 


Literatur. 


Adametz,  Leopold,   Herkunft   und   Wande- 
rungen der  Hamiten,   erschlossen  aus 
ihren  Haustierrassen.    (Osten  und  Orient, 
I.  Reihe:  Forschungen,  2.  Bd.)     8".     107  S.    24 
Kunstdrucktafeln    mit    44    Abb.      Wien     1920, 
Verlag   des  Forschungsinstitutes    für  Osten  und 
Orient.     [Zu  beziehen  durch  Otto  Harrassowitz, 
Leipzig.]     30  M. 
Es  wird  hier  systematisch  die  Haustierforschung 
zur  Lösung  ethnologischer  Probleme  herangezogen. 
Nach  Adametz'  Untersuchung  der  ältesten,  den 
Sumerern   und  vordynasiischen  Ägyptern  gemein- 
samen    Haustierrassen     muß     die     Geburtsstätte 
sumerisch  hamitischer  Kultur   mehr   oder  weniger 
in  den  Gegenden    des    heutigen  Afghanistan,    Be- 
ludschistan    und    anschließenden    Persien    gelegen 
gewesen  sein;   ja   sie    dürfte   sich    sogar  noch  bis 
ins    nordwestliche    Indien    erstreckt    haben.       Auf 
gleichem  Wege  kommt  der  Verf  zu  dem  zweiten 
Hauptergebnis,  daß  eine  der  ältesten  Besiedelungen 
Afrikas  —  und  zwar  jene,  die  die  ersten  Anfänge 
der    Kultur    und    die    ersten    Haustiere    mit    sich 
brachte  —  nur  vom  Norden    her   über  die  Land- 
enge von  Suez  erfolgt  sei. 

Der  Zweck  meiner  Anzeige  an  dieser  Stelle 
kann  nur  sein,  auf  Adametz'  neuartige 
Forschungswege  hinzuweisen.^)  Auf  Einzelheiten 
können  wir  uns  hier  nicht  einlassen.  Wie  sich 
die  afrikanistische  Wissenschaft  zu  Adametz' 
Folgerungen  von  den  Wanderungen  der  Hamiten 
zu  stellen  hat,  wird  Bernhard  Struck  in  seinem 
demnächst  erscheinenden  Buche  über  Völkerpro- 
bleme in  Afrika  noch  mit  berühren. 

Dresden.  Rudolph  Zaunick. 

')  Der  Titel  des  Buches  müßte  vielleicht  richtiger  lauten : 
Die  hamitischen  Hauslierrassen,  mit  Rückschlüssen  auf  die 
Herkunft  und   Wanderungen  der  Hamiten. 


Cassirer,  E, ,  zur  Einsteinschen  Relativitätstheorie. 
Berlin  '21,  B.   Cassirer. 

Wenz,  Dr.  M.,  Geologie.  Nr.  5— 7  der  Sammlung  „Die 
Auskunft"  usw.     Heidelberg,  M.   Ehrig. 

Oppenheiraer,  Prof.  Dr.  C,  Kleines  Wörterbuch  der 
Biochemie  und  Pharmakologie.  Berlin  und  Leipzig  '20,  de 
Gruyier.     16  M. 

Kaiser,  Prof.  Dr.  E.,  Bericht  über  geologische  Studien 
während  des  Krieges  in  Südwestafrika.  Gießen  '20,  A.  Töpel- 
mann.     6  M. 

Niggli,  Prof.  Dr.  P. ,  Lehrbuch  der  Mineralogie.  Mit 
560  Textfig.     Berlin   '20,  Gebr.  Bornträger.     80  M. 

France,  R.  H.,  Zoesis.  Eine  Einführung  in  die  Gesetze 
der  Well.     München  '20,  F.  Ilanfstaengel.     5,50  M. 

Falck,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Arzneibücher  (Pharmakopoen) 
vergleichend  besprochen  mit  einem  Verzeichnis  der  Arznei- 
bücher.    Leipzig  '20,  J.   A.  Barth.     24  M. 

Much,  Prof.  Dr.  H.,  Die  Partigengesetze  und  ihre  All- 
gemeingüliigkeit.  Erkenntnisse,  Ergebnisse,  Erstrebnisse.  Leip- 
zig '20,  C.  Kabitzsch.     15  M., 

Burgerstein,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Transpiration  der 
Pflanzen.  2.  Teil  (Ergänzungsband).  Jena  '20,  G.  Fischer. 
35  M- 

Lang,  Prof.  Dr.  R.,  Verwitterung  und  Bodenbildung  als 
Einführung  in  die  Bodenkunde.  Stuttgart  '20,  E.  Schweizer- 
barth.    24  M. 

Hildebrandt,  Dr.  K.,  Norm  und  Verfall  des  Staates. 
Dresden  '20,  Sibyllen-Verlag.     23  M. 

Hildebrandt,  Dr.  K.,  Norm  und  Entartung  des  Men- 
schen.    Ebenda.     27  M. 

Roscoe,  Sir  H.,  Ein  Leben  der  Arbeit.  Erinnerungen. 
Übersetzt  von  R.  Thesing.  Mit  21  Abb.  Leipzig  '19,  Aka- 
dem.  Verlagsgesellschaft.     41,60  M. 

Engelhardt,  Dr.  V.,  Einführung  in  die  Relativitäts- 
theorie. 

Fricke,  Dr.  H.,  Die  neue  Erklärung  der  Schwerkraft. 
Kurzgefaßte  und  gemeinverständliche  Darstellung.  Wolfen- 
büttel '20,  Heckner.     6,60  M. 

Fricke,  Dr.  H.,  Der  Fehler  der  Einsteinischen  Rela- 
tivitätstheorie.    Ebenda.      10  M. 

Loele,  W.,  Die  Phenolreaktion  (Aldaminreaktion)  und 
ihre  Bedeutung  für  die  Biologie.  Mit  2  Textfig.  u.  24  Photo- 
grammen.    Leipzig  '20,   W.  Klinkhardt.     12  M. 

Weizen,  Dr.  S.  K.,  Thoden  van,  Psychoencephale  Studien. 
V.  verm.  Aufl.     Joachimsthai  i.  d.  M.  '20,   Weizen. 

Hennig,  Prof.  Dr.  E.,  Strukturelle  und  skulpturelle  Züge 
im  Antlitz  Württembergs.  Mit  15  Textabb.  Öhringen  '20. 
F.  Rau.     5,70  M. 

Wegner,  Prof.  Dr.  G. ,  Die  Landschaftsformen  von 
Württembergisch  Franken.  Mit  besonderer  Berücksichtigung 
des  Muschelkalkgebietes.     Ebenda.     4,20  M. 

Pfeiffer,  Dr.  L.,  Die  Werkzeuge  der  Steinzeitmenschen. 
Mit  540  Textabb.     Jena  '20,  G.  Fischer.     48  M. 

Gerke,  Dr.  O.,  Kurzes  Lehrbuch  der  Pflanzenkunde. 
Mit  40  Abb.     Hannover  '20,  M.  u.  H.  Schaper.     23,80  M. 

Wegen  er,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Entstehung  der  Kontinente 
und  Ozeane.  2.,  gänzlich  umgearbeitete  Aufl.  Mit  33  Abb. 
Braunschweig  '20,  F.  Vieweg.     12  M. 

Hauser,  Dr.  O.,  Ins  Paradies  des  Urmenschen.  25  Jahre 
Vorweltforschung.  Mit  18  Bildertafeln.  Hamburg  und  Ber- 
lin '20,  Hoffmann  u.   Campe. 


Inhalt:  M.  Rauther,  Deszendenzprobleme,  erörtert  am  Fall  der  Steinheimer  Planorben.  (3  Abb.)  S.  145.  —  Einzel- 
bericbte:  Karstedt,  Blastogener  Hermaphroditismus.  S.  152.  Andre,  Über  die  Ursachen  des  periodischen  Dicken- 
wachstums des  Stammes.  S.  153.  C.  Domo,  Einflüsse  des  Klimas  auf  die  Gesundheit.  S.  153.  J.  Barlot,  Neue 
Farbreaktionen  zur  Unterscheidung  der  Pilze.  S.  154.  B.  Walter,  Solarisationserscheinungen  (Umkehrerscheinungen) 
in  photographischen  und  röntgenographischen  Aufnahmen.  S.  155.  Reuter,  Ppiropterakrankheit  bei  Vögeln.  S.  155. 
R.  Cloos,  Geologie  der  Schollen  in  schlesischen  Tiefengesteinen.  S.  156.  C.  B.  Davenp  ort  und  A.  G.  Love, 
Körpermängel  in  den  vereinigten  Staaten  von  Amerika.  S.  157.  Tröndle,  Neue  Untersuchungen  über  die  Aufnahme 
von  Stoffen  in  die  Zelle.  S.  158.  —  Bücherbesprechungen:  H.  Mosler,  Einführung  in  die  moderne  drahtlose  Tele- 
graphie  und  ihre  praktische  Anwendung.  S.  158.  H.  Günther,  Elektrotechnik  für  Alle.  S.  158.  A.  Binz,  Schul- 
und  Exkursionsflora  der  Schweiz.  S.  158.  A.  Voigt,  Exkursionsbuch  zum  Studium  der  Vogelstimmen.  S.  159.  Das 
Pflanzenreich.  S.  159.  P.  Brohmer,  Fauna  von  Deutschland.  S.  159.  W.  Wenz,  Geologie.  S.  159.  E.  Ulbrich, 
Pflanzenkunde.  S.  15g.  L.  Adametz,  Herkunft  und  Wanderungen  der  Hamiten,  erschlossen  aus  ihren  Haustierrassen. 
S.   160.  —  Literatur:  Liste.  S.  160. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  :)6.  Band. 


Sonntag,  den  13.  März  1921. 


Nummer  11. 


Über  Altern  und  Verjüngung.*) 


tNachdnick  verboten.]  Von   Dr.  med. 

Soweit  wir  in  der  Geschichte  des  mensch- 
lichen Geistes  zurückblicken,  überall  und  immer 
wieder  sehen  wir  die  Frage  auftauchen,  weshalb 
der  Mensch  altere  und  vergehe,  weshalb  nur  den 
Göttern  und  nicht  auch  ihm  ewige  Jugend  ver- 
liehen sei.  Priester  und  Philosophen,  Ärzte  und 
Naturforscher  haben  sich  seit  jeher  mit  diesem 
Problem  eifrigst  beschäftigt.  Wir  wollen  hier  aber 
von  jeder  geschichtlichen  Erörterung  absehen  und 
nur  in  aller  Kürze  zusammenfassen,  was  die  heutige 
Wissenschaft  vom  Leben,  die  Biologie,  uns  auf 
diese  uralte  Menschheitsfrage  zu  antworten  hat. 

Wenn  wir  unser  eigenes  Leben,  das  Leben 
unserer  Mitmenschen,  ja  der  ganzen  lebendigen 
Umwelt  verfolgen,  so  sehen  wir  überall  einen 
völlig  gesetzmäßigen  Ablauf:  Entstehung,  Ent- 
wicklung, Wachstum,  Stillstand;  dann  der  ab- 
steigende Teil  der  Kurve :  Niedergang,  Ende,  Auf- 
lösung. Auch  wenn  keine  äußeren  Ursachen,  wie 
Krankheiten,  Unfälle  u.  dgl.  hinzutreten,  geht  aus 
inneren  Ursachen  jedes  Leben  aus  in  Altern  und 
Tod.  Dieser  physiologische  Tod  ist  freilich  außer- 
ordentlich selten.  Nach  der  amtlichen  Statistik 
sterben  in  Preußen  90  "jg  aller  Menschen  an  Krank- 
heiten, nur  10  "/o  an  Altersschwäche.  Aber  selbst 
diese  Zahl  ist  unzutrefifend.  Genaue  Sektionen 
haben  uns  gelehrt,  daß  auch  bei  alten  Leuten  fast 
immer  eine  Krankheit  die  Todesursache  ist,  und 
die  Behauptung  Nothnagels,  daß  von  1 00 000 
Menschen  vielleicht  einer  an  wirklicher  Alters- 
schwäche sterbe,  besteht  auch  heute  noch  zu  recht. 

Die  Wissenschaft  hat  die  Gesetze  des  Lebens- 
ablaufs nach  allen  Richtungen  hin  durchforscht, 
viele  Rätsel  gelöst,  die  wichtigsten  freilich,  die 
Endfragen ,  wie  immer  ungelöst  gelassen.  Was 
das  Alter  kennzeichnet,  weiß  jeder,  auch  ohne 
Biologe  oder  Arzt  zu  sein.  Wir  alle  kennen  die 
Veränderungen  der  Haut  und  Haare,  die  Steifig- 
keit der  Gelenke,  Brüchigkeit  der  Knochen,  Ab- 
nahme der  Muskelkräfte,  Abnahme  der  Sinnes- 
empfindungen, besonders  die  Alterssichtigkeit, 
Nachlassen  des  Gedächtnisses  und  der  Intelligenz, 
gewisse  seelische  Veränderungen  wie  Egoismus, 
Geiz  usw.  Besonders  wichtig  ist  der  nachweis- 
bare Schwund  der  inneren  Organe.  Schon  den 
alten  Ägyptern  war  dies  gelegentlich  der  Balsa- 
mierung der  Leichen  aufgefallen.  Sie  nahmen  an, 
daß  z.  B.  das  Herz  bis  zum  50.  Leben.^jahre  jähr- 
lich um  2  Drachmen  zunähme,  von  dann  in 
gleichem  Maße  wieder  ab.  Wenn  auch  dies  nicht 
so  genau  zutrifft,  grundsätzlich  ist  die  Beobachtung 
richtig.  Wir  finden  in  der  Tat  bei  Greisen  eine 
Verkleinerung  des  Herzens,  der  Leber,  Nieren  usw. ; 


E.  Liek,  Danzig. 

das  Gehirn  z.  B.  füllt  die  Schädelkapsel  nicht  mehr 
aus.  Sehr  zu  beachten  ist  die  Tatsache,  daß  diese 
Vorgänge  nicht  an  ein  bestimmtes  Alter  gebunden 
sind.  So  wissen  wir  z.  B.  daß  die  Fähigkeit  der 
Linse,  ihre  Gestalt  verschiedenen  optischen  Auf- 
gaben anzupassen,  von  der  Geburt  an  gleich- 
mäßig abnimmt,  daß  also  die  Alterssichtigkeit  nur 
eine  Stufe  einer  bestimmten  Entwicklung  darstellt. 
Wir  kennen  Organe  wie  die  Urniere,  die  schon 
während  des  Embryonallebens  ihre  Aufgabe  er- 
füllt haben  und  zugrunde  gehen.  Andere  Or- 
gane wie  die  Thymusdrüse  stellen  ihre  Tätigkeit 
in  der  Pubertät  ein  und  verfallen  dem  Alters- 
schwund. Aus  diesem  Grunde  hat  Virchow 
nicht  mit  Unrecht  das  Leben  ein  langsames 
Sterben  genannt.  Diese  Tatsachen  erklären  auch 
die  Unmöglichkeit,  wissenschaftlich  einen  be- 
stimmten Zeitpunkt  festzusetzen,  von  dem  an  das 
Altern  beginnt.  Wir  werden  noch  sehen ,  daß 
ganz  einschneidende  Veränderungen  im  Sinne  des 
Alterns  schon  bei  der  Geburt  einsetzen. 

Mikroskopisch  finden  wir,  daß  der  Schwund 
der  Organe  auf  einer  Abnahme  und  Schrumpfung 
gerade  der  wichtigsten  Bestandteile,  der  Zellen, 
beruht.  Sie  wissen,  daß  unser  Körper  aus  Mil- 
liarden einzelner  Zellen  zusammengesetzt  ist,  einen 
Zellenstaat  darstellt.  Diese  Zellen,  die  Träger  des 
Lebens,  schwinden  im  Alter,  die  Zwischensubstanz, 
das  für  den  Lebensprozeß  viel  weniger  wichtige 
Bindegewebe,  nimmt  zu.  Es  ist  natürlich  nicht 
gleichgültig,  wo,  in  welchen  Organen,  diese  Wand- 
lung stattfindet.  Es  genügt,  daß  in  ganz  be- 
grenzten Provinzen  des  Zellenstaates,  sofern  sie 
nur  lebenswichtig  sind,  solche  Veränderungen  auf- 
treten, um  den  Fortbestand  des  ganzen  Organis- 
mus zu  gefährden.  Die  Brüchigkeit  der  Knochen, 
die  Abnahme  der  Muskelkraft,  die  Alterssichtig- 
keit z.  B.  sind  für  den  Lebensvorgang  ziemlich 
belanglos.  Der  Schwund  der  Herzmuskelzellen 
aber,  die  Zunahme  des  Bindegewebes  in  den 
Blutgefäßen,  die  dadurch  ihre  Elastizität  einbüßen 
und  starrwandig  werden,  können  den  Lebensprozeß 
erheblich  stören  und  endlich  aufheben.  Man  war 
früher  geneigt,  diesen  Veränderungen  im  Herzen 
und  in  den  Blutgefäßen  die  größte  Bedeutung 
für  Altern  und  Tod  zuzuschreiben.  Man  brachte 
diese  Anschauung  in  Formeln  wie:  jeder  Mensch 
hat  das  Alter  seiner  Gefäße,  oder:  jeder  Mensch 
stirbt  am  Herzen,  an  Herzschwäche.  Wir  sind 
heute  von  dieser  Vorstellung  abgekommen.     Ein 


')  Nach    einem  Vortrag   in   der  Naturforschenden  Gesell- 
schaft zu  Danzig  am   5.  Januar   1921. 


102 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  II 


russischer  Forscher  Kuljabko  hat  gezeigt,  daß 
auch  dort,  wo  anscheinend  ein  ganz  sicherer  Herz- 
tod vorliegt,  die  Herzmuskelzellen  funktionsfähig 
bleiben.  Er  entnahm  z.  B.  Kindern,  die  infolge 
einer  Diphtherie  unter  schweren  Vergiftungser- 
scheinungen gestorben  waren  —  für  uns  Ärzte 
ein  sicherer  Herztod  — ,  ich  sage,  er  entnahm  den 
Leichen  das  Herz,  einmal  sogar  24  Stunden  nach 
erfolgtem  Tode,  brachte  es  in  geeignete  Nähr- 
flüssigkeit, führte  Sauerstoff  zu  und  siehe  da,  das 
anscheinend  tote  Organ  begann  wieder  zu  schlagen 
Und  viele  Stunden  regelrecht  zu  arbeiten. 

Diese  und  andere  Beobachtungen  haben  uns 
gelehrt,  die  Ursache  des  Todes,  auch  des  physio- 
logischen Todes  an  Altersschwäche,  nicht  im 
Herzen,  sondern  im  Zentralnervensystem  zu  suchen. 
Wir  wissen,  daß  von  einer  bestimmten  Gruppe 
von  Nervenzellen  —  im  verlängerten  Mark  — 
Atmung  und  Herztätigkeit  unterhalten  und  ge- 
regelt werden.  Versagen  diese  Nervenzellen,  sei 
es  infolge  Krankheit,  sei  es  durch  Altersverände- 
rungen, auf  die  wir  noch  zurückkommen,  dann 
hört  die  kunstvolle  Arbeit  des  Herzens  auf,  das 
Leben  erlischt. 

Doch  brechen  wir  diese  Betrachtungen,  die  uns 
zu  weit  von  unserem  Thema  wegführen  würden, 
ab  und  kehren  zu  den  Altersveränderungen  zurück. 
Wir  wissen  jetzt,  ungefähr  wenigstens,  wie  wir 
altern,  wir  fragen,  warum  wir  altern. 

Der  Vergleich   des  menschlichen  Körpers  mit 
einer  sehr  kunstvoll   gebauten  Maschine,    die  sich 
im  Laufe   der   Zeit    durch    die    ständig   geleistete 
Arbeit  abnutzt,    schließlich  unbrauchbar  wird  und 
stillsteht,   hegt  nahe  und  ist  auch  häufig  gezogen 
worden.      Er    trifft    aber    nicht    ganz    zu.      Auch 
wenn    ich    von    der    Fortpflanzung,    also    der   Er- 
zeugung    neuer    Maschinen,     absehe,     hat     der 
lebendige     Organismus     vor     der     kunstvollsten 
Maschine  ungleich  viele  Vorteile:    er  paßt  sich  in 
vollendeter   Weise    wechselnden     äußeren    Bedin- 
gungen an  (in  dieser  Weise   hat   man   das  Leben 
überhaupt  definiert),   er   ersetzt   selbsttätig  schad- 
haft gewordene  Teile,  ja  er  erneuert  sich  von  Zeit 
zu  Zeit.    Wir  wissen  z.  B.,  daß  unsere  roten  Blut- 
körperchen (5  Millionen  in  einem  Kubikmillimeter 
Blut)   nur  14  Tage   leben   und   dann   durch   neue 
ersetzt  werden.    Wir  wissen,  daß  die  Zellen  unserer 
Haut  und  Schleimhäute    einem  ständigen  Erneue- 
rungsprozeß unterliegen.     Die  alten,  unbrauchbar 
gewordenen    Zellen    schilfern    an    der    Oberfläche 
ab,  immer  wieder  frische  wachsen  aus  den  tieferen 
Schichten    nach.     Ja   man   hat  berechnet  (Mole- 
schott),   daß   der   menschliche   Körper   in   etwa 
7  Jahren    seinen    ganzen    Zellenbestand    erneuert. 
Aber  nicht  nur  der  Körper  als  Ganzes  ändert  sich, 
sondern   auch    die    einzelnen    Organe.      Immerfort 
wird    Verbrauchtes   abgetragen,    völlig   selbsttätig 
werden    im  Laufe    des  Lebens    Organe,    die   ihren 
Zweck  erfüllt    haben,    in  Ruhe    gesetzt,    neue    Or- 
gane entwickeln   sich  usw.      Wir  sehen,    der  Ver- 
gleich   des    Alterns    mit     der    Abnutzung     einer 
Maschine,  ein  Vergleich,  den  Männer  der  Wissen- 


schaft, wie  Virch'ow  und  Verworn,  gezogen 
haben,  trifft  nicht  ganz  zu.  An  sich  besteht  zu- 
nächst kein  Zweifel,  daß  der  lebende  Organismus, 
also  auch  der  Mensch,  sehr  viel  länger  ausdauem 
könnte  als  es  tatsächlich  der  Fall  ist.  Weshalb, 
fragen  wir  wieder,  altert  er  trotzdem? 

Viel  Aufsehen  hat  seinerzeit  die  Antwort  er- 
regt, die  Metschnikoff  auf  diese  Frage  gab: 
der  Mensch  altert  infolge  Vergiftung  des  Körpers 
durch  die  Stoffwechselprodukte  seiner  Darm- 
bakterien. Wir  wissen,  daß  der  Darm,  besonders 
der  Dickdarm,  von  ungeheuren  Mengen  Bakterien 
—  ein  Forscher  hat  ihre  Zahl  auf  100 000  Milliarden 
berechnet  —  bevölkert  ist.  Die  Stoffwechselpro- 
dukte dieser  Bakterien  schädigen  nach  M.  den 
Körper,  besonders  die  empfindlichen  Nervenzellen, 
die  dann  von  Freßzellen  (Phagozyten)  zerstört 
und  durch  Bindegewebe  ersetzt  werden.  Tiere, 
die  einen  kurzen  Darm  haben,  wie  z.  B.  die  Vögel, 
leben  länger.  Man  sollte,  folgert  M.,  dem  Menschen 
den  Dickdarm  ausschneiden  oder,  da  wohl  nur 
wenige  für  diesen  immerhin  gefährlichen  Eingriff 
zu  haben  sein  werden,  zum  mindesten  die  schäd- 
lichen Darmbakterien  durch  harmlose,  z.  B.  Milch- 
säurebazillen verdrängen;  daher  Empfehlung  des 
Genusses  saurer  Milch. 

M.  hat  sich  die  Sache  doch  etwas  zu  leicht 
gemacht.  Viele  seiner  Behauptungen  stimmen 
einfach  nicht.  So  gibt  es  Tiere,  die  als  Pflanzen- 
fresser einen  langen  Darm  haben  und  doch  sehr 
lange  leben,  z.  B.  der  Elefant  2CX)  Jahre.  M.  hatte 
ferner  behauptet,  es  gäbe  in  Bulgarien  viel  mehr 
alte  Leute  als  anderswo,  und  zwar  aus  dem  Grunde, 
weil  die  Hauptnahrung  der  ländlichen  Bevölkerung 
in  saurer  Milch  bestände.  Auch  das  ist  nicht 
richtig.  Es  gibt  in  Bulgarien  viele  alten  Leute,  aber 
noch  mehr  Analphabeten;  die  Landleute  kennen 
oft  ihr  Geburtsjahr  nicht  und  bezeichnen  sich, 
wenn  sie  ein  hohes  Alter  erreicht  haben,  kurzweg 
als  Hundertjährige. 

Also  mit  dieser  Theorie  war  es  nichts.  Er- 
wähnenswert ist  hier  vielleicht  der  Umstand,  daß 
viele  Wundermittel  zur  Lebensverlängerung,  so  das 
„Lebensmanna"  des  Grafen  von  St.  Germain,  auch 
nichts  weiter  waren  als  starke  Abführmittel. 

Tiefer  als  Metschnikoff  faßte  Weismann 
das  Problem  des  Alterns  auf.  Nach  ihm  liegt  der 
Natur  nur  an  der  Gattung,  nicht  am  Einzelwesen. 
Daher  sind  nur  die  Geschlechtszellen,  das  Keim- 
plasma, unsterblich,  die  Einzelzellen  sind,  sobald 
der  Zweck  der  Fortpflanzung  erfolgt  ist,  über- 
flüssig, sie  altern  und  vergehen.  Weismann 
erklärt  den  Tod  als  eine  Zweckmäßigkeitsein- 
richtung der  Natur;  durch  ihn  wird  Platz  ge- 
schaffen für  neues  Leben.  Die  Arbeiten  Weis- 
manns  haben  Anlaß  gegeben  zu  einer  großen 
Reihe  von  Untersuchungen  über  Beziehungen 
zwischen  Lebensdauer  und  Fortpflanzung,  zwischen 
Geschlechtszellen  und  den  übrigen  Körperzellen, 
usw.  Bütschli  und  später  v.  Hanse  mann 
z.  B.  nahmen  ein  Ferment  an,  daß  in  den  Keim- 
drüsen  gebildet  werde,    auf   den    übrigen  Körper 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


163 


einwirke  und  ihn  jung  erhalte.  Mit  dem  im  Alter 
einsetzenden  Schwund  dieser  Drüsen  sei  auch  der 
Leib  dem  Altern  und  dem  Tode  verfallen.  Ich 
muß  es  mir  versagen,  auf  diese  Fragen,  die  reich 
an  Widersprüchen  sind,  hier  näher  einzugehen. 

Hertwig  hat  aufmerksam  gemacht  auf  die 
Wechselbeziehungen  zwischen  Zelleib  und  Zell- 
kern; im  jugendlichen  Körper  viel  Zellmasse  und 
ein  verhältnismäßig  kleiner  Kern,  im  weiteren 
Leben  eine  fortschreitende  Verkleinerung  des  Zell- 
leibes im  Vergleich  zum  Zellkern.  Diese  Ver- 
armung an  Protoplasma  führe  endlich  zum  Unter- 
gang des  Organismus. 

F"riedenthal  weist  darauf  hin ,  daß  der 
Körper,  abgesehen  von  den  Zellen,  aus  deren  Ab- 
kömmlingen, den  sog.  Zwischensubstanzen,  bestehe. 
Dies  Zwischengewebe,  eine  funktionell  tote  Masse, 
nehme  im  Laufe  des  Lebens  immer  mehr  zu,  der 
aktiv  täüge  Zellenanteil  ab.  Schließlich  werde 
der  mechanische  Anteil  am  lebenden  Organismus 
so  groß,  daß  er  den  aktiv  tätigen  unterdrücke. 

Pflüger  erklärt  den  Ablauf  des  Lebens  durch 
einen  Wachstumstrieb  aller  lebenden  Substanz. 
Mißt  man  z.  B.  die  Zeit,  die  ein  Lebewesen  braucht, 
um  sein  Gewicht  zu  verdoppeln,  so  sehen  wir 
diese  Zeiten  immer  länger  werden  (Mi not, 
Friedenthal).  Die  befruchtete  Eizelle  wächst 
ungeheuer  schnell  (ein  Körper  von  75  kg  ist 
iSocxD  Millionen  mal  so  schwer  als  die  Eizelle). 
Beim  Eintritt  ins  Leben  hat  der  Mensch  bereits 
V20  seines  Gewichtes  erreicht,  am  Ende  des 
I.  Lebensjahres  schon  */a  bis  '/?>  verdoppelt  sich 
jetzt  also  höchstens  noch  dreimal  in  immer  länger 
werdenden  Zeiträumen.  Ist  der  Körper  ausge- 
wachsen, dann  reicht  der  Wachstumstrieb,  den  sich 
Pflüger  an  eine  besondere  Zellsubstanz  gebunden 
vorstellt,  gerade  hin,  um  das  Leben  zu  erhalten. 
Ist  die  Substanz  verbraucht,  so  daß  Verluste  nicht 
mehr  ersetzt  werden  können,  dann  verfällt  der 
Organismus  der  Atrophie  und  dem  Tode. 

Ahnlich  sind  die  Gedankengänge  Rubners 
über  die  Beziehungen  des  Stoffwechsels  zur  Lebens- 
dauer. Die  lebendige  Substanz  hat,  abgesehen 
von  Wachstum  und  Wiederaufbau,  die  Fähigkeit, 
die  ihr  in  der  Nahrung  zugeführte  Energie  je  nach 
Bedürfnis  in  Arbeit  und  Wärme  umzuwandeln. 
Aber  das  Maß  dieser  Energieumwandlung  ist  be- 
schränkt. Beim  Menschen  ist  nach  den  Berech- 
nungen Rubners  bis  zum  Eintritt  der  Pubertät  ^|^, 
bei  vollendetem  Wachstum  Vs  der  Energie  ver- 
braucht. Ist  diese  Fähigkeit  der  lebenden  Sub- 
stanz erschöpft,  so  hört  schließlich  jeder  Ersatz 
auf,  es  erfolgt  naturnotwendig  Zusammenbruch 
und  Tod. 

Auch  gegen  diese  Gedankengänge  sind  ge- 
wichtige Bedenken  erhoben.  Man  hat  darauf  hin- 
gewiesen, daß  der  Stoffwechsel  bei  Greisen  nicht 
wesentlich  herabgesetzt  ist,  daß  Wunden  und 
Knochenbrüche  auch  bei  alten  Leuten  ausge- 
zeichnet, wenn  auch  etwas  langsamer,  heilen  usw. 
Ich  gehe  auf  das  Für  und  Wider  hier  nicht  näher 
ein.     Eins  nur   ist   seltsam.    Wer   wird   bei  dem 


Wachstumstrieb  Pflügers,  bei  der  Energie  der 
Biogene  Rubners  nicht  an  einen  Begriff  erinnert, 
der  in  früheren  Zeiten,  noch  vor  100  Jahren,  die 
größte  Rolle  spielte  und  dann  Jahrzehnte  lang  in 
der  Wissenschaft  streng  verpönt  war.  Ich  meine 
den  Begriff  der  Lebenskraft,  des  Vitalismus.  Die 
Wiederkehr  dieses  Ausdrucks  als  Wachstumstrieb, 
als  Zellenergie,  in  neuester  Zeit  als  ererbte  An- 
lage, als  Konstitution,  beweist,  daß  wir  das  rein 
materialistische  Denken  in  der  Naturwissenschaft, 
die  Zeit,  in  der  wir  uns  vermaßen,  die  Lebens- 
vorgänge nur  chemisch-physikalisch  erklären  zu 
können,  überwunden  haben.  Wir  sagen  heute 
nicht  mehr,  das  Leben  ist  bedingt  durch  physi- 
kalisch-chemische Prozesse,  sondern  es  verläuft 
unter  physikalisch-chemischen  Vorgängen. 

Alle  bisher  genannten  Erklärungen  haben  etwas 
Unbefriedigendes.  Sie  erklären  eigentlich  nicht, 
sondern  umschreiben  nur  Vorgänge,  die  wir  beim 
Ablauf  eines  Lebens  beobachten.  Das  Leben  eines 
Zellenstaates,  nun  gar  des  Menschen,  der  die  natür- 
lichen Lebensbedingungen  durch  Wohnung,  Klei- 
dung, Art  der  Ernährung,  kurz  durch  das,  was 
wir  Zivilisation  nennen,  vielfach  von  Grund  auf 
geändert  hat,  ich  sage,  das  Leben  eines  solchen 
Zellenstaates  beruht  auf  zu  verwickelten  und  schwer 
zu  übersehenden  Vorgängen,  um  so  grundlegende 
Fragen  wie  die  nach  Altern  und  Tod  beantworten 
zu  können.  Ist  denn,  fragen  wir  jetzt,  Altern  und 
Tod  wirklich  eine  notwendige  Erscheinung  alles 
organischen  Lebens?  Verlassen  wir  den  Vielzellen- 
verband ,  wie  ihn  die  höheren  ■  Tiere  darstellen 
und  wenden  wir  uns  zu  den  einfachsten  Lebe- 
wesen, die  nur  aus  einer  einzigen  Zelle  bestehen. 
Wir  stoßen  auf  die  überraschende  Tatsache,  daß 
hier  der  Tod  unbekannt  ist.  Zwar  bleibt  das 
Einzelwesen  als  solches  nicht  bestehen,  aber  es 
zerfällt  jede  Zelle  durch  einfache  Teilung  in  2  gleich 
große,  neue  Zellen  usf  Es  bleibt  kein  Rest,  es 
gibt  keine  Leiche,  keine  Verwesung. 

Die  Frage  der  Unsterblichkeit  der  Einzeller  ist 
lange  heftig  umstritten  worden,  jetzt  aber  in 
positivem  Sinne  entschieden.  Frühere  Unter- 
sucher (Maupas,  Calkins,  Hertwig)  hatten 
gefunden,  daß  in  Einzellerkulturen  nach  einiger 
Zeit,  sagen  wir  nach  3,  4,  500  Generationen, 
Alterserscheinungen  auftreten.  Die  Tierchen  werden 
kleiner,  es  werden  weniger  Geißelfaden  gebildet, 
der  Zelleib  trübt  sich,  kurz  es  treten  Alterser- 
scheinungen auf  (Depression),  die  dann  auch  schließ- 
lich zum  Aufhören  der  Teilungen  und  zum  Tode 
der  Einzelwesen  führen.  Woodruff  konnte  nun 
in  einer  großen  Reihe  ausgezeichneter  Beobach- 
tungen mit  unwiderstehlicher  Beweiskraft  zeigen, 
daß  das  Altern  und  Absterben  der  Einzeller  aus- 
schließlich auf  die  Überladung  der  Nährflüssigkeit, 
also  des  Wassers,  mit  Stoffwechselprodukten  zu- 
rückzuführen sei.  Er  beobachtete  die  Teilung 
eines  Einzellers  (Paramaecium,  Pantoffeltierchen) 
unter  dem  Mikroskop  im  hängenden  Tropfen  und 
brachte  jedesmal  nach  der  Teilung  das  eine  Tier- 
chen   in   neue  Nährflüssigkeit.     Er    fuhr    so    fort. 


164 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  II 


7  Jahre  lang,  durch  nahezu  5000  Generationen, 
ohne  daß  Erscheinungen  des  Alterns,  geschweige 
denn  des  Absterbens  nachzuweisen  waren.  Woo- 
druff wies  ferner  nach,  daß  nur  die  eigenen  Stoff- 
wechselprodukte schädlich  wirkten.  Brachte  er 
z.  B.  Pantoffeltierchen,  die  er  lange  in  derselben 
Kulturflüssigkeit  gezüchtet  hatte,  und  die  infolge 
dessen  die  erwähnten  Alterserscheinungen  auf- 
wiesen, in  eine  von  anderen  Einzellern  belebte 
Nährlösung,  die  also  auch  gesättigt  war  von  Stoff- 
wechselprodukten, aber  von  fremden,  so  lebten 
die  Pantoffeltierchen  wieder  auf,  teilten  sich, 
usw.  usw. 

Die  Schlußfolgerung  aus  diesen  Versuchen  ist, 
daß  ein  ungestörter  Stoffwechsel,  d.  h.  hinreichende 
Zufuhr  von  Nährstoffen,  ausreichende  Abfuhr  der 
Stoffwechselschlacken  dem  Einzeller  ein  unbegrenzt 
langes  Leben  sichern.  Noch  eine  wichtige  Be- 
obachtung konnte  W.  bei  seinen  Versuchen  machen. 
Auch  in  stets  frischer  Nährlösung  wurden  von 
Zeit  zu  Zeit  die  Teilungen  seiner  Versuchstierchen 
langsamer.  W.  konnte  in  solchen  Pausen  be- 
obachten, wie  bei  der  Teilung  der  Zellen  Anteile 
der  Kernsubstanz  ganz  abgestoßen  wurden.  Auf 
diese  Weise  kam  eine  Verjüngung  zustande,  die 
weiteren  Lebensäußerungen,  Teilungen  usw.  er- 
folgten wieder  regelmäßig. 

Andere  Maßregeln  der  Einzeller,  dem  drohenden 
Alter  und  Tod  zu  entgehen,  wie  die  Vereinigung 
zweier  Zellen  (Kopulation,  Vorläufer  der  ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung),  sowie  die  Einkapse- 
lung  übergehen  wir.  Für  unsere  Betrachtungen 
kommt  nur  der  ausgiebige  Stoffwechsel  und  die 
fortdauernde  Zellteilung  mit  gelegentlicher  Aus- 
stoßung unbrauchbar  gewordener  Kernanteile  in 
Betracht. 

Ein  Vergleich  nun  mit  den  vielzelligen  Wesen, 
zu  denen  auch  der  Mensch  gehört,  zeigt  sofort, 
wie  viel  ungünstiger  diese  gestellt  sind.  Der  Ein- 
zeller ist  rings  von  seiner  Nährflüssigkeit,  dem 
Wasser,  umgeben,  die  ganze  Oberfläche  ist  am 
Stoffwechsel  beteiligt.  Bei  den  Vielzellern  liegt 
Zelle  an  Zelle  zu  großen  Verbänden,  Organen, 
zusammengefaßt,  die  Nährflüssigkeit  wird  als  Blut 
und  Lymphe  an  die  Zellen  herangebracht.  Die 
einfachste  Überlegung  zeigt,  daß  aus  rein  mecha- 
nischen Gründen  von  einem  so  ausgiebigen  Stoff- 
wechsel wie  beim  Einzeller  keine  Rede  sein  kann. 
Es  muß  daher  zur  allmähligen  Anhäufung  von 
Stoffwechselprodukten  innerhalb  der  Zellen  kom- 
men. Diese  Stoffwechselschlacken  sind  in  der 
Tat  direkt  nachweisbar.  In  Form  von  fetthaltigen 
Farbkörnchen,  dem  sog.  lipoiden  Pigment,  treten 
sie  schon  in  den  ersten  Lebensjahren  auf,  nehmen 
immer  mehr  an  Zahl  und  Ausdehnung  zu,  bis 
sie  im  hohen  Alter  schließlich  den  ganzen  Zell- 
leib ausfüllen.  Es  kommt  zu  dem  eingangs  er- 
wähnten Altersschwund  der  Zellen,  der  sog.  Pig- 
mentatrophie. Besonders  wichtig  sind  diese 
Pigmentanhäufungen  in  den  Herzmuskelzellen  und 
in  den  Nervenzellen.  Um  ihre  Erforschung  hat 
sich    vor    allem    Mühlmann    verdient    gemacht. 


Sehr   beachtenswert    ist    die    Tatsache,    daß    wir 
gleiche   Befunde   bei  allen   Wirbeltieren,  ja  auch 
bei  niederen  Tieren  antreffen.    So  hat  H.  Hodge 
in     den     Ganglienknoten     der     alternden     Biene, 
Harms  im  Hirn  und  in  den  Schlundganglien  eines 
kleinen    Röhrenwurms   (Hydroides   pectinata)   die 
gleiche  Pigmentatrophie,   wie  sie   in  den  Nerven- 
zellen   des  menschlichen  Gehirns  vorkommt,    auf- 
gefunden.    Alle  Einwände  gegen  die  Deutung  der 
Befunde   haben   sich   bisher   nicht  als  stichhaltig 
erwiesen.     Man   hat  z.  B.  darauf  aufmerksam  ge- 
macht,   daß  hervorragende  Männer  (Bunsen  88, 
Pflüger  88,  Mommsen  86  Jahre)  bis  ins  höchste 
Alter  trotz  pigmentierter  Hirnzellen  ungeschwächte 
geistige  Kräfte  bewiesen  hätten.   Dieser  Einwand 
hält  genauer  Prüfung  nicht  stand.   Ich  sehe  davon 
ab,  daß  erfahrungsgemäß,    aus    einem    leicht    be- 
greiflichen  Gefühl   der   Ehrfurcht   heraus,   an  die 
geistigen   Leistungen   alter   Leute   ein   etwas  mil- 
derer Maßstab   angelegt    wird.     Wir   wissen  aber 
auch,    daß   stärkere   Arbeit    eine   stärkere  Durch- 
blutung bedeutet.     Ein   stark   benutztes  Großhirn 
wird  also  unter  günstigeren  Stoffwechselbedingun- 
gen leben,    und  demnach  seine  Zellen  erst  später 
und    weniger    schwer    der   Pigmentatrophie    ver- 
fallen.    Sodann  ist    überhaupt   das  Großhirn,  der 
Sitz   des   Verstandes,    für  den   rein  mechanischen 
Ablauf  der  Lebensvorgänge  nicht   von   so  großer 
Bedeutung.      Das    zeigen    Versuche    an    Hunden, 
denen  das  Großhirn  entfernt  war,  ferner  Beobach- 
tungen an  Menschen  mit  schweren  Hirnverletzun- 
gen.    Die  Nervenzellen,   die  für   unser  Leben,   für 
Altern    und    Tod,    ausschlaggebende    Bedeutung 
haben,  liegen,  wie  schon  erwähnt,  in  den  Zentren 
für  Atmung    und    Herztätigkeit,    im   verlängerten 
Mark.      Die    Pigmentatrophie    dieser    Zellen    läßt 
den  Geistiggroßen  ebenso  altern  wie  den  Geistes- 
schwachen. 

Auch  die  zweite  Möglichkeit  der  Verjüngung, 
die  wir  bei  den  Einzellern  kennen  lernten,  die 
fortgesetzte  Zellteilung,  ist  beim  Vielzeller  be- 
schränkt. Wenn  ich  eingangs  sagte,  daß  der  Zell- 
bestand unseres  Körpers  sich  immer  wieder  er- 
neuert, so  muß  ich  jetzt  eine  Einschränkung 
machen.  Gerade  die  wichtigsten  Zellen  des  Kör- 
pers machen  leider  eine  Ausnahme.  So  wissen 
wir,  daß  die  Nervenzellen,  die  im  Embryonalleben 
eine  schier  unbegrenzte  Vermehrungsfähigkeit  auf- 
weisen, sich  nach  der  Geburt  nicht  mehr  teilen. 
Gewiß,  die  einzelnen  Nervenzellen  werden  größer, 
ihre  Ausläufer  wachsen  und  vermehren  sich,  die 
Zahl  der  Zellen  nimmt  aber  nicht  mehr  zu.  Ein 
Hundertjähriger  hat  daher  auch  Nervenzellen,  die 
100  Jahre  alt  sind  und  ebenso  lange  ununter- 
brochen haben  arbeiten  müssen;  ein  Verlust  an 
Nervenzellen  ist  völlig  unersetzlich.  Das  Gleiche 
gilt  von  den  Herzmuskelzellen  und  wahrscheinlich 
auch  von  den  Zellen  der  großen  Drüsen,  wie 
Leber,  Niere  usw.  Dadurch  also,  daß  mit  der 
Geburt  die  Teilungsfähigkeit  gerade  der  wichtig- 
sten Körperzellen  aufhört,  macht  der  Mensch  beim 
Eintritt  ins  Leben  den  größten  und  folgenschwer- 


N.  F.  XX.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


165 


sten  Schritt  zu  Altern  und  Tod.  Man  kann  dies 
Verhältnis  auch  so  ausdrücken:  Altern  und  Tod 
sind  der  Preis,  den  wir  für  unsere  hohe  Organi- 
sation der  Natur  entrichten  müssen. 

Eine  vollkommenere  Organisation  wäre  viel- 
leicht denkbar,  Ansätze  dazu  sehen  wir.  So  ist 
bei  den  vielzelligen  Wesen  der  Schlaf  als  eine 
Einrichtung  zur  Regelung  und  Besserung  des 
Stoffwechsels  aufzufassen.  Bei  den  Manteltieren 
(Ascidien),  immerhin  schon  hoch  entwickelten 
Tieren,  geben  zu  gewissen  Zeiten  die  Zellen  ihre 
Differenzierung  auf,  der  verwickelte  Aufbau  des 
Körpers  nach  Organen  schwindet,  es  kommt 
wieder  zu  einer  Anhäufung  von  einfachen  Plasma- 
zellen, aus  der  heraus  sich  das  Tier  neu  verjüngt 
entwickelt.  Doch  das  sind  Ausnahmen.  Im  all- 
gemeinen —  und  das  gilt  auch  für  den  Menschen 

—  entsteht  die  unbegrenzte  Teilungsfähigkeit  der 
Zellen  erst  wieder  durch  die  Vereinigung  zweier 
verschiedengeschlechtlicher  Keimzellen,  der  Kreis- 
lauf des  Lebens  beginnt  damit  von  neuem. 

Weshalb  das  alles  so  ist,  weshalb  unser  Stoff- 
wechsel unvollkommen  eingerichtet  ist,  weshalb 
die  Nervenzellen  ihre  Teilungsfähigkeit  verlieren, 
das  sind  Fragen,  die  ebensowenig  zu  beantworten 
sind  wie  das  Rätsel  des  Lebens  überhaupt.  Alle 
naturwissenschaftliche  Forschung,  auch  die  Bio- 
logie, zielt  auf  das  Warum  und  endet  bestenfalls 
bei  einer  Erklärung  des  Wie. 

Haben  wir  somit  Altern  und  Tod  als  gesetz- 
mäßige Phasen  des  Lebens  aller  vielzelligen  Wesen 
kennen  gelernt,  so  stehen  wir  jetzt  vor  der  zweiten, 
praktisch  wichtigeren  Frage:  ist  es  möglich,  diesen 
notwendigen  Ablauf  hinauszuschieben  oder  gar 
rückläufig  zu  machen,  ist,  mit  anderen  Worten, 
eine  Verlängerung  des  Lebens  oder  gar  eine  Ver- 
jüngung möglich,  und  auf  welchen  Wegen  ?  Be- 
schäftigt die  Frage  nach  den  Ursachen  des  Alterns 
und  Sterbens  in  erster  Linie  den  Naturforscher, 
so  stoßen  wir  hier,  bei  der  Verlängerung  des 
Lebens,  auf  ein  Problem  allgemeinster  Art,  eine 
Aufgabe,  vor  die  sich  jeder  einzelne  Mensch  ge- 
stellt sieht,  und  die  jeder  nach  seiner  Art  zu 
lösen  sucht.  Wie  auch  immer  der  einzelne  Mensch 
zum  Leben  steht,  ob  als  Gläubiger  oder  Zweifler, 
ob  als  Philosoph  oder  als  ein  Mensch  des  Alltags, 

—  ist  sein  Leben  bedroht  durch  Krankheit  oder 
Altern ,  dann  steht  vor  uns  Ärzten  der  Mensch, 
oft  nicht  nur  körperlich,  sondern  auch  seelisch 
nackt,  ein  Mensch,  der  auf  ein  Hinausschieben  des 
Scheldens  von  dieser  Welt  hofft  und  drängt.  Der 
Wunsch  lange  zu  leben  gehört  wie  der  Wunsch 
der  Nachkommenschaft  —  auch  dies  ist  ja  nur 
eine  Form  des  Weiterlebens  —  zu  den  Urtrieben 
alles  organischen  Lebens,  und  nicht  umsonst  ver- 
heißt das  mosaische  Gesetz  als  stärkste  Belohnung 
für  erfüllte  Kindespflicht  —  auf  daß  du  lange 
lebest  auf  Erden. 

Seit  es  schriftliche  Urkunden  der  Menschheit 
gibt,  fehlt  es  nicht  an  zahllosen  Vorschriften  und 
Ratschlägen,  die  das  Leben  verlängern,  den  Ein- 
tritt des  Alterns  nach  Möglichkeit  hinausschieben 


sollen.  Berufene  und  Unberufene  haben  über  dies 
Problem  eine  schier  unübersehbare  Bibliothek  zu- 
sammengeschrieben. Es  würde  uns  hier  viel  zu 
weit  führen,  wollten  wir  auch  nur  in  gedrängtester 
Kürze  einen  Abriß  dieser  Anschauungen  und  Be- 
strebungen geben.  Aber  ich  empfehle  diese  Wan- 
derung einem  jeden,  der  das  menschliche  Leben 
einmal  wieder  von  der  ergötzlichen  Seite  sehen 
möchte.  Neben  klugen  Gedanken  und  verstän- 
digen Vorschlägen  welch  eine  Fülle  von  Aber- 
glauben, Narrheiten,  ja  Betrug.  Wer  kennt  nicht 
die  mittelalterlichen  Sagen  vom  Jungbrunnen,  der 
Altweibermühle  usw.?  Zaubertränke,  Goldtinki- 
turen,  Lebenselixiere,  Wunderbetten,  Übertreibun- 
gen in  der  Lebensführung  bis  ins  Lächerliche 
hinein,  ziehen  an  unseren  Augen  vorüber.  Immer 
das  gleiche  Ziel;  die  Verlängerung  des  Lebens, 
das  wirklich  Erreichte  oft  das  Gegenteil. 

Letzten  Endes  dienen  ja  alle  menschlichen 
Einrichtungen,  der  Staat,  die  gesamte  Hygiene 
(Wohnung,  Kleidung,  Ernährung),  die  Heilkunde 
usw.  nur  dem  einen  Zweck:  Verlängerung  des 
menschlichen  Lebens.  Was  äußere  Umstände 
eines  Volkes,  politische  und  wirtschaftliche,  für 
die  Lebensaussichten  des  einzelnen  bedeuten,  dar- 
über wird  gerade  unsere  Generation  sehr  lehr- 
reiche Vergleiche  anstellen  können.  Hinter  uns 
in  der  Zeit  von  1870  — 1914  eine  von  Jahr  zu  Jahr 
sinkende  Sterblichkeit,  eine  Zunahme  der  Lebens- 
erwartung für  den  einzelnen.  Vor  uns  ein  ver- 
stärkter Kampf  ums  Dasein,  eine  Auslese,  die  an 
Grausamkeit,  an  Zahl  der  Opfer  die  Schrecken 
des  Krieges  weit  übertreffen  wird. 

So  verlockend  es  auch  wäre,  diese  Gedanken- 
gänge weiter  zu  verfolgen,  so  z.  B.  einmal  das 
Gebiet  der  Heilkunde,  die  soziale  Fürsorge  und 
ähnliche  Fragen  vom  Standpunkte  des  Biologen 
aus  zu  betrachten,  die  Kürze  der  Zeit  zwingt,  den 
Faden  wieder  aufzunehmen ,  zu  unserem  eigent- 
lichen Thema  zurückzukehren.  Wir  wollen  sehen, 
was  die  heutige  Wissenschaft  dem  einzelnen  über 
die  Möglichkeit  der  Lebensverlängerung  zu  sagen 
hat.  Verschiedene  Wege  der  Erforschung  sind 
möglich.  Zunächst  die  Statistik.  Man  hat  mit 
vielem  Fleiß  unendliche  Zahlenreihen  über  alt 
gewordene  Leute  zusammengetragen  und  hat 
daraus  Schlüsse  gezogen  über  Ursachen  und 
Mittel  zu  langem  Leben.  Was  lehren  uns  diesö 
Zahlen?  Das  Lebensalter  der  Menschen  ist,  sd 
weit  wir  zurückblicken,  immer  das  gleiche  ge- 
wesen. Überlieferte  höhere  Zahlen,  wie  z.  B.  das 
Alter  der  biblischen  Patriarchen,  finden  ihre  ein- 
fachste Erklärung  in  einer  anderen  Zeitrechnung. 
Weiter;  auch  heute  werden  vereinzelte  Menschen 
sehr  alt,  100,  120,  ja  150  Jahre.  Es  gibt  mehr 
alte  Frauen  als  Männer,  aber  die  ganz  hohen  Altef 
sind  bisher  nur  von  Männern  beglaubigt.  '    ' 

Soweit  die  sicheren  Daten,  weitere  Feststellun- 
gen sind  nicht  mehr  einwandfrei.  Wie  immer 
entnimmt  auch  hier  jeder  den  Zahlenreihen  das,' 
was  in  seine  Vorstellung  paßt.  So  findet  def 
Abstinenzler,  daß  nüchterne  Leute  die  meiste  AuS' 


166 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  u 


sieht  haben,  alt  zu  werden.   Aber  wie  häufig  sind 
es  Lebensschwache,  die  nüchtern  leben,    und  wie 
viele  frohe  Trinker  erreichen  ein  hohes  Alter.     So 
hören  wir  von  einem  Lothringer  Chirurgen  Polit- 
man,  der  140  Jahre  alt  wurde,  stets   rüstig  und 
arbeitsfreudig  blieb,  so  daß  er  noch  am  Tage  vor 
seinem  Tode  seine  eigene  Frau  an   einem  Krebs- 
leiden operierte;  dabei  soll  dieser  Mann  von  seinem 
25.  Lebensjahre  an  nicht  einen  Tag  nüchtern  gewesen 
sein.      Ahnliches  gilt  von   anderen  Genußmitteln. 
Elisabeth  Durieux  z. B.  soll  täglich  40 Tassen 
Kaffee   getrunken   haben   und    wurde    dabei    140 
Jahre  alt.     Ich   bitte  mich   nicht  mißzuverstehen. 
Ich   möchte   beileibe   nicht   den  Kaffee   oder  gar 
.     den  Alkohol    als    Mittel    zur    Lebensverlängerung 
empfehlen;  aber  bei  der  bekannten  Übertreibung 
aller  Lebensfanatiker  ist  es  ganz  gut,  die  Dinge  auch 
einmal  von  der  anderen  Seite    her  zu  betrachten. 
Ein  zweites  Beispiel.   Man  hat  herausgefunden, 
daß  alle  Männer,    die    ein    hohes  Lebensalter   er- 
reichten, verheiratet  waren,  oft  vielfach  verheiratet 
waren.      Wir    lesen    von    einem    Franzosen,    de 
Longueville,    der    iio  Jahre    alt    wurde,    mit 
99  Jahren    sich    zum    zehnten    Male    verheiratete 
und,    101  Jahre  alt,   Vater   wurde.     Die   Feinde 
oder  wohl   richtiger  gesagt,   die   Feindinnen  des 
Junggeselientums  schließen   daraus,   die   Ehe   sei 
das   beste   Mittel   der  Lebensverlängerung.    Aber 
hören  wir  auch  die  andere  Seite,  den  bedrängten 
Junggesellen.     Er  sagt,   vielleicht  unter  Berufung 
auf    Newton,    Kant,     Schopenhauer    und 
viele  andere,   das  sei  noch   lange  nicht  bewiesen. 
Mit   das   durchschnittlich   höchste  Lebensalter  er- 
reichen   die    im    Cölibat    lebenden    katholischen 
Priester.     Wenn  ein  Mann  wie  der  erwähnte  Fran- 
zose  zehnmal    verheiratet   war,    und    trotzdem  so 
alt  wurde,  so  beweise  das  doch  nur,  daß  es  ganz 
unverwüstliche  Leute  gäbe,  denen  selbst  10  Frauen 
nichts    anhaben    könnten;     die    meisten    Männer 
hätten  an  weit  weniger  genug. 

Wer  hat  Recht?  Ganz  gewiß  beide  Teile 
Das  ruhige  Gleichmaß  der  Ehe,  die  Vermeidung 
von  Ausschweifungen,  die  Freude  an  den  heran- 
wachsenden Kindern  und  Enkeln  können  sicher 
im  höchsten  Maße  lebensbejahend  und  damit 
lebensverlängernd  wirken.  Aber  auch  die  andere 
Seite  hat  Recht.  Wer  so  alt  wird,  wessen  Keim- 
drusen sich  so  lange  funktionstüchtig  erhalten, 
der  ist  in  der  Tat  unverwüstlich.  Man  hat  150- 
jahrige  seziert,  deren  Organe  keine  groben  Alters- 
veranderungen  aufwiesen.  Die  Statistik  hat  uns 
auch  gelehrt,  daß  langes  Leben  erblich  sein  kann. 
Diese  glücklichen  Leute  bekommen  von  der  Keim- 
masse ihrer  Eltern  her  eine  ungewöhnliche  Energie 
ihrer  Gewebe  mit,  ein  Etwas,  das  wir  mit  Messer, 
Mikroskop,  chemisch- physikalischen  Untersuchungs- 
methoden,  Blutproben  usw.  schlechterdings  nicht 
fassen  können.  Früher  nannte  man  das,  wie  schon 
erwähnt,  Lebenskraft,  heute  spricht  man  von  einer 
guten  Anlage,  von  einer  ererbten  und  vererbbaren 
Konstitution.  Verschiedene  Namen  für  die  gleiche 
Sache.  ^ 


Und  noch  eins.     Viele,   die   ein  ungewöhnlich 
hohes  Alter  erreichten,   schrieben   dies   einer  be- 
stimmten Lebensweise  zu.   Wenn  wir  aber  genauer 
hinsehen,    welch    eine    Fülle    verschiedenster,    oft 
geradezu  widersprechender  Ansichten.  Das  Gleiche, 
wenn   wir  uns   im  Kreise    der  Mitlebenden   um- 
sehen.    Jeder  sucht  die  Aufgabe,  jung  zu  bleiben, 
in  verschiedener  Weise  zu  lösen.     Der   eine   lebt 
vegetarisch   und   trägt   Jägerhemden,   der  andere 
hält  Fleisch  für  das  beste  Nahrungsmittel,   dieser 
geht  dem  Alkohol  und  Tabak  ängstlich  aus  dem 
Wege,  jener   sieht  in   beiden  Sorgenbrecher  und 
damit  Lebensverlängerer.   Der  eine  müllert  fleißig 
und  stählt  seine  Muskeln  durch  Sport,  der  andere 
hält  mit  Kant  eine   erheiternde  Lektüre   für  ge- 
sünder als  körperliche  Bewegung  usw.   Auf  einem 
römischen  Grabstein  der  Kaiserzeit  lesen  wir  (nach 
Hufeland),  daß  der  Tote  115  Jahre   alt  wurde, 
und  dies  hohe  Alter  der  Tatsache  zuschreibe,  daß 
er   sich    dauernd    dem    Anhauch  junger  Mädchen 
aussetzte.   Wem  sollte  das  nicht  einleuchten  I  Ein 
anderes  Beispiel.    Als  ich  mich  im  Frühjahr  19 12 
einige  Monate  in  Amerika  aufhielt,  machte  gerade 
ein  Verjüngungsmittel   großes   Aufsehen,   das  ein 
findiger  Mann  in  Chicago  vertrieb.     Er  fing  vom 
Dache  seines  Hauses  den  Sonnenschein  in  Flaschen 
auf  und  verkaufte  ihn,    i  Dollar  für  die  Flasche. 
Der  Mann  machte  glänzende  Geschäfte.     Und  ich 
bin  Ketzer    genug    zu    glauben,    daß    dieser    ver- 
gnügte Schwindler  mehr  Menschen    geholfen  hat, 
als  viele  in  pharmazeutischen  Fabriken  hergestellte, 
hochwissenschafillche    Medikamente.    Die  Klugen 
lachten    und    die    Dummen,    wie    überall    in    der 
Mehrzahl,    glaubten.      Beides    aber,    Lachen    und 
Glauben,     wirkt    außerordentlich    lebensbejahend 
und  damit  lebensverlängernd. 

Geistige  Vorgänge,  die  Entwicklung  seelischer 
Energien  sind  es,  die  bei  allen  Arten  der  Lebens- 
verlängerung eine  sehr  wichtige,  wenn  nicht  die 
ausschlaggebende  Rolle  spielen.  Unter  diesem 
Gesichtspunkt  lösen  sich  die  vielen,  vorher  be- 
rührten Widersprüche.  Wir  verstehen,  weshalb 
Leute  mit  einem  schwachen,  bresthaften  Körper, 
wie  Kant,  ein  sehr  hohes  Alter  erreichten.  Wir 
verstehen  den  Sinn  der  Askese,  z.  B.  der  Abstinenz. 
Die  Entsagung,  das  Opfer  machen  seelische  Kräfte 
frei,  lösen  Spannungen  aus,  die  dem  Ablauf  der 
rein  körperlichen  Lebensvorgänge  zugute  kommen. 
Wir  verstehen  die  lebensverkürzende  Wirkung  der 
Hypochondrie. 

Ohne  weiteres  ist  damit  aber  auch  der  häufige 
Wechsel,  das  rasche  Verschwinden  einst  hochge- 
priesener Methoden  erklärt.  Wer  spricht  z.  B. 
heute  noch  von  Kneipp,  und  doch  hat  er 
zweifelsohne  vielen  Leuten  genützt,  nämlich  denen, 
die  an  ihn  und  seine  Wasserkur  glaubten.  Mit 
dem  Glauben  schwindet  die  Wirkung.  Auch  der 
Aberglaube  kann  in  diesem  Sinne  lebensverlängernd 
wirken. 

Doch  genug  hiervon.  Nur  auf  einen  Versuch 
von  wissenschaftlicher  Seite,  der  in  letzter  Zeit 
erhebliches  und  berechtigtes  Aufsehen  erregt  hat. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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möehte  ich  noch  eingehen,  die  von  St  ei  nach 
vorgeschlagene  experimentelle  Verjüngung.  Ich 
muß,  da  ich  nicht  nur  vor  Ärzten  spreche,  die 
Grundlagen  des  Verfahrens  etwas  ausführlicher 
behandeln.  Den  Ablauf  der  Lebensvorgänge  stellte 
man  sich  früher  so  vor,  daß  Gehirn  und  Rücken- 
mark, allgemein  gesagt  das  Zentralnervensystem, 
einerseits  durch  die  Sinnesorgane  Eindrücke  der 
Außenwelt  empfing,  andererseits  wieder  auf  dem 
Wege  der  Nervenbahnen  die  Tätigkeit  der  Körper- 
organe teils  bewußt,  teils  unbewußt  anregte  und 
unterhielt.  In  den  letzten  Jahrzehnten  wissen  wir, 
daß  auch  andere,  sehr  wichtige  Organe,  die  Drüsen 
mit  innerer  Sekretion,  in  den  Ablauf  der  Lebens- 
vorgänge erregend  und  hemmend  eingreifen.  Wir 
unterscheiden  in  unserem  Körper  zweierlei  Drüsen, 
solche  mit  und  solche  ohne  Ausführungsgang.  Zu 
ersteren  gehören  z.  B.  die  Schweißdrüsen,  Talg- 
drüsen, Speicheldrüsen,  Tränendrüsen,  Brustdrüsen, 
Leber,  Nieren,  Bauchspeicheldrüse  usw.  Ihre  Ab- 
sonderungen werden  in  bekannter  Weise  teils  auf 
die  äußere,  teils  auf  die  innere  Körperoberfläche 
geleitet.  Daneben  gibt  es  aber  noch  eine  Menge 
anderer  Drüsen,  die,  ohne  Ausführungsgang,  ihre 
Absonderungen  direkt  der  Blutbahn  zuführen.  Es 
sind  dies,  um  nur  einige  anzuführen,  Schilddrüse, 
Thymus,  Epithelkörper,  Hirnanhang,  Zirbeldrüse, 
Nebenniere,  gewisse  Zellinseln  der  Bauchspeichel- 
drüse und  Leber  usw.  Man  wußte  früher  mit 
diesen  Drüsen  nicht  viel  anzufangen,  hielt  sie  wohl 
gar  für  überflüssig,  für  Reste  früherer  Entwicklungs- 
stufen. Erst  in  den  letzten  4  Jahrzehnten  haben 
Experiment  und  klinische  Beobachtung  uns  über 
die  ungeheure  Bedeutung  dieser  Drüsen  für  den 
Körperhaushalt  aufgeklärt.  In  aller  Kürze  einige 
Beispiele.  Die  Nebennieren  sind  kleine,  unschein- 
bare Organe,  die,  am  oberen  Nierenpol  gelegen, 
mit  der  Niere  selbst  nichts  zu  tun  haben.  Wir 
wissen  heute,  daß  sie  wichtige  Stoffe  (z.  B.  Adre- 
nalin) ins  Blut  abgeben.  Die  Zerstörung  der 
Nebennieren  durch  Verletzung  oder  Krankheit 
führt  unausbleiblich  in  kürzester  Zeit  zum  Tode. 
Das  Gleiche  gilt  von  dem  sog.  Hirnanhang,  der 
Hypophjrse,  und  von  den  winzigen,  hinter  der 
Schilddrüse  gelegenen  Epithelkörperchen.  Weiter, 
die  Schilddrüse  steht,  wie  wir  jetzt  wissen,  in 
nahen  Beziehungen  zum  ganzen  Wachstum,  zur 
Entwicklung  der  Geschlechtsorgane  usw.  Ihre 
Entfernung  bedingt  bei  jungen  Tieren  Störungen 
des  Wachstums  und  der  Entwicklung,  bei  er- 
wachsenen körperlichen  und  geistigen  Verfall 
(Cachexie). 

Ahnlich  wirken  Erkrankungen  dieser  Drüsen. 
So  wissen  wir,  daß  die  Erkrankung  der  Schild- 
drüse, die  wir  als  Basedowsche  Krankheit  be- 
zeichnen, schwere  Veränderungen,  vor  allem  Ent- 
artung des  Herzmuskels,  herbeiführt.  Erkrankungen 
des  erwähnten  Hirnanhangs  bedingen  ein  über- 
natürliches Wachstum  der  Gliedmaßen,  Verküm- 
merung der  Geschlechtsorgane  usw.  Genug,  über- 
all sehen  wir  innige  und  wichtigste  Beziehungen 
dieser  Blutdrüsen  zu  den  verschiedensten  Körper- 


organen und  zueinander,  Einflüsse  hemmender 
und  erregender  Natur.  Entwicklung,  Wachstum, 
normaler  Verlauf  der  Lebensvorgänge,  alles  steht 
unter  dem  Einfluß  dieser  inneren  Sekretion.  Wir 
wissen  z.  B.,  daß  zum  Zustandekommen  der  Reife 
mindestens  4  innere  Drüsen  normal  funktionieren 
müssen :  Schilddrüse,  Thymus,  Hypophyse,  Keim- 
drüse. Man  nennt  die  Sekrete  dieser  Drüsen 
Hormone,  chemische  Blutboten,  über  deren  ge- 
nauere Zusammensetzung  wir  noch  nichts  wissen, 
wie  überhaupt  die  Lehre  von  der  inneren  Sekretion 
trotz  wichtigster  Ergebnisse  noch  des  weiteren 
Ausbaues  harrt. 

Unter  den  Drüsen  mit  innerer  Sekretion  nehmen 
die  Keimdrüsen  eine  eigentümliche  Stellung  ein. 
Man  rechnete  sie  früher  zu  den  Drüsen  mit  äußerer 
Sekretion.  Nachdem  Leuwenhoek  1678  die 
Samenzellen,  Karl  Ernst  v.  Baer  1827  die 
menschliche  Eizelle  gefunden  hatten ,  nachdem 
weiter  die  feineren  mikroskopischen  Vorgänge, 
die  zur  Bildung  der  Keimzellen  führen,  aufgedeckt 
waren ,  schienen  Aufgabe  und  Bedeutung  der 
Keimzellen  genügend  geklärt.  Erst  sehr  viel 
später,  vor  etwa  3  Jahrzehnten  (die  grundlegenden 
Versuche  rühren  von  Bro wn-Sequard  [1891] 
her)  erkannte  man,  daß  die  Keimdrüsen  auch 
wichtige  innersekretorische  Aufgaben  haben.  Ley- 
dig  fand  1850  zwischen  den  Hodenkanälchen 
eigentümliche  Zellen,  die  mit  den  Keimzellen 
nichts  zu  tun  haben  und  die  als  interstitielle  Zel- 
len bezeichnet  wurden.  Wenige  Jahre  später,  1885, 
wurden  auch  im  Eierstock  ähnliche  Zellen  ge- 
funden. Da  sie  besonders  zahlreich  zur  Zeit  der 
Pubertät  auftreten,  hat  Steinach  die  Bezeichnung 
Pubertätsdrüse  eingeführt.  Sorgfältige  Unter- 
suchungen, an  denen  St  ei  nach  seit  mehr  als 
2  Jahrzehnten  hervorragenden  Anteil  nimmt,  haben 
uns  über  die  eigentümliche  innersekretorische  Be- 
deutung dieser  Pubertätsdrüse  aufgeklärt.  Ich  will 
Sie  nicht  mit  dem  Gang  dieser  Untersuchungen 
aufhalten,  sondern  nur  kurz  die  schon  jetzt  fest- 
stehende Schlußfolgerungen  mitteilen.  Wir  haben 
uns  heute  die  Keimdrüsen  (Hoden,  Eierstock)  als 
aus  zwei  völlig  verschiedenen  Drüsen  zusammen- 
gesetzt zu  denken:  die  eigentliche  Geschlechts- 
drüse und  die  Pubertätsdrüse.  Es  gibt  mehrere 
Wege,  letztere  zu  isolieren,  wie  es  für  Forschungs- 
zwecke notwendig  ist.  Der  sicherste  Weg  ist  die 
Verpflanzung,  entweder  auf  eine  andere  Stelle  des 
Körpers  oder  auf  ein  anderes  Tier.  Dabei  geht 
die  eigentliche  Keimdrüse  zugrunde,  die  Pubertäts- 
drüse aber  bleibt  erhalten  und  damit  auch  ihre 
eigentümliche  Wirkung.  Gleichzeitig  wird  jeder 
Nerveneinfluß  ausgeschaltet.  Wir  wissen  heute 
mit  Bestimmtheit,  daß  die  ganzen  sekundären  Ge- 
schlechtsmerkmale, wie  die  Unterschiede  der  Ge- 
schlechter im  Knochenbau,  Haarkleid,  Fettansatz, 
Stimme  usw.  auf.  die  spezifische  Wirkung  nur 
dieser  Pubertätsdrüse  zurückzuführen  sind.  Zu 
diesen  sekundären  Geschlechtsmerkmalen  gehören 
auch  die  seelischen  Unterschiede  im  Geschlechts- 
leben, der  Fortpflanzungstrieb,    die  Neigung  zum 


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anderen  Geschlecht,  der  Mutterinstinkt  usw.  Man 
spricht  von  einer  Erotisierung  des  Gehirns  durch 
die  Sexualhormone  und  hat  bei  niederen  Tieren, 
z.  B.  Fröschen  die  wirksamen  Stoffe  im  Gehirn 
nachweisen  können. 

Wie  spezifisch  diese  Sexualhormone  arbeiten, 
haben  Tierversuche  von  Steinach  über  Ge- 
schlechtsumwandlung  (Maskulierung,  Feminierung) 
bewiesen.  Durch  Kastration  und  Überpflanzung 
andersgeschlechtlicher  Keimdrüsen  gelingt  es  bei 
jungen  Tieren  Entwicklung,  Körperbau,  Behaarung 
usw.  völlig  umzustimmen,  ebenso  das  Triebleben. 
In  dieser  Weise  feminierte  männliche  Meerschwein- 
chen z.  B.  bekommen  nicht  nur  ein  weibliches 
Aussehen  (Körperbau,  Schädel,  Haarkleid),  sondern 
zeigen  auch  in  ihren  Trieben  spezifisch  weibliche 
Eigenschaften,  treiben  Brutpflege,  säugen  Junge  usw. 
Für  die  menschliche  Heilkunde  sind  diese  Ver- 
suche von  großer  Bedeutung.  Bei  Männern  z.  B., 
die  durch  Krankheit  oder,  wie  im  Kriege  so 
häufig,  durch  Verietzungen  ihrer  Keimdrüsen  be- 
raubt waren,  hat  man  in  zahlreichen  Fällen  durch 
Überpflanzung  gesunder  Pubertätsdrüsen  schwere 
Ausfallserscheinungen  beseitigt.  Es  ist  gelungen, 
durch  den  gleichen  Eingriff  das  krankhafte  Trieb- 
leben eines  Homosexuellen  zu  heilen  usw. 

Doch,  werden  Sie  fragen,  was  hat  das  alles 
mit  der  Verjüngung  zu  tun?  Nun,  Steinach 
fand  bei  seinen  Versuchen,  daß  die  hormonale 
Funktion  der  Pubertätsdrüse  nicht  allein  darin  be- 
steht, die  körperiichen  und  seelischen  Geschlechts- 
merkmale zur  Ausbildung  zu  bringen,  sondern  sie 
auch  während  des  ganzen  Lebens  auf  der  Höhe 
zu  halten.  Nachlaß  der  Funktion  der  Pubertäts- 
drüsen gehe  parallel  mit  den  Erscheinungen  des 
Greisenalters.  Es  lag  nun  der  Gedanke  nahe, 
durch  eine  Wiederentfachung  der  Tätigkeit  der 
Pubertätsdrüse  den  Altersvorgang  zu  unterbrechen 
oder  wenigstens  hinauszuschieben.  Dazu  gibt  es 
verschiedene  Wege.  Der  einfachste  ist  beim  Manne 
die  Unterbindung  der  Ausführungsgänge  der  Keim- 
drüsen, bei  der  Frau  Röntgenbestrahlungen  in  be- 
stimmter Stärke.  Es  werden  durch  diese  Ver- 
fahren die  eigentlichen  Geschlechtszellen  außer 
Funktion  gesetzt,  sie  verkümmern  und  gehen  zu- 
grunde, die  sog.  Pubertätsdrüse  aber  wird  zu  er- 
neutem Wachstum  und  stärkerer  Sekretion  an- 
geregt. So  wird  der  Körper  wieder  mit  Sexual- 
hormonen überschwemmt,  eine  neue  Jugend  her- 
beigeführt. 

So  weit  die  theoretischen  Grundlagen  des 
Steinach  sehen  Verfahrens.  Seine  Tierversuche 
haben  die  Voraussetzungen  bestätigt.  Steinach 
experimentierte  an  Ratten.  Das  Greisenalter  ist 
hier  gekennzeichnet  durch  Abmagerung,  Struppig- 
werden und  teilweisen  Ausfall  des  Haarkleides, 
schlaffe  Körperhahung,  verringerten  Stoffwechsel, 
Teilnahmlosigkeit,  Aufhören  des  Geschlechtstriebes. 
Es  gelang  durch  die  erwähnten  Eingriffe  alle  diese 
Erscheinungen  zu  beseitigen  und  noch  einmal  eine 
Zeitspanne  der  Vollkraft  herbeizuführen.  Nach 
einigen    Monaten    freilich    eriosch    die   Wiederbe- 


lebung. Dann  war  noch  eine  zweite  Verjüngung 
möglich,  und  zwar  durch  Überpflanzung  von  Puber- 
tatsdrüsen  jüngerer  Tiere.  Auch  diese  Wieder- 
belebung ging  nach  einiger  Zeit  verioren,  es  er- 
folgte der  körperliche  und  geistige  Zusammen- 
bruch und  schließlich  der  Tod.  Immerhin  war 
das  Leben  der  operierten  Tiere  gegen  das  der 
Kontrolltiere  um  8— lo  Monate  veriängert. 

Jetzt  erhebt  sich  die  wichtige  Frage:  lassen 
sich  diese  gewiß  sehr  bedeutsamen  Tierversuche 
auch  auf  die  menschlichen  Verhältnisse  übertragen. 
S  t  e  1  n  a  c  h  bejaht  diese  Frage.  Sein  chirurgischer 
Mitarbeiter  Licht enst  er  n  hat  auf  der  letzten 
Naturforscherversammlung  in  Nauheim  (September 
1920)  über  26  operierte  Fälle  berichtet.  Kann 
also  die  St  ei  nachsehe  Operation  schon  jetzt 
von  uns  Ärzten  Greisen  und  solchen,  die  es  zu 
werden  fürchten,  mit  gutem  Gewissen  empfohlen 
werden  ?  Meines  Erachtens  ist  diese  Frage  unbe- 
dingt zu  verneinen. 

Ich  kann  hier  nur  das  Wichtigste,  was  dagegen 
spricht,  hervorheben.  Zunächst  sachliche  Be- 
denken. Das  Fundament  der  Stein  ach  sehen 
Voraussetzungen,  die  Beziehungen  der  Pubertäts- 
drüse zu  den  Alterserscheinungen,  steht  auf  sehr 
schwachen  Füßen.  Ein  Massenexperiment  spricht 
dagegen.  Seit  Jahrtausenden  beraubt  der  Mensch 
aus  Eigennutz  zahlreiche  Haustiere  ihrer  Keim- 
drüsen. Meines  Wissens  ist  bei  diesen  Tieren  ein 
früheres  Altern  bisher  nicht  beobachtet  worden. 
Ferner  betreffen  die  Altersvorgänge,  wie  wir  sie 
eingangs  kennen  gelernt  haben,  nicht  nur  die  Ge- 
schlechtsdrüsen, sondern  die  allerverschiedensteh 
inneren  Organe,  z.  B.  die  Nerven-  und  Herzmuskel- 
zellen, und  wir  wissen,  daß  hier  die  AltersveH- 
änderungen,  vor  allem  die  Pigmentatrophie,  einer 
Rückbildung  nicht  fähig  sind. 

Die  Tierversuche  S  t  e  i  n  a  c  h  s  sind  noch  nicht 
ausreichend  nachgeprüft.  Nachforschungen  in 
Einzelfragen  haben  zu  widersprechenden  Ergeb- 
nissen geführt.  Aber  nehmen  wir  einmal  an,  alle 
Beobachtungen  und  Schlüsse  an  den  Versuchs- 
tieren wären  richtig,  dann  bleibt  doch  bis  zur 
Übertragung  dieser  Ergebnisse  auf  menschliche 
Verhältnisse  ein  sehr  weher  Schritt.  Wir  haben 
bei  solchen  Übertragungen  zu  viele  und  zu  herbe 
Enttäuschungen  eriebt,  als  daß  nicht  äußerste 
Vorsicht  und  Kritik  geboten  erschiene.  Wie  oft 
haben  wir  gehört,  daß  bei  Tieren  durch  diese 
und  jene  Mittel  Krebs,  Syphilis,  Tuberkulose  mit 
einem  Schlage  beseitigt  werden  konnten.  Hoff- 
nungen, die  sich  unter  dem  Eindruck  solcher 
Erfolge  auch  für  den  Menschen  einstellten,  haben 
sich  nicht  erfüllt.  Der  Mensch  ist  eben  keine 
Ratte  und  kein  Meerschweinchen.  Gewiß  gilt 
auch  von  ihm  als  einem  Glied  der  organischen 
Natur  das,  was  ich  vorhin  von  dem  Einfluß  der 
Sexualhormone  sagte.  Auch  die  Entwicklung  des 
Menschen  veriäuft  unter  der  Wirkung  der  Puber- 
tätsdrüse. Aber  die  Pubertätsdrüse  ist  von  den  zahl- 
reichen Drüsen  mit  innerer  Sekretion  sicher  nicht  die 
wichtigste.    Wir  leben  in  einer  Zeit,  die  die  sexuale 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Frage  überwertet.  Die  Spannungen,  die  das  Ge- 
schlechtsleben übermittelt,  sind  für  den  Menschen 
nicht  immer  die  stärksten  und  nicht  immer  die  wert- 
vollsten. Zu  leicht  wird  übersehen,  daß  beim 
Menschen  die  weitaus  stärkste  Drüse  mit  innerer 
Sekretion  das  Gehirn  ist  (ich  verweise  hier  auf 
die  Forschungen  Friedenthals  über  das  Ver- 
hältnis vom  Gehirn  zur  Körperoberfläche,  den 
sog.  Cephalisationsfaktor;  dieser  Faktor  ist  beim 
Menschen  ganz  unverhältnismäßig  groß.  Je  klüger 
ein  Wesen,   desto  besser  seine  Lebensaussichten). 

Seelische  Vorgänge  sind  beim  Menschen  auch 
in  geschlechtlichen  Dingen  von  überragender  Be- 
deutung. So  sehen  wir  häufig  genug  ein  Ver- 
schwinden des  Geschlechtstriebes  und  eine  Wieder- 
kehr, die  beide  auf  rein  seelische  Vorgänge  zu 
beziehen  sind.  Eine  Wiederbelebung  sehen  wir 
nach  Behandlungen  und  operativen  Eingriffen,  die 
mit  den  von  St  ei  nach  vorgeschlagenen  nichts 
zu  tun  haben ,  lediglich  auf  suggestivem  Wege. 
Kommt  noch  eins  hinzu:  Operationen  wie  die 
von  St  ei  nach  empfohlene  sind  von  uns  jahr- 
zehntelang aus  anderer  Anzeige,  nämlich  zur  Be- 
kämpfung der  Vorsteherdrüsenvergrößerung,  bei 
alten  Männern  ausgeführt  worden ;  eine  Verjüngung 
wurde  danach  nicht  beobachtet.  Auch  die 
Röntgenbestrahlung  der  Eierstöcke  ist  zu  vielen 
tausend  Malen  vorgenommen.  Wenn  hier  eine 
Verjüngung  eintrat,  so  war  sie  zwanglos  auf  die 
Beseitigung  schwerer  Krankheit,  wie  z.  B.  Ge- 
schwülste, Blutungen  zu  beziehen. 

Aber  die  Krankengeschichten  Steinachs, 
widerlegen  sie  nicht  alle  Einwände?  Im  Gegen- 
teil. Lichtenstern  gibt  selbst  zu,  daß  bei 
jüngeren  Menschen  mit  zurückgebliebener  Ge- 
schlechtsentwicklung die  Operation  nutzlos  war. 
Es  sind  schließlich  nur  S  wirkliche  Erfolge  übrig, 
und  sehen  wir  uns  diese  genauer  an,  so  finden 
wir  niemals  reine  unzweideutige  Fälle,  d.  h.  ge- 
sunde Greise,  wie  Steinach  sie  für  seinen  Ein- 
griff verlangt.  Immer  liegen  gleichzeitig  schwere 
Krankheiten  vor  (Blasenstein,  Vergrößerung  der 
Vorsteherdrüse  mit  Harnverhaltung,  Blasen- 
katarrh, Nierenbeckenentzündung,  Vereiterung 
einer  Keimdrüse,  beiderseitiger  Wasserbruch  usw.). 
Diese  Krankheiten  wurden  geheilt,  daneben  die 
Steinachsche  Operation  ausgeführt.  Wer  will 
mit  Sicherheit  entscheiden,  welcher  Behandlung 
die  erzielte  Verjüngung  zuzuschreiben  ist? 

Verjüngungskuren  haben  seit  jeher  etwas 
Mystisches  gehabt.  In  einer  Zeit  körperlicher  und 
seelischer  Zerrüttung,  wie  sie  unser  Volk  jetzt 
durchlebt,  ist  der  günstigste  Boden  für  Mystik 
aller  Art,  Zauberer  und  Propheten  gegeben.  Auch 
bei  der  Steinachschen  Operation  spielt  die 
Suggestion,  sowohl  beim  Arzt  wie  beim  Kranken, 
sicher  eine  große  Rolle.  Wer  an  die  Steinach- 
sche Operation  glaubt,  dem  wird  sie  helfen.  Sehr 
zu  bedauern  bleibt,  daß  die  Steinachschen  Ver- 
suche so  schnell  und  so  ausgiebig  den  Weg  in 
die  Zeitungen  gefunden  haben.  Überspannte 
Freunde    haben    Steinach,     der    als    Forscher 


durchaus  ernst  genommen  zu  werden  verdient, 
mit  übereilten  und  übertriebenen  Schilderungen 
mehr  geschadet  als  genützt.  Um  so  mehr  er- 
wächst uns  Ärzten  die  Pflicht,  kühl  und  klar  zu 
bleiben  und  nicht  Hoffnungen  mit  Tatsachen  zu 
verwechseln.  Steinach  selbst  hat  sich  genötigt 
gesehen,  vor  übertriebenen  Erwartungen  zu  warnen. 
Es  wird  ihm  so  gehen,  wie  allen  seinen  Vor- 
gängern; zuerst  begeisterte  Aufnahme,  ausge- 
zeichnete, d.  h.  durch  Suggestion  des  Operateurs 
und  des  Operierten  bedingte  Erfolge.  Dann  der 
Pendelausschlag  nach  der  anderen  Seite:  tiefe 
Enttäuschung  und  Ablehnung,  zum  Schluß  nach 
einigem  Hin  und  Her  ein  gesicherter  Erfahrungs- 
bestand. Für  einzelne,  sorgfältig  ausgesuchte  Fälle 
wird  die  Operation  vielleicht  bestehen  bleiben. 
Aber  auch  dann  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß 
es  sich  immer  nur  um  einen  Aufschub  handelt. 
Es  altern  ja  nicht  nur  die  Keimdrüsen,  es  altert, 
wie  wir  gesehen  haben,  der  ganze  Körper,  insbe- 
sondere die  Nervenzellen.  Ob  nach  dem  Auf- 
flackern des  Lebenslichtes  der  Zusammenbruch 
nicht  noch  ein  schnellerer  sein  wird  als  bei  nor- 
malem Ablauf,  steht  dahin. 

Trotz  S  t  e  i  n  a  c  h  werden  wir  der  Natur  weiter 
unsern  Tribut  zollen  müssen.  Für  den  Natur- 
forscher hat  diese  Vorstellung  nichts  Bedrückendes. 
Er  weiß,  daß  in  der  Welt  des  Organischen  ein 
ständiges  Gehen  und  Kommen,  Entstehen  und 
Vergehen  herrscht,  daß  das  Leben  an  sich  dauert 
und  nur  die  äußeren  Formen  absterben.  Alles 
Vergängliche  ist  nur  ein  Gleichnis.  Das  Gesetz 
von  der  Erhaltung  der  Energie,  die  Grundlage 
aller  heutigen  Naturerkenntnis,  kann  auch  auf  die 
geistigen  Energien  übertragen  werden.  Mag  man 
sie  Seele  oder  anderswie  benennen,  sie  sind  un- 
vergänglich. Unser  Körper  vergeht  mit  Ausnahme 
des  Keimplasmas,  das,  wie  vorher  ausgeführt, 
potentiell  unsterblich  ist.  In  letzter  Zeit  hat  Karl 
Ludwig  Schleich  —  Arzt,  Forscher  und  Dichter 
—  sogar  die  Unsterblichkeit  des  Körpers  natur- 
wissenschaftlich zu  beweisen  gesucht.  Nach  ihm 
ist  die  Gesamtsumme  alles  Lebenden  eine  kon- 
stante Bildung,  nur  die  Form  wechselt.  Träger 
des  Lebens  seien  bestimmte  Anteile  des  Zellkerns, 
die  Chromosomen,  diese  seien  unverweslich,  un- 
verdaulich und  nur  durch  Feuer  zu  zerstören. 
Beim  Tode  des  Vielzellenstaates,  z.  B.  des  Men- 
schen, fallen  die  zu  Organen  zusammengefaßten 
Zellverbände  wieder  auseinander,  die  Chromo- 
somen aber  bleiben  erhalten  und  gehen  neue  Ver- 
bindungen ein.  Also  ein  ewiger  Kreislauf  des 
Organischen,  im  gewissen  Sinne  eine  Unsterblich- 
keit auch  des  Körpers. 

Was  die  Kunst  der  Lebensverlängerung  an- 
langt, so  haben  sehr  kluge  Köpfe  gefunden,  daß 
es  wohl  viele  Mittel  gäbe,  das  Leben  zu  verkürzen, 
aber  kein  einziges  sicheres  Mittel,  es  zu  verlängern. 
Die  Vorschriften  der  Alten  —  ich  denke  hier  an 
Hippokrates,  Aristoteles,  Seneca,  Plu- 
tarch,  Galen  u.  a.  — ,  Mäßigkeit,  Einfachheit, 
Arbeit,  vor  allem  ein  heiterer  Gleichmut  der  See'e 


i;o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  II 


und  ruhige  Fügung  in  das  Unabänderliche,  sind 
auch  heute  gültig.  Und  auch  heute  noch  gilt 
das  Wort,  das  Feuchtersieben  vor  loo  Jahren 
prägte:  „Nichts  in  der  Welt  macht  früher  alt,  als 
die  beständige  Furcht  es  zu  werden".  Wenn  uns 
die  jüngste  Wissenschaft  etwas  Neues  und  Bleiben- 
des in  dieser  Frage  gebracht  hat,  so  ist  es  die 
Bewertung  der  Anlage.  Daher  Vorsicht  in  der 
Wahl  der  Eltern.  Die  ererbte,  gesunde  Anlage 
ist  die  beste  Gewähr  für  ein  gesundes  und  langes 
Leben. 


Schrifttum. 

V.  Feuchtersieben,   „Zur  Diätetik  der  Seele".    Reclam. 

Friedenthal,  Allgemeine  und  spezielle  Physiologie  des 
Menschenwachstums.     1914. 

Harms,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  innere 
Sekretion  der  Keimdrüsen.     1914. 

Holle,  Allgemeine  Biologie.      1913. 

Hufeland,  Makrobiotik.     Reclam. 

Kammerer,  Allgemeine  Biologie.     1915. 


Kammerer,  Über  Verjüngung  und  Verlängerung  des 
persönlichen  Lebens.     1921. 

Kant,  Von  der  Macht  des  Gemüts,  durch  den  bloflen 
Vorsatz  seiner  krankhaften  Gefühle  Meister  zu  sein.    Reclam. 

Korscheit,  Lebensdauer,    Allern  und  Tod.      191 7. 

Lichtenstern,  Die  Erfolge  der  Altersbekämpfung  bejm 
Manne  nach  Steinach.     Bert.  klin.  W.  42,  1920. 

Liek,  Zu  den  Steinachschen  VerjüngungsversjicHep. 
Deutsche  med.  Wochenschr.  42,   1920. 

Lippschütz,  Allgemeine  Physiologie  des  Todes,   igi^. 

Lipp schütz,  Die  Pubertätsdtüse.     1919. 

Miehe,  Allgemeine  Biologie.      1920. 

Mühlmann,  Das  Altern  und  der  physiologische  Tod.  igiö. 

Müller,  Über  Altern  und  Tod.  Volkmanns  Sammlung 
klinischer  Vorträge. 

Pawlinoff,  Der  Sauerstoffmangel  als  Bedingung  der 
Erkrankung  und  des  Ablebens  des  Organismus.     Berlin  I90f2. 

Schallmeyer,  Vererbung  und  Auslese.     igi8. 

C.  L.  Schleich,  Das  Problem  des  Todes,      iqao. 

Schultz-Schultzenstein,Die  Verjüngung  des  mensch- 
lichen Lebens.     Berlin    1850. 

Steinach,  Verjüngung  durch  experimentelle  Neube- 
lebung der  alternden  Pubertätsdrüse.     1920. 

Tand  1er  und  Groß,  Die  biologischen  Grundlagen  der 
sekundären  Geschlechtscharaktere.     1913. 


Einzelberichte. 


Die  absolute  Datierung  der  älteren  und 
jüngeren  Steinzeit. 

Im  Anschluß    an    die    S.  29    dieser  Zeitschrift 
besprochene  Arbeit   von  E.  Werth  über  die  ab- 
solute  Dauer    der  Spät-    und    Postglazialzeit    und 
der  zugehörigen  Kulturen  (Korrespondenzblatt  für 
Anthropologie,    51,    1920.    S.    7—10)    hat    Nils 
Niklasson  ein  Referat  über  Untersuchungen  von 
Montelius,  die  die  Ermittlungen  von  Datierungs- 
punkten für  die  ältere   und  jüngere  Steinzeit   be- 
zweckten,   unter  dem  Titel  „Zur  Chronologie  der 
älteren  Steinzeit"  in  derselben  Zeitschrift  erscheinen 
lassen  (S.  19—22).     Der  hochverdiente  Nestor  der 
schwedischen  Vorgeschichtsforschung  OscarMon- 
telius   ging  bei  den   in  Rede  stehenden  Unter- 
suchungen von  einem  bestimmten  Typus  „mandel- 
förmiger" Feuersteinwerkzeuge  aus,   die   grob  zu- 
geschlagen   und    an    den    Rändern    oft   mit    einer 
feinen  Retusche  versehen  sind.  Das  Verbreitungs- 
gebiet   dieses  bestimmten  Werkzeugtypus   umfaßt 
Norddeutschland  (Rügen),  Dänemark,  das  südliche 
und   westliche  Schweden    und    die   südwestlichen 
Teile    von    Norwegen.      Bereits    seit    Jahren    hat 
Montelius  die  fraglichen  Geräte  für  die  ältesten 
Zeugen  menschlichen  Daseins  in  Skandinavien  er- 
klärt.   Die  jüngeren  Forscher  haben  ihm  in  dieser 
Anschauung  nicht  beipflichten  wollen.    Sie  haben 
vielmehr  in  diesen  Fundstücken  nicht  fertige  Ge- 
räte, sondern  nur  Vorarbeiten  für  jungsteinzeitliche 
Feuersteindolche      und     Lanzenspitzen      erblicken 
wollen.      Dieser    Widerspruch    hat   M.    veranlaßt, 
seine   diesbezüglichen  Forschungen    zu   erweitern 
und    in    einer    Abhandlung    „De    mandelformiga 
flintwerktygens    älder"    (Antikvarisk    tidskrift    för 
Sverige  20,   1918.  S.  I— 60)   noch    einmal    zusam- 
menfassend zu  behandeln.     In  dieser  Abhandlung 
weist  M.  wohl  überzeugend  nach,  daß  es  sich  um 
wirklich   fertige,    typische   Geräte    und   nicht   um 


Vorarbeiten    handelt;    für    diese  Geräte    sucht    er 
dann    gleichzeitig   auch    eine    genaue  Chronologie 
zu    ergründen.      Die    Ergebnisse   dieser   chronolo- 
gischen Untersuchung  basieren  auf  folgenden  drei 
Punkten.     Erstens,    daß  die  Form   dieser   Geräte 
wie  auch  die  Art  ihrer  Herstellungstechnik  darauf 
hindeuten,    daß  sie  aus  einer  sehr  frühen  Periode 
stammen.    Zweitens,  daß  sie  nie  in  Gräbern  oder 
auf  Wohnplätzen  der  jüngeren  Steinzeit  oder  auch 
nicht  zusammen  mit  anderen  Geräten  dieser  Zeit- 
periode gefunden  sind.    Drittens,  daß  eines  dieser 
Geräte    in    einer   Torfschicht   gefunden   sein  soll, 
die  von  einem  Wohnplatz  aus  der  Zeit  der  Kjök- 
kenmöddinger     überlagert     ist.       Da     nun     diese 
mandelförmigen  Geräte    mit  den  Solutreenspitzen 
Westeuropas     sehr    weitgehend    übereinstimmen, 
erhebt  M.  im  Anschluß    hieran  die  Frage,   ob   es 
möglich  ist,  daß  Feuersteingeräte,  die  gleichzeitig 
mit    der  Solutreenperiode    sind,    im    nördlichsten 
Deutschland    und    in  Dänemark    und    in  den  süd- 
lichen und  westlichen  Teilen    von  Schweden  ver- 
wendet  werden   konnten.     Diese  Frage   versucht 
M.  mit  ja  zu  beantworten,    und  daraufhin  die  ge- 
nannten mandelförmigen  Werkzeuge  des  Nordens 
für  gleichaltrig  mit  dea  Solutreenspitzen  anzusetzen. 
Bei  diesen  Erörterungen  geht  M.  von  der  An- 
nahme  aus,   daß  Eiszeiten   und  Zwischeneiszeiten 
in  Nord-  und  Mittel-  und  Westeuropa  gleichzeitig 
gewesen  seien,  daß  also  die  letzte  mitteleuropäische 
Eiszeit  gleichzeitig   mit   der  letzten  Vereisung  im 
Norden   stattgefunden   haben   müsse.     Diese  An- 
nahme steht  jedoch  im  schroffen  Widerspruch  mit 
den  Anschauungen,    die    bisher  unsere  Eiszeitgeo- 
logen über  den  Verlauf  der  Eiszeit  ausgesprochen 
haben,  so  daß  sie  wohl  erst  einmal  näher  zu  be- 
gründen wäre,  bis  man  auf  ihr  weiterbauen  kann, 
wie  das  M.  ohne  weiteres  tut.      M,  leitet   aus  ihr 
nämlich  die  folgende  Gleichsetzung  ab: 


N.  F.  XX.  Nr.  1 1 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


171 


Mittel- 

Die 
Postglazialzeit 


und   Westeuropa. 

Neolithikum 

Azylien 

Magdalenien 

Solutreen 

Aurignacien 


Skandinavischer  Norden. 


Die 

Postglazialzeit 


letzte  Eiszeit     l      Mousterien 


Ende:  Acheuleen 
Mitte:  Chelleen 
Anfang 

Die  vorletzte  Eiszeit 


Die  letzte 
Zwischeneiszeit 


Die  jüngere  Steinzeit 
Die  Zeit  der  Kjökken- 

möddinger 
Die  Zeit  der  Knochen- 
harpunen 
Die  Magiemosezeit 
Die  Renntierzeit 


Litorinazeit 


Ancyluszeit 


Die  Zeit  der  letzten  Vereisung 

Die  letzte  Zwischeneiszeit 

Die  Zeit  der  großen  Vereisung 


Da  mit  der  Voraussetzung,  die  M.  zu  dieser 
Gleichsetzung  führte,  wohl  schwerlich  ein  Geologe 
übereinstimmen  wird,  so  dürfte  damit  auch  der 
Gleichsetzung  von  vornherein  jeder  Boden  ent- 
zogen sein.  Nun  versucht  jedoch  M.  diese  Gleich- 
setzung noch  durch  eine  Reihe  von  Übereinstim- 
mungen sicherzustellen.  Einmal  durch  die  Über- 
einstimmung der  oben  genannten  mandelförmigen 
Geräte  mit  den  Solutreenspitzen ,  dann  durch 
den  Hinweis  auf  das  Vorkommen  des  Renntieres 
während  der  Solutreenperiode  und  noch  in  der 
Mitte  des  Magdaleniens  in  Westeuropa,  in  Nord- 
deutschland, Dänemark  und  Schweden  während 
der  Zeit  nach  der  großen  Vereisung.  Welter 
durch  die  im  Magdalenien  außerordentlich  häufigen 
Speer-  und  Harpunenspitzen  aus  Renntierhorn, 
die  er  mit  den  Speer-  und  Harpunenspitzen  aus 
Knochen,  mitunter  auch  aus  Renntierhorn,  aus 
dem  Norden  vergleicht.  Schließlich  auch  durch 
den  Hinweis  auf  die  wohl  allgemein  gebilligte 
Gleichsetzung  des  Campigniens  mit  der  Kjökken- 
möddingerzeit.  Dieser  letztere  Punkt  ist  offen- 
sichtlich ein  Fixpunkt  und  als  solcher  seit  langem 
erkannt.  Alle  übrigen  Vergleichs-  und  Datierungs- 
punkte, die  M.  herangezogen  hat,  stehen  auf  viel 
zu  schwankender  Basis,  als  daß  wir  sie  zur  Lösung 
einer  Frage  von  so  großer  Wichtigkeit,  wie  es 
die  der  Übereinstimmung  zwischen  der  nordischen 
Glazialzeit  und  der  westeuropäischen  ist  mit  heran- 
ziehen dürfen.  So  z.  B.  die  mandelförmigen  Stein- 
geräte. Ein  einzelnes  Stück  dieses  Typus  hat  eine 
Fundangabe,  die  für  eine  Datierung  zu  verwenden 
wäre,  wenn  diese  Fundangabe  völlig  gesichert  da- 
stände. Das  ist  jedoch,  da  es  sich  um  ein  Stück 
handelt,  das  vor  mindestens  70  Jahren  gefunden 
ist,  nicht  der  Fall.  Das  Vorkommen  des  Renn- 
tiers in  Norddeutschland  nach  der  letzten  Ver- 
eisung hat  man  bisher  immer  damit  zu  erklären 
versucht,  daß  das  Renntier  hinter  dem  ab- 
schmelzenden Eise  hergewandert  sei.  Diese  Theorie 
jetzt  plötzlich  umzuändern,  liegt  meinem  Erachten 
nach  keinerlei  Veranlassung  vor.  Mit  diesem 
zweiten  Punkt  erübrigt  sich  dann  auch  der  dritte, 
die  Übereinstimmung  in  den  Harpunen.  Einmal 
ist  diese  Übereinstimmung  an  und  für  sich  gar 
nicht  sonderlich  groß,  und  dann  beruht  sie  ja  im 


wesentlichen  bloß  darauf,  daß  die  Harpunen  hier 
wie  dort  aus  Renntierhorn  hergestellt  sind. 

Die  relative  Chronologie,  die  uns  M.  zu  bieten 
versucht  hat,  schwebt  also  völlig  in  der  Luft. 

Neben  dieser  relativen  Chronologie  hat  M.  je- 
doch bereits  auch  eine  absolute  Chronologie  er- 
mittelt. Das  Vorkommen  der  mandelförmigen 
Steingeräte  nur  in  ganz  bestimmten  Gegenden 
des  Nordens  führt  ihn  dazu,  dieses  beschränkte 
Vorkommen  mit  der  Vereisung  in  Zusammenhang 
zu  bringen.  Das  weitere  Vordringen  der  Träger 
dieser  Kulturstufe  sei  dadurch  verhindert  worden, 
daß  Schweden  und  Norwegen  damals  bis  auf  die 
Küstenländer  vereist  waren.  Nach  de  Geers 
Untersuchungen  habe  das  Abschmelzen  dieser  Eis- 
massen an  der  Südküste  Schwedens  etwa  13000 
Jahre  v.  Chr.  angefangen.  Auf  Grund  seiner 
obigen  Vermutung  mußte  M.  nun  folgern,  daß 
diese  mandelförmigen  Geräte  zeitlich  etwa  um 
1 3  000  v.  Chr.  anzusetzen  sind.  Wir  würden  also 
durch  diese  von  M.  aufgestellte  Vermutung  einen 
wertvollen  chronologischen  Fixpunkt  erhalten. 
Aber  wer  sagt  uns  denn,  daß  diese  Vermutung 
wirklich  zu  Recht  besteht? 

Auf  Grund  der  wahrscheinlichen  Gleichzeitig- 
keit der  Erscheinungen  im  nördlichen  und  mittle- 
ren Europa  will  M.  den  Anfang  der  Postglazialzeit 
des  mittleren  und  westlichen  Europas  auf  rund 
18000  V.  Chr.  ansetzen.  Die  jüngere  Steinzeit 
hört  sowohl  im  mittleren  und  westlichen  wie  auch 
im  nördlichen  Europa  mit  der  Zeit  um  2000 
V.  Chr.  auf.  Für  ihre  Dauer  setzt  M.  schätzungs- 
weise eine  Zeit  von  2000  Jahren  ein,  demnach 
müßte  der  Beginn  dieser  Periode  um  4000  v.  Chr. 
anzusetzen  sein.  Die  Kjökkenmöddingerzeit  des 
Nordens  wie  die  Campignienperiode  glaubt  M.  auf 
5000  V.  Chr.  ansetzen  zu  müssen.  Dann  bleiben 
also  13000  Jahre  übrig,  die  auf  die  zwischen  dem 
Anfang  der  Postglazialzeit  und  dem  Campignien 
liegenden  Perioden  zu  verteilen  wären.  Diese 
Verteilung  denkt  sich  M.  in  der  folgenden  Weise: 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Auch  diese  absolute  Chronologie  von  M.  steht 
auf  sehr  schwachen  Füßen.  Eine  Reihe  von  Grün- 
den, die  gegen  sie  sprechen,  habe  ich  bereits  weiter 


172 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  n 


Das  westliche  und  das  mittlere 
Europa 


2000—  4000  V.  Chr.   !  Jüngere  Steinzeit 
4000—  sooo  „     „       jCampignien 
SOOO—  700Ü  „     „        Azylien 
7000—10000,,     „        Magdalenien 
10000—13000  „     „        Solutreen 


13000  —  18000  „ 


Aurignacien 

Die  letzte  Eiszeit:  IVIousterien 

Die  letzte  Zwischeneiszeit : 
1  Acheuleen  und  Chelleen 

Die  vorletzte  Eiszeit 


Der  skandinavische  Norden 

Jüngere  Steinzeit 

Kjökkenmöddingerzeit 

Magiemosezeit 

Knochenharpunen 

j  Renntierzeit    und    mandelförmige 
I  Feuersteingeräte 

j  Die  letzte  Vereisung 
i  Zwischeneiszeit 

Die  große  Vereisung 


oben  angeführt.     In  diesem  Zusammenhange  will 
ich  hier  nur  noch  auf  einen  Punkt  hinweisen,  der 
mir  diese  absolute  Chronologie  als  völlig    unhalt- 
bar erscheinen  läßt:  Der  Beginn  der  ägyptischen 
beschichte,  d.  h.  der  Beginn  der  sog.  dynastischen 
Zeit,  läßt  sich  heute  auf  Grund  der  Forschungen 
von  L.  Borchardt  bis  auf  das  Jahr  4186  v.  Chr. 
zurückveriegen     (Die   Annalen   und  die    zeitUche 
Festlegung    des    alten    Reiches    der    ägyptischen 
Geschichte.    Berlin   191 7.).     Die  erste  dynastische 
Periode  zeigt   uns   noch  volle,   entwickelte  Jung- 
steinzeit.     Vor  dieser  dynastischen    Zeit    liegt  je- 
doch   noch    eine    weite    große    vorgeschichtliche 
Penode,    gleichfalls    der   jüngeren  Steinzeit   ange- 
hörig.   Wir  müssen  also  den  Beginn  der  jüngeren 
Steinzeit  in  Ägypten  mindestens  auf  5000  v.  Chr. 
ansetzen.     Für  Susa  hat  M.   selber  früher  einmal 
den  Beginn  der  jüngeren  Steinzeit  auf  20  000  v.  Chr. 
angesetzt    (Congres    international    de    Monaco    II. 
S.  32.      Hörn  es,    Natur-    und   Urgeschichte    des 
Menschen.      Wien    und   Leipzig  1909.  II.   S.   168). 
Für  Kreta   hat    Arthur  Evans    denselben  Zeit- 
punkt  auf    14000   v.  Chr.  geschätzt.     (Ebendort.) 
Für  das  Schweizersbild   bei  Schaffhausen  folgerte 
Nu  esc  h     (Das     Schweizersbild.        Neue     Denk- 
schriften   der   allg.    Ges.    f.    die  ges.  Naturwissen- 
schaft 35.  2.  Aufl.  1901)  6000  v.Chr.     Wir  finden 
also  überall  Ansetzungen,    die  weit   über  die  von 
M.  neuerdings  aufgestellte  Zahl  hinausgehen.   Des- 
halb hat  auch  bereits  Werth  in  seiner  Zusammen- 
stellung den  Beginn  der  Jungsteinzeit  auf  5000  v.Chr. 
angesetzt.    Auch  dieser  Ansatz  ist  sicherlich  eher 
zu  niedrig  als  zu  hoch  gegriffen.     Wenn   aber  M. 
bereits  mit  der  Ansetzung  des  Beginns  der  Jung- 
steinzeit   um    1000  Jahre  von    der  durch  Werth 
ermittelten  Datierung  abweicht,  so  wachsen  diese 
Differenzen    zwischen    den    beiden    Berechnungen 
schier   ins    unermeßliche,    wenn  wir  uns  früheren 
Kulturperioden  zuwenden.     Man  braucht  nur  ein- 
mal   die    Zahlen    für    das    Magdalenien   herauszu- 
greifen.    M.   setzt   dieses  in   die  Zeit  um  7000— 
10000  V.  Chr.,  während  Werth   es  der  Zeit  von 
9000—23000  V.  Chr.  zuschreibt. 


Sowohl  auf  Grund  der  in  den  obigen  Ausfuhr 
rungen  enthaltenen  Einzelausstellungen  wie  auch 
auf  Grund  meines  persönlichen  Gefühls  halte  ich 
die  von  M.  gegebenen  zeitlichen  Ansetzungen  für 
die  Alt-  und  Jungsteinzeit  für  recht  unsicher  und 
bedenklich.  Ihr  gegenüber  stehen  die  früher  be^ 
sprochenen,  von  Werth  angegebenen  Ansetzun- 
gen weit  mehr  gefestigt  und  gesichert  da,  so  daß 
sie  unweigeriich  vor  der  von  M.  gegebenen  Chro- 
nologie den  Vorzug  verdienen.  M.  hat  sich  bei 
seiner  Untersuchung  offensichtlich  viel  zu  sehr 
durch  typologische  Momeinte  leiten  lassen,  und 
diesen  gegenüber  die  rein  geologischen  Fragen 
vernachlässigt,  die  nun  einmal  in  dieser  Frage 
mit  von  ausschlaggebender  Bedeutung  sind. 
Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefihdt. 

Absorptionsmessuugen  iu  Luft. 

G.  Gehlhoff  und   H.  Schering  (Zeitschr. 
f.    techn.   Physik    1920,   Nr.  11,  S.  247—256)  be- 
stimmten vor  und  nach   einer  Scheinwerferphoto- 
metrie  die  Absorption   der  Atmosphäre   und  fan- 
den als  kleinsten  Wert   1 1  "/„  bei  klarer  Luft  und 
als   größten    71  »/„  bei  Nebel.     Dabei  ergab  sich 
im  roten  eine  stärkere  Absorption  als  im  blaueri 
und  für  feuchte  Luft  mindestens  der  Schluß :    Die 
am  Boden  lagernden   Schichten    der   Atmosphäre 
absorbieren  das  rote  Licht  stärker   als  das  blauem 
Bekannt  ist  ja  auch   die  Erscheinung,   daß  dort, 
wo  die  Absorption  der  erdnahen  Schichten  über- 
wiegt,   z.  B.    bei    Nebel,    die    schwach    sichtbare 
Sonne  bläulichweiß  erscheint.      Umgekehrt  dürfte 
der  Gang  der  Absorption  in  trockener  Staubfreier 
Luft  sein.   Meist  wird  in  den  erdnahen  Schichten 
die    diffuse  Reflexion    des  Lichtes    in   der   reinen 
Luft   zurücktreten   (das   blaue  Licht  wird   stärker 
geschwächt  als   das   rote)   hinter   der  Absorption 
in   Wasserdampf,   welche   auf  langwelliges   Licht 
stärker  wirkt.     Im  Spektrum  der  Erde  finden  sich 
Absorptionsbanden  im  roten  und  gelben,    die  auf 
Wasserdampf  zurückgeführt  werden,  sie  sind  stär- 
ker ausgeprägt  im  Spektrum  der  Planeten  Jupiter 


N.  F.  XX.  Nr.  II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


173 


Absorptionsmessungen. 


Absorption 
in  **/o  pro  km 

25.  9.   19 

19 

i6. 

10.  1919    20. 

10.  19 

9 

29.  1.  1920 

4. 

2.   1920 

3- 

3.  1920 

1 

12 

3.    1920    1 

1 

Mittel 

(25-  9- 
ausschl.) 

weifi 



31,6 

70,8 

14.7 

51.2 

36 

34,2 

39.8 

rot 

17.7 

32,9 

78,4 

25,6 

52.3 

45.6 

39.0 

45.6 

gelb 

-- 

37,0 

75 

20,3 

54.5 

39,5 

45,0 

45,2 

grün 

14.9 

33.7 

67,8 

12,8 

48,1 

37,5 

38,3 

39.7 

blau 

14.4 

22,5 

71.4 

9,S 

3>.6 

28,0 

37.5          , 

33.4 

Wetterlage 


Temperat.  »  C  j 
Feucht.  % 
Druck  mm  Hg 
Wind  I 

Allgem. 


+  15,4» 

76  »/o 

752.3 

starker  West 

Abziehendes 
Tiefdruck- 
gebiet 


+  4,0» 

85% 

748,3 

schw.  West 

Tiefdruck- 
gebiet 
Regen 


+  8» 

90  7o 

764.8 

Windstill 

Hochdruck- 
gebiet 
Rückseite 
Nebel 


+  7» 
Soo/o 

752.5 
schw.   West 

Hochdruck- 
gebiet 


80  % 


+  6»        I      +14.5"  '  +6°  I 

93%                67  7o  62»/„ 

746,0                 752,2  I  751,3 

schw.   Ost     !   schw.  West  ;  West  : 

Hochdruck-     Ankommend.  1  Ankommend,  t 

gebiet        [  Hochdruck-  j  Tiedruck-  j 

dunstig                gebiet  gebiet  1 

Klar  später  dunstig 

dunstig  !  später  klar  | 


Sicht 


Gut 


Schlecht 


Sehr  schlecht 


Gut 


Schlecht 


Wechselnd 


Wechselnd 


und  Saturn.  Die  von  den  Verf.  ausgeführten 
Messungen  sind  in  nachfolgender  Tabelle  zusam- 
mengestellt und  dürften  mancherlei  Schlüsse  (auch 
in  meteorologischer  Hinsicht)  zulassen,  besonders 
aber  in  Rücksicht  auf  die  Sicht.  Die  Absorptions- 
messungen erfolgten  in  der  Zeit  von  7 — 9  Uhr 
abends.  Dr.  Bl. 


Experimentelle  Versuche  zur  Bildung  silika- 
tischer Nickeierze. 

Die  wasserhaltigen  Nickelmagnesiasilikate,  die 
fast  immer  an  Serpentin  gebunden  erscheinen, 
gehören  zu  den  letzten  Produkten  jener  Umwand- 
lung, die  die  Olivin- Pyroxengesteine  bis  zur  völli- 
gen Verwitterung  durchlaufen.  Sie  haben  ihren 
Ursprung  in  dem  geringen  Nickelgehalt  der  IVIag- 
nesiasilikate  dieser  Gesteine  und  hnden  sich  ent- 
weder als  Anflug  oder  Kluftausfüliung  in  Serpen- 
tinen oder  sie  treten  in  roten  bis  braunen,  eisen- 
schüssigen, oft  quarzreichen  Massen  auf,  die  an 
Klüfte  gebunden  sind  und  das  Gestein  gangförmig 
durchsetzen.  ■  Sowohl  dem  neukaledonischen  wie 
auch  dem  Frankensteiner  (Schlesien)  Vorkommen 
ist  diese  rote  Erde  eigentümlich.  Neben  dem 
Nickelgel  tritt  gelförmiger  Magnesit  auf  und  als 
drittes  Zersetzungsprodukt  das  sog.  Grauerz,  ein 
Gestein  von  Serpentinstruktur,  in  dem  das  Nickel 
bis  zu  6,5  "/(,  in  Gelform  angereichert  ist.  Das 
Grauerz  ist  auf  Frankenstein  beschränkt.  Die 
chemische  Zusammensetzung  dieser  Silikate  ist 
sehr  schwankend  und  Namen  wie  Nickelgymnit, 
Garnierit,  Pimelith  und  Schuchardtit  entsprechen 
durchaus  keiner  konstanten  Zusammensetzung. 
DerNickelgehalt  beträgt  durchschnittlich  18  — 20%. 

Von  den  zwei  Theorien,  die  für  die  Bildung 
der  Nickelsilikate  in  Frage  kommen  —   die  eine 


Theorie  erklärt  sie  aus  heißen  aufsteigenden  Lö- 
sungen entstanden ,  die  andere  durch  Lateral- 
sekretion —  kommt  für  Frankenstein  nach  der 
neuesten  Arbeit  von  Ph.  Kraft  (Über  die  gene- 
tischen Beziehungen  des  dichten  Magnesits  zu  den 
Mineralien  der  Nickelsilikatgruppe.  Dissert.  Techn. 
Hochschule.  Berlin  1915)  nur  die  der  Lateral- 
sekretion in  Frage.  Kraft  bestätigt  damit  die 
Anschauungen  älterer  Autoren  über  die  Genesis 
dieser  Lagerstätte. 

Um  einen  Einblick  in  die  Nickelsilikatbildung 
zu  bekommen,  schlug  nun  E.  Dittler')  den  ex- 
perimentellen Weg  ein.  Nach  den  analytischen 
Untersuchungen  scheint  die  Umwandlung  nach 
zwei  Richtungen  zu  verlaufen :  einmal  zur  Bildung 
der  sog.  Grauerze,  das  anderemal  zur  Bildung  von 
Garnieritsilikaten,  und  zwar  scheinen  die  letzt- 
genannten zu  ihrer  Bildung  kompliziertere  Vor- 
gänge zu  benötigen  als  die  lehmigen  nickelärmeren 
und  braunen  Ausscheidungen,  die  Grauerze. 

Der  Verf  legte  sich  folgende  Fragen  vor:  Ist 
es  möglich,  durch  Laboratoiiumsversuche  festzu- 
stellen, ob  das  Nickel  aus  dem  primären  Gestein 
ausgelaugt  werden  kann  und  wenn  ja,  entstehen 
hierbei  garnieritähnliche  Silikate  oder  Grauerze? 
Weiterhin,  entstehen  bei  der  Verwitterung  sofort 
Nickelerze  oder  zunächst  Ni-arme,  oder  Mg  reiche 
Produkte,  deren  weitere  Auslaugung  erst  zu  Nickel- 
erzen führt? 

Die  Versuche  zerfallen  in  zwei  Reihen,  solche 
ohne  und  solche  mit  Druck.  Als  Versuchsmate- 
rial dienten  entweder  fein  gepulverte  natürliche 
Ni- haltige  Gesteine  oder  ein  synthetischer  Ni- 
haltiger  Olivin.  Auf  die  Versuche  selbst  kann 
hier   nicht  näher  eingegangen   werden.    Es  seien 


Doelter-Festschrift,  S.  15—27. 


i;4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  1 1 


nur  noch  kurz  die  Ergebnisse  wiedergegeben: 
Auslaugungsversuche  am  Ni- haltigen  Serpentin 
mit  heißem  Wasser,  Kohlensäure  unter  Druck  und 
Sodalösungen  führten  nicht  zur  Garnieritbildung. 
Es  bilden  sich  amorphe  oder  kryptokristalline 
Ausscheidungen,  die  etwas  Ni  und  SiO„ -reicher 
und  etwas  Mgärmer  sind  als  die  ursprünglichen 
Erze  und  etwa  den  Grauerzen  von  Frankenstein 
entsprechen.  Das  umgewandelte  Material  bleibt 
arn  Bodenkörper  adsorbiert,  unter  dem  Mikroskop 
zeigen  sich  grüne  Nädelchen  von  Nickelsilikat  ge- 
mischt mit  farblosen  Kristallen  von  Magnesia- 
silikat und  Tonerdesilikat.  Entsprechend  der 
kurzen  Versuchsdauer  ist  die  Anreicherung  gering- 
fügig, doch  zeigt  das  Experiment  immerhin,  daß 
im  Prinzip  die  Bildung  der  Nickelsilikate  in  der 
Natur  auf  diesem  Wege  vor  sich  gehen  kann. 

Bessere  Ergebnisse  erhält  man  unter  Anwen- 
dung von  Druck  im  Autoklaven.  Aus  den  Ver- 
suchsresultaten darf  geschlossen  werden,  daß  die 
Garnieritbildung  kohlensäurehaltigen  Tageswässern 
ihre  Entstehung  verdankt,  die  das  angrenzende 
Nebengestein  ausgelaugt  haben,  und  nicht  von 
unten  aufsteigenden  Thermalquellen,  wie  vielfach 
angenommen  wird.  Die  Bildung  der  „roten  Erde" 
bzw.  des  Grauerzes  scheint  ein  Prozeß  für  sich  zu 
sein.  Aus  diesen  Erzen  kann  sich  Garnierit  nicht 
bilden.  Beide  Prozesse  lauten  nebeneinander  und 
können  auch  heute  noch  vor  sich  gehen.  Es 
scheint,  daß  die  Mg-  und  Ni  Extraktion  aus  dem 
primären  Gestein  zwei  getrennte  Prozesse  sind, 
von  denen  der  zweite  erst  vor  sich  gehen  kann, 
wenn  der  erste  die  Vorbedingungen  hierzu  ge- 
schaffen hat.  Experimentell  konnte  festgestellt 
werden,  daß  bei  gewöhnlichem  Druck  der  Prozeß 
mit  der  Mg- Wegfuhr  beginnt,  während  SiO„  zu- 
rückbleibt. 

In  den  Serpentinen  der  Nickelerzlagerstätten 
findet  sich  sehr  häufig  dichter  Magnesit,  der  meist 
durch  Einwirkung  von  COg  haltigen  Wässern  aus 
dem  Serpentin  entstanden  ist.     Bei  den  Versuchen 


entstehen  jedoch  Magnesiakarbonate  vom  Typus 
MgCOg-sHaO  oder  basische  Karbonate.  MgCO^ 
könnte  nur  entstehen,  wenn  auf  die  Lösung  der 
basischen  Karbonate  COg  einwirken  würde.  Der- 
artige Versuche  sind  noch   durchzuführen. 

Das  von  Ph.  Kraft  in  seiner  Arbeit  erwähnte 
getrennte  Auftreten  von  Magnesit  und  Nickelsilikat 
erklärt  Dittler  folgendermaßen:  Bei  der  Ein- 
wirkung COo -hakiger  Wässer  wird,  wie  aus  den 
Versuchen  hervorgeht,  MgO  weggeführt,  während 
das  Nickel  als  Oxyd  oder  Hydroxyd  zurückbleibt. 
Nun  tritt  die  zugleich  ausgeschiedene  Kieselsäure 
mit  dem  Nickelhydroxyd  in  Reaktion  und  es  kann 
zur  Bildung  von  einfachen  Nickelsilikaten  kommen. 
Hört  aber  die  COg  Zufuhr  auf,  so  bilden  sich 
Magnesiasilikate,  welche  anfangs  Nickelhydroxyd 
adsorbieren  und  im  Laufe  der  Zeit  kompliziert 
zusammengesetzte  Magnesianickelsilikate  bilden. 
Die  Anwendung  von  Druck  im  Experiment  be- 
günstigt nur  die  Raschheit  des  Prozesses,  ohne 
das  es  notwendig  erschiene,  ihn  auch  bei  den 
Naturvorgängen  eine  entscheidende  Rolle  spielen 
zu  lassen. 

Besonders  zu  den  Versuchen  geeignet  erwiesen 
sich  die  synthetischen  Ni-reichen  Dunite.  Dünn- 
schUfife  dieser  Kunstprodukte  in  COg  haliiges 
Wasser  gelegt,  zeigen  schon  nach  wenigen  Tagen 
grüne  Ausscheidungen  von  basischem  Nickel- 
karbonat. Während  bei  den  natürlichen  Mineralien 
die  Umwandlung  eine  kaum  merkbare  ist,  wird 
das  in  fester  Lösung  befindliche  Nickeloxyd  der 
Kunstprodukte  infoige  deren  lockeren  molekularen 
Aufbaues  sehr  rasch  ausgelaugt,  woraus  auf  die 
Möglichkeit  desselben  Vorganges  in  der  Natur 
geschlossen  werden  darf.  Die  Versuche  des  Verf. 
stellen  gewissermaßen  das  Anfangsstadium  der 
Verwitterung  dar  und  sprechen  für  einen  äußerst 
langsamen  und  kompliziert  verlaufenden  Extrak- 
tionsprozeß, dessen  Einzelvorgänge,  wie  insbeson- 
dere die  Bildung  der  einzelnen  Nickelgele,  noch 
sorgfältigen  Studiums  bedürfen.  F.  H. 


Lampa,    Anton,    Das    naturwissenschaft- 
liche   Märchen.      Eine   Betrachtung.     95  S. 
kl.  8».      Reichenberg    1919,     Vertag  Deutsche 
Arbeit.    4,50  M. 
Lampa,    dessen    Mach -Schrift    ich    unlängst 
hier  besprach,   zeigt  sich   in  dieser  neuen  Studie 
als  feinfühliger,   psychologisch   forschender  Natur- 
wissenschaftshistoriker.     Er    führt    uns    zunächst 
in    die    Vorgeschichte   der  Naturwissenschaft  zu- 
rück,   indem    er    die  Motive    untersucht,   die  den 
Primitiven    in    psychischer    Reaktion    zur    natur- 
wissenschaftlichen Denkart  brachten.     Des  weite- 
ren macht  er   uns    mit  Geistesprodukten  bekannt, 
die  sozusagen  auf  einem  Nebengeleise  der  Natur- 
wissenschaft   liegen:     mit    nalurwissenschaltlichen 
Märchen.     Er  versteht  darunter  jedes  dichterische 
Gebilde,  dessen  Gegenstand  naturwissenschaftlichen 


Bücherbesprechungen. 


Inhalts  ist.  Also  echte  Märchen  (im  Sinne  einer 
strengen  literarhistorischen  Definition),  aber  auch 
Mythen,  Novellen,  Romane  usw.,  z.  B.  kosmolo- 
gische  M3nhen,  Flugproblemgeschichten,  Mond- 
und  Marsreisen. 

Auch  in  der  Fülle  der  modernen  naturwissen- 
schaftlichen Märchen  lassen  sich  —  wie  schon 
bei  den  älteren  und  ältesten  Volks-  oder  Kunst- 
produkten auf  diesem  Gebiete  —  zwei  Gruppen 
unterscheiden.  Die  eine  knüpft  an  eine  auf- 
fallende oder  merkwürdige  Naturtatsache  an  und 
erklärt  sie  durch  das  Märchen.  Die  andere  Gruppe 
macht  zum  Gegenstand  ein  im  Zuge  der  geistigen 
Entwicklung  auftauchendes  naturwissenschafiliches 
Problem,  dessen  Lösung  mit  Hilfe  der  dichterischen 
Freiheit  befriedigend  vollzogen  wird. 

Dresden.  Rudolph  Zaunick. 


N.  F.  XX.  Nr.   II 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


I7S 


Andröe,  K.,  Geologie  des  Meeresbodens. 
Bd.  II  {Bodenbeschaffenheit,  Nutzbare  Mineralien 
am  Meeresboden).  689  S.  m.  isgTextfig.,  7  Tafeln 
u.  I  farbigen  Karte.  Leipzig  1920,  Borntraeger. 
92  M. 

Eine  „Geologie  des  Meeresbodens"  kann  heut 
unmöglich  im  Gegensatz  zu  der  der  festen  Länder 
dahin  verstanden  werden,  daß  uns  hier  schon  der 
bitter  nötige  Aufschluß  über  das  feste  Fels- 
gerüst am  Boden  der  Ozeane  würde.  Kein 
Blick  und  keine  Sonde  reicht  bisher  da  hinab. 
Die  Geschichte  von  zwei  Dritteln  der  Erdoberfläche 
bleibt  uns  nahezu  unlesbar. 

Dagegen  verheißt  uns  der  erste  noch  nicht 
erschienene  Band  des  sehr  dankenswerten  A  n  - 
dreeschen  Unternehmens  wenigstens  eine  Zusam- 
menstellung dessen,  was  über  die  Mitwirkung 
endogenerKräfte  am  Aufbau  dort  unten 
bisher  bekannt  geworden  ist,  sowie  die  mehr  geo- 
graphischen für  das  Verständnis  des  Ganzen 
wichtigen  Züge. 

Zunächst  liegt  nur  der  zweite  stattliche,  wohl 
ausgestattete  Band  vor.  Er  hat  es  zu  tun  mit  den 
lockeren  Aufschüttungen  am  Meeres- 
boden, mit  der  „Lithogenesis  der  Gegenwart" 
(Walther),  mit  denjenigen  „Erscheinungen,  welche 
das  Gefäß  des  Meeres  ohne  Rücksicht  auf  seinen 
wässerigen  Inhalt  betreffen"  (Andree),  und  ist 
Philippi  gewidmet,  der  viel  für  die  Geologie 
Wissenswertes  davon  durch  eigene  Forschungen 
in  helles  Licht  rückte. 

Die  Bedeutung  derartiger  (gleichfalls  mehr  geo- 
graphischer) Kenntnisse  für  das  Verständnis  der 
fossilen  Meeressedimente  ist  so  groß,  daß  das 
schöne  Werk  in  der  Tat  eine  empfindliche  Lücke 
auszufüllen  imstande  ist.  Indessen  darf  hier  wie 
anderwärts  die  Abhängigkeit  nicht  zu  einseitig 
aufgefaßt  werden.  Dem  geologischen  Studium  ist 
vieles  zugänglich,  was  uns,  wenn  wir  nur  von 
gegenwärtigen  Bildungen  auszugehen  hätten,  für 
immer  verschlossen  bliebe.  Man  denke  nur  an 
die  Tausende  von  Metern  tiefen  Aufschlüsse  in 
erloschenen  vulkanischen  Körpern,  die  uns  gegen 
den  Herd  solcher  Erscheinungen  vorzudringen  ge- 
statten. So  liegen  uns  auch  die  Erzeugnisse 
früherer  Meere   in  ganz  anderem  Maße  offen,   als 


das  Material,  das  uns  die  Tiefseeforschung  in  ver- 
hältnismäßig dürftigen  Stichproben  mühsam  zu- 
tage fördert.  Nicht  nur  gibt  diese  dem  Geologen 
wichtige  Daten  an  die  Hand,  sie  ist  in  der  Bewäl- 
tigung ihres  Stoffes  auch  selbst  durchaus  auf  seine 
Erfahrungen  angewiesen.  Lebensverhältnisse  und 
Sedimentbildung  am  Meeresboden  liegen  uns  auf 
dem  festen  Lande  weit  umfangreicher  zutage! 
Wechselseitige  Erklärung  und  Aufhellung  tut 
allenthalben  not  zwischen  Geopraphie  und  Geo- 
logie. Das  Material  aus  der  Schwesterwissenschaft 
muß  sich  aber  jeder  Wissenszweig  für  seine  Zwecke 
selbst  zurechtlegen  und  zubereiten.  Darin  liegt 
die  Berechtigung  und  Bedeutung  des  vorliegenden 
Werkes. 

Eine  Parallelaktion  kündigt  uns  der  rührige 
Verf.  in  Gestalt  eines  entsprechend  abweichend 
behandelten  Heftes  im  „Handbuch  der  Regionalen 
Geologie"  an.  Doch  ist  auch  hier  ein  größerer 
regional  gegliederter  Abschnitt  über  die  haupt- 
sächlichsten Meeressedimente  der  Gegenwart  schon 
gegeben. 

Der  Inhalt  ist  so  reichhaltig,  daß  selbst  die 
Wiedergabe  seines  Verzeichnisses  hier  nicht  Platz 
greifen  kann.  Die  Behandlung  ist  von  erfreulicher 
Klarheit  und  Ausführlichkeit,  gibt  vielfach  die  Er- 
gebnisse mehrerer  Einzeluntersuchungen  ver- 
schiedenerForscher  zusammenfassend  wieder.  Über- 
all macht  sich  die  langjährige  sorgfältige  Be- 
schäftigung mit  dem  Gegenstand  geltend.  Eigene 
Beobachtungen  sind  mannigfach  eingestreut.  Sollte 
für  einen  besonderen  Zweck  das  schöne  Nach- 
schlagewerk nicht  ausreichen,  so  gibt  es  doch  auch 
dann  noch  die  nötige  Literatur  mit  erläuternden 
Bemerkungen  an  die  Hand.  Der  letzte  Abschnitt 
über  nutzbare  Bildungen  des  Meeres  dient  mehr 
der  Vollständigkeit  als  unmittelbar  geologischen 
Bedürfnissen.  Sehr  willkommen  müssen  die  bei- 
gegebenen Kartendarstellungen  sein. 

Alles  in  allem  aber  wird  sich  das  Buch  für 
mancherlei  geologische  Fragen  auf  lange  Zeit 
hinaus  als  unentbehrlich  erweisen  und  es  ist  tief 
bedauerlich,  daß  die  unseligen  Zeitverhältnisse  in 
dem  bedeutenden  Preise  seiner  Verbreitung  eine 
empfindliche  Schranke  entgegengestellt  haben. 
Dem  „ersten"  Band  wird  man  mit  gleicher  Be- 
friedigung entgegensehen  dürfen.  Hennig. 


Anregungen  und  Antworten. 


Eine  Pilzvergiftung  durch  Tricholoma  tigriDum.  D  i  1 1  r  i  c  h 
hat  in  den  Ber.  d.  D.liot.  Ges~~ljd.  36,  1918,  S.  456  den 
ersten  Fall  einer  Vergiftung  durch  Tricholoma  tigrinum  nach- 
gewiesen, worauf  Miehe  in  der  Naturw.  Wocbenschr.  1919, 
S.  157  kurz  hinwies.  In  Unkenntnis  dieser  Veröffentlichung 
und  im  Vertrauen  auf  verschiedene  Pilzführer  habe  ich  mir 
eine  Vergiftung  durch  Trich.  ligr.  zugezogen.  Ich  halte  es 
für  meine  Pflicht,  darüber  zu  berichten.  Die  Vergiftungser- 
scheinung, die  auf  Genuß  von  5  mittelgroßen  Pilzen  eintrat, 
war  nach  Angabe  des  Arztes  eine  schwere  Magen-Darm-  und 
Nierenentzündung.  Die  heftigen  Erscheinungen  dauerten  24 
Stunden,  bis  zur  vollen  Wiederherstellung  waren  noch  weitere 
3  Tage  nötig.    Bei  dem  von  Di  ttrich  mitgeteilten  Fall  waren 


3  Personen  nach  Genuß  von  zusammen  nur  2  Pilzen  an  den 
gleichen  Erscheinungen,  jedoch  in  viel  geringerem  Grade  und 
mit  kürzerer  Dauer  erkrankt.  Der  Irrtum  wurde  besonders 
begünstigt  durch  folgende  3  populäre  Pilzwerke :  I.  Das  ältere, 
aber  in  Schulen  noch  vielfach  vorhandene  Pilzbuch  von  Ahles 
(Verlag  Schreiber,  Eßlingen)  führt  S.  29  Trich.  tigr.  direkt 
unter  den  guten  Speiseschwäramen  auf.  2.  Die  durch  den 
Lehrerverein  für  Naturkunde  sehr  verbreiteten  Pilzbüchlein  von 
Obermeyer  stellen  sowohl  im  allgemeinen  Teil  als  auch 
speziell  nochmals  bei  den  Tricholomaarten  die  Regel  auf: 
Blätterpilze  mit  angenehmen  (bes.  Meblgeruch)  sind  eßbar. 
Diese  Regel  muß  auch  zu  den  vielen  falschen  Pilzregeln  ge- 
stellt werden,    da    der  Geruch    von  Trich.  tigr.    als    mehlartig 


i?6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XX.  Nr.    II 


bMdchnet  werden  kann  und  der  Geschmack  sehr  gut  ist. 
3.  Auch  die  neuesten,  sonst  vorzüglichen,  ebenfalls  vom  Lehrer- 
verein herausgegebenen  Pilzbüchlein  von  Gramberg  haben 
diese  Erfahrung  noch  nicht  verwertet.  Entgegen  der  Geflogen- 
heit  Grambergs,  bei  allen  Speisepilzen  auf  die  Giftpilze 
hinzuweisen,  die  etwa  mit  ihnen  verwechselt  werden  können, 
fehlt  bei  der  Gattung  Tricholoraa  ein  solcher  Hinweis  ganz. 
Di|_  in  Heft  i,  S.  28  gegebene  Sammelbeschreibung  der 
3  Tricholomaarten:  gambosum,  Georgii  und  grav^oleos  kann 
aber  leicht  auch  für  Trich.  tigr.  als  passend  befunden  werden. 
Auch  die  farbige  Abbildung  paßt  leidlich  gut.  Da  auch  die 
Maintterhnge  in  günstigen  Jahren  im  Herbst  wiederkommen, 
Itonnte  die  Fundzeit  -  Anfang  Oktober  —  nicht  abschrecken 
Uie  verwendeten  Exemplare  wurden  in  Hexenriogen  in  moos- 
bedecktem dichtem  Nadelwald  gefunden.  Die  endgültige  Be- 
stimmung hat  Herr  Professor  Di  tt  rieh -Breslau  in  dankens- 
werter Weise  besorgt.  Dr.  Fr.  Bretschneider,  Nagold. 

In  dem  Aufsatz  „Phyletische  Potenz"  von  Friedl  Weber 
(Naturw.  Wochenschr.   XXXV,    Nr.    43    [24.    X.    1920])    wird 
(speziell    auf   S.  679)    die    bemerkenswerte,    experimentell  ge- 
fundene Tatsache  mitgeteilt,  daß  die  Wertigkeit  der  Merkmale 
(hinsichtlich  der  Vererbung  auf  die  Nachkommen)  je  nach  dem 
Lebensalter  der  Eltern  verschieden  ist  und  sich  im  Laufe  des 
Lebens  eines  (Elteru-)Individuums  ändert,  daß  z.  B.  die  domi- 
nierenden Eigenschaften  einer  Erbsenrasse  (A)  dadurch  in  re- 
zessive   verwandelt    werden    können,    daß    zur    Kreuzung    mit 
einer  anderen  (gewöhnlich    in    ihren    Merkmalen    sich  rezessiv 
verhaltenden)  Rasse  (B)  der  Pollen  von  (in  ihrer  „phyletischen 
Potenz"    geschwächten)    Spätblüten    der    Rasse    A    verwendet 
wird.     Dies  erinnert  an  die  Tatsache,  daß  auch  im  Laufe  der 
Entwicklung  eines  heterozygotischen  I  n  d  i  v i  d  u  u  m  s  die  Eigen- 
schaften der  Eltern  in  wechselnder  Weise  sichtbar  zutage  treten. 
So  gleicht  bekanntlich  ein  (menschliches)  Kind  im  Laufe  seiner 
Entwicklung   zeitweise    mehr    dem   Vater   (bzw.,    wenn    es  ein 
Mädchen  ist,  dem  Frauentypus  von  dessen  Familie),  zeitweise  mehr 
der  Mutter.   Ahnliches  zeigt  sich  auch  bei  den  Bastarden  höhe- 
rer Pflanzen.      So    pflegen    nach  W.  Becker»)  die  Veilchen- 
bastarde in  der  Regel  in  der  ersten  Periode  ihres  Wachstums 
der  einen,    in    der    zweiten  Periode    (der  gleichen  Saison)  der 
anderen  Stammart  ähnlicher  zu  sein,  so  daß  zur  sicheren  Fest- 
stellung der  Stammeltern  zuweilen    eine  wiederholte  Beobach- 
tung der  gleichen  Stöcke    notwendig  ist.      Nach    den  kürzlich 
mitgeteilten      Beobachtungsresullaten      von      Y.     Trouard- 
Riolle,2)    welche  Forscherin    sich    schon    seit   längerer  Zeit 
mit  künstlichen  Kreuzungen  zwischen  Acker-  und  Garlenrettich 
(Raphanus  Raphanistrum  X  sativus)  befaßt,   zeigt  den  Bastard 
von  gelbblütigem  Acker-  und  violettblütigem  Gartenrettich  in 
der  ersten  Generation  an  den  ersten  Blüten  stets  weiße  Kron- 
blätter;   später    treten    an    den    gleichen  Individuen    zuweilen 
auch  mehr  oder  weniger    gelbe,    an    anderen    Pflanzen    mehr 
oder    weniger  violette  Blüten    auf.      Ebenso    sind    die    ersten 
Früchte  in  ihrer  Ausbildung  intermediär,  während  die  (späteren) 
gelben  Blüten  mehr  Raphanistrum-artige,    die    rosa    oder  vio- 
letten Blüten   mehr  sativus  artige  Früchte  erzeugen.     Die  Ver- 
fasserin spricht    von   einer    ,.Dissozia tion"    der  Merkmale: 
richtiger  wäre  es  wohl,    da  niemals    eine  Aufspaltung  zu  den 
reinen  elterlichen  Typen  erfolgt,  von  „Dominanz-  (oder 
Prävalenz-IÄnderung"      der     elterlichen     Eigenschaften 
wahrend  der  individuellen  Entwicklung  des  Bastardes  zu  reden. 
—  Bei  ausdauernden  Bastarden  pflegen  sich  die  Merkmale  auch 
mit  dem  Alter    der  Stöcke    im    Laufe    der    Jahre    zu    ändern. 

')  Die  Violen  der  Schweiz.  Neue  Denkschr.  d.  Schweiz. 
Naturf.  Ges.  XLV,  Abh.   i   (1910),  S.  VI. 

^)  Les  hybrides  de  Raphanus.  Revue  generale  de 
Botanique  XXXII  (1920),  438—447  mit  Abb. 

Inhalt:  E  Liek,  ÜberAltein  und  Verjüngung.  S.  161.  _  Einzelberichte:  Montelius,  Die  absolute  Datierung  der  älte- 
ren und  Jungeren  Steinzeit  S.  170.  G.  Gehlhoff  und  H.  Sc  h  ering,  Absorptionsmessungen  in  Luft.  S  .72  E 
Dittler,  Experimentelle  Versuche  zur  Bildung  silikatischer  N.ckelerze.  S.  173.  -  Bücberbesprechuneen-  Anton 
La m  p  a     Das  naturwissenscha.lliche  Märchen.  S.  , 74.     K.  A n  d  r e e ,   Geologie  des  Meeresbodens.'^S    1 75    -  Anreeun" 

iro"logre^tr"cTinde"la-Arn.'^'.";7t'"°'  '""'  '''''='°'°"^  "^"°'""-    '^   '"•       """^'^''^'^''^  "°'^°^''-    ^^   ^''-       ^^ 


So  bei  Bastarden  der  (normal)  weißblütigen  Viola  dlba  mit 
violettblütigen  Arten,  bei  welchen  Bastarden  der  (durch 
Mischung  entstandene)  Farbenton  der  Blüten  sich  bei  längerer 
Kultur  im  Garten  oft  erheblich  verändert,  oder  bei  Bastarden 
von  Sempervivum,  die  mit  zunehmendem  Aller  (bei  Vermehrung 
durch  die  rosettenförmigen  Ableger)  die  anfängliche  Unfrucht- 
barkeit mehr  und  mehr  verlieren  und  zuletzt  leidlich  fruchtbar 
''"''^°-  A.  Thellung  (Zürich). 

Zur  Biologie  der  Cicindela-Arten.  Anfang  August  vor. 
Jahres  bot  sich  im  Heidegebiet  zwischen  Ottenstein  und  AI- 
stätte  Gelegenheit  zur  Beobachtung  einer  mir  bis  jetzt  unbe- 
kannten Lebensweise  der  Cicindela  silvestris  L.  Meine  Be- 
mühungen, in  der  Literatur  Angaben  über  eine  gleiche  Be= 
obachtung  zu  finden,  blieben  bisher  ohne  Erfolg,  weshalb  ich 
dieselbe  zur  allgemeinen  Kenntnis  bringen  möchte,  in  der  Er- 
wartung, daß  hierdurch  ähnliche  Beobachtungen  bekannt  ge- 
geben werden. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Larven  der  Cicindela-Arten  sich 
in  senkrechten  Erdhöhlen  aufhalten  und  wie  die  vollkom.menen 
Insekten  ein  räuberisches  Leben  führen.  Aus  den  vielfachen 
Heidewanderungen  während  meiner  Schüler-  und  Studentenzeit 
kenne  ich  die  Lebensweise  dieser  Käfer  sehr  gut,  wie  sie 
namentlich  in  der  sonnigen  Mittagszeit  durch  kurze,  sprung- 
hafte Flüge  ihre  Beute,  kleinere  Insekten,  erjagen,  Ich  habe 
die  Cicindelen  daher  schon  früher  mit  Vorliebe  als  Wege- 
lagerer bezeichnet.  Wie  zutreffend  diese  Bezeichnung  ist,  geht 
aus  folgender  Beobachtung  hervor. 

Auf    dem  breiten  Fahrwege,    der    uns    durch    die    Heide 
führte,  fielen  uns  auf  einem  etwa   10  m  breiten  Streifen  kleine 
Erdhäufchen    von    etwa    7  bis  8  cm    Durchmesser    und    etwa 
3  bis  4  cm  Höhe    auf.      Diese    Erdhäufchen    hatten    sämtlich 
einen  horizontal  verlaufenden,    an    der  Basis    gelegenen    Ein- 
gang, vor  dem  sich  eine  etwa  den    gleichen  Durchmesser  wie 
das  Erdhäufchen  zeigende  kreisförmige  Vertiefung  befand.    Da 
wir  beim  eisten  Zusehen  nichts  Besonderes  beobachteten,  hoben 
wir  ein  Erdhäufchen  mit  dem  Spaten    ab  und  waren   sehr  er- 
staunt,   als    wir    eine    Cicindela   silvestris   aushoben.     Als  wir 
nunmehr    noch    etwa    5  weitere  Erdhäufchen  abhoben,  wurde 
jedesmal    eine    Cicindela   ans  Licht  gefördert,   so    daß  es  uns 
unzweifelhaft  wurde,  daß  die  Erdhäufchen  von  den  Cicindelen 
herstammten.     Sorgfältige  und  vorsichlige  Untersuchungen  er- 
gaben   nun,    daß    alle  Erdhäufchen    von  Cicindelen    bewohnt 
waren  und  der  Bewohner  in  der  Regel  vorn  am  Eingang,  den 
Kopf  mit  seinen  großen  Augen    zum  Ausgang    der    Höhle  ge- 
richtet, auf  vorüberlaufende  Beutetiere  lauerte.     Weiler  ergab 
sich,  daß  die  Erdhäufeben  sich  gerade  an    einer  Stelle  befan- 
den, an  der  eine  Wanderstraße  der  großen,  roten  Waldameise 
den    Heideweg   kreuzte.      Ein    sofort    unternommener  Versuch 
bestätigte    unsere    Vermutung.       Eine     eingefangene     Ameise 
wurde  in  etwas  angedrücktem  Zustande  vor  die  Öfl^oung  einer 
bewohnten  Höhle  geworfen.    Sofort  stürzte  sich  die  Cicindele 
auf  das  Beutetier    und  führte    einen    heftigen   Kampf  auf  dem 
gewissermaßen    als    Arena    dienenden,    kleinen  Vorplatze    aus. 
Hierbei  überschlug  sich  der  Käfer  mehrfach.     Für  uns   endete 
das   äußerst   ergötzliche   Schauspiel    damit,    daß    die  Cicindele 
nach    etwa    3    Minuten     währendem    Kampfe    mit   der   Beute 
davonflog. 

Die  Kürze  der  Zeit  verhinderte  uns  leider  daran,  unseren 
Versuch  bei  anderen  Bewohnern  zu  wiederholen.  Eine  gleiche 
Beobachtung  wurde  auf  dem  weiteren  Wege  nicht  gemacht, 
obwohl  Cicindelen  frei  herumfliegend  genügend  sich  fanden. 
Ob  es  sich  daher  um  eine  Einstellung  der  Art  auf  besondere 
Verhältnisse,  nämlich  die  Wanderstraße  der  Ameise,  handelt 
und  vielleicht  Erinnerungen  aus  dem  Larvenleben  mitspielen, 
vermag  ich  nach  dieser  einzelnen  Beobachtung  nicht  zu  ent- 
scheiden, die  Vermutung  liegt  aber  nahe.  Dr.  Löscher-Essen. 


Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,   erbeten. 

Verlag  von  Gustav   Fischer  in  Jena. 
Pruck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe    36.  Band. 


Sonntag,  den  20.  März  1921. 


Nummer  13. 


Über  Pflanzenabzüge  und  Weingeist  zur  Ordenszeit. 


[Nachdruck  verboten.l 


Von  Dr.  Paul  Dabms,  Zoppot  a.  Ostsee. 


In  einem  Aufsatz  über  den  Pfefferling  (25) 
habe  ich  den  Nachweis  versucht,  daß  das  zur  Zeit 
Ulrichs  von  Jungingen  aus  Lactarius  pipe- 
ratus  Scop.  hergestellte  „Wasser"  als  Aizenei  ver- 
wendet wurde.  Man  sprach  früher  bereits  die 
Vermutung  aus,  daß  unter  diesem  „Wasser"  ein 
Würzwein  zu  verstehen  sei,  bei  dem  der  ausge- 
sprochene Geschmack  des  Pilzes  die  Grundlage 
bilde ;  diese  Vermutung  wurde  durch  die  Tatsache 
gestützt,  daß  im  Treßlerbuch  an  keiner  Stelle  vom 
sog.  Lautertrank  die  Rede  ist.  Andererseits  hat 
man  vermutet,  daß  das  „Wasser"  als  Alkohol  ge- 
deutet werden  könne,  den  man  durch  Vergärung 
der  im  Pfeffermilchling  enthaltenen  Verbindungen 
und  nachfolgender  Destillation  gewinnen  könne. 
Wie  weit  diese  Annahmen  Anspruch  auf  Berechti- 
gung haben,  soll  im  folgenden  geprüft  werden. 

Im  Ordenslande  Preußen  stand  die  Beutnerei  in 
voller  Blüte ;  Wachs  und  Honig  wurden  in  Menge 
gewonnen  und  als  Hauptprodukte  in  Danzig  ein- 
geführt, besonders  aus  der  Bütower  Heide  (6, 
S.  199,  200).  Die  alten  Preußen  benutzten  den 
Honig  bereits,  da  er  seiner  Hauptmasse  nach  70 
bis  80  "/g  Trauben-  und  Invertzucker  enthält,  als 
Süßstoff;  sie  setzten  ihn  dem  Wasser  zu  und  machten 
es  dadurch  schmackhafter.  Hartknoch  erwähnt 
unter  ihren  Getränken  „melicratum  seu  medonem" 
(i,  S.  264),  wobei  Du  Gange  (5)  medo  oder 
meda  als  ein  mit  Honig  versüßtes  Wasser,  meli- 
craton  als  ein  mit  Honigzusatz  versehenes  Getränk 
deutet.  Dieses  letztere  bildet  den  Übergang  zu 
dem  Lautertrank,  einer  Gattung  der  vielen  Würz- 
weine des  Mittelalters.  Ein  solcher  wird  mitunter 
schon  bei  den  Alten  erwähnt,  doch  ist  dann  in 
ihm  nur  eine  der  natürlichen  Nutzanwendungen  des 
zu  täglichem  Genüsse  dienenden  Produktes  zu 
sehen,  wie  sie  in  einem  weinreichen  Lande  natür- 
lich ist  (19,  S.  82). 

Lautertrank  (lütertranc)  ist  ein  im  Mittelalter  und 
auch  späterhin  beliebtes  Getränk.  Er  wurde  aus 
Rotwein  erhalten,  den  man  über  verschiedenartigen 
Kräutern  und  Gewürzen  abklärte  (7,  S.  389),  meist 
aber,  indem  man  diese  gemeinsam  mit  Honig  dem 
Weine  zusetzte.  Die  gegenseitige  Einwirkung  ließ 
man  entweder  langsam  bei  gewöhnlicher  Tempe- 
ratur vor  sich  gehen,  oder  man  beschleunigte  sie 
durch  Abkochen  (19,  S.  82).  In  letzterem  Falle 
war  der  Auszug  der  Pflanzenstoffe  ein  tief  gehen- 
der und  erinnerte,  warm  genossen,  an  Glühwein. 
Wurde  der  Auszug  in  der  Kälte  vorgenommen 
und  zum  Gären  angesetzt,  so  entstand  eine  Art 
Likör,  den  Johannes  Voigt  andeutungsweise 
mit  gebranntem  Weine  vergleicht  (3,  S.  178). 


Das  Verbreitungsgebiet  des  Weinbaus  war  im 
Mittelalter  weit  au'^gedehnter  als  heute ;  er  reichte 
bis  weit  in  den  Norden  des  Deutschen  Reiches. 
In  jener  Zeit  ist  von  Sorten  die  Rede,  die  man 
heute  kaum  mehr  oder  nur  noch  dem  Namen 
nach  kennt,  von  „Weichselweinen",  „schlesischen" 
und  „brandenburgischen  Weinen"  (14,  S.  11).  Der 
im  Rhein-  und  Moseltale  angepflanzte  galt  vor- 
nehmlich im  12.  Jahrhundert  als  ritterlicher  Trank; 
besonders  beliebt  waren  die  Rheinweine.  Die 
norddeutschen  waren  wohl  sauer,  wie  es  heute 
noch  der  „Grüneberger"  ist,  denn  die  Zeit,  welche 
seit  dem  Mittelalter  verstrich,  ist  geologisch  zu 
kurz,  als  daß  man  in  ihm  Vegetationsbedingungen 
für  den  Weinstock  annehmen  darf,  die  günstiger 
waren  als  jetzt.  Die  verhältnismäßig  geringere 
Güte  des  Landweins  gegen  die  des  Rheinweins 
ergibt  sich  für  das  Jahr  1406  aus  den  Preisen; 
die  des  ersteren  betrugen  V5  von  denen  des  letzteren 
(6,  S.  262).  Freilich  waren  die  Leute  jener  Zeit 
in  ihrem  Geschmack  sehr  bescheiden,  aber  es  trieb 
sie  doch,  den  heimatlichen  Rebensaft  zu  verbessern 
und  ihm  seine  Herbheit  zu  nehmen. 

Dieses  Bestreben  kam  besonders  zum  Aus- 
druck, als  die  Züge  der  deutschen  Kaiser  nach 
Italien  und  die  Kreuzzüge  mit  den  milden  Weinen 
des  Südens  bekannt  machten  und  bald  darauf  die 
Einfuhr  aus  dem  Süden,  besonders  aus  Griechen- 
land, einsetzte.  Man  versuchte  die  Herbheit  des 
„Landweines"  durch  Zusatz  von  Honig  zu  mildern 
und  fand  später  dieses  Hilfsmittel  so  wohl  ge- 
eignet, daß  man  es  auch  bei  besseren  Sorten  ver- 
wendete, wo  es  zur  Veredelung  des  Geschmackes 
nicht  erforderlich  war:  Man  bezweckte  dadurch, 
ein  Getränk  zu  erzielen,  das  besonders  stark  wirkte. 
Auch  im  Ordensstaate  Preußen  wurde  eifrig  Wein- 
bau betrieben;  der  „Landwein"  stammte  besonders 
aus  Thorn,  Riesenburg,  Rastenburg  und  den  Gärten 
von  Marienburg  (u,  S.  48),  ferner  aus  Rhein, 
Tapiau,  Polsko  und  Hohenroda. 

Hervorgegangen  ist  der  Lautertrank  aus  dem 
Hippokras,  der  ursprünglich  für  medizinische 
Zwecke  bestimmt  war;  man  hatte  ihn  mit  dem 
Namen  des  berühmtesten  Arztes  bezeichnet,  frei- 
lich unter  Entstellung  (8,  S.  31).  Zuerst  handelte 
es  sich  um  einen  bloßen  Auszug  der  Gewürze 
und  Früchte  mit  Wein,  da  man  die  Erfahrung 
gemacht  hatte,  daß  dieser  mehr  aus  ihnen  heraus- 
holte als  bloßes  Wasser,  und  daß  die  mit  seiner 
Hilfe  erhaltene  Arzenei  sich  besser  hielt,  als  der 
bloße  Pflanzenauszug.  Man  findet  bereits  für  das 
„kellirampt  czu  Marienburg  i43"2"  neben  anderem 
Getränk  angeführt  „5  tonnen  alantwyn",  d.  h.  auf 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


Alant  {Inuld)  abgezogenen  Wein  (23,  S.  96, 
Z.  14),  ferner  in  den  Inventurverzeichnissen  der 
Komtureien  und  Vogteien  Christburg,  Dirschau, 
Rogenhausen  und  Memel  (1398  bis  1402)  Vor- 
räte von  I  Faß  bis  i  V2  Tonne  davon  aufge- 
zeichnet, schließlich  für  Orteisburg  „i  firtel  wer- 
metweynn",  Wermutwein  (27,  S.  120,  Z.  18). 
Die  Nürnberger  Polizeiordnungen  nennen  Salbei- 
und  Wermutwein  (9,  S.  508);  Wermut-  und  Ing- 
werwein sind  auch  heute  noch  als  Genußmittel 
bekannt.  Zimt  und  Nelken  verwendet  man  zur 
Herstellung  von  Glühwein,  bittere  Pomeranzen- 
schalen, Ananas,  Pfirsich,  Erdbeeren  und  Wald- 
meister und  verschiedene  andere  pflanzliche  Sub- 
stanzen zur  Herstellung  von  Bowlen.  Aus  Rot- 
wein, in  den  man  grüne  Gurkenscheiben  ge- 
schnitten hat,  besteht  ein  derartiges  Getränk,  das 
in  England  besonders  beliebt  ist  (26,  S.  623).  — 
Entsprechend  den  vielen  Würzweinen  des  Mittel- 
alters gibt  das  Große  Ämterbuch  des  Deutschen 
Ordens  (27),  das  im  Jahre  14OO  angelegt  wurde 
und  einen  Zeitraum  von  mehr  als  150  Jahren 
umfaßt,  auch  Abzüge  von  iVIet  und  Bier  über 
Pflanzenstoffen  an.  Der  erstere  mußte  einwirken 
auf  Salbei,  Alant,  Himbeeren,  Kirschen,  Wein  und 
Lavendel,  das  andere  auf  Beifuß,  Wermut,  Salbei, 
Kirschen,  Lavendel,  Tausendgüldenkraut,  Schlehen, 
Efeu,  Himbeeren,  Alant,  Holunder,  Kricheln  (wilde 
Pflaumen),  Lorbeer,  Raute,  Wermut  und  Wein. 
Die  Anordnung  der  aufgezählten  Pflanzen  und 
Früchte  ist  nach  der  Häufigkeit  ihrer  Verwendung 
vorgenommen;  die  am  meisten  benutzten  be- 
ginnen. 

Eine  Reihe  von  Medizinen  unter  der  Bezeich- 
nung Lutertrank  sind  von  der  Äbtissin  Hilde- 
gard von  Bingen  (1098  bis  ca.  1180)  ange- 
geben, die  gegen  allgemeines  Übelbefinden,  Magen- 
krankheiten, Vieh  (?j  und  Geschlechtskrankheiten 
verwendet  werden  sollten  ^15,  S.  19,  20,  22).  Sie 
sind  deshalb  bemerkenswert,  weil  die  Anschauungen 
dieser  Frau  aus  den  Überlieferungen  des  Bene- 
diktinerordens, dem  sie  angehörte,  und  aus  ihrer 
ärztlichen  Tätigkeit  schöpften. 

Über  die  Herstellung  erfahren  wir  Genaueres 
von  Du  Gange  nach  Bartholomaeus  An- 
gel icu  3(5):  Die  „species  aromaticae"  werden  in 
ein  feines  Pulver  verwandelt  und  in  einem  durch- 
lässigen Säckchen  von  Zeugstoff  mit  Honig  oder 
Zucker  untergebracht.  Je  nachdem  die  Lösung 
vonstatten  geht,  gießt  man  vom  allerbesten  Wein 
darüber  und  zwar  so  lange,  als  „die  Kraft"  der 
behandelten  Pflanzenstoffe  sich  den  Weine  mitteilt 
und  bis  die  Flüssigkeit  klar  wird.  Diese  soll  dann 
von  dem  Weine  dessen  vorteilhafte  Eigenschaften, 
von  dem  übergossenen  Pulver  den  Geschmack, 
vom  Honig  die  Süße  und  von  den  beiden  letzteren 
die  Blume  erhalten.  —  Die  Angabe,  daß  der  Pro- 
zeß so  lange  fortzusetzen  ist,  bis  die  Klärung  ein- 
tritt, weist  darauf  hin,  daß  mit  seinem  Beginn  die 
Flüssigkeit  sich  trübt.  Da  die  gepulverten  Stoffe 
der  Hauptmasse  nach  in  dem  Säckchen  wie  in 
einer  Art  Filter  festgehalten  werden,  ist  nicht  an- 


zunehmen, daß  sie  die  Veranlassung  dazu  geben. 
Es  ist  vielmehr  zu  vermuten,  daß  in  der  zunächst 
verdünnten  Lösung  bald  eine  Gärung  einsetzt. 
Diese  geht  so  lange  weiter,  bis  Alkohol  sich  in 
genügender  Menge  gebildet  hat.  Vorzugsweise 
ist  der  Honig  bei  dessen  Erzeugung  beteiligt;  der 
aus  ihm  hervorgehende  Alkohol  verhindert,  daß 
der  Wein  bei  diesem  Prozeß  sauer  wird,  und  wirkt 
in  viel  stärkerem  Maße  lösend  auf  die  Pflanzen- 
stoffe als  die  geringe  Menge  Alkohol,  die  der 
Wein  enthält,  besonders  wenn  er  ein  saurer  Land- 
wein ist. 

In  späterer  Zeit  erwähnt  man  auch  Lutertrank, 
ohne  Gewürze  oder  ähnliche  Stoffe  zu  seiner  Her- 
stellung zu  nennen.  Man  hat  es  dann  mit  einem 
Weine  zu  tun,  dessen  Gehalt  an  Alkohol  man 
durch  den  vergärenden  Honig  erhöhte,  so  daß  er 
nicht  nur  süßer,  sondern  auch  haltbarer  und 
schwerer  wurde.  Je  nach  der  Menge  des  ver- 
wendeten Honigs  und  der  Zeit  der  Gärung  konnte 
man  auf  diese  Weise  ein  mehr  oder  minder  be- 
rauschendes Getränk  gewinnen,  das  Bischöfen, 
Ärzten  und  Rittern  vor  allen  anderen  mundete 
(19,  S.  82).  Am  Fürstenhofe  des  deutschen  Or- 
dens wurde  es  nur  gereicht,  wenn  hohe  Gäste 
zum  Besuch  kamen,  die  es  kannten  und  es  nicht 
bei  einem  solchen  Festgelage  entbehren  sollten  ;  war 
es  doch  „damals  an  Fürstenhöfen  und  unter  dem 
vernehmen  Stande  stark  in  Gebrauch"  (3,  S.  178). 
Der  Hochmeister  ließ  es  zuweilen  für  sich  selbst 
herstellen,  den  Rittern  war  es  dagegen  durch 
ihre  Gesetze  verboten.  Lautertrank  durfte  in  den 
Ordenshäusern  weder  zubereitet  noch  getrunken 
werden,  „ward  er  als  Geschenk  gesandt,  so  gab 
man  ihn  den  Armen.  Mußten  ihn  Brüder  außer- 
halb des  Hauses  trinken,  sollte  es  stets  mit  Maß 
geschehen"  (4,  S.  501). 

Die  Bezeichnung  des  Getränkes,  mittelhoch- 
deutsch lütertranc,  mittellateinisch  c  1  a  r  a  - 
tum,  claretum  oder  clare,  ist  wahrscheinlich 
dem  französischen  clare t  nachgebildet.  Neben- 
her läuft  der  vielfach  bekannte  Name  litt  rauch, 
den  man  mit  der  deutschen  Bezeichnung  in  innige 
Beziehung  bringt.  Der  Zusatz  des  damals  meist 
verwendeten  Süßstoffs  zum  Wein  geht  aus  der 
Bezeichnung  mellicratum  hervor,  das  durch 
confectio  aus  Wein,  Honig  und  Würzstoffen 
erklärt  wird,  die  Änderung  in  der  Färbung  des 
benutzten  Rotweins  bei  der  Herstellung  aus  den 
Benennungen  pigmentum,  potio  pigmen- 
tata  und  vinum  rubellum  (5;  7;  16,  S.  304, 
Anm.  3). 

Eine  Erklärung  des  Wortes  Lautertrank  kann 
in  zweierlei  Weise  geschehen.  Einmal  kann  man, 
wie  bereits  angedeutet,  davon  ausgehen,  daß  der 
bei  der  Vergärung  auftretende  Alkoholgehalt  das 
Getränk  haltbarer  macht  und  das  Auftreten  von 
Trübungen  verhindert.  Der  Gedanke,  das  Spuren 
von  Ameisensäure,  mit  denen  die  Biene  den  ein- 
getragenen Honig  vor  dem  Deckeln  der  Vorrats- 
zellen gegen  Verderben  schützt,  den  Pflanzenaus- 
zug klar  erhält  (13,  S.  671),  muß  zurückgewiesen 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


werden.  Besonders  in  den  Fällen  würde  er  zur 
Erklärung  versagen,  wo  bei  der  Herstellung  des 
Lautertranks  ein  Aufkochen  der  Flüssigkeit  statt- 
fand;  ferner  wäre  die  Menge  der  Ameisensäure 
zu  gering,  um  eine  ausgiebige  Wirkung  zu  er- 
zielen. 

Andererseits  kann  man  bei  dem  Namen  an 
ein  Hellerwerden  des  Weines  denken.  In  weiterer 
Bedeutung  ist  unter  „Läutern"  nämlich  ein  „durch- 
sichtig, hcht,  hell  machen"  zu  verstehen,  eine  Be- 
zeichnung, die  in  der  forstmännischen  Sprache 
nach  Campe  und  Grimm  noch  benutzt  wird, 
um  das  Lichten  =  Läutern  des  Waldes  zum  Aus- 
druck zu  bringen  (2). 

Man    versteht    mit   dem    Safte    von    Zitronen 
Flecken   von  Rotwein,    Blaubeeren    und  Kirschen 
zu    entfernen;    man    weiß    ferner,    daß    die    roten 
Finger,  die  man  beim  Abbeeren  der  roten  Johan- 
nistrauben     bekommt,     wieder    entfärbt    werden, 
wenn    man    am   Ende   dieser  Arbeit   Beeren    von 
weißen  Johannistrauben  ablöst.    Da  vielfach  Beeren 
(19,  S.  82)  und  Früchte  (8,  S.  31;  12,  S.  148)  zur 
Herstellung   des  Lutertranks   benutzt   worden,   ist 
eine  Abänderung  der  ursprünglichen  Färbung  des 
Rotweins  durch  sie  leicht  möglich.    Sie  wird  auch 
dadurch   belegt,    daß  Peters    für    den   einfachen 
Würzwein  zu  medizinischen  Zwecken,  den  eigent- 
lichen Hypokras,  die   rote  Farbe,   für  Ciaret  oder 
Lautertrank  dagegen  die  gelbe  angibt  (21,  S.  81). 
—  Wie  Versuche,  die  ich  anstellte,  zeigen,  ist  der 
Farbstoff  des  Rotweins    gegen   oxydierende    und 
reduzierende  Stoffe  empfindlich;  er  wird  durch  sie 
vielfach  zerstört,  der  Wein  entfärbt.     Wurde  eine 
Mischung  aus  einem  Teil  frischem  Honig  und  drei 
Teilen  Rotwein  in  der  Kälte  angesetzt,  so  begann 
sie   bald    zu    gären    und    ergab    ein  Produkt    von 
goldgelber   Farbe   mit   einem   Stich   ins  Rötliche. 
Entsprechend     dem     Mischungsverhältnis     beider 
Stoffe  wird  sie  bald  tiefer,  bald  lichter  sein.    Nach 
einer    Lagerung    von    über    7  Monaten    war    eine 
hellrote   (rosa)    Flüssigkeit    entstanden,    die    beim 
Offnen  der  Flasche  lebhaft  perlte  und  stark  spritzig 
schmeckte.     Im  Geschmack  erinnert  sie  an  einen 
süßlichen,  würzigen  Fruchtsaft.    Der  hohe  Gehalt 
an   Alkohol   macht  sich   bereits   beim   Zumunde- 
führen  dieses   Getränkes    durch    seinen   Duft   be- 
merkbar.   —    Als    zum  Vergleich  eine   Mischung 
aus  drei  Teilen   von   dem   gleichen  Rotwein  und 
einen  Teil  Wasser   hergestellt    wurde,    wich    ihre 
Färbung     verhältnismäßig     so     wenig     von     der 
vorigen    ab,    daß    man    unter  Zurückstellung   aller 
wissenschaftlichen   Hypothesen    eine   einfache  Er- 
klärung   für   das  Lichterwerden    des    hergestellten 
Lutertranks  geben  kann:  es  ist  wohl  vorzugsweise 
die  Verdünnung  des  Rotweins,  welche  die  rötlich- 
gelbe  Tönung  hervortreten  läßt. 

Eine  zweite  Annahme  war  die,  daß  die  durch 
Brennen  der  weißen  Pfefferlinge  erhaltene  Flüssig- 
keit Branntwein  gewesen  sei.  —  In  den  Wirt- 
schaftsbüchern des  deutschen  Ordens  finden  «ich 
einige  Angaben,  die  dessen  Herstellung  bestätigen, 
so  heißt  es  für  1406:  „i  m.  deme  glockener  von 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sente  Annen    gegeben  vor  wynbornen    vor  4  jar" 
(10,  S.  382,  Z.  25,  26)  und  für   1408:  „i   m.  dem 
glockener  zu  sanie  Annen  vor  gebranten  wyn  zu 
bornen"    (10,    S.   473,    Z.  24,    25)    und    für    1412 
„16  sc.  vor  2  Stoffe  gebrannten  wyns  unserm  ho- 
mei>ter"  (20,  S.  38,  Z.  19,  20).    Mit  dem  Brennen 
des  Weins  ist  nach  den  beiden  ersten  Stellen  der 
Glöckner    von   St.   Annen,    der  Kapelle   mit    der 
Hochmeistergruft  auf  der  Marienburg  (17,  S.  289, 
220),    betraut,    in    der    letzten    der    angezogenen 
Stellen  wird   besonders    hervorgehoben,    daß    das 
Brennen    vorgenommen    wurde,    um    Gebrannten 
Wein   zu    erhalten;    nach    ihr   läßt  sich  sogar  der 
Preis  für  i  Stof,   etwa  1V2  l  zu  %  m.  ermitteln. 
Hirsch   (6,   S.  262)   gibt   den  Preis   für    r  Ohm 
=  110  Stof  Branntwein  (141 2)  mit  36  m.    16  sc. 
an ;  das  ist  ebenfalls  V3  m.  für  das  Stof.     Im  Ver- 
gleich mit  den  Angaben   für   die  Jahre   1406  und 
1408  ergibt  sich  dann  weiter,  daß  die  vom  Glöckner 
in  der  Zeit  von  4  Jahren   hergestellte  Menge  des 
Destillats   nur   eine   sehr   mäßige   ist.     Aus   dem 
Landwein  konnte  man  nur  wenig  davon  erhalten, 
und   edle  Weine   wollte   man   zu   diesem  Zwecke 
nur  ungern  hergeben.    Sicherlich  hat  man  in  dem 
gebrannten  Weine  kein  Genußmittel,  sondern  ein 
Heilmittel   zu   sehen.     Diese   Annahme   wird   be- 
stärkt   durch    die    Verwendung    des    Alkohols    in 
Danzig;  dort  durften  1422  nur  4  Leute  gebrannten 
Wein  verkaufen  und  mußten  für  die  Erlaubnis  dazu 
je    V2  m.   zahlen;    1424    zahlte   jeder,    der   Wein 
brannte,   eine  Abgabe.      In    der    1454   vom   Rate 
festgesetzten  Gewerbsordnung  der   vereinten  Bar- 
bierzunft  auf  der  Recht-    und  Altstadt   wird   aus- 
gesprochen:   „desgleichen   sollen    die    weynburner 
niemand  verbinden,  wenn  sie  nicht  Werkgenossen 
sind,    und    keine  Salbe  verkaufen,    die    nicht    von 
den  Elderleuten  untersucht  ist".    Die  Weinbrenner 
scheinen  danach  eine  ärztliche  Praxis  besessen  zu 
haben  (6,  S.  262,  Anm.  109  [,  S.  303  und  Anm.  60). 
Diese    Annahme    erhält    einen    hohen    Grad    von 
Wahrscheinlichkeit   durch    die  Tatsache,    daß    ein 
Teil    der    damaligen    Chirurgie,    namentlich    der, 
welcher    die  kleineren  Eingriffe  umfaßt,    von   den 
Barbieren     und    Badern    ausgeübt    werden    durfte 
(22,  S.   108,   109),    und    ferner    dadurch,   daß   man 
seit    ahen    Zeiten    Wunden    durch    Waschen    mit 
Wein    zu     reinigen    suchte.       Die    antiseptischen 
Wirkungen  des  durch  Brennen  aus  ihm  erhaltenen 
Heilmittels  waren,   wie   die  Erfahrung  zeigte,    be- 
deutend besser. 

Die  aus  dem  Pfeffermilchling  hergestellte 
Flüssigkeit  war  freilich  weder  Lautertrank  noch 
Weingeist.  Sie  kann  nicht  Lautertrank  gewesen 
sein,  weil  sie  durch  den  Prozeß  des  Brennens  er- 
halten wurde,  wennschon  der  scharfe  Geschmack 
als  Würze  zu  seiner  Herstellung  hätte  Veranlassung 
geben  können.  Sie  kann  auch  nicht  als  Weingeist 
aufgefaßt  werden,  weil  ihre  Aufbewahrung  in 
Gläsern  von  je  4V2  Stof,  d.  i.  rund  6"/,  1  Inhalt, 
und  deshalb  wahrscheinlich  weiter  Mündung  un- 
zweckmäßig gewesen  wäre.  —  Freilich  ist  in 
Laciarms  piperatus  Scop.  Zucker   enthalten ,   der 


lÜo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  li 


zur  Vergärung   geeignet   wäre,   wie   eine  Reihe   von  H-  Immendörfer,    Benno,    Speise    und    Trank    im 

Analysen   belegt   (l8,   S.   95    bis   99,    lOI,    IIl):  '^flf^^;'  ^r'i^T.        ^""       "'    gememnütnger    Vortrage 


Beobachter 

Jahr 

Mannit 

Mykose  (Trehalose) 

Traubenzucker    (bzw.  direkt 
reduzierter  Zucker) 

Braconnot 

1811 

vorhanden 

— 

— 

Knop  und  Schnedemann 

1844 

vorhanden 

i 

— 

— 

Bourquelot 

1886 

im  frischen  Pilz  l  ,4  "/oo 

im  frischen  Pilz  4,3  °/oo 

— 

Bourquelot 

1888/9 

im  gelrockn.  Pilz   1,9  "/o 

im  frischen  Pilz  10  %o 

im  frischen  und  getrockn. 
Pilz :    Glukose 

Margewicz 

1S85 

i.  getrockn.  P.  13,5—15,7  % 

im  getrockneten  Pilz: 
4,2  % 

Die  Mengen  vergärbarer  Substanz  sind  freilich 
so  gering,  daß  an  eine  Gewinnung  von  Alkohol 
aus  ihm  nicht  gedacht  werden  kann.  —  Erwähnt 
mag  noch  werden,  daß  in  England  der  Perl- 
schwamm Agaiiciis  rubcscens  Fr.  ^^  Amaitifa 
riibescens  Pers.  bei  der  Kognakbereitung  Verwen- 
dung findet  —  freilich  nur  zur  Verschärfung  des 
Geschmacks  (23,  S.  8). 

Literatur,  geordnet  nach  der  Zeit  des  Erscheinens. 

1.  Hartknoch,  Christophorus,  Petri  de  Dusburg, 
Ordinis  Teutonici  sacerdolis,  cbronicon  Prussiae  etc.  Jenae 
1679.     Dissertaiio  XV,  cap.  111. 

2.  Campe,  Joachim  Heinrich,  Wörterbuch  der 
deutschen  Sprache.     Braunschweig  1809. 

3.  Voigt,  Johannes,  Das  Stillleben  des  Hochmeisters 
des  deutschen  Ordens  und  sein  Fürsteohof.  Historisches 
Taschenbuch,  herausgegeb.  von  Friedrich  v.  Raumer. 
I.  Jahrg.     Leipzig  1830.     S.  167—253. 

4.  Voigt  Johannes,  Geschichte  Preußens,  von  den 
ältesten  Zeiten  bis  zum  Untergänge  der  Herrschaft  des  deut- 
schen Ordens.     Bd.  6.     Königsberg   1834. 

5.  Du  Gange,  Glossarium  mediae  et  infimae  latinitatis 
etc.     Parisiis   1845. 

6.  Hirsch,  Theodor,  Danzigs  Handels- und  Gewerbs- 
geschichte unter  der  Herrschaft  des  deutschen  Ordens.  Leip- 
zig 1858. 

7.  Grimm,  Jacob  und  Grimm,  Wilhelm,  Deutsches 
Wörterbuch.     Leipzig   1885. 

8.  Ko bei  mann,  L.,  Gesundheitspflege  im  Mittelalter. 
Hamburg  und  Leipzig  1890. 

9.  Schultz,  Alwin,  Deutsches  Leben  im  XIV.  und 
XV.  Jahrhundert.     2.   Halbband.      Wien,  Prag,  Leipzig  1892. 

10.  Das  Marienburger  TreSlerbuch  der  Jahre  1399 — 1409. 
Auf  Veranlassung  und  mit  Unterstützung  des  Vereins  für  die 
Herstellung  und  Ausschmückung  der  Marienburg  herausgeg. 
von  Archivrat  Dr.  Joachim.     Königsberg  i.  Pr.   1896. 

11.  Treichel,  A. ,  Pilz-Destillate  als  Rauschmittel. 
Schriften  der  Phys. -Ökonom.  Ges.  in  Königsberg  i.  Pr.  39.  Jahrg. 
1898.     Königsberg  i.  Pr.   1898.     S.  46—64. 

12.  Dieffenbacher,  J.,  Deutsches  Leben  im  12.  Jahr- 
hundert.    Sammlung  Göschen.     Leipzig   1899. 

13.  Schiller-Tietz,  Über  den  Bienenstich  und  das 
Bienengift.  Prometheus,  II.  Jahrg.  Nr.  562.  Berlin  1900. 
S.  608—671. 


15.  Kaiser,  Paul,  Die  naturwissenschaftlichen  Schriften 
der  Hildegard  von  Bingen.  Wissenschaftliche  Beilage 
zum  Jahresbericht  des  Königstädtischen  Gymnasiums  zu  Berlin. 
Ostern   1901.     Berlin   1901. 

16.  Schelenz,  Hermann,  Geschichte  der  Pharmazie. 
Berlin   1904. 

17.  Dehio,  Georg,  Handbuch  der  deutschen  Kunst- 
denkmäler. Im  Auftrage  des  Tages  für  Denkmalpflege  bear- 
beitet.    Bd.   II  Nordostdeutschland.     Berlin   1906. 

18.  Zellner,  Julius,  Chemie  der  höheren  Pilze.  Eine 
Monographie.     Leipzig   1907. 

19.  Hehn,  Viktor,  Kulturpflanzen  und  Haustiere  in 
ihrem  Übergang  aus  Asien  nach  Griechenland  sowie  in  das 
übrige  Europa.  8.  Aufl.,  neu  herausgeg.  von  O.  Schrader. 
Mit  botanischen  Beiträgen  von  A.  Engler  und  F.  Pax. 
Berlin   191 1. 

20.  Das  Ausgabebuch  des  Marienburger  Hauskomturs  für 
die  Jahre  1410 — 1420.  Mit  Unterstützung  des  Vereins  für  die 
Herstellung  und  Ausschmückung  der  Marienburg  herausgegeben 
von  Dr.  Walther  Ziesemer.     Königsberg  i.  Pr.   1911. 

21.  Peters,  Hermann,  Die  historisch-pharmazeutische 
und  chemische  Sammlung  des  Germanischen  Nationalmuseums. 
Mitteilungen  aus  dem  Germanisehen  Nationalmuseum.  Jahrg. 
1913,  S.  44-95- 

22.  Diepgen,  Paul,  Geschichte  der  Medizin  11.  Mittel- 
alter.    Sammlung  Göschen.     Berlin  und  Leipzig   1914. 

23.  Das  Marienburger  Ämterbuch.  Mit  Unterstützung  des 
Vereins  für  die  Herstellung  und  Ausschmückung  der  Marien- 
burg herausgegeben  von  Dr.  Walther  Ziesemer.  Danzig 
1916. 

24.  Kaufmann,  F.,  Die  rosa-  und  rost-sporigen  Gattun- 
gen der  Blätterpilze  Volvaria,  Clatidopus,  Pluteus,  Clitopihts, 
Nolaiiea,  Leptonia,  Entoloma.  39.  Ber.  des  Westpr.  Botan.- 
Zoplg.  Ver.     Danzig  191 7.     S.   7—28. 

25.  Dahms,  Paul,  Der  Pfefl'ermilchling  Lactarms  pi- 
pcratus  Scop.  in  Westpreußen.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F. 
Bd.   18,  Nr.  36;  7.  Sept.   1919,  S.  505—513. 

26.  Schumann,  K.  und  Gilg,  E.,  Das  Pflanzenreich. 
Hausschatz  des  Wissens,  Abt.  V  (Bd.  7).  Neudamm  (ohne 
Jahreszahl). 

27.  Das  große  Ämterbuch  des  deutschen  Ordens.  Mit 
Unterstützung  des  Vereins  für  die  Herstellung  und  Ausschmük- 
kung  der  Marienburg  herausgegeben  von  Walther  Ziese- 
mer.    Danzig  1921. 


N.  F.  XX.  Nr.  i: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


i8i 


Einsteins  Weltbild  eine  Zahlenflktion » 


(Nachdxuck  v«bot.a.l  Von  Joseph  Scholl,  Fulda. 

In   Nr.  I    des  lfd.  Jahrgangs   dieser  Zeitschrift 
ist  ein  Aufsatz  erschienen,  der  unsere  Überschrift 
als  Untertitel  trägt.     In  „philosophisch  kritischen 
Untersuchungen"  will  der  Verf.  die  Wertlosigkeit 
der   Einst  einschen    Theorie    dartun.     Der  Auf- 
satz ist  in  extrem-positivistischem  Sinne  geschrie- 
ben.     Es   sei    mir  gestattet,    hier    die  Frage  auch 
einmal  vom  gegnerischen  Standpunkt,  vom  Stand- 
punkt des  kritischen  Realismus  aus  zu  beleuchten. 
Es  mag  ohne  weiteres  zugegeben  werden,  daß 
okjektiv   ein  Zusammenhang   besteht  zwischen 
den  Max well-Lorentzschen  Gleichungen  und 
Einsteins    Relativitätstheorie,    d.    h.    daß    eine 
Kombination  der  Lorentzkontraktion    mit   dem 
Prinzip   von   der  Konstanz   der  Lichtgeschwindig- 
keit    die     Lorentztransformation    ergibt.       Es 
dürfte  jedoch  zu  viel  behauptet  sein,  wenn  gesagt 
wird,  Einstein  habe   diesen  Weg  bei   der  Auf- 
stellung   seiner    Lorentztransformation    „unbe- 
wußt" benutzt.    Die  Tatsache,  daß  zwei  Gleichun- 
gen aus  der  Einst  einschen  Ableitung  zusammen- 
gefaßt  die   Lorentzkontraktion   ergeben,  bildet 
hierfür  keinen  Beweis.     Daß  Einstein  auf  ganz 
andere  Weise   zu  seinem  Resultat  gekommen  ist, 
geht  meines  Erachtens  sowohl   aus  seiner  mathe- 
matischen Ableitung  der  Lorentztransformation 
als   auch   besonders   aus   den  vorhergehenden  Er- 
wägungen   über    den   physikalischen    Raum-    und 
Zeilbegriff  und   über  das  Relativitätspostulat  mit 
aller  Klarheit  hervor.   Einstein  will  zeigen,  daß 
„in  Wahrheit  eine  Unvereinbarkeit  des  Relativitäts- 
prinzips mit  dem  Ausbreitungsgesetz   des  Lichtes 
gar  nicht  vorhanden  sei,  daß  man  vielmehr  durch 
systematisches   Festhalten    an   diesen   beiden    Ge- 
setzen zu  einer  logisch  einwandfreien  Theorie  ge- 
lange".    Lediglich  diese  beiden  IVIomente,  Gesetz 
der  Lichtausbreitung  im  Vakuum  und  Relativitäts- 
postulat,  sind   in    der  Einsteinschen  Rechnung 
verwendet,  von  der  Lorentzkontraktion   ist  mit 
keiner  Silbe  die  Rede.     Daß  sie   „unbewußt"   be- 
nutzt worden   sei,    kann  schon    deshalb  nicht  be- 
hauptet werden,  weil  Einstein  in  seiner  Rech- 
nung jedesmal  bei    der    Aufstellung    einer  neuen 
Gleichung  die  Erwägungen  genau  darlegt,  die  zur 
Aufstellung   dieser   Gleichung   führen,    abgesehen 
davon,  daß  es  nicht  recht  ersichtlich  ist,  wie  man 
bei   einer    Rechnung   eine  Gleichung  „unbewußt" 
benutzen  kann. 

Doch  sei  dem  wie  ihm  wolle,  es  ist  schließ- 
lich ganz  gleichgültig,  welchen  Weg  Einstein 
bei  der  Aufstellung  seiner  Theorie  subjektiv 
benutzt  hat;  es  kommt  nur  darauf  an,  ob  die 
Theorie  einen  wissenschaftlichen  Wert  hat  oder 
nicht.  In  dem  zur  Diskussion  stehenden  Aufsatze 
wird  ihr  jeder  wissenschaftliche  Wert  abgesprochen, 
sie  bedeute,  so  heißt  es,  gegenüber  der  Loren tz- 
sehen  Theorie  nichts  Neues,  sondern  sei  implizite 
in    ihr    enthalten.      „Die    Grundgleichungen    der 


Maxwell-Lorentz sehen  Theorie  und  Ein- 
steins spezieller  Relativitätstheorie  sind  exakt 
identische  Gleichungen."  Und  darum  sind  auch 
„in  Einsteins  L  o  r  e  n  t  z  transformationen  die 
gleichen  und  nur  die  gleichen  Erfahrungswerte 
enthalten  wie  in  den  Max  well  -  Loren  tzschen 
Gleichungen".  „Beide  beschreiben  das  in  Betracht 
kommende  Tatsachengebiet  der  Wirklichkeit  ent- 
sprechend, wenn  dabei  der  den  Maxwell- 
Lorentz  sehen  Gleichungen  entsprechende  Er- 
fahrungsbereich innegehalten  wird;  alles  übrige 
ist  Spekulation."  Damit  soll  die  Einstein- 
sche  Theorie  als  wertlos  abgetan  sein. 

Dieses  Werturteil  ist  meines  Erachtens  auch  auf 
positivistischem  Standpunkt  nicht  ganz  berechtigt. 
Der  Positivist  beschränkt  seine  wissenschaftliche 
Tätigkeit  darauf,  die  Erfahrungstatsachen  zu  regi- 
strieren, Gesetzmäßigkeiten  festzustellen  und  die 
gegenseitige  Abhängigkeit  der  Ereignisse  möglichst 
auf  mathemathische  Formeln  zu  bringen.  Alles 
übrige  verwirft  er  als  „Spekulation".  Von  diesem 
Standpunkt  aus  betrachtet  bringt  allerdings  die 
Relativitätstheorie  nichts  Neues,  d.  h.  keine 
neuen  Erfahrungstatsachen.  Die  Max- 
well-Lorentz sehe  Theorie  und  die  Relativitäts- 
theorie beschreiben  beide  dieselben  Er- 
fahrungstatsachen in  logisch  einwandfreier  Weise. 
Trotzdem  verdient  meiner  Ansicht  nach  auch  auf 
positivistischem  Standpunkt  die  Relativitätstheorie 
vor  der  Loren  tzschen  Theorie  den  Vorzug. 

Die  positivistische  Ansicht  über  den  Wert  und 
die  Bedeutung  von  Hypothesen  läßt  sich  kurz 
folgendermaßen  formulieren :  die  Hypothesen  sind 
Bilder  oder  Modelle,  die  sich  der  Mensch  von  den 
Naturerscheinungen  macht.  Ihr  Wert  ist  ein  dop- 
peher:  sie  vereinfachen  und  erleichtern  die  Be- 
schreibung der  Tatsachen  :denkökonomischer 
Wert,  und  sie  leiten  an  zur  Auffindung  neuer 
Tatsachen:  heuristischer  Wert.  Darüber 
hinaus  haben  sie  keinen  Erkenntniswert.  Insbe-, 
sondere  ist  die  Frage  müßig,  ob  eine  Hypothese 
richtig  oder  falsch  sei;  es  handelt  sich  ledig- 
lich darum,  ob  sie  „brauchbar"  ist,  d.  h.  ob 
sie  sich  dazu  eignet,  einen  gewissen  Tatsachen- 
komplex mit  hinreichender  Einfachheit  zu  be- 
schreiben. Je  größer  der  Tatsachenkom- 
plex ist,  den  eine  Hypothese  zu  beschreiben  ver- 
mag und  je  einfacher  und  verständlicher 
die  Beschreibung  ist,  desto  „brauchbarer", 
desto  „besser"  ist  die  Hypothese. 

Auch  wenn  man  die  Relativitätstheorie  von 
diesem  Standpunkt  aus  betrachtet,  muß  man  ihr 
meines  Erachtens  schon  einen  größeren  Wert  zu- 
erkennen als  der  Max  well  -  Loren  tzschen 
Theorie.  Denn  die  Relativitätstheorie  erklärt  oder 
beschreibt,  wie  Einstein  in  §i6  seiner  gemein- 
versländlichen  Schrift  ausführt,  alle  Erfahrungs- 
tatsachen,    die     die    Maxwell-Lorentzsche 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Theorie  beschreibt,  d.  h.  das  ganze  Tatsachen- 
gebiet der  Elektrodynamik  einschließlich 
der  Bewegung  der  Elektronen  und  des 
Michelsonversuches.  Die  letzteren  Tat- 
sachen konnte  Lorentz  nicht  ohne  die  Hilfs- 
hypothesen von  der  Abplattung  der  Elektronen 
und  von  der  Verkürzung  gegen  den  Äther  be- 
wegter Gegenstände  erklären.  Lorentz  selbst 
sieht  in  der  Notwendigkeit  dieser  Hilfshypothesen 
einen  Mangel  seiner  Theorie,  wenn  er  schreibt: 
„Sicherlich  haftet  diesem  Aufstellen  von  besonderen 
Hypothesen  für  jedes  neue  Versuchsergebnis  etwas 
Künstliches  an.  Befriedigender  wäre  es,  könnte 
man  mit  Hilfe  gewisser  grundlegender  Annahmen 
zeigen,  daß  viele  elektromagnetische  Vorgänge 
streng,  d.  h.  ohne  irgendwelche  Vernachlässigung 
von  Gliedern  höherer  Ordnung,  von  der  Bewegung 
des  Systems  unabhängig  sind."  ^)  In  der  Relativi- 
tätstheorie sind  diese  grundlegenden  Annahmen, 
von  denen  Lorentz  spricht,  gefunden.  Sie 
braucht  zur  Erklärung  der  Elektronenbewegung 
und  des  Michelsonversuches  keine  Hilfs- 
hypothesen, sondern  vermag  auch  diese  Tat- 
sachen direkt  aus  ihren  Grundprinzipien 
abzuleiten.  Sie  beschreibt  also  denselben 
Tatsachenkomplex  wie  die  Lorentzsche 
Theorie  mit  Hilfe  von  wenigeren  und  von 
einfacheren  Annahmen;  sie  ist  deshalb  auch 
vom  positivistischen  Standpunkt  aus  der  L  o  r  e  n  t  z  - 
sehen  Theorie  vorzuziehen  wegen  ihres  größeren 
denkökonomischen  Wertes.  Daß  sie  auch  heuri- 
stischen Wert  hat,  zeigt  Einstein  in  §  14  und 
15  seiner  gemeinverständHchen  Schrift. 

Wenn  man  nicht  auf  positivistischem,  sondern 
auf  realistischem  Standpunkt  steht,  wird  man,  wie 
allen  Hypothesen,  so  auch  der  Relativitätstheorie 
noch  einen  anderen  Erkenntniswert  zusprechen. 
Der  Realist  erblickt  in  einer  Hypothese  nicht  nur 
ein  Bild,  ein  Modell  oder  eine  Beschreibung  eines 
Tatbestandes,  sondern  eine  Vermutung  über 
den  Bestand  wirklicher  Tatsachen.  So 
erblicke  ich  z.  B.  in  der  Atomtheorie  nicht  nur 
eine  möglichst  denkökonomische  Beschreibung 
eines  gewissen  Komplexes  von  Erscheinungen, 
sondern  die  Vermutung,  die  Materie  möchte  wirk- 
lich aus  Atomen  zusammengesetzt  sein.  Die  Ele- 
mente unseres  Denkens  sind,  wie  es  in  dem  zur 
Diskussion  stehenden  Aufsatze  ganz  richtig  heißt, 
allerdings  nicht  reine  Gegenstände,  sondern  ihre 
gedanklichen  Gegenstücke;  sie  sind  aber  auch,  wie 
ich  noch  hinzufügen  möchte,  ihre  Abbilder. 
Das  Bestreben  der  wissenschaftlichen  Forschung 
ist  eben  darauf  gerichtet,  die  Gedankenelemente 
zu  möglichst  genauen  und  getreuen  Abbildern  der 
wirklichen  Dinge  zu  machen.  Um  dieses  Ziel  zu 
erreichen,  bedient  sich  die  Wissenschaft  oft  des 
Mittels  der  Hypothese.  Ein  klassisches  Beispiel 
hierfür  ist  die  Atomtheorie.  Gegeben  ist  eine 
Summe  von  Erfahrungstatsachen,  physikalische  und 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


')  Zitiert  bei  W.  B 1  o  c  h ,  „Einführung  in  die  Relativitäts- 
theorie".    Aus  Natur  und  Geisteswelt  Nr.  618,  S.  86. 


chemische  Erscheinungen.  Ein  Forscher  findet 
eines  Tages  heraus,  daß  sich  diese  Erscheinungen 
unter  einem  einheitlichen  Gesichtspunkt  zusam- 
menfassen und  auf  einfache,  leicht  verständliche, 
„denkökonomische"  Weise  beschreiben  lassen,  wenn 
man  die  Annahme  zugrunde  legt,  die  Materie  be- 
stehe aus  Atomen.  Bis  dahin  ist  die  Atomtheorie 
lediglich  eine  Fiktion  und  das  Atom  ein  Gedanken- 
gebilde ohne  reales  Gegenstück.  Dabei  kann  nun 
die  Wissenschaft  stehen  bleiben;  sie  kann  aber 
auch  noch  weiter  gehen  und  an  die  gemachte 
Feststellung  die  Vermutung  knüpfen,  jenes  Ge- 
dankengebilde möchte  tatsächlich  ein 
reales  Gegenstück  haben,  die  Materie 
möchte  wirklich  aus  Atomen  sich  aufbauen.  Und 
nun  muß  sie  in  dieser  Richtung  experimentell 
weiter  forschen  und  zusehen,  ob  die  Erfahrung 
diese  Vermutung  bestätigt,  ob  das  Vorhandensein 
von  Atomen  sich  nicht  erfahrungsgemäß  feststellen 
läßt.  Und  gerade  bei  der  Atomtheorie  ist  diese 
Feststellung  in  so  einwandfreier  Weise  gelungen, 
daß  selbst  hervorragende  Autoritäten  wie  Wil- 
helm Ostwald,  die  bis  vor  kurzem  die  Atom- 
theorie heftig  bekämpften,  in  letzter  Zeit  die 
wirkliche  Existenz  der  Atome  zugegeben 
haben.  Wir  sind  also  der  Meinung,  daß  den 
Hypothesen  neben  dem  denkökonomischen  noch 
ein  realer  Erkenntniswert  innewohnt.  Eine  Hypo- 
these ist  eine  auf  Grund  von  Erfahrungstatsachen 
aufgestellte  Vermutung  über  einen  Tatbestand. 
Sie  unterscheidet  sich  von  den  durch  Erfahrung 
sichergestellten  Ergebnissen  der  Forschung  durch 
den  Grad  der  subjektiven  Gewißheit; 
diese  stehen  unumstößlich  fest,  eine  Hypothese 
hat  nur  einen  gewissen  Grad  von  Wahr- 
scheinlichkeit. Die  Erfahrung  kann  diese 
Wahrscheinlichkeit  zur  Gewißheit  machen,  kann 
aber  auch  die  Falschheit  der  Hypothese  dartun. 
Ich  glaube  aber,  daß  es  für  unsere  Erkenntnis 
doch  schon  einigen  Wert  hat,  wenn  wir  uns  sagen 
können :  Vielleicht  oder  wahrscheinlich  besteht  der 
und  der  Tatbestand. 

Wenden  wir  unser  Ergebnis  auf  die  Relativi- 
tätstheorie an.  Die  spezielle  Relativitätstheorie 
ist  die  Vermutung,  daß  Raum-  und  Zeitbestim- 
mungen abhängig  sind  von  dem  Bewegungszu- 
stande des  Beobachters,  daß  es  kein  vor  allen 
andern  ausgezeichnetes  Koordinatensystem  gibt  und 
daß  alle  Vorgänge  in  der  Welt  so  verlaufen,  daß 
die  sie  beschreibenden  Gesetze,  wie  Einstein  es 
kurz  ausdrückt,  kovariant  sind  bezüglich  Loren  tz- 
transformationen.  Die  allgemeine  Relativitäts- 
theorie enthält  noch  weitere  Vermutungen  über 
die  Identität  von  träger  und  schwerer  Masse,  die 
Struktur  des  Raumes,  die  Entstehung  des  Lichtes 
usw.  In  diesen  Vermutungen,  die  auf  Erfahrungs- 
tatsachen gegründet  sind,  liegt  meines  Erachtens 
ein  realer  Erkenntniswert,  und  es  ist  nicht  an- 
gängig, sie  als  müßige  Zahlenspekulationen  einfach 
ad  acta  zu  legen.  Die  Forschung  hat  zu  prüfen, 
ob  die  Vermutungen  sich  in  der  Erfahrung  be- 
stätigen   oder  nicht.      Ich    glaube    nicht,    daß   es 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


183 


Einstein  oder  einem  seiner  Anhänger  jemals 
in  den  Sinn  gekommen  ist,  die  Relativitätstheorie 
als  unumstößliche  Wahrheit  anzusehen;  sie  wird 
vorläufig  nur  als  Vermutung,  als  Hypothese  be- 
trachtet, bis  auf  Grund  neuer,  hinreichender  Er- 
fahrungstatsachen eine  endgültige  Stellungnahme 
erfolgen  kann. 

Fassen  wir  zum  Schluß  das  Ergebnis  unserer 
Untersuchungen  noch  einmal  kurz  zusammen.  Die 
Relativitätstheorie  ist  eine  Hypothese,  deren  d  e  n  k  - 
ökonomischen  Wert  man  auch  auf  positi- 
vistischem Standpunkt  anerkennen  muß.  Auf 
realistischem  Standpunkt  wird  man  ihr  dar- 
über hinaus  noch  einen  realen  Erkenntnis- 
wert zusprechen,  insofern  sie  Vermutung  eines 
Talbestandes  ist.  Solche  Vermutungen  haben  in 
der  Wissenschaft  ihre  volle  Berechtigung,  wenn 
sie  auf  Erfahrungstatsachen  gestützt  sind,    wie  es 


bei  der  Relativitätstheorie  der  Fall  ist.  Der  Vor- 
wurf, „die  Relativitätstheorie  spekuliere  unerlaubt 
weit  über  die  zurzeit  festgestellten  Beobachtungen 
hinaus",  ist  unberechtigt;  denn  jeder  hat  das  Recht, 
auf  Grund  von  beobachteten  TatsachenVermutungen 
anzustellen  über  noch  nicht  beobachtete  Tatbe- 
stände. Der  Vorwurf  wäre  berechtigt,  wenn  die 
Relativitätstheorie  ihre  Ergebnisse  als  unumstöß- 
liche Gewißheit  hinstellen  wollte ;  aber  das  kommt 
ja  niemandem  in  den  Sinn.  Zum  Schluß  möge 
ein  Wort  Eduard  v.  Hartmanns  zitiert  wer- 
den: „Die  Hypotheseophobie  ist  eine  ebensolche 
Kinderkrankheit  der  modernen  Physik  wie  der 
Glaube  an  die  absolute  Gewißheit  ihrer  Lehren".*) 


1)  Schlußwort  der  „Weltanschauung  der  modernen  Physik", 
Leipzig,  Haacke  1909. 


Einzelberichte. 


StoflFstaiiuiig  und  Neubildiingsvorgiinge 
in  isolierten  Blättern. 

Daß  die  Bildung  von  Pflanzenorganen,  insbe- 
sondere bei  regenerativen  Vorgängen,  von  der 
Anhäufung  bestimmter  Stoffe  in  den  betreffenden 
Gewebepartien  abhängig  ist,  das  ist  ein  Gedanke, 
der  schon  seit  langer  Zeit  in  der  Pflanzen- 
physiologie geäußert  worden  ist  und  der  in  der 
Sachsschen  Lehre  von  den  organbildenden 
Substanzen  eine  spezielle  Wendung  genonimen 
hat.  Die  Betrachtungen  bewegen  sich  jedoch  fast 
ausschließlich  auf  theoretischem  Boden  und  so 
schien  es  erwünscht,  den  Beziehungen  zwischen 
Organbildung  und  Stoffanhäufung  experimentell 
nachzugehen.  Hier  setzen  die  Versuche  S.V.Simons 
(Zeitschr.  f.  Botanik  12.  1920)  ein,  die  sich  auf 
die  Gesneriacee  Sinningia  erstreckten.  Setzt 
man  abgeschnittene  Blätter  dieser  Pflanze  als 
Stecklinge  in  die  Erde,  dann  treten  nach 
einiger  Zeit  an  der  Basis  des  Blattstiels  Knollen 
auf,  die  sich  weiterhin  zu  normalen  Pflanzen 
entwickeln.  Eine  mikrochemische  Untersuchung 
des  Blattstielgewebes  ergab,  daß  der  Bildung 
der  Knolle  eine  Ansammlung  von  Kohle- 
hydraten vorausgeht,  die  wohl  für  den  Neu- 
bildungsprozeß verantwortlich  gemacht  werden 
kann.  Immerhin  wäre  der  Einwand  möglich,  daß 
die  Wunde  als  solche  die  Knollenbildung  auslöst. 
Um  diese  Möglichkeit  auszuschalten,  wurde  die 
Basis  des  Blattstiels  fortschreitend  bis  zu  einer 
Länge  von  3  cm  eingegipst,  so  daß  die  Bildung 
einer  basalen  Knolle  verhindert  wurde.  Es  zeigte 
sich  nun,  daß  jetzt  oberhalb  der  Gipshülle  eine 
Knolle  auftrat,  die  künstlich  bis  zur  Blattspreite 
hinaufgedrängt  werden  konnte,  so  daß  sie  außer- 
halb des  Bereiches  der  Wundwirkung  lag.  Ana- 
tomisch ergab  sich,  daß  hier  die  Kohlehydrate 
zunächst    ebenfalls    an    der    Basis    des    Blattstiels 


gespeichert  wurden,  daß  dann  aber  eine  Stauung 
eintrat,  die  über  die  Gipsgrenze  hinaufwanderte. 
Diese  Speicherung  in  der  gipsfreien  Zone  und  die 
Knollenbildung  fallen  zum  Teil  zusammen.  Nimmt 
man  nun  die  Gipshülle  ab,  dann  bildet  sich  nach 
einiger  Zeit  an  der  Basis  des  Blattstieles  eine 
starke  Knolle,  die  allmählich  die  zuerst  gebildete 
an  Größe  überholt.  iVlikroskopisch  läßt  sich  der 
Nachweis  erbringen,  daß  nun  ein  Abstrom  von 
Reservestoffen  in  den  inzwischen  entleerten 
basalen  Teil  des  Blattstieles  einsetzt  und  daß 
Schritt  für  Schritt  die  Kohlehydrate  aus  der 
oberen  Knolle  abgetragen  werden.  In  all  diesen 
Fällen  offenbart  sich  also  der  Zusammenhang 
zwischen  Sloffansammlung  und  Organbildung  auf 
das  Deutlichste.  Damit  soll  aber  nicht  gesagt 
sein,  daß  nicht  auch  andere  Faktoren  (z.  B.  die 
Polarität)  für  den  Ort  der  Neubildung  maßgebend 
sind.  P.  Stark. 


Ratten  als  Überträger  der  Trichophytie 
beim  Pferde. 

In  einem  von  der  „D.  Tier.  W."  der  „Tijd- 
skrift  voor  Diergeneeskunde"  von  19 19  übernom- 
menen Bericht  wurden  in  einem  Pferdebestande 
mehrere  Tiere  mit  den  charakteristischen  Er- 
scheinungen der  Trichophytie  (ring-  oder  kahl- 
machende Flechte)  behaftet  vorgefunden.  In  dem 
Stalle  waren  kurz  vorher  zahlreiche  Ratten  be- 
obachtet worden.  Diese  fürchteten  sich  nicht  vor 
den  Pferden  und  diese  ebensowenig  vor  jenen.  Die 
Ratten  liefen  über  die  liegenden  Pferde  hin,  saßen 
auf  und  in  der  Krippe  usw.  Einzelne  Pferde  hatten 
einen  abgegrenzten  Ausschlag  und  kahle  Flecke, 
andere  sahen  räudig  aus.  Bei  einer  gefangenen 
Ratte  fand  sich  ein  nässender  und  krustößer  Aus- 
schlag. Die  mikroskopische  Untersuchung  von 
iVIaterial   von  Haut   und   Haar   ergab   nicht  Favus 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


oder  Räude,  sondern  Trichophytie.  Diese  war 
von  den  Ratten  auf  diejenigen  Pferde  übertragen 
worden,  in  deren  Boxen  die  Ratten  zwischen  den 
Doppelwänden  ihre  Nester  hatten.  Bei  der  Be- 
kämpfung dieser  Hautkrankheit  der  Pferde  ist  da- 
her auch  die  Vernichtung  der  Ratten  nötig.  Aci- 
dum  arsenicos.  und  Bulbus  scillä  versagten  in  vor- 
liegendem Falle,  dagegen  erzielte  das  Rattenver- 
tilgungsmittel der  Reichsserumanstalt,  in  einer 
Menge  von  3  —  5  ccm  einer  vorher  mit  Äther 
narkotisierten  Ratte  subkutan  injiziert,  durch- 
schlagenden Erfolg.  Nach  dem  Erwachen  aus  der 
Narkose  wurde  die  Ratte  wieder  frei  gelassen. 
Innerhalb  von  10  Tagen  war  der  Stall  frei  von 
Ratten. 

Bei  dem  zuerst  erkrankten  Pferde  wuchsen  an 
den  abgeheilten  Hautstellen  weiße,  nicht  wie  sonst 
dunkler  gefärbte  Haare.  Pferde,  die  mit  Decken 
belegt  waren,  erkrankten  nur  am  Kopf  und  den 
Gliedmaßen,  weil  die  bedeckten  Stellen  vor  der 
Ratteninfektion  Schutz  hatten.  Reuter. 


Die  Geschlechtsbestimmung  im  Hühnerei. 

iVIittels  des  siderischen  Pendels  glauben 
Geflügelzüchter  das  Geschlecht  im  Hühnerei 
nachweisen  zu  können  und  zwar  sollen  die 
mehr  linienförmigen  (kleinelliptischen),  in  einer 
Ebene  sich  bewegenden  Pendelschwingungen 
das  männliche  und  die  kreisförmigen  oder 
großeliiptischen  Schwingungen  das  weibliche 
Geschlecht  andeuten.  Manche  wieder  machen  die 
Schwingungen  im  entgegengesetzten  Sinne,  also 
die  kreisförmigen  für  das  männliche  und  die  linien- 
förmigen für  das  weibliche  Geschlecht  geltend. 
Schömmer  erklärt  in  der  „D.  Tier.  W."  die 
Pendelschwingungen  dadurch,  daß  durch  das  ge- 
danklich gewollte  Festlegen  einer  Richtung  un- 
willkürlich durch  den  Finger  kleine  Impulse  erteilt 
werden,  die  schließlich  zur  Bewegung  führen  und 
zwar  ganz  gleichgültig,  ob  das  Ei  überhaupt  be- 
fruchtet ist  oder  nicht.  Schon  aus  diesem  Grunde 
ist  die  neuerdings  stark  vertretene  Anschauung 
von  der  Zuverlässigkeit  der  Pendel  probe  nicht 
haltbar.  Es  sind  daher,  wie  ein  anderer  Autor  in 
der  „D.  Tier.  W."  auf  Grund  genauer  Beobach- 
tungen nachgewiesen  hat,  die  Schwingungen ,  die 
zwischen  den  beiden  Polen  des  Eies  sich  abspielen, 
rein  zufälliger  Art,  die  unbeeinflußt  vom  Ge- 
schlecht des  Eies,  von  der  haltenden  Person  be- 
wirkt werden. 

Auch  eine  weitere  Methode,  aus  der  äuße- 
ren Gestalt  auf  das  zukünftige  Geschlecht  des 
eventl.  ausschlüpfenden  Hühnchens  schließen  zu 
können,  ist  nicht  zuverlässig,  bewegt  sich  aber 
mehr  auf  dem  Boden  des  Tatsächlichen  als  die 
Pendelschwingung  im  okkultistischen  Rahmen,  da 
man  mittels  des  siderischen  Pendels  auch  die 
weibliche  und  die  männliche  Handschrift,  wenn 
er  über  diesen  in  Schwingung  gerät,  nachweisen 
will.  Ist  ein  Ei  durch  einen  Querschnitt  in  zwei 
gleiche   oder   fast   gleiche  Hälften  teilbar,   so  sei 


der  Keim  weiblichen  Geschlechts.  Sind  die  durch 
einen  Querschnitt  erhaltenen  Teile  ungleich,  oder 
ist  der  eine  zugespitzt,  der  andere  abgestumpft, 
so  sei  er  männlichen  Geschlechts.  Bei  der  dahin- 
gehenden Probe  waren  nach  „Freund,  Die 
Vogelwelt  der  Küche"  7  "/o  Fehler,  bei  Eiern  ver- 
schiedener Rassen  14  \  festzustellen. 

Reuter. 


Versuche  über  die  Entstehung  yon  Tonerde- 
phosphaten. 

Wie  H.  Leitmeier  und  H.  H e  1 1  w i g  in  der 
Doelter-Festschrift  ^)  S.  41 — 67  ausführen,  dürften 
wohl  die  meisten  Phosphate  —  den  Apatit  aus- 
genommen —  Umwandlungsprodukte  sein,  die 
durch  Einwirkung  von  Phosphatlösungen  oder 
-dämpfen  auf  bereits  vorgebildete  Mineralien  ent- 
standen sind.  Dies  gilt  vor  allem  für  die  Ton- 
erdephosphate, obwohl  wir  über  die  hierher  ge- 
hörigen Mineralien  nur  recht  wenig  Angaben  be- 
sitzen. So  dürfte  der  Amblygonit  durch  post- 
vulkanische Prozesse  entstanden  sein.  Von  den 
übrigen  sind  nur  vom  Variszit  bzw.  Redondit 
nähere  Angaben  vorhanden.  Brauchbare  Angaben 
über  Synthesen  liegen  noch  nicht  vor.  Türkis 
wird  zwar  künstlich  hergestellt,  aber  einmal  haben 
wir  keine  genauen,  wissenschaftlich  geprüften  An- 
gaben über  die  Wege,  welche  dabei  die  Technik 
einschlägt,  die  diese  Produkte  zur  absichtlichen 
Nachahmung  der  edlen  Türkise  darstellt.  Sodann 
ist  die  Frage,  ob  der  so  künstlich  erhaltene  Türkis 
mit  dem  natürlichen  auch  tatsächlich  überein- 
stimmt, noch  nicht  entschieden,  da  sich  bei  den 
meisten  als  sichere  Kunststeine  erkannten  Tür- 
kisen Unterschiede  gegenüber  den  natürlichen 
herausgestellt  haben. 

Aus  einer  ausführlichen  Literaturzusammen- 
stellung über  die  natürlichen  Vorkommen  einiger 
Tonerdephosphate  und  der  Hypothesen  ihrer 
Entstehung,  auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen 
werden  kann,  geht  hervor,  daß  sich  als  Zersetzungs- 
produkte der  verschiedensten  Silikatgesteine,  die 
reich  an  Tonerdesilikaten  sind,  sich  im  wesent- 
lichen zwei  Phosphatmineralien,  Minervit  und 
Redondit,  durch  Umwandlung  bilden.  Der  von 
Gautier  aufgefundene  Original  -  Minervit  dürfte 
ein  einheitliches  Mineral  sein.  Er  erwies  sich  als 
frei  von  Alkalien  und  ließ  sich  auf  die  einfache 
Formel  AJ.jOg  ■P.,06-7HoO  zurückführen.  Was 
sonst  in  der  Literatur  unter  Minervit  beschrie- 
ben, ist  höchstwahrscheinlich  kein  einheitliches 
Mineral.  Die  Redonditanalysen  führen  alle  unge- 
zwungen auf  dieVariszitformel:  Al^Og  -PoOg  ■4H2O. 
Die  Variszitsubstanz  tritt  also  in  zwei  Varietäten 
auf,  die  eine  völlig  verschiedene  Entstehung 
haben.  Der  Redondit  —  und  auch  der  Minervit 
—  sind  gelartige  Guanomineralien,  der  eigentliche 
Variszit    ist    kristallin.      Über    seine    Entstehung 


•)  herausgegeben  von  H.   Leitmeier.     Verl.  Th.  Stein- 
kopff.     Dresden  und  Leipzig   1920. 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


I8S 


sind  wir  noch  nicht  weiter  unterrichtet,  jedenfalls 
ist  er  kein  Guanomineral. 

In  drei  Reihen  von  Versuchen  untersuchten 
nun  die  Verff.  die  Einwirkung  einer  wässerigen 
Ammoniumphosphatlösung  auf  Kaolin,  Feldspäte 
und  verschiedene  Gesteine,  da  auf  diese  Art  wahr- 
scheinlich die  Tonerdephosphate  der  Guanolager 
entstanden  sind.  Bei  einigen  Versuchen  wurde 
noch  Fluorammonium  zugesetzt,  doch  konnte,  wie 
vorausgenommen  sei,  in  keinem  der  dabei  erhal- 
tenen Produkte  Fluor  nachgewiesen  werden,  wäh- 
rend viele  natürliche  Tonerdephosphate  Fluor 
enthalten.  Die  Versuche  wurden  meist  derart 
ausgeführt,  daß  das  Kaolin-,  Feldspat-  oder  Ge- 
steinspulver mit  Ammoniumphosphat  in  einer 
Glasröhre  drei  Monate  bei  80"  oder  bei  Zimmer- 
temperatur geschüttelt.  Die  Versuche  zeigten 
folgende  Ergebnisse:  Es  zeigte  sich,  daß  die  na- 
mentlich von  Teall  angenommene  Umwandlung 
von  Silikaten  in  Tonerdephosphate  durch  Einwir- 
kung von  Phosphatlösungen  experimentell  durch- 
führbar ist  und  sich  Produkte  ergeben,  die  in 
ihrer  Zusammensetzung  den  in  der  Natur  gefun- 
denen ähnlich  sind.  Teall  nimmt  eine  Wechsel- 
wirkung von  gelöstem  Phosphat  und  festem  Silikat 
an,  also  eine  mehr  oder  weniger  weitgehende 
direkte  Ersetzung  von  SiO.,  durch  P3O5.  eine  Um- 
wandlung, die  soweit  geht,  bis  alles  SiOg  durch 
PaOg  ersetzt  ist.  Als  Beweis  für  diese  Bildungs- 
art  kommt  die  Auffindung  von  Zwischengliedern 
in  Betracht,  Silikatgesteinen,  in  denen  nur  ein 
Teil  der  S1O2  durch  P3O3  versetzt  worden  ist. 
Die  bedeutende  Vermehrung  des  P2O,-,  -  Gehaltes 
eines  Teils  der  synthetischen  Produkte  hängt 
sicher  auch  mit  der  etwas  höheren  Temperatur, 
die  angewandt  wurde,  zusammen.  Es  hat  sich 
gezeigt,  daß  der  Druck  hierbei  die  Reaktion  nicht 
begünstigen  kann,  da  ja  bei  dieser  Umwandlung 
ein  Körper  mit  größerem  Volumen  gebildet  wird. 
Silikate,  die  wasserhaltig  sind  und  durch  Zer- 
setzung aus  den  primären  Silikaten  hervorgegangen 
sind,  wie  der  Kaolin,  sind  leichter  zersetzbar.  Diese 
Zersetzung  findet  auch  unter  geringem  Druck 
statt.  Es  ist  durchaus  nicht  ausgeschlossen,  daß 
in  der  Natur  nicht  auch  der  Umwandlung  der 
Silikate  in  Phosphate  eine  Hydratisierung  bzw. 
Koalinisierung  vorausgeht.  Die  geringe  Menge 
von  PoO-, ,  die  die  Feldspate  bzw.  die  Feldspate 
der  untersuchten  Gesteine  aufgenommen  haben, 
kann  entweder  eine  Adsorptionserscheinung  sein, 
oder  es  hat  sich  doch  etwas  Phosphat  gebildet. 

F.  H. 

Die  Jahreszeittj'pen. 

Im  letzten  Jahrbuch  der  Zentralanstalt  für 
Meteorologie  in  Wien  sind  mehr  als  100 000 
Monatsmittel  veröffentlicht.  Die  jährliche  Gesamt- 
produktion aller  meteorologischen  Stationen  der 
Erde  dürfte  mehr  als  10  Milliarden  ergeben.  Es 
besteht  kein  Zweifel,  daß  an  die  zahlenmäßige 
Aufarbeitung  dieses  Riesenmaterials,  die  über  die 


letzten  40—70  Jahre  erstreckt  werden  muß,  nie 
geschritten  werden  kann.  Ja  sogar  die  einfache 
Publikation  des  Materials  selbst  wird  immer  schwie- 
riger, sie  verzögert  sich  immer  mehr;  und  jede 
Verzögerung  verschiebt  die  Aufarbeitung  um  so 
mehr.  Hier  rettend  einzugreifen  ist  die  dringend- 
ste Aufgabe  der  statistischen  Meteorologie.  Seit 
kurzem  versuchen  die  Forscher  eine  einfache  Auf- 
arbeitungsmethode, indem  sie  die  Zahlenwerte 
der  Angaben  außer  acht  lassen,  nur  ihre  Tendenz, 
die  Häufigkeit  und  die  Regel  deren  Aufeinander- 
folge untersuchen.  So  fand  man  z.  B.  in  Wien, 
daß  in  den  letzten  1 1  Jahren  die  Winter  immer 
eine  positive  Temperaturanomalie,  die  Sommer 
immer  eine  positive  Bewölkungsanomalie  hatten. 
Noch  auffallendere  Regelmäßigkeiten  ergaben  sich, 
wenn  nicht  ein  Wetterelement  allein,  sondern 
den  natürlichen  Verhältnissen  besser  entsprechend, 
mehrere  zusammen  und  gleichzeitig  geprüft  wur- 
den. So  fand  man,  daß  in  den  letzten  30  Jahren 
die  bewölkt-kalt- nassen  Sommer  und  die  bewölkt- 
warm-nassen Winter  überraschenderweise  häufiger 
wurden.  Die  einzig  mögliche  Erklärung  ist,  daß 
zwischen  beiden  Erscheinungen  ein  innerlicher 
Zusammenhang  bestehen  muß.  Es  läßt  sich  fol- 
genderweise bestätigen.  —  Im  allgemeinen  kann 
eine  Jahreszeit  auf  Grund  der  positiven  und  nega- 
tiven Anomalien  der  wichtigsten  Wetterelemente: 
Bewölkung,  Temperatur  und  Niederschlag,  folgende 
8  Typen  annehmen: 

Die  Typen  des   gleichzeitigen  Erschei- 
nens   der    Anomalien     von    Bewölkung, 
Temperatur  undNiederschlag: 

Nr.     Das  Vorzeichen  der  Anomalien  Benennung 

„      ..,,       ~  Nieder- 

Bewolk.     Temp.       ^^^j^^ 

-)-  4"  ~H         bewölkt       warm       naß 

+  +  —  >,  »         trocken 


I 

II 
III 

IV  — 

V  — 

VI  — 

VII  + 

VIII  — 


+  „  kalt         naß 

-\-  -j-  klar  warm         „ 

—  +  ,.  kalt 

-|-  —  „  warm  .  trocken 

—  ^  ,  bewölkt  kalt  „ 

—  —  klar 


Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  auf  einem  Sommer 
von  Typus  Nr.  III  ein  Winter  von  Typus  Nr.  I 
folgt,  ist  für  die  letzten  3  Jahrzehnte: 

Wie    oft    folgte    ein  Winter    von   Typus 
Nr.  I    einem    Sommer    von    Typus  Nr.  III 

(Wien) 

,  ,       ,  Auf  10  Sommer  von  Auf  die  anderen, 

janrzenni        .^^^^^  ^^    jjj  ^^^^^^      II— VIII  Typen,  fallen 

1890—1^99/0       3  Winter  v.  T.  Nr.  1  7   Winter 

1900—1909/0       4       „       „  „      „  6 

1910— 1919/0       7       „       „  „      „  3 

Also  besteht  die  größte  Wahrscheinlichkeit, 
daß  ein  Winter  von  T.  I  auf  einem  Sommer  von 
T.  III  folgt.  Auf  die  anderen  7  möglichen  Typen 
fällt  nur  höchstens  einer.  Der  Wahrscheinlich- 
keitsfaktor hat  in  den  letzten  drei  Jahrzehnten 
nach  einer  geometrischen  Reihe  —  3,  4.  7  — 
zugenommen.  Man  kann  annehmen,  daß  derselbe 
im  kommenden  Jahrzehnt  weiter  zunehmen  wird. 


tS6 


Naturwissenschaftliche  WochenschrifL 


-^^ — ■- 


N.  F,  XX;  Nr.  12 


Im  letzten  Jahrzehnt  ergab  nur  zur  Zeit  des 
Sonnenfleckminimums  Ausnahmen  und  zwar 
die  Winter  191 2/3  und  19 13/4.  Da  das  nächste 
Minimum  erst  nach  1923  kommt,  ist  der  heurige 
Winter  bewölkt -warm  zu  erwarten.  Jedenfalls 
lassen  sich  auch  für  andere  Jahreszeiten  charakte- 
ristische Aufeinanderfolgen  finden.  Die  Kultur 
und  die  Entwicklung  der  wirtschaftlichen  Vege- 
tation hängt  im  wesentlichen  von  den  oben  an- 
gegebenen Jahreszeittypen  ab,  so  daß  ihre  Er- 
kenntnis praktischen  Wert  hat,  denn  sie  würde  die 
landwirtschaftliche  Produktion  fördern.  Diese  hat 
also  Interesse  an  der  oben  angegebenen  Ver- 
arbeitung   der    meteorologischen    Beobachtungen. 

E.  Szolnoki. 

Schweinerotlauf  bei  Lämmern. 

Wie  beim  Geflügel,  vermag  auch  bei  den  Jung- 
schafen der  Rotlauf  bazillus  tödliche  Erkrankungen 
hervorzurufen.  Die  „Maanedsskrift  for  Dyrlaeger" 
Nr.  3 1,  1909  berichtet  von  der  großen  Sterblichkeit 
der  Lämmer  in  einem  Schafbestand.  Bei  der 
Sektion  fand  man  hämorrhagische  Darmentzündung 
mit  Vergrößerung  der  Mesentheriallymphdrüsen 
und  septische  Veränderungen  bestehend  in  De- 
generation in  den  Organen  und  kleine  Hämorrha- 
gien  unter  dem  Endo-  und  Epikardium.  Sowohl 
bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  als  bei  den 
Kulturversuchen  wurde  der  charakteristische  Ba- 
zillus des  Schweinerotlaufs  in  Reinkultur  ange- 
troffen. Rotlaufserum  war  bei  Mäuseversuchen 
imstande,  die  tödliche  Wirkung  des  Bazillus   auf- 


zuheben. Die  Virulenz  des  isolierten  Bazillus  war 
grauen  Mäusen  gegenüber  auffallend  hoch.  Im 
betr.  Haustierbestande  war  während  des  Auftretens 
der  Sterblichkeit  unter  den  Lämmern  kein  Fall 
von  Rotlauf  bei  Schweinen  aufgetreten. 

Reuter. 


Die  Beziehungen  zwischen  Tier- 
und  Meuschenpocken. 

Nach  der  Bollingerschen  Ansicht  gibt  es 
zwei  Arten  von  Pockenseuche,  Menschenpocken 
und  Schafpocken,  von  welchen  gelegentliche 
Übertragungen  und  kleinere  Ausbrüche  ihren  Aus- 
gang nehmen:  Kuhpocken,  Schweinepocken  und 
Ziegenpocken.  Auch  die  Blasen-  oder  Pocken- 
seuche des  Geflügels,  welche  oft  für  eine  Form 
der  Maul-  und  Klauenseuche  gehalten  wird  ist 
eine  Varietät  der  Pockenerkrankung.  Nach 'der 
„Zeitschr.  f.  Hyg.  u.  Inf"  suchte  Dr.  Chine  die 
vorliegende  Frage  experimentell  zu  lösen  und 
zwar  dadurch,  daß  er  sowohl  Menschenpocken  als 
auch  natürlich  vorkommende  Schweine-,  Ziegen- 
und  Schafpocken  über  das  Kaninchen  als  Pas^^age- 
tiere  auf  das  Rind  übertrug.  An  den  auf  diese 
Weise  schließlich  infizierten  Kälbern  wurden  regel- 
mäßig die  Erscheinungen  beobachtet,  wie  sie  bei 
der  Kuhpocke  aufzutreten  pflegen.  Aus  dieser 
Tatsache  zieht  der  Verf  den  Schluß,  daß  die  bei 
Menschen  und  Tieren  vorkommenden  Pockenarten 
alle  von  der  weitest  verbreiteten  Pockenart,  den 
Menschenpocken,  abstammen.  Reuter 


Schrenck-Notzing,  Freiherr  Dr.  A.  v.,  Physi- 
kalische Phänomene  des  Mediumismus. 
Mit  1 5  Tafeln  und  38  Strichzeichnungen  im  Text! 
201  S.  München  1920,  Verlag  von  Ernst  Rein- 
hardt.    26  M. 

Man  mag  die  wachsende  Zahl  der  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  zum  Okkultismus  je  nach  Neigung 
und  Überzeugung  gern  oder  ungern  sehen,  aber 
man  wird  jedenfalls  mit  der  so  lange  von  natur- 
wissenschaftlicher und  medizinischer  Seite  geübten 
Praxis,  ihn  sozusagen  als  nicht  vorhanden  zu  be- 
trachten oder  bestenfalls  als  Schwindel  abzutun, 
bei  uns  ebenso  brechen  müssen,  wie  es  in  anderen 
Ländern  schon  früher  geschehen  mußte. 

Freiherr  v.  Schrenck-Notzing  ist  weiten 
Kreisen  wohl  hauptsächlich  durch  sein  Werk  über 
Materialisationsphänomene  bekannt,  das  seit  seinem 
Erscheinen  zu  einem  so  lebhaften  Austausch  für 
und  wider  geführt  hat.  Hier  soll  darauf  nur  so- 
weit eingegangen  werden,  als  sein  neues  Werk  in 
einem  ziemlich  ausführlichen  Anhang  über  Nach- 
prüfungen des  französischen  Forschers  G.  Geley 
mit  derselben  Versuchsperson  berichtet,  die  Punkt 
für    Punkt    die    früheren    Angaben    Schrenck- 


Bücherbesprechungen. 


Notzings  bestätigen.  Da  die  Kontrolle  sehr 
streng  gewesen  zu  sein  scheint,  bilden  die  neuen 
Ergebnisse  zweifellos  eine  beachtenswerte  Be- 
kräftigung der  so  heftig  bestrittenen  Resuhate  des 
deutschen  Forschers. 

Im  übrigen  besteht  das  neue  Buch  Schrenck- 
Notzings  aus  einzelnen  Studien  verschiedener 
Art,  teils  Referate,  teils  eigene  Untersuchungen. 
Überall  dreht  es  sich  in  der  Hauptsache  um  die 
Erscheinungen  der„Telekinese",  also  die  Erzeugung 
mechanischer  Wirkungen  seitens  einer  dafür  be- 
anlagten  Person  (Medium)  ohne  (anscheinenden) 
direkten  Kontakt.  Diese  Wirkungen  gehen  von 
der  Bewegung  leichter  kleiner  Körper  (Zelluloid- 
kugeln, Löffel  usw.)  bis  zur  Hebung  von  Tischen 
und  noch  schwererer  Gegenstände  (einmal  wurde 
ein  mehrere  Zentner  schwerer  Flügel  einseitie  ge- 
hoben). ^  ^ 

Das  Buch  beginnt  mit  einer  zusammengefaßten 
Wiedergabe  der  einschlägigen  Untersuchungen  von 
Ochorowicz  mit  dem  Medium  Stanislawa 
Tomczyk,  sodann  folgen  eigene  Untersuchungen 
des  Autors  mit  demselben  Medium,  die  in  allem 
wesentlichen   die   früheren  Ergebnisse   bestätigen 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


187 


Daran  schließt  sich  eine  Zifsammenstellung  ent- 
sprechender Erscheinungen,  die  bei  dem  sehr  be- 
kannten, kürzlich  verstorbenen  italienischen  Medium 
Eusapia  Palladino  zu  verschiedenen  Zeiten 
und  an  verschiedenen  Orten  von  vielen  Beobachtern 
festgestellt  worden  sind.  Außer  ihm  selber  nennt 
der  Verf.  die  bekannten  Forscher  Rieh  et,  Sir 
Oliver  Lodge,  Henri  Bergson,  Max  Des- 
soir  usw.  Leider  scheint  festzustehen,  daß  die 
Palladino  nicht  selten  betrogen  hat,  und  es  ist 
klar,  daß  dieser  Umstand  einen  unauslöschlichen 
Rest  von  Mißtrauen  ihren  Leistungen  gegenüber 
hinterlassen  muß.  Glücklicherweise  aber  wieder- 
holen sich  auch  auf  diesem  Gebiete  die  Erschei- 
nungen, und  in  diesem  Sinne  können  die  Angaben 
nachgeprüft  werden. 

Nachdem  Schrenck-Notzing  weiterhin  in 
einem  kurzen,  aber  interessanten  Abschnitt  über 
eigene  Untersuchungen  an  verschiedenen  Personen 
berichtet  hat,  gibt  er  einen  ausführlichen  Auszug 
neuerer  Versuche  (1915 — 16)  des  englischen 
Forschers  Crawford,  die  gut  kontrolliert  scheinen, 
eine  Fülle  von  Stoff  bieten  und  frühere  Erfahrungen 
bestätigen  und  weiterlühren,  vor  allem  aber  auch 
in  theoretischer  Hinsicht  interessant  sind.  Hier- 
mit schließen  (bis  auf  den  schon  oben  erwähnten 
Anhang)  die  experimentellen  Beiträge  und  es  folgen 
noch  Erörterungen  theoretischer  Art. 

Die  erwähnten  Untersuchungen  über  Telekinese 
scheinen  insgesamt  einen  eigentümlichen  und  rät- 
selhaften Tatbestand  zu  enthüllen,  daß  nämlich, 
während  nach  sozusagen  einstimmiger  Behauptung 
sämtlicher  Sachkenner  tasrhenspielerischer  Betrug 
nicht  zur  Erklärung  ausreicht,  oft  auch  überhaupt 
ausgeschlossen  war,  dennoch  eine  eigenartige 
mechanische  Vermittlung  vorhanden  ist, 
so  daß  es  sich  anscheinend  überhaupt  um  keine 
Fernwirkungen  handelt.  Diese  Vermittlung 
knüpft  sich  nach  den  Autoren  an  eine  eigentüm- 
liche plastische  Masse,  die  bei  den  Sitzungen  in 
Form  von  Fäden,  Ruten,  rüsselartigen,  ja  säulen- 
förmigen Gebilden  beobachtet  werden  kann.  Die 
Gebilde  sind  bald  mehr  weich,  halbflüssig,  bald 
steif  und  elastisch,  dem  Auge  meist  unsichtbar, 
gelegentlich  aber  auch  sieht-  und  photographier- 
bar,  sogar  schwach  selbstleuchtend  1  Die  proble- 
matische Masse  geht  wesentlich  von  dem  Körper 
des  Mediums  aus,  ja  aus  ihm  hervor  und  vermag 
zunächst  die  verschiedensten  mechanischen  Wir- 
kungen auszuüben,  indem  sie  mit  dem  Körper  des 
Mediums  dauernd  verbunden  bleibt  und  ihn  ge- 
wissermaßen als  Widerlager  benutzt.  Während 
sie  emaniert  ist,  verliert  nach  Wägeversuchen  das 
Medium  an  Gewicht;  Crawford  will  sogar  in 
einzelnen  Fällen  Gewichtsverluste  bis  gegen  25  kg 
festgestellt  haben  (?),  was  ungefähr  der  Hälfte  des 
Körpergewichts  seines  Mediums  entsprach.  Bei 
Störungen  oder  am  Schlüsse  der  Sitzung  kehrt 
die  rätselhafte  Substanz  in  den  Körper  des  Mediums 
zurück.  Sie  ist  ferner  lichtempfindlich  und  besitzt 
noch  eine  ganze  Reihe  anderer  bestimmbarer 
Eigenschaften.     Die   merkwürdigste  und  unglaub- 


lichste von  allen  ist  aber  jedenfalls  die,  daß  sie 
auch  unter  psychischer  Kontrolle  des 
Mediums  steht:  sie  handelt  den  Vorstellungen, 
Wünschen  usw.  desselben  entsprechend,  wie  ein 
intelligent  geführtes  Glied.  Und  ncch  einen  Schritt 
weiter:  Schrenck-Notzing  und  andere  Forscher 
vertreten  die  Auffassung,  daß  die  gleiche  Masse 
in  einem  weiterentwickelten  Zustande  die  Trägerin 
der  Materialisationsphänomene  sei,  daß  sie  also 
selbsttätig  Gestalten  anzunehmen  vermöge,  die 
den  Vorstellungen  des  Mediums  mehr  oder  minder 
entsprechen,  je  nachdem  diese  selbst  entwickelt 
sind. 

Es  braucht  kaum  besonders  hervorgehoben  zu 
werden,  daß  wir  einen  derartigen  Zustand  der 
Materie  anderweit  noch  nicht  kennen  und  daß 
seine  endgültige  Bestätigung  uns  Rätsel  über  Rätsel 
aufgeben  würde.  Demgegenüber  ist  wesentlich, 
daß  es  sich  nach  Angabe  der  verschiedenen  Unter- 
sucher nicht  etwa  um  ein  hypothetisches  Gebilde, 
sondern  um  beobachtete  Tatsachen  handelt:  die 
Materie  sei  gesehen,  gewogen,  gefühlt,  photogra- 
phiert  worden,  nach  wesentlich  übereinstimmenden 
Berichten  verschiedener  voneinander  unabhängiger 
Autoren,  die  natürlich  bis  auf  weiteres  die  volle 
Verantwortung  für  ihre  Angaben  übernehmen 
müssen. 

Der  gegenwärtige  Stand  der  Frage,  wie  ihn 
Schrenck-Notzings  neues  Buch  darlegt,  scheint 
mir  auch  für  kritisch  ablehnende  Kreise,  ja  gerade 
für  solche,  in  doppelter  Hinsicht  bemerkenswert. 
Erstlich  ist  erfreulich  der  behauptete  Nachweis 
einer  mechanischen  Vermittlung  bei  der  Telekinese, 
die  die  Annahme  materieller  Fernwirkungen  er- 
spart. Der  zweite  Punkt  ist  allgemeiner  Art:  es 
kann  kaum  zweifelhaft  sein,  daß,  nachdem  diese 
Dinge  soweit  gediehen  sind,  also  die  Behauptung 
objektiv  nachweisbarer  stofflicher  Emanationen 
bekannter  Herkunft,  wenngleich  unbekannter  Natur 
zur  Diskussion  steht  —  daß  es  dann  bis  zu  einer 
endgültigen,  allgemein  anerkannten  Entscheidung 
unmöglich  mehr  weit  sein  kann.  Denn  Nach- 
prüfungen —  natürlich  an  geeigneten  Personen  — 
und  erneute  objektive  Feststellungen  erscheinen 
unter  diesen  Umständen  mit  gleicher  Sicherheit 
möglich  wie  bei  jeder  anderen  rein  naturwissen- 
schaftlichen Frage,  so  daß  man  voraussichtlich 
bald  wissen  wird,  ob  derartige  Emanationen  all- 
gemein bei  solchen  Versuchen  vorkommen.  Das 
wäre  ein  begrüßenswerter  Fortschritt  zur  Aner- 
kennung und  Aufklärung  dieser  noch  so  rätsel- 
haften physikalischen  Erscheinungen  des  Mediumis- 
mus. Indem  Schrenck-Notzing,  teils  be- 
richtend, teils  auf  Grund  eigener  Forschung,  in 
Zusammenfassung  alles  bisher  Ermittelten  die 
Sache  auf  diesen  entscheidenden  Punkt  geführt 
hat,  hat  er  der  okkulten  P'orschung  einen  Dienst 
erwiesen ,  den  auch  grundsätzliche  Gegner  aner- 
kennen werden. 

Ich  versage  mir,  auf  weitere  Einzelheiten  ein- 
zugehen.   Nur  möchte  ich  zum  Schlüsse  noch  be> 


i88 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  i: 


merken,  daß  in  diesen  Zeilen  bewußt  davon  ab- 
gesehen wurde,  den  behaupteten  Erscheinungen 
gegenüber  einen  grundsätzlich  ablehnenden  Stand- 
punkt zu  entwickeln.  Bei  aller  Problematik  im 
einzelnen  besteht  doch  kein  triftiger  Grund,  die 
Möglichkeit  derartiger  Dinge  a  priori  zu  verneinen. 
Ist  dem  aber  so,  dann  ist  auch  niemand  berechtigt, 
aus  allgemeinen  Gründen  anzunehmen,  daß  alle 
voneinander  unabhängigen  wirklichen  Untersucher 
Opfer  unerklärlicher  Täuschungen  geworden  seien, 
während  der  Kritiker  aus  der  Entfernung  und 
ohne  eigne  Kenntnis  der  behaupteten  Erschei- 
nungen zu  einem  negativen  Urteil  befugt  sei. 

V.  Wasielewski. 


Luschan,  F.  v.,  Die  Altertümer  von  Benin. 
Herausgegeben    mit  Unterstützung   des  Reichs- 
kolonialministeriums,   der   Arthur   Bäßler-    und 
Rudolf    Virchow  -  Stiftung.      Veröfifentlichungen 
aus    dem    Museum     für    Völkerkunde    VIII— X. 
522  S.     129  Tafeln    in  Lichtdruck    und  24  Er- 
gänzungstafeln in  Autotypie,  889  Textabbildgn. 
Berlin  und  Leipzig   1919,    Vereinigung    wissen- 
schaftlicher Verleger  Walter  de  Gruyter  &  Co. 
—    Preis;    Textband    kartoniert    und    2    Tafel- 
mappen 250  M. 
Dem  vorliegenden  Werk  gebührt  in  der  großen 
Zahl  der  völkerkundlichen  Veröffentlichungen  aus 
den  beiden  Jahrzehnten   des   20.  Jahrhunderts  ein 
Ruhmesplatz.   Nicht  allein  deswegen,  weil  es  durch 
seine  Ausstattung  hervoiragt,   sondern  auch,  weil 
es    eine    der    gediegensten    Leistungen   deutscher 
Gelehrtenarbeit  überhaupt  darstellt.    Mit  unermüd- 
lichem Sammelfleiß    hat    sein    Verfasser    in    jahr- 
zehntelanger   Arbeit  zusammengetragen,  was  ihm 
an  Altertümern  aus  Benin   auf  dem  Kunstmarkte 
begegnete   oder  was  er  in  Museen   des   In-    und 
Auslandes  ermitteln   konnte.     Wiederum   in  jahr- 
zehntelanger Arbeit   hat    er  dieses  Material  dann 
gesichtet  und  innerlich  verarbeitet,  um  allen  Fein- 
heiten   gerecht    zu    werden,    aber    auch    um    alle 
Fälschungen    auszuscheiden.      Dazu    brauchte    er 
eine  große  Sammlung   von    Originalstücken;    und 
diese   Sammlung   hat  v.  L.   in   Berlin   geschaffen. 
Gerade   dies  Verdienst   ist  gar  nicht  hoch  genug 
anzuschlagen,  zumal  wenn  wir  den  Umfang  dieser 
Sammlung  im  Vergleich  mit  denen  des  Auslandes 
überblicken.     In  die  englischen  Sammlungen  sind 
von  den  heute  festzustellenden   rund  2400  Benin- 
altertümern   überhaupt    nur    507   Stück    gelangt. 
1249  Stück  kamen  nach  Deutschland,  davon  nach 
Berlin    allein    dank   des   geschickten  musealpoliti- 
schen Wirkens  v.  L.s  nicht  weniger  als  580  Stück. 
Diese    wertvolle   Monographie     der    afrikanischen 
Kunstgeschichte  hat  der  Verf.,  gewiß  ein  schönes 
Zeichen  der  Dankbarkeit,  dem  Nestor  der  Afrika- 
forschung   Georg    Schwein furth    gewidmet, 
der  als  einer  der  ersten   durch  sein  Werk  „Artes 
africanae"    unsere     Augen    auf    die    afrikanische 
Kunst   lenkte,    wie   er   überhaupt   für    die    ganze 
Afrikaforschung  mit    die  Grundlagen  schuf. 

Benin  war  die  Hauptstadt  eines  Königsreiches 


an  der  Westküste  von  Afrika.  Wohl  haben  sich 
in  der  europäischen  Literatur  schon  aus  dem 
17.  Jahrhundert  Berichte  über  dieses  Königreich 
erhalten,  die  sich  gar  nicht  genug  tun  konnten  in 
der  Schilderung  des  Glanzes  und  der  Herrlichkeit, 
die  ihre  Verff.  am  Königshofe  von  Benin  mit 
eigenen  Augen  gesehen  hatten.  Aber  all  diese 
Berichte  waren  in  Vergessenheit  geraten  und 
Benin  selbst  nicht  weiter  beachtet  worden.  Ge- 
wissermaßen durch  einen  Zufall  trat  dann  Benin 
gegen  Ende  des  19.  Jahrhunderts  in  den  Vorder- 
grund des  Interesses  der  Afrikaforschung.  1897 
wollte  ein  britischer  Regierungskommissar  dem 
König  von  Benin  einen  Besuch  machen.  Der 
König  verbat  sich  diesen  Besuch.  Der  Brite 
wollte  jedoch  seinen  Willen  durchsetzen.  Da 
wurde  er  und  seine  Expedition  überfallen,  nur 
zwei  Mitgliedern  gelang  es  rieh  zu  retten.  Sofort 
sandte  England  eine  Flotte  von  9  Kriegsschiffen 
nach  Benin,  die  die  Stadt  erobern  und  alles  dem 
Erdboden  gleich  machen  mußte.  Um  die  Stadt 
selbst,  um  ihre  Denkmäler  hat  sich  dabei  niemand 
weiter  gekümmert.  Kaum  gelangten  jedoch  die 
ersten  bei  der  Eroberung  gemachten  Beutestücke 
nach  Europa,  da  erregten  sie  durch  ihre  Technik, 
die  durchweg  auf  der  Höhe  des  überhaupt  Er- 
reichbaren steht,  und  durch  die  Originalität  ihrer 
Darstellungen  die  Aufmerksamkeit  der  Gelehrten, 
die  Museen  begannen  in  der  Erwerbung  von 
Beninstücken  zu  wetteifern,  und  die  Nachfrage 
nach  Beninaltertümern  wurde  schließlich  so  groß, 
daß  ein  lebhaftes  Fälschergewerbe  einsetzte.  Über 
20  Jahre  sind  seitdem  vergangen.  In  ihrem  Ver- 
lauf haben  sich  viele  mit  dem  Studium  der  Benin- 
kunst beschäftigt,  und  die  Rätsel,  die  sich  an  ihre 
Entstehung  anknüpften,  zu  lösen  versucht.  Letz- 
teres wäre  ja  nun  eigentlich  Aufgabe  der  eng- 
lischen Forschung  gewesen,  da  ja  Benin  zum  eng- 
lischen Machtbereich  gehörte.  Aber  gleichwie 
die  Deutschen  seit  der  Entdeckung  der  ersten 
Beninaltertümer  das  meiste  Interesse  für  diese 
bekundet  und  die  meisten  und  wertvollsten  Stücke 
für  ihre  Museen  zu  erwerben  wußten,  so  mußte 
es  auch  ein  deutscher  Gelehrter  sein,  der  das 
Fundamentalwerk  über  diese  Funde  schuf. 

Innerhalb  der  afrikanischen  Kunst  nehmen  die 
Beninaltertümer  eine  ganz  eigenartige  Stellung  ein. 
Ihre  Hauptwerke  bilden  Bronzegußwerke  der 
allermannigfaltigsten  Art:  Platten  mit  Darstellun- 
gen von  Europäern  und  Eingeborenen,  alle  wunder- 
voll modelliert  und  Meisterwerke  der  Gußtechnik, 
Rundfiguren  von  Hähnen,  Leoparden  und  Schlan- 
gen, überlebensgroße  Köpfe  von  Männern  und 
Frauen,  gleichfalls  überlebensgroße  Gruppen  aus 
dem  Hofstaat,  daneben  aber  auch  Kleingerät: 
Glocken,  Schellen,  Anhänger,  Armbänder,  Lampen, 
Schlüssel  usw.,  aber  auch  Waffen  und  Geräte. 
Weiter  findet  sich  aber  auch  eine  hochentwickelte 
Schnitzkunst,  die  als  Material  sowohl  Holz  als 
auch  Elfenbein  verwendet  und  mit  den  mannig- 
faltigsten Darstellungen  ausschmückt. 

Zwei  Fragen  waren  es  vor  allem,   welche  die 


N.  F.  XX.  Nr.  i: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


189 


Gelehrten  beim  Studium  dieser  Kunst  fesselten. 
Zunächst  einmal  die  Frage  nach  dem  Alter 
dieser  Kunst.  Seit  1897  hat  es  an  Theorien 
und  Hypothesen  darüber  nicht  gefehlt.  Ihnen 
ging  jedoch  v.  L.  aus  dem  Wege;  er  ließ  sich 
lediglich  durch  ein  Studium  des  IVlaterials  selber  lei- 
ten. Da  waren  es  vor  allen  Dingen  die  Platten  mit 
den  Darstellungen  von  Europäern,  die  sich  durch 
die  dort  dargestellte  Tracht,  die  Bewaffnung  usw. 
gut  datieren  ließen;  fast  alle  diese  Platten  stam- 
men aus  dem  16.,  vielleicht  erst  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert. Aus  stilistischen  Gründen  muß  man  auch 
die  große  Zahl  der  übrigen  Platten  derselben  Zeit 
zuweisen.  Hingegen  finden  sich  einige  Platten, 
die  vielleicht  älter,  andere,  die  sehr  viel  jünger 
sind.  Es  gibt  sogar  solche,  die  erst  nach  1897, 
nach  der  Zerstörung  von  Benin,  hergestellt  sind. 
Die  Beninkunst  läßt  sich  also  über  vier  Jahr- 
hunderte hindurch  verfolgen.  Innerhalb  dieses 
Rahmens  lassen  sich  auch  das  Kleingerät  und  die 
Schnitzfunde  einordnen. 

Wie  aber  ist  die  Kunst  selbst  zu- 
stande gekommen?  Als  einheimische  auto- 
chihone  Kunst  konnte  sich  vor  allen  Dingen  die 
hochentwickelte  Gußtechnik  niemand  denken ; 
deutsche  Artilleristen,  indische  Gelbgießer,  portu- 
giesische Juden  wurden  deshalb  als  wahre  Väter 
von  alle  dem,  was  gut  und  schön  war,  gemut- 
maßt. Nach  V.  L.s  Forschungen  lassen  sich  euro- 
päische Einflüsse  gewiß  auch  an  den  Beninalter- 
tümern nicht  verkennen,  dazu  kommen  aber 
solche  aus  fast  allen  afrikanischen  Nachbargebieten. 
V.  L.  ist  grundsätzlich  der  Meinung,  daß  die  Kunst 
von  Benin  bodenständig  im  besten  Sinne  des 
Wortes  sei,  „rein  afrikanisch  durchaus  und  aus- 
schließlich ganz  allein  afrikanisch". 

Gerade  durch  die  zielbewußte  methodische 
Lösung  dieser  beiden  Fragen  hat  v.  L.  neue  Grund- 
lagen und  neue  weite  Ausblicke  für  die  gesamte 
Afrikaforschung  geschaffen,  auf  die  die  deutsche 
Forschung  stolz  sein  kann. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Schroeder,  H.,  Die  Stellung  der  grünen 
Pflanze  im  irdischen  Kosmos.  93  S. 
Berlin  1920,  Gebr.  Bornträger.  Brosch.  8  M. 
In  höchst  geistvoller  Weise  macht  der  Verf. 
ein  gebildetes  Laienpublikum  mit  der  Bedeutung 
der  grünen  Pflanze  für  das  Gesamtleben  auf  der 
Erde  bekannt.  Das  Wesen  der  Kohlensäure- 
assimilation wird  unter  dem  Gesichtspunkt  des 
Gesamtumsatzes  von  chemischer  Energie  eingehend 
gewürdigt  und  den  meisten  Lesern ,  für  die  das 
Buch  bestimmt  ist,  wird  wohl  zum  ersten  IMale 
klar  werden,  daß  die  grüne  Pflanze  eine  ganz  be- 
sondere Stellung  in  ihrem  Leben  einnimmt.  Wenn 
der  Leser  alle  Einzelheiten  vergessen  haben  wird, 
so  wird  ihm  als  dauernder  Gewinn  aus  der  Lek- 
türe des  Schroederschen  Buches  das  Bewußt- 
sein bleiben,  bisher  an  einer  Erscheinung  vorbei- 
gelaufen zu  sein,  deren  problematische  Bedeutung 
er  nicht  erkannt  hatte.    Er  wird  sich  merken,  daß 


das  Tier  und  alle  nicht  grünen  Pflanzen  chemische 
Energie  vernichten,  während  die  grüne  Pflanze 
diese  unter  Verwertung  der  Sonnenenergie  er- 
zeugt. 

Der  Verf.  legt  besonderes  Gewicht  darauf,  daß 
dem  Leser  populärwissenschaftlicher  Vorträge 
oder  Abhandlungen  ein  Gewinn  bleibt,  ohne  daß 
er  sich  als  Dilettant  mit  dem  vorgetragenen  Tat- 
sachenmaterial eingehender  beschäftigt,  und  er 
sieht  die  Aufgabe  populärwissenschaftlicher  Schrift- 
steller darin,  „einen  großen  Gesichtspunkt,  der 
allseitig  gesicherter  Besitz  wissenschaftlicher  Er- 
kenntnis sein  muß,  der  Allgemeinheit  zu  er- 
schließen". Der  Autor  soll  keine  Proselyten 
machen  und  keine  Tatsachen  lehren,  „weil  bei 
den  Zuhörern  die  Muße  zu  einer  fortgesetzten, 
gründlichen,  also  mehr  als  Halbwissen  zeugender 
Weiterarbeit  in  dem  berührten  Gebiete  nicht 
vorauszusetzen  ist"  und  „weil  mühelos  erworbenes, 
nicht  erarbeitetes  Wissen  ohne  auffrischende  Wieder- 
holung keinen  Bestand  hat".  Dieser  Standpunkt 
des  Verf.  scheint  dem  Referenten  recht  beachtens- 
wert und  gerade  in  einer  Zeitschrift,  deren  Leser 
wohl  durchweg  auf  einem  anderen  Standpunkt 
stehen,  besonders  hervorgehoben  werden  zu 
müssen. 

Unsere  ganze  populär  -  naturwissenschaftliche 
Literatur  ist,  im  Grunde  genommen,  hervorge- 
gangen aus  Opposition  gegen  die  einseitige  Be- 
tonung der  historisch  philologischen  Wissenschaf- 
ten auf  unseren  Schulen,  denen  infolgedessen 
keine  Zeit  bleibt,  naturwissenschaftliche  Fragen 
mit  derselben  Gründlichkeit  zu  behandeln  wie 
Sprachen,  Geschichte  und  Mathematik.  Die  natur- 
wissenschaftlichen Schriftsteller  haben  daher  den 
Wunsch,  ihre  Wissenschaft  außerhalb  der  Schule 
der  Jugend  und  den  sich  ihrer  mangelhaften 
naturwissenschaftlichen  Bildung  mehr  oder  weniger 
bewußt  gewordenen  Erwachsenen  zugänglich  zu 
machen.  Sie  arbeiten,  im  Gegensatz  zu  Schroe- 
der, in  der  Regel  darauf  hin,  Proselyten  zu 
machen,  Tatsachen  zu  lehren  und  die  Leser  an- 
zuregen, sich  privatim  mit  dem  Gelernten  weiter 
zu  beschäftigen,  damit  sie  sehen,  daß  es  außer 
der  Welt  der  sog.  Geisteswissenschaften  noch  eine 
andere  gibt,  die  ihnen  von  Rechts  wegen  nicht 
vorenthalten  werden  dürfte.  Daß  in  der  populär- 
wissenschaftlichen Literatur  sehr  viel  Minderwerti- 
ges produziert  wird,  das  besser  ungeschrieben 
geblieben  wäre,  ist  nicht  zu  leugnen.  Daß  durch 
den  Dilettantismus  Halbbildung  großgezogen  wer- 
den kann,  steht  ebenfalls  fest.  Aber  das  finden 
wir  nicht  nur  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiet, 
sondern  überall,  wo  dilettiert  wird.  Und  doch 
ist  gerade  ernsthafte  Liebhaberarbeit  etwas,  was 
den  Berufsmenschen  über  die  fade  Alltäglichkeit 
emporhebt,  und  wie  Dilettantismus  in  der  Musik 
z.  B.  unmerklich  in  Kunst  übergehen  kann,  er- 
leben wir  doch  täglich.  Wir  wissen,  wie  die 
Amateurphotographie  die  Berufsphotographie  im 
günstigen  Sinne  beeinflußt  hat,  wir  sehen  gerade 
auf  dem  Gebiet  der  Naturwissenschaften,  wie  aus 


tgo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  12 


Dilettanten  ernste  Forscher  geworden  sind.     Un- 
sere   ganze    Floristil<    liegt   fast   ausschließlich   in 
Händen  von  Liebhabern,    und    wenn    man    sieht, 
wie  in  den  Kursen  der  mikrobiologischen  Gesell- 
schaft und  ähnlichen  Einrichtungen  die  Teilnehmer 
mit  regem  Fleiß  und  großer  Begeisterung  sich  in 
die  mikroskopische  Welt   einleben,   so   zeigt   das 
doch,   daß    ein  Bedürfnis   nach  dilettantischer  Ar- 
beit vorhanden  ist  und  daß  sie  auch  geleistet  wer- 
den kann.     Nun  interessiert   sich  der  geistig  rege 
Mensch  aber  noch  für  mehr  Dinge  als  er  arbeitend 
bewältigen  kann ;  er  ist  manchmal  gezwungen,  zu 
blättern,    anstatt   zu    lesen,    er    muß    hier  und  da 
nippen    anstatt   zu    trinken    und    für   solche    F"älle 
scheint  dem  Ref.  die  Schro edersche   Methode 
allerdings  brauchbar  und    wertvoll,    besonders  für 
den   gebildeten   Leser,    der   über  „Denkvermögen 
und  Urteilskraft"  verfügt.     Die   große  Masse,    die 
geistig  weniger  geschult  ist,  sollte  man  allerdings 
auf  etwas  andere  Weise   mit   den  Wissenschaften 
bekannt  machen.     Die  Unterschätzung  der  geistig 
Arbeitenden,  wie  wir  sie  gegenwärtig  beobachten 
können,   liegt  zum  Teil  gerade   daran,   daß  Vor- 
tragende versuchen,    mit    Hilfe    von    Lichtbildern 
usw.  den  Hörern  in  einer   oder   wenigen  Stunden 
mit    den    in    langjähriger   Forschung   gewonnenen 
Ergebnissen  bekannt  zu  machen.     Diese  Vortragen- 
den gehen  vielleicht  von  ähnlichen  Gedanken  aus 
wie  Schröder,   aber   sie  vergessen   dabei,   daß 
ihr  Hörerkreis  durchaus  nicht  in  der  Lage  ist,  zu 
beurteilen,  mit  wie  großer  Mühe  oft  der  geringste 
wissenschaftliche   Forlschritt    erkauft    wird.      Aus 
dieser  Erkenntnis  heraus  versucht  man   wohl,    in 
sog.    Arbeitsgemeinschaften    das   Publikum   ernst- 
hafter   zu    beschäftigen,    aber    wirklichen    Erfolg 
wird    man    nach  Ansicht    des    Ref.    erst   dann    er- 
zielen, wenn  man  in  Anlehnung  an  den  Beruf  den 
Volksschüler  zu  bilden  sucht.     Das   im  einzelnen 
auszuführen,  ist  hier  nicht  der  Ort;    es  sollte  nur 
darauf  hingewiesen  werden,  daß  für  die  Mehrzahl 
der  Menschen  derjenige  Dilettantismus   zu  bevor- 
zugen   ist,    der    eine    gewisse   dauernde  Tätigkeit 
bedingt. Wächter. 

Hertwig,  O.,  Die  Elemente  der  Entwick- 
lungslehre des  Menschen  und  der 
Wirbeltiere.      Anleitung    und   Repetitorium 


für  Studierende   und   Ärzte.     6.   Aufl.     4QC  S 

Jena  1920,  G.  Fischer.  —  30  M. 
In  der  6.  Auflage  haben  die  bekannten  „Ele- 
mente O.  Hertwigs  nach  und  nach  den  erheb- 
lichen Umfang  von  fast  500  Seiten  erlangt.  Sie 
sind  daher  mehr  selber  ein  Lehrbuch  geworden 
als  ein  kurzer  Auszug  aus  dem  Lehrgegenstand, 
fuhren  aber  gleichwohl  den  Namen  „Repetitorium" 
insofern  mit  Recht,  als  jedem  Kapitel  kurze  Re- 
kapitulationen in  Gestalt  zusammenfassender  Sätze 
angehängt  sind.  Somit  werden  sie  ihrem  Zwecke 
vortrefflich  dienen,  für  manchen  Benutzer  besser 
—  nach  meiner  Ansicht  —  als  in  früherer  Zeit, 
wo  sie  wesentlich  kürzer  waren  und  jeder  nach 
Vertiefung  Strebende  lieber  zu  dem  „Lehrbuch" 
desselben  hochverdienten  Verfassers  griff.  Das 
„Lehrbuch"  liegt  jetzt  in  zehnter  Auflage  (iQii;) 
^°^-  V.  Franz  (Jena). 

Günther,  H.,  Was  ist  Elektrizität?  Er- 
zählungen eines  Elektrons.  Autorisierte  freie 
Bearbeitung  nach  dem  Enghschen  des  Ch.  R. 
Gibson.  124.— 133.  Tausend.  102  Seiten  mit 
37  Abbildungen.  Stuttgart  1920,  Kosmos-Ge- 
sellschaft der  Naturfreunde,  Franckhsche  Ver- 
lagshandlung. Geh.  3,60  M.  und  Teuerungs- 
zuschlag. 

Die  vorliegende  Schrift   will,   den   Zielen   der 
Gesellschaft     Kosmos     entsprechend,     weitesten 
Kreisen   in  volkstümlich   anschaulicher  Weise  die 
gegenwärtige  elektronentheoretische  Deutung  der 
elektrischen,     magnetischen     und    optischen    Er- 
scheinungen verständlich  machen.      Die  gewählte 
Darstellungsform   —    das  Elektron  tritt  selbst  als 
Erzähler  auf  —  ist  hierzu  zweifellos  trefflich  ge- 
eignet, und  die  selbst  für  ein  volkstümlich-wissen- 
schaftliches Buch   fast   beispiellos   hohe  Zahl   der 
notwendig  gewordenen  Auflagen  deutet  auf  weit- 
gehendes  Interesse    an   der   Schrift    hin.     Es   ist 
nur  sehr  zu  bedauern    und   für   deutsche  Verhält- 
nisse   leider  bezeichnend,    daß    es   zur  Erreichung 
dieses  Erfolgs   der  Übertragung   eines   englischen 
und   daher  naturgemäß  englisch  gerichteten,  dazu 
auch    sachlich    keineswegs     einwandfreien     (siehe 
z.  B.  die  Seiten  16,  29,  85,  86,  92  und  unter  den 
Abbildungen    namentlich    Nr.    35)    Originals    be- 
durfte. A.  Becker. 


Es  ist  ein  Gefühl  der  Treue,  das  mich  bitten  macht,  zu 
der  Frage  „Haeckels  Monismus  eine  Kulturgcfahr"  das  Wort 
ergreifen  zu  dürfen.  Ich  darf  das  deshalb  tun,  weil  ich  als 
leidender  Teil  mitreden  kann  und  die  Wirkung  Haeckels 
noch  zu  einer  Zeit  erfahren  habe,  da  ich  noch  nicht  natur- 
wissenschaftlich geschult  war  und  ich  darf  es  tun,  obwohl 
ich  nur  recht  wenig  das  Glück  hatte,  persönlich  mit  dem 
Forscher  zusammen  zu  sein.  Ich  bin  auch  der  Anschauung, 
daß  die  mechanistische  Weltanschauung  ein  Unglück  für 
unser  Volk  war  und  ist;  wenn  ich  aber  an  die  Zeit 
zurückdenke,  wo  ich  Mittelschüler  war,  um  die  Wende  der 
80er  und  90er  Jahre,  so  war  es  damals  nicht  Haeckel,  der 
besonders  von  uns  gelesen  wurde  —  ich  war  der  einzige  meiner 


Anregungen  und  Antworten. 


Mitschüler  der  zu  seinen  Werken  kommen  konnte  —  sondern 
Büchners  Kraft  und  Sioff  und  Heigels  Spaziergänge  eines 
Atheisten.  Wenn  später  von  den  Arbeitern  die  Worlgebungen 
Haeckels  mehr  gebraucht  wurden,  so  kommt  das  nur  da- 
her, weil  er  im  Vergleich  zu  den  anderen  der  Jüngere  ist. 
Der  Marxismus  würde  aber  zu  seiner  Verbreitung  ohne  Haeckel 
eben  die  Worte  anderer  gebraucht  haben.  Ich  meine,  schuld 
daran,  daß  wir  als  MiUelschüler  Haeckel  nichts  entgegen 
zu  setzen  wußten,  waren  die  Gegner  Haeckels,  die  uns  so 
jämmerlich  im  Stiche  gelassen  haben.  Für  uns  war  Haeckel 
der  Einzige,  der  mit  schwungvollen  Worten  uns  Ziele  in  der 
Zukunft  wies.  Unsere  Lehrer  waren  alle  keine  Anhänger 
Haeckels,   nur  wußten   wir  nicht  recht,    wem  sie  anhangen. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Haeckel  ist  nicht  schuld,  dafl  der  deutsche  Idealismus  da- 
mals als  abgetan  galt  und  wir  nicht  angeleitet  wurden,  uns  mit 
ihm  zu  beschäftigen.  Ich  möchte  glauben,  daß  der  deutsche 
Idealismus  den  Leuten  rechts  zu  wenig  christlich,  den  Leuten 
links  zu  wenig  drmokratisch  und  dem  in  der  Mitte,  im  Schatten 
des  Bismarckreiches  schlafenden  Spießertum  zu  aufregend  war. 
Haecke  1  ist  unschuldig  daran,  daß  tür  mich,  wenn  ich  nicht 
von  anderwärts  mir  darüber  Kunde  geholt  hätte,  beim  Ab- 
gang von  der  Mittelschule  die  Phlogistonlchre  noch  ruhig 
hätte  zu  Recht  bestehen  können.  .■\uch  daran  ist  Haeckel 
nicht  schuld,  daß  uns,  wenn  unsere  völkische  Begeisterung 
sich  in  viell.-icht  etwas  zu  großen  Worten  ausließ,  von  unseren 
Lehrern  kalte,  spöttische  Abweisung  zu  Teil  wurde.  Ich 
spreche  von  bayerischen  Verhältnissen.  Auch  daran  ist  er 
nicht  schuld,  daß  die  Einführung  in  die  Philosophie  damals 
so  versandet  war,  daß  man  lieber  auf  die  Philosophie  in  den 
Mittelschulen  ganz  verzichtete.  Es  ist  immer  so  gewesen,  daß 
das,  was  in  den  geistig  gehobeneren  Schichten  getan  wird, 
nach  einigen  Jahrzehnten  in  den  einfacheren  Volksschichten 
nachgemacht  wird,  wenigstens  ist  das  mit  den  schwachen 
Seiten  der  Fall,  und  deshalb  ist  die  Weltanschauung  H  a  e  c  k  e  1  s 
oder  sagen  wir  sind  Trümmer  davon  jetzt  in  der  Arbeiter- 
schaft lebendig.  Der  Zusammenbruch  und  die  Verhöhnung 
der  deutschen  idealistischen  Philosophie  und,  damit  zusammen- 
hängend, die  spöttische  Abweisung  alles  dessen,  was  deutsche 
Geschichte  und  deutscher  Staat  heißt  —  wußten  wir  doch  von 
Hegel  nichts,  als  dafl  er  der  königlich  preußische  Staats- 
philosoph gewesen  sei  —  das  ist  die  Wurzel  der  heutigen 
lieblosen  Gesinnung. 

Haeckel  ist  freilich  sehr  oft  der  Versuchung  unterlegen, 
mit    dem    Stoßdegen  zuzustoßen,     nur     weil    sich    gerade    ein 
schmucker    Hieb    anbringen  ließ,    aber  ich  glaube,    Haeckel 
wäre    mit   seinen  Gegnern  gerechter  gewesen,    wenn    man  mit 
ihm  gerechter  gewesen  wäre,  und  ich  glaube,    wo  er  das  Ge- 
fühl hatte,  daß  man  seine  Lebensaufgabe,  die  er  nun  doch  in 
der  naturwissenschaftlichen  Entwicklungslehre  sah,  unterstützen 
wolle,    da    war    er    zu    weitgehenden  Zugeständnissen    an    die 
gegnerische  Anschauung  bereit.     Ich  glaube,  wenn  Haeckel 
nur    einigermaßen    ihm    gleich    hochsiunige    Kirchenlehrer   ge- 
funden hätte,    so    hätte    er   im  Streite    mit   ihnen  manches  ge- 
lernt  und    manches    an    seinen  Lehren    geändert   und    vertieft. 
Daß  er  dazu  bereit  war,  das  hat  er  doch  wohl  gezeigt,  als  er 
seine  Eiwilligung  gab,  daß  als  erster  Vorsitzender  des  Monislen- 
bundes  ein  Pastor  (Kalthoff)  gewählt    wurde.      Ich  glaube, 
daß  unter    den    damaligen  Gründern    des  Monistenbundes   ich 
nicht  der  einzige  war,  der  diese  Wahl  bestätigte  mit  dem  Ge- 
danken, dadurch  das  öde  Freidenkertum  abzuhalten.    Haeckel 
sagte  damals  zu  mir,  daß  er  den  Freidenkertag  in  Rom  für  einen 
Reinfall  ansehe.  Aus  demselben  Grunde  der  Abhaltung  der  Ploß- 
freidenker  hat  sich  meines  Erinnerns  der  Ausschuß  des  Monisten- 
bundes damals  eine  scharfe  Verfassung  gegeben.    Und  als  ich 
später  in  einer  Flugschiift  „Die  .<^e.\uelle  Frage  und  der  Sinn  des 
Lebens"  behauptete,    daß    mit  der  Aufstellung  des  Gottes  des 
Wahren,    Guten    und  Schönen  Haeckel    eigentlich    auf    die 
praktische  Vernunft  Kants    und  die  Forderungen  Gott,    Frei- 
heit  und    Unsterblichkeit    zurückgekehrt   sei,    da    hat    mir    das 
wohl  meinen  monistenbündlichen  Kopf  gekostet,  aber  Haeckel 
hat   es  mir   nicht    übel  genommen.      Haeckel    hat   in    einer 
Zeit    der    Dürre,    da    uns    dürstete    nach    Weltanschauung    als 
einziger  uns  Ziele  in  der  Zukunft  für  unser  Streben  gewiesen. 
Haeckel  wollte    nicht  Volksführer   sein    und   war   in   vielem 
über   die    volkstümliche  Wirkung  seiner  Werke  erstaunt,    aber 
er    war  Prediger   seiner  Entwicklungslehre    und    das    war  sein 
gutes  Recht.     Daß    er  damals    der    einzige  Prediger  war,    der 
sich  Gehör    zu    verschaffen    wußte,    daß    er    nicht    gezwungen 
wurde,    in    manchem    sich    auf  geübtere  Streiter    einzurichten, 
das  war  nicht  seine  Schuld,      Wir    hätten    gerne    auch    einem 
anderen  unser  Ohr  geliehen,  wenn  er  zu  uns  gekommen  wäre. 
Ich  meine  für  die  philosophische  Ermüdung  Deutschlands  nach 
Hegel,     für    die    philisterhafte    Spießbürgerlichkeit    und    die 
zersetzende    Ausländerei,    die    die    Gedanken    der  Aufklärung 
unverdaut  von  Welschland  herübernahm,  dafür  kann  Haeckel 
wirklich  nichts,    und    vor    allem    kann    er   nichts    für    die  Er- 
ziehung zur  Begeisterungsunfähigkeit,  die  uns  zu  Teil  geworden 
'^'-  Dr.  med.  F.  Siebert,  Bezirksarzt. 


Woher    stammt    der    Name     „Köppernickel"    für    Meum 
athamjinticum    im    östlichen    Erzgebirge!      Zu    den  Charakter- 
pflanzen  des    botanisch  außerordentlicTi  interessanten  östlichen 
Erzgebirges    zählt    die    Bärwurz  (Meum  athamanticum).      Zwar 
kommt  die  aromatisch    duftende  Pllanje    mit  den  haarfein  ge- 
fiederten   Blättern    und    gelbhchweißen  Blütendolden    auch    im 
übrigen    Erzgebirge    und    den    tiefer    gelegenen    Landstrichen 
Sachsens  vor,    aber    nirgends    in  solchen  Massen  wie  auf  den 
Wiesen   und    an  den  Wald-  und  Wegrändern    in  der  weiteren 
Umgebung    des    Geisingberges    im    östlichen  Erzgebirge.      Die 
Pflanze    wird    in  der  Literatur    vielfach    als    eines    der    besten 
Milch-  und  Fuiterkräuter  bezeichnet.      Auf  Grund    jahrelanger 
eigener  Beobachtung    habe    ich    allerdings    feststellen    können, 
daß  diese  Ansicht  ganz  und  gar  nicht  zutrifft.    Man  kann  sich 
leicht  davon  überzeugen  ;  denn  die  Bärwurz  wird  vom  Weide- 
vieh überhaupt  nicht  gefressen.      Die   Wiesen    werden  um  die 
Uärwurzstöcke  sauber  abgeweidet,  die  Stöcke  aber  stehen  ge- 
lassen,   so  daß  die  Weide    bald  voll  grüner  Blatthaufen  steht. 
Das  gleiche  ist    im  Schwarzwald    und    den  Vogesen    der  Fall, 
weshalb  Prof.  Dr.  Klein   in  seinem  Werke  „Unsere  Wiesen- 
pflanzen"   mit    Recht    annimmt,    daß    anscheinend    eine    Ver- 
wechslung   mit    der    Alpenbärwurz    (Meum  mutellina)  vorliegt, 
wenn  man  unsere  Bärwurz  für  eine  gute  Futterpflanze  erklärt. 
Merkwürdig  ist  nun  der  Umstand,  daß  man  den  Namen  „Bär- 
wurz" für  die  Pflanze  im  ganzen  östlichen  Erzgebirge  nicht  kennt. 
Sie    führt     dort    die    rätselhafte    Bezeichnung    ,, Köppernickel, 
Keppernickel   oder    Käppernickel".     Die   Samen    der   übrigens 
dort    sehr     volkstümlichen    Pflanze     heißen    „Pferdekümmel". 
Volkstümlich  ist  sie  besonders  deswegen,  weil  man  ihre  jungen 
Triebe    als  Einlage    bei    der   Herstellung   der   ,,Köppernickel- 
suppe"  und  ihre  kräftigen,  stark  aromatisch  duftenden  Wurzeln 
zum  Aufsetzen  des  „Köppernickelschnapses"  verwendet.    Frei- 
lich   sind    diese    beiden    Genußmittel,    deren  Herstellung    einst 
weit  verbreitet  war,    heute    nur    noch  älteren  Leuten  bekannt. 
Vor  einiger  Zeit  wurde  ich  nun  vom  Landesverein  Sächsi- 
scher   Heimatschutz    mit    der    Ermittlung    über    Herkunft    und 
Bedeutung    der  Bezeichnung  „Köppernickel"    für  Bärwurz   be- 
auftragt.   Der  Bevölkerung  in  dem  in  Frage  kommenden  Land- 
striche ist  nichts  darüber  bekannt,  in  botanischen  Büchern  ist 
nichts  zu  finden,  ja  der  Name  nicht  einmal  .angeführt.    Selbst 
W  ü  n  s  c  h  e  -  S  c  h  o  r  1  e  r ,  Die  Pflanzen  des  Königreichs  Sachsen, 
worin  doch  zahlreiche  Vulgärnamen  verzeichnet  sind,    versagt. 
Ich    zog    die    Wörterbücher    von    Sanders,    Schiller    und 
Lübben  usw.  zurate,  kam  aber  zu  keinem  Ergebnis.    Ledig- 
lich   gibt    MüUer-Fraureuth    in    seinem   Wörterbuch    der 
obersächsischen  Sprache  an,    daß    man    mit  dem  Namen  Käp- 
pernickel um  Oschatz  in  Sachsen  den  Wiesenkerbel  (Anthriscus 
silvestris)  bezeichne.      Da    der  Kerbel    in    der  Blüte    eine    ge- 
wisse   Ähnlichkeit  mit   unserem    Köppernickel    hat,    liegt    hier 
entweder    eine  Verwechslung  oder  eine  freie  Übertragung  des 
Namens  auf  eine  andere    Pflanze  vor.      Ich    mußte  also  schon 
tiefer  forschen,    um  zu  einem  Ergebnisse  zu  kommen  und  ich 
glaube,    daß    mir    die  Lösung    dos   Rätsels    gelungen  ist.      Ich 
möchte   jedoch    nicht  verfehlen,    Fachgenossen    um  Meinungs- 
äußerung zu  nachstehenden  Ausführungen  zu  bitten. 

Die  Gegend,  wo  der  Name  Köppernickel  gebraucht  wird, 
ist  ein  uraltes  Bergbaugebiet.  Ich  nehme  an,  daß  der  Name 
urspiünglich  „Kupfernickel"  bedeutete  und  dieses  Wort  war 
in  der  alten  Bergmannssprache  gebräuchlich.  Unser  Metall 
Nickel  ist  in  seiner  heutigen  Form  als  reines  Metall  erst  seit 
dem  Jahre  1751  bekannt.  Das  Nickelerz  wurde  früher  für 
Kupfererz  gehalten.  Weil  es  aber  aller  Versuche,  es  auf 
Kupfer  zu  verhütten,  spottete,  wurde  es  als  Nickel  (in  der 
Bedeutung  Racker)  bezeichnet  und  Kupfernickel  genannt;  es 
gibt  bestimmte  Anhalte  und  Beweise  für  die  Entstehung  dieses 
Wortes.  Als  schließlich  die  Herstellung  des  reinen  Metalls 
gelang,  behielt  es  den  Namen  Nickel.  Derartige  bergmännische 
Schimpfnamen  für  Erze,  mit  denen  man  nichts  rechtes  anzu- 
fangen wußte,  die  nur  im  Wege  lagen  und  die  Halden  füllten, 
gab  es  noch  mehrere;  es  sei  nur  an  den  Kobalt  erinnert, 
dessen  Name  Kobold  bedeutet,  weil  es  die  \'eihüttung  er- 
schwerte und  werllos  und  unnütz  erschien,  bis  es  als  Aus- 
gangsstotfder  blauen  Porzellan-Unterglasurfarbe  bekannt  wurde. 
Unter  Kupfernickel  verstand  man  also  ein  Erz,  das  in 
Menge  vorkam,  im  Wege  lag  und  wertlos  war,  weil  man  da- 
mit nichts  anzufangen  wußte.  Das  gleiche  galt  nun  von  der 
Bärwurz  der  Erzgebirgswiesen;  auch  sie  kommt  in  Menge  vor, 


192 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XX.  Nr.  12 


bedeckt  oft  die  ganze  Wiese,  erstickt  andere  Futterkräuter  mit 
ihrem  dichten  Blattstande,  wird  vom  Weidevieh  nicht  gefressen, 
ist  also  auch  ein  wertloser  Nickel  oder  Racker.  Es  erscheint 
mir  deshalb  im  hohen  Grade  wahrscheinlich,  daß  der  Name 
Kupfernickel  zuerst  von  den  Bergleuten  auf  die  Bärwurz  über- 
tragen nnd  dann  schließlich  so  allgemein  gebräuchlich  wurde, 
daß  der  anderwärts  verbreitete  Name  Bärwurz  im  östlichen 
Erzgebirge  völlig  verloren  ging.  Die  Vermutung  wird  noch 
dadurch  gestützt,  daß  in  niederdeutscher  Mundart  die  Be- 
zeichnung für  Kupfer  ,,Köpper  oder  Köper"  lautet;  die  ersten 
Bergleute  des  Erzgebirges  stammten  aus  dem  Harz ;  sie  haben 
also  vermutlich  das  Wort  in  dieser  Form  mit  anderem,  heute 
noch  erhaltenem  niedersächsischen  bergmännischen  Sprachgut 
in  das  Erzgebirge  verpflanzt.  Die  grüne  Farbe  der  meisten 
dafür  in  Frage  kommenden  Erze  dürfte  das  übrige  bei  der 
Übertragung  des  Wortes  auf  die  Pflanze  getan  haben. 

A.  Kiengel,  Meißen. 

Für  das  Zodiakallicht  haben  wir  mehrere  Erklärungen. 
Zunächst  die  von  See  liger.  Er  faßt  es  auf  als  einen  Ring 
um  die  Sonne,  eine  kosmische  Wolke,  deren  innerer  Radius 
0,24  ist,  also  innerhalb  der  Merkurbahn  liegt,  während  der 
äußere  Radius  I,zo  ist,  also  etwas  jenseits  der  Erde  liegt.  Die 
Masse  des  Ringes  ist  sehr  gering,  aber  ausreichend,  um  das 
vielbesprochene  Glied  in  der  Perihelbewegung  des  Merkur  zu 
erklären.  Schmidt  hat  unter  sehr  günstigen  Umständen  das 
Tierkreislicht  lange  Zeit  in  der  Schweiz  beobachtet,  er  hält 
es  für  den  Reflex  des  Sonnenlichtes  an  den  obersten  Schichten 
der  sehr  hohen  Erdatmosphäre,  und  vermag  auch  alle  von  ihm 
beobachteten  Erscheinungen  damit  in  Einklang  zu  bringen. 
Ganz  neuerdings  hat  Fi  lehne  das  Licht  als  einen  Ring  um 
die  Erde  erklärt,  dessen  innerer  Abstand  von  der  Erdober- 
fläche I  '/z  Erdradien  beträgt.  Der  Ring  hat  einen  ovalen 
Querschnitt,  dessen  Durchmesser  senkrecht  zur  Verbindungs- 
linie nach  dem  Erdmittelpunkt  '/j  Radien  beträgt,  während 
der  andere,  in  der  Verlängerung  jener  Linie  liegende  nicht 
angegeben  werden  kann,  da  wir  nur  die  inneren  Teile  sehen. 
Die  Glazialkosmogonie  von  Hörbiger  verlegt  die  Ursache 
der  Erscheinung  ebenfalls  in  einen  Ring  aus  Eisstaub,  der  um 
die  Sonne  gelegen  ist,  und  sich  bis  über  die  Erdbahn  hinaus 
erstreckt.  Da  die  Erscheinung  leider  so  unbestimmt  ist,  daß 
sie  allen  Versuchen  einer  genauen  Messung  widersteht,  so  ist 
es  nicht  möglich,  durch  eine  Entfernungsbestimmung  unter 
diesen  Erklärungen  zur  Auswahl  der  richtigen  zu  kommen. 
Ludendorf  betrachtet  das  Zodiakallicht  als  eine  Fortsetzung 
der  Korona,  und  gibt  an,  daß  seine  spektroskopische  Unter- 
suchung wegen  der  Lichtschwäche  sehr  schwierig  sei.  Es  gibt 
ein  kontinuierliches  Spektrum,  das  mit  dem  der  Sonne  über- 
einzustimmen scheint,  so  daß  es  wohl  nur  in  refiektriertem 
Sonnenlichte  leuchtet.  Riem. 


Literatur. 

Steinhardt,  Vom  wehrhaften  Riesen  und  seinem  Reiche. 
Hamburg-Berlin-Leipzig,  Alster-Verlag.     40  M. 

Mach,  Dr.  E.  f.  Die  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung. 
8.  Aufl.  Mit  einem  Anhang  von  J.  Petzoldt.  Leipzig  '21, 
F.  A.  Brockhaus. 

Walther,  Job.,  Allgemeine  Paläontologie.  II.  Teil: 
Die  Vorgänge  des  Lebens  in  der  Vorzeit.  Berlin,  Gebr. 
Bornträger.     15  M. 


Hauser,  Dr.  O.,  Ins  Paradies  des  Urmenschen.  25  Jahre 
Vorwelttorschung.  Mit  18  Bildtafeln.  Hamburg -Berlin  '20, 
Hoffmann  &  Campe.     25  M. 

Marzell,  Dr.  H.,  Neues  illustriertes  Kräuterbuch.  Mit 
32  Farbdrucktafeln  und  zahlreichen  Textabbildungen.  Reut- 
lingen  '21,  Ensslin  &  Laiblin. 

Lindner,  Prof.  Dr.  P.,  Photographie  ohne  Kamera. 
Mit  5  Textabb.  und   16  Tafeln.     Berlin  '20,  Union. 

Wasielewski,  W.  v.,  Telepathie  und  Hellsehen.  Ver- 
suche und  Betrachtungen  über  ungewöhnliche  seelische  Fähig- 
keiten.    Halle  a.  d.  S.  '21,  C.  Marhold. 

Neunzig,  K.,  Die  fremdländischen  Stubenvögel.  Mit 
400  Textbildern  und  42  farbigen  Tafeln.  Magdeburg  '21, 
Creutz.     95  M, 

Doflein,  Prof.  Dr.  Fr.,  Mazedonien.  Erlebnisse  und 
Beobachtungen  eines  Naturforschers  im  Gefolge  des  deutschen 
Heeres.     Jena  '21,  G.  Fischer.     105  M. 

Klaatsch,  Prof.  Dr.  H. ,  Der  Werdegang  der  Mensch- 
heit und  die  Entstehung  der  Kultur.  Nach  dem  Tode  des 
Verf.  herausgegeben  von  Dr.  Adolf  Heilborn.  Berlin-Leipzig- 
Wien-Stuttgart,  Bong  &  Co.     40  M. 

Henseling,    R.,    Sternbüchlein    für    1921.      Mit    einer 
Planetentafel  und  41  Bildern.     Stuttgart  '21,  Frankh.    5,20  M. 
Frey,  Prof.  Dr.  E.,  Die  Wirkungen  von  Gift- und  Arznei- 
stoffen.     Vorlesungen    für  Chemiker    und  Pharmazeuten.     Mit 
8  Textabb.     Berlin  '21.  J.  Springer.     33  M. 

Küster,  Prof.  Dr.  E.,  Lehrbuch  der  Botanik  für  Medi- 
ziner.    Mit  280  z.  T.  färb.  Abbildgn.  im  Text.     85  M. 

M.  Neumayrs  Erdgeschichte.  3.  Aufl.,  gänzlich  neu 
bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Eduard  Sueß.  I.  Bd. :  Dynamische 
Geologie.  Mit  132  Textabbildgn. ,  6  Farbentafeln,  24  meist 
doppelseitigen  schwarzen  Tafeln  und  zweifarbigen  Karten- 
beilagen.    Leipzig  und  Wien  '20,  Bibliographisches  Institut. 

Geißler,  Fr.  J.  Kurt,  Gemeinverständliche  Wider- 
legung des  formalen  Relativismus  und  zusammenhängende 
Darstellung  einer  grundwissenschaftlichen  Relativität.  Leipzig 
'21,  O.  Hillmann. 

Lassar-Cohn,  Prof.  Dr.  Ad.,  Stöckhardts  Schule  der 
Chemie.  22.  Aufl.  Mit  200  Abb.  u.  1  färb.  Tafel.  Braun- 
schweig '20,  F.  Vieweg.     24  M. 

Ulbricht,  Dr.  R.,  Das  Kugelphotometer.  München  u. 
Berlin  '20,  R.  Oldenbourg.     24  M. 

Doflein,  Prof.  Dr.  Fr.,  Mazedonische  Ameisen.  Mit 
10  Textabb.  und  8  Tafeln.     Jena  '20,  G.  Fischer.     14  M. 

Hertwig,  Prof.  Dr.  O.,  Elemente  der  Entwicklungslehre 
der  Menschen  und  der  Wirbeltiere.  6.  Aufl.  Mit  438  Text- 
abbildgn.    Jena  '20,  G.  Fischer.     30  M. 

Oppenheimer,  Prof.  Dr.  C,  Kleines  Wörterbuch  der 
Biochemie  und  Pharmakologie.  Berlin  und  Leipzig  '20,  de 
Gruyter  &  Co.     16  M. 

Walther,  Prof.  Dr.  Joh. ,  Vorschule  der  Geologie. 
7.  Aufl.     Mit  123  Abb.     Jena  '20,  G.  Fischer.     12  M. 

Großmann,  Prof.  Dr.  H.,  Fremdsprachiges  Lesebuch 
für  Chemiker.     Leipzig  '20,  J.  A.  Barth.     28,20  M. 

Planck,  M.,  Die  Entstehung  und  bisherige  Entwicklung 
der  Quantentheorie.     Ebenda.     4  M. 

Boveri-Boner,  Dr.  Y. ,  Beiträge  zur  vergleichenden 
Anatomie  der  Nephridien  niederer  Oligochäten.  Mit  6  Text- 
abb. u.  3  Tafeln.     Jena  '20,  G.  Fischer.     8  M. 

Czapek,  Prof.  Dr.  Fr.,  Biochemie  der  Pflanzen.  2.  Aufl. 
2.  Bd.     Ebenda.     66  M. 

Spitta,  Prof.  Dr.  O.,  Grundriß  der  Hygiene.  Mit  197 
Textabb.     Berlin  '20,  J.  Springer.     36  M. 


Inhalt:  P.  Dahms,  Über  Pflanzenabzüge  und  Weingeist  zur  Ordenszeit.  S.  177.  J.  Scholl,  Einsteins  Weltbild  eine 
Zahlenfiktion?  S.  181.  —  Einzelbeiicbte:  S.  V.  Simon,  Stoffstauung  und  Neubildungsvorgänge  in  isolierten  Blättern. 
S.  183.  Ratten  als  Überträger  der  Trichophytie  beim  Pferde.  S.  183.  Schömmer,  Die  Geschlechtsbestimmung  im 
Hühnerei.  S.  184.  H.  Leitmeier  und  H.  Hellwig,  Versuche  über  die  Entstehung  von  Tonerdephosphaten.  S.  184. 
Die  Jahreszeittypen.  S.  185.  Schweinerotlauf  bei  Lämmern.  S.  186.  Chine,  Die  Beziehungen  zwischen  Tier-  und 
Menschenpocken.  S.  186.  —  Bücherbesprechungen:  A.  v.  Schrenck-Notzing,  Physikalische  Phänomene  des 
Mediuraismus.  S.  186.  F.  v.  Luschan,  Die  Altertümer  von  Benin.  S.  18S.  H.  Schroeder,  Die  Stellung  der 
grünen  Pflanze  im  irdischen  Kosmos.  S.  189.  O.  Hertwig,  Die  Elemente  der  Entwicklungslehre  des  Menschen  und 
der  Wirbeltiere.  S.  190.  H.  Günther,  Was  ist  Elektrizität?  S.  190.  —  Anregungen  und  Antworten;  „Haeckels 
Monismus  eine  Kulturgefahr".  S.  190.  Woher  stammt  der  Name  „Köppernickel"  für  Meum  athamanticum  im  östlichen 
Erzgebirge?  S.   191.     Zodiakallicht.  S.   192.  —  Literatur:  Liste.  S.   192. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  27.  März  1921. 


Nummer  13. 


[Nachdruck  verboten.] 


Neue  Urkunden  über  das  älteste  Haustier. 

Von  Dr.  Ludwig  Armbruster, 
Privatdozent  an  der  Landwirtschaftlichen  Hochschule  Berlin. 

Mit   1 1  Abbildungen. 


Die  zahlreichsten  Nachrichten  aus  der  grauesten 
historischen  Vorzeit  über  unser  ältestes  Haus- 
tier, den  Hund,  besitzen  wir  aus  Ägypten,  und 
zwar  aus  der  Zeit  des  sog.  „Alten  Reiches"  3300 
bis  2400  V.  Chr.  (nach  Borchardt  etwa  1000 
Jahre  früher!).  Es  sind  zahlreiche  Abbildungen 
auf  uns  gekommen  von  Künstlern,  denen  die  Tier- 
darstellung ehedem  besondere  Freude  und  heute 
noch  besonderen  Ruhm  brachte.  Die  Darstel- 
lungen z.  B.  der  verschiedenen  Antilopenspezies 
und  -geschlechter  sind  von  solcher  Feinheit  und 
Treue,  daß  sie  heute  ohne  weiteres  als  Skizzen- 
material für  Bestimmungstabellen  verwandt  werden 
könnten,  von  den  vielen  Aufschlüssen  über  Do- 
mestikations-  und  Kulturfragen  ganz  zu  schweigen. 

Die  Darstellungen  des  alt  ägyptischen  Hundes 
aus  der  Zeit  des  „Alten  Reiches"  sind  bei  ihrer 
großen  Zahl  auffallend  einförmig  und  absonder- 
lich: ein  überaus  schlankes  hochgestelltes  Tier 
von  ansehnlicher  Größe,  ein  Windhundtyp. 
Die  stark  eingezogenen  Lenden,  der  schlanke  Kopf, 
die  langen  Beine  und  der  dürre  Leib  erinnern  an 
die  heutigen  Windhunde.  Durchaus  fremdartig 
ist  der  im  Alten  Reiche,  soviel  ich  sehe,  stets  ge- 
ringelt dargestellte  Schwanz  und  die  Steh- 
ohren (Abb.  1).  Erst  im  mittleren  Reiche  konnte 
ich  an  Windhundtypen  ungeringelte  Schwänze 
feststellen.  Die  Hunde  wurden  den  Darstellungen 
zufolge  in  erster  Linie  zur  Jagd  verwandt.  Es 
war  ein  Nutztier,  durch  seinen  Körperbau  ge- 
eignet zur  Jagd  selbst  auf  die  flüchtigen  Antilopen 
in  den  weiten  wüsten  Strecken  der  angrenzenden 
Wüste.  Dasselbe  Tier  diente  aber  auch  neben 
der  Meerkatze  als  Luxus tier  im  Gemach  der 
Großen  des  Landes.  Es  darf  während  der  Morgen- 
toilette des  Königs  unter  dem  Thronsessel  sich 
aufhalten,  ja  seine  Jungen  säugen.  —  Ein  kräftiges 
breites  Halsband  ist  stets  sein  Wahrzeichen  als 
Haustier. 

Da  auch  Skelettreste  ^)  dieses  alten  in 
Ägypten  „längst  entschwundenen"  (?)  Hundetypus 
vorhanden  sind,  können  wir  nachprüfen,  inwieweit 
die  überschlank  dargestellte  Form  der  Wirklich- 
keit entsprach.  Die  Abb.  2  zeigt  graphisch  von 
mir  wiedergegeben  das  Zahlenmaterial,  das  G  a  i  1  - 
lard  und  Daressy  1905  gewannen  i.  am  alt- 
ägyptischen Windhund  (untere  Kurve),  2.  an  Lupus 
vulgaris  (mittlere  Kurve),    3.   am   heutigen  Wind- 


hund (aus  der  Gegend  von  Lyon  (obere  Kurve)). 
Die  Maßzahl  für  den  Femur  des  letzteren  scheint 
mir  (durch  Schreib-  oder  Druckfehler)  unrichtig 
wiedergegeben  (212  statt  222). 

Vergleichen  wir  die  verbesserte  (punktierte) 
obere  Kurve  mit  der  unteren,  so  finden  wir,  daß 
die  entsprechenden  Knochenlängen  der  beiden 
Windhunde  ähnliche  Proportionen  bilden.  Der 
alte  Windhund  ist  also  nur  eine  etwas  verkleinerte 
Ausgabe  des  modernen.  Auf  keinen  Fall  ist  der 
alte  Windhund  weniger  schlank.  Vielmehr  ist 
dessen  Oberarm  und  Oberschenkel  deutlich 
schlanker  (relativ  länger). 
Ich  finde  nicht,  daß  das 
Urteil  der  französischen 
Autoren  berechtigt  ist:  der 
alte  Windhund  nähere  sich 
mehr  dem  Wolf  als  dem 
modernem  Windhund.  Der 
Brustkorb  des  alten  Wind- 
hunds war  ebenfalls  deutlich 
tief,  tiefer  als  auf  den  meisten 
altägyptischenDarstellungen. 
Der  bei  G  a  i  1 1  a  r  d  und  D  a  - 


Abb.  I. 


Abb.  2. 


•)  Gaillard    et  Daressy   1905,    La    faune    mumifie  de 
l'antique  Egypte.  Cairo.     Taf.   i  u.  IV. 


r  e  s  s  y  (1.  c.  Taf.  IV)  wiedergegebene  Schädel  dieser 
Windhundform  des  alten  Reiches  (leider  ist  nur  ein 
einziges  Exemplar  untersucht,  soviel  ich  sehe)  ist 
von  oben  gesehen  nicht  übertrieben  schlank,  so 
daß  wir  als  sicher  annehmen  dürfen,  daß  Formen, 
wie  die  auf  der  Darstellung  „Wüstentiere"  (Ber- 
liner Museum  Nr.  1132  Relief  aus  dem  Grabe  des 
Pehenuka)  nicht  mehr  ganz  naturgetreu  sind  und 
mehr  in  eine  Linie  mit  unseren  Mode-  und  Sport- 
bildern zu  rücken  sind.  Es  wäre  freilich  mög- 
lich, daß  die  sport- züchterische  Bevorzugung  der 
schlanksten  Formen  auch  übertriebene  Schlank- 
formen da  und  dort  „hervorgerufen"  hat.  Die 
Jugend  form  dieses  stehohrigen  Windhundes  ist 
uns  ebenfalls  im  Bilde  erhalten.     Die  Ohren  sind 


1^4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XX.  Nr.  ti 


hier  weder  stehend  noch  nach  hinten  gerichtet, 
sondern  deutlich  hängend.  Wer  etwa  zweifelte, 
ob  der  kleine  Hund  aus  dem  Grabe  des  Ptah- 
hotep  (Sakkarah)  nicht  etwa  eine  neue  Hundeform 
sei,  der  sei  hingewiesen  auf  die  säugende  Hündin 
mit  ihren  3  Welpen  bei  Da  vi  es  (The  Rock 
Tombs  of  Deir  el  Grabäwi  5,  II  Archeological 
Survey  of  Egypt.  11,  12  Memoir  T.V).  Hier  wie 
dort  sind  die  Beine  im  Verhältnis  zum  Rumpf 
ziemUch  kurz.  Der  Jagdeifer  usw.  des  Jungen  ist 
noch  nicht  entwickelt,  es  wird  mit  der  iVIutter 
zur  Jagd  mitgenommen  und  trägt  auch  ein  Hals- 
band, muß  aber  im  Gegensatz  zu  den  alten  Wind- 
hunden nicht  an  der  Leine  geführt  werden. 

Wie  sehr  unser  Windhund  mit  den  Stehohren 
der  Hund  des  ahen  Reiches  ist,  geht  daraus  her- 
vor, daß  beispielsweise  Luise  Klebs  1915  (Die 
ReUefs  des  alten  Reiches.  Heidelberg  834  f.)  nur 
einen  einzigen  Jagdhund  mit  hängenden  Ohren 
namhaft  zu  machen  vermag.  Denn  der  von  ihr 
noch  erwähnte  „Zwerghund"  (D  a  v  i  e  s  Ptahh.  I.  T. 
XXIV,  XXV)  ist  die  Duodezdarstellung  eines  Kalbes 
(Huf,  Kopf,  Halsbildung). 

Den  Umstand,  daß  auch  die  Hyäne  (Hyaena  striata)  von 
den  Ägyptern  „domestiziert"')  wurde,  könnte  man  an- 
führen, um  zu  beweisen,  daß  das  Wildmaterial  für  Hunde- 
züchtung im  alten  Ägypten  auffallend  formenarm  war.  In- 
dessen ist  es  fraglich,  ob  den  alten  Ägyptern  die  Hyäne  als 
Jagdhund  gedient  hat.  Auf  der  einen  Darstellung  der  Abb.  I 
nämlich  (bei  Davies  Ptahh.  I.  T.  XXIl),  wo  2  Hyänen  ganz 
friedlich  neben  einem  Jagdhund  ruhen,  fehlt  ihnen  das  Hals- 
band und  der  Jagdhund  hat  sie  mit  seinem  aufgelegten  linken 
Vorderbein  sozusagen  mit  Beschlag  belegt,  so  daß  mit  der 
Richtigkeit  der  Deutung  von  Luise  Klebs,  diese  Hyänen 
seien  von  den  Hunden  eingefangen  worden,  zu  rechnen  ist. 
Im  übrigen  wurden  aber  Hyänen  mit  samt  ihren  Jungen  ge- 
nau so  behandelt  wie  unsere  Windhunde  mit  den  ihrigen  (die 
alten  zusammen  mit  Windhunden  an  Leinen  geführt,  die 
Jungen  je  frei  daneben).  Als  Fleischtier  wurde  die  Hyäne 
sicher  gehalten,  vielleicht  gezüchtet  (vgl.  die  Jungtiere),  jeden- 
falls regelrecht  gemästet  (s.  z.  B.  Bis  sing,  Gemni-kai  I, 
Tal.  Xlj.  Auch  an  der  Hand  der  Antilopen-  und  Vogeldar- 
stellungen ließe  sich  zeigen,  wie  die  alten  Ägypter  an  Tier- 
wildformen benützten,  was  sie  nur  konnten  und 
wozu  sie  nur  konnten. 

Man  könnte  nun  sagen,  die  sportliche  Bevor- 
zugung (Jagd  in  der  Wüste,  flüchtige  Antilopen 
als  Jagdtiere)  der  Windhundform  führte  zum  Aus- 
sterben der  übrigen  Hundeformen.  Das  kann  nur 
bis  zu  einem  gewissen  Grad  richtig  sein.  Zwar  ist  es 
auffällig,  daß  in  der  späteren  Zeit  ebenfalls  die 
Windhundform  vorwiegt  (allerdings  die  Hänge- 
ohren häufiger  als  früher  vorkommen).  Doch 
fehlen  andere  Hundetypen  nicht  ganz.  Auf 
den  Wandgemälden  von  ßeni-Hassan  (Grif- 
fith  1896,  Beni-Hassan,  Part  III,  London,  Taf.  II 
bis  IV),  zwischen  2000  und  1900  v.Chr.,  ist  außer 
dem  Windhund  eine  stattliche  Dogge  vertreten 
(Abb.  3.  Profil  wenig  abgesetzt,  Ohren  stehend, 
Ohrspitze  nicht  überhängend,  Schwanz  steil  ge- 
tragen mit  rätselhaft  geformter  Schwanzspitze, 
verwaschene   Scheckung)    und    ein    Zwischending 

')  Gaillard  1912,  Les  tätonnements  des  egyptiens  de 
l'ancien  empire  ä  la  recherche  des  animaux  ä  domestiquer.  lu : 
Revue  ethnogr.  sociol.  1912,  Nr.  iljia. 


zwischen  Windhund  und  Dachshund  (Abb. 4) 
ohne  Zweifel  nach  einem  leibhaftig  existierenden 
Naturobjekt  gemalt.  Die  Scheckung  ist  der  ähn- 
lich wie  sie  auch  auf  Windhundbildern  vor- 
kommt. Hals  und  Kopf  sind  deutlich  Windhund-, 
keinesfalls  dachshundartig.  Wären  die  Lenden 
etwas  stärker  eingezogen  (es  handelt  sich  freilich 
um  ein  weibliches  Tier!),  so  möchte  man  ohne 
weiteres  annehmen,  es  sei  hier  bei  einem  Wind- 
hund die  Mutation  (oder  extreme  Kombination?) 
„Dackelbeinigkeit"  aufgetreten.  —  Auf  dem  Thron- 


Abb.  3. 


Abb.  4. 


Abb.  5. 


Abb.  6. 


bilde  des  Königs  Antef  (um  1800  v.  Chr.)  finden 
wir  dessen  Liebüngshunde  dargestellt,  mehrere 
davon  sind  importiert  und  es  ist  ihnen  glücklicher- 
weise je  ihr  Rufname  beigegeben  sowohl  in  der 
Sprache  ihres  Ursprunglandes  als  auch  in  ägyp- 
tischer Übersetzung.  Dadurch  war  es  den  Philo- 
logen möglich,  die  einen  als  ly bisch  (Abb.  5), 
die  anderen  als  ostafrikanisch  (Abb.  6)  zu  be- 
zeichnen. Beides  sind  ausgesprochene  Windhund- 
formen mit  nur  ganz  mäßig  geringeltem  Schwanz. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»95 


Der  lybische  Typ  zeigt  kurze  Stehohren,  der  ost- 
afrikanische schmale  Hängeohren  (vgl.  R.  Basset, 
1897,  Les  chiens  du  roi  Antef.  In:  Sphinx  Up- 
sala.  Abbildung  bei  Gg.  Moeller,  1910,  Hieratische 
Lesestücke,  3,  Heft,  Leipzig.  Zu  Blatt  17).  Ge- 
wiß könnte  man  hier  anführen:  weil  die  Alt- 
ägypter Windhundformen  brauchten,  darum  haben 
sie  auch  beim  Import  nur  Windhundformen  be- 
rücksichtigt. IVIan  dürfe  aber  deswegen  nicht 
schließen,  in  Ostafrika  bzw.  Lybien  habe  es  nur 
Windhunde  gegeben.  Dem  ist  auf  der  anderen 
Seite  wieder  entgegen  zu  halten :  Die  Altägypter 
hielten  als  ausgesprochene  Tierfreunde  auch  Luxus- 
tiere, wie  die  (meist  von  Zwergen  gehüteten!) 
Affen  beweisen.  Absonderliche  Hundeformen  wären 
also  doch  wohl  willkommen  gewesen. 

Aus  dem  alten  Afrika  findet  man  noch  eine 
Hundeform  belegt.  Auf  Tafel  LXXI  bei  Ed.  Na- 
ville,  1898  (TheTemple  of  Deir  el  Bahari,  Part III) 
sind  allerlei  Sehenswürdigkeiten  dargestellt,  von 
denen  eine  Expedition  nach  dem  Lande  Punt  um 
1500  V.  Chr  zu  berichten  wußte.  Danach  muß 
es  um  die  Zeit  im  Lande  Punt  auf  der  Somali- 
halbinsel neben  anderen  Merkwürdigkeiten  (z.  B. 
Pfahlbauten)  auch  „Vorstehhunde",  Pointer 
(Abb.  7)  gegeben  haben,  nämlich  mäßig  schlanke 
Hunde  von  ansehnlichem  Wuchs  ohne  eingezogene 


Abb.  7. 

Lenden  (und  ohne  Ringelschwanz),  mit  großem 
Kopf,  abgesetztem  Profil,  mit  überhängender  Ober- 
lippe und  breiten  langen  Hängeohren.  Bei  dem 
einen  können  wir  eine  graugelbe  Grundfarbe  (Sand- 
farbe) mit  schwarzgrauen  (und  weißen  ?)  Flecken 
feststellen.  (Auf  der  Jagddarstellung  aus  dem 
neuen  Reiche  bei  Wilkinson  Manners,  Bd.  2, 
S.  92  erscheint  eine  ganz  ähnliche  Form  wieder, 
vgl.  besonders  das  weibliche  Tier  1)  Doch  wenden 
wir  uns  nun  zur  ägyptischen  Vorzeit. 

In  den  prähistorischen  Zeiten  —  und  das 
ist  für  die  Nilländer  etwas  sehr  Frühes,  finden 
wir  nun  durchaus  Unerwartetes.  Diese  neuen  Ur- 
kunden über  das  älteste  Haustier  beweisen,  daß 
das  Niltal  bereits  einmal  eine  Hundeform  besessen 
hat,  die  man  bisher  stets  nur  für  das  andere  alte 
Kulturgebiet  des  Ostens,  die  alte  Völkerwiege  des 
Zweistromlandes  belegt  glaubte,  und  die  man  hier 
wiederum  aus  Tibet  eingeführt  wähnte:  die  große 
„orientalische"  Dogge  („Tibetdogge"). 

Abb.  8  (aus  Quibell-Green,  Hierakonpolis,  II, 
Taf.  75)  zeigt  den  Menschen  als  Jäger,  zeigt  deut- 


liche Darstellungen  von  Antilopen,  vielleicht  auch 
Darstellungen  von  wilden  Tieren,  aber  keine  Wie- 
dergabe von  Pflegetieren  oder  von  Gehilfen  beim 
Ackerbau  (Haustieren).^)  Nur  der  Hund  erscheint 
in  Gesellschaft  und  im  Dienste  des  Menschen.  Die 
beiden  sehr  großen  Hunde  links  stellen,  vom 
Menschen  angefeuert,  2  Steinböcke.  Der 
dunkle  Hund  rechts  ist  hinter  mehreren  Antilopen 
her.  Das  Halsband  ist  namentlich  bei  dem  linken 
Tier  gut  zu  sehen.  Wer  Zweifel  an  der  Treue 
der  Darstellung  oder  der  Richtigkeit  der  Deutung 
hegen  sollte,  der  sei  auf  zwei  weitere  Urkunden 
aus  prähistorischer  Zeit  hingewiesen,  zunächst  auf 
die  Schnitzerei  auf  einem  Specksteinszepterknauf  der 
Abb. 8 (aus  Quibell-Green,  1900,  Hierakonpolis,!, 
Taf.  19),  vielleicht  4C00  Jahre  v.  Chr.  Diese  beste 
Naturdarstellung  der  vordynastischen  Zeit  führt 
eine  Heldentat  des  gedrungenen  alten  Riesen- 
hundes vor:  die  Löwenjagd.  Die  Größe 
dieses  Jagdhaushundes  (mit  dem  deutlichen  Hals- 
bande), sein  überaus  kräftiger  Bau  und  massiver 
Kopf  nebst  gesenktem  Schwanz  weisen  auf  die 
größten  Unterschiede  gegenüber  dem  ägyptischen 


Abb.  8. 


')  Bei  den  Tieren  ganz  rechts  (Iiandelt  es  sich  m.  E.  um 
eine  Gruppe  von  wild  en  Tieren,  um  eine  Gruppe  allerdings 
von  hohem  haustiergeschichtlichen  Interesse.  Links  sind  Anti- 
lopen von  einer  Dogge  verfolgt.  Ganz  rechts  eine  Rinder- 
form (?)  mit  weißem,  geschweift  breit  ausladendem  Gehörn, 
wohl  mittels  eines  Lasso  eingefangen.  In  der  Mitte  finden 
sich,  vollständig  frei,  3  Equidengestallen  (leider  ohne  deut- 
lichen Schweif)  und  zwar  nach  Ausweis  von  Farbe  und  Zeich- 
nung keine  Zebras,  sondern  Pferde.  Weil  aber  das  Pferd, 
ähnlich  wie  die  Dogge  in  der  Zeit  des  alten  Reiches,  voll- 
ständig fehlt,  möchte  Herr  Professor  Mö  lle  r  in  den  3  Tieren 
eher  Rinderantilopen  (bubalis)  sehen.  Auf  Grund  dieser 
Wildformen  und  seltenen  Formen  müßte  man  daher  vom  fau- 
nistiscben  Standpunkt  diesem  prähistorischen  Wandbild  aus 
dem  Grabe  von  Kom  el-abmar  ein  recht  hohes  Alter  zu- 
sprechen. —  Der  Haushund-Vorderteil  bei  Quibell  (1900, 
Hierakonpolis,  I,  London,  Tafel  12,  7)  zeigt  Hängeohren  und 
gedrungenen  Kopf  mit  mäßig  überhängender  Oberlippe.  Der 
überschlanke  Hals  ist  höchstwahrscheinlich  bedingt  durch  das 
Material  (schlanker  Elfenbeinstab). 


196 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


Hunde  des  alten  Reiches  hin.  Die  Ohrform  ist 
aus  der  Darstellung  nicht  ganz  zweifelsfrei  zu 
entnehmen.  Der  Erhaltungszustand  des  Knaufes 
läßt  zum  Beispiel  keine  genaue  Entscheidung 
darüber  zu,  ob  das  Tier  links  Hängeohren  auf- 
weist. 

Noch  ein  drittes  Dokument  ist  uns  beschert 
worden,  und  zwar  durch  die  bedeutungsvollen 
Ausgrabungen  Prof.  Möllers.  Er  fand  in  dem 
prähistorischen  Grabe  (58,  c.  4)  aus  der  Zeit  der 
ersten  Dynastie  (etwa  nach  3300  v.  Chr.  neben 
allerlei  Gefässen,  darunter  als  tiergeographisch 
wichtiges  Dokument  ein  Gefäß  in  Form  eines 
beladenen  Kamels,  ein  Fisch-  und  ein  Tauben- 
gefäß) ein  reizendes  Spiel,  in  Elfenbein  geschnitzt, 
bestehend  aus  7  Hunden  und  2  Löwen.  Ein 
Hund  und  und  ein  Löwe  befinden  sich  im  Ber- 
liner Ägyptischen  Museum,  die  übrigen  „Spiel- 
st eine"  im  Museum  zu  Kairo.  Würden  auch 
bewundernswerten  Steingefäße  und  Fayence- 
perlen nicht  mit  im  selben  Grabe  gefunden  wor- 
den sein,  die  Betrachtung  der  Abbildung  9 
würde    uns   schon   belehren,    daß    wir   auch    hier 


Abb.   9. 


Abb.   10. 

ganz  tüchtige  Kunstleistungen  vor  uns  haben,  daß 
der  Künstler  vor  allem  das  darzustellen  in  der 
Lage  war,  was  er  vor  sich  sah,  daß  er  offenbar 
auch  nach  der  Natur  darstellte.  Von  den  6  in 
Kairo  befindlichen  Hunden  lagen  mir  Photogramme 
in  natürlicher  Größe  vor.  Fünf  derselben  sind 
in  Größe,  Haltung  und  Darstellung  (z.  B.  Behand- 
lung des  Schwanzes,  Halsband)  fast  identisch  mit 
dem  von  mir  aufgenommenen  Berliner  Hund  der 
Abb.  9.  Der  7.  in  Kairo  befindliche  (Abb.  10) 
ist  um  so  verschiedener:  nur  wenig  mehr  als  halb 
so  hoch  (obwohl  er  den  Kopf  hoch  hält),  mit 
langem  walzenförmigem  Rumpf,  langem,  kräftig 
betontem  Schwanz,  ziemlich  langem  Kopf,  schlan- 


kerem Hals,  abgesetztem  Profil,  langen  mäßig 
breiten  Hängeohren  und  derben  Pfoten  an  den 
geraden,  (dem  Verwendungszweck  zuliebe)  viel- 
leicht überlangen  Beinen  (sämtliche  Spielsteine 
haben  nämlich  eine  auffallend  genau  gleich  lange 
Standlinie  I):  Man  erkennt  in  ihm  sofort  einen 
Dachshund.  C.  Keller  1909  (Die  Stammes- 
geschichte unserer  Haustiere)  schreibt  S.  46:  „Auch 
die  Dachshunde  tauchen  schon  in  der  Pharaonen- 
zeit auf,  sind  aber  noch  stehohrig."  Dieser  Fund 
belehrt  uns  eines  anderen,  wie  überhaupt  die 
Kell  ersehen  Theorien  über  Domestikationsmerk- 
male im  aligemeinen  und  die  Hängeohrigkeit  im 
besonderen  (mendelnde  Merkmale!)  sehr  revisions- 
bedürftig sind.  Auch  unser  frühzeitlich -ägypti- 
scher Dachshund  trägt  bereits  ein  Halsband.^) 
Es  war  für  den  Künstler  gewiß  keine  leichte 
Aufgabe,  den  viel  größeren  Doggenhund  so  zu 
modellieren,  daß  er  keine  längere  Standlinie  ein- 
nimmt als  der  viel  kleinere  Dachshund.  Wohl 
oder  übel  mußte  er  die  hinteren  Dimensionen 
verkleinert  wiedergeben  und  von  dem  umge- 
schlagenen Schwanz  konnte  er  immer  nur  das 
Ende  aus  dem  Elfenbeinklötzchen  aussparen.  In 
der  Höhendimension  brauchte  er  sich  keinen 
Zwang  aufzuerlegen  und  so  sehen  wir  die  ganze 
vordere  Körperhälfte  von  einer  geradezu  ver- 
blüffenden Ähnlichkeit  mit  der  gemalten,  viel 
primitiveren  Darstellung  der  Abbildung  8.  Auch 
die  Ähnlichkeit  mit  den  Doggen  (mit  Halsband  1) 
auf  der  bei  Keller,  1.  c.  S.  13  wiedergegebenen 
Reliefdarstellung  einer  assyrischen  Wildpferd- 
jagd aus  Kujundschik  (Zeit  des  Assurbanipal 
etwa  050  V.  Chr.,  Original  im  Britischen  Museum) 
ist  überraschend. 

Der  Künstler  liebte  (oder  brauchte)  bei  seinem 
neunteiligen  Spielsatz  offenbar  Abwechslung.  Neben 
zwei  jagdbaren  Tieren  (2  Löwen)  kommen  nicht 
weniger  als  sieben  Jagdhunde  vor.  Um  so  merk- 
würdiger ist  es,  daß  der  später  so  häufige  löffel- 
ohrige,  ringelschwänzige  Jagdhund  der  alten 
historischen  Zeit  gar  nicht  in  dem  Spielsatz 
vorkommt,  daß  der  Künstler  vielmehr  zwei  so 
verschieden  große  Hundeformen  in  dieselbe 
Größenform  zwängen  mußte.  Ob  er  damals  viel- 
leicht gar  fehlte  und,  später  importiert,  derart 
Mode  wurde,  daß  er  die  beiden  Formen  unseres 
Spiels  so  ganz  auffallend  gründlich  verdrängte? 

Die  erste  Annahme  hätte  größte  Schwierig- 
keiten in  der  tiergeographischen  Verbreitung  der 
Windhundformen  und  (in  Übereinstimmung  damit) 
in  der  Gestalt  der  Antef  Hunde  (s.  o.).  Umge- 
kehrt könnte  jemand  einwenden,  daß  sowohl  der 
Zepterknauf  als  das  zierliche  neunteilige  Spiel 
Importwaren  seien,  die  über  die  Hundefauna 
des  prähistorischen  Ägypten  nichts  Sicheres  aus- 
sagten. Dem  widerspricht  jedoch  das  oben  beschrie- 


')  Ein  zweiter  hängeohriger  Dachsbund  aus  der  ägyptischen 
Vorzeit  von  schlanker  Gestalt,  aber  mit  kräftiger  Brust,  mit 
Dackelpfoten,  umgelegtem  krummen  Schwanz  und  mit  Hals- 
band gibt  wieder  in  seiner  Fig.  4:  Maspero,  1912,  Histoire 
generale  de  l'art,  Egypte.  In ;  Ars  una  species  mille,  Paris. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


197 


bene  Wandgemälde,  das  nach  der  Natur  gfemalt 
ist  und  offensichtlich  den  Scempel  der  Boden- 
ständigkeit trägt.  —  Es  sei  noch  erwähnt,  daß  die 
Orientarchäologen  zwischen  der  Kultur  des  prä- 
historischen Ägypten  und  der  des  alten  Baby- 
lonien  mehr  oder  weniger  deutliche,  freilich 
schwer  zu  erklärende  Beziehungspunkte 
fanden  fz.  B.  abrollbare  Siegelzylinder,  Keulen 
mit  Knäufen,  Kennzeichnung  der  Jahre  nicht 
durch  Zählung,  sondern  durch  Benennung  nach 
hervorstechenden  Ereignissen  und,  wie  mir  Herr 
Prof.  Möller  noch  mitteilt,  Funde  von  Lapis 
lazuli).  Die  im  obigen  nachgewiesene  große 
Haushundform  scheint  mir  fast  diese  so  merk- 
würdigen Anknüpfungspunkte  um  einen  .veiteren 
zu  vermehren.  Aber  auch  dieser  Anknüp- 
fungspunkt wäre  noch  sehr  hypothetisch  und 
schwer  zu  erklären. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  aufmerksam  gemacht 
auf  eine  künstlerisch  hochbedeutsame  Gebrauchs- 
plastik (Schminkpalette  des  Königs  Narmer  — 
Abb.  11)  aus  der  Grenzzeit  zwischen  ägyptischer 
Prähistorie  und  Historie  (etwa  um  3300  v.  Chr.) 
mit  zahlreichen  Tierfiguren,  darunter  mehreren 
Schakalen  und  3  Jagdhaushunden.  Der  betreffende 
Künstler  hatte  sich  in  der  Natur  wohl  umge- 
sehen ,  besaß  aber  neben  einem  hervorragenden 
Kompositionstalent  derart  überraschende  Einfälle 
und  eine  so  drollige  Handschrift,  daß  er  ein  ge- 
borener Karikaturkünstler  gewesen  sein  muß. 
Die  Deutung  dieses  Hundetypus  ist  daher  nicht 
ganz  einfach.  Auf  den  ersten  Blick  muß  man 
die  3  Hunde  für  Dachshunde  halten.  Lange 
Hängeohren  (gegen  C.  Keller!),  etwas  abge- 
setzten Kopf,  deutlichen  Dachshundschwanz,  kurze 
gedrungene  Füße  mit  Dachshundpfoten,  dazu 
kräftige  gegitterte  Halsbänder.  Wenn  wir  aber  bei 
näherem  Zusehen  hier  selbst  an  den  leichtfüßigen 
Antilopen  Dachshundbeine  vorfinden  und  die 
Größe  der  Hunde  mit  der  ihrer  Opfer  vergleichen, 
dann  müssen  wir  in  ihnen  eher  Vorstehhunde 
„Pointer"  dargestellt  finden.  Auch  auf  dieser  an 
Tierformen  so  reichen  (vgl.  besonders  auch  die 
ganz  köstliche  Rückseite!)  Prunkpalette  fehlt  „der 
Windhund"  vollständig. 

Während  und  ausgangs  der  ägyptischen  Prä- 
hisforie  finden  wir  also  Riesenhunde  (Doggen), 
Vorsteh-  und  Dachshunde  (keine  Windhunde). 
Im  alten  Reiche  fast  nur  stehohrige,  ringelschwän- 
zige  Windhunde,  im  mittleren  Reiche  wiegen 
(auch  außerhalb  Ägyptens)   die  Windhundformen 


(teils  mit  Hängeohren  und  geradem  Schwanz)  vor, 
vereinzelt  finden  sich  aber  auch  schlanke  Doggen, 
Vorstehhunde  und  Dackelbeinigkeit.  Der  im 
frühen  Europa  verbreitete  Hund,  der  Spitz,  fehlt. 
Sämtliche  Hunde  des  alten  Nordostafrika  erschei- 
nen kurzhaarig,  sind  bereits  offenbar  vor  Pferd 
und  Rind  (?)  domestiziert.  Dieser  geschichtlich- 
geographische Haustierbefund  dürfte  eine  gar  zu 
scharfe  Absonderung  der  „südlichen  Hunde" 
(Windhunde),  eine  strenge  Zuweisung  der  Doggen 


.■\bb.  u. 


nach  Inner-Vorder-Asien  unmöglich  machen.  Er 
zeigt  auch,  wie  stark  und  wie  früh  der  Mensch 
mit  seinen  Zucht-  und  Sportbestrebungen  auf  die 
Verbreitung   gewisser   Tiere    Einfluß    gewann. 

Den  Herren  vom  ägyptischen  Museum  Berlin, 
Herrn  Dir.  Prof.  Dr.  Schäfer  und  insbesondere 
Herrn  Prof.  Dr.  Möller,  sei  für  großes  Entgegen- 
kommen mein  wärmster  Dank  ausgesprochen. 


[Xacbdruck  verboten.} 


Der  Segelflug  und  verwandte  Bewegungen  in  Luft  und  Wasser. 

Von  Dr.  med.  Wilhelm  Frölich  (Hoheneck  b.  Stollberg  i.  Erzgeb.). 


Der  Segelflug  der  Vögel,  insbesondere  das 
fortgesetzte  Schweben  und  Gleiten  der  Seevögel 
über  dem  Meere  mit  seiner  scheinbaren  Unab- 
hängigkeit von  aller  und  jeder  Kraftquelle  ist 
Jahrhunderte   hindurch  Gegenstand   des  Staunens 


und  Nachdenkens  der  Menschen  gewesen.  Die 
mechanische  Bedeutung,  die  bei  diesem  Segeln 
dem  Kleingefieder  der  Vögel,  den  Deckfedern  und 
Daunen,  zukommt,  ist  aber  bei  Erklärungsver- 
suchen   noch    verhältnismäßig    wenig    gewürdigt 


198 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


worden.  Ich  habe  gerade  auch  von  wissenschaft- 
licher Seite  die  Ansicht  gehört,  daß  das  Kleinge- 
gefieder  zwar  möglicherweise  die  Stabilität  beim 
Fluge  verbessert,  daß  aber  seine  wichtigste  Funktion 
im  übrigen  nur  darin  zu  suchen  sei,  daß  es  dem 
Vogel  einen  Wärmeschutz  bietet.  Die  wärme- 
ökonomische Bedeutung  des  Kleingefieders  wird 
niemand  leugnen.  Wer  aber  eine  Reihe  aufstellen 
wollte,  in  der  die  verschiedenen  Vogelarten  nach 
Umfang  und  Reichtum  ihres  Kleingefieders  ge- 
ordnet sind,  der  würde  bald  inne  werden,  daß 
diese  Ordnung  nicht  zugleich  eine  Ordnung  nach 
Wärmeschutzbedürftigkeit  ist,  daß  gerade  auch 
große  Vögel  und  gerade  auch  Vögel,  die  in  heißen 
Gegenden  und  womöglich  noch  dazu  in  einem 
Seeklima  leben,  ein  sehr  reichliches  Gefieder  haben 
können,  —  besonders  wenn  sie  gute  Segler  sind. 
So  umfangreich  kann  das  Kleingefieder  sein,  daß 
man  meinen  sollte,  es  sei  gar  nicht  auf  Vermei- 
dung, sondern  im  Gegenteil  eher  auf  Erzeugung 
eines  recht  großen  Luftwiderstandes  abgesehen, 
zumal  doch  den  wärmeökonomischen  Bedingungen 
auch  schon  durch  ein  dichtanliegendes,  pelzartiges 
Gefieder  ähnlich  wie  bei  Säugetieren  genügt  wer- 
den könnte.  Und  dieser  so  bedeutende  Umfang 
des  Gefieders  ist  es  denn  auch,  der  wohl  zuerst 
den  Gedanken  hat  aufkommen  lassen,  daß  das 
Kleingefieder  auch  beim  Fliegen  nicht  ganz  ohne 
mechanische  Bedeutung  sein  kann.  Insofern  ist 
aber  auch  die  Qualität  des  Kleingefieders  keines- 
wegs gleichgültig.  Das  so  umfangreiche  Gefieder 
der  Eule  hat  gewiß  nicht  die  Bedeutung,  das  Tier 
zu  einem  hervorragenden  Flugkünstler  zu  machen. 
Wir  werden  in  dem  weichen,  reichlichen  Eulen- 
gefieder eine  Anpassung  an  das  Nachtleben  sehen ; 
es  ermöglicht  einen  sehr  leisen  Flug.  Ein  Klein- 
gefieder von  der  Qualität  des  Siraußengefieders 
ist  für  flugfähige  Vögel  gewiß  ungeeignet.  Es 
erinnert  nach  Anordnung  und  Beschaffenheit  ent- 
fernt an  Kamelhaar  und  bedeutet  wohl  auch  wie 
dieses  eine  Anpassung  an  das  Klima.  Soll  ein 
Kleingefieder  eine  sehr  wesentliche  mechanische 
Bedeutung  für  den  Flug  haben  und  zugleich  eine 
zweckmäßige  Anpassung  an  den  Flug  darstellen, 
so  muß  es  umfangreich  und  widerstandsfähig  sein 
und  gleichzeitig  eine  glatte  Oberfläche  haben.  Auf 
den  Einfluß,  den  Haut-Luftsäcke,  wie  sie  z.  B. 
de'r  Pelikan  hat,  auf  die  mechanische  Wirksam- 
keit des  Kleingefieders  haben  können,  soll  im 
folgenden  nicht  eingegangen  werden.  Daß  das 
Kleingefieder  eine  mechanische  Bedeutung  für  den 
Flug  hat,  geht  vor  allem  auch  daraus  mit  hervor, 
daß  unzweifelhafte  Beziehungen  zwischen  der  Art 
des  Fluges  und  der  Qualität  des  Gefieders  be- 
stehen. Vögel,  die  im  wesentlichen  ein  zer- 
schlissenes Gefieder  haben,  sind  entweder  flug- 
unfahig  wie  der  Kiwi-Kiwi  oder  sie  haben  einen 
kurzphasigen,  schwirrenden  Flug,  weil  das  Gefieder, 
wie  ich  unten  zeigen  werde,  zu  einem  langphasigen 
Flug  oder  zum  Segeln  einer  noch  zu  erläuternden 
Spannungsföhigkeit  bedarf,  welche  sich  mit  der 
ZerschUssenheit   des   ganzen   Gefieders    oder  des 


bei  weitem  größten  Teiles  des  Gefieders  nicht 
verträgt.  Im  Gegensatz  z.  B.  zum  Albatros,  der 
beiläufig  ein  sehr  reiches,  umfangreiches  Gefieder 
hat,  hat  der  schwirrende  Lund  (Fratercula  arctica, 
Linn.)  ein  zerschlissenes  Gefieder,  ebenso  wie  auch 
der  schwirrende  Eisvogel.  Ein  Gefieder  ist  in 
dem  hier  von  mir  angewendeten  Sinne  spannungs- 
fähig, wenn  es  nicht  zerschlissen  ist,  wenn  die 
Federbärte  der  Deckfedern  ein  steifelastisches, 
flächenhaft  ausgebreitstes,  an  der  Oberfläche  glattes 
Gerüst  darstellen,  dessen  feinste  Rippen  systema- 
tisch geordnete,  kapillare  Lücken  zwischen  sich 
lassen,  derart,  daß  die  gegenseitige  Orientierung 
der  Lücken  des  Systems  durch  den  Luftstrom 
nicht  gestört,  und  daß  keine  der  Lücken  durch 
den  Luftstrom  zugedrückt  wird.  Rückt  nun  der 
fliegende  Vogelkörper  gegen  die  Luft  an,  so  übt 
er  eine  Art  Fernwirkung  aus;  er  drückt  nicht  nur 
gegen  die  unmittelbar  vor  ihm  liegenden  Luftteil- 
chen, sondern  auch  schon  auf  weiter  vorn  befind- 
liche, die  er  noch  nicht  erreicht  hat,  so  daß  sich 
die  Luft  schon  im  voraus  auf  eine  Umfließung 
des  Vogelkörpers  einstellt;  die  Luft  prallt  also 
nicht  etwa  wie  eine  Billardkugel  gegen  das  Ge- 
fieder, sondern  sie  schmiegt  sich  eng  an  die  Kon- 
turen des  Vogelkörpers  an,  fließt  —  soweit  sie 
den  Vogelkörper  unmittelbar  berührt  —  dicht  an 
demselben  entlang.*)  Der  eng  und  streng  parallel 
am  Gefieder  entlang  fließende  Luftstrom  übt  aber 
nun  eine  Saugwirkung  aus,  die  vermöge  der 
kapillaren  Lücken  durch  die  Federbartflächen  hin- 
durchgeht, so  daß  unter  den  Deckfederbärten 
ein  Vakuum  entsteht.  Der  Luftstrom  kann  sich 
ja  nicht  in  das  Gefieder  einwühlen,  dazu  sind  die 
kapillaren  Lücken  zu  eng.  Indem  er  nun  streng 
parallel  am  Gefieder  entlang  läuft,  sucht  er  sich 
gegen  die  Haut  des  Vogelleibes  hinzusaugen, 
während  umgekehrt  die  Deckfedern,  unterstützt 
durch  elastische  Dunen,  den  Luftstrom  vom  Vogel- 
leib wegzupressen  suchen.  Je  größer  die  Ge- 
schwindigkeit, mit  der  der  Luftstrom  am  Gefieder 
entlangläuft,  um  so  größer  die  Luftverdünnung, 
um  so  stärker  die  Gefiederspannung.  Diese  Ge- 
fiederspannung bedeutet  aber  einen  Energieauf- 
wand, kostet  eine  Energieausgabe ;  und  der  Vogel 
würde  in  der  gegebenen  Form  wohl  längst  im 
Kampfe  ums  Dasein  verschwunden  oder  vielmehr 
gar  nicht  erst  entstanden  sein,  wenn  sich  diese 
Energieausgabe  nicht  lohnte,  wenn  der  Vogel  die 
Spannungsenergie  seines  Gefieders  nicht  gelegent- 
lich wieder  nutzbringend  zu  seinem  Vorteil  ver- 
wenden könnte,  dann  nämlich,  wenn  sich  das  Ge- 
fieder wieder  teilweise  oder  vollständig  entspannt, 
d.  h.  wenn  die  Abflußgeschwindigkeit  der  am 
Gefieder  entlang  fließenden  Luft  abnimmt.  Wenn 
der  Vogel  mit  Beschleunigung  nach  abwärts  fliegt, 
wird  sein  Fall  dadurch  verzögert,  daß  ein  Teil  der 
Fallenergie   infolge    der    zunehmenden   Abflußge- 


')  Vgl.  F.W.  Lanchester,  Aerodynamik,  deutsch  von 
C.  und  A.  Runge,  Göttingen,  Verlag  von  B.  G.  Teubner,  1909, 
Bd.  I.,  S.  13,  §  13- 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


199 


schwindigkeit  der  Luft  in  Gefiederspannung  über- 
geht. Schließt  sich  aber  nun  diesem  Abwärtsflug 
unmittelbar  ein  Wiederaufstieg  mit  abnehmender 
Geschwindigkeit  an,  so  wird  das  zunächst  stark 
gespannte  Gefieder  durch  seine  Entspannung  und 
die  damit  verbundene  Volumensvermehrung  eine 
Preßwirkung  auf  die  abfließende  Luft  ausüben,  der 
sich  die  Luft,  weil  sie  nach  allen  Seiten  gleich- 
zeitig erfolgt,  nicht  entziehen  kann.  Daher  wird 
das  Gefieder  durch  Abgabe  seiner  Spannungs- 
energie an  die  abfließende  Luft  diese  Luft  zwingen, 
mit  verhältnismäßig  größerer  Geschwindigkeit  in 
der  jeweiligen  Abflußrichiung,  d.  h.  in  der  Richtung 
des  geringsten  Widerstandes  nach  hinten  abzu- 
fließen. Je  geschwinder  aber  die  Luft  nach  hinten 
abfließt,  um  so  schneller  fliegt  der  Vogel.  Beim 
Aufwärtsfliegen  mit  abnehmender  Geschwindigkeit 
nimmt  also  die  Geschwindigkeit  des  Vogels  nicht 
so  rasch  ab,  als  wenn  ihm  die  Spannungsenergie 
seines  Gefieders  nicht  dabei  zur  Verfügung  stände. 
Während  die  Gefiederspannung  fallverzögernd 
wirken  kann,  kann  die  Entspannung  steigungbe- 
schleunigend wirken.  Ohne  Mitwirkung  des  Win- 
des ist  offenbar  die  obengedachte  Ausnutzung 
von  Spannung  und  Entspannung  des  Gefieders 
schon  in  dem  hüpfenden  oder  springenden  Flug 
mancher  kleinerer  Vögel  verwirklicht.  Lan- 
chester  beschreibt  1.  c.  Bd.  I,  Anhang IV,  S.  345, 
das  Verhalten  einer  Bachstelze,  die  vor  seinem 
mit  mehr  als  48  km  Geschwindigkeit  fahrendem 
Automobil  in  der  Fahrtrichtung  floh :  „In  dieser 
Lage  hart  bedrängt  fliegt  die  Bachstelze  niedrig; 
und  ihre  Bewegung  gleicht  genau  dem  Aufspringen 
eines  Gummiballes  auf  der  Straßenfläche". 

Das  im  obigen  Sinne  spannungsföhige  Gefieder 
kann  aber  nicht  nur  durch  Fallbeschleunigung  oder 
durch  aktive  Flugbewegungen  des  Vogels  in 
Spannung  versetzt  werden,  sondern  vor  allen 
Dingen  auch  durch  den  Wind.  Der  Vogel  kann 
sein  Gefieder  an  einem  lebendigen  Luftstrom 
spannen  und  hierauf  diese  Spannungsenergie  in 
einem  Totwasserbereich  zu  seinem  Vorteil  aus- 
spielen. Sein  Gefieder  hat  dabei  die  Rolle  eines 
zweckmäßigen  Energiespeichers.  Je  umfangreicher 
und  widerstandsfähiger  dieser  Speicher  ist,  um  so 
größer  ist  auch  ceteris  paribus  seine  Energiekapa- 
zität und  der  erzielbare  Nutzeffekt.  Er  ermög- 
licht den  langphasigen  Flug  und  bei  gutem  Nutz- 
effekt und  gleichzeitig  günstigen  äußeren  Be- 
dingungen das  Segeln.  Ist  bei  spannungsfähigem 
Gefieder  mit  den  Flügelschlägen  ruckweise  eine  Be- 
schleunigung, eine  Gefiederspannungsvermehrung, 
verbunden,  so  wird  bei  der  zwischen  den  Flügel- 
schlägen liegenden  Spannungsverminderung  die 
an  die  Luft  übergehende  Federspannungsenergie 
zugunsten  des  Vogels  ausgenutzt,  so  daß  ein 
verhältnismäßig  langphasiger  Flug  resultiert  im 
Gegensatze  zu  dem  Schwirrflug  bei  zerschlissenem 
Gefieder.  Vögel,  die  zwar  noch  ein  spannungs- 
fähiges Gefieder  haben,  es  aber  doch  in  der  Regel 
nicht  zum  eigentlichen  Segeln  bringen,  werden 
wenigstens    den   Wind    ähnlich    wie   die   Segler, 


wenn  auch  in  beschränkterem  Umfange  ausnützen 
können.  Nicht  spannungsfähiges  Gefieder  schließt 
eine  solche  Windausnützung  aus,  macht  aber  da- 
für auch  in  gewissen  Grenzen  unabhängiger  vom 
Winde.  Diese  relative  Unabhängigkeit  kann  sich 
auch  in  der  Flugbahn  aussprechen.  Die  Bahn  ist 
grundverschieden  von  der  der  Segler,  geradlinig 
oder  der  Form  der  IVIeereswellen  angepaßt. 

Bevor  ich  die  Betrachtungen  über  den  Vogel- 
flug schließe,  möchte  ich  nochmals  kurz  die  ein- 
gangs erwähnte  Vermutung  streifen,  daß  das 
Kleingefieder  möglicherweise  die  Stabilität  beim 
Fliegen  verbessert.  Lanchester  1.  c.  Bd.  II, 
§  79,  S.  107  f.  fand  bei  seiner  ersten  Berechnung, 
daß  die  Stabilität  des  Albatros  bei  seinem  Segeln 
mangelhaft  zu  sein  schien.  Beim  Albatros  hat 
der  Schwanz  eine  sehr  geringe  Ausdehnung.  Wenn 
Lanchester  nicht  später  durch  Verfolgung  der 
Albatros  Literatur  gefunden  hätte,  daß  bei  diesem 
Vogel  die  Füße  mit  ihren  Schwimmhäuten  beim 
Segeln  eine  solche  Lage  einnehmen,  daß  sie  als 
eine  wesentliche  Vergrößerung  der  Schwanzfläche 
erscheinen,  würde  die  obige  Vermutung  eine 
wesentliche  Stütze  in  der  Tatsache  finden,  daß  der 
Albatrosschwanz  eine  sehr  kleine  Flächenausdeh- 
nung hat.  Andererseits  scheint  mir  aber  auch 
der  Beweis  nicht  zwingend,  daß  die  Ruderfüße 
durch  ihre  Lage  als  wesentlicher  Stabilitätsfaktor 
wirken  müßten,  und  dies  um  so  weniger,  als  nicht 
die  Fußsohlen,  sondern  die  Fußrücken  beim  Segeln 
nach  abwärts  gekehrt  sind. 

In  ganz  analoger  Weise,  wie  der  Wind  fördernd 
auf  den  Flug  eines  Vogels  mit  spannungsfahigem 
Gefieder  wirken  kann,  wirken  nun  auch  die  Ober- 
flächenwellenbewegungen des  Wassers  auf  das 
Schwimmen  von  Wassertieren  mit  Schwimmblasen 
oder  mit  mechanisch  gleichwirkenden  Lungen  (See- 
schildkrötenlunge, Wallunge).  Es  gibt  nicht  nur 
ein  Segeln  in  der  Luft,  sondern  auch  ein  Segeln 
im  Wasser.  Und  wo  eine  relativ  kleine  Schwimm- 
blase oder  etwas  mechanisch  gleichwertiges  vor- 
handen ist,  was  nach  seinem  Umfange  nicht  hin- 
reichend ist,  um  ein  Segeln  mit  Hilfe  des  zu-  und 
abnehmenden,  an-  und  abschwellenden  Wellen- 
wasserdruckes auf  die  sich  spannende  und  ver- 
kleinernde, entspannende  und  ausdehnende 
Schwimmblase  zu  ermöglichen,  wird  doch  dieser 
wechselnde  Wasserwellendruck  fördernd  auf  das 
Schwimmen  dieser  Tiere  wirken;  und  die  Phasen- 
dauer ihrer  Schwimmbewegungen  wird  auch  sonst 
durch  die  Schwimmblase  verlängert  werden.  Den 
Fischen  dagegen,  die,  ohne  wie  die  Schollen  eigent- 
liche Grundfische  zu  sein,  doch  keine  Schwimm- 
blase haben,  wird  eine  ähnlich  fördernde  Wirkung 
des  Wasserwellendruckes  versagt  bleiben,  also 
z.  B-  den  Makrelen.  Der  Vorteil  der  schwimm- 
blasenlosen Tiere  ist  aber  dann  auch  ein  analoger 
wie  der  der  Vögel  mit  gänzlich  zerschlissenem 
Gefieder;  ihre  Bahn  ist  unabhängiger  von  den 
Wellen ;  bei  Wind-  und  Wellenstille  können  sie 
anderen  Fischen  mit  großer  Schwimmblase  im 
Schwimmen  wegen   ihres  relativ  kleineren  Volu- 


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mens  überlegen  sein.  Die  Ausnützung  der  Wellen 
und  umgekehrt  auch  der  Vorteil  der  Schwimm- 
blasenlosigkeit  bei  Wind-  und  Wellenstille  wird 
sich  dort  am  deutlichsten  zeigen,  wo  die  größten 
Wellen  vorkommen:  im  Meere.  Der  Wal,  die 
Seeschildkröte,  „der  fliegende  Fisch"  wären  dort, 
wo  es  nur  kleine  Wellen  und  niedrige  Wellen 
gibt,  unmöglich.  Der  fliegende  Fisch  ist  ein 
echtes  Hochseetier,  lebt  nicht  in  größeren  Tiefen. 
Für  Wale  und  Seeschildkröten  verbietet  sich  das 
Leben  in  größerer  Tiefe  von  selbst.  Schwimm- 
blasenlose Seefische  dagegen  werden  sich  bei 
hohem  Seegang  in  der  Regel  in  größere  Tiefen 
zurückziehen ;  denn  dann  kommt  die  Überlegen- 
heit der  Schwimmblasentiere  ihnen  gegenüber 
weniger  zur  Geltung.  Umgekehrt  aber  werden 
sie  bei  Wind-  und  Wellenstille  häufiger  die  ober- 
flächlichen Wasserschichten  aufsuchen;  denn  dann 
ist  die  Überlegenheit  wenigstens  gegenüber  Fischen 
mit  großer  Schwimmblase  auf  ihrer  Seite. 

Der  Wal  hat  ein  auffällig  loses  Brustkorb- 
gerüst, so  daß  die  Oberflächenwellenbewegung 
des  Wassers  seine  wie  eine  Schwimmblase  im 
Leibe  liegende  Lunge  auch  beeinflussen  kann,  als 
wäre  sie  eine  Schwimmblase.  Dazu  kommt,  daß 
der  innere  Bau  der  Wallunge  eine  Kommunikation 
der  in  ihren  verschiedenen  Abschnitten  vorhandenen 
Gasmassen  zuläßt,  die  die  Lunge  zu  einer  der 
Schwimmblasenwirkung  entsprechenden  Wirkung 
viel  geeigneter  macht  als  die  Lungen  der  anderen 
Säuger.  Lebend  ans  Land  geschwemmte  Wale 
gehen  unter  Erscheinung  von  Atemnot  zugrunde; 
das  wird  verständlich  durch  die  gesteigerte  Zu- 
sammendrückbarkeit  des  Brustkorbes.  Die 
Schwimmblasenwirkung  der  Wallunge  ist  es  wohl 
auch,  die  es  dem  Tiere  ermöglicht,  schlafend  zu 
atmen.  Nähert  sich  dem  dicht  unter  der  Meeres- 
oberfläche befindlichen  Wal  ein  Wellental,  so  wird 
er  ähnlich  emporgleiten  können,  wie  etwa  ein 
Fisch,  der  eine  Schwimmblase  hat  und  sich  am 
Boden  eines  Fischtroges  befindet,  emporzugleiten 
pflegt,  wenn  ein  Eimer  Wasser  aus  dem  Troge 
ausgehoben  wird.  Der  Mechanismus  dieses  Em- 
porgleitens wird  verständlich,  wenn  wir  berück- 
sichtigen, daß  in  einer  gasgefüllten  Schwimmblase 
zu  einem  gegebenen  Zeitpunkte  überall  derselbe 
Gasdruck  herrscht,  während  das  von  außen  gegen 
die  Schwimmblase  drückende  Wasser  dem  Gesetz 
des  hydrostatischen  Wasserdruckes  unterworfen 
ist.  Das  Gas  in  der  Schwimmblase  sucht  sich 
daher  nicht  in  beliebiger  Richtung,  sondern  in 
der  Richtung  auszudehnen,  aus  der  der  Wasser- 
druck am  kleinsten  ist.  Nimmt  der  Wasserdruck 
ab,  so  erfolgt  tatsächlich  eine  Ausdehnung  des 
Gases  nach  dieser  Richtung  hin.  Wir  können 
den  mechanischen  Erfolg  dieser  Gasausdehnung 
mit  der  Wirkung  vergleichen,  die  drückende 
Finger  auf  einen  fortzuschnellenden  schlüpfrigen 
Zitronenkern  ausüben.  An  Stelle  des  schlüpfrigen 
Zitronenkerns  müßten  wir,  um  den  Vergleich 
durchzuführen,  den  schlüpfrigen  Fischkörper  setzen, 
an  Stelle  der  drückenden  Finger  den  Wasserdruck. 


Der  Vergleich  hinkt  aber  insofern,  als  beim  Fort- 
schnellen des  Zitronenkerns  die  hierzu  erforder- 
liche Energie  aus  den  drückenden  Fingern  be- 
zogen wird,  während  beim  Emporgleiten  des 
schlüpfrigen  Fischkörpers  die  hierzu  erforderliche 
Energie  durch  Entspannung  des  Gases  in  der 
Schwimmblase  aufgebracht  wird.  —  Theoretisch- 
physikalische Erwägungen  führen  nach  Lan- 
chester  1  c.  Bd  I,  S.  65,  §  56  zu  dem  Ergebnis, 
daß  sich  ein  Walfisch  nach  der  „Dimensions- 
theorie" überhaupt  kaum  würde  „fortbewegen 
können,  ohne  einen  Totwasserbereich  in  seinem 
Kielwasser  mitzuführen,  was  höchst  unwahrschein- 
lich ist".  In  der  mechanischen  Wirkung  der  Wal- 
lunge als  Schwimmblase  liegt  vielleicht  hier  die 
Erklärung  des  Widerspruchs  zwischen  Theorie 
und  Erfahrung. 

Unter  den  Schildkröten  sind  die  Seeschild- 
kröten offenbar  die  gewandtesten  Schwimmer; 
ihre  Bewegungen  im  Wasser  erinnern  lebhaft  an 
die  großer  Vögel.  Im  Gegensatz  zu  anderen 
Schildkröten  wird  bei  den  Seeschildkröten,  wie 
G.  Rouch  nachgewiesen  hat,  die  Ausatmung 
durch  die  Federkraft  des  Panzers  bewirkt.  Sie 
sind  also  auch  der  Einwirkung  des  hydrostatischen 
Wasserdruckes  auf  das  Gas  in  ihren  Lungen 
leicht  zugängig;  und  in  deutlichem  Kontrast  zu 
anderen,  nicht  segelfähigen  Schildkröten  haben 
ihre  Vorderfüße  eine  Umwandlung  zu  Flossen  er- 
fahren. 

Der  „fliegende  Fisch"  hat  eine  riesengroße 
Schwimmblase;  bei  einem  Exemplar  von  16  cm 
Länge  war  die  Schwimmblase  (nach  Brehms  Tier- 
leben 1914,  Bd.  Fische  S.  326)  9  cm  lang  und 
2,5  cm  weit  und  enthielt  etwa  44  ccm  Gas.  Neben 
dieser  außerordentlichen  Schwimmblase  hat  der 
fliegende  Fisch  als  auffälliges  Merkmal  auch  noch 
riesengroße  Brustflossen,  die  offenbar  notwendig 
sind,  um  die  große  Energiekapazität  der  Schwimm- 
blase zweckmäßig  auszunützen.  Wie  der  weit- 
klafternde Albatros  der  beste  Segler  unter  den 
Vögeln  ist,  so  der  Flugfisch  mit  seinen  weit- 
klafternden Brustflossen  der  beste  Segler  unter 
den  Fischen.  Wir  können  uns  sein  Segeln  etwa 
so  vorstellen:  Bewegt  sich  der  Flugfisch  gegen 
einen  ankommenden  Wellenberg,  so  geht  er  bei 
entsprechender  Flossenstellung,  durch  Zusammen- 
drückung  seiner  Schwimmblase  schwerer  werdend, 
im  Gleitflug  nach  abwärts,  soweit  es  ihm  gerade 
eben  möglich  ist;  denn  je  tiefer  er  sich  unter 
dem  Wellenberg  sozusagen  einbohren  kann,  um 
so  mehr  wird  seine  Schwimmblase  gespannt,  um 
so  größer  ist  die  Energiemenge,  mit  der  seine 
Schwimmblase  geladen  wird;  hierauf  gleitet  er 
ähnlich,  wie  es  oben  schon  beschrieben  wurde, 
gegen  ein  Wellental  empor,  das  sich  ihm  über- 
lagert, und  er  bohrt  sich  danach  entweder  von 
neuem  in  einen  Wellenberg  hinein,  oder  er  schnellt 
bei  entsprechender  Flossenstellung  aus  dem  Wasser 
heraus  und  zeigt  sich  als  ,, fliegender  Fisch". 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  der  Vermutung 
Ausdruck  geben,  daß  eine  Analogie  auch  insofern 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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besteht,  als  die  Gezeitenspannung  der  Gestirne 
bei  ihren  Bewegungen  gegeneinander  der  mecha- 
nischen Wirkung  nach  in  Parallele  zur  Gefieder- 
und Schwimmblasenspannung  und  -entspannung 
gesetzt  werden  darf. 

Wir  haben  oben  Formen  von  Energieüber- 
tragung besprochen,  wie  sie  bei  einem  recht  er- 
heblichen Teil  der  Vertebraten  statthaben:  einer- 
seits Übertragungen  vom  Tier  auf  das  Fortbe- 
wegungsmedium, aber  andererseits  auch  Über- 
tragungen vom  FortbewegungsmeHium  auf  das 
Tier.  Kennzeichnend  für  diese  Übertragungen 
ist  es,  daß  dabei  nirgends  etwas  von  Vibrationen 
oder  Erschütterungen  bemerkbar  ist,  durch  die 
etwa  die  Energieübertragung  unterbrochen  oder 
auch  nur  beeinträchtigt  würde;  vielmehr  findet 
regelmäßig  nur  ein  stetiges  harmonisches  An- 
und  Abschwellen  des  Druckes  und  der  Spannung 
im  Gefieder  und  in  der  Schwimmblase  einerseits 
und  im  Fortbewegungsmedium  andererseits  statt. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  sind  die  Voraus- 
setzungen zu  einer  solchen  harmonischen  Energie- 
übertragung nicht  nur  in  den  besprochenen  Fällen 
gegeben,  sondern  überall  dort,  wo  unter  physio- 
logischen Bedingungen  Energieübertragungen  von 
einem  Tier  auf  ein  homogenes  Medium  wie  Luft 
oder  Wasser  (vielleicht  auch  Wehäther)  oder  in 
umgekehrter  Richtung  stattfinden,  so  daß  wir  von 
einem  physiologischen  Prinzip  der  harmonischen 
Trägheit  sprechen  dürfen.  Nach  diesem  Prinzip 
werden  Tier  und  Medium  bei  der  Energieüber- 
tragung   beide    harmonische    Schwingungen    aus- 


führen; einerseits  wird  fortgesetzt  eine  mechani- 
sche Beanspruchung  des  molekularen  Gefüges  des 
Mediums  stattfinden,  und  andererseits  wird  sich  auch 
der  Tierkörper  in  sich  selbst  harmonisch  bewegen, 
schwingen  und  pendeln,  gleich  als  ob  er  jeweils  auf 
einen  bestimmten  Schwingungsrhythmus  „abge- 
stimmt" wäre.  Eine  solche  Abstimmung  ist  wört- 
lich verwirklicht  beim  Hervorbringen  der  Stimme. 
Beim  Brüllen,  Schreien,  Grunzen,  Singen  usw. 
ist  das  Medium,  auf  das  Energie  übertragen  wird, 
die  in  der  Lunge  und  Luftröhre  eingeschlossene 
Luft.  Zum  Zwecke  der  Energieübertragung  auf 
diese  Luft  schwingt  wohl  immer  ein  wesentlicher 
Teil  des  ganzen  Körpers  mit;  dieses  Mitschwingen 
wird  verständlich,  wenn  wir  bedenken,  daß  Druck- 
schwankungen im  Brustkorb  notwendig  auch  mit 
Fernwirkungen  verbunden  sein  müssen.  Soweit 
bei  der  Hervorbringung  der  Stimme  auch  die  äuße- 
ren Bedeckungen  des  Körpers  in  Mitschwingungen 
geraten,  wie  z.  B.  beim  Menschen  die  des  Brust- 
korbes und  eines  Teiles  des  Schädels,  erfordert 
das  Prinzip  der  harmonischen  Trägheit  auch  ein 
harmonisches  Verhalten  der  Federn  und  Haare. 
Vielleicht  erklärt  es  sich  so,  daß  z.  B.  das  Frauen- 
haar dünner  ist  als  das  der  Männer. 

Allem  Anscheine  nach  ist  also  die  physikalische 
Beschaffenheit  der  Federn  und  Haare  nicht  nur 
von  äußeren  physikalischen  Bedingungen  abhängig, 
sondern  auch  von  der  Stimme  der  betreffenden 
Tiere. 

Hoheneck,  am  10.  Januar  1921. 


Einzelberichte. 


Die  Selbstdiffnsioiiscrescliwjndigkeit  des 
geschmolzenen  Bleis. 

In  einem  Gas  oder  in  einer  Flüssigkeit  haben 
wir  uns  die  Moleküle  in  heftigster  Bewegung  vor- 
zustellen. Die  molekulare  Wärmebewegung  wir- 
belt in  einer  ruhenden  Gas-  oder  Flüssigkeits- 
masse die  einzelnen  Moleküle  aufs  lebhafteste 
durcheinander.  Der  mit  dem  geistigen  Auge  ge- 
sehene Tanz  der  Moleküle  konnte  in  Gasen  und 
in  flüssigen  Lösungen  auf  verschiedenen  Wegen 
experimentell  nachgewiesen  werden;  nun  ist  es 
J.  Groh  und  G.  v.  Hevesy*)  auch  gelungen, 
in  einer  einheitlichen  Flüssigkeit,  nämlich  im 
flüssigen  geschmolzenen  Blei,  die  Geschwindigkeit 
der  Bleimoleküle  "•')  unmittelbar  zu  messen.  Damit 
ist  zum  erstenmal  augenscheinlich  gezeigt,  daß  in 
einer  homogenen  Flüssigkeit  eine  rasche  Diffusion 
der  eigenen  Moleküle  ineinander  (=  Selbstdiffusion) 
stattfindet. 

Um  die  Selbstdiffusion  im  flüssigen  Aggregat- 
zustand nachzuweisen,  muß  die  Bewegung  irgend- 

»)  Ann.  d.  Phys.  Bd.  63,  S.  85—92  (1920). 
-)  Nach    den  Versuchen    von    H.  Siedentopf  (Ann.  d. 
Phys.  61,  S.  23,  1897)  ist  das  geschmolzene  Blei  assoziiert. 


wie  gekennzeichneter  Bleimoleküle  gegenüber  den 
übrigen  Molekülen  im  flüssigen  Blei  verfolgt  wer- 
den. Groh  und  Hevesy  bestimmten  die  Diffu- 
sionskonstante von  Thorium  B,  einem  radioaktiven 
Bleiisotopen,  im  geschmolzenen  gewöhnlichen  Blei. 
Das  radioaktive  ThBBlei  (Ag.  212)  weicht  im 
Atomgewicht  vom  gewöhnlichen  Blei  (Ag.  207,1) 
so  wenig  ab.  daß  bei  der  Gleichheit  der  Molekül- 
und  Atomradien  der  beiden  Bleiisotopen  der  mini- 
male Massenunterschied  bei  der  Diffusion  gar 
keine  Rolle  spielt. 

Um  mit  Thorium  B  gemischtes  Blei  herzu- 
stellen ,  wurde  auf  der  Oberfläche  einer  negativ 
geladenen  Bleifolie  der  radioaktive  Niederschlag 
eines  Radiothorpräparats  gesammelt.  Die  Bleifolie 
wurde  dann  in  Salpetersäure  gelöst,  die  nötige 
Menge  Bleinitrat  zugesetzt  und  dann  elektroly tisch 
mit  dem  Bleiisotop  ThB  „indiziertes"  aktives  Blei 
abgeschieden.  Das  radioaktive  Blei  wurde  in  einer 
Hartglasröhre  von  etwa  3  mm  Durchmesser,  die 
am  unteren  Ende  geschlossen  war,  zu  einer  etwa 
1,5  cm  langen  Bleischicht  eingeschmolzen.  Sehr 
empfindlich  wurden  die  Versuche  durch  das 
Springen  der  Hartglasröhren  während  des  Schmel- 
zens  und  Erstarrens  der  Bleisäulen  gestört.   Schließ- 


202 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


lieh  halfen  sich  Groh  und  Hevesy  so,  daß  sie 
über  die  Hartglasröhre  eine  zweite,  ganz  eng 
passende  brachten,  welche  die  flüssige  Bleisäule 
auch  dann  noch  zusammenhielt,  wenn  die  innere 
Röhre  gesprungen  war. 

Um  zu  verhindern,  daß  später  beim  Diffusions- 
versuch   Gasblasen    das   geschmolzene  Metall  auf- 
rühren, wurde  die  flüssige    radioaktive  Bleischicht 
mit  Hilfe  einer  Gae  de  sehen  rotierenden  Queck- 
silberpumpe entgast.      „Es    zeigte   sich,    daß    das 
frisch    geschmolzene    Blei    längere    Zeit    hindurch 
Gase    abgibt    —    vermutlich    Sauerstoff  aus   dem 
allmählich  zerfallenden,  im  Metall  gelösten  Oxyd." 
Gleichzeitig  wurde  in  einem  Seitenrohr   die  drei- 
fache   Menge    von    gewöhnlichem     Blei    entgast. 
Groh    und    Hevesy    ließen    dann    die    1,5  cm 
lange  radioaktive  Bleisehieht  erstarren  und  schich- 
teten   darüber    im     Vakuum    durch    Neigen    des 
Rohres    die    dreimal    solange    inaktive  Bleischicht. 
Nachdem    auch    das    inaktive    Blei    erstarrt    war, 
wurde  die  Glasröhre  abgeschmolzen  und  dann  in 
einen  vertikalen  elektrischen  Ofen  von  etwa  340" 
gebracht.     In  diesem    waren   die   aufeinander   ge- 
schichteten   2   Bleisäulen    bald    geschmolzen    und 
die   Diffusion    nahm   ihren    Anfang.      „Nach    dem 
Ablauf  der  Diffusionszeit  von  ^^—2  Tagen  schal- 
tete man  den  Heizstrom  aus  und  ließ  das  Blei  im 
Ofen  erstarren.     Die  Bleisäule  wurde  jetzt  in  vier 
gleiche  Stücke  von  je  1,5  cm  Länge  geschnitten. 
Nunmehr    walzten    wir    dünne    Bleiblättchen    aus 
den  vier  Spaltstücken  und  verglichen  ihre  «Akti- 
vitäten   im  Elektroskop;    deren    Verhältnis    ergab 
unmittelbar  die  Verteilung  des  aktiven  Bleis  zwi- 
schen den  vier  Schichten  nach  der  Diffusion  und 
somit,  da  Versuchszeit  und  Schichtlänge  bekannt 
smd,  die  Möglichkeit   der  Berechnung   der   Diffu- 
sionskonstante des  aktiven  Bleis  im  inaktiven." 

Aus  17  Versuchen  ergab  sich  als  Mittelwert 
für  die  Selbstdiffusionskonstante  des  Bleis  bei  3430 
der  Wert  2,22  cm^/Tag.  Aus  der  ermittelten 
Diffusionskonstante  läßt  sich  nach  der  Formel 
vonEinstein-Smoluchowski  der  Radius  des 
diffundierenden  Bleiatoms  bzw.  Moleküls  zu  0,78  ■ 
10-8  cm  berechnen;  nach  der  von  Sutherländ 
modifizierten  Formel  ergibt  sich  der  Wert  1,16. 
lO"**  cm. 

Bereits  früher  wurde  die  Diffusionsgeschwindig- 
keit  des  Goldes  in  geschmolzenem  Blei  von 
Roberts-Austen  bei  550»  zu  3,18  cm7Tag 
bestimmt;  für  die  Selbstdiffusion  des  Bleis  bei 
dieser  Temperatur  ergibt  die  Rechnung  unter  Be- 
rücksichtigung der  geänderten  Zähigkeit  der  ge- 
schmolzenen Masse  den  Wert  3,5. 

Von  hohem  Interesse  ist  es,  die  Diffusions- 
geschwindigkeit des  Bleiions  in  Wasser  mit  der 
des  Bleiatoms  (Moleküls)  im  geschmolzenen  Blei 
zu  vergleichen.  Zu  berücksichtigen  ist  hierbei  die 
Temperaturverschiedenheit  und  die  andere  Zähig- 
keit des  Mediums.  Nach  der  Theorie  ist  die 
Diffusionsgeschwindigkeit  der  absoluten  Tempe- 
ratur direkt  und  der  Zähigkeit  des  Mediums  um- 
gekehrt proportional.  Die  Selbstdiffusionsgeschwin- 


digkeit des  Bleis  bei  Zimmertemperatur  von  18» 
und  auf  die  Zähigkeit  des  Wassers  bezogen  be- 
rechnet sich  zu  2,13  cm^/Tag;  die  Diffusions- 
geschwindigbeit  des  Bleiions  in  Wasser  beträgt 
nach  experimenteller  Bestimmung  nur  0,67  cm -/Tag. 
Die  langsame  Diffusion  der  Bleiionen  erklärt 
sich  daraus,  daß  jedes  Bleiion  eine  Anzahl  Wasser- 
moleküle angelagert  hat.  Die  Hydrathülle  des 
zweiwertigen  Ions  vergrößert  den  Radius  des  Blei- 
atoms mindestens  um  das  Dreifache  gegenüber 
dem  Radius  der  Atome  (Moleküle)  im  geschmol- 
zenen Blei.  Im  vorliegenden  Fall  zeigt  also  die 
geringe  Diffusionsgeschwindigkeit  des  Bleiions 
gegenüber  dem  Bleimolekül  aufs  anschaulichste 
die  starke  Hydratation  der  Ionen,  die  schon  seit 
längerer  Zeit  aus  anderen  Gründen  angenommen 
wurde.  Kari  Kuhn. 


Der  Urwald  als  lebensraum. 

Wenn  wir  W.  V  o  1  z  i)  durch  Südsumatra  folgen, 
erfahren  wir,    was    der  Urwald  dem  europäischen 
Menschen  ist,    was  er  dem  Malayen   ist,    dem    in- 
discher Kulturgeist    hilfreich    zur  Seite  gestanden, 
und  was  er  für  den  Kubu  bedeutet,  der  noch  jetzt 
Urmensch  ist,  wie  vor  Zehntausenden  von  Jahren. 
Der   erste  Eindruck,   den    der  Europäer   vom  Ur- 
wald empfängt,  ist  der  des  endlos  Wechselvollen: 
„Kein    Baum    gleicht   dem    anderen,    kein    Stamm 
dem  anderen;  zarte,  duftfeine  Formen  und  grobe, 
massige,  schmale  und  breite,    Riesen  und  Zwerge 
nebeneinander,  durcheinander,  übereinander  —  es 
ist    ein    betäubender,    sinnverwirrender    Eindruck. 
Und    doch    ist    alles    eins,    eine    mächtige,    grüne 
Laubmauer,"  denn  die  Farben  fehlen,  alles  ist  grün 
und    in   dem  Grün    verschwinden   die  Blüten   der 
Bäume  gleichwie  die  farbenprächtigen  Orchideen. 
Nicht  lange  währt  es,  so  sieht  der  Blick  nur  noch 
die  grüne  Mauer,    ins  Innere  des  Urwaldes  dringt 
er  nicht  hinein  und  etwas  wie  Enttäuschung  über- 
kommt  den    Reisenden,    um    so   mehr,    als    auch 
die  Sonne  ausgeschlossen  ist;    hoch    oben  in  den 
Wipfeln    der   Bäume   spielt   ihr   Licht.     Ringsum 
ist    Dämmer,    Feuchtigkeit    und    Schwüle.       „In 
ewiger  Lauheit  verrinnt  der  Tag,  die  Nacht;  kaum 
je  sinkt  das  Thermometer   unter  21—22",    kaum 
je  steigt   es   über  28—29».     Die  Fülle   erdrückt, 
die    Üppigkeit    erstickt.       Und     tiefe    Sehnsucht 
überkommt  uns   nach  Freiheit,    nach  Sonnenlicht, 
heraus,  heraus  aus  dem  Banne  des  Rimba!" 

Die  Malayen  des  Urwalds,  sagt  Volz,  sind 
„freier  und  selbstbewußter  in  ihrem  Auftreten,  als 
z.  B.  in  den  kleinen  Sultanaten  der  Ostküste,  aber 
zuvorkommend  und  höflich.  Wenn  man  länger 
irgendwo  bleibt  und  der  Tau  der  Frische  sich 
somit  veriiert,  werden  sie  unter  Umständen  ein 
wenig  dummdreist,  nicht  frech,  jedoch  etwas 
dreist,  lassen  sich  aber  leicht  in  ihre  Schranken 
weisen.    Stets  bleiben  sie  gefällig  und,  ich  möchte 

')  Wilhelm  Volz:  Im  Dämmer  des  Rimba.  Sumatras 
Urwald  und  Urmensch.     112  S.    Breslau  1921,  F.  Hirt.    15  M. 


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sagen,  gehorsam.  Wie  alle  Malayen  sind  sie  fröh- 
lich und  zum  Lachen  und  Scherzen  geneigt,  man 
glaubt  bei  uns  gern,  daß  die  Bewohner  heißer 
Klimate  impulsiv  und  heißblütig  seien;  das  gilt 
für  die  Malayen  keineswegs,  eher  ist  ihnen  Phlegma 
und  im  Zusammenhang  damit  geringe  Energie 
eigen.  Auch  die  berühmte  Hinterlist  der  Malayen 
ist  ein  Märchen."  Das  Leben  der  Urwaldmalayen 
ist  ein  äußerst  ärmliches.  Ihre  Hauptnahrung  ist 
Reis,  der  auf  kleinen  Rodungen  im  Urwald  an- 
gebaut wird.  Der  Boden  gibt  nur  zwei  Ernten, 
dann  muß  frischer  Grund  gesucht  werden.  „Nur 
wenn  wieder  und  immer  wieder  der  Busch  ge- 
rodet und  verbrannt  wird,  weicht  schließlich  der 
Urwald,  und  mannshohes  Steppengras,  der  Alang- 
Alang,  siedelt  sich  an,  mit  Buschzeug  untermischt. 
So  finden  sich  diese  Steppenflächen  häufiger  um 
die  Dörfer  herum.  Aber  die  Dörfer  sind  klein 
und  liegen  weit  voneinander;  so  sind  sie  mit 
ihren  gelegentlichen  Steppenflächen  und  Frucht- 
gärten Oasen  im  unermeßlichen  jungfräulichen 
Rimba."  Vorderindischer  Einfluß,  der  seit  fast 
zweitausend  Jahren  auf  den  ostindischen  Inseln 
nachweisbar  ist,  hat  den  Malayen  zum  Menschen 
gemacht,  und  vorderindisch  ist  noch  heute  alles, 
was  sein  Leben  erhellt.  Der  Islam  vermochte  in 
der  Volksseele  nicht  tief  Wurzel  zu  schlagen;  die 
Religion  der  glühenden  Wüste  haftet  nur  ober- 
flächlich, da  weder  die  Volksseele,  noch  die  geo- 
graphische Umwelt  günstige  Bedingungen  für  ihre 
Aufnahme  bieten.  Allerdings  entbehren  die  im 
Urwald  lebenden  Malayen  nun  jeder  von  außen 
kommenden  Anregung;  sie  sind  ein  „aus  alter 
Kultur  zurücksinkendes  Volk,  die  geistige  Quelle 
ist  durch  den  Islam  zerstört,  nichts  Neues  dafür 
gegeben ;  so  nährt  sich  das  Volk  von  den  Resten 
verblichener  Zeiten  —  und  seinem  primitiven 
Geiste  genügt  das." 

Weit  hinter  den  Urwaldmalayen  zurück  stehen 
die  Kubu,  die  ältesten  Einwohner  der  sumatra- 
nischen  Waldgebiete.  Sie  sind  von  der  Außen- 
welt unbeeinflußt  und  die  natürliche  Artung  ihres 
Wohnraumes  hat  sie  nicht  aufwärts  steigen  lassen ; 
ihre  Kultur  ist  ein  Rest  von  Urkultur.  Das  un- 
bestrittene Reich  der  Kubu  sind  Zehntausende ' 
von  Quadratkilometern  Urwald  zwischen  dem 
menschenleeren  Gebirge  der  Westküste  und  den 
unbewohnbaren  Sumpfwäldern  der  Ostküste,  mit 
Ausnahme  der  großen  Flüsse,  wo  Malayen  in  ge- 
ringer Zahl  wohnen  und  selten  ins  Landesinnere 
vordringen.  Die  Zahl  der  Kubu  mag  ein  paar 
Tausend  sein.  Wandernd  durchstreifen  sie  „den 
unermeßlichen  Rimba,  familienweis;  selten  nur 
bleiben  die  Kinder  nach  der  Heirat  mit  ihren 
Eltern  zusammen.  Nur  in  größerer  Nähe  der 
malayischen  Siedlungen  haben  sie  sich  zu  kleinen 
Horden  zusammengetan;  hier  haben  sie  auch  ge- 
legentlich kleine  Niederlassungen,  in  denen  sie 
bisweilen  auch  längere  Zeit  sich  aufhalten."  Ge- 
wöhnlich verweilt  jede  der  einzeln  wandernden 
Familien  nur  eine  Nacht  am  gleichen  Ort  unter 
einem  dürftigen  Windschirm.     Tag  für  Tag  zieht 


man  weiter,  nach  Nahrung  suchend;  gegessen 
wird  alles,  „was  eben  genießbar  ist.  Den  Grund- 
stock der  Nahrung  bilden  Früchte  und  Beeren, 
sowie  Wurzeln  uud  Knollen,  die  sie  mit  einem 
spitzen  Stock  ausgraben;  daneben  aber  sind  ihnen 
Eidechsen,  Frösche  und  Raupen  und  fette  Käfer- 
larven eine  schmackhafte  Zuspeise.  Jagd  und 
Fischfang  kommt  für  ihre  Nahrung  nur  sehr  wenig 
in  Betracht,  da  sie  keine  Waffen  oder  Geräte  zum 
Fang  haben  und  mit  dem  vorlieb  nehmen  müssen, 
was  ihnen  ein  glücklicher  Zufall  in  den  Schoß 
wirft.  .  .  .  Vorräte  kennt  der  Kubu  nicht,  es  ist 
genug,  daß  jeglicher  Tag  seine  eigene  Plage 
habe.  So  ist  das  Dasein  überaus  beschwerlich; 
selbst  für  den  genügsamen  Kubu  ist  der  Tisch 
nur  äußerst  spärlich  gedeckt,  grad  daß  er  nicht 
verhungert."  Die  Geschicklichkeit  der  Kubu  im 
Ersteigen  von  Bäumen  ist  erstaunlich.  An  Werk- 
zeugen besitzen  sie  kaum  etwas;  „sie  stehen  noch 
in  der  Holzzeit  und  leben  fast  wie  die  Menschen- 
affen über  ihnen  in  den  Bäumen".  Das  ärmliche 
Dasein,  die  schweren  Mühen  in  der  Suche  nach 
Nahrung  erschöpfen  das  Leben  rasch  und  Volz 
ist  überzeugt,  daß  die  Leute  schon  recht  früh 
altern  und  in  verhältnismäßig  jungen  Jahren 
sterben.  Von  den  Kindern  werden  nur  wenige 
groß. 

Wenn  angenommen  wird,  daß  die  Wiege  der 
Menschheit  im  Urwald  stand,  und  wenn  wir  den 
Urwald  als  Lebensraum  betrachten,  wie  ihn  Volz 
zeigt,  so  sind  wir  zu  der  Folgerung  gezwungen, 
daß  ein  wesentlicher  Aufstieg  unseres  Geschlechtes 
erst  dann  in  den  Bereich  der  Möglichkeit  kam, 
als  Zweige  desselben  das  Leben  im  Urwald  auf- 
gaben; denn  im  Urwald  wären  die  eigenartig 
menschlichen  Anlagen  allgemein  so  verkümmert, 
wie  sie  bei  den  Kubu  verkümmert  sind.  An  dem 
Zustand  dieses  Völkleins  ist  der  Urwald  schuld; 
„er  nimmt  der  Menschenblüte  die  Lebensluft,  die 
Möglichkeit  der  Entwicklung.  Der  Urwald  gibt 
dem  Menschwesen  Nahrung,  aber  so  karg,  daß  er 
ohne  Unterlaß  der  Nahrungssuche  nachgehen  muß, 
will  er  nicht  verhungern;  tagaus,  tagein,  jahraus, 
jahrein  spendet  der  Urwald  diese  kärgliche  Nahrung 

—  so  ist  eine  Änderung,  eine  Abwechslung  in 
der  Art  der  Suche  nicht  vorhanden.  In  der  Steppe 
ist  die  Art  der  Suche  anders  in  der  Trockenzeit, 
anders  in  der  Regenzeit ;  dadurch  wird  der  Mensch 
zum  Denken  und  Überlegen  geführt;  er  muß  sich 
umstellen;  im  Urwald  nicht;  der  Urwald  ist  durch 
alle  Jahrtausende  derselbe.  So  spärlich  ist  die 
Nahrung,  daß  nur  kleinste  Horden  sich  ernähren 
können ;  damit  isoliert  der  Urwald  den  Menschen. 
So  wild  verwachsen  ist  der  Urwald,  so  sehr  be- 
nimmt er  jegliche  Sicht,  daß  kaum  je  eine  Kubu- 
horde  andere  Kubus  im  Urwald  antrifft ;  damit 
schaltet  der  Urwald  den  Verkehr  aus.  Der  Kubu  ist 
nur  auf  seine  Frau,  seine  Kinder  geistig  angewiesen 

—  damit  entfällt  jeglicher  Impuls  zu  geistiger  Be- 
tätigung, es  fehlt  Konkurrenz,  es  fehlt  Herrschsucht, 
es  fehlt  die  Eifersucht,  es  fehlt  das  einfachste  Mit- 
teilungsbedürfnis, der  Austausch  von  Erfahrungen 


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mit  seinesgleichen.  Was  soll  er  mit  dem  Weibe,  mit 
dem  er  den  ganzen  Tag  zusammenlebt,  besprechen  ?! 
Damit  fehlt  der  Anstoß  zum  Denken,  zum  Kombi- 
nieren, zur  geistigen  Entwicklung,  und  in  der 
Isoliertheit,  unter  den  elenden  Lebensverhältnissen 
des  Urwaldes  bleibt  der  Kubu  durch  all  die  Jahr- 
tausende, was  er  einst  gewesen  —  der  Urmensch, 
der  Urwaldmensch." 

Angesichts  der  im  Urwald  gebotenen  Lebens- 
bedingungen haben  wir  vielleicht  den  Gedanken 
aufzugeben,  daß  die  Menschwerdung  sich  dort 
vollzog  und  die  Möglichkeit  ins  Auge  zu  fassen, 
daß  erst  dann  das  eigenartig  Menschliche  sich 
entwickelte,  als  der  Vormensch  aus  dem  Walde 
hinausgetreten  war  in  die  sonnige  Steppe;  sonst 
hätte  er  dem  Schicksal  der  anthropoiden  Affen 
nicht  entrinnen  können!  Dieser  Schluß  drängt 
sich  auf,  wenn  man  das  hier  angezeigte  Buch  von 
Volz  gelesen  hat,  das  viel  gelesen  zu  werden 
verdient;  es  ist  moderne  Geographie,  die  nicht 
lernen,  sondern  erleben  läßt,  keine  Reisebeschrei- 
bung, sondern  das  leise  Fühlen  und  Verstehen 
des  tropischen  Urwaldes  als  Entwicklungsraum 
von  Menschengeschlechtern.  H.  Fehlinger. 


Sexualität  und  Parasitismus. 

Merkwürdige  Zusammenhänge  zwischen  Sexu- 
alität und  Parasitismus  vermutet  H.  Burgeff^) 
bei  den  Mukorineen.  Unter  diesen  in  ihrer  Jugend 
durch  einzelliges  Myzel  ausgezeichneten,  in  Erde 
oder  auf  Mist  gedeihenden  Fadenpilzen  gibt  es 
etliche,  die  auf  Verwandten  parasitieren.  So 
wachsen  z.  B.  junge  Hyphenenden  von  Chaeto- 
cladium  auf  solche  von  Mucor  zu,  legen  sich  ihnen 
an,  gliedern  eine  Endzelle  ab  und  veranlassen, 
nachdem  eine  offene  Verbindung  hergestellt  ist, 
den  Wirt  (Mucor)  zu  einer  gallenartigen  Auftrei- 
bung, in  deren  Plasma  sowohl  Kerne  von  Chae- 
tocladium  als  auch  von  Mucor  verteilt  sind.  Diese 
Galle,  in  die  Nährstoffe  des  Mucor  hineinströmen, 
die  also  eine  Art  Schröpfkopf  darstellt,  wird  dann 
von  Chaetocladiumhyphen  umsponnen,  die  offen- 
bar auf  osmotischem  Wege  die  Galle  ausschöpfen. 
Wenn  auch  im  einzelnen  etwas  anders,  aber  doch 
im  Wesen  ähnlich  macht  es  Parasitella.  Die 
ersten  zur  Anlage  des  Schröpfkopfes  führenden 
Vorgänge  ähneln  sehr  der  bei  den  Mucorineen 
üblichen  sexuellen  Kopulation,  bei  der  auch  zwei 
Hyphenendenzellen  sich  vereinigen,  natürlich  hier 
unter  Kopulation  der  Kernpaare.  Diese  Ähnlich- 
keit veranlaßte  nun  Bürge  ff,  die  Frage  zu  prüfen, 
ob  der  parasiteile  Anschluß  zwischen  allen  For- 
men der  getrenntgeschlechtlichen  Komponenten 
möglich  ist.  Die  parasitären  Mucorineen  nämlich 
sowohl  wie  andere  Mucorineen,  so  z.  B.  Mucor, 
Absidia,  Rhizopus  haben  zweierlei  äußerlich  gleiche 
aber  geschlechtlich  polarisierte   Myzelien.     Kopu- 

')  H.  Bürge  ff,  Ber.  d.  Deutschen  Botanischen  Gesell- 
schaft Bd.  38,  S.  318,  1921.  Vgl.  auch  Naturw.  Wochenschr. 
Bd.  20,  S.  137. 


lation  erfolgt  nur,  wenn  ein  -|--  mit  einem  — Myzel 
zusammentrifft.  Merkwürdigerweise  zeigte  es  sich 
nun  in  einigen  Fällen,  daß  Parasiten-  und  Wirts- 
myzel entgegengesetztes  Vorzeichen  haben,  also 
in  ihrer  geschlechtlichen  Ausprägung  entgegen- 
gesetzt sein  müssen,  wenn  die  Ausbildung  eines 
Schröpfkopfes    erfolgen   soll.     Es    parasitiert  z.  B. 

ein  -f- ■  Parasitellamyzel  nur  auf  einem Absidia- 

myzel  und  umgekehrt.  Der  Parasitismus  ist  also 
wechselseitig  geschlechtsbegrenzt.  Burgeff 
schließt  daraus,  'daß  hier  die  Reizstoffe,  die  zur 
sexuellen  Vereinigung  anregen,  die  gleichen  sein 
müssen,  wie  die  parasitäre  Verkopplung  bewirken- 
den. Bei  einer  anderen  Mukorinee,  Rhizopus,  war 
aber  dieser  geschlerhtsbegrenzte  Parasitismus  nicht 
zu  finden  ,  Parasitella  zapft  sowohl  -f~  ■  Rhizopus- 
wie  — --Rhizopusmyzelien  an.  Nun  machen 
manche  Mukorineen  Anläufe  zu  Bastardierung, 
auch  Absidia  und  Rhizopus.  Diese  natürlich  nicht 
bis  zur  Kernkopulation  vorschreitenden  Anläufe 
werden  bei  Absidia  und  Rhizopus  ganz  nach  dem 
Schema  ausgeführt,  d.  h.  es  versucht  zu  kopu- 
lieren nur  -|--Asidia  mit Rhizopus  und  um- 
gekehrt. Beide  haben  also  gewisse  gleiche  Sexual- 
komplemente, daneben  muß  aber  Rhizopus  noch 
ein  besonderes  Komplement  haben,  daß  die  Sexual- 
und  Parasitärkompjemente  von  Parasitella  so  er- 
gänzt, daß  es  zur  parasitären  Verbindung  kommt. 
Diese  Deutung  seiner  Beobachtungen  bringt  der 
Verf.  in  Beziehung  zu  einer  interessanten  Fest- 
stellung, die  Kniep  bei  der  Untersuchung  der 
Kopulation  des  ebenfalls  getrenntgeschlechtlichen 
Pilzes,  Schizophyllum  commune,  eines  Hymeno- 
myzeten machte.  Er  fand,  daß  unter  einer  großen 
Zahl  von  Myzelien  dieses  Pilzes  nur  eine  gewisse 
Zahl  kopulierte,  daß  sie  aber  alle  mit  Myzelien 
kopulierten,  die  zwar  der  gleichen  Art  angehörten, 
aber  anderer  Herkunft  waren.  Diese  letzteren 
mußten  also  ein  Komplement  mitbringen,  das  den 
anderen  Myzelien  fehlte.  Aus  diesen  Befunden 
geht  hervor,  daß  man  in  diesem  Falle  nicht  mit 
zwei  komplementären  Kopulationsfaktoren  aus- 
kommt, sondern  mehrere  annehmen  muß,  und 
hierzu  stand,  wie  oben  erwähnt,  das  Verhalten 
von  Parasitella  gegenüber  Absidia  und  Rhizopus 
in  einer  gewissen  Parallele.                       Miehe. 

Deckentheorie  an  der  Grenze  von  West- 
rand üstalpen. 

Gegenwärtig  erscheint  als  für  die  Alpengeo- 
logie wichtiges  Werk  der  zweite  Band  von  Al- 
bert Heims  Geologie  der  Schweiz.  Durch 
dieses,  glücklicherweise  in  Deutschland  (Tauch- 
nitz,  Leipzig)  verlegte  und  dadurch  wenigstens 
für  Bibliotheken  nicht  unerschwingliche  Buch, 
wird  der  Schweizer  Teil  der  Alpengeologie  in 
Wort  und  Bild  dem  Studium  zugänglich  gemacht. 
Damit  gewinnen  die  in  den  letzten  Jahren  er- 
schienenen Arbeiten  über  den  Bau  der  Ostschweiz 
in  Deutschland  an  Interesse.  Denn  man  wird 
ihre  Resultate  auch  in  den  Ostalpen  berücksichtigen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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müssen.  Die  Deckentheorie  ist  heute  in  der 
Schweiz  allgemein  anerkannt  und  tritt  uns  in  ihrer 
einheitlichsten  und  auch  einseiligsten  Form  in  den 
Arbeiten  von  Staub  „Zur  Tektonik  der  südöst- 
lichen Schweizeralpen"  und  vor  allem  „Über  Fazies- 
verteilung und  Örogenese  in  den  südöstlichen 
Schweizeralpen",  Beiträge  zur  geol.  Karte  der 
Schweiz,  Neue  Folge,  XLVI.  Lieferung,  Bern  1916 
und  1917  entgegen.  Diese  wieder  gründen  sich 
auf  zahlreiche  Spezialarbeiten,  die  meist  in  den 
Beiträgen  zur  geol.  Karte  der  Schweiz  erschienen 
sind  (z.  B.  Albert  Heims  bekannte  Monogra- 
phie des  Säntis  1905,  Arnold  Heim,  Chur- 
firsten  -  Mattstockgruppe  1910 — 191 7,  Trümpy, 
Geol.  Untersuchungen  im  westlichen  Rhätikon  1916. 
Spitz  und  Dyhrenfurth,  Monographie  der 
Engadiner  Dolomiten  1915  und  viele  andere),  und 
setzt  ihrerseits  die  Theorien  fort,  die  Argand 
in  seiner  ausgezeichneten  Arbeit  „Sur  l'arc  des 
Alpes  occidentaies"  (Fcl.  Geol.  Helv.  Vol.  XIV, 
I,  1916)  für  die  Westschweiz  und  das  angrenzende 
Frankreich  aufstellt. 

Argand  und  Staub  fassen  die  Alpen  nicht 
als  das  Werk  einer  einmaligen ,  relativ  kurzen 
tertiären  Faltungsperiode  auf  (eine  Tatsache,  die 
den  ostalpinen  Geologen  schon  längst  vertraut 
ist) ;  sie  sparen  vielmehr  bereits  bei  der  variskischen 
Faltung  zur  Karbonzeit  einen  ungefalteten  Streifen 
aus.  Dieser  erstrecke  sich  zwischen  dem  starren 
eurasiatischen  Kontinent,  der  nach  Süden  bis  zu 
den  heutigen  „autochthonen  kristallinen  Zentral- 
massiven" (z.  B.  Aar-  und  Gotthardmassiv)  reicht, 
und  der  „indoafrikanischen  Scholle"  (eine  wenig 
glückliche  Argandsche  Bezeichnung),  die  süd- 
östlich jenem  gegenüberliegt. 

Dieser  Streiten,  in  dem  die  jungpaläozoischen 
und  allmesozoischen  Schichten  konkordant  und 
gleichförmig  dem  Untergrund  auflagern  sollen 
(es  handelt  sich  aber  wahrscheinlich  nur  um  eine 
durch  die  spätere  Gebirgsbildung  erzeugte  Schein- 
konkordanz) senkt  sich  während  der  Trias,  des 
Jura  und  der  Kreide  als  „alpine  Geosynklinale" 
hinab  und  nimmt  eine  bedeutende  Schichtenreihe 
auf.  An  der  Nordseite  der  breiten  Mulde,  also 
am  Südhang  des  eurasiatischen  Kontinents,  bildete 
sich  der  Streifen  der  helvetischen  Sedimente,  jener 
Gesteine,  die  heute  gänzlich  verlagert  die  Schweizer 
Kalkalpen  aufbauen  und  sich  im  Osten  nach 
Vorarlberg,  dem  Grünten  im  Allgäu  und  weiteJ 
nur  noch  als  ziemlich  schmale  Fiyschzone  fort- 
setzen. In  der  Zentralzone  der  alpinen  Geosyn-. 
khnale  gelangten  die  meist  schieferigen  Bildungen 
der  penninibchen  Zone  zum  Absatz  (Bündner 
Schiefer).  Sie  finden  sich  heute  in  der  Südschweiz, 
dem  Engadiner  Fenster  und  nach  vielen  Tek- 
tonikern auch  in  den  Tauern.  Im  Süden  entstanden 
auf  karbonzeithch  gelaltetem  Untergrund  die  Ge- 
steine der  ostalpinen  Fazies.  Sie  entsprechen 
einem  seichteren  inselreichen  Meere  (Rand  der 
„indoafrikanischen  Scholle")  und  sollen,  der 
extremen  Deckentheorie  zufolge,  heute  den  größten 
Teil   der  Ostalpen   als  schwimmende  Decke   auf- 


bauen. Im  einzelnen  gliedert  Staub  sowohl  die 
penninische  wie  die  ostalpine  Zone  vor  der 
Deckenbildung  durch  eine  ganze  Reihe  von  lang- 
gestreckten Geantiklinalen,  d.  h.  Rücken,  die 
Seichtwassersedimente  tragen,  ja  zum  Teil  sogar 
über  die  Meeresspiegel  hinausgeragt  haben  sollen. 
Auf  diese  Art  erhält  er  eine  wellblechartige  Einzel- 
struktur des  alpinen  Meeres,  wofür  wir  jedoch 
heute  nirgends  auf  der  Erde  Beispiele  finden. 

Um  die  Mitte  der  Kreidezeit  führten  nun  die 
tangential  schiebenden  Kräfte  zunächst  im  ost- 
alpinen Gebiet  zu  weitgehenden  Deckenüber- 
schiebungen, deren  Alter  durch  die  stellenweise 
übergreifende  obere  Kreide  festgelegt  ist.  Im 
Tertiär  ergreift  die  tektonische  Bewegung  auch 
das  penninische  Gebiet.  Auch  hier  entwickelt 
sich  aus  je  einer  Geantiklinale,  einem  „Decken- 
embryo", eine  Decke,  die  eine  über  der  anderen 
nach  Norden  und  Nordwesten  wandern.  Vor  sich 
her  schieben  die  penninischen  Decken  die  Sedi- 
mente, die  am  Südhang  des  eurasiatischen  Kon- 
tinents lagen  und  verlagern  sie  als  passives,  von 
seinen  Wurzeln  losgerissenes  helvetisches  Decken- 
system weit  nach  Norden.  Dabei  werden  Stücke 
der  unterostalpinen  Decken  als  Klippen  auf 
dem  Rücken  der  helvetischen  Decken  mitgetragen. 
Die  helvetischen  Decken  „branden"  schließlich  im 
jüngsten  Tertiär  an  den  Massen  des  Molasse-Nagel- 
fluh (Arnold  Heim),  die  penninischen  über- 
winden nur  an  wenigen  Stellen  (Niesen,  süd- 
westlich vom  Thuner  See)  den  Rand  des  eurasia- 
tischen Kontinentes.  Aber  durch  ihren  Druck 
stauchen  sie  diesen  Rand  etwas  empor,  so  daß  er 
heute,  durch  Abtragung  der  einst  darüberliegen- 
den  Decken  bloßgelegt,  die  Hochgipfel  der  auto- 
chthonen kristallinen  Zentralmassive  aufbaut  (Jung- 
frau, Finsteraarhorn,  Montblanc). 

Auch  im  Gebiet  der  höchsten,  südöstlichsten 
Decken  gehen  in  dieser  letzten,  der  insubrischen 
Faltungsphase  Argands,  noch  wichtige  Verände- 
rungen vor.  Das  ist  das  Gebiet  der  ostalpinen 
Decken,  denen  Staub  als  höchste  die  Dinariden 
(also  die  südlichen  Kalkalpen)  zuzählt,  eine  An- 
nahme, mit  der  er  sich  von  der  seit  E.  Sueß 
herrschenden  Anschauung  freimacht,  daß  Alpen 
und  Dinariden  scharf  geschiedene  Gebirge  seien. 
Durch  starke  Senkungen  im  Südalpengebiet  und 
weitere  Zusammenpressung  des  ganzen  Alpen- 
körpers erfolgten  Steilstellung  der  Deckenwurzeln 
und  (nach  Argand  und  Staub  unbedeutende) 
nach  Süden  gerichtete  Überschiebungen  in  den 
südlichen  Kalkalpen. 

So  versucht  man  durch  eine  größere  Reihe 
von  Dislokationsphasen  die  eigenartigen  und 
mechanisch  zunächst  ganz  unbegreiflich  scheinen- 
den Querprofile  durch  die  Westalpen,  den  unge- 
heuren Deckenhaufen  zu  erklären. 

So  einleuchtend  die  Darstellung  auch  auf  den 
ersten  Blick  sein  mag,  und  so  gut  sie  auf  die  Ver- 
hältnisse des  helvetischen  Gebiets  paßt,  krankt 
sie  doch  zweifellos  daran,  daß  sie  das  Prinzip  des 
einseitigen  Schubes  überueibt.     Wenn  man  auch 


206 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


nicht,  wie  es  früher  allgemein  üblich  war  und  in 
jüngerer  Zeit  noch  von  Rothpletz  oder  M y  1  i u  s 
(Forschungen  an  der  Grenze  von  West-  und  Ost- 
alpen) unternommen  wurde,  Überschiebungen  aus 
allen  Himmelsrichtungen  annehmen  darf,  so  bietet 
doch  die  längst  erkannte  S-förmige  Biegung  des 
Alpenkörpers  an  der  Grenze  von  West-  und  Ost- 
alpen Gründe  genug  für  eine,  wenigstens  in  der 
Ostschweiz  wirkende  starke  Ost-West-gerichtete 
Komponente  der  gebirgsbildenden  Schubkräfte 
(z.  B.  von  Spitz  und  Dyhrenfurth  betont). 
Damit  werden  aber  zahlreiche  Überschiebungen 
im  penninischen  und  unterostalpinen  Gebiet,  die 
Staub  als  deckentrennend  ansieht,  zu  unterge- 
ordneten Sekundärstörungen,  die  Größe  desDecken- 
haufens,  die  riesige  Zahl  der  Decken  verringert 
sich  mit  einem  Schlage,  die  Wellblechpaläogeo- 
graphie  erübrigt  sich  und  macht  wahrscheinlicheren 
paläogeographischen  Verhältnissen  Platz. 

Ist  die  Deckentheorie  in  ihrer  einseitigsten 
Form  schon  im  engen  Gebiet  der  Schweiz  nicht 
überall  glatt  durchzuführen,  so  ergeben  sich  noch 
größere  Schwierigkeiten,  wenn  man  sie  ohne 
weiteres  auf  die  Ostalpen  übertragen  will.  Fragen, 
wie  die  nach  dem  Alter  der  Überschiebungen  (im 
Osten  zweifellos  vorwiegend  vor  der  oberen  Kreide, 
am  Westende  der  Osialpen  im  Tertiär  erfolgt), 
nach  der  Heimat  der  nördlichen  Kalkalpen  (ob 
nördlich  oder  südlich  der  kristallinen  Zone),  nach 
der  Bedeutung  der  südlichen  Kalkalpen  mit  ihren 
beträchtlichen,  nach  Süden  gerichteten  Über- 
schiebungen im  Gesamtbau  der  Alpen  harren  im- 
mer noch  einer  allgemein  befriedigenden  Lösung. 

Leipzig.  C.  W.  Kockel. 


Die  Technik  des  Geflügelimpfens. 

Diese  sich  immer  mehr  einbürgernde  thera- 
peutische und  prophylaktische  IVIaßnahme  hatte 
bisher  beim  Geflügel  keine  einheitliche  Technik 
aufzuweisen.  Als  Impfstelle  benützt  man  meist 
den  Brustkorb,  die  Flügel,  die  Schcnkelinnen-  und 
Außenfläche,  ferner  die  Dorsalfläche  des  Halses 
und   den  Nacken.     Nähere,   eingehende  Angaben, 


eine  Beschreibung,  wie  man  die  Vögel  beim  Impfen 
anfassen  und  halten  soll,  existiert  nicht.  Nur  eine 
ältere,  unmögliche  Abbildung  kommt  öfter  vor  in 
den  Anweisungen  und  Prospekten,  bei  welcher 
die  Krallen  des  Huhnes  direkt  auf  die  Hand  des 
Impfenden  gerichtet  sind.  Im  „Allatorvosi  Lapok", 
1920,  Nr.  13/14  empfiehlt  daher  Dr.  Szäsz,  Leiter 
der  Staatlichen  Impfstoffanstalt  in  Budapest,  ein 
von  ihm  erprobltes  zweckmäßiges  Verfahren.  Nach 
demselben  soll  die  Impfstelle  leicht  und  ohne  Ge- 
fahr erreichbar  und  wenig  empfindlich  sein.  Weder 
die  Brust  noch  die  Flügel  oder  die  Schenkelgegend 
entsprechen  diesen  Anforderungen,  denn  bei  diesen 
ist  das  Fixieren  der  Vögel  beim  Impfen  umständ- 
lich und  eine  gelegentliche  lokale  Reaktion  be- 
einflußt den  Wert  des  Tieres.  In  jeder  Hinsicht 
entspricht  dagegen  als  Impfstelle  die  Dorsal- 
fläche  des  Halses,  aber  nur  im  mittleren 
Drittel,  wo  die  Haut  weich  ist  und  locker  anliegt, 
weniger  empfindlich  ist  und  keine  stärkeren  Ge- 
fäße, Nerven  oder  Sehnen  bedeckt,  die  beim  Ein- 
stechen der  Impfnadel  eine  besondere  Beachtung 
erfordern  würden;  an  dieser  Stelle  kann  man  so- 
gar bei  Kücken,  auch  verhältnismäßig  größere 
Mengen  Impfstoff  unter  die  Haut  bringen,  ohne  un- 
angenehme Folgen.  Nicht  so  an  der  blutreichen, 
festeren  Nackengegend  oder  im  unteren  Drittel 
des  Halses,  wo  der  Kropf  leicht  verletzt  werden 
kann  und  die  injizierte  Flüssigkeitsmenge,  auf  die 
hier  befindlichen  Nerven  drückend,  Bewegungs- 
störungen hervorrufen  kann.  Beim  Impfen  an  der 
Halsgegend  genügt  ein  Gehilfe  vollkommen,  der 
das  in  ein  Handtuch  gehüllte  Tier  am  Tisch  hält. 
Der  Gehilfe  ruht  mit  seiner  linken  Hand  auf  dem 
im  Tuch  eingewickelten  Körper  des  Vogels,  mit 
der  Rechten  faßt  er  den  Schnabel  und  fixiert  den 
Kopf  des  Impflings.  Die  Impfnadel  wird  mög- 
lichst parallel  mit  den  Halswirbeln  unter  die  Haut 
geführt,  nach  dem  Einspritzen  ist  ein  Verdrücken 
des  Impfstoffes  unnötig,  sogar  schädlich;  ebenso 
das  Abschneiden  oder  gar  Ausrupfen  der  Federn 
an  der  Impfstelle.  Selbst  die  Desinfektion  an  der 
Impfstelle  ist  überflüssig.  Dagegen  sollen  die 
Vögel  nach  dem  Impfen  weniger  Nahrung  erhalten. 

Reuter. 


Bücherbesprechungen. 


Berndt,    G.,    Physikalisches  Wörterbuch. 
Band  5  von  „Teubners  kleine  Fachwörterbücher". 
200  S.  mit  81   Figuren    im  Text.     Leipzig    und 
Berlin   1920,   B.    G.  Teubner.      Geb.  5  M.    und 
Teuerungszuschlag. 
Auerbach,    F.,    Wörterbuch    der    Physik. 
Aus  „Veits  Sammlung  wissenschaftlicher  Wörter- 
bücher".   466  S.  mit  267  Figuren.     Berlin    und 
Leipzig    1920,    Vereinigung    wissenschaftlicher 
Verleger.     Geb.  26  M. 
Die  Verf.  haben    die    mühevolle  Arbeit   unter- 
nommen, die  gesamte  Physik  nebst  benachbarten 


Wissensgebieten  in  der  Form  eines  Wörterbuchs 
darzustellen.  Sie  wenden  sich  damit  in  erster 
Linie  an  alle  diejenigen,  die  sich  möglichst  rasch 
über  irgendeinen  hierhergehörigen  Begriff  oder 
Fachausdruck  orientieren  wollen,  ohne  an  den  je- 
weiligen Stellen  tiefer  eindringen  zu  müssen,  wie 
dies  etwa  beim  Gebrauch  eines  Lehrbuchs  er- 
forderlich wäre.  Immerhin  suchen  sie  das  letztere 
durch  ein  der  Bedeutung  des  Gegenstandes  an- 
gepaßtes mehr  oder  weniger  ausführliches  Ein- 
gehen, durch  schematische  Veranschaulichungen 
und  zahlreiche  Hinweise  auf  naheliegende  Zusam- 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


207 


menhänge  soweit  zu  ersetzen,  als  es  im  Interesse 
einer  ausreichenden  Vervollständigung  der  ge- 
botenen Einzelkenntnis  wünschenswert  ist. 

Das  erstgenannte  Buch  zeichnet  sich  trotz 
seines  geringen  Umfangs  durch  große  Vollständig- 
keit in  der  Anführung  aller  wichtigen  Stichwörter 
und  durch  klare  und  scharfe  Definitionen  aus,  wo- 
bei von  ausführlicheren  Darlegungen  naturgemäß 
abgesehen  werden  mußte.  Anerkennenswert  ist 
die  Anordnung,  daß  bei  Fremdwörtern  eine  ety- 
mologische Erklärung,  bei  Bezugnahme  auf  Per- 
sonen knappe  biographische  Daten  vorausgeschickt 
sind.  Als  kurzes  Nachschlagebuch  wird  es  weniger 
weitgehenden  Ansprüchen  jedenfalls  vortrefflich 
genügen. 

Das  zweitgenannte  Buch  sucht  höheren  An- 
sprüchen gerecht  zu  werden.  Es  beschränkt  sich 
nicht  auf  die  Definition,  sondern  bespricht  alle 
wichtigeren  Tatsachen  und  Gesetze  unter  Bei- 
fügung von  Zahlentafeln,  Figuren,  mathematischen 
Formeln  und  theoretischen  Beziehungen  in  einem 
solchen  Umfang,  daß  der  Leser  damit  einen  voll- 
ständigen Einblick  in  das  jeweilige  Gebiet  erhält 
und  gleichzeitig  den  tieferen  Zusammenhang  in 
den  Einzelfragen  erkennt.  Das  Buch  vermag  da- 
durch auch  dem  Fachphysiker  Dienste  zu  leisten, 
und  es  bleibt  nur  zu  wünschen,  daß  seine  Be- 
deutung in  dieser  Richtung  durch  Hinzufügung 
von  Literaturnachweisen  bei  Gelegenheit  einer 
etwaigen  Neuauflage  weiter  wachsen  möchte. 

A.  Becker. 

Lowie,  Robert  H.,  Primitive  Society.  VIII 
und  463  S.  New- York  1920,  Macmillan.  3  Doli. 
Unter  dem  Einflüsse  des  evolutionären  Opti- 
mismus der  Sechziger  und  Siebziger  Jahre  des 
vorigen  Jahrhunderts  begründete  der  amerikanische 
Ethnologe  Lewis  H.  Morgan  eine  soziale 
Theorie,  deren  Grundprinzip  die  unilineare 
Entwicklung  der  menschlichen  Geistes- 
kräfte  und  der  auf  ihren  Auswirkungen  beruhen- 
den Kulturen  war.  Die  völkerpsychologischen 
Forschungen  der  letzten  50  Jahre,  zu  denen  ge- 
rade Morgans  kühne  Annahmen  vielfach  Anstoß 
gaben,  haben  jedoch  gezeigt,  daß  seine  Theorie 
nicht  zu  halten  ist.  Statt  Gleichartigkeit  tritt  uns 
überall  Verschiedenartigkeit  entgegen  und  je  tiefer 
wir  in  den  Kulturbesitz  der  einzelnen  Völker  Ein- 
blick gewinnen,  desto  deutlicher  wird  es,  daß  sie 
nicht  Stufen  einer  gleichgerichteten  Entwicklung 
darstellen,  die  gesetzmäßig  vor  sich  ginge.  So- 
weit es  sich  um  das  Teilgebiet  der  gesellschaft- 
lichen Zustände  handelt,  wird  dies  in  dem  vor- 
liegenden Buch  Robert  H.  Lowies  anschaulich 
gemacht.  Der  Verf.  hatte  als  Kurator  des  ameri- 
kanischen Naturgeschichtemuseums,  wie  einst 
Morgan,  besonders  gute  Gelegenheit  zum  Studium 
der  sozialen  Einrichtungen  der  nordamerikanischen 
Indianer,  doch  hat  er  überdies  auch  viel  auf  andere 
Völker  bezügliches  Material  zusammengetragen 
und  kritisch  gesichtet.  Wer  die  hier  gesammelten 
Tatsachen  würdigt,  kann  unmöglich  mehr  an  der 


Meinung  festhalten,  daß  im  Völkerleben  allgemein 
gültige  Gesetze  walten,  die  zu  bestimmten  Zielen 
hinführen  oder  daß  entwicklungsgesetzlich  ein 
stetiger  P'ortschritt  von  niedriger  zu  höherer  Kul- 
tur stattfinde.  Wohl  sind  vielfach  bei  weit  von- 
einander entfernt  lebenden  Völkern  Kulturgüter 
vorhanden,  die  sich  äußerlich  in  hohem  Maße 
gleichen  und  dem  gleichen  Zwecke  zu  dienen 
scheinen,  doch  handelt  es  sich  bloß  um  rein  äußer- 
liche Übereinstimmungen.  So  täuscht  die  Aus- 
wirkung des  Bedürfnisses  nach  gegenseitiger  Förde- 
rung und  nach  Zusammenschluß  mit  gleichge- 
sinnten  Genossen  bei  manchen  primitiven  Völkern 
Vorbilder  ganz  moderner  sozialer  Erscheinungen 
vor,  wie  etwa  die  Gewerkschaften  der  Samoaner 
(S.  34i5),  aber  sie  haben  keinerlei  innere  Beziehung 
zu  den  europäischen  Berufsverbänden.  Lowie 
macht  uns  klar,  daß  das  bunte  Bild,  das  alle 
Einzelkulturen  darbieten ,  in  bedeutendem  Maße 
durch  Entlehnung  von  Kulturgütern  bei  zufälliger 
Berührung  der  Völker  zustande  kam.  Mehr  als 
jede  andere  ist  unsere  eigene  Kultur  ein  Komplex 
entlehnter  Elemente.  Eine  einzigartige  Ereignis- 
folge ließ  sie  entstehen,  wie  sie  bei  keinem  anderen 
Menschheitszweig  mehr  eintreten  kann  und  sie 
kann  deshalb  kein  Wegweiser  für  Kulturen  sein, 
deren  Träger  wesentlich  anderen  Schicksalen  aus- 
gesetzt waren.  —  Die  Darstellungsweise  Lowies 
ist  klar  und  scharf,  sie  läßt  Zweifel  nicht  auf- 
kommen; andererseits  ist  sie  so  lebensvoll,  daß 
der  Leser  dem  Autor  bis  zum  Ende  folgen  muß. 

H.  Fehlinger. 

Geiger,  H.  und  Makower,  W.,  Meßmethoden 
auf  dem   Gebiete   der  Radioaktivität. 
Band    65    der    Sammlung    „Die    Wissenschaft". 
156  Seiten  mit  61  Abbildungen.     Braunschweig 
1920,    Fr.  Vieweg   &  Sohn.      Geh.    6  M.    und 
Teuerungszuschlag. 
Die  Verff.  veröffentlichen  hiermit  ihre  im  Jahre 
191 2    erschienene    englische    Ausgabe    über    den 
gleichen    Gegenstand    in    im    wesentlichen   unver- 
änderter   deutscher    Übersetzung.       Ursprünglich 
für  einen  an  der  Universität  Manchester  von  Prof. 
Rutherford      eingerichteten      Elementarkursus 
ausgearbeitet,  will  das  Buch  eine  Anleitung  geben 
für  alle  wichtigeren  praktischen  Arbeiten  auf  dem 
Gebiet  der  Radioaktivität. 

Die  beiden  ersten  Kapitel  besprechen  die 
wesentlichen  technischen  Hilfsmittel  für  radioaktive 
Messungen.  Darauf  folgt  im  3.  Kapitel  eine  kurze 
Betrachtung  der  Leitfähigkeitserzeugung  in  Gasen, 
auf  deren  quantitative  Verfolgung  fast  alle  radio- 
aktiven Untersuchungen  sich  stützen.  Die  sich 
anschließenden  Kapitel  wenden  sich  den  eigent- 
lichen radioaktiven  Untersuchungsmethoden  im 
einzelnen,  insbesondere  der  Untersuchung  der  a-, 
ß-  und  yStrahlen,  der  radioaktiven  Niederschläge 
und  Umwandlungen,  schließlich  den  Methoden  zur 
absoluten  Messung  und  zur  Trennung  radioaktiver 
Substanzen  zu.  Besonderer  Wert  ist  darauf  gelegt, 
zu  zeigen,  daß  die  große  Mehrzahl  der  in  Betracht 


208 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  13 


kommenden  Versuche  mit  den  einfachsten  Mitteln 
befriedigend  durchführbar  ist  und  daß  in  dieser 
Hinsicht  Bedenken  gegen  eine  stärkere  Mitberück- 
sichtigung des  Gebiets  der  Radioaktivität  bei 
praktischen  Übungen  unberechtigt  sind. 

So  sehr  das  Erscheinen  einer  solchen  erprobten 
und  von  durchaus  authentischer  Seite  geschriebe- 
nen Anleitung  einem  Bedürfnis  entspricht,  so  sehr 
muß  andererseits  bedauert  werden,  daß  die  Verf. 
selbst  in  keiner  Weise  das  Bedürfnis  empfunden 
haben,  dem  deutschen  Leser  mehr  zu  bieten  als 
eine  Übersetzung  einer  alten,  rein  englisch  ge- 
richteten Darstellung,  in  der  weder  der  Fortschritt 
der  letzten  8  Jahre  überhaupt  noch  insbesondere 
die  ausgedehnte  deutsche  Literatur,  die  für  die 
Verfif.  nicht  zu  bestehen  scheint,  zur  Geltung 
kommt.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  das  Buch  den 
Besucher  eines  englischen  Praktikums,  für  den  es 
geschrieben  ist ,  voll  befriedigen  wird.  Ebenso- 
wenig ist  es  aber  auch  zu  bezweifeln,  daß  der 
deutsche  Benutzer,  wenn  er  bei  Bewertung  der 
Literatur  des  Gebiets  nicht  vollständig  in  die  Irre 
gehen  will ,  mehr  verlangen  muß.  Sorgen  wir 
endlich  energisch  dafür,  daß  der  alte  deutsche 
Fehler,  der  uns  in  unkritischer  Überschätzung  der 
fremden  Leistungen  die  eigenen  nicht  mehr  sehen 
ließ,  uns  nicht  erneut  befalle! 

A.  Becker. 

Angersbach,  A.,   Das  Relativitätsprinzip. 
39.  Bändchen   der   Mathematisch  Physikalischen 
Bibliothek,  herausgegeben  von  W.  Lietzmann 
und  A.  Witting.     57  S.  mit  9  Fig.  im  Text. 
Leipzig  und  Berlin  1920,  B.  G.  Teubner.    Kart. 
1,40  M.  und  Teuerungszuschlag. 
Die   ansprechenden  Bändchen   der  „Mathema- 
tisch Physikalischen  Bibliothek"   wollen   teils   eine 
Verliefung   solcher    elementarer   Probleme    geben, 
die    allgemeinere    kulturelle    Bedeutung    oder    be- 
sonderes   wissenschaftliches  Gewicht    haben,   teils 
wollen  sie  Dinge  behandeln,  die  den  Leser,  ohne 
zu  große  Anforderungen   an   seine  Kenntnisse   zu 
stellen,    in    neue    Gebiete    der   Mathematik    und 
Physik  einführen. 

Die  vorliegende  Schrift  will  in  diesem  Sinne 
dem  allgemein  Gebildeten  das  Verständnis  für  die 
Grundlagen  und  den  Inhalt  der  Relativitätstheorie, 
insbesondere  der  Einst  ein  sehen  speziellen 
Theorie,  vermitteln.  Sie  löst  diese  Aufgabe  in 
ganz  vortrefflicher  Weise.  Die  Betrachtung  der 
grundlegenden  Probleme  ist  bei  voller  wissen- 
schaftlicher  Strenge    so    durchsichtig   und    durch 


die  konkrete  elementare  Durchrechnung  der  wesent- 
lichen quantitativen  Verhältnisse  so  weitgehend 
veranschaulicht,  daß  die  Schrift  allen  an  dem 
Gegenstand  interessierten  Kreisen  aufs  wärmste 
empfohlen  werden  kann.  B.  Becker. 


Knotnerus  -  Meyer,       Th.,       Zoologisches 
Wörterbuch.     Teubners  kleine  Fachwörter- 
bücher 2.     212  S.     kl.  8".     Leipzig  und  Berlin 
1020,    B.    G.   Teubner.   —   Geb.  7,20  M.     und 
Teuerungszuschläge. 
Das   Büchlein    enthält    über    4000  Tiernamen, 
zoologische  Fachausdiücke  und  Namen    von  Zoo- 
logen,   letztere    mit    kurzer  Biographie,   jene    mit 
kurzer  sachlicher  und  sprachlicher  Erklärung,  und 
auf  2  Seiten    das    zoologische   System.      Wer  im 
System    und    in    der    vergleichenden  Morphologie 
wenig  zu  Hause  ist,  wird  das  Büchlein  mit  Vorteil 
benutzen.  *)  V.  Franz  (Jena). 

')  Für  einen  Neudruck  sei  die  Aufnahme  des  Namens 
Heincke  empfohlen,  der  neben  dem  der  Mitarbeiter  des  Ge- 
nannten nicht  fehlen  dürfte;  ferner  ist  bei  „Brachyura''  der 
Ausdruck  Rückenfüßer  mißverständlich,  da  der  nur  für  einen 
Teil  von  jenen  zutrifft.    Sonst  fand  ich  nichts  zu  bemängeln. 


Literatur. 

Much,  Prof.  Dr.  H.,  Pathologische  Biologie  (Immunitäts- 
wissenscbaft).  3.  Aufl.  Mit  6  Tafeln  u.  7  Textabb.  Leipzig 
'20,  C.  Kabitscb.     45  M. 

Mosler,  Dr.  H.,  Einführung  in  die  moderne  drahtlose 
Telegraphie  und  ihre  praktische  Verwendung.  Mit  218  Text- 
abb.    Braunschweig  '20,  Fr.  Vieweg.     24  M. 

Andre,  Prof.  Dr.  K.,  Geologie  des  Meeresbodens.  Bd.  II. 
Die  BodenbescbafTenheit  und  nutzbaren  Mineralien  am  Meeres- 
boden. Mit  l39Textfig.,  7  Tafeln  und  i  Karte.  Leipzig' 20, 
Gebr.  Bornträger.     92  M. 

Heiberg,  J.  L. ,  Naturwissenschaften,  Mathematik  und 
Medizin  im  klassischen  Altertum.  2.  Aufl.  Leipzig  u.  Berlin 
'20,  B.  G.  Teubner.     2,80  M. 

Binz,  D.  A.,  Schul-  und  Exkursionsflora  der  Schweiz, 
Basel  '20,  B.  Schwabe  &  Co.     9  Fr. 

Kükenthal,  Prof.  Dr.  W. ,  Leitfaden  für  das  zoologi- 
sche Praktikum.  8.  Aufl.  Mit  174  Textabb.  Jena  '20,  G. 
Fischer.     28  M. 

Seifert,  Prof.  Dr.  O.,  Die  tierischen  Parasiten  des  Men- 
schen. II.  Teil :  Klinik  und  Therapie  der  tierischen  Parasiten 
des  Menschen.  Mit  19  Textabb.  2.  Aufl.  Leipzig  '20,  C. 
Kabitsch.     72  M. 

Prof.  Dr.  Wo.,  Kolloidchemie  der  Eiweißkörper. 
Mit  27  Textabb.     Dresden   und  Leipzig  '20,   Th. 


Pauli 
I.  Hälfte. 
SteinkopflF. 

M  e  z ,   Prof.  Dr.  C. ,   Hagers    „Mikroskop  und   seine  An- 
12.  Aufl.   Mit  495  Textfig.     Berlin  '20,  J.  Springer. 


Wendung". 
38  M. 

Schwarz,    Fr.    M.    v. ,    Legierungen. 
Stuttgart  '20,  F.  Koke.     Geh.   16  M. 


Mit  45  Textabb. 


Inhalt:  L.  Armbruster,  Neue  Urkunden  über  das  älteste  Haustier.  (11  Abb.)  S.  193.  W.  Frölich,  Der  Segelflug 
und  verwandte  Bewegungen  in  Luft  und  Wasser.  S.  197.  —  Einzelbericbte:  J.  Groh  und  G.  v.  Hevesy,  Die 
Selbstdiffusionsgeschwindigkeit  des  geschmolzenen  Bleis.  S.  201.  W.  Volz,  Der  Urwald  als  Lebensraum.  S.  202. 
H.  Burgeff,  Sexualität  und  Parasitismus.  S.  204.  A.  Heim,  Deckentheorie  an  der  Grenze  von  West-  und 
Ostalpen.  S.  204.  Szäsz,  Die  Technik  des  Geflügelimpfens.  S.  206.  —  Bücberbesprecbungen :  G.  Bernd  t,  Phy- 
sikalisches Wörterbuch.  S.  206.  F.  Auerbach,  Wörterbuch  der  Physik.  S.  206.  R.  H.  Lowie,  Primitive  Society. 
S.  207.  H.  Geiger  und  W.  Makower,  Meßmethoden  auf  dem  Gebiete  der  Radioaktivität.  S.  207.  Th.  Knot- 
nerus-Meyer,  Zoologisches  Wörterbuch.  S,  208.  —  Literatur:  Liste.  S.  208. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  InTalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Fol^e  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  3.  April  1921. 


Nummer  14. 


Autbau  und  geologische  Geschichte  der  Sinaihalbinsel. 


[Nachdruck  verboten,] 


Von  Walter  Hoppe,  Leipzig. 


Die  Sinaihalbinsel  mit  ihrem  heiligen  Berg 
steht  seit  Jahrhunderten  im  Interesse  der  biblischen 
Geographieforschung.  Wohl  seit  350  n.  Chr., 
durch  die  Ansiedlung  der  ersten  christlichen  Ere- 
miten auf  der  Sinaihalbinsel,  mindestens  aber  seit 
dem  6.  Jahrhundert,  mit  der  Erbauung  des 
St.  Katharinenklosters  unter  Justinian  I.,  ist  der 
2292  m  hohe  Dschebel  Musa  als  Berg  der  Ge- 
setzgebung festgelegt  worden.*)  Gegen  die  Lage 
des  alttestamenilichen  Sinai  auf  der  nach  ihm  be- 
nannten Halbinsel  wandte  sich  zuerst  der  englische 
Geograph  Beke.  Auf  Grund  des  biblischen 
Berichtes  sollte  der  Sinai  ein  Vulkan  gewesen 
sein,  und  er  suchte  ihn  1874  im  Hedschas  in 
NW-Arabien.  Wegen  des  Mißerfolges  dieser  Ex- 
pedition gab  Beke  seine  Vulkantheorie  auf,  hielt 
aber  an  der  Lokalität  fest.  Für  seine  Gedanken 
setzte  sich  erneut  Gunkel  1903  ein:  „Nach  den 
biblischen  Berichten  muß  der  Sinai  ein  Vulkan 
gewesen  sein.  Zu  einem  Vulkan  hat  Moses  sein 
Volk  geführt  und  in  dem  schrecklichen  Vulkan- 
ausbruch hat  man  Jahves  schauerliches  und  maje- 
stätisches Erscheinen  erlebt."  Auch  er  suchte,  da 
jüngere  Vulkane  auf  der  Sinaihalbinsel  fehlen,  da- 
gegen in  Arabien  in  geschichtlicher  Zeit,  z.  B. 
noch  1256  bei  Medina,  Vulkanausbrüche  statt- 
fanden, den  heiligen  Berg  in  Nordwestarabien. 
Einen  wesentlichen  Beitrag  lieferte  Musil  zur 
Sinaifrage.  Die  geologische  Begründung  zu  M  u  - 
sils  Ansicht  ist  erst  unlängst  von  Kober  er- 
schienen -)  und  so  soll  hier  etwas  näher  auf  diese 
Entdeckungen  eingegangen  werden.  19 10  unter- 
nahm Musil  mit  Kober  als  Geologen  eine  Reise 
in  den  nördlichen  Hedschas.^)  Er  passierte  dabei 
ein  geologisch  junges  Vulkangebiet.  „Wir  ge- 
langten in  die  Ebene  al  Gaw,  in  der  wir  am 
2.  Juli  unverhofft  die  meiner  Ansicht  nach  wichtigste 
Entdeckung  auf  dieser  Forschungsreise  machten, 
nämlich  die  des  wahren  biblischen  Berges  Sinai. 
Alle  unsere  Mühen  wurden  vergessen  und  gern 
hätten  wir  auch  die  Grotten  der  Diener  Mosis 
genau  untersucht,  aber  unser  Führer  wollte  um 
keinen  Preis,  daß  wir  den  heiligen  Vulkan  al  Bedr 
betreten."  Kober  hebt  hervor,  daß  die  Verhält- 
nisse zweifellos  für  die  Möglichkeit  von  Aus- 
brüchen in  geologisch  rezenter  Zeit  sprechen.  Nach 


')  Oberhumer,  Die  Sinaifrage.  Mitt.  d.  k.  k.  Geogr. 
Gesellsch.  Wien  1911,  S.  628. 

*)  L.  Kober,  Das  Nördliche  Heg.'u.  II.  C.  von:  Geol. 
Forsciiungen  in  Vorderasien.  Denkschr.  d.  Ak.  d.  Wiss.  Math.- 
Nat.  Kl.  Wien  1919,  96  Bd. 

')  A.  Musil,  Vorbericht  über  die  Reise  nach  Arabien. 
Anzeiger  d.  K.  Ak.  d.  Wiss.   Wien   1911,  S.   139. 


seinen  Forschungen  hält  er  die  Lage  des  biblischen 
Sinai  im  Sinne  von  Musil  für  entschieden.  Der 
heilige  Berg  der  Gesetzgebung  ist  demnach  nicht 
mehr  auf  der  Sinaihalbinsel  zu  suchen,  sondern 
im  nördlichen  Hedschas  als  der  Vulkankegel  des 
HäIa-1-Bedr   in  27"  12'  n.  Br.  und  37*  7'   ö.   Gr. 

Die  meisten  Reisen  nach  der  Sinaihalbinsel 
galten  dem  Berg  Mosis.  In  Einklang  damit  steht 
es,  daß  nach  dem  westlichen  Teil  der  Halbinsel, 
wo  das  Katharinenkloster  steht,  z.  B.  auch  die 
meisten  geologischen  Expeditionen  unternommen 
wurden.  Es  liegen  heute  von  der  Sinaihalbinsel 
eine  große  Anzahl  geologischer  Einzelergebnisse 
vor.  Eine  geologische  Zusammenfassung  besteht 
nicht,  und  es  ist  schwierig,  sich  nach  diesen,  recht 
verschieden  zu  wertenden  Berichten  ein  Bild  vom 
Aufbau  zu  machen. 

In  der  Sinaihalbinsel  sind  3  Forschungsgebiete  zu 
unterscheiden.  Das  nördliche,  westlich  der  Landes- 
grenze Ägypten  gegen  Palästina  von  Akaba  nach 
Rafah  am  Mittelländischen  Meer  und  ungefähr  im  N 
des  30"  n.  Br.  bezeichnet  sein  letzter  Erforscher,  der 
Berliner  Geologe  Dr.  Range  (Lit.-Verz.  39),  nach 
einem  Vorschlage  von  Schweinfurth  als  Isth- 
muswüste. Dr.  Range  durchreiste  die  Isth- 
muswüste 191 5/16  als  Geologe  in  der  türkischen 
Armee  bei  ihrem  Vorstoß  gegen  den  Suezkanal 
mehrmals.  Er  hat  davon  auch  eine  geologische 
Karte  gezeichnet.  Wichtig  sind  für  dieses  Ge- 
biet noch  die  Angaben  von  Douville  1913.  Öst- 
lich der  Landesgrenze  Akaba  Rafah  hat  Blancken- 
horn  1914  in  seinem  Handbuch  über  Syrien, 
Arabien,  Mesopotamien  eine  Gesamtdarstellung  der 
geologischen  Verhältnisse  gegeben.  Es  werden 
deshalb  die  Untersuchungen  hier  ungefähr  mit 
dieser  Grenze  im  Osten  abschließen. 

Viele  Nachrichten  liegen  vom  2.  Forschungs- 
gebiet vor,  dem  W-  oder  SW-Teil  der  Halb- 
insel, ungefähr  vom  30."  n.  Br.  bis  nach  S  zum 
Ras  Muhammed  sich  erstreckend.  Dieses  Gebiet 
ist  von  Ägypten  aus  in  einer  Reihe  von  Expe- 
ditionen erforscht  worden;  z.  B.  Holland  1866, 
Bauermann  1868,  Milne  1874,  Hüll  1883, 
F  o  u  r  t  a  n  1 898.  Auch  deutsche  Geologen  haben 
hierher  Forschungsreisen  unternommen,  Fraas 
1866,  Walt  her  1887  (Karte  entworfen),  Roth- 
pletz  1891,  Schürmann  1914.  Seine  letzte 
große  topographische  wie  geologische  Erforschung 
hat  der  W  Teil  der  Halbinsel  1898/99  durch  Bar- 
ron von  Ägypten  aus  erfahren.  Barron  gibt 
als  wesentlichen  Beitrag  seiner  Resultate  eine  geo- 
logische Karte.  Nach  O  schließt  dieses  W- 
Forschungsgebiet    ungefähr    am    Dschebel    Musa, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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am  34."  ö.  Gr.  ab.  Hierauf  folgt  nach  O  das 
3.  Forschungsgebiet,  die  SO- Sinaihalbinsel. 
Dieser  Teil  ist  weniger  bereist  worden.  Zu  nennen 
sind:  Ruppel  1829,  Figari  Bey  1864,  Hüll 
in  den  achtziger  Jahren.  Wiederum  ein  Geologe 
der  Geological  Survey  of  Egypt,  H  u  m  e ,  unter- 
nahm ausgedehnte  Expeditionen  hier  und  legte 
als  Resultat  eine  ausführliche  Beschreibung  der 
topographischen  wie  geologischen  Verhältnisse 
nieder.  Seine  geologische  Karte  reicht  nach  N 
bis  zum  28."  36'  n.  Br.  Barrons  Karte  schließt 
im  N  ab  am  29."  24'  n.  Br.  und  im  Innern  am 
29."  n.  Br.  ungefähr.  Die  geologische  Karte  von 
Dr.  Range  endet  im  S  am  30°  n.  Br.  Nach 
den  neuesten  Aufnahmen  ist  also  das  zwischen 
der  Isthmuswüste  und  der  eigentlichen  Halbinsel 
noch  nicht  kartenmäßig  festgelegte  Gebiet  nur  noch 
von  geringer  Ausdehnung.  Eine  Karte  des  ge- 
samten Gebietes  besteht  von  Hüll,  18S9;  sie  ist 
nach  den  heutigen  Ergebnissen  als  ganz  veraltet 
anzusehen.  Das  Blatt  48/F.  VII,  Syrien,  Feträisches 
Arabien,  O- Ägypten  von  Blanckenhorn  der  Inter- 
nationalen Karte  von  Europa  beruht  im  wesent- 
lichen auf  den  Ergebnissen  von  Barron  und 
H  u  m  e.  Die  Verhältnisse  der  Isthmuswüste  nach 
Dr.  Range  sind  natürlich  noch  nicht  berück- 
sichtigt worden. 

Es  sollen  hier  bei  der  Betrachtung  des  geo- 
logischen Aufbaues  der  Sinaihalbinsel  die  Unter- 
suchungen zusammengefaßt  nach  den  3  Forschungs- 
gebieten behandelt  werden  und  zwar  möglichst 
in  der  Reihenfolge:  W-Sinai,  0-Sinai,  Isthmus- 
wüste. 

I.  Das  Grundgebirge. 

Das  Grundgebirge  spielt  die  herrschende  Rolle 
im  Aufbau  der  Halbinsel.  Südlich  vom  30."  n.  Br. 
besteht  der  Kern  des  Sinaidreiecks  aus  Eruptiven. 
In  der  SW-Sinaihalbinsel  bildet  roter  Granit  die 
Gebirgszüge  im  Innern,  ebenso  die  lange  Kette 
an  der  Küste  von  Tor  bis  zum  nördlich  davon 
gelegenen  Ras  Jehan.  In  weiter  Ausdehnung  ist 
auch  Gneis  am  Aufbau  beteiligt.  Dazu  kommen 
noch  im  Innern  der  Halbinsel  Hornblende -Gra- 
nite, Diorite  und  in  geringerem  Maße  Basalt, 
Dolorit,  Felsit  als  Gänge  und  ein  weites  Kontakt- 
schiefergebiet am  Wadi  Barq  im  N  des  Eruptiv- 
massivs. 

Barron  teilt  die  Gesteine  wie  folgt  ein: 

I.  Erstarrungsgesteine. 

a)  Granit. 

Grobkörniger  roter  Granit,  arm  an  Glimmer 
und  anderen  femischen  Gemengteilen. 

Forphyrischer  Granit,  blaßrot,  mit  großen 
Orthoklaskristallen. 

Grauer  Biotitgranit,  der  lokal  in  Gneis  über- 
geht und  das  Ausgangsmaterial  zu  allen  Gneisen 
und  Schiefern  bildet. 

b)  Syenit  und  Diorit. 

c)  Ganggesteine  und  gangförmig  auftretende 
Gesteine,  felsitisch  und  doleritisch. 

d)  Laven. 


e)  Vulkanische  Kuppen. 
2.  Metamorphe  Gesteine. 

a)  Gneis  und  Schiefer. 

b)  Metamorphe  Kalksteine,  Granatschiefer  und 
Sandsteine. 

Der  grobkörnige  rote  Granit  wird  außerordent- 
lich   häufig   von  Gängen    von  Dolerit    und  Felsit 
durchzogen.    Der  hellrote  porphyrische  Granit  ist 
charakterisiert    durch    große    hellrote    Orthoklase 
und    einen    geringeren    Gehalt    an  Quarz    als    im 
grobkörnigen  Granit.      Er    verwittert   zu    breiten, 
abgerundeten    Kuppeln     und     niedrigen    Massen, 
während    der  grobkörnige  rote  Granit   durch    die 
Verwitterung     in     scharf    gezackte    Spitzen    und 
schmale    Kämme    übergeht.      Dadurch    scheiden 
sich  beide  Granittypen  schon  von  weitem.    Auch 
den  hellroten  Granit  durchströmen  reichlich  Gänge 
von  Dolerit  und  Felsit.    Gemischt  mit  dem  roten 
Granit     oder     allein     vorkommend      findet     sich 
als     3.    Typus     ein     grauer    Biotitgranit.       Seine 
Neigung,  gneisartig  zu  werden,  beruht  auf  seinem 
Glimmergehalt  und  alle  Gneise  der  Sinaihalbinsel 
dürften    aus    diesem    Biotitgranit    hervorgegangen 
sein.      Geringe  Verbreitung   besitzen   Syenit    und 
Diorit.      Einer   besonderen   Behandlung    bedürfen 
noch  die  schon  mehrfach  angeführten  Gänge  oder 
gangförmig     auftretende    Gesteine.       Das     ganze 
Eruptivgebiet  durchziehen  Gänge.    Ihre  Richtung 
ist    im    allgemeinen   SW — NO,    kann    aber    auch 
anders  sein,   und   zwar   handelt   es   sich  in  erster 
Linie    um    Dolerit    und    Feisite;    daneben    finden 
sich  noch  Gangbildungen  von  Pegmatit  und  fein- 
körnigem Granit.    Auch  Sedimente  können  gang- 
förmig durchzogen  sein.    Ein  Beispiel  davon  sind 
die    dünnen  Basaltadern   im  Kreidekalkstein    vom 
Dsch.  Hadud  oder  Doleritgänge  im  Karbon-Sand- 
stein   am  Wadi  Baba.      Geringe  Verbreitung   nur 
besitzen  die  Laven  von  Maghara   bis  Wadi  Baba. 
Nördlich     vom    Wadi    Tayiba    finden    sich    nach 
Schürmann  Basaltgänge  von  mindestens  26  km 
Länge.     Sie  sind  von  miozänem  Alter  und  haben 
eozäne  Mergelkalke  kontaktmetamorph  verändert. 
Als  Reste    der  Schlote  von  Gängen  sind  die  vul- 
kanischen Kuppen  anzusehen. 

Die  im  Zusammenhang  mit  den  Eruptiven 
stehenden  metamorphen  Gesteine  nehmen  nur 
eine  geringe  Ausdehnung  ein.  Sie  breiten  sich 
lokal  aus  vom  28.°  36'  n.  Br.  nach  Norden  bis 
29.°  n.  Br.  und  am  33."  45'  ö.  Gr.  Hauptsächlich 
2  Gruppen  können  unterschieden  werden:  echte 
Gneise  und  Schiefer  und  ein  Komplex  von  ver- 
schiedenartigen metamorphen  Gesteinen,  neben 
einigen  Arten  von  geringer  Wichtigkeit.  Es  sind 
zunächst  glimmerhaltige  Gesteine.  Dann  kommen 
vor  Feisite,  die  bisweilen  schiefrig  werden,  Quarzit- 
schiefern  gleichen  und  Hornblendeschiefer.  Hierin 
sind  intrudiert :  Adern  und  Gänge  eines  felsitischen 
Gesteins,  rötlicher  Granit,  Granit  in  großen  Feld- 
späten, Gänge  eines  doleritischen  Gesteins,  von 
SW — NO-Richtung  und  jünger  als  die  anderen 
Intrusionen  die  echten  Gneise,  die  zweifellos,  wie 
Übergänge  beweisen,  aus  dem  grauen  Granit  her- 


N.  F.  XX.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


211 


vorgegangen  sind  und  dann  die  Schiefer  nehmen 
unter  den  metamorphen  Gesteinen  den  größten 
Raum  ein.  Sie  haben  auch  auf  große  Ausdehnung 
immer  die  gleiche  Beschaffenheit.  Kontaktwir- 
kungen an  Sedimenten  lassen  erkennen  Kalksteine, 
Schiefer  und  Sandsteine.  Verändert  worden  sind 
sie  vom  umgebenden  Granit.  Granaten  häufen 
sich  oft  in  Granatschiefern  an,  während  Sandsteine 
Biotit  enthalten  können. 

Ihrem  Alter  nach  reiht  Barron  im  W  Sinai 
die  Eruptive  und  metamorphen  Gesteine  folgen- 
dermaßen ein: 

1.  Diorit. 

2.  Grauer  Biotit-Granit. 

3.  Biotit- Gneis  und  Schiefer  mit  metamorphen 
Kalksteinen  und  Sandsteinen. 

4.  Hellroter,  porphyrischer  Granit. 

5.  Grobkörniger,  roter  Granit. 

6.  Syenit  und  Syenit-Felsite. 

7.  Quarzitische  Felsit-  und  Doleritgänge.  Es 
sind  die  ältesten  Gangbildungen.  Die  folgenden 
Gänge  sind  basischer. 

8.  Doleritische  Gänge,  in  NW — SORichtung. 
Doleritische  Kuppen  und  Lavamassen  des  Karbon. 

9.  Doleritische  Gänge  in  der  Kreide. 

10.  Lavamassen  von  Wadi  Tayiba.  Nach 
Schürmann  iVIiozän. 

Im  SÖ-Sinai  treten  an  der  Oberfläche  sedi- 
mentäre Ablagerungen  ganz  zurück.  Eruptive  und 
metamorphe  Gesteine  spielen  am  Aufbau  die 
Hauptrolle.  Weite  Gebirgsregionen  setzen  Granit, 
Gneis,  Hornblendegranit,  Syenit,  Andesit,  Feisite 
und  Kontaktschiefer  zusammen.  Unter  den  Erup- 
tiven sind  3  Hauptgesteinstypen  am  wesent- 
lichsten vertreten.  Ein  gröberer  Granit  liegt  im 
N,  Hornblendegranit  oder  Syenit  trennen  ihn  von 
einem  granitischen  Biotitgneis,  der  mehr  im  S-Teil 
herrschend  ist.  Daneben  bestehen  noch  eine  Reihe 
von  Varietäten  der  Eruptive ;  so  kommt  am  Wadi 
Mesud  ein  heller  Granit  vor.  Von  einem  Neben- 
fluß des  Wadi  Nasb  ist  ein  Granit  von  schrift- 
granitischem  Charakter  zu  erwähnen.  In  der 
zentralen  Achse  der  Halbinsel  sind  die  haupt- 
sächlichsten Gesteine  granitischer  Gneis  und  Horn- 
blendegranit. Einige  der  Granit-  und  Gneisberge 
im  Innern  tragen  Kuppen  von  Andesiten  und 
Tuffen.  Wie  im  W-Teil  sind  auch  hier  Gänge 
weit  verbreitet.  Sie  durchziehen  das  ganze  Eruptiv- 
system als  dessen  jüngste  Glieder.  Da  sie  den 
Nubischen  Sandstein  nicht  erreichen,  sind  sie 
ihrem  Alter  nach  wenigstens  unterkreatzisch  und 
verglichen  mit  Nachbarregionen  vielleicht  vorkar- 
bonisch.  Immer  laufen  sie,  oft  viele  km,  einander 
parallel  und  mitunter  bestimmen  sie  die  Richtung 
der  Gebirgszüge.  Petrographisch  bestehen  sie 
aus  Felsiten,  Dolerit  und  Diabas  hauptsächlich  in 
den  metamorphen  Gesteinen.  Zwei  Systeme  Gänge 
können  unterschieden  werden.  Die  allgemeine 
Richtung  ist  NNO — SSW;  daneben  besteht  eine 
zweite  im  rechten  Winkel  dazu.  Alle  Gänge 
wechseln  beträchtlich    in   ihrer  Dicke.      Sie  kann 


nur  wenige  cm  betragen,  aber  auch  bis  zu  100  m 
ansteigen. 

Durch  Bewegungen  ermöglicht  stieg  Magma 
empor,  das  nun  in  eine  alte  Sedimentkruste  ein- 
drang und  so  entstand  Gneisstruktur  oder  die 
Sedimente  erfuhren  Umgestaltungen.  Die  Ver- 
änderungen im  Kontakthof  des  Granites  treten 
am  Wadi  Kyd  hervor.  Am  Granit  folgen  Gneise, 
Hornblendeschiefer,  IVIuskowitschiefer ,  die  in  An- 
dalusitschiefer,  Knotenschiefer  und  schließlich 
Phyllite  übergehen.  Auch  durch  die  Schiefer- 
regionen ziehen  in  großer  Anzahl  felsitische  und 
doleritische  Gänge.  Am  Granit  stoßen  die  Schiefer 
mit  harten  Grenzen  zusammen.  — -  Basalt  ist  im 
SO-Sinai  zweifelhaft. 

II.   Sedimentäre  Absätze. 

Karbon.  Sedimente  sind  über  dem  einge- 
ebneten Grundgebirge  abgelagert  worden.  Von 
paläozoischen  Schichten  ist  nur  Karbon  entwickelt 
und  zwar  allein  im  W- Sinai  am  29."  n.  Br.  Hier 
dehnt  sich  W  der  Wasserscheide  vom  Dschebel 
Dahab  Karbon  aus,  zieht  S  vom  Dsch.  El  Ti  und 
am  Wadi  Hamr  wird  Karbon  durch  eine  Ver- 
werfung abgesetzt,  die  Kreide  dagegen  bringt. 
An  der  zentralen  Wasserscheide  im  Osten  ist 
Karbon  nur  z.  T.  vorhanden,  allein  im  Westen 
und  Norden  finden  sich  auch  Kalk-  und  Sand- 
steine. Die  Karbonablagerungen  bestehen  aus 
einer  Serie  von  rötlichem  oder  bräunlichem  Sand- 
stein, unterlagert  von  Kalkstein,  auf  dem  nach 
unten  dunkelrote  Sandsteine  folgen.  Der  obere 
Sandstein  stellt  sich  am  Dsch.  Habir  in  144  m 
Höhe  vor  als  oben  dünne  Lagen  von  hellrotem 
quarzitischem  Sandstein ,  rotem  Sandstein ,  zwei 
dünnen  Partien  von  purpurnen  Sandsteinen  mit 
Pflanzeneindrücken  und  die  Basis  bilden  weiße 
Sandsteine.  Nach  oben  war  die  Grenze,  gleich- 
zeitig vom  Karbon  überhaupt,  festgelegt  durch 
überlagernde  Olivinbasalte.  Der  Karbonkalkstein, 
die  mittlere  Karbonpartie  also,  hat  seine  Haupt- 
verbreitung beiderseits  vom  Wadi  Baba.  Es  ist 
ein  dunkler,  kristalliner,  harter  Kalkstein,  ein 
rötlichbrauner  Dolomit  oder  von  mehr  ockriger, 
mergliger  Beschaffenheit.  Diese  verschiedenen 
petrographischen  Ausbildungen  können  alle  Fos- 
silien enthalten.  Reichliche  Fossilfunde  ergaben 
sich  z.  B.  SW  vom  Wadi  Umbogmah,  Wadi  Me- 
ringa,  Wadi  Nasb;  so  Orthis  Michelini  d'Eveille, 
Streptorhynchus  crenistria  Phillips,  Spirifer,  Pro- 
ductus,  Zaphrenlis,  Lepidodendron,  Mosaicum  Sal- 
ter, Sigillaria  sp.  usw.  Der  Dolomit  enthält  außer- 
dem Crinoidenstielglieder. 

Diese  Fossilfunde  innerhalb  des  alten  Karbon- 
sandsteins haben  eine  Parallele  in  der  Karbon- 
fauna zwischen  „Nubischem  Sandstein"  am  Wadi 
Araba  östlich  des  Nils.  Walt  her  (1890)  hielt 
die  Fauna  für  unterkarbonisch ,  S  c  h  e  11  w  i  e  n 
(1894)  erklärte  sie  für  oberkarbonisch.  Auf  der 
Sinaihalbinsel  scheint  nach  v.  Klebelsberg 
(191 1)  das  Alter  mehr  auf  Unterkarbon  zu  weisen. 
Wo  die  Kalksteine  mit  dem  unteren  Sandstein, 


21^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  14 


dem  Wüstensandstein  von  HuU,  zusammenstoßen, 
enthalten  sie  Eisen-,  Mangan-  und  Kupfererze.  Am 
Wadi  Nasb  und  Chalig  liegen  einerseits  Braun- 
eisenstein, Psilomelan  und  Pyrolusit  zwischen  den 
horizontalen  Schichten  des  Sandsteins,  andererseits 
ähnlich  ausgebildet  Kupferschwärze  und  Malachit. 
Hier  dürften  bereits  die  alten  Ägypter  ihre  Erze 
geholt  haben. 

Der  untere  Sandstein,  Wüstensandstein,  setzt 
sich  zusammen  aus  rötlichbraunem,  purpurnem 
Sandstein  und  ist  nicht  so  hart  als  der  obere.  In 
seinem  Hangenden  enthält  er  Türkise,  die  gleich- 
falls von  den  Ägyptern  schon  ausgebeutet  wurden. 
Das  Haupttürkisvorkommen  ist  W  von  Ginne. 
Der  Wüstensandstein  ist  fossilleer.  Da  er  aber 
ohne  alle  Unregelmäßigkeiten  in  das  weitere  Kar- 
bon übergeht,  ist  er  jedenfalls  dem  unteren  Kar- 
bon zuzuzählen. 

Die  Karbonschichten  haben  eine  Reihe  Störun- 
gen erlitten.  So  sind  sie  an  manchen  Stellen, 
z.  B.  W  vom  Wadi  Baba,  gegen  Kreide  gekommen. 
Aus  dem  Karbongebiet  führt  Rothpletz 
(1893)  Perm  an,  vom  Wadi  Schellal  als  Dolomit 
und  Kalkstein  mit  Spirifer  Tasmanni  Morris, 
Stenopora  ovata  Lonsdale  usw.  Da  Rothpletz 
angibt,  daß  die  fossilführenden  Schichten  Sand- 
steinen eingeschaltet  seien,  entsprechend  dem  als 
sicher  erkannten  Karbonkalksteinen  und  Dolomiten, 
dürfte  es  sich  am  Wadi  Schellal  auch  um  Karbon 
handeln. 

Vom  Karbon  an  war  auch  der  W-Teil  der 
Halbinsel  Festland.  Erste  marine  Absätze  be- 
ginnen im  W-  und  O  Teil  wieder  mit  dem  Ceno- 
man.  Es  war  deshalb  in  stratigraphischer  und 
paläogeographischer  Beziehung  wichtig,  als  Bar- 
thoux  191 3  in  der  Islhmuswüste  Jura  entdeckte. 
Dr.  Range  fand  auch  Jura  19 15/16;  er  brachte 
von  seinen  Reisen  eine  Reihe  Jura-  und  Kreide- 
fossilien mit. ') 

Jura.  In  der  Isthmuswüste  ist  Jura  entwickelt 
nur  in  den  Magarabergen.  Nach  den  Fossil-  und 
Stufenangaben  von  Barthoux  und  Douville 
191 3  und  den  Ergebnissen  der  von  Dr.  Range 
gesammelten  Fauna  zeigt  sich,  daß  Lias  fehlt,  der 
Dogger  vollständig  vertreten  ist  insbesondere 
durch  Ammoniten  und  Brachiopoden  und  vom 
Malm  Oxford  und  Kimmeridge.  Ihrem  Charakter 
nach  ist  die  Fauna  als  typisch  mitteleuropäisch 
anzusehen,  d.  h.  als  Ablagerung  einer  Flachsee 
mit  engen  Beziehungen  nach  S- Deutschland,  des 
außeralpinen  Frankreichs  und  der  Schweiz. 

Schichtenfolge. 

1.  Lias  fehlt. 

2.  Dogger.     Nach   Douville  Basisschichten   als  Sandsteine, 

Mergel,  Kalksteine. 
Bajocien,  Bathonien  und  Callovien  sind  vertreten  durch 

gelbliche  Kalksteine  und  Mergel.     Es  enthalten  u.a.: 
Bajocien:  Coeloceras  Humphriesi,  Rhynchonella  quadri- 

plicata  Ziet.  sp 


')  Diese  Jura-  und  Kreidefauna  ist  vom  Verf.  im  geolog.- 
paläontol.  Institut  von  Leipzig  jetzt  bearbeitet  worden.  Einige 
stratigraphische  Ergebnisse  wurden  im  folgenden  Jura-  und 
Kreideabschnitl  mit  verwertet. 


Bathonien :   Oppelia  fusca  Qu.  sp. 

Eudesia  cardium  Lara. 
Callovien:  Reineckia  anceps  Rein. 

3.  Grenzschichten  Callovien-Oxfordien  als  lithographische 

Schiefer,  nach  Bouville. 

4.  Malm.     Petrographisch  wie  im  Dogger. 
Oxford;  Pholadomyen,  Rhynchonelliden. 
Korallenfazies  des  Oxfordien  bis  Kimmeridgien  :  Montli- 

vaultia,  Convexastraea,  Lalimaeandra. 
Kimmeridge:    Isocardia  striata  d'Orb. ,    Terebratula  bi- 
suffarcinata  Schi. 

5.  Hangendes.     Nubischer    Sandstein    als    Unterlage    der 

Oberkreide. 

Der  Nubische  Sandstein.  In  der  eigent- 
lichen Sinaihalbinsel  bestand  Festlandsperiode  bis 
zur  Cenomantransgression,  die  Kalke  und  Mergel 
mit  Cenomantypen  zur  Ablagerung  brachte.  Hier 
schalten  sich  zwischen  das  eingeebnete  Grund- 
gebirge oder  wie  z.  T.  im  W  der  Halbinsel,  ober- 
halb des  Karbon,  Sandsteine  ein,  die  als  Nubischer 
Sandstein  bezeichnet  werden.  Unter  diesem  Na- 
men werden  sehr  verschiedene  Bildungen  zusam- 
mengefaßt. Den  mit  Karbonkalkstein  verbundenen 
Sandsteinserien  kommt  der  Name  sicher  nicht  zu. 
Die  Bezeichnung  „Nubischer  Sandstein"  wird  am 
ehesten  anzuwenden  sein  auf  die  kontinentalen  bis 
paralischen  Bildungen,  welche  die  oberkretazische 
Transgression  einleiten.  Es  sind  dann  diese  Ab- 
lagerungen nur  das  Produkt  der  Verhältnisse,  wie 
sie  durch  den  Übergang  der  kontinentalen  Be- 
dingungen zu  den  Meeresverhältnissen  des  vor- 
dringenden Kreidemeeres  gegeben  wurden.  Ver- 
steht man  unter  dieser  Charakterisierung  den  Nu- 
bischen  Sandstein,  so  ist  er  die  Bezeichnung  für 
eine  bestimmte  Ablagerung  und  es  dürfen  darunter 
nicht  so  heterogene  Dinge  zusammengefaßt  werden, 
wie  sie  in  der  Literatur  heute  gelten.  Dem  West- 
arabischen paläozoischen  Sandstein  kommt  dann 
der  Name  nicht  mehr  zu. 

Im  SW-Teil  der  Halbinsel  beginnen  die  Ab- 
lagerungen des  Nubischen  Sandsteins  im  S  am 
Dsch.  Hammam  Saidna  Musa,  N  von  Tor,  und 
ziehen  sich  in  weiter  Ausdehnung  nach  N  im 
Dsch.  Gabellagebiet.  Auch  im  Dsch.  Abu  Alaq 
ist  Nubischer  Sandstein  abgesetzt  und  wieder  in 
größerer  Verbreitung  am  29.'  n.  Br.  vom  Dsch. 
Dhabal  im  O  bis  Dsch.  Sarbut  el  Gemel  im  W. 
In  SO  Sinai  ist  er  gering  anzutreffen  N  von  Dahab 
und  N  davon.  Seine  Mächtigkeit  ist  immer  gegen 
200  m.  Im  allgemeinen  zerfällt  er  in  weißen  oder 
verschiedenartig  gefärbten  Sandstein  im  oberen 
Teil  und  eisenhaltige  Partien  an  der  Basis. 

Seine  Verbreitung  in  der  Isthmuswüste  ist 
auch  gering;  er  ist  beschränkt  auf  das  Magara- 
und  Letschmegebiet.  Das  Alter  des  Nubischen 
Sandsteins  läßt  sich  hier  ziemlich  gut  umgrenzen. 
Sein  Liegendes  wird  in  den  Magarabergen  von 
jurassischen  Schichten  gebildet  und  bei  Letschme 
überlagern  ihn  Kalke  des  Vraconnien.  Die  Mäch- 
tigkeit beträgt  wieder  ca.  200  m.  Dr.  Range 
beschreibt  ihn  als  einen  stark  eisenschüssigen, 
grobkörnigen  Sandstein  von  fester  Beschaffenheit 
mit  rostbraunen  bis  grauen,  bisweilen  auch  violetten 


N.  F.  XX.  Nr.   14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


213 


und  gelben  Mergeln.  Lokal  sind  auch  Mergel- 
sandsteine eingeschaltet. 

Vraconnien.  Der  Nubische  Sandstein  bil- 
det die  Unterlage  der  marinen  oberkretazischen 
Schichten.  Den  Beginn  der  Transgression  zeigt 
das  Vraconnien  von  Letschme  in  der  Isthmus- 
wüste an.  Der  „Letschme- Horizont",  Grenz- 
schichten oberes  Gault  —  unteres  Cenoman  be- 
steht petrographisch  aus  eisenschüssigen  Kalk- 
steinen und  Kalksteinen  mit  Eisenoolithen.  Fau- 
nistisch  wird  der  Horizont  bestimmt  durch  Cephalo- 
poden  und  Lamellibranchiaten  mit  auffälligem 
Trigonienreichtum.  Ihrem  Charakter  nach  zeigt 
die  Letschme  Fauna  kein  einheitliches  Bild ;  sie 
ist  ganz  eine  Mischfauna.  Es  seien  u.  a.  genannt: 
Knemiceras  syriacum  v.  Buch,  Phylloceros  Velle- 
dae  Mich.,  Puzosia  Denisoniana  Stol.  sp.,  Trigonia 
cf.  crenulata  Lam.,  Tr.  pseudocrenulata  Noetl.  usw. 

Cenoman-Turon.  Von  den  Ablagerungen 
der  oberen  Kreide  sind  Cenoman-Turon  petro- 
graphisch wie  faunistisch  nicht  trennbar  und  über- 
all auf  der  Sinaihalbinsel  entwickelt,  wo  Sedimente 
auftreten.  Cenoman  besteht  als  mächtig  herr- 
schende Stufe ;  ihm  untergeordet  Turon,  faunistisch 
kaum  oder  gering  zu  beweisen.  Im  SW-Teil  der 
Halbinsel  ist  es  oft  bezweifelt  worden.  Andeu- 
tungen dafür  sind  aber  vorhanden.  Das  gleiche 
gilt  für  den  SO  Sinai.  In  der  Isthmuswüste  haben 
sich  Cenoman  und  Turon  auch  nicht  trennen 
lassen,  aber  Rudisten  und  Chondrodonten  zeugen 
für  Turon  als  selbständige  Stufe  neben  dem  mäch- 
tiger entwickelten  Cenoman. 

Im  SW-Sinai  beginnen  die  Kreideablagerungen 
N  von  Tor;  bis  zum  29"  n.  Br.  sind  sie  mehr 
auf  küstennahe  Gebiete  beschränkt.  Dann  kann 
man  sie  aber  auch  im  Innern  der  Halbinsel  an- 
treffen. Vom  SOSinai  ist  nur  Cenoman  bekannt. 
Das  Hauptverbreitungsgebiet  liegt  N  vom  Dsch. 
Gunna.  In  der  Isthmuswüste  bildet  die  Cenoman- 
^  Turon- Schichtgruppe  SW — NO  streichende  Ge- 
birgszüge, z.  B.  den  Dsch.  Helal,  Dsch.  Jellek  und 
die  Magarberge.  Petrographisch  werden  Ceno- 
man-Turon charakterisiert  durch  mehr  oder  weniger 
harte  und  verschiedenartige  Kalke,  die  z.  T.  dolo- 
mitisch werden  können  und  unten  in  helle  Mer- 
gel übergehen.  Am  reichsten  fossilführend  sind 
die  Mergel.  Ein  typisches  Cenomanprofil  ist  das 
am  Dsch.  Gunna  des  SOSinai : 

Kalksteine   mit  Austernhorizont  (jl, —  m 

Kalksteine,  oben  mit  Seeigeln,   unten  mit 

Bivalvenschalen  22,5     ,, 

Kalksteine  mit  Austern,  darunter  grünliche 
Mergel  mit  einer  sehr  reichen  typischen 
Cenomanfauna  besonders  von  Seeigeln 
und  Austern  3,5     „ 

Lose  Sandsteine  und  Mergel,  Austern  ein- 
schließend 14, —  „ 

Nubischer  Sandstein  200, —  „ 


301,—  m 

Von  Fossilien  fanden  sich  oft :  Ostrea  flabellata 
Goldf. ,  O.  conica  Sow.,  O.  suborbiculata  Lam., 
O.  Delettrei  Coq.,  Hemiaster  Heberti  Coq. ,  Lin- 
thia  oblonga  d'Orb.,  Heterodiadema  libycum  Cott., 


Pecten,  Plicatula,  Vola;  im  Cenoman-Turon  der 
Isthmuswüste:  Rudisten,  Chondrodonta  Munsoni 
Hill.,  Ch.  Joannae  Chofif.  Die  Fauna  ist  von 
mediterranem  Charakter.  Die  Austern  -  Seeigel- 
entwicklung des  Cenoman  reiht  sich  ganz  der 
afrikanisch- palästinensischen  Fazies  des  Cenoman  an. 
Senon  ist  vertreten  im  SW-Teil  der  Halb- 
insel und  in  der  Isthmuswüste,  hier  allerdings  in 
weiter  Ausdehnung.  Das  im  SW  Sinai  in  bezug 
auf  die  Verbreitung  für  Cenoman-Turon  Gesagte 
gilt  auch  für  Senon.  Es  setzt  sich  von  wenigstens 
400  m  Mächtigkeit  zusammen  aus  Kalksleinen, 
kreideartigen  Kalksteinen  mit  Schiefertonen  und 
Sanden.  Fossilien  selten :  Gryphaea  vesicularis 
Lam.  des  Campanien,  mittleres  Senon.  In  der 
Isthmuswüste  wird  nach  Dr.  Range  Senon  in 
erster  Linie  durch  weiße  Schreibkreide  vertreten. 
Lagenweise  treten  in  ihr  Kieselknollen  auf.  Im 
Hangenden  wird  die  Kreide  lokal  überlagert  von 
gering  mächtigem  Kalkstein  und  bis  zu  60  m 
von  Schieferton.  Bei  Spita  ist  die  Schichtenfolge 
nach  Dr.  Range: 

200  m  Nummulitenkalk  | 

10 — 20  ,,    Mürbe  Mergel   mit  vereinzelten  Num-  '    Eozän 

muliten  ) 

6-8     ,,    Harte  Kalkbank  mit  "Fossilien  | 

ca.  200  ,,    Schreibkreide    mit    vielen    Feuerstein-  [   Senon 

bänken  ) 

Die  Gesamtmächtigkeit  des  Senon  beträgt 
200 — 300  m.  Fossilien  sind  wieder  selten;  z.  B. 
Ostrea  acutirostris  Nilss.  (Santonien). 

Die  marinen  Kreideablagerungen  lassen  die 
Verhältnisse  der  Meeresausbreitung  erkennen.  In 
der  Isthmuswüste  setzte  die  marine  Transgression 
ungefähr  am  31."  n.  Br.  bereits  an  der  Grenze 
oberes  Gault-,  unteres  Cenoman  ein  mit  der 
Vraconnienfauna  des  Letschmehorizontes.  Süd- 
licher, ungefähr  zwischen  28"  und  29"  n.  Br.  be- 
ginnen marine  Ablagerungen  auf  der  Sinaihalb- 
insel erst  mit  Cenoman.  Auch  in  Ägypten  und 
SO  von  Palästina,  wo  die  ersten  marinen  Absätze 
von  29"  n.  Br.  Cenoman  sind,  zeigt  sich  vom  N 
nach  S  die  Folge  von  älteren  zu  jüngeren  Ab- 
lagerungen der  oberen  Kreide.  Aus  diesen  Tat- 
sachen geht  hervor,  daß  das  transgredierende 
Kreidemeer  in  der  Richtung  zum  In- 
dischen Ozean  nach  SO  vorrückte. 

Eozän  ist  aus  dem  SW-Teil  der  Halbinsel 
und  der  Isthmuswüste  bekannt.  An  der  ersten 
Stelle  ist  Eozän  beschränkt  auf  die  Region  Ö  von 
Dsch.  Gabella  von  Tor  bis  nach  N  zum  Ras 
Jehan.  Ein  isoliertes  Vorkommen  ist  das  von 
Krer.  Untereozän,  die  Londonstufe  oder  nach 
der  Entwicklung  in  Ägypten  auch  als  Libysche 
Stufe  bezeichnet,  kommt  nur  an  3  Lokalitäten 
vor :  am  Dschebel  Krer,  dem  Zusammenfluß  vom 
Wadi  Baba  und  Wadi  Schelläl  und  am  Dsch. 
Safariat,  Aus  Kalksteinen  oder  kreidigem  Kalk 
werden  angegeben  u.  a.:  Operculina  complanata, 
Defr.  var.  canaliculata  d'Arch.,  Nummulites  Ra- 
mondi  Defr.  Wie  in  der  arabischen  Wüste,  hat 
auch  hier  Mitteleozän  die  größte  Verbreitung.    Es 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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entspricht  dem  Parisien  oder  der  ägyptischen 
Mokattamstufe.  Petrographisch  besteht  Mittel- 
eozän aus  weißen  kreideartigen  Kalksteinen; 
häufig  ist  Nummulites  Gizehensis  Ehr.  Vom 
Dsch.  el  Rigma  erwähnt  Barron  Echiniden  und 
Austern.  Auch  Rothpletz  führt  aus  dem  Eo- 
zän Austern  an:  Ostrea  varilamella  Desh. ,  O. 
Fraasi  M.  E.,  O.  Reisi  Fraas.  Obereozän  besteht 
nach  Barron  im  SW-Sinai  nur  am  Wadi  Abjad 
und  zwar  handelt  es  sich  um  Kalke  mit  weichen 
Lagen,  die  Nummuliten  und  andere  Foraminiferen 
enthalten.  Darunter  folgen  knollige  Partien  mit 
Nummuliten,  weißlicher  Kalkstein.  Blancken- 
horn  erklärte  mehrfach  (1900,  S.  417,  191,  S. 
75 — 79)  diese  Ablagerungen  für  Miozän.  Barron 
hält  1907  an  seiner  Bestimmung  fest  wegen  des 
Fehlens  von  Pecten,  Echiniden  und  Ostreen,  die 
sich  sonst  im  Miozän  finden.  Eozän  gibt  Schür- 
mann  1916  zwischen  Wadi  Eihel  und  Wadi  Me- 
talla  neben  Miozän  an,  während  Barron  diese 
Ablagerungen  fürSenon  und  Miozän  hielt.  Schür- 
mann fand  helle  Mergelkalke  mit  Flintbänken 
in  den  tieferen  Schichten,  in  tonreicheren  Lagen 
Gipsadern  und  Schwefel.  Nummuliten  enthalten 
Mergel  wie  Mergelkalke.  Vom  Wadi  Tayiba  bis 
Wadi  Ethel  wurde  in  verschiedenen  Vorkommen 
ein  Basalt  beobachtet  von  miozänem  Alter.  Er 
hat  die  Eozänmergelkalke  am  Kontakt  in  Fleck- 
schiefer und  Hornfelse  umgewandelt ;  die  Kontakt- 
zone übersteigt  selten  2  m.  Für  Eozän,  das  nach 
Bohrresultaten  ca.  525  m  beträgt,  schlägt  Schür- 
mann folgende  Stratigraphie  vor  (von  oben  nach 
unten) : 

Nummulitenkalkstein. 

Gelbbraune  und  violette  dünnschichtige  Mergel  und 
Schiefertone  mit  Gipsadern. 

Kompakter,  auf  frischem  Bruch  dunkler  Mergelkalk,  meist 
bituminös  mit  Flinlbänken  und  Flintlinsen ,  Nummuliten 
führend. 

Dunkler,  dünnschichtiger  Mergel  und  Schieferton  mit 
Gastropoden  und  Zweischalern. 

Kompakter  Mergelkalk,  bituminös,  mit  Flintbänken  und 
reichlich  Gips  auf  Klüften,  z.  T.  Schwefel  führend. 

Scnon. 

In  der  Isthmuswüste  ist  Eozän  beschränkt  auf 
2  Lokalitäten  von  Spita  und  Chabra  I.  Es  handelt 
sich  nach  den  Mitteilungen  von  Dr.  Range  hier 
upi  mürbe  Kalksandsteine,  die  nach  oben  in  feste 
Nummulitenkalke  übergehen. 

Miozän  wird  vom  SW  und  SO  Teil  der 
Sinaihalbinsel  angegeben.  Im  W-Sinai  dehnen 
sich  weite  Miozänablagerungen  aus  zwischen  Tor 
und  Suez.  Petrographisch  setzt  sich  Miozän  zu- 
sammen aus  Kalkstein,  kalkigem  Grobsandstein, 
Sandstein,  Mergel,  Flintlagen  und  mergligem 
Kalkstein.  Die  mergligen  Schichten  enthalten 
Gips ;  die  sandigen  Kalke  schließen  hauptsächlich 
Pecten  und  Ostrea  ein.  Ins  Miozän  zu  stellen 
sind  auch  Basalte,  die  die  eozänen  Mergelkalke 
durchdrangen  und  kontaktmetamorph  veränderten. 
Die  Basalteruptionen  sind  das  Zeichen  von  Ge- 
birgsbewegungen,  welche  die  miozäne  Trans- 
gression   am   Golf  von   Suez   hervorriefen.      Von 


Mittel- 
miozän. 


Unter- 
miozän. 


einzelnen  Vorkommnissen  sei  zunächst  das  vom 
Wadi  Etthal  genannt.  Hier  befinden  sich  schiefrige, 
bald  weiche,  bald  harte  Mergelsandsteine  und 
Kalke  mit  Gipsadern.  Sie  enthalten  u.  a.  Pecten 
cristatocristatus  Sacco  var.  Newtoni  Blanck.  Am 
unteren  Wadi  Tayiba  nahm  Blanckenhorn 
folgendes  Profil  auf  (1901,  S.  77): 

15  m.  Grünlicher,  mürber  Sandstein  und 
Mergel  mit  Gips. 

20  m.  Flinlkonglomerat,  Nummulitenkalk 
und  einzelnen  gerollten  Nummumuliten  im 
Wechsel  mit  dünnem  schiefrigem,  grünlichem 
Mergelsandstein  mit  Gipsschnüren.  Schalen  von 
Ostrea    sp.,    Pecten    sp.    und    P.  cristatocristatus. 

0,60  m.  Grüne,  mürbe,  knollige  Tonmergel 
mit  Manganflecken. 

0,50  m.     Gefleckter  Mergelsandstein. 

0,50  m.     Grobes  Konglomerat. 

10  m.  Dunkler,  äußerlich  melaphyrartiger 
Basalt  mit  grünen  Drusen,  unten  in  braunroten 
Tuff  übergehend. 

1,20  ra.  Schwarzer,  feinkörniger  Sandstein; 
scheinbar  durch  Kpntakt  verändert. 

0,50  m.     Grauer  Sandstein. 

I  m.  Brekzie  aus  rötlichen  und  grauen  Num- 
mulitenkalktrümmern. 

Untereozän.  Sa.  49,30  m. 

Am  Golf  von  Akaba,  S  von  Scherm,  fand 
H  u  m  e  Bänke  aus  großen  Austern  mit  Ostrea 
Virleti  Desh.  usw.  Diese  Miozänablagerungen 
entsprechen  den  an  Heterosteginen ,  Korallen, 
Austern  und  Pecten  reichen  Miozänriffen  im 
Osten  Ägyptens  und  der  SW-Seite  des  Suez- 
golfes und  Schichten  mit  Heterosteginen,  Ostreen, 
Pecten  der  W-Seite  der  Sinaihalbinsel.  Werden 
nun  diese  Ablagerungen  als  Helvetien  angesehen, 
dann  muß  diese  Altersbestimmung  auch  für  das 
Miozän  des  SO-Sinai  gelten.  Der  Golf  von  Akaba 
war  demnach  in  der  Zeit  des  Helvetien  wenigstens 
teilweise  meeresbedeckt  und  zwar,  wie  der  Golf 
von  Suez,  von  einem  Zipfel  des  Mittelmeeres,  das 
den  Sinai  im  S  umflutete. 

Pliozän.  Ungewiß  ist  Pliozän.  Angaben 
darüber  bestehen  von  W-Sinai.  Die  Fossilien  aus 
den  hierfür  angesehenen  Schichten  weisen  teils 
auf  Miozän,  teils  auf  Pliozän.  Am  Wadi  Amara 
finden  sich  Kalksteine  und  sandige  Kalke  mit 
Gips  und  einigen  Zölestinadern.  Vom  Mittel- 
miozän, Helvetien,  an  bis  zum  oberen  Pliozän  war 
Land.  Im  oberen  Pliozän  drangen  mediterrane 
Formen   wieder   in   die  Erythräische  Region   ein. 

In  der  Isthmuswüste  kommen  jüngere  Meeres- 
ablagerungen, mürbe,  sandige  Kalke  mit  einge- 
lagerten muschelreichen  Schichten  in  der  Nähe 
der  Küste  vor.  Blanckenhorn  sieht  in  Palästina 
diese  Ablagerungen   als   marines  Oberpliozän   an. 

Die  pleistozänen  Korallenriffe  sind 
zuerst  eingehend  von  Walt  her  1887  im  Golf 
von  Suez  erforscht  worden.  Entgegen  der  An- 
sicht von  W  a  1 1  h  e  r  bestehen  nach  H  u  m  e  auch 
Riffe  im  Golf  von  Akaba  von  Dahab  bis  zum 
Ras  Muhammed.  W  a  1 1  h  e  r  gliederte  die  fossilen 
Riffe  in  das  jüngere  und  das  ältere  RifT.  Das 
jüngere  hielt  er  für  pleistozän,  das  ältere  für  plio- 
zän.    Rothpletz  dagegen  nahm  beide  von  quar- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


215 


tärem  Alter  an,  ebenfalls  Felix.  Hu  nie  schließt 
sich  Walther  an  bei  Einteilung  der  Riffe  in  ein 
älteres  und  ein  jüngeres  und  hält  beide  für  pleistozän. 
Lebende  Saumriffe  fanden  sich  an  der  Küste 
der  Halbinsel  im  Golf  von  Akaba  und  Suez.  Sie 
ziehen  entlang  der  Küste,  unterbrochen  oft;  teil- 
weise lösen  sie  sich  auch  von  der  Küste  ab,  um 
pelagisch  zu  werden.  Die  pelagischen  Riffe  sind 
einander  parallel. 

I.  Das  jüngere  fossile  Riff.  Nach 
Walt  her  befindet  es  sich  im  Golf  von  Suez, 
ungefähr  10  m  über  dem  Meeresspiegel.  In  der 
Hauptsache  besteht  der  Riffkalk  aus  Resten  von 
Muschel-  und  Schneckenschalen,  Seeigelstacheln, 
Korallenstücken  und  einer  detritogenen  Füllmasse, 
aus  Kalksand  entstehend  von  Gehäusen  und 
Schalen.  Von  Korallen  dürfte  sich  an  dieser  Bil- 
dung in  erster  Linie  Madrepora  beteiligen.  Ferner 
finden  sich  hier  kleine  Nester  von  Lithothamnium 
häufig  mit  gut  erhaltener  Struktur.  In  seinem 
unteren  Teil  ist  der  Riffkalk  erfüllt  von  Hetero- 
centrotus  mammillatus,  Laganum  depressum, 
Jungia  usw.  Felix  bestimmte  aus  dem  jüngeren 
fossilen  Riff  Mussa  corymbosa  Forsk.  Die  Mächtigkeit 
des  jüngeren,  unteren  Riffs  ist  gering,  3 — 6  m. 
Bisweilen  erscheint  sie  durch  eingeschaltete  Kalk- 
lagen größer.  Der  Untergrund  ist  ohne  Einfluß 
auf  das  Riff  nach  H  u  m  e  und  entgegen  W  a  1 1  h  e  r  s 
Ansicht.  Er  kann  Granit,  Diorit  sein,  aber  auch 
Sandstein,  Mergel. 

2.  Das  ältere  fossile  Riff.  Im  Golf  von 
Suez  fand  es  Walther  am  Dsch.  Hammam  Musa 
bei  Tor  und  am  Ras  Muhammed.  Im  Akaba 
Golf  dehnt  es  sich  nach  N  bis  Dahab  aus.  Der 
Korallenkalk  dieses  älteren  Riffs  ist  hart,  körnig, 
z.  T.  dicht  und  gebräunt,  überall  stark  meta- 
morphisiert  und  in  einen  Dolomit  verwandelt 
worden.  Von  den  Korallen  sind  meist  nur  Ab- 
drücke oder  Ausgüsse  erhalten.  Am  Dsch.  Ham- 
mam Musa  erreicht  das  ältere  obere  Riff  eine  Höhe 
von  230  m.  Zwischen  diesem  Riff  und  dem  jügeren 
fossilen  unteren  schaltet  sich  hier,  als  auch  am  Ras 
Muhammed  eine  feinkörnige  Brekzie  ein,  von 
Walther  als  Grussandstein  bezeichnet.  Am  Ras 
Muhammed  findet  sich  ein  teils  rein  korallenreiches 
Gestein  mit  einem  dem  Dolomit  des  Dsch.  Ham- 
mam Musa  sehr  ähnlichem  Habitus  und  vielen 
Korallenabdrücken,  teils  aber  auch  ein  hellvioletter 
oder  hellroter,  sehr  fester  Kalk  mit  muschligem 
Bruch,  der  ganz  aus  Korallen  zu  bestehen  scheint. 
Am  Dsch.  Hammam  Musa  beträgt  die  Mächtig- 
keit des  Riffs  2 — 6  m,  nach  NW  bis  15  m;  am 
Ras  Muhammed  gegen  7  m.  Aus  dem  älteren 
fossilen  Riff  an  der  W-Seite  der  Halbinsel  be- 
stimmte Felix:  Fungia  tenuifolia  Dana,  Flerastraea 
Savignyi  E.  H.  usw. 

Zur  Charakterisierung  der  Riffe  wird  am  besten 
die  Schichtenfolge  gegeben,  wie  sie  H  u  m  e  N  von 
Scherm  im  Golf  von  Akaba  fand  (von  oben  nach 
unten) : 

I.  Karernöse  Kalke,  unten  dolomitische  Lagen  mit  Orbi- 
cella,  Coelaria,  Anadora,  großen  Gastropoden,  Nullipora.  —  l  m. 


2.  Korallen  und  Milleporenkalke;  z.  T.  in  einem  hellen 
Kalk  übergehend   mit  Bivalven  (Venus  reticulata).  —  4  m. 

3.  Austern-  und  Pecten-Schichlen  voller  Austern,  Pecten 
Vaselli,  Laganum  depressum,  Chlamys  lalissima,  den  kleinen 
Echinus  verruculatus. 

4.  Braune  und  grüne  salzhaltige  Mergel. 

5.  Nulliporagesteine. 

6.  Kalksteine  mit  Venus,  Cypraea,  Tridacna,  Trochus. 

7.  Kalksteine  mit  viel  Gastropoden,  Strombus,  Conus, 
Dentalium ;  Stacheln  von  Heterocentrotus,  Goniastraca  und 
vielen  Arten   von  Jungia. 

8.  Diese  Kalke  sind  von  der  Küste  getrennt  durch  zwei 
Geröllagen.  Die  höhere  enthält  Haliotis  und  Echinometra 
lucunter  ohne  Stacheln,  die  untere  die  kleine  Form  dieses 
Seeigels  und  mit  Stacheln. 

Die  Schichten  i — 4  bilden  eine  erste  Terrasse. 
Sie  stellen  das  ältere  Korallenriff  dar.  Schichten 
5 — 7  setzen  eine  zweite  Terrasse  zusammen  und 
entsprechen  dem  jüngeren  fossilen  Riff.  Schicht  7, 
am  weitesten  unten  gelegen,  ist  also  jünger  als 
Schicht  I.  Die  Schicht  8  ist  eine  rezente  Bildung. 
Diese  Lagerungsverhältnisse  erklären  sich,  da  die 
Riffe  in  einer  Hebungsregion  entstanden  sind.  So 
sind  die  ältesten  Riffe  am  meisten  gehoben  worden 
und  liegen  heute  zu  oberst;  die  untere  Terrasse 
bilden  jüngere,  weniger  gehobene  Lagen.  S  von 
Scherm  beträgt  die  Hebung  der  ältesten  Schichten 
wenigstens  200  m. 

Im  Akabagolf  lassen  die  Riffe  eine  besondere 
Anordnung  erkennen.  S  der  Bucht  von  Aad  und 
bei  Scherm  finden  sich  Korallenbildungen  von 
verschiedenem  pleistozänen  Alter  in  2  geneigten 
und  2  horizontalen  Terrassen.  Nördlicher,  zwischen 
Nebk  und  der  Bucht  von  Aad  fehlen  die  beiden 
geneigten  Schichten  und  nur  die  beiden  horizon- 
talen Terrassen  sind  vorhanden.  Sie  stellen  die 
tiefste  Terrasse  dar  und  entsprechen  dem  jüngenen 
Riff.  Die  älteren  Riffe  bestehen  demnach  nur  im 
S  im  Golf  von  Akaba. 

Der  Riffkalk  unterliegt  nach  den  Untersuchungen 
von  Felix  einem  Umwandlungsprozeß.  Das 
Korallenskelett  verliert  dabei  seine  ehemalige 
Faserstruktur  und  nimmt  ein  kristallinisch-körniges 
Gefüge  an.  Mit  dieser  Strukturänderung  geht 
bisweilen  eine  chemische  vor  sich  und  zwar 
handelt  es  sich  um  Vergipsung  oder  Dolomiti- 
sierung  der  Kalke. 

Weitere  pleistozäne  und  rezente  Ab- 
lagerungen. Im  SW-Teil  der  Halbinsel  be- 
decken diese  Ablagerungen  in  weiter  Ausdehnung 
die  Piain  of  El  Qa'a  und  N  davon  Piain  of  el 
Markka.  In  der  El  Qa'a-Ebene  ist  ein  nördlicher 
Teil  von  einem  anders  gestalteten  S-Teil  zu  unter- 
scheiden. Die  Grenze  zwischen  beiden  zieht  von 
Tor  zum  Wadi  Schiddiq.  In  der  S-Hälfte  sind 
wiederum  2  Gruppen  von  Ablagerungen  zu  trennen. 
Östlich  dem  Landinnern  zu  finden  sich  fluviatile, 
lakustre  oder  marine  Absätze,  an  der  Küste  nur 
marine. 

Während  S  vom  Wadi  Schiddiq  Sandsteine 
und  Kiese  vorkommen,  fehlen  sie  N  dieser  Grenze. 
Der  Grund  liegt  vielleicht  in  einer  Senkung  des 
Landes  im  S.  Nördlich  vom  Wadi  Schiddiq  bis 
zur   Mündung   vom   Wadi   Geba   finden  sich  Ge- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   14 


rolle  von  Granit,  Dolerit  und  quarzigem  Felsit, 
gemischt  mit  Sand.  Vom  Wadi  Maar  gegen  die 
Mitte  der  Ebene  zu  sind  F"euersteine  und  Kaik- 
steingeröUe  abgesetzt.  Zwischen  Tor  und  Dsch. 
Saidna  Musa  breiten  sich  Sande  und  salzige  Tone 
aus.  Gerolle,  Sande  und  besonders  Mergel  spielen 
im  N-Teil  des  Piain  of  El  Qa'a  eine  wesentliche 
Rolle.  —  Über  diesem  pleistozänen  bis  rezenten 
Absätzen  lagern  am  Wadi  Ferän  jüngere  Bildun- 
gen, Eruptivgerölle.  Das  gleiche  gilt  von  Wadi 
Schiddiq  und  anderen  Lokalitäten.  Ihnen  können 
entsprechen  Konglomerate,  Tone,  salzhaltige  Tone 
mit  Gastropoden-  und  Lamellibranchiatenschalen- 
resten.  Zu  erwähnen  sind  noch  Süßwasser- 
ablagerungen, Sande,  sandige  Mergel,  Gerolle, 
Mergel,  Tone,  Mergelkalke  mit  Pflanzenresten  und 
Schnecken.  Sie  kommen  vor  am  Wadi  Gharbi, 
Wadi  el  Scheikh,  Wadi  Ferän,  am  Fuße  des 
Dsch.  Hadüd. 

Im  SOSinai  werden  die  oben  für  den  W-Teil 
behandelten  Bildungen  vertreten  durch  Kiesel- 
gerölle  (pebble  gravels),  manganhaltige  Gerolle, 
„oolithischeTalbildungen"  ( W a  1 1 h e r)  und 
durch  Kalk  verkittetes  Geröllmaterial.  Sie  fin- 
den sich  in  küstennahen  Gebieten  im  SO.  Die 
Kieselgerölle  kommen  vor  in  den  Haupttälern 
und  besonders  da,  wo  Nebentäler  einmünden  und 
bilden  Terrassen,  die  bisweilen  über  20  m  er- 
reichen können.  Fr  aas  verglich  diese  Terrassen 
mit  Moränen.  Ihr  Alter  läßt  sich  am  besten  am 
Golf  bestimmen,  wo  sie  pleistozäne  Korallenriffe 
überlagern.  Die  Schotterterrassen  können  des- 
halb nicht  älter  sein  als  Pleistozän.  Charakteri- 
siert sind  sie  dadurch,  daß  sie  Bruchstücke  und 
Gesteinsreste  und  Material  der  umliegenden  Berge 
enthalten.  Die  schwarzen  manganhaltigen  Konglo- 
merate können  Schichten  bilden  bis  4  m  Dicke. 
Sie  sind  mariner  Entstehung  und  finden  sich  an 
der  Küste.  Die  unteren  Partien  sind  ockerrot 
und  lagern  über  Granit.  An  der  Bucht  von 
Scherm  stellen  sie  reiche  Manganlager  dar.  — 
Oolithische  Bildungen  und  zwar  in  Form  eines 
hellen,  oolithischen  kalkhaltigen  Sandsteins  finden 
sich  unterhalb  der  Berge  am  Ras  Muhammed. 
Walt  her  erwähnt  bei  Suez  und  am  Rande  der 
Wüste  Ryd  oolithische  Bildungen  und  bezeichnet 
sie  als  rezente  Bildungen  im  Status  nascendi.  — 
Über  Nubischem  Sandstein  oder  Granit  folgen 
mitunter  Gerolle  von  rotem  Granit,  Gneis,  Syenit, 
Felsit,  zusammengehalten  durch  ein  Kalkbinde- 
mittel. Auch  Travertin  kommt  als  Verkittungs- 
material  oder  allein  vor.  In  der  Isthmuswüste  stellt 
Dr.  Range  Tonablagerungen  des  Sirbonischen 
Sees,  die  oft  mit  Salzausblühungen  bedeckt  sind, 
ins  Alluvium.  Lößartige  Bildungen,  i— 20  m 
mächtig,  über  marinem  Diluvium  oder  Kreide, 
treten  an  verschiedenen  Stellen  auf.  Fast  der 
ganze  nördliche  Teil  der  Isthmuswüste  wird  von 
ausgedehnten  Sanddünen  überlagert  von  10 — 80  m 
Höhe. 

Oberflächengestaltung.  Ganz  kurz  sei 
nur   auf  die   Oberflächengestaltung  eingegangen. 


Eruptive  und  metamorphe  Gesteine  bilden  Ge- 
birgsregionen.  Der  Granit  kann  z.  T.  plateauartig 
werden,  wie  N  vom  Wadi  Nasb.  Felsit  und 
Andesit  erzeugen  scharf  hervortretende  Kuppen 
und  Riffe.  Wenn  von  Sinaireisenden  die  Sinai- 
halbinsel als  eines  der  gebirgigsten  und  unwegsam- 
sten Gebiete  der  ganzen  Erde  geschildert  wird,  so 
sind  damit  die  Gebirgszüge  im  Innern  gemeint.  Die 
höchsten  Erhebungen  treten  im  N  auf,  2600  m; 
von  hier  an  fällt  das  Land  nach  S  ab  bis  Ras 
Muhammed  zur  Meeresspiegelhöhe.  Der  Dsch. 
Katherina  oder  Dsch.  Zebir  stellt  den  höchsten 
Berg  dar,  2606  m.  Er  ist  leicht  besteigbar  und 
bildet  am  Gipfel  ein  breites  Plateau.  Der  wir- 
kungsvollste Berg  ist  aber  bei  weitem  der  Dsch. 
Musa,  der  „heilige  Berg",  2292  m,  steil  und  scharf 
aus  seiner  Umgebung  heraussteigend.  Nördlich 
von  ihm  liegt  das  Katherinenkloster.  Der  Gipfel 
des  Dsch.  Musa  stellt  ein  langes  Becken  dar,  an 
seinen  Seiten  umgeben  von  einer  Reihe  von  Berg- 
zügen und  Kuppen.  Er  besteht  aus  grauem  und 
darunter  rotem  Granit.  Gegen  2000  m  erreichen 
im  N  der  Halbinsel  mehrere  Berge,  über  2000  m 
nach  Dsch.  Serbai  2060  m,  Dsch.  Um  Schomer 
2575  m,  Dsch.  Eth  Thebt  2403  m,  Dsch.  Sab- 
bagh  2536  m  usw.  Diese  höchsten  Erhebungen 
werden  alle  von  Granit  gebildet.  Im  allgemeinen 
sind  die  Berge  charakterisiert  durch  zahlreiche 
steile  Klippen,  spitze,  zackige  Gipfel  oder  lange 
Kämme;  dazwischen  schneiden  steile  Abgründe 
und  Schluchten  tief  ein,  labyrinthisch  durcheinan- 
der laufend,  gefüllt  mit  Gesteinsmaterial  der  um- 
gebenden Erhebungen.  Der  Unterschied  zwischen 
der  Gebirgslandschaft  und  der  von  Sedimenten 
gebildeten  ist  scharf.  Der  Nubische  Sandstein 
stellt  niedrige  Plateaus  dar  mit  steilen  Abstürzen. 
Zu  Kuppeln  oder  Hügeln  hat  die  obere  Kreide 
Anlaß  gegeben;  oben  können  sie  plateauartig 
werden.  Die  jüngeren  überlagernden  Absätze  er- 
zeugen weite  Ebene.  In  der  Isthmuswüste  und 
in  den  küstennahen  Teilen  der  Halbinsel  dehnen 
sich  Wüsten  aus.  —  Von  wesentlichem  Einfluß  für 
die  Gestaltung  der  Oberfläche  sind  jedoch  die 
tektonischen  Vorgänge  gewesen. 

in.  Tektonik. 
Die  Sinaihalbinsel  gehört  mit  Arabien  und 
Syrien  zur  großen  Saharatafel,  deren  morphologi- 
scher Charakter  durch  Brüche  bestimmt  ist.  Brüche 
haben  auch  der  Sinaihalbinsel  ihre  heutige  cha- 
rakteristische dreieckige  Gestalt  gegeben.  Eine 
wichtige  tektonische  Trennungslinie  der  Bruch- 
systeme des  W-  und  OSinai  besteht  nach  H u m e 
ungefähr  am  34."  n.  Br.  Diese  tektonische  Grenze 
beginnt  im  Norden  am  Wadi  El  Scheikh  und 
zieht  fast  genau  nach  S  bis  zum  Wadi  Theman, 
wo  sie  etwas  nach  W  umbiegt.  Die  Struktur- 
verhältnisse des  W-Sinai  sind  insbesondere  von 
Blanckenhorn  und  Barron  untersucht  wor- 
den. Barrons  Resultate  weichen  in  einigen 
Punkten  von  Blanckenhorns  früheren  Ergeb- 
nissen ab.   Sicher  ist,  daß  die  geologischen  Haupt- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


217 


linien  durch  Verwerfungen  und  Brüche  und  nicht 
durch  Faltungen  bedingt  werden.  Unter  den 
Falten  liegt  die  Achse  des  dominierenden  Falten- 
systems im  Golf  von  Suez  in  NW — SO  Richtung. 
Das  andere  System  verläuft  senkrecht  dazu.  Bruch- 
systeme unterscheidet  Barron  verschiedene.  Sie 
laufen  parallel  dem  Golf  von  Suez.  Die  wichtig- 
ste Verwerfung  zieht  zwischen  den  Eruptiven  des 
Innern  und  den  äußeren  Sedimenten  am  Dsch. 
Serbäl  hindurch.  Dazu  kommen  noch  ihr  parallele 
sekundäre  und  Küstenverwerfungen.  An  Brüchen 
ist  die  Sedimenttafel  gegen  den  Eruptivkern  im 
Innern  der  Halbinsel  abgesunken.  Im  tektonischen 
N-Teil  der  Halbinsel  sind  auch  Gräben  (rift-valleys) 
eingeschnitten  in  NW — SO-Richtung,  also  vom 
Suez- Typ.  —  Östlich  der  tektonischen  Grenze  am 
34."  ö.  Gr.  herrscht  ein  Bruch-  und  Grabensystem 
des  Akabatyp  in  NO — SW-Richtung.  Die  größte 
Einsenkung  ist  hier  der  Akabagraben  selbst,  dazu 
kommen  im  Innern  der  Gebirgsregion  noch  zwei 
weitere  große  Furchen.  Die  eine  verläuft  vom 
Wadi  Schelala  zum  Um  Raiyig,  gegen  72  km 
lang;  eine  zweite  besteht  am  Wadi  Melhadge; 
hier  beträgt  die  Dislokation  mindestens  700  m. 
Parallel  zu  diesen  Hauptgräben  verlaufen  noch 
einige  kleinere,  die  die  gleiche  Entstehungsursache 
haben  wie  diese.  Vom  Akabatyp  sind  nach 
Kober  1919  auch  die  Brüche  im  N-Hedschas. 
Nach  S  dehnt  sich  das  Akababruchsystem  nur  bis 
zum  28."  n.  Br.  aus.  Südlicher  sind  die  Struktur- 
züge augenscheinlich  vom  Sueztyp.  Neben  diesen 
beiden  Längstypen  von  Gräben  besteht  noch  ein 
dritter  Transvertaltyp.  Die  Richtung  der  Trans- 
versaltäler ist  NO  oder  SO  im  östlichen  Sinai, 
NW,  SO  oder  SW  im  westlichen  Teil  der  Halbinsel. 
Zusammenfassend  kann  also  gesagt  werden, 
daß  die  Hauptstrukturen  der  Sinaihalbinsel  durch 
Brüche  dreier  verschiedener  Bruchsysteme  bedingt 
werden.  Darin  sind  2  Längsbrüche  und  zwar 
I  östlich  vom  34."  ö.  Gr.  herrscht  der  Akabatyp 
mit  NO — SVV- Richtung,  und  westlich  davon  der 
Sueztyp  in  NW — SO-Richtung.  Ein  dritter  trans- 
versaler Typ  durchzieht  diese  beiden  Längsrich- 
tungen. Das  Resultat  dieser  3  Dislokationsvor- 
gänge sind  die  anscheinend  so  verworrenen 
Kämme  und  Täler,  die  für  die  Sinaihalbinsel  so 
bezeichnend  sind.  Das  Alter  dieser  tektonischen 
Vorgänge  fallt  in  die  Grenze  oberes  Pliozän, 
unteres  Pleistozän. 

Über  die  tektonischen  Verhältnisse  in  der 
'  Isthmuswüste  kann  nur  weniges  gesagt  werden. 
Nach  Dr.  Range  steigt  die  Kreidetafel  nach  S 
mehr  und  mehr  an.  Ihr  Steilabfall  gegen  das  alte 
Gebirge  liegt  100  km  südlich  von  Nakl.  Der 
Kreidetafel  sind  einige  SW — NO  streichende 
Faltengebirge  vorgelagert,  der  Dsch.  Jellek,  1050  m, 
Dsch.  Helal,  900  m,  die  kleineren  Bergzüge  des 
Dsch.  Eschriem,  Dsch.  el  Minschera  und  der  in 
100  km  Ausdehnung  sich  erstreckende  Magarazug, 
an  dessen  Aufbau  Jura  beteiligt  ist.  Die  Magara- 
berge  sind  auch  SW — NO  gefaltet;  außerdem 
treten  hier  noch  Bruchsysteme  auf. 


Geologische   Geschichte. 

Auf  Grund  der  Untersuchung  des  geologischen 
Aufbaus  und  der  tektonischen  Verhältnisse  kann 
nun  eine  Zusammenfassung  der  geologischen  Ge- 
schichte der  Sinaihalbinsel  gegeben  werden,  ins- 
besondere nach  den  Resultaten  von  Barron  und 
Hume. 

In  alte  archäische  Gesteine  hinein  wurden  noch 
vorpaläozoisch  grauer  Granit  und  Diorit  intrudiert. 
Denudation  trug  diese  Gesteine  ab  und  bildete 
das  Material  für  Sandsteine.  Verursacht  durch 
tektonische  Bewegungen  drangen  Eruptive,  Gra- 
nite und  seine  Verwandten  empor,  veränderten 
am  Kontakt  alte  Sedimente,  schufen  metamorphe 
Gesteine  und  der  graue  Granit  erhielt  Gneis- 
struktur. Diese  Gesteine  sind  wieder  von  Gängen 
von  Felsit  und  Dolorit  durchzogen.  Alle  die 
Vorgänge  sind  vorkarbonisch.  Im  Karbon  sank, 
wenigstens  im  W- Sinai,  das  Land  unter  den 
Meeresspiegel,  Kalke  und  Sandsteine  wurden  ab- 
gelagert und  am  Ende  des  Karbon  drangen  jüngere, 
nun  mehr  basischere  Lavamassen  und  Dolerite 
empor.  In  tektonischer  Beziehung  herrscht  darauf 
Ruhe  bis  zum  Tertiär.  Perm,  Trias  und  Jura 
fehlen  in  der  ganzen  Halbinsel  S  vom  30.°  n.  Br. 
Dagegen  stand  die  Isthmuswüste  im  Dogger  und 
Malm  bis  Kimmeridge  unter  Wasser.  Das  seichte 
Jurameer,  dessen  S-Rand  über  Syrien,  Sinai,  N- 
Afrika  verlief,  entsandte  im  Oxford-Kimmeridge 
einen  Meeresarm  über  Westarabien  zum  Jura  des 
nördlichen  Ostafrika.  Mit  Ende  Jura  zog  sich  das 
Meer  von  der  Isthmuswüste  wieder  zurück.  Über 
dem  Jura  der  Isthmuswüste  z.  T. ,  in  der  Sinai- 
halbinsel S  von  30"  n.  Br.  über  Karbon,  meist 
aber  auf  dem  eingeebneten  Grundgebirge  wurde 
der  Nubische  Sandstein  abgesetzt.  Die  Gänge, 
die  den  Granit  so  häufig  durchziehen,  sind  in  den 
Nubischen  Sandstein  nicht  eingedrungen.  Seiner 
Entstehung  nach  ist  dieser  Sandstein  eine  konti- 
nentale bis  paralische  Bildung  und  leitet  die  ober- 
kreatzische  Transgression  ein.  Das  Kreidemeer 
erreicht  die  Isthmuswüste  bereits  an  der  Grenze 
oberes  Gault-  unteres  Cenoman,  im  Vraconnien. 
Es  rückt  von  N  nach  S  gegen  den  Indischen 
Ozean  vor,  denn  zwischen  28°  und  29"  n.  Br.  sind 
die  ersten  marinen  Absätze  Cenoman.  Vom 
Cenoman  an  bis  zum  Senon  war  die  ganze  Sinai- 
halbinsel vom  Kreidemeer  überflutet.  Cenoman 
und  Turon  lagern  Kalke  und  Mergel  mit  vielen 
Fossilien  ab,  Senon  bildet  Schreibkreide  oder 
kreideartige  Kalke.  Gegen  Ende  der  Kreide 
scheint  jdas  Meer  sich  zurückgezogen  zu  haben, 
da  oberste  Kreidebildungen  fehlen.  Das  also 
erneut  transgredierende  Eozänmeer  setzt  den 
nördlichsten  Teil  der  Isthmuswüste  und  küsten- 
nahe Teile  des  SWSinai  unter  Wasser.  Während 
des  Oligozän  ist  die  Sinaihalbinsel  Festland  ge- 
wesen wie  Syrien  und  Arabien,  während  N-Ägypten 
in  einzelnen  Teilen  vom  Meere  bedeckt  war.  Im 
Oligozän  und  Untermiozän  herrschte  Denudation. 
Während    dieser    Perioden    beginnen    bereits    die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ersten  einleitenden  Vorgänge,  die  zur  Bildung  des 
Roten    Meeres   lühren.  ^)     Weite   Senkungen   der 
betreffenden    Gebiete    fanden    statt    und    das    im 
N    transgredierende    Mittelmeer     trat    ein.      Mit 
Ende     des     Untermiozäns     entsandte      es      eine 
zungenförmige  Bucht   über  den  Suezgolf  und  das 
Rote    Meer,    mindestens    bis   Suakin.      Im    Mittel- 
miozän, dem  Helvetien,  zog  sich  das  Meer  wieder 
nach   N   zurück    auf   die   Ausdehnung    des   Suez- 
golfes.    Die  Sinaihalbinsel    wird  an  der  Suezseite 
vom    Meere    überflutet,    aber    auch    im  Golf   von 
Akaba  war  im  SO  Meer  des  Helvetien.    Daß  der 
Golf   von   Suez    im    Miozän    ein   Meeresarm    des 
Mediterranmeeres   war,    beweisen  miozäne,    medi- 
terrane Einschlüsse.     Der  Golf  von  Suez  bestand 
demnach    vor    dem    Roten    Meer;    wären    beide 
gleichzeitig  vorhanden  gewesen,    müßte  sich  eine 
mediterrane   indische    Mischfauna    finden.      Durch 
Gebirgsbewegungen,    die    im   Miozän    die    Trans- 
gressionen    im    Suezgolf    ermöglichten,     drangen 
Basalte  empor.      Sie    haben    die  eozänen  Mergel- 
kalke   kontaktmetamorph    verändert.       Mit    dem 
Pliozän  beginnt   eine  Hebung   des  Landes,   ausge- 
nommen    vielleicht     in     seinen    tiefsten    Partien. 
Denudation  und  Erosion  setzen  ein  und  verarbeiten 
obermiozäne    Ablagerungen.      Die    Hebung     des 
Festlandes  wird  begründet  durch  eine  erste  Phase 
der   syrisch-arabischen  Gebirgsbewegungen.     Eine 
zweite  Phase  syrisch- arabischer  Bewegungen  setzt 
im  oberen  Pliozän  ein.   Sie  bedingen  Einsenkungen 
des  Landes  im  Suez-  und  Akabagebiet.    Es  kommt 
zu  Brüchen  und    zwar  Hauptbrüchen    und    sekun- 
dären Bruchsystemen,  die  zur  heutigen  Begrenzung 
der  Gräben  der  Golfe  von  Suez  und  Akaba  führen. 
Um  diese  Zeit,   an  der  Wende  Pliozän-Pleistozän, 
entstand   auch  das  Rote  Meer   und   der  Persische 
Meerbusen  als  Buchten  des  Indischen  Ozeans.    Der 
Indische  Ozean    trat   in   diese   neuen  Hohlformen 
ein  und  im  Roten  Meer  mischte  sich  seine  Fauna 
vorübergehend    mit    einer    miozänen    Mediterran- 
fauna,    die   sich   hier  in  Resten   von  Reliktenseen 
der  ehemaligen  Miozänmeeresbucht  gehalten  hatte. 
Ehe  die  oben  erwähnten  sekundären  Brüche  aber 
eintraten,  senkte  sich  erneut  das  Land;  das  Rote 
Meer  trat  in  die  Depression  ein  und  setzte  Strand- 
ablagerungen mit  erythräischen  Formen  ab.    Nach 
diesen  Bildungen  kam  es  zu  den  großen  Brüchen. 
Es  entstanden  in  ihrer  heutigen  Form  die  Gräben 
des  Golfes  von  Suez  und  im  spitzen  Winkel  dazu 
des   Golfes   von  Akaba.     Durch   das   Zusammen- 
treffen des  erythräischen  mit  dem  syrischen  Bruch- 
systeme   erhielt    die    Sinaihalbinsel    ihre    heutige 
charakteristische  dreieckige  Gestalt.     Es  sind  also 
Brüche,  die  das  Rote  Meer  bildeten,  älter  als  jene, 
die  die  heutigen  Golfe   von  Suez  und  Akaba  be- 
grenzen.    Für  Bewegungen  von  weiterem  Pleisto- 
zän   sprechen  die  Korallenriffe.     Teile   der  Halb- 
insel wurden  unter  Wasser  gesetzt  und  es  konnten 


')  Blanckenhorn,  Handbuch.  Syrien ,  Arabien  usw. 
1914,  S.  49.  Hier  auch  eine  ausgezeichnete  Zusammenfassung 
der  tektonischen  Verhältnisse  im  Roten  Meergebiet  und  Syrien. 


sich  pleistozäne  bis  rezente  Gerolle,  Konglomerate 
und  Sande  bilden. 


Literaturverzeichnis. 

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26.  —  — ,   Sur    la  Geologie  du  Sinai  oriental.     Compte- 


N.  F.  XX.  Nr. 

I 

+ 

Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 

219 

Tabelle    zum    Aufbau    der    Sinaihalbinsel. 

SW-Teil 

SO-Teil 

Isthmuswüste 

Pleistozäne    und    re- 
zente Ablagerungen. 


Pleistozän. 


Im  Norden:    Gerolle,  Sand,  Mer- 
gel, Ton,  Süßwasserbild. 
Im  Süden:  Sandstein  und   Kiese. 


Pliozän. 


Älteres  fossiles  Riff. 

Fungia     tenuifolia , 
Savignyi. 
Jüngeres  fossiles  Riff. 

Hussa  corymbosa. 


ca.   10  ra. 
Ple.xastraea 

3—6  m. 


KieselgeröUe,    manganhaltige  Ge-  Alluviale      Tonablagerungen      des 

rolle,  oolithische  Bildungen,  durch  Sirbonischen  Sees. 

Kalke     und    Travertin     verkittetes  Sanddünen,    Lößartige  Bildungen. 
Geröllmaterial,  Travertin. 


Wie  im  SW-Teil. 


Kalksteine  und  sandige  Kalke. 


Mürbe  sandige  Kalke   mit   einge- 
lagerten muschelreichen  Schichten. 


Miozän. 


Unteres     und     mittleres     Miozän. 
Kalksteine,  Mergel,  Sandstein. 
Pecten  cristatocristatus. 


Mittleres  Miozän. 
Ostrea  Virleti. 


Austernbänke. 


Eozän. 


Oberes  Eozän:  Kalke,  Mergel- 
kalke mit  Flintbänken,  Mergel. 
Viel  Nummuliten. 

Mittleres  Eozän :  (Parisien),  weiße, 
kreideartige  Kalksteine ,  Nummu- 
lites  Gizehensis. 

Unteres  Eozän :  (Londonstufe). 
Kalksteine,  kreidiger  Kalk,  Nummu- 
lites  Ramondi,  Operculina  com-; 
planata. 


SenoD. 


Kalksteine,  kreideartigerKalkstein,) 
,  Schieferton,  Sand.  Fossilien  selten.' 
'  Gryphaea  vesicularis. 


Cenoman-Turon. 


Vraconnien. 


Untere  Kreide. 


Kalke    und    Mergel. 
I  Austern-Seeigelfazies. 


Fossilreich, 


Wie  im 'SW-Teil. 


Nubiscber  Sandstein. 


Nubischer  Sandstein 


Malm. 


Dogger. 


Karbon. 


Oberer  rotbrauner  Sandstein. 
Kalkstein ,  dolomitisiert ,  kri- 
stallin oder  ockrig-merglig; 
Orthis  Michelini,  Streptorhyn- 
cbus,  Lepidodendron  Mosai- 
cum. 
An  der  Basis  Eisen-,  Mangan- 

und  Kupfererze. 
Unterer  Sandstein,  Wüstensand- 
stein. 


Feste  Nummulitenkalke. 
Kalkstein. 


Mürber 


Weiße  Schreibkreide  mit  Kiesel- 
knollen ,  Kalkstein ,  Schieferton. 
Fossilien  selten.   Ostrea  acutirostris. 


Kalke,  Mergel. 
Cen.-Tur.-Typen :  Rudisten.Chon- 
drodonta. 
I      Cen.-Typen  :  Austern  und  Seeigel. 

Eisenschüssige  Kalksteine,    Kalke 
mit  Eiseneolithen. 
I      Puzosia  Denisoniana,    Trigonien. 


Nubischer  Sandstein. 

Petrographisch  wie  im  Dogger. 
Kim.:    Isocardia  ostriata,    Tere- 

bratula  bisuffarcinata. 
Korallenfazies  des  Oxfordien  bis 

Kimmeridgien. 
Oxf.:  Pholadomya,  Rhynchonella. 
Oxf.  -  Call. :     Grenzschichten    im 

lithographischen  Schiefer. 


Gelbliche  Kalksteine  und  Mergel. 
Call. ;  Reineckia  anceps. 
Bath.:   Oppelia  fusca. 
Bajoc:  Coeloceras  Humphriesi. 
Basisscbichten.     Kalkstein,  Mer- 
gel, Sandstein. 


Grundgebirge. 


220 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   14 


Rendu    du    Congres  Geologique    International    Vllle    Session. 
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Einzelberichte. 


Zur  Biologie  der  Wüstenpflanzen. 

Svante  Murbeck  hat  jüngst  zwei  Abhand- 
lungen veröffentlicht,  in  denen  er  nachweist,  daß 
in  der  algerischen  und  tunesischen  Sahara  die  in 
Gegenden  mit  zusammenhängender  Pflanzendecke 
so  verbreiteten  Einrichtungen  zur  Samenverbrei- 
tung sehr  zurücktreten,  während  Organisations- 
erscheinungen, die  der  weiteren  Verbreitung  ent- 
gegenwirken, verhältnismäßig  häufig  sind.  In 
diesen  Gegenden  mit  lange  dauernder  Regenlosig- 
keit,  wo  der  Kampf  ums  Dasein  auf  dem  spärlich 
bewachsenen  Boden  weniger  heftig  ist,  erscheint 
es  von  besonderer  Bedeutung,  daß  die  Pflanzen  ihre 
Samen  rasch  unter  die  Bodenoberfläche  bringen 
oder  wenigstens  genügend  an  ihr  befestigen  kön- 
nen, anstatt  daß  diese  zum  Spiel  der  Winde  wer- 
den und  an  Stellen  mit  ungünstigen  Keimungs- 
bedingungen gelangen. 

Eine  der  Einrichtungen,  die  zur  „Verankerung" 
der  Früchte  und  Samen  dienen,  ist  die  bei  Wasser- 
zutritt erfolgende  Absonderung  von  Schleim 
aus  der  Samenschale  oder  der  Fruchtwand.  Von 
906  untersuchten  Arten  des  nordwestafrikanischen 
Florengebietes  waren  332,  also  36,6  "/p  durch 
solche  Schleimabsonderungen  ausgezeichnet.  In 
Skandinavien  fand  Murbeck  dagegen  unter  360 
nur  50,    also   13,9  7o  derartige  Pflanzen  innerhalb 


der  gleichen  14  Familien,  unter  denen  die  Cruci- 
feren,  die  Labiaten  und  die  Gramineen  in  erster 
Reihe  stehen.  Für  die  Gesamtzahl  der  Phanero- 
gamen  berechnet  er  den  Prozentsatz  der  schleim- 
absondernden Arten  in  Nordwestafrika  auf  1 1,1  "!„, 
in  Skandinavien  auf  3,1  "/q.  Vergleicht  man  die 
nordwestafrikanischen  Arten,  die  nicht  außerhalb 
des  eigentlichen  Küstengebiets  auftreten,  mit  der 
skandinavischen  Wiesen-  und  Waldflora,  so  wird 
der  Unterschied  noch  auffälliger:  dort  19,5  "/oi 
hier  weniger  als  I  */,  schleimabsondernder  Pflan- 
zen. Die  Auffassung,  daß  der  Schleim  als  Ver- 
breitungsmittel diene,  indem  die  Samen  oder 
Früchte  dadurch  an  Gegenstände  angeklebt  und 
mit  ihnen  verschleppt  werden,  lehnt  Verf.  mit 
guten  Gründen  ab,  und  die  angebliche  Bedeutung 
des  Schleims  als  Wasserspeicher  für  die  keimende 
Pflanze  widerlegt  er  durch  den  experimentellen 
Nachweis,  daß  bei  20  von  38  Arten,  die  unter- 
sucht werden,  der  Schleim  im  Zimmer  bei  50  bis 
75  "/o  relativer  Luftfeuchtigkeit  in  weniger  als 
einer  Stunde  sein  ganzes  Wasser  abgibt.  Nur  bei 
zwei  mit  ungewöhnlich  großen  Früchten  und  ge- 
waltigen Schleimmassen  ausgerüsteten  Arten 
(Chrysanthemum  macrocarpum  und  Hertia  cheiri- 
folia)  dauerte  dies  5  und  5^/3  Stunden.  Bedenkt 
man,  daß  in  Wüstengebieten  der  Wassergehalt  der 
Luft  noch  geringer  ist  als  bei  den  angestellten  Ver- 


N.  F.  XX.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


221 


suchen,  so  kann  von  einer  irgendwie  wesentlichen 
Rolle  des  Schleims  als  Wasserspeicher  nicht  die 
Rede  sein;  auch  wäre  es  hierfür  zweckmäßiger, 
wenn  der  Schleim  nicht  aus  dem  Samen  heraus- 
treten, sondern  innerhalb  seiner  Hüllen  bliebe. 

Dagegen  ist  leicht  nachzuweisen,  daß  Früchte 
oder  Samen,  die  bei  Wasserzutritt  Schleim  ab- 
sondern, nach  Eintrocknen  der  Schleimmassen 
mit  großer  Kraft  an  der  Unterlage  (Filtrierpapier, 
Objektträger,  Erde  eines  Blumentopfes)  festgehalten 
werden.  In  der  Natur  werden  so  die  Samen  schon 
nach  dem  ersten  Regenschauer,  selbst  wenn  er 
von  ganz  kurzer  Dauer  ist,  an  der  Unterlage  ver- 
ankert. Dieselbe  Wirkung  hat  auch  reichliche 
Taubildung.  Ferner  haften  lose  Bodenteilchen  an 
dem  Schleimklumpen  fest,  und  nach  dem  Ein- 
trocknen ist  der  Same  ganz  von  ihnen  umgeben. 
Die  Befestigung  des  Samens  am  Boden  erleichtert 
der  Radikula  das  Eindringen  in  diesen  und  er- 
möglicht weiterhin  das  Hinausschieben  der  Keim- 
blätter aus  den  Samenhüllen. 

Damit  die  Wirkung  des  Schleimes  zur  Geltung 
kommt,  müssen  die  Samen  vor  Eintritt  der  som- 
merlichen Trockenperiode  reifen  und  zu  Boden 
fallen,  was  in  den  meisten  Fällen  auch  zutrifft. 
Einige  Arten  blühen  so  spät,  daß  die  Früchte  erst 
gegen  Anfang  des  Winters  reifen;  andere  entlassen 
die  von  Mai  bis  Juni  gereiften  Früchte  erst  nach 
Ende  der  Trockenheit,  und  bei  einer  dritten  Gruppe 
öffnen  sich  die  Früchte  erst  bei  reichlicherem  oder 
mehr  anhaltendem  Niederschlag,  auch  wenn  dieser 
jahrelang  auf  sich  warten  läßt  (Hygrochasie,  z.  B. 
bei  der  Jerichorose). 

Versuche  mit  Samen  von  50  Arten  des  Wüsten- 
gebiets (Herbarmaterial)  zeigten,  daß  die  Keimung, 
wie  es  den  Erfordernissen  des  Klimas  entspricht, 
zumeist  schon  bald  nach  dem  Wasserzutrilt  er- 
folgt. Bei  7  Arten  hatte  ein  kleinerer  Teil  Samen 
schon  nach  24  Stunden  gekeimt,  bei  3 1  (62  "j^) 
nach  48  Stunden;  bei  44  (88,,/")  war  Keimung 
vor  dem  Ablauf  von  72  Stunden  erfolgt.  Nach 
den  Ergebnissen  von  Versuchen  Murbecks 
und  älteren  Untersuchungen  von  Astrid  Cleve  mit 
insgesamt  72  skandinavischen  Arten  trat  nur  bei 
5,6  */(,  dieser  Arten  Keimung  am  Ende  des  dritten 
Tages  ein;  auch  hatten  bei  zwei  Dritteln  der 
Arten  Cleves  nach  10  Tagen  überhaupt  noch  keine 
Samen  gekeimt,  während  alle  nordafrikanischen 
Arten,  deren  Samen  sich  überhaupt  keimfähig  er- 
wiesen, mit  einer  Ausnahme  im  Laufe  von 
höchstens  10  Tagen  zu  keimen  angefangen  hatten. 
Diese  Ziffern  lassen  erkennen,  wie  die  Wüsten- 
pflanzen in  besonderem  Maße  auf  die  rasche  Aus- 
nutzung der  oft  nur  kurzdauernden  Niederschläge 
eingestellt  sind. 

Eine  weitere  bei  Wüstenpflanzen  sehr  häufige 
Erscheinung,  die  Murbeck  Synaptospermie 
genannt  hat,  wirkt  mindestens  der  Einzelver- 
breitung der  Samen  entgegen.  Sie  besteht  darin, 
daß  Samen  oder  einsamige  Früchte  beim  Abfallen 
portionsweise  zusammengehalten  werden  und 
noch  bei  der  Keimung  fest  miteinander  verbunden 


sind.  Die  verkoppelten  Samen  können  ein  und 
derselben  Blüte  oder  mehreren  Blüten  angehören. 
Bezüglich  der  Einzelheiten  muß  auf  die  Abhand- 
lung (IIj  selbst  verwiesen  werden.  Der  Verf.  führt 
aus,  daß  das  nordafrikanische  und  orientalische 
Wüsten-  und  Steppengebiet  beim  Vergleich  mit 
dem  baltischen  und  subarktischen  Europa  in  hohem 
Grade  durch  seinen  Reichtum  an  synaptospermen 
Pflanzenarten  ausgezeichnet  ist,  sowie  daß  die 
Synaptospermie  höchstwahrscheinlich  auch  für 
andere  Florengebiete  mit  trockenem  und  warmem 
Klima  mehr  oder  minder  kennzeichnend  ist  und 
vielleicht  bloß  innerhalb  solcher  eine  bedeutendere 
Rolle  spielt.  Ein  Nutzen  der  Einrichtung  besteht 
darin,  daß  die  Samen  besser  vor  Austrocknung 
geschützt  sind,  wofür  Verf.  experimentelle  Belege 
beibringt.  Außerdem  sind  die  Koppeln  oft  sehr 
geeignet,  die  Verankerung  an  der  Unterlage  zu 
befördern.  Dem  Vorteil  der  raschen  Verankerung 
tritt  aber  als  Nachteil  die  Schwächung  der  Ent- 
wicklung der  einzelnen  so  nahe  beieinander  auf- 
wachsenden Pflanzen  aus  einer  Koppel  entgegen. 
Andererseits  sind  bei  etwa  60  %  der  synaptospermen 
Arten  die  Koppeln  mit  Einrichtungen  zur  Ver- 
breitung durch  Tiere  oder  den  Wind  versehen. 
Eine  bestimmte  und  allgemeiner  gültige  biologische 
Aufgabe  der  Synaptospermie  ist  nicht  anzugeben. 
(Sv.  Murbeck,  Beiträge  zur  Biologie  der  Wüsten- 
pflanzen I,  36  S.  (19 19)  und  II,  52  S.  (1920). 
Lund  und  Leipzig  (Otto  Harassowitz).  Aus: 
Lunds  Universitets  Ärsskrift,  N.  F.  Avd.  2.  Bd.  15, 
Nr.  10  und  Bd.  17,  Nr.  i.  Kungl.  Fysiografiska 
Sällskapets  Handlingar  N.  F.  Bd.  30,  Nr.  lO  und 
Bd.  32,  Nr.   I.)  F.  Moewes. 

Über  das  Wesen  und  die  Entstehung 
diastatischer  Fermente. 

Viele  Fermente  (vielleicht  alle)  entfalten  ihre 
Wirksamkeit  erst,  wenn  sie  durch  ein  „Koferment" 
(Komplement)  aktiviert  werden.  So  wirkt  z.  B. 
das  Pepsin  des  Magensaftes  nur  in  Gegenwart 
von  etwa  0,3  %  Salzsäure.  Für  die  Diastase  des 
Mundspeichels  und  des  Bauchspeichels  ist  bisher 
die  Notwendigkeit  eines  Kofermentes  nicht  be- 
kannt gewesen;  doch  weiß  man  seit  langem,  daß 
gewisse  Neutralsalze  die  Wirksamkeit  der  Diastase 
wesentlich  steigern.  Es  wurde  auch  vermutet,  daß 
die  diastatischen  Fermente  in  absolut  salzfreier 
Lösung  völlig  unwirksam  seien.  Da  durch  Dia- 
lyse die  Salze  einer  Diastaselösung  kaum  restlos 
entfernt  werden  können,  so  war  es  ungewiß,  ob 
wirklich  Salze  als  Kofermente  zur  Aktivierung  von 
Diastase  zu  betrachten  sind. 

Nun  hat  W.  Biedermann  durch  eine  neue 
Methode  äußerst  salzarme  Diastase  hergestellt  und 
hat  an  dieser  die  Einwirkung  der  verschiedensten 
Salze  untersucht.  Biedermann  ließ  in  einem 
Reagenzglas  Speichel,  der  auch  verdünnt  sein 
konnte,  mehrere  Stunden  stehen.  Nach  der  Ent- 
leerung des. Speichels  wurde  das  Reagenzglas  mit 
absolut  salzfreiem  Wasser,    welches   aus  silbernen 


222 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX..  Nr.  14 


Gefäßen  destilliert  war,  2-  bis  3  mal  ausgespült. 
Die  Glaswand  hat  dann  noch  soviel  diastatische 
Fermente  absorbiert,  daß  in  das  Reagenzglas  ein- 
gefüllte „Stärkelösung"  bei  Anwesenheit  der  er- 
forderlichen Salze  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit 
(V2  —  i'^)  gespalten  wird.  Für  die  Stärkelösung 
ist  unbedingt  die  Amylose  der  Stärkekörner  er- 
forderlich, während  das  Stroma  der  Stärkekörner, 
das  Amylopektin,  ungeeignet  ist.  Amylose  bildet 
mit  heißem  Wasser  dünnflüssige  völlig  klare  Schein- 
lösungen, welche  durch  Jod  rein  blau  gefäibt 
werden,  während  Amylopektin  durch  Jod  violett, 
"bei  einem  Jodüberschuß  kastanienbraun  wird. 
„Eine  reine,  wasserklare  Amyloselösung,  wie  sie 
für  alle  im  folgenden  zu  erwähnenden  Versuche 
unbedingt  erforderlich  ist,  verschafft  man  sich  am 
besten  durch  Erhitzen  von  i  g  Weizen-  oder 
Kartoffelstärke  mit  100  ccm  destilliertem  Wasser 
im  Wasserbad  auf  nur  80*  C  und  Absetzenlassen 
der  vorwiegend  aus  Amylopektin  bestehenden 
Stromata."  i) 

Die  Reingewinnung  von  Diastase  aus  der 
fermentbeladenen  Reagenzglaswand  ist  bis  jetzt 
nicht  gelungen;  wahrscheinlich  handelt  es  sich 
immer  nur  um  außerordentlich  kleine  Mengen 
Substanz,  die  am  Glase  haften  bleiben. 

In  einem  mit  Speicheldiastase  beladenen  Reagenz- 
glas wird  eine  reine  Amyloselösung  auch  bei 
höherer  Temperatur  (40")  entweder  gar  nicht  oder 
erst  nach  vielen  Stunden  sehr  langsam  gespalten. 
Daher  läßt  sich  leicht  nachweisen,  daß  die  Speichel- 
diastase wie  auch  die  pflanzliche  Diastase  nur 
durch  gewisse  Salze  aktiviert  wird  und  nur  bei 
deren  Anwesenheit  die  Stärkelösung  hydrolytisch 
spaltet.  Auch  die  aktivierende  Wirkung  ver- 
schiedener Salze  (Ionen)  läßt  sich  leicht  verglei- 
chend prüfen.  Die  Konzentration  der  Salzlösungen 
ist  wenig  von  Bedeutung;  Spuren  der  Salze  ge- 
nügen und  erst  Konzentrationen  über  5  '^/^  wirken 
hemmend. 

Biedermann  stellte  fest,  daß  die  neutralen 
Salze  (anorganische  wie  organische)  der  Leicht- 
metalle als  Kofermente  der  Diastase  wirken.  Am 
besten  wird  die  Stärke  spaltende  Fähigkeit  der 
Diastase  durch  Chloride  und  vor  allem  durch  das 
Kochsalz  NaCl  erregt,  außerdem  gleich  kräftig 
nur  durch  das  Rhodankahum  KCNS,  das  sich  auch 
als  normaler  Bestandteil  im  Speichel  vorfindet. 
An  2.  Stelle  stehen  KCl,  KBr,  NaBr  und  NH.Cl, 
an  3.  Stelle  die  Chloride  von  Ca,  Mg,  Sr  und  Ba. 
Schließlich  folgen  die  Nitrate,  die  Jodide  und  end- 
lich die  Sulfate,  welche  die  geringste  aktivierende 
Wirksamkeit  auf  die  Diastase  haben.  Die  beste 
Wirksamkeit  entfaltet  die  Diastase  nur  in  völlig 
neutralen  Salzlösungen.  Die  geringsten  Spuren 
einer  freien  Säure  oder  Base  hemmen  die  Diastase- 
wirkung   und   zerstören    schließlich    das    Ferment. 

Auffallig  ist  nun,  daß  sauer  oder  alkalisch  rea- 
gierende Salze  recht  gute  Aktivatoren  sein  kön- 
nen.    So  wirken   saures  Natriumzitrat   und    sauer 


reagierende  primäre  Alkaliphosphate  bis  zu  einer 
Konzentration  von  0,3  "/o  aktivierend  auf  salzfreie 
Diastase.  Schwach  alkalisch  reagierende  NaHCOg 
und  die  sekundären  Phosphate  (diese  noch  in  i  proz. 
Lösung)  befähigen  die  Diastase  zur  hydrolytischen 
Stärkespaltung.  „Ein  neutrales  Gemisch  von  Phos- 
phaten entspricht  hinsichtlich  seiner  aktivierenden 
Kraft  dem  Kochsalz  als  dem  bestwirkenden 
Chlorid."  Setzt  man  zu  einem  neutralen  Phos- 
phatgemisch noch  Spuren  Kochsalz,  so  erhält  man 
Diastasepräparate  von  stärkster  Wirksamkeit, 
welche  sogar  die  reine  Kochsalzdiastase  weit  über- 
treffen. Ebenso  wird  die  aktivierende  Wirkung 
des  Kochsalzes  auf  Diastase  durch  kleine  Zusätze 
von  Na2HP04  nicht  nur  nicht  vermindert,  sondern 
beträchtlich  verstärkt.  Diese  Ergebnisse  gelten 
für  die  Speicheldiastase  ebenso  wie  für  die  pflanz- 
liche Malzdiastase.  Aus  all  den  einzelnen  Ver- 
suchen zieht  Biedermann  folgenden  Schluß: 
„Der  gemischte  menschliche  Mundspeichel  stellt 
eineDiastaselösungdar,  deren  bei  neutraler  Reaktion 
oft  erstaunliche  Wirksamkeit  im  wesentlichen  von 
der  Zusammensetzung  des  anorganischen  Komple- 
ments (Kofermentes)  abhängig  ist." 

Weiter  hat  Biedermann  eine  Reihe  wichtig- 
ster und  grundlegender  Versuche  über  die  Natur 
und  die  Entstehung  des  Diastaseferments  ausge- 
führt. Schließlich  ist  es  ihm  sogar  gelungen  „in 
einer  absolut  fermentfreien  Amyloselösung  die 
noch  immer  so  rätselhafte  Substanz  zu  bilden  oder 
entstehen  zu  lassen,  die  wir  Diastase  nennen." 

Bereits  im  Jahre  1914  fand  Biedermann, 
daß  die  diastatische  Kraft  seines  Speichels  selbst 
durch  anhaltendes  Kochen  nicht  völlig  zerstört 
werden  kann ;  die  Hydrolyse  der  Stärkelösungen 
wurde  durch  gekochten  Speichel  zwar  stark  ver- 
zögert, aber  durchaus  nicht  gänzlich  aufgehoben. 
„Ein  Rest  diastatischer  Kraft,  der  unaustilgbar 
schien,  blieb  immer  erhalten."  Bisher  hatte  man 
es  charakteristisch  für  alle  Fermente  gehalten,  daß 
sie  durch  Kochen  in  wässeriger  Lösung  zerstört 
werden.  Es  entsteht  daher  die  äußerst  wichtige 
Frage,  ob  die  Fortdauer  der  schwachen  diasta- 
tischen Kraft  des  gekochten  Speichels  durch  einen 
kochfesten  Rest  des  Ferments  hervorgerufen  wird 
oder  ob  etwa  durch  die  Salze  im  Speichel  eine 
Neubildung  von  diastatischem  Ferment  aus  der 
Stärkelösung,  der  Amylose,  erfolgt. 

Letzteres  ist  der  Fall,  denn  Biedermann 
konnte  zeigen,  daß  auch  eine  wässerige  Lösung 
von  Speichelasche ')  die  Amylose  bei  längerer 
Einwirkung  hydrolytisch  spalten  kann.  Speichel- 
asche in  Wasser  stellt  eine  Lösung  geglühter  an- 
organischer Salze  dar.  Vom  chemischen  Stand- 
punkt aus  ist  es  höchst  unwahrscheinlich,  daß 
diese  anorganischen  Salze  an  sich  die  Stärke 
spalten.  Biedermann  lieferte  aber  auch  den 
zwingenden  Beweis,  daß  die  anorganischen  Salze 
eine  Neubildung  von  Diastase  bewirken.  Erstlich 
nimmt   die   diastatische   Wirksamkeit   von   Koch- 


')  Münchener  med.  Wochenschrift  S.    1429  (1920). 


')  Die  Lösungen  müssen    immer  vollständig  neutral  sein. 


N.  F.  XX.  Nr.  14 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


223 


Speichel  oder  Speichelaschelösung  erheblich  zu, 
wenn  wiederholt  Stärke  (Amylose)  zugesetzt  wird. 
Das  ist  nur  möglich,  wenn  jedesmal  bei  der 
Spaltung  der  Stärke  eine  gewisse  Menge  Ferment 
neu  gebildet  wird.  Nur  so  kann  die  Zunahme 
der  Hydrolysegeschwindigkeit  erklärt  werden,  da 
der  wiederholte  Zusatz  von  Amyloselösung  sogar 
eine  Verringerung  der  Salzkonzentration  bewirkt. 
Zweitens  geht  die  neu  gewonnene  diastatische 
Kraft  einer  Speichelasche-Amyloselösung  sofort 
verloren,  wenn  die  Lösung  auch  nur  ganz  kurze 
Zeit  gekocht  wird.  Da  die  anorganischen  Salze 
hierbei  unverändert  bleiben,  muß  aus  der  Stärke 
neue  Diastase  entstanden  sein,  die  beim  Kochen 
zerstört  wurde. 

Wenn  diese  Versuche  mit  gewöhnlichem,  hoch- 
verdünntem Speichel  (i :  1000  bis  i :  2000)  ange- 
stellt werden,  findet  man  die  gleichen  Ergebnisse. 
„Man  muß  also  schließen,  daß  bei  jeder  fermen- 
tativen  Stärkespaltung  auch  Ferment  neugebildet 
wird." 

Statt  mit  Speichelasche  kann  die  Neubildung 
von  Diastase  in  Amyloselösungen  noch  besonders 
durch  diejenigen  Salze  oder  Salzgemische  bewirkt 
werden,  welche  die  salzfreie  unwirksame  Diastase 
zu  aktivieren  vermögen.  Am  besten  regen  auch 
hier  neutrale  Phosphatmischungen  mit  reinen 
Chloriden  die  Entstehung  des  diastatischen  Fer- 
mentes aus  der  Stärke  an. 

Es  wurde  schließlich  die  Vermutung  ausge- 
sprochen, daß  es  sich  bei  der  hydrolytischen 
Spaltung  von  Stärke  durch  Speichelasche  oder  an- 
organische Salze  gar  nicht  um  die  Wirkung  von 
neu  gebildetem  Ferment  handelt,  sondern  daß 
einfach  Spuren  von  salzfreiem  Ferment,  welche 
den  Stärkekörnern  von  vornherein  anhaften  könnten, 
aktiviert  werden.  Nun  hat  aber  Biedermann 
auch  Versuche  mit  Amylosepräparaten  angestellt, 
welche  nach  Bütschlis  Verfahren  durch  Be- 
handlung von  Rohstärke  mit  konzentrierter  Salz- 
säure, Fällen  mit  Alkohol  und  Wiederauflösen  in 
Wasser  gewonnen  wurden.  Dabei  wird  natürlich 
jede  Spur  etwa  anhaftenden  Ferments  zerstört 
und  doch  waren  die  Ergebnisse  genau  die  gleichen 
wie  mit  den  anderen  Amyloselösungen. 

Es  scheint  also  nach  Biedermanns  Unter- 
suchungen völlig  festzustehen,  daß  die  diastatischen 
Fermente  durchaus  nicht  eiweißähnliche  Ver- 
bindungen sind,  sondern  daß  sie  ihrer  chemischen 
Natur  nach  eher  der  Stärke  selbst  nahestehen. 
„Alle  weiteren  Bestrebungen  müssen  nun  darauf 
gerichtet  sein,  die  vermutlich  organische  Kompo- 
nente der  Diastasen  näher  kennen  zu  lernen." 

(Alle  Arbeiten  Biedermanns  erschienen  in 
der  Zeitschrift  „Fermentforschung",  ein  zusammen- 
fassender Bericht  von  Biedermann  in  der 
Münchener  med.  Wochenschrift  S.  1429 — 1431 
(1920).)  Karl  Kuhn. 


Die   kurzohrige   Erdmaus,   Microtus  subter- 
raneus  Selys. 

Die  kurzohrige  Erdmaus,  Microtus  subterraneus 
Selys,    ist  aus  Deutschland   bisher   nur  wenig  be- 
kannt   geworden    und    fehlt    daher    auch   in   den 
meisten    Säugerfaunen.     Für  Sachsen    nennen    sie 
1855    nur  Dehne,*)    der   die  Art   wiederholt   in 
der  Lößnitz  bei  Dresden  gefangen  hat,  und  1857 
Blasius-)  aus  dem  sächsischen  Vogtland.    Seit- 
dem lagen  aus  dem  Lande  Nachrichten  über  das 
Tier  nicht  mehr  vor.    Im  Herbst  19 16  nun  erhielt 
ich    ein   Exemplar    der  Maus    aus    der  Muldenaue 
bei  Rochlitz  in  Sachsen,  das  ich,  da  es  mir  lebend 
gebracht  wurde,  auch  einige  Zeit  in  der  Gefangen- 
schaft   halten   und   beobachten   konnte   und  über 
dessen  Gefangenleben  ich  an  anderer  Stelle ")  aus- 
führlicher   berichte.      Die  Maus   unterschied    sich 
auf  den  ersten  Blick  von  ihren  übrigen  deutschen 
Verwandten  (die  Überbringer,  Knaben  eines  Land- 
mannes,   bezeichneten   sie   schon   „als   eine   ganz 
andere   Maus");    ihr   gedrungener   Körperbau,    die 
mehr  als  bei   anderen  Arvicoliden   im  Pelze   ver- 
steckten Ohren   und  vor  allem  die  ungewöhnlich 
kleinen,    nur   stecknadelkopfgroßen  Augen    sagten 
mir  sofort,  daß  ich  eine  mir  bis  dahin  noch  nicht 
vorgekommene    Art   vor    mir   hatte.      Dazu   kam 
noch    ein    von    allen    anderen  Mäusen    stark   ab- 
weichendes  Verhalten:    auf  jedes    Berühren    ant- 
wortete die  Maus  mit  einem   zornigen,   fiependen 
Fauchen,   das   lebhaft   an   das  des  Siebenschläfers 
erinnerte,  und  suchte  sich  seiner  noch  dadurch  zu 
erwehren,    daß    sie    sich   auf  die  Seite   oder  den 
Rücken  warf  und,    etwa    nach  Art  der  ganz  ähn- 
lichen Abwehrmaßnahmen  junger  Raubvögel,  mit 
den  Füßen  wütend  um  sich  stieß.    Nur  mehr  aus- 
nahmsweise   machte   sie    einmal    auch    von    ihren 
Zähnen  Gebrauch    und  biß  in  die  sie  berührende 
Hand. 

In  der  Gefangenschaft  lebte  sie  mit  einer 
Arvicola  arvalis  zusammen  und  teilte  mit  dieser 
einträchtig  das  Lager  im  Moos.  Nur  am  Futter 
bekundete  sie  ihrer  Käfiggenossin  gegenüber  ihre 
Unleidlichkeit  durch  ihr  fiependes  Fauchen,  durch 
heftiges  Stoßen  mit  den  Hinterbeinen  und  selbst 
durch  ein  Fortbeißen  der  Mitkostgängerin.  Nach 
etwa  einhalbmonatiger  Gefangenschaft  lockerte 
sich  die  bis  dahin  aber  sonst  vorhanden  gewesene 
Eintracht  zwischen  den  beiden  Tieren,  die  Micro- 
tus wurde  ihrer  Genossin  gegenüber  immer  un- 
verträglicher, bis  nach  fast  vierwöchiger  gemein- 
samer Gefangenschaft  die  Feldmaus  tot  und  von 
der  Microtus  am  Bauche  angefressen  im  Lager 
lag.  —  Auffallend  an  dem  Tiere  war  seine  große 
Freßgier ;  hatte  die  Maus  eben  erst  eine  Mahlzeit 
beendet  und  sich  sattgefressen,  so  erschien  sie 
doch  sofort  wieder  auf  der  Bildfläche,  wenn  man 


')    AUgem.    deutsche    Naturhistor.    Ztg.,    N.   F.    I,    1855 

S.  178—179. 

2)   Naturgeschichte   der   Säugetiere   Deutschlands,    Braun- 
schweig 1857,  S.  387. 

")  Arch.  f.  Naturgeschichte  (im  Druck). 


224 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr. 


14 


neues  Futter  in  den  Käfig  brachte,  und  kostete 
zum  mindesten  den  neueingebrachten  Bissen.  Auf 
der  flachen  Hand  machte  sie  schon  unmittelbar 
nach  ihrer  Gefangennahme  nie  einen  Versuch,  zu 
entfliehen,  wenn  man  ihr  dabei  gleichzeitig  Futter 
darbot,  und  —  für  photographische  Zwecke  ins 
Freie  gebracht  —  benagte  sie  auch  hier  sofort 
mit  der  ihr  beim  Fressen  eigenen  Hast  Halm  um 
Halm  eines  kleinen  Grasbüschelchens,  ohne  einen 
ernstlichen  Versuch  zur  Flucht  zu  unternehmen. 
Besonders  fein  scheint  der  Geruchsinn  der  Maus 
entwickelt  zu  sein;  immer,  wenn  Futter  in  den 
Käfig  gebracht  wurde  (es  geschah  dies  in  dem 
dazu  bereits  einige  Zeit  vorher  geöffneten  Käfig 
versuchsweise  wiederholt  mit  einer  derartigen  Vor- 


sicht, daß  die  Wahrnehmung  des  hereingebrachten 
Futters  mit  einem  anderen  als  dem  Geruchsinn 
vollständig  ausgeschlossen  war)  kam  die  Maus  so- 
gleich aus  dem  Lager  hervor,  um  das  Futter  auf 
seine  Schmackhaftigkeit  zu  prüfen.  — 

Es  dürfte  sich  jedenfalls  lohnen,  wenn  man 
auf  die  Maus,  über  deren  Lebensweise  bisher  ja 
nur  ganz  spärliche  Beobachtungen  vorliegen  und 
die  ihren  Gattungsgenossen  gegenüber  so  auf- 
fallende Unterschiede  zeigt,  künftig  schärfer  achten 
und  besonders  auch  versuchen  wollte,  ihr  heute 
noch  recht  ungenügend  bekanntes  Vorkommen  in 
Deutschland  klarer  zu  legen. 

Rud.  Zimmermann,  Dresden. 


Bücherbesprechungen. 


Doflein,  F.,  Mazedonische  Ameisen.  Be- 
obachtungen über  ihre  Lebensweise.  74  Seiten 
mit  10  Abb.  im  Text  und  16  Abb.  auf  8  Tafeln. 
Jena  1920,  G.  Fischer.  14  M. 
Die  Dofleinsche  Schrift  bietet  nicht  allein 
dem  Ameisenforscher,  sondern  jedem,  der  für  das 
Insektenleben  Verständnis  und  Interesse  hat,  man- 
cherlei Bemerkenswertes,  sie  dürfte  in  verschiedener 
Hinsicht  zum  Nachdenken  anregen  und  zeigt  wie- 
derum, wie  viel  Unerforschtes  und  wie  viel  unge- 
löste Fragen  es  doch  immer  noch  in  der  Ameisen- 
kunde gibt,  trotz  der  ausgedehnten  Literatur, 
die  bereits  auf  diesem  Gebiete  vorhanden  ist.  In 
Mazedonien,  wo  der  Verf.  während  der  beiden 
letzten  Kriegsjahre  weilte,  spielt  sich  natürlich  das 
Ameisenleben  zum  Teil  recht  anders  als  bei  uns 
ab.  So  fehlen  die  in  unseren  Breiten  so  charakte- 
ristischen oberirdischen  Bauten,  die  „Ameisen- 
haufen" im  mazedonischen  Flachlande,  ja  selbst 
bis  zu  Höhen  von  1200  m  hinauf,  vollständig.  Die 
Ameisen  sind  dort  aus  klimatischen  Gründen  zu 
einer  rein  unterirdischen  Lebensweise  übergegangen, 
ein  Umstand,  der  wieder  für  die  erstaunliche  An- 
passungsfähigkeit dieser  Tierchen  spricht.  Unter 
den  von  D  o  f  1  ein  daselbst  gefundenen  46  ver- 
schiedenen Arten  und  Unterarten  sind  es  die 
Körnersammler  gewesen,  die  seine  Aufmerksam- 
keit besonders  in  Anspruch  nahmen  und  über 
deren  Lebensweise  uns  Genaueres  mitgeteilt  wird. 
Wir  erfahren,  wie  die  eigentümlichen  Ringwälle 
an  den  Nesteingängen  während  des  Frühjahrs 
entstehen,  wie  die  Abfallhaufen  zustande  kommen, 
und  welche  Rolle  die  Arbeiter  und  Soldaten  in 
den  Nestkolonien  spielen.  Schon  im  Altertum, 
ja  sogar  schon  zu  Salomos  Zeiten,  war  es  be- 
kannt,   dciß    die    Körnerameisen   Vorräte    in    ihre 


Nester  einschleppen,  über  deren  Aufspeicherung 
und  Behandlung  der  Autor  mancherlei  Beobach- 
tungen in  Mazedonien  anstellen  konnte.  Auch 
auf  das  „Mälzen"  der  eingetragenen  Samen  geht 
er  hierbei  ein  und  möchte  die  Möglichkeit  eines 
derartigen  Vorgangs,  der  mit  der  Behandlung  der 
Gerste  in  den  Bierbrauereien  verglichen  worden 
ist,  nicht  durchaus  in  Abrede  stellen,  trotzdem 
neuere  Autoren  Bedenken  dagegen  ausgesprochen 
haben.  Doflein  zufolge  ist  es  immerhin  denk- 
bar, daß  in  gewissen  Gegenden  die  Ameisen  be- 
stimmte Samenarten  mälzten,  während  sie  anders- 
wo bei  dem  Fehlen  der  betreffenden  Samen  ein 
abweichendes  Verhalten  zeigen  mögen.  Weitere 
Mitteilungen  beziehen  sich  auf  den  Jahresverlauf 
im  Nest  der  Körnerameisen,  auf  den  Hochzeitsflug 
und  die  Gründung  neuer  Kolonien,  sowie  auf  das 
Verhalten  der  Tiere  in  künstlichen  Nestern.  Die 
letzten  Abschnitte  behandeln  noch  die  durch  das 
Vorhandensein  einer  deutlich  ausgeprägten  Sol- 
datenkaste interessanten  und  im  ganzen  südlichen 
Europa  weitverbreiteten  Ameisenart  Pheidole  und 
bringen  endlich  Erörterungen  allgemeiner  Natur 
über  die  Biologie  und  Psychologie  der  vom  Verf 
untersuchten  Ameisenarten. 

Gewiß  kann  die  vorliegende  Schrift  auf  Voll- 
ständigkeit und  erschöpfende  Behandlung  der 
einzelnen  Fragen  keinen  Anspruch  erheben,  es 
handelt  sich  eben  um  eine  Reihe  von  Beobachtungen, 
die  von  Doflein  zum  Teil  unter  recht  erschweren- 
den äußeren  Umständen  gemacht  worden  sind, 
die  aber  jedenfalls  vielerlei  Beachtenswertes  ent- 
halten und  damit  hoffentlich  auch  wieder  zu 
weiteren  Forschungen  auf  dem  bezeichneten  Ge- 
biete anregen  werden. 

R.  Heymons. 


InliaH:  W.  Hoppe,  Aufbau  und  geologische  Geschichte  der  Sinaihalbinsel.  S.  209.  —  Einzelberichte:  Sv.  Murbeck, 
Zur  Biologie  der  Wüstenpflanzen.  S.  220.  W.  Biedermann,  Über  das  Wesen  und  die  Entstehung  diastatischer  Fer- 
mente. S.  221.  R.  Zimmermann,  Die  kurzohrige  Erdmaus,  Microtus  subterraneus  Selys.  S.  223.  —  Bücber- 
besprechungen :  F.  Doflein,  Mazedonische  Ameisen.  S.  224. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  gaoxen  Reihe  .^6.  Band. 


Sonntag,  den  lo.  April  1921. 


Nummer  15. 


Zur  Bildung  der  Braunkohlenflöze  und  Ökologisches  über  den 

Braunkohlenwald. 

Von  Dr.  R.  Potonie,  Assistent  a.  d.  Paläobotan.  Abteil,  der  Geolog.  Landesanstalt  Berlin. 


[tTachdiuck  verboten.] 


Mit  I  Textfigur. 


In  der  Naturw.  Wochenschr.  ist  im  Jahrgang 
1920  durch  W.  Nuß  zweimal  eine  beachtenswerte 
Arbeit  Teumers*)  gewürdigt  worden,  die  den 
ersten  Teil  des  durch  den  Titel  vorliegender  Ar- 
beit gekennzeichneten  Gegenstandes  berührt.-) 

Die  Fragen,  die  in  Teumers  Arbeit  und  in 
den  etwas  weitgehenden  Ausführungen  von  Nuß 
angeschnitten  worden  sind,  verdienen  es,  verfolgt 
zu  werden,  um  so  mehr,  als  sich  im  Zusammenhang 
damit  neueste  Forschungen  von  K raus el^)  be- 
trachten lassen,  die  die  Ökologie  des  Braunkohlen- 
waldes betreffen. 

Die  Charakterkoniferen  der  Braunkohlenwald- 
moore  waren  die  Sumpfzypresse,  Taxodium  disti- 
chum,  die  allgemein  als  so  gut  wie  identisch  mit 
der  lebenden  Art  behandelt  wird,  und  die  Schwester- 
art des  Mammutbaums  Sequoia  Langsdorfi,  deren 
Holz  als  TaxodioxylonSequoianum  bezeichnet  wird. 
Ihr  rezentes  Analogon  ist  die  Sequoia  sempervirens. 
Auch  die  Beziehungen  des  fossilen  Ahnen  der  Sequoia 
sempervirens  zu  dem  lebenden  Baum  sind  so  eng, 
daß  man  ebenfalls  eine  Identität  annehmen  muß. 
Unterschiede  lassen  sich  nicht  auffinden,  so  weder 
in  der  Belaubung,  noch  im  Holz,  noch  im  Bau 
des  Zapfens.  Es  ist  nun  außerordentlich  wertvoll, 
daß  es  gelungen  ist,  auf  Grund  besonderer  Merk- 
male das  Holz  der  genannten  beiden  Bäume  ana- 
tomisch zu  erkennen.  Das  Holz  von  Taxodium 
zeichnet  sich  durch  besonders  starke  Verdickung 
der  Querwände  der  Harzparenchymzellen  aus. 
GotlTan,  der  dieses  seither  mehrfach  bestätigte 
Merkmal  aufgefunden  hat,  hatte  nun  auf  Grund 
davon  bereits  erkannt,  daß  nicht  wie  früher  an- 
genommen wurde,  die  Braunkohlenstämme  aus- 
schließlich aus  Taxodiumholz  bestehen,  sondern 
daß  mindestens  ebensohäufig  das  Holz  der  ge- 
nannten Sequoia  auftritt.  Dies  war  von  ihm  be- 
reits für  die  Senftenberger  Braunkohlenvorkom- 
men erkannt  worden  und  wurde  später  von  Kräu- 
sel  für  die  autochthonen  Braunkohlen  der  Flözes 
von  Moys  bei  Görlitz  bestätigt.  Gothan  hatte 
außerdem    schon    darauf    hingewiesen,    daß    der 


')  Teumer,  Th.,  Die  Bildung  der  Braunkohlenflöze  im 
Senftenberger  Revier,  „Braunkohle"  1920,  Nr.  44  (Verlag  von 
Wilhelm  Knapp  in  Halle  a.  S.). 

*)  I.)  Kurzes  Referat  von  W.Nuß,  N.W.  1920,  S.  283. 
—  2.)  Nufl,  W.,  Die  Entstehung  der  bodenständigen  Braun- 
kohlenflöze, N.  "W.,  N.  F.  XIX.,  Nr.  38,  S.  598. 

')  Kräusel,  R. ,  Paläobotanische  Notizen,  I — III. 
Senckenbergiana  Bd.  II,  Heft  6,  S.  198,  Frankfurt  a.  M.,  den 
15.  Dezember  1920. 


Nachweis  von  Taxodium  in  der  niederrheinischen 
Ville-Braunkohle  überhaupt  noch  aussteht. 

Bei  dieser  Sachlage  war  es  naturgemäß  von 
großem  Interesse,  an  einem  Braunkohlenvorkom- 
men mit  autochthonen  Stämmen,  einmal  näher 
zu  untersuchen,  in  welcher  Art  und  Weise  die 
genannten  beiden  herrschenden  Koniferen  in 
den  verschiedenen  Horizonten  ein  und  desselben 
Flözes  verteilt  sind.  Zu  diesem  Zweck  er- 
schienen die  beiden  Flöze  der  Ilse-Bergbau-A.-G., 
das  Unter-  und  Oberflöz  besonders  geeignet,  und 
die  Direktion  der  Grube  Ilse  brachten,  wie  gewöhn- 
lich, diesen  rein  wissenschaftlichen  Untersuchun- 
gen großes  Interesse  entgegen.  In  dankenswerte- 
ster Weise  hat  Herr  Berginspektor  Teumer, 
dessen  verdienstvolle  neueren  Studien  an  den 
Senftenberger  Braunkohlenvorkommen  schon  in 
dem  genannten  Artikel  von  Nuß  gewürdigt  worden 
sind,  die  Aufsammlung  von  Holzresten  vorgenom- 
men. Aus  Mangel  an  Zeit  hat  Gothan  das 
Material  später  an  Kräusel  abgegeben,  der  die 
Untersuchung  in  mustergültiger  Weise  ausführte 
und  a.  a.  O.  veröffentlicht  hat. 

Durch  den  Befund,  daß  Sequoia  und  Taxodium 
in  den  Flözen  nebeneinander  vorkommen,  wurde 
weiter  ein  interessantes  ökologisches  Problem  auf- 
gerollt, denn  das  häufige  Vorkommen  einer  Sequoia- 
art  so  sagt  Kräusel,  steht  mit  der  Vorstellung 
eines  typischen  „swamp"  mit  vielen  offenen  Was- 
serstellen in  Widerspruch.  Man  hat  nämlich  bis- 
her die  Braunkohlenmoore  für  typische  Sumpf- 
moore gehalten.  —  Um  nicht  nur  die  den  deut- 
schen Geologen  und  Botanikern  unbekannteren 
Sumpfzypressenmoore  des  südlichen  Nordamerika 
zum  Vergleich  heranzuziehen,  sei  daran  erinnert, 
daß  man  sich  die  Braunkohlenmoore  in  ökolo- 
gischer Hinsicht  etwa  so  dachte  wie  die  Erlen- 
sumpf moore  Norddeutschlands  beschaffen  sind. 
Hier  steht  das  Wasser  —  wenigstens  zeitweilig  im 
Jahre —  ziemlich  hoch  zwischen  den  Baumstämmen. 
—  Auch  Sequoia  sempervirens  gedeiht 
nun  zwar  auf  feuchtem  Untergrund,  ist 
aber  kein  ausgesprochener  Sumpfbe- 
wohner, bevorzugt  sie  doch  heute  sogar  höhere 
Lagen.  Zur  Erklärung  gibt  es  daher  nach  Kräu- 
sel zwei  Möglichkeiten.  Betrachtet  man  Sequoia 
sempervirens  als  den  direkten  Nachkommen  der 
fossilen  als  Sequoia  Langsdorfi  bzw.  Taxodioxylon 
sequoianum  beschriebenen  Form,  wofür  sämt- 
liche morphologischen  wie  anatomischen  Befunde 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   15 


sprechen,  so  könnte  dieser  Formenkreis  ja  seit 
dem  Tertiär  eine  weitgehende  Umwandlung  seiner 
ökologischen  Verhältnisse  durchgemacht  haben. 
Das  ist  aber  sehr  unwahrscheinlich  und  würde 
allen  sonstigen  Erfahrungen  über  die  tertiäre  Flora 
widersprechen.  Müssen  wir  doch,  so  sei  hinzu- 
gefügt, bedenken,  daß  die  Gymnospermen  bereits 
zur  Dyaszeit  herrschend  wurden  und  daß  ihre 
Blütezeit  bereits  zu  Beginn  der  Kreidezeit  vorüber 
war.  Ihre  Entwicklung  erscheint  kurz  und  gut 
in  der  Tertiärzeit  als  bereits  abgeschlossen.  So 
bleibt  nach  Krau  sei  nur  die  Annahme  übrig, 
daß  sogar  das  Liegende  zum  mindesten  mancher 
autochthonen  Flöze  nicht  so  sumpfig  war,  wie  die 
heutigen  „swamps".  Und  dafür  spricht  auch,  daß 
sich  nirgends  in  der  umfangreichen  Literatur  der 
sichere  Nachweis  findet,  daß  man  irgendwo  die 
Atemkniee,  Pneumatophoren,  der  tertiären 
Sumpfzypresse  nachgewiesen  hat.  Von  diesen 
bis  I  m  hohen,  festen  senkrechten  Auswüchsen 
der  Wurzeln  konnte  Krau  sei  trotz  sorgfältigen 
Suchens  keine  Spur  entdecken.  Dagegen  fanden 
sich  sehr  zahlreiche  Wurzeln  mit  knotenförmigen, 
maserartigen  Wülsten,  wie  sie  Taxodium  distichum 
noch  heute  auf  feuchtem,  verhältnismäßig  wenig 
sumpfigem  Untergrund  ausbildet.  Für  die  Klärung 
gerade  dieser  Frage  schien  eine  Untersuchung  der 
vertikalen  Verteilung  der  beiden  Hauptbraunkohlen- 
bäume einen  erfolgreichen  Beitrag  zu  versprechen. 
In  den  Gruben  Ilse,  Renate,  Anna-Mathilde,  Eva 
und  Marga  der  Ilse  A.G.  in  Senftenberg  wurden 
daher  wie  gesagt,  und  zwar  auf  Veranlassung  von 
W.  G  o  t  h  a  n ,  zahlreiche  Holzproben  von  ver- 
schiedenen, möglichst  in  situ  befindlichen  alten 
Stämmen  im  Liegenden  und  Hangenden  wie  in 
der  Mitte  der  Flöze  gesammelt. 

Sämtliche  bestimmbaren  Hölzer  gehören  nach 
der  Untersuchung  von  Krause!  zu  Taxodioxylon 
sequoianum  bzw.  T.  taxodii.  Die  Verteilung  der 
beiden  Holztypen  ist  aber  nicht  in  allen  Schichten 
die  gleiche.  Sicher  jedoch  läßt  sich  auch  hier 
wieder  sagen,  daß  überall  beide  Nadelbäume,  Se- 
quoia  und  Taxodium,  gemischt  auftreten.  Im 
Liegenden  scheint  die  Sumpfzypresse  zu  über- 
wiegen, aber  selbst  hier  tritt  uns  durchaus  kein 
reiner  Taxodiumbestand  entgegen.  ■ —  Im  Verein 
mit  dem  Fehlen  der  schon  erwähnten  Pneumato- 
phoren und  im  Hinblick  auf  die  allgemeine,  enge 
Übereinstimmung  der  miozänen  mit  der  lebenden 
Flora,  zwingt  dies  zur  Annahme,  daß  die  mio- 
zänen Moorwälder  des  Gebietes  doch  wesentlich 
trockener  waren  als  die  heutigen  „dismal  swamps" 
Nordamerikas,  so  trocken  nämlich,  daß  die  der 
tertiären,  Sequoia  sempervirens  nahestehende  oder 
damit  identische  Sequoia  darin  noch,  Taxodium 
aber  schon  gedeihen  konnte,  ohne  indessen  zum 
alleinherrschenden  Baum  zu  werden. 

Weiter  zeigte  sich,  daß,  je  höher  wir  in  dem 
Flöz  von  Senftenberg  hinaufsteigen,  die  Beteiligung 
der  Sequoien  an  der  Waldbildung  um  so  stärker 
wird,  bis  sie  schließlich  im  Hangenden  der  Flöze 
durchaus  überwiegen.    Dies  beweist  für  K  r  ä  u  s  e  1 , 


daß  parallel  mit  der  Aufhäufung  des  Moores,  das 
stets  von  Wald  bedeckt  war,  eine  deutliche  Aus- 
trocknung erfolgte.  Diese  Entwicklung  fand  dann 
ein  Ende  in  einer  erneuten  Wasserbedeckung  des 
ganzen  Gebietes,  deren  Ablagerungen  die  beiden 
bei  Senftenberg  vorhandenen  Flöze  voneinander 
trennen.  Zwei  Flöze  liegen  nämlich,  wie  schon 
angedeutet,  im  Senftenberger  Revier  übereinander. 
Für  das  Oberflöz  gilt  das  gleiche  wie  für  das 
Unterflöz.  Zweimal,  sagt  Krau  sei,  wiederholt 
sich  also  jener  Wechsel  von  Wasserbedeckung 
und  Austrocknung,  für  den  wohl  klimatische  Ur- 
sachen verantwortlich  gemacht  werden  können. 

Ich  möchte  einwenden,  daß  man  Klima- 
schwankungen besser  nicht  zur  Erklärung  dieses 
Tatsachenbestandes  heranzieht. 

Die  Sequoien,  die  schon  in  dem  Stubben- 
horizont, der  sich  auf  dem  Liegenden  der  Flöze 
befindet,  35 — 44  "/o  ausmachen,  sprechen  wie  noch 
andere  Tatsachen  dafür,  daß  die  Torf  bildung  nicht 
durch  die  Verlandung  eines  Gewässers  begonnen 
hat,  sondern  daß  sie  über  dem  Grundwasserspiegel 
auf  verhältnismäßig  trockenem  Boden  ihren  An- 
fang nahm.  Durch  säkulare  Senkung  näherte 
sich  wahrscheinlich  vor  Bildung  des  Unterflözes 
die  Oberfläche  des  Gebietes  allmählich  dem  Grund- 
wasserspiegel. Hierdurch  wurden  die  Wasserver- 
hältnisse schließlich  derartige,  daß  sich  nicht  nur 
Sequoia  und  Taxodium  anzusiedeln  vermochte, 
sondern  auch  die  Haupttorfbildner,  die  krautigen 
Gewächse.  Mit  der  Entstehung  des  Torfs  und 
dessen  Anhäufung  war  aber  verbunden,  daß  die 
Oberfläche  des  Geländes  nicht  weiter  unter  den 
Grundwasserspiegel  sank,  denn  die  säkulare 
Senkung  muß,  wie  das  ständige  Vorhandensein 
von  Sequoia  und  das  Fehlen  von  Atemknieen  be- 
weist, so  langsam  vor  sich  gegangen  sein,  daß 
sich  die  Oberfläche  des  Torflagers  jederzeit  über 
dem  Grundwasserspiegel  befinden  konnte.  Wir 
möchten  also  mit  Kräusel  in  der  Tat  sagen, 
daß  jene  Braunkohlenmoore  nicht  echte  Sumpf- 
moore gewesen  sind,  nämlich  nicht  solche  Moore, 
bei  denen  sich,  wie  in  den  amerikanischen  „swamps" 
oder  in  den  Erlensumpfmooren  Norddeutschlands 
der  Wasserspiegel  über  der  Torfoberfläche  be- 
fand. Wir  möchten  vielmehr  annehmen,  daß 
vielleicht  weitere  Untersuchungen  ergeben  könnten, 
daß  die  Braunkohlenmoore  nur  anfangs  und  aus- 
nahmsweise Sumpfflachmoornatur  gehabt  haben, 
so  daß  der  größte  Teil  des  entstehenden  Torfs 
vom  Charakter  eines  Standflachmoor-  oder 
Zwischenmoortorfs  war.^) 

Wollte  man  aus  den  vorläufigen  Unter- 
suchungen Kräuseis  noch  einen  anderen  Schluß 
ziehen,  so  würde  es  der  sein,  daß  im  weiteren 
Verlauf  der  tertiären  Torfbildung  diese  immer 
mehr  der  säkularen  Senkung  überlegen  wurde, 
so  daß  hierdurch  die  Erhebung  des  Torfs  über 
den  Grundwasserspiegel   und   somit  die  Trocken- 


')    Vgl.  hierzu    H.    Potonie,    Die    rezenten    Kaustobio- 
lilhe,   1908/12. 


\.  F.  XX.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


227 


heit  immer  bedeutender  werden  mußte.  Dies 
scheint  das  allmähliche  Überhandnehmen  der 
Sequoien  zu  beweisen.  Indessen  ist  nicht  gesagt, 
daß  wirklich  so  ein  kontinuierliches  Überhand- 
nehmen der  Sequoien  konstatierbar  ist.  Kräusel 
hat  nicht  festgestellt,  ob  sich  solches  stetige  Zu- 
nehmen der  Sequoien  wirklich  innerhalb  des 
ganzen  Flözes  nachweisen  läßt,  er  hat  vorläufig 
nur  die  Mitte  des  Flözes  dem  Hangenden  und 
Liegenden  gegenübergestellt  und  gefunden,  daß 
sie  im  Hinblick  auf  ihre  Sequoiahäufigkeit  zwischen 
Hangendem  und  Liegendem  steht.    Weitere  Unter- 


langsamere Senkung  oder  auch  ein  Stillstand  des 
Senkungsvorgangs,  dem  dann  eine  stärkere  Land- 
senkung folgte,  die  das  IHöz  mit  Sedimenten 
bedeckte. 

Wie  verhalten  sich  nun  zu  diesen  Ergebnissen 
die  Auseinandersetzungen  von  Teumer.') 

Es  ist  sehr  wertvoll,  daß  Teumer  in  seiner 
Arbeit  darauf  hingewiesen  hat,  daß  sich  Raum- 
stümpfe in  situ  und  die  dazwischen  liegenden 
weiteren  Holzreste  keineswegs  im  ganzen  Höz 
gleichmäßig  verteilt  finden.  Vielmehr  zeigen  sich 
deutliche  besonders  holzreiche  Horizonte,  die  sich 


suchungen    könnten    jedoch    ergeben,    daß    zwar     auffällig  von  darüber  und  darunter  liegenden  holz- 


dieser   Gegensatz    zum   Hangenden    und   Liegen- 
den   wegen    der     hier     vorhandenen    besonderen 
Verhältnisse    besteht,    daß    aber    trotzdem    durch 
das  ganze  Flöz  hindurch  zwar  durchschnittlich  die 
von    Kräusel    für    die    Mitte   festgestellte    Ver- 
teilung   geherrscht    hat,    dennoch    aber    ein    Hin- 
und    Herschwanken    nachweisbar    ist.      Während 
H.    Potonie    der    Meinung    war,    der   Grund- 
wasserspiegel    hätte    sich    während    der    ganzen 
Torfbildung    im   allgemeinen    über    der    obersten 
Torfschicht  befunden,  möch- 
te  ich  jetzt,    wie  schon  an- 
gedeutet,   im   Ausbau    von 
Kräuseis    Befund    darauf 
hinweisen,  daß  der  Wasser- 
spiegel  wegen  dem   ständi- 
gen Vorhandensein  von  Se- 
quoia  und  dem  Fehlen  der 
Atemkniee     bei    Taxodium 
durchschnittlich    unter    der 
jeweiligen  Torfoberfläche  ge- 
wesen sein  muß.   Die  Torf- 
bildung    hinkte    also    nicht 
dem  scheinbaren  Steigen  des 
Wasserspiegels  nach,  sondern 
muß  ihm,  da  die  Geschwin- 
digkeit   der   Senkung    nicht 
groß    genug    gewesen    sein 
wird,    immer    so    weit   wie 
möglich  vorangegangen  sein, 
so    daß    durch    das   Wachs- 
tum  des  Torfs   und  die  da- 
durch    bedingte     Erhebung 
der     Mooroberfläche     über 
den  Grundwasserspiegel  die 
Wasserverhältnisse    automa- 
tisch so  gestaltet  wurden,  daß  sie  für  die  jeweilige 
Mooroberfläche  zwar  schwankten,  durchschnittlich 
aber  ungefähr  gleiche  blieben. 

Wir  dürfen  hiernach  wohl  sagen,  daß  vor  allem 
die  besonders  sequoiareichen  Bestände,  die  Kräu- 
sel im  Hangenden  der  Flöze  nachgewiesen  hat, 
auf  einen  gelegentlichen  Zustand  der  Braunkohlen- 
moore hinweisen,  der  etwa  unseren  trockenen, 
mit  Kiefern  und  Fichten  bestandenen  Zwischen- 
mooren entspricht.  Den  Abschluß  der  Torf  bildung 
bildete  dann  also  bei  den  von  Kräusel  unter- 
suchten Braunkohlenmooren  zunächst  eine  aus 
dem   besonderen  Sequoiareichtum   zu  schließende 


ärmeren  Braunkohlenschichten  abheben  (vgl.  unsere 
Abbildung).  Die  Stubbenhorizonte,  die  beim  Ab- 
bau der  Flöze  in  deren  Hangendem  und  Liegen- 
dem zum  Vorschein  kamen,  waren  ja  längst  be- 
kannt, man  hat  sich  jedoch  bisher  noch  niemals 
Gedanken  darüber  gemacht,  warum  mitten  im 
Flöz  nur  an  ganz  bestimmten  Stellen  ebensolche 
Horizonte  vorkommen.  An  sich  hätte  man  an- 
nehmen können,  daß  die  Bedingungen  zur  Er- 
haltung des  Holzes  während   der   ganzen  Flözbil- 


^5if*^,. 


Stubbenhorizont    im    Stoß    eines    am    „Tonberg"    befindlichen    verlassenen    Teiles 

der  Grube  Ilse  bei  Senftenberg. 

Phot.  Horst  Potonie. 


dung  stets  im  gleichen  Maße  gegeben  sein  müßten. 
Die  hier  wiedergegebene  Photographie  zeigt  solch 
einen  Holzhorizont  im  Stoß  eines  verlassenen 
Teils  der  Grube  Ilse.  Seit  längerer  Zeit  ist  an 
diesem  Stoß  nicht  mehr  gearbeitet  worden  und 
so  ist  durch  die  Verwitterung  der  Kohle,  deren 
Schutt  am  Fuße  des  Stoßes  sichtbar  ist,  der  Holz- 
horizont deutlich  herausmodelliert  worden.  Teu- 
mer erklärt  sich,  wie  in  der  Naturw.  Wochen - 
sehr.  (1.  c.)  schon  eingehender  dargestellt  worden 
ist,  die  Entstehung  dieser  Holzhorizonte  dadurch, 


')  Te 


Th.,  a. 


O. 


228 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


daß  die  für  die  Flözbildung  schon  immer  ge- 
forderte säkulare  Senkung  von  Zeit  zu  Zeit  durch 
instantane  Senkungen  unterbrochen  wurde.  Diese 
plötzlichen  schnelleren  Senkungen  aber  sollen  be- 
dingt haben,  daß  das  dadurch  plötzlich  steigende 
Wasser  die  Stämme  bis  zu  einer  Höhe  von  durch- 
schnittlich 2  m  umgab.  Das  hätte  sie  freilich 
zum  Absterben  bringen  müssen,  sie  hätten  dann 
oberhalb  des  Wasserstandes  verwesen  und  um- 
brechen können,  worauf  ihre  Stubben  in  situ  und 
der  umgestürtzte  ins  Wasser  geratene  Stamm, 
nunmehr  vom  Sauerstoff  der  Luft  abgeschlossen, 
erhalten  bleiben  konnten. 

Die  Vereinigung  dieser  Ansicht   mit   den  Re- 
sultaten   Kräuseis    bringt   Schwierigkeiten    mit 
sich,  und  doch   müssen   die  Stubbenhorizonte  er- 
klärt   werden.      Zunächst    einmal,    wie    ist    der 
Stubbenhorizont  auf  dem  Liegenden   entstanden? 
Über  dem  Grundwasserspiegel   fand  ja   die   erste 
Bewaldung    mit    Sequoien     und    Sumpfzypressen 
statt  und  der  Torf  bildete  sich  nicht  durch  „Ver- 
landung"    sondern    durch    „Vernässung".      Nach 
T  e  u  m  e  r  müßte  sich  nun  dieses  Standmoor  plötz- 
lich durch  Senkung  in  ein  Sumpfmoor  verwandeln. 
Die  Bäume  wären    hierdurch  nicht    nur  zugrunde 
gegangen,  sondern  hätten   dann   auch  nicht  mehr 
in  dieser  Zusammensetzung  in   solche  Umgebung 
hineingepaßt.     Die   Sumpfzypresse   hätte   bis  zur 
wieder  erfolgten  Verlandung  des  2  m  hoch  stehen- 
den   Wassers    herrschend    werden    müssen.      Ihr 
nunmehriges  Vorherrschen  würde  sich  aber  nicht 
nachweisen    lassen,    weil    erst    wieder   durch    die 
nächste  instantane  Senkung  ein  Holzhorizont  ent- 
stehen konnte.^)   Solche  instantane  Senkung  wäre 
aber,  wie  K  r  ä  u  s  e  1  s  Holzuntersuchungen  bewiesen 
haben,  erst  dann  wieder  erfolgt,   als   die  Sequoia 
von  neuem  aufgetreten    war,    der   Torf  sich   also 
schon  wieder  seit  längerer  Zeit  über  den  Grund- 
wasserspiegel erhoben  hatte.   Schwer  verständlich 
ist  vor   allem,    daß  z.  B.   auch  gerade   immer  im 
Anfang   der   Flözbildung   die    instantane  Senkung 
genau  dann  erfolgte,  wenn  der  Sequoia- Taxodium- 
wald bis  zu  einer  gewissen  Größe  emporgewachsen 
war.     Leichter  verständlich   wäre  jedoch  wieder 
die  Erhaltung  des  Stubbenhorizontes  im  Hangen- 
den,   dessen  Bedeckung  ja  tatsächlich  durch  eine 
stärkere  Senkung  hervorgerufen  worden  sein  muß. 
Noch  eine  zweite  iVlöglichkeit  darf  nicht  außer 
Betracht  gelassen  werden.     Weil  vor  Bildung  des 
Flözes  die  Torfbildung    mit    der    nur    sehr   lang- 
samen   Annäherung    an    den    Grundwasserspiegel 
besonders    langsam  erfolgte,    konnten    die  Bäume 
auf  dem  Liegenden  sehr  alt  werden,  ehe  ihr  Fuß 
vom  Torf    umschlossen    wurde    und    sie    dadurch 
zugrunde  gehen  mußten.     Diesen  ersten  kräftigen 
Bestand  vermochten  nicht  weitere  ebenso  kräftige 
zu   folgen,    weil   weitere  Generationen   sich  nicht 
wie   die    auf  dem   Liegenden    kräftigen    konnten 


')  Es  sei  denn,  daß  sich  über  den  Horizonten  noch  spär- 
lichere Holzreste  finden  lassen,  die  vorwiegend  Taxodium  an- 
gehören. 


und  daher  schon  in  jugendhcherem  Zustande  von 
dem  durch  die  in  gleichem  Maße  weiterschreitende 
Senkung  sich  bildenden  Torf  erstickt  wurden. 
Daher  die  Holzarmut  in  den  meisten  Teilen  des 
Flözes.  Ein  Stubbenhorizont  innerhalb  des  Flözes 
hätte  dann  erst  wieder  entstehen  können,  wenn 
die  säkulare  Senkung  zeitweilig  ganz  unterbrochen 
oder  stark  verlangsamt  wurde.  Es  erfolgte  eine 
Erhöhung  des  Torfs  über  den  Wasserspiegel  bis 
zum  Höchstmaß,  ein  Aufhören  des  Torfwachstums 
und  ein  Altern  des  gerade  vorhandenen  Wald- 
bestandes. Eine  Fortsetzung  der  säkularen  Sen- 
kung würde  dann  einen  neuen  Horizont  mit  be- 
sonderem Holzreichtum  erzeugt  haben  können. 
Es  ist  dies  gewissermaßen  die  Umkehrung  der 
Teum ersehen  Ansichten.  Ihr  würde  nicht  so 
sehr  die  Tatsache  des  ständigen  Vorhandenseins 
der  Sequoia  in  den  Braunkohlenflözen  wider- 
sprechen. Je  nach  der  wechselnden  Geschwindig- 
keit der  Senkung  würden  bald  für  den  einen,  bald 
für  den  anderen  der  beiden  Charakterbäume  des 
Braunkohlenwaldes  die  Bedingungen  günstigere 
gewesen  sein. 

Es  sei  schließlich  auch  noch  auf  die  oft  nicht 
minder  scharf  ausgeprägten  Stubbenhorizonte  in 
rezenten  IWlooren  Mitteleuropas  hingewiesen.  Diese 
Horizonte  haben  gar  nichts  mit  Senkungsvorgängen 
zu  tun,  sondern  lediglich  mit  der  immer  weiter 
fortschreitenden  Erhebung  der  Torfoberfläche  über 
den  Grundwasserspiegel  und  mit  der  dadurch  be- 
dingten Änderung  des  Pflanzenbestandes. 

Eine  wichtige  auch  schon  berührte  Frage  ist 
nun  noch  die,  wie  kommt  es,  daß  wir  die  Sequoia 
im  Tertiär  als  Moorbaum  auftreten  sehen,  während 
sie  uns  heute  meist  als  Gebirgsbaum  und  nur 
noch  selten  als  Moorbaum  entgegentritt.  Gothan  *) 
meint,  es  habe  ein  Wechsel  in  der  Ökologie 
des  Baumes  stattgefunden.  Dies  kann  mißver- 
standen werden.  Ich  möchte  deshalb  hinzufügen, 
daß  man  nicht  annehmen  darf,  ein  und  dieselbe 
Art  habe  damals  jene,  heute  diese  Lebensbedin- 
gungen gehabt.  Die  Sequoia  wird  damals  an  ihre 
Umgebung  dieselben  Forderungen  gestellt  haben 
wie  auch  heute  und  dürfte  daher  auch  schon 
damals  Gebirgsbaum  gewesen  sein.  Sie  konnte 
uns  freilich  von  solchen  Standorten  nicht  erhalten 
bleiben,  weil  dort  die  Bedingungen  hierzu 
fehlten.  Sie  ist  aber  außerdem  Moorbaum  ge- 
wesen und  zwar  mehr  als  heute;  ähnlich  wie  wir 
heute  die  Betula  pubescens  im  Moor  und  auf 
trockenem  Untergrund  auftreten  sehen.  Heute 
dürfte  sich  die  Sequoia  in  den  Mooren  deshalb 
nicht  mehr  so  gut  halten  können,  weil  ihr  dort 
neue  Konkurrenten  erwachsen  sind,  die  diesen 
Baum  der  Vorzeit  im  wesentlichen  auf  seine  heu- 
tigen Gebirgsstandorte  beschränkt  haben. 

Zusammenfassung. 
Wir  müssen  uns  wegen  des  Vorkommens  von 
Sequoiaholz  in  allen  Teilen   der  Braunkohlenflöze 

')  Potonie-Gothan,  Lehrbuch  der  Paläobotanik,  IQ2I, 
S.  3  «7- 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


229 


zu  der  Auffassung  entschließen,  daß  die  Moore, 
aus  deren  Torf  die  tertiäre  Brauukohle  entstanden 
ist,  im  Prinzip  nicht  Sumpfflachmoore,  sondern 
(wenn  wir  einen  Vergleich  mit  mitteleuropäischen 
Mooren  anstellen  wollen)  Standflachmoore,  viel- 
leicht zeitweilig  auch  Zwischenmoore  gewesen 
sind,  d.  h.  also  solche  Moore,  bei  denen  der 
Grundwasserspiegel  sich  nicht  wie  bei  den  Flach- 
mooren über,  sondern  unter  der  Oberfläche  des 
Torflagers    befand.      Daß    vom    Liegenden    zum 


Hangenden  das  Sequoiaholz  zunimmt,  hat  wohl 
seinen  Grund  nicht  in  Klimaschwankungen,  son- 
dern hängt  mit  der  verschiedenen  Geschwindig- 
keit des  Senkungsvorganges  und  mit  Eigentümlich- 
keiten des  Vertorfungs Vorgangs  zusammen. 

Daß  die  Stubbenhorizonte,  wie  Teumer  an- 
nimmt, durch  instantane  Senkung  entstanden  sind, 
ist  nicht  notwendig.  Es  könnten  auch  durch 
Stillstandsperioden  im  Senkungsvorgang  Stubben- 
horizonte entstehen. 


[Nachdruck  verboten.  ] 


Die  Dauer  der  Eiszeit. 

Von  Dr.  K.  Olbricht-Breslau. 
Mit  2  Textfiguren. 


In  Heft  2  (Jahrgang  1921)  dieser  Zeitschrift 
berichtet  Mötefindt  über  die  interessanten  Be- 
rechnungen Werths  im  Anschluß  an  die  Mes- 
sungen, die  de  G e e r  und  seine  Schüler  über  die 
Dauer  der  Abschmelzzeit  vornahmen. 

Danach  dauerte  die  Abschmelzphase  der  letzten 
Vereisung  seit  dem  Verlassen  Schönens  5000  Jahre. 
Für  die  Ancyluszeit  (Mesolithikum)  nimmt  Werth 
etwa  4000  Jahre  an,  für  die  Zeit,  die  seit  der 
Litorinasenkung  verstrich,  ergeben  die  Messungen 
Keilhacks  an  den  Dünen  der  Ostseeküste  7000 
Jahre.  Zusammen  sind  also  16000  Jahre  ver- 
flossen, seit  das  letzte  Inlandeis  von  Schonen  ab- 
schmolz. 

An  dieser  Stelle  setzen  meine  neuen  Be- 
rechnungen der  vorher  liegenden  Abschnitte  der 
Eiszeit  ein. 

Die  exakten  Messungen  ergaben,  daß  in 
Schonen  das  Eis  viel  langsamer  abschmolz,  als  in 
Mittelschweden  (50  m  gegen  etwa  300  m).  Der 
Grund  dafür  liegt  wohl  —  abgesehen  vom  Ab- 
klingen des  kalten  schneereichen  Eiszeitklimas  — 
auch  darin,  daß  das  Eis,  als  es  noch  über  Schonen 
lag,  ein  weit  größeres  Volumen  besaß,  als 
das  mittelschwedische. 

Es  gilt  also  auf  Grund  der  Flächenareale, 
welche  die  Eisdecken  in  den  einzelnen  Perioden 
einnahmen,  die  ungefähren  Volumina  zu  berechnen 
und  hieraus  rein  arithmetisch  Annäherungs- 
zahlen für  die  Abschmelzgeschwindigkeit 
in  den  verschiedenen  Eisrandlagen  zu  errechnen. 
Als  Grundlage  benutzte  ich  meine  Übersichts- 
skizze (S.  313,  Jahrgang  1920  dieser  Zeitschrift) 
und  zwar  nur  die  östliche  Abdachung,  weil  auf 
der  atlantischen  Abdachung  das  Inlandeis  nicht 
zur  vollen  Entfaltung  kam,  sondern  kalbend  gegen 
den  tiefen  Ozean  abbrach. 

Für  die  einzelnen  Zeiten  (Mindel,  Riß,  Wurm 
und  Bühl)  sind  die  von  mir  für  das  Maximum 
der  jeweiligen  Abschnitte  berechneten  jährlichen 
Abschmelzgeschwindigkeiten  (in  m)  eingetragen 
und  dazwischen  die  Durchschnittswerte, 
die  zwischen  zwei  Phasen  (MR,  RW  usw.)  anzu- 
nehmen sind. 

Mit  Hilfe  dieser  Zahlen,    die  nur  eine  Weiter- 


ausspinnung  der  de  Geer sehen  Berechnungen 
sind,  läßt  sich  etwa  folgendes  aussagen,  wobei  die 
Zahlen  erhalten  werden,  indem  man  die  Ab- 
schmelzstrecken durch  den  Mittelwert  divi- 
diert ! 

Für  die  Zeit  zwischen  dem  Bühlstadium  und 
dem  Schonen- (Skanisches)stadium  erhalten  wir 
13000  Jahre.  Diese  Zahl  ist  zu  erhöhen,  weil 
das  Eis  nicht  andauernd  abschmolz,  son- 
dern der  Eisrand  immerfort  hin-  und  herpendelt, 
so  die  zahlreichen  hintereinander  geschalteten 
Moränenwälle  aufbauend.  Kann  man  doch  stellen- 
weise etwa  ein  Dutzend  Staffeln  verfolgen  1  Runden 
wir  auf  annähernd  1 5  000  Jahre  ab ,  so  erhalten 
wir  für  die  seit  dem  Bühlstadium  vergangene 
Zeit  1 5  000  -|-  5000  +  4000  -|-  7000  =  3 1  000 
Jahre.  Das  paßt  ausgezeichnet  zu  der  aus  dem 
Rückschreiten  der  Niagarafälle  —  die  erst  nach 
der  Bühlzeit  eisfrei  wurden  —  berechneten  jüng- 
sten Zahlen  von  30  000  bis  35000  Jahren.  Diese 
3 1  000  Jahre  dürften  also  seit  dem  Magdalenien 
vergangen  sein. 

Der  Bühlvorstoß  folgte  in  Norddeutschland  auf 
eine  etwas  wärmere  —  wenn  auch  im  allgemeinen 
glaziale  —  kurze  Periode,  deren  Dauer  nach  Kalk- 
ablagerungen auf  etwa  ein  Jahrtausend  (Masuri- 
sches  Interstadial  Heß  v.  Wichdorffs)  ge- 
schätzt werden  kann.  Die  Zeit,  in  der  das  Eis 
vom  Maximum  der  Würmeiszeit  bis  zur  Ausdeh- 
nung des  Bühleises  abschmolz,  berechne  ich  auf 
13000  Jahre.  Zahlreiche  hintereinander  gereihte 
Moränenstaffeln  zeigen,  daß  auch  sie  um  einiges 
zu  erhöhen  ist,  sagen  wir  rund  auf  15000  Jahre. 
Mit  Ausschluß  der  kurzen  Wärmeperiode  sind 
also  seit  dem  Abschmelzen  des  Würmeises  bis 
zur  Eisscheide  1 5  000  -j-  1 5  000  -|-  5000  ^35  000 
Jahre  vergangen.  Da  das  Vorrücken  wohl  unter 
im  allgemeinen  ähnlichen  Bedingungen  —  die 
Endmoränen  sind  gewissermaßen  versteinerte 
Obertöne  auf  den  größeren  Klimawellen  — ,  so 
mag  man  die  Gesamtdauer  der  Würmeiszeit  auf 
etwa  2X35000=70000  Jahre  berechnen. 

Für  die  Rißeiszeit  ergeben  sich  auf  demselben 
Wege  2X55000=  iioooo  Jahre,  für  die  Mindel- 
vereisung  2X85000=170000,   für  die  Günzver- 


230 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  is 


eisung  etwa  ebensoviel  wie  für  die  Würmzeit. 
Die  Gesamtdauer  der  Eiszeit  muß  also 
mindestens  420000  Jahre  betragen. 

Diese  Zahl  würde  genau  stimmen,  wenn  wir 
als  Eiszeit  ein  Zeitalter  bezeichnen,  in  welchem 
auch  in  den  wärmsten  Phasen  (Interglazialzeiten) 
einige  Schneereste  in  Norwegen  vorhanden  waren. 
Wahrscheinlich  gab  es  aber  einen  —  wenn  auch 
vielleicht  nur  kurzen  —  Zeitabschnitt,  in  dem  in 
Mitteleuropa  ein  sehr  trockenes  wüstenartiges 
Klima  mit  Manganrindenbildung  und  ähnlichen 
Erscheinungen  *)  herrschte.  Für  dieses  Maximum 
der  Mindelrißschichteneiszeit  müssen  wir  viel- 
leicht ebenfalls  einige  Jahrtausende  einsetzen.  Im 
allgemeinen  stimmt  auch  die  Mächtigkeit 
der  Interglazialschichtenim  Vergleich  mit 
denen  postglazialer  Ablagerungen  mit  den  von 
mir  angenommenen  Zahlen. 


Abb.   I. 

Diese  sind  natürlich  auch  nur  Annäherungs- 
werte, mit  denen  wir  aber  sicher  exakter  arbeiten, 
als  mit  den  aus  „Denudationsmetern"  und  ähn- 
lichen sehr  schwer  zu  verallgemeinernden  Be- 
rechnungen gewonnenen  Zahlenangaben.  Im  all- 
gemeinen dürfte  wohl  die  Dauer  des  Eiszeitalters 
—  was  sich  auch  mit  der  Mächtigkeit  der  Lösse 
deckt  —  500000  Jahre  nicht  überschritten  haben. 

Die  abgebildete  Kurve,  in  der  jedes  cm 
50000  Jahre  bedeutet,  zeigt,  wie  man  sich  augen- 
blicklich   etwa   den  Verlauf  des  Eiszeitalters   vor- 


stellen kann.  Das  Pluszeichen  bedeutet  das  kurze 
aber  heiße  Stadium  der  Mindelrißinterglazialzeit. 
Die  Gliederung  der  Kurve  durch  Obertöne  ist 
auch  angedeutet. 

In  die  seit  dem  Wegschmelzen  des  letzten 
Inlandeises  vergangenen  1 1  ooo  Jahre  fallen  wahr- 
scheinlich drei  solcher  Oberwellen  mit  je  einer 
wärmeren  und  kühleren  Periode  (vgl.  meinen 
oben  erwähnten  Aufsatz  in  dieser  Zeitschr.  S.  315 
und  316).  Falls  diese  Angaben  sich  als  richtig 
erweisen  sollten,  ist  die  Zeit  zwischen  zwei  Kälte- 
maximas auf  11000:3  =  3000  Jahre  (annähernd!) 
anzusetzen.  Sollten  es  die  späteren  For- 
schungen einmal  erweisen,  daß  jeder 
Endmoränen  wall  einer  mit  den  post- 
glazialen Kälteperioden  äquivalenten 
Oberwelle  entspricht,  würden  wir  ein 
weiteres  Hilfsmittel  durch  Schätzung  der  Eiszeit 
haben.  Endlich  sind  in  die  Kurve  als  dicke 
schwarze  Striche  auch  die  Zeiten  der  Lößbildung 
eingetragen,  deren  Dauer  so  ebenfalls  genauer 
fixiert  werden  kann. 


')  Vgl.  hierzu  meinen  Aufsatz :  Einige  Beobachtungen  im 
Diluvium  bei  Görlitz  (Jahrbuch  der  Preuß.  geol.  Landesan- 
stalt, Bd.  XL,  S.   510  usw.). 


Abb.  2. 

Ein  im  Durchschnitt  10  m  mächtiger  Löß 
wie  der  jüngere  Löß  ist  demnach  in  einem  Zeit- 
raum von  etwa  20000  Jahren  aufgeschüttet  worden. 
Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  auch  die  Auf- 
schüttung jedes  Lösses  lokal  zeitweise  einmal  aus- 
setzen konnte,  wodurch  lokale  Verlehmungszonen 
(nicht  zu  verwechseln  mit  den  regionalen  Laimen- 
rindenl)  wie  die  Göttinger  Zone  entstanden. 

Auch  ist  es  wahrscheinlich,  daß  die 
Oberwellen  nochmals  durch  sekundäre 
Oberwellen  gegliedert  wurden,  als  die 
wir  die  Brückner  sehen  3  5  jährigen  Klimaschwan- 
kungen ansehen  können.  Vielleicht  gelingt  es 
einmal,  auch  diese  in  die  Eiszeitkurve  hineinzu- 
arbeiten und  damit  der  Berechnung  einen  Grad 
hoher  Exaktheit  zu  geben. 


Einzelberichte. 


Das  Hirteutüschel  in  der  Medizin. 

In  den  letzten  Jahren  ist  die  Einfuhr  mancher 
Arzneimitteldrogen  sehr  erschwert  und  beschränkt 
gewesen.  Daher  hat  man  nach  Ersatz  unter  den 
einheimischen  Pflanzen  gesucht,  deren  pharmako- 
logische Wirkung  zum  Teil  recht  wenig  unter- 
sucht ist.  Noch  jetzt  ist  ein  fühlbarer  Mangel  an 
Mutterkorn,  Seeale  cornutum,  vorhanden  und  da 
ist  es  von  Wichtigkeit,  daß  das  überall  wild 
wachsende  Hirtentäschel,  Capsella  bursa  pastoris, 
als   blutstillendes  Mittel   anscheinend    einen   wirk- 


samen Ersatz  für  die  Sekalepräparate  darstellt. 
Schon  zur  Zeit  Neros  diente  das  Täschelkraut  als 
Abortivmittel ;  im  Mittelalter  wurde  es  bei  äußeren 
und  inneren  Blutungen,  vor  allem  bei  Menstruations- 
störungen, benützt.  Es  geriet  aber  in  Vergessen- 
heit und  wurde  erst  in  der  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  wieder  ausgegraben  und  ab  und  zu 
angewandt.  Im  Arzneischatz  behauptete  sich  das 
Hirtentäschel  jedoch  nicht  und  erst  der  jetzige 
Mangel  an  Mutterkorn  brachte  es  wieder  zu  Ehren. 
Unter  verschiedenen  Namen  werden  nun  alko- 
holische   und    wässerige    Auszüge    von    Capsella 


\.  F.  XX.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


231 


bursa  pastoris  hergestellt.  Sie  können  intramus- 
kulär oder  in  Tropfenform  per  os  verabreicht 
werden.  In  der  Tübinger  Universitätsfrauenklinik 
hat  Schneider')  Hirtentäschelpräparate  an  5 2 
Frauen  mit  gutem  Erfolg  bei  Subinvolutio  des 
Uterus  im  Wochenbett  erprobt.  Die  Rückbildung 
der  Gebärmutter  machte  gute  Fortschritte  und 
die  blutigen  Ausflüsse  hörten  auf.  Irgendwelche 
Nachteile  für  das  Befinden  hatte  der  Gebrauch  des 
Hirtentäschels  nicht.  Neuerdings  wurden  auch 
recht  befriedigende  Erfahrungen  bei  atonischen 
Nachblutungen  nach  der  Geburt  durch  intramus- 
kuläre Injektion  von  Hirtentäschelpräparaten  ge- 
macht. 

Von  pharmakologischer  Seite  wurde  durch 
M.  Kochmann  ')  die  Wirkung  des  Hirtentäschels 
auf  den  überlebenden  Uterus  des  IVIeerschweinchens 
untersucht.  Die  Bewegungen  des  Uterus  wurden 
bei  37*  in  Ringerlösung,  welche  von  Sauerstoff 
durchperlt  wurde,  durch  einen  Schreibhebel  auf 
einem  sich  langsam  drehenden  Kymographion 
aufgezeichnet.  Wässerige  Mazerationen  und  In- 
fuse  der  getrockneten  Pflanze  bewirken  noch  in 
Verdünnungen  von  i :  1000  bis  1 14000  eine  starke 
Steigerung  des  Tonus  und  die  einzelnen  Kontrak- 
tionen des  Uterus  wurden  meistens  größer  und 
zahlreicher.  In  anderen  F'ällen,  besonders  durch 
große  Gaben  der  Capsella,  kommt  es  zur  Kon- 
traktur und  zum  Stillstand  des  Uterus.  Nach 
näheren  Untersuchungen  scheint  die  fördernde 
Wirkung,  welche  Capsellapräparate  auf  die  Uterus- 
bewegungen ausüben,  auf  der  Erregung  des  para- 
sympathischen Nervus  pelvicus  zu  beruhen;  „der 
Stillstand  der  automatischen  Bewegung  durch 
große  Gaben  wird  durch  eine  Lähmung  der  iVIus- 
kulatur  hervorgebracht". 

Auffallend  ist  Kochmanns  Beobachtung, 
daß  verschiedene  Hirtentäschelpräparate,  die  zum 
Teil  von  selbst  gesammelten  Pflanzen  stammten, 
eine  sehr  schwache  oder  gar  keine  mutterkorn- 
ähnUche  Wirkung  auf  den  Uterus  hatten. 

Worauf  die  Wirksamkeit  von  Capsella  beruht, 
ist  noch  nicht  sicher  festgestellt.  W  a  s  i  c  k  y  -)  ver- 
mutet, daß  die  Wirksamkeit  des  Täschelkrauts 
seinem  Kaliumgehalt  parallel  geht.  Kochmann 
zeigte  aber,  daß  die  Gesamtasche  einer  genügen- 
den Drogenmenge  und  auch  Kaliumchlorid  in 
I  proz.  isotonischer  Lösung  keine  Veränderungen 
in  der  Tätigkeit  des  Uterus  hervorrufen.  „IVIan 
muß  vielmehr  annehmen,  daß  an  der  Wirkung 
der  Capsella  spezifisch  wirksame  Bestandteile  be- 
teiligt sind." 

Beachtenswert  ist  die  Ansicht  von  H.  Wil- 
chowitz^),  welcher  die  spezifisch  wirksamen 
Substanzen  nicht  dem  Hirtentäschel  selbst  zu- 
schreibt, sondern  den  Pilzen  Cystopus  Candidas 
oder  Peronospora  grisea.  Diese  befallen  sehr 
häufig  die  Stengel  und  Blätter  und  bewirken  eine 

')  Münchener  medizinische  Wochenschrift  Nr.  50,  S.  1439; 
Nr.  45,  S.   1284;  Nr.  51,  S.   i486  (1920). 

■•')  Apoth.-Ztg.  Bd.  35,  S.  277—278  (1920). 
•'j  M.  tn.  W.  1.  c. 


auffallende  Entartung  der  Sprosse  des  Hirten - 
täschchens.  Von  diesen  Pilzen  nicht  befallene 
Pflanzen  werden  natürlich  unwirksame  Präparate 
ergeben,  wie  sie  Kochmann  beobachtete.  Auch 
chemische  Ähnlichkeiten  der  spezifischen  Substanz 
von  Capsella  und  des  wirksamen  Körpers  von 
Seeale  cornutum  sind  nach  Boruttau')  und  Koch- 
mann vorhanden.  „Der  Geruch  der  Droge  ist 
zwar  schwächer,  aber  qualitativ  gleich  dem  des 
Seeale,  d.  h.  man  kann  deutlich  den  Geruch  des 
Trimethylamins  oder  ähnlicher  Amine  wahrnehmen. 
Auch  die  Tatsache,  daß  die  spezifischen  Sub- 
stanzen bei  der  Lagerung  verschwinden,  also  zer- 
setzt werden,  ist  beiden  Drogen,  sowohl  der  Cap- 
sella wie  dem  Seeale  cornutum,  gemeinsam." 

Da  das  Hirtentäschel  in  Massen  zur  Verfügung 
steht,  könnte  es  vielleicht  einmal  das  Mutterkorn 
ersetzen,  wenn  man  erst  gleichmäßig  wirksame 
Drogen  herzustellen  vermag.  Karl  Kuhn. 

Die  Mechauik  der  physikalischen  Auziehnugs- 
erscheinungen. 

Über  dies  Thema  sprach  in  der  letzten  Sitzung 
des  Naturwissenschaftlichen  Vereins  in  Hamburg 
Oltmanns.  Für  die  Begriffe  der  Schwerkraft, 
der  Kohäsion,  des  Magnetismus,  der  Elektrizität,  der 
Wärme  usw.,  vor  allem  für  den  Begriff  der  Anziehung, 
fehlt  uns  jede  Erfahrung  und  logische  bildliche 
Vorstellung  der  Vorgänge.  Eine  unvermittelte 
Fernwirkung,  ein  unkörperhaftes  Geschehen,  wie 
es  damit  verbunden  gedacht  wird,  ist  unseren 
Sinnen  unzugänglich  und  darum  unvorstellbar. 
Deshalb  müssen  alle  Erscheinungen  durch  Bilder 
und  Vorstellungen  natürlichen  Geschehens,  d.  h. 
von  Stoff  auf  Stoff,  von  Körper  auf  Körper  ge- 
deutet werden.  Solche  Deutung  ist  aber  nur 
dann  möglich,  wenn  wir  von  der  Vorstellung  des 
Druckes  als  Grundvorstellung  allen  Geschehens 
ausgehen.  Jeder  Druck  ist  zugleich  erkennbar 
durch  Formänderung,  Bewegung  und  Wärme. 
Die  gesamten  Erscheinungen  sind  daher  als 
Druck-  und  Bewegungsvorgänge  komplizierterer 
Art  zu  deuten. 

In  seinem  Buch  „Die  Mechanik  des  Weltall" 
entwickelt  deshalb  Oltmanns  die  Erscheinungen 
der  Schwerkraft  und  der  allgemeinen  Massen- 
anziehung als  vorstellbare,  körperhafte  Bewegungs- 
vorgänge. In  betontem  Unterschied  von  der 
bisherigen  und  der  Einst  einschen  Lehre,  wird 
der  Begriff  des  absolut  ruhenden,  gewichtslosen, 
Äthers,  als  eines  in  sich  durchaus  widerspruchs- 
vollen Hilfsbegriffs,  völlig  abgelehnt  und  an 
dessen  Stelle  das  Weltall  mit  einem  wirklich 
körperhaften  Stoffe  erfüllt  gedacht.  Ein  solcher 
Stoff  muß  die  Eigenschaften  der  unendlichen 
stetigen  Raumerfüllung  und  äußerster  Verdünnung 


')  Boruttau  und  Coppenberg  fanden  in  Capsella- 
drogen  etwa  I  °o  Cholin,  an  organische  Sänre  gebunden  und 
als  Acetylcholin,  weiter  p-Oxyphenyläthylamin  (Tyramin)  und 
eine  dritte  nikolinähnliche  Base.  Apoth.-Ztg.  Bd.  35,  S.  Z6l 
(1920). 


232 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


mit  denen  der  Kontinuierlichkeit   und  Beweglich- 
keit  verbinden;   er   muß,    wie  jeder   terrestrische 
gasförmige  Stoff,   aus   einzelnen  homogenen  Teil- 
chen bestehen,  welche  Schwere,  Trägheit,  Beweg- 
lichkeit, Reibung,  Elastizität   haben  müßten.     Ein 
solcher  Stoff  ist   nur  denkbar   in   der  Form  von 
absolut  leeren  Hohlkügelchen,  deren  Wände  durch 
Ausstrahlung     kleinster    Stoffteilchen     kreisender 
seitens  der  Himmelskörper  gebildet  werden.    Ihre 
kugelige  Form  wird  gebildet   und  erhalten  durch 
schnellste  Kreisung,   welche  durch   die  Wechsel- 
wirkung   der    Eigenrotation    der    Himmelskörper 
mit  ihrer  fortschreitenden  Bewegung  bewirkt  wird, 
und  stuft   sich    von    den  Himmelskörpern  mit  zu- 
nehmender  Größe   nach  dem  kubischen  Abstand 
ab,  so  daß  dieser  Stoff  im  umgekehrten  Verhältnis 
seines  Abstandes  sich  verdünnt.     Nur  ein  solcher 
Stoff,  den  der  Vortragende  mit  „Kosmium"  = 
Weltenstoff  benennt,    kann,   wenn   er  durch    die 
Eigendrehung   eines  größeren  Himmelskörpers  in 
schnelle,  kreisende  Bewegung  versetzt  wird,  durch 
die  Strömung  seiner  Masse  andere  Himmelskörper 
mit   sich   fortreißen   und   auch  diese  in  kreisende 
Bewegung    setzen.      Jedoch    müssen    auch    diese 
durch    Ausstrahlung    und    Bildung    eines   gleichen 
Stoffes    und    Rotation    desselben    eine    so    große 
Sphäre   und  Angriffsfläche   um    sich   bilden,    daß 
sie  durch  den  Druck  und  die  Strömung   der  von 
den  größeren  Himmelskörpern  ausgehenden  Strö- 
mung   und    Strahlung    mitgerissen    und   getragen 
werden   können.     So   ist  auch   bei   der  Erde  ein 
derartiges,   aus  Kosmium   bestehendes  Rotations- 
Sphäroid   anzunehmen,   dessen  Hohlkügelchen  je- 
doch  durch   die  geneigte  Stellung  der  Rotations- 
achse   der    Erde    zu    ihrer    Fortbewegungsebene 
(Ekliptik)  eine  geneigte  Stellung   ihrer  Drehungs- 
achsen zu  den  Erdradien  einnehmen.     Durch  das 
Zusammenwirken    aller    Kügelchen   entsteht   eine 
Schraubenwirkung    von    außen    nach    innen,    die 
das  Herabfallen    und    die    Schwere    aller   Körper 
bewirkt.      In    gleicher    Weise    können    auch    die 
Anziehungserscheinungen    des    Magnetismus    und 
der  Elektrizität   nur  durch   schraubenartige   Rota- 
tionswirkung   geneigt    gestellter,    kleinster    Stoff- 
teilchen  erklärt  werden.     Die   Schnelligkeit   und 
Neigung  ihrer  Rotation  muß  sich  aus  ihren  Wir- 
kungen rechnerisch  ableiten  lassen  und   wird   zu 
denselben  Formen   und  Werten  führen,   die  man 
nach    der    modernen    Atomtheorie     für    einzelne 
Atome  festgestellt  hat;  darum  scheint  der  Schluß 
berechtigt,    daß    auch   alle   Atome   der   irdischen 
Gase  Hohlkügelchenstruktur    mit    einer   schnellen 
Rotation  verbinden.    Nur  dann  wären  alle  gesetz- 
mäßigen Erscheinungen  der  Gase,  z.  B.  ihre  Aus- 
dehnung, ihre  Drucke  und  ihre  Elastizität  einwand- 
frei zu  erklären.     Rückschließend  müssen  wir  auch 
bei  den  von  der  Sonne  ausgehenden  und  bewegten 
Kügelchen   eine   derartige   geneigte   Stellung   an- 
nehmen,  welche   die   Neigung  der  umkreisenden 
Planeten   bewirkt.     Es   muß   ferner   auch  für  die 
Bahn  der  Sonne  eine  zu  ihrem  Äquator  geneigte, 
ungeheure  Sonnenbahn,   gleich  einer  Ellipse,   an- 


genommen werden.  Die  Sonne  muß  diese  Bahn 
in  der  Zeit  einer  Präzession,  also  in  rund  26000 
Jahren,  durchlaufen.  Da  die  Geschwindigkeit  der 
Sonne  etwa  doppelt  so  groß  ist  wie  die  der  Erde, 
muß  auch  die  Bahn  doppelt  so  groß,  also  rund 
52000  mal  so  groß  wie  die  der  Erde  sein.  Um 
sich  einen  Begriff  von  der  ungeheuren  Größe 
dieser  Bahn  zu  machen,  muß  man  sich  vorstellen, 
daß  die  ganze  Jahresbahn  der  Erde  nur  1  mm 
Durchmesser  hätte,  wenn  wir  die  Bahn  der  Sonne, 
des  Sonnenjahres,  mit  52  m  Durchmesser  auf- 
zeichneten. Alle  Vorgänge  der  Himmelsbewegun- 
gen lassen  sich  derart  als  mechanische  Rota- 
tions- und  Strömungserscheinungen  im  stofferfüllten 
Raum  deuten  und  führen  unbedingt  zu  den 
Kepplerschen  Gesetzen.  Wenn  sich  nach 
dem  3.  Kepplerschen  Gesetz  die  Quadrate  der 
Umlaufzeiten  der  Planeten  verhalten  wie  die  Kuben 
ihrer  Abstände  von  der  Sonne,  so  finden  wir  das 
kubische  Verhältnis  unmittelbar  wieder  in  dem 
mit  dem  kubischen  Abstände  sich  verdünnenden 
Kosmium  gemäß  den  Ausführungen  des  Vor- 
tragenden, denn  die  kinetische  Energie  einer  krei- 
senden Gasmasse  steht  überall  in  direktem  Ver- 
hältnis zu  ihrer  Dichte  und  im  quadratischen 
Verhältnis  ihres  Abstandes  vom  Mittelpunkt  und 
ihrer  Winkelgeschwindigkeit.  Folglich  müssen 
sich  bei  einer  sich  verdünnenden  Gasmasse  die 
Umlaufszeiten  mitgerissener  Körper  stets  quadra- 
tisch verhalten  zu  den  Kuben  ihrer  Abstände.  Bei 
solcher  absoluten  ausgleichenden  Wechselbeziehung 
zwischen  Trägheitsmoment,  d.  h.  dem  Strömungs- 
druck der  kreisenden  Gasmasse,  und  der  Schnellig- 
keit der  gedrückten  Körper  ergibt  sich  ohne 
weiteres  auch  das  zweite  Gesetz  Kepplers, 
wonach  der  Leitstrahl  jedes  Gestirns  in  gleichen 
Zeiten  gleiche  Flächenräume  bestreicht;  es  be- 
deutet, daß  die  Bewegung  einer  Gestirnmasse  stets 
der  gleichen  kinetischen  Energie  der  antreibenden 
Strömungsmässe  unterliegt.  —  Das  erste  Kepp- 
1  ersehe  Gesetz  endlich,  daß  die  Planeten  (wie 
alle  Gestirne)  sich  auf  elliptischen  Bahnen  be- 
wegen müssen,  ergibt  sich  überall  aus  den  Nei- 
gungen der  Rotationskörper  zu  ihren  Fortbewe- 
gungen. Dadurch  entsteht  bei  stets  gleichbleiben- 
der Achsenrichtung  ein  periodisch  wechselnd 
starker  gegenseitiger  Druck,  der  seinen  Ausdruck 
in  einer  Ellipsenbahn  finden  muß.  Durch  solche 
rein  körperhaft  irdischen,  durch  Zeichnung  und 
Modell  anschaulich  zu  machenden  Erscheinungen 
werden  die  Newtonschen  Gesetze  mit  ihrer 
Zerlegung  der  Planetenbewegung  in  eine  ewig 
beharrende  ursachlose  Tangentialbewegung  und 
ebenso  unerklärte  Zentralbewegung  als  unvorstell- 
bar, unhaltbar  und  unnötig  erwiesen. 

Petersen. 


Wie  erfolgt  die  Bestäubung  der  Mistel? 

Nachdem  Koelreuter  die  Mistel  (Viscum 
album)  vor  1 50  Jahren  als  insektenblütig  beschrie- 
ben hatte,   kam   diese  Auffassung  später  in  Ver- 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


233 


gessenheit,  und  man  nahm  allgemein  an,  daß  die 
Pflanze  anemophil  sei.  Vor  30  Jahren  rief  dann 
Ernst  Loew  die  Darstellung  Koelreuters 
wieder  in  Erinnerung  und  brachte  sie  durch  eigene 
Beobachtungen  zur  Geltung.  Andere  Beobachter 
(Kirchner,  Lindman)  folgten  ihm.  Vor  kur- 
zem hat  aber  Heinricher  die  Lehre  von  der 
Entomophilie  der  Mistel  wieder  erschüttert,  indem 
er  durch  Versuche  nachwies,  daß  die  Blüten  auch 
ohne  Insektenvermittler  Früchte  entwickelten  und 
daß  eine  Nektarabscheidung  nicht  stattfinde,  auch 
ein  Nektarium  nicht  vorhanden  sei  (siehe  Naturw. 
Wochenschr.  N.  F.  19,  1920,  S.  139).  Nun  sind 
etwa  gleichzeitig  von  v.  Tubeuf  Beobachtungen 
veröffentlicht  worden,  wonach  an  weiblichen 
Mistelblüten  wiederholte  Nektarausscheidung  in 
Tropfen  wahrgenommen  wurde;  als  Sekretions- 
organ kam  allerdings  kein  besonderes  Nektarium, 
sondern  die  Narbe  in  F"rage.  Diese  Angabe  ver- 
anlaßte  Heinricher,  im  Jahre  1920  von  Beginn 
der  Blütezeit  an  (Ende  Februar)  einen  Monat  lang 
mit  Unterstützung  seiner  Assistenten  im  Botani- 
schen Garten  zu  Innsbruck  neue,  sorgfältige  Be- 
obachtungen an  zahlreichen  Mistelbüschen  und 
vielen  Hunderten  von  Blüten  auszuführen.  Das 
Ergebnis  war  folgendes; 

Nektarabsonderung  erfolgt  weder  von  den 
männlichen,  noch  von  den  weiblichen  Blüten.  Alle 
diesbezüglichen  Angaben  beruhen  auf  Täuschun- 
gen; insbesondere  ist  der  von  Tubeuf  an  einer 
weiblichen  Blüte  photographisch  aufgenommene 
und  als  Nektar  aufgefaßte  Tropfen  auf  atmosphä- 
rische Niederschläge  zurückzuführen.  Der  Insekten- 
besuch der  Mistelblüten  ist  außerordentlich  gering. 
Außer  den  bekannten  Besuchern,  nämlich  Bienen 
und  Fliegen  der  Gattungen  Pollenia  und  Spilo- 
gaster  wurden  einmal  eine  Hummel  (Bombus  la- 
pidarius)  und  öfters  zwei  Arten  der  Fliegengattung 
Sepsis  auf  Mistelbüschen  angetroffen ;  diese  Fliegen 
kommen  als  gelegentliche  Bestäuber  gewiß  in 
Betracht,  wenn  auch  den  größeren  Arten  der  ge- 
nannten Gattungen  mehr  Bedeutung  zukommt. 
Bienen  und  Hummeln  besuchten  nur  die  männ- 
lichen Blüten,  vermitteln  daher  keine  Bestäubung. 
Beträchtlich  höhere  Bedeutung  als  der  Bestäubung 
durch  Insekten  kommt  der  Windbestäubung  zu, 
falls  überhaupt  Pollenübertragung  erforderlich  ist. 
Streng  nachgewiesen  ist  die  Windbestäubung 
nämlich  noch  nicht,  und  es  erscheint  möglich,  daß 
sich  die  früheren  Beobachtungen  über  Frucht- 
bildung der  Mistel  ohne  Insektenvermittlung  durch 
das  Vorliegen  somatischer  Parthenogenese  (d.  h. 
Entwicklung  des  unbefruchteten  Eies  ohne  vor- 
gängige Chromosomenreduktion  im  Kerne)  er- 
klären. Daß  das  Fruchten  weiblicher,  vor  Insekten- 
besuch geschützter  Stöcke  nicht  auf  Partheno- 
karpie  (Fruchtbildung  ohne  Bestäubung  und  ohne 
Samenentwicklung)  beruht,  hatte  Heinricher 
schon  gezeigt.  Weitere  Untersuchungen  müssen 
die  Frage  entscheiden,  ob  die  Mistel  wirklich  anemo- 
phil oder  aber  parthenogenetisch  ist  (Biol.  Zentralbl. 
Bd.  40,  1920,  S.  514—527).  F.  Moewes. 


Über  Hermaphroditismus  bei  verschiedeu- 
gesclilechtlichea  Zwillingeu  des  Biudes. 

Nach  dem  „Schweizer  Archiv  f.  Tierheilkunde" 
Bd.  62,  H.  6  kommen  die  verschiedengeschlecht- 
lichen Zwillinge  des  Rindes  in  einem  großen 
Prozentsatz  mit  einer  Mißbildung  des  Genitales 
beim  weiblichen  Tiere  zur  Welt.  Diese  Anomalie 
ist  abhängig  von  dem  frühzeitigen  Auftreten  einer 
Gefaßanastomose  an  den  beim  Rinde  fast  ausnahms- 
los miteinander  verwachsenden  Chorionsäcken  der 
Zwillingsfrüchte,  indem  auf  diese  Weise  Geschlechts- 
hormone des  in  der  Entwicklung  vorauseilenden 
Hodens  das  Weibchen  treffen  und  dessen  Ge- 
schlechtsorgane beeinflussen.  Die  letzteren  ent- 
wickeln sich  nunmehr  im  Sinne  des  blastogenen 
Hermaphroditismus.  In  der  Keimdrüse  speziell 
lassen  sich  dann  männliche  und  weibliche  Elemente 
nachweisen,  von  denen  die  weiblichen  primär, 
die  männlichen  aber  sekundär  infolge  Beeinflus- 
sung durch  Hormone  des  zweiten  Zwillingsindi- 
viduums entstehen.  Es  handelt  sich  also  um  eine 
Maskulierung  weiblich  prädestinierter  Geschlechts- 
organe. 

Der  Fall  der  „Zwicken"  —  so  nennt  man 
in  der  Schweiz  diese  fraglichen  Abkömmlinge  der 
Rinder  —  gehört  zum  echten  oder  blastogenen 
Zwitter.  Diese  Anomalie  ist  in  allen  Graden 
denkbar  vom  eben  noch  normalen  Weibchen  aus 
über  die  weitaus  häufigste  Form  mit  starker  Hy- 
poplasie der  Keimdrüse  hinweg,  die  äußerlich 
weder  einem  Hoden  noch  einem  Ovar  gleicht  bis 
zu  jenen  Fällen,  in  denen  ein  relativ  großer,  sekun- 
där entstandener  Hoden  das  Bild  charakterisiert. 
Der  Grad  der  Vermännlichung  ist  abhängig  von 
der  Zeit  der  Ausbildung  der  Gefaßanastomose  und 
von  der  Intensität  der  innersekretorischen  Tätig- 
keit der  Hoden  im  Einzelfalle.  Die  Hormon- 
theorie vermag  den  wesentlichen  Teil  der  Er- 
scheinungen am  Genitale  der  mißgebildeten 
Zwillingsweibchen  aus  verschiedengeschlechtiger 
Herkunft  in  befriedigender  Weise  zu  erklären. 
Bei  multiparen  Tieren  ist  das  Vorkommnis  dem- 
nach auch  leichter  möglich  als  bei  uniparen,  wie- 
wohl auffallenderweise  hierüber  in  der  Literatur 
noch  wenig  berichtet  wurde.  Auch  der  drastische 
Fall  eines  echten  Hermaphroditen  bei  einem  russi- 
schen Panjepferd,  wie  er  in  der  „Berl.  Tierärztl. 
Wochenschr."  beschrieben  wurde  (vgl.  auch  Naturw. 
Wochenschr.  Nr.  10,  1921,  S.  152  „Blastogener 
Hermaphroditismus"),  würde  sich  in  seiner  Genese 
leicht  erklären  lassen,  wenn  man  über  seine 
Provenienz  als  Zwilling  Gewißheit  erhalten  hätte. 

Das  Auftreten  von  Zwischenzellen  hetero- 
gener, wie  homogener  Art  in  den  mißgebildeten 
Keimdrüsen  der  erwachsenen  Zwicken  bedarf 
noch  der  Aufklärung  und  diese  Frage  ist,  wie  die 
„Berl.  Tierärztl.  Wochenschr."  zutreffend  bemerkt, 
an  den  durch  die  Steinachschen  Operationen 
gewonnenen  Resultaten  zu  prüfen.  Durch  Sam- 
meln zahlreicher  Fälle  der  hier  behandelten  Ano- 
malie ist  die  Frage  zu  entscheiden,    ob   morpho- 


234 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   15 


logisch  gleichgeartete  Formen  der  Mißbildung 
auch  bei  einzelgeborenen  Tieren  des  Rinder- 
geschlechtes vorkommen. 

Die  besprochene  Mißbildung  bei  Zwillingen  ist 
eine  —  mit  Ausnahme  eines  von  Keller  bei  der 
Ziege  beschriebenen  Falles  —  nur  auf  die 
Rinderspezies  zu  beziehende  Erscheinung  von 
spezifischer  Art.  Unabhängig  von  ihr  sind  aber 
auch  beim  Rinde  alle  anderen  Formen  des  Her- 
maphroditismus zu  beobachten,  die  nicht  an 
Zwitterschwangerschaft  gebunden  sind,  die  im 
allgemeinen  dem  falschen  Zwitter  angehören  und 
die  auch  andere  Tierarten  betreffen.  Deshalb 
kommen  beim  Rinde,  bei  dem  Zwillingsgeburten 
relativ  häufig  sind,  weit  mehr  Fälle  von  Herma- 
phroditismus zur  Feststellung  als  bei  irgendeiner 
anderen  Spezies.  Reuter. 

Aschenbild  nnd  Pflanzeuverwandtschaft. 

(Mit  7  Abbildungen.) 

Unter  diesem  Titel  hat  Hans  Molisch 
jüngst  ein  neues  und  eigenartiges  Verfahren 
beschrieben,  das  in  vielen  Fällen  die  syste- 
matische Zugehörigkeit  einer  Pflanze  festzu- 
stellen erlaubt.  Seit  langer  Zeit  schon  zieht  die 
Pflanzensystematik  anatomische  und  mikroche- 
mische Merkmale  für  ihre  Zwecke  heran.  M  o  - 
lisch  legt  nun  dar,  daß  auch  die  mikroskopische 
Untersuchung  der  Asche  wertvolle  Fingerzeige 
geben  kann.  Die  Asche  der  Pflanzen  weist  näm- 
lich unter  dem  Mikroskop  oft  sehr  bezeichnende 
Bilder  auf,  was  entweder  darauf  beruht,  daß  die 
Membranen  stark  mit  unorganischen  Stoffen  in- 
krustiert sind,  oder  daß  die  Zellen  derartig  zu- 
sammengesetzte Inhaltskörper  enthalten.  Das 
Aschenbild  oder  Spodogramm  (oTtodöc  = 
Asche)  „ist  für  viele  Pflanzen  oft  ebenso  charakte- 
ristisch wie  die  Form  des  Blattes,  die  Zahl  der 
Blütenblätter  oder  der  Bau  der  Samenknospe  .  .  ." 
Zwar  lassen  sich  die  bezeichnenden  Eigentümlich- 
keiten auch  in  dem  unverbrannten  Gewebe  er- 
kennen, aber  in  dem  rasch  zu  gewinnenden  Aschen- 
bild treten  sie  mit  viel  größerer  Deutlichkeit  und 
Übersichtlichkeit  hervor.  Zur  Untersuchung  wer- 
den die  (frischen  oder  trockenen)  Pflanzenteile 
(Verf.  zieht  vorzugsweise  die  Blätter  heran)  in 
einem  offenen  Porzellantiegel  möglichst  bis  zum 
Weißwerden  verascht.  Teile  der  Asche  werden 
dann  behutsam  auf  den  Objektträger  gelegt  und 
mit  einem  Tropfen  Anilinöl  oder  Phenol  be- 
handelt, wodurch  das  Präparat,  ohne  sonst  ver- 
ändert zu  werden,  gut  durchsichtig  gemacht  wird. 
Nötigenfalls  kann  auch  Kanadabalsam  verwendet 
werden. 

Abb.  I  zeigt  ein  Aschenbild  des  Blattes  von 
Strobilanthes  isophyllus.  Die  Pflanze  gehört  zu 
den  Acanthaccen,  bei  denen  die  eigenartig  ge- 
stalteten, mit  Kalkkarbonat  inkrustierten  Wandver- 
dickungen, die  als  Z  y  s  t  o  1  i  t  h  e  n  bezeichnet  wer- 
den, sehr  verbreitet  sind.  Auf  dem  Bilde  sieht 
man  sie    in  maiskolbenähnlicher  Gestalt  (c)  dicht 


beisammen  liegen.  Über  den  Gefäßbündeln  sind 
sie  parallel  zu  den  Längsachsen  angeordnet;  sonst 
liegen  sie  zumeist  quer  oder  schief  zur  Längs- 
achse des  Blattes.  Das  Aussehen  der  Asche  läßt 
die  Zugehörigkeit  der  Pflanze  zu  den  Acanthaceen 
erkennen.  Ebenso  haben  die  Moraceen  und  die 
Urticaceen  durch  das  massenhafte  Auftreten  von 
Zystolithen  besonderer  Form  ausgeprägte  Spodo- 
gramme. 


Abb.   I. 


Abb.  2. 


Bei  verschiedenen  Familien  spielen  bekanntlich 
Ka,lkoxalatausscheidungen  eine  Rolle,  die  in  Form 
von  Raphiden,  von  Kristallsand,  von  Einzelkristallen 
oder  Drusen  auftreten.  Für  die  Iridaceen  scheint 
der  Besitz  großer,  spießförmiger  Kristalle  bezeich- 
nend zu  sein.  Eine  Vorstellung  davon  gibt  das 
Aschenbild  von  Iris  germanica  in  Abb.  2.  Die 
zahlreichen  Kristallspieße  (k),  die  parallel  zur  Längs- 
achse des  Blattes  gerichtet  sind,  sind  schon  lange 
bekannt  und  werden  auch  in  Gewebsschnitten  ge- 
sehen, aber  erst  in  der  Asche  treten  sie  so  deut- 
lich hervor. 


Abb.  3. 


Abb.  4. 


Zu  den  schönsten  Aschenbildern  gehören  die 
Kieselskelette,  die  vielen  Pflanzen  eigentümlich 
sind  und  in  der  Asche  nach  Behandlung  mit 
2oproz.  Salzsäure  sichtbar  werden.  Bei  verschie- 
denen Farnen  z.  B.  sind  die  Epidermen  verkieselt, 
und  im  Aschenbilde  zeigen  sich  ihre  wellig  kon- 
turierten  Zellen,  wie  in  Abb.  3  (Pteridium  aqui- 
linum).  Sehr  bekannt  sind  ja  auch  die  Kiesel- 
skelette der  Schachtelhalme.  Eine  ausgedehnte 
Verkieselung  tritt  ferner  bei  den  Gräsern  auf  und 
ist  auf  der  Abb.  4  erkennbar,  die  das  Aschenbild 
einer  Bambusart  darstellt.    Das  Spodogramm  zeigt 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


235 


ein  anscheinend  unverändertes  Bild  des  Gewebes 
mit  den  eigentümlichen,  vierzelligen  und  reihen- 
weis angeordneten  Spaltöffnungen  (s),  den  wellen- 
förmig konturierten  Oberhautzellen  (e),  von  denen 
manche  (se)  mit  Kieselsäure  völlig  erfüllt  sind, 
und  die  charakteristischen  Kieselkurzzellen  (k),  die 
bei  den  verschiedenen  Gräsern  wechselnde  Ge- 
stalt zeigen.  Die  Zugehörigkeit  des  Objekts  zu 
den  Gramineen  ist  an  diesen  Elementarorganen 
deutlich  erkennbar. 

Das  Spodogramm  der  Halbgräser  (Cyperaceen) 
zeigt  gleichfalls  den  welligen  Umriß  der  Epi- 
dermiszellen  und  auch  eine  ähnliche  Bildung  und 
Anordnung  der  Spaltöffnungen,  aber  keine  Kiesel- 
kurzzellen, sondern  statt  ihrer  eigentümliche 
Epidermiszellen  mit  kegelförmigen,  verkieselten 
Verdickungen  der  Innenwand.  Man  erkennt  diese 
für  die  Cyperaceen  höchst  bezeichnenden  „Kegel- 
zellen" auf  Abb.  5  (Aschenbild  von  Carex  silvatica) 
bei  k  in  der  Seitenansicht,  bei  k,  in  der  Aufsicht. 
Der  Besitz  oder  der  Mangel  der  Kegelzellen  bei 
gewissen  Gattungen  von  unsicherer  systematischer 
Stellung  ist  bei  der  Entscheidung  der  Frage,  ob 
sie  den  Cyperaceen  zuzuzählen  sind  oder  nicht, 
wesentlich  ins  Gewicht  gefallen. 


^«^tii 


^^!>^^-^- 


Abb.   ;. 


Abb,  6. 


Abb.   7. 

Bei  mehreren  Monokotylenfamilien  (Orchideen 
z.  T.,  Marantaceen,  Musaceen,  Palmen  u.  a.  m.) 
finden  sich  mit  Kieselkörpern  erfüllte  Zellen,  die 
den  Baststrängen  anliegen  (Deckplättchen  oder 
Stegmata),  die  in  der  Asche  einen  guten  Anhalt 
für  die  Bestimmung  bieten.  Abb.  6  zeigt  das 
Spodogramm  von  Musa  paradisiaca  mit  Ketten 
von  Deckplättchen  (d)  und  verkieselten  Schrauben- 
gefäßen (g). 


Auch  bei  Dikotylen  finden  sich  charakteristische 
Kieselaschen.  Besonders  hübsch  ist  das  nach  Be- 
handlung mit  Salzsäure  erhaltene  Aschenbild  des 
Blattes  von  Deutzia  scabra  mit  den  reichlich  vor- 
handenen sternartigen,  verkieselten  Haaren  (Abb.  7,  h; 
bei  e  und  m  verkieselte  Epidermis-  und  Meso- 
phyllstücke). 

Nicht  selten  kann  das  Spodogramm  die  Er- 
kennung von  Drogen,  Nahrungs-  und  Genußmitteln 
und  anderen  Rohstoffen  erleichtern.  Molisch 
teilt  auch  hierfür  eine  Anzahl  Beispiele  mit  und 
empfiehlt  die  Schaffung  eines  Atlasses  solcher 
Aschenbilder  zur  Ergänzung  und  Verfeinerung  der 
bisherigen  Methodik.  Auch  weist  er  auf  die 
Wichtigkeit  der  mikroskopischen  Aschenunter- 
suchung bei  vorgeschichtlichen  Pflanzenresten  hin 
(Sitzungsberichte  der  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Wien.  Math.-naturw.  Kl.  Abt.I,  Bd.  129,  H.  5/6, 
S.  261 — 294).  F.  Moewes. 


Geographie  des  Kiliniandscharogebiets. 

Ergebnisse  seiner  Forschungen  am  Kili- 
mandscharo hat  F.  Klute  jüngst  bei  Dietrich 
Reimer  in  Berlin  veröffentlicht,  *)  die  einen  wich- 
tigen Beitrag  zur  Landeskunde  des  bisherigen 
deutsch-ostafrikanischen  Schutzgebietes  bilden.  In 
bezug  auf  den  Aufbau  des  Kilimandscharogebirges 
stellt  Verf.  fest,  daß  es  aus  drei  einzelnen  Vul- 
kanen besteht.  „Jeder  ist  für  sich  entstanden  und 
nur  durch  die  gegenseitige  Überlagerung  der 
Auswurfsmassen  sind  sie  zu  einem  Gebirge  ver- 
schmolzen. Es  besteht  also  kein  Basisgebirge,  das 
allen  drei  Vulkanen  gemeinsam  wäre,  wie  dies 
Hans  Meyer  annimmt,  sondern  jeder  derselben 
entspringt  einem  eigenen  Eruptionszentrum  und 
ist  im  Aufbau  selbständig.  Allerdings  liegen  die  drei 
Eruptionszentren  ungefähr  auf  einer  Geraden,  die 
fast  Ost-West  verläuft  und  einer  tektonischen 
Linie  des  Untergrundes  entsprechen  mag.  Die 
Eruptionszentren  liegen  12  und  16  km  voneinan- 
der entfernt.  Sie  hatten  allem  Anschein  nach 
diese  Lage  von  Anfang  an.  Die  drei  Vulkane 
erreichen  eine  beträchtliche  Höhe  und  damit 
großen  Durchmesser,  so  daß  trotz  des  großen 
Abstandes  voneinander  sich  ihre  Flanken  über- 
decken und  derart  ineinandergreifen,  daß  sie  zu 
einem  Gebirge  verwachsen  sind."  Die  Ost-West- 
ausdehnung des  Gebirges  beträgt  90  km,  die 
Breite  60  km.  Von  den  drei  Bergen  ist  der  Kibo 
mit  5930  m  der  höchste;  dann  kommt  der  Ma- 
wensi  mit  5270  m,  während  der  Schira  nur  etwa 
4000  m  Höhe  erreicht.  Der  Kibo  zeigt  „die 
edelgeschwungene  Kurve  eines  Schichtvulkans, 
dessen  Neigung  progressiv  nach  oben  wächst  und 
keinerlei  Störungen  aufweist,  außer  solchen,  die  auf 
erosivem  Wege  entstanden  sind.  Ein  Schnitt  von 
Ost  nach  West  zeigt  dagegen  eine  Kurve,  die 
sich   schnell   verflacht.     Das   Gefälle   wird   durch 


')  VIII  u.  136  S.,  8  Tafeln,  8  Textfiguren  und 
phologrammetrische  Karte. 


236 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


die  Hänge  des  Schira  und  Mawensi  aufgehoben." 
Der  Mawensi  ist  ein  selbständiger  Schichtvulkan, 
der  auf  der  Westseite,  vermutlich  durch  Über- 
lagerung der  untersten  Kibohänge,  seine  Neigung 
eingebüßt  hat  und  dessen  Kegel  somit  schräg 
zur  Oberfläche  steht.  Der  Schira  erhebt  sich  nur 
wenig  über  die  Basisfläche  und  erscheint  von 
unten  nicht  als  selbständiger  Berg. 

Die  Abtragung  ist  wegen  der  verschiedenen 
Gesteinsbeschaffenheit  am  Mawensi  in  der  gleichen 
Zeit  viel  bedeutender  gewesen  als  am  Kibo.  Die 
Verwitterung  des  Bodens  ist  besonders  stark  und 
tiefgründig  in  der  Urwaldregion.  Die  Bäche 
sind  tief  eingeschnitten,  die  mit  Wald  bestandenen 
Hänge  der  unterschnittenen  Tallehnen  sind  viel- 
fach abgerutscht.  Die  unzerschnittenen  Teile  der 
alten  Oberfläche  bieten  in  den  tieferen  Lagen 
Raum  für  menschliche  Siedlungen.  Roter  Lehm, 
zum  Teil  mit  Gesteinsbrocken  durchmengt,  be- 
deckt metertief  die  Erde.  „In  der  bebauten  und 
bewohnten  Gegend  ziehen  Wege  und  Bäche  als 
rote  Linien  durch  das  Grün  der  Äcker,  ziegelrot 
in  der  Trockenheit  und  scharlachrot  nach  den 
ersten  Regengüssen."  Im  Urwald  wird  der 
Boden  „auch  in  der  Trockenzeit  dauernd  feucht 
gehalten.  Fallen  keine  Niederschläge,  so  gibt  die 
häufige  Nebelbildung  immerhin  genug  Feuchtig- 
keit an  den  Wald  ab,  und  das  dichte  Blätterdach 
schützt  fast  vollständig  vor  den  austrocknenden 
Sonnenstrahlen.  Am  Boden  liegen  meterdicke 
Baumstämme,  von  Grün  überwuchert,  in  die  der 
Fuß  einbricht,  wenn  man  über  sie  hinwegsteigen 
will".  —  Oberhalb  der  Urwaldzone  beginnt  das 
Gebiet  der  glazialen  Schotter  und  Mo- 
ränen im  Süden  in  rund  3000  m  Höhe,  im  Nor- 
den etwa  400  m  höher.  „Die  glazialen  Schotter- 
und Sandmassen  befinden  sich  teils  in  ursprüng- 
licher Lagerung,  teils  sind  sie  vom  Wasser  ver- 
schwemmt. Sie  bedecken  aber  das  ganze  Gebiet 
der  früheren  Vereisung,  soweit  nicht  der  anstehende 
Fels  zutage  tritt."  Besonders  am  Mawensi  sind 
diese  glazialen  Ablagerungen  sehr  mächtig.  Der 
glaziale  Landschaftscharakter  ist  noch  deutlich 
ausgeprägt.  Die  erosiven  Kräfte  sind  verhältnis- 
mäßig schwach ;  „ein  Teil  der  Niederschläge  fällt 
schon  als  Schnee  und  fließt  deshalb  langsam  ab. 
Aber  auch  der  größere  Teil,  der  als  Regen  fällt, 
übt  keine  große  Wirkung  aus,  da  er  quantitativ 
gering  ist.  Das  Einschneiden  der  Bäche  seit  der 
Eiszeit  ist  sehr  gering,  und  die  Moränen  sind 
mehr  durch  den  Wind  gestört".  Die  täglichen 
Temperaturschwankungen  sind  groß,  die  Ver- 
dunstung ist  stark ;  die  Niederschläge  sind  gering, 
doch  wird  der  Abgang  teilweise  durch  starke  Tau- 
bildung ausgeglichen.  Frostwirkung  macht  sich 
geltend.  —  Ganz  allmählich  geht  die  alpine  Steppe 
in  die  tropische  Wüste  über.  Eine  scharfe 
Trennung  beider  Zonen  ist  jedoch  nicht  möglich. 
Die  erste  Wüstenerscheinung  ist  die  Wüstenrinde, 


die  im  Kilimandscharogebiet  braun  und  speck- 
glänzend ist.  Sie  entsteht  dadurch,  daß  der  Eisen- 
gehalt des  Gesteins  gelöst  an  die  Oberfläche  ge- 
bracht wird.  Während  die  Feuchtigkeit  rasch 
verdunstet,  bildet  sich  aus  dem  Eisen  eine  Kruste. 
Der  Speckglanz  entsteht  wahrscheinlich  durch 
den  schleifenden  Sandwind.  Auf  starke  Wind- 
wirkung weisen  ferner  die  Wüstenrillen  an  der 
Unterseite  großer  Blöcke  und  die  Pilzfelsen  hin, 
ebenso  Gitterstruktur  und  Wüstentaschen.  Auch 
die  größeren  Felsformen,  die  noch  in  der  Glazial- 
zeit ihre  Form  erhalten  haben,  sind  vom  Wüsten- 
klima beeinflußt.  Sie  weisen  Löcher  und  Höhlen 
auf  und  zeigen  gerundete  Kanten.  Andererseits 
zersprengen  große  Sprünge  das  Gestein.  Neben 
den  Gitterformen  des  Wüstenklimas  treten  auch 
noch  Regenrinnen  auf,  wie  sie  an  den  steilen 
Talwänden  der  Glazialtäler  und  an  Karrückwänden 
vorkommen.  Als  Abtragungsprodukte  sind  tiefer, 
trockener  Sand  und  große  Mengen  Staub  vorhan- 
den. Wo  „das  Gestein  in  senkrechten  Wänden 
ansteht,  findet  Wandverwitterung  statt,  teils  durch 
das  Wüstenklima,  teils  durch  Frostverwitterung. 
An  allen  Wänden  und  Türmen  kann  man  an  den 
Schichträndern  Girlanden  von  Eiszapfen  wahr- 
nehmen. Besonders  gut  kann  das  Wasser  ein- 
dringen, seitdem  in  der  Schichtenfolge  durch 
Erosion  Lücken  entstanden  sind.  Die  Frostver- 
witterung ist  bis  in  die  höchsten  Höhen  tätig, 
überall,  wo  der  Fels  nicht  vom  Eis  bedeckt  ist. 
Gewaltige  Schuttmassen  beweisen  ihre  Wirkung. 
Steinschlag  ist  noch  jetzt  häufig".  Weit  größere 
Gesteinsmengen  als  in  den  Alpen  werden  zu  Tal 
befördert. 

Neben  der  Großzügigkeit  und  Wucht  des  Kibo 
sind  es  Schnee  und  Eis,  die  den  Beobachter  in 
Erstaunen  versetzen;  sie  bringen  bei  dem  klaren 
Licht  sowohl  unter  tags  als  auch  in  mondhellen 
Nächten  ihr  blendendes  Weiß  zur  Geltung,  das 
sich  bei  Sonnenauf-  und  -Untergang  mit  einem 
zarten  Rosa  mischt.  Der  Mawensi  trägt  nur  einen 
kleinen  Kargletscher  auf  seiner  Südwestseite,  der 
aber  von  unten  nicht  zu  sehen  ist.  Der  Eismantel 
des  Kibo  krönt  im  Norden  und  Osten  nur  die 
Zinnen  des  Berges,  im  Süden  dagegen  ist  die 
ganze  Front  der  Erhebung  über  4700  m  mit  Eis 
gepanzert  und  im  Westen  reicht  es  ebenfalls  bis 
zu  dieser  Höhe  herab.  Auf  diesen  beiden  Seiten 
ist  das  Ende  des  Eismantels  in  einzelne  Gletscher 
gelappt.  Die  östliche  Barrancowand  ist  wegen 
ihrer  Steilheit  frei  von  jeder  Vereisung.  Klute 
bringt  eingehende  Aufschlüsse  über  die  Verglet- 
scherung und  auch  das  Klima  des  Kilimandscharo 
kennzeichnet  er  ausfuhrlich.  Dazu  kommen  noch 
kürzere  Abschnitte  über  die  Vegetation  sowie  über 
das  Alter  des  Kilimandscharo.  Sein  Buch  ist  ein 
sehr  schätzenswerter  Beitrag  zur  Geographie  un- 
serer früheren  ostafrikanischen  Kolonie. 

H.  Fehlinger. 


N.  F.  XX.  Nr.  15 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


m 


Bücherbesprechungen. 


Klaatsch,  Prof.  Dr.  H.,   DerWerdegang  der 
Menschheit    und    die   Entstehung    der 
Kultur.     Nach   dem  Tode  des   Verf.   heraus- 
gegeben von  Dr.  med.  Adolf  Heilborn.    386  S. 
mit  317  Abb.  und    14  Tafeln.     Deutsches  Ver- 
lagshaus Bong  1920. 
„Wenn   Gott   der   Inbegriff  der  Wahrheit   ist, 
so  muß  auch  jegliche   Erforschung  der  Wahrheit 
als  ein  Gottesdienst  gelten." 

Heilborn  konnte  das  Werk  seines  ver- 
storbenen Freundes  wohl  kaum  besser  einleiten, 
als  mit  dessen  eigenen  Worten,  die  uns  wie 
ein  religiöses  Bekenntnis  anmuten  und  zeigen, 
was  auch  ihm  Ziel  und  Endzweck  jeder  Forschung 
war. 

Die  Einführung  bringt  einen  Lebenslauf 
von   Klaatsch,    der    zeigt,    wie    schwer   auch 
geniale  Forscher,  die  sich  nicht  nur  als  „Schüler" 
einer    Autorität    bezeichnen,    sondern    versuchen, 
eigene  von  der  herrschenden  Meinung  abweichende 
Wege  zu  gehen,  ist,  sich  durchzusetzen  vermögen. 
Zum  ersten  Male  entwickelte  er  1899  auf  dem 
Naturforschertage    in    Lindau    seine    eigenartigen 
Gedanken,  gegen  die  der  alte  Ranke  den  Bann- 
strahl  schleuderte:   „Das   ist   keine   Wissenschaft, 
sondern  Phantasie".   Der  Mensch,  ein  Abkömmling 
niederster   Primaten,   diese  eine  ursprünglich  ge- 
bliebene (primitive  Zähne  und    handartige,    wenig 
zu   Spezialformen   umgeformte    Gliedmaßen)    nur 
an  der  Wurzel    mit    den    übrigen   Säugern    zu- 
sammenhängende Gruppe  derselben,   das   ist   die 
Quintessenz   der   Klaatschschen  Entwicklungs- 
lehre,   die  sich  erst  allmählich  in  immer  weiteren 
Kreisen  der  Wissenschaft  durchgesetzt  hat.  Auf  aus- 
gedehnten Reisen  sucht  er  Vergleichsmaterial  und 
erforscht  die  niederste  Menschenrasse,  die  A  u  s  t  r  a  - 
Her.     Von  Haus  er  wird  er  gerufen,   sobald   es 
gilt,  in  der  Dordogne  einen  neuen  Fund  des  Ur- 
menschen geschickt  zu  bergen.  —  Dann  eine  viel- 
seitige   Tätigkeit    in    Vorträgen    und    zahlreichen 
Abhandlungen,   die   sich  auch  geschickt  an  einen 
breiteren  Leserkreis   wandten.     Und   wieviel   Be- 
lehrung   ließ    er    nicht   in   selbstloser  Weise   den 
Besuchern    seines    Breslauer  Museums    zuteil  wer- 
den 1      Zu   früh  starb   er  im  Alter  von  52  Jahren 
am  5.  Januar  1916  an   den  Nachwirkungen   eines 
Malariaanfalls,   den   er   sich  auf  seiner  Australien- 
reise zuzog.    Aber  er  lebt  fort;  nicht  nur  in  seinen 
Schriften,  sondern  auch  in  dem  von  ihm  in  Bres- 
lau gegründeten  Museum,   einer   der   wichtigsten 
Fundgruben  für  jeden  Forscher   auf  dem  Gebiete 
der  Vorgeschichte  des  Menschen. 

Es  sind  gereifte  Gedanken,  die  er  in  seinem 
letzten  Werke  vorträgt.  Sie  werden  nie  ihre  Be- 
deutung verlieren,  auch  wenn  man  sich  seinen 
kühnsten  Theorien  gegenüber  ablehnend  ver- 
halten muß. 

Zuerst  behandelt  Klaatsch  „Die  Stam- 
mesgeschichte der  Vormenschheit  und 


die    natürlichen    Vorbedingungen     der 
Kultur". 

Besonderes  Gewicht  legt  er  auf  die  Heraus- 
bildung der  Hand,  durch  die  ja  erst  der 
Mensch  zu  seiner  heutigen  Bedeutung  gelangte, 
während  die  übrigen  Säuger  ihre  Gliedmaßen  er- 
heblich umformten,  sie  in  einseitiger  Anpas- 
sung (Huftiere,  Krallentiere  usw.)  weiter  ent- 
wickelnd. Von  den  übrigen  Menschenaffen,  die 
als  „mißlungene  Versuche  der  Mensch- 
werdung" betrachtet  werden,  steht  wohl  der 
Gibbon  dem  ursprünglichen  Ausgangsstadium  am 
nächsten.  Dieser  erste  Abschnitt  bringt  einen 
guten  Überblick  über  die  Keimesgeschichte 
des  Menschen.  Zu  den  vielen  Andeuiungspunkten, 
die  an  ein  „Meerwasserstadium"  erinnern  (Kiemen- 
bögen,  Kiemenspalten,  das  Blutserum  als  verdünntes 
Salzwasser),  kommt  die  Zusammensetzung  der 
Knochensalze,  die  noch  heute  Spuren  von  Fluor 
und  Magnesia,  charakteristischen  Bestandteilen 
des  Meerwassers,  enthalten. 

Ein  weiterer  Abschnitt  bringt  „Die  Aus- 
prägung derMenschenmerkmale  und  die 
Uranfänge  der  Kultur".  Eingehend  werden 
das  Leben  der  Menschenaffen,  die  Ausbildung  des 
Menschenfußes,  der  Sprache  und  vor  allem  die 
Sitten  der  Australier  geschildert  in  ständigen  Ver- 
gleichen mit  den  Sitten  anderer  Naturvölker  und 
den  Höhlenzeichnungen  des  Jungpaläolithikums, 
die  er  zum  Teil  für  jünger  hält,  als  ihre  Entdecker 
es  annehmen (S.  11 8  Alperahöhle).  „D er  Mensch 
ist  ein  Herdentier,  aus  der  Herde  hat 
sich  die  Horde  entwickelt"  (S.  150).  Zweifel- 
los anfechtbar  ist  es  m.  E.,  daß  es  „schon  längst 
vor  der  Eiszeit  Menschen  in  Gegenden  gab,  die 
weit  von  Europa  abliegen"  (S.  95)  und  „die 
Verbreitung  der  heute  lebenden  Formen  uns  auf 
eine  Urheimat  hinweist,  die  ebenso  zu  Afrika,  wie 
zu  Australien  und  Asien  Beziehungen  gehabt  haben 
muß"  (S.  91).  Wie  ich  an  anderer  Stelle  schon 
kurz  angedeutet  habe,i)  stimmt  dies  wahrschein- 
lieh  nicht,  sondern  ist  ein  Trugschluß.  Ein  Ge- 
biet, welches  wie  die  Tropenzone,  ein 
Verharren  altertümlicher  Formen  be- 
günstigt, kann  unmöglich  einEntwick- 
lungszentrum  höherer  Formen  sein. 

„Die  vorgeschichtliche  Menschheit 
und  ihre  Kultur"  bringt  ein  dritter  Abschnitt. 
Eine  farbige  Tafel  (S.  304)  stellt  die  bisher  be- 
kannt gewordenen  altsteinzeitlichen  Menschen- 
funde in  Europa  zusammen.  Besonders  wichtig 
ist  die  hier  zum  ersten  Male  gebotene  Darstellung 
der  wichtigen  Funde  von  Predmost,  die  durch 
das  Entgegenkommen  von  Dr.  K.  Absolon 
möglich  wurde  und  eine  Fülle  von  Originalphoto- 
graphien,  sowie  die  Behandlung  des  von  Hauser 
entdeckten     Micoquien.      Eingehend    erörtert 


')  Olbricht,  Der  erdkundliche  Lehrstoff  in  neuzeitlicher 
Gestaltung  (Ferdinand  Hirt  I02i),  Karte   14  und  15. 


238 


Nfaturwissenschaftliche  Wochensdirift. 


N.  N.  XX.  Nr.   1 5 


Klaatsch  auch  die  Entwicklung  der  Eiszeit- 
menschen und  die  Frage  nach  der  Bleichung 
der  weißen  Rasse.  Auf  S.  273  bringt  er 
seinen  schon  häufig  dargestellten  „Versuch  eines 
Schemas  zur  Erläuterung  der  Herkunft  der  Men- 
schenrassen und  Menschenaffen".  Als  Entwick- 
lungsherd betrachtet  er  Indoaustralien.  Von 
diesem  gingen  nach  allen  Richtungen  Strömungen 
aus,  die  sowohl  Menschenaffen,  als  auch  Menschen 
liefern.  Den  primitiven  Gibbon  vergleicht  er  mit 
dem  Heidelbergmenschen,  den  Orang  mit  dem 
Aurignakmenschen  und  dem  Europäer,  den  Neger 
mit  dem  Gorilla.  Diese  auffallenden  Ähnlichkeiten 
sind  ihm  ein  Beweis  dafür,  daß  —  wie  schon 
F.  Melchers  annahm  —  der  Mensch  nicht 
einerWurzel  entstammt,  sondern  aus  mindestens 
drei  verschiedenen  (Polyphylie).  Abgesehen 
davon,  daß  manche  der  von  Klaatsch  durch 
Vielstämmigkeit  erklärten  Eigenarten  durch 
Konvergenz  besser  erklärt  werden,  spricht  da- 
gegen nicht  nur  die  Fähigkeit  aller  Menschen- 
rassen miteinander  Bastarde  zu  bilden ,  sondern 
auch  die  Tatsache,  daß  nach  Klaatschs  eigenen 
älteren  Arbeiten  z.  B.  der  Neandertaler  ein  Sa m - 
meltypus  war,  der  australoide,  negroide  und  mon- 
goloide  Charaktere  enthielt  und  aus  dem  sich  erst 
später  diese  Rassen  differenzierten.  Aber  auch 
diese  irrtümliche  Ansicht  hat  auch  wieder  in  vielen 
Einzelheiten  so  befruchtend  auf  den  Fortschritt 
der  Wissenschaft  eingewirkt,  daß  sie  nicht  um- 
sonst gedacht  worden  ist. 

Das  letzte  Werk  von  Klaatsch  wird  also 
deshalb  auch  noch  für  eine  weite  Zukunft  ein 
wichtiges  Nachschlagebuch  und  eine  Fundgrube 
für  alle  bleiben,  die  an  der  Vertiefung  der  Kennt- 
nisse über  den  Werdegang  unseres  Menschenge- 
schlechtes arbeiten.       Dr.  K.  Olbricht-Breslau. 


Kükenthal,  W.,    Leitfaden   für   das  Zoolo- 
gische  Praktikum.     8.   umgearbeitete  Auf- 
lage.    322    Seiten      174  Abb.   im  Text.     Jena, 
G.  Fischer.     Brosch.  28  M. 
Das  lebhafte  Interesse,  dessen  sich  der  Küken- 
t  h  a  1  sehe  Leitfaden  besonders  in  den  Kreisen  der 
studierenden  Jugend  erfreut,  hat  abermals  das  Er- 
scheinen einer  neuen  Auflage  notwendig  gemacht, 
nachdem    die    vorhergehende    erst    wenige   Jahre 
zuvor  erschienen  war.     Da  über  dieses  trefTliche 
und  für  die  zoologischen  Fräparierübungen  in  der 
Tat  fast   unentbehrliche  Buch    in    dieser  Wochen- 
schrift  (N.  F.   XVII,    Nr.  37,   p.    534)   schon   aus- 
führlicher berichtet  worden  ist,   so   mag  jetzt  ein 
kurzer  Hinweis   genügen.      Es   sei   nur    noch  her- 
vorgehoben, daß  die  neue  Auflage  eine  teilweise 
Umgestaltung  und  Erweiterung  der  systematischen 
Überblicke     namentlich     für     die     Gruppen     der 
Schwämme  und  Manteltiere  bringt. 

R.  Heymons. 

Urban,  Ign. ,  Flumiers  Leben  und  Schrif- 
ten nebst  einem  Schlüssel  zu  seinen 
Blütenpflanzen.       „Beihefte     zum     Repert. 


specier.    novar.    regni    vegetabilis    von  Dr.  phil. 

P'riedr.  Fedde,  Band  V,   196  S.  —    Preis  40  M. 

=  40  sh  =  50  Fr.  =  50  Lire  =  10  Doli.  = 

36  skand.  Kr.  =  25  holl.  Gulden  usw. 
Im  Anschluß  an  seine  Werke  über  die  Pflanzen- 
welt Westindiens  entwirft  Urban  hier  ein  Bild 
von  dem  Leben  und  Wirken  eines  vorlinneischen 
P'orschers,  der  sich  als  Erster  mit  der  Flora  der 
Antillen  näher  hatte  vertraut  machen  können,  und 
von  dem  Schicksal,  das  dessen  Arbeiten  gefunden 
haben.  Charles  Plumier  nimmt  unter  den 
sog.  „Patres"  der  Botanik  nicht  nur  wegen  seiner 
sorgfältigen  Beobachtungen  und  der  von  ihm  teils 
veröffentlicht  teils  unveröffentlicht  hinterlassenen 
hochbedeutsamen  umfangreichen  trefflichen  Tafel- 
werke, sondern  auch  dadurch  eine  besondere 
Stellung  ein,  daß  manche  seiner  Abbildungen  die 
Originale  darstellen  zu  Arten  und  Gattungen  von 
Linne.  Leider  aber  hat  Plumier  infolge  seines 
vorzeitigen  Todes  (i.  J.  1704)  nur  einen  kleinen 
Teil  seiner  Tafeln  und  IVIanuskripte  selbst  ver- 
öffentlichen können,  das  Meiste  aber,  darunter  ein 
8-bändiges  großes  P'oliowerk,  unveröffentlicht 
hinterlassen  müssen.  Aus  diesem  hat  dann  später 
Joh.  Burman  unter  dem  Titel  „Plantarum  ameri- 
canarum  fasciculus  primus  ( —  decimus) ,  continens 
plantas,  quas  .  .  .  C.  Plumierius  ...  in  insul.  Antill. 
ipse  depinxit,  etc.  Amstelodami  1755 — 60"  ein 
größeres  Abbildungswerk  zusammengestellt  und 
herausgegeben,  daß  beklagenswerterweise  mancher- 
lei Irrtümer  enthält  und  auch  wegen  anderer 
Mängel  dem  Werke  PI  um iers  nicht  voll  gerecht 
wird. 

Nach  einer  kurzen  Schilderung  von  Plumiers 
Leben  und  seinen  Reisen  unterzieht  Urban  nun 
seine  Werke,  sowohl  die  von  ihm  selbst  veröffent- 
lichten als  auch  besonders  das  von  Burman 
herausgegebene,  einer  eingehenden  kritischen 
Durchsicht  und  bringt  die  darin  enthaltenen  Ab- 
bildungen Tafel  für  Tafel ,  soweit  es  sich  um 
Blütenpflanzen  handelt,  in  Einklang  mit  der  heute 
gültigen  Nomenklatur,  eine  überaus  mühevolle 
Arbeit,  die  aber  besonders  von  den  Monographen 
einzelner  Pflanzengruppen  dankbar  anerkannt  wer- 
den wird,  zumal  sich  ja  seit  jenen  Zeiten  die  An- 
sichten über  das  Pflanzensystem  im  allgemeinen 
wie  im  einzelnen  so  sehr  geändert  haben.  Dabei 
ist  es  aber  trotz  alledem  erstaunlich,  wie  viele 
der  uns  bekanntesten  und  geläufigsten  Gattungs- 
namen letzten  Endes  bis  auf  Plumier  zurück- 
gehen, wie  z.  B.  Baithiuia,  Caesalpinia,  Clusia, 
Commelina,  Cordia,  Dioscorea,  Fuchsia,  Gesnera, 
Alalpighia,  Marania,  Rtieüia,  Trnnnfetta,  Tur- 
ne ra  u.  a. 

Außer  der  soeben  angeführten  Burman  sehen 
Ausgabe  erfährt  von  Plumiers  eigenen  Ver- 
öffentlichungen dessen  Description  des  plantes  de 
l'Amerique  avec  leurs  figures  (Paris  1693,  folio, 
94  S.  und  108  Tafeln)  eine  ausführlichere  Be- 
sprechung, ein  Werk,  das  späteren  Autoren,  so 
auch  Linne  bei  der  Editio  L  der  Species  Plant, 
von  Nutzen  gewesen  ist. 


N.  F.  XX.  Nr.   id 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


239 


Besonders  wertvoll  für  denjenigen,  dem  es 
nicht  möglich  ist,  diese  Tafelwerke  selbst  einzu- 
sehen, sind  zwei  alphabetische  Verzeichnisse,  ein 
„Index  nominum  Plumerii"  und  ein  „Index  nomi- 
num  Burmanni",  welche  die  Benutzung  von  Ur- 
bans  Arbeit  wesentlich  erleichtern. 

Mangel  an  Raum  verbietet  es,  näher  auf  die 
verdienstvolle  Schrift  einzugehen. 

Daß  Plumiers  Lebenswerk  bei  den  nach- 
linneischen  Botanikern  sich  einer  besonderen 
Wertschätzung  erfreute,  bezeugten  schon  T  r  i  a  n  a 
und  Planchon  in  einer  begeisterten  Lobrede  auf 
ihn,  ^)  und  daß  es  noch  heute  unsere  Beachtung 
verdient,  geht  schon  allein  aus  der  Tatsache  her- 
vor, daß  manche  seiner  Pflanzen  seit  damals  bis- 
her noch  nicht  wieder  aufgefunden  sind.  Ihm  die 
wissenschaftliche  Würdigung  zuteil  werden  zu 
lassen,  die  er  in  unserer  Zeit  verdient,  dazu  war 
allerdings  unter  den  jetzt  lebenden  Forschern 
diesseits  und  jenseits  des  Ozeans  kein  anderer  als 
Urban  in  der  Lage.  Th.  Loesener. 


Waibel,   Leo,    Urwald    —   Veld   —  Wüste. 
208   S.,   20  Vollbilder,    i   Vegetationskarte   von 
Afrika.     Breslau   1921,  Hirt.     25  M. 
Der  Verf.   hatte   Gelegenheit,    191 1  — 191 2    an 
der   von  Prof  Thorbecke   geführten  Kamerun- 
expedition teilzunehmen  und  anfangs   1914  unter- 
nahm er  mit  Prof.  Jaeger   eine  Forschungsreise 
nach  Südwestafrika,  wo  er  infolge  des  Wellkrieges 
5V2    Jahre    festgehalten   wurde.      Einen   Teil    der 
reichen   Erfahrungen,    die   auf    diesen  Reisen   ge- 


')  Ann.  d.  Sciences  nat.  4.  ser.,  vol.  XVIII,  p.  362. 


Wonnen  wurden,  verwertet  Verf.  hier,  um  geo- 
graphische Bildung  unter  dem  deutschen  Volke 
verbreiten  zu  helfen;  denn  wenn  „unsere  Kauf- 
leute und  Ingenieure,  unsere  Handwerker  und 
Bauern  nur  hervorragende,  tüchtige  Arbeit  leisten, 
dann  werden  ihnen  auf  die  Dauer  die  Tore  des 
Auslandes  nicht  versperrt  bleiben  können.  Eine 
Grundbedingung  dieser  Auslandarbeit  aber  ist  es, 
daß  wir  die  Wohnräume  dieser  Erde,  ihre  Ein- 
richtungen und  Bedürfnisse,  ihre  Wirtschaft  und 
Produktion  genau  kennen." 

W.  gibt  anschauliche  Bilder  vom  Tropenwald, 
der  sich  wie  ein  breiter  Gürtel  längs  der  Küste 
Kameruns  entlangzieht  und  sich  im  Süden  weit 
in  den  Kontinent  hinein  erstreckt.  Wenn  man 
ihn  durchquert  hat,  trifft  man  eine  ganz  andere 
Welt:  das  Grasland,  die  Savanne.  Es  ist  eine 
neue  Natur,  die  uns  da  entgegentritt,  ein  Land 
mit  wenig  Schatten  und  Schlupfwinkeln,  eine  Welt 
voller  Licht  und  Raum,  der  größte  Gegensatz  zum 
ewig  finsteren  Urwald.  Gegensätzlich  wie  die 
Landesnatur  sind  auch  körperliche  und  geistige 
Eigenart  der  Bewohner  von  Urwald  und  Savanne. 
An  wirtschaftlichen  Hilfsquellen  ist  der  erstere 
reicher,  und  er  ist  sogar  erstaunlich  reich.  In 
sechs  Kapiteln  macht  uns  W.  mit  der  Steppe 
Südwestafrikas,  ihrem  Tierleben,  dem  Farmerleben, 
dem  Wandern  mit  Ochsenwagen,  dem  Krieg  in 
Südwest  und  mit  der  südwestafrikanischen  Wüste 
vertraut.  Diese  Schilderungen  sind  so  plastisch, 
daß  man  sich  Selbstgeschautes  kaum  besser  vor- 
zustellen vermag.  Man  merkt,  der  Verf  hängt 
mit  Liebe  an  dem  rauhen  Lande,  das  Deutsch- 
lands erste  Kolonie  war.  H.  Fehlinger. 


Anregungen  und  Antworten. 


über  „Orthogenesis,  Mutation,  Auslese".  Mein  unter 
diesem  Titel  in  Heft  36  des  vorigen  Jahrgangs  der  Naturw. 
Wochenschr.  erschienener  Aufsatz  hat  im  3.  Heft  dieses  Jahr- 
gangs zu  einigen  Angriffen  Anlaß  gegeben,  auf  die  ich  hier 
in  wenigen  Worten  das  Nötigste  entgegnen  möchte. 

Herrn  Johannes  Reichel  muß  ich  ohne  weiteres  zu- 
geben, daß  eine  völlige  Unterdrückung  einer  rezessiven 
Erbeinheit  durch  die  Vererbung  allein  nicht  stattfinden  kann, 
weil  bei  freier  Kreuzung  immer  ein  gewisser  Teil  rezessiver 
Homozygoten  entstehen  muß.  In  der  Natur  wird  also  die 
Ausrottung  der  einen  Rasse  durch  die  andere  immer  einen 
Wettbewerb,   d.  h.  Auslese,  zur  Voraussetzung  haben. 

Herrn  W.  Peter  muß  ich  entgegenhalten,  daß  die  Nicht- 
erblicbkeit  rein  körperlich  erworbener  Eigenschaften  doch 
für  eine  Anzahl  von  Versuchen  klar  bewiesen  ist,  während 
alle  versuchten  Beweise  für  die  V  ere  rbbark  eit  solcher 
Eigenschaften  noch  auf  recht  schwachen  Füßen  stehen. 

Weiter  meint  P.:  „Daß  alle  Organismenarten  durch  irgend- 
eine Milieubedingung  verändert  werden  müßten,  noch  dazu 
in  gleichem  Sinne,  hat  wohl  noch  niemand  behauptet,  Fischers 
diesbezügliche  Erörterungen  sind  also  übeiflüssig."  Für  „irgend- 
eine" Außenbedingung  habe  ich  diese  Bewirkung  auch  nie- 
mandem zugeschoben.  Daß  aber  Artumprägungen  so,  und 
nur  so,  zustande  kommen  sollen,  das  ist  ja  gerade  die  Lehre 
unserer  Lamarckisten.  Wenn  man,  wie  O.  Hertwig,  grund- 
sätzlich die  Auslese  ausschließt,  so  bleibt  ja  auch 
nichts  anderes  übrig,  als  die  gleichzeitige  Umprägung 
der  ganzen  Sippe.  Denn  wenn  nur  ein  Teil  der  Artge- 
nossen in  erblicher  Weise  und  in  zweckmäßiger  Richtung  ab- 


geändert würde,  so  gäbe  es  ja  unter  den  Nachkommen  teils 
mehr  teils  weniger  zweckmäßige,  und  unter  diesen  müßte 
dann  eben  Naturauslese  einsetzen.  Wer  also  dieser  jede 
Mitwirkung  bei  der  Artenentstehung  abspricht,  für  den  bleibt 
nur  die  gleichzeitige  und  gleichmäßige  Umprägung  der  Sippen 
übrig.  Ob  jemand  diese  letztere  explicite  oder  implicite  be- 
hauptet, ist  unwesentlich. 

Wenn  es  aber  nur  die  Auflenbedingungen  sein  sollen, 
welche  eine  Sippe  erblich  umgestalten,  dann  ist  und  bleibt  es 
unverständlich,  warum  die  gleiche  Ursache  (z.  B.  sehr 
trockener  Standort)  zwei  so  diametral-entgegengesetzte  mor- 
phologische Typen  sollte  schaffen  können,  wie  die  Stamm- 
und  die  Blattsukkulenten ;  unter  den  gleichen  Bedingungen 
hätten  die  einen  ihre  Blätter  ganz  verloren  (Kaktusform),  die 
anderen  sie  um  so  mächtiger  ausgebildet  (Aloii-  und  Agave- 
form). Auch  hier  versagt  der  einseitige  lamarckistische  Er- 
klärungsversuch. 

,,Die  auf  den  späteren  Seiten  mitgeteilten  Fälle  von  nicht 
nützlichen  Merkmalen  .  .  .  sind  allerdings  kaum  durch  Aus- 
lesewirkung zu  erklären,  weniger  sicher  sprechen  sie  gegen 
die  sog.  Vererbung  erworbener  Eigenschaften."  Das  verstehe 
ich  nicht  ganz.  Wenn  eine  Blüte  mit  oberständigem  Frucht- 
knoten zu  Unterständigkeit,  oder  eine  freiblättrige  zur  Sym- 
petalie  abändert,  kann  man  denn  da  von  einer  „Vererbung 
erworbener  Eigenschaften"  —  d.  h.  körperlich  erworbener  — 
sprechen? 

Nun  einige  Worte  über  ,,die  Frage  der  Artbastarde,  die 
allein  mit  dem  einfachen  Mendelismus  nicht  aufzuklären"  ist. 
P.    fragt,    was    ich  unter   ,, einfachem    Mendelismus"    verstehe. 


i4o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   15 


Nun,  das  Dominanz-  und  Spaltungsgesctz,  gleichgültig,  ob  ein 
oder  hundert  Paare  von  Genen  in  Wechselwirkung  treten. 
Obwohl  sich  auch  bei  Artbastarden  ein  regelrechtes,  nur  viel 
verwickelteres  Aufspalten  zeigt,  als  bei  durch  nur  wenige  Erb- 
einheiten unterschiedeneü  Rassen  der  gleichen  Art,  so  scheint 
es  doch,  als  ob  bei  Speziesbastarden  auch  noch  andere  Dinge 
mit  hineinspielen  —  ein  Mit-  und  Gegeneinanderwirken  der 
Erbfaktoren,  das  mit  ,, dominant"  und  ,, rezessiv"  noch  nicht 
erschöpft  ist.  Leider  hat  es  mir  bisher  an  der  Freiheit  ge- 
mangelt, auf  diesem  mich  seit  vielen  Jahren  beschäftigenden 
Gebiet  ausführlich  zu  arbeiten,  so  daß  ich  genaueres  darüber 
auch  nicht  sagen  kann.  Es  will  mir  aber  scheinen,  daß  trotz 
der  beobachteten  Mendelspaltungen  der  Artbastarde  doch  auch 
die  Behauptung  von  der  Entstehung  konstanter  Zwischenformen 
nicht  ganz  unberechtigt  sei.  Der  Unterschied  in  dem  Ver- 
halten der  Art-  und  der  Rassenbastarde  ist  vielleicht  so  zu 
verstehen :  kreuze  ich  etwa  eine  rot-  und  eine  weiflblühende 
Rasse,  so  handelt  es  sich  nicht  um  die  Gene  „Rot"  nnd 
„Weiß",  sondern  um  Vorhandensein  oder  Fehlen  des  Genes 
für  Rot  (Presence-Absencetheorie);  bringe  ich  aber  zwei  mit- 
einander fruchtbare  Arten  zur  Kreuzung,  so  treffen  von  hier 
und  von  dort  zwei  gleichgerichtete,')  aber  doch  nicht  gleich- 
artige Gene  zusammen  (z.  B.  für  verschiedenerlei  Blattgestalt), 
die  sich  zu  einem  dauernden,  nicht  wieder  aufspaltenden  Erb- 
faktor vereinigen  könnten.  Das  ist  zunächst  natürlich  nur  eine 
Vermutung. 

Meine  Definition  der  Orthogenesis  als  „Summe  erblicher 
Abänderungen,  die  in  gleicher  Richtung  erfolgen",  soll  „un- 
klar" sein;  ich  glaubte,  es  ginge  mindestens  aus  dem  ganzen 
Zusammenhang  hervor,  was  ich  damit  meine.  Von  den  in 
der  Vererbungsforschung  nachgewiesenen  Tatsachen  dachte 
ich  dabei  vor  allem  an  die  von  Nilsson-Ehle  gefundene, 
daß  es  beim  Weizen  drei  verschiedene,  selbständig  auf- 
spaltende Erbeinheiten  gibt,  welche  rote  Kornfarbe  bedingen. 
Da  wir  ferner  im  Pfianzensystem  der  Gegenwart  mancherlei 
Übergänge  finden,  z.  B.  vom  ober-  zum  untersländigen  Frucht- 
knoten (Fam.  Rosaceae),  so  wäre  es  wahrscheinlicher,  daß  in 
der  Stammesgeschichte  die  Unterständigkeit  nicht  mit  einem 
Male,  durch  eine  einfache  Mutation,  aufgetreten  wäre,  sondern 
stufenweise  durch  eine  Reihe  von  Mutationen,  welche  zusam- 
men schließlich  zur  vollendeten  Hypogynie  führten.  Das 
gleiche  könnte  für  die  Sympetalie  und  für  andere  rein  mor- 
phologische Merkmale,  die  mit  ,, Zweckmäßigkeit"  nichts  zu 
tun  haben,  gelten.  Eben  dieses,  ursächlich  zunächst  nicht  er- 
klärbare und  auch  auf  Zweckdienlichkeit  nicht  zurückführbare, 
stufenweise  Abändern  in  einer  bestimmten  Richtung  nenne  ich 
„Orthogenesis". 

Zum  Schluß  meint  P. :  „Gaitz  verfehlt  ist  endlich  der  Ver- 
such, für  die  Orthogenesis  (im  ersten  Sinne)  den  Mendelismus 
heranzuziehen,  .  .  ."  Da  ich  ,,im  ersten  Sinne",  wie  P.  ihn 
meint,  die  Orthogenesis  gar  nicht  aufgefaßt  habe,  erübrigt  sich 
eine  Entgegnung.  Es  ist  aber  nicht  einzusehen,  warum  nicht 
ebensogut  wie  ein  einzelner,  so  auch  mehrere  gleichgerichtete 
Erbfaktoren  bei  vorkommender  Kreuzung  sich  den  Mend ei- 
schen Regeln  einfügen  sollten.  Für  die  Rotfärbung  der  Weizen- 
körner (s.  o.)  ist  solches  Verhalten  ja  nachgewiesen. 

Dr.  Hugo  Fischer,  Essen. 


Zur  Nistweise  des  Mauerseglers.     Aus   der   Angabe,    daß 
man  im  Rokitnogebiet  und  im  Walde  von  Bialowies  den  „bei 

')  D.  h.  auf  das  gleiche  Organ  gerichtete. 


uns  ganz  an  menschliche  Bauwerke  gewöhnten"  Mauersegler 
im  Walde  brütend  gefunden  hat,  in  der  Besprechung  der  Ar- 
beit von  V.  Franz  ,, Ursprüngliches  in  der  warmblütigen  Tier- 
welt der  Kriegsgebiete",  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege  6, 
1919,  S.  313 — 412  durch  F.  Pax  in  der  Naturw.  Wochen- 
schrift 1921,  S.  45/46,  kann  der  fernerstehende  Leser  leicht 
den  Eindruck  bekommen,  als  ob  unser  Vogel  bei  uns  nur 
ausschließlich  an  den  Bauwerken  des  Menschen,  nicht  aber 
auch  noch  im  Walde  nistet.  Dem  ist  aber  nicht  so;  Cypselus 
apus  bewohnt  auch  in  Deutschland  gar  nicht  so  selten  hohle 
Bäume  des  Waldes ,  größerer  Parkanlagen  usw. ,  Klüfte  und 
Hohlräume  in  Steinbrüchen,  Felsen  u.  ä.  O.  m.  Auf  dem 
Rochlitzer  Berge  (Sachsen)  beispielsweise  stellte  ihn  Rieh. 
Hey  der  vor  Jahren  schon  als  Baumbewohner  fest  und  ich 
selbst  konnte  ihn  dann  hier  auch  noch  als  Steinbruchsvogel, 
als  den  ich  ihn  u.  a.  auch  noch  aus  der  sächsischen  Lausitz 
kenne,  bestätigen.  In  seiner  ,,Ornis  saxonica",  Journal  für 
Ornithologie  64,  1916,  die  sich  ganz  besonders  auch  auf 
eigene,  auf  regelmäßigen  Bereisungen  des  Landes  gesammelte 
Erfahrungen  und  Beobachtungen  stützt,  sagt  Hey  der,  daß 
das  Nisten  in  Baumhöhlen  und  Felsspalten  in  Sachsen  auch 
gar  nicht  selten  geschieht.  Aber  auch  aus  dem  übrigen 
Deutschland  liegen  zahlreiche,  ähnliche  Berichte  vor;  Jäckel 
(Vögel  Bayerns),  Kollibay  (Vögel  der  preußischen  Provin« 
Schlesien),  Hübner  (Avifauna  von  Vorpommern)  u.  v.  a.  m. 
erwähnen  das  Nisten  des  Mauerseglers  in  Baum-  und  Fels- 
höhlen ebenfalls,  und  bereits  Naumann  sagt  in  seiner  Natur- 
geschichte der  Vögel  Mitteleuropas,  daß  Cypselus  apus  auch 
,,in  den  hohlen  Zacken  sehr  alter  hoher  Eichen  oder  in 
Löchern  und  Ritzen  hoher  schroffer  Felswände"  nistet.  —  Es 
scheint,  als  ob  das  Nisten  der  Art  in  Bäumen,  das  meistens, 
wie  ja  auch  schon  aus  der  erwähnten  Angabe  Naumanns 
hervorgeht,  ein  recht  hohes  ist,  aus  diesem  Grunde  bei  uns 
Ott  übersehen  wird ;  das  dichte  Ast-  und  Laubwerk  verhindern 
dabei  die  Beobachtung  des  zudem  ja  auch  noch  blitzschnell 
ein-  und  ausfliegenden  Vogels  nur  zu  leicht. 

Rud.  Zimmermann,  Dresden. 


G.  H.  in  E.  Die  in  den  agrikulturchemischen  Versuchs- 
und Kontrollstationen  angewandten  Verfahren  zur  Untersuchung 
der  Dünge-  und  Futtermittel  entsprechen  im  allgemeinen  den 
Methoden  der  analytischen  Chemie ;  sie  sind  vom  Verband 
landwirtschaftlicher  Versuchsstationen  im  Deutschen  Reiche 
dem  besonderen  Zwecke  entsprechend  nur  modifiziert.  Zu- 
sammengestellt sind  die  Methoden  in  verschiedenen  Büchern, 
von  denen  in  erster  Linie  zu  nennen  sind : 

König,  Die  Untersuchung  landwirtschaftlich  und  ge- 
werblich wichtiger  Stoffe.  Praktisches  Handbuch.  Verlag 
Parey,  Berlin  SW,  Hedemannstraße  10.  Das  Buch  ist  sehr 
ausführlich  und  umfangreich. 

Mettge,  Laboratoriumsbuch  für  Agrikulturchemiker. 
Verlag  Knapp,  Halle  a.  S.  1918.  Das  Buch  kann  warm 
empfohlen  werden. 

Krische,  Untersuchung  und  Begutachtung  von  Dünge- 
mitteln, Futtermitteln,  Saatwaren  und  Bodenproben.  Verlag 
Parey,  Berlin   1906.     Ist  etwas  veraltet. 

Böhmer,  Anleitung  zur  Untersuchung  landwirtschaftlich 
wichtiger  Stoffe.  Verlag  Parey,  Berlin  1906.  Das  Buch  eignet 
sich  gut  für  Anfänger,  ist  aber  leider  auch  etwas  veraltet. 

Wieflmann. 


Inhalt:  R.  Potonie,  Zur  Bildung  der  Braunkohlenflöze  und  Ökologisches  über  den  Braunkohlenwald.  (l  Abb.)  S.  225. 
K.  Ulbricht,  Die  Dauer  der  Eiszeit.  (2  Abb.)  S.  229.  —  Einzelberlcbte:  Schneider  und  M.  Kochmann,  Das 
Hirtentäschel  in  der  Medizin.  S.  230.  Oltmanns,  Die  Mechanik  der  physikalischen  Anziehungserscheinungen. 
S.  231.  Heinricher,  Wie  erfolgt  die  Bestäubung  der  Mistelf  S.  232.  Ober  Hermaphroditismus  bei  verschieden- 
geschlechtlichen Zwillingen  des  Rindes.  S.  233.  H.  Molisch,  Aschenbild  und  Pflanzenverwandtschaft.  (7  Abb.)  S.  234. 
F.  Kl  Ute,  Geographie  des  Kilimandscharogebiets.  S.  235.  —  Bücherbesprecbut]gen:  H.  Klaatsch,  Der  Werde- 
gang der  Menschheit  und  die  Entstehung  der  Kultur.  S.  237.  W.  Kükenthal,  Leitfaden  für  das  Zoologische  Prak- 
tikum. S.  238.  Ign.  Urban,  Plumiers  Leben  und  Schriften  nebst  einem  Schlüssel  zu  seinen  Blütenpflanzen.  S.  238. 
Leo  Waibel,  Urwald  —  Veld  —  Wüste.  S.  239.  —  Anregungen  und  Antworten:  Über  „Orthogenesis,  Mutation, 
Auslese".  S.  239.     Zur  Nistweise  des  Mauerseglers.  S.  240.    Verfahren  zur  Untersuchung  der  Dünge- und  Futtermittel.  S.  240. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miebe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganzen  Reihe    36.  Band. 


Sonntag,  den  17.  April  1921. 


Nummer  16. 


[Nachdruck  verboten.] 


Pflanze  und  Elektrizität. 

Von  Dr.  Friedl  Weber  (Graz). 


Galvani  machte  die  Zufallsentdeckung,  daß 
Zuckungen  am  Froschmuskel  auftreten,  wenn  er 
mit  einer  Verbindung  zweier  verschiedener  Metalle 
in  Berührung  kommt;  damit  war  die  Kontakt- 
elektrizität beobachtet,  doch  glaubte  Galvani 
einen  Beweis  gefunden  zu  haben  für  das  Auftreten 
einer  von  ihm  angenommenen  tierischen  Elektri- 
zität; zeitlebens  hielt  er  an  dieser  Überzeugung 
fest  und  auch  Voltas  grundlegende  Versuche 
konnten  ihn  davon  nicht  abbringen.  Diese  hatten 
ergeben,  daß  eine  Kombination  zweier  verschie- 
dener Metalle,  wenn  sie  getrennt  sind  durch  einen 
Elektrolyten  einen  Strom  liefert  und  daß  bei 
Galvanis  Versuchen  der  Froschschenkel  die 
Rolle  eines  solchen  Elektrolyten,  einer  Salzlösung 
spielt  und  nicht  aus  sich  selbst  als  Äußerung 
seiner  Lebenskraft  den  Strom  erzeugt. 

Und  doch  hatte  Galvani  recht  mit  dem 
Glauben  an  eine  von  den  Lebewesen  selbst  pro- 
duzierte Elektrizität;  aber  erst  viel  später,  vor 
allem  durch  die  zahlreichen  Arbeiten  Du  Bois- 
Reymonds  wurde  das  Vorkommen  der  Bio- 
elektrizität außer  allen  Zweifel  gestellt.  Seine 
ganze  Lebensarbeit  war  der  Erforschung  dieser 
elektrischen  Erscheinungen  gewidmet.  Am  Muskel 
studierte  er  den  „Verletzungsstrom":  Bringt  man 
an  einem  aus  längsgestreckten  parallelen  Fasern 
bestehenden  Muskeln  Querschnitte  an,  so  zeigt  die 
natürlich  nicht  verletzte  Oberfläche  des  Muskels 
(auch  „natürlicher  Längsschnitt"  genannt)  positive, 
der  Querschnitt  negative  Spannung,  und  es  läßt 
sich  ein  Strom  ableiten,  der  im  Galvanometer- 
kreise vom  Längs-  zum  Querschnitte  fließt,  im 
Muskel  selbst  vom  Quer-  zum  Längsschnitt.  Die 
Verletzungsströme  oder  Längs  Querschnittsströme 
werden  auch  als  Ruheströme  bezeichnet,  weil  sie 
ohne  weitere  Reizung  des  Muskels  in  seinem 
ruhenden  Zustand  ableitbar  sind.  Es  gibt  aber 
auch  sog.  Aktionsströme:  An  einem  in  Aktion 
versetzten  gereizten  Muskel  verhält  sich  jede 
Stelle,  die  sich  gerade  in  Erregung  befindet,  ne- 
gativ gegen  eine  ruhende  Stelle. 

Dies  alles  sind  oft  beschriebene  Erscheinungen ; 
weniger  bekannt  ist,  daß  sich  auch  bei  Pflanzen 
Aktions-  und  Ruheströme  in  ganz  analoger  Weise 
beobachten  lassen.  Aktionsströme  wurden  ge- 
messen vor  allem  bei  denjenigen  Pflanzenarten, 
die  auf  Reize  hin  mit  energischen  rasch  verlaufen- 
den Bewegungserscheinungen  reagieren;  so  bei 
Mimosa,  der  Sinnpflanze,  die  nach  Erschütterung 
oder  anderen  Reizen  ihre  Fiederblättchen  zusam- 
menfaltet und  ihre  Blattstiele  senkt,  so  auch  bei 
Dionaea,  der  Venusfliegenfalle,   die   auf  mechani- 


sche Reizung  der  auf  der  Blattfläche  stehenden 
Fühlborsten  hin  ihre  Blattflächen  zusammenklappt 
und  zwar  so  rasch,  daß  es  ihr  damit  gelingt,  In- 
sekten zu  fangen.  Von  symmetrischen  Stellen 
der  Blatthälflen  einer  Dionaea  läßt  sich,  solange 
das  Blatt  in  Ruhe  ist,  kein  Strom  ableiten,  erfolgt 
aber  eine  Reizung,  dann  ist  schon  nach  0,04  Sek. 
die  elektrische  Reaktion  des  Blattes  festzustellen, 
und  zwar  nehmen  auch  bei  den  Pflanzen  —  wie 
im  tierischen  Gewebe  —  die  gereizten  Teile  nega- 
tive Spannungen  an  gegenüber  den  ruhenden. 

Was  die  Ruheströme  bei  Pflanzen  betrifift,  so 
sind  z.  B.  an  verletzten  Stengeln  die  Querschnitte 
negativ  gegenüber  der  Längsoberfläche,  also  ein 
analoges  Verhalten  wie  es  der  Muskel  zeigt. 
Schließlich  lassen  sich  auch  an  unverletzten  lebens- 
tätigen Pflanzen  zwischen  ihren  verschiedenen 
Organen  Potentialdifferenzen  nachweisen.  Beson- 
ders an  lebhaft  wachsenden  Keimlingen  können 
diese  relativ  beträchtliche  Werte  erreichen,  es  ver- 
halten sich  dabei  die  Keimblätter  positiv  gegen- 
über den  Wurzeln.  Zahlreiche  Einzelbeobachtun- 
gen und  Messungen  haben  ein  umfangreiches 
Tatsachenmaterial  geschaffen  nicht  nur  über  die 
Verteilung  der  Potentialdifferenzen  und  Ströme 
an  den  verschiedensten  Pflanzen  und  Pflanzen- 
organen, sondern  auch  über  die  Beeinflussung  der 
Ströme  durch  Temperatur,  0-Mangel,  COj-Assimi- 
tion,  Narkose  usw.  *)  Doch  all  dies  konnte  nur 
wenig  befriedigen  und  so  hat  sich  die  Elektro- 
physiologie  der  Pflanzen  in  letzter  Zeit  geringen 
wissenschaftlichen  Interesses  erfreut. 

Dies  ist  verständlich,  da  weder  die  Erklärung 
des  Zustandekommens  der  bioelektrischen  Ströme 
bisher  restlos  geglückt  ist,  noch  auch  man  sich 
darüber  klar  werden  konnte,  welche  Rolle  die 
elektrischen  Erscheinungen  im  Leben  der  Pflanze 
spielen  und  ob  ihnen  überhaupt  eine  lebenswichtige 
Bedeutung  zuzuschreiben  ist.  Aber  gerade  in 
allerletzter  Zeit  hat  man  sich  von  verschiedenen 
Seiten  her  bemüht,  neue  Gesichtspunkte  in  beider 
Hinsicht  zu  gewinnen. 

Bei  der  Erklärung  der  bioelektrischen  Ströme 
hatte  die  physikalische  Forschung  bisher  mit  den 
größten  Schwierigkeiten  zu  kämpfen.  Die  Hypo- 
thesen, durch  welche  man  diese  zu  meistern  ver- 
suchte, den  derzeitigen  Stand  der  Probleme,  die 
eigenen  einschlägigen  beachtenswerten  experimen- 
tellen Untersuchungen,  ihre  Ergebnisse  und  Deu- 


•)  Literatur  bis  1904  darüber  in  Pfeffers  Pflanzenphysio- 
logie II.  Bd.,  S.  861—75.  Vgl.  1920  L.  J.  Pech,  Les  diffe- 
rences  de  Potential  en  Biologie.    Compt.  rend.  soc.  Biologie.  83, 


24^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


tung  hat  R.  Beutner  1920  in  einer  verdienst- 
vollen Schrift  zusammenfassend  dargestellt.  Über 
einiges  daraus  soll  hier  zunächst  berichtet  werden. 
Gleich  Du  Bois-Reymond  stellte  sich  die 
Frage,  welche  Stoffe  denn  eigentlich  für  die  Strom- 
erzeugung in  lebenden  Geweben  verantwortlich 
seien,  schon  er  war  bestrebt,  ein  physikalisches 
Modell  ausfindig  zu  machen,  das  die  biologischen 
Erscheinungen  verständlich  erscheinen  ließe.  Bei 
den  Voltaketten,  die  leicht  ebenso  starke  Ströme 
wie  die  biologischen  liefern,  sind  Metalle  das 
wirksame  Moment;  diese  kommen  aber  in  leben- 
den Geweben  nicht  in  Betracht,  hier  war  man 
vielmehr  geneigt,  reine  Flüssigkeitsketten  anzu- 
nehmen. Aber  ohne  Leiter  erster  Klasse  mit 
solchen  reinen  Flüssigkeitsketten,  die  sich  aus 
nebeneinander  befindlichen  zu  einem  Kreis  ge- 
schlossenen wässerigen  Elektrolytlösungen  zusam- 
mensetzen, war  es  nicht  möglich,  die  Größen- 
ordnung biologischer  Ströme  —  0,08  Volt  und 
mehr  —  zu  erzielen. 

Ein  neuer  bahnbrechender  Gesichtspunkt  wurde 
erst  1890  von  Ostwald  eingeführt  anläßlich 
seiner  Studien  über  die  elektrischen  Eigenschaften 
von  semipermeablen  Niederschlagsmembranen;  er 
erkannte,  daß  diese  unter  bestimmten  Verhält- 
nissen der  Sitz  von  Potentialdifferenzen  werden 
müssen.  Solche  halbdurchlässige  Membranen  fin- 
den sich  auch  in  tierischen  und  pflanzlichen  Ge- 
weben, es  sind  dies  die  äußersten  Grenzschichten 
der  einzelnen  Protoplasten  der  Zellen,  die  sog. 
Plasmahäute.  Ihnen  kommt  eine  ausschlaggebende 
Rolle  zu  beim  Zustandekommen  der  bioelektrischen 
Ströme:  In  den  lebenden  Geweben  sind  nicht  nur 
die  wässerigen  Elektrolytlösungen  an  der  Strom- 
erzeugung beteiligt,  sondern  auch  die  dazwischen- 
hegenden  wasserunmischbaren  Schichten,  die 
Membranen. 

Damit  war  allerdings  das  Auftreten  bioelek- 
trischer Ströme  dem  Verständnis  näher  gebracht, 
aber  noch  keineswegs  restlos  erklärt.  Osiwald 
selbst  stellte  zur  weiteren  Analyse  der  elektro- 
motorischen Membranwirkung  die  lonenpermea- 
bihtätstheorie  auf;  sie  nimmt  an,  daß  durch  die 
Membran  die  positiven  und  negativen  Ionen  ver- 
schieden leicht  hindurch  gehen  und  zwar  die 
positiven  leichter,  die  negativen  schwerer;  so 
mußten  Ladungen  an  den  Membranen  und  da- 
durch elektromotorische  Kräfte  entstehen.  Be- 
sonders Bernstein  hat  dann  die  „Membran- 
theorie" weiter  ausgebaut  und  Höber  hat  in 
einer  Reihe  experimenteller  Untersuchungen  sie 
zu  vertiefen  gesucht.  Einen  zur  weiteren  Er- 
forschung wichtigen  methodischen  Fortschritt 
stellen  die  Arbeiten  Cremers  dar,  der  zuerst 
biphasischeKetten  zusammenstellte;  es  sind 
dies  zwar  reine  Flüssigkeitsketten,  aber  die  neben- 
einandergeschalteten Elektrolytlösungen  sind  nicht 
miteinander  mischbar:  zwischen  zwei  wässerigen 
Lösungen  enthalten  diese  Ketten  eine  wasserun- 
mischbare  organische  Substanz,  die  der  Einfach- 
heit halber  als  „Öl"  bezeichnet  wird.    Solche  01- 


N.  F.  XX.  Nr.  16 


schichten  verhalten  sich  im  Prinzipe  so  wie  die 
Membranen  und  bieten  für  vergleichende  Mes- 
sungen manche  Vorteile.  Cremer  hat  den  Sitz 
der  elektromotorischen  Kräfte  in  die  Ölphase 
selbst  hinein  veriegt,  sie  innerhalb  der  Ölschicht 
bzw.  der  Membran  durch  verschiedene  Beweglich- 
keit der  Ionen  sich  entstanden  gedacht.  Haber 
konnte  dagegen  nachweisen,  daß  die  elektromo- 
torischen Kräfte  an  den  Grenzen  der  beiden  Phasen, 
also  an  den  Grenzen  zwischen  Öl  (Membran)  und 
wässeriger  Lösung  entstehen.  Beutner  war  nun 
bestrebt  die  Grenzphasentheorie  einer  experimen- 
tellen Prüfung  zu  unterwerfen,  er  hat  eine  Reihe 
von  Modellversuchen  durchgeführt,  die  auch  für 
die  physikalische  Forschung  von  Interesse  sind, 
neuartige  galvanische  Elemente  aufgebaut  „die 
statt  Metall  organische  Verbindungen  enthalten. 
So  gelang  es,  elektrische  Lebenserscheinungen 
durch  synthetische  Substanzen  künstlich  nachzu- 
ahmen". 

An  physiologischen  Objekten  —  Beutner 
arbeitete  mit  Vorliebe  mit  Früchten  z.  B.  Äpfeln 
oder  mit  lederartigen  Blättern  —  lassen  sich 
elektromotorische  Kräfte  erzielen: 

I.  Bei  sog.  äußerer  Asymmetrie:  wenn 
ein  Gewebe  zwischen  zwei  verschiedenen  wässe- 
rigen Lösungen  eingeschaltet  wird ;  dabei  kann  es 
sich  handeln  um  zwei  gleichkonzentrierte  Lösungen 
verschiedener  Salze  oder  um  zwei  Lösungen  des- 
selben Salzes  aber  in  verschiedener  Konzentration. 
Im  letzteren  Falle  ist  die  Kette  so  aufgebaut: 


Gewebe 
B.  Apfel 


+  Verdünnte  Lösung    eines    Salzes 

Konzentrierte  Lösung  desselben  Salzes  — 

Bei  solchen  Konzentrationsketten  wird  also  der 
Strom  (der  Konzentrationseffekt)  geliefert  durch 
die  verschiedene  Konzentration  ein  und  desselben 
Elektrolyten.  Auf  Grund  eingehender  Studien  der 
Konzentrations  wirkung  bei  physiologischen 
Objekten  gelang  schließlich  die  künstliche  Nach- 
ahmung mit  „Ölen",  also  an  unphysiologischen 
Modellen;  und  zwar  ergab  eine  systematische 
Durchprüfung  der  verschiedensten  Öle  „daß  nur 
eine  ganz  bestimmte  Klasse  derselben  einen  Kon- 
zentrationseffekt zeigt,  welcher  dem  physiologischen 
ähnlich  ist,  nämlich  die  »Öle,  die  eine  Säure  gelöst 
enthalten."  Ein  solches  Öl  fand  Beutner  im  Salizyl- 
aldehyd  und  konnte  damit  alle  Einzelheiten  des  bis- 
her als  spezifisch  physiologische  Erscheinung  be- 
trachteten Konzentrationseffektes  nachahmen.  Aber 
auch  andere  Substanzen  —  wie  Mischungen  von 
Fettsäuren  oder  Lezithin  mit  »Ölen«  —sind  dazu 
geeignet,  was  für  die  Erklärung  des  physiologischen 
Effektes  von  besonderer  Bedeutung  ist,  weil  die 
Annahme  berechtigt  erscheint,  daß  in  den  leben- 
den Geweben  (Membranen)  ähnliche  Fettmischungen 
vorkommen. 

Elektromotorische  Kräfte  lassen  sich  aber  auch 
erzielen 

2.  bei  sog.  innerer  Asymmetrie.  Hier 
ist    das   physiologische  Objekt,   das   selbst   asym- 


N.  F.  XX.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


metrisch  ist,  zwischen  zwei  völlig  identischen 
Lösungen  eingeschaltet;  die  eigentlichen  elektro- 
physiologischen  Ströme  (Ruhe  -Aktionsströme) 
sind  auf  eine  derartige  Anordnung  zurückzuführen. 
Beutner  ging  daran,  auch  dafür  Modellketten 
ausfindig  zu  machen. 

Hatte  man  bisher  vornehmlich  die  biphasischen 
Kelten  so  aufgebaut,  daß  die  zwei  qualitativ  oder 
quantitativ  verschiedenen  wässerigen  Lösungen 
durch  eine  einzige  homogene  Ölphase  getrennt 
waren,  so  experimentierte  Beutner  nunmehr  mit 
Ölketten  anderer  Art  „bei  denen  zwei  verschiedene 
»Öle«  aneinander  grenzen,  während  die  beiden 
wässerigen  Lösungen  identisch  sind". 

Wässerige  Lösung  j  Öl  I :  Öl  II !  wässerige  Lösung. 
Eine  einfache   Kette   dieser   Art   ist   z.  B.   so 
aufgebaut : 

-f  Kalomel-  j  \  r        , ,      1      Kalomel- 

elektrode       Kresol  I  *^e"fa'de-         elektrode 
mit  Vi  n- KCl;  I       "^^       'mitVin-KCl- 

Die  Messung  ergibt  eine  Kraft  von  0,13  Volt- 
Man  kann  verschiedene  Öle  zu  den  Versuchen 
heranziehen  und  es  lassen  sich  die  Öle  in  eine 
Spannungsreihe  einordnen,  so,  wie  man  nach 
Volta  von  einer  Spannungsreihe  der  Metalle 
spricht.  Gerade  solche  Ketten  mit  2  Ölen  oder 
mit  einer  inhomogenen  asymmetrischen  Ölphase 
und  zwei  identischen  wässerigen  Lösungen  geben 
nach  B  e  u  t  n  e  r  das  Modell  ab  für  den  Verletzungs- 
strom, sind  für  sein  Zustandekommen  von  Be- 
deutung. Versuche  mit  lebenden  Objekten  ins- 
besondere pflanzlicher  Provenienz  haben  ihn  in 
dieser  Vorstellung  bestärkt. 

Wie  hat  man  sich  auf  Grund  der  bisherigen 
Membrantheorie  (Bernstein)  die  Entstehung  des 
Verletzungsstromes  verständlich  zu  machen  ge- 
sucht? Man  geht  aus  von  der  Vorstellung,  daß 
die  Zelle  —  das  ganze  Gewebestück  verhält  sich 
im  wesentlichen  ebenso  —  einen  Hohlkörper  dar- 
stellt, der  umschlossen  ist  von  einer  semiperme- 
ablen Membran.  Innerhalb  und  außerhalb  des 
Hohlkörpers,  also  diesseits  und  jenseits  der  Mem- 
bran, befindet  sich  eine  Elektrolytlösung.  Die 
Membran  selbst  besitzt  eine  auswählende  Durch- 
lässigkeit in  bezug  auf  die  Ionen  der  Elektrolyte, 
sie  verhält  sich  wie  ein  lonensieb.  Die  positiven 
Ionen  der  inneren  Flüssigkeit  könnten  das  Plasma- 
membransieb passieren,  sie  werden  aber  am 
weiteren  Abdiffundieren  gehemmt  durch  die 
elektrostatische  Anziehung  der  im  Innern  durch 
das  Membransieb  zurückgehaltenen  negativen  Ionen. 
Es  bildet  sich  demnach  außen  an  der  Membran 
ein  positiver  Belag,  innen  ein  negativer.  Es  ent- 
steht also  „indem  die  positiven  Ionen  nach  außen 
zu  wandern  streben,  aber  von  den  negativen  Ionen 
im  Innern  festgehalten  werden"  an  der  Membran- 
oberfläche eine  Polarisation. 

Ist  die  ruhende  Zelle  intakt,  unverletzt,  allseits 
von  der  Membran  umschlossen,  so  ist  das  Mem- 
branpotential überall  gleich:  von  der  unverletzten 
ruhenden  Zelle  läßt  sich  kein  Strom  ableiten. 


243 


Wird  aber  die  Membran  verletzt,  ein  Quer- 
schnitt angelegt,  dann  wird  an  der  verletzten  Stelle 
die  Wirkung  der  Membran  ausgeschaltet,  die  vor- 
her durch  die  Membran  getrennten  Ionen  neutra- 
lisieren sich,  und  es  tritt  an  den  unverletzten 
Stellen  die  Wirkung  der  Membran  zutage :  es  ent- 
steht der  Verletzungsstrom,  wenn  die  unverletzte 
Membranlängsseite  mit  dem  Querschnitt  verbun- 
den wird. 

Diese  Theorie  erklärt  den  Verletzungsstrom 
durch  folgendes  Schema: 


-|-  Ableitungs 

flüssigkeit  auf 

der   unverletz- 
ten Seite 

(Physiol.Koch- 
Salzlösung) 
Für  die  Theorie  ist 


Membran 

des 
Gewebes 


Elektrolyt- /^!^f""gs- 
lösung      flüssigkeit   auf 

innerhalb  (der  verletzten 
I        jg^        I      Seite  — 

Membran  (Physiol.Koch- 
i  Salzlösung) 
es  natürlich  wichtig,  eine 
Vorstellung  von  der  chemischen  Natur  der  Flüs- 
sigkeit innerhalb  der  Membran  zu  gewinnen. 
Bernstein  nahm  —  ausgehend  von  den  Ver- 
hältnissen beim  Muskel  —  irgendein  K  Salz  an 
(die  Kaliumionen  würden  dabei  zu  permeieren 
vermögen)  andere  Autoren  eine  Säure.  Durch 
systematische  Modellversuche  mit  Ölketten  müßte 
sich  diese  Annahme  prüfen  lassen.  Tatsächlich 
ist  es  möglich,  durch  Ölkettenkombinationen  mit 
Säuren  oder  Kalisalzen  Kräfte  zu  produzieren,  die 
die  Größe  des  Verletzungsstromes  erreichen,  ja 
sogar  übertrefifen ;  doch  dabei  handelt  es  sich  um 
Versuche  mit  reinen  KCl-  resp.  Säurelösungen, 
es  ist  aber  ausgeschlossen,  daß  solche  innerhalb 
der  Zellen  vorhanden  sind ;  dagegen  bringen  Säfte, 
die  in  Geweben  vorkommen  —  so  etwa  der  Preß- 
saft eines  Apfels,  obwohl  er  schwach  sauer  rea- 
giert —  keine  entsprechende  elektromotorische 
Wirkung  hervor.  Beutner  ist  daher  von  dem 
Erklärungsversuch  des  Verletzungsstromes  nach 
den  Vorstellungen  Bernsteins  nicht  befriedigt 
und  will  in  einer  Kette  mit  inhomogener  Ölphase, 
wie  sie  oben  geschildert  wurde,  ein  besseres  Ver- 
letzungsstrommodell gefunden  haben.  Eine  solche 
Kette  ist  die  Cremersche: 
NaCl-Lösungj  Nitrobenzol  NaCl-Lösung 

|mit  Säure  . . .  ohne  Säure 

Die  zur  Stromerzeugung  nötige  Asymmetrie 
liegt  hier  nicht  in  den  wässerigen  Phasen;  die 
wässerigen  Lösungen  zu  beiden  Seiten  des  Öls 
(der  Membran)  sind  identisch;  sie  liegt  vielmehr 
in  der  wasserunmischbaren  Ölphase  (in  der  Ver- 
schiedenheit der  Membranen  selbst). 

Um  die  Richtigkeit  der  Annahme,  daß  die 
Cremersche  Nitrobenzolkette  ein  Modell  des 
Verletzungsstromes  sei,  zu  erweisen,  hat  Beutner 
bei  verschiedener  Anordnung  Messungen  von  Ver- 
letzungsströmen an  Äpfeln  durchgeführt. 

Zunächst  war  festzustellen  die  „Abhängigkeit 
des  Verietzungsstromes  eines  Apfels  von  der 
Schichtdicke  bei  fortschreitender  Aushöhlung": 

Ein  Apfel  kam  in  eine  mit  der  Ableitungs- 
flüssigkeit gefüllte  Schale  zu  liegen  und  zwar  so, 


244 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  i6 


daß  er  nur  zum  Teil  in  dieselbe  tauchte ;  von  der 
oberen  herausragenden  Hälfte  wurde  mit  der 
gleichen  Flüssigkeit  abgeleitet;  dabei  erwies  sich 
der  unverletzte  Apfel  praktisch  als  stromlos.  Nun 
wurde  an  der  oberen  Hälfte  eine  zunächst  nur 
flache  Verletzung,  Aushöhlung  angebracht,  die 
Ableitungsflüssigkeit  hineingefüllt  und  der  auf- 
tretende Verletzungsstrom  gemessen.  Ergebnis 
ca.  0,04  Volt.  Hierauf  wurde~von  oben  her  mehr 
und  mehr  vom  Fruchtfleisch  des  Apfels  abge- 
tragen und  so  rückte  die  Verletzungsstelle  immer 
näher  an  die  untere  unverletzte  Stelle  heran,  bis 
schließlich  der  Apfel  gänzlich  ausgehöhlt  war  und 
nichts  mehr  übrig  blieb  als  die  „Rinde".  Bei  der 
nach  jeder  neuen  Abtragung  erfolgten  Strom- 
messung zeigte  sich  folgendes: 

„Gleichgültig  ob  die  Höhlung  tief  oder  flach 
ist,  die  Größe  der  Verletzungsstromkraft  bleibt 
unverändert.  Erst  nachdem  man  das  ganze  Frucht- 
fleisch bis  auf  eine  V4  cm  dicke  Schicht  abgetragen 
hat,  sinkt  die  Kraft  in  einem  wahrnehmbaren  Be- 
trage. Ist  schließlich  alles  Fruchtfleisch  bis  zur 
inneren  Seite  der  entgegengesetzten  Schale  ent- 
fernt, so  sinkt  die  Kraft  nahezu  auf  Null." 

B  e  u  t  n  e  r  deutet  den  Versuch  in  folgender 
Weise:  Die  äußerste  „Schale"  des  Apfels  in  sehr 
dünner  Schicht,  die  Kutikula  entspricht  der  säure- 
reichen Ölphase  der  Cremerschen  Kette,  das 
gesamte  innere  Fruchtfleisch  der  säurearmen  Öl- 
phase.    Die  Anordnung  der  Kette  ist  also  so: 

4-Ableitende  Säurehaltige     Säurearme    ;      Ab- 
Lösung         Membran         Membran       leitende 
(Kutikula)     (Fruchtfleisch)  Lösung  — 

Bei  der  Nitrobenzolkette  ist  die  Ausdehnung 
der  säurefreien  Nitrobenzolschicht  ohne  Einfluß 
auf  die  Kraft  der  Kette.  Beim  verletzten  Apfel 
ist  es  ebenso:  die  Dicke  der  Fruchtfleischschicht 
ist  belanglos.  Wird  aber  die  Aushöhlung  des 
Apfels,  das  Abtragen  des  Fruchtfleisches  bis  an 
die  Kutikula  heran  vorgetrieben,  dann  liegt  eine 
symmetrische  Kette  vor 

KCl-Lösung  I  Kutikula  [  KCl-Lösung 

und  diese  muß  stromlos  sein. 

Eine  andere  unter  den  weiteren  Versuchsreihen 
betrifft  die  elektromotorische  Wirkung  einer 
Quetschung  des  Apfels.  Mit  dem  Finger  wird 
auf  die  Oberfläche  des  Apfels  gedrückt,  dann  mit 
identischen  Salzlösungen  von  der  gequetschten 
und  einer  nicht  gequetschten  Stelle  der  Rinde  ab- 
geleitet. Die  gequetschte  Stelle  verhält  sich 
negativ  zu  der  nicht  gequetschten,  die  Größen- 
ordnung des  Stromes  ist  wie  bei  einer  Verletzung. 
Beutner  erklärt  sich  das  Versuchsergebnis  da- 
mit, daß  beim  Zerdrücken  der  Zellschicht  des 
Fruchtfleisches,  die  der  Kutikula  innen  anliegt, 
der  direkte  elektrische  Kontakt  zwischen  Kutikula 
und  Fruchtfleischmembran  unterbrochen  wird  „in- 
dem ein  Erguß  von  Fruchtsaft  dazwischen  statt- 
findet. Es  wird  also  eine  wässerige  Lösung 
zwischen  die  beiden  Membranen  geschoben.   Durch 


diese  Einschaltung  ändert  sich  die  elektromoto- 
rische Gesamtkraft  notwendigerweise  so,  daß  eine 
Negativität  der  gequetschten  Stelle  zustande 
kommt".  Eine  analoge  Dazwischenschaltung  einer 
wässerigen  Lösung  ruft  auch  bei  dem  Modell  der 
Cremerschen  Nitrobenzolkette  die  gleiche  Wir- 
kung hervor. 

Pflanzenanatomisch   sind   die  Verhältnisse   der 
erwähnten  Versuchsreihen  in  dieser  Schrift  leider 
nicht  völlig  eindeutig  dargestellt.      Die  Anatomie 
der  Pflanzen  versteht  unter  Kutikula   nur  das  die 
Außenwand     der     Oberhautzellen     kontinuierlich 
überziehende    zarte     Häutchen.       Ob    Beutner 
dieses  oder  die  ganzen  Epidermiszelien  unter  der 
Bezeichnung:     harte,    elastische    äußerste    Rinde 
meint,   ist  nicht  recht   zu  entnehmen.     Die  Kuti- 
kula   im    botanischen    Sinne    ist    tatsächlich    eine 
wasserunmischbare  Membran,  deren  Charakter  von 
Fettsäuren  bestimmt  ist,  sie  könnte  also  wirklich 
der     säurereichen    Ölphase     der     Cremerschen 
Kette  entsprechen.     Weiter   fragt   sich,   ob   unter 
der  säurearmen   Fruchtfleischmembran    die   Zellu- 
losemembran zu  verstehen  ist  oder  aber  die  inner- 
halb dieser  gelegene  lipoide  Plasmahaut.    Kutikula 
und    Zellulosemembran   sind    tote  Ausscheidungs- 
Produkte  des  lebenden  Protoplasten  und  es  würde 
sich  die  neue  Auffassung  Beutners    auch   darin 
von  der  bisherigen  Auffassung  der  Membrantheorie 
recht    wesentlich    unterscheiden,    daß    einem   leb- 
losen  Teil   der   Zelle  die    alleinige  Rolle  am  Zu- 
standekommen des  Verletzungsstromes  zugeschrie- 
ben   wird,    während   man   früher    die  Beteiligung 
der   lebenden    (oder   doch    wenigstens    der  Beein- 
flussung  durch   den    lebenden   Protoplasten   stets 
zugänglichen)  Plasmahaut  (der  alleinigen  Membran 
vieler   tierischer   Zellen)   annahm.      Trotz    solcher 
und    anderer   Bedenken    darf  die    Bedeutung    der 
experimentellen    Arbeit   Beutners    nicht    unter- 
schätzt  werden;    seine    neue  Vorstellung  von  der 
Ursache  des  Verletzungsstromes  —  die  nochmals 
mit   seinen  Worten    zusammengefaßt   werden  soll 
—  wird  sicherlich  zu  neuen  Untersuchungen    an- 
regen:   „Die    Ursache    des  Verletzungsstromes   ist 
nicht  auf  die  Wirkung  eines  unbekannten,  beson- 
ders zusammengesetzten  Saftes  in    oder  zwischen 
den  Zellen  zurückzuführen,  sondern  auf  eine  Ver- 
schiedenheit der  Zusammensetzung   der  Membran 
selbst.     Es  gibt  eine  äußere  säurehaltige  und  eine 
innere  säurefreie  oder  säureärmere  Membran,  diese 
berühren  sich  direkt,  weil  sie  zusammengewachsen 
sind;    hiermit   ist  eine  wesentliche  Bedingung  für 
das  Zustandekommen  des  Verletzungsstromes  ge- 
geben,   denn  es  ist   damit   gezeigt,    daß    ein  ver- 
letztes Gewebestück  eine  Anordnung  darstellt,  die 
der   Cremerschen    Nitrobenzolkette   analog   ist." 
Die  Bearbeitung  desProblemes,  wie  die  Aktions- 
ströme entstehen,    hat  Beutner    noch    nicht   in 
Angriff  genommen.    Hierin  kommt  zur  Erklärung 
heute  vor  allem   in  Betracht   die  Membrantheorie 
in  ihrer  Fassung  als  lonensiebtheorie:    Geht    eine 
Stelle    eines  Gewebes    oder  einer  Zelle  auf  Reize 
hin  aus  dem  Zustand  der  Ruhe  in  den  der  Akti- 


N.  F.  XX.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


245 


vität  über,  so  ist  diese  Betätigung  von  einer 
Änderung  der  Membran(Plasmahaut)- Durchlässig- 
keit begleitet;  jene  Stelle  verhält  sich  im  Moment 
ihrer  Betätigung,  wie  wenn  ihre  Plasmahaut  ein 
Loch  hätte,  das  sich  beim  Übergang  in  Ruhe  von 
selbst  wieder  schließt.."  (Höber).  Der  Aktions- 
strom würde  also  gewissermaßen  einer  natürlichen, 
physiologischen,  reparablen  Verletzung  seine  Ent- 
stehung verdanken. 

Doch  wir  wollen  uns  jetzt  nicht  weiter  mit 
der  Frage  beschäftigen,  wie  die  bioelektrischen 
Ströme  entstehen,  wodurch  sie  verursacht  sind, 
sondern  mit  der  anderen  für  die  physiologische 
Forschung  noch  weit  bedeutungsvolleren ,  was 
diese  elektromotorischen  Kräfte  selbst  verursachen, 
welche  Wirkungen  sie  nach  sich  ziehen,  ob  sie 
für  das  Lebensgetriebe  von  Bedeutung  sind. 

Um  überhaupt  einen  richtigen  Standpunkt 
einnehmen  zu  können  in  bezug  auf  die  physiolo- 
gische Rolle  der  bioelektrischen  Vorgänge,  muß 
man  sich  mit  der  Vorstellung  vertraut  machen, 
daß  nicht  etwa  nur  auf  Verletzung  und  äußere 
Reize  hin  Ruhe-  und  Aktionsströme  an  den  Or- 
ganen und  Zellen  und  zwar  nur  an  deren  äußeren 
Oberfläche  entstehen,  daß  vielmehr  Potentialdifife- 
renzen  auch  im  Innern  der  Zellen  zwischen  den 
Teilen  des  Protoplasten,  zwischen  Zytoplasma, 
Kern,  Vakuolen  usw.,  ja  überhaupt  an  allen  inneren 
Grenzflächen  der  lebenden  Substanz  auftreten 
müssen,  so  daß  das  Protoplasma  dauernd  durch- 
zogen zu  denken  ist  von  einem  Netz  elektrischer 
Ströme.  Nach  unserer  heutigen  Vorstellung  vom 
Baue  und  der  Struktur  des  Protoplasmas  müssen 
seine  inneren  Grenzflächen  von  ganz  enormer 
Ausdehnung  sein.  Unter  der  Annahme  einer 
Wabenstruktur  würde  i  ccm  plasmatischer  Sub- 
stanz, das  aus  würfelförmigen  Waben  von  o,i  /.i 
(=  I  X  iO~^  cm)  Seitenlänge  bestünde,  eine  innere 
Oberfläche  von  6o  qm  aufweisen.  Diese  gesamte 
Oberfläche  muß  der  Sitz  von  elektrischen  Poten- 
tialsprüngen sein.  In  einer  interessanten  Studie 
hat  Nathansohn  die  Frage  durchdacht,  welche 
Bedeutung  der  durch  eine  derartige  große  Ober- 
flächenentwicklung ausgezeichneten  Protoplasma- 
struktur in  Verbindung  mit  den  sich  an  ihr  ab- 
spielenden elektrischen  Erscheinungen  für  die 
Lebensprozesse  zukommt.  Er  gelangt  zu  der 
Überzeugung,  daß  das  Auftreten  der  intrazellularen 
elektrischen  Potentialsprünge  und  Ströme  bei  den 
in  der  lebenden  Substanz  gegebenen  Struktur- 
verhältnissen „von  elektrolytischer  Wasserzer- 
setzung begleitet  ist,  und  so  durch  Erzeugung 
naszierenden  Wasserstoffs  und  Sauerstoffs  tief  in 
den  fundamentalsten  aller  Lebensvorgänge ,  die 
physiologische  Oxydation  eingreift". 

Nathansohn  gibt  damit  eine  ganz  neue,  eine 
elektrolytische  Atmungstheorie.  Das 
fundamentale  Problem  der  Atmung,  um  deren 
Klärung  sich  alle  Atmungstheorien  bemühen,  ist 
das :  Wie  kommt  es,  daß  reaktionsträge  Substanzen 
wie  Kohlehydrate,  Fette  oder  deren  Spaltungs- 
produkte   im    lebenden    Organismus    durch    den 


ebenso  trägen  Luftsauerstoff  oxydiert  werden  und 
zwar  mit  einer  recht  beträchtlichen  Geschwindig- 
keit, außerhalb  des  Organismus  aber  eine  Ver- 
brennung solcher  Stoffe  nicht  oder  doch  nur  mit 
wesentlich  —  nach  neuen  Versuchen  etwa  300  mal 
—  geringerer  Geschwindigkeit  stattfindet.  Die 
Schwierigkeit,  die  daraus  der  Erklärung  der  At- 
mung erwächst,  hat  die  herrschende  reine  Enzym- 
theorie nicht  völlig  zu  überwinden  vermocht. 
Zwar  ist  eine  Reihe  von  Oxydationsfermenten 
bekannt  geworden,  die  zweifellos  am  Atmungs- 
prozeß in  besonderer  Weise  beteiligt  sind,  doch 
hat  —  zuerst  1913  —  Warburg')  durch  inter- 
essante Versuche  dargetan,  daß  die  unveränderte 
Intensität  der  physiologischen  Oxydation  an  eine 
im  wesentlichen  ungestörte  Struktur  der  lebenden 
Substanz  gebunden  erscheint :  Rote  Vogelblutzellen 
zeigen  nach  Gefrieren  und  Wiederauftauen  — 
wobei  eine  Sprengung  der  Membranen,  aber  keine 
weitgehende  Strukturzerstörung  vor  sich  geht  — 
eine  Oxydationsgeschwindigkeit,  die  ebenso  groß 
ist  wie  in  intakten  Zellen;  wird  aber  die  durch 
das  Gefrieren  geschädigte  Zellmasse  scharfem 
Zentrifugieren  unterworfen,  so  daß  sich  eine  struktur- 
freie Schicht  von  einer  strukturhaltigen  trennt, 
dann  ist  die  Atmung  in  der  strukturhaltigen  Schicht 
im  wesentlichen  immer  noch  unverändert,  in  der 
strukturfreien  dagegen  nur  ganz  verschwindend 
klein.  Auch  wenn  die  Struktur  lebender  Zellen 
durch  besonders  gründliches  Zerreiben  mit  Sand 
bis  zur  Unkenntlichkeit  zerstört  wird,  sinkt  die 
Atmung  im  Organbrei  ganz  enorm.  Die  Atmung 
ist  also  im  wesentlichen  an  die  Strukturteile  ge- 
bunden. Dasselbe  gilt  für  den  Prozeß  der  Gärung; 
durch  Zerreibung  der  Hefezellen  erleidet  —  ob- 
wohl die  Gärungsfermente  selbst  dabei  nicht  zer- 
stört werden  —  die  Gärung  einen  sehr  beträcht- 
lichen Geschwindigkeitsabfall,  die  Restgärung  ist 
relativ  sehr  gering;  dies  hat  Buchner  bei  seinen 
bekannten  Versuchen  zu  wenig  hervorgehoben. 
Auch  Rubner  nimmt  an,  daß  bei  der  lebenden 
Hefe  der  Gärungsprozeß  durch  Verknüpfung  der 
Enzymwirkung  mit  der  Plasmastruktur  zustande 
kommt.  Es  fragt  sich  nur,  in  welchem  Sinne  die 
Struktur  dabei  eine  Rolle  spielt.  Warburg 
meint  durch  adsorptive  Verdichtung  von  Ferment 
und  Substrat  an  den  Oberflächen,  Ruhland 
durch  bestimmte  Lokalisation  infolge  einer  chemi- 
schen Bindung,  Nathan  söhn  dagegen  macht  sich 
folgende  Vorstellung: 

Eine  experimentelle,  am  lebenden  Objekt  selbst 
vorgenommene  Analyse  der  dabei  ablaufenden 
intrazellularen  Vorgänge  ist  derzeit  nicht  möglich; 
um  ein  Verständnis  dieser  Lebensprozesse  zu  ge- 
winnen, ist  man  daher  wie  so  oft  darauf  ange- 
wiesen, in  dem  reichen  Tatsachenschatz  der  phy- 
sikalischen Chemie  nach  Erscheinungen  zu  suchen, 
die  uns  als  Modell  der  vitalen  Vorgänge  dienen 
können.     Nathansohn   geht  aus   von   der  ge- 


')  O.  Warburg,    Über    die  Wirkung    der   Struktur    auf 
chemische  Vorgänge  in  Zellen.     Jena  1913. 


246 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  16 


wohnlichen  elektrolytischen  Wasserzersetzung  mit 
Hilfe  von  Metallelektroden.  Um  die  Elektrolyse 
dauernd  in  Gang  zu  erhalten,  müssen  die  Elek- 
troden auf  eine  ziemlich  hohe  Spannungsdififerenz 
gebracht  werden  (über  1,2  V.).  Der  Beginn  der 
Elektrolyse  erfolgt  aber  schon  bei  viel  geringerer 
Spannung  (0,005  V-)i  dabei  beladen  sich  die  Elek- 
trolyten mit  H  und  O  und  die  Elektrolyse  kommt 
im  wesentlichen  rasch  zum  Stillstand;  sie  kann 
aber  weiter  in  Gang  gebracht  und  dauernd  er- 
halten werden  auf  zweifach  verschiedene  Weise: 
entweder  durch  Erhöhung  der  Spannung  der 
Elektroden  oder  —  und  dies  interessiert  hier  — 
bei  gleich  nieder  bleibender  Spannung  dadurch, 
daß  die  Elektrolysenprodukte  (H  und  O)  rasch 
durch  einen  chemischen  Prozeß  entfernt  werden; 
„dazu  müssen  wir  die  Anode,  an  der  sich  der 
Sauerstoff  entwickelt,  in  eine  reduzierende,  die 
wasserstoffbildende  Kathode  in  eine  oxydierende 
Lösung  tauchen.  Diese  Lösungen  verbrauchen  die 
Zersetzungsprodukte  an  den  Elektroden  und  sorgen 
damit  für  deren  dauernde  Depolarisation".  So 
wird  der  Fortgang  der  Elektrolyse  ermöglicht. 
Dies  läßt  sich  realisieren  z.  B.  beim  Eintauchen 
von  Metallelektroden  in  eine  Lösung  Chinhydron 
bei  einer  Klemmspannung  von  nur  005  V.  Es 
genügen  also  so  geringe  Spannungen  wie  sie 
auch  im  lebenden  Organismus  vorkommen  können, 
um  die  Elektrolyse  dauernd  zu  erhalten,  wenn 
nur  durch  Depolarisation  eine  Polarisation  ver- 
mieden wird.  Ohne  weiteres  kann  aber  dieser 
Versuch  nicht  als  Modell  der  biologischen  Vor- 
gänge gelten,  denn  erstens  sind  dabei  Metall- 
elektroden in  Verwendung  und  zweitens  kommt 
die  wirksame  Spannung  ja  durch  äußere  Strom- 
zuführung dabei  zustande.  Diese  Schwierigkeiten 
sind  aber  nicht  unüberwindlich.  Elektrolytische 
Zersetzung  kann  auch  —  wie  zuerst  Braun  ge- 
zeigt hat  —  ohne  Metallelektroden  erfolgen  und 
zwar  in  kapillaren  Systemen.  Braun  bezeichnete 
diesen  Prozeß  als  Stenolyse. ')  Schickt  man 
durch  eine  poröse  Scheidewand  „aus  Ton  oder 
von  Sprüngen  durchsetztem  Glas,  das  z.  B.  beider- 
seits an  AgNOg-Lösung  grenzt,  einen  elektrischen 
Strom,  so  erfolgt  Elektrolyse,  und  zwar  wird  an 
der  der  Anode  zugewandten  kapillaren  Seite  Silber 
ausgeschieden,  während  an  der  entgegengesetzten 
Silbersuperoxyd  entsteht.  Diese  Silbersuperoxyd- 
bildung ist  der  Typus  einer  depolarisierenden 
elektrolytischen  Oxydation. . ."  Analoges  erfolgt 
auch  an  anderen  kapillaren  Systemen  wie  an 
semipermeablen  Niederschlagsmembranen.  Diesen 
Vorgang  der  Stenolyse  hat  Coehn  als  echten 
elektrolytischen  Prozeß  erkannt. 

Es  fragt  sich  nun  weiter:  geht  Stenolyse  an 
kapillaren  Membranen  auch  dann  vor  sich,  wenn 
von  außen  kein  Strom  zugeführt  wird  f  Dies  ist 
tatsächlich  der  Fall,  sobald  die  Membran  selbst 
zum  Sitz  der  treibenden  elektrischen  Kräfte  wird. 
Solche  Kräfte    treten    z.  B.   an   porösen  Glaswän- 

1)  azEPÖs  schmal,  eng. 


den  auf,  wenn  sie  in  Säuren  tauchen  und  —  wie 
wir  ja  schon  wissen  —  an  semipermeablen  Mem- 
branen. Wie  aber  können  die  hier  realisierten 
Spannungsdifferenzen  Stenolyse  bewirken?  Da- 
durch, daß  sie  Veranlassung  sind  zum  Auftreten 
lokaler  Membranströme :  durch  die  mit  Flüssigkeit 
erfüllten  Kapillaren  der  Membran  wird  infolge  der 
an  ihren  Grenzflächen  herrschenden  Spannung  ein 
elektrischer  Strom  hindurchgetrieben  und  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  durch  die  Membran- 
substanz selbst.  Solche  lokale  Membranströme 
wiederum  bewirken  wie  ein  von  außen  zugeführter 
Strom  das  Auftreten  der  Stenolyse  und  diese  geht 
dauernd  vor  sich,  wenn  geeignete  Depoiarisatoren 
vorhanden  sind  zur  Beseitigung  der  Stenolyse- 
produkte.  Zur  kontinuierlichen  Elektrolyse  ist 
also  unter  bestimmten  Bedingungen  erforderlich : 
I.  Eine  nur  geringfügige  Spannung,  2.  eine  kapil- 
lare Membran,  3.  Depoiarisatoren,  welche  die 
Elektrolyseprodukte  chemisch  beschlagnahmen. 

Nathansohn  nimmt  an,  daß  derartige  Ver- 
hältnisse in  den  lebenden  Zellprotoplasten  reali- 
siert erscheinen.  Spannungen  von  der  erforder- 
lichen Stärke  treten  —  wie  erwähnt,  an  den  plas- 
mati.schen  Grenzschichten,  die  überall  mit  Elektro- 
lytlösungen in  Berührung  stehen,  ganz  allgemein 
auf.  Sind  im  Protoplasma  aber  auch  die  Be- 
dingungen gegeben,  daß  diese  Spannungen  zur 
Auslösung  lokaler  Membranströme  führen  können? 
Die  plasmatischen  Membranen  müßten  kapillare 
Struktur  besitzen.  Dies  ist  aber  gewiß  der  Fall, 
denn  jede  kolloide  Substanz  —  und  nur  als  solche 
ist  das  Lebenssubstrat  zu  verstehen  —  weist  kapil- 
laren, mehrphasigen  Bau  auf  und  speziell  für  die 
Plasmamembran  hat  Nathansohn  eine  mosaik- 
artige Zusammensetzung  aus  wasserlöslichen  ei- 
weißartigen und  wasserunlöslichen  lipoiden  Teil- 
chen gefordert.  Es  sind  also  alle  die  Bedingungen 
für  lokale  Membranströme  gegeben  und  die  not- 
wendige Folge  davon  ist  die  Einleitung  einer 
stenolytisch  elektrolytischen  Wasserzersetzung. 

Wird  aber  die  Stenolyse  in  der  lebenden  Zelle 
dauernd  vor  sich  gehen  können,  finden  sich  ge- 
eignete Depoiarisatoren  die  den  entstehenden 
Wasserstoff  und  Sauerstoff  ständig  beseitigen? 

Was  geschieht  mit  dem  naszierenden  Wasser- 
stoff? Es  besteht  keine  Schwierigkeit  anzunehmen, 
daß  er  oxydiert  wird;  schon  gelöster  Luftsauer- 
stoff oxydiert  an  der  Kathode  frei  werdenden 
Wasserstoff  zu  Wasserstoffsuperoxyd.  Geht  dies 
in  der  Zelle  auch  vor  sich,  so  wird  HjOj  mit  der 
allgegenwärtigen  Katalase  zusammentreffen  und 
dieses  Enzym  zersetzt  H.,02,  wobei  wieder  Sauer- 
stoff entsteht,  der  dann  um  so  energischer  den 
stenolytisch    entstehenden    Wasserstoff  oxydiert.') 

Die  Beseitigung  des  naszierenden  Wasserstoffs 
wird  aber  vielleicht  auch   gefördert  durch  andere 


')  Es  ist  von  Interesse,  dafi  H^Oj  die  Winterruheperiode 
der  Pflanzen  abzukürzen  imstande  ist,  wobei  es  sich  um  eine 
Erhöhung  der  Atmungsintensiiät  handeln  dürfte.  Auch  ist  der 
Gebalt  an  Katalase  bei  manchen  Organen  mafigebend  für  ihr 
Oxydationsvermögen. 


N.  F.  XX.  Nr.  i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


247 


oxydierende  Enzyme,  sowie  durch  das  ebenfalls 
allgemein  verbreitete  Fe"-Ion.  Für  die  Bedeutung 
des  Eisens  *)  für  die  Oxydationsprozesse  spricht 
neuerdings  ein  hübscher  Versuch  von  Warburg: 
durch  Hinzufügung  einer  minimalen  Eisenmenge 
zu  zusammengeflossenen  Seeigeleiern  wurde  ihre 
Atmung  um  ca.  75  "/o  gesteigert. 

Und  nun  die  zweite  Frage :  Findet  auch  der 
naszierende  Sauerstoff  seinen  Depolarisator  ?  „Seine 
Entfernung,  also  die  anodische  Depolarisation,  muß 
durch  organische  Substanzen  erfolgen."  Dabei 
kommt  vor  allem  Traubenzucker  in  Betracht; 
durch  schwache  Oxydationsmittel,  wie  H^O.,  -j-Fe, 
wird  er  bereits  angegriffen ;  auch  im  Protoplasma 
dürfte  hier  das  Eisen  wiederum  eine  Rolle  spielen ; 
der  bei  der  Stenolyse  sich  bildende  naszierende 
Sauerstoff  wird  den  Zucker  und  seine  Spaltungs- 
produkte gewiß  zu  oxydieren  vermögen. 

')  Vgl.  N.  Sacharoff,  Das  Eisen  als  das  tätige  Prinzip 
der  Enzyme  und  der  lebendigen  Substanz,  Jena  1902,  und  die 
grundlegende  Schrift  von  H.  Molisch,  Die  Pflanze  in  ihren 
Beziehungen  zum  Eisen,  Jena  1892. 


Alle  diese  Überlegungen  festigen  die  Über- 
zeugung, daß  im  Protoplasma  die  Bedingungen 
gegeben  sind,  damit  durch  Elektrolyse  dauernd 
Atmungsprozesse  unterhalten  werden:  Große 
Oberflächenentwicklung  semipermeabler  kapillarer 
Membransysteme,  Anwesenheit  von  Elektrolyten, 
die  an  jenen  Potentialdifferenzen  erzeugen,  da- 
durch ausgelöste  lokale  Membranströme,  die  zur 
Stenolyse  führen  und  schließlich  dauernde  durch 
Enzyme  und  die  Gegenwart  des  Eisens  geförderte 
Beseitigung  der  Elektrolyseprodukte.  So  wäre 
das  Rätselhafte  der  physiologischen  Oxydation 
erklärt.  Durch  die  kapillarelektrischen  Erschei- 
nungen „tritt  an  Stelle  des  reaktionsträgen  atmo- 
sphärischen der  naszierende  elektrolytische  Sauer- 
stoff, während  jener  seinerseits  durch  naszierenden 
Wasserstoff  und  nicht  durch  die  reaktionsträgen 
organischen  Substanzen  in  den  Atmungsprozeß 
hineingezogen  wird". 

(Schluß  folgt.) 


Bücherbesprechungen. 


Kuenen,    J.    P.,    Die    Eigenschaften     der 
Gase  (kmetische    Theorie,    Zustandsgieichung). 
Band  3  des  Handbuchs  der  allgemeinen  Chemie 
von  W.  Ostwald   und  C.  Drucker.     44Ö  Seiten. 
Leipzig    1919,    Akademische  Verlagsgesellschaft 
m.  b.  H.     Brosch.  65  M. 
Diese  große,   den  Eigenschaften   der  Gase  ge- 
widmete Monographie  gibt  eine  vortreffliche  und, 
soweit  zu  sehen,  in  allen  Einzelheiten  vollständige 
Zusammenstellung  unserer  gesamten  Kenntnis  des 
gasförmigen    Aggregatzustands     im    wesentlichen 
nach    dem  Stande    vom  Jahre   191 4,   in    dem    die 
Urschrift  in  den  Druck  gegeben  worden  ist. 

In  außerordentlich  klarer  Weise  reiht  sie, 
systematisch  geordnet,  ein  ungeheures  und  in 
allen  Fällen  durch  sorgfältige  Literaturhinweise 
belegtes  Tatsachenmaterial  aneinander.  Dabei 
werden  Theorie  und  Experiment  im  allgemeinen 
mit  gleicher  Ausführlichkeit  und  in  einem  Um- 
fang behandelt,  wie  er  zum  Verständnis  sowohl  der 
besonderen  Einzelheiten  als  der  großen  Zusam- 
menhänge gerade  erforderlich  erscheint.  Mathe- 
matische Entwicklungen  sind  durchweg  möglichst 
elementar  gehalten,  und  besonderer  Wert  ist 
weniger  auf  erschöpfende  Vollständigkeit  und 
Strenge  der  Herleitung,  bezüglich  welcher  vielfach 
der  Hinweis  auf  die  betreffende  Originalliteratur 
genügt,  als  auf  deutliche  Hervorhebung  des  physi- 
kalischen Inhalts  gelegt.  In  letzterer  Hinsicht  ist 
die  Darstellung  mustergültig. 

Das  I.  Kapitel  gibt  einen  kurzen  Überblick 
über  die  kinetische  Theorie  der  Gase.  Die  folgen- 
den 4  Kapitel  behandeln  die  wichtigen  experi- 
mentellen Bestimmungen  der  inneren  Reibung, 
Wärmeleitung,  Diffusion  und  Transpiration,  deren 


Auswertung  zur  Ermittlung  der  molekularen 
Größen  sich  im  6.  Kapitel  findet.  Daran  schließt 
sich  die  Betrachtung  der  Lichtbrechung,  der 
Dielektrizitätskonstanten  und  der  Magnetisierungs- 
konstanten der  Gase,  der  magnetischen  Drehung 
der  Polarisationsebene  und  des  Zeemaneffekts,  wo- 
bei sich  Verf  zum  Teil  auf  kürzere  Andeutungen 
beschränkt.  Ebenso  will  auch  das  12.  Kapitel 
über  das  Leuchten  der  Gase  unsere  Kenntnis  mehr 
andeuten  als  erschöpfend  wiedergeben.  Um  so 
befriedigendere  Ausführlichkeit  besitzt  die  Dar- 
stellung des  besonderen  Arbeitsgebiets  des  Verf., 
der  Zustandsgieichung  und  des  Theorems  der 
übereinstimmenden  Zustände. 

Zu  bedauern  ist  nur,  daß  die  erheblichen  Fort- 
schritte auf  dem  Gebiet  in  der  langen  zwischen 
Drucklegung  und  Herausgabe  des  Werks  ver- 
strichenen Zeit  in  der  Hauptsache  nur  durch  kurze 
gelegentliche  Einfügungen  und  nicht  durch  eine 
ihrer  Bedeutung  entsprechende  Durcharbeitung 
berücksichtigt  werden  konnten.  Jedenfalls  aber 
bietet  das  umfassende  Werk  dem  Lernenden, 
Lehrenden  und  Forscher  die  sichere  Grundlage, 
auf  der  er  aufbauen  muß,  wenn  er  die  Entwick- 
lung des  Gebiets  mit  Verständnis  weiterverfolgen 
bzw.  mit  Nutzen  selbst  fördern  will. 

A.  Becker. 

Fürth,  R.,  Schwankungserscheinungen  in 
derPhysik.  Heft  48  der  „Sammlung  Vieweg '. 
93  Seiten  mit  5  Figuren.  Braunschweig  1920, 
F.  Vieweg  u.  Sohn.  Geh.  4,50  M  und  Teue- 
rungszuschlag. 
Ursprünglich  als  nebensächliche  Einzelerschei- 
nungen   betrachtet,    haben    die    Schwankungser- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XX.  Nr.  16 


scheinungen  in  der  gesamten  Physik  neuerdings 
eine  ständig  wachsende  Bedeutung  erlangt,  nach- 
dem ihre  nähere  Untersuchung  sie  als  geeignet 
gezeigt  hat,  allgemein  wichtige  Einblicke  in  die 
uns  bis  jetzt  nur  indirekt  zugänghche  Atomwelt 
zu  gewähren.  Sind  die  elementaren  physikalischen 
Erscheinungen,  woran  wir  nicht  mehr  zweifeln, 
letzten  Endes  auf  diskontinuierliche  Struktur  ihrer 
Träger  zurückzuführen,  so  sind  die  unmittelbar 
beobachtbaren  makroskopischen  Gesetzmäßig- 
keiten als  Ausdruck  einer  sog.  statistischen  Massen- 
erscheinung aufzufassen,  deren  Einzelereignisse 
lediglich  dem  Zufall  unterworfen  sind.  Dann  muß 
es  ein  Gebiet,  das  sog.  mikroskopische,  geben,  in 
dem  zwar  die  zufälligen  Einzelereignisse  der 
Atomwelt  nicht  zu  beobachten  sind,  in  dem  aber 
infolge  der  verhältnismäßig  geringen  Zahl  mit- 
spielender Atomereignisse  die  makroskopischen 
Parameter  nicht  mehr  die  Konstanz  der  Massen- 
erscheinungen besitzen,  sondern  gewissen  unregel- 
mäßigen Schwankungen  unterworfen  sind,  die 
einerseits  von  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
unter  bestimmten  Voraussetzungen  vorausgesagt, 
andererseits  durch  das  Experiment  verfolgt  wer- 
den können,  so  daß  der  Vergleich  von  Therorie 
und  Beobachtung  zur  Prüfung  jener  Voraussetzung 
dienen  kann. 

Die   vorliegende  Monographie    gibt   eine   vor- 
zügliche zusammenfassende  Darstellung  dieser  neu- 
artigen Behandlungsweise  physikalischer  Probleme. 
Ihr  erstes,  umfangreichstes  Kapitel  bringt  zunächst 
die  mathematischen  Grundlagen  der  Schwankungs- 
theorie.    Der    nicht   mit  der  Wahrscheinlichkeits- 
theorie   vertraute  Leser   wird    hier    die  Einfügung 
von    veranschaulichenden    statistischen    Zahlenbei- 
spielen    besonders     angenehm    empfinden.      Die 
folgenden    Kapitel    dienen    der   Anwendung    der 
Theorie  auf  die    einzelnen  physikalischen. Erschei- 
nungen.    Der  Verf.  betrachtet  zuerst  die  Kolloid- 
statistik,  d.  i.  dasjenige  Gebiet,   bei  dem  sich  die 
Einzelheiten  des  Mechanismus  im  Mikroskopischen 
noch  direkt  verfolgen   lassen,    und    geht    dann    zu 
denjenigen  Erscheinungen  über,    die    sich  im  Ge- 
biet des  Mikroskopischen  nicht  mehr  in  ihre  Einzel- 
fälle auflösen  lassen  und  sich  daher  nur  noch  in- 
direkt   durch    die   Beobachtung    gewisser   makro- 
skopischer    Zustandsvariablen      verfolgen     lassen 
(thermodynamische,  elektrische,  magnetische,  che- 
mische, radioaktive  und  Strahlungsschwankungen). 
An    die    mathematische    Theorie    des    jeweiligen 
Problems    schließt    sich    in   jedem   Kapitel    eine 
kurze    schematische   Skizzierung   der    experimen- 
tellen Methoden,  eine  Besprechung  der  Versuchs- 
ergebnisse und  eine  vollständige  Zusammenstellung 
der    einschlägigen    Literatur.      Eine    Reihe    von 
theoretischen    Hinweisen    auf    noch    nicht    näher 
untersuchte  Schwankungserscheinungen  bieten  dem 


experimentierenden  Physiker  wertvolle  Anregungen 
zu  weiterer  Vertiefung  der  Erkenntnis  des  Mikro- 
kosmos.    A.  Becker. 

Praktikum  und  Repetitorium  der  quantitativen 
Analyse.   III.  Teil.  Elektroanalyse.  Breiten- 
steins Repetitorien  Nr.  37c.     Leipzig  1920,  Joh. 
Ambrosius  Barth.     10,80  (12,75)  M.  und   Teue- 
rungszuschläge. 
Das  mit  27  außerordentlich    instruktiven  Ab- 
bildungen versehene  Heft  stellt  eine  ganz  vorzüg- 
liche   Anleitung    zu    quantitativen   Bestimmungen 
auf  elektrolytischem  Wege,    wie  sie  immer  mehr 
in  Anwendung  kommen,  dar.    Im  ersten  Teil  wird 
die  Theorie  der  elektrolytischen  Dissoziation  und 
die  wichtigsten   der  der  Elektroanalyse  zugrunde- 
liegenden Gesetze  ebenso  kurz  wie  zum  Verständ- 
nis durchaus  hinreichend    behandelt.     Der  zweite 
Abschnitt  erläutejt  die  Methodik  in  für  die  meisten 
Zwecke  erschöpfender  Weise.     Hierauf  sind  eine 
Anzahl    für    den    Unterricht    unerläßlicher    „Vor- 
übungen",   sowie    schließHch    Bestimmungen    der 
wichtigsten  Metalle  und  einiger  Anionen  eingehend 
und  so  beschrieben,   daß   unmittelbar  danach  ge- 
arbeitet   werden   kann.      Im    ganzen    hat    man    es 
mit   einer   ganz    besonders    erfreulichen  und  auch 
formal  so  gut  wie  einwandfreien  Zusammenstellung 
der    bewährten    elektroanalytischen  Methoden    zu 
tun,  die  die  bekannten  größeren  Werke  über  diesen 
Gegenstand    zwar    nicht    überflüssig    macht,    dem 
Studierenden   jedoch   als    höchst    brauchbare    An- 
weisung  angelegentlich   empfohlen    werden    muß. 
Zu    Bemerkungen    ist    kein    Anlaß.      Nur    er- 
scheint   die  Tabelle    der  „Äquivalentgewichte  be- 
zogen aufH=i"  überflüssig.     Ferner  möchte  bei 
einer  Neuauflage  die  Aufnahme  eines  Kapitels  über 
die    erfahrungsgemäß    vorkommenden   Störungen 
und  Schwierigkeiten   verschiedener  Art    nicht  un- 
zweckmäßig sein.  H.  H. 


Literatur. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.      Leipzig    und  Berlin,    B.  G. 
Teubner.     Kart.   1,80  M.,  geb.  3,50  M. 

Oppenheim,  Prof.  Dr.  S.,  Das  astronomische  Welt- 
bild im  Wandel  der  Zeit. 

I.  Teil:   Vom  Altertum  bis  zur  Neuzeit. 

II.  Teil ;  Moderne  Astronomie.     2.  Aufl. 
Lüscher,    Dr.    ing.    H.,    Photogramm etrie    (Einfache 

Stereo-  und  Luttphotogrammetrie.) 
H  a  m  e  1 ,    Prof.    Dr.    G. ,    Mechanik    I :     Grundbegriffe 

der  Mechanik. 
Kämmerer,     Prof.    Dr.    H. ,    Die    Abwehrkräfte    des 
Körpers.     Eine  Einfährung   in    die  Immunitätslehre. 
2.  Aufl. 
Moser,    Prof.  Dr.  L. ,    Die    Reindarstellung   von  Gasen. 
Ein  Hilfsbuch  für  das  Arbeiten  im  Laboratorium.    Mit  70  Abb. 
Stuttgart  '20,  F.  Enke.     Geh.  36  M. 

Bodforss,  Dr.  S.,  Die  Äthylenoxyde,  ihre  Darstellung 
und  Eigenschaften.     Stuttgart  '20,  F.  Enke.     Geh.  5  M. 


Inhalt:  Friedl  Weber,  Pflanze  und  Elektrizität.  S.  241.  —  Bücherbesprechungen:  J.  P.  Kuenen,  Die  Eigenschaften 
der  Gase.  S.  247.  R.  Fürth,  Schwankungserscheinungen  in  der  Physik.  S.  247.  Praktikum  und  Repetitorium  der 
quantitativen  Analyse.  S.  248.  —  Literatur:  Liste.  S.  248. 

Manuikripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  24.  April  1921. 


Nummer  l^. 


Pflanze  und  Elektrizität. 


[Nachdruck  verboten. 


Von  Dr.  Friedl 


Bis  hierher  -  sind  wir  den  Gedankengängen 
Nathansohns  ziemlich  lückenlos  gefolgt,  auf 
weitere  Einzelheiten  und  anregende  Hypothesen 
kann  nur  ganz  kurz  hingewiesen  werden.  Zu- 
nächst sei  hervorgehoben,  daß  N.  sich  nicht  nur 
eine  Vorstellung  von  der  qualitativen  Seite  des 
elektrolytischen  Atmungsprozesses  zu  machen  sucht, 
sondern  ebenso  darüber,  ob  seine  Erklärung  auch 
in  qualitativer  Hinsicht  zureichend  ist,  d.  h.  ob 
auch  die  Intensität  der  Gesamtatmung  eines  Or- 
ganismus dadurch  verständlich  wird,  ob  also  der 
ganze  Atmungsvorgang  als  ein  „elektrolytisch  be- 
triebener Oxydationsprozeß"  anzusehen  ist.  Auf 
Grund  von  Berechnungen  glaubt  er  die  Frage  be- 
jahen zu  können,  obwohl  die  wirksamen  Span- 
nungsdifferenzen kaum  mehr  als  0,1  V.  betragen; 
entscheidend  dabei  ist  eben  die  spezifische  Struk- 
tur des  Protoplasmas  mit  ihrer  relativ  enormen 
Entfaltung  der  Membranoberfläche. 

In  einem  zweiten  Teil  seiner  Arbeit  behandelt 
Nathansohn  die  Bedeutung  der  Elektro- 
osmose  für  verschiedene  „offene  Probleme  der 
physiologischen  Energetik"  vor  allem  für  Re- 
sorptions-  und  Sekretionsvorgänge.  Die  Elektro- 
osmose  gehört  zu  den  elektrischen  Erscheinungen 
an  Grenzflächen.  An  den  Grenzflächen  zweier 
verschiedener  Phasen,  also  z.  B.  zweier  nicht  misch- 
barer Flüssigkeiten  oder  einer  IVlembran  und  einer 
Flüssigkeit  treten  elektrische  Ladungen  auf,  es 
bildet  sich  eine  elektrische  Doppelschicht :  eine  +  - 

und    eine Flüssigkeitsschicht     liegt     einander 

gegenüber;  die  eine,  die  Benetzungsschicht,  haftet 
der  Membran  fest  an,  ist  unbeweglich ;  ist  sie  die 
positiv  geladene,  so  besitzt  die  andere  daran- 
grenzende bewegliche  Flüssigkeitsschicht  negative 
Ladung.  Durch  das  Potentialgefälle  wird  die  be- 
wegliche Schicht  verschoben,  sie  bewegt  sich  und 
nimmt  dabei  infolge  der  inneren  Reibung  die  zu- 
nächst liegenden  Teile  der  Flüssigkeit  mit.  Ist 
nun  aber  das  Volumen  der  ganzen  Flüssigkeits- 
masse gering  im  Verhältnis  zur  Grenzschicht,  dann 
wird  durch  die  sich  bewegende  Grenzschicht  die 
Gesamtmasse  der  Flüssigkeit  mitgenommen;  dies 
ist  realisiert,  wenn  sich  die  Flüssigkeit  in  einer 
Kapillare  befindet  oder  in  einem  System  von 
Kapillaren,  in  einer  porösen  Scheidewand. 

„Die  Folge  ist  die  Entstehung  einer  Flüssig- 
keitsströmung in  der  Richtung  der  elektrischen 
Strömung:  Die  Flüssigkeit  wird  durch  die  poröse 
Scheidewand  gedrückt,  es  tritt  elektrische  Endo- 
mose  auf."»)  Freundlich  hat  einen  einfachen 
Apparat  konstruiert  zum  Studium  der  Elektro- 
endosmose.      Eine    (J-Röhre   in   der   Mitte    durch 


Weber  (Graz).  (Schluß.) 

eine  Tonwand  in  zwei  Teile  geteilt  wird  mit 
Wasser  gefüllt  in  jeden  Schenkel  eine  Elektrode 
eingeführt  und  ein  Strom  hindurchgeschickt.  Es 
steigt  nun  das  Wasser  auf  der  Kathodenseite  und 
an  einem  dort  eingefügten  Steigrohr  kann  der 
endosmotische  Verschiebungsdruck  an  der  Steig- 
höhe gemessen  werden,  genau  so  wie  der  osmo- 
tische Druck  an  einem  Manometer  einer  Pfef- 
fer sehen  Zelle.  Die  Zu-  und  Durchleitung  eines 
Stromes  von  außen  her  ist  nicht  nötig  zur  elektro- 
osmotischen  Flüssigkeitsbewegung;  wie  erwähnt, 
setzt  ja  der  von  vornherein  an  der  Doppelschicht 
auftretende  Potentialsprung  diesen  elektrokine- 
tischen  Vorgang  in  Bewegung;  der  Strom  von 
außen  hilft  bloß  den  Reibungswiderstand  der 
Flüssigkeitsschichten  überwinden  und  erhält  die 
Bewegung  konstant. 

In  welcher  Hinsicht  ist  nun  die  Elektroosmose 
an  der  physiologischen  Wasserbewegung  beteiligt  ? 
Zunächst  muß  sich  die  Frage  aufdrängen,  ob  denn 
nicht  rein  osmotische  Kräfte  zur  Erklärung  der 
Wasseraufnahme  (Resorption),  Wasserfortbewegung 
und  Wasserabgabe  (Sekretion)  ausreichend  sind. 
Gewiß,  an  diesen  Flüssigkeitsbewegungen  beteiligen 
sich  stets  rein  osmotische  Kräfte ;  ob  sie  aber  die 
allein  wirksamen  Faktoren  sind,  ist  schwer  zu 
entscheiden.  Wasserbewegung  durch  Membrane 
kann  im  Organismus  auch  ohne,  ja  gegen  das 
osmotische  Druckgefälle  vor  sich  gehen.  Ein 
schönes  Beispiel  dafür  bietet  die  Resorptionstätig- 
keit der  Dünndarmwand;  sie  treibt  Flüssigkeit 
von  der  inneren  Hohlraumseite  durch  die  Wand 
hindurch  nach  der  äußeren  Seite;  wird  ein  Stück 
der  Darmwand  in  der  Mitte  eines  mit  physiolo- 
gischer Kochsalzlösung  gefüllten  Glasgefäßes  aus- 
gespannt, so  daß  sich  beiderseits  der  Darmwand 
die  gleiche  Salzlösung  befindet,  ein  äußeres  os- 
motisches Druckgefälle  also  nicht  besteht,  so  tritt 
trotzdem  von  der  inneren  Schleimhaulseite  her 
Wasser  an  die  äußere  Seite  über  und  zwar  so 
lange  wie  das  Darmslück  überlebt;  die  Darm  wand 
muß  also  der  Sitz  einer  „speziellen  Triebkraft" 
sein  (Hob er).  Andererseits  muß  oft  auch  bei 
Sekretionsprozessen  Wasser  von  der  konzentrierte- 
ren  nach  der  verdünnteren  Lösung  gegen  das  os- 
motische Druckgefälle  sich  bewegen. 

Nicht  nur  im  tierischen  Organismus  bei  der 
Sekretion  von  Speichel,  Magensaft,  Schweiß,  Harn 
usw.  spielt  die  einseitige  Wasserauspres- 
sung eine  große  Rolle,  sondern  ebenso  auch  im 

•)  V.  KohlschüUer,  Die  Erscheinungsformen  der 
Materie.     Leipzig   1907. 


250 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


pflanzlichen.  Sie  wird  hier  äußerlich  besonders 
auffallend  als  sog.  Tröpfchenausscheidung  oder 
Guttat ion:  Ist  der  Feuchtigkeitsgehalt  der  Luft 
sehr  groß,  die  Verdunstung  stark  herabgesetzt  — 
unter  natürlichen  Verhäknissen  im  Freien  ge- 
wöhnlich in  den  frühen  Morgenstunden  — ,  dann 
zeigen  sich  die  Blattränder  vieler  Pflanzen  wie 
von  Tautropfen  besät.  Es  ist  dies  aber  kein  Tau 
sondern  Wasser,  das  die  Pflanze  von  innen  heraus 
aktiv  ausgeschieden  hat.  Die  so  sezernierten 
Flü-sigkeitsmengen  sind  nicht  unbeträchtlich;  in 
höchster  Vollendung  fand  Molisch  diese  Wasser- 
ausscheidung bei  jüngsten  Blättern  von  Colocasia- 
Arten  ausgebildet ;  hier  werden  die  Wassertropfen 
direkt  herausgeschleudert  und  zwar  mit  erstaun- 
licher Kraft,  sie  fliegen  nahezu  i  cm  vertikal  in 
die  Höhe  und  folgen  oft  so  schnell  aufeinander, 
„daß  man  kaum  imstande  ist,  die  fliegenden 
Tröpfchen  zu  zählen  .  .  .  man  glaubt  einen  Spring- 
brunnen, eine  Art  lebender  Fontäne  zu  sehen  .  .  ., 
in  einer  Nacht  kann  aus  einer  einzigen  Blattspitze 
etwa  ^/jo  Liter  ausgeschleudert  werden."') 

Wie  ist  nun  eine  solche  einseitige  Auspressung 
von  Wasser  zu  erklären.  Schon  Bernstein  hat 
dazu  die  Wirkung  des  Potentialgefälles  der  Plas- 
mamembran in  Anspruch  genommen:  elektro- 
osmotische  Membrantheorie.  Er  hat  insbesondere 
den  Wasseraustritt,  der  bei  Reizung  von  Mimosa- 
blättern  innerhalb  der  Blattgelenkpolster  erfolgt, 
auf  die  dabei  auftretenden  Aktionsströme  zurück- 
geführt. Nathansohn  stellt  sich  die  Verhält- 
nisse folgendermaßen  vor:  An  den  kapillaren 
Plasmamembranen  treten  Spannungsdifferenzen  aui 
und  zwar  ist  „die  Innenseite  der  Zelle  gegen  die 
äußere  positiv  geladen".  Daher  muß  eine  ein- 
wärts gerichtete  elektrisch  betriebene  Wasserbe- 
wegung, ein  Einströmen  von  Wasser  in  die  Zelle 
erfolgen ;  dem  entgegen  wirkt  der  Filtrationsstrom, 
der  durch  den  Gegendruck  der  Membran  bewirkte 
Ausstrom.  Ist  die  Membran  allseits  mit  gleichen 
Eigenschaften  ausgestaltet,  dann  geht  der  Ein- 
und  Ausstrom  ebenfalls  gleichmäßig  vor  sich,  eine 
einseitige  Wasserbewegung  kann  nicht  stattfinden ; 
dagegen  muß  sofort  einseitiger  Wassertransport 
sich  einstellen,  wenn  sich  die  Eigenschaften  der 
Membran  an  irgendeiner  Stelle  ändern,  denn  mit 
einer  solchen  Qualitätsänderung  der  Plasmahaut 
muß  auch  entweder  der  Filtrationswiderstand 
(Ausstrom)  oder  der  elektromotorische  Einstrom 
ein  anderer  werden.  Ist  also  an  einer  Seite  der 
Zelle  die  Membranqualität  in  bestimmter  Weise 
modifiziert,  „so  wird  ein  konstanter  Wasserstrom 
sich  durch  die  Zelle  bewegen  und  zwar  nach  der 
Richtung,  in  welcher  die  Druckfiltration  gegen- 
über der  Elektroosmose  stärker  gefördert  ist". 
Damit  wäre  eine  Erklärung  für  das  Phänomen  der 
einseitigen  Wasserauspressung  gegeben;  Voraus- 
setzung ist  ein  polarer  Gegensatz  zwischen  Außen- 
und  Innenseite  der  Zellen  und  zwar  wahrschein- 
lich   ein    ungleichseitiger     Filtrationswiderstand.''') 

1)  H.  Molisch,  Pflanzenphysiologie  als  Theorie  der 
Gärtnerei,   III.  Aufl.,  S.  54.     Jena   1920. 


Die  einseitige  Wasserauspressung  äußert  sich 
bei  Pflanzen  nicht  nur  als  Guttation,  auf  ihr  be- 
ruht auch  das  Phänomen  des  B 1  u  t  e  n  s.  Wird 
vor  der  Blattentfaltung  im  Frühling  ein  Ast  eines 
Baumes  angeschnitten,  so  tränt  oder  blutet  er, 
aus  den  durch  den  Schnitt  bloßgelegten  Wasser- 
leitungsröhren, den  Gefäßen  des  Holzes  tritt  eine 
wässerige  Flüssigkeit  hervor;  dies  kommt  davon, 
daß  die  lebenden  Zellen,  die  an  das  Wasser- 
leitungssystem grenzen,  einseitig  Flüssigkeit  aus- 
pressen und  zwar  in  die  Leitungsröhren  hinein. 
Der  Blutungsdruck  ist  recht  bedeutend  und  es 
fließen  oft  beträchtliche  Wassermengen  (36  1  bei 
einer  Birke  in  8  Tagen)  aus.  Auch  für  diesen 
Blutungsdruck  und  sein  Zustandekommen  gilt 
natürlich  die  Theorie  Nathansohns  und  dieser 
berechnet,  daß  auch  die  quantitative  Seite  des 
Problems  dabei  verständlich  wird. 

Von  einer  ganz  anderen  Fragestellung  aus- 
gehend hat  sich  1919  K.Stern  zur  Aufgabe  ge- 
macht, den  Einfluß  der  Elektrizität,  speziell  der 
elektroosmotischen  Erscheinungen  auf  Wasser- 
aufnahme, -abgäbe  und  -bewegung  genauer  ex- 
perimentell zu  studieren.  Den  Ausgangspunkt 
bildet  ein  Versuch,  den  Lemström,-')  der  be- 
kannte Vertreter  der  Elektrokulturbestrebun- 
gen  ausgeführt  hatte.  Über  die  Frage,  ob  die 
Elektrizität  das  Pflanzenwachstum  zu  beeinflussen 
eventuell  zu  begünstigen  vermag  und  ob  mit  ihrer 
Hilfe  eine  Ertragsteigerung  der  Kulturpflanzen 
erzielt  werden  kann,  besteht  eine  unübersehbare 
und  weit  zurückreichende  Literatur.  Bei  den 
Elektrokulturversuchen  wurde  in  neuerer  Zeit  die 
Elektrizität  in  der  Regel  so  zugeführt,  daß  in 
einer  Entfernung  von  i  m  oder  mehr  vom  Boden 
isolierte  Drahtnetze  ausgespannt  und  mit  hoch- 
gespannten Strömen  beschickt  wurden;  ein 
schwacher  elektrischer  Strom  geht  dabei  durch 
die  Luft  auf  die  Pflanze  und  in  die  Erde  über. 
Lemström,  dessen  Elektrokulturberichte  seiner- 
zeit viel  Aufsehen  erregten,  will  unter  günstigen 
Verhältnissen  45  "/q  Ertragssteigerung  im  Minimum 
erzielt  haben.  Zur  Erklärung  dieser  vielverheißen- 
den Erfolge  zog  er  einen  physikalischen  Modell- 
versuch heran,  bei  dem  es  sich  um  folgendes 
handelt:  Eine  Glaskapillare  taucht  in  ein  Gefäß 
mit  Wasser;  von  ücm  Wasser  führt  eine  strom- 
leitende Verbindung  zur  Erde;  in  einer  mäßigen 
Entfernung  über  der  Kapillare  befindet  sich  eine 
Metallspitze  angebracht ;  diese  ist  in  leitender  Ver- 
bindung mit  dem  negativen  Pol  einer  Influenz- 
maschine. Wird  die  Maschine  in  Gang  gesetzt, 
so  daß  ein  elektrischer  Strom  von  ihr  durch  die 
Luft  und  die  Kapillare  zum  Wasser  geht,  dann 
steigt  das  Wasser  in  der  Kapillare  nach  aufwärts 


'')  Eine  einseitige  Verschiedenheit  (der  Plasmapermeabili- 
tät oder  des  Chemismus)  der  Zelle  hat  man  auch  schon  früher 
für  das  Zustandekommen  solcher  Sekretion  verantwortlich  ge- 
macht.    Vgl.  Jost,  Pflanzenphysiologie,  S.  So.     1913. 

ä)  S.  Lemström,  Elektrokullur.  Erhöhung  der  Ernte- 
erträge aller  Kulturpflanzen  durch  elektrische  Behandlung.   1902. 


N.  F.  XX.  Nr.  \^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


251 


und  tritt  am  oberen  Ende  in  Tropfen  aus.  Es 
handelt  sich  dabei  jedenfalls  um  eine  elektro- 
osmotische  Erscheinung,  wie  sie  eben  in  strom- 
durchflossenen  Kapillaren  vor  sich  geht.  In  den 
Pflanzen  erfolgt  das  Aufsteigen  der  von  den 
Wurzeln  aufgenommenen  Nährlösung  durch  ein 
Kapillarröhrensystem,  die  Gefäße  des  Holzkörpers. 
Es  muß  demnach  auch  in  den  Pflanzen  bei  den 
Elektrokulturversuchen  eine  analoge  Wasserhebung 
sich  einstellen  wie  bei  dem  geschilderten  Kapil- 
larenversuch. Der  die  Pflanze  durchfließende 
Strom  muß  den  Wassertransport  in  den  Gefäßen 
fördern,  dadurch  auch  die  Wasserabgabe  (Tran- 
spiration 1})  erleichtern  und  so  würde  eine  reich- 
lichere Durchströmung  mit  Nährsalzen  erzielt,  wor- 
auf nach  Lemström  der  günstige  Erfolg  der 
Elektrokultur  beruht. 

K.  Stern  hat  hier  anknüpfend  die  Frage 
experimentell  zu  beantworten  gesucht:  „Findet 
wirklich  bei  einer  Versuchsanstellung  wie  der 
Lemströmschen  ...  eine  nachweisbare  elektro- 
motorische Wasserbewegung  statt  und  wenn,  ist 
sie  von  der  Größenordnung,  daß  die  durch  sie 
verursachte  Mehraufnahme  von  Wasser  und  Nähr- 
salzen eine  Erklärung  für  die  angeblichen  Elektro- 
kuhurerfolge  abgeben  kann." 

Die  Versuchsanstellung  gestaltete  sich  im 
wesentlichen  folgendermaßen:  Oberhalb  der  Pflanze 
in  einer  Entfernung  von  20 — 200  cm  war  ein  mit 
nach  abwärts  gekehrten  Spitzen  versehenes  Draht- 
netz isoliert  angebracht;  dasselbe  stand  mit  dem 
einen  Pol  einer  Influenzmaschine  in  Verbindung. 
Die  Versuchspflanze  tauchte  in  einem  Potometer 
in  Wasser;  es  ist  dies  ein  einfacher  Apparat,  der 
die  Wasseraufahme,  das  Trinken  zu  messen  ge- 
stattet. Die  IVlessungen  ergaben,  daß  keine  merk- 
liche Veränderung,  Begünstigung  der  Pflanzen- 
saugung  zu  erkennen  war,  wenn  der  Strom  durch 
die  Pflanze  geht.  Bei  dieser  der  Elektrokultur 
im  wesentlichen  entsprechenden  Versuchsanord- 
nung ist  also  ein  erkennbarer  elektroosmotischer 
Effekt  innerhalb  der  Pflanze  nicht  zu  erzielen. 
Damit  schienen  ältere  Versuche  Engelmanns 
nicht  in  Übereinstimmung  zu  stehen,  wobei  mit 
pflanzlichen  Geweben  (Diaphragmen  von  Kar- 
toffeln, Möhrenscheiben)  elektroosmotische  Was- 
serverschiebung erzielt  worden  war.  Stern  führte 
zur  Nachprüfung  analoge  Diaphragmenversuche 
mit  Weidenzweigstückchen  durch.  Tatsächlich 
ließ  sich  dabei  die  Überführung  der  Flüssigkeit 
nach  dem  negativen  Pol  konstatieren.  Es  stellte 
sich  aber  heraus,  daß  die  elektroosmotisch  über- 
führte Flüssigkeitsmenge  verschwindend  klein  ist 
gegenüber  der  durch  die  Transpiration  bedingten 
Wassersaugung;   am  Potometer   kommt  sie  daher 

'J  Die  angeblich  auf  elektrische  Behandlung  hin  sich  ein- 
stellende Transpirationssteigerung  könnte  möglicherweise  auch 
auf  eine  Förderung  der  Öffnungsbewegung  der  Spaltöffnungen 
zurückführbar  sein;  eine  solche  wiU  Fr.  Darwin  durch 
schwache  Ströme  tatsächlich  erzielt  haben.  Bei  Versuchen  an 
Bohnen  konnte  Stern  unter  F.lektrokulturbedingungen  kein 
Uffnen  der  Stomata  beobachten. 


bei  der  Messung  gar  nicht  zum  Ausdruck.  Die 
Versuche  sowohl  am  lebenden  Diaphragma  als 
auch  am  Potometer  beweisen  also  übereinstim- 
rnend,  daß  die  Lemströmsche  Anschauung  nicht 
richtig  ist.  „Die  Größe  der  bei  der  Lemströ  m- 
schen  Versuchsanordnung  elektroosmotisch  über- 
führten Wassermenge  ist  so  minimal,  daß  sie 
keinerlei  wachstumsfördernden  Einfluß  durch  ver- 
mehrte Wasser-  und  Nährsalzaufnahme  bedingen 
kann."  Elektroosmotische  Vorgänge  vermögen 
aber  auch  nach  der  Ansicht  Sterns  in  anderer 
Hinsicht  sehr  wohl  eine  Rolle  im  Pflanzenleben 
zu  spielen  und  zwar  bei  der  aktiven  Wasseraus- 
scheidung; man  könne  den  Versuch  mit  dem 
Weidenzweigstück  geradezu  als  „künstliches  Bluten" 
bezeichnen.  Daß  auch  das  natürliche  Bluten  auf 
diese  Weise  zustande  kommt,  dafür  sind  in  den 
lebenden  Pflanzengeweben  die  Voraussetzungen 
gegeben:  Membranen,  Potentialdifferenzen,  Lokal- 
ströme. Die  dabei  ausgelösten  Kräfte  sind  nach 
Sterns  Berechnungen  von  der  Größenordnung, 
daß  sie  „wohl  zur  Erklärung  auch  der  höchsten 
Blutungsmengen  ausreichen  würden".  Man  sieht, 
Stern  kommt  zu  ganz  ähnlichen  Vorstellungen 
wie  Nathansohn. 

In  einer  anderen  kurzen  Mitteilung  (1919)  er- 
örtert Stern  die  Frage,  ob  die  Erscheinung  der 
sog.  negativen  Osmose,  die  den  elektro- 
osmotischen  Vorgängen  zuzurechnen  ist,  auch  in 
pflanzlichen  Zellen  zur  Geltung  kommen  dürfte. 
Die  Entdeckung  des  interessanten  Phänomens  der 
negativen  Osmose  verdanken  wir  Dutrochet. 
Ein  mit  einer  Schweinsblase  verschlossenes  Osmo- 
meter wurde  mit  Regenwasser  gefüllt  und  in  eine 
Oxalsäurelösung  eingestellt.  Nach  den  Gesetzen 
osmotischer  Saugung  war  zu  erwarten,  daß  im 
Steigrohr  die  Flüssigkeit  sinken  würde;  sie  stieg 
aber;  und  umgekehrt  sank  sie,  wenn  außen  reines 
Wasser,  innen  im  Osmometer  aber  sich  die  Oxal- 
säurelösung befand.  Solche  negative  Osmose  tritt 
auch  mit  anderen  Säuren  ein,  und  zwar  bei 
schwacher  oder  mittlerer,  nicht  aber  bei  starker 
Konzentration;  desgleichen  hat  sie  Bernstein 
festgestellt  an  Osmometern  mit  semipermeablen 
Niederschlagsmembranen.  Es  ist  daher  möglich, 
ja  sogar  wahrscheinlich,  daß  auch  in  pflanzlichen 
Zellen,  bei  denen  die  Plasmamembran  häufig  ein- 
seitig an  sauren  Zellsaft  grenzt,  negative  Osmose 
auftritt ;  dann  müßte  sie  aber  auch  ein  förderndes 
oder  hemmendes  Prinzip  abgeben  bei  Wasserver- 
schiebungen und  dem  Zustandekommen  von  Innen- 
druckverhältnissen.  ^) 

Bei  dem  oben  kurz  geschilderten  Elektrokultur- 
verfahren  fließt  nicht  nur  ein  Strom  durch  Luft 
und  Pflanze,  in  der  Luft  stellt  sich  ferner  auch 
die  Erscheinung  des  elektrischen  Windes  ein  und 
außerdem  erfolgt  eine  Vermehrung  ihrer  Ionisation. 
Die  Erscheinung   des   elektrischen  Windes, 


')  Vgl.  dagegen  Collander  (1920)  (Pflügers  Archiv 
Bd.  185)  und  Barte  11  1920  über  anomale  Osmose.  Ber.  ge- 
samt.  Physiolog.  4,   167. 


25ä 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  i; 


d.   i.   der  Luftbewegung,   die   entsteht,   wenn    die 
Elektrizität  aus  Spitzen  ausströmt,  machte  G  a  ß  n  e  r 
für  die  Erfolge  der  Elektrokultur  und  zwar  durch 
Steigerung  der  Transpiration  verantwortlich.    Daß 
aber  auch  die  Vermehrung  der  Ionisation  und  die 
damit    im    Zusammenhange    stehende    Erhöhung 
der   elektrischen  Leitfähigkeit   der  At- 
mosphäre^) für  das  Lebensgetriebe  der  Pflanzen 
nicht  bedeutungslos   ist,    haben    die  Arbeiten  von 
Rose    Stoppel    recht   wahrscheinlich   gemacht. 
Die  lonenmenge  der  Atmosphäre  ist  u.  a.  be- 
dingt durch    ihren  Emanationsgehalt.      Sollte  nun 
tatsächlich,  wie  Stoppel  annimmt,  die  elektrische 
Leitfähigkeit    der  Atmosphäre,    die  eine  Funktion 
der  lonenmenge  darstellt,  für  viele  Lebensprozesse 
von  Einfluß  sein,  so  müssen  durch  Erhöhung  des 
Emanationsgehaltes   diese  Lebensvorgänge  beein- 
flußbar sein.      Stoppel    hat   diese  Hypothese  in 
bezug   auf  die   Atmung   geprüft.      Von    den  Ver- 
suchspflanzen —  Zweige    von  Kastanien  und  ein- 
getopfte Bohnenkeimlinge  —  wurden  stets  je  zwei 
gleichzeitig  verwendet,  die  eine  kam  in  eine  nor- 
male Atmosphäre,  die  andere  in  eine  solche,  deren 
elektrische     Leitfähigkeit     durch    Radiumwirkung 
gesteigert     war.       Bei     sonst     nach    Möglichkeit 
gleichartig    gestalteten     Außenbedingungen     kam 
also   nur  als    einziger   verschiedenartiger   Außen- 
faktor der  Gehalt    der  Luft  an  Emanation  in  Be- 
tracht.    Obwohl  die  Versuchsresultate  keineswegs 
völlig    einheitlich   ausfielen,   so    konnte    doch    ent- 
nommen  werden,  daß  bei  Aesculus  die  Atmungs- 
intensität   zunimmt,     wenn    durch    ein    Radium- 
präparat der  lonengehalt  und  die  Leitfähigkeit  der 
Luft   gesteigert   wird.      Dadurch    ist    also    festge- 
stellt, daß  zwischen  derLeitfähigkeit  der 
Atmosphäre  und  der  Atmungsintensität 
eine  Beziehung  besteht.     Wie   ist    diese  zu 
verstehen  ?   Stoppel  knüpft  bei  ihrem  Erklärungs- 
versuch   an    die    besprochene    elektrolytische    At- 
mungstheorie von  N  a  t  h  a  n  s  o  h  n  an:  „Wenn  nun 
aber     der     physiologische     Verbrennungsvorgang 
durch  das  Vorhandensein  elektrolytischen  Wasser- 
stoffs so  gefördert  wird,    so  muß  in  entsprechen- 
der Weise  dieser  Vorgang  auch  dadurch  erleichtert 
werden,  daß  in  der  Atmosphäre  ionisierter  Sauer- 
stoff reichlich  vorhanden  ist,    und    derselbe  leicht 
an   den  Ort    des   Verbrauches    herangeführt    wird. 
Dies    geschieht    bei   starker  Ionisation    und    guter 
Leitfähigkeit   der  Atmosphäre.      Es   ist  klar,    daß 
der  Energiegewinn    für    den  Organismus  ein  weit 
höherer  sein  wird,  wenn  sich  der  Atmungsvorgang 


')  Obwohl  die  Gase  zu  den  besten  Isolatoren  gehören, 
besitzen  sie  doch  ein  nicht  unmerkliches  Leitvermögen;  so 
kommt  es,  daß  ein  geladener  Leiter  trotz  bester  Isolierung 
durch  „Zerstreuung  der  Ladung  in  die  umgebende  Luft"  einen 
Ladungsverlust  erleidet.  Die  Intensität  dieses  Ladungsver- 
lustes gibt  ein  Maß  ab  für  das  Leitvermögen  der  Atmosphäre 
und  dieses  wird  daher  mit  Hilfe  sog.  Zerstreuungsapparate 
gemessen.  Die  Elektrizitätsleitung  der  Luft  beruht  auf  der 
Anwesenheit  von  Ionen,  für  das  Leitvermögen  ist  neben  der 
lonenzahl  noch  die  Beweglichkeit  der  Ionen  maßgebend.  Vgl. 
Mache  und  Schweidler,  Die  atmosphärische  Elektrizität. 
1919. 


als  lonenreaktion  und  nicht  in  molekularer  Form 
abspielt."  Die  Annahme  lag  weiter  nahe,  daß 
nicht  die  Atmung  allein,  sondern  unmittelbar  oder 
mittelbar  auch  der  Ablauf  anderer  Lebensvor- 
gänge durch  die  Leitfähigkeit  der  Atmosphäre 
und  ihre  Veränderungen  beeinflußt  werden  dürften. 

Die  Leitfähigkeit  der  Atmosphäre  ist  keines- 
wegs zu  allen  Tages-  und  Jahreszeiten  die  gleiche. 
Die  Jahresperiodiziiät  zeigt  das  Minimum  im  De- 
zember, das  Maximum  im  Juh.  Die  tages- 
periodischen Schwankungen  der  Leit- 
fähigkeit weisen  nach  den  in  Davos  und  Pots- 
dam angestellten  Beobachtungen  das  Hauptmaxi- 
mum ungefähr  morgens  um  4  Uhr  auf,  das  Haupt- 
minimum vormittags;  meist  läßt  sich  ein  weiteres 
kleineres  Maximum  zu  Mittag  und  ein  ebensolches 
Minimum  gegen  Abend  feststellen.  Gibt  es  nun 
periodische  Erscheinungen  im  Pflanzenreiche,  die 
mit  dieser  Periodizität  der  elektrischen  Leitfähig- 
keit der  Luft  in  Zusammenhang  gebracht  werden 
könnten.  Stoppel  hat  dies  in  einer  der  eben 
besprochenen  zeitlich  vorangehenden  Arbeit  für 
die  Schlafbewegungen  der  Blätter  der 
Bohne  in  Erwägung  gezogen. 

Die  Blätter  mancher  Pflanzen  nehmen  tags- 
über eine  andere  Stellung  ein  als  des  Nachts,  sie 
führen  periodische  Schlaf bewegungen  aus;  die 
Nachtstellung  ist  dadurch  ausgezeichnet,  daß  sich 
die  Blätter  oder  Teilblättchen  aus  der  tagsüber 
eingenommenen  Lage  entfernen  und  in  die  verti- 
kale Lage  übergeführt  werden,  entweder  richten 
sie  sich  dabei  nach  oben  auf  oder  aber  sie  wer- 
den nach  unten  geschlagen  (z.  B.  bei  der  Bohne, 
Phaseolus).  Diese  in  regelmäßigem  Rhythmus 
täglich  sich  wiederholenden  Bewegungen  waren 
schon  seit  langem  Gegenstand  eingehender  Unter- 
suchungen, insbesondere  Pfeffer  hat  grund- 
legende Studien  darüber  veröffentlicht.  Dabei 
interessierte  vor  allem  die  Frage,  ob  es  sich  um 
einen  autonomen  durch  innere  derzeit  unerforsch- 
liche  Lebensvorgänge  bedingten  Rhythmus  handelt, 
der  sich  auch  bei  völliger  Konstanz  aller  äußeren 
Faktoren  einstellt,  oder  ob  äußere  periodische  Er- 
scheinungen der  Umwelt  den  Bewegungsrhythmus 
auslösen.  Da  sich  schließlich  zeigte,  daß  für  die 
zeitliche  Fixierung  der  periodischen  Bewegungen 
weder  das  Licht  noch  Schwankungen  der  Tem- 
peratur, der  Luftfeuchtigkeit,  des  Barometerdruckes 
oder  der  Schwerkraft  noch  auch  eine  Festlegung 
durch  Vererbung  verantwortlich  zu  machen  ist, 
war  man  geneigt,  die  Blattbewegungen  als  auto- 
nom geregelt  anzusehen  —  nur  ein  einziger  unter 
den  gegebenen  Versuchsbedingungen  periodisch 
sich  verändernder  Außenfaktor  war  bisher  noch 
nicht  als  dafür  verantwortlich  in  Erwägung  ge- 
zogen worden,  nämlich  die  Veränderungen  in  der 
Luftelektrizität    und    zwar    des    Leitvermögens.  *) 


')  Auch  die  in  der  Atmosphäre  auftretenden  Potential- 
differenzen weisen  periodische  Schwankungen  auf;  dieser 
zweite  Faktor  der  luftelektrischen  Erscheinungen  kommt  jedoch 
bei  den  Versuchsbedingungen  in  geschlossenen  Räumen  nicht 
in  Betracht. 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


253 


r 


Die  Annahme,  daß  diese  dabei  eine  Rolle  spielen 
könnten,  mußte  zunächst  äußerst  kühn  erscheinen 
denn  es  war  auf  pflanzenphysiologischem  Gebiete 
überhaupt  noch  nichts  darüber  bekannt,  daß  dieser 
bisher  vollkommen  übersehene  Außenfaktor  irgend- 
wie   in    das    Lebensgetriebe    der    Pflanzen    einzu- 
greifen vermöchte.      Die    erste    Stütze    fand    die 
Vermutung  durch  den  Vergleich  der  Normalkurve 
von   Bohnenblättern    mit    den    die  Schwankungen 
der    Leitfähigkeit    der    Atmosphäre   darstellenden 
Kurven.     Laßt   man   die   etiolierten  Blätter  einer 
unter  Konstanz   aller   bei  pflanzenphysiologischen 
Untersuchungen   im  allgemeinen   zu    berücksichti- 
genden Umweltfaktoren  gezogenen  Bohne  (Dunkel- 
pflanze)   ihre   Bewegungen  registrieren,   so   erhält 
man  charakteristische  Kurven,   die   Stoppel  als 
Normalkurven  bezeichnet.    Aus  dem  Verlauf  dieser 
Kurven  ist  ersichtlich :  die  24  stündige  Periodizität 
der  Blattbewegungen    und   daß   das   Blatt  in  den 
«ruhen  Morgenstunden  zwischen  3  und  5  Uhr   am 
häufigsten  um  4  Uhr,  am  tiefsten  gesenkt  ist,' was 
in   einem   Gipfelpunkt   der  Kurve   zum  Ausdruck 
kommt.     Wir    haben    bereits    erwähnt,    daß    der 
Kulminationspunkt    der   Leitfähigkeitskurven    um 
4  Uhr    morgens    erreicht    wird,     also    genau    zur 
selben  Zeit,    in    der    die   Blätter    ihren    Tiefstand 
einnehmen.   Der  übereinstimmende  Verlauf  dieser 
beiden  Kurven  spricht  sehr  für  einen  Zusammen- 
hang der   Erscheinungen.     Immerhin   war  es  zu- 
nächst eine   gewagte  Annahme   einen  solchen  zu 
postulieren.  Die  Periodizität  der  Leitfähigkeit  war 
bisher  stets  in  der  freien  Atmosphäre  unter  offe- 
nem Himmel  gemessen  worden ;  es  fehlte  die  Er- 
mittlung, ob  unter  Verhältnissen,  wie  sie  bei  den 
Versuchen   mit   den   Bohnen    herrschten,    in    ge- 
schlossenen Räumen  bei  sonst  konstanten  Außen- 
bedingungen ein  solcher  rhythmischer  Wechsel  in 
der    Leitfähigkeit    überhaupt    stattfindet.       Diese 
bedenkliche    Lücke    in    ihrer    Beweisführung    hat 
Stoppel     1919   ausgefüllt    durch    iVIessung    der 
r^eitfahigkeit    und    des    lonengehaltes    der  Atmo- 
sphäre  im    geschlossenen    Raum    bei    konstanten 
Licht-    und  Temperaturverhältnissen.      Es    ergab 
sich,  daß  die  Leitfähigkeit  auch  unter  diesen  Ver- 
haltnissen, insbesondere  bei  dauernder  Dunkelheil 
einem  tagesperiodischen  Wechsel  unterlag;  in  den 
ersten  Morgenstunden  —  meistens  zwischen  2  und 
6  Uhr  —  ist  sie  am  größten,  im  Laufe  des  Tages 
erreicht  sie  den  niedrigsten  Wert. 

Stoppel  hat  sich  nicht  damit  begnügt  die 
auffallende  Übereinstimmung  der  genannten  Kur- 
ven zugunsten  ihrer  Annahme  zu  buchen,  sie  war 
bestrebt,  durch  verschiedene  Versuche  den  Einfluß 
der  Elektrizität  auf  die  periodischen  Bewegungen 
der  Bohnenblätter  zu  erweisen;  dabei  ging  sie 
von  der  Überlegung  aus,  daß  die  Pflanze  auf  einem 
Potential  sem  müsse,  das  dem  der  Atmosphäre 
nicht  völlig  gleichkommt.  Dafür  sprach  zunächst 
folgende  Beobachtung;  ein  Berühren  der  Pflanze 
oder  auch  nur  ein  Anfassen  des  Topfes  hat  eine 
vorübergehende  Störung  in  der  von  den  Blättern 
registrierten  Kurve  zur  Folge;  dabei  dürfte  es  sich 


jedenfalls   um   eine  Änderung  der  Ladung  durch 
Ableitung  handeln.     Eine  Störung   der    normalen 
Blattbewegungen    trat   auch  ein,    wenn  unter  den 
Topf  ein    Glasteller    geschoben    und    so  eine  Iso- 
lierung   von    der    Erdoberfläche    bewirkt    wurde. 
„Der   Gang   der  Bewegungen   zeigte  alsbald  eine 
Störung    an,    die    Größe    der    Ausschläge    wurde 
stark  vermindert."   Nach  Entfernen  der  Isolations- 
schicht  setzte  sofort  die   frühere  Bewegungstätig- 
keit wieder  ein.   Eine  weitere  Versuchsreihe  hatte 
zum  Ziel,  die  Pflanze  von  der  Luftelektrizität  ab- 
zusperren ;  bis  zu  einem  gewissen  Grade  war  dies 
zu  erreichen  durch  isoliertes  Aufstellen   derselben 
innerhalb  eines  rings  geschlossenen  feinen  (Loch- 
weite I  mm)   mit   der  Erde   verbundenen  Draht- 
gitters.    Sowie    das  Gitter    geerdet    wird,    macht 
sich  eine  Störung  in  der  Blattbewegung  bemerk- 
bar,   es    treten   ganz   unregelmäßige   aperiodische 
Bewegungen  auf;   wird  die  Pflanze  aber  aus  dem 
Gitter  herausgenommen,    so    kommt   die   frühere 
Periodizität    wieder    zum  Vorschein.      Diese    und 
noch   andere   Versuchsergebnisse  sprechen   dafür, 
daß   die    periodischen    Veränderungen    der   atmo- 
sphärischen   Leitfähigkeit     die     Blattbewegungen 
rhythmisch  regulieren;  allerdings  ein  entscheiden- 
des Experiment  steht  noch  aus:    nämlich   „durch 
ein   periodisch   wechselndes   Herauf-   und   Herab- 
setzen    der    Leitfähigkeit     der    Atmosphäre     die 
Blätter  zu  dem  entsprechenden  Bewegungsrhyth- 
mus zu  veranlassen". 

Stoppel    vermutet    auch    für    noch    andere 
periodische    Erscheinungen     des    Pflanzenreiches 
einen    Zusammenhang    mit    dem    Rhythmus    der 
elektrischen    Lufterscheinungen    und    hat    sich    in 
theoretischen  Erörterungen   mit  dieser  Frage  ein- 
gehend auseinandergesetzt.     Sie  weist  hio  auf  die 
periodischen     Schwankungen     des     osmotischen 
Druckes,  bei  denen  das  Minimum  in  die  Morgen- 
stunden   fällt,    auf  die   rhythmische  Häufung  von 
Kernteilungen,  wobei  das  Maximum    bei  Zea   urn 
4  Uhr  morgens  erreicht  wird,  ^)   auf  die   Periodi- 
zität des  Blutungsdruckes  der  Pflanzen  und  vieles 
andere.    Vielleicht  übt  auch  die  Jahresperiodizität 
der  Leitfähigkeit  auf  das  Pflanzenleben  einen  Ein- 
fluß  aus.     Dabei  wäre   an  das  Zustandekommen 
der  Winterruhe  zu  denken,  die  sich  als  von  den 
übrigen  Außenfaktoren  recht  unabhängig   erwies; 
durch    Radiumwirkung  (Bestrahlung,    noch    präg- 
nanter aber  Emanation)  läßt  sich  nach  Molisch  =) 
die  Ruheperiode  abkürzen;  Stoppel  erwägt  die 
Möglichkeit,  diese  Radiumwirkung  könnte  bedingt 
sein    durch    Erhöhung    der     winterlich    niederen 
Leitfähigkeit  auf  ein  günstiges  Maß. 

•Auch  die  normale   und   pathologische  Fhysio- 


•)  Auch  eine  Steigerung  der  Zellteilungsinttnsiläl  durch 
schwache  btrome  wurde  neuerdings  konstatiert:  M  G  St.U- 
felt  Über  die  Schwankungen  in  der  Zellteilungsfrequenz  bei 
,  °r  ii'/  ''°°  ''''"™  sativum,  1919.  Svensk  Botani.k  Tid- 
sknft,  Bd  13  und  ebenda  1920  Bd.  14,  Ein  neuer  Kall  von 
tagesperiodischem  Rhythmus. 

'■')  "•  Molisch,   Über  das  Treiben  von  Pflanien  mittels 
Radium.     bitz.-Ber.  Akad.  Wissensch.  Wien  1913,  Bd.  121. 


:54 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   17 


logie  des  Menschen  kennt  periodische  Erschei- 
nungen, für  die  auslösende  Faktoren  bisher  nicht 
mit  Sicherheit  eruiert  werden  konnten,  so  die 
Schwankungen  der  Körpertemperatur,  der  Atmungs- 
intensität, der  Pulsfrequenz,  des  Blutdruckes,  der 
Intensität  der  Herztätigkeit.  „Das  Minimum  liegt 
stets  zwischen  2  und  4  Uhr  morgens." 

Wenn  auch  in  all  den  referierten  Arbeiten  das 
experimentell  ermittelte  Tatsachenmaterial  in 
einem  gewissen  Mißverhältnis  zu  dem  kunstvoll 
aufgetürmten  Hypothesengebäude  steht,  so  geht 
doch  zumindest  das  eine  mit  überzeugender  Deut- 
lichkeit daraus  hervor;  Für  dieElektrophysiologie,die 
nach  großen  anfänglichen  Erfolgen  lange  Zeit  keine 
ersprießliche  Weilerentwicklung  mehr  gefunden, 
scheint  nunmehr  eine  verheißungsvolle  neue  Periode 
anzubrechen.  Für  den  erfolgreichen  Ausbau  dieses 
Wissenszweiges  fehlt  nach  R.  Keller  ein  wich- 
tiger Grundstein.  Als  dringendste  Aufgabe  der 
physikalischen  Zellchemie  erscheint  ihm  „eine  Er- 
forschung der  Elektrizitätsverteilung  in  der  leben- 
den Zelle,  eine  Art  Zellelektrohistologie",  nach 
botanischem  Sprachgebrauche  eine  Elektroanatomie 
der  Zelle  und  der  Gewebe.  Als  Privatforscher 
kämpft  Keller  mit  den  verschiedensten  Schwie- 
rigkeiten, mit  seltener  Ausdauer  ist  er  bemüht  sie 
zu  überwinden.  Um  eine  Elektrohistologie 
zu  schaffen  benötigt  er  vor  allem  eine  brauchbare 
Methode  des  mikroskopischen  Elektrizitätsnach- 
weises an  lebenden  Zellen.  Seine  Bemühungen 
laufen  daher  vor  allem  darauf  hinaus  eine  solche 
Methode  ausfindig  zu  machen;  er  läßt  sich  dabei 
von  dem  Gedanken  leiten,  daß  die  bisherigen 
„Lebendfärbungen"  ^)  von  Schnitten  nicht  rein 
chemisch  erklart  werden  dürfen,  daß  sie  vielmehr 
stark  beeinflußt  werden  von  den  elektrischen  La- 
dungen der  Zeilen.  Solche  rein  chemisch  gedachte 
Färbungen  sind  z.B.  Unnas  Methode  des  Sauer- 
stoffortnachweises,  Keller  deutet  sie  als  reine 
Anodenfarbung  und  MacCallums  Kaliumnach- 
weis, Keller  hält  ihn  für  eine  reine  Kathoden- 
färbung. Bei  seinen  eigenen  Versuchen  an  pflanz- 
lichen und  tierischen  Gewebspräparaten  ein  kon- 
trastreiches Kaihodenbild  zu  erzielen,  ging  K.  zu- 
nächst in  folgender  Weise  vor:  Die  Schnitte  wer- 
den in  lOproz.  Eisenchloridlösung  gebracht,  nach 
einigen  Minuten  kurz  in  Wasser  abgespült,  hierauf 
mit  einem  Deckglas  bedeckt,  auf  dem  sich  ein 
Tropfen  gesättigter  Ferrozyankaliumlösung  in 
Glyzerin  befindet.  „Die  Kathoden  des  Gewebes 
hatten  das  Eisenkation  an  sich  gezogen,  das  dann 
von  dem.  Blutlaugensalz  als  Berlinerblau  ausgefällt 
wurde."  Das  Kathodenbild  ist  zumal  bei  Pflanzen 
„überaus  scharf  und  leicht  reproduzierbar".  Zu 
solchen  Versuchen,  durch  die  eine  Elektropolarität 
der  Gewebe  ermittelt  und  mit  der  Zeit  ein  quali- 
tativer Atlas  der  Elektrohistologie  geschaffen  wer- 
den soll,  verwendet  K.  von  pflanzlichem  Material 

^)  Leider  wird  der  Ausdruck  Lebeudfärbung  nicht  in  ein- 
deutigem Sinne  verwendet;  Keller  ist  allerdings  der  Über- 
zeugung, daß  ,, Pflanzenschnitte  ihre  charakteristischen  Lebend- 
Indungen  ungemein  sähe  nach  dem  Absterben  festhalten". 


mit  Vorliebe  Stammquerschnitte  durch  Araucaria, 
ferner  Blattstielquerschnitte  verschiedener  Objekte 
und  Querschnitte  von  Monokotylenwurzeln.  Beim 
Araucaria-Stämmchen  wird  die  Ladung  des  Quer- 
schnittsbildes so  geschildert :  Rinde  (primäre  ?)  und 
Bast  kathodisch,  Holz  des  letzten  Jahresringes 
stark,  der  älteren  Jahresringe  schwach  anodisch, 
Mark  unelektrisch.  Als  Anodenbild  deutet  und 
verwendet  K.  die  Färbung,  die  mit  Unnas  Ron- 
galitweiß-Verfahren  zu  erzielen  ist.  Diese  Methode 
soll  bekanntlich  darauf  beruhen,  daß  eine  durch 
die  Reduktionskraft  des  Rongalit  farblos  gemachte 
Meihylenblaulösung  an  den  Sauerstofforten  der 
Gewebe,  also  dort,  wo  sich  ein  Überschuß  an 
Sauerstoff  befindet,  zurückoxydiert  wird  und  wie- 
der in  Blau  umschlägt.  ^)  Da  an  den  Anoden 
freier  Sauerstoff  auftritt,  so  deutet  K.  die  U  n  n  a  - 
sehen  Sauerstofforte  als  Anodenbilder;  er  hat  mit 
dem  „R.W.- Verfahren"  fast  alle  Teile  der  Pflanze 
behandelt ;  eine  Iriswurzel  z.  B.  zeigt  dabei  im  Quer- 
schnitt die  Gefäße  und  besonders  die  U-förmig  ver- 
dickte Endodermis  tief  blau,  im  Perizykel  und  der 
primären  Rinde  sind  die  Zell  wände  nicht  blau,  aber 
der  Zellinhalt  leicht  gebläut.  Neuestens  verwendet 
K.  auch  verschiedene  Farbstoffe  zur  Erzielung  von 
Kontrastbildern,  z.  B.  Safranin,  das  er  als  einen 
der  bequemsten  Übersichtsfarbstoffe  bezeichnet, 
weil  es  „in  seiner  gelbroten  kathodischen  und 
kirschroten  anodischen  Nuance  sehr  rasch  über 
die  Hauptpolarität  orientiert".  Bei  all  diesen 
Tinktionen  handelt  es  sich  —  wie  auch  aus  den 
beigegebenen  Abbildungen  ersichtlich  ist  —  zum 
großen  Teil  um  Membranfärbungen  und  nicht, 
wie  bei  den  eigentlichen  Vitalfärbungen  pflanz- 
licher Objekte,  um  Farbstoffspeicherung  innerhalb 
des  Zellsaftraumes. ^)  K.  gibt  selbst  zu,  daß  eine 
rein  elektrostatische  Beurteilung  mikroskopischer 
Färbungen  ebensowenig  zu  verantworten  wäre 
als  eine  „nichts  als  chemische".  Er  sucht  durch 
Nachprüfung  mit  Hilfe  elektrischer  Meßinstrumente 
eine  Bestätigung  der  auf  Grund  seiner  Färbungen 
erschlossenen  Ladungsverteilung  zu  erhalten. 
Meistens  jedoch  „sind  die  Ladungen  so  fein  mikro- 
skopisch verteilt,  daß  es  unmöglich  scheint  mit 
den  groben  Pinselelektroden  die  gefundenen 
Potentialunterschiede  nachzuprüfen".  Bei  Quer- 
schnitten durch  Araucaria  Äste,  die  ziemlich  breite 
Flächen  gleichnamigen,  Potentials  darbieten,  ge- 
lang dies  immerhin  und  es  zeigte  sich  eine  ge- 
naue Übereinstimmung  in  bezug  auf  die  mit  der 
Berlinerblaumeihode  erschlossene  Ladungsvertei- 
lung. K.  glaubt  daher  auf  Grund  seiner  Erfolge 
mit  dem  Rongalitweißverfahren ,  der  Kathoden- 
färbung   (Gegenprobe)     und    der    Galvanometer- 


')  Nach  „neuen  Studien  zur  Darstellung  der  Keduktions- 
und  Sauerstofforte  der  Pflanzenzelle"  von  H.  Schneider 
(Zeitschr.  f.  wiss.  Mikroskopie  31,  1914)  scheinen  allerdings 
zumindest  bei  pflanzlichen  Zellen  Sauerstofforte  gar  nicht  zu 
existieren. 

')  Über  die  KoUe,  die  bei  Vitalfärbungeu  der  elektrische 
Ladungssinn  der  Farbstoff  kolloide  spielt,  siehe  Ruhland, 
Berichte  deutsch,  bot.  Ges.  31,  1913. 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


2SS 


nachprüfung  „auf  recht  sicherem  Boden"  zu  stehen 
und  einen  rohen  Überblick  über  die  Verteilung 
der  mikroskopischen  Elektrizitätsladungen  in  Tier 
und  Pflanze  bereits  gewonnen  zu  haben. 

Es  wäre  jedenfalls  zu  begrüßen,  wenn  noch 
von  anderer  fachmännischer  Seite  die  Bearbeitung 
dieses  Gebietes  in  Angriff  genommen  würde. 
Überhaupt  dürfte  die  vielversprechende  bioelek- 
trische Forschungsrichtung  sehr  gewinnen  durch 
Zusammenarbeiten  verschiedener  Spezialisten,  denn 
dem  Einzelnen  ist  es  heute  nur  mehr  selten  mög- 
lich, sowohl  auf  physikalisch-chemischem  als  auch 
auf  biologischem  Gebiete  sich  gleichzeitig  die 
nötige  gründliche  Vertrautheit  mit  dem  Fach- 
wissen in  theoretischer  und  methodischer  Hinsicht 
anzueignen. 

Literatur. 

Bernstein,  J.,  Elektrobiologie.  Sammlung  Die  Wissen- 
schaft, H.  44,   iqi2. 

Beutner,  R.,  Die  Entstehung  elektrischer  Ströme  in 
lebenden  Geweben.     Stuttgart  1920. 

Eichwald  und  Fodor,  Die  physikalisch-chemischen 
Grundlagen  der  Biologie.     Berlin   1919. 

Höber,  R.,  Physikalische  Chemie  der  Zelle  und  der 
Gewebe.     IV.  Aufl.     Leipzig   1914. 

Keller,    R.,    Die  Elektrizität   in  der  Zelle.     Wien  191S. 


Keller,  R.,  Neue  Versuche  über  mikroskopischen  Elek- 
trizitätsnachweis.    Wien   1919. 

Keller,  R.,  Elektrohistolog.  Unters,  an  Pflanzen  und 
Tieren,   1920. 

Nathansohn,  H.,  Über  kapillarelektrische  Vorgänge  in 
der  lebenden  Zelle.     Kolloidchemische  Beihefte.  11,   1919. 

Nathansohn,  H.,  Die  physiologische  Verbrennung  als 
elektrolytischer  O.xydationsprozeß.  Naturwissenschaften.  7,  1919. 

Stern,  K.,  Über  elektroosmolische  Erscheinurgen  und 
ihre  Bedeutung  für  pflanzenphysiologische  Erscheinungen. 
Zeitschr.  {.  Botanik.   11,   1919. 

Stern,  K.,  Über  negative  Osmosen.  Berichte  deutsch, 
bot.  Ges.  ,S7,    1910.") 

Stoppel,  R.,  Die  Abhängigkeit  der  Schlaf bewegungen 
von  Phaseolus  multiflorus  von  verschiedenen  Außenfaktoren. 
Zeitschr.  für  Botanik.     8,   1916. 

Stoppel,  R.,  Leitfähigkeit  und  lonengehalt  der  Atmo- 
sphäre .   .   .     Nachr.  Ges.   Wissensch    Göttingen   1919. 

Stoppel,  R,  Die  Pflanze  in  ihrer  B- Ziehung  zur  atmo- 
sphärischen Elektrizität.     Zeitschr.  f.  Botanik.  12,   1920. 


')  Auf  eine  weitere  eben  erschienene  Arbeit  von  K. 
Stern  (1921)  über  polare  elektronastische  Erscheinungen  (Ber. 
d.  bot.  Ges.  39)  kann  nur  mehr  kurz  verwiesen  werden:  Elek- 
trische Reizung  wirkt  auf  die  Blattgelenke  von  Mimosa  po- 
lar verschieden,  d.  h,  es  löst  der  -)--  oder  der  —  Pol  eine 
Bewegung  aus,  der  andere  Pol  aber  nicht.  Mit  dem  Alter 
findet  eine  Umstimmung  der  Blätter  statt;  so  lange  sie  nicht 
ganz  jung  sind  zeigen  sie  -]-- Polarität,  später  mit  zunehmen- 
den Alter  nehmen  sie  negative  Polarität  an. 


[Nachdruck  verboten.] 


Ein  neuer  Weg  der  Schädljngsforschnng. 

Von  Dr.  Leonhard  Lindinger, 


Vorstand  der  Schädlingsabteilung  d.»s  Instituts  für  angewandte  Botanik  zu  Hamburg. 


Durch  die  bekannten  Folgen  des  Friedens- 
schlusses für  die  landwirtschaftliche  Anbaufläche 
in  Deutschland  hat  die  Erforschung  und  Bekämp- 
fung der  Schädlinge  und  Krankheiten  der  Kultur- 
pflanzen erhöhte  Bedeutung  erlangt. 

Das  Interesse  der  Naturwissenschaft  an  dem  im 
allgemeinen  „Pflanzenschutz"  genannten  Forschungs- 
zweig war  von  jeher  rege.  Botaniker  und  Zoo- 
logen waren  tätige  Arbeiter  und  wetteiferten  zu- 
zeiten miteinander.  Leider  artete  dieser  Wett- 
eifer im  Lauf  der  Zeit  in  häßlicher  Weise  aus, 
indem  die  Botaniker  den  Pflanzenschutz  unter  der 
Begründung  für  sich  in  Anspruch  nahmen,  daß  ja 
die  Pflanze  dabei  die  Haupu  ..-iie  sei,  und  indem 
sie  den  im  Pflanzenschutz  tätigen  Zoologen  die 
dazu  erforderliche  allgemeine  naturwissenschaft- 
liche Vorbildung  einfach  absprachen. 

Die  Zahl  der  Pflanzenschutzanstalten  nimmt 
von  Jahr  zu  Jahr  zu.  Die  Literatur  dieses  in  der 
zweiten  Hälfte  des  vergangenen  Jahrhunderts  ent- 
standenen Forschungszweiges  ist  kaum  noch  zu 
überblicken.  Und  doch  kann  sich  der  schärfer 
zusehende  Beobachter  des  unbehaglichen  Gefühls 
nicht  erwehren,  es  sei  der  ganze  Pflanzenschutz 
auf  einem  toten  Gleis. 

Durchblättert  man  z.  B.  die  jährlichen  Ver- 
öffentlichungen der  in  Betracht  kommenden  An- 
stalten, so  stößt  man,  von  einzelnen  Ausnahmen 
abgesehen,  immer  wieder  auf  die  gleichen  An- 
gaben,    Da  und  dort  ist  der  und  jener  Schädling 


aufgetreten,  ist  die  und  die  Krankheit  festge- 
stellt worden.  Der  Kartoiifelki  ebs  breitet  sich 
aus  und  die  Mäuse  vermehren  sich.  Gegen  die 
Erdflöhe  hat  sich  das  und  das  Mittel  bewährt 
oder  auch  nicht  bewährt.  Im  Winter  hat  es  ge- 
froren, im  Herbst  geregnet,  auch  liit  die  eine  und 
andere  Pflanze  stark  unter  Nachtfrösten  im  Früh- 
jahr. Eine  bestimmte  Anstalt  verkündet  in  allen 
möglichen  Tageszeitungen  und  Fachblättern,  man 
möge  auf  diesen  und  jenen  Schädling  achten  und 
Material  einsenden,  da  sie  eine  Untersuchung  vor- 
bereite, oder  ihr  Personal  vermehrt  habe,  oder 
eine  neue  Abteilung  errichtet  habe,  die  die  Schäd- 
linge des  Holunders  z.  B.  erforschen  soll.  Die 
Berichte  der  einzelnen  Anstalten  sind  gut  aufge- 
zogen, die  Kulturpflanzen  fein  säuberlich  in  Grup- 
pen eingeteilt,  usw. 

Das  alles  erweckt  den  Anschein  vollen  Lebens 
und  eifriger  Tätigkeit.  Doch  kommen  wir  auf 
diesem  Weg  tatsächlich  auch  nur  einen  Schritt 
weiter?  Treten  denn  nicht  alljährlich  immer  wie- 
der dieselben  Krankheiten  und  Schädlinge  auf,  ohne 
daß  man  erfährt,  warum  ?  Hat  es  wirklich  Wert, 
stets  von  frischem  festzustellen,  daß  sich  die 
Mäuse  vermehren? 

Wenn  fast  jede  neue  Erkenntnis  der  Botanik 
dem  Pflanzenschutz  dienstbar  zu  machen  gesucht 
wird,  —  ich  erinnere  an  Winklers  Vorschlag 
der  Reblausbekämpfung  durch  Schaffung  einer 
Chimäre  der  Rebwurzel  — ,  so  bezeugt  das  sicher 


256 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  NV.  17 


t 


die  allgemeine  Erkenntnis  von  der  Bedeutung 
der  Schädlinge,  aber  es  beweist  ebenso  sicher  die 
grenzenlose  Planlosigkeit,  mit  der  der  Pflanzen- 
schutz arbeitet. 

Der  ganzen  Sache  fehlt  nach  meiner  Über- 
zeugung die  sichere  Grundlage,  auf  der  zielbewußt 
weitergebaut  werden  könnte.  Das  geht  auch  aus 
den  verschiedenen  Bekämpfungsarten  und  •  mittein 
hervor,  die  verfochten  und  angewandt  werden. 
Ich  nenne  die  chemisch-technische  Methode,  die 
biologische  Methode,  die  pflanzenschutzlichen 
Vogelschutzbestrebungen,  die  gesetzlichen  Verbote. 

Daß  diese  Unsicherheit,  die  den  Pflanzenschutz 
kennzeichnet,  tatsächlich  auch  von  den  in  Betracht 
kommenden  Stellen  gefühlt  wird,  dafür  ist  das 
Entstehen  der  „Deutschen  Pflanzenschutzorgani- 
sation" der  beste  Beweis.  Man  empfand,  daß 
etwas  Durchgreifendes  geschehen  müsse,  schon 
um  der  mächtig  aufstrebenden  zoologischen 
Schädlingsforschung  etwas  entgegenstellen  zu 
können.  Man  vergriff  sich  aber  in  den  Mitteln, 
indem  man  die  Pflanzenschutzstationen  „organi- 
sierte", anstatt  die  Arbeitsmethode  einer  Prüfung 
zu  unterziehen  und  nachzusehen,  ob  vielleicht  darin 
etwas  nicht  in  Ordnung  sei.  Man  verkannte  voll- 
kommen, daß  die  Forschung  sich  nicht  organi- 
sieren und  auch  nicht  zentralisieren  läßt  (ist  es 
doch  schon  soweit  gekommen,  daß  man  von 
„maßgebenden  Stellen  im  Pflanzenschutz"  sprach; 
Baunacke,  im  Prakt.  Ratgeber  im  Obst-  und 
Gartenbau  1920,  Nr.  45).  Es  ist  dringend  zu 
wünschen,  daß  dieser  Weg  so  bald  als  möglich 
verlassen  werden  möge,  denn  der  Pflanzenschutz, 
oder  wie  er  neuerdings  vorzugsweise  genannt 
wird,  die  Schädlingsforschung  kann  ebensowenig 
als  irgend  ein  anderer  Forschungszweig  in  Fesseln 
geschlagen  werden;  persönliche  Ansichten  und 
Rücksichten  haben  zu  schweigen  und  nur  die 
Tatsachen  gelten. 

Ich  werde  nun  in  einem  Beispiel  auf  die  bis- 
herige Arbeitsweise  des  Pflanzenschutzes  bei  der 
Feststellung  von  Schädlingen  eingehen  und  dann 
mit  meinem  neuen  positiven  Vorschag  hervor- 
treten, denn  es  genügt  nicht,  Bestehendes  anzu- 
greifen; man  muß  auch  etwas  anderes  an  seine 
Stelle  setzen  können,  das  besseren  Erfolg  ver- 
spricht. 

Wenn  ich  in  diesem  und  anderen,  im  Lauf 
der  Betrachtungsweise  notwendigen  Beispielen  die 
Schildläuse  bevorzuge,  so  möge  man  mir  das  aus 
dem  Grund  gütigst  nachsehen,  daß  ich  mich  seit 
beinahe  zwei  Dezennien  mit  der  genannten 
Schädlingsfamilie  besonders  befasse  und  genau 
darüber  unterrichtet  bin,  wie  viel  wir  über  sie 
noch  wissen  müssen. 

Um  etwaige  persönliche  Verstimmungen  zu 
vermeiden,  wähle  ich  einen  fingierten  Fall;  genau 
gleiche  tatsächliche  sind  übrigens  in  den  Berichten 
der  Pflanzenschutzstationen  zu  Dutzenden  zu  finden. 

Also:  „Im  Bezirk  Soundso  ist  im  Berichtsjahr 
Pulvinaria  vitis  sehr  stark  an  der  Rebe  aufgetreten." 

Was   sagt   mir   diese   Meldung?     Nichts!     Im 


Gegenteil,  sie  gibt  inir  eine  ganze  Reihe  von 
Fragen  auf,  deren  Beantwortung  nach  unseren 
derzeitigen  Kenntnissen,  trotz  der  überaus  umfang- 
reichen Schädlingsliteratur,  unmöglich  ist.  Um 
welches  Tier  handelt  es  sich?  Wenn  die  Bestim- 
mung richtig  ist  und  keine  Verwechslung  mit 
Lecanium  corni  vorliegt,  ist  es  Pulvinaria  betulae, 
die  auf  zahlreichen  Pflanzen  leben  kann.  Die 
zweite  Frage:  Kommt  das  Tier  in  der  Nachbar- 
schaft der  befallenen  Reben  auf  anderen  Pflanzen 
gleichfalls  zahlreich  vor?  Auf  welchen?  In  wel- 
cher Meereshöhe?  Welche  Lage  hat  der  Fund- 
ort? Welchen  Boden?  Wie  ist  der  geologische 
Untergrund?  Fällt  der  Fundort  aus  dem  Ver- 
breitungsgebiet der  Art  heraus?  usw.  usw. 

Die  künftige  Aufgabe  der  Schädlingsforschung 
ist  nun  nach  meiner  Ansicht  die  genaue,  syste- 
matische Durchforschung  Deutschlands  auf  seine 
Schädlinge  und  die  Zusammenstellung  der  Be- 
funde nach  Art  der  Floren.  Bei  jeder  Pflanze 
sind  sämtliche  auf  der  Art  beobachteten  Tiere 
und  Pflanzen  (in  der  Hauptsache  ja  Pilze)  genau 
nach  der  Bodenart  getrennt  aufzuführen,  ist  die 
Lage  der  Örtlichkeit  hinsichtlich  der  Himmels- 
richtung zu  berücksichtigen,  die  Stärke  des  Auf- 
tretens der  einzelnen  Schädlinge.  Bei  Kultur- 
gewächsen sind  die  Schädlinge  der  zwischen  ihnen 
vorhandenen  Unkräuter  genau  festzustellen,  über- 
dies die  Düngungsarten,  soweit  sie  sich  erfahren 
lassen. 

Natürlich  übersteigt  eine  solche  Aufgabe,  die 
nichts  weniger  bezweckt  als  eine  Art  allgemeiner 
Landeskunde,  die  Kräfte  des  Einzelnen  wie  die 
der  einzelnen  Stationen.  Ich  denke  mir  deshalb 
dies  Unternehmen  vornehmlich  als  eine  Aufgabe 
der  naturwissenschaftlichen  Vereine  und  Gesell- 
schaften, welche  nur  zu  häufig  sich  auf  die  Ver- 
öffentlichung von  Floren  und  Spezialfaunen  ohne 
Eingehen  auf  nähere  Zusammenhänge  beschränken. 
In  solchen  Vereinen  sind  die  besten  Vorbedingun- 
gen dafür  erfüllt:  das  eine  Mitglied  ist  ein  guter 
Kenner  der  Flora  oder  eines  Teiles  derselben,  der 
andere  ist  Spezialist  in  Gallen,  wieder  ein  anderer 
für  Käfer  usw.  Das  Thema  kann  natürlich  in 
jeder  Weise  variiert  werden,  z.  B.  kann  man  sich 
auf  die  Feststellung  der  Schädlinge  einer  bestimm- 
ten Pflanzenart  beschränken,  oder  einer  bestimmten 
Bodenart.  Ich  denke  mir  solche  Feststellungen 
als  geeignete  Untersuchungen  für  Lehrer,  oder 
als  Dissertationen  an  Universitäten,  die  bisher  für 
die  Heimatkunde  im  allgemeinen  und  für  die 
Schädlingsforschung  im  besonderen  nicht  viel 
übrig  gehabt  haben. 

Um  ein  Beispiel  zu  nennen,  erwähne  ich  die 
vorzügliche  „Flora  der  Umgegend  von  Nürnberg- 
Erlangen"  von  A.  Schwarz,  worin  deren  Verf. 
die  Fundorte  nach  der  geologischen  Zugehörigkeit 
getrennt  aufführt.  Bei  der  mit  vielen  Mitgliedern 
der  Nürnberger  naturhistorischen  Gesellschaft  ge- 
meinsam unternommenen  Durchforschung  des  ge- 
nannten Gebietes  sind  zahlreiche  parasitische 
Pilze   aufgefunden    worden,    die    P.  Magnus   als 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


257 


„Beiträge  zur  Pilzflora  von  Franken"  in  den  Ab- 
handlungen der  Gesellschaft  veröffentlicht  hat. 
Leider  hat  er  darin  die  Unterscheidung  nach 
geologischen  Horizonten  unterlassen.  Auch  K. 
Harz  hat  in  seiner  „Flora  der  Gefäßpflanzen  von 
Bamberg"  (1914)  die  geologischen  Horizonte  be- 
rücksichtigt. 

Das  ist  aber  noch  nicht  genug,  es  müssen 
innerhalb  der  einzelnen  Horizonte  auch  die  ver- 
schiedenen Bodenarten  berücksichtigt  werden,  denn 
z.  B.  im  Keuper  finden  sich  sowohl  arme  Sand- 
ais auch  schwere  Lehmböden,  deren  Flora  stark 
verschieden  ist.  Man  kann  wohl  annehmen,  daß 
sich  auch  das  Auftreten  von  Schädlingen  davon 
abhängig  zeigt,  der  Beweis  dafür  ist  aber  erst  zu 
erbringen.  Ich  verweise  übrigens  auch  auf  die 
lesenswerten  Ausführungen  H.Schusters  in  der 
naturwissenschaftlichen  Monatsschrift  „Aus  der 
Heimat"  (33.  Jahrg.  1920,  Heft  11/12)  über  die 
Schaffung  von  „Markungsfloren  als  Grundlagen 
botanischer  Heimatforschung". 

Der  Boden  ist  durchaus  nicht  gleichgiltig  in 
bezug  auf  das  Auftreten  und  die  Entwicklung  der 
Schädlinge.  So  habe  ich  z.B.  bei  der  Schildlaus 
Physokermes  piceae  feststellen  können,  daß  sie 
auf  Lehmboden  (bei  Eriangen  und  am  0hl  bei 
Steinau  im  Kreis  Schlüchtern)  in  sehr  großen, 
kräftigen  Tieren  an  gut  genährten  Fichten  lebt, 
wogegen  die  kümmeriichen  Fichten  in  Farmsen 
und  Alt-  und  Neu-Rahlstedt  bei  Hamburg  nur 
kümmerliche  Tiere  beherbergen.  Nicht  das  Tier 
ist  schuld,  daß  die  Fichten  hier  schwächlich  sind, 
sondern  der  ärmliche  Boden  kann  nur  schwache 
Pflanzen  und  diese  wiederum  kleine  Tiere  ernähren. 

Besonderer  Wert  ist  darauf  zu  legen ,  daß 
möglichst  alle  an  ein  und  demselben  Pflanzen- 
individuum vorkommenden  Schädlinge  festgestellt 
werden,  um  mit  der  Zeit  einen  Einblick  in  den 
Zusammenhang  zwischen  dem  Auftreten  von  Schäd- 
lingen und  Pilzkrankheiten  zu  erhalten,  den  man 
zurzeit  stark  vermutet.  Aus  dem  gleichen  Grund 
sind  die  Gallen  zu  berücksichtigen;  ich  erinnere 
an  die  sog.  Ambrosiagallen,  die  Ross  und 
Neger  näher  erforscht  haben. 

Über  das  Auftreten  von  Schädlingen  je  nach 
der  Meereshöhe  liegen  ebenfalls  noch  keine  ziel- 
bewußten Feststellungen  vor.  Bei  den  Schild- 
läusen habe  ich  z.  B.  bisher  nur  erkennen  können, 
daß  im  allgemeinen  von  SW  nach  NO  verschie- 
dene Arten  in  immer  tieferen  Lagen  leben,  die 
Beweise  im  einzelnen  sind  aber  sehr  wenig  zahl- 
reich und  erleiden  mancherlei  Ausnahmen. 

Liegen  erst  einmal  zahlreiche  solche  Zusammen- 
stellungen vor,  dann  kann  man  auch  daran  gehen, 
Schlüsse  daraus  zu  ziehen.  Das  wird  dann  vor 
allem  Sache  der  Schädlingsanstalten  und  Pflanzen- 
schutzstationen    sein,      ohne     natüriich     für     sie 


daraus  ein  Monopol  zu  machen.  Wenn  darauf 
gesehen  wird,  daß  innerhalb  enger  Bezirke  mög- 
lichst ein  und  dieselbe  Örtlichkeit,  womöglich 
stets  dieselben  Pflanzenindividuen  kontrolliert  wer- 
den, können  auch  wertvolle  Aufschlüsse  über  das 
periodische  Auftreten  einzelner  Schädlinge  ge- 
wonnen werden.  Auch  mit  dem  Klima  kann  der 
Zusammenhang  hergestellt  werden.  Der  eine  wird 
sich  mehr  für  das  Eine,  der  andere  wieder  für 
etwas  anderes  besonders  erwärmen;  alles  zu  be- 
rücksichtigen übersteigt,  wie  schon  gesagt,  die 
Kräfte  des  Einzelnen. 

Um  nochmal  die  für  solche  Durchforschung 
in  Betracht  kommenden  hauptsächlich  erforder- 
lichen Feststellungen  zu  wiederholen,  so  ist  zu 
beachten : 

1 .  die  wissenschaftlich  einwandfreie  Bestimmung 
von  Nährpflanze  und  Schädling, 

2.  die  Einwirkung  des  Schädlings  und  seiner 
Entwicklungsstände  auf  die  Nährpflanze, 

3.  die  Verbreitung  des  Schädlings  in  horizon- 
taler und  vertikaler  Richtung, 

4.  die  Abhängigkeit  von  Pflanze  und  Schäd- 
ling von  Lage,  Boden  und  Klima, 

5.  die  Beziehungen  zwischen  'dem  Auftreten 
der  Schädlinge  und  der  Düngung, 

6.  der  Zusammenhang  zwischen  der  Verbrei- 
tung des  Schädlings  und  derjenigen  seiner  Nähr- 
pflanzen, 

7.  das  gemeinsame  Vorkommen  mit  anderen 
Schädlingen. 

Wünschenswert  ist  es  auch,  die  Beziehungen 
von  Bildungsabweichungen  der  Pflanzen,  die  in 
keinen  direkten  Zusammenhang  mit  einem  Schäd- 
ling gebracht  werden  können,  zu  berücksichtigen. 

Über  das  Ergebnis  dieser  Forschungen  kann 
natüriich  gar  nichts  vorausgesagt  werden,  das  muß 
man  der  Zeit  überiassen.  Es  ist  möglich,  daß 
sie  vielleicht  ganz  unerwartet  sind.  Aber  sie  wer- 
den auf  alle  Fälle  unanfechtbar  sein  und  die 
sichere  Grundlage  bilden,  auf  der  die  Maßnahmen 
zur  Bekämpfung  und  vor  allem  der  Vorbeugung 
der  Pflanzenkrankheiten  fußen  können.  Daß  sie 
außerdem  auch  der  sog.  reinen  Wissenschaft  kost- 
bare Dienste  leisten  werden,  braucht  nicht  eigens 
hervorgehoben  zu  werden.  Da  in  der  ausgeführten 
Weise  alle  Pflanzen,  sowohl  die  wildwachsenden 
als  auch  die  kultivierten,  in  gleicher  Weise  be- 
rücksichtigt werden  müssen,  wird  man  künftig 
auch  über  die  Heimat  wichtiger  Schädlinge  besser 
unterrichtet  sein  als  jetzt,  wo  man  in  dieser  Hin- 
sicht vielfach  noch  im  Ungewissen  ist,  ich  erinnere 
nur  an  die  Reblaus  und  an  den  Kartoffelkrebs. 

Ich  kann  meinen  Anregungen  nur  noch  den 
Wunsch  mitgeben:  Mögen  sie  auf  einen  frucht- 
baren Boden  fallen! 


258 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   17 


Die  xerotherme  Ameiseniusel  Saint  Triphon. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  S.  Galant. 


Die  Anhöhe  von  St.  Triphon ')  macht  sich 
schon  von  weitem  her  durch  den  auf  einem  ihrer 
Hügel  sich  erhebenden  Turm  von  St.  Triphon, 
ein  20  m  hohes  Quadrat  von  10  cm  Seitenlänge, 
der  stolz  in  die  Landschaft  hinausguckt,  bemerk- 
bar. Diese  Anhöhe,  die  in  historischer  Hinsicht 
sehr  interessant  ist,  da  die  geschichtliche  Rolle, 
die  sie  gespielt  hat,  weit  in  die  graue  Prähistorie 
hinaufreicht,-)  ist  auch  naturwissenschaftlich  nicht 
ohne  Interesse,  und  die  wenigen  Stunden,  die  ich 
auf  der  Anhöhe  von  St.  Triphon  am  24.  April  1920 
zubrachte,  geben  mir  den  Anlaß  zu  glauben,  daß 
genauere  und  weitgehende  Forschungen  dieses 
Hügels  eine  reiche  naturwissenschaftliche  Ernte 
ertragen  würde.  Ich  möchte  hier  über  eine  xero- 
therme Ameiseninsel,  die  ich  auf  der  Anhöhe  von 
St.  Triphon  entdeckt  habe,  berichten. 

Wie  erwähnt,  besuchte  ich  die  Gegend  von 
St.  Triphon  am  24.  April  1920.  Meine  Absicht 
war  nicht,  die  St.  Triphon-Hügel  in  allen  Rich- 
tungen hin  zu  durchqueren  und  weitgehende 
naturwissenschaftliche  Forschungen  hier  zu  unter- 
nehmen :  es  blieb  mir  keine  Zeit  dafür  übrig.  Ich 
durchzog  das  Dorf  St.  Triphon  und  gelangte  auf 
die  Straße,  die  zu  St.  Triphon -Gare  und  nach 
Monthey  (Wallis)  führt.  Einige  hundert  Meter 
vom  Dorf  weit  verließ  ich  die  Straße,  die  mich 
nach  St.  Triphon-Gare  führen  würde  und  schlug 
den  Weg  durch  eine  Wiese  zu  meiner  Rechten 
ein.  Ein  enger  Steg  dieser  Wiese  führt  zu  den 
südwestlichen  Abhängen  der  St.  Triphonhügel,  die 
unmerklich  in  die  von  mir  betretene  Wiese  über- 
gehen. 

Ich  näherte  mich  den  ersten  Felsen  des  Hügels 
und  bemerkte  einen  nicht  allzu  großen  sehr  porösen 
und  frisch  aussehenden  Erdhaufen,  der  sich  von 
der  umgebenden  Erdoberfläche  deutlich  abhob. 
Von  vornherein  war  es  schwer  zu  sagen,  um  was 
für  einen  Erdhaufen  es  sich  handelt,  der  Verdacht 
aber,  es  könnte  sich  um  einen  Ameisenhaufen 
handeln,  stieg  in  mir  zu  allererst  auf.  Ich  griff 
zum  Stemmeisen,  rührte  vorsichtig  in  dem  Erd- 
haufen herum  und  auf  die  Oberfläche  kamen  statt- 
liche schwarze  Ameisen:  es  waren  Camponotus 
(Myrmoturba  aethiops)  Latr.  1 

')  St.  Triphon  liegt  im  Kanton  Waadt  (Bez.  Aigle,  Gem. 
OUon),  3  km  ssö.  Aigle  und   1,5  km  sw.  Ollon. 

")  Die  historische  Bedeutung  der  Anhöhe  von  St.  Triphon 
rührt  daher,  daß  „dieser  Hügel  allen  den  Völkerschaften,  die 
hier  am  Eingang  zum  Rhonetal  der  Reihe  nach  aufeinander 
gefolgt  sind,  von  jeher  als  von  der  Natur  gegebene  Festung 
gedient  hat.  Man  hat  Reste  aus'  der  Bronzezeit  (prachtvolle 
Armringe  unter  einem  erratischen  Block,  mehrere  Gräber  am 
oberen  Rand  der  Brücke  von  Le  Lessus,  eine  Gießerei  usw.),  so- 
wie aus  der  Zeit  der  Kelten  und  der  Römer  aufgedeckt.  Die 
Stelle  war  für  die  Römer  ein  wichtiger  strategischer  Punkt  an 
der  Straße  von  Aventicum  (Avenches)  über  den  Col  de  Jougne 
nach  dem  großen  St.  Bernhard,  die  am  Fuß  des  steilen  und 
schroffen  W-Abhanges  des  Hügels  hinzog''  .  .  .  Näheres 
über  die  Geschichte  von  St.  Iriphon  ist  im  Geographischen 
Le.\ikon  der  Schweiz ,  herausgegeben  von  Ch.  Knapp ,  M. 
Borel  und  V.  Attinger,  Bd.  IV,  S.  348  nachzulesen. 


Ich  ging  weiter  die  Felsen  hinauf  und  stieß 
auf  ein  mächtiges  Nest  von  Formica  sangu- 
inea,  das  sich  über  einige  große  Felsen  aus- 
breitete und  weiter  oben  begegnete  ich  sehr 
kleinen  und  flinken  Ameisen,  die  sich  als  Plagio- 
lepis  pigmaea  Latr.  herausstellten!  Das  Nest 
der  Plagiolepis  konnte  ich  nicht  auffinden. 

Der  Hügel,  wo  ich  den  Camponotus  Latr. 
und  die  Plagiolepis  pigmaea  aufgefunden 
habe,  trug  einen  rein  xerothermen  Charakter. 
Der  Felsboden  bildete  stellenweise  einen  nährstoff- 
reichen Boden,  und  der  ganze  Hügel  ist  nicht 
anders  als  Felsheide  zu  nennen.  Außer  den 
gefundenen  Ameisen,  die  von  dem  xerothermen 
Charakter  des  Hügels  zeugen,  ist  auch  seine  Flora 
rein  xerophil  und  um  nur  auf  ein  Beispiel  hinzu- 
weisen, führe  ich  den  Ruscus  aculeatus,  der 
sich  so  reizend  unter  dem  mit  Dornen  versehenen 

Gestrüpp  hervorhob,  an. 

*  * 

An  xerothermen  Ameiseninseln  fehlt  es  in  der 
Schweiz  nicht;  die  von  mir  aufgefundene  Insel 
dieser  Art  war  aber  bisher  unbekannt.  Forel, 
der  beste  Kenner  der  geographischen  Verteilung 
der  Ameisen  in  der  Schweiz,  berichtet  in  seinem 
bekannten  Buche :  „Fourmis  de  la  Suisse" ')  über 
die  Fundorte  des  Camponotus  Latr.  in  der 
Schweiz : 

„Tres  commun  dans  les  parties  chaudes  de  la 
Suisse  meridionale,  soit  en  Tessin,  en  Valais,  et 
sur  le  versant  sud  du  Saleve.  On  le  trouve  de 
plus  dans  le  canton  de  Vaud  mais  seulement  sur 
quelques  coteaux  abrupts,  secs,  expos^s  au  midi, 
entierement  ä  l'abri  du  vent  du  nord,  et  ne  sc 
trouvant  que  fort  peu  au  dessus  du  niveau  du 
Leman.  II  n'atteint  pas  les  derniers  vignobles. 
Je  ne  Tai  jamais  pris  dans  le  reste  de  la  Suisse,  et  je 
ne  crois  pas  qu'il  y  existe.  II  est  encore  commun 
ä  Sierre.  A  Vaux  il  se  trouve  sur  deux  ou  trois 
cotes  qui  remplissent  les  conditions  indiquees; 
ses  nids  sont  dans  un  gazon  court  et  sec.  C'est 
une  forme  du  midi  de  l'Europe  qui  atteint  chez 
nous,  de  meme  que  plusieurs  autres,  sa  limite 
septentrionale  laquelle  est  nettement  tranchee. 
Le  C.  aethiops  aime  les  lieux  incultes,  les  taillis, 
les  arbustes  (specialement  les  chenes),  le  soleil, 
ainsi  que  les  lieux  secs,  chauds  et  rocailleux  des 
nids  mines  ou  magonnes,  le  plus  souvent  sous 
les  pierres,  sont  ordinairement  assez  dissimules; 
les  5  se  trouvent  sur  les  arbustes  oü  elles  culti- 
vent  leurs  pucerons"  (p.  214). 

Im  Jahre  1915  schreibt  ForeP)  über  das  Vor- 
kommen des  Camponotus  Latr.  in  der  Schweiz: 
„Im  Tessin,  Wallis  (von  Siders  bis  Mortigny)  und 
Saleve  häufig,  sonst  nur  an  xerothermischen  Stellen 


')  Forel,  A.,  Fourmis  de  la  Suisse,   Geneve   1874. 

')  Die  Ameisen  der  Schweiz,  analytisch  bearbeitet  von 
Prof.  Dr.  Aug.  Forel.  Beilage  zu  Heft  7/8  der  Milteil.  dei 
Schw.  Entomol.  Ges.  Dübendorf,  1915. 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


259 


wie  Vaux,  Stein  a.  Rh.  (Dr.  Santschi)  usw.  auf 
trockenen  Wiesen  und  warmen  Abhängen,  auch 
unter  Steinen." 

Über  die  Ortfunde  der  Plagiolepis  pyg- 
maea  Latr.  in  der  Schweiz  schreibt  F'orel  (Four- 
mis  de  la  Suisse,  1874): 

»P-  pygmaea.  Lieux  secs  et  rocailleux  ex- 
poses  au  midi;  sous  les  pierres.  Tres  commune 
sur  les  dent  Saleves,  en  Valais  (Dully,  Sierre, 
Tourbillon,  St.  Maurice),  et  dans  tout  le  Tessin- 
Champel  pres  Geneve  (Frey-Gessner).  Je  Tai  prise 
aussi  dans  la  partie  inferieure  de  la  vallee  de 
Bregaglia.  Enfin  j'en  ai  decouvert  quelques  four- 
miliöres  ä  Vaux  sur  un  cöteau  aride  (carriere  de 
sa  ble).  Chose  curieuse,  je  n'ai  pu  la  decouvrir 
nulle  part  ailleurs,  pas  meme  dans  les  lieux  oü  se 
trouvent  des  Camponotus  aethiops  et 
lateralis"  (p.  215). 

In  den  „Ameisen  der  Schweiz"  aus  dem  Jahre 
191 5  gibtForel  folgende  Fundorte  der  Plagio- 


lepis pygmaea  an:  Saleve,  Wallis,  Tessin, 
Champel  bei  Genf,  Vaux  bei  Morges  und  untere 
Bregaglia. 

Wie  wir  sehen,  ist  die  xerothermische  Ameisen- 
insel St.  Triphon  in  der  Literatur  unerwähnt  ge- 
blieben, und  diese  xerotherme  Ameiseninsel  ist 
gerade  darum  von  besonderem  Interesse  und  ver- 
dient deshalb  allgemeine  Aufmerksamkeit,  weil 
hier  die  Plagiolepis  pygmaea  neben  dem 
Camponotus  (Myrmoturba  aethiops)  Latr. 
lebt,  während  es  nach  F'orel  bis  jetzt  nicht  ge- 
lungen ist,  eine  xerotherme  Ameiseninsel  in  der 
Schweiz  aufzufinden,  wo  die  Plagiolepis  pyg- 
maea und  Camponotus  Latr.  nebeneinander 
vorgekommen  wären.  Es  handelt  sich  also  in 
meinem  Falle  nicht  nur  um  eine  neue  xerotherme 
Ameiseninsel,  die  ich  entdeckt  habe,  sondern  um 
eine  solche,  die  neben  den  anderen  bekannten  ein 
Mehr  an  biologischen  Sonderheiten  und  Merk- 
würdigkeiten besitzt. 


Einzelberichte. 


Kiu  neues  Mineral  in  Üeutsch-Südwestafrika. 

Einige  Mitteilungen  über  Mineralien 
von  Tsumeb  im  ehemaligen  Deutsch-Südwest- 
afrika, darunter  über  ein  neues  Mineral  von 
diesem  Fundort,  macht  O.  Pufahl.  Die  Lagerstätte 
von  Tsumeb  ist  außer  durch  ihre  Bedeutung  in  wirt- 
schaftlicher Hinsicht,  die  sie  für  die  uns  entrissene 
Kolonie  hat,  auch  durch  die  Schönheit  und  den 
Reichtum  der  dort  auftretenden  Mineralien  in  den 
letzten  Jahren  in  Mineralogenkreisen  bekannt  und 
berühmt  geworden.  Die  nachfolgenden  Mitteilungen 
Pufahls  (Centralbl.  f.  Min.  usw.,  1920,  Nr.  17/18, 
S.  289—296)  werden  darum  nicht  ohne  Inter- 
esse sein. 

Zinkreiches  Arsen-Fahlerz. 
Dieses  Erz  fand  sich  im  körnigen,  sehr  silber- 
armen Bleiglanz  vom  Abbau  III,  Südost,  aus  56  m 
Peufe  in  kleinen  Nestern.  Es  tritt  derb  auf  und 
zeigt  einen  auffallend  grünlichen  Schein.  Dasselbe 
Erz  fand  der  Verf.  in  massiven  Bohrkernen,  die 
bei  12 — 18  m  Bohrung  zwischen  IV.  und  V.  Sohle 
gewonnen  waren.  Auch  dieses  Erz  zeigt  starken 
Metallglanz  mit  grünlichem  Schein,  Muschelbruch, 
ist  sehr  spröde  und  besitzt  die  Härte  3,5.  Der 
Strich  ist  dunkelkirschrot,  das  spez.  Gewicht  4,61. 
Die  Analysen  der  beiden  Vorkommen  ergaben 
eine  Zusammensetzung,  nach  der  das  Erz  dem 
von  Platt  n  er  (Pogg.  Ann.,  1846,  67,  422)  be- 
schriebenen Fahlerz  von  Freiberg  nahe  steht.  (Ana- 
lyse: Hintze,  Handb.  Mineralogie,  I,  I,  S.  1115, 
Nr.  XXXVIII.)  Der  Zinkgehalt  beträgt  9,27  und 
9,24  "/„.  ;j_Bi,  Hg,  Ni,  Co,  V  und  Mo  sind  nicht  in 
dem  Erz  enthalten.  Die  dokimastische  Bestim- 
mung des  Edelmetallgehaltes  ergab  einen  Silber- 
gehalt von  1,1 1  kg,  außerdem  125  g  (1)  Gold  in  der 
Tonne  (1000  kg). 


M  i  m  e  t  e  s  i  t. 


Dies  Mineral  gehört  zu  den  häufigeren  sekun- 
dären Bildungen  im  Erzkörper  von  Tsumeb.  Es 
tritt  teils  derb,  teils  in  bis  über  3  cm  langen  und 
bis  1,5  cm  dicken,  farblos- lichtgrauen  Kristallen, 
meistens  reinen  Prismen,  auf.  Häufig  ist  teilweise 
oder  gänzliche  Umwandlung  zu  hellgrünem  und 
gelblichgrünem  Bayldonit.  Das  spez.  Gewicht  der 
untersuchten  Probe  ist  6,98.  Die  Analyse  ergab: 
PbO  67,31  "/o;  AS.3O,  23.12;  PbCI.,  9,33  (2,38  Cl); 
CuO  Spur;  Summe  99,76.  Die  Formel  verlangt 
90,7  "/o  Bleiarsenat  und  9,3  %  Bleichlorid. 

Mottramit. 
Dieses,  wohl  zuerst  von  Mancher  in  den 
nach  Freiberg  gelangten  Erzsendungen  erkannte, 
vanadinreiche  Mineral  ist  ein  wertvoller  Rohstoff 
für  die  Gewinnung  von  Ferrovanadin,  Vanadin- 
stahl und  Vanadinpräparaten  geworden,  ebenso 
der  den  Mottramit  begleitende  Cuprodescloizit. 
Da,  wie  es  scheint,  bisher  noch  keine  Analysen 
des  Mottramits  von  Tsumeb  veröffentlicht  worden 
sind,  sei  hier  das  Mittel  aus  zwei  an  ausgesucht 
reinem  Material  vorgenommenen  Analysen  nach 
Abzug  der  Gangart  und  des  hygroskopischen 
Wassers  wiedergegeben  (I). 

I  II 

PbO        -    54,31  54,19 

CuO  19,24  19,33 

ZnO       -         0,18  — 

20,23  22,11 

2,16  — 

HjO  3.88  437 

100,00  100,00 

Die  Werte  unter  Nr.  II  entsprechen  der  Formel 
.j((Ju,Pb)0  .  VjO^ -f- ^HjjO  unter  Annahme  äqui- 
valenter Mengen  Cu  und  Fb. 


V.,0, 
As.,0, 


26o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


■  üer  reine  Mottram'it  ist  dicht  bis  sehr  fein- 
körnig und  zeigt  muscheligen  Bruch  von  schwärz- 
licholivgrüner Farbe.  Es  wurden  im  Haufwerk 
reine  IVIassen  im  Gewicht  von  über  10  kg  festge- 
stellt. Die  Strichfarbe  ist  hellgelb,  die  Härte  3. 
Auf  dem  Platinblech  mit  KHSO4  erhitzt,  gibt  er 
eine  rotbraune  Schmelze,  die  sich  in  heißer  ver- 
dünnter HjSOj^  größtenteils  auflöst  und  in  der 
Lösung  nach  Zusatz  von  H^O.,  starke  Vanadin- 
reaktion, tief  rotbraune  Färbung  aufweist.  In 
heißer  verdünnter  HNOg  und  HCl  ist  es  löslich. 
Cuprodescloizit. 
In  Gesellschaft  des  Mottramit  findet  sich  Des- 
cloizit,  stets  in  charakteristischen  Pyramidenspitzen 
(bis  3  mm  lang)  und  von  dunkelolivgrüner  bis 
schwärzlicher  Färbung.  Die  Gangart  ist,  wie  auch 
beim  Mottramit,  verkieselter,  häufig  eisenschüssiger 
Dolomit.  Material  einer  ganz  reinen  Kristallstufe 
zeigte  folgende  Zusammensetzung  nach  Abzug 
von  SiO„   und  hygr.  H.fi. 

I  II 

PbO       =     54.89  .         55.40 

CuO      -=     16,27  Uq76 

ZnO      =       3,51  (^^-^^ 

V,0,     =     21,68  lg 

As,0,   =       1,36  S^^-"" 

H^O      —      2,29      ,  2,24 

100,00  100,00 

Unter  Nr.  II  die  Werte  entsprechend  der  For- 
mel 4(Cu,  Pb)  •  VgOft  •  HgO,  unter  Annahme  äqui- 
valenter Mengen  Cu  und  Pb.  Der  Cu-  und  Zn- 
Gehalt  zeigen,  daß  es  sich  um  stark  Cu-haltigen 
und  Zn-armen  Descloizit,  also  Cuprodescloizit 
handelt.  Das  spez.  Gewicht  ist  6,19,  die  Härte  3. 
Gegen  Säuren  und  schmelzendes  KHSO^  verhält 
sich  das  Mineral  genau  wie  Mottramit. 
„Duftit",  ein  neues  Blei-Kupfer-Arsenat 
von  Tsumeb. 
Das  neue  Mineral  wurde  unter  Stufen,  die  dem 
Verf.  von  dem  Bergingenieur  Zeleny  überbracht 
worden  waren,  aufgefunden.  Es  bildet  Kristall - 
aggregate  und  aufgewachsene  Kristalle  von  i — 2  mm 
Länge,  die  durchweg  gekrümmt  sind,  rauhe  Flächen 
besitzen  und  den  des  Olivenit  sehr  ähnliche  Formen 
zeigen.  Meßbare  Kristalle  wurden  bisher  nicht 
aufgefunden.  Der  Duftit  besitzt  das  spez.  Ge- 
wicht 6,19  und  die  Härte  3.  Die  Strichfarbe  ist 
blaßapfeigrün  oder  grünlichweiß.  Auf  dem  Bruch, 
vereinzelt  auch  auf  Kristallen  zeigt  es  Glasglanz, 
während  die  Kristallflächen  überwiegend  matt,  rauh, 
geriefelt  und  von  etwas  dunklerer  Färbung  sind. 
Durch  Auslesen  von  Azuritnadeln  vollkommen 
befreites  Material  ergab  folgende  Zusammen- 
setzung (I)  nach  Abzug  von  SiO.^  und  hygr.  H„0: 
I  II 

PbO      =     50,46  50,37 

CuO      =     19,4t)  1 


ZuO      = 

0,46 

20,92 

CaO       = 

0,75 

As„0,   = 

26,20 

26,00 

l  I3O      = 

2,67 

2,7' 

100,00 


100,00 


Nr.  II  zeigt  die  theoretische  Zusammensetzung 
nach  der  Formel 

2  Pbg  (AsOJ,  •  Cu3(AsOj2  •  4  Cu(0H)2, 
die  sich  zwanglos  aus  der  Berechnung  der  Mole- 
kularproportionen ergibt. 

Das  Mineral  wurde  zu  Ehren  des  jetzigen 
Direktors  der  Otavi-Minen-  und  Eisenbahngesell- 
schaft, des  Bergrats  G.  Duft,  benannt.     F.  H. 

Nervöse   Erscheiniiiigeu    bei   Tieren    infolge 
von  Eingeweidewürmern. 

Es  ist  bekannt,  daß  bei  Hunden,  die  mit  Spul- 
würmern oder  anderen  Innenparasiten  behaftet 
sind,  sei  es  infolge  von  mechanischer  Einwirkung 
durch  Reizung  der  Nervenendigungen  durch  die 
Parasiten,  sei  es  infolge  der  Bildung  von  Toxinen 
Krämpfe,  Konvulsionen  und  andere  Reizzustände  ent- 
stehen können.  Die  „Deutsche  Tierärztl.  W."  Nr.  30, 
S.  351  von  1920  berichtet  auch  bei  einer  Kuh  von 
einer  nervösen  Erkrankung,  die  durch  Distomum 
h  e  p  at.  hervorgerufen  wurde  und  nach  fünfstündiger 
Dauer  sogar  tödlich  endete.  Das  Tier  zeigte, 
nachdem  es  vorher  vollkommen  gesund  war,  plötz- 
lich klonische  Krämpfe  aller  sichtbaren  Muskeln, 
auch  jener  der  Augenlider,  der  Kiefer,  des  Halses 
und  der  Gliedmaßen.  In  bestimmten  Zwischen- 
räumen lief  ein  Krampf  wellenförmig  über  den 
ganzen  Körper  von  vorn  nach  hinten.  Die  Glied- 
maßen machten  dabei  mähende  Bewegung;  dabei 
war  das  Tier  anämisch  und  die  Sensibilität  er- 
höht. Bei  der  Sektion  fanden  sich  neben  einem 
leichten  Darmkatarrh  zahlreiche  Exemplare  von 
Distomen  in  der  Leber  und  Galle  in  einer  Länge 
von  5 — 6  mm  vor.  Die  Leber  war  zirrhotisch, 
Nieren  stark  hyperämisch.  Sonst  wurde  nichts 
Abnormes,  auch  nicht  im  Gehirn  vorgefunden. 

Das  Rind  hat  demnach  an  akuter  Leberdisto 
matose  gelitten.  Typisch  sind  in  diesem  Falk 
die  vermutlich  durch  Toxämie  erzeugten  Exzi- 
tationserscheinungen,  da  sie  im  Gegensatz  stehen 
zu  der  von  anderen  Autoren  als  Haupterscheinung 
bei  der  Leberegelerkrankung  angegebenen  De- 
pression. Reuter. 


Der  Dopplerelfelil  im  Röntgenspektrum   und 
die  Tlieorie  der  Bremsstraliluug. 

Die  Zerlegung  der  Röntgenstrahlen  durch 
einen  Spektrographen  mit  Kristallgitter  zeigt  ein 
kontinuierliches  Spektrum,  dem  das  Linienspektrum 
des  Antikathodenmetalls  überlagert  ist.  Die  Ent- 
stehung des  Linienspektrums  ist  durch  die  auf  der 
Quantentheorie  basierenden  Atommodelle  aufge- 
klärt worden.  Das  kontinuierliche  Röntgenspek- 
trum wird  nach  der  alten"  Wiechert-Stokes- 
schen  Ätherstoßtheorie  von  den  Ätherimpulsen 
gebildet,  die  bei  der  Bremsung  der  Kathoden- 
strahlelektronen  an  der  Antikathode  entstehen. 
Wenn  die  negativ  geladenen  Elektronen  mit  ihrer 
riesigen  Geschwindigkeit  von  vielen  tausend  Kilo- 
metern   in    der  Sekunde    beim   Aufprall    auf  die 


N.  F.  XX.  Nr.  \^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


261 


Antikathode  plötzlich  gebremst  werden,  so  müssen 
sie  notwendig  explosionsartige  elektrische  Wellen 
in  den  Raum  hinaussenden,  genau  wie  durch  auf- 
schlagende Geschosse  Schallwellen  entstehen. 

In  den  letzten  Jahren  wurden  aber  von  D.  L. 
Webster  und  J.  E.  Lilienfeld  ganz  andere  Hypo- 
thesen über  den  Ursprung  des  kontinuierlichen 
Röntgenspektrums  aufgestellt.  Eine  neue  experi- 
mentelle Untersuchung  von  G.  Z  e  c  h  e  r ')  hat  aber 
die  ältere  elektromagnetische  Theorie  der  „Brems- 
strahlung" bestätigt.  Aus  der  Theorie  der  Brems- 
strahlung folgt  nach  W.  Wien  und  A.  Sommer- 
f e  1  d  notwendig,  daß  eine  unsymmetrischeVerteilung 
der  Intensität  *)  und  Wellenlänge  der  Bremsstrahlung 
in  bezug  auf  die  Richtung  vorhanden  sein  muß, 
in  der  die  Strahlung  die  Antikathode  verläßt. 
Frühere  Versuche,  durch  Absorptionsmessungen 
die  Bremstheorie  zu  bestätigen,  hatten  keine  zu- 
verlässigen Ergebnisse. 

Zecher  hat  daher  gleichzeitig  mit  2  Schnei- 
denspektrographen  von  Seemann  das  kontinu- 
ierliche Spektrum  einer  Glühkathodenröntgenröhre 
aufgenommen.  Der  eine  Spektrograph  war  in 
der  Nähe  der  Kathode  zu  dem  Kathodenstrahl 
unter  einem  Winkel  von  210"  orientiert;  die 
Kathodenstrahlelektronen  liefen  also  vom  Spalt 
dieses  Spektrographen  weg  auf  die  Antikathode 
zu,  wo  sie  bei  ihrer  Bremsung  das  kontinuierliche 
Röntgenspektrum  erregten.  Der  zweite  Spektro- 
graph in  der  Nähe  der  Antikathode  bildete  mit 
den  Kathodenstrahlen  einen  Winkel  von  60".  Die 
Elektronen  haben  hier  eine  Richtung  schräg  auf 
den  Spektrographenspalt  zu,  und  wenn  sie  wäh- 
rend ihrer  Abbremsung  in  der  Antikathode  Rönt- 
genstrahlen aussenden,  so  stellen  sie  während 
ihrer  Bremszeit  eine  auf  den  Spalt  des  zweiten 
Spektrographen  zubewegte  Strahlungsquelle  dar. 
Nach  Dopplers  Prinzip  muß  daher  das  konti- 
nuierliche Röntgenspektrum  im  zweiten  Spektro- 
graphen gegenüber  dem  gleichzeitig  aufgenom- 
menen Spektrum  im  ersten  Spektrographen  nach 
den  kürzeren  Wellenlängen  zu  verschoben  sein. 


')  Ann.  d.   Phys.  Bd.  63,  S.  28—56  (1920). 

'')  Nach  neueren  feinsten  Präzisionsmessungeu  von  E. 
Wagner  ist  dieser  von  der  Theorie  geforderte  Einfluß  der 
Emissionsrichtung  auf  die  spektrale  Energieverteilung  vorhan- 
den. Beim  Anvisieren  der  Kathodenstrahlen  durch  einen 
Rönigenspektrographen  unter  einem  Winkel  von  150"  ist  die 
Gesamtintensität  der  Röntgenstrahlen  schwächer  als  bei  90"; 
auch  sind  bei  150"  die  langwelligen  Teile  des  Spektrums  re- 
lativ stärker  vorhanden.  Dieser  Befund  läfit  sich  nach  Wag- 
ner auch  quantentheoretisch   deuten.     Phys.  Zeitschr.  Bd.  21, 

y.  621  (1920). 


Anscheinend  endigte  auch  in  einem  Versuch 
bei  80000  Volt  Röhrenspannung  das  kontinuier- 
liche Spektrum  in  dem  einen  Spektrographen  bei 
0,180  A, ')  während  es  sich  in  dem  zweiten  bis 
hinab  zu  0,162  A  erstreckte.  Im  Mittel  ergab 
sich  das  Verhältnis  der  Endwellenlängen  ^)  des  kon- 
tinuierlichen Röntgenspektrums  in  beiden  Spektro- 
graphen zu  0,89  i  0,02.  Die  Wien-Sommer- 
feld sehe  Theorie  erfordert  allerdings  den  Wert 
0,69.  Aber  dies  kommt  daher,  daß  wohl  nicht 
alle  Elektronen  des  Kathodenstrahls  wie  in  der 
Theorie  auf  einer  ganz  geradlinigen  Bahn  abge- 
brerfist  werden.  „Eine  Reihe  Elektronen  werden 
auf  zickzackförmigen  Bahnen  durch  die  Atom- 
gebilde hindurch  und  an  solchen  vorbei  ihre  Ab- 
bremsung erleiden.  Die  so  abgelenkten  Elektronen 
bringen  nur  eine  abgeschwächte  Dopplerwirkung 
hervor  und  der  beobachtete  Wert  ist  ein  statisti- 
scher Mittelwert.  Deshalb  erreicht  der  Effekt 
nicht  den  von  der  Theorie  geforderten  Wert." 
Es  ist  also  der  Dopplereffekt  des  kontinuierlichen 
Röntgenspektrums  anscheinend  erwiesen,  wie  ihn 
die  Existenz  einer  Bremsstrahlung  erfordert.  „Der 
beobachtete  Effekt  ist  nur  möglich,  wenn  sich 
der  Strahler  während  des  Strahlungsvorganges  in 
der  Richtung  des  Kathodenstrahls  verschiebt." 

Zecher  hat  auch  noch  interessante  Versuche 
darüber  angestellt,  ob  das  kurzweUige  Ende  des 
kontinuierlichen  Röntgenspektrums  von  der  Natur 
des  Antikathodenmetalls  abhängig  ist.  Zu  diesem 
Zweck  wurden  eine  Glühkathodenröntgenröhre 
mit  Wolframantikathode  und  eine  zweite  mit 
Molybdänantikathode  parallel  geschaltet  und  mit 
einem  großen  Induktorium  bei  gleichen  Spannungs- 
verhältnissen gleichzeitig  betrieben.  Das  konti- 
nuierliche Röntgenspektrum  der  beiden  Röhren 
wurde  durch  zwei  Seemannsche  Schneiden- 
spektrographen  aufgenommen.  Bei  den  Versuchen 
zeigte  sich  durchweg,  daß  bei  gleicher  Spannung 
die  Molybdänröhre  stets  eine  härtere  Strahlung 
wie  die  Wolframröhre  abgab.  Ob  aber  wiiklich 
das  kurzwellige  Ende  des  kontinuierlichen  Röntgen- 
spektrums vom  Antikathodenmetall  abhängt,  ist 
noch  nicht  sicher  bewiesen,  da  Nebenerscheinungen 
das  Resultat  beeinträchtigt  haben  können. 

Karl  Kuhn. 


")   I    Ä  (=   Ängström)  =  0,0000001   mm. 

-)  Nach  Wagners  höchst  genauen  Messungen  sind  da- 
gegen die  Endwellenlängen  völlig  unabhängig  vom  Azimut 
zwischen  Röntgen-  und  Kathodenstrahlen.  Die  Bremstheorie 
der  Röntgenstrahlen  ist  daher  zu  ändern  oder  durch  die 
Quantentheorie  zu  ersetzen. 


Bücherbesprechungen. 


Marzell, Dr. H.,Neues  illustriertes  Kräuter- 
buch. Eine  Anleitung  zur  Pflanzenkenntnis 
unter  besonderer  Berücksichtigung  der  in  der 
Heilkunde,  im  Haushalt  und  der  Industrie  ver- 
wendeten   Pflanzen,    sowie    ihrer    Volksnamen. 


Mit  Beiträgen  von  Apotheker  Dr.  Hugo  Ziegen- 
speck,  Dr.  med.  K.  Kahnt,   Prof.   Dr.   Heinrich 
Marzell    senior.      Mit    32    Farbdrucktafeln    und 
vielen  Abbildungen  im  Text.     32  M. 
Das  Buch   stellt   sich  die  Aufgabe,   den  Leser 


362 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


in  möglichst  leicht  faßlicher  Form  in  die  Kennt- 
nis der  heimischen  Pflanzenwelt  einzuführen  und 
ihn  mit  deren  praktischer  Verwendung  bekannt 
zu  machen.  Es  bringt  aber  keine  trockene  Be- 
schreibung der  Pflanzen,  sondern  geht  auch  auf 
deren  Lebensverhältnisse,  geographische  Verbrei- 
tung usw.  ein.  Die  Anordnung  der  Pflanzen  ist 
so,  daß  sich  auch  der  Nichtbotaniker  ver- 
hältnismäßig leicht  zurecht  finden  kann.  Alle 
Fachausdrücke  werden  in  der  allgemeinen  Ein- 
führung über  „Bau  und  Leben  der  Pflanze"  er- 
klärt. Kein  anderes  Kräuterbuch  enthält  so  viel 
Volksnamen  (gegen  6000)  aus  allen  Teilen  des 
deutschen  Sprachgebietes.  Die  Verwendung  unserer 
einheimischen  Pflanzen  in  der  Heilkunde,  im  Haus- 
halt, in  der  Industrie  usw.  wird  ausführlich  er- 
örtert. Ganz  besonders  eingehend  werden  die 
einheimischen  Pflanzen  behandelt,  die  als  Ersatz 
für  teure  ausländische  Drogen  usw.  in  Betracht 
kommen.  Auch  die  einheimischen  wildwachsen- 
den Pflanzen,  die  Stärkemehl,  Öl,  Fett,  Harz 
liefern,  oder  sich  als  Gemüse,  Salat  usw.  für 
Nahrungszwecke  eignen,  werden  in  einem  be- 
sonderen Abschnitt  gründlich  erörtert.  Tee-, 
Kaffee-,  Tabak-Ersatz  liefernde  Pflanzen  werden 
in  großer  Anzahl  genannt.  Das  Buch  enthält 
32  prächtige  Farbentafeln  von  der  Künstlerhand 
des  als  naturwissenschaftlicher  Zeichner  wohlbe- 
kannten Prof  Morin  (München),  außerdem  noch 
eine  große  Anzahl  Textabbildungen.  Die  Aus- 
stattung ist  mit  Rücksicht  auf  die  jetzigen  Ver- 
hältnisse sehr  gut.  Das  Buch  ist  wertvoll  für 
jeden  Pflanzensammler  und  Pflanzenliebhaber  und 
gibt  Hinweise  auf  Pflanzenverwertung  und  Pflan- 
zenanbau. 

Hadfield,  E. ,  Among  theNatives  ofthe 
Loyalty  Group.  XIX  u.  316  S.  u.  49  Abb. 
London  1920,  MacmiUan. 
Frau  Hadfield  ist  seit  mehr  als  30  Jahren 
im  Missionswesen  auf  den  Loyaltyinseln  tätig,  die 
eine  Neukaledonien  parallel  gerichtete  von  Nord- 
west nach  Südost  verlaufende  Reihe  bilden,  die 
aus  den  drei  Hauptinseln  Uvea,  Lifu  und  Marc, 
sowie  mehreren  kleinen  Eilanden  besteht.  Die 
Eingeborenen  weichen  in  ihrer  körperlichen  Er- 
scheinung von  den  Neukaledoniern  in  mancher 
Beziehung  ab,  so  namentlich  in  der  Beschaffen- 
heit des  Kopfhaares,  das  nicht  wie  bei  diesen 
durchweg  spiralig  gedreht  ist,  sondern  stark  vari- 
iert, meist  aber  wellig  oder  sogar  lockig  ist.  Die 
Nase  ist  weniger  fleischig  und  breit,  die  Uber- 
augenwülste  treten  weniger  stark  hervor  und  die 
Sdrne  ist  höher  als  bei  den  Neukaledoniern. 
Wahrscheinlich  handelt  es  sich  bei  diesen  Men- 
schen um  einen  melanesischen  Grundstock  mit 
polynesischer  Blutbeimischung,  durch  welche  die 
groben  Körperformen  abgeschwächt  wurden. 

Dem  Einfluß  der  christlichen  Missionen  er- 
wiesen sich  die  Loyaltyinselbewohner  gut  zugäng- 
lich, was  bewirkte,  daß  von  der  ursprünglichen 
Lebensweise,  den  Sitten,  Gebräuchen,  Werkzeugen, 


Geräten,  Waffen  usw.  nur  mehr  spärliche  Reste 
erhalten  sind.  Die  Verf.  aber  hatte  Gelegenheit, 
das  kleine  \^olk  noch  im  Besitze  seiner  Eigen- 
kultur kennen  zu  lernen  und  sie  schildert  nun, 
was  sie  sah  und  hörte.  Unter  anderem  gibt  sie 
Aufschlüsse  über  die  geistigen  Fähigkeiten  und 
Charaktereigenarten,  über  die  soziale  Organisation, 
die  Wohnweise,  die  Beschaff'ung  des  Lebensunter- 
haltes, Schiffahrt,  Himmelskunde,  Zeitrechnung, 
Sprachen,  religiöse  Vorstellungen,  Kriegführung 
und  Kannibalismus.  Der  vergleichenden  Völker- 
forschung wird  damit  wertvolles  Material  geboten, 
das  zu  gewinnen  spätere  Beobachter  nicht  mehr 
in  der  Lage  sein  würden.  Für  die  völkerpsycho- 
logische Forschung  wertvoll  sind  auch  die  beige- 
gebenen 32  Eingeborenenerzählungen  und  eine 
Anzahl  Sprüche.  Die  Ausstattung  des  Buches  ist 
musterhaft,  so  wie  sie  bei  uns  in  Deutschland 
wissenschaftlichen  Werken  leider  nur  mehr  selten 
gegeben  werden  kann.  H.  Fehlinger. 


Marx,  E.,  HandbuchderRadiologie.  Bd.  I: 

Townsend,  J.  S.,   Ionisation   der  Gase; 

Geitel,   H.,    Radioaktivität    der    Erde 

und  der  Atmosphäre.    473  S.  mit  66  Fig. 

Leipzig  1920,   Akademische  Verlagsgesellschaft 

m.b.H.  —  Brosch.  72  M. 

Unter  den  6  Bänden,   auf  die   das  Handbuch 

der  Radiologie  berechnet   ist,    erscheint   der  jetzt 

vorliegende  erste  Band  als  einer   der  letzten.     Er 

soll   die    Einleitung    und    Grundlage   des    Ganzen 

sein,    indem    er    die    allgemeinen    grundlegenden 

Tatsachen    auf  dem  Gebiete   der  Radiologie,    die 

Elektrizitätsleitung  in  Gasen,  behandelt. 

Den  überwiegenden  Teil  des  Bandes,  die 
„Ionisation  der  Gase"  allgemein,  hat  der  Engländer 
Townsend  bearbeitet.  Er  beginnt  mit  einer 
Besprechung  der  verschiedenen  bekannten  Me- 
thoden der  Erzeugung  von  Elektrizitätsträgern  in 
Gasen  und  wendet  sich  dann  den  theoretischen 
Untersuchungen  der  Trägerbeweglichkeit  und  den 
Methoden  der  experimentellen  Geschwindigkeits- 
messung zu.  In  folgenden  Kapiteln  wird  die 
Diffusion  und  Rekombination,  die  Nebelbildung 
und  deren  Auswertung  zur  Bestimmung  der  Träger- 
ladung besprochen.  Einen  verhältnismäßig  breiten 
Raum  nimmt  die  Darstellung  der  „Ionisation  durch 
den  Stoß"  der  negativen  und  positiven  Ionen,  des 
besonderen  Arbeitsgebiets  des  Verf,  ein.  Die 
letzten  beiden  Kapitel  beschäftigen  sich  schließ- 
lich mit  der  Funken-,  Spitzen-  und  Büschel- 
entladung und  mit  den  elektrischen  Vorgängen 
in  Entladungsröhren. 

Man  muß  anerkennen,  daß  der  Verf  bestrebt 
war,  die  gesamte  Literatur  des  Gebiets  objektiv 
zu  verarbeiten  und  dementsprechend  auch  der 
deutschen  Literatur  möglichst  gerecht  zu  werden. 
Er  hat  dies  allerdings  nur  zu  einem  Teil  erreicht. 
Die  UnVollständigkeit  in  der  Berücksichtigung 
aller  vorhandenen  Kenntnis  erstreckt  sich  aber 
auch  auf  außerdeutsche  Untersuchungen.  Sie 
wäre   für   das   Ruch   und   für   den  Leser   weniger 


N.  F.  XX.  Nr.  17 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


263 


von  Nachteil,  wenn  sich  an  den  entsprechenden 
Stellen  geeignete  Hinweise  auf  die  vorhandenen 
tiefergehenden  Veröffentlichungen  des  betreffenden 
Teilgebiets  fänden.  Ref.  empfändet  diesen  Mangel 
insbesondere  im  zweiten  Kapitel,  wo  die  häufige 
Bezugnahme  auf  zum  Teil  mit  wenig  Kritik  aus 
der  Literatur  beliebig  herausgewählte  Einzelunter- 
suchungen ohne  Erwähnung  der  oft  zahlreichen 
anderen  Untersuchungen  über  den  gleichen  Gegen- 
stand vielfach  zu  falschen  Schlußfolgerungen  führen 
muß.  Im  übrigen  finden  wenigstens  die  Grund- 
lagen eine  klare  und  auch  für  den  wenig  vorbe- 
reiteten Leser  leicht  verständliche  Darstellung,  die 
zu  einer  Einführung  in  das  umfangreiche  Wissens- 
gebiet als  wohlgeeignet  zu  bezeichnen  ist. 

Der  auf  den  letzten  57  Seiten  des  Bandes  sich 
findende  Bericht  über  die  Radioaktivität  der  Erde 
und  der  Atmosphäre  und  die  damit  zusammen- 
hängenden elektrischen  Vorgänge  in  der  letzteren 
ist  von  dazu  besonders  berufener  Seite  geschrie- 
ben und  ist  deshalb  auch  als  wertvolle  Bereiche- 
rung des  Handbuchs  zu  betrachten,  selbst  wenn 
ein  Teil  des  hier  behandelten  Gegenstandes  bereits 
in  dem  von  Rutherford  bearbeiteten  und  schon 
erschienenen  2.  Bande  vorweggenommen  wor- 
den ist. 

Da  die  Drucklegung  des  vorliegenden  Bandes 
ebenso  wie  diejenige  der  früher  herausgegebenen 
Bände  schon  im  Jahre  1914  in  Angriff  genommen 
worden  ist  und  ein  Nachtrag  fehlt,  entspricht  der 
Inhalt  beider  Berichte  dem  Stand  unserer  vor 
6  Jahren  vorhandenen  wesentlichsten  Kenntnis. 
Ref.  stimmt  mit  dem  Herausgeber  in  der  Auf- 
fassung überein,  daß  dies  den  Wert  des  Bandes 
als  Einführung  in  das  gewaltige  Gebiet  der  Radio- 
logie kaum  beeinträchtigen  dürfte. 

Von  dem  großen  Unternehmen  steht  jetzt  nur 
noch  der  sechste  Band  als  letzter  aus.  Da  er 
den  Theorien  der  Radiologie  gewidmet  sein  soll, 
würde  bei  ihm  eine  Nichtberücksichtigung  der 
neuesten  Forschungsergebnisse  leicht  so  schwer- 
wiegend werden  können,  daß  er  schon  beim  Er- 
scheinen als  veraltet  zu  erklären  wäre.  Ref. 
möchte  daher  annehmen,  daß  die  bisherige  Ver- 
zögerung seiner  Veröffentlichung  sich  durch  die 
Absicht  seiner  Neubearbeitung  erklärt. 

A.  Becker. 


Rüsberg,  Dr.  F.,  Einführung  in  die  analy- 
tische  Chemie.     L    Theorie    und  Gang  der 
Analyse.     Mit    15  Fig.    —    II.    Die    Reaktionen. 
Mit  4  Fig.     (Aus  Natur  und  Geisteswelt  Nr.  524 
und  525).     Leipzig  u.  Berhn  1920,  B.  G.Teubner. 
Die  große  Zahl   analytischer  Hilfsbücher  wird 
durch  die  vorliegenden  Bändchen  weiter  vermehrt, 
ohne   daß    damit    gerade    eine    Bereicherung 
dieses  Teils  der  chemischen  Literatur  erzielt  wird. 
In  methodischer  Hinsicht  verblüfft    zunächst,    daß 
die  „Reaktionen"  nach  dem  eigentlichen  Analysen- 
gange abgehandelt  sind :  dieser  ist  doch  ohne  ein- 
gehende Kenntnis  jener  einfach  unmöglich  1     Des 


weiteren  befremdet,  daß  zwar  die  elektrolytische 
Dissoziation  und  die  damit  zusammenhängenden 
Erscheinungen  knapp  und  gut  erläutert  werden, 
daß  aber  eine  durchgehende  Anwendung  der  da- 
mit gewonnenen  Vorstellungen  im  übrigen  Werk 
fehlt.  Immer  wieder  werden  Formelgleichungen, 
statt  der  analytisch  fast  allein  interessierenden 
lonengleichungen  geboten.  Und  man  wundert 
sich  über  Sinn  und  Zweckmäßigkeit  von  Dar- 
legungen wie  z.  B.  I,  13,  wenn  man  II,  23  die 
Oxydation  von  Ferro-  zum  Ferrilon  in  der  her- 
kömmlichen, nebenbei  ganz  unpädagogischen, 
Weise  formuliert  findet.  Wie  denn  überhaupt 
der  Gesamteindruck  des  Werkchens  der  einer  im 
althergebrachten  Stile  aufgebauten  Arbeit  ist,  an 
der  die  schönen  Ergebnisse  der  modernen  anor- 
ganischen Chemie  fast  spurlos  vorübergegangen 
sind.  Gewiß:  man  kann  auch  mit  diesen  Büch- 
lein arbeiten.  Daß  damit  dem  Geist  der  wissen- 
schaftlichen analytischen  Chemie  gedient  sei,  be- 
streite ich  durchaus. 

Alt  und  eigentlich  nicht  mehr  entschuldbar  ist 
die    Nomenklatur.      „Basisches    Quecksilberoxyd- 
nitrat" u.  dgl.  durch  nichts  zu  rechtfertigende  Be- 
nennungen   sind    die  Regel.    —    Der   Gehalt   der 
Reagenzien  ist  noch  nach  Hundertteilen  angegeben, 
eine  pädagogisch  wie  logisch  zu  verneinende  Will- 
kürlichkeit. —  Im  einzelnen  sind  eine  ganze  Reihe 
Bemerkungen  zu  machen.   Es  seien  einige  heraus- 
gegriffen :  Im  allgemeinen  Teil  fehlt  Henrys  Gesetz 
über  die  Gaslöslichkeit   in  Wasser.     I,   17    ist  die 
Theorie  der  Indikatoren  infolge  Nichtberücksichti- 
gung insbesondere  der  Hantzschschen  Arbeiten 
nicht  ganz  vollständig  gegeben.  —  I,  26:  lösliche 
Kolloide  müssen  nicht  immer  Hydrosole  sein.  — 
II,  3 1  wird  als  Formel  der  blauen  Über  c  h  r  o  m  - 
säure  HgCrOg  genannt.      Unter  den  angegebenen 
Bedingungen     entsteht    jedoch     nur     die     Säure 
von    Wiede,    HCrOß.    —    11,33  ist    zu  betonen, 
daß  die  Wertigkeitsverhältnisse  noch  ganz  unklar 
sind,  daß  insbesondere  in  Mn^Og  das  Metall  wahr- 
scheinlich   3  wertig   ist.    —    II,  40   ist   hinter   die 
Formulierung   von  Rinmanns  Grün    ein  Frage- 
zeichen zu  setzen.  —  Die  Existenz  von  Zinkaten 
usw.   ist  zweifelhaft,   ganz   sicher   aber  nicht  in 
der   angegebenen  Weise    zu    formulieren.  —  II,  9 
und  45  ist  beide  Male  die  Formel  des  Dimethyl- 
glyoxims    verdruckt.      Im    zweiten   Falle    ist    die 
Innerkomplexformel  vorzuziehen.  —  Für  die  Tech- 
nik der  Analyse   ist   mir   das  Fehlen  einer  Am- 
moniakgruppe vor  der  Ammonsulfidgruppe  auf- 
gefallen.     Die    Erleichterungen    einer    derartigen 
Unterteilung    sind    erfahrungsgemäß     sehr     groß. 
I,  64  fehlt  die  Trennungsmethode  mittels  Chro- 
matfällung    in    essigsaurer    Lösung.      Auch    sie 
zeichnet  sich  durch  Einfachheit  aus.  —  I,  67 :  vor 
Fällung    dieser    Gruppe    müssen    die    Reste    von 
Ionen  der  vorhergehenden  Gruppe   entfernt  wer- 
den.  —  II,  61,  96  und   100  sollte  wenigstens  ein 
Hinweis    auf   die    große  Giftigkeit    der   er- 
wähnten Arsenwasserstoff  usw.  stehen!   —  I,  28 
wäre  zweckmäßig  ein  Filter  abgebildet.  —  S.  35 


204 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   17 


kann  ein  M  a  g  n  e  s  i  a  Stäbchen  den  teuern  Platin- 
draht recht  gut  ersetzen.  —  Und  i,  45  ist  es  ganz 
gewiß  besser,  zuerst  mit  verdünnter  Salpeter- 
säure, dann  mit  konzentrierter  Salzsäure  zu  lösen 
zu  versuchen. 


Zweckmäßig  sind  die  Konzentrationstabellen 
am  Schluß  des  Buches,  sowie  die  Aufnahme  von 
Lithium  in  den  Analysengang. 

Der  Druck  der  Bände  ist  deutlich,  der  bro- 
schierte Einband  nicht  haltbar.  H.  Heller. 


Anregungen  und  Antworten. 


Schöngefärbte  Tiere.  Herrn  Dr.  F.  W.ebel,  Mannheim. 
—  Sie  fanden  vor  etwa  20  Jahren  am  Rotenfels  bei  Kreuz- 
nach eine  schön  schwarz  und  rot  gefärbte  Spinne  und  möch- 
ten wissen,  ob  es  die  mediterrane  Gittspinne  Lal\h\rodectus  tre- 
decimguttatus  gewesen  sein  könne.  —  Es  ist  nicht  leicht,  nach 
der  Beschreibung  eines  NichtSpezialisten  ein  Tier  sicher  zu  er- 
kennen, zumal  wenn  diese  erst  nach  20  Jahren  entworfen 
wird.  Selbst  das  beste  Gedächtnis  versagt  da.  —  Im  vor- 
liegenden Falle  stellt  sich  die  Aufgabe  allerdings  etwas  gün- 
stiger, da  ich  selbst  wiederholt  am  Rotenfels,  als  an  einem 
Orte  besonders  warmer  Lage  in  Deutschland,  Tiere  beobach- 
tete und  sammelte.  —  Die  von  Ihnen  gefundene  Spinne  war 
sicher  kein  Latrodeclus,  auch  abgesehen  davon,  daß  die  Gat- 
tung trotz  sorgfältigen  Sammeins  in  den  verschiedensten  Teilen 
Deutschlands  und  auch  in  den  benachbarten,  nördlichen  Tei- 
len anderer  Länder  bisher  noch  nicht  gefunden  wurde:  Bei 
Latrodeclits  sind  die  Beine  ganz  schwarz,  nicht  mit  weiflen 
Linien  geziert ,  wie  Sie  schreiben  und  auch  Ihre  Angabe 
„s  amm  et  schwarz"  paflt  auf  diese  Gattung  nicht.  In  einem 
Punkte  muß  ich  Ihrem  Gedächtnis  zu  Hilfe  kommen.  Der 
Hinterleib  Ihrer  Spinne  war  nicht  schwarz,  Unit  roten  Flecken, 
sondern  rot,  mit  vier  schwarzen  Flecken  gezeichnet,  wie 
es  C,  W.  Hahn  und  C.  L.  Koch  (Die  Arachniden,  Fig.  35, 
36,  316 — 18  u.  10S7)  nach  verschiedenen  kleinen  Abänderun- 
gen zur  Darstellung  bringen,  und  es  kann  wohl  als  sicher 
gelten,  daß  es  sich  um  das  Männchen  von  Eresus  nigtr  Uijina- 
harinus)  handelte,  einer  Spinnenart,  die  in  der  Tat  im  medi- 
terranen Gebiet  ihre  eigentliche  Heimat  findet  und  die  bei 
uns  an  wenigen ,  z.  T.  weit  getrennten  Punkten  besonders 
warmer  Lage,  z.  B.  bei  Berlin  (Tegel,  Rehberge,  Köpenick, 
Woltersdorf),  im  Rheintal  usw.  vorkommt.  —  Sie  schreiben, 
daß  Sie  die  von  Ihnen  gefundenen  Spinnen  in  ein  kleines 
Terrarium  gesetzt  haben.  Sie  seien  aber  sehr  bald  einge- 
gangen. —  Dazu  sei  bemerkt,  daß  das  reife  Männchen,  um 
das  es  sich  hier  handelt,  bei  den  allermeisten  Spinnenarten 
nur  sehr  kurze  Zeit  lebt.  Nach  der  letzten  Häutung,  bei  der 
erst  die  Sexualcharaktere,  auch  die  sekundären,  zur  Ausbildung 
gelangen,  nimmt  das  Männchen  meist  gar  keine  Nahrung  mehr 
zu  sich.  —  Das  Weibchen  von  unserer  Art  wurde  bisher  in 
Deutschland  weit  seltener  gefunden  als  das  Männchen.  Es 
ist  zwar  größer  als  das  Männchen,  aber  unscheinbar  und  un- 
bestimmt schwärzlich  gefärbt  und  wird  deshalb  leicht  über- 
sehen. Auch  das  Männchen  besitzt  vor  der  letzten  Häutung 
eine  ähnliche  unscheinbare  Färbung.  Es  ist  also  klar,  daß 
die  schöne  Farbe  hier  mit  der  Paarung  in  engem  Zusammenhang 
steht.  —  Bei  der  (ebenfalls  auffallend  gefärbten)  mediterranen 
Giftspinne  {Latrodectus)  liegt  ein  ganz  anderer  Fall  vor.  Bei 
dieser  Art  sind  Männchen,  Weibchen  und  junge  Tiere  gleich 
auffallend  gefärbt.  Man  kann  bei  ihr  also  an  Warnfarben 
denken.  Bei  Eresus  können  schon  wegen  ihrer  Harmlosigkeit 
Warnfarben  gar  nicht  in  Frage  kommen  und  dies  wird  durch 
das  Auftreten  der  schönen  Farbe  nur  zur  Paarungszeit  bestä- 
tigt. Die  lebhafte  Färbung  muß  für  diese  Art  sogar  gefähr- 
lich sein,  sonst  könnte  man  die  kurze  Dauer  dieser  Tracht 
nicht  verstehen.  Es  zeigt  sich  hier  das  allgemein  gültige  Ge- 
setz, daß  auffallende  Farben  bei  Tierarten ,  die  nicht  irgend- 
wie geschützt  sind,  nur  kurze  Zeit  und  zwar  nur  zur  Paarungs- 


zeit auftreten,  entweder  bei  beiden  Geschlechtern  (Maikäfer 
usw.)  oder  nur  beim  Männchen  (Pracht-  oder  Hochzeitskleid 
der  Vögel,  z.  B.  der  Enten).  Langlebige  Falter  mit  schönge- 
färbten Flügeln ,  wie  die  Vaiiessa-KtXtn  es  sind ,  können  die 
schönen  Farben  durch  Zusammenklappen  der  Flügel  dem 
Auge  etwaiger  Feinde  wenigstens  zeitweise  entziehen.  —  Man 
könnte  daran  zweifeln ,  ob  Spinnen  mit  ihren  wenig  hoch- 
entwickelten Augen,  die  schönen  Farben  wirklich  wahrnehmen 
können.  Auch  in  dieser  Frage  gibt  uns  der  vorliegende  Fall 
deutliche  Fingerzeige:  Im  mediterranen  Gebiet  kommt  neben 
Eresus  noch  eine  zweite,  naheverwandte  Gattung  Stegodypkus 
vor,  bei  der  das  Männchen  fast  genau  so  gefärbt  ist  wie  das 
Weibchen.  Diese  Gattung  unterscheidet  sich  von  Eresus  da- 
durch, daß  die  vier  Mittelaugen  einen  fast  gleichen  Durch- 
messer besitzen  und  in  einem  hohen  Trapez  stehen,  während 
kei  Eresus  die  hinteren  Mittelaugen  sehr  groß  und  der 
vorderen  Augenreihe  sehr  nahegerückt  sind,  so  daß  die  Spinne 
also  nach  vorn  viel  besser  wird  sehen  können  als  Stegodyfhus. 
—  Es  fragt  sich  aber  weiter,  ob  die  Natur  alles  dies  nur  zur 
Freude  des  Weibchens  geschaffen  hat.  Es  würde  sich  dann 
um  eine  Luxusausgabe  der  Natur  handeln,  die  sich  mit  dem 
Gesetz  der  Sparsamkeit  nicht  vertrüge.  Auch  in  dieser  Frage 
gibt  unser  Fall  näheren  Aufschluß.  Die  Weibchen  der  beiden 
genannten  Gattungen  Eresus  und  Stegodypkus  sind  in  ihrer 
Tracht  und  in  ihrem  Habitus  einander  sehr  ähnlich  und  außer- 
dem ist  ihre  Farbe  sehr  veränderlich,  so  daß  der  Systematiker 
zur  sicheren  Entscheidung,  um  welche  Gattung  es  sich  han- 
delt, stets  die  Lupe  nimmt  und  die  Augenstellung  untersucht. 
Daraus  geht  hervor,  daß  auch  die  Spinnen  selbst,  wenn  sie 
sich  paaren  wollen,  Schwierigkeit  haben  könnten,  Kreuzungen 
zu  vermeiden.  Der  Geruchssinn,  der  entscheiden  könnte, 
scheint  bei  ihnen  wenig  entwickelt  zu  sein.  So  hat  denn  in 
der  schönen  Farbe  des  Männchens  wenigstens  das  Weibchen 
von  Eresus  ein  sicheres  Erkennungsmerkmal  und  da  bei  den 
Spinnen  gerade  das  Weibchen  als  der  stärkere  Teil  allein  maß- 
gebend ist,  genügt  der  auffallende  Unterschied  des  Männchens 
vollkommen,  um  Kreuzungen  zu  verhindern.  Die  sonst  bei 
verwandten  Spinnenarten  sehr  verschieden  geformten  Kopu- 
lationsorgane ,  die  ebenfalls  offenbar  die  Aufgabe  haben, 
Kreuzungen  zu  verhindern,  sind  bei  unseren  beiden  Gattungen 
einander  sehr  ähnlich,  so  daß  in  erster  Linie  der  Gesichtssinn 
entscheidet.  Die  hier  vorliegende  Erfahrung  hat  wieder  im 
Tierreich  allgemeine  Gültigkeit:  Bei  Arten,  die  einander 
äußerst  ähnlich  sind,  unterscheiden  sich  wenigstens  die  Männ- 
chen zur  Paarungszeit  in  auffallender  Weise,  entweder  durch 
Farbenmerkmale  wie  z.  B.  bei  der  Krick-  und  Knäckenle 
(Anas  crecca  und  querquedula)  oder  durch  eine  auffallende 
Stimme  bzw.  den  Gesang,  wie  z.  B.  bei  den  Laubvögeln 
{Phyllopnetiste')  oder  durch  den  Geruch,  wie  bei  vielen  Säuge- 
tieren. —  Der  hier  vorliegende  Fall  Latrodectns- Eresus  zeigt 
uns  jedenfalls  recht  klar,  eine  wie  verschiedene  Aufgabe  auf- 
fallende Farben  im  Tierreich  haben  können.  —  Zum  Schluß 
sei  bemerkt,  daß  ich  für  Mitteilung  genauer  Fundorte  dieser 
auffallenden  und  gar  nicht  zu  verkennenden  schönen  Spinne 
in  Deutschland  sehr  dankbar  sein  würde. 


Falkenhagen  W,  Post  Seegefeld. 


Prof.   Dr.  Fr.   Dahl. 


Inhalt:  Friedl  Weber,  Pflanze  und  Elektrizität.  (Schluß.)  S.  249.  L.  Lindinger,  Ein  neuer  Weg  der  Schädlings- 
forschung. S.  255.  S.  Galant,  Die  xerotherme  Ameiseninsel  Saint  Triphon.  S.  258.  —  Einzelbericbte :  O.  Pufahl, 
Ein  neues  Mineral  in  Deutsch-Südwestafrika.  S.  259.  Nervöse  Erscheinungen  bei  Tieren  infolge  von  Eingeweidewürmern. 
S.  260.  G.  Zecher,  Der  Dopplereffekt  im  Röntgenspektrum  und  die  Theorie  der  Bremsstrahlung.  S.  260.  —  Büchor- 
besprechungen :  H.  MarzeU,  Neues  illustriertes  Kräuterbuch.  S.  261.  E.  Hadfield,  Among  the  Natives  of  the 
Loyalty  Group.  S.  262.  E.  Marx,  Handbuch  der  Radiologie.  S.  262.  F.  Rüsberg,  Einführung  in  die  analytische 
Chemie.  S.  263.  —  Anregungen  und  Antworten:  Schöngefärbte  Tiere.  S.  264. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  gaiuen  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  i.  Mai  1921. 


Nummer  18. 


Eine  neue  Einteilung  der  Pflanzengesellschaften. 

Nach  einem  am  7.  April  1919  in  der  Geographischen  Gesellschaft  zu  Wien  gehaltenen  Vortrage. 


[Nachdruck  verboten. 1 


Von  Prof.  Dr.  Friedrich  Vierhapper  in  Wien. 


Die  pflanzengeographische  Forschung  strebt 
ihrem  Endziele,  die  Verbreitung  der  Gewächse  auf 
unserem  Planeten  in  ihrer  Bedingtheit  zu  verstehen, 
auf  zwei  Wegen,  dem  ökologischen  und  histori- 
schen, zu.  Die  ökologische  Richtung  zieht  hier- 
bei nur  die  gegenwärtig  auf  die  Pflanzenwelt  ein- 
wirkenden Faktoren  heran,  die  historische  greift 
auch  auf  die  Vergangenheit  zurück  und  berück- 
sichtigt vor  allem  die  im  Laufe  der  Zeiten  er- 
folgten Veränderungen  der  Faktoren,  insbesondere 
des  Klimas,  sowie  der  Kpnfiguration  der  Erdober- 
fläche, die  Pflanzenwanderungen  und  deren  Wege 
und  Schranken,  das  Aussterben  der  alten  Sippen 
und  das  Entstehen  neuer  nach  Ort,  Zeit  und  Art, 
in  welchem  Sinne  sie  auch  als  genetische  Pflanzen- 
geographie bezeichnet  wird.  Die  gesamte  Pflanzen- 
welt hieißt,  vom  ökologischen  Standpunkte  aus 
betrachtet,  Vegetation,  vom  historischen  aus  auf- 
gefaßt, Flora.  Die  ökologische  Richtung  oder 
Vegetationsforschung  vergleicht  die  Pflanzen  in 
erster  Linie  nach  ihrer  habituellen  Ähnlichkeit, 
die  vornehmlich  in  den  Vegetationsorganen  zum 
Ausdruck  kommt  —  weitgehende  Übereinstim- 
mung im  Habitus,  als  Folge  gleicher  Beeinflussung 
durch  die  Faktoren,  heißt  Konvergenz  — ,  die 
historische  oder  Florenforschung  nach  ihrer  Ver- 
wandtschaft, die  hauptsächlich  aus  den  Sexual- 
organen erschlossen  wird.  Die  beiden  Richtungen 
haben,  da  sie  vom  gleichen  Objekt,  der  Pflanze, 
ausgehen,  begreiflicherweise  viele  Berührungs- 
punkte. 

Die  historische  Pflanzengeographie  hat  bereits 
vor  40  Jahren  durch  Englers  fundamentales 
Werk  „Versuch  einer  Entwicklungsgeschichte  der 
Pflanzenwelt"  (1879 — 1882)  einen  gewissen  Höhe- 
punkt erreicht.  Durch  zahlreiche  neuere  Unter- 
suchungen, unter  denen  die  genauere  pflanzengeo- 
graphische Erforschung  bisher  wenig  bekannter 
Gebiete,  wie  des  tropischen  Afrika  und  West- 
Chinas,  die  umfassenden  klimatographischen  und 
paläontologischen  Studien  über  die  Quartärzeit 
und  die  subtilen  Monographien  polymorpher  For- 
menkreise besonders  genannt  zu  werden  verdienen, 
und  Hypothesen,  wie  die  Annahme  eines  brasilia- 
nisch-äthiopischen Kontinentes  im  späten  Meso- 
zoikum und  frühen  Tertiär  und  Simroths  Pen- 
dulationstheorie  (1907),  wurden  Englers  An- 
schauungen zwar  ausgiebig  ergänzt,  erweitert  und 
vertieft,  ohne  daß  jedoch  die  Grundlagen  seiner 
Lehre  wesentliche  Veränderungen  erfuhren,  ge- 
schweige denn  erschüttert  wurden. 

Die    ökologische    Schwesterdisziplin     scheint 


noch  nicht  auf  einem  derartigen  Höhepunkte  an- 
gelangt zu  sein,  ihm  vielmehr  erst  zuzustreben, 
indem  sie  sich  gerade  jetzt  auf  allen  Linien  in 
einem  Zustande  lebhaftester  Weiterentwicklung 
befindet.  Sie  zerfällt  in  zwei  Hauptrichtungen, 
die  autökologische  und  synökologische,  deren 
erstere  sich  mit  der  Einzelpflanze,  die  letztere  mit 
den  Pflanzenvergesellschaftungen  beschältigt.  Vor- 
aussetzung für  beide  ist  die  Lehre  von  den  Fak- 
toren in  ihrer  Einwirkung  auf  die  Pflanzen  und 
Pflanzenvereine. 

Die  Faktoren  gehören  teils  der  unbelebten, 
teils  der  belebten  Natur  an.  Die  ersteren  scheidet 
man  zumeist  in  klimatische  —  Wärme,  Licht, 
Luftfeuchtigkeit  und  -bewegung  —  und  eda- 
phische  —  Boden  und  überhaupt  Medium  — ,  die 
letzteren  oder  biotischen  bestehen  in  der  gegen- 
seitigen Beeinflussung  der  Pflanzen,  die  sich  vor 
allem  als  Konkurrenz  äußert,  sowie  in  der  der 
Vegetation  durch  die  Tiere  und  den  Menschen, 
sind  also  phyto-,  zoo-  oder  anthropobiotisch.  Der 
Unterschied  zwischen  klimatischen  und  edaphischen 
Faktoren  ist  in  Anbetracht  der  weitgehenden 
Abhängigkeit  verschiedener  Eigenschaften  des 
Mediums  vom  Klima  durchaus  kein  scharfer.  Nach 
der  Art  ihrer  Wirksamkeit  kann  man  die  Fak- 
toren in  physikalische  und  chemische  einteilen. 
Das  Studium  der  Faktoren  ist  heute  ein  überaus 
reges.  In  der  Natur  handelt  es  sich  stets  um 
einen  Komplex  von  Faktoren,  die  sich  in  kom- 
plizierter Weise,  teils  fördernd,  teils  hemmend, 
beeinflussen,  so  daß  es  sehr  schwierig  ist,  die 
Wirksamkeit  des  einzelnen  und  seinen  Anteil  am 
Gesamteffekte  richtig  einzuschätzen. 

1.  Die  Vegetatiousformen. 

Die  autökologische  Forschung  befaßt  sich  mit 
den  Pflanzensippen  an  sich,  und  zwar  sowohl  mit 
ihrer  Erscheinungsform  und  ihren  einzelnen  Merk- 
malen als  auch  mit  ihrer  Verbreitung,  soweit  sie 
durch  heute  wirksame  Faktoren  zu  erklären  sein 
mögen.  Sie  vereinigt  Sippen,  die,  gleichgültig, 
ob  sie  näher  oder  entfernter  miteinander  verwandt 
sind,  in  ihrer  Tracht,  soweit  diese  im  Einklang 
steht  mit  den  äußeren  Faktoren  und  mutmaßlich 
durch  sie  bedingt  ist,  mehr  oder  weniger  über- 
einstimmen, als  Vegetationsformen.  Für  die 
richtige  Beurteilung  dieser  kommen  in  erster  Linie 
Anpassungs-  oder  epharmotische  Merkmale  in  Be- 
tracht, Organisations-  oder  konstitutionelle  Merk- 
male nur  insoweit,  als  anzunehmen  ist,  daß  sie 
durch  Epharmose  entstanden  sind. 


266 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  18 


Der  Begriff  der  Vegetationsform  ist  also  zu- 
gleich ein  physiognomischer  und  ökologischer, 
aber  kein  phylogenetischer.  Die  Feststeilung  der 
Vegetationsformen  und  ihrer  natürlichen  Gliederung 
ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  Autökologie. 
Die  bisherigen  Auffassungen  in  dieser  Hinsicht 
weichen  nicht  unbeträchtlich  voneinander  ab,  je 
nachdem  sie  das  Hauptgewicht  mehr  auf  die 
Tracht  oder  auf  deren  oder  doch  einzelner  wich- 
tiger Merkmale  Bedingtheit  legen,  das  heißt  mit 
anderen  Worten,  mehr  das  physiognomische  oder 
das  ökologische  Moment  in  den  Vordergrund 
stellen.  Bei  überwiegender  Berücksichtigung  des 
physiognomischen  Momentes  kann  man  die  Vege- 
tationsformen als  Wuchsformen,  bei  einer  eben- 
solchen des  ökologischen  als  Lebensformen  be- 
zeichnen. Eine  gleichmäßige  Beachtung  beider 
Momente,  so  zwar  daß  das  erstere  durch  das 
letztere  zu  erklären  versucht  wird,  scheint  mir 
der  richtige  Weg  der  autökologischen  Forschung 
zu  sein. 

Lediglich  physiognomische  Einteilungen  der 
Vegetationsformen  sind  höchstens  noch  für  die 
rein  deskriptive  Geobotanik  und  Geographie  von 
Bedeutung.  Dies  gilt  vor  allem  von  der  Gliede- 
rung Humboldts  (1806,  181 1),  der  denn  auch 
seine,  ohne  Vollständigkeit  anzustreben,  namhaft 
gemachten  Grundgestalien  —  Form  der  Bananen, 
Palmen,  Baumfarne,  Aloe-  und  Pothosgewächse, 
Nadelhölzer,  Heidekräuter,  Mimosen,  Malven,  Wei- 
den, Myrten,  Melastomen,  Lorbeergewächse,  Reben 
(Lianen),  Lilien,  Kakteen,  Kasuarinen,  Gräser  und 
Schilfe,  Laubmoose,  Blätterflechten,  Hutschwämme 
—  dem  Studium  der  Landschaftsmaler  empfahl. 
Ähnliches  ist  auch  von  Grisebachs,  eines  Schü- 
lers Humboldts,  physiognomischer  Klassifi- 
kation der  Pflanzen  zu  sagen.  Dieser  Forscher 
unterschied  zunächst  (1872)  54,  später  (1874)  60 
Vegetationsformen  und  verteilte  sie  auf  7  Gruppen, 
die  Holzgewächse,  Sukkulenten,  Schlinggewächse, 
Epiphyten,  Kräuter,  Gräser  und  Zellenpflanzen. 
Obwohl  viele  seiner  Formen  für  bestimmte  Pflan- 
zenklimate  bezeichnend  sind,  wird  doch  das  System, 
da  es  sich  zu  wenig  von  konstitutionellen  Merk- 
malen emanzipiert  hat,  dem  ökologischen  Stand- 
punkte nicht  sehr  gerecht. 

Rein  ökologische  Umgrenzungen  und  Ein- 
teilungen der  Vegetationsformen  haben  den  Nach- 
teil, daß  sie  der  Erscheinungsform,  die  doch  in 
erster  Linie  der  sinnlichen  Wahrnehmung  zugäng- 
lich ist,  zu  wenig  Beachtung  schenken.  Dieser 
Vorwurf  trifft  besonders  Gams'  Übersicht,  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  aber  auch  Raunkiaers 
treffliche  Gliederung  der  Lebensformen. 

Raunkiaer  (1904,  1907,  1908)  versteht  unter 
einer  Lebensform  die  Gesamtheit  der  Pflanzen, 
welche  durch  gleiche  Art  der  Anpassung  an  die 
klimatischen  Verhältnisse  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes  ausgezeichnet  sind.  Seine  Lebensformen 
dienen  ihm  in  erster  Linie  zur  Charakterisierung 
der  Pflanzenklimate.  Als  oberstes  Einteilungs- 
moment   hat    er    die   Art    des  Schutzes   der  Ge- 


wächse gegen  die  ungünstigen  Einflüsse  der  Ruhe- 
perioden benützt,  die  in  erster  Linie  durch  das 
Vorhandensein  oder  Fehlen  von  Überdauerungs- 
knospen  und  in  ersterem  Falle  durch  den  Ort 
ihres  Auftretens  dem  Erdboden  gegenüber  zum 
Ausdruck  kommt. 

Sein  System  umfaßt  nur  die  Gefäßpflanzen. 
Diese  gliedert  er  in 

1.  Phanerophyten:  Knospen  an  ausdauernden,  aufrechten 
Sprossen :    Bäume,  Sträucher,  Zwergsträucher  usw. 

2.  Chamäphyten:  Knospen  in  der  Nähe  des  Erdbodens: 
Halbsträucher,  Spalier-  und  Polsterpflanzen  usw. 

3.  Hemikryptophyten:  Knospen  auf  dem  Erdboden  oder 
innerhalb  seiner  Laub-  oder  Moosdecke:  Stauden  mit  Aus- 
schluß von  4. 

4.  Kryptophyten;  Knospen  im  Erdboden:  Zwiebel-, 
Knollenstauden  usw. 

5.  Therophyten :  Dauerknospen  fehlend ;  Überdauerung 
nur  durch  Samen:  Kräuter. 

Später  hat  er  noch  die  beiden  Gruppen  der 
Stammsukkulenten  und  Epiphyten  hinzugefügt, 
die  Phanerophyten  in  Mega-,  Meso-  und  Nanö- 
phanerophyten  und  die  Kryptophyten,  je  nach- 
dem sie  Erd-  oder  Wasserbewohner  sind,  in  Geo- 
phyten  beziehungsweise  Helo-  und  Hydrophyten 
(Sumpf-  und  Wasserpflanzen)  getrennt. 

Was  die  Beziehungen  zum  Klima  anlangt,  so 
überwiegen  die  Phanerophyten  in  den  tropischen 
Gebieten  mit  nicht  zu  geringen  Niederschlägen, 
die  Therophyten  in  den  Winterregengebieten  der 
subtropischen  Zonen,  die  Hemikryptophyten  im 
größten  Teile  der  gemäßigten  und  kalten  Zone, 
während  die  Chamäphyten  vornehmÜch  in  letzte- 
ren herrschen. 

Besonders  originell  durch  sehr  starke  Betonung 
des  ökologischen  Momentes  bei  gleichzeitiger 
Zurückstellung  des  physiognomischen  ist  Gams' 
(1918)  Versuch  einer  Übersicht  über  die  Lebens- 
formen des  gesamten  Pflanzen-  und  Tierreiches. 
Es  wird  hier  die  gesamte  Organismenwelt  nach 
dem  verschiedenen  Verhalten  ihrer  Angehörigen 
zu  Lebensraum  und  Standort,  das  heißt  nach  ihrer 
„Ortsgebundenheit",  in  drei  Hauptgruppen  einge- 
teilt, welche  sind: 

1.  Der  adnate  Typus  =  Ephaptomenon,  die  Ge- 
samtheit der  dem  Substrat  anhaftenden  oder  in 
dasselbe  eingesenkten  Pflanzen  und  Tiere; 

2.  der  radikante  Typus  =  Rhizumenon,  umfaßt 
die  wurzelnden  Organismen,  also  fast  nur  Pflanzen; 

3.  der  errante  Typus  =  Planomenon,  vereinigt 
alles,  was  einer  Ortsveränderung  fähig  ist,  das 
sind  die  passiv  und  aktiv  schwimmenden  und 
kriechenden  Pflanzen  und  alle  frei  beweglichen 
Tiere. 

Ihrer  systematischen  Zugehörigkeit  nach  sind 
die  Pflanzen  des  ersten  Typus  fast  nur  Algen,  Pilze 
und  Flechten,  des  zweiten  in  weitaus  überwiegen- 
der Menge  Gefäßpflanzen  und  Moose,  des  dritten 
vornehmlich  Algen  und  Bakterien  nebst  relativ 
wenigen  Gefäßpflanzen  und  Moosen. 

Das  Ephaptomenon  zerfallt,  je  nachdem  die 
Formen  haftend,  und  zwar  aquatisch,  amphibisch 
oder  aerisch    oder  eingesenkt   sind,    in    vier  Sub- 


N.  F.  XX.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


267 


typen.  Von  Pflanzen  gehören  zu  den  beiden  erst- 
genannten, den  Nereiden  Warmings  (1895),  das 
Gros  der  haftenden  Algen  nebst  wenigen  Moosen 
und  Blütenpflanzen  {Podostemoitaceae),  zum  dritten 
die  Mehrzahl  der  Flechten  sowie  die  Sporenträger 
der  Pilze  und  einfach  gebaute  Algen,  zum  vierten 
nur  Sporenpflanzen.  Die  Gliederung  der  Subtypen 
erfolgt  nach  der  Art  der  Ernährung,  ob  sie  auto- 
oder  heterotroph  und  ob  sie  in  letzterem  Falle 
saprophytisch  oder  parasitisch  ist. 

Das  Rhizumenon,  das  fast  nur  aus  Gefaß- 
pflanzen besteht,  wird  im  Sinne  Raunkiaers  ge- 
gliedert. Die  wichtigsten  Abweichungen  von  diesem 
bestehen  in  der  Miteinbeziehung  von  radikanten 
Sporenpflanzen  und  in  der  Unterordnung  der 
Therophyten  unter  die  Kryptophyten.  Raun- 
kiaers Stammsukkulente  und  Epiphyten  werden 
nicht  als  eigene  Klassen  anerkannt.  Die  Phanero- 
phyten  zerfallen,  je  nachdem  sie  selbständig,  stütz- 
bedürftig oder  parasitisch  sind,  in  Stammpflanzen, 
Holzlianen  und  Holzparasiten;  die  Chamäphyten 
nach  der  Art  der  Wasseraufnahme,  ob  vorwiegend 
ober-  oder  unterirdisch  oder  beides,  in  Bryo- 
chamäphyten,  Euchamäphyten  und  Polsterpflanzen; 
die  Hemikryptophyten  nach  der  Blaltform  in  die 
schmalspreitigen  Grasartigen  (Poiodea)  und  in 
breitspreitige  und  diese  wieder,  je  nachdem  sie 
nur  Rosetten-  oder  Stengelblätter  oder  beiderlei 
besitzen,  in  Basi-,  Thyrso-  und  Basithyrsophylla; 
die  Kryptophyten  schließlich  nach  dem  Lebens- 
raume  der  Vegetationsorgane,  ob  aquatisch,  am- 
phibisch oder  terrestrisch,  in  Hydrokryptophyta, 
Amphikryptophyta  und  Geophyta  und  diese  wie- 
der, je  nachdem  sie  autotroph,  und  zwar  mit 
Bodenruhe  aus  Wassermangel  oder  aus  anderen 
Gründen,  oder  aber  heterotroph  sind,  in  Xero-,  Eu- 
und  Heterogeophyta  und  letztere  nach  der  Er- 
nährung in  Sapro-  und  Parageophyta. 

Innerhalb  des  Planomenon  gehören  die  Pflanzen 
nur  zum  ersten  Subtypus,  dessen  „Bewegung  vor- 
wiegend passiv"  ist.  Sie  verteilen  sich  auf  4  Klas- 
sen: I.  Plankton,  in  offenem  Wasser  treibend, 
2.  Pleuston,  auf  der  Oberfläche  des  Wassers 
schwimmend,  3.  Kryoplankton,  in  oder  auf  Schnee 
oder  Eis  lebend  und  4.  Edaphon,  im  Bodenwasser 
vegetierend.  Das  pflanzliche  Plankton  und  Kryo- 
plankton besteht  größtenteils  aus  einzelligen 
Algen,  das  Edaphon  aus  ebensolchen  und  Bak- 
terien, das  Pleuston  zum  Teil  aus  Algen,  zum 
Teil  aus  höheren  Pflanzen.  Das  Plankton  wird 
weiter  nach  der  Ernährung  in  Phyto-,  Sapro-  und 
Paraplankton  eingeteilt,  das  Pleuston  in  das  nur 
im  Oberflächenhäutchen  lebende  Mikropleuston 
und  das  über  oder  unter  dieses  Häutchen  ragende 
Makropleuston,  das  mit  Warmings  (1895)  Hy- 
drochariten  identisch  ist. 

Gams'  Übersicht  scheint  mir  nebst  vielen  Vor- 
zügen auch  manche  Schwächen  aufzuweisen,  so 
vor  allem  die  gemeinsame  Behandlung  der  Tiere 
und  Pflanzen,  die  zu  einer  so  unnatürlichen  Gruppe 
führt,  wie  es  das  Planomenon  ist,  und  meines 
Erachtens    höchstens    im    Bereiche    der   Protisten 


erfolgreich  durchführbar  wäre;  ferner,  vom  rein 
geobotanischen  Standpunkte  aus,  die  allzu  große 
Hintansetzung  des  physiognomischen  Momentes 
zugunsten  des  ökologischen,  wie  sie  in  der  Auf- 
teilung der  Thallophyten  unter  die  Kormophyten, 
der  Vereinigung  der  Therophyten  mit  den  Kryp- 
tophyten, der  Wertung  „phänologischer"  Merk- 
male, wie  Dauer  des  Laubes,  als  rein  konstitutio- 
neller, in  der  Auffassung  ausgesprochener  Biozö- 
nosen oder  „Synusien"  wie  Plankton  oder  Pleuston 
als  Klassen  von  Lebensformen  usw.  zum  Ausdruck 
kommt,  und  schließlich  in  der  doch  nicht  ganz 
konsequenten  Beibehaltung  des  ökologischen  Prin- 
zipes,  indem  unter  den  Hemikryptophyten  von 
den  dikotylen  Stauden  die  mehr  physiognomisch 
als  ökologisch  abweichenden  Grasartigen  als  Poi- 
odea getrennt  werden. 

Von  Einteilungen  der  Vegetationsformen,  die 
einen  zwischen  dem  physiognomischen  und  öko- 
logischen Extrem  vermittelnden  Standpunkt  ein- 
nehmen, seien  nur  die  Drudes  (zuletzt  191 3), 
Diels'  (1917)  und  Warmings  (zuletzt  1918) 
genannt.  Drude  neigt  mehr  dem  physiogno- 
mischen, Warming  dem  ökologischen  Stand- 
punkte zu,  Diels  hält  die  Mitte  zwischen  beiden. 
Drude  behandelt  die  Zellpflanzen  gesondert 
von  den  Gefäßpflanzen,  die  er  in  Aerophyten  und 
Hydrophyten  (einschließlich  Hygrophile),  d.  h.  in 
Land-  und  Wasserpflanzen,  trennt.  Die  Zellen- 
pflanzen zerlegt  er  in  11,  die  Gefäßpflanzen  in 
44  Gruppen  von  Lebensformen,  von  denen  38 
auf  die  Aerophyten,  6  auf  die  Hydrophyten  ent- 
fallen. Diese  Lebensformen,  die  er  selbst  als 
physiognomische  bezeichnet,  stimmen  zum  nicht 
geringen  Teil  mit  denen  Grisebachs  überein. 

Diels  gliedert  die  Pflanzen  in  Autotrophe  und 
Heterotrophe  und  zerlegt  erstere  in  Wasser-  und 
Landpflanzen,  die  er  den  letzteren  als  gleichwertige 
Gruppen  gegenüberstellt.  Die  Wasserpflanzen 
sondert  er  in  i.  Schwimmende  —  Mikro-,  Kryo-, 
Makroplankton  und  Hydrochariten  — ,  2.  Fest- 
sitzende —  Nereiden,  Podostemonazeen  und  Mikro- 
benthos  —  und  3.  Wurzelnde  —  Enhaliden  des 
Meeres  und*  Limnäen  des  Süßwassers;  die  Land- 
pflanzen in  I.  Flechten  —  Krusten-  und  Strauch- 
typus — ,  2.  Moose  und  3.  Gefäßpflanzen  —  und 
diese  wieder  in  Holzpflanzen  —  Wipfel-  und 
Schopfbäume,  Sträucher,  Halbsträucher,  Stamm- 
sukkulente — ,  Stauden  —  permanente  und  redi- 
vive  —  und  Kräuter  . —  Sommer-  und  Winter- 
annuelle  und  Bienne;  die  Heterotrophen  schließ- 
lich in  Bakterien,  parasitische  und  saprophytische 
Pilze  und  heterotrophe  Gefäßpflanzen. 

Warming  sondert  zunächst  die  heterotrophen 
Pflanzen,  Holoparasiten  und  -Saprophyten,  ferner 
die  Flechten,  die  Wasserpflanzen,  Moosartigen  und 
Lianen  als  eigene  Gruppen  von  den  autotrophen 
selbständigen  terrestren  Gefäßpflanzen  ab.  Diese 
teilt  er,  je  nachdem  sie  einmal  oder  öfter  blühen, 
in  Hapaxanthe  —  Sommer-  und  Winterannuelle, 
Bienne  und  pleiozyklische  (mehrjährige)  Kräuter 
—    und    Pollaxanthe    ein    und    letztere    zunächst 


26a 


NätürwissfenScllaftiiche  Wochenschrift, 


N.  F.-  XXv  Nf.-  rö 


in  solche  mit  aufrechten,  orthotropen  und  in 
kriechende  mit  liegenden,  plagiotropen  Laub- 
sprossen. Die  Orthotropen  zerfallen  in  krautige 
Gewächse  (Stauden),  Halbsträucher,  Polsterpflanzen, 
Weichstammgewächse,  Stammsukkulente  und 
echte  Gehölze;  die  Stauden  in  solche  mit  schmalen, 
grasartigen  und  mit  breiten  Blättern  und  diese 
wieder,  je  nachdem  die  Blätter  an  oberirdischen 
Langtrieben  oder  einzelnen  unterirdischen  Trieben 
entspringen  oder  zu  einer  Rosette  vereinigt  sind, 
in  L^ng-,  Blatt-  und  Rosettenstauden;  die  Lang- 
stauden werden  nach  der  Art  der  Bestückung  ein- 
geteilt in  solche  ohne  Wandersprosse  und  unter- 
irdische Speicherorgane,  mit  ober-  oder  unter- 
irdischen Ausläufern,  mit  kriechenden  dicken 
Wurzelstöcken,  Knollen  oder  Zwiebeln ;  die  echten 
Gehölze  in  dikotyle  und  monokotyle  Sträucher 
und  in  Wipfel-  und  Schopfbäume.  Die  Kriech- 
pflanzen endlich  sind  teils  krautig,  teils  Halb- 
sträucher oder  Gehölze. 

Ein  Kompromiß  zwischen  einer  rein  ökologi- 
schen und  physiognomischen  Einteilung,  mit  öko- 
logischen Haupt-  und  physiognomischen  Unter- 
gruppen hat  H.  Reiter  (1ÖÖ5)  geschlossen.  Er 
unterscheidet : 

A)  Assimilierende  Chlorophyllpflanzen.  AA.  Wurzellose 
Lagerpflanzen.  1.  Algen.  —  11.  Moose.  a)  Schorfmoose: 
Marchantien-  und  Zetrarienform.  b)  Laubmoose:  Sphagnum- 
und  Polytrichumform.  —  BB.  Wurzeltragende  Stammpflanzen. 
I.  Landpflaozen.  a)  Kräuter.  1.  Wurzelstockgewächse.  «)  Stau- 
den: Spiräen- ,  Gnaphalium- ,  Distel,  Melden-,  Chenopodien- 
und  Lythrumform ;  ß)  Gräser:  Ruchgras-,  Tbyrsa-,  Hirse-  und 
Rohrgrasform;  ;■)  Rosetten:  Pteris-,  Bromelien-,  Agaven-,  Arum-, 
Pisang-  und  Ingwerform.  2.  Zwiebelgewächse,  b)  Holzge- 
wächse. I.  Kronenträger.  «)  Sträucher.  a'  Immergrüne; 
Oleander-,  Oschur-  und  Erikenform;  ß'  Periodisch  belaubte: 
Rhamnus-  und  Sodadaform;  y'  Laublose:  Spartiumform; 
S'  Dorntragende :  Tragakanthenform ;  ß)  Wipfelbäume,  a'  Immer- 
grüne :  Lorbeer-,  Eukalypten-,  Fichten-,  Mimosen-  und  Man- 
groveform;  ß'  Periodisch  belaubte:  Buchen-  und  Sykomoren- 
form;  y'  Laublose:  Kasuarinenform.  2.  Rosettenträger. 
«)  Zwergpalmen,  ß)  Hochpalmen,  a'  Schmalspreitige :  Dra- 
zänen-,  Vellosien-,  Aloe-  und  Pandanusform;  ß'  Breilspreitige: 
Balantium-,  Palmen-  und  Aralienform.  3.  Büschelträger; 
Bambusenform.  c)  Sukkulente:  Kaktusform.  —  II.  Wasser- 
pflanzen, a)  Stabile:  Binsen-  und  Simsenform,  b)  Flutende: 
Elatinen- ,  Myriophyllum-,  Nymphäen-  und  Kastelnavienform. 
—  III.  Luftwurzelgewächse.  —  Bj  Chlorophyllose  Schmarotzer. 
I.  Haustoriumpflanzen :  Neottien-  und  Orobanchenform.'  — 
U.  Myzeliumpflanzen. 

Die  folgenden  Zeilen  enthalten  einen  neuen 
Versuch  einer  Feststellung  und  Klassifizierung  der 
natürlichen  Hauptgruppen  der  Vegetationsformen 
des  Pflanzenreiches  auf  physiognomisch- ökologi- 
scher Grundlage. 

A)  Punktpflanzen  {Punciiformes),  Einzellige  Wasser- 
oder Landpflanzen:  Fast  nur  Algen  und  Bakterien. 

I,  Autotrophe.  a)  Schwimmende,  kriechende  und  schwe- 
bende, b)  Haftende  und  eingewachsene.  —  II.  Heterotrophe. 
a)  Saprophytische.     b)  Parasitische. 

B)  Schleimpflanzen  {Mucilaginosae).  Plasmodien  der 
Schleimpilze.     Heterotroph,  landbewohnend. 

C)  Fadenpflanzen  [Filiformes).  Wasser-  und  Land- 
pflanzen, deren  Zellen,  nach  einer  Richtung  des  Raumes  an- 
einandergereiht, Fäden  bilden:  Algen,  Myzelien  der  Pilze; 
Protonemata  vieler  Moose. 

I.  Autotrophe.  a)  Schwimmende,  b)  Haftende,  c)  Wur- 
zelnde. —  II.  Heterotrophe.   a)  Saprophytische.   b)  Parasitische. 


D)  Pilzpflanzen  [Fungosae).  Sporenkörper  der  echten 
Pilze  und  Schleimpilze.     Heterotroph,  landbewohnend. 

E)  Flechtenpflanzen  (Lichenosae).  Durch  Symbiose 
autotrophe  Landpflanzen. 

I.  Emgewachsene ;  Endolithische  und  hypophlöodische 
Flechten.  —  II.  Angewachsene  und  wurzelnde;  Krusten-, 
Laub-  und  Sirauchflechten. 

F)  Lagerpflanzen  [Tkallosae).  Autotrophe,  meist  haf- 
tende, seilen  wurzelnde  oder  schwimmende  Wasserpflanzen 
mit  durch  Anordnung  nach  zwei  oder  allen  drei  Richtungen 
des  Raumes  zu  Lagern  vereinten  Zellen :  Die  meisten  Braun- 
algen und  viele  Rot-  und  Grünalgen. 

l.  Kugelige.  —  II.  Laubartige.  —  III.  Sproßartige. 

G)  Laubp  flanzen  (Frondosae).  Autotrophe,  wurzelnde 
Landpflanzen  mit  laubartigem  Assimilationskörper:  Die  meisten 
frondosen  Lebermoose  und  viele  Pteridophyien-Prothallien ; 
auch  gewisse  Laubflechten,  wie  Peltigera ,  erinnern  an  diese 
Form. 

H)  Moospflanzen  [Muscosae).  Autotroph,  wurzelnd 
oder  haftend,  mit  sproßartigem  Vegetationskörper.  Wasser- 
aufnahme allseitig:  Laubmoose  und  beblätterte  Lebermoose. 

1.  Wassermoose.  —  11.  Torfmoose.  —  III.  Landmoose. 

J)  Sproßpflanzen  [Germinosae).  Fast  stets  autotroph, 
mit  echten  Wurzeln  und  aus  Stamm  und  Blättern  bestehendem 
Assimilationskörper.  Nahrungsaulnahme  zumeist  nur  durch 
die  Wurzeln:  Farn-  und  Samenpflanzen. 

I.  Landbewohner,  a)  Holzgewächse,  b)  Halbsträucher. 
c)  Stauden,  d)  Kräuter.  —  II.  Wasserbewobner.  a)  Wur- 
zelnde,    b)  Schwimmende,     c)  Haftende  [PodosUmonaciae). 

Bei  dieser  Übersicht  leitete  mich  vor  allem 
das  Bestreben,  die  große  Formenmannigfaltigkeit 
der  Zellenpflanzen,  die  ja  nicht  nur  in  phylogene- 
tischer, sondern  auch  in  ökologischer  und  physio- 
gnomischer  Hinsicht  größere  Gegensätze  aufweisen 
als  die  Gefäßpflanzen,  wenn  dies  auch  infolge 
ihrer  meist  viel  geringeren  Größe  nicht  so  in  die 
Augen  springt,  mehr  zum  Ausdruck  zu  bringen 
als  dies  bisher  der  Fall  war.  Die  Abtrennung  der 
Zellenpflanzen  von  den  Gefäßpflanzen  ist  aber 
nicht  nur  physiognomisch,  sondern  auch  ökolo- 
gisch gerechtfertigt.  Denn  während  diese  großen- 
teils klimatisch  bedingt,  sind  jene  vom  Klima 
weniger  als  vom  Substrate  abhängig,  was  sie  auch 
für  ein  System,  das  in  erster  Linie  zur  Charakte- 
risierung der  Klimate  dient,  wie  dasRaunkiaers, 
entbehrlicher  macht.  Gleich  der  Absonderung 
der  Zellenpflanzen  erscheint  mir  auch  ihre  Gliede- 
rung in  mehrere  Haupttypen  nicht  nur  physio- 
gnomisch, sondern  auch  ökologisch  gerechtfertigt. 

Während  für  die  Unterteilung  der  Haupttypen 
der  Zellenpflanzen  als  wichtigste  Momente  die 
Art  der  Orisgebundenheit  und  Ernährung  in  Be- 
tracht kommen,  spielt  bei  der  der  Gefäßpflanzen 
speziell  letztere  eine  viel  geringere  Rolle.  Diese 
werden  vielmehr  naturgemäß  zunächst  nach  dein 
Lebensorte  in  Wasser-  und  Landbewohner  einge- 
teilt. Die  ersteren  sind  gleich  den  meisten  Zellen- 
pflanzen hauptsächlich  edaphisch,  die  letzteren 
größtenteils  vorwiegend  klimatisch  bedingt.  Nur 
beim  Zustandekommen  sehr  extremen  Bodenver- 
hältnissen —  Salzreichtum,  Fels-,  Schutt-,  Sand- 
böden usw.  —  ausgesetzter  Formen,  wie  Halo- 
phyten,  Chasmophyten,  Schuttwanderer,  Sand- 
festiger usw.,  können  auch  hier  edaphische  Ein- 
flüsse ausschlaggebend  sein. 

Die  weitere  Gliederung  der  landbewohnenden 
Gefäßpflanzen  wird  verschieden  ausfallen,  je  nach- 


N.  F.  XX.  Nr.  18 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


269 


dem  sie  rein  ökologisch  oder  ökologisch-physio- 
gnomisch  sein  will.  Ein  Muster  in  ersterem  Sinne 
ist  Raunkiaers  Einteilung.  Sie  wäre  nur  durch 
Hervorhebung  aller  edaphisch  bedingten  Formen 
neben  den  klimatischen  zu  ergänzen.  Treffliche 
Systeme  der  zweiten  Art  sind  die  schon  genannten 
Drudes  und  Warmings. 

Eine  lediglich  physiognomische  Gruppierung 
kann  nur  von  deskriptiver  Bedeutung  sein.  Als 
wichtigstes  Einteilungsmoment  käme  in  dieser 
Hinsicht  meines  Erachtens  das  Verhältnis  zwischen 
Blättern  und  Stamm  des  Sprosses,  ob  erstere  oder 
letzterer  überwiegen  oder  sich  beide  gleichmäßig 
am  Aufbau  der  Triebe  beteiligen,  sowie  des 
Sprosses  zur  Wurzel  in  Betracht.  Bei  konsequenter 
Anwendung  dieses  Momentes  lassen  sich  folgende 
physiognomische  Hauptgruppen  der  Wuchsformen 
der  terrestrischen  Sproßpflanzen  unterscheiden, 
wobei  jedoch  kein  Anspruch  auf  Vollständigkeit 
erhoben  wird. 

A)  Blattpflanzen.  I.  Karnblattypus :  Farne,  Zykadeen. 
—  11.  Scheidenblallypus:  die  meisten  Monokotyledonen  und 
IVtlwiischia.  a)  Gras-,  b)  Binsen-,  c)  Schwerte!-,  d)  Palmen-, 
e)  Arajeen-,  f)  Pisang-,  g)  Amaryllideen-,  h)  Aloe-,  i)  Bro- 
melieniypus. 

Bi  Blattstammpflanzen.  I.  Nadel-  und  Scbuppen- 
blatlypus:  Lykopodiazeen,  Koniferen,  Erikazcen  usw.  — 
II.  Flachblatlypus :  Die  meisten  Dikoiyledonen,  wenige  Mono- 
kotyledonen, Gnelum.  — III.  Dornblaltypus ;  Astragalus,  Acan- 
iholimon  usw.   —  IV.  Dickblattypus:  Dikotyle  Blaitsukkulente. 

C)  Stammpflanzen.  I.  Rutenstammtypus:  Eipiisitum, 
Ephedra,  Casuannu,  Spuitium  usw.  —  II.  Flachstammtypus: 
Phyltocaclus  usw.  —  111.  Dornstammtypus:  Dornbüsche.  — 
IV.  Dickstamratypus:  Stammsukkulente.  —  V.  Bleicbslamm- 
typus :  Heterotrophe  wie  Orobancitr,  A'eotlhi,  Cuscuta. 

D)  W  u  r  z  e  1  p  f  1  a  n  z  e  n.     Tacniophyllum. 

Die  aquatischen  Sproßpflanzen  zerfallen  bei 
analoger  Einteilung  nur  in  Blatt-  und  Blattstamm- 
pflanzen. Unter  den  ersteren  könnte  man  haupt- 
sächlich einen  Band-  und  Schwimmblattypus,  unter 
den  letzteren  einen  Lineal-  und  Schlitzblattypus 
auseinanderhalten. 

Was  die  Verbreitung  der  Sippen  anlangt,  so 
sucht  die  Autökologie  vor  allem  die  Vegetations- 
linien festzustellen,  das  sind  Verbreitungsgrenzen, 
welche  lediglich  ökologisch,  und  zwar  klimatisch 
bedingt  sind  und  daher  mit  klimatischen  Kurven 
zusammenfallen.  Da  aber  die  Verbreitung  jeder 
Sippe  durch  einen  ganzen  Komplex  von  Faktoren 
bedingt  ist,  sind  reine  Vegetationslinien,  wenn  es 
überhaupt  welche  gibt,  jedenfalls  sehr  selten. 


Die  synökologische  Pflanzengeographie  ist  die 
Lehre  vom  Zusammenvorkommen  der  Pflanzen, 
von  den  Vegetationsgebieten  und  -formationen. 
Vegetationsgebiete  sind  Abschnitte  der  Erdober- 
fläche, welche  infolge  einheitlicher  ökologischer, 
vor  allem  durch  das  Klima,  und  zwar  auf  dem 
Lande  in  erster  Linie  durch  Wärme  und  Feuchtig- 
keit, bedingter  Verhältnisse  einen  einheitlichen 
Vegetationscharakter  besitzen.  Die  größten  Vege- 
tationsgebiete sind  die  Vegetationszonen.  Sie 
fallen    mit    den     geographischen    Wärme-    und 


Trockengürteln  zusammen.  A.  De  Candolle 
(1874)  teilt  die  Sippen,  ohne  wie  Raunkiaer 
auf  ihre  Physiognomie  Rücksicht  zu  nehmen, 
lediglich  nach  ihren  Ansprüchen  an  Wärme  und 
Feuchtigkeit  in  fünf  Gruppen,  deren  jede  für  eine 
Vegetationszone  bezeichnend  ist,  und  zwar: 

1.  Hydromegathermen.  Mit  dem  größten  Bedürfnis  nach 
Wärme  und   Feuchtigkeit:  Tropische  Regenwaldgebiete. 

2.  Xerothermen  Brauchen  viel  Wärme  und  ertragen 
andauernd  große  Trockenheit:  Subtropische  Wüsten-  und 
Steppengebiete. 

3.  Mesotheimen.  Verlangen  ziemlich  viel  Wärme  und  zu 
gewissen  Zeiten  reichliche  Niederschläge :  Hartlaubgebieie  der 
subtropischen  und  warmgemätigten  Zonen. 

4.  Mikrotbermen.  Mit  geringerem  Wärmebedürfnis,  je- 
doch gleichmäßig  verteilte  Niederschläge  verlangend:  Wald- 
und  Wiesengebiete  der  gemäßigten  Zonen. 

5.  Hekistothermen.  Mit  den  bescheidensten  Wärmean- 
sprüchen: Tundren-  und  Eisgebiete  der  kalten  Zonen. 

Die  infolge  der  Wärmeabnahme  mit  steigen- 
der Meereshöhe  vertikal  übereinander  liegenden 
Vegetationsgebiete  nennt  man  Vegetationsstufen. 
Die  Angehörigen  der  höchsten  dieser  Stufen  sind 
gleich  denen  der  Polargebiete  Hekistothermen. 
In  äquatorialen  Hochgebirgen  kann  man  eine  Auf- 
einanderfolge von  Sippen  verschiedener  Wärme- 
ansprüche von  Hydromegathermen  bis  zu  Hekisto- 
ther-men  beobachten.  Durch  klimatische  Ver- 
schiedenheiten innerhalb  der  größten  Vegatations- 
gebiete,  der  Zonen  und  Stufen,  werden  kleinere, 
Provinzen,  Bezirke  usw.,  bedingt.  Gleich  den  Kli- 
maten,  von  denen  sie  abhängig  sind,  gehen  diese 
Gebiete  entweder,  z.  B.  in  Ebenen,  allmählich  in- 
einander über,  oder  sind,  wie  an  der  Sonnen-  und 
Schattenseite  einer  ost-westlich  streichenden  Ge- 
birgskette,  mehr  oder  weniger  scharf  geschieden. 

Im  Wasser,  wo  die  edaphischen  Einflüsse  über- 
wiegen, ist  die  klimatische  Gliederung  der  Vege- 
tation in  Gebiete  im  großen  und  ganzen  nicht  so 
ausgesprochen  wie  auf  dem  Festlande.  Eine  ver- 
tikale Abstufung  wird  vornehmlich  durch  Licht- 
differenzen hervorgerufen. 

2.  Die  Yegetationsforniationeu. 

Innerhalb  der  klimatisch  bedingten  Gebiete  ist 
die  Vegetation  in  erster  Linie  infolge  abweichen- 
der Bodenbeschaffenheit  der  Standorte,  also  aus 
edaphischen  Ursachen,  in  physiognomisch  ver- 
schiedene Pflanzengesellschaften,  Formationen,  ge- 
gliedert. Das  Volk  kennt  solche  schon  lange  und 
hat  sie  mit  eigenen  Namen,  wie  Wald,  Wiese, 
Steppe,  Macchia,  Phrygana,  Scrub  usw.  belegt.  In 
die  Wissenschaft  wurde  der  Formationsbegriff  durch 
Grisebach  (1838)  eingeführt:  „Ich  möchte  eine 
Gruppe  von  Pflanzen ,  die  einen  abgeschlossenen 
physiognomischen  Charakter  trägt,  wie  eine  Wiese, 
ein  Wald  usw.,  „eine  pflanzengeographische  For- 
mation" nennen.  Sie  wird  bald  durch  eine  einzige 
gesellige  Art,  bald  durch  einen  Komplex  der  vor- 
herrschenden Arten  derselben  Familie  charakteri- 
siert, bald  zeigt  sie  ein  Aggregat  von  Arten.  .  . 
Diese  Formationen  nun  wiederholen  sich  überall 
nach  lokalen  Einflüssen.  .."  Grisebach  legt 
also  in  seiner  Definition  das  Hauptgewicht  auf  die 


270 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


N.  F.  XX.  Nr.  i8 


Physiognomie,  spricht  aber  auch  von  der  Bedingt- 
heit —  durch  „lokale  Einflüsse"  —  und  deutet 
sogar  an,  daß  es  sich  um  etwas  Abgeschlossenes 
handelt.  Die  von  Grisebach  betonten  Momente 
finden  sich  auch  in  den  späteren  Definitionen 
wieder.  Während  aber  Grisebach  auch  auf  die 
Zusammensetzung  der  Formationen  aus  Arten, 
also  auf  ein  floristisches  Merkmal,  Bedacht  nahm,  . 
wurde  später  hiervon  abgesehen  und  die  Forma- 
tion nur  mehr  durch  die  Vegetationsformen,  also 
rein  ökologisch,  gekennzeichnet.  So  sagt  Schrö- 
ter (1902):  „Eine  Formation  umfaßt  sämtliche 
Bestandestypen  der  ganzen  Erde,  welche  in  ihrer 
Physiognomie  (d.  h.  ihren  Lebensformen)  und  in 
den  Grundzügen  ihrer  Ökologie  übereinstimmen, 
während  die  Artenlisten  gleichgültig  sind";  und 
Drude  (1905):  „Als  Vegetationsformation  gilt 
jeder  selbständige,  einen  natürlichen  Abschluß  in 
sich  selbst  findende  Hauptbestand  gleichartiger 
oder  durch  innere  Abhängigkeit  unter  sich  ver- 
bundener Vegetationsformen  auf  örtlich  veranlaßter 
Grundlage  derselben  Existenzbedingungen."  Das 
Abgeschlossensein  hat  besonders  Beck  (1902)  als 
bezeichnend  für  die  Formation  hervorgehoben,  in- 
dem er  von  jeder  Pflanzenformation  verlangt,  „daß 
sich  bestimmte  Vegetationsformen,  d.  h.  Pflanzen, 
deren  äußere  Form  sowohl  wie  deren  Leben  sich 
bestimmten  Lebensbedingungen  angepaßt  hat, 
überall  gesellig  vereinen  und  in  ihrer  Vereinigung 
einen  längere  Zeit  dauernden  Abschluß  finden", 
durch  welchen  jede  Formation  „das  ihr  eigentüm- 
liche physiognomische  Gepräge"  erreicht.  Als  ab- 
geschlossene Gesellschaften  sind  in  diesem  Sinne 
nicht  etwa  nur  Klimaxformationen,  sondern  alle 
jene  zu  verstehen,  deren  Komponenten  in  einem 
den  jeweilig  herrschenden  ökologischen  Bedingun- 
gen entsprechenden  Gleichgewichtszustande  als 
Resultat  ihres  Konkurrenzkampfes  sich  befinden. 
„Jede  Pflanzenformation  ist  also  nur  so  lange  als 
bestehend  zu  erachten  und  zu  unterscheiden,  als 
die  Lebensbedingungen  ihrer  Bestandteile  die 
gleichen  bleiben.  Eine  Formation,  die  nicht  nur 
physiognomisch- ökologisch,  durch  ihre  Vegetations- 
formen und  deren  Abhängigkeit  von  den  Stand- 
ortsfaktoren, sondern  auch  floristisch,  durch  ihren 
Artbestand,  charakterisiert  wird,  heißt  Assoziation. 
In  diesem  Sinne  die  Definition  Flahaults  und 
Schröters  (191  o):  „Eine  Vegetationsformation 
ist  der  gegenwärtige  Ausdruck  bestimmter  Lebens- 
bedingungen. Sie  besteht  aus  Assoziationen,  welche 
in  ihrer  floristischen  Zusammensetzung  verschieden 
sind,  aber  in  erster  Linie  in  den  Standortsbedin- 
gungen, in  zweiter  Linie  in  ihren  Lebensformen 
übereinstimmen."  Während  die  Formation  vor- 
wiegend ökologisch,  ist  die  Assoziation  auch  histo- 
risch bedingt. 

Die  wichtigsten  Momente  für  die  Charakteri- 
sierung und  Einteilung  der  Formationen  sind 
deren  Physiognomie  und  ökologische  Bedingtheit. 
Bei  der  Bewertung  einer  Pflanzengesellschaft  als 
Formation  ist  stets  deren  Entwicklungsstadium  in 
Betracht  zu  ziehen. 


Die  nächstfolgenden  Zeilen  enthalten  einige 
Angaben  über  Physiognomie,  Ökologie  und  Ent- 
wicklung der  Formationen,  soweit  diese  Momente 
für  eine  natürliche  Gliederung  derselben  von  Be- 
deutung sind. 

1.  Die  Physiognomie.  Sie  ist  es,  welche 
sich  zunächst  den  Sinnen  offenbart  und  auf  Grund 
derer  der  Mensch  schon  seit  langem  die  Forma- 
tionen unterschieden  und  benannt  hat.  Die  Phy- 
siognomie der  Formationen  kommt  zustande: 

a)  Durch  die  Art  der  sie  zusammensetzenden 
Vegetationsformen  und  deren  Mengenverhältnis. 
Das  Aussehen  der  Formationen  ist  ein  sehr  ver- 
schiedenes, je  nachdem  einzelne  Vegetationsformen, 
wie  Bäume,  Sträucher,  Grasartige,  Moose,  Flechten 
usw.,  den  Ton  angeben  oder  mehrere  an 
ihnen  ungefähr  gleichen  Anteil  haben.  So  be- 
ruht beispielsweise  der  physiognomische  Unter- 
schied zwischen  einem  Hoch-  und  Niedermoor 
vielfach  darauf,  daß  in  ersterem  Sphagnen  allein 
dominieren,  in  letzterem  aber  sich  Grasartige  mit 
Moosen  in  die  Vorherrschaft  teilen.  Zur  Fest- 
stellung der  quantitativen  Anteilnahme  der  einzel- 
nen Sippen  an  der  Zusammensetzung  von  Asso- 
ziationen wurden  verschiedene  Methoden  mit  teils 
größerem,  teils  geringerem  Erfolge  angewendet. 

b)  Durch  die  Schichtung.  Nach  der  Zahl  der 
Schichten  kann  man  ein-  und  mehrschichtige 
Formationen  unterscheiden.  So  ist  z.  B.  nach 
Kern  er  (1863)  in  einem  Fichten walde  ein  Gefilz 
von  Moosen  als  untere,  ein  Geblätt  von  Farnen 
als  mittlere  und  das  Gehölz  der  Fichten  als  obere 
Schichte  ausgeprägt.  Hierzu  kommt  noch  als 
unterste  Schichte  das  „Gefäde"  der  den  Boden 
durchspinnenden  Pilzmyzelien  nebst  den  zum  Eda- 
phon  gehörigen  Bodenbakterien.  Am  reichsten 
geschichtet  ist  jedenfalls  der  tropische  Regenwald. 
—  Diese  Schichten  entsprechen,  soweit  sie  aus 
Angehörigen  einer  einzigen  Lebensform  zusammen- 
gesetzt sind  Gams'  (1918)  Synusien  1.  und  2. 
Grades,  worunter  dieser  Forscher  Gesellschaften 
von  Pflanzen  —  und  Tieren  —  versteht,  deren 
selbständige  —  nicht  abhängige  —  Komponenten 
der  gleichen  Art  bzw.  verschiedenen  Arten  der 
gleichen  Klasse  von  Lebensformen  angehören. 
Diese  Synusien  sowie  die  dritten  Grades,  die  aus 
verschiedenen  durch  feste  Korrelationen  miteinan- 
der verbundenen  Synusien  i.  und  2.  Grades  be- 
stehen, sind  nach  Gams  rein  synökologische  Ein- 
heiten. Die  Formation  in  unserem  Sinne  dagegen 
ist  ihm  eine  topographische  Einheit  —  „Phyto- 
zönose"  — ,  welche  die  an  einen  Standort  gebun- 
dene Vegetation  umfaßt,  gleichgültig  ob  sie  öko- 
logisch einheitlich  ist  oder  nicht,  und  in  der  Regel 
aus  mehreren  in  mehr  minder  inniger  Abhängig- 
keit voneinander  stehenden  Synusien  und  Einzel- 
organismen („Clans")  aufgebaut  ist.  „Die  ver- 
schiedenen Schichten  der  Wälder  sind  als  getrennte 
Synusien  zu  betrachten,  die  nur  durch  ziemlich 
schwache  Korrelationen  verbunden  und  daher 
einer  weitgehenden  Alternanz  fähig  sind."  Glei- 
ches gilt  von  denen  vieler  Sümpfe  usw.   Während 


N.  F.  XX.  Nr.  18 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


271 


für  den  Geographen  die  Kenntnis  der  Formationen 
im  Vordergrunde  des  Interesses  steht,  ist  es  auch 
Aufgabe  des  Ökologen,  die  Zusammensetzung  der 
Synusien  festzustellen  und  ihre  Ökologie  zu  unter- 
suchen. Es  obliegt  ihm  auch  zu  erkunden,  inwie- 
weit die  Synusien  einer  Formation  nur  durch  den 
Standort  zusammengehalten,  inwieweit  enger  mit- 
einander verknüpft  sind.  Je  enger  diese  Ver- 
knüpfung, desto  mehr  ist  es  gerechtfertigt ,  auch 
die  Formation  als  eine  rein  ökologische  Einheit 
zu  bezeichnen.  Mit  Garns'  Synusien  i.  und  2. 
Grades  stimmen  auch  Drudes(i9i9)  Elementar- 
assoziationen, abgesehen  davon,  daß  dieser  Forscher 
das  floristische  iVIoment  stärker  in  den  Vorder- 
grund stellt,  gut  überein.  Von  den  gewisser- 
maßen horizontal  geschichteten  „Mosaikformatio- 
nen" wird  noch  die  Rede  sein. 

c)  Durch  den  Grad  des  Zusammenschlusses. 
Die  eine  Formation  zusammensetzenden  Individuen 
sind  entweder  einander  so  sehr  genähert,  daß  sie 
den  Boden  vollkommen  bedecken,  oder  durch 
mehr  minder  große  Zwischenräume  getrennt,  auf 
denen  die  Unterlage  zutage  tritt.  In  ersterem 
Falle  spricht  man  von  einer  geschlossenen,  in 
letzterem  von  einer  offenen  Formation.  Die  bei- 
den Extreme  sind  durch  viele  Zwischenstufen  ver- 
bunden. Offene  Pflanzengesellschaften  sind  ent- 
weder Anfangsstadien  geschlossener  Formationen 
oder  aber,  unter  andauernd  ungünstigen  klimati- 
schen oder  edaphischen  Verhältnissen  Endstadien 
in  der  Entwicklung  der  Vegetation.  In  offenen 
Formationen  kämpfen  die  Pflanzenindividuen  nur 
oder  doch  vornehmlich  gegen  die  Unbilden  von 
Klima  und  Boden,  in  geschlossenen  befinden  sie 
sich  überdies  in  gegenseitigem  Wettbewerb. 

d)  Durch  die  Aspekte.  Unter  Aspekt  versteht 
man  das  Aussehen  einer  Formation  zu  einem  be- 
stimmten Zeitpunkte  des  Jahres.  Der  Grund  für 
die  gesetzmäßige  Änderung  des  Aspektes  einer 
Formation  im  Verlaufe  einer  bestimmten  Zeit  liegt 
in  der  Periodizität  ihrer  Konstituenten.  Ver- 
schiedene Formationen  bieten  im  allgemeinen  in- 
folge der  verschiedenen  Periodizität  ihrer  Ange- 
hörigen zur  gleichen  Zeit  verschiedene  Aspekte. 
Außer  den  Vegetationsformen  und  ihrem  Mengen- 
verhältnis ist  nichts  in  so  hohem  Grade  wie  die 
Aspekte  geeignet,  die  Beziehungen  einer  For- 
mation zu  den  Faktoren,  vor  allem  dem  Klima, 
besser  zu  veranschaulichen  als  die  Aspekte.  In 
jüngster  Zeit  hat  Gams  (1918)  zur  Darstellung 
der  Lebensformen  und  Aspekte  von  Formationen 
—  durch  sog.  „phäno-ökologische  Spektra"  — 
eine,  wie  mir  scheint,  sehr  glückliche  Methode 
angewendet. 

2.Die  Ökologie.  Gleich  den  Vegetationsformen 
werden  auch  die  von  diesen  aufgebauten  For- 
mationen in  erster  Linie  durch  das  Medium  — 
Land  oder  Wasser  —  bestimmt.  Auf  dem  Fest- 
lande sind  jene  vor  allem  von  klimatischen  Fak- 
toren, wie  Licht,  Luftfeuchtigkeit  und  bewegung, 
und  nur  in  geringerem  Grade  vom  Boden  und 
zwar  hauptsächlich  von  seiner  Konsistenz,   ob  er 


felsig,  schotterig,  sandig  usw.,  weniger  von  seiner 
chemischen  Beschaffenheit  —  Salzgehalt!  —  ab- 
hängig; diese  hingegen,  wenigstens  innerhalb  eines 
bestimmten  Vegetationsgebietes,  umgekehrt  vor- 
nehmlich durch  edaphische  Momente  bedingt, 
unter  denen  Feuchtigkeit  und  Nährstoffgehalt  des 
Bodens  eine  mindestens  ebenso  große  Rolle  spielen 
wie  sein  Zusammenhalt.  Im  Wasser  ist  für  beide 
die  Art  des  Lebensraumes  besonders  maßgebend ; 
ob  die  Individuen  sich  im  freien  Wasser  aufhalten 
oder  an  das  Ufer  gebunden  sind;  und  ob  sie  in 
ersterem  Falle  auf  der  Oberfläche  schwimmen  oder 
in  tieferen  Schichten  schweben,  in  letzterem  an 
festem  Gestein  festgewachsen  sind  oder  in  losem 
wurzeln ;  ferner  der  Bewegungszustand  des  Wassers, 
ob  es  steht,  fließt  oder  brandet,  und  sein  Gehalt 
an  Nährstoffen. 

Sind  so  die  Formationen  vom  Substrate  ab- 
hängig, so  beeinflussen  sie  es  andererseits,  indem 
sie  es  durch  mehr  oder  weniger  unvollständige 
Zersetzung  der  absterbenden  Individuen  oder  doch 
derer  Organe  in  höherem  oder  geringerem  Grade 
mit  organischer  Substanz  bereichern.  Durch  eine 
derartige  allmähliche  Veränderung  der  edaphischen 
Verhältnisse  kann  sich  eine  Formation  gewisser- 
maßen selbst  das  Grab  graben  und  den  Boden 
für  eine  anders  geartete  Nachfolgerin,  ein  Folge- 
stadium, vorbereiten.  Von  diesen  Sukzessionen 
ist  später  noch  die  Rede. 

Von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung  für 
die  Ausgestaltung  der  Formationen  sind  die  Tiere. 
In  erster  Linie  sind  es  die  Bodenbewohner,  deren 
Wirksamkeit  mit  dem  Gedeihen  der  Formationen 
so  innig  verknüpft  sein  kann,  daß  sich  beide  zu 
Lebensgemeinschaften  höherer  Ordnung,  „Bio- 
zönosen" ergänzen.  Auf  dem  Festlande  kommen 
vor  allem  Regenwürmer,  in  geringerem  Grade 
auch  Myriopoden,  Insektenlarven  usw.  in  Betracht. 
Insbesondere  die  ersteren  sind  es,  welche  den 
Boden  durchlüften,  düngen,  seine  Partikelchen 
vermischen  und  so  seine  physikalischen  und  che- 
mischen Eigenschaften  wesentlich  verändern.  Nicht 
zu  vergessen  sind  auch  die  terrikolen  Feinde  der 
genannten  Tiere,  wie  Maulwürfe,  Ameisen  usw„ 
die  auch  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Beschaffen- 
heit der  Formationen  sind.  Im  Meeresboden 
spielen  Arten  von  Arenicola  usw.  eine  der  der 
Regenwürmer  analoge,  wenn  auch  bescheidenere 
Rolle.  In  zweiter  Linie  sind  die  Weidetiere  zu 
nennen,  welche  bei  ihrem  Weidegange  die  For- 
mationen teils  durch  mechanische  Schädigung  in 
ihrer  Physiognomie,  teils  durch  Düngung  öko- 
logisch verändern  können. 

In  gleichem  Sinne  wie  die  Tiere,  jedoch  viel 
intensiver,  weil  bewußt,  beeinflußt  der  Mensch  die 
Formationen.  Er  wirkt  einerseits  durch  die  Tiere, 
indem  er  viele  Pflanzenvereinigungen  seinen  Herden 
zur  Beweidung  überläßt,  und  andererseits  direkt, 
indem  er  durch  Ackern,  Einbringen  der  Ernte  und 
Düngung  die  physikalische  Beschaffenheit  und  den 
Nährstoffgehalt  des  Bodens  erheblich  modifiziert 
und  durch  den  Schnitt  der  Sense  und  Sichel  eine 


272 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  N.  XX.  Nr.  i8 


Auslese  der  Vegetationsformen  hervorruft.  In- 
wieweit die  menschliche  Tätigkeit  Sukzessionen 
veranlaßt,  soll  später  noch  erörtert  werden. 

Die  eben  betonte  Abhängigkeit  der  Formationen 
von  edaphischen  Verhältnissen,  die  insbesondere 
Seh  im  per  (1898)  durch  seine  Definition  „Man 
nennt  die  durch  die  Bodenqualiläten  bedingten 
Pflanzenvereine  Formationen"  hervorhebt,  läßt  sich 
vor  allem  aus  der  Tatsache  erkennen,  daß  im  all- 
gemeinen unter  sonst  gleichen  Umständen  an 
Stellen  mit  gleicher  Bodenbeschafifenheit  eine  und 
dieselbe  Formation,  an  edaphisch  verschieden- 
artigen dagegen  verschiedene  Formationen  sich 
finden.  Beobachtet  man  nun  aber  die  Bodenquali- 
täten innerhalb  einer  Pflanzengesellschaft,  die  man 
ihrer  einheitlichen  Gesamtphysiognomie  wegen  als 
einer  einheitlichen  Formation  zugehörig  ansprechen 
muß,  wie  etwa  in  einer  Sumpfwiese  oder  einem 
Nadel  walde,  so  zeigt  es  sich,  daß  dieselben  durch- 
aus nicht  immer  in  allen  Teilen  die  gleichen  sind, 
sondern  vielmehr  oft  erheblich  voneinander  ab- 
weichen. Daß  schon  auf  kleinstem  Räume  die 
edaphischen  Verhältnisse  sehr  verschieden  sein 
können,  hat  G.  Kraus  (1911)  in  überaus  ein- 
gehender Weise  dargetan.  Er  gelangte  zu  dem 
Resultate,  „daß  der  Natur(Wild-)boden  im  Gegen- 
satz zum  Kulturboden  nirgends  gleichartig,  sondern, 
wie  man  sich  am  einfachsten  vorstellt,  aus  einem 
über  jede  Erwartung  mannigfaltigen  Mosaik  che- 
misch und  physikalisch  verschiedenster  Boden- 
flecke besteht.  Es  ist  auf  kleinstem  Raum  in 
der  Natur  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  che- 
misch und  physikalisch  verschieden  gebauter 
.Standorte'  gegeben.  Die  Einheitlichkeit  einer 
Formation  vermögen  aber  derartige  Unterschiede 
der  Faktoren  auf  kleinstem  Raum  nicht  zu  beein- 
trächtigen. Sie  bedingen  höchstens  den  Arten- 
reichtum einer  jungen  Formation  im  Gegensatze 
zur  Armut  einer  älteren  mit  mehr  ausgeglichenen 
Bodenqualitäten." 

Anders  liegen  die  Dinge,  wenn  es  sich  um 
edaphische  und  klimatische  Unterschiede  auf 
größerem  Raum  handelt,  wie  etwa  in  einer  trocke- 
nen felsigen  Alpenmatte,  in  der  die  dominierende 
Grasflur  vielfach  unterbrochen  ist  von  den  auf 
ihrer  glatten  Oberfläche  Lithos  (Vierhapper 
1918)  und  in  ihren  Spalten  eine  Chasmophyten- 
vegetation  tragenden  kleinen  Felsköpfen,  an  deren 
Schattseite  in  feuchten  Klüften  usw.  oft  noch 
einzelne  Schneetälchenpflanzen  oder  andere  mehr 
minder  hygrophile  Typen  sich  als  Formations- 
fragmente i)  aufhalten.  Eine  solche  Matte  ist,  um 
einen  von  DuRietz  (1918)  geprägten  Ausdruck 
zu  gebrauchen,  als  Formationskomplex,  oder,  wenn 
man  auch  auf  die  floristische  Zusammensetzung 
Rücksicht  nimmt,  als  Assoziationskomplex  zu  be- 
zeichnen. Analog,  wenn  auch  in  gewissem  Sinne 
umgekehrt,  indem  der  Lithos  der  nackten  Flächen 
über   die    Grasflur-    oder    Gehölzformationen    der 


')  Nach  Du  Rietz'  (1907)  Assoziationsfragmente. 


humusreichen  Bänder  das  Übergewicht  hat,  ver- 
hält sich  die  Vegetation  vieler  Felsen.  Besonders 
typische  Formaiionskomplexe  sind  jene  Hoch- 
moore, in  denen  Kolke  mit  flutenden  Sphagnen 
wie  Sphagnum  cuspidatum  und  recurvum  und 
anderen  Moosen  wie  Hypnum  fluitans,  ferner  mit 
Utriciilaria-hxr.&n,  vielen  Desmidiazeen  und  ande- 
ren Planktonten  usw.,  Schienken  mit  Sphagnum 
papillosum  und  anderen  Arten,  die  einen  mittleren 
F"euchtigkeitsgrad  lieben,  Moosen  wie  Hylocotumm 
Schreberi,  Aulacomnium  palustre  und  Blüten- 
pflanzen wie  Drosera- ?s.xX.^i\ ,  Scheiichseria  palu- 
stris, Carex  liniosa  und  Bülten  mit  Legtöhre, 
Vaccinium  myrtülus,  uUginosum  und  vitis  idaea, 
Calluna  vulgaris,  Eriophoruni  vaginatmn,  relativ 
trockene  Standorte  bevorzugenden  Sphagnen  und 
anderen  Moosen  usw.  miteinander  abwechseln.  Es 
sind  dies  in  lebhafter  Weiterentwicklung  begriff'ene 
Vergesellschaftungen,  die  einem  bestimmten  End- 
stadium zustreben,  das  je  nach  den  sonstigen 
Umständen  ein  Sphagnum-,  Heide-  oder  Kiefern- 
moor sein  kann.  In  ähnlichem  Sinne  sind  auch 
Wiesenmoore  mit  Weiden-  oder  Erlengebüschen, 
Laubwiesen  usw.  wohl  vielfach  als  Formations- 
komplexe zu  bewerten,  die  im  Laufe  der  Zeit  zu 
einfachen  Formationen  werden  können.  Anderer- 
seits sind  Grasfluren,  deren  homogener  Charakter 
nur  durch  die  abweichende  Vegetation  von  Maul- 
wurfshügeln unterbrochen  wird,  unbestreitbar,  da 
letztere  mit  ihnen  organisch  verknüpft  sind,  als 
einheitliche  Formationen  oder,  wenn  man  die 
Tiere  dazurechnet,  als  Biozönosen,  anzusprechen. 
Auch  möchten  wir  Wälder,  deren  Unterwuchs  an 
verschiedenen  Stellen  infolge  verschiedener  Boden- 
beschaffenheit, Belichtung  oder  anderer  Faktoren 
ein  abweichender  ist,  wie  z.  B.  in  Fichtenwäldern 
bald  Erikazeen,  bald  Moose  vorherrschen,  und  an 
anderen  Orten  gar  kein  Unterwuchs  vorhanden 
ist,  insolange  als  einheitliche  Formationen  auf- 
fassen, als  die  Gesamtphysiognomie  durch  Vor- 
herrschen des  gleichen  Baumtypus  die  gleiche 
bleibt  und  dann  die  durch  den  Unterwuchs  sich 
unterscheidenden  Teile  als  lokale  „Varianten" 
(Du  Rietz  1917,  1918)  derselben  bezeichnen; 
wenn  sich  dagegen  an  den  verschiedenen  Stellen 
der  Baumtypus  ändert,  indem  z.  B.  die  Fichte 
durch  die  Grauerle  ersetzt  wird,  diese  Vereinigun- 
gen nur  dann  als  Bestandteile  einer  einzigen  For- 
mation auffasssen,  wenn  der  eine  Typus  sehr  über- 
wiegt und  eine  vollzählige  Begleitvegetation  auf- 
weist, während  die  anderen  als  Formationsfrag- 
mente nur  kleinere  Enklaven  mit  unvollständiger 
Begleitung  bilden,  bei  gleichwertiger  Ausbildung 
der  einzelnen  Typen  dagegen  die  Vereine  ver- 
schiedenen Formationen  zuweisen. 

3.  Die  Sukzessionen.  Die  von  uns  als 
Vegetationsformationen  zusammengefaßten  Pflan- 
zengesellschaften sind  niemals  unwandelbare 
Größen,  sondern  stets  einer  Veränderung  und  Um- 
prägung in  neue  Formationen  fähig.  Je  nachdem 
diese  Wandlungen  der  Formationen  durch  diese 
selbst  erfolgen  oder  durch  äußere  Umstände  ver- 


N.  F.  XX.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


373 


anlaßt   werden,   kann  man   sie  als  autonom  oder 
heteronom  bezeichnen. 

Die  autonomen  Veränderungen  lassen  sich  am 
besten  beobachten,    wenn    man    von    einer   durch 
äußere     Einwirkungen     ungestörten     Besiedelung 
jungfräulichen  Bodens  in  einem  Waldgebiete  aus- 
geht.    Auf  solchem,   wenn    er   nicht  von  Wasser 
bedeckt   ist,    sei   er  nun  felsig,    schotterig,    sandig 
oder  sonstwie,    tritt    stets   zuerst  Lithos   auf,    be- 
stehend aus  Algen   oder  Flechten,   und   leitet  die 
Humusbildung  ein;    dann  kommen  oft  Moose  da- 
zu und    später,    bei   fortgesetzter  Humusanreiche- 
rung,   bei    der    auch    Bodenbakterien,    Pilze    und 
terrikole  Tiere  eine  Rolle  spielen,   grasartige  und 
krautige   Stauden   und  Holzgewächse,   mit   deren 
Überwiegen   der  Entwicklungsprozeß    gewöhnlich 
sein    Ende    erreicht.      Die    Anfangsstadien    einer 
solchen  Entwicklungsreihe  (Sukzession)  sind  stets 
offen  und  nähern   sich   im   weiteren  Verlaufe  des 
Prozesses  mehr  und  mehr  geschlossenen  Vereinen, 
bis  schließlich,  vorausgesetzt,   daß    es    das  Klima 
zuläßt,    solche,    und    zwar   in    der  Regel  Gehölze 
oder    Grasfluren,    den    Abschluß    bilden.      Neben 
dem  Anfangsstadium  kann  man  also  eine  größere 
oder   geringere    Zahl    von    Übergangsstadien    und 
ein    Endsiadium    einer  Sukzession    unterscheiden. 
Als   Klimax    bezeichnet    man    dasjenige   Stadium, 
welches    unter    gegebenen    klimatischen    Verhält- 
nissen das  üppigste,    mit   größter  Stoffproduktion 
ist.*)      Der   Boden    verliert    im    Verlaufe    solcher 
Umwandlungen  fortgesetzt  an  mineralischen  Eigen- 
schaften und  nimmt  in  gleichem  Maße,  innerhalb 
der    durch     das    Klima    gebotenen    Grenzen,    an 
Humusgehalt  zu.   Die  Individuen  kämpfen,  solange 
die  Vereine  offen  sind,  nur  oder  vorwiegend  gegen 
die  äußeren  Faktoren    und  treten,    je   mehr  sich 
erstere   schließen,    desto    heftiger    miteinander    in 
Wettbewerb.      Dje    Veränderungen    der   einander 
ablösenden  Vereine  sind  zunächst,  weil  hauptsäch- 
lich vom  floristischen  Momente  der  Zuwanderung 
abhängig,  mehr  oder  weniger  zufälliger  Art,  wer- 
den aber  um  so  gesetzmäßiger,  je  mehr  der  Kon- 
kurrenzkampf  der  Sippen   in    seine  Rechte    tritt. 
Einer    ähnlichen    Aufeinanderfolge    verschiedener 
Vereine    wie  auf  dem  Lande   begegnet   man  bei 
der  Verlandung  von  Gewässern.    In  einer  stehen- 
den Wasseransammlung   folgen    auf  das    Plankton 
des  freien  Wassers   in   zentripetaler  Richtung  die 
konzentrisch  angeordneten  Gesellschaften  der  Was- 
serpflanzen und  der  Sumpfvegetation  und  auf  diese 
die  geschlossenen  Wiesenmoore,  Erlbrüche,  Hoch- 
und  Heidemoore.    Auch  hier  handelt  es  sich  um 
eine  fortschreitende  Entmineralisierung  und  Humi- 
fizierung  des  Substrates.    Auch  hier  werden  offene 
durch  geschlossene  Vereine  abgelöst. 

Stets,  ob  nun  der  Entwicklungsprozeß  vom 
Lande  oder  vom  Wasser  seinen  Ausgang  nimmt, 
kann  man  beobachten,  daß  im  Verlaufe  einer  der- 
artigen Sukzession  die  Vegetation  mehr  und  mehr 
den  Sieg   über   die   mineralischen  Qualitäten   des 

')  Nach  Lüdi   1919. 


Bodens  davonträgt,   bis   das  Endstadium   erreicht 
ist,  das,  von  den  edaphischen  Verhältnissen  mög- 
lichst   unabhängig,    der   getreueste    Ausdruck   des 
herrschenden    Klimas    ist.      Das    Anfangsstadium 
emer   Sukzession    ist    vorwiegend    edaphisch,    das 
Endstadium    klimatisch    bedingt,    die    Übergangs- 
stadien verhalten  sich  intermediär.    Die  Endstadien 
bedeuten   eine  Art  Ausgleich  zwischen   den   mo- 
mentan herrschenden  ökologischen  Faktoren  einer- 
seits und  der  Expansionskraft  der  Vegetation  und 
dem  Konkurrenzkampfe   der  Sippen    andererseits. 
Da  sie   vornehmlich    vom  Klima    abhängig  sind,' 
können  sie  der  tonangebende  Verein  eines  ganzen 
Vegetationsgebietes  sein.  Sie  entsprechen  S  c  h  i  m  - 
p  e  rs  (1898)  klimatischen  oder  Gebietsformationen, 
im  Gegensatze   zu   den  edaphischen,   die  als  An- 
fangs- oder  höchstens  Übergangsstadien  von  Suk- 
zessionen  noch    in    mehr   oder  weniger  höherem 
Grade  vom  Boden  abhängig  sind  als  vom  Klima. 
Würden   die   die  Pflanzengesellschaften   beein- 
flussenden Faktoren   immer  die  gleichen  bleiben, 
so  würden  erstere,  nachdem  sie  ungestört  ein  be- 
stimmtes Endstadium  erreicht,  in  diesem  Zustande 
verbleiben,  vorausgesetzt,  daß  sie  sich  nicht  durch 
Bodenermüdung  oder  sonstwie  selbst  erschöpfen 
können,    und   auch    keine    floristischen    Einflüsse, 
wie  Hinzukommen  neuer  Sippen  und  dergleichen, 
möglich   sind.     In  Wirklichkeit   bleiben   aber  die 
Faktoren    niemals    auf    die    Dauer    die    gleichen, 
ändern    sich   vielmehr   über  kurz   oder   lang  und 
beeinflussen   so   die  Vereine   in   ihrem   normalen, 
autonomen  Entwicklungsgange,  ja   vernichten   sie 
oft  vollkommen,  so   daß  die  Vegetation   in  ihren 
Wandlungen   nie   zu   einem  dauernden  Stillstande 
gelangt.      Die    Veränderungen    der   Faktoren    er- 
folgen   entweder    plötzlich     oder    allmählich    und 
demgemäß  ist  die  Wirkung  auf  die  Vereine  eine 
katastrophale   oder  sukzessive.     Je   nachdem   die 
Sukzessionen    gefördert    oder    gehemmt    werden, 
kann    man    von    einem    progressiven    oder   retro- 
gressiven  Einflüsse   sprechen.     Im  Gegensatze  zu 
den    im    Wesen     der    Gesellschaften    selbst    be- 
gründeten autonomen  kann  man,  wie  schon  gesagt, 
solche  von  außen    hervorgerufene  Veränderungen 
als  heteronome  bezeichnen.     Von  Faktoren  kom- 
men alle  in  Betracht,  von  denen  die  Vereine  ab- 
hängen,   also  Boden    und  Klima,    Tiere    und    der 
Mensch.     Die  Einwirkungen  sind  entweder  direkt 
oder  indirekt. 

Am  schwerstwiegenden  und  stets  von  direktem 
Einflüsse  sind  die  edaphischen  Veränderungen. 
Sie  stellen  sich  plötzlich  oder  allmählich  ein. 
Katastrophal  wirken  beispielsweise  Vulkanaus- 
brüche, Steinstürze,  Vermurungen  und  Versan- 
dungen, Lawinen  und  Gießbäche,  Stürme  usw. 
Derartige  Ereignisse  vernichten  die  Pflanzenvereine 
entweder  vollkommen  oder  schädigen  sie  doch 
sehr  schwer  und  schaffen,  akkumulierend  oder 
erodierend,  neuen  Boden  für  neue  Sukzessionen. 
Die  allmählichen  Veränderungen,  wie  langsames 
Sinken  oder  Steigen  des  Grundwasserspiegels, 
konstante    Zufuhr    kleiner    Mengen    mineralischer 


274 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  i8 


Stoffe  durch  langsame  Sedimentierung  in  stehen- 
den Gewässern,  durch  kontinuierliches  Nachrutschen 
des  Materiales  auf  Steilhängen  oder  durch  fortge- 
setzte Überschwemmungen  an  Flußbetten,  Aus- 
süßung  salzhaltigen  Bodens,  rückweichende  Glet- 
scher usw.,  veranlassen  allmähliche  Umprägungen 
der  betreffenden  Formationen  in  pro-  oder  retro- 
gressivem  Sinne  oder  schaffen  die  Bedingungen 
für  Neubesiedelungen.  Selbstverständlich  gibt  es 
zwischen  katastrophalen  und  sukzessiven  Wand- 
lungen alle  Übergänge. 

Schwankungen  des  Klimas  erfolgen  stets  all- 
mählich und  veranlassen  die  Umwandlung  ganzer 
Vegetationsgebiete,  indem  sie  sukzessive  den 
Charakter  aller  ihrer  Formationen  verändern.  Sie 
wirken  auf  diese  indirekt  ein,  durch  Vermittlung 
des  Bodens,  dessen  Qualitäten,  insbesondere 
Feuchtigkeit  und  Nährstoffgehalt,  sie  durch  Be- 
einflussung des  Grundwasserstandes  und  der  Hu- 
musbildung bei  Änderung  der  Niederschlags-  und 
Wärmeverhältnisse  modifizieren. 

Tiere  erzeugen  insoweit  heteronome  Verände- 
rungen, als  sie  außerhalb  der  Formationen  stehen, 
d.  h.  nicht  mit  ihnen  zu  Biozönosen  verbunden 
sind.  Sie  bringen  durch  massenhaftes  Auftreten 
katastrophale  Wirkungen  hervor,  wie  dies  Heu- 
schreckenschwärme,  Borkenkäfer  usw.  tun,  durch 
spärliches  allmähliche,  wie  Weidetiere  durch  Fraß 
und  Düngung.  Im  allgemeinen  ist  die  Bedeutung 
der  Tiere  in  diesem  Sinne  keine  allzu  große. 

Um  so  mehr  die  des  Menschen,  der,  bewußt 
vorgehend,  einerseits  durch  Brände,  Fällen  und 
andere  rapide  Eingriffe  katastrophale  Verände- 
rungen hervorruft  und  andererseits  durch  Düngung, 
künstliche  Bewässerung  und  Entwässerung  den 
Boden  sukzessive  umgestaltet.  Sein  Einfluß  ver- 
mag sich  sogar  indirekt  auf  das  Klima  zu  er- 
strecken, wenn  er  beispielsweise  durch  großzügige 
Entsumpfungen  weite  Gebiete  nicht  nur  edaphisch, 


sondern  auch  klimatisch  trockener  macht.*)  Schließ- 
lich veranlaßt  er  auch  das  Entstehen  neuer  For- 
mationen, wie  der  Ruderal-  und  Segetalvereine, 
wobei  er,  unbewußt  oder  bewußt,  nicht  nur  als 
ökologischer,  sondern  auch  als  floristischer  Faktor 
in  Tätigkeit  tritt.  Die  vom  Menschen  veranlaßten 
Sukzessionen  kann  man  als  sekundäre  den  natür- 
lichen, primären  gegenüberstellen. 

Durch  die  Lehre  von  den  Sukzessionen  hat  die 
Auffassung  des  Formationsbegriffes  eine  wesent- 
liche Vertiefung  erfahren.  Es  wäre  aber  verfehlt, 
wenn  man  den  Wandlungen  der  Pflanzenvereine 
so  große  Bedeutung  beilegen  wollte,  daß  man, 
wie  man  aus  manchen  Definitionen  folgern  könnte, 
nur  die  Endstadien  der  Sukzessionen  als  Forma- 
tionen gelten  läßt.  Denn  der  Begriff  des  End- 
stadiums ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ein 
relativer,  und  es  kann  eine  und  dieselbe  Pflanzen- 
vereinigung, wie  etwa  eine  Erikazeenheide,  in 
einem  Gebiete  ein  Endstadium  sein  und  in  einem 
anderen  nicht.  Es  genügt  jedenfalls,  nur  einen 
,, zeitweilig  andauernden  natürlichen  Abschluß"  als 
Bedingung  für  die  Wertigkeit  eines  Pflanzenver- 
eines als  Formation  gelten  zu  lassen,  gleichgültig 
ob  dieser  ein  Anfangs-,  Übergangs-  oder  Endstadium 
einer  Sukzession  repräsentiert,  wenn  er  nur  eine 
bestimmte  Physiognomie  hat,  während  man  phy- 
siognomisch  unausgesprochene  besser  als  Misch- 
und  Übergangstypen  bezeichnet. 

Das  Studium  der  Sukzessionen  nach  modernen 
Gesichtspunkten  hat  von  Amerika  ^)  seinen  Aus- 
gang genommen  und  wird  jetzt  auch  in  Europa*) 
aufs  eifrigste  gepflegt.  Es  hat  auch  bereits  zu 
einer  reichen  Nomenklatur  und  verschiedenen 
Klassifikationsversuchen  geführt. 


')  So  seinerzeit  in  Ungarn  nach  Kerner  (1863). 
2)  So  vor  allem  von  Cowles,  Clements  u.  a. 
')  Zuletzt  Lüdi  (I9I91- 

(Schluß  folgt.) 


Einzelberichte. 


Eine  uene  Theorie  der  Gletsclierbewegung. 

Im  Neuen  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geologie 
und  Paläontologie  (1920,  Beilageband  XLIII,  S. 
439 — 556)  stellt  H.  Philipp  (Greifswald)  auf 
Grund  langjähriger  eigener  Beobachtungen  eine 
neue  Theorie  der  Gletscherbewegung  auf,  die  in- 
sofern gegenüber  den  bisher  bestehenden  An- 
schauungen über  das  Wesen  der  Gletscherströmung 
etwas  vollkommen  Neues  bietet,  als  sie  mit  dem 
Mechanismus  der  Bewegung  zugleich  die  Ent- 
stehung der  sog.  Blaublättertextur  des  Gletscher- 
eises erklärt.  Die  zurzeit  das  größte  Ansehen 
genießende  mathematische  Theorie  der  Gletscher- 
bewegung von  Finsterwal  der  erklärt  nicht  das 
Wesen  und  die  wirkliche  Lagerung  der  Blaublätter, 
die  nach  Philipp  mit  der  Bewegung  des  Gletscher- 
eises aufs  innigste  verknüpft  ist. 


Die  wichtigste,  auf  gründliche  Beobachtungen 
gestützte  Feststellung  ist  die  des  Auftretens  der 
„Gl  et  seh  er  risse",  die  bisher  in  der  glaziolo- 
gischen  Literatur  noch  fast  gar  nicht  beschrieben 
worden  sind.  Diese  treten  unabhängig  von  den 
Spalten  auf  und  verlaufen  immer  in  der  Längs- 
richtung des  Gletschers,  am  häufigsten  in  der  Nähe 
des  Randes.  Sie  sind  keine  bloße  Oberflächener- 
scheinung, sondern  setzen  durch  den  ganzen 
Gletscher  hindurch  und  passen  sich  in  ihrem  Ver- 
lauf dem  Gletscheruntergrunde  an,  so  daß  also 
eine  solche  einzelne  „Riß fläche"  die  Form  eines 
Troges  hat.  Der  ganze  Gletscher  besteht  dem- 
nach aus  einer  Anzahl  ineinandergeschachtel- 
ter Tröge.  Daß  die  Rißflächen,  die  am  Rande 
des  Gletschers  steil  einfallen,  an  der  Basis  horizon- 
tal liegen,  läßt  sich  besonders  deutlich  an  den 
terminalen  Steilabstürzen  arktischer  Gletscher  be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


275 


obachten,  die  ja  gewissermaßen  Querschnitte  durch 
die  Gletscher  darstellen. 

Schleppungen  der  Blaubänder  und  Verschie- 
bungen der  Eismassen  an  diesen  Rissen  lassen  auf 
eine  abscherende  Funktion  dieser  Rißflächen 
schließen.  An  Querbrüchen  läßt  sich  beobachten, 
daß  ein  hangender  Eistrog  in  der  Bewegungs- 
richtung des  Gletschers  über  einen  liegenden  Trog 
um  einige  Zentimeter  hinwegragt. 

Mit  diesen  Abscherungs flächen  in  ge- 
netischer Beziehung  stehen  die  Blaublätter,  die 
den  Rißflächen  parallel  oder  subparailel  gelagert 
sind,  also  gleichfalls  die  Form  von  Trögen  be- 
sitzen, welche  dem  Verlauf  des  Gletscherbettes 
angepaßt  sind.  Diese  Vorstellung  der  halb- 
zylindrischen Lagerung  der  Blaublätter  steht  im 
Gegensatz  zu  der  löffeiförmigen  Anordnung  der 
Blättertextur,  wie  sie  von  H.  Heß  gedacht  wird 
oder  der  fächerförmigen  Stellung,  wie  sie  H.  C  ram- 
mer annimmt.  Diese  beiden  letzten  Lagerungs- 
formen werden  als  Ausnahmefalle  bezeichnet,  ihre 
Allgemeingültigkeit  aber  abgelehnt.  Das  Erken- 
nen der  trogförmigen  oder  halbzylindrischen  Lage- 
rung der  Blaublätter  in  den  Alpen  wird  dadurch 
erschwert,  daß  hier  infolge  der  starken  Ablation 
die  Gletscheroberfläche  die  Blaubläiter  in  Bogen 
schneidet,  die  talabwärts  konvex  gekrümmt  über 
den  Gletscher  hinweg  verlaufen. 

Besonders  eingehend  wird  das  Kapitel  über 
das  Wesen  und  die  Entstehung  der  Blättertextur 
behandelt.  Es  wird  dargelegt,  daß  Tyndalls 
Behauptung  einer  Analogie  zwischen  Blaubände- 
rung  und  Druckschieferung  unhaltbar  ist.  Agas- 
siz,  Heß  und  Gramm  er  sehen  in  der  Bände- 
rung  die  ursprüngliche  Firn-  bzw.  Schneeschichtung. 
Demgegenüber  wird  nun  nachgewiesen,  daß  die 
Blaublätter  nicht  aus  der  Firnschichtung  ent- 
standen sein  können,  da  einwandfrei  vielfach 
Durchkreuzungen  der  Blaublätter  be- 
obachtet worden  sind.  Bei  der  Sedimentation  des 
Firnschnees  kann  wohl  diskordante  Lagerung  oder 
Kreuzschichtung  auftreten,  nicht  aber  ein  Sich- 
durchdringen der  einzelnen  Schichten.  Die  Blau- 
blätter entstehen  unabhängig  von  der  Schichtung 
durch  Aufreißen  und  Wiedervernarben  von  Ab- 
scherungsflächen.  Durch  die  Zertrümmerung  und 
Reibungsverflüssigung  des  luftreichenweißen 
Eises  bei  der  Abscherungsbewegung  eines  Eis- 
troges entsteht  an  der  Stelle  der  Rißfläche  beim 
Wiedergefrieren  des  Schmelzwassers  ein  mehr 
oder  weniger  luft freies  blaues  Eisblatt,  ein 
Blaublatt.  Durch  fortgesetztes  Aufreißen  an 
anderen  Stellen  schieben  sich  immer  neue  Blau- 
blätter ein,  so  daß  eine  dichte  Bänderung  ent- 
steht. Schneiden  infolge  Änderungen  der  Glet- 
scherbettform neueAbscherungsflächen  ältere  Blau- 
blätter, so  werden  nach  der  Vernarbung  Durch- 
kreuzungen vorhanden  sein.  Die  älteren  Blätter 
werden  mit  der  Zeit  verschwommen  und  unscharf. 
Der  Bewegungsmechanismus  eines  Gletschers 
wirkt  nun  derart,  daß  die  einzelnen  ineinanderge- 
schachtelten Eiströge  infolge  der  in  der  Richtung 


der  Neigung  wirkenden  Schwerkraft  längs  der  be- 
schriebenen Abscherungsflächen  übereinander  hin- 
weggleiten. Die  Geschwindigkeit  in  der  Gletscher- 
masse muß  dann  einerseits  vom  Untergrunde  nach 
der  Oberfläche  und  andererseits  von  den  Rändern 
nach  der  Mitte  der  Gletscheroberfläche  zunehmen 
(da  ja  der  höchstgelegene  Trog  die  größte  Ge- 
schwindigkeit besitzt),  was  der  Beobachtung  in 
der  Natur  vollkommen  entspricht.  Regelation 
und  Translation  werden  natürlich  von  Philipp 
nicht  abgelehnt,  sind  aber  nur  in  untergeordnetem 
Maße  an  dem  Bewegungsmechanismus  des  Glet- 
schers beteiligt. 

Auch  die  Schichtung  im  Firn  ist  im  wesent- 
lichen ein  Ausdruck  der  Bewegung.  Der  Firn 
gleitet  gleichfalls  auf  ähnlichen  Abscherungs- 
flächen, die  dem  Verlauf  des  Untergrundes  ange- 
paßt sind,  talabwärts.  Erich  Stach. 

Altsteinzeitliche  Funde  im  Siuaigebiete. 

Das  während  des  Weltkrieges  unter  Leitung 
von  Theodor  Wiegand  arbeitende  deutsch- 
türkische Denkmalschutzkommando  hat  während 
der  drei  ersten  Kriegsjahre,  als  die  Tatkraft  des 
Generals  Freiherrn  Kreß  von  Kressenstein, 
des  Führers  des  i.  Expeditionskorps,  dem  Vor- 
dringen der  weit  überlegenen  englischen  Truppen- 
macht am  Kanal  erfolgreichen  Widerstand  ent- 
gegensetzte, im  Operationsgebiet  des  Sinai  zahl- 
reiche wertvolle  Aufnahmen  der  seit  dem  Araber- 
einfall von  635  n.  Chr.  verlassenen  frühchristlichen 
Festungen,  Klöster,  Städte  und  landwirtschaftlichen 
Anlagen  veranlaßt.  Bei  diesen  Aufnahmen  wurde 
auch  eine  altpaläolithische  Fundstätte  bei  Kuseime 
entdeckt,  deren  Bearbeitung  dann  später  Prof.  Dr. 
E.  Werth  übertragen  wurde.  Über  die  Ergeb- 
nisse dieser  Bearbeitung  berichtet  jetzt  Werth 
in  den  „Wissenschaftlichen  Veröffentlichungen  des 
deutsch  -  türkischen  Denkmalschutzkommandos", 
Heft  I,  Sinai  (Berlin  1920),  S.  121 — 135. 

Die  Fundstätte  Kuseime  befindet  sich  etwa 
75  km  SSW.  von  Beersaba,  ungefähr  10  km  jen- 
seits der  alten  türkisch-ägyptischen  Grenze,  damit 
geographisch  in  dem  Grenzgebiet  zwischen  Palä- 
stina und  der  Sinaihalbinsel.  Der  Fundort  selbst 
liegt  östlich  der  Station  Kuseime,  und  zwar  kom- 
men einmal  ein  doppelgipfliger  Hügel  und  da- 
neben eine  Stelle  in  der  Nähe  desselben  in  Frage. 
An  diesen  beiden  Fundorten  wurden  durch  Major 
von  Ramsay  zahlreiche  Artefakte  gefunden,  die 
aber  bei  der  Aufsammlung  leider  nicht  nach  beiden 
Fundorten  getrennt  gehalten  wurden.  Die  meisten 
dieser  Artefakte  zeigen  eine  auffallend  schoko- 
ladenbraune Patina  („Wüstenlack");  diese  Patina- 
bildung ist  deshalb  besonders  interessant,  weil 
diese  hier,  da  es  sich  um  völlig  frei  liegende  Ober- 
flächenfunde handelt,  nicht  durch  Einwirkungen 
umgebender  löslicher  Mineralsubstanzen,  sondern 
lediglich  durch  Witterungsverhältnisse  (Zersetzung 
durch  die  intensiven  Lichtstrahlen)  bedingt  sein 
kann.     Bei   der  großen  Mehrzahl  der  Fundstücke 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift 


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fehlt  jede  Randbearbeitung  (Retusche),  nur  wenige 
Stücke  zeigen  eine  solche.  Eine  Flächenbearbeitung 
liegt  überhaupt  bei  keinem  Stück  vor.  Von  den 
Stücken  ohne  Randbearbeitung  ist  die  Mehrzahl 
als  Klingen  zu  bezeichnen.  Die  Mannigfaltigkeit 
dieser  Klingenformen  ist  sehr  groß.  Neben  kurzen 
stumpfen  Klingen  mit  dachförmigem  Rücken 
stehen  solche  zierlicher  Form,  die  jedoch  verhält- 
nismäßig selten  sind.  Reichlicher  sind  ziemlich 
große,  breite  Klingen.  Überhaupt  überwiegen 
rohe,  ungleichmäßige  Klingenformen,  unter  ihnen 
befinden  sich  solche  mit  deutlich  ausgeprägter 
Stichelspitze,  aber  auch  breite  schaberartige  Klingen 
und  Bohrer.  Unter  den  Stücken  mit  Randbe- 
arbeitung sind  gleichfalls  zwei  Klingen  vorhanden, 
daneben  kommen  Klingenkratzer,  Messerchen  und 
Hohlschaber  vor.  Alle  Instrumente  sind  mehr 
oder  weniger  flach  und  länglich,  mit  zwei  an- 
nähernd parallelen  Seitenkanten  gestaltet.  Sie 
sind  nie  aus  dem  Ganzen  heraus  gearbeitet,  sondern 
stets  durch  einen  Abschlag  hergestellt  und  durch 
eine  einheitliche  flache  Unterseite  mit  Schlag- 
zwiebel, Wellenringen  usw.  und  einem  aus  mehreren 
Längsfazetten  gebildeten  Rücken  ausgezeichnet. 
Die  Gesamtindustrie  ist  also  eine  typische  Klingen- 
industrie. 

Bezüglich  ihrer  Datierung  sind  wir  lediglich 
auf  typologische  Erwägungen  angewiesen,  da  sich, 
wie  bei  jedem  Oberflächenfunde,  geologisch  nichts 
sagen  läßt.  Nach  der  Typologie  dürfte  es  sich 
um  ein  Jungpaläolithikum  handeln,  weil  sowohl 
die  Leittypen  des  Altpaläolithikums  wie  des  Meso- 
lithikums fehlen.  Welche  Kultur  des  Jungpaläo- 
lithikums  jedoch  in  Frage  kommt,  ist  nicht  so 
leicht  zu  entscheiden.  Die  bisher  bekannten  jung- 
paläolithischen  Funde  wurden  übereinstimmend 
als  Aurignacien  gedeutet,  während  Magdalenien 
noch  nicht  nachgewiesen  war.  Trotzdem  möchte 
sich  Werth  in  dem  vorliegenden  Falle  für  das 
letztere  entscheiden;  diese  Zuweisung  hat  ent- 
schieden manches  für  sich,  ist  jedoch  noch  keines- 
wegs gesichert.  Immerhin  ist  schon  der  Nach- 
weis eines  mutmaßlichen  Magdaleniens  für  die 
Vorgeschichte  Palästinas  von  nicht  geringer  Be- 
deutung. Das  Paläolithikum  Palästinas  ist  allge- 
mein ziemlich  gut  erforscht.  Chelleen-  und 
Acheulleenfundstätten  sind  —  ungerechnet  der 
Fundstätten  aus  Nordsyrien  —  deren  19  bekannt. 
Mousterien  hegt  von  10  Stationen  vor.  Das  Jung- 
paläolithikum ist  jedoch  nur  durch  drei  Stationen 
vertreten,  zu  denen  nun  neuerdings  noch  Kuseime 
hinzutritt.  Dieses  Jungpaläolithikum  hatte  man 
bisher  lediglich  als  Aurignacien  angesehen,  sämt- 
liche späteren  Kulturen  würden  dann  aber  völlig 
gefehlt  haben,  und  dieses  Fehlen  müßte  zum 
mindesten  irgendwie  begründet  gewesen  sein. 
Eine  derartige  Begründung  glaubte  Karge 
(Rephaim.  Paderborn  1917)  in  der  Annahme  eines 
rascheren  und  früheren  Überganges  zur  neolilhi- 
schen  Kultur  als  in  Europa  gefunden  zu  haben, 
und  diese  Übergangskultur  selbst  vermeinte  dann 
Bayer  (vgl.  diese  Zeitschr.  iq,    1920,   S.  731  ff.) 


in  der  Umgebung  von  Gaza  beobachten  zu  kön- 
nen, wo  er  in  Oberflächenfunden  alt-  und  jung- 
paläolithische  Typen  zusammen  antraf,  die  er  des- 
halb als  Campignien  deuten  wollte;  aus  diesem 
Campignien  sollte  sich  dann  direkt  das  Neolithi- 
kum in  Palästina  entwickelt  haben,  während 
andererseits  das  Campignien  Europas  lediglich 
eine  Fortentwicklung  dieses  auf  dem  Boden 
Afrikas  vor  sich  gegangenen  Überganges  darstellen 
sollte.  All  diesen  Deutungen  und  Erklärungen 
gegenüber  macht  jetzt  Werth  einmal  darauf  auf- 
merksam ,  daß  viele  der  dem  Chelleen  oder 
Acheuleen  zugerechneten  P'unde  Palästinas,  so- 
weit sie  lediglich  auf  der  Oberfläche  aufgelesen 
wurden,  den  Eindruck  eines  Mesolithikums  oder 
Neolithikums  machen.  Nach  den  Abbildungen  zu 
urteilen  scheint  in  diesen  Oberflächenfunden  typo- 
logisch  kein  reines  Altpaläolithikum  vorzuliegen, 
und  als  Oberflächenfunde  sind  sie  chronologisch 
in  keiner  Weise  zu  verwerten.  Andererseits  scheint 
Kuseime  selbst  auf  ein  Magdalenien  hinzuweisen. 
Man  dürfte  deshalb  zunächst  einmal  gut  tun,  mit 
bestimmten  chronologischen  Zuweisungen  für  das 
palästinensische  Paläolithikum  noch  sehr  zurückzu- 
halten, und  alle  Erklärungen,  die  für  Palästina 
einen  anderen  Gang  in  der  Entwicklung  der 
ältesten  menschlichen  Kulturen  annehmen,  als  wir 
ihn  sonst  kennen  gelernt  haben,  erscheinen  zum 
mindesten  als  recht  verfrüht. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 

Der  Meteorstein  von  Forsbach. 

Diesen  neuen  deutschen  Meteoriten  beschreibt 
R.  Brauns  in  den  Verh.  d.  Naturh.  Ver.  d.  preuß. 
Rheinlande  u.  Westfalens,.  75.  Jahrg.  J918,  Borin 
1919.  Der  Meteorit  wurde  Brauns  1914  zum 
Kaufe  angeboten.  Er  erwarb  ihn  für  die  Samm- 
lung der  Bonner  Universität  und  konnte  nach 
mannigfahigen  Bemühungen  die  irdische  Geschichte 
des  Steines  feststellen.  Danach  ist  mit  Sicherheit 
erwiesen,  daß  der  Stein  am  12.  Juni  1900  um 
2  Uhr  nachmittags  bei  Forsbach,  5  km  ssö. 
von  Bensberg  auf  der  rechten  Rheinseite,  24''52' 
östl.  L.  V.  Ferro,  so^Sö'  n.  Br.,  gefallen  ist.  Bens- 
berg liegt  10  km  östl.  von  Mülheim  a.  Rh.  Das 
Gewicht  des  Steines  beträgt  220  g.  Der  Fall 
war  begleitet  „von  einem  Geräusch,  als  ob  ein 
Vogel  daherfliege".  Die  Form  des  Steines  ist 
etwa  die  eines  quadratischen  Prismas  mit  der 
Basis.  Die  Flächen  der  Brustseite  sind  durch 
Abschmelzung  vollständig  geglättete  Primärflächen. 
Die  Rückseite  wird  von  Sekundär-  oder  Tertiär- 
flächen gebildet,  die  zahlreiche  Vertiefungen  auf- 
weisen. Die  größte  Länge  des  Steines  beträgt 
60  mm.  Breite  und  Dicke  40  mm.  Die  Schmelz- 
rinde ist  matt  und  braunschwarz.  Die  frische 
Bruchfläche  erscheint  gefleckt  durch  den  Wechsel 
von  weißen  und  grauen  Partien.  Diese  bilden 
gewissermaßen  die  Grundmasse ,  in  der  die 
weißen  Stücke  mit  scharfen  Kanten  und  Ecken 
eingesprengt    sind,    wodurch     in    hohem    Grade 


N,  F.  XX.  W.  i^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


277 


der    Eindruck    einer    breccienartigen    Beschaffen- 
heit   hervorgerufen    wird.      Der    Stein    ist    seiner 
Beschaffenheit     nach     ein      intermediärer     Chon- 
drit,  Ci.      Er    ähnelt    am    meisten    dem    Meteorit 
von  Saint  Mesmin.     Die  Bestimmung  des  spezifi- 
schen  Gewichtes   ergab   6  =  3,70  (4)  bei  ib"  C. 
Die  z.  T.  makroskopisch,  z.  T.  nur  mikroskopisch 
erkennbaren    ihn    zusammensetzenden    Mineralien 
sind:     Nickeleisen,    sehr    spärlich    Schwefeleisen, 
Olivin,    Bronzit,    monokliner  Pyroxen   (sehr  unter- 
geordnet), dazu  tritt  Glas  und  eine  schwarze,  un- 
durchsichtige Masse.     Der   Olivin   bildet  große 
rissige  Körner  ohne  wahrnehmbare  Kristallumrisse 
oder    feinst    zerteilte   Bruchstückchen.      Bisweilen 
bildet   er   auch  kleine  monosomatische  Chondren 
mit   kreisrundem    Durchschnitt,    0,3  mm    Durch- 
messer.    Der  kreisrunde  Umriß  dieser   Chondren 
ist  da  gestört,    wo    sie    an  ein    Korn    Nickeleisen 
anstoßen.    Als  Einschluß  führt  der  Olivin  schwarze 
undurchsichtige  Körner  wohl  von  Chromit,    dazu 
solche  von  Glas.     Die  kleinen  Olivinkörner  bilden 
mit   der   dunklen   Substanz  vermengt    die  Grund- 
masse  des    Steins.      Die  Oiivinchondren    sind    im 
Vergleich    zu    den    Olivinkörnern    offenbar    eine 
jüngere  Bildung  und  anscheinend  erst  entstanden, 
als  die  Massen  zum  Stein  angehäuft  wurden.    Der 
Bronzit  läßt  schon  eher  Andeutungen  von  Kri- 
stallumgrenzungen erkennen.     Er  ist  z.  T.  farblos 
durchsichtig,  z.  T.   trüb    und   zeigt   scharfe  Spalt- 
risse.    Viel    häufiger    als    der    Olivin    bildet    der 
Bronzit  Chondren  aller  Art,  monosomatische  und 
polysomatische,  solche  mit  kreisförmigem  Durch- 
schnitt und  andere  mit  beliebig  gerundeten  Um- 
rißformen.    Außerhalb    der    Chondren    tritt    der 


Bronzit  gegen  den  Olivin  stark  zurück.  Der 
Augit  ist  monoklin  und  gehört  anscheinend  zwei 
verschiedenen  Arten  an.  Das  Nickeleisen 
bildet  unregelmäßige  zackige  Körner.  Es  macht 
etwa  10%  des  Meteorsteins  aus.  Schwefel- 
eisen ist  nur  in  staubförmig  feinen  Teilchen  und 
in  sehr  geringer  Menge  wahrzunehmen.  Die 
opake  Substanz,  welche  die  dunkle  Farbe  der 
Grundmasse  bewirkt,  scheint  dieselbe  Beschaffen- 
heit wie  die  Rindensubstanz  zu  haben.  Sie  hat 
wahrscheinlich  zehlich  und  genetisch  dieselbe  Be- 
deutung wie  die  Adern  in  anderen  Steinen  und 
wie  die  Schmelzrinde  selbst,  und  die  breccien- 
artige  Beschaffenheit  wäre  z.  T.  eine  Folge  dieser 
Durchdringung  des  Steins  mit  Schiackenkörnchen 
und  fiele  in  die  kurze  tellurische  Periode,  während 
die  Bildung  der  Chondren  in  die  kosmische  Zeit 
fällt. 

Im  Anschluß  an  die  Beschreibung  des  Fors- 
bacher Meteoriten  gibt  R.  Brauns  noch  eine 
kurze  Übersicht  über  die  Vermehrung  der  Bonner 
Meteoritensammlung  in  den  letzten  Jahren.  Durch 
Kauf  oder  durch  Schenkung  konnte  eine  große 
Anzahl  neuer,  vielfach  hervorragend  schöner  und 
charakteristischer  Meteoriten  erworben  werden. 
Bei  der  Übernahme  der  Direktion  des  Mineralogi- 
schen Institutes  der  Universität  im  Jahre  1907  war 
der  Bestand: 

98  Fallorte,  272  Stück  im  Gewicht  von  1 10  467  g. 
Ende    Oktober    1918    dagegen     enthielt     die 
Sammlung : 

258  Fallorte,  673  Stück  im  Gewicht  von  448424  g. 

F.  H. 


Hansen,    Dr.  Adolph,    Prof.   an   der   Universität 
Gießen,   Goethes  Morphologie  (Metamor- 
phose der  Pflanzen  und  Osteologie).     Ein  Bei- 
trag zum  sachlichen    und   philosophischen  Ver- 
ständnis   und    zur   Kritik   der   morphologischen 
Begriffsbildung.       Gießen      1919,     Verlag    von 
Alfred  Töpelmann. 
Diese    sehr    interessante   Schrift    des    kürzlich 
verstorbenen  Verf.s,  in  der  versucht  wird,  Goeth  es 
Bedeutung  für  die  Entwicklung   der   Morphologie 
gegen  seine  immer  wieder  auftauchenden  Wider- 
sacher zu  verteidigen,  wäre  fast  nicht  erschienen, 
weil  ein  Verleger  nicht  gefunden  werden  konnte. 
Nur  mit  Unterstützung  der  Oberhessischen  Gesell- 
schaft für  Natur-  und  Heilkunde  konnte  das  Werk 
gedruckt  werden,  das  jeden,  der  für  wissenschafts- 
geschichtliche Fragen  Interesse  hat,  erfreuen  wird, 
zumal  der  Stil,  wie  immer  beim  Verf.,  klar,  flüssig 
und  angenehm  lesbar  ist.  —  Trotzdem   der  Verf. 
erst    1907   ein   Werk  über   Goethes  „Metamor- 
phose der  Pflanzen"  verfaßt  hat,   fühlt  er  sich  zu 
einer  neuerlichen  Publikation  veranlaßt  durch  die 
Darstellung  der  „Metamorphose"  durch   W.  Be- 


Bücherbesprechungen. 


necke  in  der  Kultur  der  Gegenwart  und  durch 
das  Erscheinen  eines  Buches  von  Kohlbrügge, 
das  Goethes  naturwissenschaftliche  Arbeiten  als 
rninderwertig  oder  gar  schädigend  hinstellt.  Da 
sich  dieses  Buch  besonders  mit  der  Osteologie 
beschäftigt,  zieht  Hansen  auch  diese  in  den 
Kreis  seiner  Betrachtung.  —  Bekanntlich  hat 
Sachs  sich  dahin  ausgesprochen,  daß  Goethe 
die  „Metamorphose"  nicht  im  modernen  realisti- 
schen Sinne  aufgefaßt  habe,  und  diese  Ansicht 
wird  auch  von  Benecke  vertreten.  Hansen 
hingegen  sucht  zu  beweisen,  daß  Goethe  wirk- 
lich angenommen  habe,  die  Laubblätter  verwan- 
deln sich  im  Laufe  der  Ontogenese  in  Kelch-, 
Blumen-,  Staub-  und  Fruchtblätter.  Ref.  muß 
zugeben,  daß  es  dem  Verf.  gelungen  ist,  ihn  da- 
von zu  überzeugen,  daß  sehr  vieles  für  seine  An- 
nahme spricht,  besonders  wenn  man  berücksich- 
tigt, daß  Goethe  sogar  versucht  hat,  in  experi- 
mentell-morphologischer Richtung  zu  arbeiten, 
worauf  übrigens  Hansen  gar  nicht  aufmerksam 
macht.  Goethe  schreibt  an  einer  Stelle:  „..." 
und  brachte  zugleich   einen   ganzen  Sommer  mit 


278 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  18 


einer  Folge  von  Versuchen  hin,  die  mich  belehren 
sollten,  wie  durch  Übermaß  der  Nahrung  die 
Frucht  unmöglich  zu  machen,  wie  durch  Schmä- 
lerung sie  zu  beschleunigen  sei."  . . .  „die  Phäno- 
mene des  Abbleichens  und  Abweißens  beschäf- 
tigten mich  vorzüglich;  Versuche  mit  farbigen 
Glasscheiben  wurden  gleichfalls  angestellt"  (Coita- 
sche  Ausgabe,  S.  18).  Wer  in  dieser  „Klebs- 
schen"  Richtung  arbeitet,  dem  kann  man  auch 
zutrauen,  daß  er  die  Blütenblätter  für  „reale"  Um- 
wandlungen von  Laubblättern  hält,  zumal  wenn 
er  einjährige  Pflanzen  seinen  Beobachtungen  zu- 
grunde legt,  worauf  Goethe  großes  Gewicht 
legt.  Indessen  muß  es  doch  einen  Grund  haben, 
wenn  Goethe  von  seinen  Zeitgenossen  und 
späteren  Autoren  immer  wieder  anders  verstanden 
wird.  Wenn  man  Goethes  Metamorphose  ganz 
unvoreingenommen  liest  und  seine  Darstellung 
z.B.  mit  der  C.  F.  Wolffs  vergleicht,  so  begreift 
man  sehr  wohl,  daß  Sachs  zu  seiner  Auffassung 
kommen  konnte,  denn  an  Wolffs  Darstellung 
gemessen  muß  man  Goethes  Ausdrucksweise 
zum  mindesten  für  unzureichend  erklären.  Wenn 
daher  Hansen  Benecke  gewissermaßen  vor- 
wirft, er  hätte  Goethe  nicht  gelesen,  sondern 
nur  Sachs  wiederholt,  so  ist  das  ein  Vorwurf, 
der  durch  nichts  gerechtfertigt  wird. 

Weniger  glücklich  scheint  dem  Ref.  die  Be- 
weisführung gelungen  zu  sein,  daß  Kaspar 
Friedr.  Wolff  eine  völlig  andere  Auffassung 
von  der  Metamorphose  gehabt  habe  als  Goethe 
und  die  neueren  Morphologen  und  daß  von 
Wolffs  Priorität  eigentlich  keine  Rede  sein 
könne.  Es  wirkt  recht  gequält,  wenn  der  Verf. 
ins  Feld  führt,  daß  „modifizierte"  Blätter  etwas 
ganz  anderes  seien  als  „metamorphosierte"  und 
wenn  er  weitläufig  auseinandersetzt,  daß  „anstatt" 
eine  ganz  andere  Bedeutung  habe  als  „an  der 
Stelle",  oder  wenn  immer  wieder  darauf  hinge- 
wiesen wird,  daß  Wolff  die  Blattanlagen  für 
flüssige  Tropfen  erklärt  habe.  Goethe  selbst 
ist  es  gar  nicht  in  den  Sinn  gekommen,  in  bezug 
auf  die  Deutung  der  Metamorphose  an  Wolff 
Kritik  zu  üben.  Was  Goethe  Wolff  zum  Vor- 
wurf macht,  ist  der  Umstand,  daß  er,  dessen  ent- 
wicklungsgeschichtlich mikroskopische  Methode 
zwar  vortrefflich  sei,  nicht  gesehen  habe,  daß 
sich  das  Organ,  wenn  es  sich  an  Volum  verringere, 
es  sich  zugleich  veredle  und  daß  das  Zusammen- 
ziehen der  Organe  mit  einer  Ausdehnung  ab- 
wechsle. Da  zudem  Goethe  das  Wort  Modi- 
fikation an  einer  Stelle  gleichwertig  mit  Metamor- 
phose gebraucht,  was  übrigens  von  Hansen  be- 
stritten wird,  so  scheint  er  gar  nicht  den  Wert 
auf  die  „reale"  Umbildung  gelegt  zu  haben,  wie 
man  das  heute  tut.  Wie  andere  Goethe  Ver- 
ehrer über  den  Fall  Wolff  denken,  lehren  u.  a. 
einige  Bemerkungen  Schopenhauers,  die  auch 
deswegen  interessant  erscheinen,  weil  hier  Goethe 
sogar  des  Plagiats  beschuldigt  wird.  „Die  sog. 
Metamorphose  der  Pflanzen",  sagt  Schopen- 
hauer, „ein  von  Kaspar  Wolff  leicht  hinge- 


worfener Gedanke,  den,  unter  dieser  hyperbolischen 
Benennung,  Goethe  als  eigenes  Erzeugnis  pomp- 
haft und  in  schwierigem  Vortrage  darstellt,  ge- 
hört zu  den  Erklärungen  des  Organischen  aus  der 
wirkenden  Ursache",  und  an  anderer  Stelle:  „Es 
muß  höchlichst  betrüben,  wenn  wir  Köpfe  ersten 
Ranges  einer  Unredlichkeit  verdächtigt  finden,  die 
selbst  denen  des  letzten  zur  Schande  gereicht"; 
„.  .  .  daher  will  ich  zu  jenen  Fällen  noch  als 
drittes  Seitenstück  anführen,  daß  die  Grundge- 
danken der  „  „Metamorphose  der  Pflanzen" "  von 
Goethe  bereits  1764  ausgesprochen  waren  von 
Kaspar  Friedrich  Wolff  in  seiner  „„Theorie 
von  der  Generation""  S.  148,  229,  243  usw.  (Welt 
alsWilleu.Vorst.il,  S.  391  u.  S.  65  der  Reclam- 
schen  Ausg.).  Obwohl  Hansen  Schopen- 
hauer erwähnt,  scheinen  ihm  diese  Stellen  ent- 
gangen zu  sein,  da  anzunehmen  ist,  daß  er  sonst 
dagegen  Stellung  genommen  hätte.  Die  „Meta- 
morphose" erschien  1790,  und  18 17  schreibt 
Goethe,  daß  er  seit  mehr  als  25  Jahren  von 
und  an  K.  F.  Wolff  gelernt  habe,  woraus  natür- 
lich nicht  folgt,  daß  Goethe  erst  durch  Wolff 
auf  den  Metamorphosengedanken  gebracht  worden 
sei.  —  Hansen  legt  übrigens  auf  die  Prioritäts- 
frage ein  größeres  Gewicht  als  die  meisten  Bota- 
niker, denen  es  wohl  mehr  darauf  ankam,  zu 
zeigen,  daß  die  entwicklungsgeschichtliche  Rich- 
tung in  der  Morphologie  früher  zur  Geltung  ge- 
kommen wäre,  wenn  Wolffs  Verdienste  nicht 
durch  Goethe  gewissermaßen  in  den  Schatten 
gestellt  worden  wären.  Etwas  anderes  meint 
auch  wohl  im  Grunde  genommen  Schieiden 
nicht,  wenn  er  sagt:  „Den  allein  richtigen  Weg 
zur  Durchführung  dieser  Lehre  (Metamorphose) 
schlug  C.  F.  Wolff  (theoria  generationis  1764)  ein, 
indem  er  zuerst  das  Studium  der  Entwicklungs- 
geschichte auch  in  der  Botanik  als  das  wahre 
Prinzip  geltend  machte"  (2.  T.  Grundzüge,  3.  Aufl. 
1850,  S.  241). 

Auf  die  Kritik  Hansens  an  dem  Buch  von 
Kohlbrügge  soll  hier  nicht  eingegangen  wer- 
den, da  es  dem  Ref.  nicht  bekannt  ist;  ebenso 
mag  hier  unerörtert  bleiben,  was  der  Verf.  über 
„Begriffe",  „Ideen"  und  andere  Termini  sagt,  die 
fast  von  jedem  Autor  in  anderem  Sinne  gebraucht 
werden.  Man  mag  mit  dem  Verf.  übereinstim- 
men oder  nicht,  jedenfalls  wird  man  ihm  das 
Zeugnis  ausstellen  können,  daß  er  es  verstanden 
hat,  seine  Leser  durch  die  Leidenschaftlichkeit, 
mit  der  er  seine  Ansichten  vertritt,  zu  fesseln  und 
anzuregen.  Wächter. 

Perzynski,  F.,  Von  Chinas  Göttern.  261  S. 
und  80  Tafeln.  München  1920,  Kurt  Wolff. 
Das  Buch  Perzynskis  bringt  lebensvolle 
Schilderungen  von  Landschaften  und  Menschen  in 
China  und  von  den  Menschenwerken,  namentlich 
taoistischen  und  buddhistischen  Heiligtümern,  die 
der  Gegenwart  aus  alten  Zeiten  erhalten  blieben, 
nun  aber  anscheinend  rascher  Vernichtung  und 
Zerstreuung    anheimfallen,     denn     verständnislos 


N.  F.  XX.  Nr.  i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


»79 


stehen  die  Chinesen  unserer  Tage  den  Denkmälern 
aus  vergangenen  Jahrhunderten  und  Jahrtausenden 
gegenüber.  Der  kulturelle  Verfall  ist  namentlich 
in  Nordchina  schon  recht  weit  gediehen.  In  den 
ersten  Abschnitten  gibt  P.  ein  Bild  Pekings,  der 
Stadt  abenteuerlicher  Sehnsucht,  die  anziehende 
und  abstoßende  Eigenarten  wie  keine  andere 
Stadt  des  Ostens  in  sich  vereinigt.  Dann  folgen 
wir  dem  Verf.  auf  einer  Reise  durch  Honan  nach 
Ichou  mit  den  Kaisergräbern  der  letzten  Dynastie 
(Hsiling),  dann  nach  den  Kultstätten  von  Jehol 
und  Yünkang,  nach  Hangchou  und  endlich  nach 
dem  Süden,  Kanton  und  Makao.  Die  Südchinesen 
haben  sicherlich  weit  mehr  Lebens- und  Schaffens- 
kraft bewahrt,  als  die  des  Nordens;  der  Süden 
birgt  noch  den  Willen  und  die  Kraft  zur  Er- 
neuerung. 

P.s  Buch  ist  keine  alltägliche  Reisebeschreibung, 
die  an  Oberflächlichem  haftet,  sondern  es  ist  aus- 
gezeichnet durch  tiefes  Eingehen  in  die  Wesens- 
art des  chinesischen  Volkes  und  seiner  Kultur- 
schöpfungen.        H.  Fehlinger. 

Much,  Prof.  Dr.  H.,  Pathologische  Biologie 
(Immunitätswissenschaft).  3.  Aufl.  IMit 
6  Tafeln  und  7  Textabb.  Leipzig  1920,  Ka- 
bitzsch.     45  M. 

Die  Bedeutung  der  Immunitätswissenschaft  für 
die  gesamte  Biologie  ist  keineswegs  zu  unter- 
schätzen, obwohl  sie  von  den  meisten  Biologen 
noch  als  ein  Stiefkind  aus  der  anderen  Fakultät 
angesehen  zu  werden  pflegt.  Wie  eng  aber  diese 
noch  junge  Wissenschaft  mit  der  Gesamtheit  der 
^^ragen  des  Lebens  zusammenhängt,  zeigt  hier 
der  bekannte  Verf.,  der  es  verstanden  hat,  die 
leider  noch  allzu  geringen  Ergebnisse  in  klarer 
Form  zusammenzufassen.  Es  liegt  hier  ein  Werk 
vor  uns,  das  dazu  berufen  sein  dürfte,  wenn  es 
richtig  gelesen  und  verstanden  wird,  weithin  re- 
formierend zu  wirken.  Die  Medizin,  die  nicht  nur 
Heilkunde,  sondern  vor  allen  Dingen  auch  „Heil- 
kunst" sein  sollte,  kann  so  manche  Anregung 
daraus  ziehen,  denn  in  der  Tat  sieht  der  junge 
Mediziner  auf  der  Universität  viel  zu  viel  totes 
Material,  das  lebende  wird  stiefmütterlich  be- 
handelt und  mit  Schweigen  übergangen.  Es  ist 
auch  schwer  zu  verstehen,  warum  die  „allgemeine 
Biologie"  wenig  für  die  Immunitätslehre  übrig 
hat,  daß  man  in  den  großen  Lehrbüchern  nur 
kurze  Hinweise  und  Randbemerkungen  finden 
kann.  Und  gerade  hier  ist  noch  beinahe  alles 
zu  tun. 


Die  Probleme  sind  in  dem  vorliegenden  Werke 
schön  herausgemeißelt,  und  man  kann  klar  er- 
kennen, wo  unser  bisheriges  Forschen  hat  Halt 
machen  müssen  und  wo  noch  riesige  Gebiete  aus- 
zubauen sind.  Der  Hauptwert  des  Werkes  liegt 
aber  darin,  daß  der  Verf.,  ein  Reformator  in  der 
Medizin,  in  wärmster  Weise  und  mit  überzeugen- 
der Logik  für  die  Lehre  des  „Wechselspiels  in 
der  Natur"  eintritt.  Hiermit  ist  ein  Programm 
gegeben,  an  dessen  Ausführung  die  nächsten 
Generationen  wohl  ihre  besten  Kräfte  wagen 
dürften.  Bei  dem  Eindringen  in  den  immerhin 
nicht  leichten  Stoff  kommt  der  glänzende,  man 
möchte  fast  sagen  expressionistische  Stil  Muchs 
dem  Leser  in  weitestem  Maße  entgegen. 

Collier,  Frankfurt. 


Fehlinger,  H.,  Das  Geschlechtsleben  der 
Naturvölker,       Monographien    zur    Frauen- 
kunde und  Eugenetik,  Sexualbiologie  und  Ver- 
erbungslehre.     Herausgegeben    von    Dr.    Max 
Hirsch,    Berlin.     Nr.  L     Mit  9  Abb.   im   Text. 
Leipzig  192 1,  Verlag  von  Curt  Kabitzsch. 
Der  Verf.   gliedert   seinen   interessanten   Stoff 
in  folgende  Kapitel :  Das  Schamgefühl  der  Natur- 
völker.    Voreheliche  Freiheit  und  eheliche  Treue. 
Werbesitten.     Die  Ehe.     Geburt    und   Kindesab- 
treibung.    Unkenntnis   der  Zeugung.     Verunstal- 
tungen der   Geschlechtsorgane.      Geschlechtsreife 
und  Verfall.  —  Unter  Verarbeitung  einer  umfang- 
reichen  Literatur   wird   dem   Leser   ein   anschau- 
liches Bild  von  dem  Geschlechtsleben  der  unzivili- 
sierten   Völker   gegeben;    leider    wird    aber    kein 
Versuch  gemacht,  die  Fülle  des  Materials  irgend- 
wie   soziologisch    zu    verarbeiten   wie    das    z.  B. 
F.  Müller-Lyerin  seinen  Büchern  „Formen  der 
Ehe",    „Phasen    der    Liebe"    und    „Die    Familie" 
(Verlag  von  Albert  Langen,  München)  getan  hat, 
wodurch    die    Mannigfaltigkeit    des    Liebes-    und 
Ehelebens   der  Naturvölker   unserem   Verständnis 
wesentlich  näher  gebracht  wird,  worauf  Cunow, 
den   der  Verf  auch   zitiert,   eindringlich   hinweist 
(Neue  Zeit,  33- Jg-,  12.  Febr.  1915).     In  dem  Lite- 
raturverzeichnis des  Verf.  fehlt  der  Name  Müller- 
Lyer  überhaupt,  was  um  so  bedauernswerter  ist, 
als  der  Verf,   nach   einigen  Bemerkungen   zu  ur- 
teilen, in  manchen  Punkten  zu  einer  anderen  Auf- 
fassung zu  kommen   scheint.  —  Wer  sich  für  die 
dargestellte    Materie    interessiert,    wird    aus    dem 
klar  und  ernst-sachlich  geschriebenen  Hefte  mancher- 
lei Anregung  und  Belehrung  schöpfen  können. 

Wächter. 


Naturschutz  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 
Der  unter  dieser  Überschrift  in  Nr.  4  der  Naturwissenschaft- 
lichen  Wochenschrift  vom  23.  Januar  192I,  S.  55  erschienenen 
Bericht  von  H.  Fehlinger  kann  zu  Mißverständnissen  Anlaß 
geben,  da  der  Verf.  die  amerikanischen  Ausdrücke  „National 
Park'-  und  „National  Monument"  durch  deutsche  Bezeich- 
nungen wiedergegeben  hat,   die   sich   mit  jenen  nicht  decken. 

Das   deuUche  „Naturschutzpark"  kann,   auf  Amerika   an- 


Anregungen  und  Antworten. 


gewendet,  bedeuten:  i.Von  der  Zentralregierung  zu  Washington 
eingerichtete  Naturschutzgebiete  (federal  reservalions) ;  sie 
werden  eingeteilt  in  „National  Parks"  und  „National  Monu- 
ments". 2.  Gebiete,  die  von  den  einzelnen  Bundesstaaten 
eingerichtet  worden  sind  —  State  Parks  oder  Reservations. 

Die  National  Parks  werden  durch  Gesetzerlaß  des  Kon- 
gresses geschaffen  und  sind  im  allgemeinen  große  Gebiete,  die 
vornehmlich    wegen   ihrer   landschaftlichen    Eigenart,   mit   der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  i8 


auch  herTorragende  naturwissenschaftliche  Werte  verknüpft 
sind,  unter  Schutz  gestellt  werden.  National  Monuments  wer- 
den durch  Proklamation  des  Präsidenten  der  Vereinigten 
Staaten  geschaffen,  sind  teils  Gebiete,  die  in  erster  Linie 
wegen  ihrer  historischen  oder  prähistorischen  Denkmäler  zur 
Erhaltung  bestimmt  worden  sind,  teils  aber  solche,  die  her- 
vorragende Naturdenkmäler  enthalten  und  daher  in  demselben 
Sinne  wie  die  Nationalparke  Naturschutzgebiete  darstellen. 
Von  den  34  jetzt  bestehenden  National  Monuments  gehören 
20  zu  dieser  zweiten  Gruppe,  während  nur  14  archäologische 
oder  geschichiliche  Reservate  sind  (vgl.  auch  Ahrens,  Die 
Nationalparke  der  Vereinigten  Staaten.  Naturdenkmäler,  Vor- 
träge und  Aufsätze  Heft  22,  Berlin  1919,  Gebrüder  Born- 
traeger). 

Im  Anfang  des  erwähnten  Berichtes  wird  nun  von  den  in 
Amerika  bestehenden  „Naturschulzparken"  gesprochen.  Ge- 
meint sind  aber  nur  die  19  jetzt  bestehenden  National  Parks. 
Alsdann  spricht  Verf.  von  33  „kleineren  Naturdenkmälern", 
womit  er  die  (jetzt  34)  „National  Monuments"  meint.  V^'ie 
aber  eben  gezeigt  wurde,  sind  ein  großer  Teil  von  diesen 
archäologische  oder  historische  Reservate.  Natürlich  kann 
in  einem  solchen  Schutzgebiet  zugleich  auch  die  Natur  er- 
halten werden ;  das  ist  z.  B.  der  Fall  beim  Mesa  Verde  Na- 
tional Park.  Die  Ruinenstälte  „Casa  Grande"  kann  jedoch 
nicht,  wie  Verf.  es  tut,  als  „Naturdtnkmal"  bezeichnet 
werden,  da  dieses  Nationalmonument  durchaus  archäologisch 
ist.  Es  besteht  aus  ausgedehnten  Trümmern,  die  mitten  in 
der  Wüste  liegen.  Dagegen  ist  der  erwähnte  „Teufels-Turm" 
ein  echtes  Naturdenkmal,  da  er  aus  einer  großartigen,  turm- 
förmigen  Basaltmasse  besteht,  und  das  große  „Devil's  Tower 
National  Monument"  wäre  daher  als  Naturschutegebiet  zu  be- 
trachten. Diesen  Ausdruck  aber  auf  das  Ruinenleid  von  Tu- 
macacori  anzuwenden,  wie  es  in  dem  Berichte  geschieht,  ist 
wiederum  verfehlt,  da  es  sich  hier  um  ein  ausgesprochen  ar- 
chäologisches Reservat  handelt. 

Hiernach    scheint    es    mir    empfehlenswert,    in    deutschen 
Berichten    über    Am-rika     die     dort    gebräuchlichen     Namen 
Nationalparke  und  Nationalmonumente  beizubehalten, 
■       Dr.  Tb.  G.   Ahrens, 
Mitarbeiter  der  Staatlichen  Stelle  für  Naturdenkmalp6ege 
in  Preußen. 


Kettenbildung  zum  Zwecke  der  Flußübersetzung  bei 
Ameisen.  Kritische  Bemerkungen  zu  dem  Bericht  über  Wander- 
ameisen von  M.  Schips,  Zürich  (in  Nr.  39  des  vorigen  Jahr- 
gangs). In  diesem  Berichte  wird  eine  „Beobachtung"  wieder- 
gegeben, welche  der  Romanschriftsteller  N  Jacques  nicht 
nur  in  einem  Roman  verwertet,  sondern  auch  in  einer  Notiz 
der  Züricher  Zeitung  mitteilt,  wo  er  versichert,  daß  er  sie 
selbst  am  Ufer  des  Itajahi  in  Südbrasilien  gemacht  habe.  Herr 
Schips  teilt  diese  „Beobachtung"  mit  als  Beweis,  „wie  raffi- 
niert es  die  Tiere  oft  anstellen,  um  über  Schwierigkeiten 
Herr  zu  werden",  wenn  er  auch  weiterhin  etwas  einschränkend 
bemerkt;  ,,so  merkwürdig  dieser  Bericht  erscheinen  mag,  so 
braucht  er  doch  nicht  ohneweiters  in  das  Gebiet  der  Fabel 
gewiesen  zu  werden".  Was  mir  allerdings  aus  inneren  Grün- 
den notwendig  zu  sein  scheint,  wenn  man  auch  (gewöhnlich 
ist  es  nicht  der  Fall)  Romane  und  Zeitungsnotizen  als  Quellen 
für  wissenschaftliche  Mitteilungen  gelten  lassen  wollte. 

Es  handelt  sich  „wahrscheinlich"  um  einen  Zug  der  sog. 
Besuchsameisen,  die  bis  3  cm  lang  werden.  Sie  sollen 
an  dem  12 — 14  m  breiten  Flusse  eioe  Kette  gebildet  haben. 
,,Jede  hatte  sich  mit  den  Vorderbeinen  in  den  Hinterleib  des 
Vordertieres  eingekrallt,  und  so  schoben  sie  sich  in  die 
Strömung  hinein,  während  sich  die  unterste  (dem  Flußlaufe 
nach)  am  Ufer   festhielt.      Die  ganze  Kette    machte    sich  starr 


wie  ein  Stecken  und  wurde  so,  durch  die  Strömung  langsam 
um  die  unterste  Ameise  gedreht,  über  den  Fluß  geschoben." 
Dort  hielt  sich  die  letzte  fest,  dann  ließ  die  erste  los  und  so 
gelangte  die  ganze  Kette  durch  die  Strömung  auf  die  andere 
Seite. 

Mich  erinnerte  diese  Mitteilung  sofort  an  die  Fabel  von 
der  Kettenbildung  der  Affen,  um  einen  Fluß  zu  übersetzen, 
oder  gar  eine  Art  Brücke  über  diesen  zu  bilden,  wobei  nur 
der  Unterschied  obwaltet,  daß  die  durch  das  erste  Individuum 
an  einem  hohen  Baum  eines  Ufers  festgehaltene  Kette  sich  in 
Schwingungen  versetzt  und  so  das  jenseitige  Ufer  erreicht.  Zu 
Gunsten  dieser  Affengeschichte  kann  übrigens  die  Überlegungs- 
fähigkeit der  genannten  hochstehenden  Säugetiere  ins  Feld 
geführt  werden,  was  von  der  Ameise  nicht  gilt  Von  ihnen 
heißt  es  weiter:  „Diese  Kettenbildung  der  Ameisen  liegt 
durchaus  im  Bereiche  des  Möglichen  wegen  gewisser  Starr- 
zustände, die  bei  Insekten  nicht  selten  sind,  so  bei  den  Ge- 
spenstheuscbrecken,  aber  auch  bei  unseren  Spannerraupen,  bei 
welchen  sie  freilich  „im  Bereiche  der  Lebensgewohnheiten 
dieser  Tiere  liegen",  während  es  sich  bei  den  Ameisen  „um 
eine  spontane  Äußerung  handeln  würde,  welche  die  höhere 
Entwicklung  des  Instinkts  bei  den  gesellig  lebenden  Tieren 
iii  ein  neues  Licht  stellt".  Aber  mit  einem  willkürlichen 
Sich-starr-machen  wäre  es  ja  noch  gar  nicht  getan.  Es  wird 
hier  den  Ameisen  ein  komplizierter  Gedankenprozeß  unter- 
schoben, der  sich  wohl  durch  Instinkt  nicht  erklären  läßt,  auch 
wenn  man  wie  Herr  Schips  geneigt  ist,  die  höhere  Ent- 
wicklung desselben  bei  gesellig  lebenden  Insekten  gelten  zu 
lassen.  Endlich  ist  es  auch  technisch  nicht  denkbar,  daß  eine 
12 — 14  m  lange  Kette  (I)  von  wenn  auch  noch  so  großen 
Ameisen  durch  Ineinanderkrallen  einen  steifen  Körper  bildet. 
Wie  soll  denn  dieses  Ineinanderkrallen  geschehen  sein?  An 
den  BerühruDgsstellen  hätte  denn  doch  die  Beweglichkeit  er- 
halten bleiben  müssen,  da  ja  nur  die  Vorderbeine  in  den 
(übrigens  harten  und  glatten!)  Hinterleib  der  anderen  Ameise 
eingekrallt  gewesen  sein  sollen.  Mir  ist  das  Ganze,  sowie 
jede  Einzelheit  im  höchsten  Grade  unglaublich  I 

Wien.  Prof.  Dr.  E.  Witlaczil. 


Die  im  Jahre  1912  gegründete  Gesellschaft  für  positi- 
vistische  Philosophie  ist  jetzt  der  Kantgesellscbaft  beigetreten 
und  wird  dort  eine  besondere  Gruppe  für  positivistische 
Philosophie  bilden  (Gruppenschrififührer  Dr.  R.  Potonie, 
Berlin  W,  NoUendorfstr.  31/32).  J.  Petzoldt, 


Druckfeblerberichtigung. 
In  Nr.  9  dies.  Jahrg.  der  Naturw.   Wochenschr.    muß  auf 
Seite  142  der  Name  des  Verfassers  R,  Ulbricht  und  der  des 
Verlegers  R.  Oldenbourg  heißen,  statt  K.  Ulbricht  und 
K.  Oldenbourg. 

Literatur. 

J  e  11  i  n  e  k  ,  Prof.  Dr.,  Das  Weltengeheimnis.  Stuttgart  '30, 
Ferdinand  Enke. 

Moszkowski,  Einstein.  Einblicke  in  seine  Gedanken- 
welt.    Hamburg  '20,   Hoffmann  &  Co. 

Schneider,  I.,  Das  Raum-Zeit- Problem  bei  Kant  und 
Einstein.     Berlin  '20,  Julius  Springer. 

Die  Naturwissenschaften.  Wochenschrift,  Heft  30,  8.  Jahr- 
gang. Sonderheft  zur  Feier  der  Entdeckung  der  Röntgen- 
strahlen vor  25  Jahren.     Berlin  '20,    Julius  Springer. 

Stock,  A.,  Ultra-Strukturchemie.  2.  Aufl.  Berlin  '20, 
Julius  Springer. 

B  ö  h  m  i  g ,  Prof.,  Die  Zelle  (Morphologie  und  Vermehrung). 


Inlialt:  Fr.  Vierhapper,  Eioe  neue  Einteilung  der  Pflanzengesellschaften.  S.  265.  —  Binzelbericbte:  H.  Philipp, 
Eine  neue  Theorie  der  Gletscherbewegung.  S.  274.  Werth,  Altsteinzeitliche  Funde  im  Sinaigebiete.  S.  275. 
R.  Brauns,  Der  Meteorstein  von  Forsbach.  S.  276.  —  Bücberbesprecbungen:  A.  Hansen,  Goethes  Morphologie. 
S.  277.  F.  Perzynski,  Von  Chinas  Göttern.  S.  278.  H.  Much,  Pathologische  Biologie  (Immunitätswissenscbaft). 
S.  279.  H.  Fehlinger,  Das  Geschlechtsleben  der  Naturvölker.  S.  279.  —  Anregungen  und  Antworten:  Natur- 
schutz in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.  S.  279.  Kettenbildung  zum  Zwecke  der  Flußübersetzung  bei  Ameisen. 
S.  2S0.     Gesellschaft  für  positivistische  Philosophie.  S.  280.  —  Druckfehlerberichtigung.  S.  280.  —  Literatur:  Liste.  S.  280. 

Manuakripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Guitav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Npue  Folpe  10.  Band; 
der  ganxen  Reih©  36.  Band. 


Sonntag,  den  8.  Mai  1921. 


Nummer  19. 


Eine  neue  Einteilung  der  Pflanzengesellschaften. 

Nach  einem  am  7.  April  1919  in  der  Geographischen  Gesellschaft  zu  Wien  gehaltenen  Vortrage, 


[Nachdruck  verboten.l  Von  Prof.  Dr.  Friedrich 

3.  Einteilung  der  Formationen. 

Um  nun  zu  einer  Klassifikation  der  Formationen 
zu  gelangen,  wie  sie  den  natürlichen  Verhältnissen 
in  möglichst  weitgehendem  Maße  gerecht  wird, 
ist  es  nötig,  auf  alle  Momente,  die  für  die  Cha- 
rakterisierung der  Formationen  in  Betracht  kom- 
men, also  vor  allem  auf  die  Physiognomie,  Öko- 
logie und  Entwicklungsgeschichte,  Rücksicht  zu 
nehmen.  Je  gleichmäßiger  dies  geschieht,  desto 
natürlicher  wird  die  Einteilung  sein,  und  umge- 
kehrt um  so  künstlicher,  je  mehr  ein  einziges 
Moment  in  den  Vordergrund  gestellt  oder  eines 
vernachlässigt  wird. 

Während  das  Volk  die  Formationen  nur  nach 
der  Physiognomie  unterscheidet  und  bezeichnet, 
wie  Wald,  Au,  Wiese  usw.,  hat  die  Pflanzengeo- 
graphie schon  seit  langem  erkannt,  daß  Physio- 
gnomie und  Ökologie  zwei  unzertrennbare  Merk- 
male jeder  Formation  sind.  Schon  Grisebach 
(1872),  der  Begründer  des  Formationsbegriffes, 
sagt :  „Die  Anordnung  der  Pflanzenformen  zu  den 
physiognomischen  Abschnitten  der  Landschaft 
oder  den  Formationen  ihrer  Vegetation  hängt  im 
allgemeinen  vom  Boden,  von  seiner  Mischung  und 
Feuchtigkeit  ab."  Demgemäß  sind  die  meisten 
Einteilungen  der  Formationen  physiognomisch- 
ökologisch,  wobei  eines  der  beiden  Momente,  ent- 
weder die  Physiognomie  oder  die  Ökologie,  als 
Haupteinteilungsmerkmal  benützt  wird. 

So  ist  von  Drudes  Einteilungen  die  im 
„Handbuch  der  Pflanzengeographie"  (1890)  in 
Wald-,  Gebüsch-  und  Gesträuch-,  Grasflur-  und 
Stauden-,  Moos-  und  Flechten-,  Binnengewässer-, 
ozeanische  und  schließlich  unzusammenhängende 
Formationen  vorwiegend  physiognomisch,  während 
die  in  der  „Ökologie  der  Pflanzen"  (191 3)  unter- 
schiedenen zwölf  Vegetationstypen  nach  physio- 
gnomisch-ökologischen  Gesichtspunkten  gebildet 
und  größtenteils  auch  benannt  sind.     Sie  heißen: 

I.  Immergrüne  Tropenwaldungen;  2.  Tropisch-regengriine 
Waldungen;  3.  Subtropisch-immergrüne  HarUaubwaldungen ; 
4.  Etesial-boreale  sommergrüne  Laub-  und  frostharte  Nadel- 
waldungen; 5.  Immergrüne  und  periodisch  belaubte  Nieder- 
holzformationen aus  Gebüsch  und  Gesträuch ;  6.  Hochgras- 
steppen, Baumsteppen  und  Savannen ;  7.  (Immergrüne)  Gras- 
wiesen und  Grasmoore ;  8.  Xerophytensteppen  und  Wüsten- 
steppen ;  9.  Chamäphyten,  Moose  und  Flechten  auf  saurem 
Boden ;  10.  Süßwasserbestände  und  limnische  Uferformalionen ; 
II.  Halophytische  Küstenförmationen ;  12.  Submerse  Halo- 
phytenformationen. 

Auf  rein  ökologischer  Basis,  nach  dem  Wasser- 
haushalt, sind  E.  Warmings  (1896,  1902)  Klassen 
der  Hydro-,  Xero-,  Halo-  und  Mesophytenvereine 


Vierhapper  in  Wien.  (Schluß.) 

begründet.  Gleichfalls  auf  ökologischer  Basis,  mit 
Benützung  des  Nährstoffgehaltes  des  Bodens  als 
Haupteinteilungsmoment,  hat  Graebner  (1903) 
die  Formationen  Norddeutschlands  gegliedert  Er 
unterscheidet  Vegetationsformen : 

A)  Auf  nährstoffreichem  Boden.     I.  Mit  übermäßiger  An- 
reicherung auch  tierischer  organischer   Stoffe :    Ruderalstellen. 
II.  Ohne  übermäßige  Anreicherung  von  Nährstoffen,     a)  Trok- 
kener    Boden.       I.    Unkultivierter    Boden:     a)    Mergelhaitiger 
Boden:    Sonnige    Hügel,    Abhänge;    ß)    Sandboden:    Binnen- 
dünen;   2.    Kultivierter    Boden:     Weinberge,    Obstplantagen 
b)  Mäßig  feuchter,    selten  nasser  Boden :    Wälder  oder  künst 
liehe  Wiesen,  Äcker;    c)  Wenigstens   zeitweise    nasser   Boden 
in  Niederungen.       I.    Ohne    übermäßige  Anreicherung    pflanz 
licher  Reste,  also  mit  schwach  humosem  oder  stark  humosem 
dann    aber  noch  ziemlich  lufthaltigem ,    also  lockerem  Boden 
fast    stets    an  mehr  oder  weniger  fließendem    und  sickerndem 
Wasser.     «)  Ohne  Überschwemmung  von  Flüssen  und  Eisgang 
Erlenbrüche;    ß)  Mit  Überschwemmung    großer    Flüsse,    ohne 
Eisgang:  Auenwälder;  y)  Mit  Überschwemmung  und  Eisgang 
Natürliche    Wiesen;    2.    Der    ganze  Boden  aus  schwammigem 
in  geringer  Tiefe  bereits  luftarmem,  naß  schmierigem,  trocken 
hartem  oder  pulverigem,  schwarzem  Humus  bestehend :  Wiesen 
moore;    d)  Wasser:    Landseen,   Flüsse.    —    B)  Auf  nährstoff- 
armem Boden;  I.  Sehr  trockener  Boden:  Sandfelder.    II.  Trok 
kener  bis  mäßig  feuchter,  zeitweise  auch  nasser  Boden :    Hei 
den.    III.  Nasser  Boden:  Heidemoore.  —  C)  Auf  salzhaltigem 
Boden :  I.  Trockener,  sandiger  Boden :  Stranddünen.    II.  Feuch 
ter    Boden:    Salzwiesen.       III.     Nasser     Boden:     Salzsümpfe 
IV.  Wasser:  Meere,  Salzgewässer. 

Vorwiegend  ökologisch  charakterisiert,  mit  ge- 
ringem Einschlage  des  physiognomischen  Momentes, 
sind  auch  die  Hauptgruppen  in  Warmings  und 
Graebners  dritter  Auflage  des  Warming- 
schen  Lehrbuches  der  ökologischen  Pflanzengeo- 
graphie (1918).     Es  sind: 

I.  Halophytenvereine ;  2.  An  süßes  Wasser  gebundene 
Vereine ;  3.  Mesophile  und  hygrophile  Formationen ;  4.  For- 
mationen auf  Torf  böden ;  5.  Kältewüsten ;  6.  Vereine  der 
Stein-  und  Sandböden ;  7.  Hartlaubformationen ;  8.  Subxero- 
phile Formationen  mit  Grasböden;  9.  Vereine  der  ariden  Ge- 
biete (Einöden). 

Als  ökologisch-physiognomische  Einteilung  ver- 
dient auch  die  Di  eis'  (1908,  1910)  hervorgehoben 
zu  werden.  Seine  „Typen  der  Vegetationsge- 
staltung" sind : 

I.  Hydatophytia,  im  Wasser:  Thalassium  (Meeres-),  Lim- 
nium  (See-),  Potamium  (Flußformationen).  —  II.  Mesophytia, 
von  mittlerer  Wasserbilanz:  Tropodrymium  (Savannenwald), 
Therodrymium  (Sommerwald),  Conodrymium  (Nadelwald), 
Mesothamnium  (Hartlaubgesträuch) ,  Mesopoium  (Savanne), 
MesopUorbium  (Matte).  —  III.  Hygrophytia,  von  hochwertiger 
Wasserbilanz :  Halodrymium  (Mangrove) ,  Hygrodrymium 
(Regenwald),  Hygropoium  (Wiese),  Hygrophorbium  (Flach- 
moor), Hygrosphagnium  (Hochmoor).  —  IV.  Xerophytia,  von 
niederer  Wasserbilanz:  Xerodrymium  (Trockenwaldj,  Xero- 
thamnium  (Dornbusch  usw.),  Xeropoium  (Steppe),  Xerophor- 
bium  (Trift). 


3S3 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  19 


Den  Entwicklungsgedanken  hat  zuerst  Schim- 
per  (1898)  zur  Grundlage  einer  großzügigen 
Klassifikation  der  Vegetationsformationen  gemacht, 
die  auch  dem  ökologischen  und  physiognomischen 
Standpunkte  gerecht  wird.  Er  trennte,  wie  schon 
gesagt,  diejenigen  Formationen,  welche  in  einem 
Gebiete  als  Endstadien  von  Sukzessionen  am 
meisten  vom  Boden  sich  emanzipiert  haben  und 
um  so  mehr  vom  Klima  abhängen,  dessen  physio- 
gnomischer  Ausdruck  sie  gewissermaßen  sind,  als 
klimatische  oder  Gebietsformationen  von  den 
edaphischen,  die  als  Anfangs-  oder  Übergangs- 
stadien  mehr  unter  der  Herrschaft  des  —  stets 
in  bezug  auf  Feuchtigkeit  oder  Nährstoffgehalt 
extrem  ausgebildeten  —  Bodens  als  des  Klimas 
stehen.  Die  klimatischen  Formationen  teilt  er 
nach  dem  ökologischen  Gesichtspunkte  der  Be- 
schaffenheit des  Klimas  in  die  auch  physiogno- 
misch  verschiedenen  Haupttypen  der  Gehölze, 
Grasfluren  und  Wüsten.  Jeder  derselben  ist  durch 
ein  eigenes  Klima  bedingt.  Das  Gehölzklima  ist 
durch  warme  Vegetationszeit,  beständig  feuchten 
Untergrund  bei  verschiedener  Verteilung  der 
Niederschläge  und  feuchte  und  ruhige  Luft, 
namentlich  im  Winter,  das  Grasflurklima  durch 
häufige,  wenn  auch  nur  schwache,  die  Feuchtig- 
keit des  Obergrundes  erhaltende  Niederschläge  in 
der  Vegeiaiionszeit  und  gleichzeitig  mäßige  Wärme, 
das  Wüstenklima  durch  extreme  Kälte  oder 
Trockenheit  gekennzeichnet.  „Gehölzklima  führt 
zum  Sieg  des  Gehölzes,  Grasflurklima  zum  Sieg 
der  Grasflur.  In  Übergangsklimaten  entscheiden 
edaphische  Einflüsse  den  Sieg.  Stärkere  Ab- 
weichungen vom  Gehölzklima  und  vom  Grasflur- 
klima rufen  die  Wüste  hervor."  Die  edaphischen 
Formationen  gliedert  er  in  durch  Bodenwasser 
bedingte,  wie  Galeriewälder  und  Sümpfe,  und  dem 
Bodenwasser  mehr  minder  entrückte  auf  nacktem, 
festem  oder  losem  Gestein,  wie  die  Fels-  und  Sand- 
fluren. Durch  Sukzessionen  verschiedener  Art  ver- 
mögen edaphische  in  die  dem  betreffenden  Klima  ent- 
sprechenden klimatischen  Formationen  überzugehen. 

Vom  rein  genetischen  oder  besser  dynamischen 
Standpunkte  aus  betrachtet,  können,  wie  schon 
erwähnt,  die  Formationen  Anfangs-,  Übergangs- 
oder Endstadien  einer  Entwicklungsreihe  (Serie) 
eines  Veränderungs(Sukzessions-)prozesses  sein. 
Das  eingehende  System,  welches  der  Amerikaner 
Clements  (1916)  von  diesen  Serien  gegeben 
hat,  indem  er  einfache  und  zusammengesetzte 
(seres  und  coseres)  unterscheidet,  die  ersteren  in 
Primär-  und  Folgeserien  (Priseres  und  Subseres) 
gliedert,  deren  jede  er  wieder,  je  nachdem  sie 
naß  (hydrarch)  oder  trocken  (xerarch)  beginnt, 
in  Hydroseres  und  Xeroseres  spaltet,  von  den 
letzteren  die  klimatisch  bedingten  als  Cliseres  und 
von  diesen  die  einer  geologischen  Periode  ange- 
hörigen  als  Eoseres  und  alle  zusammen  als  Geo- 
seres  zusammenfaßt  usw.,  kommt  für  unsere  Ein- 
teilung, die  neben  dem  dynamischen  auch  das 
statische  IVIoment  berücksichtigen  will,  als  zu  ein- 
seitig nicht  weiter  in  Betracht. 


Ein  anderes  Prinzip  der  Einteilung  der  Forma- 
tionen auf  ökologisch- genetischer  Grundlage  ist  die 
Absonderung  der  durch  den  Menschen  geschaffenen 
Formationen  als  sekundäre,  anthropogene  oder 
Kulturformationen  von  den  ursprünglichen,  die 
man  als  primäre  oder  Naturformationen  bezeichnen 
kann.  Die  IVIitte  zwischen  beiden  Extremen  halten 
die  Halbkulturformationen.  Bernätsky  (1904) 
unterscheidet  in  dieser  Hinsicht: 

A)  Natürliche  Formationen.  I.  Unangetastete,  II.  Beein- 
flußte Urformationen;  III.  Infolge  tiefgreifender  Einwirkung 
umgewandelte  Formationen  mit  natürlicher  Erhaltung  durch 
regelmäfliges  Abmähen  oder  Abweiden;  IV.  Kulturellen  Ein- 
griffen ausgesetzt  gewesene,  nun  von  neuem  dem  Urzustände 
überlassene  Formationen  ohne  nennenswerte  Veränderung  des 
Bodens  oder  mit  solcher.  —  B)  Kulturformationen.  V.  Eigent- 
liche Kulturfelder;  VI.  Kulturformationen  mit  natürlichem  Zu- 
wachs. —  C)  Natürlicher  Ausbildung  überlassene  Kulturforma- 
tionen an  Stelle  einstigen  Kulturlandes.  VII.  Echte  Ruderal- 
formationen;  VIII.  Übergangsformationen;  IX.  Endformationen, 
a)  von  der  Urformation  verschieden,  b)  dem  Urzustände  glei- 
chend. 

Eine  ökologisch  -  physiognomische  Einteilung, 
deren  erste  drei  Hauptgruppen  mit  Schimpers 
klimatischen  Formationstypen  übereinstimmen,  und 
zu  denen  noch  als  vierte  das  Phytoplankton 
kommt,  haben  Brockmann- Jerosch  (1912) 
und  Rubel  (1912,  1913,  1915)  durchgeführt.  Die 
Unterteilung  erfolgt  auch  nach  physiognomischen 
und  ökologischen,  und  zwar  zum  Teil  klimatischen, 
zum  Teil  edaphischen  IVIerkmalen.  Dieses  System 
hat  folgende  Gestalt: 

I.  Lignosa  (Gehölze).  I.  PluvnUgnosa  (Regengehölze); 
a) /'/«z'»(V;7j'a<! (Regenwälderl,  b)  Pluvüfruticeta  (Regengebüsche) ; 
2.  Laurihgnosa  (Lorbeergehölze) :  a)  Laurisilvae  (Lorbeerwäl- 
der), b)  Laurifrutueta  (Lorbeergebüsche) ;  3.  Duribgnosa  (Hart- 
laubgehölze) ;  a)  Dttrhilvae  (Hartlaubwälder),  b)  Diirifrutiata 
(Hartlaubgebüsche);  4,  EruUignosa  (Heidegehölze):  Erici- 
Jruticeta  (Heiden) ;  5.  Decidtälignosa  (Fallaubgehölze) :  a)  Aesta- 
tisilvae  (Sommerwälder),  b)  Aestatifruticeta  (Sommergebüsche), 
c)  Hicmhilvae  (Monsunwälder),  d)  Hicmifrutketa  (Monsun- 
gebüsche); 6.  Acictililigiiosa^)  (Nadelgehölze):  a)  Aciculisilvat-^) 
(Nadelwälder),  b)  Acicultfruticcta ')  (Nadelholzgebüsche).  — 
II. /"ra/ö  (Wiesen).  l.Terriprata  (Bodenwiesen):  3.)  Duripiatn 
(Hartwiesen),  b)  Sempcrvirentiprata  (Immergrüne  Wiesen), 
c)  A'itoherbiprata  (Hochstaudenwiesen);  2.  Aquiprata  (Wasser- 
wiesen); a)  Emersipiata  (Eraerse  Wasserwiesen),  b)  Submersi- 
prata  (Submerse  Wasserwiesen),  c)  Spkagnioprata  (Hochmoore). 
—  III.  Deserta  (Einöden).  I.  Siccideserta  (Steppen) ;  2.  Siccis- 
simideserla  (Wüsten);  t,.  Frigorideserta  (Kälteeinöden);  ^.  Lila- 
rideserta  (Sirandsteppen) ;  5.  Mobilideserta  (Wandereinöden).  — 
IV.  Phytoplankton. 

Die  mit  römischen  Ziffern  bezeichneten  Kate- 
gorien nennen  die  Verfasser  Vegetationstypen,  die 
mit  arabischen  Ziffern  Formationsklassen,  die  mit 
Buchstaben  Formationsgruppen.  Ein  eigenes  Ka- 
pitel und  eine  schematische  Karte  haben  sie  der 
Darstellung  der  klimatischen  Anordnung  ihrer 
Formationsgruppen  gewidmet.  Als  wichtigste 
klimatische  Momente  kommen  in  dieser  Hinsicht 
die  Wärmeverhältnisse  und  der  Klimacharakter 
in  Betracht.  Die  ersteren  werden  vor  allem  durch 
die  geographische  Breite,  der  letztere  hauptsäch- 
lich  durch   das  Verhältnis   der  Lage   eines  Ortes 


')  Kübel  (1915)  statt  Conilignosa,  Conisilvae,   Conifruti- 
ceta  Brockmann-Jerosch  und  Rubel  (1912). 


N.  F.  XX.  Nr.  19 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


283 


zu  den  großen  Land-  und  Wasserflächen  in  Ver- 
bindung mit  der  herrschenden  Windrichtung  be- 
dingt. Im  einen  Sinne  gibt  es  tropische,  ge- 
mäßigte und  arktische,  im  anderen  ozeanische, 
mittlere  und  kalte  Klimate.  Es  kann  also  das 
Klima  eines  Ortes  tropisch- kontinental,  gemäßigt- 
ozeanisch usw.  sein.  Den  ozeanischen  Klimaten 
entsprechen  in  den  tropischen  Gebieten  die 
Pluviisilvae,  in  den  subtropischen  die  Laurisilvae, 
in  den  gemäßigten  die  Ericilignosa  und  in  den 
subarktischen  die  Sempervirentiprata ;  den  konti- 
nentalen vom  Äquator  gegen  die  Pole  die  Siccis- 
simideserta  und  Aciculisilvae ;  den  mittleren  in 
gleicher  Reihenfolge,  zwischen  die  Formations- 
gruppen der  ozeanischen  und  kontinentalen  einge- 
schaltet und  sie  miteinander  verbindend,  die  Hiemi- 
silvae,  Durisilvae  und  Aestatisilvae  und  zwischen 
allen  diesen  drei  Gruppen  und  den  Siccissimi- 
deserta  die  Siccideserta.  In  den  ozeanischen  Ge- 
bieten herrschen  die  immergrünen  Pflanzengesell- 
schaften mit  frischgrün  gefärbtem  Laube,  in  den 
mittleren  und  kontinentalen  laubwechselnde  oder, 
wenn  immergrün,  mit  trübgrüner  Färbung.  Die 
Polargrenzen  der  ersteren  biegen  sich  mit  der 
Entfernung  von  den  Küsten  äquatorwärts,  die  der 
letzteren  polwärts.  Der  Gegensatz  zwischen 
ozeanischem  und  kontinentalem  Klima  wird  mit 
abnehmender  Wärme,  also  gegen  die  Pole  zu 
immer  geringer  und  um  diese  herum  hat  eine 
eigene  Formationsgruppe,  die  Frigorideserta, 
allenthalben  die  Alleinherrschaft.  Im  großen  und 
ganzen  sind  sowohl  die  Trockenwüsten  als  auch 
die  Kältewüsten  von  den  Wäldern  durch  Gras- 
fluren, und  zwar  die  ersteren  durch  die  Steppen, 
die  letzteren  durch  die  „immergrünen"  Wiesen 
getrennt.  Durch  das  Vorhandensein  von  Gebirgen, 
Passatwinden  usw.  erleidet  dieses  Schema  in  Wirk- 
lichkeit ganz  bedeutende  Modifikationen.  Mit 
steigender  vertikaler  Höhe  erfolgt  ein  ähnlicher 
Wechsel  der  Formationsgruppen  wie  mit  zu- 
nehmender geographischer  Breite. 

Die  übrigen  Formationsgruppen,  das  sind  die 
Aquiprata,  Litorideserta,  Mobilideserta  und  der 
Vegetationstypus  des  Phytoplankton,  konnten,  da 
hauptsächlich  edaphisch  bedingt,  in  dieser  Dar- 
stellung begreiflicherweise  keine  Aufnahme  finden. 

Ich  habe  die  Einteilung  Brockmann-Je- 
roschs  undRübels  zur  Grundlage  einer  neuen 
Klassifikation  gemacht  (Vierhapper  1918). 
Gleich  diesen  beiden  Forschern  halte  ich  eine 
möglichst  innige  Verbindung  des  ökologischen 
Momentes  mit  dem  physiognomischen  zur  Be- 
gründung der  Hauptgruppen  für  unumgänglich 
nötig  und  glaube,  daß  eine  besondere  Betonung 
des  letzteren  gerade  für  den  Geographen  von  Be- 
deutung ist.  Daneben  soll  aber  auch  der  ent- 
wicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt  stark  in  den 
Vordergrund  treten.  Aus  ökologischphysiogno- 
mischen  Gründen  wird  die  Vegetation  des  Wassers 
mit  seinen  ganz  anderen  Standortsverhältnissen 
von  der  des  Landes  getrennt,  aus  genetischen 
werden  innerhalb  der  drei  ersten  Haupttypen  der 


Landvegetation  die  edaphischen  Gruppen  von  den 
klimatischen  gesondert,  während  auf  die  vor- 
wiegend physiognomische  Unterscheidung  der 
Wälder  (silvae)  und  Gebüsche  (fruticeta)  innerhalb 
der  Gehölze  (lignosa)  weniger  Gewicht  gelegt 
wird.  Aus  ökologisch- physiognomischen  und  ge- 
netischen Gründen  wird  als  vierter  Haupttypus 
der  Landvegetation  der  Lithos  abgesondert.  Er 
ist  gleich  der  gesamten  Wasservegetation  in  erster 
Linie  edaphisch  bedingt.  Der  entwicklungsge- 
schichtlichen Auffassung  gemäß  werden  neben  den 
klimatischen  und  edaphischen  die  spezifisch  anthro- 
pogenen  Gruppen  separat  hervorgehoben. 

Die  Deciduilignosa,  die  die  Schweizer  als  eigene 
Formationsklasse  führen,  werden  in  die  beiden 
Klassen  der  Hiemilignosa  und  Aestatilignosa  ge- 
trennt. Von  den  Prata  der  Schweizer  Autoren 
werden  die  Submersiprata  zur  Wasservegetation 
gestellt,  die  Emersiprata  aber  in  Aquiprata  s.  s. 
(Sümpfe)  und  Paludiprata  (Sumpfwiesen)  geteilt. 
Die  Altoherbiprata  werden,  in  etwas  erweitertem 
Umfange  aufgefaßt,  als  Herbiprata  bezeichnet  und 
infolge  ihrer  vorwiegend  edaphischen  Bedingtheit, 
indem  sie  sich  beispielsweise  als  Quellfluren  an 
fließendem  Wasser,  als  Karfluren  meist  auf  Rutsch- 
flächen, als  Läger  auf  überdüngten  Plätzen  finden, 
mit  den  Aqui-  und  Paludiprata  zur  edaphischen 
Formationsklasse  der  Prata  vereinigt.  Von  den 
Sempervirentiprata  werden  die  Frigidiprata  (Alpen- 
matten) und  Musciprata  (Moostundren)  als  eigene 
Formationsklassen  abgetrennt.  Die  Siccideserta 
werden  zu  den  Prata  gezogen  und  in  Calidiprata 
(Savannen)  und  Sicciprata  (Steppen)  getrennt,  die 
Duriprata  zu  letzteren  geschlagen.  Die  Felsvege- 
tation, welche  die  Schweizer  nicht  als  eigene  Klasse 
bewerten,  wird,  soweit  sie  die  Chasmophyten  um- 
faßt, in  Anbetracht  der  großen  Zahl  spezifischer 
Typen  unter  diesen  als  eigene,  den  Mobilideserta 
gleichwertige  edaphische  Formationsklasse  ge- 
führt, soweit  sie  aber  aus  epi-  und  endolithischen 
Algen  und  Flechten  besteht,  gemeinsam  mit  den 
„kryptogamen  Pionieren"  auf  losem  Gestein  zum 
Vegetationstypus  des  Lithos  vereinigt.  Die  Unter- 
teilung der  Wasservegetation  erfolgt  im  Sinne 
Warmings,  Diels'  und  anderer  Pflanzengeo- 
graphen. 

In  Abweichung  von  meiner  erster  Zusammen- 
stellung teile  ich  nun,  einer  Anregung  Schröters 
(Zürich)  folgend,  dem  Kryoplankton  einen  höheren 
Rang  zu,  stelle  ihm  das  eigentliche  Plankton  als 
Hydroplankton  gegenüber  und  streiche  das  Sapro- 
plankton  als  rein  anthropogene  Formationsklasse. 
Den  Rest  der  Sempervirentiprata  der  Schweizer 
stelle  ich,  soweit  es  sich  nicht  um  anthropogene  For- 
mationen handelt,  als  Litoriprata  zu  den  edaphi- 
schen Wiesen  und  vermehre  diese  noch  um  die 
Areniprata,  sowie  die  früher  als  klimatisch  be- 
zeichneten Sphagniprata  und  Musciprata.  Als 
Prata  anthropogener  Herkunft  führe  ich  nun  auch 
die  Foeniprata  und  Segetalia  auf.  Den  Namen 
Hiemilignosa  ändere  ich  als  unzutreffend,  da  er 
besagen  soll,  daß  diese  Gehölze  im  Winter  grün  sind, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  19 


während  in  Wirklichkeit  ihre  Vegetationsperiode 
mit  dieser  Jahreszeit  nicht  zusammenfallt,  in  Sic- 
cilignosa,  wodurch  angedeutet  wird,  daß  sie  haupt- 
sächlich durch  Trockenheit  beeinflußt  werden  und 
auch  durch  diese  ihr  Laub  verlieren.  Statt 
Aciculilignosa  sage  ich  nun  wieder  Conilignosa, 
Nektobenthos  wird  in  Haptobenthos  umgeändert. 
Es  gestaltet  sich  also  meine  Einteilung  folgen- 
dermaßen : 

Vegetationshaupitypus  A :  Vegetation  des  Landes. 
Vegetationstypus  I.  Lignosa  (Gehölze). 

a)  Klimatische  Formationsklassen  :  I.  Pluviilignosa  (Regen- 
gehölze); 2.  Laurilignosa  (Lorbeergebölze) ;  3.  Durilignosa 
(Hartlaubgehölze) ;  4.  Siccilignosa  (Monsumgehölze) ;  5.  Aesta- 
tilignosa  (Sommergehölze);  6.  Conilignosa  (Nadelgehölze); 
7.  Ericilignosa  (Heidegehölze). 

b)  Edaphische  Formalionsklassen.  1.  Marilignosa  (Man- 
grovegebölze);  2.  Fluviilignosa  (Augehölze) ;  3.  Paludilignosa 
(Bruchgehölze). 

Vegetationstypus  II.  Prala  (Wiesen). 

a)  Klimatische  Formationsklassen.  I.  Calidiprata  (Sa- 
vannen) ;  2.S  icciprata  (Steppen) ;   3.   Frigidiprata  (Matten). 

b)  Edaphische  Formalionsklassen.  I.  Sphagniprata  (Hoch- 
moore); 2.  Musciprata  (Moostundren);  3.  Paludiprata  (Sumpf- 
\yiesen) ;  4.  Aquiprata  (Sümpfe);  5.  Litoriprata  (Strandwiesen) ; 
6.  Areniprata  (Sandwiesen);   7.  Herbiprata  (Staudenfluren). 

c)  Anthropogene  Formationsklassen.  I.  Foeniprata  (Mäh- 
der);   2.  Pinguiprata  (Fettwiesen);  3.  Segetalia  (Felder). 

■Vegetationstypus  III.   Deserta  (Einöden). 

a)  Klimatische  Formationsklassen.  1.  Siccissimideserla 
(Trockenwüsten) ;  2.  Frigidideserta  (Kältewüslen). 

b)  Edaphische  Formationsklassen.  I.  Saxideserta  (Fels- 
fluren) ;  2.  Mobilideserta  (Wanderfluren) ;  3.  Litorideserta  (Salz- 
fluren). 

c)  Anthropogene  Formationsklasse.  I.  Ruderalia  (Rude- 
ralvegetation). 

Vegetationstypus  IV.     Lithos  (Gesteinsvegetation). 

Edaphische  Forraationsklassen.  I.  Xerolithos  (Flechten- 
überzüge) ;  2.  Hygrolithos  (Algenüberzüge). 

Vegetationshaupttypus  B :   Vegetation  des  Wassers. 
Vegetationstypus  I.     Kryoplankton  (Klebevegetation). 

Edaphische  Formationsklasse.  I.  Kryoplankton  (Eis- 
kleber). 

Vegetationstypus  II.     Hydroplankton  (Schwebevegetation). 
Edaphische  Formationsklassen.    1.  Haloplankton  (Meeres- 
schweber);  2.  Limnoplankton  (Süfiwasserschweber) ;   3.  Sapro- 
plankton  (Morastschweber). 

Vegetationstypus  111.     Pleuston  (Schwimmvegetation). 

Edaphische  Forraationsklassen.  I.  Mikropleuston  (Klein- 
schwimmer) ;  2.  Sargasson  (Sargassovegetation) ;  3.  Hydro- 
chariteon  (Grofischwimmer). 

Vegetationstypus  IV.     Haptobenthos  (Haftvegetation). - 
Edaphische  Formationsklassen.      I.  Mikrobenthos    (Klein- 
hafter) ;  2.  Halobenthos  (Meereshafter) ;  3.  Limnobenthos  (Süß- 
wasserhafter). 

Vegetationstypus  V.     Rhizobenthos  (Wurzelvegetation). 
Edaphische  Formationsklassen.    I.  Enhalideon  (Seegräser); 
2.  Limnaeon  (Laichkräuter). 

Die  Vegetationstypen  der  Lignosa  und  Prata 
umfassen  nur  geschlossene  Formationen.  In  den  Lig- 
nosa sind  stets  Holzgewächse  die  herrschende  Vege- 
tationsform. Die  Pluviilignosa  sind  die  üppigste 
aller  Formationsklassen,  mit  dem  größten  Stoff- 
umsatz; ihre  Gehölze  sind  größtenteils  immer- 
grün; die  Laurilignosa  sind  eine  abgeschwächte 
Form,  die  Durilignosa  überdies  mehr  an  Trocken- 
heit angepaßt;  die  Holzgewächse  der  Siccilignosa 
verlieren  in  den  Trockenzeiten,  die  der  Aestati- 
lignosa  im  Winter  ihr  Laub;  die  Coni-  und  Eri- 
cilignosa sind  durch  nadel-  oder  schuppenformige. 


meist  immergrüne  Blätter  ihrer  Gehölze  ausge- 
zeichnet. Die  Marilignosa  sind  immergrün  und 
den  Pluviilignosa  ähnlich,  die  Fluvii-  und  Palu- 
dilignosa, den  Klimaten  entsprechend,  teils  im- 
mer-, teils  sommergrün.  —  In  den  Prata  herrschen 
Gräser,  seltener  Moose  oder  krautige  Gewächse. 
Die  Savannen  sind  die  üppigste  Formationsklasse 
mit  vorherrschenden  Hochgräsern;  in  den  Sicci- 
prata  und  Frigidiprata  überwiegen  Horstgräser, 
die  ersteren  sind  in  den  Trockenzeiten  dürr  und 
beherbergen  viele  Kräuter,  die  letzteren  sind  an 
solchen  arm  und  meist  immer  frisch;  in  den 
Sphagniprata  dominieren  Sphagnen,  in  den  Musci- 
prata Laubmoose,  in  den  Paludiprata  Grasartige 
und  Moose,  in  den  Aquiprata  Rohrgräser,  Binsen 
usw.,  in  den  Litoriprata  rasige,  in  den  Areniprata 
Ausläufer  treibende  Gräser,  in  den  Herbiprata 
Stauden,  in  den  Foeniprata  Horst-  und  Rasen- 
gräser, in  den  Pinguiprata  letztere  und  in  den 
Segetalia  einjährige  Gräser  oder  krautige  Ge- 
wächse. —  Die  Deserta  umfassen  nur  offene  For- 
mationen mit  holzigen  und  krautigen  Pflanzen. 
Die  Siccissimi-  und  Frigidideserta  haben  den  Be- 
sitz von  Polsterpflanzen  gemein,  erstere  enthalten 
oft  auch  dornige  Vegetationsformen,  letztere 
Spaliergehölze;  in  den  Saxideserta  spielen  horst- 
förmige  oder  dichtrasige,  in  den  Mobilideserta 
wandernde  Gräser  und  Stauden,  in  den  Litori- 
deserta saftstrotzende  Halophyten  die  Hauptrolle. 
—  Der  Lithos  besteht  nur  aus  thallophytischen 
Gewächsen,  und  zwar  der  Xerolithos  hauptsäch- 
lich aus  Flechten,  der  Hygrolithos  aus  Algen.  — 
Das  Kryoplankton  ist  aus  haftenden,  das  Hydro- 
plankton aus  schwebenden  und  aktiv  schwimmen- 
den, vorwiegend  einzelligen  Algen  zusammenge- 
setzt. Das  Pleuston  umfaßt  die  passiv  schwim- 
menden Typen  des  Wassers,  und  zwar  das  Mikro- 
pleuston hauptsächlich  Fadenalgen,  das  Sargasson 
losgerissene  Halobenthosformen  und  das  Hydro- 
chariteon  Blütenpflanzen  und  Farne.  Vom  Hapto- 
benthos, der  haftenden  Vegetation  des  Wassers, 
besteht  das  Mikrobenthos  aus  Fadenalgen,  das 
Halobenthos  vornehmlich  aus  kugeligen,  laub-  und 
sproßartigen  Algen,  das  Limnobenthos  aus  ge- 
wissen Moosen  [Fonfinalis  usw.)  und  Podostemo- 
nazeen ;  vom  Rhizobenthos  endlich,  der  aquatischen 
Wurzelvegetation,  das  Enhalideon  hauptsächlich 
aus  bandblättrigen  Monokotyledonen,  das  Limnaeon 
außer  aus  solchen  auch  aus  anders  gebauten  Mono- 
und  Dikotyledonen. 

Die  klimatischen  Formationsklassen  gedeihen 
über  trockenem  bis  mäßig  feuchtem  Boden,  in 
dem  der  Humus  mehr  oder  weniger  über  die 
mineralischen  Bestandteile  überwiegt;  die  eda- 
phischen  im  Wasser,  auf  mehr  oder  weniger  nas- 
sem Boden,  auf  trockenem  aber  nur  dann,  wenn 
er  ein  ausgesprochenes  Übergewicht  an  minera- 
lischen Bestandteilen  aufweist.  Die  klimatischen 
Formationsklassen  sind  natürlich  auch  edaphisch 
mitbedingt,  wie  umgekehrt  auch  die  edaphischen 
in  größerem  oder  geringerem  Grade  vom  Klima 
abhängig  sind ;   die  anthropogenen  sind  entweder 


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durch  die  Tätigkeit  des  Menschen  entstanden  oder 
werden  doch  durch  sie  erhalten  und  wesentlich 
beeinflußt. 

Die  klimatischen  Formationsklassen  sind  in 
besonders  hohem  Grade  für  bestimmte  Klimate 
bezeichnend,  und  zwar  die  Pluviilignosa  für  ein 
tropisch-ozeanisches,  die  Siccilignosa  und  Calidi- 
prata  für  ein  tropisch-mittleres,  die  Siccissimide- 
serta  für  ein  tropisches  bis  gemäßigtes  kontinen- 
tales, die  Laurilignosa  für  ein  subtropisch-  bis 
warmgemäßigt-ozeanisches,  die  Durilignosa  für  ein 
subtropisch-  bis  warmgemäßigt  -  mittleres ,  die 
Sicciprata  für  ein  subtropisches  bis  gemäßigtes 
kontinentales,  die  Ericilignosa  für  ein  subtropisch- 
ozeanisches bis  arktisches,  die  Aestatilignosa  für 
ein  gemäßigtes  ozeanisches  bis  mittleres,  die 
Conilignosa  für  ein  gemäßigtes  mittleres  bis  kon- 
tinentales, die  Frigidiprata  und  Frigidideserta  für 
ein  arktisches. 

Unter  den  edaphischen  Klassen  sind  die  Mari- 
lignosa  an  den  Meeresstrand  der  Tropen,  die 
Fluviilignosa  an  fließende,  die  Paludilignosa  an 
stehende  Süßwässer  gebunden.  Die  Sphagniprata 
finden  sich  auf  feuchtem  ,nährstofifarmem,  von  ihnen 
selbst  gebildetem  Substrate  in  ozeanischen  Kli- 
maten,  die  Paludiprata  auf  feuchten  mineralreichen 
Böden,  die  Musciprata  auf  feuchten  Böden  speziell 
in  Gebieten  arktischen  Klimas,  die  Aquiprata  sind 
in  besonders  hohem  Grade  vom  Wasser  abhängig, 
die  Litoriprata  treten  im  Überflutungsgebiete  des 
Meeres  (Marschen)  und  der  Flußläufe  auf;  die 
Areniprata  sind  für  Sandboden  bezeichnend;  die 
Herbiprata  finden  sich  auf  feuchten  Rutschflächen 
und,  in  anderer  Form,  auf  überdüngten  und  quel- 
ligen Stellen.  Die  Saxideserta  sind  an  festes,  die 
Mobilideserta  an  loses  Gestein,  die  Litorideserta 
an  salzreichen  Boden  gebunden.  Der  Xerolithos 
bekleidet  trockenes,  der  Hygrolithos  feuchtes  festes 
oder  loses  Gestein.  Von  der  Vegetation  des 
Wassers  gedeiht  das  Kryoplankton  auf  Eis  und 
ewigem  Schnee,  das  Haloplankton  und  Sareasson 
im  offenen  Meere,  das  Halobenthos  auf  den  Felsen, 
dasEnhalideon  im  Sande  und  Schlamme  der  Küsten 
des  Meeres,  letzteres  auch  im  Brackwasser,  das 
Limnoplankton,  Mikropleuston  und  Hydrochariteon 
in  stehendem,  das  Limnobenthos  in  fließendem  Süß- 
wasser; Mikrobenthos  findet  sich  sowohl  im  Meere 
als  auch  im  Süßwasser;  Saproplankton  ist  für  an 
organischen  Stoffen  überreiche  Wässer  bezeichnend 
und  so  zum  Teil  anthropogener  Herkunft.  —  Von 
den  edaphischen  Formationsklassen  kommen  die 
Marilignosa,  Sphagniprata  und  Musciprata  den 
klimatischen  zunächst,  während  ihnen  der  Lithos 
am  fernsten  steht. 

Unter  den  anthropogenen  Formationsklassen 
werden  die  Foeniprata  nur  gemäht,  die  Pingui- 
prata  gedüngt  und  gemäht,  seltener  auch  gebaut, 
dieSegetalia  stets  gebaut,  gedüngt  und  geschnitten. 
Alle  drei  verlangen  nährstoffreichen  Boden.  Die 
Ruderalia  finden  sich  auf  durch  den  Menschen 
direkt  oder  indirekt  mit  Nährstoffen,  insbesondere 
Nitraten,   überreicherter   Unterlage.     Vom   Klima 


sind    die    genannten    anthropogenen    Klassen    in 
mittlerem  Ausmaße  abhängig. 

In  genetischer  Hinsicht  sind  die  klimatischen 
Formationsklassen  im  allgemeinen  die  Endstadien 
progressiver  Sukzessionen,  während  unter  den 
edaphischen  Lithos  und  Plankton,  und  zwar  ersterer 
bei  xerarcher,  letzteres  bei  hydrarcher  Entwicklung, 
Anfangsstadien,  die  anderen  aber  Übergangsstadien 
sind.  Im  Verlaufe  von  xerarchen  Sukzessionen 
folgen,  wenn  die  Serie  geschlossen  ist,  in  Gebieten 
mit  Gehölzklima  auf  den  Lithos  ein  Desertum, 
auf  dieses  ein  Pratum  und  auf  dieses  ein  Ligno- 
sum,  in  solchen  mit  Grasflurklima  kommt  das 
Lignosum,  in  solchen  mit  Wüstenklima  auch  das 
Pratum  in  Wegfall;  bei  hydrarcher  Entwicklung 
folgen,  wenn  der  Verlauf  ein  typischer,  dem  Hy- 
droplankton  Benthosformationen  und  eventuell 
auch  Pleuston,  diesen  aquatisch-edaphische  Aqui- 
und  Paludiprata  und  eventuell  auch  Sphagniprata 
und  diesen  erst  die  dem  betreffenden  Klima  ent- 
sprechenden klimatischen  Endstadien. 

Die  Formationsklassen  können  nach  verschie- 
denen Gesichtspunkten  in  Formationsgruppen  ge- 
teilt werden.  Von  den  Klassen  der  Lignosa,  mit 
Ausnahme  der  Ericilignosa,  unterscheiden  die 
Schweizer  auf  hauptsächlich  physiognomisch- öko- 
logischer Grundlage  je  zwei  Gruppen,  die  sie  als 
Silvae  und  Fruticeta  bezeichnen.  Mir  erscheint 
es  hingegen  mehr  angebracht,  deren  mehr,  und 
zwar  je  nachdem  die  dominierenden  Lebensformen 
Bäume,  Sträucher,  Halb-,  Zwerg-  oder  Spalier- 
sträucher  sind,  Silvae,  Fruticeta,  Suffruticeta,  Nano- 
und  Prostratofruticeta  auseinanderzuhalten.  Die 
Flechtentundren  der  Arktis  und  der  Hochgebirge 
schließen  sich  an  die  Spalierstrauchformations- 
gruppe  (Prostratofruticeta  der  Ericilignosa  —  Loi- 
seleurietum  usw.  —  an.  Ähnliche  Beziehungen 
bestehen  wohl  zwischen  den  Moostundren  und  der 
Spalierweidenformation  (Salicetum  reticulatae,  her- 
baceae  usw.),  eines  zwergigen  Paludilignosum  der 
gleichen  Gebiete.  Auch  eine  Unterteilung  der 
Klassen  der  Prata  ist  sowohl  nach  physiognomi- 
schen  —  z.  B.  der  Aquiprata,  Herbiprata  — ,  als 
noch  mehr  nach  ökologischen  und  genetischen 
Momenten  sehr  erwünscht.  Besonders  naheliegend 
ist  eine  solche  der  Klassen  der  Deserta  in  physio- 
gnomischer  Hinsicht,  je  nachdem  Polsterpflanzen, 
Sukkulente,  Dornbüsche  usw.  überwiegen.  Inner- 
halb der  Klassen  des  Lithos  wären,  vor  allem 
nach  der  Konsistenz  und  der  chemischen  Be- 
schaffenheit des  Gesteines,  ob  es  fest  oder  lose, 
kalkarm  oder  -reich,  salzhaltig  usw.,  Gruppen  zu 
bilden;  innerhalb  derer  des  Wassers  nach  dessen 
Nährstoff-  und  Sauerstoffgehalt,  Temperatur  usw. 
Es  liegt,  um  so  mehr  als  es  sich  um  keine 
stabilen  Größen  handelt,  in  der  Natur  der  Sache, 
daß  es  zwischen  den  verschiedensten  der  Kate- 
gorien unseres  Systems  der  Pflanzengesellschaften 
sowohl  in  physiognomischer  und  ökologischer  als 
auch  genetischer  Beziehung  eine  Menge  Übergangs- 
formen gibt,  die^  oft  die  Erkennung  der  Typen 
sehr   erschweren.     So    vor   allem   zwischen   den 


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klimatischen,  edaphischen  und  anthropogenen 
Formationsklassen.  Wie  schwer  ist  es  doch  oft 
zu  beurteilen,  inwieweit  irgendein  Wiesentypus 
auf  die  eine  oder  andere  Weise  bedingt  ist.  Zwi- 
schen der  Vegetation  des  Wassers  und  Landes 
vermitteln  beispielsweise  die  Aquiprata,  zwischen 
den  Siccilignosa  und  Calidiprata  der  Tropen  die 
Baumsavannen  ebenso  wie  zwischen  den  Coni- 
lignosa  und  Frigidiprata  an  der  Baumgrenze  un- 
serer Alpen  die  aus  Narduswiesen  und  Ericifruti- 
ceta  mit  zerstreut  wachsenden  Bäumen  bestehenden 
Vereine  der  Kampfzone.  Auch  diese  Bindeglieder 
sind  entweder  edaphisch,-  wie  im  ersten,  klima- 
tisch und  zum  Teil  wohl  auch  anthropogen,  wie 
im  zweiten  und  dritten  Beispiele,  bedingt.  Die 
Calidiprata  sind  nicht  nur  mit  den  Siccilignosa, 
sondern  auch  mit  den  Sicciprata  und  diese  beiden 
—  durch  die  „Halbwüsten"  —  mit  den  Siccissi- 
mideserta,  sowie  auch  die  Frigidiprata  mit  den 
Frigidideserta  durch  Übergänge  verbunden.  Das 
Kryoplankton  ist  eine  Art  Mittelding  zwischen 
dem  Hydroplankton  und  dem  Hygrolithos.  Viele 
Bindeglieder  sind  nur  vom  genetischen  Stand- 
punkte aus  zu  erklären,  als  Intermediärformen 
zwischen  zwei  Stadien  einer  Sukzession,  wie  die 
Übergangsmoore  zwischen  Paludi-  und  Sphagni- 
prata  in  vielen  hydrarchen  Sukzessionen.  Schwierig 
ist  es  oft  auch,  an  irgendeinem  Übergangsstadium 
festzustellen,  ob  es  einer  pro-  oder  retrogressiven 
Sukzession  angehört. 

Wollte  man  statt  der  Formationen  die  Asso- 
ziationen zu  klassifizieren  versuchen,  so  käme  für 
die  Wertung  und  Einreihung  der  einzelnen  Typen, 
für  die  Erklärung  ihres  Werdeganges  und  Zusam- 
menhanges neben  dem  physiognomischen ,  ökolo- 
gischen und  genetischen  auch  noch  das  phyletische 
und  historische  IVIoment  in  Betracht.  Hierauf  ein- 
zugehen wäre  in  Anbetracht  der  Komplexität  der 
Zusammenhänge  eine  noch  viel  schwierigere  Auf- 
gabe, besonders  für  den  floristisch  nicht  geschulten 
Geographen.  Ich  bin  mir  aber  wohl  bewußt,  daß 
auch  ohne  an  sie  heranzutreten  mein  Klassifikations- 
versuch ein  unzureichender  ist.  Sind  mir  doch 
viele  der  genannten  Formationsklassen  nicht  aus 
eigenem  Anschauen  bekannt.  Wenn  ich  ihn  dessen- 
ungeachtet veröffentliche,  so  geschieht  es  nur  um 
allgemein  anregend  zu  wirken  und  nicht  um  einen 
starren  Rahmen  zu  schaffen,  in  den,  wie  Grad- 
mann (1900)  es  tadelt,  alles,  was  da  noch  kommt, 
hineingezwängt  werden  soll.  Denn  ich  bin  gleich 
dem  Genannten  und  DuRietz  (1917)  vom  großen 
Werte  der  induktiven  JVIethode  der  Forschung 
vollauf  überzeugt  und  auch  davon ,  daß  es  dem 
einzelnen  Forscher  frei  stehen  soll,  die  Pflanzen- 
vereine eines  bestimmten  Gebietes  nach  eigenem 
Ermessen  einzureihen  und  zu  benamsen,  wie  er 
es  für  gut  hält.  Doch  sehe  ich  keinen  Anlaß 
dazu,  mit  einer  Gesamtklassifikation  zu  warten 
bis  alle  Vereine  der  Erde  bekannt  und  benannt 
sind.  Der  richtige  Weg  liegt  vielmehr  meines 
Erachtens  in  einem  zielbewußten  Zusammenarbeiten 
der  deduktiven  und  induktiven  Methode,  und  ich 


glaube  sogar,  daß  ein  und  derselbe  Forscher 
beide  Wege  mit  Erfolg  betreten  kann,  den  induk- 
tiven, indem  er  die  einzelnen  Pflanzengesell- 
schaften, soweit  sie  ihm  zugänglich  sind,  so  genau 
als  möglich  und  streng  realistisch  zu  verstehen 
und  zu  unterscheiden  sucht,  und  den  deduktiven, 
indem  er  dem  idealen  Ziele  eines  natürlichen 
Systemes  der  P'ormationen  und  Assoziationen 
näher  zu  kommen  trachtet. 


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Kraus,  G.,  Boden  und  Klima  auf  kleinstem  Raum. 
Jena  1911. 

LUdi,  W.,  Die  Sukzession  der  Pflanzenvereine.  In  Mitt. 
Naturf.  Ges.  Bern   1919. 

Raunkiaer,  C.,  Om  biologiske  Typer,  med  Hensyn  lil 
Plant.  Tilp.  at  overl.  ug.  Aarst.    In  Bot.  Tidsskr.  XXVII,  1904. 

—  — ,  Planterigets  LiTsformer.  Kjöbnhavn  og  Kristiania 
1907. 

,  Livsformernes  Statistik  som  Grundlag  for  biologisk 

Plantegeografi.     In  Bot.  Tidsskr.  XXIX,   1908. 

Reiter,  H.,  Die  Konsolidation  der  Physiognomik.  Als 
Versuch  einer  Ökologie  der  Gewächse.     Graz   1885. 

Rubel,  E.,  siehe  Br  ockm  ann  -  J  erosch   1912. 

—  — ,  Ökologische  Pflanzengeographie,  in  Handwörter- 
buch der  Naturwissenschaften  Bd.  IV,   1913. 

—  — ,    Ergänzungen    zu    Brockmann-Jeroschs    und 


Rübeis     „Einteilung    der    Pflanzengesellschaften''.      In    Bcr. 
deutsch,  bot.  Ges.  XXXIII,   1915. 

Schiniper,  A.  K.  W. ,  Pflanzengeographie  auf  physio- 
logischer Grundlage.     Jena   1898. 

Schroeter,  C.  und  K  ir  chner,  O.,  Die  Vegetation  des 
Bodensees.  II.     Lindau   1902. 

,  siehe  Flahault,   1910. 

Simroth,  H.,  Die  Pendulationstheoric.     Leipzig   I907. 

Tengwall,  T.  A.,  siehe  Du  Rietz,   1918. 

Vierhapper.F.,  Zur  Kritik  und  Klärung  einiger  pflanzen- 
geographischer  Fegriffe  und  Bezeichnungen.  In  Verh.  zool.- 
bot.  Gesellsch.  Vitien  LXVIll,   1918. 

War  min  g,  E.,  Plantesamfund  ,  Grundträk  af  den  öko- 
logiske  Plantengeografi.     Kjöbenhavn   1895. 

—  — ,  Lehrbuch  der  ökologischen  Pflanzengeographie. 
Deutsche  Ausgabe  von  Knobloch.     Berlin   1896. 

—  — ,  Lehrbuch  der  ökologischen  Pflanzengeographie. 
2.  Aufl.  von  P.  Graebner.     Berlm   1902. 

,  und   Graebner,  P.,    Lehrbuch  der  ökologischen 

Pflanzengeographie.     3.  Aufl.     Berlin   1918. 


Bücherbesprechungen. 


Lehmann,   J.,   Die   Ornamente  derNatur- 
und  Halbkulturvölker  mit  einem  Bei- 
trag zur  Entwicklung  der  Ornamente 
und    ihrer    Verwertung    für    Kunstge- 
werbe   und  Architektur.      i6i   S.,    davon 
61  Tafeln.    Frankfurt  a.  M.  1920,  Jos.  Bär  &  Co. 
In    langjährigen   Studien    hat    der  Direktorial- 
assistent am   Völkermuseum   zu   Frankfurt   a.  M., 
Dr.  J.  L  e  h  m  a  n  n,  ein  umfangreiches  iVIaterial  über 
die  Ornamentik  der  Natur-   und  Halbkulturvölker 
gesammelt,    das    er  in   dem  vorliegendem  Buche 
zu    einem    Überblick    über    die  Entwicklung   der 
Ornamente  und  ihre  Verbreitung  verarbeitete.    Es 
war  ein  glücklicher  Gedanke  von  dem  Verf.,   da- 
bei von  vornherein  auf  eine  umständliche  gelehrte 
Beschreibung  zu  verzichten,  dafür  aber  um  so  mehr 
Abbildungen  zu  bieten  und  durch  diese  die  Orna- 
mente selber  sprechen  zu  lassen.    Die  zahlreichen 
Abbildungen,    die    nach   guten   Federzeichnungen 
angefertigt  wurden,  sind  nach  zwei  Gesichtspunkten 
angeordnet.    Ihr  erster,  allgemeiner  Teil  will  einen 
Überblick   über   die  Entwicklung   der  Ornamente 
geben,   während  ein   zweiter  spezieller  Teil   geo- 
graphisch   geordnet   das   Vorkommen    der   Orna- 
mente in  den  einzelnen  Ländern  zeigt.     Eine  am 
Schluß  angefügte  farbige  Tafel  läßt  erkennen,  wie 
sich  aus  diesen  einfachen  Ornamenten   durch  far- 
bige Ausführung  für  Kunstgewerbe  und  Architektur 
ungemein   dekorativ   wirkende  Zierformen  gewin- 
nen lassen.     Der  Text   umfaßt   außer  der  Einlei- 
tung nur  10  Seiten,    er   handelt   im  wesentlichen 
von  der  Klassifikation  der  Ornamente,   ihrer  Ent- 
stehung   und  Entwicklung,    und    ihren   verwandt- 
schaftlichen Beziehungen  untereinander.    Ein  sorg- 
fältig ausgewähltes  Literaturverzeichnis   will  allen 
denen,    die  eingehendere  Studien  machen  wollen, 
ein  Führer  durch  die  umfangreiche  Literatur  sein. 
Das  Buch   selbst  dürfte   einmal   all   den   Kreisen, 
die  sich  mit  der  Völkerkunde  oder  der  Geschichte 
der  Kunst  beschäftigen,  im  Hinblick  auf  die  schier 
unerschöpflichen  Variationen,  in  denen  die  primi- 


tive Kunst  mit  den  einfachsten  Mitteln  immer 
wieder  neue  Gebilde  zu  gestalten  weiß,  einen 
Einblick  in  die  primitive  Kunst  überhaupt  ge- 
währen, daneben  aber  auch  für  unsere  Kunstge- 
werbler  eine  wertvolle  Materialsammlung  mit  im- 
mer neuer  Anregung  zu  ornamentalem  Schaffen 
sein. 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Oppenheimer,  Prof.  Dr.  phil.  et  med.  Carl, 
München,  Kleines  Wörterbuch  der  Bio- 
chemie und  Pharmakologie.  Veits 
Sammlung  wissenschaftlicher  Wörterbücher. 
228  S.  Berlin  und  Leipzig  1920,  Vereinigung 
wissenschaltlicher  Verleger,  Walter  de  Gruyter 
u.  Co.     Geb.  16  M. 

Dieses  kleine  außerordentlich  praktische  Buch, 
in  das  die  Bezeichnungen  der  menschlichen  Or- 
gane, Sekrete,  Fermente,  aller  biochemisch  und 
pharmakologisch  wichtigen  Stoffe  aufgenommen 
wurden,  zeichnet  sich  durch  große  Vollständig- 
keit aus,  wovon  sich  Ref.  durch  eine  Reihe  von 
Stichproben  überzeugen  konnte.  Fehlt  doch  nicht 
einmal  die  in  Lavendelblüten  ihr  trockenes  Da- 
sein fristende  Eidechse  Stincus  marinus,  die  nur 
noch  in  alten  Apotheken  zu  finden  ist.  Das  Werk 
kann  vor  allem  den  Ärzten  und  Apothekern  für 
den  täglichen  Gebrauch  empfohlen  werden,  wird 
aber  auch  vielen  anderen  Interessenten,  denen 
keine  größeren  Werke  zur  Verfügung  stehen,  als 
Nachschlagebuch  gute  Dienste  leisten.  Eine  Reihe 
von  Druckfehlern,  die  bei  der  Reichhaltigkeit  des 
Gebotenen  fast  unvermeidbar  sind,  mögen  bei  der 
sicher  bald  zu  erwartenden  zweiten  Auflage  kor- 
rigiert werden.  Hier  sei  nur  erwähnt,  daß  „Der- 
matol"  fehlt,  obwohl  bei  dem  Stichwort  Bismutum 
darauf  hingewiesen  wird.  S.  16  wird  als  Syn. 
von  Andira  Geoffraia  angeführt,  S.  79  wird  Goffrea 
geschrieben;  nach  Linne  heißt  die  Pflanze 
Geoffraea,  nach  anderen  Autoren  Geoffroya. 

Wächter, 


288 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


t<.  F.  XX.  Nr.   ig 


Jagow,  Dr.  K. ,  Kulturgeschichte  des 
Herings.  Langensalza  1920,  Wendt  und 
Klauwell.  13  M. 
Der  Verf.  hat  mit  sehr  anerkennenswertem 
Fleiß  und  großer  Gründlichkeit  alles  über  diesen 
volkstümlichsten  aller  Fische  zusammengetragen 
und  ansprechend  dargestellt,  was  in  kulturge- 
schichtlicher Hinsicht  von  Interesse  ist.  Er  er- 
örtert die  Etymologie  der  Heringsnamen,  schildert 
die  Geschichte  der  Heringsfischerei,  insbesondere 
die  Heringszölle  und  -abgaben  und  verweilt  dann 
bei  der  Rolle,  die  der  Hering  im  Sprichwörter- 
schatz der  verschiedenen  heringsfangenden  Völker 
spielt.  In  den  folgenden  Kapiteln  werden  volks- 
tümliche Anschauungen  über  den  Hering,  das 
Auftreten  und  Verschwinden  der  Züge,  die  Wun- 
derheringe, die  Fischerregeln  und  -silten,  aber- 
gläubische Vorstellungen  behandelt.  Dann  ist 
dem  bekannten  angeblichen  Entdecker  der  Kon- 
servierung der  Heringe,  Wilhelm  Beukels, 
ein  besonderes  Kapitel  gewidmet.  Der  Verf. 
zeigt,  daß  es  sich  um  eine  Sage  handelt,  die  sich 
um  einen  Ratsherrn  dieses  Namens  in  der  flan- 
drischen Stadt  Biervliet  gebildet  hat.  Schließlich 
wird  die  Rolle  dargestellt,  die  der  Hering  in  der 
Volksmedizin  und  in  der  Heraldik  spielt.  Das 
letzte  Kapitel  bringt  Sagen  und  Anekdoten  über 
den  Hering.  Sehr  schätzenswert  sind  die  umfang- 
reichen literarischen  Nachweise,  die  in  einem  An- 
hange gegeben  werden.  Miehe. 


Lorentz,  H.  A.,    Einstein,  A.,    Minkowski,  H., 
Das  Relativitätsprinzip.      Eine    Samm- 
lung  von    Abhandlungen.      Heft  2   der    „Fort- 
schritte der   mathematischen  Wissenschaften  in 
Monographien" ;  herausgegeben  von  O.  Blumen- 
thal.   Dritte,  verb.  Aufl.     146  S.     Leipzig  und 
Berlin  1920,  B.  G.  Teubner.     Geh.  16  M. 
Es  ist  sehr  zu  begrüßen,   daß  durch   die  vor- 
liegende   Zusammenstellung   die   in    der  Literatur 
zerstreuten    grundlegenden    Untersuchungen  über 
das   Relativitätsprinzip   nun    mühelos  im  Original 
zugänglich  werden.     Es  handelt  sich  um  die  bei- 
den   ältesten  Veröffentlichungen    von    H.  A.  Lo- 
rentz  aus    den   Jahren   1895   und   19O4,   um  den 
wichtigen  Vortrag  von  Minkowski  über  Raum 
und  Zeit  aus  dem  Jahre  1908   und   um  7  Unter- 
suchungen  Einsteins  aus   den  Jahren  1905  bis 
1919,  in  denen  die  Entwicklung   der  Relativitäts- 
theorie von  der  speziellen  zur  allgemeinen  Theorie 
und  zu    den  jüngsten  daran   anschließenden  noch 
weiter   auszubauenden    Gedankengängen    gegeben 
wird.     Die  Sammlung  wird  um  so  willkommener 
sein,  je  mehr  der  Streit  der  Meinungen  neuerdings 
zu    intensiverem  Eindringen    in    diese    besondere 
Gedankenwelt  anregt  und  nötigt.       A.  Becker. 


Reuter,  M.,  Bezirkstierarzt  a.  D.,  Nürnberg,  Hy- 
gienische Beurteilung  farbstoffhalti- 
g  e  n  F 1  e  i  s  c  h  e  s.    gr.  8 ".    48  S.   Sonderabdruck 
aus   der   „Vierteljahrsschrift   f.  gerichtl.  Medizin 
und  öffentl.  Sanitätswesen",    3.  Folge,    59.  Bd., 
2.  Heft. 
In  der  Schrift  sind  zunächst  die  Bestimmungen 
der  Fleischbeschaugesetzgebung  über  die  Beurteilung 
farbstoffhaltigen  Fleisches  erörtert.    Da  diese  nur 
Schwarz-,  Braun-  und  Gelbfärbung  als  Anomahen 
kennt,  seit  der  mächtigen  Entwicklung  der  Anilin- 
therapie aber  auch  Grün-,  Blau-  und  Orange!  ärbungen 
in  den  genießbaren  Teilen  der  Schlachttiere  ange- 
troffen werden,  müssen  die  einschlägigen  Gesetzes- 
bestimmungen   als    unzureichend    erklärt   werden. 
Außerdem  werden  das  Wesen  des  Dunkelleuchtens 
von  Fleisch  und  Wildbret,  dessen  hygienische  und 
forense  Beurteilung  auf  Grund  des  Nahrungsmittel- 
gesetzes, sowie  das  fluoreszierende  Stoffe  und  Fluores- 
zenskörper  in  der  Latenz  enthaltende  Fleisch  unter 
Bezugnahme   auf  die   Theorie   von  Schanz,  die 
Buchweizenkrankheit,  die  Lupinose  und  die  durch 
Eosin  hervorgerufenen  Veränderungen  beim  leben- 
den, wie  geschlachteten  Tiere   näher  besprochen. 

Reuter. 


Literatur. 

Frankfurter  Broschüren,  40.  Band,  Heft  1/3.  Hamm  '20, 
Breer  &  Thiemann: 

Kleinschrod,  Dr.,  Das  Lebensproblem  und  das 
Fositivitätsprinzip  in  Zeit  und  Raum  und  das  Ein- 
steinsche  Kelativitätsprinzip  in  Kaum  und  Zeit. 

Oesterreich,  Der  Okkultismus  im  modernen  Weltbild. 
Dresden    20,  Sibyllenverlag. 

Reiche,  Die  Quantentheorie,  ihr  Ursprung  und  ihre 
Entwicklung.     Berlin  '20,  Julius  Springer. 

Sammlung    Goschen.      Berlin    '20,    Vereinigung    wissenschaft- 
licher Verleger. 

Schmidt,  H.,  Problem  der  modernen  Chemie  in  allge- 
meinverständlicher Darstellung.  Mit  9  Textabbildungen. 
Hamburg  '21,  L.  Friedrichsen.     15  M. 

K  a  m  m  e  re  r ,  P.,  Über  Verjüngung  und  Verlängerung  des 
persönlichen  Lebens.  Mit  lo  Textabb.  Stuttgart  u.  Berlin 
'21,  Deutsche  Verlagsanstalt.     7,50  M. 

Laue,  Prof.  Dr.  M.  v.,  Die  Relativitätstheorie,  i.  Bd.: 
Das  Relativitätsprinzip  der  Lorentztiansformation.  4.  Aufl. 
Braunschweig  '21,  Fr.  Vieweg.     16  M. 

Noelling,  Dr.  Fr.,  Die  kosmischen  Zahlen  der  Cheops- 
pyramide,  der  mathematische  Schlüssel  zu  den  Einheitsgesetzen 
im  Autbau  des  Weltalls.  Stuttgart  '21,  E.  Schweizerbarth. 
26  M. 

Lämmel,  R.,  Wege  zur  Relativitätstheorie.  4.  Aufl. 
Stuttgart,  Kosmos-Verlag.     5,20  M. 

Frobenius,  L.,  Paideuma.     München  '21,    C.  H.  Beck. 

Seidlitz,  Prof.  Dr.  W.  v.,  Revolutionen  in  der  Erd- 
geschichte. Eine  akademische  Rede.  Mit  3  Textabb.  und 
I   Tabelle.     Jena  '20,  G.   Fischer.     6  M. 

Ohmann,  O. ,  Leitfaden  der  Chemie  und  Mineralogie. 
7.  Aufl.     Berlin  '21,  Wmckelmann  u.  Sohne.     9  M. 

Pirquet,  Prof.  Dr.  Gl.,  System  der  Ernährung.  4.  Teil. 
Mit   180  Textabb.     Berlin  '20,  J.  Springer. 


Inhalt:  Fr.  Vierhapper,  Eine  neue  Einteilung  der  Pflanzengesellschaften.  (Schlu6.)  S.  281.  —  Bücherbesprecbungen : 
J.  Lehmann,  Die  Ornamente  der  Natur-  und  Halbkulturvölker.  S.  2S7.  C.  Oppenheimer,  Kleines  Wörterbuch 
der  Biochemie  und  Pharmakologie.  S.  287.  K.  Jagow,  Kulturgeschichte  des  Herings.  S.  288.  H.  A.  Lorentz, 
A.  Einstein,  H.  Minkowski,  Das  Relativitätsprinzip.  S.  288.  M.  Reuter,  Hygienische  Beurteilung  farbsto6f- 
haltigen  Fleisches.  S.  288.  —  Literatur:  Liste.  S.  288. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miebe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  4a,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  3o.  Band; 
der  ganxen  Reibe   36.  Band, 


Sonntag,  den  15.  Mai  1921. 


Nummer  ^0. 


Die  Grundtypen  der  gesetzmäßigen  Vererbung. 


Von  Heinrich  Prell,  Tübingen. 


[Nachdruck  verboten.]  Mit  4  Abbild 

Die  Merkmale,  welche  das  Aussehen  der  In- 
dividuen in  der  belebten  Natur  bestimmen,  sind 
in  doppelter  Weise  bedingt,  nämlich  einereits 
durch  eine  gewisse  spezifische  Struktur  und  ande- 
rerseits durch  das  Milieu,  in  welchem  sich  diese 
Anlagen  realisieren.  Die  Gesamtheit  der  Merk- 
male, welche  das  Aussehen  eines  Individuums 
gleichsam  zusammensetzen,  bezeichnet  man  als 
seinen  Erscheinungstypus  oder  Phänotypus. 
Die  Gesamtheit  der  lür  die  spezifische  Struktur 
charakteristischen  Entfaltungsmöglichkeiten  oder 
Anlagen,  welche  das  Individuum  besitzt,  ist  sein 
Anlagentypus  oder  Genotypus.  Die  Gesamt- 
heit der  Milieueinwirkungen  bildet  schließlich  den 
Gestaltungstypus  oder  Plastotypus.  Der 
Phänotypus  entsteht  also  durch  die  Reaktion  eines 
materiellen  Substrates  auf  den  immateriellen  Geno- 
typus und  den  ebenfalls  immateriellen  Plastotypus. 
Verschiedenheiten  des  Phänotypus  beruhen  auf 
Veränderungen  sei  es  des  Genotypus,  sei  es  des 
Plastotypus  (oder  ihrer  Träger). 

Kehrt  ein  Merkmal,  also  ein  Teil  des  Phäno- 
typus, der  Eltern  bei  ihren  Sprößlingen  wieder, 
so  liegt  das  vor,  was  man  gewöhnlich  als  eine 
Vererbung  bezeichnet.  Man  pflegt  nun  oft 
kurz  von  einer  Vererbung  des  betreffenden  Merk- 
males zu  sprechen.  Diese  Ausdrucksweise  ist 
irreführend,  denn  das  Merkmal  ist  ja  nicht  ein- 
heitlich bedingt.  Die  beiden  Bedingungen  dafür 
verhalten  sich  aber  in  bezug  auf  die  Vererbung 
verschieden. 

Der  Genotypus  ist  fest  mit  dem  materiellen 
Substrate  verknüpft  und  stellt  gleichsam  dessen 
Reaktionsnorm  dar ;  der  Plastotypus  ist  unabhängig 
vom  materiellen  Substrat  und  wirkt  darauf  nur 
auslösend  und  eine  der  im  Genotypus  schlum- 
mernden Möglichkeiten  realisierend. 

Durch  den  Vergleich  einer  Individuenfolge  kann 
man  sich  über  die  Beteiligung  des  Genotypus  und 
des  Plastotypus  am  Zustandekommen  des  allein 
der  Untersuchung  unmittelbar  zugänglichen  Phäno- 
typus dann  Aufklärung  verschaffen,  wenn  man 
jeweils  den  einen  von  beiden  Faktoren  konstant 
erhält  und  den  anderen  variiert. 

Nimmt  man  eine  höhere  Pflanze  als  Objekt 
und  stellt  von  ihr  Stecklinge  her,  so  gewinnt  man 
von  ihr  Nachkommen,  die,  unter  normalen  Ver- 
hältnissen, sicher  ihr  genotypisch  gleich  sind. 
Eine  solche  auf,  ungeschlechtlichem  Wege  ent- 
stehende Individuenfolge  heißt  ein  Klon.  Einzelne 
Individuen   eines  Kienes   unter   verschiedene   Be- 


ungen  im  Text. 

dingungen  gebracht,  etwa  im  Hellen  oder  Dunkeln 
gezogen,  reichlich  oder  schwach  genährt  u.  a., 
entwickeln  dann  Verschiedenheiten  des  Phäno- 
typus, welche  auf  den  Verschiedenheiten  des 
Plastotypus  beruhen. 

Bleibt  die  Veränderung  des  Plastotypus  er- 
halten, so  können  mehrere  aufeinander  folgende 
sicher  genotypisch  gleiche  Individuen  abweichend 
von  der  Ausgangstorm  aussehen.  Man  spricht 
dann  von  einer  Scheinvererbung.  Dabei  ist 
es  von  untergeordneter  Bedeutung,  ob  der  ge- 
samte Plastotypus  unverändert  bleibt  (eigentliche 
Scheinvererbung)  oder  ob  durch  das  äußere  Milieu 
geänderte  Bedingungen  innerhalb  des  Organismus 
noch  nach  Aufhören  der  äußeren  Reize  die  Merk- 
malsentfaltung beeinflussen  (Nachwirkung). 

Für  das  Folgende  möge  im  Gegensatze  dazu 
ganz  allgemein  gelten,  daß  die  gesamten  Umwelt- 
bedingungen dauernd  die  gleichen  bleiben,  daß 
also  der  Plastotypus  konstant  erhalten  wird.  Unter 
diesen  Umständen  wird  dann  der  Phänotypus 
allein  durch  den  Genotypus  bestimmt.  Bei  einer 
Individuenfolge,  in  welcher  dauernd  der  gleiche 
Phänotypus  auftritt,  wird  man  dann  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  sagen  dürfen,  daß  sie  geno- 
typisch einheitlich  ist.  Das  kann  einerseits  bei 
ungeschlechtlich  oder  parthenogenetisch  sich  ver- 
mehrenden Organismen  der  Fall  sein,  wie  im 
Klon,  andererseits  aber  auch  bei  geschlechtlich 
sich  fortpflanzenden.  Eine  Individuenfolge,  welche 
durch  Selbstbefruchtung  von  solchen  genotypisch 
einheitlichen  Zwittern,  wie  etwa  den  meisten 
Pflanzen,  erhalten  wird,  nennt  man  eine  reine 
Linie;  wird  sie  durch  Kreuzbefruchtung  von  Ge- 
schwistern bei  getrenntgeschlechtigen,  sonst  aber 
ebenfalls  genotypisch  einheitlichen  Organismen, 
also  wie  etwa  bei  der  Mehrzahl  der  Tiere,  er- 
halten, so  ist  es  eine  reine  Kette. 

Die  Abhängigkeit  des  Phänotypus  vom  Geno- 
typus läßt  sich  dann  ohne  weiteres  erkennen, 
wenn  man  den  Genotypus  ändert.  Das  ist  mög- 
lich, wenn  man  Individuen  zweier  „reiner  Rassen" 
miteinander  kreuzt.  Die  Phänotypen  der  Nach- 
kommen sind  dann  durch  ein  Gemisch  der  Geno- 
typen der  beiden  Eltern  bedingt.  Die  Wieder- 
kehr der  Merkmale  in  einer  solchen  Individuen- 
folge gilt  als  eine  Folge  des  Vorganges,  welchen 
man  als  echte  Vererbung  bezeichnet;  sie 
beruht  also  auf  einer  Weiterleitung  von  Anlagen. 
Daraus  ergibt  sich  dann  als  Definition  des  Begriffs 
Vererbung : 


290 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Vererbung  ist  die  Weiter-gabe  von 
Anlagen  der  Vorfahren  an  die  Nach- 
kommen. 

II. 

Der  erste,  welcher  exakte  Versuche  zur  Er- 
mittlung einer  Gesetzmäßigkeit  bei  der  Vererbung 
wirklich  durchführte,  war  Mendel.  Durch  seine 
klassischen  Untersuchungen  an  verschiedenen 
Erbsenrassen  gelang  es  ihm,  die  Verteilung  von 
bestimmten  elterlichen  Anlagen  auf  die  Nach- 
kommen, auf  die  einfachen  Gesetze  der  Kombi- 
nationsrechnung zurückzuführen.  Diese  übersicht- 
liche Art  der  Vererbung  wird  heute  ganz  allge- 
mein nach  ihrem  Entdecker  als  Mendelsche  Ver- 
erbung bezeichnet,  und  den  Vorgang  des  Ver- 
erbens  nach  diesem  Typus  nennt  man  Mendeln. 

Mendel. hat  es  nun  unterlassen,  die  Grund- 
charaktere der  von  ihm  entdeckten  Vererbung  als 
kurze  Regeln  zu  formulieren.  Die  Folge  davon  ist 
der  weitverbreitete  Brauch,  jegliche  Art  von  gesetz- 
mäßig spaltender  Vererbung  als  M  e  n  d  e  1  sehe  Ver- 
erbung zu  bezeichnen,  und  im  Laufe  der  Zeit  hat 
das  zu  allerlei  Mißständen  geführt.  Angesichts 
des  bereits  überaus  reichen  Materiales  an  Ver- 
erbungsexperimenten erscheint  es  daher  jetzt  nicht 
nur  berechtigt,  sondern  sogar  dringend  erforder- 
lich, an  eine  scharfe  Unterscheidung  der  verschie- 
denen Vererbungstypen  heranzugehen,  und  den 
Namen  der  Mendel  sehen  Vererbung  auf  das  zu 
beschränken,  wofür  er  ursprünglich  gegeben  wurde. 

Es  kann  hier  nicht  darauf  eingegangen  werden, 
welche  Einzelheiten  von  Mendels  Resultaten 
späteren  Forschern  so  wichtig  und  charakteristisch 
erschienen,  daß  sie  dieselben  als  besondere  Regeln 
faßten.  Es  genüge  nur  ein  kurzer  Überblick  über 
die  Regeln,  nach  welchen  man  gegenwärtig 
Mendels  Ergebnisse  präzisieren  kann. 

Mendel  nahm  auf  Grund  seiner  Versuchs- 
ergebnisse an,  daß  für  jedes  Merkmal  in  der 
Erbsenpflanze  zwei  Anlagen  vorhanden  seien.  Von 
diesen  gelange  nur  eine  in  die  Geschlechtszellen, 
und  durch  die  Vereinigung  zweier  Geschlechts- 
zellen bei  der  Befruchtung  würden  dann  wieder 
die  Doppelanlagen  für  die  nächste  Erbsenpflanze 
gebildet.  Bei  einer  reinen  Rasse  von  Erbsen  sind 
nun  die  beiden  Anlagen  für  ein  Merkmal  gleich 
(AA),  und  werden  bei  Reinzüchtung  stets  wieder 
gleich  zusammengestellt  werden.  Kreuzt  man 
dagegen  zwei  reine  Rassen  (AA  und  aa),  die  sich 
nur  in  einem,  wie  man  jetzt  sagt,  allelomorphen 
Anlagenpaare,  also  phänotypisch  in  einem  Merk- 
male, unterscheiden,  so  werden  in  der  ersten 
Sprößlingsgeneration  (Fj),  dem  Bastard,  je  eine 
Anlage  des  einen  und  des  anderen  Elters  zusam- 
mentreten (Aa).  Je  nachdem,  wie  sich  die  beiden 
zusammengelegten  Anlagen  zueinander  verhalten, 
kann  dann  das  phänotypische  Resultat  verschieden 
sein.  In  der  Regel  wird  die  eine  oder  die  andere 
der  Anlagen  das  Merkmal  bestimmen  oder  dominant 
sein  (A),  während  die  reziproke  sich  nicht  mani- 
festieren kann  oder  rezessiv  ist  (a).  Züchtet  man 
die    Bastarde    (Aa)    unter    sich    weiter,   so   findet 


man,  daß  sie  zweierlei  Geschlechtszellen  (A  und  a) 
bilden.  Und  wenn  diese  sich  vereinigen,  so  können 
dabei  in  der  zweiten  Bastardgeneration  (Fj)  vierer- 
lei Möglichkeiten  realisiert  werden  (AA,  Aa,  aA, 
aa),  von  denen  zwei  dem  Verhalten  des  primären 
Bastards  entsprechen  (2Aa),  zwei  aber  auf  das 
Verhalten  der  Großeltern  zurückspringen  (AA  und 
aa),  also  resurgent  sind. 

Etwas  verwickelter  werden  die  Dinge,  wenn 
man  von  Rassen  ausgeht,  welche  in  zwei  Merk- 
malen differieren  (AABB  und  aabb).  Hier  fand 
Mendel,  daß  der  Bastard  je  eine  Anlage  für 
jedes  Merkmal  von  jedem  Elter  erhielt  (AaBb). 
Bei  Weiterzüchtung  dieses  dihybriden  Bastardes 
ergab  sich  dann,  daß  er  Geschlechtszellen  bildete, 
welche  in  beliebiger  Kombination  je  eine  Anlage 
aus  jedem  Anlagenpaar  erhielten.  Diese  verschie- 
denen Sorten  von  Geschlechtszellen  wurden  alle 
in  gleichem  Verhältnis  gebildet,  also  galt  für  sie 
die  Proportion: 

AB  :  Ab  :  aB  :  ab  =  i  :  i  :  i  :  i. 
Da   sie   sich   außerdem   beliebig  miteinander  ver- 
einigen  können,   so  ließ  sich  ein  Überblick  über 
die    zu    erwartenden    Kombinationen    an    einem 
Schachbrettschema  ohne  weiteres  ablesen: 


P 
Fl 


AABB  X  aabb 

(AB)  (ab) 

AaBb 

(AB)    (Ab)    (aB)     (ab) 


AB 
AB 

Ab 
AB 

aB 
AB 

ab 
AB 

AB 
Ab 

Ab 
Ab 

aB 
Ab 

ab 
Ab 

AB 
aB 

Ab 
aB 

aB 
aB 

ab 
aB 

AB 

ab 

Ab 
ab 

aB 
ab 

ab 
ab 

(AB) 

(Ab) 

(aB) 

(ab) 


Die  Zahlenverhältnisse,  welche  sich  dabei  er- 
geben, und  welche  man  meist  als  Mendelsche 
Zahlenverhältnisse  bezeichnet,  sind  bei  Dominanz 
in  den  einzelnen  Anlagenpaaren  relativ  einfach 
und  übersichtlich.  Bei  zwei  Anlagenpaaren  findet 
sich  dann  das  Verhältnis 

I.  Phänotypen  mit  beiden  Dominanten  9 

II.  „  „     der  einen         „  3 

III.  „  „     der  anderen     „  3 

IV.  „  „     keiner  „  i 
Versucht  man  diese  Befunde  in  feste  Form  zu 

kleiden,  so  kommt  man  dazu,  die  folgenden 
Regeln  anzunehmen: 

I.  Die  Unabhängigkeitsregel  oder  Re- 
gel von  der  unabhängigen  Trennung  der  ver- 
schiedenen Anlagen:  Für  die  Bildung  der  Ge- 
schlechtszellen trennen  und  verteilen  sich  die 
einzelnen  Anlagen  unabhängig  voneinander;  in 
den  Geschlechtszellen  können  sie  dabei  in  be- 
liebiger Kombination  zusammentreten. 

IL  Die  Spaltungsregel  oder  Regel  von 
der  Spaltung  der  allelomorphen  Anlagepaare :  Für 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


291 


die  Bildung  der  Geschlechtszellen  spalten  sich  die 
allelomorphen  Anlagenpaare  in  die  Anlagen,  durch 
deren  Konjugation  sie  entstanden  waren;  in  jede 
der  entstehenden  Geschlechtszellen  gelangt  dabei 
stets  und  nur  je  ein  Paarung  eines  jeden  Anlagen- 
paares. 

III.  Die  Äquiproportionalitätsregel 
oder  Regel  von  der  gleichartigen  Verteilung  der 
verschiedenen  Anlagen:  Für  die  Bildung  der  Ge- 
schlechtszellen kombinieren  sich  die  einzelnen 
Anlagenpaarlinge  nach  den  Gesetzen  der  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung miteinander;  die  vorkom- 
menden Sorten  von  Geschlechtszellen  entstehen 
also  (primär)  in  gleicher  Anzahl. 

Der  Mendelschen  Vererbung  folgen 
heißt  also,  der  Unabhängigkeitsregel, 
der  Spalt \ingsregel  und  der  Äquipro- 
portionalitätsregel folgen. 

Von  den  drei  Mendelschen  Regeln  gibt  die 
Unabhängigkeitsregel  die  allgemeine  Grundlage, 
welche  bei  allen  Vererbungstypen  wiederkehrt, 
während  die  anderen  beiden  Kinschränkungsregeln 
darstellen,  welche  bei  anderen  Vererbungstypen 
durch   andere   Einschränkungen   abgelöst  werden. 

Die  materiellen  Träger  der  Erbanlagen  werden 
in  den  Chromosomen  erblickt.  Man  hat  also  das 
Verhalten  der  Erbanlagen  bei  der  Mendel  sehen 
Vererbung  mit  dem  Verhalten  der  Chromosomen 
beim  Geschlechtsvorgang,  bei  Reduktion  und  Ko- 
pulation, in  Beziehung  zu  bringen.  Dabei  ergibt 
sich  eine  überraschende  Gleichartigkeit. 

Die  Trennung  verschiedener  Anlagen  findet 
danach  ihr  Gegenstück  in  der  unabhängigen  Ver- 
teilung der  einzelnen  Chromosomen.  Die  Spaltung 
der  Anlagen  bei  der  Gamelenbildung  steht  in 
Parallele  zu  dem  Auseinandergehen  homologer 
Chromosomen  bei  der  Reduktion.  Die  Äquipro- 
portionalität  der  Gametenbildung  entspricht  der 
allein  vom  Zufall  bestimmten  Zusammenstellung  der 
von  den  Eltern  erhaltenen  Chromosomen  zur 
Bildung  der  Gameten  bei  der  Fihalgeneration.  Das 
beigegebene  Schema  der  Chromosomenverteilung 
bei  M  e  n  d  e  1  scher  Vererbung  (Abb.  i)  gibt  einen 
Überblick  über  das  hier  in  Betracht  kommende 
Verhalten. 

Sucht  man  auf  Grund  des  Verhaltens  der 
materiellen  Grundlagen,  also  der  Chromosomen, 
die  Mendelsche  Vererbung  zu  definieren,  so 
wird  man  sagen  dürfen: 

Mendelsche  Vererbung  findet  dann  statt, 
wenn  der  Umfang  der  Chromosomengarnituren 
gewahrt  bleibt  und  wenn  Störungen  in  der  Ein- 
heitlichkeit und  Unabhängigkeit  der  Chromosomen 
nicht  nachweisbar  sind. 

ra. 

Unmittelbar  nachdem  die  Mendelschen  Ent- 
deckungen in  ihrer  Bedeutung  erkannt  und  ge- 
würdigt waren,  stellte  es  sich  heraus,  daß  die 
Mendelschen  Regeln  nicht  für  alle  Erbgänge 
sich  ohne  weiteres  anwenden  ließen.  Von  größerer 
Bedeutung  war  es  nun,  daß  unter  anderen,  welche 


verkappt  den  Mendel  sehen  Regeln  folgten,  auch 
solche  Erbgänge  ermittelt  wurden,  bei  welchen 
tatsächlich  andere  Regeln  sich  als  gültig  erwiesen, 
bei  denen  also  keine  Mendelsche  Vererbung 
vorlag. 

Der  erste  selbständige  Vererbungstypus,  welcher 
hier  zu  nennen  ist,  wurde  von  B  a  t  e  s  o  n  und 
Punnett  entdeckt  und  aufgeklärt.  Hierbei 
handelte  es  sich  darum,  daß  die  Nachkommenschaft 
(F,)  eines  dihybriden  Pflanzenbastards  besondere 
zahlenmäßige  Eigentümlichkeiten   aufwies.     Nach 


F, 


Abb.  I.     Schema  der  ChromosomenTerteilung   bei  Mendel- 
scher  Vererbung. 

Hier  wie)  in  allen  anderen  Schemata  bedeutet  abgerundet 
stets  Zugehörigkeit  zu  dem  Chromosomenpaare ,  welches  das 
allelomorphe  Anlagenpaar  A,  a  trägt,  eckig  zu  dem  Chromo- 
somenpaare mit  den  Anlagen  B  und  b;  weiß  bedeutet  das 
Vorhandensein  des  dominanten  (A  oder  B),  punktiert  das 
Vorhandensein  des  rezessiven  Paarlings  (a  oder  b).  Die  Buch- 
staben r,  s,  t,  u  bezeichnen  die  relative  Häufigkeit  der  Ga- 
meten, sofern  sie  von  I  abweicht.  Die  römischen  Ziffern 
geben  die  Zugehörigkeit  der  Zygoten  zu  den  4  Phänotypen 
an;  die  relative  Häufigkeit  der  Phänotypen  ergibt  sich  als 
Produkt  der  relativen  Häufigkeiten  der  beteiligten  Gameten. 


dem  Verhalten  der  einzelnen  Anlagen  (A  und  a, 
oder  B  und  b)  betrachtet,  wies  die  zweite  Filial- 
generation jeweils  Mendelsche  Zahlenverhält- 
nisse  auf.     Berücksichtigte   man   aber   beide   An- 


293 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  P.  XX.  Nr.  20 


lagenpaare  gleichzeitig,  so  ergaben  sich  Resultate, 
welche  von  den  bei  Mendelscher  Vererbung  zu 
erwartenden  weit  abwichen.  Dieser  Widerspruch 
des  Verhaltens  zeigte  schon,  daß  hier  besondere 
Beziehungen  zwischen  den  beiden  Anlagenpaaren 
vorliegen  müßten.  Es  ist  das  bedeutungsvolle 
Verdienst  von  Bateson  und  Punnett,  diese 
Beziehungen  erkannt  zu  haben. 

Bateson  und  Punnett  nahmen  an,  daß  von 
den  vier  Gameten,  welche  bei  einem  Dihybriden 
in  Betracht  kommen,  die  mit  homodynamen  An- 
lagen (bei  denen  also  zwei  dominante  oder  zwei 
rezessive  Anlagenpaarlinge  vereinigt  waren)  in 
anderer  Anzahl  gebildet  werden,  als  die  mit  hetero- 
dynamen  Anlagen  (also  einer  dominanten  und 
einer  rezessiven  Anlage).  Die  geltende  Proportion 
für  die  Gameten  wäre  also: 

AB:Ab:aB:ab  =  r:s:s:r. 

Indem   sie   die  Häufigkeit    des    einen   Paares   der 

Variablen   gleich    i  setzten,   also   r:s  =  n=i:m, 

erhielten  sie  dann  die  Gametenhäufigkeiten : 

AB :  Ab :  aB :  ab  =  n :  I :  I :  n  =  i :  m :  m :  i. 

Mit  dieser  Hilfsannahme  konnten  sie  die  Zahlen- 
verhältnisse der  Phänotypen  der  Fj-Generation  in 
der  Tat  aufklären.  Die  Anwendung  des  Schach- 
brettschemas ergab  auch  hier  Zahlenwerte,  welche 
den  im  Versuch  erhaltenen  entsprachen.  Das 
Verhältnis  der  Phänotypensorten  ist  dann  folgendes : 

I.  Phänotypen  mit  beiden  Dominanten  3n^+4n+2 
II.  „  „    der  einen      „  2n+i 

m.  „  „      „     anderen,,  2n-i-i 

IV.  „  „    keiner  „  n^ 

Weitere  Untersuchungen  haben  die  Richtigkeit 
dieser  Überlegungen  vollauf  bestätigt.  Dieser  Ver- 
erbungstypus sei  daher  als  Batesonsche  Ver- 
erbung bezeichnet. 

Ähnliche  Verhältnisse  fand  IVIorgan  später 
bei  getrenntgeschlechtlichen  Tieren.  Hier  tritt 
die  ungleiche  Gametenbildung  in  beiden  Ge- 
schlechtern verschieden  auf,  indem  beim  einen 
die  Dinge  sich  so  gestalten,  wie  bei  der  B  a  t  e  - 
sonschen  Vererbung,  beim  anderen  aber  die 
beiden  selteneren  Sorten  von  Gameten  ganz  aus- 
fallen (und  zwar  entweder  die  mit  homodynamen 
oder  die  mit  heterodynamen  Anlagen).  Die  Zahlen- 
verhältnisse der  zweiten  Bastardgeneration  weichen 
dann  auch  weit  von  den  M  e  n  d  e  1  sehen  Zahlen 
ab.  Dieser  Vererbungstypus  sei  als  M  o  r  g  a  n  s  c  h  e 
Vererbung  bezeichnet. 

Die  Sachlage  ist  hier  also  die,  daß  von  beiden 
Geschlechtern  verschiedenartige  Gametentypen  ge- 
bildet werden,    und   zwar   vom    einen  Geschlecht 

AB :  Ab :  aB :  ab  =  n :  I :  I :  n  oder  =  i :  m :  m :  i 
und  entsprechend  vom  anderen 

AB :  Ab :  aB :  ab  =  I :  o :  o :  I   oder  =  o  :  i :  i  :  o. 

Auf  die  Batesonsche  Vererbung  zurückge- 
führt würde  das  besagen,  daß  im  einen  Geschlechte 
der  Vermehrungsfaktor  n  =  oo  geworden  sei. 

Es  hat  sich  nun  herausgestellt,  daß  alle  vier  Ga- 
metentypen nur  in  dem  Geschlechte  auftreten, 
welches   homogametisch  ist,   welches   also   in  be- 


zug  auf  die  Geschlechtsbestimmung  gleichartige 
Anlagen  hat.  Das  gilt  bei  der  Fliege  Drosophüa 
(Morgan)  und  anderen  Tieren  (viele  Arthropoden, 
Würmer?,  Säugetiere,  Mensch)  und  den  getrennt- 
geschlechtigen Pflanzen  für  das  weibliche  Ge- 
schlecht; bei  dem  Seidenspinner  (Tanaka)  und 
anderen  Tieren  (Vögel,  Amphibien?,  Stachelhäuter?) 
gilt  es  für  das  männliche  Geschlecht;  bei  zwittrigen 
Pflanzen  (Bateson)  gilt  das  Auftreten  aller  vier 
möglichen  Gametenbildungen  dementsprechend 
für  beide  Geschlechter. 

Daraus  ergibt  sich  von  selbst,  daß  Bateson  sehe 
und  Morgansche  Vererbung  eng  zusammen  ge- 
hören. Aus  Gründen,  welche  sich  weiterhin  er- 
geben werden,  mögen  sie  daher  unter  dem  Namen 
der  Kro§ Vererbung  vereinigt  werden. 

Es  wäre  nun  noch  zu  erörtern,  welche  Regeln 
für  diese  Kroßvererbung  charakteristisch  sind.  Auch 
hier  gelten  wiederum  drei  Regeln: 

I.  Die  Unabhängigkeitsregel  wie  bei 
der  Mendel  sehen  Vererbung. 

II.  Die  Spaltungsregel  wie  bei  der  Men- 
del sehen  Vererbung. 

III.  DieDisproportionalitätsregel  oder 
Regel  von  der  gesetzmäßig  ungleichartigen  Ver- 
teilung der  verschiedenen  Anlagen:  Für  die  Bil- 
dung der  Geschlechtszellen  kombinieren  sich  die 
einzelnen  Anlagenpaarlinge  nach  besonderen,  im 
Einzelfalle  feststehenden  Beziehungen;  die  vor- 
kommenden Sorten  von  Geschlechtszellen  ent- 
stehen dabei  (primär)  in  verschieden  zahlreichen 
Paaren  gleich  häufiger  Gameten.  (Bei  zwei  An- 
lagenpaaren beträgt  die  Zahl  der  möglichen 
Gametenkonstitutionen  vier.) 

Der  Kroß  Vererbung  folgen  heißtalso 
der  Unabhängigkeitsregel,  der  Spal- 
tungsregel und  der  Disproportionali- 
tätsregel  folgen. 

Im  Hinblick  auf  die  Verschiedenheit  der 
Geltungsweise,  welche  die  Disproportionalitäts- 
regel  bei  den  als  Kroßvererbung  zusammen  ge- 
faßten Vererbungstypen  besitzt,  ist  noch  zu  er- 
gänzen : 

Der  Batesonschen  Vererbung  folgen 
heißt,  vererben  unter  beidergeschlechtig  gleich- 
artiger gesetzmäßiger  Disproportionalität  der 
Gametenbildung,  wobei  die  Gameten  in  bezug  auf 
zwei  Paare  allelomorpher  Anlagen  im  Verhältnis 
n  :  I :  I :  n  gebildet  werden. 

Der  Morganschen  Vererbung  folgen 
heißt,  vererben  unter  beidergeschlechtig  ungleich- 
artiger gesetzmäßiger  Disproportionalität  der 
Gametenbildung,  wobei  in  einem  Geschlechte 
Disproportionalität  nach  dem  Verhältnis  n :  i :  i :  n, 
im  anderen  nach  dem  Verhältnis  i:o:0:i,  also 
Ausfall  der  Minderheitswerte,  vorliegt. 

Fälle  vom  Auftreten  beidergeschlechtig  un- 
gleichartiger Disproportionalität  der  Gametenbil- 
dung, wobei  im  einen  Geschlecht  Disproportiona- 
lität nach  dem  Verhältnis  n :  i :  i :  n ,  im  anderen 
nach  dem  Verhältnis  n':i:i:n'  erfolgt,  scheinen 
noch   nicht   beschrieben   zu  sein.     Immerhin   darf 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


293 


mit  dem  Vorkommen  einer  solchen  Komplikation, 
insbesondere  bei  primär  zwittrigen  Diözisten  (ähn- 
lich wie  BoiieU'id)  und  vielleicht  auch  schon  bei 
monözischen  Organismen,  gerechnet  werden,  da  er- 
fahrungsgemäß Milieudifferenzen  auf  das  Zahlen- 
verhältnis der  Disproportionalität  Einfluß  besitzen 
können. 

Fand  die  Mendelsche  Vererbung  ihre  voll- 
ständige Aufklärung  erst  durch  ihre  Zurückführung 
auf  den  Mechanismus  der  Chromosomenverteilung, 
so  ist  es  für  die  Kroßvererbung  ebenso  erforder- 
lich, die  mechanischen  Unterlagen  zu  suchen.  Es 
war  Morgan,  welchem  es  gelang,  das  Wesen 
der    Kroßvererbung    auf  die    Folgen    eines    Aus- 


0(D®(D 

rn  sx  SK  rx 

®  (D  (D  d) 


(D. 


Abb.  2.    Schema  der  Chromosomenverteilung  bei  Krofivererbung 
(allgemeiner  Typus   oder  Batesonsche  Vererbung). 

tausches  von  Chromosomenteilen  zurückzuführen. 
Allelomorphe  Faktorenpaare,  welche  auf  ver- 
schiedenen Chromosomenpaaren  gelegen  sind, 
werden  vollkommen  nach  dem  Zufall  verteilt  und 
kombiniert,  so  daß  bei  ihnen  Äquiproportionalität 
der  Kombinationen,  also  auch  der  Gameten,  ent- 
steht. Allelomorphe  Faktorenpaare  dagegen, 
welche  auf  den  gleichen  Chromosomen  gelegen 
sind,  können  nur  gemeinsam  vererbt  werden,  es 
sei  denn,  daß  zwischen  homologen  Chromosomen 
ein  Austausch  stattfinden  könne.    Erfolgt  ein  sol- 


cher Austausch,  so  wird  gleichsam  ChröniosöSien- 
material  übers  Kreuz  ausgewechselt.  Der  Aus- 
tausch kann  daher  zweckmäßig  als  Krossung  (cross- 
over),  der  Vorgang  des- Austausches  als  Krossen 
(crossing-over)  bezeichnet  werden. 

Die  Beibehaltung  der  ursprünglichen  Lagerurig 
auf  einem  Chromosom  ist  der  häufigere  Fall,  der 
Austausch  der  seltenere.  Im  Beispiele  mögen  die 
beiden  Faktorenpaare  (Aa  und  Bb)  auf  einem 
Chromosomenpaar  so  gelegen  sein,  daß  A  und  B  sich 
auf  dem  einen,  a  und  b  auf  dem  anderen  befinden 
(Abb.  2  u.  3).  Wenn  nun  in  r+s  Reduktionsteilungen 
r  mal  die  alte  Zusammengehörigkeit  gewahrt  wird, 
und  s  mal  Krossungen  entstehen,  so  ergibt  sich 
für  die  Gameten  das  Verhältnis: 

AB :  Ab:  aB :  ab  =  r:  s:  s:  r  =  n :  i :  t:  n, 

das  heißt  also,  daß  die  ursprünglichen  Kombir 
nationen  (AB  und  ab)  jetzt  r :  s  =  n  mal  so  häufig 
auftreten,  als  die  Krossungen  (Ab  und  aB),  wo- 
bei n  die  Vermehrungsziffer  der  einen  Gameten- 
sorte  ist.    Mit  anderen  Worten  ausgedrückt,  würde 


rx  sx  sx  fx 


®(D 

sx 

(B)  (D  (D  ®^=« 


(E) 
(D 


Abb.  3.   Schema  der  Chromosomenverteilung  bei  Krofivererbung 
(spezieller  Typus   der   Morganschen  Vererbung). 

in  s  von  r-f-s  Fällen  ein  Krossen  stattgefunden 
haben,  oder,  in  Prozente  der  Gesamtzahl  umge- 
rechnet, in  p  ^  loos :  (r  -|-  s)  =  100 :  (n  -f  i)  Fällen. 
Die  Berechnung  des  Prozentsatzes  p  der 
Krossungen,  und  somit  auch  von  n,  aus  den  ge- 
fundenen Werten  läßt  sich  unschwer  ausführen, 
insbesondere  dann,  wenn  die  Zahlenwerte  für  die 
Phänotypen  von  Fj  nicht  aus  einer  fortschreiten- 
den Kreuzung,  sondern  aus  einer  Rückkreuzung 
gegen  den  doppelt  rezessiven  Elter  entnonupen 
werden  können. 


294 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Es  fragt  sich  nun,  ob  ein  solcher  Austausch 
zwischen  Chromosomenteilen  mechanisch  denkbar 
ist.     Hierfür  liegen  drei  Möglichkeiten  vor. 

Am  Abschluß  der  Prophase  für  die  Reduktions- 
teilung im  Zustande  der  Geminibildung  beobachtete 
schon,  ehe  die  Vererbungstheorie  etwas  Ent- 
sprechendes verlangte,  Janssens,  daß  gelegent- 
lich, wenn  die  Chromosomen  eines  Paares  sich 
überkreuzen,  sie  an  der  Überkreuzungsstelle  Bruch- 
spalten aufweisen.  Er  nahm  daher  an,  daß  hier 
an  den  präformierten  (I)  Bruchstellen  durch  falsche 
Verbindung  eine  Auswechslung  von  Chromosomen- 
teilen erfolgen  könne  und  nannte  diesen  Vorgang 
Chiasmatypie. 

Sodann  findet  während  desStrepsinemastadiums 
der  Prophase  eine  Umschlmgung  der  homologen 
Chromosomen  in  Doppelspiralen  statt.  Bei  der 
engen  Aufwicklung  ist  vielleicht  ebenfalls  mit 
einem  Abdrehen  und  falschem  Wiederverkleben 
zu  rechnen.*)  Eine  Bezeichnung  hat  diese  Mög- 
lichkeit des  Austausches  nicht  erhalten. 

Schließlich  kommt  es  vor,  daß  Chromosomen, 
welche  bei  den  generativen  Teilungen  einheitlich 
sind  (Sammelchromosomen  oder  Holochromo- 
somen),  bei  den  vegetativen  sich  in  Teilchromo- 
somen oder  Merochromosomen  auflösen.  Diesen 
Vorgang  des  Chromosomenzerbrechens ,  bei  wel- 
chem Fragmentation  und  Syzygie  der  Chromo- 
somen im  Laufe  der  Zellteilungen  alternieren, 
kann  man  wohl  als  Rhegmatypie  bezeichnen. 
Beim  Zusammenschluß  der  Merochromosomen  zu 
Holochromosomen  vor  der  Tetracytie  kann  eben- 
falls eine  Vereinigung  genetisch  ungleicher  Teile 
stattfinden.  Das  verschiedene  Zahlenverhältnis  be- 
ruht in  diesem  Falle  auf  dem  verschiedenenVerhalten 
bei  der  Syzygie,  also  auf  dem  Verhältnis  zwischen 
syzygischer  Koppelung  und  syzygischer  Abstoßung. 

Es  steht  dahin,  welcher  der  drei  möglichen 
Wege,  oder  welcher  weitere  etwa,  für  das  Krossen 
tatsächlich  eingeschlagen  wird,  oder  ob  bei  ver- 
schiedenen Objekten  verschiedene  in  Betracht 
kommen.  Jedenfalls  kann  man  sagen,  daß  es  der 
Wege  genug  gibt,  durch  welche  ein  Krossen 
mechanisch  möglich  gemacht  werden  kann. 

Kroßvererbung  findet  also  dann  statt,  wenn 
Umfang  und  Gliederung  der  Chromosomengarni- 
turen zwar  gewahrt  bleibt,  dagegen  die  Einheit- 
lichkeit der  Chromosomen  gestört  wird. 

IV. 
Das  phänotypische  Resultat  einer  Kreuzung 
kann  allein  betrachtet  nur  einen  Hinweis  darauf 
liefern,  daß  irgendein  bestimmter  Vererbungs- 
typus vorliegt.  Erst  die  genauere  Untersuchung 
vermag  dann  aufzuklären,  ob  die  Dinge  tatsäch- 
lich so  liegen  oder  ob  vielleicht  sich  etwas  an- 
deres dahinter  verbirgt. 


')  Die  Frage,  bis  zu  welchem  Grade  es  möglich  ist,  aus 
der  Häufigkeit  des  Krossens  die  relative  Lage  der  Faktoren 
zueinander  auf  den  Chromosomen  zu  ermitteln,  wie  es  die 
Morgansche  Schule  versucht,  gehört  nicht  unmittelbar  hier- 
her und  darf  daher  beiseite  gelassen  werden. 


So  kann  es  auch  geschehen,  daß  phänotypisch 
bei  einem  Erbgange  das  gleiche  Bild  hervorge- 
bracht wird  wie  bei  der  Kroßvererbung,  und  daß 
doch  für  diese  Erscheinung  keine  Auslegung  nach 
den  bei  der  Kroßvererbung  bekannt  gewordenen 
Prinzipien  möglich  ist.  Versuchsresultate,  welche 
sich  in  dieser  Weise  verhielten,  wurden  von 
Bridges  bei  der  Obstfliege  {Drosophila  melano- 
gaster  =  antpelophüd)  erzielt.  Der  von  Bridges 
beschriebene  Erbgang  stellt  bloß  einen  Spezialfall 
dar  von  einem  neuen  fundamentalen  Vererbungs- 
typus, welche  der  Mend  eischen  und  der  Kroß- 
vererbung gleichwertig  ist.  Durch  seine  geistvolle 
Interpretation  des  Verhaltens  bei  seinen  Experi- 
menten hat  Bridges  die  Unterlage  für  die  Auf- 
klärung dieses  interessanten  Vererbungstypus  ge- 
schaffen, welcher  aus  später  sich  ergebenden  Grün- 
den als  Wechselvererbung  bezeichnet  werden 
mag. 

Das  Grundprinzip  der  Wechselvererbung  be- 
ruht darauf,  daß  es  sich  bei  ihr  nicht  um  die 
Verteilung  homologer  Anlagenpaare  handelt,  son- 
dern um  die  Verteilung  homologer  Anlagen- 
quartette. Dabei  ist  vielleicht  zweckmäßig  darauf 
hinzuweisen,  daß  man  besser  nicht  von  Anlagen 
schlechthin,  sondern  besser  von  festen  Anlagen- 
komplexen  oder  kurz  von  Komplexen  spricht. 
Es  ist  also  bei  der  Wechselvererbung  von  „Di- 
plonten"  auszugehen,  welche  in  bezug  auf  die  zur 
Rede  stehenden  allelomorphen  Anlagen  oder  Kom- 
plexe nicht  wirklich  diploid  sind,  sondern  pleo- 
ploid,  und  zwar  im  allgemeinsten  Falle  tetraploid. 

Bei  einem  Diplonten  von  der  faktoriellen  Kon- 
stitution AaBb  würde  dann  eine  dreifache  Gameten- 
bildung  bei  der  Reduktion  eintreten,  welche  zu 
sechs  Gametentypen  führen  würde,  nämlich  AB 
und  ab.  Ab  und  aB,  sowie  Aa  und  Bb.  Von 
diesen  sind  die  ersten  beiden  Paare  dieselben, 
welche  bei  einfacher  Mendelscher  Vererbung 
entstehen  müßten.  Die  letzten  beiden  aber  sind 
Ausnahmekombinationen,  wie  sie  die  Mendel - 
sehe  Vererbung  nicht  kennt,  und  deren  Auftreten 
überhaupt  erst  die  Entdeckung  des  ganzen  Ver- 
erbungstypus ermöglicht  hat. 

Finden,  wie  es  die  Versuchsergebnisse  erweisen, 
die  verschiedenen  Arten  der  Gametenbildung  ver- 
schieden häufig  statt,  so  ergibt  sich  für  die  Häufig- 
keit der  auftretenden  Gametensorten  die  Proportion : 

Aa  :  AB  :  Ab  ;  aB  :  ab  :  Bb  =  o  :  p  :  q  :  q :  p  :  o. 
Das  Verhältnis    der  Phänotypen   läßt  sich  daraus 
mit  Hilfe   eines  Schachbrettschemas  mühelos  ab- 
leiten und  läßt  an  Verwickeltheit    nichts  zu  wün- 
schen übrig. 

Nur  die  vollständige  Schreibung  des  Gameten- 
verhältnisses  läßt  die  volle  Komplikation  dieses 
Vererbungstypus  erkennen,  welcher  nicht  statt 
der  Zahlenverhältnisse  der  Gameten  der  Kroß- 
vererbung ,  sondern  neben  derselben  (da  sie  ja 
in  den  Mittelwerten  verborgen  liegen)  noch  wei- 
tere Möglichkeiten  aufweist. 

Die   Fassung   der    Wechselvererbung   in    feste 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


295 


Formen   führt   dazu,    die   folgenden  Regeln  dafür 
abzuleiten : 

•I.   Die   Unabhängigkeitsregel    wie   bei 
der  M  e  n  d  e  1  sehen  Vererbung. 

II.  Die  Spaltungsregel,  formell  wie  bei 
der  M e n d e  1  sehen  Vererbung  geltend,  da  auch 
hier  zusammentretende  Paare  von  Anlagen  wieder 
getrennt  werden.  Da  es  aber  auch  möglich  ist, 
daß  vom  gleichen  Elter  stammende  Anlagenpaar- 
linge  zusammentreten,  wird  äußerlich  eine  Durch- 
brechung der  Spaltungsregel  vorzuliegen  scheinen. 
Dieser  Wechsel  der  Anlagenkonjugation  ist  es, 
aufweichen  sich  die  Bezeichnung  dieses  Vererbungs- 
typus als  Wechselvererbung  aufbaut. 

III.  Die  Superdisproportionalitäts- 
regel  oder  Regel  von  der  gesetzmäßig  doppelt 
ungleichartigen  Verteilung  der  verschiedenen  An- 
lagen: Für  die  Bildung  der  Geschlechtszellen 
kombinieren  sich  die  einzelnen  Anlagenvierlinge 
des  gleichen  Anlagenquartetts  nach  bestimmten, 
im  Einzelfall  feststehenden  Beziehungen;  die  auf- 
tretenden Sorten  von  Geschechtszellen  entstehen 
dabei  (primär)  in  verschieden  zahlreichen  Paaren 
gleich  häufiger  Gameten.  (Bei  zwei  Anlagenpaaren 
beträgt  die  Zahl  der  möglichen  Gametenkonsti- 
tutionen  sechs.) 

Der  Wechselvererbung  folgen  heißt 
also,  der  Unabhängigkeitsregel,  der 
STiperdisproportionalitätsregel  und 
einer  modifizierten  Spaltungsregel 
folgen. 

Da  bislang  anscheinend  noch  kaum  der  Versuch 
gemacht  worden  ist,  die  Wechselvererbung  rein 
faktorentheoretisch  auszudrücken,  ist  es  verständ- 
lich, daß  ihre  Bedeutung  als  eigener  Grundtypus 
der  Vererbung  einer  entsprechenden  Würdigung 
sich  entzogen  hat.  Um  so  wichtiger  erscheint  es, 
jetzt  diesen  Gesichtspunkt  besonders   zu  betonen. 

Über  den  chromosomalen  Mechanismus  der 
Wechsel  Vererbung  liegen  exakte  Untersuchungen 
von  Bridges  vor,  aus  welchen  hervorgeht,  daß 
sie  auch  chromosomal  auf  Pleoploidie  beruht.  Für 
die  faktorentheoretische  Auswertung  ist  es  dabei 
von  geringem  Belang,  ob  es  sich  um  totale  Pleo- 
ploidie handelt,  bei  der  vier  homologe  Chromo- 
somen als  Träger  bestimmter  Faktoren  in  Betracht 
kommen,  oder  um  partielle  Pleoploidie,  bei  wel- 
cher nur  die  besonders  hervortretenden  Chromo- 
somen vielfältig  vorhanden  sind.  Im  letzteren 
Falle  ist  es  auch  ohne  weitere  Bedeutung,  ob 
Triploidie  oder  Tetraploidie  vorliegt,  da  bei  Tii- 
ploidie  stets  das  Fehlen  des  Partners  als  anta- 
gonistischer Faktor  angesehen  werden  kann,  man 
also  von  verdeckter  Tetraploidie  sprechen  könnte,  i) 

Ein  allgemeines  Schema  des  chromosomalen 
Verhaltens  vermag  die  Vorgänge  bei  der  Wechsel- 

')  Unter  dem  Gesichtswinkel  ist  es  auch  möglich,  die 
von  Bridges  als  non-disjunction,  also  „Spaltungsverzug"  oder 
„Nichtauseinanderweichen"  (Gold  Schmidt),  gedeutele  Er- 
scheinung theoretisch  als  verdeciite  Tetraploidie  mit  zwei 
fehlenden  Faktoren  anzusehen,  was  einem  „Ausfall  der  Syn- 
dese"  als  Erklärungsprinzip  entsprechen  würde. 


Vererbung  vielleicht  am  besten  zu  klären  (Abb.  4). 
Ausgegangen  sei  dabei  von  dem  tetraploiden  Bastard 
AaBb,  über  dessen  Herkunft  keine  Erwägungen 
angestellt  sein.  Wenn  dieser  Bastard  in  das  Sta- 
dium der  Prophase  bei  der  Gametenbildung  ge- 
langt ist,  so  erfolgt  bei  ihm  die  Syndese  der 
homologen   Chromosomen.     Diese   kann   in   drei 


F, 


Syndese 


(H)    (o|)    @ 

t+u  s+t  s+u 


s+u  s+t 


Abb.  4.     Schema    der    Chromosomenverteilung    bei   Wechselvererbun 

F"ormen  erfolgen :  I.  Indem  jedes  Chromosom  mit 
seinem  speziellen  Antagonisten  der  Partnergarnitur 
konjugiert;  II.  Indem  jedes  Chromosom  mit  dem 
anderen  homologen  Chromosom  der  Partnergarnitur 
konjugiert;  III.  Indem  jedes  Chromosom  mit  dem 
homologen  Chromosom  der  eigenen  Garnitur 
konjugiert. 

Der  erste  Fall  ist  der  typische,  welcher  2smal 


29& 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


stattfinden  möge ;  die  beiden  anderen  sind  aty- 
pisch, und  zwar  möge  der  eine  (IT)  2t  mal ,  der 
andere  (III)  2u  mal  stattfinden.  Dann  entstehen 
die  Gameten  in  dem  Verhältnis,  wie  es  die  theo- 
retische Ableitung  verlangt,  nämlich: 
Aa  :  AB :  Ab :  aB :  ab  :  bB  = 
(t  +  u) :  (s  +  t) :  (s  +  u) :  (s  +  u) :  (s  + 1) :  (t  +  u). 

Im  Anschluß  an  die  allgemeine  Form  der 
Wechselvererbung  darf  vielleicht  noch  kurz  auf 
den  Spezialfall  hingewiesen  werden,  welcher  durch 
Bridges  aufgedeckt  wurde.  Hierbei  handelt  es 
sich  darum,  daß  in  der  diploiden  Chromosomen- 
garnitur einer  bestimmten  Rasse  von  Drosopliüa 
ein  überzähliges  Chromosom  auftritt.  Woher  das- 
selbe stammt,  bzw.  daß  dasselbe  vermutlich  durch 
Spaltungsverzug  (non-disjunction)  in  die  Garnitur 
gelangt  ist,  kann  hier  ohne  Berücksichtigung 
bleiben.  Jedenfalls  kann  jetzt  bei  der  Konjugation 
der  Chromosomen  eine  Verschiedenheit  auftreten, 
indem  das  überzählige  Chromosom  bald  als 
Supernumerärchromosom  von  der  Syndese  aus- 
geschaltet und  beliebig  verteilt  wird,  bald  aber 
auch  mit  einem  der  ihm  homologen  „normalen" 
Chromosomen  konjugiert  und  dann  das  andere 
„Normal"- Chromosom  dazu  zwingt,  sich  als 
Supernumerärchromosom  zu  verhalten.  In  dem 
typischen  Falle  ist  nun  das  Supernumerärchromo- 
som zugleich  ein  geschlechtsbestimmendes  (Weib- 
chen bestimmendes)  Chromosom,  und  mit  diesen 
Geschlechtschromosomen  sind  weiter  je  ver- 
schiedene Anlagen  für  somatische  Eigenschaften 
(Augenfarbe)  verknüpft.  Es  würde  hier  zu  weit 
führen,  wenn  der  ganze  Erbgang  im  einzelnen 
genau  wiedergegeben  werden  sollte.  Es  genüge 
daher  der  Hinweis  auf  die  einschlägigen  Lehr- 
bücher. •)  Erwähnt  sei  nur,  daß  die  Bezeichnung 
als  „sekundäres  Nichtauseinanderweichen",  welche 
für  diesen  Erbgang  üblich  ist,  nicht  den  Kern- 
punkt seines  Charakters  trifft.  Es  handelt  sich 
hier  nicht  um  Spaltungsverzug,  wie  bei  der  Ent- 
stehung der  partiell  pleoploiden  Rasse,  sondern 
um  syndetische  Koppelung  und  Abstoßung,  also 
um  ein  ganz  anderes  Prinzip.  -) 

Eine  scharfe  Umgrenzung  der  Untertypen  der 

')  Vgl,  Gold  Schmidt,  R.,  Einführung  in  die  Ver- 
erbuDgswissenschaft,  III.  Aufl.,  1920,  S.  276.  —  In  dem  dort 
wiedergegebenen  Versuche  entspricht  beim  9  A  =  B=Xv 
(=  X-Chromosom  mit  den  Anlagen  für  Zinnoberäugigkeit  und 
9-Bestimmung),  a=  Y-Chromosom,  b  =  o  (fehlend) ;  der  dritte 
Typus  der  Syndese  findet  am  häufigsten  statt  (2u  =  84  %), 
die  anderen  sind  nicht  unterscheidbar  (2s-)- 2t  =  16%);  so 
resultieren  die  Gametentypen  XyX»  :  XyY :  X»  :  Y  ^(s-j- 1) : 
(s  +  f  +  2u):(s  +  t-|-2u):(s-l-t)  =  4:46:46:4.  Beim  er*,  das 
in  diesem  Versuche  nur  diploid  ist  (also  ohne  B  u.  b)  ent- 
spricht A'^  Xv  (=  X-Chromosom  mit  Anlagen  für  Normal- 
äugigkeit  und  9-Bestimmung),  a  =  Y ;  so  resultieren  die  Ga- 
metentypen Xv :  Y  =  I :  I.  Äußerlich  sind  hier  also  die  Ga- 
meten^erhältnisse  ähnlich,  wie  bei  Morgan  scher  Vererbung, 
und  auch  das  phänotypische  Resultat  der  Kreuzung  scheint  zu- 
nächst auf  eine  solche  hinzuweisen. 

')  Nur  wenn  man,  wie  es  vorher  angedeutet  wurde,  nicht 
Spaltungsverzug,  sondern  Hemmung  der  Syndese  als  Ursache 
für  die  Entstehung  der  partiell  pleoploiden  Form  ansieht, 
kann  man  diesen  Entstehungsvorgang  mit  dem  typischen 
Bridge  sschen  Erbgange  in  nähere  Beziehungen  bringen. 


Vererbung,  welche  als  Wechselvererbung  zusam- 
mengefaßt sind,  ist  gegenwärtig  noch  nicht  mög- 
lich. Jedenfalls  darf  aber  zunächst  schon  der  Ver- 
lauf des  Erbganges  bei  der  Kreuzung  eines  partiell 
pleoploiden  mit  einem  diploiden  Individuum,  wie 
ihn  Bridges  beschrieb,  als  typisch  für  die 
Bridgessche  Vererbung  angesehen  werden; 
eine  genaue  Definition  für  diesen  Vererbungstypus 
wird  sich  aber  erst  geben  lassen,  wenn  mehr 
darauf  bezügliche  Tatsachen  bekannt  sein  werden. 
Ebenso  bedarf  das  Verhalten  bei  der  Selbstbe- 
fruchtung von  total  tetraploiden  Organismen  wie 
es  die  von  Gregory  mit  Priniula  sinensis  an- 
gestellten Versuche  zeigen,  eines  weiteren  Aus- 
baues, ehe  es  möglich  sein  wird,  den  hierfür 
charakteristischen  Untertyp  der  Wechselvererbung 
klar  zfu  formulieren. 

V. 
Mit  der  M  e  n  d  e  1  sehen  Vererbung,  der  Kroß- 
vererbung und  der  Wechselvererbung  ist  die  Zahl 
der  Vererbungstypen  erschöpft,  welche  man  als 
Typen  der  regulären  oder  gesetzmäßig  spaltenden 
Vererbung  bezeichnen  kann.  Daß  es  außer  ihnen 
vielleicht  noch  mehr  reguläre  geben  könnte,  welche 
uns  gegenwärtig  noch  nicht  bekannt  sind,  soll 
damit  nicht  in  Abrede  gestellt  werden.  Sicher 
ist,  daß  es  neben  diesen  regulären  Vererbungs- 
typen noch  eine  ganze  Anzahl  von  irregulären 
gibt.  Da  man  aber  nur  die  gesetzmäßig  ver- 
laufenden Vererbungsweisen  als  eigentliche  Typen 
der  Vererbung  bezeichnen  darf,  konnten  und 
mußten  die  irregulären  Erbgänge  mit  ihren  durch 
das  Auftreten  von  unvorhergesehenen  Ausnahmen 
Dedingten  Komplikationen  hier  ganz  außer  dem 
Rahmen  der  Betrachtung  bleiben. 

Für  die  Ableitung  der  Regeln  für  die  drei 
Grundtypen  der  gesetzmäßigen  Vererbung  wurden 
nun  ohne  besondere  Erörterung  eine  Reihe  von 
Voraussetzungen  gemacht,  welche  vielleicht  einer 
zusammenfassenden  Hervorhebung  bedürfen. 

Die  erste  Voraussetzung  bezieht  sich  auf  die 
Natur  der  einzelnen  Anlagenpaare.  Grundsätzlich 
wurde  angenommen,  daß  die  Anlagenpaare  das 
reine  Dominanzverhältnis  aufwiesen.  —  Es  be- 
darf keiner  besonderen  Betonung,  wieviel  kompli- 
zierter alle  phänotypischen  Ergebnisse  wären, 
wenn  die  Kombinationen  mit  zwei  Dominanten 
(AA)  und  mit  einer  Dominanten  (Aa)  phänotypisch 
verschieden  wären. 

Die  zweite  Voraussetzung  kommt  für  das  Ver- 
hältnis der  Anlagenpaare  zueinander  in  Betracht. 
Grundsätzlich  waren  die  Anlagenpaare  als  ganz 
voneinander  unabhängig  gedacht.  Es  sind  aber 
Fälle  genug  bekannt,  daß  die  einzelnen  Anlagen- 
paare Beziehungen  zueinander  aufweisen.  Es  sei 
nur  daran  erinnert,  daß  es  vorkommt,  daß  ein 
Merkmal  nicht  in  Erscheinung  treten  kann,  wenn 
ein  anderes  bereits  vorhanden  ist  (Kryptomerie), 
daß  die  Auswirkungen  zweier  Anlagen  sich  zur 
Ausgestaltung  eines  Merkmales  vereinigen  (Poly- 
merie in  ihren  zahlreichen  Unterformen),  und  daß 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


297 


beide  Anlagen  vollkommen  in  gleicher  Richtung 
wirken  können  (Homomerie).  —  Das  Auftreten 
eines  solchen  Verhaltens  ist  beim  Mendeln  mit 
einer  gewissen  Schwierigkeit  zu  verfolgen,  führt 
aber  bei  den  anderen  Typen  zu  Verwicklungen, 
die  äußerst  unübersichtlich  werden. 

Die  dritte  Voraussetzung  betrifft  die  Zahl  der 
beteiligten  Anlagenpaare.  Grundsätzlich  wurde 
überall  nur  das  Vorhandensein  zweier  Anlagen- 
paare (Aa  und  Bb)  angenommen,  welche  nur  ver- 
schieden gelagert  gedacht  waren.  —  Es  bedarf 
keiner  Hervorhebung,  daß  die  Zahl  der  Anlagen- 
paare, welche  sich  bei  einem  Erbgange  bemerk- 
bar machen,  auch  größer  sein  kann.  Bei  rein 
Mendel  scher  Vererbung  bleiben  dann  die  Ver- 
hältnisse noch  recht  klar  und  übersichtlich.  Bei 
reiner  Kroßvererbung  verwickelt  sich  das  Ganze 
bereits  erheblich,  so  daß  eine  formelle  Darstellung 
schwer  hält,  und  für  die  Wechselvererbung  schließ- 
lich gilt  dasselbe  in  noch  außerordentlich  viel 
größerem  Maßstabe,   insbesondere  bei  Triploiden. 

Die  vierte  Voraussetzung  besteht  in  der 
Annahme,  daß  alle  Typen  von  Gameten  (Ha- 
plonten)  und  Zygoten  (Diplonten)  tatsächlich 
zustande  kommen.  Wir  kennen  aber  schon  reich- 
lich Fälle,  bei  welchen  gewisse  Gametentypen  oder 
Zygotentypen  nicht  lebensfähig  sind  und  zugrunde 
gehen;  dann  handelt  es  sich  um  das  Eingreifen 
von_  Elimination.  In  anderen  Fällen  finden 
gewisse  Haplontenvereinigungen  nicht  statt,  ob- 
wohl die  Haplonten  an  sich  vollwertig  sind ;  dann 
handelt  es  sich  um  Prohibition.  —  Es  ist 
selbstverständlich,  wie  schwer  die  Übersichtlich- 
keit von  Erbgängen  leidet,  wenn  durch  Elimina- 
tion und  Prohibition  gewisse  Phänotypen  ausge- 
schaltet werden.  Ist  aber  die  Aufklärung  von 
reinen  Mendelfällen  dann  schon  schwierig,  so 
gilt  das  naturgemäß  bei  den  anderen  Vererbungs- 
typen in  noch  viel  höherem  Maße. 

Die  letzte  Voraussetzung  schließlich  war,  daß 
in  einem  Erbgang  jeweils  nur  ein  Vererbungs- 
typus in   Erscheinung   tritt.  —   Der  gleichzeitige 


Ablauf  verschiedener  Vererbungstypen  nebenein- 
ander muß  stets  zu  größerer  Unübersichtlichkeit 
führen. 

Man  kann  sich  nun  sehr  wohl  vorstellen,  daß 
diese  Voraussetzungen  nicht  oder  nicht  alle  zuzu- 
treffen brauchen.  Ist  das  aber  der  Fall,  so  leuchtet 
es  ein,  welche  außerordentliche  Schwierigkeiten 
die  Analyse  eines  gegebenen  Erbganges  bieten 
kann,  der  auch  nur  einigermaßen  kompliziert 
ist.  Insbesondere  ist  dabei  zu  bedenken,  daß  bei 
der  Analyse  eines  neuen  Erbganges  ja  nicht  die 
Faktoren  und  ihre  Wirkungsweise  schon  bekannt 
sind,  sondern  daß  sie  erst  aus  den  Daten  des 
Versuchs  abgeleitet  werden  sollen.  Und  außerdem 
ist  oft  genug  die  Zahl  der  vorliegenden  Phäno- 
typen zu  gering. 

Darauf  ausdrücklich  hinzuweisen  erscheint  nicht 
überflüssig  im  Hinblick  auf  die  schwerwiegenden 
Anforderungen,  welche  besonders  von  medizinischer 
Seite  an  die  Vererbungslehre  gestellt  werden.  In 
der  Regel  ist  das  Tatsachenmaterial,  welches  über 
Vererbungsverhältnisse  beim  Menschen  vorgelegt 
werden  kann,  aus  Gründe.n,  die  „in  der  Biologie 
des  Objektes"  zu  suchen  sind,  so  unbefriedigend 
in  bezug  auf  Umfang  und  Einheitlichkeit,  daß  ein 
klarer  Erbgang  kaum  zu  erwarten  ist,  und  wenn 
er  auftritt,  geradezu  als  Besonderheit  gelten  kann. 

Zum  Schluß  darf  noch  ein  Wort  über  die  Be- 
zeichnung der  drei  Grundformen  der  Vererbung 
angeschlossen  werden.  Selbstverständlich  ist  es 
möglich,  dieselben  als  Mendelsche  Vererbung 
zusammenzufassen  und  als  Unterabteilungen  der- 
selben zu  bezeichnen.  Da  aber  Mendel  von  drei 
Grundtypen  der  gesetzmäßig  spaltenden  Vererbung 
nur  die  erste  und  einfachste,  welche  auch  heute  von 
manchen  Seiten  noch  als  die  einzig  vorkommende 
angesehen  zu  werden  scheint,  bekannt  war,  so  tut 
man  der  Bedeutung  Mendels  vielleicht  kein  Un- 
recht, wenn  man  auch  nur  diese  ihm  bekannte 
Vererbungsform  nach  ihm  benennt  und  die  beiden 
anderen  als  Nicht- Mendelsche  Vererbung  scharf 
davon  abtrennt. 


Einzelberichte. 


Zur  Theorie  chemischer  Umsetzungeu. 

(Neue  Beiträge   zur  Theorie   der   elektrolytischen 
Dissoziation.) 

Auf  Grund  der  Theorie  der  elektrolytischen 
Dissoziation  werden  Reaktionen  in  Lösungen,  vor 
allem  im  Wasser,  heute  im  allgemeinen  als  solche 
der  Ionen  aufgefaßt.  Jeder  Umsetzung  zweier 
oder  mehrerer  Moleküle  gehe  also  ein  Zerfall  der 
Reaktionsteilnehmer  voraus ;  erst  die  Bruchstücke, 
die  Ionen,  setzen  sich  sekundär  um.  Für  die 
Salzbildung  durch  Neutralisation  von  Säure  und 
Base  ist  im  Sinne  dieser  Auffassung  das  Wesent- 
liche also  die  primäre  Bildung  von  Wasserstofif- 
und  Hydroxylion,  die  sekundär  zum  undisso- 


ziierten  Wasser  zusammentreten,  das  schließlich 
noch  mit  dem  gebildeten  Salz  zum  Hydrat  zu- 
sammentreten kann.  Diese  in  ihren  theoretischen 
Voraussetzungen  gut  begründete  und  heute  eigent- 
lich allgemein  angenommene  Vorstellung  beginnt 
in  letzter  Zeit  aber  doch  verschiedenen  Einwürfen 
ausgesetzt  zu  werden.  Zunächst  einmal  gehen 
chemische  Umsetzungen  bekanntlich  auch  in 
n  i  c  h  t  dissoziierenden  Mitteln  vor  sich.  Die  Ioni- 
sation ist  also  zum  mindesten  keine  notwendige 
Voraussetzung  für  den  Prozeß.  Und  für  die  weit- 
aus überwiegende  Mehrzahl  der  organischen  Ver- 
bindungen kommt  eine  Ionisation  überhaupt  nicht 
in  Frage. 

Nun  weiß  man  andererseits  seit  langem,   daß 


29S 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


in  wasserfreiem  Äther,  worin  eine  Dissoziation 
nicht  oder  nur  in  geringem  Grade  statthat,  nicht 
allein  Säuren  und  Basen,  sondern  auch  andere 
reaktionsfähige  Verbindungen  besonders  leicht 
Additionsverbindungen  geben,  und  zwar 
in  der  Regel  nur  solche.  So  fand  schon  Vau- 
bel,*)  daß  eine  Addition  von  Kaliumhydroxyd 
KOH  an  Azeton  CHg-CO-CHg  stattfindet,  die  die 
wohlgekennzeichnete  Verbindung  (CHj).,  •  CO  •  KOH 
liefert.  Ein  Gegenstück  hierzu  ist  die  Addition 
von  Bromwasserstofif  an  den  gleichen  Stoff,  die 
die  Additionsverbindung  (CHj),  •  CO  •  HBr  ergibt.") 
Hier  reagiert  also  derselbe  Stoff  mit  zwei  elektro 
chemisch  völlig  entgegengesetzten  Stoffen 
in  genau  der  gleichen  Weise.  Eine  Erklärung 
gibt  die  lonisationstheorie  hierfür  nicht, 
schon  deshalb  nicht,  weil  die  beschriebenen  Um- 
setzungen nicht  augenblicklich,  sondern  langsam 
verlaufen.  Gerade  schnelle  Umsetzung  aber  ist 
das  Kennzeichen  für  I  o  n  e  n  reaktionen.  Vergegen- 
wärtigt man  sich  ferner  die  Additionen  an  „basi- 
schen Sauerstoff" ,  die  Collie  und  T  i  c  k  1  e , 
Baeyer  und  Villiger  untersucht  haben»  so  er- 
scheint es  zum  mindesten  ganz  berechtigt,  auch 
Umsetzungen  in  wässerigen  Lösungen  als  pri- 
märe Additionen  zu  formulieren. 

Diesen  bemerkenswerten  Schluß  ziehen  in  der 
Tat  Will.  M.  Dehn  und  R.  Merling»)  (Was- 
hington) auf  Grund  experimenteller  Untersuchun- 
gen, die  im  nachstehenden  kurz  beschrieben  seien. 

Sie  formulieren  die  oben  genannten  Umsetzun- 
gen durch  das  folgende  Schema: 

/Br 
RjCO^-fHBr  ^  R2C0=:BrH  ->R2C— OH, 


und 


R2C 


,/' 


OK 


0+  KOH  ->  R.2CO  =  OK  •  H  ^  R„C— OH. 
Das  Primäre  dieses  Vorgangs  wäre  also 
nicht  eine  Dissoziation,  sondern  Assoziation.  Diese 
Auffassung    wird    gestützt    durch    folgenden  Ver- 


«H,CO,H 


mit 


such.  Bringt  man  Benzoesäure 
festem  Kaliumkarbonat  KoCOg  in  wasserfreiem 
Äther  zusammen,  so  treten  Umsetzungen  ein,  die 
durch  die  folgenden  Formeln  versinnbildlicht 
werden : 

2C8H5CO2H      ^     QH^-C-O-C-CeH,     -» 
+  2  KOH  y\         II 

(a)  HO         OHO 

(b) 
CeH.-C-0-C-C«H5  +H3O     -> 


HO     OK  HO      OK 

(c) 
2C«H5— CO2K  +  2H„0. 

(d) 
Von   diesen   Zwischenstufen    ist   bewiesen  die 
Assoziationsverbindung  (b)    durch   die  Messungen 
von  Beckmann.^)     Aber    auch    die  Verbindung 

')  Journ.  f.  prakt.  Chem.  43,  S.  599,  1891. 

A  Journ.  of  the  Amer.  Chem.  Soc.  34,  S.  1286,   1912. 

^)  Ebenda  39,  S.  2646,    1917. 

*)  Zeitschr.  f.  phys.  Chem.  3,  S.  603,  1889.  —  6,  S.  457,  1890. 


(c)  konnte  nachgewiesen  werden.  Dehn  und 
Merling  isolierten  sie  als  ein  gelbliches  in 
Äther  unlösliches  wohlgekennzeichnetes  Produkt. 
Solche  und  ähnliche  Niederschläge  konnten  ana- 
lysiert werden;  damit  waren  also  die  Assozia- 
tionsvorgänge messend  verfolgbar.  Nun  ergab 
sich  weiterhin,  daß  nicht  nur  Benzoesäure,  sondern 
auch  ihr  Anhydrid  das  gleiche  Produkt  lieferte. 
Und  zwar  nahmen  die  Anhydrid- Addi- 
tionsverbindungen kein  Wasser  aus 
einer  ätherischen  Lösung  desselben 
aufl  Dieser  Versuch  beweist  also,  daß  Wasser 
als  ionisierendes  Mittel  nicht  die  unumgängliche 
Voraussetzung  für  den  Verlauf  dieser  Umsetzung 
sein  kann.  Denn  die  Bildung  der  Additions- 
verbindung schließt  das  aus,  ja,  ihre  Indifferenz 
gegen  Wasser  scheint  im  Gegenteil  zu  beweisen, 
daß  die  Ionisation  überhaupt  keine,  nicht  einmal 
eine  sekundäre  Rolle  spielt. 

Dieser  wichtige  Befund  wird  nun  weiter  da- 
durch gestützt,  daß,  wie  die  genannten  Forscher 
fanden,  nicht  nur  Säuren,  sondern  alle  organischen 
Verbindungen,  die  CO-Gruppen  enthalten,  ganze 
Moleküle  von  KOH  addieren.  So  z.  B. 
Aldehyde  nach  dem  Schema: 

R.CO-H  ->  R.COK.H(OH) 
Ketone  nach  dem  Schema: 

R2CO  ->  R3C0K.(0H) 
Ester  nach  dem  Schema: 

R-COOX  ->  R.COK-OX(OH) 
Amide  nach  dem  Schema: 

R.CO-NH,  ->  R.COK.NH3-(OH)  usw. 

Wichtig  ist  I.:  all  diese  KOH-Verbindungen 
sind  Salze,  2.:  die  gewohnten  auf  Grund  der 
Dissoziationstheorie  gebildeten  Definitionen  von 
„Säure"  sind  nicht  genügend  zur  Erklärung  dieser 
Salzbildung,  3.:  diese  findet  vielmehr  statt  nach 
dem  Schema 

:  CO  -h  K  -^  :  C— OK. 

O"         -^OH 

Man  kann  die  Säuren  hiernach  als  trihydroxy- 
liert,  die  Aldehyde  als  d  i  hydroxyhert  auffassen. 
Das  sind  aber  offenbar  nur  mehr  graduelle 
Unterschiede.  Die  Aldehydreaktionen  verlaufen 
ziemlich  rasch,  wenn  auch  langsamer  als  die  der 
Säuren.  Noch  langsamer  verlaufen  die  Umsetzun- 
gen der  aromatischen  Ketone,  diejenigen  mit 
Azeton  sogar  sehr  langsam  fortschreitend.  Da 
nun  Azeton  mit  Äther  in  allen  Verhältnissen 
mischbar  ist,  so  ist  seine  Löslichkeit  für  die 
Umsetzung  darin  also  nicht  verantwortlich  zu 
machen.  Die  Löslichkeit  aber  ist  ein  wesentlicher 
und  ihn  erst  bedingender  Bestandteil  des  loni- 
sationsvorgangs.  Auf  der  anderen  Seite  ist  die 
Formulierung  der  aus  Äther  ausfallenden  amorphen 
Produkte  gestützt  durch  die  zahlreich  bekannten 
eingangs  erwähnten  Oxoniumsalze. 

Zu  Schlüssen,  die  in  gleicher  Weise  wie  eben 
geschehen  zu  deuten  sind,  führen  weiterhin  Ver- 
suche,   die  L.  S.   B  a  g  s  t  e  r    und    G.  C  o  o  1  i  n  g  *) 

')  Journ.  of  the  Chem.  Soc.  London  117,    S.  693,   1920. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


299 


machten.  Sie  elektrolysierten  Bromwasserstoff  in 
flüssigem  Schwefeldioxyd.  Dieses  wirkt  nach 
früheren  Befunden  insbesondere  Waldens  dem 
Wasser  ganz  ähnlich,  also  auch  als  lonisations- 
mittel.  Bagster  und  Cooling  fanden  nun, 
daß  völlig  wasserfreie  Lösungen  von  Bromwasser- 
stoff in  Schwefeldioxyd  den  Strom  nicht  leiten. 
Es  können  mithin  keine  Träger  der  Elektrizität, 
d.  h.  keine  Ionen  vorhanden  sein.  Erst  nach 
Zusatz  von  Wasser,  das  selbst  nichtleitend  ist, 
trat  Stromdurchgang  ein.  Ionisation  kann 
diesen  also  nicht  bedingen,  denn  dann  wäre 
Elektrolyse  schon  im  wasserfreien  System  zu 
erwarten  gewesen.  Der  einzig  mögliche  und  im 
Sinne  der  vorstehenden  Mitteilungen  auch  ganz 
wahrscheinliche  Schluß  hieraus  ist  also,  daß  auch 
hier  anscheinend  eine  Additio  ns Verbindung 
HjO-HBr  gebildet  wird.  Die  Verff.  formulieren 
auch  diese  nach  dem  Schema  einer  Oxonium- 
verbindung 


Br 


H 


H 


/H 


O 


+  Br' 


Die  primär  gebildete  Oxoniumverbindung  bil- 
det also  erst  sekundär  etwas ,  was  mit  Ionen 
im  herkömmlichen  Sinne  bezeichnet  werden  kann. 
Die  Verflf.  folgern  daraus  weiter,  daß  die  gleichen 
Verhältnisse  auch  in  wässeriger  Lösung  ob- 
walten. 

Dies  sind  nur  einige  besonders  kennzeichnende 
Arbeiten  der  letzten  Zeit.  Aus  ihnen  geht  aber 
zum  mindesten  wohl  hervor,  daß  die  lonisations- 
theorie  zwar  keineswegs  als  unhaltbar  anzusehen 
ist;  wohl  aber  wird  man  sie  auf  keinen  Fall  in 
der  bisher  gewohnten  einfachen  Weise  auszu- 
drücken haben.  Ebenso  dürfte  die  ihr  ehedem 
zugewiesene  beherrschende  Rolle  bei  chemischen 
Umsetzungen  mehr  noch  als  dies  bereits  zuweilen 
geschehen  ist  auf  gewisse  wenige  Reaktionen  be- 
schränkt werden  müssen.  Für  diese  Folgerung 
sprechen  in  deutlicher  Weise  auch  Versuche  von 
A.  Hantzsch  über  die  Konstitution  der  Säuren, 
über  die  in  einem  besonderen  Aufsatz  gehandelt 
werden  soll.  H.  Heller. 

Atomgewicht  vou  Wismut.    (Nachtrag.) 

Der  von  Hönigschmid  gefundene  Wert 
Bi  =  209  wird  soeben  bestätigt  durch  A.  Clas- 
s  e  n  und  O.  N  e  y ,  ^)  die  durch  Zersetzen  von 
Wismuttriphenyl  Bi(QHJg  den  gleichen  Wert 
Bi=  209  finden.  Damit  dürfte  der  Streit  zugunsten 
des  höheren  Wertes  entschieden  sein.       H.  H. 

Das  Maikäferproblem  iu  der  Schweiz. 

Professor  M.  Decoppet,  Oberforstinspektor 
im  eidgenössischen  Departement  des  Innern,  hat 
in  einem  kürzlich  erschienenen  Werke  (Le  Han- 
neton.     Biologie,    Apparition,    Destruction.      Un 


')  Ber.  d.  d.   ehem.  Gesellsch.  53,  S.  2267,   1920. 


siöcle  de  lutte  organisee  dans  le  canton  de  Zürich. 
Experiences  recentes.  Lausanne  et  Geneve  1920, 
Payot  &  Cie.)  die  in  den  vierziger  }ahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  abgeschlossenen  Studien  des 
bekannten  Schweizer  Entomologen  Oswald  Heer 
fortgesetzt  und  das  Problem  der  Maikäferflugjahre 
in  der  Schweiz,  insbesondere  im  Kanton  Zürich, 
fast  restlos  geklärt  und  kartographisch  festgelegt. 
Nach  einer  einleitenden  anschaulichen  Schilde- 
rung der  Lebensgeschichte  des  Maikäfers  gibt  der 
Verf.  eine  kurze  Beschreibung  der  Verbreitung 
und  der  Kennzeichen  der  europäischen  Melolon- 
thiden,  die  durch  eine  im  Anhang  mitgeteilte  und 
von  Figuren  erläuterte  Bestimmungstabelle  der 
Engerlinge  (nach  Perris)  vervollständigt  wird. 

Im    zweiten   Kapitel    erörtert   der   Autor    ein- 
gehend  das  Problem    der  Flugjahre   und   wendet 
sich   gegen   die  Behauptung  vieler  Forscher,   daß 
die  Flugjahre   abhängig   seien  von  der  Witterung 
und    den   Lebensbedingungen,    unter   denen    sich 
die  Engerlinge  entwickeln,    und  daß  man  deshalb 
keine  bestimmte  Regel   für   ihre  Wiederkehr  auf- 
stellen könne.    Nach  Decoppets  Beobachtungen 
besteht   im  Gegenteil   in  jeder  Gegend    ein  ganz 
bestimmter  Entwicklungszyklus ;  der  ursprüngliche 
und   am   weitesten   verbreitete    scheint    der   drei- 
jährige zu  sein.    Abweichungen  von  ihm,  wie  die 
vierjährige    Generationsdauer    in    einigen    Alpen- 
tälern,  in  Norddeutschland,  Dänemark   und   Eng- 
land oder  die  fünfjährige  Entwicklungsperiode  von 
Melolontha    hippocastani    in    Nordeuropa    können 
den  Anschein  erwecken,  als  ob  sie  durch  Tempe- 
ratureinfluß hervorgerufen  werden.    Nach  der  An- 
sicht des  Verf.  ist  aber  dieser  Einfluß  der  Tempe- 
ratur nur  relativ :  nicht  die  Kälte  verlangsamt  die 
Entwicklung,  sondern  die  Kürze  der  Vegetations- 
periode.     In   der  Schweiz   findet   sich   allein   der 
dreijährige   Entwicklungszyklus,    der    auch    durch 
kalte  Jahre  keine  Veränderung  seiner  Regelmäßig- 
keit  erleidet   und   nur  in   einigen   hochgelegenen 
Alpentälern    (Inntal,     Münstertal,    Vorderrheintal, 
Distrikt   Schams   und    Puschlav)    der    vierjährigen 
Periode  Platz  macht.      Diese  Regionen,    in   denen 
die   Entwicklung    immer   vier  Jahre   dauert,   sind 
scharf  von    denjenigen    mit   dreijähriger  Entwick- 
lungsperiode getrennt.     Es  haben  sich  nach  D  e  - 
coppets  Ansicht   zwei   biologische   Rassen   aus- 
gebildet,  eine  Rasse  der  Ebenen  und  eine  Rasse 
der  Hochtäler,  die  mindestens  für  eine  bestimmte 
Zeit  erhalten  bleiben,  selbst  wenn  das  Insekt  neuen 
klimatischen  Bedingungen  unterworfen  wird.     Mit 
Ausnahme   der    genannten   Hochtäler   lassen   sich 
in  der  Schweiz  drei  Gebiete  feststellen,  von  denen 
jedes  sein  bestimmtes  Flugjahr  hat,    das  alle  drei 
Jahre  wiederkehrt.     Nach  dem  Vorgange  Heers 
werden  diese  Flugjahre  nach  der  Gegend,  in  der 
ihr  Hauptauftreten  liegt,  benannt:  i.  Basler  Flug- 
jahr   („Regime    bälois",    Jahreszahl    genau    durch 
drei    teilbar:    1917,«  1920,    1923).    2.  Berner  Flug- 
jahr („Regime  bernois",   Flugjahre   durch  drei  ge- 
teilt bleibt  I  Rest:    191 8,    1921,    1924),    3.  Urner 
Flugjahr  („Regime  uranien",  Jahreszahl  durch  drei 


300 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


geteilt  bleibt  2  Rest:  1916,  1919,  1922).  Berner 
und  Urner  Flugjahr  sind  bereits  seit  dem  17.  Jahr- 
hundert, das  Basler  seit  dem  18.  Jahrhundert  be- 
kannt, woraus  Decoppet  schließt,  daß  das  in 
einem  bestimmten  Gebiet  herrschende  Flugjahr 
viel  zu  konstant  ist,  als  daß  es  unter  dem  Einfluß 
des  Klimas  stehen  könne.  Eine  Gegend  kann 
allerdings  in  seltenen  Fällen  das  Flugjahr  wechseln ; 
doch  setzt  diese  Veränderung  immer  voraus,  daß 
das  vorher  herrschende  Flugjahr  verschwunden 
ist,  das  betreffende  Gebiet  eine  Zeitlang  von  Mai- 
käfern freibleibt  und  deshalb  einem  neuen  Flug- 
jahr gestattet,  festen  Fuß  zu  fassen.  Zwei  oder 
gar  drei  Flugjahre  finden  sich  äußerst  selten  in 
einer  Gegend  und  zwar  nur  an  der  Grenze  zweier 
Gebiete  mit  verschiedenen  Flugjahren.  Sonst 
kommt  stets  in  einem  Gebiet  auch  nur  ein  Haupt- 
stamm vor,  denn  die  Engeriinge  des  Hauptzyklus 
scheinen  die  Entwicklung  der  ein  oder  zwei  Jahre 
jüngeren  Larven  zu  verhindern,  vielleicht  weil  sie, 
zahlreicher  und  beweglicher,  den  jüngeren  und 
schwächeren  Larven  der  beiden  übrigen  Gene- 
rationen die  Nahrung  fortnehmen. 

Im  dritten  Kapitel   geht   der  Verf  auf  Grund 
der   im  Kanton  Zürich   seit   fast  75  Jahren   plan- 
mäßig angestellten  Erhebungen  auf  die  in  diesem 
Gebiet   herrschenden  Flugjahre   des   näheren   ein. 
Begünstigt  wird    er  hierbei  nicht  nur  durch  seine 
langjährigen  Beobachtungen,    sondern   auch  durch 
die   dank  der   Initiative  Heers   äußerst  vollkom- 
mene Organisation  der  Berichterstattung  und  Be- 
kämpfung.      In    jeder    Gemeinde    sind    die    Ein- 
wohner verpflichtet,  in  Flugjahren  ein  bestimmtes 
Maß  (in  Litern)   von  Maikäfern  zu  sammeln,    wo- 
bei Prämien    für   fleißiges    und    Strafen    für   nach- 
lässiges Sammeln  festgesetzt  sind.    Jede  Gemeinde 
hat  außerdem  in  einem  Formular  das  genaue  Maß 
von  Maikäfern    anzugeben,    das    in   jeder  Woche 
der  Flugzeit  gesammelt  wurde.    Ebenso  muß  die 
Polizei,   die  das  Einsammeln   zu   überwachen  hat, 
Berichte  liefern  über  den  Umfang  des  Fluges,  über 
den    Zeitpunkt     des    Auftretens     und    des    Ver- 
schwindens     der    Käfer     und    über    das    Wetter 
während  der  Flugzeit.    Seit  dem  Jahre  1807  haben 
nun    im   Kanton    Zürich    folgende  Veränderungen 
stattgefunden:    Zu    Beginn    des    19.    Jahrhunderts 
(1807,  18 10)  herrschte  das  Berner  Flugjahr.  Gegen 
1840,    als    Heer    seine    Untersuchungen    begann, 
war    es    fast    völlig    durch    das  Urnerjahr    ersetzt. 
Letzteres  erreichte  sein  Maximum  im  Jahre   1910 
und  begann  dann  wieder  abzunehmen ;  behauptete 
zwar   anfangs    noch   das  Zentrum  und  den  Osten 
des  Kantons,    wich    aber  auch    hier   immer  mehr 
zurück  und  ist  heute  wieder  fast  im  ganzen  Kanton 
durch    das    Berner   Jahr    verdrängt.      Für    diesen 
Wechsel   der  Flugjahre   lassen   sich    mehrere   Er- 
klärungen finden,  von  denen  Decoppet  folgende 
am  wahrscheinlichsten  dünkt:  Die  1807  und  18 10 
angewandten    Bekämpfungsmittel     und     späterhin 
die    nassen    Jahre    18 13    bis    1817,    welche    das 
Schwärmen  hinderten    und  Käfer  und  Engerlinge 
für  Epidemien  disponierten,  vernichteten  das  Ber- 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


ner  Flugjahr  fast  völlig.  In  den  wärmeren  und 
geschützteren  Gegenden  war  die  Vernichtung 
nicht  vdllständig,  weshalb  hier  sehr  schnell  der 
Berner  Zyklus  wieder  einsetzte.  Im  Zentrum  da- 
gegen war  das  Berner  Jahr  völlig  verschwunden, 
so  daß  die  Käfer  der  Urner  Periode,  bis  dahin  in 
latentem  Zustand,  durch  klimatische  Verhältnisse 
begünstigst  oder  während  der  ungünstigen  Zeit 
besser  geschützt,  sich  vermehren  und  bald  wirk- 
liche Flugjahre  bilden  konnten.  Wie  schon  Heer 
betont  hat,  darf  man  deshalb  unter  keinen  Um- 
ständen die  Käfer  der  intermediären  Jahre  ver- 
nachlässigen, sondern  muß  auch  sie  energisch  be- 
kämpfen, um  zu  einer  völligen  Vernichtung  der 
Plage  zu  gelangen. 

Ein  weiteres  Kapitel    ist   den   einzelnen  Flug- 
jahren im  Kanton  Zürich  gewidmet,  deren  Umfang 
auf  Grund  der  Sammelergebnisse  besprochen  wird. 
Sodann  behandelt  der  Autor  den  Einfluß  des  Bo- 
dens   und    des  Klimas    auf   die  Entwicklung    der 
Maikäfer.       Am    günstigsten    für    dieselben    sind 
trockene,    fruchtbare,    leicht    gewellte    Gegenden 
ohne  abschüssige  und  zu   stark  bewaldete  Hügel; 
sie   fehlen   dagegen   in  feuchtem,   sumpfigem  Ge- 
lände, an  Stellen,  wo  das  Grundwasser  nahe  der 
Oberfläche  liegt,   an   hochgelegenen   (im  Kanton 
Zürich    oberhalb    800  m)    und    stark    bewaldeten 
Örtlichkeiten.     Dichte  Waldbestände  werden  des- 
halb gemieden,   weil   hier  durch  die  Vegetations- 
decke der  Boden   feucht   und  kalt  gehalten  wird 
und    daher    für    die  Entwicklung    der  Engerlinge 
ungünstig  ist.     Gegen   vorübergehende  Feuchtig- 
keit,   selbst  Überschwemmungen,  und   Kälte  sind 
jedoch    die   Engeriinge    durch    ihre    unterirdische 
Lebensweise    und    die   Fähigkeit,   in   ungünstigen 
Zeiten  tief  (bis  fast  i  m)  in  die  Erde  einzudringen, 
ziemlich  geschützt.    Auch  die  schon  entwickelten, 
aber  dem   Boden   noch   nicht  entstiegenen  Käfer 
vermögen  sich  tiefer  in  die  Erde  einzugraben,  so 
einem  Kälterückschlag  zu  entgehen  und  den  zum 
Ausfliegen  günstigsten  Zeitpunkt  abzuwarten,  der 
bei   einer   Temperatur  von   etwa    15"  liegt.     Da- 
gegen beeinträchtigen  Kälte  und  Regen  während 
der  Flugzeit  das  Schwärmen  und  die  Kopulation 
sowie   die   normale   Eiablage   der  Weibchen   und 
führen    so    eine  Schwächung    des   Hauptstammes 
herbei,  die  sich  im  nächsten  Flugjahre  durch  ge- 
ringes Auftreten  der  Käfer  bemerkbar  macht. 

In  einem  Kapitel  über  die  Biologie  des  Mai- 
käfers werden  Untersuchungen  über  die  Zeit  des 
Auftretens,  die  Kopulation,  die  Eiablage,  das  Aus- 
schlüpfen der  Engerlinge  aus  dem  Ei  und  über 
die  verschiedenen  Bodentiefen,  in  denen  sich  letz- 
tere während  ihres  Larvenlebens  aufhalten,  mit- 
geteilt. Als  Eriäuterung  hierzu  gibt  eine  Farben- 
tafel im  Anhang  ein  sehr  anschauliches  Bild  der 
dreijährigen  Entwicklungsperiode. 

Die  Bekämpfung  der  IVlaikäfer  und  Engerlinge 
wird  in  zwei  Kapiteln  besprochen  und  die  eigenen 
Versuche  des  Verf.  in  der  Pflanzschule  Farzin  in 
einem  besonderen  Abschnitt  dargelegt.  Zur  Ver- 
hinderung der  Eiablage  hat  sich  einigermaßen  die 


N.  F.  XX,  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


301 


Bedeckung  des  Bodens  mit  Teerstaub  oder  Ast- 
werk bewährt.  Gegen  die  Engerlinge  ergab 
Schwefelkohlenstoff  die  besten  Erfolge,  zumal 
dieser  nach  Decoppets  Versuchen,  in  kleinen 
Mengen  angewandt,  auch  die  Bodenfruchtbarkeit 
hob.  Zur  Bekämpfung  der  Käfer  kommt  nach 
des  Verf.  Ansicht  allein  das  Einsammeln  in  Be- 
tracht, das  während  der  ganzen  F'lugzeit  durch- 
zuführen ist  und  nicht  nur  wie  üblich  in  den 
beiden  ersten  Wochen;  denn  die  Versuche  De- 
coppets ergaben,  daß  selbst  im  Juh  noch  die 
Weibchen  normalerweise  zur  Eiablage  schreiten. 
Hinsichtlich  der  natürlichen  Bekämpfung  kommt 
Decoppet  zu  dem  Ergebnis,  daß  Vögel  und 
Kleinsäuger  wohl  eine  Maikäferplage  nicht  ver- 
hindern können,  aber  doch  wertvolle  Bundesge- 
nossen sind,  die  mit  allen  Mitteln  gehegt  werden 
sollen.  Bekämpfungsversuche  mit  Pilzen  und 
Bakterien,  die  gelegentlich  als  Krankheitserreger 
bei  Maikäfern  gefunden  wurden,  ergaben  bisher 
noch  keine  Erfolge. 

Ein  sehr  ausführliches  Literaturverzeichnis  be- 
schließt den  Hauptteil,  dem  eine  Reihe  von  An- 
lagen folgt,  die  Verordnungen  zur  Bekämpfung 
der  Maikäfer  und  das  von  den  Gemeinden  aus- 
zufüllende Formular  wiedergeben.  Im  Anhang 
finden  sich  Tabellen  über  die  Sammelergebnisse 
in  den  einzelnen  Gemeinden  des  Kantons  Zürich 
seit  1867,  Abbildungen  zur  Anatomie  des  Mai- 
käfers, sowie  41  Karten,  die  für  den  Kanton 
Zürich  den  Umfang  jedes  Flugjahres  seit  1867, 
die  Veränderungen  während  dieser  Zeit  in  der 
Verbreitung  der  Berner  und  Urner  Periode  und 
die  Ausdehnung  der  drei  Flugjahre  in  der  ganzen 
Schweiz  veranschaulichen. 

Wie  in  der  Schweiz  ist  es  auch  in  Nieder- 
österreich dank  den  langjährigen  Arbeiten  Zwei- 
gelts  (vgl.  F.  Zw  ei  gelt.  Der  gegenwärtige 
Stand  der  Maikäferforschung,  Zeitschr.  für  ange- 
wandte Entomologie,  Bd.  V,  1918,  S.  i — 33)  ge- 
lungen, die  Maikäferflugjahre  genau  festzulegen, 
wogegen  bis  heute  noch  für  die  meisten  Gegen- 
den Deutschlands  genauere  Angaben  über  Auf- 
treten und  Verbreitung  der  Maikäfer  fehlen.  Nur 
durch  planmäßige  Beobachtung  und  Berichterstat- 
tung während  einer  Reihe  von  Jahren  kann  es 
erreicht  werden,  daß  wir  auch  in  Deutschland  für 
jedes  Gebiet,  in  dem  die  Maikäfer  als  Schädlinge 
auftreten,  das  Eintreten  eines  Flugjahres  voraus- 
sehen und  eine  planmäßige  Bekämpfung  organi- 
sieren können.  Zu  diesem  Zweck  ist  bereits  im 
vorigen  Jahre  von  der  Biologischen  Reichsanstalt 
für  Land-  und  Forstwirtschaft  eine  Maikäferumfrage 
veranstaltet  worden,  die  viele  Antworten  ergab 
und  in  diesem  und  den  nächsten  Jahren  wieder- 
holt werden  soll.  Zur  Klärung  des  Maikäferpro- 
blems in  Deutschland  sollte  jeder,  der  Aufzeich- 
nungen oder  Beobachtungen  über  Auftreten  und 
Biologie  der  Maikäfer  gemacht  hat,  durch  Aus- 
füllung eines  Fragebogens  beitragen. 

Dr.  H.  Sachtleben,  Berlin-Dahlem. 
Biologische  Reichsanstalt. 


Oeologie  und  Miiieralschätze  Angolas. 

Die  Mineralschätze  dieses  Landes  haben  schon 
seit  langem  die  Aufmerksamkeit  der  Portugiesen 
erregt,  ohne  daß  ihnen  jedoch  größere  Erfolge  in 
deren  Ausbeutung  beschieden  gewesen  wären. 
Am  geologischen  Aufbau  des  Landes  beteiligen 
sich  nach  P.  Range  (Zeitschr.  f.  prakt.  Geologie, 
XXVIII,  1920,    181  —  187)   folgende  Formationen: 

I.  Primärformation. 

Gneise  und  kristalline  Schiefer,  durchsetzt  von 
großen  Granitmassiven,  bauen  das  westafrikanische 
Randgebirge  auf.  Das  Auftreten  der  einzelnen 
Gesteinsarten  in  den  verschiedenen  Landesteilen 
ist  jedoch  meistens  ganz  unbekannt.  Von  sicher 
bekannten  Granit  vorkommen  seien  hier  erwähnt: 
der  Fetischfelsen  bei  Borna  am  Kongo,  der  Pfeiler 
von  Muserra,  eine  Bergkette  im  Distrikt  Duque 
de  Braganza,  im  Süden  im  Shellagebirge.  Gneis 
bildet  westlich  von  Pungo  Andango  sehr  charakte- 
ristische Bergformen  und  tritt  auch  sonst  noch 
mehrorts  auf.  Von  kristallinen  Schiefern  werden 
noch  Turmalinquarzite,  Glimmerschiefer,  Quarz- 
phyllite  u.  a.  m.  mehrorts  erwähnt. 

II.  Namaformation. 

Die  alten  kristallinen  Schiefer  und  Gneise  wer- 
den in  einzelnen  Teilen  von  weniger  metamorphen 
Sedimenten  überlagert,  die  zweifellos  den  in  Süd- 
westafrika und  in  Britisch-Südafrika  eingehend 
untersuchten  Horizonten  der  von  Range  als 
Namaformation  bezeichneten  Schichten  entsprechen. 
Genaueres  über  die  Schichtenfolge  wissen  wir 
noch  nicht. 

III.  Karooformation. 

Schichten  die  wahrscheinlich  zu  dieser  For- 
mation gehören,  werden  mehrorts  erwähnt,  z.  B. 
aus  der  Gegend  zwischen  Cambambe  und  Dondo, 
wo  die  oberen  Horizonte  flach  liegen  und  geringe 
Kohlenspuren  zeigen.  Die  Farbe  des  Schiefertones 
ist  braungrau. 

IV.  Kreideformation. 

Weit  besser  als  die  bisher  erwähnten  For- 
mationen ist  die  im  Küstengebiet  auftretende 
Kreide  untersucht,  da  sie  infolge  ihres  Fossilreich- 
tums seit  langem  die  Aufmerksamkeit  und  das 
Interesse  der  Forscher  erregte.  An  der  Basis 
dieser  Kreideformation  treten  bituminöse  Schiefer 
auf,  mit  denen  gleichaltrig  vielleicht  die  Sand- 
steine von  Dombe  sind,  welche  Kupfer,  Schwefel 
und  Gips  enthalten.  Darauf  folgt  die  fossilführende 
Kreide  mit  mergeligen,  oolithischen  und  glauko- 
nitischen Kalken,  Dolomiten  und  Sandsteinen,  alle 
von  heller  Farbe.  Nach  Choffat  gehören  die 
unteren  Horizonte  ins  Albien  und  Gault,  die  oberen 
ins  Cenoman. 

V.  Tertiär. 

Das  Tertiär  ist  von  mehreren  Punkten  nahe 
der  Küste  bekannt,  teilweise  mit  reicher  Fossil- 
führung, die  es  erlaubt  diese  Horizonte  ins  ältere 
Eozän  und  ins  Miozän  zu  stellen. 

VI.  Jüngere  Eruptivgesteine. 

Von  diesen  sind  bekannt  geworden:   Trachyt, 


302 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


Basalt,  Nephelinbasalt,  Liparit,  Leptynit,  Nephelin- 
syenit,  Tinguait  und  Nephelinphonolit. 
VII.  Oberflächenbildungen. 
Im  Bereiche  des  Kongo-  und  Sambesigebietes 
finden  sich  Rotlehme,  im  Südosten  des  Landes 
auch  vielfach  rote  Sande.  Warme  Quellen  werden 
aus  dem  Distrikt  Novo  Redondo  erwähnt,  eine 
Schwefeltherme  von  Luxillo,  iVlineralquellen  von 
IVIutipa  und  Quipupa. 

Nutzbare  Mineralien. 

I.  Gold. 

Im  Distrikt  Loanda  befindet  sich  die  gold- 
führende Zone  von  Lombige,  die  schon  seit  dem 
Begin  des  19.  Jahrhunderts  bekannt  ist.  Bei  ihrem 
geringen  Goldgehalt  dürfte  ein  gewinnbringender 
Abbau  aber  auf  Schwierigkeiten  stoßen.  Im 
Distrikt  Benguella  findet  sich  die  Goldzone  von 
Cassinga.  Die  Seifen  sollen  dort  angeblich  8 — 9  g 
Gold  auf  die  Tonne  ergeben  haben.  Jetzt  ist  der 
Bergbau  dort  anscheinend  wieder  zum  Erliegen 
gekommen.  Auch  die  übrigen  Goldvorkommen 
haben  sich  bislang  als  unbedeutend  und  unabbau- 
würdig erwiesen. 

II.  Silber. 

Silbererze  werden  unter  anderem  im  Distrikt 
Loanda  gefunden,  doch  sind  die  Vorkommen  ganz 
unbedeutend. 

III.  Kupfer. 

Kupfer  ist  seit  längerer  Zeit  in  Angola  be- 
kannt. Bis  zum  Jahre  1875  wurde  es  von  den 
Eingeborenen  in  verschiedenen  Gegenden  gewon- 
nen, an  portugiesische  Händler  verkauft  und  nach 
Europa  verschifft.  So  wurden  von  dem  Malachit 
von  Bembe  früher  200 — 300  Tonnen  jährlich  aus- 
geführt. Das  Hauptkupfererz  scheint  der  Malachit 
zu  sein,  der  mehrfach  als  Imprägnationsmittel  von 
Kalksteinen,  Sandsteinen  und  Konglomeraten  der 
Kreide  auftritt.  Die  Kupfererze  kommen  haupt- 
sächlich vor  in  den  Distrikten  Mossamedes,  Ben- 
guella und  Loanda. 

IV.  Eisen. 

An  Eisenerzen  ist  das  Land  reich;  und  zwar 
treten  sie  auf  als  Roteisen-,  Brauneisen-  und  Mag- 
neteisenerze. Sie  wurden  vielfach  schon  von  den 
Eingeborenen  ausgebeutet.  Wirtschaftliche  Be- 
deutung haben  sie  nur,  wenn  es  sich  um  sehr 
ausgedehnte,  hochprozentige  Lagerstätten  handelt, 
die  billig  abgebaut  werden  können  und  günstige 
Verschififungsverhältnisse  haben. 

Von  weiteren  Metallvorkommen  sind  zu  er- 
wähnen: Blei,  Mangan,  Wolfram,  Zinn  und 
Antimon.  Diese  haben  bis  jetzt  keinerlei  wirt- 
schaftliche Bedeutung.  Das  gleiche  gilt  von  den 
Diamant-,  Graphit-  und  Kohle  vorkommen. 

V.  Bitumina. 

Bitumina  sind  aus  Angola  seit  zwei  Jahr- 
hunderten bekannt,  sie  wurden  früher  als  Petro- 
leum bezeichnet.  Am  bedeutendsten  sind  die 
Vorkommen  im  Distrikt  Loanda  nordöstlich  von 
Libungo,  wo  ein  leicht  zerreibbarer  Sandstein  so 
mit    Bitumen    imprägniert    ist,    daß    es    aus    den 


Schichtfugen  austritt.  Auch  Erdgas  und  halb- 
flüssiges Ol  wurden  an  einigen  Stellen  erbohrt. 
Im  Distrikt  Mossamedes  kommt  Asphalt  vor. 
Alle  diese  Vorkommen  beweisen,  daß  Anzeichen 
für  Petroleum  im  Küstengebiet  von  Angola  vor- 
handen sind.  Eingehende  Untersuchungen  sind 
aber  bisher  noch  nicht  angestellt  worden,  und  es 
ist  zweifelhaft,  ob  Petroleum  in  wirklich  gewinn- 
barer Menge  dort  auftritt. 

VI.  Kopal. 

Kopal  wird  zurzeit  hauptsächlich  in  Nordost- 
angola von  den  Eingeborenen  gewonnen  in  ge- 
ringer Tiefe  im  Boden.  Er  stammt  wahrschein- 
lich von  einer  Trachylobiumart  und  wird  im 
wesentlichen  nach  Portugal  exportiert  und  dort 
zu  Firnis  verarbeitet. 

VII.  Salz. 

Kochsalz  ist  in  Angola  ein  bedeutender  Han- 
delsartikel. Es  findet  sich  sowohl  im  Innern  wie 
nahe  der  Küste,  wo  die  Lager  allein  größere 
wirtschaftliche  Bedeutung  haben.  Besonders  häufig 
sind  sie  im  Distrikt  Mossamedes.  Die  bedeutend- 
sten Lager  finden  sich  an  der  Nordseite  des  Co- 
roca,  wo  das  Salz  etwa  2  Dezimeter  dick  auf  der 
Oberfläche  liegt.  Die  Jahresproduktion  soll  3000  t 
betragen.  Der  Lokalbedarf  ist  beträchtlich,  da 
aus  dem  Distrikt  Mossamedes  gesalzene  Fische  in 
erheblicher  Menge  exportiert  werden. 

Außer  den  angeführten  Mineralien  kommen  in 
Angola  noch  vor:  Guano,  Phosphorit,  Ba- 
ryt und  schöner  Marmor.  F.  H. 

Die  Wii'kuug  der  Sprenggrauaten  uud  Minen 
auf  Terschiedene  Bodenarten. 

Wie  K.  Neynaber  (Dissertation  Danzig  19 18) 
feststellte,  erzeugen  brisante  Artilleriegeschosse  und 
Wurfminen  mit  A.Z.  (Aufschlagzünder)  flache  Erd- 
trichter. Mit  V.Z.  (Verzögerungszünder)  haben 
sie  größere  „Eindringungstie f e",  die  ziemlich 
unabhängig  davon  ist,  ob  das  Geschoß  in  Flach- 
bahn- oder  Steilfeuerschuß  verfeuert  wird.  Gra- 
naten mit  V.Z.  erzeugen  bis  18  cm  Kaliber  tiefe, 
sehr  steile  Trichter;  bei  größerem  Kaliber  Hohl- 
räume mit  kleinen  Durchbruchskratern  (Flaschen- 
formen); von  etwa  28  cm  Kaliber  an  unregel- 
mäßig kugelförmige  Hohlräume  im  Erdinnern,  an 
der  Erdoberfläche  nur  eine  sanfte  Bodenwölbung 
mit  einigen  Spalten  (entsprechend  den  „Quetsch- 
minen" im  Minenkrieg;  Ref.).  Wurfminen  mit 
V.Z.  haben  geringere  Eindringungstiefe  und  er- 
zeugen daher  selbst  bei  großen  Kalibern  nur  tiefe 
steile  Trichter. 

Im  nächsten  „Zerschmetterungsum- 
kreis" des  brisanten  Geschosses  wird  der  Boden 
vollkommen  zerrissen,  zertrümmert  und  zerpulvert. 
Bei  Granaten  und  Wurfminen  mit  A.Z.  ist  dieser 
Umkreis  ungefähr  gleich  der  „Trichtertiefe"; 
bei  Granaten  mit  V.Z.  ist  der  Zerschmetterungs- 
halbmesser in  Sandboden  und  Kreide  etwa  gleich 
der  halben,  in  Lehm-  und  Tonboden  ungefähr 
gleich    %    der    „Eindringungstiefe".      Wurfminen 


N.  F.  X^.  Nr.  20 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


303 


mit  V.Z.  haben  einen  Zerschmetterungshalbmesser 
in   Sand    und   Kreide    gleich    etwa    %    der   Ein- 
dringungstiefe,  in   Lehm  und  Ton   gleich  %  der- 
selben.    Darüber  hinaus,    in  der  gleichfalls  kugel- 
förmigen „Zerstörungszon  e",  bleibt  die  Boden- 
gestaltung   erhalten,    der    Boden    widersteht    der 
zerschmetternden  Gewalt,  leitet  aber  den  Gasdruck 
als  heftige  Druckwelle   weiter,   die    u.  U.  Stollen 
und  andere  künstliche  Hohlbauten  in  dieser  Zone 
zerquetscht.     Der  Übergang  zwischen  Zerschmet- 
terungs-  und  Zerstörungszone  ist  allmählich  ohne 
scharfe  Grenze,  ebenso  schwächt   sich  die  Druck- 
welle nach  außen  hin  allmählich  soweit  ab,   daß 
sie    in     der     angrenzenden     „ungefährlichen 
Zone"  einfach  ausgezimmerten  Hohlräumen  nicht 
mehr    gefährlich    werden    kann.      Im    nahezu  un- 
elastischen Sandboden    und    in    Kreide    wird    die 
Druckwelle   sehr  bald   abgeschwächt,    bei   Lehm 
und  Ton  liegen  die  Verhältnisse  ungünstiger.  Für 
brisante    Granaten    und  Wurfminen    mit    A.Z.  be- 
ginnt in  Sand  und  Kreide  die  ungefährliche  Zone 


etwa  bei  dreifacher,  in  Ton  oder  Lehm  erst  bei 
der  vier-  bis  fünffachen  Tiefe  des  Trichters  unter 
der  Erdoberfläche;  bei  V.Z.  beginnt  die  ungefähr- 
liche Zone  in  Lehm-,  Ton-,  Sandboden  und  Kreide 
im  Umrkeis  von  etwa  i  Va  Eindringungstiefen  von 
der  Granate;  in  Sand-,  Lehm-  und  Tonboden  ist 
der  Zerstörungshalbmesser  der  Wurfminen  gleich 
etwa  der  2,5  fachen,  in  Kreide  gleich  der  doppel- 
ten Eindringungstiefe.  Im  Kreideboden  kommen 
beträchtliche  Abweichungen  vor,  je  nachdem  das 
Gestein  frisch  oder  mehr  weniger  verwittert  ist- 
die  Werte  der  Tabelle  gelten  für  „gewachsenen 
Fels,  der  etwa  30  cm  unter  der  Erdoberfläche 
ansteht  und  mit  dünner  Ackerkrume  und  ver- 
witterter Kreide  bedeckt  ist.  Für  weniger  günstige 
Verhältnisse  müssen  Zuschläge  gemacht  werden, 
die  erst  nach  eingehender  Prüfung  der  Boden- 
verhältnisse ermittelt  werden  können.  Bei  gänz- 
Hch  verwitterten  Kreidefelsen  nähern  sich  die 
Werte  denjenigen  des  Sandbodens".  Im  übrigen 
zeigt  die  Tabelle  beobachtete  Maximalwerte: 


er 

Sand 
m 

Ton   und    Lehm 

1                          "* 

Kreide 
m 

Kalib 
cm 

Trichtertiefe 
A.Z. 

Cd 

Zerstörungs- 
halbmesser 
V.Z. 

Ungef.   Zone 

V.Z.  unter 

Erdoberfläche 

'S  . 

SN 

■s< 

H 

a  3 
Cd 

Zerslörungs- 

halbmesser 

V.Z. 

Ungef.  Zone 

V.Z.  unter 

Erdoberfläche 

ä  ■ 

•0   ü 

a  s 

Zerstörungs- 
halbmesser 
V.Z. 

ä,        u 
a  u  M 

Granate 

7,5 

0,30 

0,50 

0,80 

1,30 

0,20 

0,60 

0,90 

1,50 

0,20 

0,40 

0,60 

1,00 

• 

10 

0,40 

0,90 

1,40       2,30 

0,30 

1,00 

1,50 

2,50 

0,30 

0,70 

1,10 

1,80 

I 

13 

OiSo 

1,30 

2,00       3,30 

0,40 

1,40 

2,10 

3,50 

0,40 

1,00 

1,50 

2,50 

• 

'S 

0,65 

2,00 

3,00  !    5,00 

0,50 

2,10 

3,20 

5,30 

0,50 

1,30 

2,00 

3,30 

' 

18 

0,80 

2,80 

4,20 

7,00 

0.65 

2,90 

4,40 

7,30 

0,60 

1,70 

2,60 

4,30 

t 

21 

1,00 

3.50 

S,30 

8,80 

0,85 

3,70 

S,6o 

9,30 

0,75 

2,10 

3,20 

5,30 

' 

28 

1,50 

4,40 

6,60 

11,00 

',35 

4,80 

7,20 

12,00 

1,20 

2,70 

4,10 

6,80 

» 

30,5 

1,90 

5,00 

7,50 

12,50 

«.75 

5,50 

8,30 

13,80 

1,40 

3,00 

4,5° 

7.50 

I 

38 
42 

2,50 
3.00 

nicht 

beobachtet 

2,25 
2,6o 

nicht 

beobachtet 

1,70 
2, 10 

nicht  beobac 

htet 

Wu 

rfmin 

=  25 

1.30 

2.30 

6,00 

8,30 

1,15 

2,60 

6,50 

9,10  ' 

1,00 

1,60  ; 

3,20 

4,80 

Die  Mindesttiefe  der  „ungefährlichen  Zone" 
unter  der  Erdoberfläche  errechnet  sich  also  für 
die  verschiedenen  Kaliber  mit  V.Z.  aus  der  betr. 
„Eindringungstiefe"  +  „Zerstörungshalbmesser" 
(V.Z.).  Diese  Erddecke  schützt  gegen  einzelne 
Volltreffer.  Wenn  sie  vielen  Volltreffern  des  betr. 
Kalibers  widerstehen  soll,*)  muß  man  noch  eine 
A.Z.-„Trichtertiefe"  und  außerdem  die  halbe  Breite 
des   zu  schützenden  Hohlraums   hinzufügen,    weil 


')  Neynaber  bezeichnet  das  als  , .bombensicher" 
und  unterscheidet  „Schußsicherheit"  gegen  Einzeltrefl'er  sowie 
„Bombensicherheit"  gegen  viele  Treffer  leichter,  mittlerer, 
schwerer  und  schwerster  Geschosse.  Die  maßgebenden  deut- 
schen Vorschriften  kannten  jedoch  nur  Schußsicherheit  gegen 
Dauerfeuer  aus  15  cm,  Bombensicherheit  gegen  Dauerfeuer 
aus  22  cm-Gesc'nutzen,  schweren  Minenwerfem  und  Einzel- 
treffer noch  schwererer  Geschütze, 


dessen  Gesteinsdach  im  Querschnitt  etwa  eines 
Halbkreises  als  tote  Last  über  der  Auszimmerung 
liegt  und  auch  ohne  Beschuß  allmählich  herunter- 
fallen würde.  Man  wird  deshalb  tunlichst  schmale 
Schutzstollen  usw.  nach  Möglichkeit  in  der  „bom- 
bensicheren" Zone  des  schwersten  zu  erwar- 
tenden Kalibers  anordnen.  Wo  der  Grundwasser- 
stand oder  andere  Gründe  das  verhindern,  muß 
die  Sicherheit  durch  Betonschutz  erreicht  werden. 
Die  kriegstechnischen  Schlußfolgerungen  und 
sonstigen  Ergebnisse  Neynabers  entsprechen 
z.  T.  den  maßgebenden  deutschen  Vorschriften, 
z.  T.  enthalten  diese  auf  Grund  älterer  und  um- 
fassenderer Erfahrungen  Besseres.  Ich  habe  aber 
um  so  weniger  Veranlassung,  darauf  einzugehen, 
als  dies  unter  den  gegenwärtigen  Umständen 
keinen  Zweck  hat.  W.  Kranz,  Stuttgart. 


304 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  20 


t'occidiiim  bigeniiunm  Stiles  bei  Füchsen. 

Nach  dem  „Journ.  of  comp.  Path.  and  Therap." 
wurde  bei  zwei  verendeten  Füchsen  eine  ausge- 
sprochene hämorrhagische  und  ulzerative  Darm- 
entzündung als  Todesursache  festgestellt.  Da  in 
den  Darmveränderungen  sehr  zahlreiche  Zysten 
von  Coccidium  bigeminum  festgestellt  wurden, 
wurden  die  Kokzidien  als  Todesursache  ange- 
sprochen, trotzdem  Coccidium  bigeminum  bei 
Katzen,  Hunden,  Frettchen  und  Füchsen  öfters 
als  zufälliger  Befund  ohne  krankhafte  Verände- 
rungen angetroiTen  wird.  Reuter. 

Erkraukuugen  der  Pankreasdrüse  bei  Tieren. 

Trotz  seiner  wichtigen  Bestimmung  ist  der 
Pankreas  bei  Menschen  wie  bei  Tieren  selten  Sitz 
einer  Erkrankung.  Um  so  auffälliger  ist  eine  Mit- 
teilung von  Herbert  Fox  im  „Journ.  of  comp. 
Path.  and  Therap."  über  „Pancreatitis  in  Wild 
Animals",  nach  welcher  der  Verf.  unter  3567  Au- 
topsien innerhalb  1 1  Jahren  28  Fälle  von  Pankrea- 
titis festgestellt  hat.  Die  Diagnose  bei  Lebzeiten 
zu  stellen  ist  nicht  möglich.  Es  kommt  lobäre 
und  lobuläre  Pankreasentzündung  vor.  Die  In- 
fektion findet  meist  durch  die  Pankreasgänge  vom 
Duodenum  her  statt.  Die  Veränderungen  sind 
degenerativ  oder  •  hämorrhagisch,   auch  nekrotisch 


oder  fibrinös.  Akute  hämorrhagische  Pankreatitis 
scheint  mehr  bei  Säugetieren  vorzukommen, 
während  die  chronische  Entzündung  mehr  bei 
Vögeln  beobachtet  wird.  Verf.  glaubt,  daß  bei  den 
Säugetieren  eine  Sensibilisierung  der  Pankreas- 
entzündung durch  die  Galle  zustande  kommt, 
während  bei  den  Vögeln  durch  die  Anlage  der 
Pankreasgänge  eine  Infektion  durch  die  Gänge 
vom  Darme  direkt  aus  in  Frage  kommt.  „D. 
Tier.  Wochenschr."  v.  1920.  Reuter. 


Verbreitung  von  Ankylostomum  unter  den 
Tierbeständen. 

Nach  dem  „Journ.  of  comp.  Path.  and  Therap.", 
191 5  wurde  unter  den  Tieren  eines  zoologischen 
Gartens  öfters  Ankylostomiasis  beobachtet.  In 
den  meisten  Fällen  handelte  es  sich  um  Anky- 
lostomum trigonocephala  und  Ankylostomum  ste- 
nocephala.  Beide  Arten  müssen  als  pathogen  für 
Tiere  angesehen  werden.  Äußerlich  zeigten  die 
Tiere,  ähnUch  wie  bei  der  Leberegelkrankheit, 
starke  Anämie.  Bei  der  Sektion  wurden  die  Er- 
scheinungen eines  schleimigenDarmkatarrhes,außer- 
dem  entzündliche  Herde  der  Darmschleimhaut  in 
Form  von  Petechien  festgestellt,  wie  sie  auch  bei 
der  Darmkokzidiose  angetroffen  werden. 

Reuter. 


Literatur. 

G  e  b  i  e  n ,  H.,  Käfer  aus  der  Familie  Tenebrionidae,  ge- 
sammelt auf  der  „Hamburger  deutsch -südwestafrikanischen 
Studienreise".     Hamburg  '20,  L.  Friedrichsen  u.  Co.      36  M. 

Lampert,  Prof.  Dr.  K.,  Entwicklung  und  Brutpflege  im 
Tier-  und  Pflanzenreich.  Mit  1 1  Tafeln.  Leipzig  '20,  Ph. 
Reclam.     4,50  M. 

Arnold,  Fr.,  Einheimische  Slubenvögel.  I.  Bd.  In- 
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Dacque,  Prof.  Dr.  E.,  Geologie  II,  Straligraphie.  Samm- 
lung Göschen. 

Heilborn,  Dr.  A.,  Entwicklungsgeschichte  des  Men- 
schen. 2.  Aufl.  Mit  61  Abb.  Leipzig  u.  Berlin  '20,  B.  G. 
Teubner. 

Kämmerer,  Prof.  Dr.  H.,  Die  Abwehrkräfte  des  Kör- 
pers.    2.  Aufl.     Mit  32  Textabb.     Ebenda. 

Schnippenkötter,  Dr.  J.,  Der  entropologische  Gottes- 
beweis.     Bonn  '20,  A.  Marcus.     15  M. 

Voigt,  Prof.  Dr.  A.,  VVasservogelleben.  Leipzig  '21, 
Quelle  u.  Meyer.     5  M. 

Sohns,  Fr.,  Unsere  Pflanzen.  Ihre  Namenerklärung  usw. 
6.  Aufl.     Leipzig-Berlin  '20,  B.  G.  Teubner.     16  M. 

Hoffmann,  Prof.  Dr.  B.,  Führer  durch  unsere  Vogel- 
welt.    2.  Aufl.     Ebenda.     17,20  M. 

Schlesinger,  Prof.  Dr.  L.,  Raum,  Zeit  und  Relativitäts- 
theorie.    Ebenda.     5,60  M. 

Abraham,  Dr.  M.,    Theorie  der  Elektrizität.     2.  Band: 


Elektromagnetische  Theorie  der  Strahlung.  4.  Aufl.  Ebenda. 
44  M. 

B  e  h  r  e  n  d ,  Dr.  Fr. ,  Die  Kupfer-  und  Schwefelerze  von 
Osteuropa.     Ebenda.     14  M. 

Gans,  Prof.  Dr.  R. ,  Einführung  in  die  Vektoranalysis. 
4.  Aufl.     Ebenda.     18,80  Mk. 

Mühlen,  Dr.  L.  von  zur,  Die  Ölschiefer  des  europäischen 
Rufllands.     Ebenda.     6  M. 

Kräpelins  Leitfaden  für  den  Botanischen  Unterricht. 
9.  Aufl.     Mit  318  Abb.     Ebenda.     24  M. 

Jagow,  Dr.  K.,  Kulturgeschichte  des  Herings.  Langen- 
salza '20,  Wendt  u.  Klauwell.     13  M. 

Schmidt,  Prof.  Dr.  J.,  Kurzes  Lehrbuch  der  organischen 
Chemie.    2.  Aufl.    Mit  16  Abb.    Stuttgart '20,  F.  Enke.    150M. 

Classen,  A.,  Handbuch  der  analytischen  Chemie  II.  Teil. 
Quantitative  Analyse.    7.  Aufl.    Mit  56  Abb.     Ebenda.     72  M. 

Szielesko,  Dr.  A.,  Die  Gestalten  der  normalen  und 
abnormen  Vogeleier.     Berlin  '20,  W.  Junk.      15  M. 

Euler,  Prof.  Dr.  H. ,  Chemie  der  Enzyme.  I.  Teil. 
Allgemeine  Chemie  der  Enzyme.  München  und  Wiesbaden  '20, 
J.  F.  Bergmann.     56  M. 

R  ü  s  c  h  e  r ,  Dr.  R.,  Systematik  und  Synthese  der  Elemente. 
Paderborn  '20,  R.  Heydeck. 

Einführung  in  die  Sexualpädagogik.  Acht  Vorträge.  Ber- 
lin '21,  E.  S.  MitUer.     25  M. 

Handbuch  der  Entomologie.  Herausgegeben  von  Chr. 
Schröder.  5.  Lief.  (Bd.  III,  Bogen  8 — 13.)  Jena  '20,  G. 
Fischer.     12  M. 


Inbalt:  H.  Prell,  Die  Grundtypen  der  gesetzmäßigen  Vererbung.  (4  Abb.)  S.  289.  —  Einzelberichte:  Zur  Theorie  che- 
mischer Umsetzungen.  S.  297.  A.  Classen  und  O.  Ney,  Atomgewicht  von  Wismut,  (Nachtrag.)  S.  299.  M.  De- 
coppet,  Das  Maikäferprobleiii  in  der  Schweiz.  S.  299.  P.  Range,  Geologie  und  Mineralschätze  Angelas.  S.  301. 
K.  Neynaber,  Die  Wirkung  der  Sprenggranaten  und  Minen  auf  verschiedene  Bodenarten.  S.  302.  Coccidium  bige- 
minum Stiles  bei  Füchsen.  S.  304.  H.  Fox,  Erkrankungen  der  Pankreasdrüse  bei  Tieren.  S.  304.  Verbreitung  von 
Ankylostomum  unter  den  Tierbeständen.  S.  304.  — :  Literatur:  Liste.  S.  304. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Guatav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Päti'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neu©  Folge  20.  Band; 
der  ganxen  Reihe  36.  Band, 


Sonntag,  den  22.  Mai  1921. 


Nummer  31. 


Hundert  Jahre  Phytopaläontologie  in  Deutschland. 

Nach  einem  in  der  Berliner  Gesellschaft  für  Geschichte  der  Naturwissenschaften  und  Medizin 

gehaltenen  Vortrag. 

tNachdnick  verbotea.]  Von  Julius  Schuster. 


In  der  Geschichte  der  Wissenschaften  werden 
die  Geburtstage  bahnbrechender  Leistungen  selte- 
ner gefeiert  als  die  Geburtstage  der  bahnbrechen- 
den Persönlichkeiten.  Der  große  Name  lebt  be- 
greiflicherweise noch  in  aller  Mund,  wenn  die 
große  Tat  längst  Gemeingut  geworden  ist.  Und 
die  alten  privilegierten  Wissenschaften  der  Natur 
und  des  Geistes  bedürfen  ja  für  sich  selbst  einer 
Säkularerinnerung  nicht  mehr  so  sehr  als  die  noch 
um  ihre  Anerkennung  und  Selbständigkeit  ringen- 
den Disziplinen,  bei  denen  solcher  Rückblick  nicht 
nur  Geschichte,  sondern  auch  Lehre  sein  soll. 

Der  Fall,  daß  eine  Wissenschaft  in  Deutsch- 
land ihre  Grundlegung  und  seitdem  nur  durch 
einzelne  Personen  freie  Förderung  fand,  ist  gewiß 
nicht  häufig,  aber  eben  deshalb  nicht  bloß  von 
historischem,  sondern  auch  allgemeinem  Interesse. 
Dieser  Fall  aber  trifft  für  die  Phytopaläontologie 
und  ihre  Entwicklung  in  Deutschland  seit  hundert 
Jahren  zu. 

Im  antiken  Weltbild  spielt  die  Beobachtung 
von  Versteinerungen,  die  auch  schon  gemäß  dem 
vielen  Menschen  innewohnenden  Sammeltrieb  als 
Merkwürdigkeiten  aufbewahrt  wurden,  keine  Rolle ; 
in  naiver  vorurteilsfreier  Empirie  ziehen  die  grie- 
chischen und  römischen  Schriftsteller  aus  dem 
Vorkommen  von  versteinerten  marinen  Organis- 
men den  selbstverständlichen  Schluß  auf  frühere 
Veränderungen  in  der  Verteilung  von  Wasser  und 
Land.  Daran  konnte  die  christliche  Weltauffassung 
leicht  anknüpfen,  indem  sie  die  Versteinerungen 
einfach  als  Überbleibsel  der  Sintflut  erklärte.  Aber 
es  entging  den  Theologen  nicht,  daß  manche 
Versteinerungen  ganz  anders  aussehen  als  die 
Pflanzen  und  Tiere,  die  noch  jetzt  leben.  Da 
man  sich  in  wörtlicher  Auslegung  des  mosaischen 
Schöpfungsberichtes  die  Organismen  so  geschaffen 
dachte,  wie  sie  jetzt  sind,  schien  zwischen  Be- 
obachtung und  Bibel  ein  Widerspruch,  der  eine 
Erklärung  im  Sinne  der  letzteren  notwendig 
machte.  Nun  hatte  schon  der  berühmte  aus 
Persien  stammende  Avicenna  (geb.  980)  die 
seltsame  Hypothese  hinterlassen,  daß  ein  Gestal- 
tungstrieb (vis  plastica)  im  Schöße  der  Erde  die 
Versteinerungen  schaffe.  Diese  Ansicht,  durch  die 
nicht  das  Geringste  erklärt  und  nur  ein  geheim- 
nisvoll mystischer  Begriff  eingeführt  wird,  fand 
bei  den  Scholastikern  einen  fruchtbaren  Boden. 
Überall  entstanden  eifrige  Verfechter  des  Gestal- 
tungstriebs   oder    der    versteinernden    Kraft    (vis 


Lapidibus,  herbis,  verbis. 
lapidificata),  die  mit  ihrem  leeren  Wortspiel  die  Ver^ 
Steinerungen  lediglich  als  Naturspiele  (lusus  naturae) 
oder    Figurensteine    (lapides    figurati)     erklärten, 
welche    mit    oder    ohne   Mitwirken   der   Gestirne 
in  den  anorganischen  Stoffen   organische  Formen 
nachahmen.      Nahezu    drei  Jahrhunderte    wurden 
mit  Streitigkeiten  und  Mönchsgezänke  über  diese 
Frage    vergeudet.      In    Deutschland    sah  F.  Chr. 
Lesser  noch  1735  in  seiner  „Lithotheologie  oder 
NatürUchen   Historie   und  geistlichen  Betrachtung 
der  Steine"  in  den  Figurenstein'en  Beweise  für  die 
Allmacht,  Weisheit,   Güte  und  Gerechtigkeit  des 
Schöpfers,  trotzdem  ein  L  e  i  b  n  i  z  in  der  Protogaea 
von   1680  gegen  die  Anzweifler   der    organischen 
Natur  der  Versteinerungen   entschiedene  Verwah- 
rung   eingelegt    hatte.      Wie    verhängnisvoll    die 
Lehre  von  den  Naturspielen  für  die  Wissenschaft 
war,    zeigt    der    tragikomische    Fall    des    Würz- 
burger Prof.  Johann  Bartholomaeus  Adam 
Beringer.        Ein     Jesuit     namens      Rodrik 
hatte   künstlich    Versteinerungen   hergestellt,    um 
Beringer  auf  die  Probe  zu  stellen.     In  der  Tat 
ließ  B  e  r  i  n  g  e  r  1 726  die  Falsifikate  als  These  unter 
seinem  Präsidium  durch  Hueber,   einen  jungen 
Doktor,    verteidigen.      1737    trat  Johann  Chri- 
stian Kundmann  aus  Breslau  gegen  Beringers 
„Lithographia    Wirceburgensis"    auf.    Beringer 
erkannte  den  Possen,  den  man  ihm  gespielt,  zog 
alle   Exemplare   seines   Buches,   deren  er  habhaft 
werden  konnte,  zurück  und  bewahrte  sie  bei  sich. 
Beringer   und   sein   Irrtum  würden    heute  ganz 
vergessen  sein,  hätte  nicht  ein  spekulativer  Buch- 
händler in  Leipzig  die  zurückgelassenen  Exemplare 
gekauft    und    1767    mit    einem    neuen    Titelblatt 
unter  dem  Namen  des  echten  Verfassers  erscheinen 
lassen.^) 

Diese  Verirrungen  mußten  notwendigerweise 
in  sich  selbst  zusammenbrechen.  Das  schöne  und 
mutige  Wort  Joh.  Jakob  Scheuchzers  aus 
Zürich  gegen  die  Verteidiger  der  Naturspiele  1708: 
„Die  Natur  muß  ihr  selbst  eigener  Advokat  und 
eine  jede  auch  ungestudierte  Vernunfft  der  Richter 
sein",  gewann  immer  mehr  Nachfolger,  aber  noch 


■)  Wer  sich  näher  für  dieses  Kulturkuriosum  interessiert, 
sei  auf  die  Naturw.  Wochenschr.  1917,  S.  719  verwiesen. 
Vgl.  auch  Kundmann,  Seltenheilen  der  Natur  und  Kunst 
Breslau  und  Leipzig  1737,  S.  102  und  103.  Ein  mir  im 
Original  vorliegendes  Albumblatt  Beringers  vom  4.  Oktbr. 
173z  lautet  „Melior  est  mors  quam  vita  amara  et  re<iuies 
aeterna  quam  languor  perseverans." 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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wurde  die  Sintflut  für  alles  verantwortlich  gemacht. 
Dazu  kam  die  Entwicklung  des  Bergbaus  und  des 
Hüttenwesens,  durch  die  das  Vorkommen  der 
Versteinerungen  in  den  verschiedenen  Gesteins- 
schichten mehr  und  mehr  bekannt  wurde.  Für 
die  Sammler  von  Merkwürdigkeiten  der  Natur 
gab  es  eine  reiche  Ausbeute,  mit  wahrem  Bienen- 
fleiß bemühte  man  sich  namentlich  in  Deutsch- 
land, Versteinerungen  in  Naturalienkabinetten  zu 
vereinigen  und  „zur  Gemüts-  und  Augenergötzung" 
in  Kupferstich  •  Folianten  zu  veröfifentlichen.  Die 
vier  Foliobände,  von  denen  der  Sammler  und 
Künstler  Georg  Wolfgang  Knorr  1755  den 
ersten,  die  übrigen  nach  dessen  Ableben  der 
Jenenser  Professor  Johann  Ernst  Immanuel 
Walch  1768 — 69  herausgab,  übertrafen  alles  bis- 
her Erschienene  an  Güte  der  Abbildungen,  wäh- 
rend der  Text  eine  zwar  sehr  schätzenswerte,  aber 
keine  neuen  Gedanken  enthaltende  Kompilation 
darstellt.  Wurden  so  in  rein  beschreibender  Be- 
ziehung auf  dem  Gebiete  der  Versteinerungskunde 
wie  der  Erdgeschichte  vortreffliche  Werke  ge- 
schaffen, so  konnte  man  doch  noch  um  1780 
in  bitterer  Ironie  behaupten,  daß  die  Geologen 
gleich  den  römischen  Auguren  sich  nicht  begegnen 
könnten,  ohne  zu  lachen,  und  Voltaire  spottete : 

„Chacun  fit  son  Systeme,  et  leurs  doctes  legons 
Sembloient  partir  tout  droit  des  petites  maisons." 

Noch  fehlte  der  Versteinerungskunde,  um  als 
Wissenschaft  auftreten  zu  können,  die  Methode. 
Zwar  hatte  schon  der  große  Experimentator 
Robert  Hooke,  der  Rival  Newtons,  dessen 
posthume  Werke  1705  erschienen,  es  für  möglich, 
wenn  auch  für  sehr  schwierig  gehalten,  eine  Chro- 
nologie der  Versteinerungen  herzustellen;  man 
könne  sich  denken,  daß  ebenso,  wie  Münzen  mit 
dem  Bildnis  eines  Regenten  eben  dadurch  die 
Epoche  ihrer  Prägung  genau  zu  bestimmen  ge- 
statteten, durch  den  Vergleich  zweier  in  den 
Schichten  A  und  B  entdeckter  Versteinerungen 
die  Frage,  ob  A  oder  B  früher  abgesetzt  worden 
sei,  der  Entscheidung  zugeführt  werden  könne. 
Freilich  sollte  sich  dies  nur  auf  den  Zwischen- 
raum zwischen  dem  ersten  Schöpfungstage  und 
der  Sintflut  beziehen.  Was  Hooke  angedeutet 
hatte,  sprach  der  geniale  Bu ff on  1778  rücksichts- 
los aus,  indem  er  den  biblischen  6000  Jahren 
entgegentrat,  aber  von  dem  Zusammenhang  der 
chronologischen  Entwicklung  der  Versteinerungen 
mit  der  Aufeinanderfolge  der  geschichteten  Ge- 
steine hatte  auch  Buffon  noch  keine  richtige 
Vorstellung.  Zu  dieser  Einsicht  bedurfte  man 
der  bahnbrechenden  Arbeit  des  Mannes,  der  191 8 
an  seinem  hundertjährigen  Todestag  als  der  Be- 
gründer der  modernen  Geologie  gefeiert  werden 
durfte,  Abraham  Gottlob  Werner  an  der 
Bergakademie  zu  Freiberg,  der  die  Lagerungsver- 
hältnisse der  verschiedenen  Gesteinsschichten  zuein- 
ander und  ihre  Altersfolge  studierte  und  be- 
gründete. Den  Versteinerungen  freilich  schenkte 
Werner  nur  wenig  Beachtung. 


Vor  Werners  Lehrkanzel  zu  P'reiberg,  von 
der  aus  zum  ersten  Male  die  neue  Wissenschaft 
der  Geologie  einer  Schar  begeisterter  Schüler, 
darunter  Alexander  von  Humboldt,  Leo- 
pold von  Buch,  d'Aubuisson  deVoissins, 
verkündet  wurde,  saß  1791  Ernst  Friedrich 
Freiherr  von  Schlotheim.  Obwohl  Schlot- 
heim später  der  Jurisprudenz  sich  zuwandte  — 
er  wurde  181 7  Präsident  des  Kammerkollegiums 
in  Gotha  —  blieb  in  ihm  doch  das  Interesse  für 
Geologie  lebendig,  und  er  bemerkte  beim  Sammeln 
von  Versteinerungen  in  Thüringen  bald,  daß  die 
verschiedenen  Gesteinsschichten  besondere  Ver- 
steinerungen enthalten  und  daß  die  gleichen  For- 
men stets  in  der  nämlichen  Schicht  wiederkehren, 
auch  wenn  die  Gesteinsbeschaffenheit  sich  ändert. 
Die  Versteinerungen  oder  Fossilien  sind  daher  von 
größter  Wichtigkeit  für  die  Altersbestimmung  und 
Identifizierung  der  Schichten.  Diese  wichtige  Er- 
fahrungstatsache sprach  Schlotheim  schon  1 8 1 3 
aus  und  beschrieb  das  geologische  Vorkommen 
von  über  1000  Arten  durch  lateinische  Gattungs- 
und Artnamen  nach  dem  Prinzip  von  Linne,  der 
allerdings  die  Fossilien  zum  Steinreich  gerechnet 
und  so  die  Entwicklung  dieses  Zweiges  der  be- 
schreibenden Naturwissenschaften  kaum  gefördert 
hatte.  Schlotheim  ergänzte  seine  wegen  der 
stürmischen  Zeitereignisse  1804  unvollendet  ge- 
bliebenen Beiträge  zur  Flora  der  Vorwelt  1820 
durch  seine  Petrefaktenkunde  auf  ihrem  jetzigen 
Standpunkte. 

Mit  diesem  Werk  war  gerade  vor  hundert 
Jahren  für  die  Erforschung  der  Pflanzen  der  geo- 
logischen Perioden  das  Fundament  und  die  Methode 
einer  Wissenschaft  gewonnen,  die,  wie  Alexander 
von  Humboldt  vortrefflich  sagt,  der  Lehre  von 
den  starren  Gebilden  der  Erde  wie  durch  einen 
belebenden  Hauch  Anmut  und  Vielseitigkeit  ver- 
leiht. Die  Methode  der  neuen  Wissenschaft,  für 
die  1821  in  Frankreich  die  Bezeichnung  Paläonto- 
logie aufkam,  ist  für  das  Teilgebiet,  das  sich  mit 
den  Pflanzen  beschäftigt,  der  Phytopaläontologie, 
die  systematisch-botanische  und  die  historisch- 
geologische Untersuchung.  Eine  unmittelbare, 
praktisch  verwertbare  Folge  des  Fortschrittes 
dieser  Wissenschaft  war  die  durch  das  Studium 
der  fossilen  Pflanzen  und  Tiere  gegebene  Mög- 
lichkeit der  Beurteilung,  ob  man  über  oder  unter 
dem  Horizont  eines  zu  erzielenden  nutzbaren 
Produkts,  z.  B.  Kohle,  sei,  einen  Gesichtspunkt, 
den  auch  A.  v.  Humboldt  geltend  machte,  als 
die  Schlotheimsche  Sammlung  1832  vom 
preußischen  Staat  für  Berlin  erworben  werden 
sollte,  wo  sie  sich  jetzt  im  Museum  für  Natur- 
kunde in  der  geologisch-paläontologischen  Samm- 
lung befindet. 

In  ähnlicher  Weise  wie  Schlotheim  wandte 
sich  gleichfalls  ein  hochgebildeter  und  begabter 
Dilettant,  Kaspar  Maria  Graf  von  Stern- 
berg, derartigen  Studien  zu.  Ursprünglich  zum 
geistlichen  Stande  bestimmt,  wurde  er  1803,  als 
das   Bistum   Regensburg   dem  Fürst-Primas  Karl 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


307 


von  Dalberg  zugeteilt  worden  war,  von  diesem 
zur  Leitung   der  Geschäfte   nach  Regensburg   be- 
rufen.    Seit   1795    war  Sternberg   von   seinem 
Freund   Graf  Bray    für  Naturstudien,    namentlich 
botanischer  Richtung,  gewonnen  worden.    Für  die 
Fhytopaläontologie  erwachte  bei  S  t  e  r  n  b  e  r  g  ein 
spontanes  und  dauerndes  wissenschaftliches  Inter- 
esse   1805    in  Paris,   wo    er   durch   Humboldts 
Vermittlung  den  Naturforscher  FaujasdeSaint- 
Fonds  kennen  lernte.      Eine  nur    wenige    Seiten 
umfassende   Notiz    dieses    Gelehrten    über    fossile 
Pflanzen  von  Rochesauve  führte    die  beiden  Män- 
ner  zusammen,    als    hätten    sie   schon   auf  einem 
anderen    Planeten   miteinander    gelebt.      Faujas 
ließ    sich   von   Sternberg    die    erste  Abteilung 
des    1804    erschienenen    Werkes    von    Schlot- 
heim   über    die   Flora    der   Vorwelt    übersetzen, 
und  Sternberg  war  fonan  für  die  Phytopaläon 
tologie   gewonnen.     Ihr   widmete    er  sich,   als   er 
nach  Errichtung  des  Rheinbundes  auf  seine  Stelle 
resigniert    und   sich    auf  sein  Gut  zu  Biezina  bei 
Prag  zurückgezogen  hatte,    ganz,    und    die  Frucht 
war    das    ausgezeichnete    Werk    „Versuch    einer 
geognostisch- botanischen  Darstellung  der  Flora  der 
Vorwelt"  1825—1838,    das    nur  durch  das  gleich- 
zeitig,   aber    unabhängig    von    Sternberg    er- 
schienene, leider  unvollendet  gebliebene  Werk  von 
Adolphe  Brongniart  „Histoire    des  vegetaux 
fossiles"  1828  — 1844  durch  jene  Klarheit  der  Ein- 
teilung  und   elegante  Einfachheit   des  Stils   über- 
troffen   wird,    welche  Brongniarts    Werk   zur 
ältesten   grundlegenden   Quelle   der   wissenschaft- 
lichen  Phytopaläontologie   macht.      Dieses    Werk 
eines  Gelehrten,   der  jeder  Zoll   ein  Naturforscher 
war,   ist    würdig   des  Mannes,   der   die  Widmung 
annahm:   Cuvier,  durch  dessen  Untersuchungen 
über  die  fossilen  Knochengebilde  für  die  Zoologie 
eine    neue    Ära    begann,    wie    die    Forschungen 
Brongniarts  und  seiner  Vorgänger  in  Deutsch- 
land,   auf  die    sich  jener   ausdrücklich    beruft  und 
stützt,    die  neue  Wissenschaft   der  Phytopaläonto- 
logie begründeten. 

Indes  die  Phytopaläontologen  hatten  gegenüber 
den  Zoologen  einen  großen  Nachteil  mit  in  Kauf 
zu  nehmen:  die  Unvollständigkeit  der  fossilen 
Pflanzenreste.  Die  weitgehenden  und  exakten 
Folgerungen,  zu  denen  die  Zoologen  seit  Cuviers 
meisterhaftem  Werk  aus  dem  Studium  der  fossilen 
Knochen  und  Zähne  gelangt  sind,  lassen  sich  aus 
den  pflanzlichen  Fossilien  in  weit  geringerem 
Maße  und  mit  viel  weniger  Sicherheit  ableiten. 
Man  kann  daher  mit  Recht  sagen,  daß  das  Mikro- 
skop der  Phytopaläontologie  eine  neue  Welt  er- 
schlossen hat.  Das  Verdienst,  das  fossile  Material 
der  mikroskopischen  Untersuchung  zugänglich  ge- 
macht zu  haben,  gebührt  dem  englischen  Optiker 
Nicol,  der  zuerst  von  fossilem  Holz,  Kohlen  und 
anderen  Pflanzenresten  mit  erhaltener  Struktur 
kleme,  in  bestimmter  Richtung  orientierte  Scheiben 
bis  zur  Durchsichtigkeit  unter  dem  Mikroskop  ge- 
schliffen und  poliert  hat,  um  sie  dann  in  gleicher 
Weise  wie  lebende  Organismen  mikroskopisch  zu 


untersuchen.  Das  klassische  Werk,  in  dem  zu- 
erst für  die  Phytopaläontologie  das  Götterge- 
schenk des  zusammengesetzten  Mikroskops  zu 
exakter  Beobachtung  und  bildlicher  Darstellung 
angewendet  wird,  ist  Henry  Witham's  of 
Lartingtoni833  erschienene  Monographie  „The 
internal  structure  of  Fossil  Vegetables". 

Schon     vorher    hatte     in    Deutschland     1832 
Bernhard  von  Cotta,  ein  Sohn  des  berühmten 
Tharandter    Forstmannes,    die    Sammlung    seines 
Vaters   von   mehr  als  500   geschhffenen  Hölzern 
aus  Chemnitz  mit  Hilfe  des  einfachen  Mikroskops 
in  seinem  ErstUngswerk  „Die  Dendrolithen  in  Be- 
zug auf  ihren  inneren  Bau"   untersucht.     Cottas 
in  ihrer  Art  einzige  Sammlung  kam  später  in  das 
Berliner   geologisch-paläontologische   Institut,    wo 
sie   eine  noch   lange   nicht   erschöpfte  Fundgrube 
für  exakte  Untersuchungen  bildet.    Von  bedeuten- 
den Sammlern  ist  noch  der  bayerische  Regierungs- 
direktor Georg  Graf  zu  Münster  (f  1844)  zu 
nennen,  ein  hochbegabter  Dilettant,  dessen  Privat- 
sammlung,   1841    von  Ludwig  L    von  Bayern    er- 
worben,   den    Grundstock    der  Münchener   Staats- 
sammlung lieferte ;  ferner  der  vielseitige  Breslauer 
Botaniker  Heinrich  Robert  Goeppert  (11884), 
dessen     überaus    reichhaltige    Kollektion    fossiler 
Pflanzen   einen  der  wertvollsten  Bestandteile   der 
Breslauer  geologisch-paläontologischen  Sammlung 
bildet.     Für   die  Historiker   der  Medizin   mag   es 
interessant  sein,  daß  der  berühmte  Beriiner  Kliniker 
S  c  h  ö  n  1  e  i  n ,   der  selbst  so  spärliche  literarische 
Spuren   hinteriassen   hat,  auf  seinem  Ruhesitz  zu 
Bamberg    der    fossilen    Flora    Frankens    lebhaftes 
Interesse  schenkte,    eifrig  sammelte  und  die  Ver- 
steinerungen vortrefflich  zeichnen  Heß;  nach  seinem 
Tode   gab  sie  der  Botaniker  August   Schenk 
1806    heraus.      Ein  Berliner  Zeitgenosse  Schön - 
leins,    Christian    Gottfried    Ehrenberg, 
wurde,  von    der    Schönheit    und   Mannigfaltigkeit 
der  Kieselalgen  oder  Diatomeen  in  ähnlicher  Weise 
gefesselt   wie   später  Haeckel  von   den   Radio- 
larien,   so  daß  er  die  teilweise  in  Massen  als  Ge- 
steinsbildner (Kieselgur)    auftretenden  fossilen  so- 
wie die  lebenden  Diatomeen  zu  seinem  Lieblings- 
und Lebensstudium  erkor  und  in  einem  prächtigen 
Werk,  der  Mikrogeologie,  1854  in  Wort  und  Bild 
festhielt.    Einer  gewissen  Berühmtheit  erfreut  sich 
namentlich    in  populären  Darstellungen    das  Dia- 
tomeenlager  unterhalb  Beriins,   bei   dem   es  sich 
indes     nur     um     fossile    Diatomeen    enthaltende 
Schlammablagerungen  handelt. 

Diese  Männer  und  ein  kleiner  Kreis  von  Mit- 
arbeitern verschiedener  Länder  hatten  sammelnd 
und  beschreibend,  mikroskopierend  und  zeichnend 
das  empirische  Material  sowohl  nach  der  bota- 
nischen wie  nach  der  geologischen  Seite  hin  nicht 
wenig  gefördert,  aber  nur  einzelne  wagten  schüch- 
tern über  das  bloße  Beschreiben,  das  gelegentlich 
zu  einer  geistlosen  Artenkrämerei  herabsank,  zu 
allgemeineren,  nomothetischen  Gesichtspunkten 
vorzudringen.  Da  steht  im  Vordergrunde  das  Er- 
gebnis,  daß   die  Lebewelt   der  geologischen  Ver- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


gangenheit  nicht  durch  eine  riesige  Flut  oder 
Katastrophe  anderer  Art  vernichtet  wurde,  sondern 
zu  wiederholten  Malen.  Wie  sie  mehrmals  unter- 
ging, erstand  sie  auch  mehrmals  von  neuem, 
durch  Neuschöpfung  oder  Nachschöpfung.  Nicht 
alle  Forscher  verstanden  darunter  einen  Schöpfungs- 
akt Gottes.  C  u  V  i  e  r  nahm  an,  daß  nach  der 
Vernichtung  einer  bestimmten  Organismenwelt 
eine  neue  von  irgendwoher  einwanderte.  Da- 
gegen erkennt  Schlotheim,  der  Vater  der 
Phytopaläontologie,  zwar  einige  wenige  Erdrevo- 
lutionen an,  bestreitet  aber  ganz  entschieden,  daß 
die  Schöpfung  gleichsam  ein  abgetanes  Geschäft 
in  einem  kurzen  bestimmten  Zeitraum  sei,  sondern 
ins  Unendliche  fortwirkt  und  alles  Mögliche  und 
Notwendige  nach  unveränderlichen  Gesetzen  in 
den  günstigsten  Augenblicken  hervorruft,  verändert 
und  umbildet.  Es  war  fast  zum  Dogma  ge- 
worden, daß  jede  Art  einen  besonderen  Schöpfungs- 
akt voraussetze  und  als  unveränderliche  konstante 
Einheit  von  allen  sonst  noch  so  nahe  verwandten 
Formen  streng  geschieden  sei.  Feilich  erkannte 
schon  um  die  Zeit  des  Geburtsjahres  der  Phyto- 
paläontologie O  k  e  n ,  daß  sich  während  der 
tierischen  Entwicklungsgeschichte  aus  den  Keim- 
blättern die  Organe  durch  morphologische  und 
anatomische  Sonderung  entwickeln ;  Goethe 
lehrte,  daß  sich  durch  Metamorphose  ein  Organ 
in  ein  anderes  umwandeln  kann ;  EtienneGeof- 
froy  Saint-Hilaire  vollends  glaubte  die  Ein- 
heit des  Bauplans  aller  Tiere  bewiesen  zu  haben. 
Alle  diese  Männer  ließen  der  Phantasie  und 
Spekulation  mehr  die  Zügel  schießen,  als  einem 
Naturforscher  erlaubt  ist;  sie  alle  waren  in  diesem 
Sinne  Dichter,  und  ihre  Übertreibungen  konnten 
von  den  Gegnern  leicht  widerlegt  werden.  Für 
ihre  Idee  gab  es  zwar  einzelne  Tatsachen,  aber 
die  folgerichtige  Aneinanderreihung  fehlte.  Goethe, 
der  doch  mit  dem  Grafen  Sternberg  befreundet 
war  und  mit  ihm  in  umfangreichem  wissenschaft- 
lichen Briefwechsel  stand,  suchte  seine  Urpflanze 
in  Sizilien,  nicht  etwa  in  der  Steinkohlenperiode. 
Es  schien  wirklich  so,  als  treffe  das  bekannte 
Wort,  man  lerne  aus  der  Geschichte  nur,  daß 
man  aus  ihr  nichts  lernen  könne,  auch  auf  die 
geologische  Geschichte  der  Organismen  zu. 

Glücklicherweise  ist  dies  nicht  der  Fall.  Dies 
gezeigt  zu  haben,  ist  das  unsterbliche  Verdienst 
Darwins.  Nach  seiner  Abstammungslehre  kön- 
nen die  Versteinerungen  nichts  anderes  als  die 
Ahnen  der  jetztlebenden  Organismen  sein,  das 
natürliche  System  kann  nur  das  ihrer  Verwandt- 
schaft, ihrer  Herkunft,  ihrer  Abstammung  sein. 
Die  paläontologische  Entwicklung  muß  daher  das 
natürliche  System  zeitlich  begründen  und  die 
vorhandenen  Lücken  zeitlich  ausfüllen.  Indem  die 
Paläontologie  die  Beziehung  der  ausgestorbenen 
Organismen  zu  ihrer  Umwelt  erforscht  und  mit 
den  noch  jetzt  im  Experiment  untersuchbaren 
Einflüssen  der  äußeren  Faktoren  auf  die  gegen- 
wärtigen Organismen  vergleicht,  sucht  sie  indirekt, 
aber  induktiv   die    mechanischen   Ursachen  jener 


Umänderung  festzustellen.  Ihre  wissenschaftliche 
Aufgabe  ist  somit  eine  biologische  und  historische 
zugleich,  eine  kausale  und  eine  genetische. 
Was  hat  die  Phytopoläontologie  zur  Lösung  dieser 
schwierigen  Fragen  beigetragen? 

Alle  natürlichen  Systeme  schließen  mit  den 
Abteilungen  der  Pteridophyten  oder  Farnpflanzen, 
den  Gymnospermen  oder  Nacktsamigen  und  end- 
lich den  Angiospermen  oder  Bedecktsamigen. 
Aber  zwischen  diesen  Abteilungen  besteht,  wenn 
man  nur  die  jetzt  noch  lebenden  Pflanzen  in  Be- 
tracht zieht,  eine  bedeutende  Kluft,  die  anzeigt, 
daß  hier  ganze  Abteilungen  von  Vorfahren  aus- 
gestorben sein  müssen,  wenn  dieses  natürliche 
System  richtig  sein  soll.  Diese  Lücke  vermag 
die  Phytopaläontologie  in  der  Tat  im  Sinne  der 
Abstammungslehre  auszufüllen.  Durch  sehr  geist- 
reiche mikro-  und  makroskopische  Untersuchungen 
namentlich  der  englischen  Phytopaläontologen  hat 
sich  herausgestellt,  daß  gewisse  in  der  Steinkohlen- 
formation seit  längerem  unter  verschiedenen  Na- 
men bekannte  Stämme  mit  Holzkörper,  Rinden, 
Blattstiele,  von  Farnblättern  nicht  zu  unterschei- 
dendes Laub  zusammengehören  und  den  Cycadeen 
oder  Farnpalmen  ähnliche  Samen  getragen  haben 
müssen ,  in  denen  selbst  die  eingedrungenen  be- 
fruchtenden männlichen  Samenzellen  mehrfach 
unter  dem  Mikroskop  noch  nachgewiesen  wurden. 
Der  Beweis  der  Zusammengehörigkeit  der  Samen 
mit  den  vegetativen  Organen  wurde  von  Oliver 
und  Scott  1904  dadurch  erbracht,  daß  sie  die 
Übereinstimmung  der  Struktur  der  Samen  tragen- 
den, mit  Drüsen  besetzten  Stiele  und  der  die 
Samen  umgebenden,  Drüsen  tragenden  Hülle  so- 
wohl unter  sich  als  auch  mit  der  Struktur  der 
Blattstiele  mikroskopisch  einwandfrei  festeilen 
konnten.  Man  bezeichnet  diese  eigenartigen  fos- 
silen Pflanzen  als  Lyginodendren  und  hat  eine 
ganze  Anzahl  anderer  hierher  gehöriger,  wenn- 
gleich noch  nicht  so  gut  bekannter  Typen  kennen 
gelernt,  wie  die  schon  von  Cotta  untersuchten, 
jetzt  MeduUosen  genannten  Dendrolithen.  Es 
wurde  klar,  daß  hier  eine  sehr  reich  entwickelte, 
ausgestorbene  Abteilung  der  Nacktsamigen  ans 
Licht  getreten  war,  die  den  Farnen  sehr  viel 
näher  steht  als  alle  lebenden  Vertreter,  und  sich 
unter  den  Nacktsamigen  am  nächsten  an  deren 
primitivste  Familie,  die  Cycadeen  oder  Farnpalmen, 
anschheßt.  Der  Name  Cycadofilices ,  der  sich 
dem  verstorbenen  Berliner  Phytopaläontologen 
Potonie  1897  für  die  Gruppe  aufdrängte,  bringt 
diese  Beziehungen  vortrefflich  zum  Ausdruck. 

Eine  weitere  Lücke  zeigt  das  natürliche  System 
zwischen  den  Nacktsamigen  und  Bedecksamigen 
an.  Die  bedecktsamigen  Blütenpflanzen  erscheinen 
nach  den  paläontologischen  Funden  erst  in  der 
Formation  der  unteren  Kreide.  Wo  kommen  sie 
her,  wer  waren  ihre  Vorfahren  ?  Diese  Frage 
hat  die  Phytopaläontologie  zwar  noch  nicht  ent- 
schieden, aber  wichtiges  empirisches  Material  zu 
ihrer  Entscheidung  in  die  Diskussion  werfen 
können.     Es   ist   dies  die  Entdeckung  der  ersten 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


fossilen  zwitterigen  Blüte,  bei  der  die  männHchen 
und  weibhchen  Geschlechtsorgane  angeordnet  sind 
wie  bei  vielen  Blütenpflanzen,  z.  B.  den  Magnolien. 
Diese  Entdeckung,   die   bedeutendste  der  Phyto- 
paläontologie   überhaupt,    gelang  dem  amerikani- 
schen Paläontologen  G.R.  Wieland  1899  durch 
die  mikroskopische  Untersuchung  strukturhaltiger 
Pflanzen,    bei    denen   alle  Teile   einschließlich  der 
Bluten  noch  im  Zusammenhange  waren.   Seitdem 
hat  Wieland  an  1000  derartiger  Pflanzen  unter- 
sucht,  aber  kein   schöneres  Beispiel  dieser  ausge- 
storbenen   Gruppe    gefunden    als  jenes   so   lange 
unbeachtet    gebliebene    Exemplar    im     Zwinglr- 
Museum   zu   Dresden,   das  Walch  1771    für  die 
Krone    einer    Palme    gehalten  hatte.      Daß   diese 
fundamentale  Entdeckung   einem    Amerikaner  zu- 
fiel,  daran   tragt   der   Umstand    mit  Schuld,  daß 
man  das  Dresdener  Fossil  um  jeden  Preis  äußer- 
lich unverletzt  erhalten  wollte  und  so  die  ungleich 
wichtigeren  Aufschlüsse  über  die  inneren  Verhält- 
nisse nicht  gewinnen  konnte,  ein  Grundsatz     der 
jetzt  hoffentlich  auch  in  Deutschland   einem   ver- 
gangenem  Zeitabschnitt   der   Paläontologie  ange- 
hört.   Die  Forschungen  über  diese  Pflanzengruppe, 
die    Bennettitales,    sind    gegenwärtig    im    vollen 
t'luß.     Aber  so  viel  ist  sicher,  daß  diese  Gruppe 
sich   in   vieler  Beziehung   enger  an    die  Bedeckt- 
samigen  anschließt  als  alle  anderen  Nacktsamigen 
und   auch   zeitlich   erlischt,   wo   die  ersteren  auf- 
treten. 

,..    Nicht  Geringeres    hat    die   Phytopaläontologie 
für  die  Präge  der  Herkunft   der  einzelnen  Floren 
geleistet.   Darwin  vertrat  die  Ansicht,  daß  wäh- 
rend der  Eiszeit  mit  dem  Vorschreiten  der  skan- 
dinavischen  Gletscher   eine  arktische  Flora  nach 
den  mitteleuropäischen  Ebenen  und  Gebirgsländern 
vordrang  und  hatte  darin  eine  einfache  Erklärung 
für  das  Vorkommen  so  vieler  arktischer  Arten  in 
den  Alpen  finden  woller.  Diese  Hypothese  hatte 
24  Jahre  existiert,  als  A.  G.  Nat hörst  1870  auf 
Schonen    die    ersten   fossilen  Glazialpflanzen   ent- 
deckte,  unter  denen   besonders  Zwergbirken  und 
Zwergweiden  eine  große  Rolle  spielen.     Seitdem 
ist  die  Glazialflora  in  Europa  an  den  verschieden- 
sten Orten   im  Bereiche   der  einstigen  Vereisung 
nachgewiesen    worden.      Die    Lagerstätten     von 
Pflanzenresten  der  Eiszeit  sind  für  die  Frage  nach 
deni    Wechsel   der   Vergletscherungsperioden    mit 
Zwischeneiszeiten  von  größter  Wichtigkeit,  da  die 
Zusammensetzung  der  fossilen  Flora   am   ehesten 
^■^.„'"^^^^^"f  ^^^  Klima  der  betreffenden  Schichten 
zulaßt.    So  wuchs  nach  den  phytopaläontologischen 
Untersuchungen  des  Wiener  Botanikers  R  v  Wett- 
stein während  der  letzten  Zwischeneiszeit  in  der 
Umgebung  von  Innsbruck   das   pontische  Rhodo- 
dendron,   das    heute    im    Gebiet    des    Schwarzen 
Meeres  vorkommt.     Sehr  interessant  ist  auch  der 
Nachweis,    daß    in    solchen    zwischeneiszeitlichen 
Ablagerungen  Pflanzen  auftreten,  die  gegenwärtig 
in  Europa  nicht  mehr  vorkommen,   wohl  aber  in 
Nordamerika.    Die  Beziehungen  der  Flora  der  den 
Eiszeiten   vorausgehenden   Tertiärperiode   werden 


309 


erst  dann  zuverlässiger  begründet  sein,  wenn  dem 
kritischen  Lauterungsprozeß,  den  der  verstorbene 
Leipziger  Botaniker  AugustSchenk  auf  diesem 
Gebiete .  begonnen   hat,    eine    Untersuchung   mit 
neuen  Methoden  und  Fragestellungen  folgt.    Dabei 
werden  die  von  A.  G.  Nathorst  seit  etwa  190; 
inaugurierte    Mazeration    von    kohlig    erhaltenen 
Pflanzenresten     sowie     die     von     den    Italienern 
L.  Buscalioni  und  Vinassa  deRegny  1901 
eingeführte     mikroskopische     Untersuchung     von 
Kollodiumhäutchen     fossiler    Organismen    ebenso 
wichtige   Aufklärungen   geben   wie   sie  diese  Me- 
thoden schon  bisher  an  zweifelhaften  fossilen  Fun- 
den geliefert  haben.    Es  würde  den  Rahmen  einer 
historischen    Untersuchung    überschreiten,    wenn 
hier  auf  die  vielen  und   schönen  gesicherten  Er- 
gebnisse der  modernen  Phytopaläontologie  einge- 
gangen  würde.     Nur   der   Anteil   deutscher  For- 
scher auf  diesem  Gebiete  sei  kurz  angeführt.     An 
erster    Stelle    steht    der    bedeutendste    deutsche 
Phytopaläontologe,  der  1914  verstorbene  Botaniker 
Hugo    Graf   zu    Solms-Laubach.       Obwohl 
dieser  Forscher  in   der  Phytopaläontologie  keine 
Schuler  besaß,  hat  doch  seine  grundlegende  Ein- 
leitung  in    die   Phytopaläontologie  1887   in  Eng- 
land Schule  gemacht  und  dort  an  den  glänzenden 
Fortschritten     dieser     Wissenschaft     mitgewirkt 
Nach   der  geologischen   Seite   hin   hat  zuerst  die 
Preußische   Geologische   Landesanstalt   und  Berg- 
akademie  der   Bedeutung  der  Phytopaläontologie 
durch  Schaffung   eines  paläobotanischen  Instituts, 
bisher    des    einzigen    in   Deuschland,    unter    dem 
19 13    verstorbenen   Henry  Potonic   Rechnung 
getragen;     Potonies     Schüler    und    Nachfolger 
W.    Gothan    hat    jetzt    in    der   zweiten    umge- 
arbeiteten Auflage  des  Lehrbuches  seines  Lehrers 
eine    dem    gegenwärtigen    Standpunkt    der    Wis- 
senschaft   entsprechende   kritische    Übersicht    des 
Gesamtgebietes     in     systematischer     Anordnung 
gegeben.      Von    Potonie    ging    auch    19 12    die 
Gründung   einer  paläobotanischen  Zeitschrift  aus 
und  1914    der    Plan   einer   Internationalen  Paläo- 
botanischen Gesellschaft  in  Verbindung  mit  einem 
Paläobotanischen  Zentralblatt  aus;  beides  läßt  sich 
jetzt  nicht  ausführen.   Dagegen  kann  der  gelehrte 
Berliner    Antiquar    W.    Junk,     der    sich    schon 
durch  einen  Neudruck  von  Brongniarts  klassi- 
scher Histoire  des  vegetaux  fossiles  den  Dank  der 
Phytopoläontologen  erwarb,   seinen  Fossilium  Ca- 
talogus,    ein    wissenschaftliches    Verzeichnis    aller 
bekannten  fossilen  Organismen,  weiter  erscheinen 
lassen. 

Den  Schleier,  der  über  den  ältesten  präkam- 
brischen  Bewohnern  der  Erde  liegt,  vermochte 
mein  verstorbener  Lehrer  Rothpletz,  der  her- 
vorragende Vertreter  der  Geologie  der  Alpen 
noch  nicht  zu  lüften;  das  Urtier  Eozoon  erwies 
er  gleich  früheren  Forschern  und  damit  für  immer 
als  chemisch  entstandene  Konkretionen  in  Gneis 
—  die  Urpflanze  Eophyton  hatte  sich  als  Schlepp- 
spur von  Medusenarmen  der  unterkambrischen 
Zeit  entpuppt.    Doch  hat  R  o  t  h  p  1  e  t  z  wenigstens 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  Kenntnis  der  Bedeutung  der  Kalkalgen  für 
die  Entstehung  von  Kalkgesteinen  wesentlich 
fördern  können.  In  bescheidenerem  Rahmen  be- 
wegte sich  Leben  und  Forschen  eines  anspruchs- 
losen Gelehrten  und  Sammlers,  des  gleichfalls 
verstorbenen  Sterzel,  der  in  dem  schönen 
König  Albert-Museum  und  dem  versteinerten 
Wald  sich  selbst  das  schönste  Denkmal  und  der 
Stadt  Chemnitz  ein  unvergängliches  Wahrzeichen 
geschaffen  hat:  die  bis  20  m  hohen  versteinerten 
Riesenbäume,  deren  Struktur  an  die  der  Araukarien 
erinnert,  sind  dem  Phytopaläontologen  ebenso 
merkwürdig  wie  die  reiche  Sammlung  von  Me- 
dullosen,  jener  für  die  Stammesgeschichte  der 
Nacktsamigen  so  bedeutsamen  Pflanzengruppe,  an 
der,  vor  hundert  Jahren,  die  Heroen  der  Phyto- 
paläontologie  vergeblich  ihren  Scharfsinn  versucht 
hatten. 

Aber  nicht  nur  in  Deutschland  haben  deutsche 
Forscher  und  Sammler  fossile  Pflanzen  gesammelt, 
auch  aus  den  Tropen  haben  sie  der  Wissenschaft 
neues  Material  zugeführt:  an  erster  Stelle  unser 
Georg  Schwein furth,  der  Altmeister  der 
Afrikaforschung,  der  die  Proben  der  berühmten 
versteinerten  Wälder  von  Ägypten  mitbrachte, 
welche  Max  Blanckenborn  und  Ernst 
V.  Stromer,  Zittels  Spuren  aufnehmend,  er- 
folgreich ergänzten,  so  daß  zu  erwarten  steht, 
dieses  Desidorat  der  ägyptischen  wie  der  allge- 
meinen Paläontologie  werde  noch  gelöst  werden; 
Gottfried  Merzbacher  füllte  durch  die  bei 
seiner  Erforschung  des  Tian-Schan  gemachten 
fossilen  Pflanzenfunde  eine  Lücke  in  der  Phyto- 
paläontologie  Asiens  aus ;  Lenore  Selenka  zog, 
auf  den  Spuren  des  Pithecanthropus,  zu  Trinil  auf 
Java  nicht  nur  die  Tierwelt,  sondern  auch  die 
Pflanzenwelt,  mit  der  zusammen  jene  menschen- 
ähnliche Übergangsform  hauste,  ans  Licht;  Hans 
Reck,  bei  den  Ausgrabungen  am  Tendaguru  in 
Deutsch- Ostafrika  vom  Kriege  überrascht,  hat 
durch  die  großartigen  Funde  jener  Expedition  aus 
dem  Lande,  das  uns  der  Krieg  nahm,  der  Wissen- 
schaft eine  neue  Provinz  erobert  und  neben  vielen 
unbekannten  ausgestorbenen  Tieren  Reste  ge- 
waltiger fossiler  Wälder  mitgebracht,  die  noch 
der  Untersuchung  harren. 

So  waren  Deutsche  seit  hundert  Jahren  für 
die  Wissenschaft  der  Phytopaläontologie  tätig, 
die  den  meisten  kaum  dem  Namen  nach  bekannt 
ist  und  als  Lehrgegenstand  an  unseren  Hoch- 
schulen nicht  existiert.  Könnte  sich  die  Not- 
wendigkeit ihrer  Einführung  besser  beweisen  lassen 


als  durch  die  beispiellose  Entwicklung,  die  diese 
im  Verhältnis  zur  Botanik  junge  Wissenschaft  in 
hundert  Jahren  genommen  hat?  Hat  nicht  ein 
Deutscher  vor  hundert  Jahren  die  neue  Epoche, 
in  der  die  Phytopaläontologie  Wissenschaft  wurde, 
als  Pionier  eröffnet?  Haben  nicht  Deutsche  auf 
die  Entwicklung  dieser  Wissenschaft  im  Ausland 
unbestrittenen  Einfluß  ausgeübt?  Birgt  nicht 
Deutschland  in  seinen  Sammlungen  und  in  seinem 
Boden  noch  ungehobene  Schätze,  die  für  jede 
phytopaläontologische  Frage  urkundliches  Material 
liefern  ?  Hat  nicht  das  zum  Aufbau  doppelt  nötige 
Schürfen  nach  Brennstoffen  und  nutzbaren  Boden- 
produkten die  Dienste  der  Phytopaläontologie 
nötiger  denn  je?  Gibt  es  für  die  Abstammungs- 
lehre, die,  kritisch  getrieben,  mit  der  Religion 
niemals  in  Konflikt  kommen  kann,  ein  lohnenderes 
Feld  als  die  Paläontologie  auch  der  Pflanzen? 
Darf  der  Volksbildner,  dem  es  mit  seiner  ebenso 
schwierigen  wie  schönen  Aufgabe  wahrhaft  ernst 
ist,  an  diesem  Vergangenheit  und  Gegenwart, 
Geologie  und  Botanik  so  harmonisch  verknüpfen- 
den Band  noch  vorübergehen?  Endlich  sollte 
nach  dem  Jammer  und  der  Barbarei  des  Krieges, 
während  dessen  Dauer  wir  den  Verlust  nahmhafter 
Phytopaläontologen  nicht  nur  in  Deutschland  zu 
beklagen  haben,  auf  die  Wenigen,  die  das  Gebiet 
pflegen,  dieses  nicht  vereinigend  wirken.^  Darum 
bin  ich  der  Meinung,  nicht  dem  Verfall  geweiht, 
wie  in  übertriebenem  Pessimismus  ein  öster- 
reichischer Kollege  glaubt,  sondern  erhobenen 
Hauptes  kann,  ja  muß  die  Phytopaläontologie 
hintreten  vor  den  Vorsitzenden  der  Notgemein- 
schaft für  die  Wissenschaft  und  diejenigen,  welche 
den  Lebensnerv  aller  Wissenschaft  im  Staate  zu 
hüten  berufen  sind,  und  fordern,  wozu  sie  durch 
hundertjährige  Erprobung  als  selbständige  Wissen- 
schaft legitimiert  ist:  freiwillige  Förderung, 
freiwillige  Anerkennung.  Die  Männer  alle,  von 
Schlotheim  bis  auf  unsere  Tage  mögen  durch 
ihr  Werk  Zeugnis  ablegen  für  eine  so  notwendige 
wie  bedeutsame  Aufgabe ;  sie  alle  sollen  durch  ihr 
Beispiel  auf  uns  wirken,  ihnen  zu  folgen,  so  weit 
wir  es  vermögen,  ja  sie  noch  zu  übertreffen  — 
eingedenk  des  Dichterwortes,  das  ein  nach  dem 
Höchsten  ringender  und  sich  aufzehrender  Mensch, 
das  Schiller  uns  als  ewiges  Vorbild  hinter- 
lassen hat: 

„Nur  dem  Ernst,  den  keine  Mühe  bleichet, 
Rauscht  der  Wahrheit   tief  versteckter  Born ; 
Nur  des  Meifiels  schwerem  Schlag   erweichet 
Sich  des  Marmors  sprödes  Korn." 


[Nachdruck  verboten.] 


Über  den  Kreislaufprozeß  des  Wassers. 

Von  Prof.  Dr.  Fr.  Nölke,  Bremen. 


In  Nr.  6  der  Naturw.  Wochenschr.  spricht  Herr  den  ungeheuren  darüber  lastenden  Druck  bestän- 

Prof  W.  Halb  faß  die  Vermutung  aus,   daß  der  dig  Wasser  in  die  den  Boden  bildenden  Gesteins- 

Wasservorrat    der    Erde     sich    stetig     verringern  schichten    hineingepreßt,  und    ferner,    weil  durch 

müsse,  einmal  weil  am  Boden  der  Ozeane   durch  unausgesetzt  sich   vollziehende  Kristallisationsvor- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


gange  in  der  Natur  Wasser  chemisch  gebunden 
werde.  Da  aber  der  Wasservorrat  der  Erde 
wenigstens  in  den  letzten  2000  Jahren  sich  nicht 
merklich  verringert  habe,  kommt  er  zu  dem 
Schlüsse,  daß  irgendeine  Quelle  kosmischen  Cha- 
rakters vorhanden  sein  müsse,  aus  der  sich  das 
verschwindende  Wasser  beständig  erneuere  und 
weist  darauf  hin,  daß  möglicherweise  der  von 
Hör  biger  und  Fauth  in  ihrer  Glazialkosmo- 
gonie  angenommene  kosmische  Eiszufluß  diese 
beständig  fließende  Quelle  sei. 

An  dieser  Stelle  kann  es  nicht  unsere  Aufgabe 
sein,    die  Grundlagen    und   Schlußfolgerungen  der 
blazialkosmogonie  kritisch  zu  prüfen.     Wenn  der 
„Wissenschaft"  aber  von  einem  Manne,   der  doch 
selbst   wohl   als   einer   ihrer  Vertreter   angesehen 
und  geachtet  zu  werden  wünscht,  daraus  ein  Vor- 
wurf gemacht  wird,  daß  sie  der  Glazialkosmogonie 
gegenüber  eine  reservierte  oder   ablehnende  Stel- 
lung einnimmt,  so  halten  wir  es  für  unsere  Pflicht 
die    Wissenschaft    in    Schutz    zu    nehmen.      Eine 
Rechtfertigung  derselben  ist   nicht   nur  deswesen 
unerläßlich,    weil    der  Vorwurf   in    einer    wissen- 
schaftlichen Zeitschrift  erhoben  wird   und   in  den 
Augen  des  Lesers  zu  Recht  bestehen  würde,  wenn 
er   kerne  Zurückweisung    erführe,    sondern    auch 
deswegen,  weil  die  Urheber  der  Glazialkosmogonie 
die  Wissenschaft,  auf  der  sich  ihre  Untersuchungen 
doch,  wie  der  pompöse  Titel  ankündigt,  aufbauen 
soll,  einfach  ignorieren,  wo  sie  ihnen  nicht  genehm 
ist,   und   die   fast   kindlich  zu  nennende  Dreistig- 
keit, mit  der  dies  geschieht,  und  mit  der  die  Ver- 
fasser ihre  eigenen  Phantasien  an  die  Stelle  völlig 
gesicherter    wissenschaftlicher    Ergebnisse    setzen 
den     unbefangenen,     mit     den    Einzelheiten     der 
wissenschaftlichen  Disziplinen  nicht  genügend  ver- 
trauten  Leser  gefangen   nehmen   und  sein  Urteil 
leicht  bestechen  könnte. 

Uni  ein  Urteil  über  den  wissenschaftlichen 
Wert  der  glazialkosmogonischen  Erörterungen  zu 
gewinnen,  ist  es  nicht  erforderlich,  das  umfang- 
reiche Hauptwerk  selbst  zu  studieren.  Ein  Aus- 
zug aus  seinem  meteorologischen  Teil,  der  aus 
der  Feder  Hörbigers  stammt,  i)  gibt  eine  völlig 
genugende  Probe.  Wir  wollen  jedoch  unser  Ziel 
noch  naher  stecken  und  uns  auf  das  in  dem  Auf- 
satze des  Herrn  Prof  Halb  faß  behandelte  Pro- 
blem der  Entstehung  der  Hagelwetter  und  hoch- 
schwebenden  Cirruswolken  beschränken. 

Nach  Hörbiger-Fauth  entstehen  die  Hagel- 
wetter durch  Eindringen  von  mächtigen  Eiskörpern 
in  die  Erdatmosphäre,  die  Cirruswolken  durch  kos- 
mischen Feineiszufluß.  Dazu  ist  folgendes  zu  be- 
merken : 

I.  Während  kleine  meteorische  Massen  (die 
Sternschnuppen),  deren  Gewicht  nur  einige  Gramm 
oder  weniger  beträgt,  beim  Eindringen  in  die 
Erdatmosphäre   sich    gänzlich    in  Dampf  verwan- 


311 


dein,  gelangen  größere  Massen  (die  Meteore)  viel- 
fach bis  in  die  tieferen  Atmosphärenschichten  und 
fallen  endlich,  meistens  in  Bruchstücken,  auf  die 
Erdoberflache.  Ein  solcher  Meteorfall  ist  stets  mit 
einer  gewaltigen  Lichterscheinung  und  donner- 
ahnhchem  Krachen  verbunden.  Wenn  die  Hagel- 
massen eines  Hagelwetters,  bei  deren  einem  auf 
I  qm  Bodenflache  i  Zentner  Eis  fiel,  einem  Eis- 
korper  entstammten,  so  müßte  dieser  also  von 
bedeutender  Größe  sein.  Wenn  nur  wenige  Kilo- 
gramm schwere  Meteore  mit  donnerähnlichem 
Krachen  niederstürzen,  so  müßte  der  Fall  einer 
solchen  Masse  ein  jede  Vorstellung  übersteigendes 
Getose  verursachen.  In  Wirklichkeit  sind  aber 
die  Hagelwetter  nur  gelegentlich  mit  den  Licht- 
und  Schallerscheinungen  normaler  Gewitter  ver- 
bunden. 

2.  In  die  Erdatmosphäre  eindringende  Meteore 
besitzen  eine  durchschnittliche  Geschwindigkeit 
von  30  km/sec  und  mehr.  Das  Hagelwetter 
welches  Rußland  am  24.  Mai  1830  vom  Baltischen 
bis  zum  Schwarzen  Meere  in  einer  Ausdehnung 
von  15  Längengraden  und  10  Breitengraden  ver- 
wüstete, hätte  also  in  der  Stunde  nicht  mit  94  km 
Geschwindigkeit  fortschreiten  können,  sondern 
wurde  diese  Strecke  schon  in  wenigen  Sekunden 
durchlaufen  haben. 

3.  Eine  auseinanderbrechende  große  Eismasse 
wird,  was  auch  die  Bruchstücke  aufgefundener 
Meteormassen  erkennen  lassen,  in  Teile  sehr  ver- 
schiedener Größe  zerfallen.  Die  Hagelkörner  haben 
aber  durchschnittlich  gleiche  Größe. 

4-    Die    mikroskopische    Struktur    der    Hagel- 
korner  laßt  erkennen,    daß    sie    von   innen    nach 
außen  wachsen.      Bruchstücke   einer  großen  Eis- 
masse  können   kein   zentrisches  Gefüge   besitzen. 
5.  Die  aufgefundenen  Meteore   enthalten  stets 
mehrere  irdische  Elemente   oder   chemische  Ver- 
bindungen,  meistens   Eisen,    Nickel   und   Silikate 
aber  in  verschiedener  Mischung.      Es  wäre  daher 
zu  erwarten,  daß  auch  die  kosmischen  Eismeteore 
mit  Metallen  oder  Gesteinsmassen  verbunden  vor- 
kamen d.  h.  man  müßte  bei  Hagelwettern  zwischen 
dem    Eis    gelegentlich    auch    meteorischen   Staub 
antreffen.     Davon   aber   wird   nirgends    berichtet. 
6.  Horbiger  schätzt  die  durch  Versickerune 
eintretende   jährliche    Erniedrigung   des   mittleren 
Ozeanspiegels  auf  30  cm  (a.  a.  O.  S.  8).    Hiernach 
wurde  der  Erde  jährlich   als  Ersatz  eine  Wasser- 
menge   aus    dem    Welträume    zufließen    müssen 
welche    die   ganze   Erde   20   cm    hoch    bedeckte 
Nehmen  wir  nur  13  cm  an,  so  käme  auf  die  Zeit 
emes  Mondumlaufs  um  die  Erde  (27  V3  Tage)  eine 
Niederschlagsmenge  von  i  cm.     Nun  ist  die  Um- 
laufszeit  eines  Satelliten   bei  veränderlicher  Masse 
des  Zentralkörpers  dem  Quadrate  dieser  Masse  um- 
gekehrt proportional.')      Da    die  Masse   einer  die 


M,r.l  ^ 'v^'j'^^^  Wetterstürze,  Hagelkatastrophen  und 
Marskanal- Verdoppelungen,  von  H.  Hör  biger,  Kaysers  Ver- 
lag,  Kaiserslautern  1913. 


)  Bedeutet  k  die  Gravitationskonslante,  M  die  Zenlral- 
rZ'  •^.<^"=  ''"«"«  Geschwindigkeit  des  Satelliten  in  seiner 
Bahn  r  den  Bahnradius,  so  ergibt  sich  aus  den  Gleichungen 
des  Zweikorperproblems  das  Integral  c^  =  kM  :  r  Bezeichnet 
man  mit   dem  Index  o  die   für   den  Anfang   der  EnSung 


312 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


ganze  Erde  bedeckenden  Wasserschicht  von  i  cm 
Höhe  den  i  200000000.  Teil  der  Erdmasse  be- 
trägt, so  müßte  sich  hiernach  die  Umlaufszeit  des 
Mondes  bei  jedem  Umlauf  um  den  600000000. 
Teil  verkürzen.  Der  Gesamtbetrag  der  bei  n  Um- 
läufen erfolgenden  Verkleinerung  der  Umlaufs- 
zeitensumme wächst  dann  mit  dem  Faktor  n(n  + 1 ) :  2. 
In  100  Jahren,  d.  h.  während  1330  Mondumläufen, 
würde  sich  daher  die  Umlaufszeitensumme  um 
665-1331:600000000  =  0,00147,  d.  i.  rund  um 
den  700.  Teil  der  ursprünglichen  Umlaufszeit  ver- 
ringern. Da  diese  27  Vg  Tage  beträgt,  so  erhält 
man  für  die  Strecke,  um  die  der  Mond  bei  seinen 
1330  Umläufen  in  seiner  Bahn  über  den  Punkt, 
wo  er  sich  im  Falle  gleichbleibender  Erdmasse 
befinden  würde,  vorausgeeilt  wäre,  eine  Zeitdifife- 
renz  von  3300  Sekunden.  Nun  besitzt  der  Mond 
tatsächlich  eine  als  Störungswirkung  nicht  zu 
deutende,  meistens  durch  die  Annahme  einer 
Rotationsverzögerung  der  Erde  erklärte  Be- 
schleunigung der  mittleren  Bewegung.  Diese  be- 
trägt aber  nur  10  Sekunden  im  Jahrhundert.  Wenn 
man  sie  auf  eine  Vergrößerung  der  Erdmasse 
durch  kosmischen  Eiszufluß  zurückführen  wollte, 
so  würde  also  folgen,  daß  dieser  nur  den  330.  Teil 
des  angenommenen  Wertes,  d.  h.  jährlich  noch 
nicht  0,4  mm  betragen  könne. 

Ein  noch  wesentlich  kleinerer  Wert  ergibt  sich 
auf  folgende  Weise.  Der  Querschnitt  der  Erde 
macht    den    2000000000.   Teil    der   Sphäre    aus. 


geltenden  Werte  und  beachtet,  daß  gemäß  dem  Flächensatze 
der  Mechanik  die  von  dem  Radiusvektor  in  der  Zeiteinheit 
beschriebene  Fläche  unverändert  bleibt,  also  er  =  Cor,,  ist,  so 
folgt  aus  der  angegebenen  Gleichung  Mr  =  M^Tß.  Bezeichnet 
n>an  die  Umlaufszeit  des  Satelliten  mit  t  und  setzt  in  der 
ersten  Gleichung  c  =  2r;r  :  t,  so  folgt  t- :  1^^  =  r'M„  :  ro'M 
und  hieraus  ergibt  sich  bei  Berücksichtigung  der  Beziehung 
Mr  =  M^rj,  die  neue  Gleichung  t :  t(,  =  M^"  :  M*. 


deren  Mittelpunkt  die  Sonne  und  deren  Radius 
der  Erdbahnhalbmesser  ist.  Wenn  die  der  Erde 
jährlich  zufließende  Menge  kosmischen  Wassers 
eine  Höhe  von  20  cm  erreicht,  so  berechnet  sich 
hieraus  die  in  einem  Jahre  auf  die  Sonne  stürzende 
Eismasse  zu  rund  35  Erdmassen. ^)  Infolge  der 
vergrößerten  Anziehung  der  Sonne  würde  dann 
die  Jahresdauer  von  einem  Jahre  zum  folgenden 
sich  um  rund  2  Stunden  verkürzen.  Es  steht  je- 
doch fest,  daß  die  Dauer  eines  Jahres  sich  jähr- 
lich noch  nicht  um  den  Bruchteil  einer  Sekunde 
ändert,  woraus  umgekehrt  folgt,  daß  von  den 
jährlichen  Niederschlägen  der  irdischen  Atmo- 
sphäre noch  nicht  0,03  mm  dem  Welträume  ent- 
stammen kann.'^) 

Diese  Überlegungen  genügen,  um  den  wissen- 
schaftlichen Wert  der  H  ö  r  b  i  g  e  r  sehen  Hypothese 
eines  kosmischen  Eiszuflusses  zur  Erde  in  die 
richtige  Beleuchtung  zu  setzen.  Und  wie  bei 
diesem  Teilproblem,  so  liegt  es  bei  allen  anderen, 
die  in  der  Glazialkosmogonie  ihre  Lösung  finden. 
Es  ist  zuzugeben,  daß  eine  seltene  Kombinations- 
gabe die  Urheber  der  Kosmogonie  auszeichnet 
und  sie  befähigte,  die  entferntesten  Probleme 
kosmogonischer,  geologischer  und  meteorologischer 
Art  miteinander  zu  verknüpfen;  aber  die  gewaltige 
Arbeit  ist  nutzlos  vertan,  da  sie  mit  unzulänglichen 
Mitteln  unternommen  ist. 


')  Bei  einer  jährlichen  Zunahme  der  Sonnenmassc  um 
35  Erdmassen  würde  die  Sonne  nur  9000  Jahre  gebraucht 
haben,  um  ihre  ganze  Masse  zu  sammeln,  und  die  durch  Um- 
wandlung der  kinetischen  Energie  der  Fallbewegung  ent- 
stehende Wärme  würde  rund  3000  mal  so  groß  als  die  von 
der  Sonne  gegenwärtig  ausgestrahlte  sein  I 

'^)  Am  Boden  der  Ozeane  findet  wahrscheinlich  nur  ein 
verschwindend  geringer  Verlust  von  Wasser  statt,  da  die  die 
Ozeane  unlerlagernden  Gesteinsschichten  mit  Wasser  längst 
gesättigt  sind. 


[Nachdruck  verboten.] 


Zur  Ausgestaltung  der  Schädlingsbekämpfung. 

Von  Prof.  Dr.  J.  Wilhelmi, 
wiss.  Mitgl.  d.  Landesanstalt  f.  Wasserhygiene,  Berlin-Dahlem. 


Ein  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Versäum- 
nisse könnte  man  den  deutschen  Entwicklungs- 
gang der  Schädlingsbekämpfung  nennen.  Wohl 
hat  die  deutsche  Forschung  auf  dem  Gebiete  des 
Schädlingswesens  gute  Erfolge  zu  verzeichnen, 
aber  ungenügende  Arbeitsmöglichkeit  und  besonders 
die  Unzulänglichkeit  der  Mittel  haben  nur  eine 
weit  hinter  den  gesundheitlichen  und  wirtschaft- 
lichen Bedürfnissen  zurückbleibende  Betätigung 
auf  dem  Gebiete  des  Schädlingswesens  gestattet. 
Namentlich  gilt  dies  für  die  praktische  Durch- 
führung der  Schädlingsbekämpfung.  Hier  ist 
Deutschland  gegenüber  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  ins  Hintertreffen  geraten  und  zwar 
sowohl  hinsichtlich  der  Organisation  der  Schäd- 
lingsbekämpfung als  auch  bezüglich  der  Anwen- 
dung   wirksamer    Bekämpfungsmittel.       Mit     der 


unter  Führung  von  Prof.  Dr.  K.  Escherich, 
München,  im  Jahr  191 3  erfolgten  Begründung  der 
Deutschen  Gesellschaft  für  angewandte  Entomolo- 
gie wurde  für  ein  Hauptgebiet  des  Schädlings- 
wesens, nämlich  für  die  praktische  Insektenkunde, 
eine  wertvolle  Zusammenfassung  der  bei  uns  gar 
nicht  spärlichen  wissenschaftlichen  Arbeitskräfte 
geschaffen.  Die  Gesellschaft  zeigte  in  Kürze  ihre 
Leistungsfähigkeit  durch  die  neu  begründete  und 
schnell  aufblühende  Zeitschrift  für  angewandte 
Entomologie,  welche  die  einlaufenden  Veröffent- 
lichungen kaum  fassen  konnte,  sowie  durch  die 
als  Beihefte  erscheinenden  Monographien  zur  an- 
gewandten Entomologie,  ferner  durch  die  Flug- 
schriften und  -blätter,  sowie  durch  die  Schädlings- 
tafeln. Der  Krieg  veränderte  auch  hier  die  Ver- 
hältnisse    beträchtlich.       In     der    Schädlingsbe- 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


313 


kämpfungsbewegung  geriet  manches  ins  Stocken. 
Anderes  wurde  in  der  Entwicklung  gefördert. 
Besonders  zu  erwähnen  ist  die  Tätigkeit  des  dem 
Kriegsministerium  angegliederten  Technischen 
Ausschusses  für  Schädlingsbekämpfung  (Tasch), 
der  mittels  des  bisher  in  Deutschland  nicht  ge- 
bräuchlich gewesenen  Verfahrens  der  Blausäure- 
durchgasung  Magazine,  Kasernen,  Mühlen,  Schiffe 
usw.  von  Ungeziefer  befreite,  und  nunmehr  nach 
dem  Kriege  unter  Erweiterung  .der  Arbeitsver- 
fahren in  die  Deutsche  Gesellschaft  für  Schäd- 
lingsbekämpfung m.  b.  H.  (Frankfurt  a.  M.)  über- 
gegangen ist.  Mehr  als  Teilorganisationen  hat 
uns  der  Krieg  jedoch  nicht  gebracht  und  heute 
erschweren  die  Nachwirkungen  des  Krieges  und 
der  Revolution  den  Ausbau  der  Schädlingsbe- 
kämpfung, der  gegenwärtig  in  Hinsicht  auf  die 
gesundheitlichen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
Deutschlands  notwendiger  als  je  erscheint.  Er- 
freulich immerhin  ist  die  —  dank  dem  in  Wort 
und  Schrift  für  die  Entwicklung  der  Schädlings- 
bekämpfung geführten  Kampfe  —  doch  bereits 
in  weitere  Kreise  des  Volkes  eingedrungene  Er- 
kenntnis des  Wertes  der  Schädlingsbekämpfung. 
So  erschien  nunmehr  die  im  Jahre  1920  erfolgte 
Ernennung  eines  Reichskommissars  für  Schäd- 
lingsbekämpfung verheißungsvoll,  wenn  auch  seine 
Zuständigkeit  einstweilen  auf  die  Pflanzenschäd- 
linge beschränkt  sein  sollte.  Von  diesen  Gesichts- 
punkten aus  habe  ich  die  Ziele  und  Wege  der 
Schädlingsbekämpfung  in  einem  Vortrag  auf  der 
86.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und 
Ärzte  in  Nauheim  im  September  1920  skizziert 
(Veröffentl.  a.  d.  Medizinalabt.  d.  Wohlfahrts- 
ministeriums H.  2,  1921,  R.  Schötz,  BerHn).  Wenn 
nun  inzwischen  (gegen  Ende  1920)  die  Stelle  des 
Reichskommissars  wieder  gestrichen  worden  ist, 
so  halte  ich  dies  —  ohne  die  Notwendigkeit  des 
Abbaues  staatlicher  Überorganisation  zu  verkennen 
—  für  Kurzsichtigkeit  und  für  Sparsamkeit  am 
falschen  Orte. 

Da  es  sich  bei  den  Schädlingen  um  tierische 
und  pflanzliche  Organismen  handelt  und  da  die 
Schadwirkung  sich  auf  unsere  Nutztiere  und 
-pflanzen  und  die  aus  diesen  gewonnenen  Pro- 
dukte, sowie  auf  den  Menschen  selbst  erstreckt, 
so  charakterisiert  sich  das  Schädlingsbekämpfungs- 
wesen als  wirtschaftliche  und  hygienische  Biologie. 
Wenn  ferner  die  Bionomie,  d.  h.  die  Lehre  von 
den  Beziehungen  der  Organismen  untereinander 
und  wechselseitig  nach  Artfremdheit  zueinander, 
wie  überhaupt  zur  Umwelt  einschließlich  des 
Menschen,  die  Grundlage  der  Schädlingsbekäm- 
pfung darstellt,  so  charakterisiert  sich  letztere  als 
Teilgebiet  der  praktischen  Bionomie  oder,  wie 
man  auch  sagen  könnte,  als  Teilgebiet  der  Hygiene 
der  Nutzpflanzen,  der  Nutztiere  und  des  Menschen. 
Wirksame  und  einwandfreie  Schädlingsbekämpfung 
erscheint  daher  nur  im  Rahmen  der  praktischen 
Bionomie  ausführbar. 

Andererseits  darf  uns  der  rein  subjektive  Nütz- 
lichkeits-    und    Schädlichkeitsbegriff  anthropozen- 


trischer Auffassung  nicht  hinwegtäuschen  über 
die  Harmonie  der  Natur,  welche  der  Mensch  als 
Teilglied  der  Natur  —  gewissermaßen  selbst  nur 
Organ  im  Organismus  der  Natur  —  nicht  unge- 
straft stört.  So  fügt  sich  in  die  wirtschaftliche 
und  hygienische  Biologie  notwendigerweise  die 
ethische  Betrachtungsweise  ein,  die  uns  letzten 
Endes  erst  die  kulturelle  Berechtigung  zum  an- 
thropozentrischen Standpunkt  verleiht.  Somit 
fallen  auch  diese,  im  Naturschutz  ihren  Ausdruck 
findenden  Bestrebungen,  in  enger  Verknüpfung 
mit  dem  Schädlingsbekämpfungswesen,  in  das  Ge- 
biet der  praktischen  Bionomie. 

Massenentwicklung  bestimmter  Organismen  er- 
folgt in  der  Natur  immer  nur  unter  Einfluß  opti- 
maler Existenzbedingungen,  bzw.  bei  Reduzierung 
ihrer  Feinde  oder  Parasiten.  Gerade  die  Massen- 
Kultivierung  von  Nutztieren  und  -pflanzen  bietet 
also  Schädlingen  von  vornherein  ein  Ernährungs- 
optimum. Sind  dann  auch  die  übrigen  Existenz- 
bedingungen für  den  Schädling  im  wesentlichen 
erfüllt,  so  ist  der  Fall  der  „Schädlingsplage"  ge- 
geben. 

Nach  den  Objekten,  bzw.  nach  den  Örtlich- 
keiten der  Schadwirkung  werden  unter  den  Schad- 
organismen folgende  Hauptgruppen  unterschieden : 
I.  Haus-  und  Speicherschädlinge,  2.  Obst-  und 
Weinbauschädlinge,  3.  Gemüse-  und  Zierpflanzen- 
schädlinge, 4.  Feldfruchtschädlinge,  5.  Forstschäd- 
linge, 6.  Schädlinge  der  wechselwarmen  Nutztiere 
des  Landes  (und  des  Wassers),  7.  Schädlinge  der 
sog.  warmblütigen  (homöothermen)  Nutztiere  und 
des  Menschen.  Auch  hier  sehen  wir  wirtschaft- 
liche und  hygienische  Interessen  eng  miteinander 
verknüpft,  denn  die  Bekämpfung  der  der  Er- 
nährungswirtschaft schädlichen  Organismen  dient 
durch  Mehrung  der  Nahrungsmittelproduktion, 
gleichzeitig  auch  der  Volksgesundheit,  und  um- 
gekehrt steht  die  Bekämpfung  gesundheitlicher 
Schädlinge  des  Menschen,  welche,  wie  z.  B.  manche 
stechende  Insekten,  die  Wirtschaftlichkeit  ganzer 
Gegenden  in  Frage  stellen  können,  auch  im  Dienste 
der  Volkswirtschaft.  Interessiert  an  den  Schad- 
objekten bzw.  -Organismen  in  landwirtschaftlicher 
Hinsicht  sind  besonders  Ackerbau,  Obst-  und 
Weinbau,  Gemüsebau,  Schrebergärtnerei,  Zier- 
gärtnerei, Forstwirtschaft,  Haus-,  Klein-  und  F"eder- 
viehwirtschaft,  Imkerei,  Molkereiwirtschaft,  Pferde- 
zucht und  -Sport,  Jagdwesen,  Hundezucht  und  das 
gesamte  Fischereiwesen  (weiteren  Sinnes),  in  in- 
dustrieller Hinsicht  die  Leder-,  Knochen-,  Hörn-, 
Pelz-,  Haar-,  Feder-  und  Textilindustrie,  Holz-  und 
Korkindustrie,  Mühlen-,  Fleischmehl-  und  Kon- 
servenindustrie und  in  hygienischer  Hinsicht  Kom- 
munen, F"abrikbetriebe,  Schulen,  Krankenhaus-  und 
Heilstättenverwaltungen  und  jeder  einzelne  Mensch. 

An  dieser  Stelle  auch  nur  einen  dürftigen 
Überblick  über  die  Wirkungen  der  Schadorganis- 
men zu  geben,  ist  ausgeschlossen.  Hinsichtlich 
der  Pflanzenschädlinge  mag  die  folgende  Noel- 
sche  Zusammenstellung  (nach  Stellwaag  1920) 
für  sich  sprechen.     Es  wurden  festgestellt 


314 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


auf  l6o  Obstarten 
„      28  Gemüsearten 

1671 
704 

Scbädlingsarten 

„      21  Getreide-  und  Futlerstoffarten 

988 

„       14  Waldbäumen 

„      38  Ziersträuchern  und  -bäumen 

4637 
II09 

'• 

„       84  sonstigen  Zierpflanzen 
„      81   offizinellen   Pflanzen 

1029 
1870 

»t 

Für  das  kleine  Gebiet  der  Rheinpfalz  ist  (nach 
Stellwaag  1920)  die  durchschnittliche  Schä- 
digung des  Weinbaues  durch  den  Heu-  und  Sauer- 
wurm bis  191 5  auf  jährlich  3^4  Millionen  IVIark 
berechnet  worden;  im  Jahre  19 10  betrug  der  im 
Weinbau  der  Pfalz  durch  Schädlinge  bewirkte 
Ernteausfall  mehr  als  25  Millionen  Mark,  zu  einer 
Zeit,  in  welcher  der  Jahreshaushalt  der  Regierung 
der  Pfalz,  wie  vergleichsweise  angeführt  sei,  etwa 
3  Millionen  Mark  betrug. 

Bezüglich  Pferde  und  Rinder  sei  auf  den 
enormen  Schaden,  den  die  durch  Milben  bewirkte 
Räude  in  den  letzten  Kriegsjahren  verursacht  hat 
und  noch  verursacht,  ferner  an  die  Viehschäden, 
die  in  zunehmendem  Maße  durch  die  Kriebel- 
mücken hervorgerufen  werden ,  ferner  an  die 
Fleisch-  und  Milchverluste  und  die  Entwertung 
des  Leders,  welche  durch  die  Dasselfliegen  ver- 
anlaßt werden,  hingewiesen.  Stechmücken-  und 
Fliegenplage  betreffen  Mensch  und  Vieh  in  gleicher 
Weise.  Auch  an  die  Zunahme  des  Ungeziefers 
des  Menschen  und  der  Haustiere,  daß  bei  der 
Übertragung  von  Infektionskrankheiten  eine  Rolle 
spielen  kann,  sei  erinnert. 

Gewaltig  sind  also  die  gesundheitlichen,  wirt- 
schaftlichen, sozialen  und  kulturellen  Werte,  die 
der  Staat  durch  Ausgestaltung  der  Schädlingsbe- 
kämpfung gewinnen  kann.  In  wirtschaftlicher 
Hinsicht  dürfte  der  erzielbare  Jahresgewinn  mit 
einer  Milliarde  Goldmark  kaum  zu  hoch  veran- 
schlagt sein. 

Wie  wir  bereits  bei  einigen  Schadorganismen, 
z.  B.  Dasselfliegen,  Stechfliegen  und  -mucken, 
sahen,  erstreckt  sich  ihre  Schadwirkung  zugleich 
auf  industrielle  und  ernährungswirtschaftliche  Ge- 
biete oder  auch  noch  auf  das  menschliche  Gesund- 
heitswesen. Es  wäre  daher  verkehrt,  wenn  alle 
Gruppen  von  Schädlingsinteressenten  und  die 
einzelnen  Behörden  getrennt  vorgehen  wollten 
und  so  Zeit,  Arbeit  und  Geld  für  die  getrennte 
Ermittlung  und  Durchführung  der  geeigneten  Be- 
kämpfungsverfahren vergeuden  würden,  denn  oft 
genug  kommt  für  Schädlinge  ganz  verschiedener 
Objekte  die  gleiche  Methode  der  Bekämpfung  in 
Betracht. 

Zur  Bekämpfung  der  Schädlinge  stehen  uns 
zahlreiche  Methoden  der  Vernichtung  und  der 
zuweilen  genügenden  Fernhaltung  bereits  zur  Ver- 
fügung und  zwar  i.  mechanische  Vernichtungs- 
bzw. Fernhaltungsverfahren,  z.  B.  durch  Aufsam- 
meln, unter  Zuhilfenahme  von  Fallen,  Klebstoffen 
und  Ködern  u.  a.  m.,  2.  chemische  und  physika- 
lische Vernichtungs-  und  Fernhaltungsverfahren 
mittels  fester,  flüssiger  und  gasförmiger  Chemi- 
kalien, ferner  durch  Licht-  oder  Hitzewirkung,  bei 
Wassertieren    durch    Strömungs-    oder    Stauungs- 


erzeugung, und  3.  biologische  Bekämpfungsver- 
fahren unter  Nutzung  der  Feinde  und  Parasiten 
der  Schädlinge.  Je  mannigfacher  die  Beziehungen 
der  Schadorganismen  zur  Umwelt  sind,  um  so 
spezifischer  muß  das  Bekämpfungsverfahren  für 
den  betreffenden  Schädling  sein.  Oft  wird  man 
auch  kombinierter  Verfahren  bedürfen.  Das  gilt 
z.  B.  für  die  Bekämpfung  von  Ratten  und  Mäusen 
mittels  sog.  Mäusetyphusbazillen,  bei  welchem 
Verfahren  die  infolge  Immunität  überlebenden 
Individuen  nur  mittels  nachfolgender  Anwendung 
eines  spezifischen  Giftpräparates  (Meerzwiebel)  er- 
faßt werden  können.  In  ähnlicher  Weise  läßt  sich 
vielleicht  die  Blausäurebekämpfung  der  Mehlmotte, 
unseres  namhaftesten  Mühlenschädlings  biologisch 
ergänzen  durch  Verwendung  spezifischer  Bakterien, 
welche  bei  den  Mottenraupen  die  sog.  Schlaff- 
sucht erzeugen. 

Abwehr-  und  Fernhaltungsmaßnahmen  haben 
im  allgemeinen  nur  einen  bedingten  Wert,  sind 
aber  da  unumgänglich  notwendig,  wo  es  sich  da- 
rum handelt,  an  und  für  sich  nützliche  Tiere  von 
Geländen  bestimmter  Bewirtschaftung  zu  vertrei- 
ben. Auch  Vernichtungsverfahren  stellen  im 
ganzen  lediglich  Hilfsmaßnahmen  dar,  welche  nur 
so  lange  Wert  haben  werden,  bis  es  gelingt,  gegen 
Schädlinge  gefeite  Nutzpflanzen  und  -tiere  zu 
züchten  oder  auch  Produkte  tierischer  und  pflanz- 
licher Herkunft  gegen  Schadorganismen  dauernd 
„fest"  zu  machen,  welche  Ziele  freilich  kaum  je- 
mals vollkommen  zu  erreichen  sein  werden.  Er- 
innert sei  hier  an  „reblausfeste"  Reben  und  an 
den  amerischen  Flußkrebs,  der  gegen  die  „Krebs- 
pest" gefeit  ist.  Zwischen  allen  Schädlingsfragen, 
seien  sie  nun  auf  Schädling,  Schadobjekt,  Schad- 
wirkung wirtschaftlicher  oder  gesundheitlicher 
Art  gerichtet,  besteht  also,  wie  wir  gesehen  haben, 
eine  so  enge  Verknüpfung,  daß  eine  Zusammen- 
fassung des  gesamten  Schädlingswesens  in  organi- 
satorischer Hinsicht  aus  praktischen  Gründen,  ins- 
besondere aus  Gründen  der  Sparsamkeit,  geboten 
erscheint. 

Als  wissenschaftliche  Aufgaben  der  Schädlings- 
bekämpfung müssen  die  Erforschung  der  im  ein- 
zelnen sehr  variabelen  Ursachen  des  Massenauf- 
tretens von  Schädlingen,  die  Ermittlung  einer  für 
die  Praxis  brauchbaren  und  einwandfreien  Methodik 
der  Bekämpfung,  der  Schädlingsfernhaltung,  bzw. 
Erzielung  der  Festigung  des  belebten  oder  unbe- 
lebten Schadobjektes  gegen  Schädlinge  gelten,  — 
also  Aufgaben,  die  durchaus  im  Rahmen  der 
praktischen  Bionomie  liegen.  Trotz  vieler  guter 
Forschungsergebnisse  auf  dem  Gebiete  des  Schäd- 
lingswesens in  Deutschland  bleibt  die  Zahl  der 
ihrer  Bearbeitung  harrenden  Aufgaben  Legion. 
In  wissenschaftlicher  Hinsicht  decken  sich  hier 
die  Aufgaben  der  Human-  und  Veterinärmedizin 
vollständig.  Bezüglich  der  menschlichen  Parasito- 
logie  sei  an  das  neuerdings  vermehrte  Auftreten 
der  Madenwürmer  (Oxyouren),  deren  Biologie  und 
pathogene  Bedeutung  noch  nicht  genügend  sicher- 
gestellt   sind,    erinnert.      Ferner,   der  Kinderspul- 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


3«5 


wurm,   eine  Ascaris-Art,   die   vielleicht   mit   dem 
Schweinespulwurm    identisch     ist,    scheint     nach 
neueren  Untersuchungen  im  Larvenzustand  Leber, 
Blutgefäße,  Lunge  und  Schlund  zu  durchwandern 
und  somit  ein  gar  nicht  so  harmloser  Parasit,  für 
den  man  ihn  früher  hielt,  zu  sein.   Die  Fraßformen 
der  an  menschlichen  Leichen  in  Wohnungen  und 
Friedhofshallen    häufig    vorkommenden    Insekten, 
z.  B.  Ohrenkerfe,  Kellerasseln  und  Fliegenmaden, 
sind    uns    ziemlich    unbekannt.      Nur    so    war    es 
noch    in    unserer  Zeit    möglich,    daß   an  Leichen 
festgestellte  Hautdefekte,  die  durch  die  chemische 
Analyse    irrtümlich   als  Säurewirkungen    gedeutet 
wurden,  einen  Unschuldigen  ins  Gefängnis  bringen 
konnten.     Die  Malaria,  welche  außer  durch  opera- 
tive Bluttransfusion    nur    durch   die   bei  uns  sehr 
verbreitete  Stechmücke  Anopheles  übertragbar  ist, 
scheint,    im  Zusammenhang   mit    den    durch  den 
Krieg  geschaffenen  Verhältnissen,   wieder  einmal 
eine  Welle  über  Deutschland  zu  senden.     Bezüg- 
lich   der    großen    Gefahr    der    Verbreitung    bzw. 
Verschleppung  krankheitübertragender  Insekten  sei 
hier  nur  auf  die  mit  der  Eröffnung   des  Panama- 
kanals   erfolgte     Näherrückung    Europas    an    die 
westamerikanischen  Küstengebiete  und  ihre  Krank- 
heiten erinnert.   Von  veterinärhygienischen  Fragen 
erwähnen    wir    bereits    die    Kriebelmücken-    und 
Dasselfliegenplage.      Unsere    Hilflosigkeit    in    der 
Bekämpfung   der  Stechmücken-   und  Fiiegenplage 
ist  dem  Stadtbewohner  wie  dem  Landwirt  wohl- 
bekannt.    Hat  der  Laie   wohl   im   eigenen  Haus- 
halt die  Mißlichkeit  des   Mottenfraßes   an  Wolle-, 
Pelz-*  und  Federwaren  erfahren,   so   ahnt  er  doch 
selten,     welche     wirtschaftliche     Bedeutung     den 
Motten   überhaupt,   z.  B.  auch  den  Mehl-,   Kork-, 
Tapeten-  und  Honigmotten  zukommt,  und  welche 
wirtschaftswissenschaftlichen  Aufgaben    hier   noch 
zu    lösen   sind.     Gleichgroß  sind,    trotz  vieler  Er- 
folge,   die  Aufgaben    der  Bekämpfung    der    Obst- 
und  Forstschädlinge,  von  denen  einer  der  wichtig- 
sten,   nämlich    der    Schwammspinner,    erst    nach 
seiner    Einschleppung    nach    Amerika     von    den 
Amerikanern    gründlich    erforscht    wurde.      Von 
Feldfruchtschädlingen   seien   nur  die  Rübennema- 
toden,  deren    wir  noch  nicht  Herr  sind,    erwähnt. 
Bei  der  Bekämpfung  der  Rebstockschädlinge  hapert 
es  weniger  hinsichtlich  der  Kenntnis  ihrer  Lebens- 
weise als  bezüglich  der  der  Giftstoffe   benötigen- 
den Bekämpfungsmethodik.    Wird  zur  Bekämpfung 
der  Peronospora  das  Kupfervitriol,   ohne  gesund- 
heitliche Nachteile  für  den  Menschen  zu   bringen, 
gebraucht,   so   sollte   man   auch   einer  geregelten 
Anwendung  arsenhaltiger  Präparate,   deren  wir  in 
Ermangelung  des  Nikotins   zur   Bekämpfung  des 
Heu-  und  Sauerwurmes  benötigen,  nicht  zu  skep- 
tisch gegenüberstehen.!)   Freilich  muß  überall,  wo 
Gifte  —  seien  es  nun  unbelebte  Stoffe,  wie  arsen- 
haltige Präparate,  oder,  wie  bei   der  Ratten-  und 
Mäusebekämpfung,   Bakterienkulturen   —   für  die 

•)  Einen  wesentlichen  Fortschritt  dürften  nach  Stell- 
waag  (1921)  und  Es  eher  ich  (Mitt.  d.  D.  Landw.  Ges.  1921, 
Nr.   14)  die  Elhardtschen  Grüntafeln  bedeuten. 


Schädlingsbekämpfung  in  Frage  kommen,  die  Ver- 
wendungsmöglichkeit    durch     die    Human-     und 
Veterinärhygiene  genügend  geprüft  werden.    Sollen 
größere    Leistungen    auf  den    gesamten  Gebieten 
der  Bekämpfung  wirtschaftlicher   und    gesundheit- 
licher Schädlinge  erzielt  werden,  so  bedarf  es  der 
Erhöhung  der  Arbeitsmöglichkeit    in    Forschungs- 
stätten.    Die  Reichsbiologische  Anstalt  für  Land- 
und  Forstwirtschaft  in  Dahlem,  die  sich  vorwiegend 
rnit  den  Pflanzenschädlingen  befaßt,  ist,  auch  hin- 
sichtlich der  Begründung  von  Zweigstellen,  in  er- 
freulicher Ausgestaltung  begriffen.     Zu  wünschen 
wäre   auch    die   Ausgestaltung   der  erst    1919   in 
kleinerem    Umfang    eröffneten    Forschungsanstalt 
fiir  angewandte  Zoologie  in  München.     Ein  spe- 
zielles Institut  für  tierische  Parasiten  des  Menschen 
und  der  Nutztiere,   wie  es  selbst  kleinere  Staaten 
besitzen,  fehlt  uns  in  Deutschland,  ließe  sich  aber 
wohl  im  Reichsgesundheitsamt  durch  Erweiterung 
des  Protozoenlaboratoriums  zu  einer  Abteilung  für 
Zooparasitologie   schaffen.      Nicht    unerwähnt  soll 
freilich  bleiben,  daß  außer  im  Gesundheitsamt  auch 
in  dem    Institut   für    Infektionskrankeiten  „Robert 
Koch"  und  in  dem  Institut  für  Schiffs-  und  Tropen- 
krankheiten in  Hamburg  Versuche  mit  tierischen 
Parasiten  und  krankheitsübertragenden  Insekten  in 
gewissem  Umfang  angestellt  werden.     Es   bedarf 
hier   jedoch    der  Heranziehung    der  Zoologen    in 
weit  größerem  Maße  als  es  bis  jetzt  der  Fall  ist. 
Auch  mit  der  Lehre  der  praktischen  Bionomie  in 
medizinisch- hygienischer  und  wirtschaftlicher  Hin- 
sicht ist  es  an  unseren  Hochschulen,    im    Gegen- 
satze   zu   denen  Amerikas    noch    dürftig    bestellt; 
nur    eine    einzige  Universitätsprofessur   für    ange- 
wandte Zoologie    haben    wir   in  Deutschland  und 
zwar  in  München. 

Wenn  es  auch  möglich  erscheint,  durch  Bezug 
der  Mittel  zur  Schädlingsbekämpfung  auf  genossen- 
schaftlichem Wege  sich  vor  minderwertigen  oder 
gar  schwindelhaften  Geheimmitteln  zu  sichern,  so 
würde  damit  noch  nicht  der  Schaden  beseitigt  sein, 
der  durch  die  Schuld  der  Säumigen  erwächst.    Sind 
doch  Maßnahmen  der  Schädlingsbekämpfung,  wenn 
sie  nur  in  kleinen  Teilgebieten  erfolgen,  meist  von 
nur  geringem  Wert.     Sowohl  aus  diesem  Grunde 
wie  vor  allem  auch  mit  Rücksicht  auf   die  Frage 
der  Gesundheitsgefährdung  des  Menschen  dürften 
wir  in  der  Schädlingsbekämpfung  nicht  ohne  be- 
hördliche   Regelung    auskommen.       Eine     Über- 
wachung der  Schädlingsbekämpfung  ist  im  Grunde 
genommen    nur    im    Rahmen     der    Einzelstaaten 
möglich.     Ein  Schädlingsgesetz  wird  in  den  Län- 
dern   früher    oder   später  notwendig  werden,  und 
schließlich  auch  im  Reich.     Wenn    wir   im  Reich 
einstweilen    auch    mit    Einzelbestimmungen    aus- 
kommen werden  müssen,  so  scheint    doch   schon 
jetzt    eine     einheitliche     Leitung    des     gesamten 
Schädlingswesens  durch    eine   fachwissenschaftlich 
beratene    Zentralstelle    geboten.      Ob    man    den 
Leiter  dieser  Zentralstelle  nun  als  Reichskommissar 
für  Schädlingsbekämpfung  oder   anders   benennen 
will,    ist    belanglos.     Auch    die    Frage,    welchem 


3i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


Reichsministerium,  Reichsministerium  des  Inneren, 
Reichsministerium  für  Ernährung  und  Landwirt- 
schaft oder  Reichswirtschaftsministerium,  diese 
Zentralstelle  angegliedert  werden  müßte,  verliert 
an  grundsätzlicher  Bedeutung,  wenn  man  die 
einschlägige  Bildung  einer  Reichsministerialkom- 
mission  vornimmt. 

Die  Hauptaufgaben  der  Schädlingsbekämpfung 
fallen  natürlich  den  Interessenten  selbst  zu.  Alle 
Interessentenorganisationen  müßten  daher  zusam- 
mentreten zu  einem  Verein  bzw.  zu  einer  Zentral- 
genossenschaft für  Schädlingsbekämpfung,  die 
ihren  Mitgliedern  (Einzelpersonen  wie  Körper- 
schaften) die  zur  Anwendung  zu  empfehlenden 
Mittel  und  Verfahren  zugänglich  machen  würde. 
Die  Vorstandsmitglieder  dieses  Vereins,  unter 
denen  auch  wissenschaftliche  Organisationen,  wie 
die  Deutsche  Gesellschaft  für  angewandte  Ento- 
mologie, Reichsgesundheitsrat  u.  a.  m.  vertreten 
sein  müßten,  könnten  auch  vom  Reichswirtschafts- 
rat (nach  Artikel  8  der  Verordnung  über  den 
vorläufigen  Reichswirtschaftsrat)  als  Sachverständige 
gehört  werden. 

Vorbedingung  für  den  Erfolg  der  Schädlings- 
bekämpfung ist  vielfach  die  rechtzeitige  Ermittlung 
der  Schädlingsarten  selbst.  Es  wird  daher  nötig 
sein,  möglichst  zahlreiche,  z.  T.  spezialisierte  und 
auf  die  Eigenart  der  benachbarten  Schadgebiete 
zugeschnittene  Institute  (Zweigstellen  der  Bio- 
logischen Reichsanstalt,  Untersuchungsstellen  bei 
den  Landwirtschaftskammern  und  sämtliche  bio- 
logischen und  hygienischen  Institute)  zur  Ver- 
fügung zu  haben,  zum  mindesten  zur  Beratung, 
bzw.  bei  Unzuständigkeit  zur  baldigen  Weiter- 
leitung des  Untersuchungsmateriales  an  die  ge- 
eignete Stelle.  Auch  die  Mitwirkung  von  Schäd- 
lingsinspektoren, sowie  Wanderrednern  und  ge- 
gebenenfalls   Eingreifen    wissenschaftlicher    Feld- 


stationen wird  nötig  sein.  Anfange  hierzu,  freilich 
nur  sporadisch  und  ohne  größeren  Organisations- 
plan, sind  ja  bereits  vorhanden. 

Die  praktische  Durchführung  der  Schädlings- 
bekämpfung wird  in  manchen  Fällen,  wie  im 
Obst-  und  Weinbau,  sowie  z.  B.  bei  harmlosen 
Verfahren  gegen  Parasiten  oder  Belästiger  des 
Menschen  und  der  Nutztiere,  seitens  der  Inter- 
essenten selbst  erfolgen  können.  Bei  komplizierten 
oder  gefährlichen  Verfahren  werden  die  Maß- 
nahmen nur  durch  geschultes  Personal,  je  nach 
ihren  Umfang  etwa  durch  größere  Organisationen, 
wie  z.  B.  die  Deutsche  Gesellschaft  für  Schäd- 
lingsbekämpfung m.  b.  H.,  städtische  Desinfektions- 
anstalten und  Kammerjäger,  für  welche  staatliche 
Konzessionierung  erforderlich  sein  müßte,  ausge- 
führt werden  können.  Auch  Organisation  des 
Pressedienstes,  Lehrkurse  in  bestimmten  Schad- 
gebieten und  Aufnahme  von  Belehrungsfilmen 
durch    die    Lichtspielbühnen    scheinen    erwünscht. 

Gewaltige  gesundheitliche  und  volkswirtschaft- 
liche Werte,  die  zurzeit  durch  mangelnde  Organi- 
sation der  Schädlingsbekämpfung  verloren  gehen, 
lassen  sich,  wie  ich  zu  zeigen  versucht  habe,  mit 
verhältnismäßig  geringen  Unkosten  retten,  jähr- 
lich gewinnen,  dauernd  nutzbar  machen  nur  durch 
Zusammenarbeit  von  Gesundheits-  und  Wirtschafts- 
wissenschaft, Schädlingsinteressentenkreis  und  Be- 
hörde, ohne  Überorganisation. 

Schädlingsbekämpfung  und  praktische  Biono- 
mie  gehören  zusammen  wie  Reiter  und  Roß.  In 
diesem  Zusammenhange  ist  es  gewiß  keine  Pro- 
fanierung eines  Bismarckschen  Wortes,  wenn  wir 
es  für  eine  das  Wohl  des  Vaterlandes  betreffen- 
den Aufgabe  dahin  variieren: 

Man  setze  die  Schädlingsbekämpfung,  so  zu 
sagen,  in  den  Satteil  Reiten  wird  sie  schon 
können. 


Einzelberichte. 


Neue  Miueralieii. 


Lei  fit  ist  der  Name  eines  neuen  Minerales, 
das  O.  B.  Böggild  in  der  Zeitschr.  f.  Kristallo- 
graphie, 55.  Bd.,  S.  424 — 429,  1920  beschreibt. 
Das  Mineral  wurde  bei  Narsarsuk  in  Grönland 
gesammelt  und  ist  benannt  nach  dem  Entdecker 
Amerikas,  Leif  dem  Glücklichen,  dem  Sohn  Erik 
des  Roten,  dessen  Wohnung  Brattalihd  nahe  der 
Lokalität  Narsarsuk  lag.  Die  Kristalle  sind  hexa- 
gonal,  doch  sind  sie  stets  recht  unvollkommen 
ausgebildet.  Als  einzige  Form  wurde  ein  hexa- 
gonales  Prisma  gefunden.  Die  Kristalle  zeigen 
oft  garbenförmige  Aggregationen ,  ähnlich  wie 
behn  Desmin.  Die  Größe  der  Kristalle  wechselt 
von  wenigen  Millimetern  bis  zu  2  cm  Länge.  Sie 
sind  vollkommen  farblos  oder  höchstens  schwach 
violett  gefärbt.  In  einigen  Fällen  sind  sie  klar 
und  durchsichtig,  in  anderen  mehr  weißlich.  Die 
Härte  ist  6,   das  spez.  Gewicht  des  reinsten  Mate- 


rials 2,565 — 2,578.  Spaltbar  ist  das  Mineral  nach 
demselben  Prisma,  von  dem  die  Kristalle  begrenzt 
sind,  der  Querbruch  ist  dagegen  muschlig.  Der 
Glanz  ist  Glasglanz,  die  Brechungskoeffizienten 
sind  t  =  1,5224  und  w  =  1,5177.  Die  Analyse 
ergab  folgende  Resultate:  SiO^  =67,55  »/o,  ALOg 
=  12,69,  MnO  =  0,41,  Na^O  =  15,47,  F  =  4.93. 
HjO  =  0,77;  Sa.  =  101,82;  davon  ab  O  =  F  = 
2,08.  Aus  diesem  Analysenergebnis  berechnet 
der  Verf.  die  Formel:  NajAl.jSiyOao,  2NaF.  Da- 
bei wurde  das  Fluor  mit  dem  Natrium  verknüpft. 
Es  ist  natürlich  nicht  anzugeben,  ob  dies  wirklich 
der  Fall  ist,  und  die  Formel  könnte  vielleicht 
ebensogut  geschrieben  werden: 
Na,(AlF)„Si(,022. 
Beim  Erhitzen  im  geschlossenen  Rohr  gibt 
das  Mineral  Wasser  ab.  In  der  Flamme  des 
Bunsenbrenners  schmilzt  es  außerordentlich  leicht 
unter  starkem  Aufblähen  und  erstarrt  zu  einem 
farblosen  Glase.  Es  wird  nicht  von  Säuren  zersetzt. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


31; 


Das  Narsarsukvorkommen  darf  wohl  am  ehe- 
sten als  eine  Pegmatitbildung  im  Augitsyenit  be- 
trachtet werden.  Als  Begleitmineralien  treten  auf 
in  der  Hauptmasse  Feldspat,  und  zwar  Mikroklin, 
ganz  selten  Albit,  und  Aegirin,  mehr  untergeordnet 
Zinnwaldit  und  kleine  Kalkspatkristalle. 

Ein  zweites  neues  Mineral  aus  Freiberg  i.  Sa. 
wird  von  V.  Rosicky  und  J.  öterba-Böhm 
am  gleichen  Ort,  S.  430—439,  beschrieben  und 
nach  seiner  chemischen  Konstitution  Ultrabasit 
benannt.  Das  neue  Mineral  kam  zusammen  mit 
Quarz,  Dialogit,  Bleiglanz  und  Proustit  in  der 
Grube  Himmelsfürst  in  Freiberg  vor.  Es  bildet 
rhombische,  pseudotetragonale,  dick  säulenförmige 
Kristalle,  die  in  der  Prismenzone  vertikal  gestreift 
sind.  Die  Kristallgröße  beträgt  etwa  8  mm  Länge 
und  5—6  mm  Breite  und  Dicke.  An  der  Ober- 
fläche sind  die  Kristalle  bunt  angelaufen.  Als 
Achsenverhähnis  wurde  gefunden: 

a:b:c  =  o,988: 1 : 1,462. 
Die  Farbe  und  der  Strich  des  Minerals  ist  schwarz; 
der  Glanz   ist   metallisch.     Spaltbarkeit   ist   nicht 
vorhanden;    der   Bruch    ist  schalig;    die    Härte  ist 
H  =:  5.      Die    Dichte    des    Minerals    beträgt    bei 


15 


0 


6,025. 


Die  qualitative  Analyse  ergab  außer  den 
Hauptbestandteilen  Blei,  Silber,  Antimon  und 
Spuren  von  Eisen  und  Kupfer,  Germanium  in 
wesentlichen  Mengen.  Wir  haben  es  also  mit 
einem  neuen  Vertreter  der  so  seltenen 
Germaniummineralien  zu  tun.  Nach  der 
quantitativen  Analyse  besteht  das  Mineral  aus- 
Sb  =  4,6o'*/„;  Ag  =  22,35;Pb=  54,15  ;Cu  =  o,47; 
be  =  o,25;  Ge  =  2,20;  5=15,15;  Sa=  100,18%. 
Die  empirische  Formel  lautet  demnach:  2SbS- 
1 1  AgS  ■  28  PbS  •  3  GeS.  Der  Schwefelüberschuß 
=  1,6.  Wie  ersichtlich,  handelt  es  sich  um  ein 
ultrabasisches  Salz,  wonach  das  Mineral  seinen 
Namen  bekommen  hat. 

Im  G  r  o  t  h  sehen  System  gehört  der  Ultrabasit 
an  das  Ende  der  Gruppe  der  Sulfogermanate.  Er 
vermehrt  die  Reihe  der  germaniumhaltigen  Mine- 
ralien auf  vier.  p   j^ 

Die  Farben  von  Mineralien  und  anorganischen 
Stoifen  bei  tiefen  Temperaturen. 

Zur  Kenntnis  dieser  Frage  stellten  M.  Bam- 
berger und  R.  Grengg  (Centralbl.  f.  Miner.  usw., 
1921,  3,  S.  65— 74)  eine  größere  Anzahl  von  Ver- 
suchen an.  Die  Versuchsanordnung  war  eine  sehr 
einfache.  Die  Proben  kamen  entweder  in  eine 
Pinzette  geklemmt,  auf  Draht  oder  in  gewöhn- 
lichen Eprouvetten  in  flüssige  Luft.  Sie  verblieben 
darin  so  lange,  bis  das  Absieden  der  flüssigen 
Luft  aufhörte,  d.  h.  die  Abkühlung  auf  — 190» 
erreicht  war.  Sofort  nach  dem  Herausziehen  aus 
der  flüssigen  Luft  wurde  die  abgekühlte  Substanz 
auf  etwaigen  Farbenumschlag  womöglich  unter 
Vergleich  mit  dem  gleichen,  aber  bei  Zimmer- 
temperatur (+15")  verbliebenen  Material  geprüft. 
Von  den  zahlreichen  untersuchten  Substanzen  seien 
nur  einige  hier  angeführt. 


Schwefel 

Zinnober 
Realgar 
Rauchquarz 
Amethyst 

Edelopal 

Mennige 
Diopsid 

Topas 
Türkis 

Polyhalit 
Aramonium- 
chromalaun 
FeSO^  +7H2O 


künstlich 

Spanien 
Kapnik 
Tawetsch 
Botani  Bay 


künstlich 
Zillertal 

Brasilien 
Persien 

Iscbl 

künstlich 

künstlich 


Farbe  bei  Zim- 
mertemperatur 

gelb 

rot 

morgenrot 
hellbraun 
violblau 

lebhaftes  Far- 
benspiel 
morgenrot 
hellgrün 


honiggelb 
blaugrün 

ziegelrot 
dunkelviolett 

hellgrün 


smaragdgrün 

dunkelrot 

hyazinthrot 

orangerot 

morgenrot 

hellgrün 

gelb 


Farbe  bei 
—  190" 

weiß  emailart.- 
undurchsichtig 
orangegelb 
orangegelb 
hell  rötlichbr. 
etwas  heller 

violblau 
Farbenspiel 

verdüstert 
gelb 

intensiver  hell- 
grün 
hellhoniggelb 
intensiver 

blaugriin 
orangegelb 
hellkirschrot 

grünlichweiß 

trübe 
hellblau  trübe 
hellgelbrot 
graugelb 
hellgelb 
honiggelb 
hellblaugrUn 


hellgelb 


bräunlichrot         gelb 


NiSOj+yH^O  künstlich 

C0SO4+7H2O  künstlich 

Roibleierz  Beresowsk 

KjCräO,  künstlich 

Wulfenit  Arizona 

Schweinfurter  künstlich 

Grün 

Gelbes    Blut-  künsUich 

laugensalz 

Rotes   Blut-  künstlich 
laugensalz 

Keine  Verfärbung  bei  —190"  zeigten  unter 
anderen  Gold  (Blattgold),  Pyrit,  Markasit  (Schem- 
nitz),  Magnetkies  (Bodenmais),  Kupferkies,  Zink- 
blende (Spanien),  Auripigment  (Mazedonien), 
Saphir  (natürlicher  und  künstlicher),  Rubin  (natür- 
licher und  künstlicher),  Rosenquarz,  Heliotrop, 
Zirkon  (Frederiksvaern),  Hämatit  (Platten),  Mala- 
chit (Sibirien),  Azurit  (Chessy),  Doppelspat  (Is- 
land), Bronzit,  Rhodonit  (Katharinenburg),  Lasur- 
stein, Disthen,  Turmaline  (verschieden  gefärbt  und 
von  verschiedenen  Fundorten),  Almandin  (Ost- 
indien), Beryll,  Smaragd  (Ural),  Vesuvian,  Biotit 
(Rußland),  Titanit  (Zillertal),  Apatit  (Ural),  Pyro- 
morphit,  Türkis  (Mexiko),  Cölestin  (Kairo),  Gips, 
Kupfervitriol,  Steinsalz  (dunbelblau),  Flußpat  (von 
verschiedenen  Farben  und  verschiedenen  Fund- 
orten), Bernstein. 

Bemerkenswert  ist  das  verschiedene  Verhalten 
von  kristallwasserhaltigen  Substanzen.  Während 
z.  B.  Gips  und  Kupfersulfat  keine  für  das  unbe- 
waffnete Auge  wahrnehmbare  Veränderungen  in 
Farbe  und  Aussehen  zeigen,  ändern  z.  B.  Chrom- 
alaun und  andere  auffällig  die  Farbe,  aber  ohne 
merkbare  Störung  des  Kristallbaues.  Bei  gewissen 
Salzen  bewirkt  das  Ausfrieren  des  Kristallwassers 
zu  mindestens  eine  starke  Trübung  und  damit  zu- 
sammenhängend bei  gefärbten  Substanzen  ein 
Lichterwerden  der  ursprünglichen  Farbe.  Aus 
den  Versuchen  ergibt  sich,  daß  sowohl  Substanzen 
mit  Eigenfarben  als  auch  dilut  gefärbte  bei  tiefen 
Temperaturen  Umfärbungen  zeigen.  Bei  dilut  ge- 
färbten Stoffen  könnte  die  Ursache  der  Verfärbung 
sowohl  in  der  Änderung  der  Größenordnung  und 
Entfernung  der  Pigmentteilchen  infolge  von  Kälte- 
kontraktion als  auch  in  molekularen  Umlagerungen 


3i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


gesucht  werden.  Die  Farbenumschläge  bei  Körpern 
mit  Eigenfarbe,  die  kein  Kristallwasser  enthalten, 
deuten  auf  Änderungen  des  Feinbaues  hin. 

F.  H. 


Zur  Pflanzengeographie   der  inneren  Sahara. 

Unter  diesem  Titel  gibt  H.  Freiherr  Geyr 
V.  S  c  h  w  e  p  p  e  n  b  u  r  g  in  Peterm.  Mitt.,  66,  S.  260 
bis  264,  eine  Übersicht  über  die  pflanzengeo- 
graphischen Ergebnisse  seiner  191 3/14  in  die 
Sahara  unternommenen  Reise,  die  besonders  der 
Erforschung  des  Tuaregberglandes  diente.  Schon 
Di  eis,  der  auch  die  Sammlungen  dieser  Reise 
bearbeitete,  hatte  auf  starke  Beziehungen  des  Ge- 
bietes nach  Süden  hingewiesen,  obwohl  sich  eine 
ganze  Anzahl  nördlicher  Elemente  in  ihm  vor- 
findet. Immerhin  war  die  Grenze  zwischen  palä- 
arktischem  und  äthiopischem  Pflanzengebiet  noch 
unsicher.  Verf.  glaubt  nun,  obwohl  es  sich  um 
ein  Mischgebiet  handelt,  eine  einfache  Grenze  fest- 
legen zu  können. 

D  r  u  d  e  s  Grenze  ( 1 884)  liegt  zu  südlich,  während 
Ad.  Engler  durch  Acacia  tortilis,  die  er  als 
äthiopische  Leitpflanze  benutzt,  verleitet  wird,  die 
Grenze  zu  weit  nach  Norden  zu  verschieben.  Der 
Verf  hat  auf  der  Reise  die  Nordgrenze  folgender 
südlichen  Holzgewächse  festgestellt:  JVlaerua  cras- 
sifolia  (27"  25'),  Acacia  seyal  (desgleichen),  Bala- 
nites  aegyptiaca  (26"  50'),  Calotropis  procera 
(26*  30')  und  Leptadenia  pyrotechnica  (27"). 

Die  Anschauungen  desVerf.s,  der  den  28.  Breiten- 
grad für  die  ganze  Sahara  als  Grenze  zwischen 
paläarktischen  und  äthiopischen  Gebiet  vorschlägt, 
decken  sich  mit  den  Ausführungen  von  Diels. 
Überdies  paßt  diese  Begrenzung  ziemlich  gut  zu 
einer  älteren,  provisorischen  Ad.  Englers  (1882). 

Diese  Grenze,  im  W  an  der  Wadi  Draa- Mün- 
dung beginnend,  läßt  die  Oasen  von  Tuat  und 
Tidikelt  südlich,  verläuft  am  Rande  der  kretazei- 
schen  Hammaden  über  Temassinin,  die  N  Grenze 
von  Maerua  und  Acacia  seyal  etwas  nördlich,  die 
S-Grenze  von  Retama  raetam  und  einiger  Salz- 
sträucher  nicht  weit  nördlich  lassend.  Im  Süden 
geht  die  Grenze  in  ca.  i"  Abstand  am  Standort 
der  tropischen  Salvadora  persica  —  bei  Afara-n- 
Wechchran  —  vorbei.  Sie  durchschneidet  das 
ehemalige  Mutassarat  Fessan,  Mursuk  und  Nach- 
baroasen südlich  lassend.  Im  O  tritt  der  28.  Breiten- 
grad nördlich  Kufra  in  die  Wüste  ein,  verläuft 
nördlich  der  Oase  Taiserbo  (Salvadora)  zwischen 
den  Oasen  Beharich  und  Farafrah  hindurch,  hier 
mit  E  n  g  1  e  r  s  Südgrenze  der  mediterranen  Sahara 
zusammenfallend.  Östlich  des  Nils  stimmt  diese 
Grenze  gut  mit  Schwein furths  N  Grenze  der 
thebaisch-nubischen  Region  (1868)  überein.  Der 
Djebel  Gareb  mit  Salvadora  bleibt  nördlich.  Der 
Sinai,  dessen  Südspitze  zur  äthiopischen  Region 
gehört,  wird  bei  El  Tor  erreicht.  Weiter  nach  0 
wird  der  28."  als  N-Grenze  besser  aufgegeben. 

Die  Tatsache,  daß  im  nördlichen  Afrika  die 
Grenze    zweier    großer    Florengebiete    so    gerad- 


linig verläuft,  ist  durch  zwei  Umstände  bedingt. 
Einmal  gestattet  die  Pflanzenarmut  des  Gebietes 
und  das  Fehlen  höherer  Gebirge  eine  gerade 
Linienführung,  ohne  den  floristischen  Tatsachen 
Abbruch  zu  tun.  Zweitens  scheint  der  Verlauf 
der  23"  Jahresisotherme  maßgebend  zu  sein,  wenn 
auch  der  28.  Breitengrad  teilweise  etwas  nördlich, 
teilweise  etwas  südlich  gelassen  wird. 

Im  Tuareggebirge  scheinen  die  zeitweilig  unter 
o"  C  liegenden  Wärmeminima  auf  Dattelpalmen 
und  viele  äthiopische  Hochgewächse  einen  merk- 
würdig geringen  Einfluß  zu  haben.  So  litten 
z.  B.  im  Januar  19 14  bei  Gasi  Abu  Retama  raetam 
und  Randonia  africana  nicht  an  ihren  Blüten,  ob- 
wohl die  Temperatur  — 9"  C  betrug.  Eine  direkte 
Anpassung  an  diese  Temperaturen  hält  Verf.  nicht 
für  wahrscheinlich,  zumal  sich  z.  B.  Acacia  albida 
und  Calotropis  des  Tuaregberglandes  nicht  von 
denen  des  weißen  Nils  unterscheiden.  Am  Nicht- 
gefrieren  der  oberirdischen  Organe  haben  wohl 
z.  T.  das  salzhaltige  Zellwasser  der  Halophyten, 
vor  allem  aber  der  geringe  Wassergehalt  und  die 
Trockenheit  der  Wüstenluft  Anteil. 

Über  den  Einfluß  der  Berghöhen  auf  die  ver- 
tikaje  Verteilung  besonders  der  Holzgewächse 
konnten  nur  wenige  Beobachtungen  angestellt 
werden.  So  wurde  Acacia  seyal  bis  1200  m, 
A.  albida  an  geschütztem  Standort  bis  1400  m 
Höhe  beobachtet.  Acacia  tortilis  fand  sich  nicht 
selten  in  der  Umgebung  von  Ideles  mit  Ficus 
teloukat  und  Cocculus  pendulus.  Hoch  hinauf 
steigen  Tamarix  articulata  und  Geyrii,  Ephedra 
altissima,  Capparis  spinosa,  Rhus  oxyacantha  und 
Nerium.  Die  Salzsträucher  Atriplex  halimus, 
Salsola  foetida  und  Anabasis  articulata  wurden 
bei  Ideles  beobachtet.  Bei  der  Quelle  Tahart 
findet  sich  Myrtus  Nivelii,  ca.  100  m  höher 
stehen  dicht  beieinander  Acacia  tortilis,  Ficus 
teloukat,  Myrtus  Niv.  und  Capparis  spinosa.  Im 
Wadi  Oahat  wächst  die  mediterrane  Globularia 
alypum  unterhalb  Acacia  seyal,  tortilis  und  albida, 
Gymnosporia  senegambensis ,  zeigen  sich  Ficus 
teloukat,  Calotropis  und  wenige  Meter  höher  die 
mediterrane  Osyris  alba.  Alle  diese  Arten  schienen 
mit  Rhus  oxyacantha,  Tamarix  Geyrii  und  Cap- 
paris spinosa  durch  die  relativ  günstigen  Wasser- 
verhältnisse auf  so  engem  Raum  vereinigt  zu  sein. 
Ob  Olea  Laperrini  mit  O.  europaea  oder  der 
afrikanischen  O.  chrysophylla  näher  verwandt,  ist 
nicht  bestimmt  zu  sagen. 

».  Es  ist  nicht  immer  leicht  zu  entscheiden,  ob 
eine  alpine  oder  desertische  ^)  Höhengrenze  für 
die  baumartigen  Gewächse  vorliegt.  Acacia  seyal, 
Balanites  aegiptiaca  und  Maerua  scheinen  schon 
bei  Ideles  die  Nordgrenze  zu  erreichen.  Das  Hoch- 
plateau der  Kondia  im  Ahaggargebirge  scheint 
für  sämtliche  von  Natur  im  Tuareggebirge  vor- 
kommende Holzgewächse  schon  ziemlich  weit 
jenseits  der  alpinen  Baumgrenze  zu  liegen. 

S. 


')  Für  Brockmann-Jerosch:  kontinental. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


319 


Der  Bergbau  in  Mexiko. 

Der  Bergbau  in  Mexiko,  der  von  jeher  der 
wichtigste  Zweig  der  mexikanischen  Volkswirt- 
schaft war,  hat,  wie  H.  Fehlinger  in  der  Zeit- 
schrift f.  prakt.  Geologie,  XXVIII,  S.  176  be- 
richtet, trotz  der  politischen  Wirren,  auch  in  den 
letzten  Jahren  Fortschritte  gemacht.  Neben  der 
Silberproduktion  hat  vor  allem  die  Kupferproduk- 
tion zugenommen,  so  daß  Mexiko  in  dieser  Be- 
ziehung an  zweiter  Stelle  in  der  Welt  steht.  In 
den  Jahren  1916 — 191 8  gestalteten  sich  die  Mengen 
(Kilogramme)  der  gewonnenen  mineralischen 
Bodenschätze  wie  folgt: 

1916  1917  1918 

Gold  II 748  23558  25314 

Siber  926142       1306987       1942968 

Blei  19970986     64124752     98837154 

Kupfer  28  41 1248     50985923     70223454 

Antimon  828767       2646544       3  268  54O 

Zinn  292  9214  13537 

Wolfram  12250  187637  149486 

Zink  37449226     14  757  333     20698995 

Graphit  470343  420046       6 190  849 

Quecksilber  —  33 132  163  598 

Mangan  —  73387       2878383 

Arsenik  —  1284  820       1881  Ol  i 

Die  wertvollsten  Bodenschätze  Mexikos  sind 
seine  Erdölvorräte.  Die  Mächtigkeit  der  ölführen- 
den Schichten  am  Golf  von  Mexiko  wird  auf 
mehrere  1000  m  geschätzt.  Die  Petroleumgewin- 
nung belief  sich  1919   auf  92,4  Millionen  Barrels. 

F.  H. 

Die  deutsche  Schabe. 

Die  deutsche  Schabe  kann  heute  als  Kosmo- 
polit betrachtet  werden  (vgl.  Joh.  Wille,  Biolo- 
gie und  Bekämpfung  der  deutschen  Schabe  (Phyl- 
lodromia  germanica  L.),  Beiheft  zur  Zeilschrift  für 
angewandte  Entomologie,  1920).  Sie  ist  haupt- 
sächlich auf  Räume  mit  konstanter  Temperatur 
von  ca.  20"  beschränkt.  Tags  über  sitzen  die 
Tiere  in  den  Verstecken  gegen  das  helle  Licht 
geschützt.  Sie  nehmen  dabei  eine  ganz  typische 
Ruhe-  oder  Lauerstellung  ein,  die  Fühler  schräg 
nach  vorn  oben.  Ais  Spaltweite,  die  den  Tieren 
noch  als  Versteck  oder  als  Durchschlupf  dienen 
kann,  wurde  für  Larven  ca.  i  mm,  für  erwachsenen 
Tiere  ca.  1,5  mm,  für  Weibchen  mit  Kokon 
ca.  3—4  mm  gefunden.  —  Mit  Einsetzen  der 
Dunkelheit  suchen  sie  die  Futterplätze  auf.  Die 
Zeiten  besonderer  Beweglichkeit  sind  5  bis  7*" 
nachm.  und  6'"'  bis  7  vorm.  Der  Beweglichkeits- 
quotient Q  ist  ca.  0,15.1)  Der  Schabe  stehen 
drei  Bewegungsarten  zur  Verfügung:  Laufen, 
Springen,  Flattern.  Der  bei  den  Schaben  allge- 
mein bekannte  Schnellauf,  bis  30  cm/sek.,  findet 
sich  nur  bei  der  Flucht,  sonst  ist  es  ein  langsamer 
Lauf.  Weitere  charakteristische  Bewegungen  für 
die  Schabe  sind  die  Putzbewegungen.  Antennen 
und  Beine  werden  meist  mit  den  Mundwerkzeugen, 

')  Q  ^  Bewegungszeit  dividiert  durch  Ruhezeit. 


alle  übrigen  Teile  des  Körpers  aber  mit  den 
Beinen  geputzt.  Als  Ursache  der  Putzbewegung 
ist,  abgesehen  von  mechanischer  Beschmutzung, 
die  Einwirkung  von  Riechstoffen  und  Gasen  an- 
zunehmen. • —  Die  Nahrungsstoffe,  die  die  Schaben 
mit  ihren  beißenden  Mundwerkzeugen  aufnehmen, 
sind  sehr  mannigfaltig.  Gibt  es  zwar  eine  ganze 
Zahl,  die  verweigert  werden,  z.  B.  Fleisch,  Ge- 
treide, Leder,  Gewebe,  so  gibt  es  doch  keine 
Nahrung,  die  die  Schaben  unbedingt  jeder  ande- 
ren vorziehen.  Besonders  interessant  sind  nun 
die  durch  die  außerordentliche  Scheuheit  der 
Tiere  sehr  erschwerten  Beobachtungen  der  Kopu- 
lation. Dieser  voraus  geht  ein  Liebesspiel,  das 
I  —  I  Vs  Stunden  dauert.  Das  ^  betrillert  mit  den 
Antennen  dem  $  gegenüberstehend  dessen  An- 
tennen. Nach  I  Min.  etwa  erhebt  das  (J  die 
Flügel,  macht  eine  Kehrtwendung  und  bringt  so 
seinen  Hinterleib  möglichst  nahe  an  den  Kopf 
des  $.  Die  freigelegte  Rückendrüse  wird  vom  $ 
berochen,  und  dann  das  Sekret  aufgeleckt,  wobei 
sich  das  Abdomen  des  ^  mehr  und  mehr  streckt, 
bis  es  die  2.  Bauchplatte  des  $  erreicht.  Dann 
beginnt  der  eigentliche  Kopulationsakt.  „Das  ^ 
schnellt  sich,  einige  schnelle  Schritte  rückwärcs 
machend,  nach  hinten  —  die  Trillerbewegung 
wird  wieder  aufgenommen  — ,  die  Enden  beider 
Abdomina  liegen  jetzt  unmittelbar  übereinander." 
Gleichzeitig  werden  die  männlichen  Sexualorgane 
ausgestoßen.  „Der  Titilator  greift  von  unten  her 
zangenartig  an  die  Subgenitalplatte  des  $  an,  zieht 
diese  nach  unten,  und  macht  so  den  Weg  für  die 
Einführung  des  Penis  in  die  Vagina  frei.  Der 
Penis  —  biegt  sich  von  hinten  unten  nach  vorn 
oben  —  um,  und  wird  in  die  Vaginalöffnung 
hineingeschoben." 

Etwa  1 1  Tage  nach  der  Kopulation  beginnt 
die  Bildung  des  Kokons.  Zunächst  dehnt  sich 
der  Querschnitt  der  Hinterleibsmitte,  in  dorso- 
ventraler  Richtung  stark  ausgebuchtet,  aus.  Dann 
tritt  zwischen  den  Hautfalten  der  Subgenitalplatten 
die  Spitze  des  Kokons  hervor.  Das  zunächst  auf 
der  Schmalseite  stehende  Kokon  dreht  sich  dann 
um  90"  nach  rechts  auf  die  Breitseite.  Den  Bil- 
dungsstoff liefern  Drüsenschläuche,  die  an  den 
Gonapophysen  ausmünden.  Durch  das  Anschwel- 
len der  Hautfalten  der  Subgenitalplatte  wird  nach 
innen  ein  Hohlraum  abgeschlossen.  An  der  In- 
nenseite desselben  erhärtet  das  Drüsensekret  zu 
einem  Häutchen,  der  ersten  Kokonkammer,  die 
durch  die  Form  des  Hohlraumes  ihre  charakte- 
ristische Gestalt  aufgeprägt  bekommt.  Nun  tritt 
aus  dem  Eileiter  ein  Ei.  Dies  wird  mit  seinem 
Kopfende  nach  dem  Rücken  des  Muttertieres  zu 
aufgerichtet,  an  die  Wand  des  Kokons  angelegt, 
und  durch  neues  Sekret  in  ein  Eifach  abgeschlos- 
sen. Darauf  kommt  das  nächste  Ei.  Die  Eier 
stellen  sich  immer  alternierend  rechts  und  links 
an  die  Seite  des  Kokons,  wodurch  in  der  Mitte 
die  zickzackförmige  Scheidewand  entsteht.  Dabei 
kommen  die  Eier  des  rechten  Ovars  auf  die  linke 
Seite,  die  des   linken  Ovars   auf  die   rechte  Seite 


320 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  21 


des  Kokons  zu  Hegen.  Nach  24  Tagen  wird  das 
Kokon  abgelegt,  und  eine  halbe  Stunde  später 
schlüpfen  die  ersten  Larven  heraus;  der  Kokon 
platzt  dabei  entlang  der  Zähnchennaht  auf.  Die 
Larven  machen  6  Häutungen  durch  und  brauchen 
vom  Ausschlüpfen  bis  zur  Ausbildung  zur  Imago 
ca.   170  Tage.  . 

Die  Beeinflussung  der  Tiere  und  ihrer  Ent- 
wicklung durch  äußere  Reize  ist  ziemlich  gering. 
Licht  und  Feuchtigkeit  sind  fast  bedeutungslos. 
Wesentlich  sind  nur  die  Temperatureinflüsse.  Das 
motorische   Minimum   liegt    bei   -\- 4"  (Maximum 


+  40").  Die  Kältestarre  tritt  ein  bei  +  2"  (Wärme- 
starre -I-42'').  Das  vitale  Minimum  ist  bei  — 5" 
(Maximum  4-45'')-  Besonders  wirkt  die  ver- 
schiedene Temperatur  beschleunigend  oder  ver- 
zögernd auf  die  Entwicklung.  Sehr  empfindlich 
ist  die  Schabe  auch  gegen  Luftströmungen  (physik. 
Reiz).  Gegen  Hunger  ist  sie  ziemlich  widerstands- 
fähig. Die  (J  sterben  nach  ca.  15,  die  $  nach 
30 — 40  Tagen. 

Als  Bekämpfungsmittel  kommt  neben  Fraß- 
giften besonders  Blausäuredurchgasung  in  Betracht. 

Berlin-Dahlem.  H.  Hofifmann. 


Bücherbesprechungen. 


Pirquet,  Cl., System  derErnährung.  IV.  Teil. 
Berlin  1920,  Springer. 
Abhandlungen  Pirquets  und  seiner  Mit- 
arbeiter aus  dem  Gebiete  der  praktischen  Ernäh- 
rungslehre und  der  Kinderheilkunde.  Pirquet 
bespricht  die  Kontrolle  des  Nährwertes  gekochter 
Speisen,  den  Nährwert  der  Kondensmilch,  die 
Bestimmung  des  Fettgehaltes  der  Speisen  und  die 
Kontrolle  des  Backprozesses.  Von  den  übrigen 
Arbeiten  seien  erwähnt:  Trockensubstanzbestim- 
mungen in  fertigen  Speisen  (Wagner),  Bestim- 
mung des  Nemwertes  aus  dem  spezifischen  Ge- 
wicht (Hecht),  sowie  verschiedene  Ernährungs- 
studien an  Säuglingen  und  kranken  Kindern  von 
Schick,  V.  Gröer,  Zillich  und  Nobel. 

Brücke,  Innsbruck. 


ganz  gelegentlich  auf  eine  zureichende  Erklärung 
der  alchimistischen  Rezepte  einlassen  kann.  Man 
hat  beim  Lesen  des  Buches  oft  den  Wunsch  nach 
ausführUcherer  Darstellung,  was  immerhin  eine 
Seltenheit  bei  Büchern  ist.  Wächter. 


Bein,  Dr.  Willy,  DerStein  derWeisen  und 
die  Kunst  Gold  zu  machen.     Irrtum  und 
Erkenntnis  in  der  Wandlung  der  Elemente,  mit- 
geteilt   nach    den    Quellen    der    Vergangenheit 
und    Gegenwart.      Mit    10   Abb.      Voigtländers 
Quellenbücher   Bd.   88.      Leipzig,   Voigtländers 
Verlag. 
An  der  Hand  von  Auszügen  aus  den  Quellen 
aller  Zeiten  gibt  der  Verf.  ein  übersichtliches  Bild 
über    die    Ziele    und    Entwicklung    der    Alchimie. 
Im    Vorwort    wie    im    Schlußkapitel    „Auf    dem 
Wege   zur  Verwirklichung    der  Stoffumwandlung" 
wird  auf  die    neuen    umwälzenden  Entdeckungen 
in  der  Chemie  hingewiesen,  und  diese  werden  in 
anregender    Weise    in     Zusammenhang    mit    den 
alchimistischen  Bestrebungen  gebracht. 

Der  Inhalt  des  Buches  bietet  sehr  viel  Inter- 
essantes, und  man  muß  nur  bedauern,  daß  wegen 
des  beschränkten  Raumes  manches  manchem  un- 
verständlich   bleiben  muß,    da   sich  der  Verf.  nur 


Loele,   W.,    Hubertusburg,    Die    Phenolreak- 
tion   (A Idaminreaktion)    und    ihre    Be- 
deutung für  die  Biologie.     Leipzig  1920, 
W.  Klinkhardt. 
Im  Anschlüsse  an  histologische  Beobachtungen 
über  eine  elektive  Färbung   einzelner   Gewebsele- 
mente    mit    Reagenzien,    welche    die    Gegenwart 
Phenol-bindender    Substanzen    in    tierischen    und 
pflanzlichen   Zellen    nachweisen  sollen,   stellt   der 
Verf  allerhand  Theorien  auf,  die  jeglicher  Grund- 
lage entbehren.  Brücke,  Innsbruck. 


Lodge,  Sir  Oliver  J. ,  Raymond  ou  la  vie 
et  la  mort.  299  S.  Paris,  Payot.  7,50  Frs. 
Lodge  versucht  durch  spiritistische  Experi- 
mente (Tischrücken,  automatisches  Sprechen  und 
Schreiben  des  Mediums  im  Trancezustand)  aus 
dem  „Jenseits"  Dinge  zu  erfahren,  die  allen  An- 
wesenden unbekannt  sind  und  später  verifiziert 
werden  können.  Die  so  gesammelten  Tatsachen 
sind  samt  und  sonders  banal.  Die  Geister  wären 
demnach  keineswegs  auf  einer  höheren  Wissens- 
stufe als  wir.  Die  Verifikationen  sind  häufig  ge- 
künstelt, nicht  immer  überzeugend.  Auch  ist  in 
den  meisten  Fällen  die  Möghchkeit  nicht  ausge- 
schaltet, daß  die  vom  Geist  gemeldeten  Tatsachen 
doch  im  Unterbewußtsein  den  Teilnehmern  bekannt 
waren.  In  dieser  Hinsicht  ist  Lodge  nicht  ge- 
nügend kritisch.  Warum  unterhält  er  sich  mit 
seinem   gefallenen   Sohn  nicht  über  physikalische 


Probleme  ? 


E.  L  Gumbel  (Berlin). 


Inbalt:  J.  Schuster,  Hundert  Jahre  Phytopaläontologie  in  Deutschland.  S.  305.  Fr.  Nölke,  Über  den  Kreislaufprozeß 
des  Wassers.  S.  310.  J.  Wilhelmi,  Zur  Ausgestaltung  der  Schädlingsbekämpfung.  S.  312.  —  Einzelberichte:  O.  B. 
Böggild,  Neue  Mineralien.  S.  316.  M.  Bamberger  und  K.  Grengg,  Die  Farben  von  Mineralien  und  anorgani- 
schen Stoffen  bei  tiefen  Temperaturen.  S.  317.  H.  Frhr.  Geyr  v.  Schweppenburg,  Zur  Pflanzengeographie  der 
inneren  Sahara.  S.318.  H.  Fehlinger,  Der  Bergbau  in  Mexiko.  S.  319.  Joh. Wille,  Die  deutsche  Schabe.  S.  319. 
—  Bücherbesprechungen:  Cl.  Pirquet,  System  der  Ernährung.  S.  320.  W.  Bein,  Der  Stein  der  Weisen  und  die 
Kunst  Gold  zu  machen.  S.  320.  W.  Loele,  Die  Phenolreaktion  (Aldaminreaktion)  und  ihre  Bedeutung  für  die  Bio- 
logie. S.  320.     Sir  Oliver  J.  Lodge,  Raymond  ou  la  vie  et  la  mort.  S.  320. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  Ton  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  gaiuen  Reihe    36.  Band. 


Sonntag,  den  2g.  Mai  1921. 


Nummer  äS. 


Der  Farbensinn  des  Menschen  und  seine  angeborenen  Störungen. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  W.  Klingelhöffer,  Augenarzt,  Offenburg  i.  B. 


Lassen  wir  durch  einen  ganz  schmalen  Spalt 
in  ein  dunkles  Zimmer  Sonnenlicht  eindringen,  so 
erscheint  es  an  der  gegenüberliegenden  Wand  als 
heller  Streif.  Halten  wir  nun  ein  keilförmiges 
Stück  Glas,  ein  sog.  Prisma,  hinter  den  Spalt,  so 
entsteht  vor  unseren  Augen  eine  der  glänzendsten 
Erscheinungen  der  ganzen  Optik.  Der  farblose, 
helle  Streifen  verschwindet,  aber  etwas  seitlich  von 
ihm  breitet  sich  herrlich  leuchtend,  in  den  Farben 
des  Regenbogens  ein  Band,  das  Spektrum.  Wir 
erklären  uns  das  bekanntlich  so :  Das  Sonnenlicht 
ist  ein  Gemisch  elektromagnetischer  Wellen  der 
verschiedensten  Länge.  Bei  dem  Durchtritt  durch 
den  optisch  dichteren  Glaskeil  vermindern  alle 
ihre  Geschwindigkeit,  alle  werden  daher  gebrochen 
und  nach  der  Basis  des  Prismas  abgelenkt,  aber 
je  kürzer  ihre  Wellenlänge,  um  so  stärker,  so  daß 
sie  sich  nun  genau  nach  der  Wellenlänge  geordnet, 
gefächert,  wie  Oswald  sich  ausdrückt,  neben- 
einander lagern.  Von  diesen  Wellen  vermag  nun 
unser  Sehapparat  die  zwischen  den  Längen  von 
rund  400 — 800  Millimikra  voneinander  zu  unter- 
scheiden als  verschiedene  Seheindrücke,  die  wir 
Farben  nennen.  Wallace  hat  recht,  wenn  er 
sagt,  daß  dieses  Sehen  der  Farben  die  erstaun- 
lichste und  unbegreiflichste  von  allen  Sinnes- 
wahrnehmungen ist.  Wie  gering  auf  der  einen 
Seite  die  Unterschiede  in  den  Wellenlängen.  Es 
handelt  sich  ja  nur  um  Tausendstel  von  Tausendstel- 
millimetern. Wie  groß  auf  der  andern  die  Gegen- 
sätze und  Verschiedenheiten  zwischen  den  im 
Sehapparat  ausgelösten  Wahrnehmungen. 

Der  langwelligste  Teil  des  sichtbaren  Spek- 
trums löst  einen  Eindruck  aus  der  Farbe  gleich, 
die  der  farbentüchtige  Mensch  als  Rot  bezeichnet. 
Daran  schließen  sich  unter  Abnahme  der  Wellen- 
länge: Orange,  Gelb,  Gelbgrün,  Grün,  Blaugrün, 
Cyanblau,  Indigo  und  Violett.  Über  das  Rot  hin- 
aus setzt  sich  das  Spektrum  für  uns  unsichtbar 
noch  weiter  fort.  Diese  ultraroten  Strahlen  wer- 
den als  Wärme  empfunden.  Man  hat  sie  nach- 
gewiesen bis  zu  einer  Wellenlänge  von  0,342  mm. 
Dann  schließt  sich  ein  unerforschtes  Stück  an. 
Mit  einer  Wellenlänge  von  2  mm  beginnend  fol- 
gen danach  die  elektrischen  Wellen,  deren  längste 
von  den  modernen  Großstationen  ausgesendete 
10  000  m  hat.  Auf  das  violette  Ende  folgt  zu- 
nächst noch  ein  unter  günstigen  Bedingungen 
sichtbarer  lavendelfarbiger  Teil,  dann  kommen  die 
chemisch  stark  wirkenden  ultravioletten  Strahlen, 
bis  zu  60  Millimikra.  Auch  hier  klafft  wieder 
eine  unbekannte  Lücke  bis  zu  den  längsten  Röntgen- 
strahlen mit   1,2  Millimikra  Wellenlänge. 


An  jedem  Ende  des  sichtbaren  Spektrums 
gibt  es  einen  Abschnitt,  die  sog.  Endstrecke, 
in  welcher  sich  der  Farben  ton  nicht  mehr  ändert, 
sondern  nur  noch  die  Helligkeit.  So  sieht  der 
Farbentüchtige  am  langwelligen  Ende  von  656  bis 
760,4  ein  immer  dunkler  werdendes  Rot,  am  an- 
dern von  431  bis  397  ein  immer  dunkler  werden- 
des Violett.  Die  hellste  Stelle  des  Spektrums 
überhaupt  sieht  der  Farbentüchtige  in  der  Gegend 
des  Gelb  bei  Wellenlänge  580.  Bringt  man  zwi- 
schen Prisma  und  Auffangeschirm  einen  ent- 
sprechend schmalen  Spalt,  so  kann  man  eine  ein- 
zelne Farbe  aus  dem  Spektrum  für  sich  allein 
darstellen.  Läßt  man  sie  durch  ein  weiteres 
Prisma  gehen,  so  tritt  keine  weitere  Zerlegung 
mehr  ein,  sondern  nur  eine  Ablenkung.  Wir 
haben  eben  eine  sog.  spektrale  Farbe  vor  uns,  ein 
reines  Licht  von  einer  Wellenlänge  und  -Art. 
Derartige  reine  spektrale  Farben  sind  aber  in  der 
Natur  äußerst  selten.  Was  wir  an  Farben  um 
uns  sehen,  die  Pigmentfarben,  setzen  sich  durchweg 
aus  Strahlengemischen  zusammen.  Beide  aber, 
spektrale  und  Pigmentfarben  können  in  unserm 
Sehapparat  genau  die  gleiche  Empfindung  aus- 
lösen. Während  unser  Ohr  ein  Tönegemisch  in 
seine  einzelnen  Bestandteile  aufzulösen  vermag, 
ist  unser  Auge  nicht  imstande,  aus  einem  Licht- 
gemisch die  einzelnen  verschiedenen  Wellenlängen 
gesondert  zu  empfinden.  Eine  Summe  von  Reizen 
vermag  also  in  ihm  einen  einfachen  Eindruck 
hervorzurufen,  worüber  Goethe  in  seinen  Ar- 
beiten über  Farbensinn  strauchelte. 

Man  hat  Apparate  konstruiert,  welche  ge- 
statten, mit  einer  aus  dem  Spektrum  herausge- 
nommenen beliebigen  Strahlenart  die  Hälfte  einer 
Scheibe  zu  beleuchten,  während  die  andere  durch 
ein  willkürlich  zu  änderndes  Gemisch  von  zwei 
oder  drei  Strahlenarten  getroffen  wird.  Nun  hat 
man  versucht  eine  Mischung  zu  finden,  die  dem 
eingestellten  reinen  Licht  genau  gleich  war.  Es 
ergaben  sich  dabei  mehrere  Mischungsgesetze. 

1.  Mischt  man  zwei  im  Spektrum  nahe  zu- 
sammenliegende Strahlenarten,  so  gleicht  die 
Mischung  einer  im  Spektrum  dazwischen  liegenden 
Farbe.  So  gibt  z.  B.  ein  Gemisch  von  Rot  der 
Lithiumlinie  (670)  und  Gelbgrün  der  Thalliumlinie 
(526)  ein  Gelb,  das  etwa  dem  der  Natriumlinie 
(89)  gleicht.  Diese  sog.  Ray  leighsche  Gleichung 
müssen  wir  uns  merken,  denn  sie  spielt  bei  der 
Untersuchung  der  Farbensinnstörungen  eine  große 
Rolle. 

2.  Nimmt  man  Strahlen  aus  dem  kurzwelligen, 
violetten  und  aus  dem  langwelligen,   roten  Ende, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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so  ergibt  das  Gemisch  eine  neue  Farbe,  die  im 
Spektrum  nicht  vorhanden  ist,  aber  gleichsam  ein 
Bindeglied  zwischen  seinen  beiden  Enden  darstellt, 
die  Purpurfarbe.  Nun  kann  man  einen  Farben- 
kreis bilden,  in  welchem  immer  eine  Farbe  in  die 
andere  übergeht.  Z.  B.  Rot  durch  Orange  in 
Gelb,  dieses  durch  Gelbgrün  in  Grün,  dann  folgt 
Grünblau,  Blau,  Violett  und  Purpur,  das  wieder 
in  Rot  übergeht.  Es  lassen  sich  natürlich  noch 
weit  mehr  Farbentöne  herauszählen,  nach  König 
sollte  der  Mensch  i6o  im  Spektrum  unterscheiden 
können.  Nehmen  wir  zu  diesen  bunten  Farben 
noch  die  von  O  s  t  w  a  1  d  als  unbunte  bezeichneten 
Schwarz  und  Weiß  mit  ihren  Übergängen  durch 
Grau,  so  haben  wir  alle  für  unsern  Sehapparat 
unterscheidbaren  Farbenarten  und  können  sie  auf 
einem  Doppelkegel  anbringen,  so  daß  der  Farben- 
kreis einen  Ring  um  die  gemeinsame  Grundfläche 
bildet.  Auf  dem  einen  Kegelmantel  wären  die 
dunkelklaren  Farben,  d.  h.  die  Übergänge  der 
Farben  zu  dem  an  der  Kegelspitze  liegenden 
Schwarz,  auf  dem  andern  die  hellklaren,  d.  h.  die 
Übergänge  zum  Weiß  der  Spitze  anzuordnen.  Die 
Kegelachse  würde  die  Graureihe  zeigen,  während 
auf  den  Kegelschnitten  die  trüben  Farben,  d.  h. 
die  Mischungen  der  bunten  Farben  mit  Grau 
lägen. 

Jede  Farbe  des  Farbenrings  geht  nach  zwei 
Seiten  in  eine  andere  über,  z.  B.  Blau  in  Grün 
und  Rot.  Zwischen  zwei  gegenüberliegenden 
aber  gibt  es  keine  Übergänge.  Es  gibt  kein 
rötliches  Grün  und  kein  gelbliches  Blau. 

Mischt  man  zwei  derartige  sog.  Ergänzungs- 
oder Gegenfarben  im  Mischapparat,  so  erhält  man 
—  und  das  ist  das  dritte  Mischungsgesetz,  das 
wir  uns  merken  wollen  — ,  ein  farbloses  weißes 
Licht.  Hinzufügen  muß  ich,  daß  nur  spektrale 
Gegenfarben  sich  so  verhalten.  Pigmentfarben 
vereinigen  sich  als  Ergänzungsfarben  nur  zu  einem 
unreinen  Grau. 

Zu  erwähnen  sind  ferner  noch  die  vier  sog. 
Urfarben:  ein  Blau  und  ein  Gelb,  die  kein  Rot 
oder  Grün  enthalten  und  ein  Rot  und  Grün  ohne 
Blau  und  Gelb. 

Aus  den  Mischungsversuchen  hat  sich  nun  er- 
geben, daß  sich  alle  Farbentöne,  welche  unser 
Auge  im  Farbenkreis  zu  unterscheiden  vermag, 
herstellen  lassen,  wenn  wir  im  Mischapparat  drei 
Lichter  verschiedener  Wellenlänge  in  verschie- 
denen Verhältnissen  miteinander  vermengen.  Es 
lassen  sich  also  drei  Aichkurven  festlegen,  für  jede 
der  verwendeten  Strahlenarten  eine.  Nach  diesem 
Ergebnis  nennt  man  den  Farbensinn  des  farben- 
tüchtigen Menschen  einen  trichromatischen, 
einen  dreifarbigen;  nur  deshalb,  nicht  etwa  wegen 
der  ähnlich  lautenden  Young-Helmholtz- 
schen  Farbentheorie. 

Diese  Trichromasie  gilt  aber  nicht  für  alle 
Teile  unseres  Sehapparates.  Wenn  wir  mit  klei- 
nen Stückchen  farbigen  Papiers  eine  Gesichtsfeld- 
aufnahme machen,  so  finden  wir,  daß  ein  urrotes 
oder    urgrünes    an    einer   bestimmten   Stelle    der 


Peripherie  uns  auf  einmal  weiß  erscheint.  Urgelb 
und  Urblau  behalten  ihre  Farbe  noch  etwas  länger, 
gehen  aber  dann  ebenfalls  in  Weiß  über.  Wir 
haben  also  in  der  Peripherie  unseres  Gesichts- 
feldes eine  ringförmige  Zone,  in  der  nur  Blau 
und  Gelb  unterschieden  wird.  In  ihr  wären  also 
nicht  mehr  drei,  sondern  nur  zwei  Lichter  nötig, 
um  alle  erkennbaren  Farben  hervorzurufen.  Und 
in  dem  daranstoßenden  Bezirk,  in  dem  auch  Blau 
und  Gelb  farblos  wurden,  genügt  sogar  e  i  n  Licht. 
Das  Farbensystem  ist  also  aus  einem  trichroma- 
tischen zuerst  dichromatisch,  dann  monochroma- 
tisch geworden. 

Etwas  Ahnliches,  wie  das,  was  wir  eben  in  der 
Gesichtsfeldperipherie  jedes  Auges  festgestellt 
haben,  kommt  nun  auch  angeboren  vor  über  das 
ganze  Gesichtsfeld  verbreitet  als  Farben- 
blindheit. 

Treten  wir  von  einer  hellerleuchteten  Straße 
in  einen  dunklen  Raum,  so  sehen  wir  zuerst  gar 
nichts.  Gar  bald  aber  wird  es  heller  und  heller 
um  uns,  ohne  daß  sich  die  Beleuchtung  des 
Raumes  irgendwie  geändert  hätte.  Es  ist  viel- 
mehr eine  Steigerung  der  Empfindlichkeit  unseres 
Sehapparates  eingetreten,  die  sog.  Dunkeladap- 
tation, welche  nach  lo — 15  Minuten  das  50 fache 
des  Ausgangswertes  erreicht.  Ist  die  Dunkelheit 
eine  völlige,  so  erhöht  sich  die  Adaptation  noch 
weiter  im  Laufe  von  ^/j — ^U  Stunden,  bis  auf  das 
500  fache.  Diese  zweite  Steigerung  macht  aber 
der  gelbe  Fleck  nicht  mit.  Darauf  hat  Pari- 
naud die  Theorie  der  Doppelnetzhaut  aufgebaut, 
indem  er  annahm,  daß  den  Zapfen  das  Sehen  im 
Hellen  und  die  Farbenempfindung  zukäme, 
während  die  weit  empfindlicheren  Stäbchen  das 
Dämmerungssehen  vermittelten.  Da  in  den  Außen- 
gliedern der  letzteren  sich  der  rote,  am  Licht 
bleichende  Sehpurpur  findet,  so  hat  man  seine 
Neubildung  als  Ursache  des  zweiten  Stadiums  der 
Dunkeladaptation  auffassen  wollen. 

Blicken  wir  nun  in  einem  dunklen  Zimmer  mit 
einem  dunkeladaptierten  Auge  nach  einem  ganz 
lichtschwachen  Spektrum,  so  sehen  wir  kein  Farben- 
band mehr,  sondern  einen  farblosen  Streifen, 
dessen  einzelne  Teile  verschieden  hell  sind. 

Nun  wird  aber,  wie  uns  Hering  gezeigt  hat, 
die  Helligkeit  einer  farbigen  Empfindung  bestimmt 
durch  den  farblosen,  sowie  durch  Art  und  Größe 
des  farbigen  Empfindungsanteils.  Rot  und  Gelb 
wirken  erhellend,  Grün  und  Blau  verdunkelnd  auf 
die  Helligkeit  der  Gesamtempfindung,  um  so  mehr 
je  stärker  der  farbige  gegenüber  dem  farblosen 
Empfindungsanteil  hervortritt.  Fällt  nun  der  farbige 
Anteil  fort,  so  muß  sich  auch  die  Verteilung  der 
Helligkeit  im  Spektrum  ändern.  Die  hellste  Stelle 
liegt  jetzt  daher  nicht  mehr  in  der  Gegend  des 
Gelb  bei  580,  wo  sie  das  helladaptierte  Auge 
im  farbigen  Spektrum  sieht,  sondern  im  Gelbgrün 
bei  530. 

Ferner  erscheint  das  langwellige  Ende  am 
dunkelsten  und  ist  erheblich  verkürzt.  Es  besteht 
also   eine   sehr  deutliche  Herabsetzung   der  Emp- 


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findlichkeit  für  langwelHge  Strahlen.  Wir  können 
sie  noch  durch  eine  weitere  Erscheinung  nach- 
weisen. Machen  wir  das  Spektrum  etwas  licht- 
stärker, so  daß  Farben  gerade  noch  sichtbar  wer- 
den, so  erscheint  Rot  uns  viel  dunkler  als  Blau, 
während  bei  Helladaptation  das  umgekehrte  der 
Fall  ist.  Man  bezeichnet  dies  als  Purkinj  esches 
Phänomen. 

Diese  drei  Eigenschaften,  die  das  farben- 
tüchtige Auge  bei  Dunkeladaptation 
aufweist,  hat  das  völlig  farbenblinde  Auge 
bei  jedem  Zustand.  Ihm  erscheint  die  Welt  wie 
ein  Bromsilberdruck,  grau  in  grau  oder  vielleicht 
in  verschiedenen  Abstufungen  von  bläulich.  Farben 
gibt  es  für  ein  solches  Auge  nicht,  nur  Hellig- 
keitsunterschiede, aber  diese  erkennt  es  weit 
besser,  als  das  farbentüchtige.  Also  auch  dem 
völlig  Farbenblinden  kommen  die  einzelnen  Far- 
bentöne keineswegs  gleich  vor,  sondern  erheblich 
verschieden,  aber  n u r  in  der  Helligkeit.  Er 
kann  sie  aber  niemals  unterscheiden  von  der 
Grauabstufung,  welche  für  ihn  mit  der  vorgelegten 
Farbe  gleiche  Helligkeit  hat.  So  konnte  ein  in- 
telligenter Musiker,  an  welchem  Hering  die 
ersten  grundlegenden  Feststellungen  über  die 
vöUige  Farbenblindheit  machte,  aus  Papieren,  von 
denen  man  ihm  gesagt  hatte,  daß  sie  farbig 
wären,  das  rote  herausfinden,  „weil  es  am 
dunkelsten  wäre",  dagegen  war  er  niemals  dazu 
imstande,  es  von  einem  bestimmten  Grau  heraus 
zu  suchen. 

Völlig  farbenblinde  Menschen  haben  meist 
herabgesetzte  Sehschärfe,  manchmal  zeigt  auch 
gerade  die  dem  gelben  Fleck  entsprechende  zen- 
trale Stelle  des  Gesichtsfeldes  einen  Ausfall.  Oft 
bestehen  Augenzittern  und  Brechungsfehler.  Helles 
Tageslicht  blendet  den  Monochromaten,  dagegen 
sieht  er  in  der  Dämmerung  besser.  Ob  ihm,  wie 
es  Parinauds  Theorie  verlangt ,  die  Zapfen 
fehlen,  ließe  sich  nur  durch  mikroskopische  Unter- 
suchung eines  völlig  farbenblinden  Auges  nach- 
weisen. 

Während  der  Monochromate  ein  hohes  wis- 
senschaftliches Interesse  hat,  kommt  den  Dichro- 
maten eine  sehr  große  praktische  Bedeutung  zu. 
Dichromaten  (Zweifarbner)  sind  Leute,  bei 
denen  schon  zwei  aus  den  beiden  Enden  des 
Spektrums  gewählte  Lichter  genügen,  alle  für 
sie  unterscheidbaren  Farbentöne  auszulösen.  Sie 
haben  also  nur  zwei  Farbentöne,  die  sie  mit 
der  Schwarzweißreihe  kombinieren  können.  Man 
hat  am  Mischapparat  für  jeden  einzelnen  Farben- 
ton, den  der  Dichromat  unterscheidet,  festgestellt, 
welche  Lichter  zu  nehmen  und  in  welchem  Ver- 
hältnis zueinander  sie  zu  mischen  sind.  Dabei 
ließen  sich  drei  Arten  von  Dichromaten  unter- 
scheiden, von  denen  jeder  eine  der  beiden  Aich- 
kurven  mit  einem  anderen  gemeinsam  hat.  Mit 
anderen  Worten  dürfen  wir  wohl  sagen:  jedem 
dieser  drei  fehlt  von  den  3  Aichkurven 
desTrichromaten  eine  andere,  dem  ersten, 
dem  Protanopen  (die  erste  nicht  sehend),    die  im 


roten  Teil  des  Spektrums  gelegene,  dem  zweiten, 
dem  Deuteranopen,  die  im  Grün  und  dem  dritten, 
dem  Tritanopen,  die  im  Blau.  Die  letzte  Form, 
die  Blaugelbblindheit,  kommt  sehr  selten  zur  Be- 
obachtung, wird  vielleicht  auch  oft  übersehen,  da 
sie  infolge  der  gebräuchlichen  Signalordnung  der 
Eisenbahnen  bedeutungslos  ist.  Vom  Spektrum 
wird  nur  Rot  und  Grün  gesehen,  die  gegenein- 
ander verlaufen,  so  daß  da,  wo  wir  Gelb  sehen, 
eine  farblose  Stelle  liegt. 

Um  so  wichtiger  sind  die  beiden  anderen 
Formen.  Wir  fassen  sie  zusammen  unter  dem 
Namen  der  angeborenen  Rotgrünbhndheit.  Den 
Protanopen,  der  eine  hochgradige  Unterempfind- 
lichkeit für  Rot  hat,  als  Rotblinden,  den  Deute- 
ranopen als  Grünblinden  zu  bezeichnen,  wie  es 
noch  häufig  geschieht,  halte  ich  nicht  für  zweck- 
mäßig, da  ich  aus  Erfahrung  weiß  wie  sehr  diese 
Namen  zu  Irrtümern  verführen.  Beide,  der 
Protanop  und  der  Deuteranop,  sehen  Rot  und 
Grün  nicht  so,  wie  es  der  Farbentüchtige  sieht. 
Bei  3  Vi^/o  der  Männer  wird  diese  Störung  ge- 
funden, bei  Frauen  dagegen  nur  ganz  ausnahms- 
weise. Viele  stellen  sich,  wie  ich  oft  in  der 
Sprechstunde  zu  hören  bekomme,  vor,  daß  ein 
Farbenblinder  etwa  sagt:  „Denken  sie  sich,  ich 
sehe  alles,  was  rot  ist,  grün."  Eine  solche  Auf- 
fassung ist  natürlich  ganz  falsch. 

Es  hat  rechte  Mühe  gekostet,  dahinter  zu 
kommen,  wie  der  Farbentüchtige  die  Farben- 
empfindungen des  Farbenblinden  benennen  würde. 
Dieser  selbst  kann  darüber  nichts  aussagen.  Da 
sein  Fehler  ein  angeborener  ist,  und  er  infolge- 
dessen nie  andere  Farbeneindrücke  empfangen 
hat,  fehlt  ihm  jede  Vergleichsmöglichkeit.  Aus 
den  Untersuchungen  am  Mischapparat,  mit  Ver- 
wechslungsfarben und  namentlich  aus  den  Aus- 
sagen der  seltenen  Fälle  einseitiger  FarbenbUnd- 
heit,  haben  wir  aber  doch  jetzt  sicher  festgestellt, 
daß  der  Rotgrünblinde  anstatt  der  Fülle  der 
Farbentöne  des  Farbentüchtigen  nur  zwei  im 
Spektrum  sieht,  einen  „warmen"  auf  der  lang- 
weUigen  Seite,  der  unserem  Gelb  entspricht,  und 
einen  „kalten"  blauen  auf  der  kurzwelligen.  Beide 
werden  nach  der  Mitte  zu  immer  blasser  bis  zu 
einer  farblosen  Stelle,  dem  neutralen  Punkt,  um 
495  herum,  wo  der  Farbentüchtige  blaugrün  sieht. 
Die  hellste  Stelle  liegt  auch  für  den  Rotgrün- 
bUnden  im  Gelb,  und  zwar  beim  Deuteranopen, 
wie  beim  Farbentüchtigen  bei  600,  für  den  Pro- 
tanopen aber  bei  570.  Von  hieraus  nach  der 
langwelligen  Seite  zu  sieht  der  Rotgrünblinde 
anstatt  gelb,  orange,  rot  nur  ein  immer  dunkler 
werdendes  Gelb.  P'ür  den  Protanopen  ist  dieses 
Gelb  infolge  seiner  bedeutenden  Unterempfind- 
lichkeit für  langwellige  Strahlen  in  der  Gegend 
von  Rot  sehr  stark  mit  schwarz  verhüllt.  Sein 
Spektrum  hört  auch  schon  bei  770  auf  sichtbar 
zu  sein,  während  es  für  den  Farbentüchtigen  und 
Deuteranopen  bis  über  800  hinaus  reicht.  Nach 
der  kurzwelligen  Seite  zu  sehen  die  Rotgrün- 
bUnden  anstatt  gelb,  gelbgrün  und  grün,  ebenfalls 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gelb,  das  immer  blasser  wird,  bis  in  der  Gegend 
des  Blaugrün  völlige  F"arblosigkeit  eingetreten  ist. 
Dann  setzt  ein  zartes  Blau  ein,  das  zunächst 
immer  stärker,  danach  gegen  das  Spektrumende 
dunkler  wird.  Nehmen  wir  an  Stelle  des  Spek- 
trums Pigmentfarben,  so  sieht  der  Deuteranop 
Rot  als  Dunkelgelb,  der  Protanop  empfindet  es 
etwa  5  mal  dunkler,  schwarzgelb.  Das  im  für 
ihn  fehlenden  Teil  des  Spektrums  gelegene  Dunkel- 
rot sieht  er  als  schwarz.  Pigmentblaugrün  ist  für 
beide  grau,  für  den  Protanopen  aber  dunkler. 

Sehr  schön  kann  man  sich  die  Art  der  Far- 
benempfindung der  Rotgrünblinden  am  Anomalo- 
skop  vor  Augen  führen.  Bei  diesem  vorzüglichen, 
von  Nagel  angegebenen  Instrument  wird  die 
untere  Hälfte  einer  Scheibe  mit  spektralem  Gelb 
der  Natriumlinie  (89)  erleuchtet,  dessen  Helligkeit 
sich  durch  Drehen  einer  Schraube  abstufen  läßt. 
Die  obere  Hälfte  erhält  je  nach  der  Stellung  einer 
Schraube  rotes  spektrales  Licht  der  Lithiumlinie 
(670)  oder  spektrales  Grün  der  Thalliumlinie  (526). 
Es  läßt  sich  aber  auch  durch  Vermischung  dieser 
beiden  Strahlenarten  Gelb  hervorrufen.  Der  Unter- 
suchte muß  nun  durch  Verstellung  beider  Schrau- 
ben zu  erreichen  suchen,  daß  die  obere  und 
untere  Hälfte  der  Scheibe  für  ihn  genau  gleich 
gefärbt  und  gleich  hell  wird.  Dabei  zeigt  sich, 
daß  für  die  Rotgrünblinden  sowohl  zwischen  Rot 
und  Gelb,  als  auch  zwischen  Grün  und  Gelb  eine 
Gleichung  herstellbar  ist. 

Das  Spektrum  der  Rotgrünblinden  und  des 
Farbentüchtigen  muß  jeder  im  Gedächtnis  be- 
halten, der  sich  mit  Farbenprüfungen  beschäftigt. 
Nur  so  wird  es  ihm  gelingen,  und  zwar  ziemlich 
leicht,  sich  ein  Verständnis  der  Verwechslungs- 
farben zu  erringen.  Einige  Beispiele  mögen  es 
verdeutlichen : 

Für  den  Farbentüchtigen  wird  aus  Rot  und 
Gelb  Gelbrot.  Der  Rotgrünblinde  sieht  Rot  als 
Dunkelgelb,  ebenso  empfindet  er  Gelbrot. 

Für  den  Farbentüchtigen  wird  aus  Grün  und 
Gelb  Gelbgrün.  Der  Rotgrünblinde  sieht  Grün 
als  Dunkelgelb,  ebenso  empfindet  er  Gelbgrün. 

Er  kann  also  ein  Gelbrot  mit  einem  Grüngelb 
verwechseln,  wenn  beide  für  ihn  gleiche  Hellig- 
keit haben,  da  beide  ihm  Dunkelgelb  erscheinen. 

Grün  und  Blau  gibt  für  den  Farbentüchtigen 
Blaugrün.  Der  Rotgrünblinde  sieht  Grün  als 
Dunkelgelb.  Gelb  und  Blau  sind  Gegenfarben 
und  ergeben  als  Pigmentfarben  Grau. 

Rot  und  Blau  gibt  für  den  Farbentöchtigen 
Purpur.  Für  den  Rotgrünblinden  ist  Rot  = 
Dunkelgelb.  Blau  und  Gelb  ergeben  Grau  als 
Gegenfarben.  Der  Rotgrünblinde  kann  also  Blau- 
grün, Purpur  und  Grau  verwechseln.  Deshalb 
wurde  dieser  Namen  für  ihn  vorgeschlagen. 

Braun  ist  ein  Gemisch  von  Rot,  Gelb  und 
Schwarz,  Oliv  von  Grün,  Gelb  und  Schwarz. 

Setzen  wir  an  Stelle  von  Rot  und  Grün 
Dunkelgelb,  so  wird  es  erklärlich,  warum  Braun 
und  Oliv  Verwechslungsfarben  sind. 

Wieviel    geht    doch   dem   Rotgrünblinden   an 


ästhetischem  Genuß  verloren.  Wie  eintönig  ist 
für  ihn  ein  Blumengarten.  Nur  Blau  und  Gelb, 
dazwischen  Grau,  Weiß  und  Schwarz.  Das  ist 
alles.  Goethe  hat  recht,  wenn  er  sagt,  daß  der 
Rotgrünblinde  die  Landschaft  stets  im  Herbst- 
kleide sähe. 

Wie  ist  es  aber  nun  möglich,  daß  die  meisten 
Rotgrünblinden  von  dieser  Armut  ihrer  Farben- 
empfindung gar  nichts  merken,  ja  daß  sie  auf 
ihren  Defekt  aufmerksam  gemacht,  sich  oft  schwer 
davon  überzeugen  lassen  ?  Einmal  fehlt  ihnen, 
wie  ich  schon  sagte,  jede  Vergleichsmöglichkeit, 
sodann  aber  sind  sie  mit  einer  ganz  ungemein 
feinen  Empfindung  für  Helligkeitsunterschiede 
begabt. 

Ganz  geringfügige  Verschiedenheiten  in  der 
Helligkeit  und  Sättigung  der  Farben,  die  der 
Farbentüchtige  nicht  empfindet,  zum  wenigsten 
nicht  beachtet,  geben  für  sie  wichtige  Anhalts- 
punkte zur  Beurteilung  und  zur  Benennung  der 
Farben.  Und  nun  kommt  das,  was  den  Unkun- 
digen verwirren  muß,  was  ihn  an  unserer  Diagnose 
der  Farbenblindheit  stets  wieder  zweifeln  läßt. 
Er  hört  nämlich  Leute,  die  wir  ihm  als  Rotgrün- 
blind  vorstellen  und  von  denen  wir  ihm  gesagt 
haben,  daß  sie  Rot  und  Grün  nicht  als  solches, 
sondern  als  Gelb  sähen,  dennoch  z.  B.  die  Erd- 
beeren rot  und  ihre  Blätter  grün  nennen.  Wie 
soll  er  aber  glauben  können,  daß  eine  Person,  die 
eine  Farbe  so  wie  er  bezeichnet,  sie  nicht  auch 
wie  er  empfindet?  Dann  würde  sie  doch,  so 
schließt  er,  ihr  auch  einen  anderen  Namen  geben 
müssen.  Er  vergißt  dabei  nur  eins.  Die  Farben- 
blindheit ist  ja  angeboren.  Wenn  das  Kind  den- 
ken lernt,  hört  es,  daß  die  Blätter  grün,  die  Erd- 
beeren rot  sind.  Da  es  natürlich  keine  Ahnung 
hat,  daß  seine  Farbenempfindung  von  der  der 
anderen  IVIenschen  abweicht,  bezeichnet  es  mit 
diesen  gehörten  Namen  die  Farbeneindrücke,  die 
es  davon  bekommt.  Es  fallt  ihm  gar  nichts  da- 
bei auf,  als  daß  es  die  Erdbeeren  so  sehr  viel 
schlechter  findet  als  seine  Kameraden.  Im  Laufe 
der  Jahre  lernen  viele  Rotgrünblinde  die  Farben 
Rot,  Orange,  Gelb,  Grün  usw.  aus  Helligkeits- 
und Sättigungsunterschieden  so  fein  voneinander 
unterscheiden,  daß  es  ihnen  unter  Umständen  ge- 
lingt, vorgelegte  farbige  Stoff-  oder  Papiermuster 
völlig  richtig  mit  Namen  zu  benennen,  namentlich 
dann,  wenn  sie  ihren  Defekt  kennen  und  verheim- 
lichen wollen.  Deshalb  die  alte  Regel,  daß  man 
niemals  während  einer  Prüfung  auf  Farbensinn 
mit  den  Wahlproben  die  Farben  mit  Namen 
nennen  soll,  um  dem  Prüfling  keine  Anhalts- 
punkte zu  geben,  nach  denen  er  sich  richten  kann. 

Also  auch  ein  Rotgrünblinder  kann  Farben, 
trotzdem  er  sie  anders  als  ein  Farbentüchtiger 
empfindet,  mit  denselben  Namen  belegen,  wie 
dieser.  Er  kann,  er  muß  aber  nicht.  Legen 
wir  ihm  einmal  einen  gelbroten  Gegenstand  vor, 
oder  geben  wir  ihm,  wie  dies  bei  einer  Farben- 
sinnprobe gemacht  wird,  einen  gelbroten  Bleistift 
in  die  Hand  und  fordern  ihn  auf^  den  Namen  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Farbe  des  Stiftes  aufzuschreiben.  Ist  er  unbeein- 
flußt, so  wird  er  wohl  dunkelgelb  schreiben,  weil 
er  die  Farbe  so  empfindet.  Aber  es  können  auch 
allerlei  Überlegungen  hineinspielen.  Das  wird 
namentlich  der  Fall  sein,  wenn  es  sich  um  einen 
Eisenbahnbediensteten  handelt,  der  seinen  Fehler 
verheimlichen  möchte.  Dann  wird  er  „Rot" 
schreiben,  oder  aber,  wenn  er  im  Raten  daneben 
haut,  „Grün",  da  ja  beide  Farben  für  ihn  eine 
Abstufung  von  Gelb  sind.  Das  gleiche  gilt,  wenn 
wir  ihm  einen  gelbgrünen  Stift  geben.  Blaugrün 
empfindet  der  Rotgrünblinde  als  mehr  oder  we- 
wiger  dunkles  Grau.  Er  kann  demnach  als  Stift- 
farbe „Grau"  schreiben,  aber  ebensogut  auch  aus 
den  oben  erwähnten  Gründen :  Rot  oder  Grün, 
da  Purpurrot  und  Blaugrün  für  ihn  grau  aussehen. 
Das  gleiche  gilt  für  einen  bläulichroten  Stift.  Bei 
einem  dunkeln  Rot  steht  dem  Protanopen  die 
Wahl  frei  zwischen  Schwarz  oder  Rot.  Für  welche 
der  angegebenen  Benennungsmöglichkeiten  er  sich 
entscheiden  wird,  läßt  sich  nicht  voraussagen,  das 
hängt  von  allerlei  Umständen  ab,  die  teils  in 
Überlegungen  und  Stimmungen  und  Erinnerungs- 
bildern des  Untersuchten,  teils  in  Beleuchtung 
oder  in  der  P'arbe  der  Umgebung  begründet  sind. 
Legt  man  z.  B.  ein  dunkles  und  helles  Gelb  neben- 
einander, so  kann  er  auf  die  Vermutung  kommen, 
das  dunkle  sei  rot,  ein  helles  Rot  neben  einem 
dunklen  könnte  er  dagegen  für  Gelb  halten. 

Als  roten  Faden  in  all  diesen  Wirrnissen  müssen 
wir  uns  immer  wieder  das  Spektrum  vor  Augen 
halten,  wie  es  der  Farbentüchtige  und  wie  es  der 
Rotgrünblinde  sieht,  das  wird  uns  der  beste  Weg- 
weiser sein. 

Es  gab  vor  Jahren  eine  Probe  für  das  Fahr- 
personal auf  der  Strecke  am  Signalmast.  Man 
hielt  sie  allseitig  für  besonders  zweckmäßig,  weil 
sie  gerade  die  Anforderungen  des  Dienstes  an  den 
Farbensinn  so  recht  deutlich  und  einwandsfrei 
wiederzugeben  schien.  Im  Fahrdienst  werden 
verwendet  die  Glaslichter:  Rot,  Grün,  Blau  und 
Gelb.  Die  beiden  letzteren  sieht  der  Rotgrün- 
blinde wie  der  Farbentüchtige,  also  Blau  und  Gelb. 
Das  als  Signal  gebrauchte  Rot  empfindet  er  als 
mehr  oder  weniger  dunkles  Gelb,  das  gebräuch- 
liche Grün  als  weißlich,  da  es  in  der  Nähe  des 
neutralen  Punktes  liegt.  Diese  vier  Lichter  sind 
demnach  auch  für  viele  Rotgrünblinde  verschieden 
genug  voneinander,  um  sie  an  einem  freistehen- 
den Signalmast  bei  der  angestrengten  Aufmerk- 
samkeit, die  der  Prüfling  aufwenden  wird  und 
auch  bei  der  Kürze  der  Untersuchung  aufwenden 
kann,  zu  unterscheiden  und  fehlerlos  zu  benennen, 
zumal  es  sich  nur  um  4  handeln  konnte.  Für 
den  Kundigen  sagt  also  ein  Bestehen  dieser  Sig- 
nalprobe gar  nichts  über  den  Farbensinn  des 
Prüflings  aus.  Ganz  anders  urteilt  der  Laie  und 
mit  ihm  leider  auch  immer  noch  eine  Reihe  von 
Ärzten.  Sie  sagen:  „In  der  Unterscheidung  der 
Hauptfarben  ist  der  Untersuchte  sicher".  Der 
weitere  Schluß  liegt  nahe.  „Da  er  die  im  Dienste 
vorkommenden   farbigen   Signallichter    richtig   zu 


unterscheiden  vermag  und  Mischfarben  (gewöhnlich 
von  ihnen  als  Nebenfarben  bezeichnet)  nicht  ver- 
wendet werden,  so  ist  er  recht  wohl  imstande, 
die  Anforderungen  des  Dienstes  zu  erfüllen." 
Stellen  wir  uns  einmal  in  der  Dunkelheit  auf  eine 
Rampe,  welche  einen  Überblick  über  einen  großen 
Bahnhof  gestattet.  Eine  Unmenge  von  Lichtern 
schimmern  uns  entgegen.  Grell  leuchten  die  einen, 
andere  sind  dunkler  und  wieder  andere  nur  kleinste 
Lichtpünktchen  ganz  in  der  Ferne.  Die  einen 
sind  gelb,  andere  haben  einen  mehr  weißlichen 
Schein.  Aber  von  allen  heben  sich  mit  prächtiger 
Klarheit  für  den  Farbentüchtigen  die  roten  und 
grünen  Signallaternen  ab.  Rauch-  und  Staub- 
wolken oder  Nebelstreifen  können  sie  ihm  wohl 
auf  einen  Augenblick  verdunkeln  oder  ungesättigt 
erscheinen  lassen,  aber  ihr  Rot  bleibt  immer  für 
ihn  Rot,  ihr  Grün  bleibt  Grün.  Nun  wollen  wir 
einmal  einen  Rotgrünblinden  an  seine  Stelle 
bringen.  Er  soll  die  roten  und  grünen,  also  die 
für  ihn  gelben  und  weißen  Lichter  aus  der  Fülle 
der  anderen,  ebenfalls  weißen  und  gelben  Lichter 
herausfinden  noch  dazu,  wenn  er  nicht  weiß,  wo 
er  sie  zu  suchen  hat.  So  ganz  leicht,  sollte  ich 
meinen,  dürfte  diese  Aufgabe  nicht  für  ihn  sein. 
Wird  nicht  jede  Staub-  und  Rauchwolke,  jeder 
Nebel,  welche  die  Sättigung  des  Lichtes  ändern, 
seine  mühsam  errungene  Anschauung  wieder 
völlig  umzustoßen  imstande  sein?  Und  wie  wird 
es  gar  erst  aussehen,  wenn  er  sich  in  eiliger  Fahrt 
dem  Bahnhof  nähert?  Vergessen  wir  doch  nie: 
das  Farbensehen  der  Farbenblinden  erfordert 
geistige  Arbeit,  ist  ein  ewiges  Erwägen,  Bedenken, 
Vergleichen,  Vermuten  und  Schließen.  Wo  aber 
bedacht,  erwogen,  verglichen,  vermutet  und  ge- 
schlossen wird,  da  ist  auch  ein  Irren  möglich. 
Das  Farbenerkennen  des  Farbentüchtigen  dagegen 
ist  ein  automatisches,  unfehlbares,  absolutes.  Es 
ist  völlig  unmöglich  für  ihn  Rot  und  Grün  zu 
verwechseln.  Wie  die  Lider  sich  automatisch 
schließen  beim  Nahen  eines  Gegenstandes  gegen 
das  Auge,  wie  die  Hand  unwillkürlich  zurück- 
zuckt, wenn  ihr  ein  glühendes  Eisen  naht,  so  zuckt 
reflektorisch  die  Hand  des  eingefahrenen,  farben- 
tüchtigen Lokomotivführers,  zur  Stellung  der  Ma- 
schine auf  langsame  Fahrt,  wenn  seine  Netzhaut 
die  Strahlen  eines  roten  Lichtes  treffen. 

Es  wäre  recht  schön,  wenn  die  Rotgrünblind- 
heit die  einzige  Farbensinnstörung  wäre,  welche 
für  den  Bahnbetrieb  von  Wichtigkeit  ist.  Aber 
nun  kommt  noch  das  schwierigste  Kapitel  von  den 
anomalen  Trichromaten,  die  erst  in  den  letzten 
Jahrzehnten  vor  allem  durch  Nagels  Arbeiten 
bekannt  geworden  sind. 

Anomale  Trichromaten  brauchen,  wie 
der  Farbentüchtige,  drei  Lichter  zur  Auslösung 
aller  für  sie  unterscheidbaren  Farbentöne,  jedoch 
in  anderen  Mischungsverhältnissen,  auch  müssen 
die  Unterschiede  größer  sein,  wenn  sie  eine  andere 
Farbenempfindung  auslösen  sollen.  Die  Zahl  der 
Farbentöne,  die  der  Anomale  im  Spektrum  sieht, 
ist  deshalb  eine  geringere.     Den  meisten  kommt 


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ihr  Fehler  während  ihres  ganzen  Lebens  nicht 
zum  Bewußtsein.  Nur,  wer  von  ihnen  Farben- 
umschläge bei  chemischen  Reaktionen  z.  B.  Blau 
und  Violett  bei.  Magensaftuntersuchungen,  das  Auf- 
treten des  Rot  beim  Titrieren  mit  Phenolphthalein, 
oder  zarte  Töne  in  mikroskopischen  Präparaten 
erkennen  soll,  merkt  etwas  davon.  Auch  die 
Unterscheidung  des  zarten  Braun  und  Grün  auf 
Landkarten  macht  Schwierigkeiten.  Aber  größere 
Farbenflächen  z.  B.  die  Wollbündel  bei  der  H  o  Im  - 
g  r  e  e  n  sehen  Wahlprobe  werden  fehlerlos  erkannt. 
Nehmen  wir  aber  die  Farben  unter  kleinen  Ge- 
sichtswinkeln, wie  die  Nag  eischen  Täfelchen  sie 
in  der  aus  diesem  Grunde  vorgeschriebenen  Ent- 
fernung von  70  cm  bieten,  dann  zeigt  sich  der 
Fehler.  Es  besteht  ferner  eine  Verlangsamung 
der  Auffassung,  so  daß  nur  für  einen  Augenblick 
auftauchende  farbige  Lichter  nicht  in  ihrer  Farbe 
erkannt  werden.  Am  Anomaloskop  wird  ein  Rot- 
grüngemisch als  Gelbgleichung  eingestellt,  das 
dem  Farbentüchtigen  deutlich  Grün  beim  Deutero- 
anomalen,  deutlich  Rot  beim  Protanomalen  er- 
scheint. Letzterer  hat  auch  eine  Unterempfind- 
lichkeit für  Rot,  wie  der  Protanop,  so  daß  als 
gleich  ein  sehr  dunkles  Gelb  gewählt  wird.  Sehr 
wichtig  ist ,  daß  alle  Einstellungen  am 
Anomaloskop  höchst  schwankend  er- 
folgen. Was  aber  der  Anomale  eben  als  richtig 
angegeben,  verwirft  er  im  nächsten  Augenblick. 
Vieri ing,  dem  wir  ausgezeichnete  Arbeiten  über 
diesen  Gegenstand  verdanken,  sah  Anomale,  die 
ohne  daß  die  Einstellung  am  Anomaloskop  über- 
haupt geändert  wurde,  beim  Hineinblicken  fort- 
während andere  Farben  angaben,  als  ob  das  In- 
strument eine  selbsttätige  Vorrichtung  zum  Far- 
benwechsel besäße. 

Das  beruht  zum  einen  Teil  auf  der  sehr 
leichten  Ermüdbarkeit  des  Sehapparates 
beim  Anomalen.  Daher  kann  es  kommen,  daß 
derselbe  Untersuchte  bei  guter  Stimmung  und 
Aufmerksamkeit  und  guter  Beleuchtung  fast  dem 
Farbentüchtigen  gleichkommt,  während  er  ermüdet 
und  verstimmt  Fehler  macht,  daß  dem  Unter- 
suchenden die  Haare  zu  Berg  stehen.  Zum 
anderen  Teil  kommen  sie  von  einer  zweiten  Eigen- 
schaft, der  gesteigerten  Kontrastempfin- 
dung. Beim  Farbentüchtigen  wird  der  Eindruck 
einer  Farbe  bekanntlich  wesentlich  beeinflußt  durch 
die  Umgebung.  So  erscheint  ihm  z.  B.  ein  rotes 
Papier  auf  grünem  Grunde  besonders  leuchtend, 
ein  Schwarz  dunkler  auf  weiß.  Frauen,  die  sich 
zu  kleiden  verstehen,  haben  für  diese  Kontrast- 
wirkung ein  sehr  feines,  instinktives  Gefühl.  Bei 
den  anomalen  Trichromaten  ist  diese  Kontrast- 
empfindung ganz  bedeutend  gesteigert.  Stellt 
man  z.  B.  am  Anomaloskop  nebeneinander  Rot 
und  Gelb  ein,  so  erklären  sie  das  Gelb  für  Grün. 
Die  braunen  Punkte  der  Tafeln  von  Abteilung  B 
bei  Nagel  empfinden  sie  neben  den  roten  eben- 
falls als  Grün.  Neben  Grün  kann  Gelb  als  Rot 
angesprochen  werden.  Stehen  mehrere  farbige 
Lichter    von     gleicher    Farbe,     aber     ungleicher 


Helligkeit  nebeneinander,  so  täuschen  sie  oft  ver- 
schiedene Farben  vor. 

Wenn  es  schon  Schwierigkeiten  macht,  selbst 
Ärzte  von  der  Gefährlichkeit  der  Rotgrün  blinden 
für  den  Fahrdienst  zu  überzeugen,  wie  schwer 
wird  es  erst  sein  Laien,  z.  B.  Betriebsräten,  die 
ja  jetzt  in  Preußen  zu  den  Wiederholungsprüfungen 
beanstandeter  Beamten  hinzugezogen  werden  müs- 
sen, nachzuweisen,  warum  selbst  Anomale  ge- 
ringen Grades  für  den  Betrieb  höchste  Gefahr 
bedeuten.  Gewiß  kann  der  anomale  Lokomotiv- 
führer im  täglichen  Leben  alle  Farben  richtig  er- 
kennen. Aber  denken  wir  nur  an  das  Nebenein- 
ander verschieden  farbiger,  verschieden  heller 
Lichter  auf  der  Strecke,  an  die  wechselnden  F"arben 
des  Hintergrundes,  z.  B.  des  Himmels,  namentlich 
um  Sonnenauf-  und  -Untergang,  bei  IVlorgen-  und 
Abendrot,  denken  wir,  daß  in  1000  m  ein  Signal- 
licht unter  einem  Gesichtswinkel  von  20"  er- 
scheint, das  wäre  gleich  einem  Punkte  von  0,04  mm 
Durchmesser  in  40  cm;  dazu  die  Verlangsamung 
des  Erkennens  und  die  leichte  Ermüdbarkeit,  dann 
ist  der  Standpunkt  derjenigen  Augenärzte  ver- 
ständlich, den  auch  ich  teile,  die  jede,  selbst  ge- 
ringe Anomalie  aus  dem  Fahrdienst  entfernt  wis- 
sen wollen. 

Fast  bei  jeder  Nachuntersuchung  werden  noch 
Leute  festgestellt,  die  jahrelang  im  Fahrdienst 
waren  und  mehrere  Kontrolluntersuchungen  un- 
entdeckt  überstanden  haben.  Und  das  sind  nicht 
etwa  nur  Anomale  geringen  Grades,  sondern  sogar 
ausgesprochen  Rotgrünblinde.  Wie  ist  so  etwas 
möglich?  Zum  geringsten  liegt  es  am  Unter- 
suchten. Er  wird  natürlich,  da  es  sich  für  ihn 
um  eine  Lebensfrage  handelt,  seine  Aufmerksamkeit 
aufs  höchste  anspannen,  um  Anhaltspunkte  zu 
finden,  die  ihm  die  Unterscheidung  ermöglichen 
könnten  und  mit  mehr  oder  weniger  Glück  sich 
aufs  raten  legen.  Ich  habe  auch  schon  einen  ge- 
troffen, der  sich  die  Stillin gschen  Proben,  trotz- 
dem sie  nicht  im  Handel  sein  sollten,  verschafft 
und  sie  auswendig  gelernt  hatte.  Man  darf  sie 
also  nicht  der  Reihe  nach  vorzeigen.  Von  einem 
anderen  hörte  ich,  der  sich  auf  die  Na  gelschen 
Tafeln  eingeübt  hatte.  Es  gibt  sogar  in  großen 
Städten  sog.  Simulantenschulen,  die  Unterricht  in 
allen  diesen  Proben  erteilen.  Es  ist  selbst  mög- 
lich am  Anomaloskop  sich  die  Gradeinstellung 
der  Schrauben  zu  merken.  Erwähnen  will  ich 
noch,  daß  auch  das  Gegenteil  vorkommt,  ein 
Vortäuschen  von  Farbenblindheit,  um  vom  Fahr- 
dienst wegzukommen.  Die  Überführung  eines 
solchen  Simulanten  erfordert  oft  sehr  genaue 
Kenntnis  des  Farbensehens. 

Die  Ursache  kann  auch  am  untersuchenden 
Arzt  liegen.  Es  gibt  immer  noch  Ärzte,  welche 
die  Anforderungen  der  Proben  für  übertrieben 
halten,  und  die  deshalb  geneigt  sind  ein  Auge 
zuzudrücken.  So  berichtet  Vierling  von  einem, 
der  den  Farbensinn  durch  Vorhalten  farbiger 
Arzneimittelschachteln  zu  prüfen  pflegte.  Ganz 
abgesehen    von   der    ungeheuren    Verantwortung, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  durch  ein  solches  Vorgehen  der  Unter- 
sucher auf  sich  lädt  —  es  handelt  sich  ja 
um  das  Wohl  und  Wehe  zahlloser  Menschen  und 
um  MilHonenwerte,  tut  er  auch  dem  Prüfling 
einen  sehr  schlechten  Dienst.  Eine  Abweisung 
bei  der  ersten  Untersuchung  ist  ja  gewiß  unan- 
genehm für  den  betreffenden  Bewerber,  aber  er 
hat  ja  noch  das  Leben  vor  sich  und  kann  sich 
einen  anderen  Beruf  auswählen.  Was  aber,  wenn 
er  kurz  vor  der  Anstellung  später  doch  noch  ent- 
deckt wird?  Alles  Geld  für  die  Ausbildung,  alle 
Zukunftsaussichten  sind  verloren.  Wenn  auch 
Frau  und  Kinder  weinend  und  bittend  zu  dem 
Bahnaugenarzt  kommen,  er  muß  seine  Pflicht  tun 
und  die  Existenz  des  Mannes  schädigen.  Wer 
prüft,  soll  die  Proben  genau  nach  Vorschrift 
ausführen,  anscheinend  unwichtige  Änderungen 
haben  oft  die  schwersten  Folgen.  Wer  z.  B.  die 
Nageischen  Täfelchen  dem  Prüfling  in  die  Hand 
gibt,  anstatt  die  vorgeschriebenen  70  cm  Abstand 
einzuhalten,  darf  sich  nicht  wundern,  wenn  ihm 
so  und  so  viel  Anomale  durchschlüpfen. 

Zum  dritten  kann  die  Ursache  an  den  Proben 
selbst  liegen.  Der  zweckmäßigste  Apparat  zur 
Prüfung  des  Farbensinns  wäre  natürlich  das  Ano- 
maloskop,  weil  es  mit  spektralen  variabelen  Lich- 
tern arbeitet.  Aber  es  ist  zu  teuer,  als  daß  seine 
Anschaffung  jedem  Bahnarzte  zugemutet  werden 
könnte.  Wir  müssen  uns  deshalb  mit  den  billige- 
ren Pigmentproben  für  auffallendes  Licht  behelfen. 
Früher  verwendete  man  von  diesen  die  Holm- 
greenschen  Wahlproben,  bestehend  aus  einem 
mit  möglichst  viel  Verwechslungsfarben  ausge- 
statteten Wollsortiment  von  tunlichst  gleichmäßiger 
Beschaffenheit  des  Fadens.  Man  legt  dem  Prüf- 
ling zuerst  ein  hellgrünes  Bündel  vor  und  läßt 
ihn  dazu  solche  von  gleicher,  wenn  auch  etwas 
hellerer  oder  dunklerer  Farbe  hinzusuchen.  Eine 
Benennung  der  Farben  muß  von  selten  des  Arztes 
peinlichst  vermieden  werden.  Der  Rotgrünblinde 
wählt  als  gleichfarbig  graubraune,  graurötliche  und 
graue  aus.  Zu  dem  zweiten  Probebündel,  hellrosa, 
fügt  der  Protanop  blaugraue  und  blaugrüne,  vio- 
lette und  blaue,  der  Deuteranop  blaugraue  und 
graue.  Ein  Vorlegen  von  Bräunlichgrau  beschließt 
die  Prüfung.  Meist  wird  dazu  als  gleichfarbig 
grün  angegeben.  Die  Probe  ist  sehr  gut,  solange 
man  nur  Farbenblinde  damit  feststellen  will, 
zur  Erkennung  der  Anomalen  müssen  ungesättig- 
tere Farben  in  größerer  Anzahl  unter  kleinem 
Gesichtswinkel  geboten  werden.  Zur  Zeit  sind 
von  der  Behörde  die  Nageischen  Täfelchen  vor- 
geschrieben, auf  welchen  als  Verwechslungsfarben 
bläulichrote,  bläulichgrüne  und  graue  Punkte  von 
sehr  verschiedener  Helligkeit  zu  Kreisen  ange- 
ordnet sind.  Der  Prüfling  muß  in  70  cm  Ab- 
stand (!1)  die  roten  Punkte,  danach  die  gleich- 
farbigen Ringe  auffinden.  Einige  weitere  Tafeln 
dienen  zur  Feststellung  der  abnormen  Kontraste. 
Vierling  hat  in  letzter  Zeit  vorgeschlagen,  diese 
Probe  zuerst  vorzunehmen,  da  es  mit  ihr  gelingt, 
82  %  der  Rotgrünblinden ,  64  der  Anomalen  so- 


fort festzustellen.  Schon  vorher  hatte  S tillin g 
seine  auf  gleichem  Prinzip  beruhenden  pseudoiso- 
chromatischen Tafeln  angegeben.  Bei  ihnen  sind 
auf  einem  mit  verschiedenfarbigen  verschieden 
hellen  Tupfen  bestehenden  Grund  aus  anders- 
farbigen, ebenfalls  verschieden  hellen  Tupfen  zu- 
sammengesetzte Zahlen  angebracht,  die  der 
Farbentüchtige  anstandslos  erkennen  kann,  wäh- 
rend sie  sich  den  P'arbenuntüchtigen  mit  den 
Verwechslungsfarben  des  Grundes  verwischen  und 
unlesbar  werden.  Ebenso  ist  es  bei  den  Podesta- 
schen Tafeln,  nur  daß  anstatt  der  Zahlen  einfar- 
bige Worte  gewählt  sind,  mit  denen  sich  ein 
anderes  Wort  durchsetzt.  Nur  dieses  ist  für  den 
F^arbenuntüchtigen  lesbar,  das  Grundwort  nicht. 
Da  der  Untersuchte  auf  jeden  Fall  ein  Wort  liest, 
glaubt  er,  daß  er  die  Prüfung  bestehen  wird  und 
verliert  den  Mut  nicht.  Gegen  jede  der  auf  dem 
gleichen  Prinzip  der  Verwechslungsfarben  beruhen- 
den fixen  Pigmentproben  im  auffallenden  Licht 
läßt  sich  ein  grundsätzliches  Bedenken  erheben. 
Die  Farbe  des  gelben  Flecks  ist  nicht  nur  bei 
den  einzelnen  Menschen  verschieden,  sondern  kann 
es  auch  für  beide  Augen  von  einem  sein.  Die 
Linse  bekommt  eine  immer  mehr  zunehmende 
Gelbfärbung,  die  bei  beiden  Augen  und  noch 
mehr  bei  verschiedenen  Menschen  schwankt. 
Nach  Heß  wird  mit  27  Jahren  ^lo  bis  V«.  mit 
55  Jahren  aber  -/a  des  blauen  Lichtes  durch  sie 
aufgesaugt.  Das  wird  sich  natürlich  bei  der  Be- 
trachtung von  Farben  äußern.  Dazu  kommt  noch 
die  Verschiedenheit  der  jeweiligen  Belichtungs- 
farbe, die  abhängig  ist  von  der  Farbe  und  Be- 
wölkung des  Himmels,  von  der  Beschaffenheit  der 
Wände  und  Decke  des  Zimmers.  Sie  ist  anders 
am  Fenster,  anders  in  der  Zimmermitte.  Um 
diesen  wechselnden  Verhältnissen  entgegenzuarbei- 
ten, sodann  auch,  weil  doch  eine  genauste  Gleich- 
heit der  Farben  mit  der  Vorlage  und  in  den  ein- 
zelnen Exemplaren  technisch  nicht  durchzuführen 
wäre,  hat  man  bei  den  Tafeln  sehr  große  Ab- 
wechslungen in  der  Lichtstärke  vorgenommen,  um 
so  zu  erreichen,  daß  möglichst  viele  Farben- 
untüchtige eine  für  sie  passende  Gleichung  finden. 
Trotzdem  wird  es  aber  doch  ab  und  zu  bei  einem 
Fall  nicht  erzielt  werden  und  ein  Versager  ein- 
treten. 

Ein  Stück  graues  Papier  auf  eine  farbige  Unter- 
lage gelegt  und  mit  Florpapier  bedeckt,  erscheint 
in  der  Gegenfarbe.  Darauf  fußt  die  jetzt  kaum 
mehr  angewandte  Methode  der  Farbensinnprüfung 
von  Pflügger,  bei  der  graue  Buchstaben  ver- 
schiedener Größe  auf  verschiedenfarbigen  Unter- 
grund gedruckt,  von  ein  oder  zwei  Florpapieren 
bedeckt  werden.  Rotgrünblinden  werden  die 
Buchstaben  in  roten  und  grünen  Kontrastfarben 
nicht  lesbar  sein.  Danach  gab  C  o  h  n  sein  pur- 
purrotes Täfelchen  bedruckt  mit  E  in  verschiedener 
Stellung  heraus.  Mit  Florpapier  überdeckt,  sind 
dieselben  von  den  meisten  Rotgrünblinden  und 
Anomalen  nicht  zu  entziffern,  doch  kommen  auch 
entgegen  Cohns  Angabe  Versager  vor.     Unge- 


328 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


mein  belehrend  über  das  Studium  der  Ver- 
wechslungsfarben ist  die  Farbstiftprobe,  nament- 
lich in  der  Verbesserung  durch  Vi  erlin  g.  Der 
Prüfling  muß  mit  farbigen  Stiften,  die  ein  unge- 
färbtes Holz  besitzen,  einen  Probestrich  machen 
und  daneben  schreiben,  wie  er  dessen  Farbe  be- 
nennt. Bevor  der  nächste  Stift  genommen  wird, 
ist  das  Vorhergeschriebene  zu  verdecken.  Sogar 
die  Kontraste  der  Anomalen  lassen  sich  so  ur- 
kundlich festlegen.  Gerade  diese  Niederschriften 
mit  ihren  fehlerhaften  Bezeichnungen  der  Farben 
wirken  auf  Laien  weit  überzeugender,  als  sogar 
das  Anomatoskop.  Ich  habe  sie  seit  vielen  Jahren 
deshalb  gerne  angewendet. 

Ein  vorzügliches  Instrument  ist  auch  die  von 
Vierling  verbesserte  Nage  Ische  Lampe.  Vor 
einem  Auerbrenner  lassen  sich  in  einer  Recoß- 
schen  Scheibe  eingesetzte  runde  Gelatinefolien 
drehen,  teils  einfarbige,  teils  solche,  die  auf  der 
einen  Hälfte  rot,  auf  der  anderen  gelb,  oder  grün 
und  gelb,  oder  blaugrün  und  grau  sind.  Durch 
Veränderung  der  Helligkeit  gelingt  es  selbst  für 
geringe  Anomalien  Gleichungen  herzustellen.  Auch 
diese  Probe  ist  besonders  geeignet,  um  Laien  zu 
überzeugen.  In  neuster  Zeit  hat  v.  Heß -Mün- 
chen, der  ja  durch  seine  schönen  Arbeiten  über 
den  Farbensinn  der  Tiere  bekannt  ist,  einen  neuen 
Weg  beschritten,  in  dem  er  sich  variabeler  Lichter 
bediente,  die  durch  farbige  Glaskeile  erzeugt  wer- 
den. Es  gelingt  mit  einem  einfachen  Apparat 
ein  Rot  von  gelbrot,  durch  reines  Rot  nach  blau- 
rot überzuführen.  Durch  Übereinanderschieben 
eines  blaßgelben  und  blaßblauen  Keils  kann  Gelb- 
grün  durch  Gelb  zu  Blaugrün  abgeändert  werden. 
Diese  Keile  werden  durch  ein  kleines  Loch  be- 
trachtet. Durch  Verschieben  und  gleichzeitiger 
Änderung  der  Belichtung  lassen  sich  zwischen 
ihrer  Farbe  und  der  Fläche,  in  welcher  sich  das 
Loch  befindet,  Gleichungen  herstellen.  Der  neue 
Apparat  gestattet  ferner  noch  die  Prüfung  des 
Lichtsinnes,  sowie  Untersuchungen  des  Gesichts- 
feldes auf  Farbengrenzen.  Heß  neuste  Arbeiten 
künden  noch  viele  hochwichtige  und  interessante 
Ausblicke  an. 

Es  gibt  auch  eine  objektive  Methode  zur 
Untersuchung  des  Farbensinns,  die  aber  nur  wis- 
senschaftlichen Wert  hat.  Bekanntlich  hat  unsere 
Pupille  einen  ungemein  feinen  Muskel-  und  Nerven- 
apparat, der  sie  bei  Zunahme  der  Helligkeit  ver- 
engert, bei  Abnahme  erweitert.  Sachs  gelang 
es    die    „motorische   Valenz"    der    verschiedenen 


Lichter  auf  die  Pupillenweite  festzustellen.  Heß 
hat  diese  Untersuchungsart  ausgebaut  und  im 
Dififerentialpupilloskop  ein  Instrument  angegeben, 
welches  gestattet  im  raschen  Wechsel  farbige 
Lichter  und  meßbar  variabele  der  Graureihe  auf 
die  zu  untersuchende  Pupille  wirken  zu  lassen. 
Er  konnte  so  die  Verringerung  des  Reizwertes 
vom  Rot  bei  Protanopen  (0,7)  und  bei  Total- 
farbenblinden (unter  0,055)  gegen  5  bei  Normalen 
und  Deuteranopen  objektiv  nachweisen.  Blau 
hatte  bei  Totalfarbenblinden  einen  viel  höheren 
Reizwert. 

Die  Untersuchung  auf  Farbensinn  ist  meiner 
Ansicht  nach  etwas  sehr  Schwieriges,  das  viel 
Kenntnis  und  Übung  erfordert.  Ich  würde  es 
nie  wagen,  aus  dem  Ergebnis  einer  Pigment- 
probe ein  Gutachten  abzugeben.  Und  deshalb 
bin  ich  seit  langem  der  Ansicht,  daß  jeder,  der 
in  den  Fahrdienst  eintreten  will,  sofort  bei  der 
ersten  Untersuchung  mit  äußerster  Strenge  und 
von  einem  geübten  Bahnaugenarzt  mit  mehreren 
Proben  zu  prüfen  ist,  und  daß  der  Bewerber  bei 
dem  geringsten  Zweifel  abgewiesen  werden  muß. 
Der  Passus,  daß  der  Farbensinn  ■  zwar  nicht  ganz 
normal  ist,  aber  für  den  Dienst  genügt,  muß  ver- 
schwinden. 

Wir  haben  zurzeit  Überfluß  an  Menschen,  wir 
dürfen  deshalb,  wir  können  streng  sein.  Ge- 
rade jetzt,  wo  eine  einheitliche  Untersuchungs- 
ordnung für  das  ganze  Reich  ausgearbeitet  wird, 
wäre  der  richtige  Zeitpunkt  zu  dieser  Änderung 
gegeben.  Mit  ihrer  Einführung  garantieren  wir 
die  größtmöglichste  Sicherheit  des  Betriebs.  Wir 
vermeiden  jede  Härte.  Es  fallen  die  strittigen 
Grenzfälle  weg,  die  der  eine  als  noch  genügend 
beurteilt,  der  andere  als  untauglich,  und  damit  die 
ärgerlichen  Prozesse  mit  ihren  Anschuldigungen 
der  Ärzte  und  Einmischungen  der  politischen 
Faktoren.  Es  fallen  die  Simulantenschulen,  da  es 
sich  nicht  rentiert  einen  jungen  Menschen  ein- 
paucken  zu  lassen,  vor  allem  wenn  er  noch  gar 
nicht  weiß,  daß  er  eine  Farbensinnstörung  hat. 
Und  schließlich ,  die  Bahnaugenärzte  bleiben  in 
ständiger  Übung.  In  der  sonstigen  augenärztlichen 
Tätigkeit  kommen  ja  Untersuchungen  auf  Farben- 
sinn fast  nie  vor.  Was  nützt  aber  das  größte 
Interesse,  was  nützen  die  vielen  Proben  und  Appa- 
rate, wenn  nur  alle  Monat  höchstens  eine  Farben- 
sinnprüfung vorzunehmen  ist  ?  Wo  soll,  wo  kann 
die  nötige  Erfahrung  herkommen.^ 


Zur  Wüuschelnitenfrage. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Dr.  Axel   Schmidt, 

Das  Streben  und  oft  geäußerte  Verlangen 
der  Wünschelrutengänger,  ebenso  wie  sonstige 
freie  Berufsarten  durch  ein  amtliches  Befähigungs- 
zeugnis anerkannt  zu  sein,  um  sich  gegen  die 
wilden,  nicht  „amtlich  beglaubigten"  Rutengänger 


Landesgeologe  in  Stuttgart. 

ZU  schützen,  die  auf  Dummheit  und  Leichtgläubig- 
keit bauend,  den  Säckel  ihrer  Mitmenschen  zu 
ihrem  eigenen  Vorteil  erleichtern,  dürfte  wohl  in 
absehbarer  Zeit  in  Deutschland  kaum  erfüllt  wer- 
den.     In    dieser  Erkenntnis    haben    auch   die  im 


i 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


329 


„internationalen  Verein  der  Wünschelrutenforscher" 
vereinigten  Rutengänger  für  sich  eine  Prüfung  ein- 
geführt, nach  deren  Bestehen  der  Prüfling  seitens 
des  Vereins  ein  Patent  erhält,  in  dem  ihm  be- 
kundet wird,  daß  er  „auf  Wasser  geprüft"  oder 
„für  alle  Forschungen  anerkannt"  ist.  Unter  diesem 
,,alle"  verstehen  die  Rutengänger  alle  die  Stoffe, 
welche  nach  ihrer  Meinung  die  Rute  zu  beein- 
flussen vermögen,  also  etwa  Stein-  und  Braunkohle, 
Erdöl,  Salz,  Kali,  Mineralquellen  und  das  große 
Heer  der  Erze. 

Ein  weiteres  Verlangen  der  Rutengänger  geht 
dahin,  auch  von  der  Wissenschaft  anerkannt  zu 
werden  und  nicht  von  ihr  mit  Achselzucken,  Spott 
und  Hohn  unter  völliger  Brüskierung  abgetan  zu 
werden  und  unbeachtet  zu  bleiben.  Namentlich  ver- 
langen die  Rutengänger  von  der  Geologie  als 
derjenigen  Wissenschaft,  in  deren  Forschungsbe- 
reich sie  sich  bisher  am  meisten  betätigt  haben, 
Anerkennung  oder  mindestens  Beachtung.  Sie 
verkennen  aber  hierdurch  den  P'orschungsbereich 
dieser  Naturwissenschaft,  die  wohl  über  Erfolg 
oder  Mißerfolg  einer  Rutenansage,  über  die  Mög- 
lichkeit, ob  an  einer  von  der  Rute  bezeichneten 
Stelle  oder  in  einer  vom  Rutengänger  angegebenen 
Tiefe  bestimmte  Stoße  lagern  können,  ein  Urteil 
zu  fällen  vermag,  aber  nie  über  den  Wert  oder 
Unwert  der  Rutenansage  im  allgemeinen.  Am 
allerwenigsten  vermag  der  Geologe  über  den 
einzelnen  Rutengänger  ein  Urteil  abzugeben  oder 
sich  gar  darüber  zu  äußern,  welche  Eigenschaften 
den  Menschen  zur  Rutengängerei  befähigen  und 
welcher  Mensch  diese  befähigenden  Eigenschaften 
besitzt  oder  nicht. 

Diese  letzten  Punkte  unterliegen  der  Entschei- 
dung des  Mediziners,  des  Neurologen,  bzw.  des 
Psychiaters.  Es  war  daher  auch  mit  Freuden  zu 
begrüßen,  daß  anläßlich  des  Nürnberger  Ruten- 
gängertages ein  Vertreter  der  Erlanger  medizini- 
schen Fakultät, Privatdozent  Oberarzt  Dr. G.Ewald, 
erschienen  war.  Dieser  äußert  sich  über  seine 
Eindrücke  und  Beobachtungen  jetzt  in  der 
Münchener  medizinischen  Wochenschrift  —  192 1, 
Nr.  4  vom  28.  Jan.  —  und  sagt  am  Schluß :  „Wenn 
man  an  das  Wünschelrutenproblem  von  selten  der 
Wissenschaft  nicht  recht  heran  mag,  so  liegt  dies 
keineswegs  nur  an  einem  dogmatisch  starren 
Standpunkt,  an  einem  Nichtwollen  der  Wissen- 
schaftler. Die  größere  Schuld  liegt  bei 
den  Rutengängern  selbst,')  die  durch  ihre 
oft  unbewußt  übertriebenen,  so  grotesken  Re- 
aktionen (natürlich  auch  durch  ihre  schauderhafte 
psychopathische  Gefolgschaft)  den  exakten  Wissen- 
schaftler abschrecken  müssen.  Sieht  er,  daß  ihm 
immer  wieder  die  Psyche  des  Rutengängers  in 
die  Parade  fährt  und  exakte  Beobachtungen  stört, 
so  wird  die  Freude  an  wissenschaftlicher  Be- 
schäftigung mit  dem  Problem  stets  eine  sehr  ge- 
ringe bleiben." 

Diese   Ablehnung  ist   im  Interesse   der   Sache 


')  Vom  Verfasser  jicht  gesperrt. 


bedauerlich,  aber  verständlich,  wenn  man  den  Be- 
richt des  Herrn  Dr.  Ewald  gelesen  hat.  Da 
aber  der  Geologe,  der  nur  die  Erfolge  oder  Miß- 
erfolge einer  Rutenansage  zu  prüfen  hat,  sich 
weniger  um  die  Psyche  des  Rutengängers  zu 
kümmern  braucht,  ja  die  Person  des  Rutengängers 
völlig  unbeachtet  lassen  kann,  so  hat  sich  die 
völlige  Ablehnung  der  Wünschelrute  seitens  der 
Geologie  in  den  letzten  Jahren  gewendet  und 
selbst  die  preußische  geologische  Landesanstalt, 
die  noch  vor  wenigen  Jahren  von  „Rutenwahn" 
und  „Unfug"  durch  ihre  Beamten  sprechen  ließ, 
hat  ihren  ablehnenden  Standpunkt  aufgegeben 
und  jetzt  nicht  nur  in  den  von  sämtlichen  deut- 
schen geologischen  Landesanstalten  bearbeiteten, 
aber  von  ihr  herausgegebenen,  offiziellen,  jähr- 
lich erscheinenden  „Geologischen  Literaturbericht" 
einen  besonderen  Abschnitt  „Wünschelrute"  auf- 
genommen, sondern  hat  sich  sogar  jüngstens  an 
einer  Prüfung  von  Rutengängern  amtlich  beteiligt. 

Die  geologische  Wissenschaft  Deutschlands 
steht  also  damit  der  Wünschelrute  nunmehr  nicht 
mehr  feindlich  und  ablehnend,  sondern  teils  kühl 
und  unparteiisch  prüfend,  teils  sogar  anerkennend 
und  zustimmend,  gegenüber,  je  nach  den  Er- 
fahrungen des  einzelnen  und  der  Gelegenheit,  die 
er  hat,  bzw.  gehabt  hat,  in  seinem  eigenen  Ar- 
beitsgebiet Rutengängern  zu  begegnen  oder  ihre 
Ansagen  nachprüfen  zu  können.  Dies  wird  be- 
sonders bei  denjenigen  Geologen  der  Fall  sein, 
welche  im  norddeutschen  Flachlande  arbeiten. 
Denn  dort  treten  die  Rutengänger  vornehmlich 
auf,  während  sie  in  den  Mittelgebirgslandschaften 
Mittel-  und  Süddeutschlands  sich,  bisher  wenigstens, 
weniger  betätigt  zu  haben  scheinen.  Vielleicht 
mögen  die  großen  und  allseits  bekannten  Mißer- 
folge des  bekannten,  verstorbenen  Rutengängers 
von  Bülow-Bothkamp  im  Eichsfelde  sie  ab- 
schrecken, ihre  Rutenkunst  im  Gebirgslande  zu 
versuchen.  Die  gegenüber  anderen  Tagungen 
geringere  Besuchszififer  der  Nürnberger  Versamm- 
lung spricht  für  mich  auch  aus,  daß  namentlich 
weniger  erfahrene  Rutengänger  das  Gebirgsland  in- 
stinktiv meiden.  Auch  bewies  mir  bei  den  auf  dieser 
Tagung  veranstalteten  Vorführungen  und  Prüfungen 
die  Unzahl  der  gewünschelten  Stoffe  (z.  B.  Kali, 
Steinkohle  I),  die  gerade  von  weniger  erfahrenen 
Rutengängern  gewünschelt  wurden,  daß  sie  im 
Gebirgslande  noch  wenig  Erfahrung  besitzen. 
Auffallend  war  auch  bei  den  Vorführungen  am 
Dutzendteich  und  in  Schweinau,  daß  sehr  viele 
norddeutsche  Rutengänger,  offenbar  verleitet  durch 
die  Ähnlichkeit  der  Landschaftsform  und  des 
Vegetationsbildes  der  Nürnberger  Keuper(Burg-)- 
sandsteinlandschaft  (öde  Kiefernforsten  mit  Heide- 
krautbeständen) mit  einer  norddeutschen  Land- 
schaft, etwa  einer  märkischen  Heide,  Grundwasser- 
verhältnisse und  -Tiefen  des  norddeutschen  Flach- 
landes vor  sich  zu  haben  glaubten  und  demge- 
mäß fast  durchweg  zu  geringe  Tiefenangaben 
machten. 

In  Mittel-  und  Süddeutschland  liegen  auch  die 


330 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


Verhältnisse  für  eine  Betätigung  der  Rutengänger 
auf  ihrem  bisherigen  Hauptbetätigungsgebiet,  dem 
des  Wassersuchens  wenig  günstig.  Denn  die  Ge- 
steinsschichten, die  Wasser  führen  und  Quellhori- 
zonte sind,  kennt  nicht  nur  der  örtlich  bekannte 
Brunnenbauer,  sondern  auch  der  Eingesessene,  der 
seine  Scholle  selbst  bebaut,  sehr  genau  und  weiß, 
ob  und  wo  er  mit  der  Möglichkeit  rechnen  kann, 
Wasser  anzutreffen.  So  sind  Fälle,  wo  Ruten- 
gänger sich  in  Württemberg  betätigt  haben,  nur 
recht  spärlich,  und  wo  sie  abweichend  von  den 
bisherigen  Erfahrungen  Wasser  gefunden  zu  haben 
glaubten ,  haben  Bohrungen  und  Aufgrabungen 
nach  ihren  Angaben  m.  W.  stets  zu  Mißerfolgen 
geführt  (z.  B.  Horb  a.  N.  beim  Josephskäppelle, 
Sulz  a.  N.  beim  Viehhaus  und  am  Pfauhof,  Korn- 
thal, Feuerbach).  Ein  Fall  sei  aber  ausführlicher 
besprochen,  weil  er  zeigt,  daß  selbst  gewiegte  und 
erfahrene  Rutengänger  den  Ausschlag  ihrer  Rute 
falsch  deuten:  In  R.,  einer  Stadt  am  Fuße  der 
Alb,  brauchte  Herr  Fabrikbesitzer  F.  zur  Ver- 
größerung seines  Betriebes  reichlich  Wasser,  und 
zwar  von  weicher  Beschaffenheit.  Der  herbeige- 
zogene Rutengänger  bezeichnete  nach  Bericht  des 
Herrn  F.  in  Fabriknähe  neben  anderen  besonders 
zwei  Stellen  als  geeignet,  wo  in  38 — 40  m  Tiefe 
Wasser  vorhanden  sein  sollte.  Man  bohrte,  traf 
aber  in  den  in  der  angegebenen  Tiefe  anstehen- 
den Liasthonen  und  -Schiefern  keinen  Tropfen 
Wasser  an.  Auf  Anraten  des  nochmals  herbei- 
gezogenen Rutengängers,  der  wieder  an  den 
gleichen  Stellen  besonders  kräftige  Reaktionen 
hatte,  bohrte  man  zunächst  bis  auf  etwa  65  m. 
Auf  eine  erneute  briefliche  Anweisung  des  Ruten- 
gängers bohrte  man  noch  weiter  und  stellte  die 
Bohrung  erst  in  126  m  ohne  Erfolg  ein.  Die 
Bohrung  stand  in  dieser  Tiefe  in  den  untersten 
Knollenmergeln  des  Keupers.  Um  Wasser,  und 
zwar  hartes  Wasser  zu  erhalten,  hätte  man  nur  noch 
den  dort  etwa  25 — 30  m  mächtigen  Stubensand- 
stein durchsinken  müssen.  Die  Angabe  der  Rute 
ist  also  ein  glatter  Versager  auf  Wasser  gewesen, 
was  mir  auch  Dr.  P.  Beyer,  der  jetzige  Vor- 
sitzende des  Vereins  der  Wünschelrutenforscher 
bestätigte,  war  aber  an  sich  vielleicht  nicht  unbe- 
gründet. Denn  die  Bohrung  hat,  wie  ich  aus  den 
Meter  für  Meter  aufgeholten  und  aufbewahrten 
Bohrproben  ersehen  konnte,  in  der  angegebenen 
Tiefe  von  38  m  die  Ölschiefer  des  Lias  a  durch- 
sunken.  Die  Rute  hat  also  möglicherweise  auf 
das  Bitumen  des  Olifex-Schieferhorizontes  reagiert, 
und  der  Rutengänger  kann  aber  diese  Reaktion 
auf  Wasser  gedeutet  haben !  Eine  Anfrage  meiner- 
seits an  den  Rutengänger,  ob  er  diese  Verwechs- 
lung der  Deutung  seiner  Rutenausschläge  bei  sich 
für  möglich  halte,  blieb  in  diesem  Hauptpunkt 
bezeichnenderweise  unbeantwortet. 

Damit  komme  ich  zu  einem  nicht  unwichtigen 
Punkt  für  die  Bewertung  der  Rutenansage,  näm- 
lich, daß  die  Reaktionen  namentlich  weniger  er- 
fahrener Rutengänger  echt  sein  können,  daß  sie 
aber  falsch  gedeutet  werden.     Dazu   ein  weiteres 


Beispiel:  Ein  Rutengänger  erbot  sich  1903,  für 
ein  Bad  im  schlesischen  Gebirge  eine  neue 
Mineralwasserquelle  nachzuweisen  und  fand  eine 
—  Süßwasserquelle  mit  seiner  Rute,  und  zwar 
auf  der  östlichen  Randspalte  eines  kleinen  Graben- 
bruches von  Rotliegendem,  das  zwischen  Granit 
im  NO,  Phyllit  im  SW  eingesunken  ist.  Aber 
nicht  die  gewünschelte  NO-Randspalte,  sondern 
die  z.  T.  von  transgredierender  Kreide  verhüllte 
SW  -  Randspalte  ist  Träger  der  Mineralquellen. 
In  diesem  Fall  hat  sich  ofifenbar  der  Rutengänger 
durch  den  Farbenwechsel  der  Verwitterungsböden 
des  Granites  und  des  Rotliegenden  autosuggestiv 
beeinflussen  lassen.  Denn  ganz  allgemein  läßt 
sich  nachweisen,  daß  die  Rutengänger  auf  Ver- 
werfungen besonders  gut  reagieren,  nicht  aber  auf 
das  auf  solchen  Verwerfungen  eventuell  zirku- 
lierende Wasser,  oder  auf  die  auf  ihnen  ausge- 
schiedenen Erzmassen.  Erkannt  werden  die  Ver- 
werfungen als  solche  aber  höchst  selten. 

Zum  Schluß  noch  wenige  Worte  über  Ruten- 
erfolge an  sich.  Im  Gegensatz  zum  Rutengänger, 
der  jede  Ansage  als  Erfolg  bezeichnet,  wenn  an 
der  gewünschelten  Stelle  der  gewünschelte  Stoff 
überhaupt  vorhanden  ist,  kann  und  muß  die  All- 
gemeinheit nur  dann  den  Erfolg  anerkennen, 
wenn  der  Stoff  an  der  gewünschelten  Stelle  in 
einer  derartigen  Menge  und  solcher  Beschaffenheit 
vorhanden  ist,  daß  seine  Erschließung  zweck- 
mäßig, seine  Gewinnung  möglich  und 
ökonomisch  ist.  Ernsthafte  Ruten- 
gänger machen  aber  über  Menge  und  Be- 
schaffenheit grundsätzlich  ketne  An- 
gaben. Daher  ist  es  unbedingt  erforderlich,  daß 
nach,  bzw.  neben  dem  Rutengänger  der  Geologe 
befragt  wird ,  der  in  sehr  vielen  Fällen  zwar  die 
Richtigkeit  der  Rutenansage  an  sich  bestätigen, 
aber  gleichzeitig  durch  seine  Angaben  über  eine 
für  den  vorbesprochenen  Fall  ungenügende  Menge 
oder  ungeeignete  Beschaffenheit  des  gewünschelten 
Stoffes  vor  kostspieligen,  zwecklosen  und  über- 
eilten Bohrungen  und  Aufschlußarbeiten  wird 
warnen  können.  Hinsichtlich  der  Bewertung  einer 
Rutenansage  stehe  ich  auf  einem  anderen,  etwas 
günstigerem  Standpunkt,  wie  der  der  Rute  als 
günstig  gesinnt  von  den  Rutengängern  angesehene 
Prof.  Dr.  M.  Weber-  München ,  der  sich  mir 
gegenüber  kürzlich  dahin  äußerte:  „Erfolg  im 
einzelnen  verblüffend,  für  die  Praxis  aber  im 
ganzen  und  großen  wertlos".  Ich  erkenne  viel- 
mehr Erfolge  der  Rute  (z.  B.  an  der  Tambacher 
Sperre,  bei  Brüx,  auf  dem  Kaliwerk  Riedel,  in 
Hildesheim)  vollkommen  und  rückhaltslos  an,  muß 
aber  vor  allzu  optimistischer  Auffassung  und 
kritikloser  Benutzung  und  Auswertung 
dringend  warnen  und  möchte  namentlich 
stets  Bestätigung  durch  einen  in  der  Gegend  oder 
mit  den  Gebirgsschichten  gründlich  vertrauten 
Geologen  oder  Bergmann  fordern. 

Dafür,  wie  ein  Rutenausschlag  zustande  kommt, 
sind  die  Mediziner,  der  Neurologe,  Psychiater, 
vielleicht    auch    der    Physiologe    zuständig.      Sie 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


331 


werden  aber  an  die  Lösung  dieses  Problems  mit 
Erfolg  erst  herantreten  können,  sobald  die  Phy- 
siker, bzw.  Geophysiker  zu  einem  greifbaren  Er- 
gebnis darüber  gelangt  sind,  daß  die  einzelnen, 
die  Wünschelrute  beeinflussenden  Stoffe  Strahlen 
o.  dgl.  aussenden,  und  daß  diese  Strahlen  für  die 
einzelnen  Stoffe  spezifisch  verschieden  sind.    Erst 


wenn  die  Physiker  die  Natur  dieser  Strahlen  rest- 
los erkannt  haben,  kann  der  Neurologe  oder 
Psychiater  sagen,  wie  sie  auf  den  Menschen  ein- 
wirken, ob  und  welche  Menschen  als  Rutengänger 
brauchbar  sind,  und  wer  als  Charlatan  es  nur  auf 
den  Geldbeutel  seines  gutgläubigen  lieben  Näch- 
sten abgesehen  hat. 


Einzelberichte. 


Der  Farbstoff  des  grüueu  Eiters. 

In  der  Medizin  sind  gewisse  Geschwülste  be- 
kannt, die  den  Namen  „Chlorom"  tragen  und  von 
einem  grünen  bis  gelbgrünen  Aussehen  sind,  das 
auf  einen  Farbstoff  unbekannter  Herkunft  zurück- 
zuführen ist.  Man  wußte  bisher  lediglich,  daß  er 
identisch  sei  mit  dem  Farbstoff,  der  dem  grünen 
Eiter  infizierter  Wunden  seinen  Farbcharakter 
leiht.  Die  Reaktionen  beider  Farben  waren  die- 
selben. A.  K  o  s  s  e  1  und  G.  G  i  e  s  e  *)  machen 
nun  die  Mitteilung,  daß  es  sich  bei  beiden  Er- 
scheinungen um  die  Farbe  des  Ferrosulfids, 
FeS,  handele.  Den  Beweis  dafür  glauben  die 
Forscher  dadurch  erbracht,  daß  die  Farbe  an  der 
Luft  verschwindet,  was  auf  Oxydation  durch  den 
Luftsauerstoff  beruhe.  Der  Farbstoff  ist  ferner 
völlig  unlöslich  in  siedendem  Alkohol.  Auch 
stimmt  der  analytisch  ermittelte  Eisengehalt  mit 
der  Berechnung  gut  zusammen.  Eisensulfid 
ist  also  derFarbstoff  des  grünen  Eiters. 
Das  Sulfid  kommt  noch  in  einer  schwarzen  Form 
vor.  In  dieser  ist  es  nach  den  genannten  For- 
schern ebenfalls  im  pathologischen  Organismus 
vorhanden ;  und  zwar  bildet  es  alsdann  den  Farb- 
stoff der  Pseudomelanose.  Beide  Erschei- 
nungen verdanken  also  ihre  Farbe  dem  gleichen, 
bemerkenswerterweise  anorganischen  Farb- 
stoff H.  H. 


Die   quantitative  Gruudlage    von  Vererbung 
und  Artbildung. 

Bei  seinen  Untersuchungen  über  diesen  Gegen- 
stand geht  Richard  Goldschmidt-')  aus  von 
der  Vererbung  des  Geschlechtes ;  denn  die  beiden 
Geschlechter  eines  Organismus  können  alle  Diffe- 
renzen aufweisen,  welche  die  Physiologie  der  Ver- 
erbung zweier  Rassen,  Arten  oder  Gattungen  auf- 
weist. Das  erste  hier  zu  lösende  Problem,  näm- 
lich die  Frage  nach  der  mechanischen  Ursache, 
welche  die  Nachkommenschaft  eines  Elternpaares 
in  zwei  oft  so  verschiedene  Formen:  Männchen 
und  Weibchen  trennt,  ist  seit  der  Entdeckung  der 

»)  Chetniker-Ztg.  45,  S.  8,   1921. 

'^)  Gold  Schmidt,  R.,  Die  quantitative  Grundlage  der 
Vererbung  und  Artbildung.  Heft  24  der  Vorträge  und  Auf- 
sätze über  Entwicklungsmechanik  der  Organismen.  Heraus- 
gegeben von  Wilhelm  Roux.  Berlin,  Verlag  Springer,  1920; 
163  S. 


Geschlechtschromosomen    aufgeklärt.      Diese    Er- 
kenntnis „mag    mit    der  Kenntnis   des   Schienen- 
strang-    und    Weichensystems    einer    Eisenbahn- 
station verglichen  werden,  dessen  Aufgabe  es  ist, 
die    Züge    in    verschiedene   Richtung    zu    lenken. 
Aber  es   wäre  verfehlt,    daraus  Schlüsse  auf    das 
Material,   die   Ladung,   die    bewegende  Kraft    der 
Züge  zu  ziehen"  (S.  9).      Ähnlich  folgt  auch  hier 
auf  das  gelöste  Problem  des  Mechanismus  der  Ge- 
schlechtsverteilung  die   Frage:    was   wird   durch 
diesen    Mechanismus    verteilt.      Um    diese    Frage 
quantitativ    zu    prüfen    geht   G.    von    den   In- 
sekten aus,    weil   bei   ihnen   die  Geschlechtsdiffe- 
renzierung   unabhängig    ist    von    einer    etwaigen 
inneren  Sekretion   der  Geschlechtsdrüsen.   —  Bei 
intersexuellen    Individuen    z.    B.    des    Schwamm- 
spinners  {Symanira   dispar  L.)   ergab    dabei   die 
Analyse,  daß  hier  die  Differenzierung  bis  zu  einem 
bestimmten  Punkt  „unter  der  Kontrolle  der  einen 
Geschlechtssubstanz    vor    sich    ging,    dann    aber 
plötzlich  nach  dem  entgegengesetzten  Geschlecht 
umschlug,    unter   die  Kontrolle   der  anderen  Ge- 
schlechtssubstanz geriet"  (S.  15).     Im  Falle  weib- 
licher Intersexualität  sind  alle  Merkmale,  die  sich 
vor  dem  Zeitpunkt  der  „Drehung"  differenzierten, 
weiblich,  die  später  differenzierten  männlich,  solche, 
deren  Entwicklung  sich  über  den  ganzen  Zeitraum 
ausdehnte,  in  ihrem  Anfangsstadium  weiblich,  nach- 
her   männlich.      Das  Maß    der  Intersexualität   ist 
also  ein  Ausdruck  für  die  zeitliche  Lage  dieses 
Drehpunktes.    Die  Geschlechtsdeterminanten  sind 
also  Stoffe,  welche  eine  Reaktion  bedingen,  deren 
Geschwindigkeit     der     Quantität     dieser 
Stoffe  proportional  ist;  sie  haben  somit  den  Cha- 
rakter von  Enzymen.    Diese  Ansicht,  welche  in 
der  hormonischen  Intersexualität   der  Wirbeltiere, 
besonders  der  Säugetiere  und  Vögel  eine  weitere 
Stütze  findet,   wird   nun  von  Goldschmidt  auf 
das  Gesamtphänomen  der  Vererbung  übertragen: 
der  Vererbungsvorgang  besteht   hiernach    einfach 
darin,    „daß,  entweder    innerhalb    der  Einzelzellen 
oder  in  den  Säften  des  Körpers   zur  rechten  Zeit 
die    formativen  Hormone  produziert  werden,    die, 
ein  identisches  Substrat  vorausgesetzt,  die  weitere 
Differenzierung    mit    Notwendigkeit    in    eine    be- 
stimmte Richtung   lenken"   (S.    19).     Dieses   Ge- 
setz  bringt  Goldschmidt  S.  32    selbst  auf  die 
Formel:  „Das  Massen  gesetz  der  Reaktions- 
geschwindigkeiten ist  ein  es  der  Grund- 
gesetze   der  Vererbung"    und    prüft    es    in 


332 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


seiner  Anwendbarkeit  auf  die  Tatsachen  des  mul- 
tiplen Allelomorphismus,  der  geographischen 
Variationen  und  der  Selektion.  Wir  müssen  es 
uns  versagen,  hierauf  näher  einzutreten;  nur  der 
letzte  Punkt,  welcher  die  Selektion  betrifft,  möge 
kurz  beleuchtet  werden.  Mag  auch  die  Qualität 
des  „Erbenzyms"  testgelegt  sein,  so  ist  doch  ihre 
Quantität  veränderlich  und  variiert  ceteris  paribus 
mit  den  Außenbedingungen.  Daraus  folgt,  daß 
„die  Bereitstellung  der  Faktorensubstanzen  in  den 
Geschlechtszellen,  zu  welchei"  Zeit  sie  auch  statt-  - 
finden  mag,  ein  Vorgang  ist,  der  zu  einer  quanti- 
tativen Variation  um  das  typische  Mittel  führen 
muß"  (S.  129).  Es  kann  nun  die  Selektion  eine 
Plus-  oder  Minusvariante  auswählen;  die  Auswahl 
wird  dann  erfolgreich  sein,  wenn  die  betreffende 
Variante  den  relativen  und  absoluten  Geschwindig- 
keiten aller  übrigen  an  der  Differenzierung  be- 
teiligten Prozesse  koordiniert  ist.  Es  läßt  sich 
dies  am  besten  durch  das  folgende  von  G  o  1  d  - 
Schmidt  angeführte  Beispiel  erläutern:  Die 
Schwammspinnerraupen  überwintern  in  der  Ei- 
schale. Die  Zeit  des  Ausschlüpfens  wird  bestimmt: 
a)  durch  die  Geschwindigkeit  eines  ererbten  Re- 
aktionsablaufes; diese  Geschwindigkeit  folgt  dem 
„Massengesetz"  und  ist  der  Quantität  des  ent- 
sprechenden Enzyms  proportional;  b)  durch  die 
Außenbedingungen  (besonders  Temperatur).  Die 
erste  Bedingung  ist  nur  innerhalb  bestimmter 
Grenzen  durch  die  zweite  beeinflußbar:  auch  auf 
Eis  schlüpft  die  Larve  nach  einer  bestimmten  Zeit 
aus.  Erhaltungsfähig  sind  natürlich  nur  diejenigen 
Individuen,  bei  denen  die  zeitlichen  Bedingungen 
a)  und  b)  koordiniert  sind,  d.  h.  bei  denen  das 
Ausschlüpfen  nicht  früher  erfolgt,  als  bis  die  kli- 
matischen Bedingungen  eine  Ernährung  der  Raupe 
ermöglichen.  Die  Zahl  solcher  Beispiele  läßt  sich 
leicht  vermehren  und  sicher  wäre  es  von  be- 
sonderem Interesse,  dem  „Zeit"faktor  in  der  Ent- 
wicklung der  Lebewesen  besondere  Aufmerksam- 
keit zu  schenken. 

Was  nun  im  besonderen  die  quantitative  Er- 
klärung der  Vererbungstatsachen  auf  Grund  von 
Vererbungs e n z y m e n  betrifft,  so  müßte  doch 
wohl  der  Versuch  gemacht  werden,  solche  Enzyme 
nachzuweisen.  Solange  eine  derartige  Unter- 
suchung mit  positivem  Ergebnis  nicht  vorliegt 
—  und  bei  den  technischen  Schwierigkeiten  einer 
solchen  „Chemie  in  kleinstem  Räume"  dürfte  dies 
nicht  so  rasch  möglich  sein  — ,  ist  dieser  Er- 
klärungsversuch als  Hypothese  zu  bewerten.  Ihre 
Bedeutung  liegt  vor  allem  darin,  daß  hier  in  das 
mystische  Dunkel,  in  welches  sich  die  Artbildung 
vor  uns  verhüllt,  ein  Vorstoß  auf  Grund  quanti- 
tativer Versuche  gewagt  wird.  So  erhält  das 
ganze  Problem  überhaupt  erst  eine  naturwissen- 
schaftliche Grundlage;  denn  in  dieser  Auffassung 
ist  ein  Erbfaktor  „nicht  eine  platonische  Idee  oder 
aristotelische  Entelechie  oder  ein  mystisch-undefi- 
nierbares Gen,  sondern  ist  eine  bestimmte  Quanti- 
tät einer  bestimmten  aktiven  Substanz,  wahr- 
scheinlich eines  Enzyms,   die  allen  physikalischen 


und   chemischen  Gesetzen    für   solche  Substanzen 
unterworfen  ist"  (S.   128). 

Zürich.  M.  Schips. 

Einige  besoudere   geologische  Erscheiiniugen 

iu   den    oligozänen    Pechkohleuflözen   Ober- 

bayerus. 

Die  Pechkohlen  Oberbayerns  verdienen  in 
bergmännischer  wie  in  geologischer  Hinsicht  ganz 
besondere  Beachtung.  Einige  Besonderheiten  be- 
schreibt O.  Stutzer  in  der  Zeitschr.  f.  prakt. 
Geologie,  XXVIII,  S.  172—175. 

1.  Einlagerungen  von  Muschelresten 
und  Schneckenschalen  in  reiner  Pech- 
kohle. In  Hausham  und  Pensberg  sind  Muscheln 
(Unio,  Cyrena)  und  Schnecken  (Planorbis,  Helix) 
ohne  die  Spur  eines  Begleitgesteines  in  reiner 
Kohle  eingeschlossen  und  zwar  sowohl  vereinzelt 
wie  auch  in  vielen  Exemplaren  nebeneinander. 
Da  in  Humuskohlen  Tierreste  äußerst  selten  zu 
finden  sind,  bieten  die  oberbayerischen  Pechkohlen 
also  etwas  Besonderes.  Stutzer  ist  der  Meinung, 
daß  diese  Tiere  keine  regulären  Bewohner  der 
damaligen  Waldmoore  waren,  sondern  daß  sie 
durch  Überflutung  eingeschwemmt  wurden,  zu 
Boden  sankeii  und  später  von  dem  nach  dem 
Rückzug  der  Überflutung  wieder  weiter  wachsen- 
den Waldmoore  begraben  wurden. 

2.  Einige  Wirkungen  des  alpinen 
Gebirgsdruckes  im  Kohlenflöz.  Ihren 
Eigenschaften  und  Aussehen  nach  steht  die  ober- 
bayerische Pechkohle  der  Steinkohle  näher  als  der 
Braunkohle.  Sie  ist  eine  durch  die  Kräfte  des 
alpinen  Gebirgsdruckes  veredelte  Braunkohle.  Von 
den  Wirkungen  dieses  Druckes  bespricht  der  Verf. 
einige  besondere  Strukturen,  Lagerungen  und 
Druckerscheinungen.  Die  durch  den  Druck  her- 
vorgerufenen textureilen  Umwandlungen  der  Kohle 
sind  entweder  rupturelle,  die  zu  Zertrümmerung 
führen,  oder  plastische,  die  zu  einer  Stauung  ohne 
Zerreißung  führen.  Ein  Übergang  zwischen  bei- 
den Strukturen  ist  die  sog.  Knetstruktur. 
Ganz  dünne  Lagen  von  eingeschaltetem,  hellem 
Kalkstein  lassen  in  den  oberbayerischen  Pechkohlen- 
flözen diese  Knetstruktur  besonders  deutlich  er- 
kennen. Eine  weitere  Erscheinung  ist  die  in 
Kohlenflözen  äußerst  seltene  diskordante 
Faltung,  die  hier  wiederum  durch  die  Kalk- 
steinlagen sehr  deutlich  sichtbar  gemacht  wird. 
Während  das  Liegende  oder  Hangende  oder  auch 
der  hangende  und  liegende  Teil  des  Flözes  regel- 
mäßig fortstreicht,  ist  der  mittlere  Teil  des  Flözes 
äußerst  gestört  und  oft  gekröseartig  durcheinander 
geknetet.  Zu  den  weiteren  Eigentümlichkeiten 
der  oberbayerischen  Pechkohlenflöze  gehören  die 
Gebirgschläge  und  Gebirgs Spannungen, 
die,  da  sie  oft  Unglücksfälle  hervorrufen  und  auch 
in  wirtschaftlicher  Hinsicht  von  großer  Bedeutung 
für  den  Bergbau  sind,  eine  stetige  Beachtung  des 
Bergbautreibenden  erfordern.  Übersteigt  der 
Druck   eine   gewisse   Grenze  nicht,   so  ist  er  für 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


333 


den  Abbau  günstig.  Er  bewirkt  dann,  daß  die 
Kohle  „arbeitet"  und  „lebendig"  ist.  Nimmt  die 
Spannung  weiter  zu,  wird  die  Kohle  hart,  so 
kann  die  Auslösung  oft  plötzlich  und  unheilvoll 
erfolgen.  Einlagerungen  von  weichen  Schichten 
heben  ebenso  wie  weiche  Schichten  im  Hangen- 
den oder  Liegenden  stärkere  Spannungen  auf.  In 
Hausham  hat  der  Gebirgsdruck  auf  die  Abbau- 
leistung und  damit  auf  die  Rentabilität  einen 
großen  Einfluß.  Dort  stellte  sich  heraus,  daß 
von  den  beiden  vorhandenen  Flözen  das  schwächere 
obere  nur  dann  mit  Nutzen  abgebaut  werden 
kann,  wenn  der  Abbau  vor  dem  des  darunter- 
liegenden 2.  Flözes  erfolgt,  wodurch  auch  gleich- 
zeitig das  untere  entspannt  und  gefahrloser  ab- 
gebaut werden  kann.  F.  H. 

Der  neiieutstelieiide  Magiiesitbergban  am 
Galgenberg  bei  Zobten  in  Schlesien. 

L.  von  zurMühlen  berichtet  darüber  in  der 
Zeitschr.  f.  prakt.  Geologie,  XXVIII,  1920,  S.  155 
bis  158.  Der  Galgenberg  bildet  eine  vom  Haupt- 
zobtenberge  getrennte  Anhöhe.  Seine  tiefsten 
Teile  bestehen  aus  Serpentin  und  teilweise  noch 
aus  dessen  Muttergestein,  dem  Peridodit.  Die 
Grenzen  des  Serpentins  gegen  die  in  der  Nach- 
barschaft auftretenden  Gesteine  ist  überall  durch 
eine  diluviale  Decke  verschleiert  und  nirgends 
wahrzunehmen.  Der  Serpentin  des  Galgenberges 
beschränkt  sich  nicht  allein  auf  die  orographisch 
ihm  zuzurechnende  Höhe,  sondern  ist  im  SO  an 
der  Hand  einzelner  künstlicher  Aufschlüsse  über 
die  Zobten-Marxdorfer  Chaussee  hinaus  bis  in  die 
Nähe  des  Bahnhofs  zu  verfolgen.  Durch  Prof. 
Finckh  wurde  im  südlichen  Teile  des  Galgen- 
berges, etwa  100  m  nördlich  der  Ströbel-Zobtener 
Straße  ein  flach  nach  SW  einfallender  und  an- 
nähernd in  ostwestlicher  Richtung  streichender, 
den  Serpentin  durchsetzender  Quarz-Chalcedon- 
gang  festgestellt.  Südlich  dieses  Ganges  ist 
der  Serpentin  mehr  oder  weniger  tief  in  einen 
teilweise  milden  erdigen,  teilweise  mehr  oder 
weniger  verkieselten  braunroten  Boden,  das  „Rote 
Gebirge"  verwittert.  Das  Material  des  Ganges 
bestand  hauptsächlich  aus  einem  porösen,schwamm- 
artigen,  an  den  Außenflächen  braungefärbten  Opal, 
teilweise  wurden  auch  Hornstein  und  Chrysopras 
beobachtet.  Dieser  ist  jedoch  ebenfalls  porös- 
brecciös  entwickelt  und  daher  als  Schmuckstein 
nicht  zu  verwerten.  Das  Rote  Gebirge,  eine  Ver- 
witterungsform,  die  auf  die  durch  Tageswässer 
zurückzuführende  Auflösung  und  Fortführung  der 
leichtlöslichen  Magnesiasilikate  unter  Zurücklas- 
sung der  Eisenverbindung  beruht  und  den  Serpen- 
tin am  Galgenberge  bis  zu  7  m  Teufe  umgewandelt 
hat,  zeigt,  dem  unregelmäßiger!  Charakter  des 
Verwitterungsvorganges  entsprechend,  in  seiner 
Mächtigkeit  größere  Unbeständigkeiten  und  greift 
laschen-,  mulden-,  nest-  und  astförmig  in  den 
liegenden  Serpentin  ein.  Eine  scharfe  Grenze 
zwischen    beiden  Gesteinen    ist    nicht    zu   ziehen. 


Das  Rote  Gebirge  ist  ein  Gel  und  bildet  eine 
zellige  Kieselsäuremasse,  deren  Hohlräume  teil- 
weise mit  Eisenoxydhydrat  ausgefüllt  sind.  Gleich- 
zeitig bei  diesem  Bildungsprozeß  ging  das  in  dem 
Serpentin  fein  verteilte  Nickel  in  Lösung  und 
konzentrierte  sich  in  den  unteren  Lagen  der  Ver- 
witterungsrinde. Zur  Bildung  von  kolloidalen 
Nickelmineralien  oder  von  „Grauerz",  wie  in 
F"rankenstein  zu  beobachten  ist,  ist  es  jedoch  nicht 
gekommen,  vielmehr  durchtränkt  das  Nickel  in 
geringen  Mengen  hauptsächlich  den  unteren  Teil 
des  Roten  Gebirges.  Nach  einer  Reihe  von  Ana- 
lysen schwankt  der  dort  festgestellte  Nickelgehalt 
von  0,3 1  bis  0,87  "/ß  Ni,  liegt  also  weit  unter  der 
abbauwürdigen  Grenze. 

Das  häufigste  und  verbreitetste  von  allen  im 
Serpentin  des  Galgenberges  auftretenden  Mine- 
ralien ist  der  dichte  Magnesit.  Er  findet  sich  so- 
wohl im  Verbreitungsgebiete  des  Roten  Gebirges, 
wo  er  am  beträchtlichsten  entwickelt  ist,  als  auch 
in  dem  von  der  Verwitterung  verschonten  nörd- 
lichen Abschnitt  des  Galgenberges.  Überall  er- 
scheint er  in  regellosen,  maschenartigen,  gang- 
förmigen Spaltausfüllung  und  Trümern,  die  sich 
in  den  seltensten  Fällen  über  weite  Strecken  hin- 
aus verfolgen  lassen,  in  ihrer  Mächtigkeit  im 
Streichen  und  Fallen  großen  Schwankungen  unter- 
worfen sind  und  zahlreiche  Abzweigungen  und 
gangförmige  Verästelungen  aufzuweisen  haben. 
Am  bemerkenswertesten  ist  ein  allerdings  sehr 
unregelmäßig  ausgebildeter,  bisher  in  ca.  40  m 
Länge  nachgewiesener  Magnesitgang  im  Gebiete 
des  Roten  Gebirges.  Seine  Mächtigkeit  schwankt 
von  ^/j  bis  I  m.  Der  Serpentin  war  vereinzelt 
in  der  Nähe  der  Gänge  als  Faserserpentin  aus- 
gebildet. 

Seiner  Entstehung  nach  wird  der  dichte  Mag- 
nesit als  aus  kolloiden  Lösungen  ausgeschieden 
und  später  in  einen  feinkristallinen  Zustand  über- 
gegangen aufgefaßt.  Durch  die  Tätigkeit  der 
Atmosphärilien  gelangten  die  leicht  löslichen 
Magnesiaverbindungen  des  Serpentins  in  Lösung 
und  schieden  sich  in  den  Spalträumen  oder  in- 
folge metasomatischer  Verdrängung  in  den  tieferen 
Lagen  des  Gesteins  aus,  während  die  schwerer 
löslichen  Nickel-,  Eisen-  und  Kieselsäureverbin- 
dingen mehr  oberhalb  zurückbleiben.  Der  Prozeß 
der  Auslaugung  und  Anreicherung  der  Magnesia- 
verbindungen setzte  nach  des  Verf.s  Meinung  an- 
scheinend bereits  vor  der  eigentlichen  Bildung 
des  Roten  Gebirges  ein,  muß  aber  während  der 
Entstehung  desselben  seinen  Höhepunkt  erlangt 
haben.  Die  Magnesitbildung  ist  also  im  Gegen- 
satz zu  F"rankenstein  keineswegs  älter  als  die 
Bildung  des  Roten  Gebirges. 

Im  Sommer  1919  war  von  einer  Breslauer 
Firma  der  Magnesitabbau  am  Galgenberge  mit 
einem  kleinen  Betriebe  begonnen  worden.  Seit 
dem  Januar  1920  sind  diese  Gruben  in  den  Be- 
sitz einer  Hamburger  Gesellschaft  übergegangen, 
die  unter  der  Firma  „Schlesische  Magnesitgruben" 
mit    bedeutend    vergrößertem    Betriebe     arbeitet. 


334 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


An  Stelle  des  Tagebaues  ist  überall  Tiefbau  ein- 
geführt worden,  zu  welchem  Zwecke  14  Schächte 
von  im  Maximum  21  m  Tiefe  abgeteuft  worden 
sind.  Das  Bergwerk  beschäftigt  76  Arbeiter.  Die 
Menge  des  geförderten  Magnesits  schwankt  von 
kaum  einem  bis  zu  fünf  Eisenbahnwagen  in  der 
Woche,  je  nach  der  Mächtigkeit  der  erschlossenen 
Gänge.  Hervorzuheben  ist,  daß  die  Magnesitgänge 
mit  zunehmender  Tiefe  immer  weniger  Serpentin- 
einschlüsse führen  und  teilweise  sogar  frei  davon 
sind.  Zugleich  gewinnt  das  Mineral  an  Dichte 
und  Festigkeit  und  liefert  somit  das  gesuchteste 
und  hochwertigste  Material.  F.  H. 

Fliegenlarven ,  die  «las  Blut  vou  Nestvögeln 
sangen. 

Während  die  meisten  Fliegenlarven  in  orga- 
nischen Abfällen  leben  und  sich  von  ihnen  nähren, 
gibt  es  einige,  welche  Blut  saugen.  So  fand 
Leon  Dufour  schon  vor  geraupier  Zeit  an 
jungen  Schwalben  in  Frankreich  blutsaugende 
Larven,  die  zu  der  Calliphorine  Lucilia  dispar  ge- 
hörten, und  später  sind  noch  mehrere  andere  aus 
Amerika  bekannt  geworden,  die  junge  Vögel  an- 
fallen, und  aus  Afrika  gar  solche,  welche  das  Blut 
von  Wirbeltieren  saugen,  so  das  von  Erdferkeln, 
Warzenschweinen,  ja  von  Menschen.  O.  E.  Plath 
(University  of  California  Publications  in  Zoology 
Vol.   19,  1919,  S.  191)  hatte  nun  Gelegenheit,  das 


Vorkommen  und  die  Lebensweise  dieser  blut- 
dürstigen Muscidenlarven  an  einer  großen  Zahl 
von  Vögeln  zu  beobachten  und  macht  darüber 
folgende  Angaben.  Die  etwa  1,5  cm  langen, 
gelblichweißen  Larven  finden  sich  in  den  Nestern 
verschiedener  Vögel,  so  des  Nuttall  sparrow  (Zono- 
trichia  leucophrys  nuttalli),  California  purple  finch 
(Carpodacus  purpureus  californicus),  Greenbacked 
goldfinch  (Astragalinus  psaltria  hesperophilus), 
California  linnet  (Carpodascus  mexicanus  frontalis), 
Willow  goldfinch  (Astragalinus  tristis  salicamans) 
und  des  Californian  brown  towhee  (Pipilo  crisalis 
crisalis).  Sie  heften  sich  nachts  an  die  jungen 
Vögel,  und  zwar  nur  an  diese,  und  saugen  sich 
so  voll  Blut,  daß  sie  prall  davon  erfüllt  sind.  Das 
Blut  wird  in  einer  Aussackung  des  Oesophagus 
aufgespeichert  und  hält  für  eine  geraume  Zeit 
vor.  Da  die  Larven  keine  anderen  organischen 
Stoffe  fressen,  sind  sie  ganz  auf  das  Blut  ange- 
wiesen. Im  Versuch  vermochten  sie  jedoch  auch 
einem  Ochsenknochen  etwas  Blut  zu  entziehen. 
Die  Verpuppung  findet  in  dem  Schmutz  auf  dem 
Boden  des  Nestes  statt ;  aus  den  Puppen  schlüpfte, 
Protocalhphora  azurea,  eine  dunkeli)laue ,  metal- 
lisch glänzende  Fliege,  aus.  Die  jungen  Vögel 
werden  durch  den  Aderlaß  sehr  geschwächt,  eine 
beträchtliche  Zahl  pflegt  sogar  davon  zugrunde 
zu  gehen.  Trotzdem  die  Fliege  bisher  als  selten 
galt,  fanden  sich  die  Larven  in  39  Nestern  von 
insgesamt  63  daraufhin  geprüften.  Miehe. 


Bücherbesprechungen. 


Karsten,  Dr.  George,  o.  ö.  Professor  an  der  Uni- 
versität Halle  a.  S.  und  Benecke,  Dr.  Wilhelm, 
o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Münster  i.  W., 
Lehrbuch  der  Pharmakognosie.    Dritte, 
vollständig  umgearbeitete  Auflage  von  G.  Kar- 
stens Lehrbuch   der  Pharmakognosie.     Mit  544 
z.  T.  farbigen  Abbildungen  im  Text.    Jena  1920, 
Verlag  von  Gustav  Fischer. 
Für  die  neue  Auflage  dieses  bekannten  Lehr- 
buches  hat  Prof.  Karsten   Prof.  Benecke   an- 
statt Prof  Oltmanns  als  Mitarbeiter  gewonnen. 
Prof.  Be necke   bearbeitete   besonders   die   Roh- 
stoffe, die  Drogenpulver  und  die  chemischen  Be- 
standteile  der   Drogen.     Da   sich   das  Buch   aus- 
schließlich   an    Apotheker    und    Studierende    der 
Pharmazie  wendet,   so   erübrigt   sich   ein   näheres 
Eingehen   auf  den  Inhalt  an   dieser   Stelle.      Die 
Ausstattung  ist  wieder  vollkommen  friedensmäßig, 
so  daß  die  durchwegs  schönen  Abbildungen  aus- 
gezeichnet herauskommen.  Wächter. 


V.  Wasielewski,  Waldemar,  Telepathie  und 
Hellsehen.  Versuche  und  Betrachtungen  über 
ungewöhnliche  seelische  Fähigkeiten.  276  S. 
Mit  Abbildungen.  Halle  a.  S.  192 1,  Verlag  von 
Carl  Marhold.  Brosch.  24  M. 
v.  Wasielewski  gibt  in  vorliegender  Schrift 


eine  zusammenfassende  Übersicht  seiner  Experi- 
mente mit  einem  Fräulein  v.  B.  in  bezug  auf  be- 
wußte oder  unbewußte  Gedankenübertragung 
(Telepathie)  und  Hellsehen.  Daß  Mißliche  bei 
der  ganzen  Sache  ist,  daß  eine  wissenschaftliche 
Nachprüfung  nicht  möglich  erscheint,  da  sich  die 
besonderen  Fähigkeiten  des  Fräulein  v.  B.  jetzt 
vollständig  verflüchtigt  haben,  ohne  daß  eine  An- 
gabe erfolgt,  auf  Grund  welcher  —  wohl  zweifel- 
los vorhandenen  —  physiologischen  oder  psycho- 
logischen Einwirkungen  bzw.  Veränderungen  dieses 
völlige  Versagen  zurückzuführen  sein  dürfte.  Im 
übrigen  erhalten  wir  ein  sehr  interessantes  Tat- 
sachenmaterial über  die  okkulten  Fähigkeiten  der 
Versuchsperson,  und  man  muß  dem  Verf.  zuer- 
kennen, daß  er  außerordentlich  vorsichtig,  skep- 
tisch gegen  sich  und  andere,  in  gewissenhaftester 
Weise  experimentiert  hat.  Mit  allzugroßer  Be- 
sorgnis sind  die  telepathischen  und  die  hell- 
seherischen Experimente  getrennt  gehalten,  ob- 
gleich wir  beiden  Fähigkeiten  auf  naturwissen- 
schaftlichen Grundlagen  nicht  näher  zu  kommen 
vermögen  und  es  vorerst  ganz  gleichgültig  er- 
scheint, ob  die  in  den  allermeisten  Fällen  günstigen 
Resultate,  so  oder  so  gewonnen  wurden.  Hier- 
bei ist  natürlich  von  einem  dritten  Wege,  nämlich 
dem    der   absichtlichen   Täuschung   und    des  Be- 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


335 


truges  abzusehen,  denn  dann  wäre  eine  Diskussion 
überhaupt  ausgeschlossen.  Vorausgesetzt,  daß  wir 
es  hier  in  der  Tat  mit  besonderen  Fähigkeiten  zu 
tun  haben,  will  es  also  nebensächlich  erscheinen, 
ob  die  eine  oder  die  andere  Ursache  wirksam 
war,  denn  wie  v.  Wasielewski  am  Schlüsse 
seiner  Schrift  selbst  betont,  sind  „Telepathie  und 
Hellsehen  sehr  wahrscheinlich  nur  zwei  verschiedene 
Betätigungen  einer  und  derselben  seelischen  Fähig- 
keit, die  man  als  ,direkte  Wahrnehmung'  oder 
Panästhesie  bezeich nen  kann".  Diese  Panästhe- 
sie  erstreckt  sich  nach  den  Versuchen  mit  Fräu- 
lein V.  B.  auf  die  Gebiete  sämtlicher  Sinnesorgane, 
und  wir  erhalten  Beweise  panästhetischer  Fähig- 
keiten im  Bereiche  des  Sehens,  Hörens,  Fühlens, 
Riechens  und  Schmeckens  usw.  Hier  ein  Beispiel 
über  sog.  kryptoskopische  Versuche.  Der  Verf. 
besorgt  sich  aus  Messingblech  gestanzte  Buch- 
staben des  „großen  lateinischen  Alphabets",  jedes 
Stück  drei  Zentimeter  lang  und  die  Zahlen  i — 9 
in  gleicher  Größe  und  aus  demselben  IVlaterial. 
Sie  wurden  jedes  Stück  einzeln  in  gut  schließende 
Kästchen  mit  Schiebedeckeln  verpackt,  die  alle 
mit  demselben  Papier  bezogen  waren.  Beim  Hin- 
einlegen der  Buchstaben  oder  Zahlen  in  die  Käst- 
chen wird  nicht  zugesehen,  so  daß  v.  W.  nicht 
weiß,  wie  der  Inhalt  beschaffen  ist.  Alle  ganz 
gleich  aussehenden  Kästchen  werden  in  einen  Korb 
getan.  Von  einer  oder  mehreren  der  anwesenden 
Personen  wurde  eines  oder  mehrere  herausge- 
nommen, sogleich  ein  jedes  einzeln  in  ein  Papier- 
säckchen  getan,  das  nur  so  lang  war,  daß  es  das 
geschlossene  Kästchen  gerade  aufnahm  (um  ein 
Aufschieben  unmöglich  zu  machen)  und  das  Säck- 
chen versiegelt.  Als  Siegel  wurden  Knöpfe  mit 
Phantasiemustern  benutzt,  die  v.  W.  kurz  vor  den 
Versuchen  in  größerer  Anzahl  gekauft  und  bis 
zum  Versuchsbeginn,  ohne  sie  jemand  zu  zeigen, 
aufbewahrt  hatte.  Der  hier  angeführte  Versuch 
fand  in  der  Wohnung  eines  Freundes  des  Ver- 
fassers, des  Chirurgen  Dr.  R.  in  Frankfurt  a.  M., 
statt,  dessen  skeptische  Haltung  Frl.  v.  B.  bekannt 
war.  „Wahrscheinlich  war  dies  die  Ursache,  daß 
der  Versuch  sich  ziemlich  in  die  Länge  zog.  Er 
dauerte  mit  mehrfachen  kurzen  Pausen  gegen 
*/^  Stunden,  so  daß  auf  jedes  der  drei  Kästchen 
an  15  Minuten  kamen."  Die  Kästchen  waren  von 
Dr.  R.  und  v.  W.  ausgewählt  und  eingesiegelt 
worden.  Es  ist  anzunehmen,,  daß  Frl.  v.  B.  sich, 
wie  sie  es  sonst  zu  tun  pflegte  (eine  besondere 
Angabe  fehlt  bei  diesem  Versuch),  auf  ein  Liege- 
sofa ausstreckte  und  die  Kästchen  abwechselnd 
auf  die  Stirn  oder  auf  die  Brust  legte,  dabei 
zeichnete  sie  den  Inhalt  der  Kästchen  getreu 
nach  Form  und  Größe  mit  geschlossenen  Augen 
auf  ein  Stück  Papier.  „Frl.  v.  B.  blieb  mit 
den  eingesiegelten  Kästchen  im  Anfang  des  Ver- 
suchs allein,  bis  sie  uns  selbst  aus  dem  Neben- 
zimmer rief  und  um  unsere  Anwesenheit  bat.  Sie 
sagte  darüber,  bei  der  diesmaligen  längeren  Dauer 
störe  sie  der  Gedanke  mehr,  daß  wir  erwartungs- 
voll nebenan  säßen,  als  unsere  Anwesenheit.    Der 


Versuch  endete  übrigens  mit  vollständigem  Ge- 
lingen. Die  nach  Prüfung  der  Siegel  geöffneten 
Kästchen  enthielten  in  Übereinstimmung  mit  den 
Zeichnungen  von  Frl.  v.  B.  die  Buchstaben  O  A  L. 
Originale  und  Frl.  v.  B.s  Zeichnungen  stimmten 
wiederum  in  Gestalt  und  Größe  überein." 

Es  würde  zu  weit  führen,  aus  den  zahlreichen 
Versuchen  (137),  deren  Durchführung  im  Laufe 
verschiedener  Jahre  vor  sich  ging,  da  Frl.  v.  B. 
aus  verschiedenen  Gründen  nur  stets  vorüber- 
gehend zur  Verfügung  stand,  eingehenderes  an- 
zuführen. So  sei  nur  bemerkt,  daß  u.  a.  auch 
Lesen  aus  geschlossenen  Briefen,  Auffinden  ver- 
borgener Gegenstände,  Fernsehen,  Hellsehen  sehr 
kleiner  Dinge  (mikroskopische  Präparate),  Hell- 
sehen in  die  Vergangenheit  usw.  versucht  wurden 
und  daß  die  Resultate  meistens  —  nach  v.  W.s 
Angaben  —  eine  zutreffende  Lösung  ergaben. 

Erschwerend  fällt  bei  der  Beurteilung  ins  Ge- 
wicht, daß  so  gut  wie  niemals  Namen  genannt 
werden.  Es  ist  verständlich,  daß  die  meisten  sich 
scheuen,  da  es  sich  um  sehr  umstrittene  Gebiete 
handelt,  in  eine  öffentliche  Diskussion  hinein- 
gezogen zu  werden  aber  es  ist  andererseits  die 
Folge,  daß  die  Kritik  eine  Zurückhaltung  bewahren 
muß,  die  einer  Förderung  dieser  Probleme  hem- 
mend in  die  Wege  tritt. 

Jedenfalls  kann  an  der  sehr  vorsichtig  und 
kritisch  abgefaßten  Schrift  v.  Wasielewskis 
bei  der  Behandlung  okkulter  Phänomene  nicht 
vorübergegangen  werden.  Sie  dürfte  bei  allen 
Interessenten  volle  Würdigung  finden. 

V.  Buttel-Reepen. 


France,  R.  H.,  Die  Pflanze  als  Erfinder. 
Mit  zahlreichen  Abbildungen.  9.  Aufl.  Stutt- 
gart 1920,  Kosmos,  Gesellschaft  der  Naturfreunde. 
Geschäftsstelle :  Frankhsche  Verlagshandlung. 
Verf.  weist  in  der  ihm  eigenen  journalistisch 
gewandten  Manier  auf  die  Bedeutung  des  tech- 
nisch vollendeten  Baues  des  Pflanzenkörpers  hin 
und  versucht  durch  Vergleich  des  Aufbaues  der 
Organismen,  hier  besonders  der  Flagellaten,  Peri- 
dineen  und  Diatomeen  mit  den  Schöpfungen  der 
Ingenieurkunst  eine  neue  Wissenschaft,  die  Bio- 
tecknik,  zu  begründen.  Das  vorliegende  Büchlein 
soll  nur  in  groben  Umrissen  für  das  Laienpubli- 
kum die  Gedanken  des  Verf.  wiedergeben,  wäh- 
rend er  „die  Grundlagen  einer  wissenschaftlichen 
Begründung  der  Biotechnik"  in  einer  umfang- 
reicheren Schrift:  Die  technischen  Leistungen  der 
Pflanzen,  Leipzig  19 19,  niedergelegt  hat.  Die 
Gedanken  des  Verf.  können  fraglos  fruchtbringend 
wirken,  und  es  wäre  zu  begrüßen,  wenn  die  Tech- 
niker angeleitet  würden,  sich  mit  dem  Studium 
der  Organismen  in  Hinsicht  ihres  rationellen 
Baues  zu  beschäftigen.  Die  Bedeutung  der  Bota- 
niker an  den  technischen  Hochschulen  würde  eine 
ganz  andere  sein,  wenn  sie  als  „Biotechniker"  eine 
engere  Fühlung  zu  den  rein  technischen  Wissen- 
schaften gewinnen  könnten  als  das  bisher  der 
Fall  war.     Die  Theorie  des  Verf.    gipfelt  in  dem 


336 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  22 


Satz:  „Die  Technik  der  Natur  (der  Zellen,  der 
Pflanze,  der  Tiere)  und  die  des  Menschen  ist  näm- 
lich einheitlich  auf  eine  im  Bau  der  Welt  be- 
gründete Tatsache  zurückgeführt."  Diese  „Tat- 
sache" besteht  darin,  daß  „die  Gesetze  des  ge- 
ringsten Widerstandes  und  der  Ökonomie  der 
Leistung"  es  erzwingen,  daß  „gleiche  Tätigkeiten 
stets  zu  den  gleichen  Formen  führen",  daß  auf 
der  ganzen  Welt  einheitlich  alle  Prozesse  stets  im 
Rahmen  der  sieben  Grundformen  alles  Seins 
(Kristallform,  Kugel,  Fläche,  Stab,  Band,  Schraube 
und  Kegel)  ablaufen  müssen".  Also  auch  der 
Mensch  kann  in  seinen  Erfindungen  nicht  über 
dies  Gesetz  hinaus,  und  er  muß  sozusagen  zwangs- 
läufig das  erfinden,  was  die  Natur  bereits  in  den 
Organismen  vorerfunden  hat. 

Das  kleine  Buch  liegt  bereits  in  neunter  Auf- 
lage vor  und  das  ist  wieder  ein  Beweis  für  die 
beispiellose  Popularität  des  Verf.  Der  Stil  und 
die  Darstellungsart  des  Verf.  müssen  also  dem 
großen  Publikum  gefallen,  womit  nicht  gesagt  ist, 
daß  die  Kritik  nun  überflüssig  geworden  sei.  Vor 
allem  ist  es  die  Art  der  Darstellung,  gegen  die 
mancherlei  einzuwenden  ist.  Nach  der  Auffassung 
des  Ref.  gehört  es  zu  den  Aufgaben  des  popu- 
larisierenden Schriftstellers,  dem  bildungshungrigen 
Volk  zu  zeigen,  wem  es  die  wissenschaftlichen 
Erkenntnisse  zu  danken  hat.  Ein  naiver  Leser 
des  Franc  eschen  Buches  gewinnt  den  Eindruck, 
daß  er  es  hier  ausschließlich  mit  den  Forschungen 
des  Verf.  zu  tun  hätte  und  ihm  wird  nicht  offen- 
bar, daß  die  Forschungen  Schwendeners,  den 
der  Verf.  als  „älteren  Vorläufer  des  biotechnischen 
Gedankens"  abtut,  der  nicht  wagte,  die  Folgerungen 
aus  seinen  epochemachenden  Entdeckungen  zu 
ziehen,  denn  doch  mehr  bedeuten,  als  bloß  die 
Basis  für  den  biotechnischen  Gedanken  abzugeben. 
—  Und  wenn  der  Verf.  als  wichtigsten  Satz  der 
„technischen  Formenlehre"  aufstellt,  daß  sich  stets 
aus  der  Gestalt  die  Tätigkeit,  die  Ursache  der 
Form,  erschließen  läßt,  so  vermißt  man  den  Hin- 
weis auf  Goebel  und  Spencer  und  auf  das 
seit  langem  diskutierte  Problem  „Form  und  Funk- 
tion" der  Organe.  —  „Die  Gesetze  unserer  Technik 
liegen  in  der  Natur  vor  unseren  Augen",  „Niemand 
hat  das  je  gesagt",  ruft  der  Verf.  emphatisch 
aus.  Aber,  wer,  wie  der  Verf.,  Schopenhauer 
studiert  hat,  wird  nicht  umhin  können,  den  Scharf- 
sinn dieses  Philosophen  zu  bewundern,  wenn  er 
sich  an  diese  Stelle  erinnert:  „Also  schon  die 
untersten  Naturkräfte  selbst  sind  von  jenem  selben 
Willen  beseelt,  der  sich  nachher  in  den  mit  In- 
telligenz ausgestatteten,  individuellen  Wesen,  über 


sein  eigenes  Werk  verwundert,  wie  der  Nacht- 
wandler am  Morgen  über  das,  was  er  im  Schlafe 
vollbracht  hat."  Wächter. 


Literatur. 

Einstein,  A.,  Äther  und  Relativitätstheorie.  Berlin '20, 
J.  Springer. 

Schultz,  J. ,  Die  Grundfiktionen  der  Biologie.  Berlin 
'20,  Gebr.  Bornträger.     14  M. 

Rinne,  Prof.  Dr.  Fr.,  Die  Kristalle  als  Vorbilder  des 
feinbaulichen  Wesens  der  Materie.  Mit  zahlreichen  Abbildgn. 
Berlin  '21,  Gebr.  Bornträger.     2t;  M. 

D  annemann,  Fr.,  Die  Naturwissenschaften  in  ihrer 
Entwicklung  und  in  ihrem  Zusammenhange.  2.  Aufl.  I.  Bd.: 
Von  den  Anfängen  bis  zum  Wiederaufleben  der  Wissen- 
schaften. Mit  64  Textabbildgn.  Leipzig  '20,  W.  Engclmann. 
30  M. 

Bertog,  Dr.  H.,  Die  Beschaffung  des  Kiefernsamens, 
insbesondere  seine  Selbstgewinnung.  Mit  8  Textabb.  Neu- 
damm '20.     10  M. 

Kopff,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Einsteinsche  Relativitätstheorie. 
Leipzig  '20,   Greßner  u.  Schramm.     1,50  M. 

Meyers  Kleiner  Handatlas.  5  Lieferungen  zu  je  10  M. 
I.  Lieferung.     Leipzig,  Bibliogiaphisches  Institut. 

Die  Auskunft, 

Heft  8/9:    Hunke,    Dr.  L,    Anorganische  Chemie. 

Heidelberg  '21,  W.  Ehrig.     3,60  M. 
Heft  3:  Paehler,  Dr.  F.,  Physik.    Heidelberg  '21, 
W.  Ehrig.     3,50  M. 

Günther,  H.,  Die  Selbstanfertigung  von  Kleintransfor- 
matoren und  Gleichrichtern.  Stuttgart  '21,  Franckhsche  Ver- 
lagshandlung.    5,20  M.  ^ 

Günther,  H.,  Die  Selbstanfertigung  galvanischer  Ele- 
mente.    Stuttgart  '21,   Franckhsche  Verlagshandlung.     5,20  M. 

Lang,  Wellenlehre  und  Akustik  11  (Sammlung  Göschen). 
Berlin  '21,  Vereinigung    wissenschaftlicher  Verleger.      4,20  M. 

Newell  Arber,  Devonian  Floras.  Cambridge,  Univer- 
sily  Press. 

Schwinge,  Eine  Lücke  in  der  Terminologie  der  Ein- 
steinschen  Kelativitätslehre.  Berlin '21,  Pöble  Kom.-Verlag.  3  M. 

Die  Auskunft, 

Heft  5/7:    Wenz,    Geologie.      Heidelberg    '21,  W. 
Ehrig.     3,60  M. 

Die  Idee  der  Deutschen  Oberschule.  (Lehrkörper  zu 
Sondershausen.)    Dresden  '21,  Verlag  von  Bleyl  &  Kaemmerer. 

Sammlung  Vieweg  Heft  52:  Moeller,  Das  Ozon. 
Braunschweig  '21,  Fr.  Vieweg  &  Sohn.      12  M. 

Ochs,  Einführung  in  die  Chemie.  2.  Auflage.  Berlin  '21, 
Julius  Springer.     4S  M. 

Peter,  Parallaxenbestimmungen  an  dem  Rcpsoldschen 
Heliometer  der  Leipziger  Sternwarte.  Leipzig  '21,  B.  G.  Teub- 
ncr.     1,50  M. 

Groth,  Elemente  der  physikalischen  und  chemischen 
Krystallographie.     Berlin  '21,  Oldenburg. 

L  ä  m  m  e  1 ,  Die  Grundlagen  der  Relativitätstheorie.  Ber- 
lin '21,  Julius  Springer.      14  M. 

VVieleitner,  Geschiclite  der  Mathematik.  II.  Teil. 
(Sammlung  Schubert.)  Berlin  '21.  Vereinigung  wissenschaft- 
licher Verleger.     Geb.  45  M. 

Schaefer,  Einführung  in  die  theoretische  Physik.  11.  Bd. 
I.  Teil.      Berlin  '21,    Vereinigung   wissenschaftlicher  Verleger. 

Handbuch  der  Entomologie,  herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
Schröder,  Berlin.    Lfg.  VI.    Jena '21,  Gustav  Fischer.   15  M. 


lubalt:  W.  KUngelhöffer,  Der  Farbensinn  des  Menschen  und  seine  angeborenen  Störungen.  S.  321.  Axel  Schmidt, 
Zur  Wünschelrutenfrage.  S.  32S.  —  Einzelberichte:  A.  Kossei  und  G.  Giese,  Der  Farbstoff  des  grünen  Eiters. 
S.  331.  R.  Goldschmidt,  Die  quantitative  Grundlage  von  Vererbung  und  Artbildung.  S.  331.  O.  Stutzer,  Einige 
besondere  geologische  Erscheinungen  in  den  oligozänen  Pechkohlenflözen  Oberbayerns.  S.  332.  L.  vonzurMühlen, 
Der  neuentstehende  Magnesitbergbau  am  Galgenberg  bei  Zobten  in  Schlesien.  S.  333.  O.  E.  Plath,  Fliegenlarven, 
die  das  Blut  von  Nestvögeln  saugen.  S.  334.  —  Bücherbesprechungen:  G.  Karsten  und  W.  Benecke,  Lehrbuch 
der  Pharmakognosie.  S.  334.  W.  v.  Wasielewski,  Telepathie  und  Hellsehen.  S.  334.  R.H.France,  Die  Pflanze 
als  Erfinder.  S.  335.  —  Literatur:  Liste.  S.  336. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36,  Band. 


Sonntag,  den  5.  Juni  1921. 


Nummer  ä3. 


Christian  Gottfried  Nees  von  Esenbeck  als  Naturforscher  und  Mensch. ') 

Vortrag  in  der  zoolog.-botan.  Sektion  der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Kultur. 

[Nachdruck  verbotcn.l  Von  Prof.  Dr.  Hubert  Winkler,  Breslau. 

Dem  weiten  Kreise  der  Gebildeten   ist  Nees  deutendsten  Systematiker  seiner  Zeit"*)  gemacht 

vonEsenbeck  als  Goethes  Freund  bekannt;  Bei    seinen    ersten     naturgeschichtlichen    Studien 

mancher    weiß    vielleicht    noch,    daß    der    Brief-  lenkte    er    sein    Augenmerk    auf    die    Tier-    und 

Wechsel   beider  naturwissenschaftliche,    hauptsäch-  Pflanzengruppen,  die  ihrer  Unscheinbarkeit  wegen 

hch    botanische    Gegenstände    betraf.       Botaniker  oder  aus  anderen  Gründen  bis  dahin  vernachlässigt 

war  Nees  freilich  in  erster  Linie,  wenn  wir  sein  worden   waren.     So   arbeitete   er   mit  Graven- 


staatliches  Amt  in  Betracht  ziehen,  aus  dem  er 
nach  34jährigem  Dienste  nicht  mit  freiem  Willen 
geschieden  ist.  Nur  wenige  aber  wissen,  wie  viel- 
seitige Arbeit  im  Dienste  der  Kultur  dieser  aus- 
nahmsweise begnadete  Mann  geleistet  hat. 

Nees  vonEsenbeck  war,  wie  so  viele  be- 
deutende Vertreter  unseres  Faches,  von  der  Me- 
dizin zur  Botanik  gekommen,  in  der  Batsch 
sein  Lehrer  war.    Und  die  Lehre  ist  gut  gewesen 


hörst  zusammen  über  die  Ichneumoniden;  von 
dieser  und  den  nächst  verwandten  Familien  kam 
1834  eine  monographische  Bearbeitung  heraus. 
Seine  älteste  botanische  Arbeit  behandelt  „Die 
Algen  des  süßen  Wassers  nach  ihren  Entwicklungs- 
stufen dargestellt",'^)  die  folgende  „Das  System 
der  Pilze  und  Schwämme".")  In  beiden  Arbeiten 
mischt  sich  mit  guter  Beobachtung  aber  noch  all- 
zuviel philosophische  Spekulation.    Die  Überschrift 


Denn  wahrend  im  Gegensatz  zu  der  in  Frankreich  des  XXI.  Kapitels  des  „Systems"  lautet  •  Vege- 
betriebenen  Botanik  in  Deutschland  Linne  als  tative  Schwere.  Reich  der  Wiederkehr"  zum 
mißverstandene  Autorität  bei  kleinlichen  Nach-  mütterlichen  Sqhoße.  —  Fruchtknotenleben"  •  und 
tretern  ein  behagliches  Weiterspinnen  veranlaßte,  Abschnitt  190  dieses  Kapitels:  „Diese  neue  Sphäre 
war  Batsch  einer  der  wenigen  deutschen  Bota-  wird  die  Elemente  des  Schwammlebens,  Zellen- 
niker  des  ausgehenden  18.  Jahrhunderts,  der  peridie  und  wachsende  Basis,  als  produktive 
Jussieus  Verdienste  um  den  Ausbau  des  natür-  Einheit  darstellen,  d.  h.  die  Substanz  selbst 
liehen  Pflanzensystems  zu  würdigen  wußte.  Er  wird  in  die  Form  ihres  produktiven  Prinzips,  die 
hatte  selbst  eine  „Tabula  affinitatum  regni  vege-  Peridie ,  umschlagen ,  und  die  freye  Zelle '  von 
tabihs"  mit  Charakteristik  der  Familien  und  höheren  Ascodoli/s  im  Urmomente  der  Entwicklung  aus 
Gruppen  verfaßt.      Diesen  tüchtigen  Sinn  für  das      sich  darstellen." 

Notwendige     und    Wesentliche     der    botanischen  Hier  sei  auch  gleich  die  „Bryologia  germanica 

Wissenschaft  übertrug  Batsch  auf  seinen  außer-  oder  Beschreibung  der  in  Deutschland  und  in  der 
gewöhnlich  begabten  Schüler.  Nees  vonEsen-  Schweiz  wachsenden  Laubmoose"  erwähnt,  die  er 
beck  hat   sich  sehr  genau  Rechenschaft  gegeben      im  Verein  mit  Hornschuch  und  dem  Zeichner 

einerseits  über  die  Berechtigung  der  Linneschen      

analytischen  Methode,  die  seinerzeit  zur  Be- 
wältigung der  aus  Europa  und  anderen  Weltteilen 
auf  Linne  einstürmenden  Masse  von  Formen  eine 
Notwendigkeit  war,  andererseits  über  die  zusam- 
menfassende Vergleichung,  die  die  Einzelarten  zu 
Gattungen  und  diese  zu  höheren  Gruppen  zu  ver- 
einigen strebt.  In  seiner  Arbeit  „Über  die  Gattungen 
Maranta  und  Thalia"")  spricht  er  sich  darüber 
aus.  Schon  während  seiner  ersten  akademischen 
Lehrtätigkeit  in  Bonn  hat  er  in  dem  hauptsäch- 
lich auf  sein  Betreiben  gegründeten  Seminarium 
für  die  gesamten  Natur wissensch  aften 
einen  Vortrag  Fuhlrotts  über  dieses  Thema 
veranlaßt,  der  1829  mit  Vorwort  von  Nees  als 
umfangreiche  Arbeit  gedruckt  worden  und  sicher 
auf  die  Einführung  der  natürlichen  Pflanzensysteme 
in  Deutschland  von  nicht  geringem  Einfluß  ge- 
wesen ist.^) 

Die  eben  erörterte  gesunde  theoretische  An- 
schauung verbunden  mit  ausdauernder  Arbeit 
haben  Nees  von  Esenbeck  zu  „einem  der  be- 


')  An  biographischen  Notizen  und  kurzen  Biographien 
liegen  vor:  drei  von  Nees'  eigener  Hand,  nämlich  in 

Nowacks  Schles.  Schriftsteller-Lexikon  I,   1836. 

Für  freies  religiöses  Leben,  Zeitschrift,  herausgegeben  von 
Hofferichter  und  Kampe,  IL  Bd.,  Breslau   1849. 

Die  Verbrüderung,  Nr.  52,   1849. 
Ferner 

Schideck,  Nees  von  Esenbeck.  Ein  Lebensbild  für 
seine  Freunde.     Breslau   1851. 

Anonym  (Ferd.  Cohn),  Christian  Gottfried  Daniel  Nees 
von  Esenbeck.     (Illustrierte  Zeitung,  Leipzig,  Jahrg.    1858.) 

D.  G.  Kieser,  Lebensbeschreibung  des  am  16.  März 
1858  verstorbenen  Präsidenten  der  Kaiserlichen  Leopoldinisch- 
Carolinischen  deutschen  Akademie  der  Naturforscher,  Dr. 
Christian  Gottfr.  Dan.  Nees  von  Esenbeck.  (Nov.  Act.  XXVII 
1860.)  ^ 

F.  Pax  in  Festschrift  zur  Feier  des  loojährigen  Bestehens 
der  Universität  Breslau,  191 1. 

')  Linnaea  VI   (1831). 

''■)  Carl  Fuhlrott,  Jussieus  und  de  CandoUes  natür- 
liche Pflanzensysteme  nach  ihren  Grundsätzen  entwickelt  und 
mit  den  Pflanzenfamilien  von  Agardh,  Batsch  und  Linne,  so- 
wie mit  dem  Linneschen  Sexualsystem  verglichen.    Bonn  182Q 

*)  Pax  1.  c. 

^)  Bamberg   1814. 

")  Würzburg   1817. 


338 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Sturm  herausgab.')  Der  systematische  Teil  um- 
faßt 64  Gattungen.  Außerdem  ist  alles  zusammen- 
getragen, was  damals  in  anatomischer  und  physio- 
logischer Hinsicht  über  die  IVIoose  bekannt  war; 
auch  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Moos- 
forschung von  Theophra'st  bis  auf  die  neueste 
Zeit  wird  dargestellt. 

Später  beschäftigte  sich  Nees  auch  mit  zahl- 
reichen Phanerogamen-Familien.  Seinen  ersten  Zu- 
hörern in  Erlangen  1818  widmet  er  seine  „Synopsis 
specierum  generis  Asterum  herbacearum","')  eine 
Gattung,  die  er  1833  noch  einmal  monographisch  ■'') 
bearbeitet  hat.  Er  benutzte  dazu  nicht  nur  alle 
ihm  zugänglichen  Herbarien,  sondern  kultivierte 
auch  manche  Arten,  offenbar  auch  einige  von 
Goethe  erhaltene,  über  deren  herrliches  Blühen 
er  diesem  in  einem  Briefe  berichtet.  Für  seinen 
Freund  Martius  hat  er  mehrere  Familien  in 
der  „Flora  brasiliensis"  bearbeitet,  für  englische  und 
holländische  Veröffentlichungen  eine  Anzahl  in- 
disch-malayischer  und  kapensischer  Familien.  Bei 
den  Gramineen,  Cyperaceen,  Piperaceen,  Laura- 
ceen,  Solanaceen,  Äcanthaceen,  Astereen  stößt 
man  wieder  und  wieder  auf  Nees  abEsenbeck 
als  Autornamen.  In  Gemeinschaft  mit  Weihe 
hat  er  sich  auch  der  schwierigen  Gattung  Riibus 
angenommen  und  „Die  deutschen  Brombeer- 
sträuche" in  10  Heften  mit  52  Tafeln  dargestellt.*) 

Noch  in  späteren  Jahren  ist  er  öfter  zu  seiner 
ersten  Liebe,  den  Kryptogamen,  zurückgekehrt, 
besonders  als  er  durch  seine  Berufung  nach  Bres- 
lau mit  dem  Riesengebirge  und  mit  F 1  o  t  o  w  be- 
kannt wurde,  der  außer  Flechten  auch  Leber- 
moose eifrig  sammelte  und  mit  glückhcher  Hand 
kultivierte.  Nees  von  Esenbecks  „Erinne- 
rungen aus  dem  Riesengebirge"  bieten  als  erste 
4  Bändchen  „Die  Naturgeschichte  der  europäischen 
Lebermoose". '') 

Als  ein  besonderes  Verdienst  für  die  damalige 
Zeit  muß  man  den  Nees  sehen  systematischen  Ar- 
beiten die  Berücksichtigung  der  pflanzengeogra- 
phischen Verhältnisse  anrechnen.  In  diesem  Punkte 
hatte  er  von  Rob.  Brown  besonders  gelernt. 
So  hoch  verehrte  er  diesen  genialen  englischen 
Botaniker,  den  Goethe  als  den  größten  seiner 
Zeit  bezeichnete,  daß  er  dessen  Schriften  bis  zu 
den  kleinsten  Fragmenten  herab  mit  Hilfe  von 
Fachgenossen  in  einer  deutschen  Übersetzung  zu- 
sammenstellte.*) 

Wir  sehen  also,  daß  Nees  von  Esenbeck 
mit  Treue  eine  gewaltige  Masse  minutiöser  Klein- 
arbeit leistete.  Er  hatte  aber  ein  zu  tiefes  philo- 
sophisches Bedürfnis,  um  an  diesen  Einzelstudien 
ganz  Genüge  zu  finden.  Merkwürdigerweise  haben 
ihn  jedoch  seine  ausgebreiteten  systematischen 
Kenntnisse  nicht   dazu  geführt,   den  theoretischen 


')  Nürnberg  1823 — 1827. 

2)  Erlangae  :8i8. 

3)  Norimbergae  MDCCCXXXIII. 
*)  Elberfeld   1822— 1827. 

»)  Berlin   1833  u.   1S36,  Breslau   1838. 
")  Nürnberg  1834. 


Ausbau  des  natürlichen  Pflanzensystems  zu  fördern. 
Schon  während  seiner  Studienzeit  in  Jena  war  er 
mit  den  naturwissenschaftlichen  Bestrebungen 
Goethes  bekannt  geworden,  und  später,  nament- 
lich in  den  Jahren  1816 — 1820,  hat  er  brieflich 
und  mündlich  viel  mit  ihm  verkehrt.  1822  widmete 
er  mit  Martius  zusammen  ihm  eine  neue 
brasilianische  Malvaceen-Gattung:  Goethea.  Die 
Anziehungskraft  ging  besonders  von  Goethes 
Metamorphosenlehre  aus,  die  die  ideelle  Beziehung 
von  Form  zu  Form,  die  stufenweise  Abänderung 
von  einer  zur  anderen  und  vom  Allgemeinen  zu 
den  Einzelformen  durch  die  Idee  des  Typus  über- 
sehbar und  begreiflich  machen  soll.*) 

Goethe  hatte  zunächst  versucht,  einen  solchen 
Typus  für  das  Skelett  der  Vierfüßer  aufzustellen. 
Später  hat  ihn  die  Konstruktion  des  pflanzlichen 
Typus,  der  Urpflanze,  lange  auf  das  lebhafteste 
beschäftigt.  Es  ist  klar,  daß  ein  Geist  wie  Nees 
von  Esenbeck,  dessen  tiefstes  Bedürfnis  es  war, 
jede  Sache  durch  begriffliche  Klärung  ins  hellste 
Licht  des  Bewußtseins  zu  erheben,  von  diesen 
Goethe  sehen  Ideen  angezogen  werden  mußte. 
Er  hat  daher  neben  seinen  speziellen  systematischen 
Arbeiten,  in  denen  er,  je  länger  um  so  mehr,  die 
strengste  Einzelbeobachtung  walten  ließ,  die  all- 
gemeine Morphologie  auf  dieser  Goe theschen 
Grundlage  in  zwei  dicken  Bänden  '^)  dargestellt, 
die  er  auch  „Seiner  Exzellenz  dem  Geheimenrath 
von  Goethe"  widmete.  „Die  Quelle  ist  frei- 
lich durch  Sie  aufgeschlossen  worden",  sagt  er  in 
der  Widmung,  „aber  sie  rinnt  in  diesem  Buch  in 
allzuviele  Bächlein  untereinander."  In  der  Tat, 
der  eine  mächtige  Strom  der  Idee,  die  Goethe 
hauptsächlich  an  dem  Beispiel  der  Blätter  erläutert, 
wird  hier  auf  etwa  600  Seiten  bis  zum  einzelnen 
durchgeleitet.  Von  den  Zellen  und  Gefäßen  fangt 
er  an,  handelt  dann  von  Wurzel,  Stengel,  Knospe, 
Blättern,  Blüte,  Frucht  und  Samen.  Und  jedes- 
mal findet  sich  ein  Kapitel  „Metamorphosengang", 
a)  im  Individuum,  b)  durch  die  Stufen  des  Ge- 
wächsreichs; d.  h.  jeder  Pflanzenteil  unterliegt 
einer  doppelten  Betrachtung.  Die  Metamorphose 
der  Knospe  z.  B.  wird  folgendermaßen  dargestellt : 
Im  Pflanzenindividuum  gibt  es  eine  vor-  und  eine 
rückschreitende  Knospenmetamorphose.  Jene  ist 
ausgedrückt  durch  die  Bezeichnungen  Stock- 
knospe, Stengelknospe,  Blumenknospe; 
rückschreitend  im  Pflanzenindividuum  wird  die 
Knospe  zu  einer  Knospenknolle,  wie  bei 
Dejifaria  bidbifera.  Der  Metamorphosengang  der 
Knospe  durch  das  ganze  Gewächsreich  ist  ge- 
geben als  Fortschreiten  der  nackten  zur  be- 
deckten Knospe.  Dieser  Fortschritt  wird  in 
einer  zutreffenden  ökologischen  Betrachtung  mit 
dem  Jahreszeitenwechsel  in  Verbindung  gebracht. 

Durch  diese  Methode  werden  manche  morpho- 
logischen Beziehungen  in  glücklicher  Weise  dar- 
gestellt.  Vieles  wird  aber  durch  die  hineinspielende 


')  Naef,  Idealist.  Morphol.  u.  Phylogenetik.   Jena  191g. 
*)  Handbuch  der  Botanik,  Nürnberg  1820  u.   1821. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


339 


Naturphilosophie  des  Verfassers  verdunkelt.  So 
tritt  mehrmals  ein  Kapitel  „Horologie"  auf,  das 
das  Verhalten  der  Organe  gegenüber  Tag  und 
Nacht  hehandelt  und  uns  wunderlich  anmutet. 
Über  die  Farbe  der  Pflanze  wird  gesagt:  „Grün, 
die  Farbe  des  Pflanzenreichs,  liegt  in  der  IVIitte 
der  sieben  prismatischen  Farben,  bezeugt  die 
Ausgleichung  des  Streites  des  Lichts  mit  der  or- 
ganischen Materie  und  entspricht  darum  der  Idee 
des  Pflanzenreichs  und  thut  dem  Auge  so  wohl." 
Eine  große  Rolle  spielt  auch  die  alte  naturphilo- 
sophische Idee  der  abwechselnden  Ausdehnung 
und  Zusammenziehung  der  Teile.  Auch  in  Nees' 
ersten  systematischen  Arbeiten  spuken  noch  solche 
Gedankengänge.  In  seiner  Arbeit  ,,Uber  die  bart- 
mündigen Enzianarten"  z.  B.  unterscheidet  er  eine 
Entwicklungsreihe  mit  konthrahierter  und 
eine  mit  expandierter  Stengelform;  und  die- 
selbe Unterscheidung  kehrt  beim  Blatt,  dem  Kelch 
und  der  Krone  wieder. 

Wenn  wir  Nees  von  Esenbecks  natur- 
wissenschaftliche Schriftstellerei  betrachten,  so 
müssen  wir  auch  einen  Blick  auf  seine  mittelbare 
Wirksamkeit  in  dieser  Beziehung  werfen,  d.  h. 
auf  seine  Verdienste  um  die  Drucklegung  fremder 
Werke.  Solche  hat  er  sich  im  höchsten  iVlaße 
erworben  durch  seine  überaus  erfolgreiche,  un- 
eigennützige Tätigkeit  als  Präsident  der  Kaiserl. 
Leopoldinisch  -  Carolinischen  deutschen  Akademie 
der  Naturforscher,  deren  Gründung  165 1  erfolgt 
war.  Seit  18 16  war  Nees  v.  Esenbeck  Mit- 
glied der  Akademie;  bald  darauf  wurde  er  Ad- 
junkt und  am  3.  August  18 18,  nach  v.  Wendts 
Tode,  zum  Präsidenten  gewählt,  ein  unbezahltes 
Ehrenamt,  das  er  bis  zu  seinem  Tode  mit  größter 
Hingebung  versah.  Nees  schreibt  selbst  im 
Jahre  1852  in  dem  Vorwort  zum  Katalog  seiner 
Bibliothek,  ^)  den  er  zum  Zwecke  einer  Auktion 
aufgestellt  hatte:  „Die  Wiederbelebung  und  Fort- 
bildung der  alten  Kaiserl.  Akademie  verbunden 
mit  den  Pflichten  gegen  die  neue  Universität  Bonn, 
nahmen  seit  1818  meine  ganze  Wirksamkeit  in 
Anspruch,  und  besonders  war  die  Geschäftsleitung 
bei  der  Akademie  von  solcher  Art,  daß  sie  alle 
von  meinen  Amtspflichten  im  engeren  Sinne  freie 
Zeit  ganz  ausfüllte  und  ich  weder  in  Bonn  noch 
später  in  Breslau  jemals  eine  der  einträglichen 
Universitätsstellen,  das  Rektorat  oder  Dekanat 
übernehmen  konnte,  also  auch  hier  meiner  Nei- 
gung, mich  selbst  im  Wirken  für  andere  oder  für 
das  Allgemeine  zu  vergessen,  folgen  konnte,  ja 
folgen  mußte."  Jenes  alte  ehrwürdige  Reichs- 
institut, das  das  Leben  des  alten  Reiches  über- 
dauert hatte,  war  mit  dessen  Untergang  aber 
auch  altersschwach  geworden.  Vor  allem  mußte 
die  Frage  entschieden  werden,  welcher  von  den 
Bundesstaaten  sich  seiner  annehmen  werde.  Da 
sein  Präsident    nach    Bonn    übersiedelte,    erklärte 

')  Breslauer  Bücher-Auktion,  den  I.  März  1852.  Citalogus 
Bibliothecae  Chr.  Godofr.  Nees  ab  Esenbeck  Dr.  .  .  Mit  einer 
Vorrede  von  Nees  von  Esenbeck  und  der  Übersicht  seines 
gleichfalls  verkäuflichen  Herbarii. 


sich  Preußen  auf  Nees'  Antrag  unter  Garantie 
der  alten  PVeiheiten  der  Akademie  bereit,  für  die 
Zeit  ihres  Aufenthalts  in  den  Kgl.  Preußischen 
Staaten  einen  jährlichen  Zuschuß  von  1200  Talern 
aus  Staatsfonds  zur  Herausgabe  ihrer  Schriften  zu 
leisten.  Achtzehn  Bände  der  Verhandlungen  (Nova 
Acta)  kamen  unter  Nees'  Präsidentschaft  heraus, 
d.  h.,  da  jeder  2  Abteilungen  umfaßt  und  auch 
noch  Supplemente  erschienen :  47  Quartbände  mit 
486  Abhandlungen  und  1480  Kupfertafeln  und 
Lithographien.  In  seinem  Eifer,  recht  viele  Ar- 
beiten möglichst  gut  ausgestattet  herauszubringen, 
ließ  er  oft  die  finanziellen  Kräfte  der  Akademie 
unberücksichtigt,  so  daß  sich  bei  seinem  Tode 
eine  nicht  unbeträchtliche  Schuldenlast  angesam- ' 
melt  hatte.  Sein  Nachfolger  auf  dem  Präsidenten- 
stuhl und  langjähriger  Freund,  der  Mediziner 
Kieser,  sagt  in  seinem  Nachruf:  „Mag  dies  in 
seinem  unermüdlichen  Eifer,  die  Ehre  und  Wirk- 
samkeit des  deutschen  Instituts  zu  fördern,  eine 
Entschuldigung  finden." 

Neben  dieser  Förderung  der  Naturforschung 
lag  Nees  von  Esenbeck  die  Verbreitung 
naturwissenschaftlicher  Kenntnisse  im  Volke  und 
die  Einführung  eines  ausreichenden  naturkund- 
lichen Unterrichts  in  den  Schulen  sehr  am  Herzen. 
Er  fand  Gelegenheit,  diese  Bestrebungen  dadurch 
wirksam  zu  machen,  daß  sein  Landsmann  und 
Gönner,  der  Unterrichtsminister  v.  Altenstein, 
der  ihn  auch  an  die  neugegründete  Universität 
Bonn  berufen  hatte,  seine  gutachtliche  Äußerung 
über  die  Reform  des  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richts an  den  Gymnasien  einforderte.  In  diesem 
1833  erstatteten  Gutachten  will  Nees  die  An- 
schauung, vermittelt  durch  Sammlungen ,  als 
Grundlage  des  Unterrichts  angesehen  wissen,  da- 
mit der  Schüler  selbsttätig  zur  Erkenntnis  der 
Natur  gelange.  Die  Schüler  sind  daher  ebenfalls 
zum  Sammeln  anzuleiten.  Der  Lehrer  muß  des- 
halb in  den  Stand  gesetzt  werden,  mit  den 
Schülern  Exkursionen  zu  unternehmen.  Schon 
1833  stellt  Nees  auch  die  Forderung  nach  bota- 
nischen Schulgärten  aufl  Im  Winter  müsse  statt 
der  Exkursionen  von  Quarta  ab  wöchentlich  ein 
halber  Tag  zur  Beschäftigung  im  Zimmer  unter 
Aufsicht  des  Lehrers  bestimmt  sein.  Sollen  die 
Naturstudien  als  Bildungsmittel  auf  dem  Gymna- 
sium Kraft  gewinnen,  so  müssen  sie  mit  dem 
Stempel  der  Ebenbürtigkeit  sich  den  übrigen 
Lehrgegenständen  beigesellen,  und  zwar  bis  zur 
I.  Klasse.  Geschieht  das  nicht,  so  gewöhnt  sich 
der  Schüler  nach  seiner  Versetzung  in  die  höheren 
Klassen,  in  denen  die  Naturgeschichte  wegfällt, 
auf  diese  als  auf  Untergeordnetes  herabzublicken 
oder  sich  wohl  gar  als  in  diesem  Fache  vollständig 
ausgebildet  zu  betrachten. 

Neben  diesem  dienstlichen  Gutachten  unter- 
nahm es  Nees  noch,  durch  Aufsätze  in  wissen- 
schaftlichen Zeitschriften  und  in  Tageszeitungen 
die  öffentliche  Meinung  für  diesen  Gegenstand 
lebhaft  zu  interessieren.  1839  wurde  er  vom 
Minister  v.  Altenstein  aufgefordert,  „einen  Ent- 


340 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


wurf  zu  dem  noch  zu  erlassenden  Reglement  für 
die  Prüfung  der  Kandidaten  in  den  zum  Unter- 
richt in  der  Naturwissenschaft  erforderlichen 
Kenntnissen  und  Fertigkeiten"  zu  verfassen.  Im 
Dezember  desselben  Jahres  erschien  dann  ein 
Ministerialreskript,  das  eine  obligatorische  Prüfung 
in  den  Naturwissenschaften  für  die  Kandidaten 
anordnete,  die  solchen  Unterricht  in  den  Gymna- 
sien, Real-  oder  höheren  Bürgerschulen  erteilen 
wollten.  Nees  vonEsenbeck  wurde  in  Bres- 
lau der  erste  Examinator  für  Naturkunde  in  der 
wissenschaftlichen  Prüfungskommission,  erhielt 
allerdings  sofort  nach  Berufung  Eichhorns  zum 
Kultusminister  den  Prof.  Göppert  zum  Nach- 
folger. Ein  weiterer  Erfolg  von  Nees'  Bemühun- 
gen war,  daß  Altenstein  zu  der  Überzeugung 
kam,  „daß  er  sich  nicht  eher  einen  für  den  Unter- 
richt ersprießlichen  Erfolg  verspreche,  als  bis  auf 
sämtlichen  Universitäten  regelmäßig  Vorlesungen 
über  allgemeine  Naturgeschichte  in  ihrer  Anwerr- 
dung  auf  den  Gymnasialunterricht  gehalten  wer- 
den". Er  freue  sich,  daß  sich  Nees  aus  eigenem 
Antriebe  zu  einer  solchen  entschlossen  habe. 

Auch  in  dem  „wissenschaftlichen  Verein", 
dessen  Seele  er  wohl  war  • —  einem  Verein  von 
Breslauer  Universitätsprofessoren,  mit  der  Auf- 
gabe, wissenschaftliche  Vorträge  für  einen  größeren 
Kreis  gebildeter  Zuhörer  zu  halten  —  bestätigte 
sich  Nees  von  Esenbeck  eifrig  und  erhielt 
dafür  vom  Minister  einen  Dank. 

Neben  naturwissenschaftlichen  Fragen  beschäf- 
tigten Nees,  der  nach  seinem  Universitätsstudium 
eine  Zeitlang  medizinische  Praxis  betrieb,  damals 
medizinische  Probleme  lebhaft;  er  hat  eine  Reihe 
medizinischer  Schriften  rezensiert.  Mit  Über- 
zeugung hing  er  dem  Mesmerismus  an,  der  Lehre 
vom  tierischen  Magnetismus.  In  Hufelands 
„Neuem  Journal  für  praktische  Arzneikunde"  und 
in  Kiesers  „Archiv  für  den  tierischen  Magnetis- 
mus", bei  dem  er  seit  1820  als  Mitherausgeber 
auftrat,  schrieb  er  mehrere  mesmeristische  Auf- 
sätze: „Traumdeutung,  ein  Fragment"  —  „Ein 
blindes  Mädchen  sieht  mit  den  Fingerspitzen"  — 
„Auch  einige  verwirrte  Gedanken  über  die  tierisch- 
magnetischen Erscheinungen".  1820  veröffent- 
lichte er  in  Vorlesungsform  eine  —  Kies  er  ge- 
widmete —  Schrift  „Entwicklungsgeschichte  des 
magnetischen  Schlafs  und  Traums",  ^)  in  der  er 
die  Frage  mit  ganz  einwandfreier  naturwissen- 
schaftlicher Methode  behandelt.  Die  i.  Vorlesung 
z.  B.  bietet  eine  klare  und  anschauliche  Darstel- 
lung der  Phasen  des  gewöhnlichen  körperlichen 
Einschlafens  und  Erwachens.  In  der  2.  und  3.  Vor- 
lesung behandelt  er  ebenso  das  magnetische  Ein- 
schlafen und  Erwachen,  was  wir  heute  etwa  Hyp- 
nose nennen  würden;  weiter  das  Verhalten  der 
Sinne  beim  magnetischen  Schlafen  und  Wachen, 
das  Hellsehen,  schließlich  die  Heilkraft  des  tieri- 
schen Magnetismus.  Um  so  wunderbarer  mutet 
es  an,  wenn  wir  mitten  in  den  nüchternen  wissen- 


schaftlichen Auseinandersetzungen  folgenden  Satz 
finden:  „Der  Schlaf  erscheint  uns  als  der  Aus- 
druck der  einen  Achsendrehungshälfte  der  Erde, 
durch  welche  sie  sich  vor  der  Sonne,  vor  der 
Beziehung  und  Rückbildung  ins  Allleben  ihres 
Systems  verbirgt." 

Damit  kommen  wir  zu  —  schon  berührten 
—  Tendenzen  im  Denken  Nees  von  Esen- 
becks,  die  wir  von  unserem  heutigen  Standpunkt 
meist  nicht  als  wissenschaftlich  zu  bezeichnen 
pflegen,  Tendenzen,  die  ihm  nicht  allein  eigen 
sind,  die  den  ganzen  Geist  seiner  Zeit  bewegten, 
die  er  als  Student  in  Jena  von  dem  Haupte  dieser 
Richtung  selbst,  Schelling,  in  sich  aufgenom- 
men hatte:  der  Naturphilosophie.  Dieser  Geist 
jenes  Zeitalters  ist  die  Einheitstendenz.  „Der 
Zug  nach  Einheit  und  Universalität  war  damals 
der  mächtigste,  er  hatte  alle  Lebensgebiete  er- 
griffen und  trieb  alle  bewegenden  Kräfte  der 
geistigen  Welt  in  seine  Richtung"  sagt  Kuno 
Fischer  in  seinem  großen  Werk  über  Schel- 
ling.') „Der  Zug  nach  dem  Alleinen  hatte  sich 
der  Geister  in  Wissenschaft  und  Kunst,  in  Philo- 
sophie und  Dichtung  bemächtigt.  Die  Welt- 
anschauung aus  einem  Stück,  die  Erkenntnis  aus 
einem  Prinzip  war  seit  Kant  Aufgabe  und 
Thema  der  deutschen  Philosophie."  Und  „unsern 
großen  Dichtern  galt  die  Kunst  nicht  als  ein 
vereinzeltes  Schaffen,  sondern  wurde  ihnen  die 
Seele  der  Welt,  der  Weltbetrachtung,  der  Menschen- 
erziehung, die  gestaltende  und  vollendende  Macht 
der  Natur  und  Bildung".  Was  das  christliche 
Mittelalter  in  seiner  einheitlichen  Weltanschauung 
besessen,  die  es  zu  einer  großartigen  Kultur- 
leistung befähigte,  das  sucht  die  denkende  Mensch- 
heit doch  immer  wieder  zu  gewinnen,  wenn  es 
ihr  abhanden  gekommen  ist.  So  war  es  zu  den 
Zeiten  der  idealistischen  Naturphilosophie,  die  in 
der  Romantik  so  gern  an  das  Mittelalter  anknüpfen, 
so  ist  es  heute  wieder.  Wie  oft  hören  wir  die 
Klage,  daß  unsere  Wissenschaft  an  zu  großer 
Spezialisierung  und  Zersplitterung  leide,  daß  wir 
wieder  einer  umfassenden  Synthese  bedürften. 
Und  das,  was  wir  heute  wieder  Monismus  nennen, 
ist  ja  nichts  weiter  als  das  Streben  nach  einer 
einheitlichen  Auffassung  der  Welt.  Die  Zeiten 
der  Vereinzelung  und  Zersplitterung  des  Denkens 
freilich  wissen  solches  Streben  nicht  zu  würdigen. 
Und  so  hat  sich  denn  auch  die  deutsche  Natur- 
philosophie harte  Urteile  gefallen  lassen  müssen 
und  muß  es  noch  heute.  Daran  war  sie  selbst 
nicht  ganz  schuldlos.  Seh  ellin  gs  umfassende 
Formeln  bilden  den  Abschluß,  die  konzentrierte 
Darreichung  entwickelter  Gedankenreihen;  bei 
vielen  seiner  Anhänger  treten  öde  und  mystische 
Formeln  jedoch  an  Stelle  der  Gedanken.  Aber  die 
großen  Meister  selbst  haben  oft,  wo  die  exakte 
Wissenschaft  ihren  Spekulationen  noch  keine  ge- 
nügende   Grundlage    bot,    durch    Konstruktionen 


')  Bonn  1820. 


•)  Schellings  Leben,  Werke  und  Lehre.    2.  Aufl.    Heidel- 
berg  1899. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


341 


auch  in  Einzelheiten  ihr  Streben  und  ihre  Lehre 
bei  den  Naturforschern  in  Mißkredit  gebracht. 
Gewiß  mußte  es  unsinnig  erscheinen,  wenn 
Hegel  beweisen  wollte,  daß  es  nur  7  Planeten 
geben  könne.  Ja  selbst  die  Lehre,  daß  die  Fix- 
sterne einen  Hitzeausschlag  des  Himmels  dar- 
stellen, tauchte  wieder  auf.  So  kam  es  denn,  daß 
man  den  hohen  Standpunkt  und  das  umfassende 
Erkenntnisstreben  der  allgemeinen  Wissenschaft, 
der  Philosophie,  allmählich  gänzlich  ablehnte  und 
immer  mehr  an  krassem  Mechanismus  und  Mate- 
rialismus sein  Genügen  fand.  Der  Hauptvertreter 
der  deutschen  Naturphilosophie,  Schellin  g, 
denkt  aber  in  seinen  Kerngedanken  merkwürdig 
naturwissenschaftlich.  „Seine  naturphilosophischen 
Gesichtspunkte  sind  sämtlich  bestimmt  durch  den 
Gedanken  einer  durchgängigen  Einheit  aller  Natur- 
erscheinungen, weil  jeder  Dualismus  den  Zusam- 
menhang der  Dinge  und  damit  deren  Erkennbar- 
keit aufhebt.  In  der  unorganischen  Natur  war 
Schellings  Gesichtspunkt  auf  die  Einheit  der 
physikalischen  Kräfte  gerichtet  und  sah  dort  das 
Ziel,  wo  die  heutige  Physik  ihren  erreichten 
Höhepunkt  erblickt."  Schelling  erklärte  noch 
vor  Erfindung  der  Voltaschen  Säule  grundsätz- 
lich die  Einheit  der  elektrischen,  chemischen  und 
magnetischen  Erscheinungen.  Dieses  Thema 
seiner  Naturphilosophie,  die  Einheit  der  Natur- 
kräfte fand  sich  dann  durch  den  folgenden  Ent- 
deckungsgang der  Physik  durchaus  bestätigt.  Und 
bei  Betrachtung  der  organischen  Natur  forderte 
er  die  Identität  von  Materie,  Magnetismus,  Elek- 
trizität, chemischem  Prozeß,  Leben,  Organisation, 
Intelligenz  und  Bewußtsein;  eine  Forderung,  die 
kein  moderner  Monist  überbieten  kann.  Den 
Vitalismus  lehnte  er  durchaus  ab. 

Wir  sehen  also,  daß  sich  der  idealistischen 
deutschen  Naturphilosophie,  wenigstens  in  ihren 
maßgebenden  Vertretern,  doch  Ideen  abgewinnen 
lassen,  die  auch  dem  Naturforscher  nicht  ganz  so 
unsinnig  erscheinen,  wie  sie  oft  hingestellt  worden 
sind ;  und  daß  es  die  Naturphilosophie  kaum  nötig 
hat,  sich  selbst  auf  Erkenntnistheorie  zu  be- 
schränken, wie  die  meisten  Naturforscherphilo- 
sophen es  heute  tun. 

Von  diesen  Ideen  also  wurde  Nees  von 
Esenbeck  schon  als  Student  aufs  stärkste  an- 
gezogen. Sein  ganzes  Leben  lang,  in  vielen  seiner 
Schriften,  tritt  seine  naturphilosophische  Grund- 
stimmung, gelegentlich  zutage.  Und  gegen  Ende 
seines  Lebens  hat  er  es  noch  unternommen,  ein 
„System  der  spekulativen  Philosophie"  zu  schreiben, 
von  dem  1841  als  erster  Band  die  „Naturphilo- 
sophie" *)  herauskam.  Einen  Fortschritt  des  philo- 
sophischen Gedankens  scheint  diese  Schrift  nicht 
zu  bedeuten.  Nees  von  Esenbeck  war  zwar 
geistreich  und  zweifellos  auch  ein  spekulativer 
Kopf,  der  sich  in  die  verschlungenen  Gedanken- 
wege anderer  hineinzufinden  wußte,  aber  doch 
nicht  gerade  genial  auf  diesem  Felde,  um  Größeres 


')  Glogau   1841. 


als  seine  großen  Lehrer  bieten  zu  können.  Eine 
Bestätigung  dieser  Auffassung  sehe  ich  darin,  daß 
ich  Nees  von  Esenbeck  nirgends  in  den  Ge- 
schichten der  Philosophie  verzeichnet  finde.  Er- 
wähnenswert ist  es,  daß  Nees  trotz  seiner  ent- 
schiedenen Neigung  zur  Spekulation  dieser  doch 
in  seinen  späteren  Jahren  keinen  Einfluß  mehr 
auf  seine  exakten  naturwissenschaftlichen  Unter- 
suchungen einräumte,  wodurch  er  sich  vorteilhaft 
von  manchem  anderen  Naturforscher  der  damaligen 
Zeit  unterscheidet. 

Meine  zweite  Aufgabe,  Nees  von  Esenbeck 
als  Menschen  zu  schildern,  ist  erheblich  schwieriger, 
aus  äußeren  (die  Quellen  fließen  sehr  spärlich) 
und  inneren  Gründen.  Ich  möchte  voran  zwei 
gegensätzliche  Tatsachen  stellen:  i.  Nees  wurde 
unter  Teilnahme  von  10  000  Menschen  oder,  wie 
wir  wohl  ruhig  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes 
sagen  können ,  Trauernden  zu  Grabe  geleitet. 
2.  In  seinem  Nachruf  auf  den  verstorbenen  Präsi- 
denten der  Leopoldinisch  Karolinischen  Akademie 
sagt  sein  Nachfolger  und  langjähriger  Freund 
Kieser:  „Der  zwischen  mir  und  dem  verstorbenen 
Präsidenten  Dr.  Nees  von  Esenbeck  seit  länger 
als  40  Jahren  bestandene  und  nur  selten  unter- 
brochene Verkehr  bewegte  sich  einzig  und 
allein  in  der  Sphäre  der  Wissenschaft,  während 
dessen  persönliches  ThunundTreiben  und 
alle  seine  Lebensbeziehungen,  welche  nicht  die 
Naturwissenschaften  betrafen,  nie  in  demselben 
besprochen  wurden  und  dem  Unterzeichneten  eine 
nur  durch  unzuverlässige  Nachrichten  erläuterte 
terra  in  cognita  blieben",  die  in  dem  Nachruf 
unberücksichtigt  bleiben  solle.  Eine  ähnliche  Be- 
tonung wird  nochmal  wiederholt,  und  man  fühlt 
heraus,  daß  sie  ein  deutliches  Abrücken  von 
Nees  von  Esenbeck  als  Mensch  bedeutet. 

Wohl  selten  ist  das  Bild  eines  Menschen  durch 
das  in  gewohnheitsmäßigem  Denken  und  Fühlen 
sich  bewegende  Urteil  seiner  Mitwelt  ärger  ver- 
zerrt worden  als  das  seinige.  ■ —  Doch  zunächst 
seinen  Lebensgang.  Nees  von  Esenbeck  wurde 
am  14.  Februar  1776  auf  dem  Reichenberge  bei 
Erbach  im  Odenwalde  geboren,  in  einem  den 
Grafen  von  Erbach  gehörigen  Bergschlosse,  in 
deren  Dienste  sein  Vater  als  Rentmeister  stand. 
Er  war  der  älteste  von  fünf  Geschwistern,  drei 
Brüdern  und  zwei  Schwestern,  von  denen  der 
jüngste,  Theodor  Friedrich  Ludwig,  später 
sein  Mitarbeiter  und  Amtskollege  in  Bonn  wurde, 
wo  er  aber  schon  1873  starb. ^)  Leider  wissen 
wir  von  unseres  Nees  von  Esenbeck  Jugend 
zu  wenig,  um  überall  seine  späteren  Neigungen 
und  Betätigungen  in  Anlage  und  Erziehung  einzeln 
begründet  zu  finden.  Soviel  berichtet  er  selbst, 
daß  er  bis  zu  seinem  16.  Jahre  zu  Hause  eine 
sorgfältige,  aber  nichts  weniger  als  pedantische 
Erziehung  genoß,  die  schon  früh  in  dem  Knaben 

')  Nees  von  Esenbeck,  Theodor  Friedrich  Ludwig 
Nees  von  Ksenbeck.  Zur  Erinnerung  an  den  26.  Juli  1787 
und  den  12.  Dezember  1837  den  Freunden  des  Verstorbenen 
gewidmet.     Breslau  1838. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


die  beiden  Lebensrichtungen  weckte,  die  wir  den 
Mann  und  Greis  verfolgen  sehen:  die  Liebe  zur 
Natur  und  die  Liebe  zum  Volke.  Die  freie,  heitere 
Lage  der  Burg,  die  nahen  Fluren,  Wälder  und 
wasserreichen  Auen  gaben  viel  Gelegenheit  zu 
frohem  Naturgenuß,  aus  dem  bald  ein  Streben 
nach  Naturerkenntnis  ward,  während  die  stämmigen, 
rüstigen  Gebirgskinder  des  Odenwaldes  den  Knaben 
in  das  Leben  des  Volkes  hineinzogen,  mit  dem 
Volke  befreundeten  und  es  liebgewinnen  ließen. 
Lebhaft  in  Anspruch  nahmen  ihn  die  gewaltigen 
Ereignisse  von  1789,  die  französische  Revolution, 
ein  Interesse,  das  auch  sein  Vater  beim  abend- 
lichen Lesen  der  Zeitungen  mit  ihm  teilte.  In 
seinem  16.  Jahre  kam  er  nach  Darmstadt  auf  das 
Gymnasium.  In  seinen  Zukunftsplänen  neigte  er 
anfangs  zum  Studium  der  Theologie,  obwohl  er 
die  Franzosen  in  Schutz  nahm,  als  sie  den  lieben 
Gott  absetzten.  Später  gewann  sein  Interesse  die 
Medizin,  die  er  neben  Philosophie  und  Botanik 
von  1 796—  1 799  in  Jena  unter  Hufeland, Loder, 
Stark,  Suckow  studierte.  Im  Jahre  1800  pro- 
movierte er  in  Gießen  als  Doktor  der  Medizin  und 
begab  sich  dann  zum  Praktizieren  nach  seiner 
Heimat.  In  dieser  Berufstätigkeit  als  Arzt  „hatte 
ich  fast  ausschließlich  den  leidenden  Kranken  vor 
Augen,  mich  selbst  betrachtete  ich  als  Nebensache. 
Ich  bekam  so  nie  eine  einträgliche  Praxis."  Die 
erste  Kranke,  die  er  mit  Anwendung  des  mag- 
netischen Heilverfahrens  aus  anscheinender  Leberjs- 
gefahr  rettet,  wird  seine  Frau,  stirbt  aber  schon 
nach  einjähriger  Ehe  im  Wochenbett  und  hinter- 
läßt ihm  ein  Gütchen,  Sickershausen  bei 
Kitzing  am  Main.  Hier  verlebt  er  nun  als  Privat- 
mann in  engster  Seelengemeinschaft  mit  seiner 
zweiten  geistvollen  Frau,  einer  geb.  von  M  e  t  - 
tingh,  Jahre  des  schönsten  Genusses  und  reichster 
Tätigkeit.  Auf  zahlreichen  Exkursionen  bringt  er 
eine  bedeutende  Vogel-  und  Insektensammlung 
zusammen.  Seine  ersten  zoologischen  und  bo- 
tanischen Arbeiten  stammen  aus  dieser  Zeit.  Durch 
den  französischen  Krieg  gerieten  die  Verhältnisse 
des  Gutes  in  Verfall,  und  N  e  e  s  sah  sich  genötigt, 
eine  Staatsstellung  anzunehmen.  Nach  kurzem 
Wirken  als  Professor  der  Botanik  an  der  Univer- 
sität Erlangen  1818,  geht  er  noch  in  demselben  Jahre, 
von  Altenstein  berufen,  an  die  neugegründete 
Universität  Bonn,  obwohl  ihn  Goethe  schon 
viel  früher  gern  nach  Jena  gebracht  hätte.  „Es 
ist  eine  —  schreibt  er  über  ihn  —  von  den 
gründenden  Naturen,  die  wir  jetzt  so  nötig  brauchen 
als  irgend  eine  Akademie,  die  erst  entsteht."  In 
Bonn  richtete  Ne es  den  botanischen  Garten  beim 
Schlosse  Poppeisdorf  ein  und  entfaltete  eine  leb- 
hafte Lehrtätigkeit.  An  seinem  Bruder  Theodor 
Friedrich  und  dem  Gartenkünstler  Linning 
fand  er  schätzenswerte  Gehilfen.  1830  tauschte 
er  aus  persönlichen  Gründen  die  Professur  mit 
Treviranus  in  Breslau  wo  er  ebenfalls  den 
botanischen  Garten  nach  künstlerischen  Gesichts- 
punkten neu  anlegte.  Als  sich  mit  dem  Ober- 
gärtner Lieb  ig  nicht  mehr  auskommen  ließ,  ver- 


anlaßte  er  die  Beförderung  seines  Sohnes  Carl 
zum  Garteninspektor.  Als  akademischer  Lehrer 
in  Breslau  hatte  er  keinen  besonders  großen  Er- 
folg. Wie  in  seinen  Schriften,  so  war  er  auch  in 
seinen  Vorlesungen  nicht  leicht  verständlich. 
Schließlich  fand  er  nach  seiner  eigenen  Angabe 
nur  noch  wenige  Zuhörer.  Aber  er  hatte  auch 
in  seinen  letzten  Lebensjahren  kein  rechtes  Inter- 
esse mehr  für  seine  botanischen  Vorlesungen,  weil 
ihn  anderes  mit  Leib  und  Seele  beschäftigte.  Es 
war  ja  auch  längst  in  Göppert  ein  ausge- 
zeichneter Ersatz  vorhanden.  Jenes  andere,  was 
ihn  bewegte,  war  die  Philosophie  und  in  späteren 
Jahren  immer  mehr  die  Politik.  Schon  seit  1839 
las  er  an  der  Universität  regelmäßig  spekulative 
Philosophie  und  soziale  Ethik.  In  den  vierziger 
Jahren  suchte  er  dann  seine  sozialen  und  politischen 
Überzeugungen  in  die  Tat  umzusetzen.  1852,  in 
seinem  ']6.  Lebensjahre,  wurde  er  aller  seiner 
Ämter  entsetzt  und  ohne  Pension  entlassen,  nach- 
dem er  schon  jahrelang  durch  Polizei  und  Ge- 
richte schikaniert  worden  war.  Da  er  gänzlich 
ohne  Vermögen  war  —  er  hatte  für  wissenschaft- 
liche Zwecke  und  bedürftige  Menschen  stets  ein 
warmes  Herz  und  eine  offene  Hand  gehabt  — 
mußte  er  seine  wertvolle  Bibliothek  und  sein 
80000  Bogen  umfassendes  Herbar  verschleudern 
und  eine  ärmliche  Dachwohnung  beziehen.  Aber 
seine  letzte  Fahrt  am  Vormittag  des  19.  März  1858 
aus  dieser  Dachwohnung  am  Lehmdamm  nach  dem 
Friedhof  der  christkatholischen  Gemeinde  ge- 
staltete sich  zu  einer  großartigen  anerkennenden 
Kundgebung.  Eine  große  Zahl  Studenten,  mit 
Trauerschleifen  an  den  bunten  Mützen,  gingen 
dem  Sarge  voraus,  der  mit  den  Wappenschildern 
der  Akademie,  deren  Präsident  er  bis  zuletzt  ge- 
wesen, behängt  und  mit  einer  Immortellenkrone, 
mit  Palmenzweigen,  einem  Lorbeerkranz  und 
weißen  Rosen  geschmückt  war.  Tausende  der 
verschiedensten  Stände,  besonders  viele  Arbeiter, 
folgten,  und  auf  dem  dreiviertel  Meilen  langen 
Wege  bis  zum  Friedhof  hatte,  trotz  des  strömen- 
den Regens  und  eines  heftigen  Sturmes,  eine  teil- 
nehmende Menge  ein  ununterbrochenes  Spalier 
gebildet. 

Nees'  Entlassung  war  in  Wahrheit  erfolgt 
wegen  seiner  radikalen  religiösen  und  politischen 
Tätigkeit.  Das  Ministerium  schützte  aber  sein 
Privatleben  vor:  offiziell  wurde  er  entlassen  wegen 
Konkubinats. 

Nees  von  Esenbeck  hatte  sich  allmählich 
über  die  Ehe  seine  eigenen  Anschauungen  gebildet, 
die  er  auch  in  einer  Schrift  „Das  Leben  der  Ehe 
in  der  vernünftigen  Menschheit  und  ihr  Verhältnis 
zum  Staat  und  zur  Kirche" ')  niedergelegt  hat. 
Wenn  die  dort  auseinandergesetzten  Auffassungen 
vom  Wesen  und  Zweck  der  Ehe  auch  nicht  be- 
friedigen, ernst  und  ethisch  hochstehend  sind  sie 
im  höchsten  Maße.  Und  darin  hat  er  zweifellos 
recht,    daß  staatliche  und  kirchliche  Assistenz  bei 


')  Breslau  1845. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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der  Eheschließung  mit  dem  sittlichen  Verhältnis 
der  Ehe  nicht  das  geringste  zu  tun  haben.  Diesen 
Standpunkt,  den  Nees  theoretisch  vertreten  hat, 
betätigte  er,  wie  so  viele  seiner  berühmten  und 
berühmtesten  Zeitgenossen,  auch  im  späteren 
Leben,  indem  er  seine  letzte,  musterhafte  Ehe,  die 
er  im  Alter  mit  einer  einfachen  Frau  aus  dem 
Volke,  einer  Weberstochter  aus  Warmbrunn,  schloß, 
bürgerlich  und  kirchlich  nicht  sanktionieren  ließ. 
In  einer  öffentlichen  „Erklärung"  über  seine  Ent- 
lassung, die  die  Dinge  ungeschminkt  bespricht, 
sagt  er,  daß  sie  einen  Professor  von  einer  Hoch- 
schule entlassen,  weil  sie  ein  solches  Verhältnis 
unsittlich  nennen,  und  weil  nach  dem  Freuß.  AU- 
gem.  Landrecht  Beamte,  die  sich  „durch  nieder- 
trächtige Aufführung"  verächtlich  machen, 
ihres  Amtes  entsetzt  werden  sollen.  „Wenn  ich 
aber  eine  im  vollen  Lichte  ihrer  Vernunftmäßig- 
keit erkannte  Lehre  zwar  niedergeschrieben  und 
zum  Druck  befördert,  im  eigenen  Leben  jedoch 
aus  F'eigheit  verleugnet  hätte,  dann  hätte  ich 
allerdings  verdient,  aus  dem  Lehramt  gejagt  zu 
werden."  Wie  man  diese  Verhältnisse  in  Nees 
von  Esenbecks  Leben  auch  beurteilen  mag, 
soviel  steht  fest:  mit  einer  schlüpfrigen,  aber  auch 
mit  einer  prüden  Formel  ist  das  Rätsel  nicht  zu 
lösen.  Wer  Nees  von  Esenbecks  sonstiges 
Leben  kennt,  ist  überzeugt,  daß  sein  Verhältnis 
zum  Weibe  niemals  von  einem  Hauch  von  Frivoli- 
tät berührt  worden  ist. 

Dies  war  der  Hauptgrund  für  seine  in  den 
letzten  Lebensjahren  weitgehend  bestehende  ge- 
sellschaftliche Ächtung.  Die  „Gesellschaft"  übt 
ja  auch  heute  noch  auf  diesem  Gebiete  ihre  hart- 
näckigste Intoleranz.  Dagegen  ist  es  unter  an- 
ständigen Menschen,  wenigstens  in  der  Theorie, 
üblich,  niernand  wegen  seiner  religiösen  oder 
politischen  Überzeugung  zu  richten  und  zu  ver- 
dammen. Diesen  Standpunkt  kann  der  Staat 
nicht  einnehmen.  Er  muß  gegen  gewisse,  je  nach 
der  Zeitlage  wechselnde,  politische,  unter  Um- 
ständen auch  religiöse  Überzeugungen  oder  wenig- 
stens Betätigungen  unduldsam  sein,  aus  Selbst- 
erhaltungstrieb. So  war  auch  der  eigentliche 
Grund  für  Nees  von  Esenbecks  Verfolgung 
durch  den  Staat  sein  religiöses  und  politisches 
Bekenntnis,  das  er  ebenfalls  aufs  eifrigste  und  mit 
Hintansetzung  aller  persönlichen  Rücksichten  be- 
tätigte. 

Die  Ausstellung  des  ungenähten  Rockes  Christi 
durch  den  Bischof  Arnoldi  von  Trier,  die  in 
50  Tagen  mehr  als  eine  Million  Pilger  angezogen 
hatte,  veranlaßte  im  Osten  Deutschlands  eine 
Los-von-Rom-Bewegung,  die  in  Schlesien  durch 
einen  radikalen  Priester,  Johannes  Ronge, 
in  Westpreußen  durch  den  gemäßigteren  Johann 
Cserski  eingeleitet  wurde.  Wie  sich  so  oft  in 
der  Geschichte  religiöse  und  politische  Umwäl- 
zungen verbunden  haben,  so  auch  hier.  Schon 
Ronges  offener  Brief,  in  dem  er  gegen  das 
Götzenfest  der  Hierarchie  protestierte  und  zur 
Gründung  einer  freien  Nationalkirche  aufrief,  ent- 


hielt einen  deutlichen  demokratischen  und  sozia- 
listischen Einschlag.  Die  neuen  Gemeinden  sollten 
von  gewählten  Männern  geleitet  sein.  Die 
Religion  sollte  geläutert,  die  Kirche  zu  ihrem 
wahren  Berufe  geführt  werden,  den  die  Bedürf- 
nisse der  Völker,  der  Geist  der  neuen  Zeit  ihr 
auferlegt,  nämlich  auszusöhnen  den  hohen  und 
niedrigen,  den  gebildeten  und  unwissenden,  den 
armen  und  reichen  Teil  der  Menschheit;  auszu- 
söhnen die  Nationen  und  die  Völker  der  Erde  durch 
Vervollkommnung,  durch  Veredlung,  durch  Liebe 
und  Freiheit  aller.  Durch  agitatorische  Rund- 
reisen Ronges  gewann  die  Bewegung  auch  im 
übrigen  Deutschland  Boden,  so  daß  sich  das  Be- 
dürfnis nach  Zusammenschluß  herausstellte.  Aber 
schon  auf  der  ersten  allgemeinen  Konferenz  in 
Leipzig  kam  es  zu  Streitigkeiten  wegen  des  Be- 
kenntnisses, und  bald  verquickte  sich  die  freiheit- 
liche Kirchenbewegung  mehr  und  mehr  mit  den 
liberalen  politischen  Tendenzen  des  Bürgertums. 
Die  Regierungen,  die  dem  Deutsch-Katholizismus 
anfangs  entgegengekommen  waren,  wurden  spröde, 
zuerst  Bayern.  Schon  1845  erklärte  die  bayerische 
Regierung,  daß  die  „neue  Sekte"  nicht  eine  Reli- 
gion, sondern  Radikalismus  und  Kommunismus 
sei,  und  daß  die  Teilnahme  an  ihr  als  Hochverrat 
zu  behandeln  sei. 

Die  erste  Gründung  einer  Gemeinde  unter 
dem  Einfluß  Ronges  erfolgte  in  Breslau.  Sie 
bestand  zumeist  aus  kleinen  Leuten  der  Mittel- 
klassen, nicht  nur  ehemaligen  Katholiken,  sondern 
auch  Protestanten;  sogar  Reformjuden  wurden 
aufgenommen.  Nees  vonEsenbeck  trat  bald 
der  Gemeinde  bei,  und  zwar  weder  aus  rein  reli- 
giösen noch  zunächst  aus  politischen  Motiven, 
sondern  lediglich,  um  sich  eine  Möglichkeit  zu 
verschaffen,  seine  humanen  Ideale  in  die  Tat  um- 
zusetzen. Wie  schon  erwähnt,  saß  seit  seiner 
Jugend,  die  er  unter  den  Bauern  des  Odenwaldes 
verlebte,  die  Liebe  zum  Volke  in  seinem  Herzen. 
Er  schreibt  selbst :  ^)  „Ich  verließ  Bonn  und  kam 
1830 —  kurz  vor  der  Revolution  —  nach  Breslau. 
Durch  meine  Stellung  an  die  Gleichgestellten,  die 
Bureaukratischen  und  Gelehrten  gewiesen,  fühlte 
ich  mich  lange  noch  einsamer  als  in  Bonn.  Im 
Volke  war  es  überall,  wo  ich  nur  hinblickte,  noch 
stiller.  Aus  der  tiefen  Ruhe  des  gleichgiltigen 
Volkslebens  trieb  es  mich  nicht  selten  ins  Riesen- 
gebirge, auf  dessen  Höhen  ich  einheimisch  wurde, 
wo  unter  den  Webern  und  kleinen  Landbesitzern, 
die  man  Gärtner  nennt,  mir  ein  heimlich-heimat- 
liches Bewußtsein  aufblühte,  wie  die  Verwirk- 
lichung frühester  Erinnerungen.  Das  treuherzig- 
kluge Volk  des  Riesengebirges  von  diesseits  und 
von  jenseits  öffnete  mir  einen  Blick  in  die  Zu- 
stände unsrer  Arbeiter  überhaupt,  in  die  Natur- 
bildung derer,  die  man,  als  wären  es  Fremdlinge, 
mit  dem  besonderen  Namen  des  Volks  von 
denen  der  bureaukratisch  und  aristokratisch  Hoch- 
gestellten,   die    sich    den  Staat  nennen,    unter- 


')  Für  freies  religiöses  Leben,  11.  Bd.    Breslau   1849. 


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scheidet.  Ich  verbrüderte,  ich  vermählte  mich 
dem  Volke,  und  fühlte  mich  von  Stund  an  auf 
dem  Wege  zu  einem  nochmaligen  letzten  Ge- 
sunden." Der  „Christkatholizismus",  wel- 
chen von  den  vielen  Namen  der  Ronge- Csers- 
kischen  Bewegung  er  mit  Vorliebe  anwendet, 
sollte  das  Feld  der  Betätigung  seiner  Liebe  zum 
Volke  abgeben.  Nees  wurde  Vorsteher  der 
christkatholischen  Gemeinde  in  Breslau  und  blieb 
es  trotz  aller  Verfolgungen,  die  diese  Gemeinde 
und  ihn  später  trafen,  bis  an  sein  Ende.  Obwohl 
er  seit  1848  seine  Tätigkeit  auch  über  die  Ge- 
meindegrenzen hinaus  auf  das  politische  Feld 
ausdehnte  und  die  Seele  der  Arbeiterbewegung 
in  Breslau  wurde:  seine  beste  humane  Wirksam- 
keit von  Menschen  zu  Menschen  hat  er  doch  wohl 
im  Zusammenhang  mit  der  christkatholischen 
Gemeinde  ausgeübt.  1846  begründete  er  den 
Du-Verein,  der  durch  Einführung  des  „brüder- 
lichen Du"  die  Verschmelzung  aller  Stände  vor- 
bereiten sollte.  Welche  Anhänglichkeit,  Ver- 
ehrung und  Liebe  sich  „Vater  Nees",  wie  er  all- 
gemein hieß,  durch  seine  stille  Tätigkeit  im 
Dienste  der  Mühseligen  und  Beladenen  erwarb, 
davon  zeugen  außer  der  Teilnahme  an  seinem 
Begräbnis,  wie  Breslau  noch  nie  eins  gesehen,  die 
jährlichen  Geburtstagsfeiern,  die  ihm  vom  Volke 
veranstaltet  wurden.  Arbeiterdeputationen,  Ge- 
sangvereine, die  Kinder  der  christkatholischen 
Gemeinde  kamen  in  corpore;  1851  zu  seinem 
75.  Geburtstage  erschien  auch  ein  großer  Teil 
der  Studentenschaft,  um  ihn  durch  Gesang  und 
Überreichung  einer  Adresse  zu  feiern.  Nach  seiner 
Amtsentsetzung,  als  er  selbst  in  größte  Not  ge- 
raten war,  wurden  ihm  von  vielen  Seiten  reiche 
Geschenke  übersandt. 

Auch  schriftstellerisch  hat  Nees  von  Esen- 
beck  seine  Auffassung  von  der  Wirksamkeit  des 
Humanismus  im  Rahmen  einer  religiösen  Ge- 
meinde dargelegt.  1848  erschien  „Die  Wahrheit 
des  positiven  Christentums  im  Christkatholizis- 
mus", ^)  worin  der  Satz  vorkommt :  „Das  Prinzip 
des  Gemeindelebens  ist  die  Liebe  in  dem  Sinne, 
wie  wir  dieses  Wort  von  Jesus  gebraucht  finden: 
tätige  Bruderliebe."  Und  in  seinem  1853  erschie- 
nenen Büchlein  „Das  Leben  in  der  Religion",  2) 
einer  Art  Katechismus,  in  Form  von  Frage  und 
Antwort,  lautete  eine  einem  Kinde  in  den  Mund 
gelegte  Antwort :  „Die  Gottheit  wird  im  einzelnen 
Menschen  offenbar  als  Liebe  (All-Liebe)."  —  Noch 
eine  ganze  Reihe  von  Zeitschriften-Aufsätzen  ver- 
dankt die  christkatholische  Literatur  Nees  von 
Esenbeck.  Aber  nicht  nur  im  persönlichen 
Raten  und  Geben  bewies  Nees  vonEsenbeck 
seine  Liebe  zum  Volke,  sondern  auch  durch  or- 
ganisatorische Gründung  gemeinnütziger  Unter- 
nehmungen. Er  war  Mitbegründer  des  noch 
heute  bestehenden  Gesundheitspflegevereins,  der 
der  ärmeren  Bevölkerung  gegen  eine  geringe  jähr- 


liche Einzahlung  in  Erkrankungsfällen  Arzt  und 
Medizin  garantiert :  also  einer  Krankenkasse.  Auch 
die  sog.  Assoziationswerkstätlen  förderte  er  mit 
reger  Anteilnahme. 

Neben  seiner  friedlichen  Betätigung  humaner 
Menschenliebe  entzog  sich  Nees  aber  nicht  der 
praktischen  Verfolgung  politischer  Ziele,  die  da- 
mals dem  liberalen  Bürgertum  und  dem  auf- 
strebenden vierten  Stande  vorschwebten.  Auch 
die  deutsche  naturphilosophische  Richtung  in  der 
Wissenschaft  beschränkte  sich  durchaus  nicht  auf 
philosophische  Gedankengänge,  sondern  man  muß 
in  ihr  eine  Manifestation  des  erwachenden  deut- 
schen Nationalbewußtseins  sehen.  Während  des 
18.  Jahrhunderts  war  die  geistige  Führerschaft 
bei  Frankreich;  noch  im  19.  Jahrhundert  war 
Alexander  vonHumboldt,  einer  der  Führer 
der  deutschen  Wissenschaft,  mehr  Franzose  als 
Deutscher,  auch  Goethe  war  von  den  Franzosen 
nicht  unbeeinflußt  gebUeben.  Erst  Kant  stellte 
die  deutsche  Wissenschaft  auf  ihre  eigenen  Füße. 
Fichte,  der  der  Kantschen  Lehre  eine  offene 
naturphilosophische  Wendung  gab,  richtete  das 
deutsche  Volk  auf,  als  es  unter  der  Napoleonischen 
Herrschaft  seufzte.  Oken,  der  Hauptrepräsen- 
tant der  biologischen  Naturphilosophie,  war  radi- 
kaler Politiker;  er  verfaßte  poHtische  Broschüren 
und  unterstützte  durch  seine  Zeitschrift  „Isis" 
radikal- nationale  Strömungen.  Wegen  seines 
Kampfes  für  deutsche  Einheit  und  für  Preßfreiheit 
wurde  er,  wie  Nees  von  Esenbeck,  seiner 
Professur  entsetzt.  Der  Patriotismus  der  Natur- 
philosophen war  radikal  gefärbt;  sie  haßten  das 
Spießbürgertum,  das  politische  wie  das  wissen- 
schaftliche; sie  haßten  den  öden  französischen 
Materialismus;  sie  haßten  Kirchentum  und  Kasten- 
wesen. ^) 

Nicht  erst  1848  trat  auch  Nees  von  Esen- 
beck in  offener  politischer  Betätigung  auf.  Nach- 
dem sich  seine  jugendliche  Sympathie  für  Frank- 
reich abgekühlt  hatte,  wendeten  sich  in  seiner 
Sickershausener  Zeit  alle  seine  Hoffnungen  auf 
Deutschland.  Deutschland  sollte  vom  Druck  des 
französischen  Despoten  errettet  werden,  sollte  ge- 
rettet werden  „unter  die  Fittige  des  preußischen 
Adlers;  Preußens  König  mußte  deutscher  Kaiser 
werden".  Neben  dem  „Tugendbund",  aber  in  Ver- 
bindung mit  ihm,  wirkte  Nees  unter  Lebensge- 
fahr für  diese  Idee,  die  durch  eine  Verschwörung 
im  Rücken  der  Franzosen  realisiert  werden  sollte. 

Als  Nees  von  Esenbeck  vierzig  Jahre 
später  wieder  in  der  politischen  Arena  erschien, 
hatten  sich  die  Verhältnisse  und  seine  An- 
schauungen gründlich  geändert.  Die  Abneigung 
des  mit  den  Jahren  immer  verdrießlicher  werden- 
den Königs  Friedrich  Wilhelm  III.  gegen 
jede  Neuerung  hatten  seiner  Popularität  im  hohen 
Grade  Eintrag  getan.  Und  als  auch  sein  Nach- 
folger Friedrich  Wilhelm  IV.,    auf  den  man 


•)  Wohlau    1848. 
^)  Rastenburg  1853. 


')  E.  Rad  1,  Geschichte  der  biologischen  Theorien,  II.  Teil, 
Leipzig  1909,  S.  87. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


345 


große  Hoffnungen  gesetzt  hatte,  unter  steter  Be- 
rufung auf  sein  ihm  von  Gott  verHehenes  Sou- 
veränitätsrecht jedes  Gesuch  auf  Bewilligung  auch 
nur  bescheidener  Teilnahme  des  Volkes  an  den 
Staatsangelegenheiten  als  dreisten  Angriff  auf 
seine  Person  beharrlich  zurückwies,  da  begann  die 
Unzufriedenheit  und  die  Neigung  für  liberale  Be- 
strebungen sich  immer  weiter  zu  verbreiten  und 
selbst  in  solchen  Kreisen  Anhänger  zu  gewinnen, 
die  sonst  streng  monarchistisch  und  absolutistisch 
gesinnt  waren.  Neben  dem  liberalen  Bürgertum 
machte  sich  allmählich,  ganz  leise  ein  F"aktor 
geltend,  von  dem  man  bisher  kaum  eine  Ahnung 
gehabt  hatte,  das  erwachende  Arbeitertum;  aber 
von  Anfang  an  nicht  als  gern  gesehener  Bruder. 
Den  Ressourcen  und  Kränzchen  der  liberalen 
Bürger  gingen  die  Lesevereine  der  Arbeiter 
parallel.  Wie  jene  sich  an  der  Lektüre  Heine- 
scher und  Börnescher  Schriften  ergötzten,  so 
hatten  diese  an  sozialistischen  und  kommunistischen 
Schriften,  die  sie  sich  aus  der  Schweiz  und  Frank- 
reich verschafften,  ihre  Freude. 

Die  Märzrevolution  fand  auch  Nees  von 
Esenbeck  willig  und  vorbereitet,  sich  an  den 
Bestrebungen  unmittelbar  zu  beteiligen,  die  einen 
neuen  Zustand  der  Dinge  in  Staat  und  Gesell- 
schaft herbeiführen  sollten.  Im  März  1848  hat  er 
bei  der  Stiftung  des  Breslauer  Arbeitervereins  tätig 
mitgewirkt  und  den  deutschen  Arbeitern  den  Plan 
eines  Arbeiterministeriums  gewidmet,  das  „das 
humane  Wohl  aller  Arbeiter  zum  Wohl  "  des 
Ganzen  und  als  Folge  desselben"  begründen  sollte. 
Er  wurde  zum  Abgeordneten  für  die  preußische 
konstituierende  Versammlung  gewählt  und  begab 
sich  mit  seiner  ganzen  jungen  Familie  nach  Berlin. 
Und  es  dauerte  nicht  lange,  daß  er  sich  in  der 
Arbeiterbevölkerung  Berlins  ebenso  heimisch  fühlte 
und  dasselbe  Ansehen  genoß  wie  in  Breslau.  Nur 
selten  fehlte  er  in  einer  der  Arbeiterversammlungen, 
in  denen  die  Tagesfragen  beraten  wurden ;  um  so 
öfter  aber  in  den  Parteiversammlungen  der  äußersten 
demokratischen  Linken,  der  er  sich  angeschlossen 
hatte.  Trotz  seiner  politischen  Neigungen  war 
Nees  von  Esenbeck  nach  dem  Urteil  seiner 
eigenen  Freunde  und  Parteigenossen  nichts  weniger 
als  ein  Politiker,  wegen  seiner  idealistischen  und 
souveränen  Beurteilung  auch  der  allergewöhn- 
lichsten  Dinge  des  Lebens.  Nicht  selten  spielte 
er  sozusagen  das  enfant  terrible  in  seiner  Partei 
und  rief  namentlich  Waldecks  Unmut  wach, 
wenn  er  gegen  jede  Parteidisziplin  unangemeldet 
im  Plenum  Reden  hielt  oder  Anträge  stellte,  die 
sich  schwer  mit  den  Ansichten  der  Partei  verein- 
baren ließen.  So  erregte  namentlich  sein  Ver- 
fassungsentwurf, den  er  der  Berliner  Nationalver- 
sammlung am  I.Juli  1848  vorlegte,  bei  der  Linken 
ein  wahres  Entsetzen.  §  10  des  Entwurfs  lautet: 
„Das  Volk  ist  Herr  und  der  Begriff  des  Unter- 
thanen  ist  aus  dem  Leben  des  Staates  für  ewige 
Zeiten  getilgt." 

Recht  wohl  hat  er  sich  in  der  konstituierenden 
Versammlung   nie  gefühlt;    er   meinte,   „es  sei  in 


ihr  sehr  viel  Verstand,  besonders  viel  juridischer, 
aber  die  Idee  bettle  vor  der  Thür  des  Schau- 
spielhauses; das  Volk,  das  da  herumstehe,  sehe 
es  mit  seinen  hellen,  lichten  Augen  und  werde 
darob  sehr  ungnädig".  —  Auf  dem  Berliner  Ar- 
beiterkongreß (August  1848),  dem  er  präsidierte, 
gründete  er  die  deutsche  Arbeiterverbrüderung. 

Die  Verfolgungen  Nees  von  Esenbecks 
durch  seine  vorgesetzte  Behörde  reichen  bis  zum 
Wechsel  des  Kultusministeriums  zwischen  dem 
vernünftigeren  Altenstein  und  dem  entschieden 
reaktionären  Eichhorn,  1S40,  zurück.  Wir 
hatten  schon  gehört,  daß  Eichhorn  Nees  so- 
fort aus  der  wissenschaftlichen  Prüfungskommission 
entfernte  und  durch  Göppert  ersetzte.  Nach 
seinem  offenen  religiös  politischen  Auftreten  in 
den  vierziger  Jahren  suchte  man  jede  Gelegenheit 
auszuspionieren,  ihm  disziplinarisch  beizukommen. 
Die  Universitätsbehörde  selbst,  Rektor  und  Senat, 
standen  ihm  in  der  Wahrung  der  Freiheit  der 
Lehre  nicht  zur  Seite.  Dieser  Mann,  der  selbst 
in  seinen  öffentlichen,  also  sagen  wir  agitatorischen. 
Reden  vor  Arbeitern  auf  einem  so  hohen  speku- 
lativen Niveau  stand,  daß  er  seinen  Zuhörern  oft 
unverständlich  bleiben  mußte,  wird  sich  gewiß  in 
seinen  akademischen  Vorlesungen  nur  in  wissen- 
schaftlich begründeten  Gedankengängen  und  sicher 
nicht  in  demagogischen  Formen  bewegt  haben. 
Dennoch  suchte  Rektor  und  Senat  1851  seine 
Vorlesung  über  ,, Enzyklopädie  der  spekulativen 
Philosophie"  unmöglich  zu  machen.  Einen  nicht 
sehr  taktvollen  Vorstoß  unternahm  dieselbe  Uni- 
versitätsbehörde schon  1849.  Auf  eine  unkontrollier- 
bare Zeitungsnotiz  hin  zog  sie  den  alten  Nees  in 
einem  feierlichen  Schreiben  zur  Verantwortung, 
weil  er  bei  einem  Arbeiterbankett  sich  eine  rote 
Jakobinermütze  aufgesetzt  hätte,  die  dann  auf  die 
Köpfe  der  anderen  Teilnehmer  gewandert  wäre. 
„Solche  Zeitungsberichte  über  ein  Mitglied  unsrer 
Universität  können  uns  im  Interesse  der  Universität 
nicht  gleichgiltig  sein;  deshalb  ersuchen  wir  Eure 
Hochwohlgeboren ,  uns  davon  in  Kenntnis  zu 
setzen,  ob  die  Nachricht  über  jene  an  Ihrer  Person 
vorgenommene  Schaustellung  eines  Sinnbildes  der 
roten  Republik  in  der  Wahrheit  begründet  ist 
oder  nicht."  Nees  von  Esenbeck  konnte  die 
Wächter  der  akademischen  Würde  darüber  be- 
ruhigen, daß  jener  Report  über  das  übrigens  „sehr 
frugale  Bankett"  vollständig  aus  der  Luft  gegriffen 
sei.  Im  übrigen  enthält  er  seinen  Kollegen  seine 
Meinung  nicht  vor,  wie  man  den  Fall  hätte  er- 
ledigen sollen. 

Ende  Januar  1849,  als  Abgeordneter  zur 
Nationalversammlung,  wurde  er  „wegen  gefähr- 
licher sozialer  Bestrebungen"  aus  Berlin  ausge- 
wiesen. Ich  will  nicht  alle  Haussuchungen  und 
Maßreglungen,  mit  denen  man  ihn  weiter  ver- 
folgte, aufzählen.  Sie  endigten  1852  mit  seiner 
Amtsentsetzung  ohne  jede  Pension. 

Wenn  wir  uns  heute  ein  Urteil  über  Nees 
von  Esenbeck  bilden  wollen,  so  wird  es  anders 
ausfallen    müssen    als    viele    Urteile    seiner   Zeit. 


346 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Schon  Ferd.  Cohn  sagt  in  seinem  Nekrolog  in 
der  „Leipziger  Illustrierten  Zeitung":  ^)  „Wir  glau- 
ben nicht,  daß  die  jetzige  Zeit  schon  befähigt  sei 
mit  Ruhe  und  Gerechtigkeit  über  sein  religiös- 
politisches und  soziales  Wirken  abzuurteilen." 
Heute,  da  so  manches  von  dem  verwirklicht  ist, 
was  er  und  nicht  die  Schlechtesten  seiner  Zeit 
erstrebten,  da  wir  auf  dem  Wege  sind,  den  alten 
Machtstaat  zum  Volksstaat  auszubauen,  erkennen 
wir,  daß  er  recht  hatte,  wenn  er  sich  einmal 
einen  Seher  nennt.  Nees  von  Esenbeck  wird 
stets  zu  denen  gerechnet  werden,  die  die  Mensch- 


»)  Jahrg.   1858,  S.  34fi. 


heit  auf  eine  hohe  und  lichte  Bahn  zu  führen  ge- 
dachten. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  die  Bitte  aussprechen, 
mich  für  eine  eingehendere  Lebensbeschreibung 
Nees  von  Esenbecks  durch  Hinweise  auf 
literarisches  und  handschriftliches  Material  zu 
unterstützen.  Leider  ist  durch  die  wiederholten 
Haussuchungen,  die  bei  ihm  gehalten  wurden,  viel 
zerstört  worden,  so  daß  sein  literarischer  Nachlaß, 
der  im  Breslauer  Stadtarchiv  liegt,  viel  zu  wün- 
schen übrig  läßt.  Ich  würde  daher  für  die  ge- 
ringste Mitteilung  dankbar  sein.  Adresse :  Breslau  9, 
Göppertstraße  4. 


Einzelberichte. 


Holmgrens  Arbeiten  über  die  Parietalorgane 
und  ihre  Inneryation  bei  Fischen. 

Mit  3  Abbildungen  im  Text. 

Bekanntlich  besitzen  die  Neunaugen,  Petro- 
myzon,  zwei  hinter-  oder  öfter  übereinander  unter 
der  Haut  liegende,  recht  große  Parietalorgane 
oder  „Scheitelaugen".  Bei  den  meisten  übrigen 
Wirbeltieren  bleibt  nur  das  hintere  erhalten  und 
stets  wesentlich  kleiner:  die  sog.  Zirbel  oder  Epi- 
physis  oder  das  Pinealorgan,  welches  nebst  der 
benachbarten  Hirngegend  bei  Knochenfischen  und 
zwar  Ellritzen  durch  K.  v.  Frisch*)  experimen- 
tell lichtempfindlich  befunden  wurde,  während  es 
bei  den  Säugetieren  und  dem  Menschen  noch 
unbekannter  drüsenartiger  Funktion  ist.  Dagegen 
bleibt  den  Reptilien  das  vordere  Organ,  die  Para- 
physis  oder  das  Parapinealorgan,  erhalten  als  das 
sog.  Scheitelauge,  dessen  Lichtempfindlichkeit  man, 
obwohl  es  gleichfalls  unter  der  Haut  liegt,  nicht 
bezweifeln  wird,  seitdem  Nowikoff^j  an  ihm 
bei  Beleuchtung  eintretende  Pigmentverlagerungen 
gefunden  hat.  Die  Kenntnisse  vom  Bau  der 
Zellen  der  Parietalorgane,  zumal  bei  wasserlebigen 
Wirbeltieren,  waren  immer  noch  wenig  befriedi- 
gend. Tretjakoff,  ^)  der  bei  Petromyzon  die 
Zellen  der  Parietalorgane  mit  Methylenblau  dar- 
stellte und  darunter  viele  Sinnes-  und  Ganglien- 
zellen fand,  mußte  dennoch  betonen,  daß  bei  die- 
sem Tier  die  Lichtempfindlichkeit  der  Organe, 
obwohl  wahrscheinlich,  noch  nicht  erwiesen  ist, 
und  daß  diesen  Organen  ferner  auch  sekretorische 
Funktion,  wohl  gar  als  die  hauptsächlichste,  zu- 
komme. 

Nun  bringt  eine  Arbeit  von  NilsHolmgren*) 


')  K.  V.  Frisch:  Beiträge  zur  Physiologie  der  Pigment- 
zellen in  der  Fischhaut.  Archiv  f.  d.  ges.  Physiol.,  Bd.  138,  191 1. 

-)  M.  Nowikoff:  Untersuchungen  über  den  Bau,  die 
Entwicklung  und  die  Bedeutung  des  Parietalauges  bei  Sauriern. 
Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.,    Bd.  96,   1910. 

')  D.  Tretjakoff;  Die  Parietalorgane  von  Petromyzon 
fluviatilis.     Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.,  Bd.   I13,   1915. 

*)  Nils  Holmgren;  Zum  Bau  der  Epiphyse  von  Squa- 
lus  acanthias.    Arkiv  för  Zoologi,  Bd.  II,  Nr.  23,  28  S.,  2  Taf. 


beachtenswerte  Ergebnisse.  Er  untersuchte  die 
Epiphyse  eines  Haies,  Acanthias,  die  die  keulen- 
förmige Endanschwellung  eines  dauernd  hohl 
bleibenden  Epiphysenstiels  darstellt,  und  benutzte 
die  Methylenblau-  und  gewöhnliche  Schnitt-  und 
Färbemethoden.  Die  das  Lumen  auskleidenden 
spindelförmigen  Zellen  betrachtet  er  sämtlich  als 
Sinneszellen,  weil  Methylenblau  sie  samt  ihren 
Ausläufern,  in  die  sie  sich  basal  verlängern,  färbt. 
Jede  Zelle  ragt  in  das  Lumen  mit  einem  zapfen- 
artigen Endstück  hinein,  und  dieses  zerfällt  meist 
in  „Innenglied"  und  „Außenglied";  letzteres  liegt 
zu  innerst,  jenes  weiter  außen,  und  die  umgekehrte 
Bezeichnungsweise  lehnt  sich  an  die  bei  den  Seh- 
zellen des  Seitenauges,  das  bekanntlich  invertiert 
ist,  an.  Die  sehr  verschiedenen  Bilder  von  den 
Sinneszellen  in  den  Schnittserien  erklären  sich 
durch  sekretorische  Tätigkeit.  Sie  geschieht  bei 
den  Zellen  des  Epiphysenstiels  oft  in  folgender 
Weise:    Auf   einem  Anfangsstadium    ist    nur    das 


Abb.   I. 

Innenglied  vorhanden :  Abb.  I  a.  Auf  ihm  ent- 
steht eine  kleine  Sekretvakuole,  nimmt  Kegel-  und 
Schlauchgestalt  an :  b — c,  und  läßt  in  ihrem  Innern 
einen  Spiralfaden  erkennen :  d.  Er  schwindet  wieder, 
das  Außenglied  quillt  blasig  auf  und  löst  sich 
selbst  auf  fe)  durch  Entsendung  von  Bläschen  in 
das  Lumen,  schwindet  also,  und  auch  das  Innen- 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift.' 


347 


glied  scheint  davon  in  Mitleidenschaft  gezogen 
zu  werden  (f);  es  regeneriert  sich  aber  wieder, 
wahrscheinlich  mit  Hilfe  der  unter  ihm  liegenden, 
in  a  sichtbaren  Körnchenzone.  —  In  anderen 
Fällen  wird  jedoch  das  Innenglied  zu  einer  keulen- 
förmigen Anschwellung  mit  Ellipsoid:  Abb.  2  a, 
es  erhält  ein  Außenglied  in  Form  einer  Spitze 
mit  Körnchen-,  Faden-  und  schließlich  deutlicher 
Spiralfadenstruktur  (b).  Das  Außenglied  fällt  ab 
und  löst  sich  in  Körnchen  auf,  wahrscheinlich 
ähnlich  das  Innenglied.  —  Wieder  etwas  anderes 
als  im  Epiphysenstiel  verläuft  der  Vorgang  meist 
in  der  Epiphysenblase,  Abb.  3 :  neben  dem  Außen- 
glied bildet  sich  eine  große  Blase,  Abb.  3a,  in 
welche  hinein  auch  das  Außenglied,  meist  bis  auf 
geringe  Reste,  aufgelöst  wird:  Abb.  3b,  worauf 
die  Blasen  platzen. 


Abb.  2. 


Abb.  3. 


Sehr  ähnliche  Vorgänge  dürften,  wie  Verf.  be- 
tont, bei  Petromyzon  stattfinden,  wo  nur  eine 
Teilung  in  Innen-  und  Außenglied  nicht  vorkommt, 
und  sie  dürften  die  dort  namentlich  von  Stud- 
n  i  c  k  a  ^)  entworfenen  Bilder  erklären.  Entfernter, 
aber  auch  durchführbar  ist  der  Parallelismus  mit 
den  Scheitelaugen  von  Reptilien.  Offenkundig  ist 
die  nahezu  vollendete  Homologie  zwischen  den 
Sinneszellen  der  Epiphysis  von  Acanthias  und  den 
Sehstäbchen  in  den  Seitenaugen  der  Wirbeltiere, 
zumal  auch  in  diesen  gleichartige  Spiralfasern  vor- 
handen sind  (Ritter  1891,  Krause  1892,  95, 
Hesse  1904  und  andere). 

Allerdings  kommt  bei  den  Epiphysenzellen  die 
sezernierende  Funktion  hinzu,  und  demnach,  führt 
H  o  1  m  g  r  e  n  aus,  wird  unsicher,  ob  sie  heute  noch 
lichtempfindlich  sind.  Mögjich  ist  es.  „Die  voll- 
ständige morphologische  Übereinstimmung  der 
Epiphysenstäbchen  mit  den  Augenstäbchen  scheint 
aber  zu  beweisen,  daß  beide  einst  die  gleiche 
Funktion  gehabt  haben  müssen.  Daß  diese  eine 
photorezeptorische  war,  dürfte  als  sicher  gelten 
können." 

Auch  horizontale  Ganglienzellen  mit  oft  sehr 
langen  Neuriten  sind  in  Epiphyse  und  Stiel  von 
Acantias  vorhanden.  Wesentlich  diese  Neuriten, 
aber  kaum  die  kürzeren  der  Sinneszellen,  bilden 
den  Nerven  der  Epiphyse.  Neurogliazellen  leugnet 
der  Verf.  für  Acanthias  durchaus.  Eizelne  Sinnes- 
zellen werden  ganz  in  das  Lumen  abgestoßen  und 
beteiligen  sich  dann  an  der  Bildung  der  als  Glas- 


körper und  von  St  udniöka  als  Synzytium  aufge- 
faßten Innenmasse. 

Ähnliche  Verhältnisse  wie  bei  Acanthias  fand 
Holmgren')  bei  Rana  in  der  Epiphyse  und  ihrer 
oberen  Fortsetzung,  dem  Stirnorgan  dieses  Tieres. 
Er  bezeichnet  hier  wie  dort  die  Körnchenzone 
basal  vom  Innenglied  als  Ersatzellipsoid  und  läßt 
sie  aus  dem  Kern,  den  Spiralfaden  aber  aus  dem 
Ellipsoid  hervorgehen,  so  daß  zwischen  den  intra- 
zellulären Organellen  genetische  Kontinuität  her- 
gestellt wird.  Auch  sollen  die  Sinneszellen  zu 
Pigmentzellen  werden  können,  indem  das  Ersatz- 
ellipsoid sich  in  Pigment  verwandelt. 

Wichtig  ist  ferner  die  Frage  nach  der  Endi- 
gungsweise  der  Nerven  der  Parietalorgane.  Nach 
bisherigen  Angaben  soll  der  Nervus  pinealis  aus 
der  die  beiden  Mittelhirndachhälften  vorn  oben 
verbindenden  Commissura  posterior,  der  Nervus 
parapinealis  aus  dem  etwas  weiter  vorn  gelegenen 
linken  Ganglion  habenulae  kommen ;  ausführlichere 
Angaben  sind  weniger  bekannt,  auch  umstritten. 
Ho  Imgren  teilt  in  mehreren  Arbeiten  folgendes 
mit.  I.  Petromyzon:^)  Der  Nerv  des  Pinealorgans 
macht  in  der  Commissura  posterior  nicht  halt, 
sondern  dringt  weiter  ins  Mittelhirn  vo/  und  ver- 
bindet sich  wahrscheinlich  mit  motorischen  Kernen 
der  Medulla  oblongata,  wie  das  Johnston  auch 
schon  für  die  Kommissurenfasern  wahrscheinlich 
gemacht  hat.  Der  Nerv  des  Parapinealorgans  ver- 
hält sich  sehr  kompliziert;  wichtig  sind  Bündel 
zum  linken  und  zum  rechten  Ganglion  habenulae, 
wobei  auch  diese  Bündel  wenigstens  zum  Teil 
diese  Ganglien  nur  durchsetzen  und  in  die  beiden 
Nuclei  subhabenulares  und  das  dahinter  gelegene 
Mittelhirndach  verfolgbar  sind.  2.  Acanthias:*) 
Obwohl  nur  das  Pinealorgan  vorhanden,  enthält 
dessen  Nerv  nicht  nur  „Commissura-posterior- 
Fasern",  die  unter  Kreuzung  („Decussatio  epi- 
physeos")  in  die  Co.  post.  und  von  da  wiederum 
meist  tiefer  ins  Gehirn  eindringen,  sondern  auch 
„Habenularfasern",  die  in  beiden  Ganglia  habenulae 
teils  endigen,  teils  sie  durchziehen.  Ähnlich  beim 
Stör  nach  Johnston  1901.  3.  Knochenfische: 
Beim  Stint  (Osmerus)*)  tritt  der  Epiphysennerv 
wesentlich  nur  mit  dem  Mittelhirndach  und  dem 
Ursprungskern  des  dorsalen  Längsbündels  des 
Rückenmarks,  der  auf  der  Grenze  zwischen  Mittel- 
hirn und  Oblongata  unter  dem  Hirnventrikel  liegt, 
in  Verbindung.  Mancherlei  Variationen  jedoch 
kommen  vor,  so  auch  das  Durchziehen  der  Ganglia 
habenulae  unter  Umwegen  ohne  Faserabgabe  dort- 
selbst.     Ähnlich  diesem  Verhalten   ist  wieder  das 


')  Studnicka,    Parietalorgane,    ia  Oppels  Lehrbuch    d. 
vgl.  mikr.  Anat,  d.  Wirbeltiere. 


')  Nils  Holragren:  Zur  Kenntnis  der  Parietalorgane 
von  Kana  temporaria.  Arkiv  för  Zoologi,  Bd.  11,  Nr.  24, 
II   S.,   I   Taf. 

^)  Derselbe:  Zur  Innervation  der  Parietalorgane  von 
Petromyzon  fluviatilis.  Zoolog.  Anzeiger,  Bd.  50,  Nr.  3/4, 
1918,  S.  91—98.  -^ 

')  NilsHolmgren,  am  angegebenen  Orte  (Arkiv  Nr.  23). 

*)  Derselbe ;  Zur  l-rage  der  Epiphyseninnervation  bei 
Teleostiern.  Folia  neurobiologica  Bd.  X,  Sommer-Ergänzungs- 
beft  1917,  S.  X— 15. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


von  Clupea.i)  Rana:-)  Habenularnerven  fehlen 
vollständig.  —  Demnach  ist  anzunehmen,  daß  nach 
Schwund  des  vorderen  Organs  der  Habenularnerv 
dem  hinteren  zufiel,  so  bei  Acanthias.  Bei  Knochen- 
fischen hat  er  sich  bezüglich  der  zentralen  Endi- 
gungsweise  dem  alten  Nerven  des  hinteren  Or- 
gans angeschlossen,  erinnert  aber  durch  seine  Um- 
wege noch  oft  an  die  frühere  Endigungsweise.  — 
Ontogenetisch  zeigt  diesen  Vorgang  noch  der 
Ganoidfisch  Amia  calva  (nach  Kingsbury  und 
Brookover,  laut  H o  1  m g r e n ,  Fol.  neurob.) : 
Embryonen  von  13  mm  Länge  entsprechen  wesent- 
lich Petromyzon,  Vorderblase  mit  Habenular-, 
Hinterblase  mitCo.-post.-Nerven;  beim  erwachsenen 
Tier  aber  ist  das  vordere  Organ  geschwunden, 
das  hintere  hat  einen  linken  Habenularnerven  und 
Co.- post.- Verbindungen.  V.  Franz  (Jena). 


Der  Nervus  teriuiualis  bei  Knochenfischeu. 

Neben  dem  ersten  Gehirnnerven,  dem  Nervus 
olfactorius,  haben  viele  niedere  Wirbeltiere  noch 
einen  kleinen  eigenen  Nerven,  den  „Nervus  termi- 
nalis".  Er  scheint  nur  den  Cyclostomen  zu  fehlfen 
und  wurde  seit  1894  zuerst  bei  Ganoidfischen, 
dann  bei  Dipnoern,  Selachiern,  Teleostiern  und 
Amphibien,  schließlich  auch  bei  Säugetieren  und 
dem  Menschen  bekannt  als  ein  die  Riechschleim- 
haut medial  vom  Riechnerven  verlassendes  und 
meist  gesondert  ins  Gehirn  vorn  eintretendes 
Bündel,  das  jedoch  keinen  Riechnerventeil  dar- 
stelle, da  es  nicht  mit  den  Endigungen  des  Riech- 
nerven, den  knäuelförmigen  Aufpinselungen  oder 
„Glomeruli  olfactorii"  im  vordersten  Gehirnab- 
schnitt, dem  Bulbus  olfactorius,  in  Verbindung 
tritt,  sondern  diese  nur  durchzieht  oder,  wie  bei 
Selachiern  und  Dipnoern,  sie  sogar  außerhalb  des 
Gehirns  an  der  Medialseite  umgeht.  Über  seine 
zentrale  Endigungsweise  ist  mancherlei  bekannt, 
doch  wenig  Übereinstimmendes  und  nichts  Ent- 
scheidendes für  seine  Funktion.  Neuerdings  fand 
jedoch  Nils  Holmgren,^)  daß  die  Fasern  dieses 
Nerven  bei  den  Teleostiern  nach  Durchtritt  durch 
die  Riechglomeruli  großenteils  gleichfalls  wirkliche 
Glomeruli,  und  zwar  im  Gebiet  des  Corpus  prae- 
commissurale  vor  der  bekannten  Commissura 
anterior  des  Vorderhirns,  bilden.  Einige  Fasern 
kreuzen  in  dieser  Kommissur  und  endigen  somit 
in  Glomeruli  der  Gegenseite.  Verf.  schloß  daraus 
1917,  daß  der  Nerv  Riecheindrücke  oder  chemi- 
sche Eindrücke  auf  verkürztem  Wege  zentralwärts 

•)  Derselbe :  Über  die  Epiphysennerven  von  Clupea 
sprattus  und  harengus.  Arkiv  för  Zoologi,  Bd.  11,  Nr.  25, 
1908,  5   S. 

')  Derselbe,  a.  a.  O.  (Arkiv  Nr.  24). 

^)  Nils  Holmgren,  Zur  Kenntnis  des  Nervus  termina- 
lis  bei  Teleostiern.  Folia  neurobiologica,  Sommer-Ergänzungs- 
hefl   1917,  S.   16—38. 

Derselbe;  Zur  Anatomie  und  Histologie  des  Vorder-  und 
Zwischenhims  der  Knochenfische,  Acta  zoologica  1920, 
179  Seiten.  (Eine  sehr  ausführliche,  für  die  Zukunft  grund- 
legende Arbeit  über  die  in  ihrer  Überschrift  genannten  Teile. 
Ref.). 


führt.  „Wir  müssen  nämlich  Glomeruli  als  be- 
sondere für  Riecheindrücke  differenzierte  Assozia- 
tionsanordnungen auffassen :  daß  sie  wirklich  not- 
wendige Riechnervenattribute  sind,  geht  besonders 
daraus  hervor,  daß  bei  allen  Tieren,  denen  ein 
wirklicher  Riechnerv  zukommt,  ähnlich  gebaute 
Glomeruli  vorkommen  (Peripatus,  Insekten,  Myria- 
p.oden,  Crustaceen,  Limulus  [Holmgren  1916])." 
—  Einige  Fasern  des  Nerven  haben  noch  ander- 
weitige Endstellen  im  Vorder-  und  Zwischenhirn, 
einige  ziehen  auch  aus  dem  Gehirn  zentrifugal 
in  den  Sehnerven  unter  Verzweigung,  wobei  un- 
gewiß bleibt,  wie  weit  sie  diesem  Nerven  folgen. 
Einige  Terminalisfasern  endlich  zweigen,  wie  Verf. 
1920  mitteilt,  auch  schon  im  Bulbus  olfactorius 
Kollateralen  ab,  die  teils  dortselbst  sich  aufsplittern 
oder  in  eigentümlichen  kurzen  Endkörbchen  endi- 
gen, teils  mit  zentrifugaler  Richtung  im  Nervus 
olfactorius  zurückkehren,  teils  zu  den  oben  er- 
wähnten Terminalis-Glomeruli  hinziehen,  teils  mit 
Verzweigungen  oder  mit  großen  Riechglomeruli 
im  Bulbus  olfactorius  selbst  endigen.  „Wenn 
Terminalisfasern  mit  notorischen  Riechglomerulen 
assoziieren,  so  kann  dies  nichts  anderes  bedeuten, 
als  daß  die  Funktion  derselben  mit  derjenigen  der 
notorischen  Riechfasern,  wenn  auch  nicht  iden- 
tisch, so  wenigstens  gleichartig  ist." 

V.  Franz  (Jena). 

Kurland. 

Die  Landesnatur,  Bevölkerungs-  und  Wirt- 
schaftsgeographie Kurlands  behandelt  Dr.  F. 
Mager  im  zweiten  Heft  der  Veröffentlichungen 
des  geographischen  Instituts  der  Albertus  Univer- 
sität zu  Königsberg  („Kurland".  Eine  allgemeine 
Siedlungs-,  Verkehrs-  und  Wirtschaftsgeographie. 
Hamburg  1920,  Friedrichsen.  48  M.).  Als  Grund- 
lage der  Darstellung  dienten  neben  der  vorhan- 
denen Literatur  und  einigem  Aktenmaterial  der 
deutschen  Besetzungsbehörden  kulturgeographische 
Untersuchungen,  die  der  Verf.  im  Lande  selbst 
ausführte.  Sein  heutiges  Oberflächenbild  verdankt 
Kurland  in  der  Hauptsache  der  Eiszeit.  Der  Kern 
der  Höhenschwellen  wird  von  Schollen  älterer 
Formationen  gebildet,  aber  der  Untergrund  der 
glazialen  Ablagerungen  tritt  nicht  in  größeren 
Flächen  zutage.  Umfangreiche  Teile  der  Moränen- 
decke sind  umgestaltet  worden,  und  zwar  nicht 
nur  durch  fluviatile,  sondern  vorzugsweise  durch 
marine  Vorgänge;  teilweise  haben  auch  beide 
zugleich  an  den  Veränderungen  mitgewirkt.  Der 
Moränengürtel,  der  ein  Glied  des  großen  west- 
russisch-baltischen Endmoränenzuges  bildet,  tritt 
noch  bei  Dünaburg  ziemlich  nahe  an  die  Düna 
heran,  aber  er  entfernt  sich  flußabwärts  immer 
weiter  von  ihr  und  macht  einer  sich  in  derselben 
Richtung  verbreiternden  und  aus  Schwemmland 
bestehenden  Ebene  Platz,  zu  der  die  Schmelz- 
wasser beim  Rückzug  des  Eises  und  später  der 
Dünaurstrom  das  Material  geliefert  haben.  Die 
vielerorts  höchst  unruhige  Topographie  Kurlands, 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


349 


das  häufige  Vorkommen  von  größeren  und 
kleineren  regellosen  Hügelgruppen,  läßt  darauf 
schließen,  daß  es  sich  hier  um  einen  ausgedehnten 
Akkumulationsgürtel  handelt,  der  durch  das  be- 
ständige Oszillieren  eines  vielfach'  gezackten  Eis- 
randes entstanden  ist. 

Das  Hauptmerkmal  des  Klimas  Kurlands  ist 
seine  Unbeständigkeit,  die  mit  der  wechselnden 
Lage  der  Zugstraßen  der  nordatlantischen  Minima 
im  engsten  Zusammenhang  steht.  Diese  Schwan- 
kungen, die  durchaus  unregelmäßig  und  bald  in 
kürzeren,  bald  in  längeren  Intervallen  erfolgen, 
sind  unberechenbar  und  zwingen  den  Landwirt, 
heute  unter  kontinentalen,  morgen  unter  maritimen 
Klimaverhältnissen  zu  arbeiten.  Die  weite  Er- 
streckung Kurlands  von  W  nach  O  bedingt  eine 
Veränderung  der  klimatischen  Verhältnisse  in 
derselben  Richtung.  Während  der  Westen  noch 
einen  ozeanischen  Einschlag  besitzt,  nimmt  das 
Klima,  je  weiter  man  nach  Osten  gelangt,  einen 
mehr  kontinentalen  Charakter  an,  der  sich  vor 
allem  in  steigenden  Temperaturgegensätzen  zwi- 
schen Sommer  und  Winter  äußert.  Auch  die 
Temperaturen  des  Frühlings  und  des  Herbstes 
zeigen  in  Kurland  je  nach  der  Lage  des  Beobach- 
tungsortes ein  abweichendes  Verhalten.  In  der 
Nähe  der  See  geht  im  Frühling  die  Erwärmung 
langsamer  vor  sich  als  weiter  landeinwärts,  wäh- 
rend dafür  im  Herbst  in  den  östlichen  Landes- 
teilen die  Abkühlung  rascher  erfolgt  als  in  den 
westlichen. 

Ursprünglich  war  Kurland  überwiegend  von 
Wäldern  bedeckt,  aber  heute  nimmt  der  Wald 
nur  noch  30  "/o  der  Bodenfläche  ein,  sein  größter 
Teil  ist  also  von  dem  Menschen  verdrängt  wor- 
den, der  das  Rodeland  fast  ausschließlich  zu  land- 
wirtschaftlichen Zwecken  verwendet  und  natur- 
gemäß dem  Walde  die  wertvollsten  Böden  ent- 
zogen hat.  Von  baumlosen  Vegetationsformationen, 
die  auf  natürlichem  Wege  entstanden  sind, 
kommen  vor:  Callunaheiden,  Hochmoore,  Grün- 
landsmoore, Quellsümpfe,  Anwiesen,  Meerstrand- 
wiesen, Röhricht-  und  Schilfformationen  und 
Sandfluren. 

Unter  der  Bevölkerung  wiegen  die  Letten 
stark  vor;  an  zweiter  Stelle  kommen  die  Deut- 
schen (vor  dem  Krieg  etwa  8  "/o)»  ^^  dritter 
Stelle  die  Juden.  M.  sagt:  Der  Rasse  nach  steht 
der  Lette  zwischen  dem  Germanen  und  dem 
Slawen,  ist  aber  bei  einem  mehr  zu  dem  germa- 
nischen Typus  hinneigenden  Äußern  dem  Cha- 
rakter nach  wieder  dem  Slawen  ähnlicher.  Wäh- 
rend der  Lette  einerseits  recht  schätzenswerte 
Eigenschaften  zeigt  und  intelligent,  sehr  wirtschaft- 
lich und  fleißig,  anpassungsfähig,  gastfrei  und 
liebenswürdig  ist,  besitzt  er  andererseits  einen  un- 
zuverlässigen und  verschlagenen  Charakter  und 
ist  als  undankbar  bekannt. 

Das  Einzelhofsystem  ist  die  charakteristische 
Siedlungsweise.  Man  muß  die  Abneigung  gegen  das 
Zusammenwohnen  in  Dörfern  als  einen  äußerst  wich- 
tigen Zug  des  lettischen  Volkscharakters  ansehen. 


Das  Anwachsen  von  Dörfern  wurde  auch  von 
den  meist  aus  Niedersachsen  stammenden  Guts- 
herren nicht  begünstigt.  Die  Zahl  der  Dörfer 
blieb  gering  und  man  darf  sie  sich  nicht  nach 
der  Art  der  reichsdeutschen  dörflichen  Haupt- 
typen vorstellen,  dazu  fehlt  ihnen  in  erster  Linie 
jede  Geschlossenheit.  Erheblich  geändert  haben 
sich  die  Siedlungsverhältnisse  seit  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts.  Als  Handel  und 
Gewerbe  Boden  gewannen,  setzte  ein  stärkeres 
Wachstum  der  Städte  und  Flecken  ein,  und  neue 
fleckenähnliche  Ortschaften  entstanden,  es  kam 
zu  einer  Verschiebung  der  Bevölkerung  zugunsten 
der  Städte.  Die  Städte  und  Flecken  des  Kurlandes 
weisen  je  nach  Alter  und  Entstehung  einen  sehr 
verschiedenen  Grundriß  auf.  Die  Siedlungsdichte 
steht  mehr  oder  weniger  mit  der  Verteilung  des 
Waldes  im  Zusammenhang,  so  daß  die  Waldkarte 
des  Landes  gewissermaßen  das  Negativ  der  Sied- 
lungskarte sein  dürfte.  So  heben  sich  als  dichter 
besiedelt  folgende  waldärmeren  Gegenden  hervor: 
Der  mittlere  Strich  des  Kreises  Friedrichstadt 
zwischen  Alt-Selburg-Sezzen  und  Nerft-Ellern,  der 
südliche  Teil  der  Kreise  Bauske  und  Doblen,  die 
Gegenden  von  Talsen,  Saßmacken  (Kr.  Talsen), 
Frauenburg  (Kr.  Goldingen),  Niederbartau,  Ober- 
bartau und  Durben  (Kr.  Grobin),  Hasenpoth,  der 
Landstrich  zwischen  Stadt  Windau  und  Pilten  u.  a. 
M.  gibt  ferner  Aufschluß  über  die  verkehrs- 
geographischen Verhältnisse  Kurlands,  die  Kultur- 
formen des  Bodens  und  seine  Bewirtschaftung 
sowie  die  Gewerbe.  Eine  Übersichtskarte,  sowie 
eine  glazialgeologische  und  eineorohydrographische 
Karte  und  zahlreiche  Bilder  sind  der  wertvollen 
Abhandlung  beigegeben.  H.  Fehlinger. 


Erb  Veranlagung  und  soziale  Tüchtigkeit. 

Zur  Klärung  des  Problems  der  Einwirkung 
erblicher  psychischer  Mängel  auf  die  soziale 
Tüchtigkeit  führte  Wilhelmine  E.  Key  vom 
CarnegieTnstitut  zu  Washington  eine  Untersuchung 
über  die  Schicksale  der  Nachkommen  eines  Ehe- 
paares R.  aus,  das  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
nach  dem  westlichen  Pennsylvanien  einwanderte.*) 
Der  Mann  war  ehrlich,  tatkräftig,  ausdauernd, 
mutig  und  weitschauend,  die  Frau  war  treu  und 
arbeitsam,  aber  es  mangelte  ihr  der  Sinn  für 
Ordnung,  Maß  und  Zahl.  Körpermängel  bestanden 
anscheinend  bei  beiden  Ehegatten  nicht.  Von 
ihren  sieben  Nachkommen  blieb  eine  schwach- 
sinnige Tochter  unverheiratet  und  eine  andere 
verlor  durch  Fortzug  den  Zusammenhang  mit  der 
Familie;  von  den  übrigen  fünf  Nachkommen 
waren  vier  schwachsinnige  Söhne  und  einer  war 
geistig  normal.  Von  insgesamt  1822  Personen, 
über  welche  die  Verf.  Angaben  erhielt,  stammte 
nahezu  die  Hälfte    in  direkter  Linie  von  dem  be- 


')  Wilhelmine  E.  Key,  Ph.  D. :  Heredity  and  Social 
Fitness.  102  S.,  2  Stammtafeln.  Washington  1920,  Carnegie 
Institution. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


zeichneten  Ehepaare  ab,  die  übrigen  gehörten 
Familien  an,  die  in  die  Nachkommen  dieses  Paares 
einheirateten. 

In  zwei  Linien  des  Geschlechtes  R.,  die  auf 
geringgradig  schwachsinnige  Väter  zurückgehen, 
ist  die  nachteilige  Erbveranlagung  der  Stammuttter 
—  von  einem  Fall  der  Kreuzung  mit  einer 
defekten  Linie  abgesehen  —  nicht  mehr  aufge- 
treten, was  die  Verf.  darauf  zurückführt,  daß 
Heiraten  mit  anderen  erblich  belasteten  Familien 
unterblieben.  Eine  dritte  Linie,  jene  des  einzigen 
vollkommen  normalen  Sohnes,  blieb  von  jeder 
sozialen  Untüchtigkeit  frei.  Ein  weiterer  mäßig 
schwachsinniger  Sohn  des  Ehepaares  R.  heiratete 
in  eine  Familie,  in  der  sexuelle  Vergehen,  Trunk- 
sucht und  Verbrechensneigung  herrschten.  In  den 
folgenden  Generationen  kamen  Kreuzungen  mit 
sehr  verschieden  veranlagten  Stämmen  vor  und 
die  Nachkommenschaft  bietet  ein  buntes  Bild,  in 
dem  aber  sozial  untüchtige  Menschen  stark  her- 
vorstechen. Die  fünfte  Linie  endlich  geht  von 
dem  hochgradig  schwachsinnigen  jüngsten  Sohn 
des  Ehepaares  R.  aus.  Fünf  Generationen  hin- 
durch werden  stets  wieder  Ehen  mit  psychisch 
defekten  Personen  eingegangen  und  alle  Glieder 
dieser  Linie  scheinen  mehr  oder  minder  geistig 
unternormal  gewesen  zu  sein;  bei  einigen  war 
die  Mangelhaftigkeit   bis  zum  Blödsinn  gesteigert. 

Frl.  Key  untersuchte  auch  die  Erbveranlagung 
und  die  Schicksale  zweier  weiterer  Geschlechter, 
in  die  Nachkommen  der  letzterwähnten  Linie  des 
Geschlechtes  R.  einheirateten.  In  dem  einen 
dieser  beiden  auf  zwei  Schwestern  zurückgehenden 
Geschlechter  waren  die  Verhältnisse  wegen  oft 
vorkommender  außerehelicher  Kinder  schwer  zu 
klären;  festgestellt  wird  häufiges  Auftreten  von 
Blödsinn,  Überspanntheit  und  anti-sozialem  Ver- 
halten. In  dem  anderen  Geschlecht  fallt  besonders 
die  außergewöhnlich  langsame  Geistesentwicklung 
auf.  Durch  Heiraten  mit  Angehörigen  normaler 
Familien  wurde  der  Grad  der  Anomalie  verringert. 

Die  weibliche  Fruchtbarkeit  hat  im  Laufe  der 
Beobachtungszeit  in  allen  von  der  Untersuchung 
erfaßten  Familien  abgenommen,  jedoch  bei  ihren 
sozial  befähigten  Gliedern  etwas  mehr  als  bei  den 
übrigen.  Weit  bedeutungsvoller  aber  ist  die  Fest- 
stellung, daß  das  Verhältnis  der  am  Leben  ge- 
bliebenen Kinder  zur  Gesamtzahl  der  Ge- 
borenen in  den  tüchtigen  Familien  von 
Generation  zu  Generation  zunahm,  während  in 
den  geistig  unternormalen  Familien  dieses  Ver- 
hältnis zurückging,  so  daß  die  Beseitigung  der 
Untüchtigen  durch  natürliche  Auslese  wieder  ein- 
mal bekräftigt  ist. 

Eingehend  untersucht  wird  in  der  Schrift 
Frl.  Keys  die  Vererbung  der  Fähigkeit  des 
Rechnens,  die  der  Stammutter  des  Geschlechtes 
R.  anscheinend  völlig  abging.  In  den  Familien, 
in  welchen  Heiraten  mit  Unternormalen  unter- 
blieben, bUeb  der  stammütterliche  Mangel  aus,  in 
den  anderen  Familien  aber  trat  er  oft  wieder  auf. 


In  bezug  auf  die  Vererbung  eines  Defizits  von 
Tatkraft  und  Ausdauer  ergaben  sich  ähnliche 
Resultate. 

Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  die  Angehörigen 
der  normalen  Linien  große  Wanderlust  be- 
kundeten; von  den  noch  lebenden  Gliedern  der- 
selben befanden  sich  nahezu  200  in  Orten,  die 
von  dem  Stammsitz  ihres  Geschlechts  weit  ab- 
liegen, 42  wohnten  im  Umkreis  von  50  Meilen 
von  dem  Stammsitze  und  nur  3  lebten  noch  am 
ursprünglichen  Niederlassungsorte.  Dagegen  be- 
fanden sich  von  den  lebenden  Gliedern  der  beiden 
entarteten  Linien  bloß  drei  in  weiter  Ferne 
vom  Ausgangsort  des  Geschlechts,  16  waren  50 
bis  80  Meilen  davon  entfernt,  alle  übrigen  aber 
waren  in  der  Gegend  geblieben,  wo  die  Stamm- 
eltern sich  niedergelassen  hatten  und  eine  ansehn- 
liche Zahl  von  ihnen  fallt  der  öffentlichen  Ver- 
sorgung zur  Last. 

Das  Studium  der  Umweltverhältnisse  der  sozial 
untüchtigen  Familien  führte  zu  dem  Ergebnis,  daß 
die  Abweichungen  der  Befähigung,  die  sich  inner- 
halb dieses  Personenkreises  offenbarten,  in  der 
Hauptsache  nicht  auf  Gunst  oder  Ungunst  der 
Lebensbedingungen  zurückzuführen  sind,  sondern 
vielmehr  in  der  erblichen  Veranlagung  begründet 
sein  müssen.  Die  beiden  ersten  Geschlechtser- 
folgen konnten  unter  den  schwierigen  Verhält- 
nissen ihrer  Zeit  ohne  fremde  Hilfe  auskommen. 
Erst  von  der  dritten  Geschlechterfolge  an  trat 
Unterstützungsbedürftigkeit  auf.  Von  dem  ur- 
sprünglichen Grundbesitz  des  Geschlechtes  R.  ist 
kaum  mehr  der  vierte  Teil  sein  Eigen  und  dieser 
Rest  ist  so  schlecht  bebaut,  daß  er  praktisch 
nichts  einträgt.  Die  drei  Familien,  die  auf  dem 
stammväterlichen  Grundbesitz  ihre  Heimstätten 
haben,  leben  in  so  ärmlichen  Verhältnissen,  daß 
man  sich  ihrer  vor  einem  Jahrhundert  geschämt 
haben  würde. 

In  ihren  Einzelheiten  erbringt  die  Schrift 
Frl.  Keys  eine  Menge  beachtenswerten  Materials 
zum  Studium  der  Vererbung  beim  Menschen. 

H.  Fehlinger. 

Die  Desinfektionskraft  von  Fornialdehyd- 
präparat  E.  p.  und  Kresolpräparat  Nr.  72. 

Beide  Präparate,  Formaldehyd  Alpha  und  das 
Kresolpräparat  Nr.  72 ,  Beta  zeigten  nach  der 
Inaug.-Diss.  Hannover  191 9  von  M.  J.  Brudeck 
selbst  in  hochkonzentrierten  Lösungen  gegenüber 
den  für  die  Feststellung  benutzten  pathogenen 
Bakterien  eine  äußerst  geringe  bakterizide  Wir- 
kung. Trotz  der  sonstigen  guten  Eigenschaften 
beider  Präparate  (leichte  Löslichkeit  in  Wasser, 
relative  Ungiftigkeit  und  Unschädlichkeit,  kräftige 
desodorisierende  Wirkung,  indifferentes  Verhalten 
auf  Haut  und  Schleimhäute)  könnten  beide  Prä- 
parate zur  Einführung  in  die  Praxis  der  Bekämp- 
fung infektiöser  Tierkrankheiten  nicht  empfohlen 
werden.  Reuter. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


351 


Bticherbesprechimgen. 


Hager,  Dr.  Hermann,    Das  Mikroskop   und 
seine  Anwendung.      Handbuch    der  prakti- 
schen   Mikroskopie    und    Anleitung    zu    mikro- 
skopischen Untersuchungen.    Nach  dessen  Tode 
vollständig    umgearbeitet    und   in  Gemeinschaft 
mit  den  Professoren  Dr.  O.  Appel,  Dr.  G.  Bran- 
dis,    Dr.   P.   Lindner  und   Dr.  Th.   Lochte   neu 
herausgegeben   von   Dr.  Carl   Mez,   Professor 
der  Botanik  in  Königsberg.     12.  umgearbeitete 
Auflage.     Mit  495    Textfiguren.      Berlin    1920, 
Verlag  von  Julius  Springer.     Geb.  38  M. 
Es   ist  kein  Wunder,    daß    das   alte  „Hager- 
sche  Mikroskop",    das  ursprünglich  von  dem  Alt- 
meister  der  Pharmazie  für  seine  jungen  Fachge- 
nossen geschrieben  war,  sich  immer  noch  großer 
Beliebtheit  erfreut   bei  allen  denen,   die   in  ihrem 
praktischen  Beruf  zu  mikroskopieren  haben.    Der 
Herausgeber  hat  es  verstanden,  durch  seine  eigenen 
Erfahrungen    und    durch    Heranziehung    von    Ge- 
lehrten, die   mit  der   Praxis  in   engster  Fühlung 
stehen,   das  Werk   den   modernsten   Forderungen 
anzupassen.     Das  Buch   wird   als   Handbuch   be- 
zeichnet und   nicht    als  Einführung  in  die  Mikro- 
skopie,  es   kann   also  großes  Gewicht  auf  die  zu 
untersuchenden  Objekte  legen  und  braucht  diese  nicht 
lediglich  nach  pädagogisch-didaktischen  Gesichts- 
punkten  auszuwählen.     Trotzdem   wird   auch  der 
Anfanger  und  der  Autodidakt  das  Werk  mit  Vor- 
teil benutzen   können,    da    auf  85  Seiten    in   ele- 
mentarer   Weise    die    Theorie    des    Mikroskopes, 
seine  Einrichtung,   Prüfung,    Behandlung  und  sein 
Gebrauch    ausführlich     behandelt    werden.      Die 
pflanzlichen  Untersuchungsobjekte   nehmen  natur- 
gemäß   den    breitesten   Raum    ein,    während    die 
tierischen  Objekte,  einschließlich  der  menschlichen 
Ausscheidungen  (Sputum,  Harn  usw.),  den  kleineren 
Teil  umfassen.    Daß  unter  den  Objekten  aus  dem 
Tierreich  auch   einige  pathogene  Bakterien  aufge- 
nommen sind,   erklärt    sich  wohl  daraus,    daß  die 
Einheitlichkeit  des  Kapitels  über  Blutuntersuchung 
nicht  gestört    werden  sollte.   —   Im  Vorwort   be- 
tont der  Herausgeber,  daß  er  sich  verpflichtet  ge- 
fühlt hätte,  den  früheren  Anschauungen  in  Handel 
und  Wandel   wieder   zum  Siege   zu   helfen,   denn 
die  im  Kriege  notwendig  gewordenen  Ersatzmittel 
unserer  Nahrungsmittel   müßten   wieder   als  Ver- 
fälschungen charakterisiert  werden.  —  Das  Kapitel 
über  die  Stärke  ist  wohl  noch  nicht  ganz  diesem 
Gedanken  angepaßt  worden,  da  noch  von  Dekla- 
rationszwang   beim    Vermischen    des    Brotmehles 
mit  Kartoffeln   die    Rede    ist.      Die   Ausstattung 
des    Buches    ist    lobenswert  und    alle  Autotypien 
sind  sauber  und  klar  wiedergegeben.     Wächter. 


Wagner,  Georg,  Die  Landschafts  formen 
von  Württembergisch-Franken,  mit 
besonderer  Berücksichtigung  des  Muschelkalk- 
gebiets. (Erdgeschichtliche  und  landeskundliche 
Abhandlungen  aus  Schwaben  und  Franken, 
herausgegeben    vom    Geol.    und  Geogr.  Institut 


der  Universität  Tübingen,  Heft  i).  95  S.  mit 
32  Abbildungen  und  Kartenskizzen.  Ohringen 
1920,  Rau.     Geh.  4,20  M. 

Der  „Geologischen  Heimatkunde  von  Württem- 
bergisch-Franken", die  an  dieser  Stelle  schon  ihre 
Würdigung  erfahren  hat,  und  die  seither  bereits 
in  zweiter  Auflage  (3.  u.  4.  Tausend)  vorliegt,  hat 
der  treue  Vorkämpfer  der  natürlichen  Schönheiten 
seiner  fränkischen  Heimat  eine  Ergänzung  nach 
der  mehr  geographischen  Seite  hin  folgen  lassen, 
die  gleichfalls  um  5  volle  Kriegsjahre  verspätet 
erscheint.  Eine  Anzahl  erläuternder  Zeichnungen 
sind  von  dort  herübergenommen,  doch  treten  auch 
wieder  neue  hinzu.  Darunter  befindet  sich  ein 
sehr  instruktives  Kärtchen  der  Flußgebiete  Kocher, 
Jagst,  Tauber. 

Deutlichst  werden  die  mancherlei  Einflüsse  des 
geologischen  Untergrunds  auf  Berg-  und  Talformen, 
auf  die  Gesamtgestaltung  des  Landschaftsbildes 
wie  auf  die  Besiedelung  herausgearbeitet.  Dabei 
ist  manche  hübsche  Feinbeobachtung  eingestreut, 
vieles  bedeutet  Ablesen  allgemeiner  giltiger 
Gesetzmäßigkeiten  aus  einem  Sonderfall.  Histo- 
risch interessante  Bemerkungen  sind  eingestreut. 
Mit  Hingebung  und  didaktischem  Geschick  wer- 
den die  einzelnen  Flußläufe  regional  eingehend 
geschildert. 

Doch  ist  auch  den  Erscheinungen  aus  dem 
rein  geologischen  Stoff  der  Gebirgsbildung  bzw. 
der  Struktur  des  Landes  ein  eigener  Abschnitt 
gewidmet  und  gerade  hier  finden  sich  zahlreiche 
schöne  neue  Beiträge  zu  unserer  bisherigen  Kennt- 
nis. Dahin  gehört  der  Nachweis  einer  WSW — 
ONO  streichenden  leichten  Einmuldung,  der 
„Fränkischen  Furche".  In  Störungen  des  Einfallens 
und  auch  landschaftlich  macht  sie  sich  bemerkbar. 
Bei  Vellberg  wird  ein  umgekehrtes  Verhalten  der 
verschobenen  Schollen  aufgezeigt  wie  es  bisher  in 
der  geologischen  Karte  Südwestdeutschlands  von 
Regelmann  angegeben  worden  war.  Die  Zahl 
der  Verwerfungen  ist  auch  in  der  fränkischen 
Platte  nicht  gering,  ihr  Einfluß  auf  die  Wasser- 
führung der  Flüsse  in  einem  Kalk-  und  Karst- 
gebiet zuweilen  erheblich.  Kommen  doch  an 
der  Heldenmühle  unterhalb  Crailsheims  in  der 
Jagst  Versickerungen  zustande,  die  ein  würdiges 
Parallelbeispiel  zu  denen  der  Donau  bei  Immen- 
dingen bieten  I 

Zum  Hauptthema  führt  der  in  den  Bewegungen 
des  Bodens  begründete  Kampf  um  die  Wasser- 
scheide im  Schlußabsatz  zurück.  Die  Deutung 
der  Muschelkalk-  bzw.  Lettenkohlenfläche,  der  die 
Keuperberge  aufgesetzt,  die  Flußtäler  eingefurcht 
sind,  als  alte  fluviatile  Einebnungswirkung  wird 
dabei  mit  guten  Gründen  abgelehnt. 

Die  Arbeit  leitet  mit  ihren  beiderseitigen  Be- 
ziehungen aufs  glücklichste  eine  neue  Folge  von 
Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  Geographie 
und  Geologie  ein,  die  das  weite  schöne  Schwaben 
und  Franken   zum  Gegenstand   haben   sollen  und 


352 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  23 


in  weiteren  Kreisen  auf  Interesse  und  Verständnis 
hoffen  dürfen.  Edw.  Hennig. 

Thormeyer,  Paul,  Philosophisches  Wörter- 
buch. 2.  Aufl.  (Teubners  kleine  Fachwörter- 
bücher. Nr.  4.)  222  Seiten.  5  M. 
Das  kleine  Wörterbuch,  das  schon  nach  zwei 
Jahren  eine  neue  Auflage  erlebt,  enthält  außer 
kurzen,  sachlichen  Erklärungen  der  philosophischen 
Fachausdrücke  gedrängte  Übersichten  der  philo- 
sophischen Richtungen  und  Systeme.  Der  Verf. 
liebt  dabei  die  schematische  Darstellung.  Die 
neueren  Philosophen  werden  z.  B.  meist  nur  durch 
die  Stichworte  der  philosophischen  Richtungen, 
welche  sie  vertreten,  charakterisiert.  Mancher 
Philosoph  mag  sich  in  dem  Prokrustesbett  des 
Schemas  unbehaglich  fühlen,  wie  z.  B.  Ziehen, 
wenn  er  schlechthin  unter  die  Psychologisten 
versetzt  wird;  doch  dient  das  Schema  im  allge- 
meinen vortrefflich  dem  Zweck  einer  schnellen 
Orientierung  und  dazu,  nicht  zu  einem  gründ- 
lichen Studium  der  Philosophie,  ist  ja  das  Büch- 
lein bestimmt.  Die  zweite  Auflage  ist,  obgleich 
alle  psychologischen  Fachausdrücke,  für  die  ein 
besonderes  Fachwörterbuch  erscheint,  ausge- 
schieden sind,  von  96  auf  222  Seiten  erweitert 
und  durch  die  Aufnahme  zahlreicher  neuer  Stich- 
wörter vervollständigt  worden.  Manche  ältere 
Fachausdrücke,  denen  man  in  der  Literatur  noch 
immer  begegnet,  wie  Quidditas,  Proprietates  in- 
trinsecae  usw.  vermißt  man  freilich  auch  jetzt. 
Vor  allem  hätte  wohl  auch  Einstein  und  die 
Relativitätstheorie,  wie  Steiner,  der  Hauptver- 
treter der  deutschen  Theosophie  aufgenommen 
werden  sollen.  Doch  sind  das  nur  unbedeutende 
Ausstellungen.  Im  ganzen  ist  das  Wörterbuch 
gerade  Naturwissenschaftlern  zur  schnellen  philo- 
sophischen Orientierung  auf  das  wärmste  zu 
empfehlen.  Kranichfeld. 

Ruska,  Prof.  Dr.  Julius,  Methodik  des  mine- 
ralogisch-geologischen   Unterrichts. 
Mit    35    Textabbildungen    und    einer    Bildtafel. 
520    S.    gr.  S".      Stuttgart    1920,    Verlag    von 
F.  Enke. 
Das    Werk    beschränkt    sich     nicht    auf    eine 
Methodik,  was  einen  Umfang  von  520  Druckseiten 
kaum  rechtfertigen  würde,  sondern  es  bringt  auch 
das  Wesentlichste   des  mineralogisch  geologischen 
Lehrstoffs.     Es  beansprucht  daher  nicht  etwa   nur 
das   rein    pädagogische,    sondern    auch    das   allge- 
mein-naturwissenschaftliche   Interesse.       Das     be- 
weisen schon  die  Kapitelüberschriften.     Aus  dem 


reichen  Inhalt  sei  nur  folgendes  hervorgehoben: 
Allgemeine  Mineralogie  (75  Seiten).  —  Allgemeine 
Geologie  (30  Seiten).  —  Historische  Geologie 
(50  Seiten).  —  Geologische  Sammlungen.  —  Mine- 
ralogische und  geologische  Arbeitsausrüstung.  — 
Geologische  Karten  und  Profile  usw. 

Auch  die  kurzen  Rückblicke  auf  die  geschicht- 
liche Entwicklung  der  beiden  Wissenschaften,  die 
Angabe  der  literarischen  Hilfsmittel,  die  Be- 
trachtungen über  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung 
und  manches  andere  sind  für  die  Allgemeinheit 
nicht  weniger  wichtig  als  für  die  Schule. 

Das  Buch  ist  einer  reichen  Erfahrung  ent- 
sprungen. Schon  im  Jahre  1908  hat  Ruska  sich 
um  die  Geologie  durch  seine  „Geologischen  Streif- 
züge in  die  Umgebung  Heidelbergs"  verdient  ge- 
macht. Daß  er  trotz  der  außerordentlichen  Viel- 
seitigkeit, die  er  entfaltet,  zum  Verf.  des  vor- 
liegenden Werkes  berufen  war,  das  den  fünften 
Band  der  Norrenbergschen  Handbücher  des 
naturwissenschaftlichen  Unterrichts  bildet,  beweist 
das  eindringendere  Studium  des  Buches.  Hervor- 
gehoben sei  noch,  daß  dieses  durch  seine  für  die 
heutige  Zeit  geradezu  glänzende  Ausstattung  auf- 
fallt. Dannemann. 


Literatur. 

Monographien  zur  angewandten  Entomologie.  Berlin  '21, 
Paul  Parey. 

Heft    5:     Wille,     Biologie    und    Bekämpfung    der 

deutschen  Schabe. 
Heft  6:    Stellwaag,    Die  Schmarotzerwespen    als 
Parasiten.     24  M. 

Fröhlich,  Grundzüge  einer  Lehre  vom  Licht-  und 
Farbensinn.  Ein  Beitrag  zur  allgemeinen  Physiologie  der 
Sinne.     Jena  '21,  Gustav  Fischer.     15  M. 

v.Drygalski,  Deutsche  Südpolarexpedition  igol  — 1903. 
XVI.  Band.  Zoologie  VIII.  Band,  Heft  IV.  Berlin  '21,  Ver- 
einigung wissenschaftlicher  Verleger. 

Czapek,  Friedrich,  Dr.  phil.  et  med.,  Biochemie  der 
Pflanzen.  2.  Aufl.  Bd.  III,  852  S.  Jena  '21,  Gustav  Fischer. 
HO  M. 

Köhler,  Dr.  A.,  Mitteilungen  für  Studierende  an  der 
Universität  Leipzig  W.-S.  1920/21.    Leipzig  '21,  Alfred  Lorenz. 

Schöne,  Dr.  Walter,  Die  wirtschaftlich^  Lage  der 
Studierenden  an  der  Universität  Leipzig.  Sonderdruck  der 
Akademischen  Nachrichten.  Leipzig  '20,  Alfred  Lorentz.  3,80  M. 

Abderhalden,  Prof.  Dr.,  Das  Recht  auf  Gesundheit 
und  die  Pflicht,  sie  zu  erhalten.    Leipzig  '21,  S.  Hirzel.    6  M. 

Michaelis,  Prof.  Dr.  med.  Leonor,  Praktikum  der 
physikalischen  Chemie,  insbesondere  der  Kolloidchemie  für 
Mediziner  und  Biologen.     Berlin  '21,  Julius  Springer.     26  M. 

Langenbeck,  Prof.  Dr.  R.,  Landeskunde  von  Elsaß- 
Lothringen.  (Sammlung  Göschen.)  Berlin  '20,  Vereinigung 
wissenschaftlicher  Verleger.     2,10  M. 

Semon,  Richard,  Die  Mneme.  4.  u.  5.  Aufl.  Leip- 
zig  '21,   W.  Engelmann.      18  M. 


Inhalt:  H.  Winkler,  Christian  Gottfried  Nees  von  Esenbeck  als  Naturforscher  und  Mensch.  S.  337.  —  Einzelberichte: 
Holmgrens  Arbeiten  über  die  Parietalorgane  und  ihre  Innervation  bei  Fischen.  (3  Abb.)  S.  346.  N.  Holmgren,  Der 
Nervus  terminalis  bei  Knochenfischen.  S.  348.  F.  Mager,  Kurland.  S.  34S.  Wilhelmine  E.  Key,  Erbveranlagung 
und  soziale  Tüchtigkeit.  S.  349.  M.  J.  Brudeck,  Die  Desinfektionskraft  von  Formaldehydpräparat  K.  p.  und  Kresol- 
präparat  Nr.  72.  S.  350.  —  Büchetbesprecbungen:  H.  Hager,  Das  Mikroskop  und  seine  Anwendung.  S.  351.  G. 
Wagner,  Die  Landschaftsformen  von  Württembergisch-Franken.  S.  351.  P.  Tliormeyer,  Philosophisches  Wörter- 
buch. S.  352.     J.  Ruska,  Methodik  des  mineralogisch-geologischen  Unterrichts.  S.   352.    —    Literatur:  Liste.  S.  352. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganzen  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  12.  Juni  1921. 


Nummer  S4< 


Über  die  Geschichte  und  die  neuesten  Fortschritte  der  Kenntnis 

der  Kakteen. 


[Nachdruck  verboten.]  Von  Alwin  Berger, 

Unter  den  vielen  Wunderdingen,  welche  die 
Entdeckung  Amerikas  den  Bewohnern  der  alten 
Welt  enthüllte,  waren  gewiß  die  Kakteen  eines 
der  merkwürdigsten.  Etwas  von  diesem  Fremden, 
Eigenartigen  und  Wunderbaren  empfinden  wir 
auch  heute  noch,  wenn  wir  eine  gesunde,  wüchsige 
Kakteenkolonie  in  unseren  Gärten  zu  besichtigen 
Gelegenheit  haben. 

Für  die  Pflanzenfreunde  sind  die  Kakteen  im- 
mer eine  kleine  Wunderwelt  für  sich  gewesen, 
der  man  sich  mit  besonderem  Eifer  hingegeben 
hat.  Die  Geschichte  der  Kakteenpflege  ist  eines 
der  interessantesten  Kapitel  des  Gartenbaues  und 
der  Botanik,  die  sich  hier  auf  das  engste  be- 
rühren.^) 

Zu  Herbarpflanzen  im  gewöhnlichen  Sinne 
eignen  sich  Kakteen  wenig.  Für  den  Fflanzen- 
sammler  waren  sie  also  undankbare  Objekte.  Sie 
zu  pressen  und  zu  konservieren  war  zeitraubend, 
wenn  nicht  ganz  unmöglich.  So  kam  es,  daß  sie 
in  den  Herbarien  nur  sehr  schwach  vertreten 
waren  und  sie  somit  bei  der  Mehrzahl  der  syste- 
matischen Botaniker  von  Linne  an,  etwas  in 
den  Hintergrund  traten.  Zu  ihrem  Studium  be- 
nötigte man  lebendes  Material,  ohne  dieses  wäre 
auch  heute  kein  Fortschritt  zu  erreichen. 

Schon  in  der  vorlinneischen  Zeit  besaßen  die 
Gärten  neben  den  afrikanischen  Sukkulenten  auch 
amerikanische,  namentlich  Kakteen.  Die  Botaniker 
jener  Zeit  unterschieden  bereits  einige  der  größeren 
Gattungen,  welche  sich  durch  ihren  Habitus  kennt- 
lich machen,  wie  Cereus,  welche  schon  Her- 
mann 1698  zugeschrieben  wird,  Feireskia  wurde 
von  Plumier  1703,  Opuntia  durch  Tournefort, 
17 16  und  Tuna  durch  Dillenius  1732  aufge- 
stellt. Warum  Linne  später  dieselben  unter 
„Cactus"  vereinigte,  ist  nicht  verständlich. 

Philip  Miller  dagegen,  der  im  Physic 
Garden  in  Chelsea  bei  London  mit  diesen  Ge- 
wächsen in  direkte  Berührung  kam,  stellte  in 
seinem  Dictionary  of  Gardening  (8.  Aufl.  1768 
mit  linneischer  Nomenklatur)  die  alten  Gattungen 
wieder  her  und  gab  ausgezeichnete  Erläuterungen 
dazu.  Er  kannte  im  ganzen  27  Arten.  Auf 
Miller  folgte  in  England  Adrian  Hardy 
H  a  w  o  r  t  h ,  dessen  botanische  Arbeiten  sich  auch 
auf  die  Kakteen  erstreckten,  die  mehr  und  mehr 
aus  Amerika  herübergebracht  wurden.     Er  stellte 


')  Man  vergleiche  auch :  K.Schumann,  Die  Verbreitung 
der  Cactaceae  im  Verhältnis  zu  ihrer  systematischen  Gliede- 
rung (Berlin    1899). 


Wilhelma,  Cannstatt. 

die  Gattungen  Mamillaria  und  Epiphyllen  auf. 
Ihm  gesellte  sich  in  Frankreich  Pyrame  DeCan- 
d  o  1 1  e  zu  mit  seinen,  von  R  e  d  o  u  t  e  gezeichneten 
„Plantes  grasses"  (1799 — 1829)  und  der  „Revue 
des  Cactees"  (1828). 

Von  den  nun  zahlreicher  werdenden  Autoren 
ragen  von  jetzt  ab  zwei  Deutsche  besonders  hervor, 
der  Fürst  Joseph  zu  Salm-Reifferscheidt- 
Dyck  (1773 — 1869),  der  frühzeitig  durch  seine 
Reisen  nach  Paris  mit  De  Candolle  und  Re- 
doute bekannt  wurde  und  auch  mit  Haworth 
in  Verbindung  stand,  und  der  Arzt  Dr.  L.  Pfeiffer 
in  Cassel  (1805 — 1877).  Durch  die  Bemühungen 
dieser  beiden  Männer  und  solcher  wie  A.  v.  H  u  m  - 
boldt,  Kunth,  Martins,  Meyen,  Link, 
Otto,  Sellow,  Karwinsky,  Zuccarini, 
Scheidweiler,  Lehmann,  Ehrenberg  usw. 
wurden  ganz  enorme  Fortschritte  gemacht  und 
durch  sie  ist  es  gekommen,  daß  die  Kenntnis  der 
Familie  der  Kakteen  eine  spezifisch  deutsche  Do- 
mäne wurde.  Dr.  L.  Pfeiffer  hatte  1837  als 
junger  Mann  eine  vorzügliche  Arbeit  veröffent- 
licht, Enumeratio  diagnostica  Cactearum  usw.,  die 
heute  noch  gute  Dienste  leistet.  Bis  zu  dieser 
Zeit  waren  die  Gattungen  auf  lO  gestiegen, 
darunter  die  von  ihm  aufgestellte  Lepismium.  Die 
letzte  größere  zusammenfassende  Arbeit  des  Fürsten 
Salm,  Cacteae  in  Horto  Dyckensi  cultae  anno 
1849,  erschien  1850.  Das  hier  .entwickelte  System 
kommt  nun  auf  20  Gattungen,  von  denen  drei 
von  ihnen  selber  stammen.  Salm  beherrschte 
fast  souverän  die  Kenntnis  der  Familie.  Seine 
Studien  stützten  sich  auf  seine  eigene  umfangreiche 
Sammlung  lebender  Pflanzen,  neben  der  er  sich 
auch  eine  solche  getrockneter  Kakteenkörper  an- 
gelegt hatte,  die  leider  aus  Unverständnis  nach 
seinem  Tode  verloren  ging.  Sie  würde  heute 
von  unschätzbarem  Werte  sein,  da  sie  die  Typen 
seiner  Arten  enthielt. 

In  Belgien  und  Frankreich  war  fast  gleichzeitig 
Charles  Lemaire  (1801  — 1870)  tätig,  der  sich 
namentlich  um  die  Neueinführungen  der  auf- 
blühenden belgischen  Handelsgärtnereien  bemühte 
und  darunter  den  Kakteen,  besonders  auch  der 
großen  Privatsammlung  Monville's,  seine 
spezielle  Hinneigung  schenkte.  Ihm  lag  nament- 
lich daran  Klarheit  über  die  Gattungen  zu  ge- 
winnen. Das  suchte  er  durch  Absplittern  kleinerer 
Gruppen  aus  den  großen  Sammelgattungen  zu 
erreichen. 

Aber  diese  Bestrebungen  fanden  bei  seinen 
Zeitgenossen    wenig    Anklang.      Noch    lange   be- 


354 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  24 


herrschte  Salms  System  die  Lage.  Es  trat  nun 
auch  ein  gewisser  Niedergang  in  der  Kakteen- 
liebhaberei ein,  das  Interesse  an  diesen  Pflanzen 
nahm  in  Deutschland  ab  und  fast  wäre  der  Faden 
der  Tradition  abgerissen. 

Da  erstand  in  St.  Louis,  Mo.  in  dem  Arzte 
Dr.  Georg  Engelmann  (1804 — 1884),  einem 
geborenen  Frankfurter,  ein  ganz  vorzüglicher  neuer 
Arbeiter  auf  unserem  Gebiete.  Er  bearbeitete 
1848  eine  Samrnlung  Kakteen  aus  Nordmexiko 
und  stellte  hier  *)  die  neue  Gattung  Echinocereus 
auf,  welche  Salm  indessen  nicht  gelten  ließ  und 
wieder  mit  Cereus  vereinigte,  während  sie  heute 
als  eine  der  bestumschriebenen  angesehen  wird. 
Salm  und  Engelmann  blieben  in  Verkehr. 
Engelmanns  spätere  Arbeiten  waren  z.  T.  von 
prächtigen  Abbildungen  begleitet. 

Mit  Engelmann  stand  in  enger  Beziehung 
Dr.  Albert  Weber  (1830— 1903),  ein  in  Straß- 
burg unter  französischer  Herrschaft  geborener 
Deutscher  und  später  Generalarzt  der  französischen 
Armee.  Er  hatte  sich  von  früher  Jugend  an  mit 
dem  Kakteenstudium  befaßt  und  kam  mit  der 
französischen  Okkupationsarmee  nach  Mexiko.  Er 
war  einer  der  schärfsten  Kenner   dieser    Pflanzen. 

In  Deutschland  nahm  nun  Prof.  Dr.  K.  Schu- 
mann (185 1 — 1904)  am  Botanischen  Garten  in 
Berlin  die  Familie  wieder  auf.  Ihm  erwuchs  in 
der  Deutschen  Kakteengesellschaft,  welche  das 
Interesse  an  diesen  Pflanzen  von  neuem  erweckte 
und  zu  lebhaften  Neueinführungen  aus  bisher 
wenig  erforschten  Gebieten  anregte,  eine  starke 
Hilfe.  Er  bearbeitete  die  Kakteen  für  die  Flora 
brasiliensis  und  gab  später  eine  Monographie  ^) 
sowie  eine  Anzahl  kleiner  Schriften  heraus.  Seine 
Nachfolger,  auch  als  Vorstände  der  Deutschen 
Kakteengesellschaft,  waren  Prof.  Dr.  Gurke  und 
jetzt  Prof.  Dr.  Vaupel.  Beide  haben  viele  neue 
Arten  bekannt  gemacht.  Für  die  gründliche  Be- 
arbeitung der  Cereen  usw.  hat  nach  Schumann 
W.  Weingart  ganz  Hervorragendes  geleistet 
und  viele  Irrtümer  aufgeklärt.  Für  Mamillaria 
war  L.  Q  u  e  h  1  erfolgreich  tätig. 

Weber  und  Schumann  hielten  fast  konser- 
vativ am  Salm-Dyckschen  Systeme  fest,  nament- 
lich an  den  großen  Sammelgattungen,  wenn  sie 
es  auch  in  verschiedener  Richtung  ausbauten  und 
verbesserten. 

Es  zeigte  sich  indessen,  daß  auch  hier  erwei- 
terte Kenntnis  wiederum  Bewegung  in  die  Sache 
brachte.  Mir  war  bei  meinen  Studien,  die  ich 
neben  meinen  Sukkulentenarbeiten  gern  betrieb, 
in  La  Moitola  und  anderen  Gärten  der  Riviera 
eine  Reihe  von  Beobachtungen  über  Blüten-  und 
Fruchtbildung  möglich,  die  ich  1905  veröffent- 
lichte. ^)     Es  ergaben  sich  innerhalb  der  Sammel- 


gattung Cereus  eine  Reihe  von  deutlichen,  bisher 
unbekannten  Verwandtschaftsgruppen,  welche  bei 
jeder  anderen  Pflanzenfamilie  allgemein  als  „gute" 
Gattungen  anerkannt  worden  wären.  Bei  den 
Kakteen  war  aber  auf  die  große  Zahl  der  Lieb- 
haber Rücksicht  zu  nehmen,  die  jede  Nomen- 
klaturveränderung schroff  abgelehnt  haben  würden. 
So  begnügte  ich  mich,  diese  Gruppen  als  Unter- 
gattungen anstatt  als  selbständige  Gattungen  auf- 
zustellen. Um  aber  über  meine  Anschauungen 
über  die  Bewertung  derselben  keinen  Zweifel  auf- 
kommen zu  lassen,  degradierte  ich  die  bisher 
sanktionierten  Gattungen  Cephalocereus,  Pilocereus 
und  Echinocereus  zu  bloßen  Untergattungen  von 
Cereus.  Wollte  man  diese  als  Gattungen  gelten 
lassen,  so  mußten  auch  die  neuen  als  solche  be- 
trachtet werden.  Indessen  hat  niemand  den  Sinn 
dieser  erweiterten  Fassung  von  Cereus  verstanden ; 
vielleicht  wäre  es  deutlicher  geworden,  wenn  ich 
wie  Pfeiffer  auch  noch  die  Gattung  Phyllocactus 
mit  eingeschlossen  gehabt  hätte. 

Während  man  nun  in  Deutschland  weiter  an 
den  alten  Sammelgattungen  festhielt,  erhoben 
1909  Riccobono  in  Palermo  und  Dr.  N.  L. 
Britton  in  New- York  und  Dr.  J.  N.  Rose  in 
Washington  die  neuen  Untergattungen  zu  Gattun- 
gen und  schufen  neue  dazu. 

Britton  und  Rose  hatten  seit  1904  das 
Studium  der  Kakteen  mit  großer  Energie  aufge- 
nommen, nachdem  ihnen  die  Carnegie-Stiftung  zur 
Erforschung  dieser  typisch  amerikanischen  Pflanzen- 
familie die  reichlichen  Mittel  erschlossen  hatte, 
welche  erforderlich  waren,  um  die  Sache  groß- 
zügig ins  Werk  zu  setzen,  Mittel  wie  sie  uns  auch 
unter  den  glänzendsten  Verhältnissen  nie  zur  Ver- 
fügung gestanden  hätten.  Nicht  nur  war  es  ihnen 
dadurch  möglich,  die  bedeutendsten  Sammlungen 
und  Spezialisten  in  Europa  kennen  zu  lernen, 
sondern  sie  hatten  auch  das  Glück  fast  das  ganze 
wärmere  Amerika  zu  bereisen,  die  Kakteen  an 
ihren  Standorten  aufzusuchen  und  reichliche  Samm- 
lungen mit  nach  Hause  zu  nehmen.  Auf  diese 
Weise  wurde  ein  ungeahnte  Menge  neuer  Arten 
entdeckt  und  wichtige  Beiträge  zur  Kenntnis  der 
älteren  gesammelt. 

Das  Ergebnis  dieser  Studien  erscheint  nun  in 
einem  prachtvoll  illustrierten  und  auch  mit  zahl- 
reichen, sehr  naturgetreu  ausgeführten  bunten 
Tafeln  ausgestatteten  Werke  in  drei  Bänden,  von 
denen  Band  I  und  II  jetzt  vorliegen.') 

Der  erste  Band  umfaßt  die  Peireskien  und  die 
Opuntieen.  Bei  den  ersteren  bleibt  es  wie  bisher 
bei  einer  Gattung,  die  jetzt  19  Arten  umfaßt. 

Die  Opuntieen  zerfallen  in  7  Gattungen,  statt 
4  bei  Schumann:  Peireskiopsis  B r.  u.  R.  ( = 
Peireskopuntia     Web.)     10     Arten;     Pterocactus 


')     Engelmann     in    Wislizenus     Tour    Northern    Mexico, 

p.  91   (1848)- 

')  K.  Schumann,  Gesamtbeschreibuug  der  Kakteen 
(Monographia  Cactacearum).  Neudamra  1898,  hierzu  Nach- 
träge  1903. 

')  A  syslematic  revision  of  the  genus  Cereus;    in  Annual 


Report,  Missouri  Pot.  Garden  XVI.  (1905)  pp.   57—86,    plate 
1 — 12. 

')  N.  L.  Britton  und  J.  N.  Rose,  The  Cactaceae.  — 
Descriptions  and  illustrations  of  plants  of  the  Cactus  Family. 
—  The  Carnegie  Institution  of  Washington.  —  Washington 
1919  u.   1920.. 


N.  F.  XX.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


355 


K.  S  c  h  u  m.  (4  Arten) ;  Nopalea  Salm  (8  Arten) ; 
Tacinga  Br.  u.  R.  (l  Art);  Maihuenia  Phil. 
(S  Arten);  Opuntia  Mill.  (254  Arten)  und  Gtu- 
sonia  Br.  u.  R.  (i  Art). 

Ein  sehr  eigenartiges  Gewächs  muß  die  in 
den  Catingas  (Dornbuschwälder)  von  Bahia  vor- 
kommende Tacinga  funalis  B  r.  u.  R.  sein.  Sie 
wird  i^ — 12  m  lang  bei  etwas  kletterndem  Habitus 
und  hat  fast  stielrunde,  bleistiftstarke  Jahrestriebe. 
Die  Areolen  sind  mit  Unmengen  von  Glochiden 
(feine,  mit  Widerhaken  versehene,  nur  bei  den 
Opuntieen  vorkommende  Stacheln)  besetzt,  welche 
bei  der  leisesten  Berührung  in  wahren  Schauern 
herabfallen  1  Die  Blüte  besitzt  wie  Nopalea  lang 
hervorragende  Staubfäden,  aber  die  spärlichen 
Blütenhüllblätter  sind  zurückgerollt  und  sitzen 
einem  trichterigen,  im  Längsschnitt  fast  an  Pilo- 
cereus  erinnerndem  Schlünde  auf,  in  welchem  die 
Staubfäden  in  verschiedener  Höhe  eingefügt  sind. 
Zwischen  Staubfäden  und  Blütenhüllblättern  steht 
eine  Reihe  von  Haaren. 

Die  Gattung  Opuntia  umfaßt  den  weitaus 
größeren  Teil  des  ersten  Bandes.  Sie  zerfällt  in 
drei  Untergattungen  mit  zusammen  29  Reihen. 
Gute  Schlüssel  und  zahlreiche  Abbildungen,  Feder- 
zeichnungen, Habitusbilder  vom  Standort  und  vor- 
zügliche bunte  Tafeln  erleichtern  das  Zurecht- 
finden in  dieser  außerordentlich  großen  und 
schwierigen  Gattung.  Bei  uns  in  Deutschland 
kommen  Opuntien  mit  wenigen  Ausnahmen  nicht 
zur  Blüte.  Auch  ihre  vegetative  Ausbildung  bleibt 
bei  den  nicht  winterharten  eine  vergeilte  und  un- 
natürliche. Man  kann  von  ihnen  keine  richtige 
Vorstellung  gewinnen.  Eine  solche  Gattung  kann 
mit  Erfolg  nur  im  Süden  studiert  werden,  wo 
die  Pflanzen  im  freiem  Grunde  ihre  Lebensbe- 
dingungen finden.  In  den  Vereinigten  Staaten 
hatte  das  die  botanische  Abteilung  des  Ackerbau- 
ministeriums unternommen.  In  La  Mortola  hatte 
ich  zu  diesem  Zwecke  gleichfalls  eine  große 
Opuntienpflanzung  angelegt  und  dazu  von  nament- 
lich von  Dr.  Weber  in  Paris  und  anderen  Kakto- 
logen  wertvolle  Zuweisungen  erhalten.  Beide 
Sammlungen  sind  von  den  Verfassern  ausgiebig 
benutzt  worden. 

In  Italien  wachsen  selbst  tropische  Opuntien 
gut.  Es  ist  schade,  daß  dort  außer  Console 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  sich  nie- 
mand auf  ein  solches,  allerdings  viel  Platz  er- 
forderndes Studium  eingelassen  hat.  Gutge- 
wachsene Opuntien  sind  außerdem  vorzügliche 
Zierpflanzen  der  südlichen  Gärten. 

Diese  Bearbeitung  der  Opuntien  enthält  unge- 
heuer viel  Neues  und  Interessantes,  nicht  zum 
wenigsten  auch  über  die  Verbreitung  und  Her- 
kunft der  Arten.  Leider  verbietet  der  Raum  auf 
einzelnes  einzugehen.  Schumanns  Monographie 
mit  Nachträgen  kannte  146  Arten.  Auch  der  rätsel- 
hafte Cactus  moniliformis  L.  (Spec.  Plant  (1753) 
S.  468)  findet  seine  Aufklärung  als  proliferierende, 
dabei  sterile  Fruchtknoten  einer  baumartigen 
Opuntia,    O.  moniliformis  Br.   u.  R.  n.   sp.,    von 


San  Domingo  usw.  Solche  zur  vegetativen  Ver- 
mehrung dienende  Kurztriebe  kommen  auch  sonst 
bei  Opuntien  nicht  selten  vor. 

Gegenüber  der  Unterfamilie  der  Opuntieae, 
die  eine  ziemlich  gleichförmige  Entwicklung  ge- 
nommen hat,  erreicht  die  Unterfamilie  der  Cereeae 
eine  viel  weiter  gehende  Zergliederung.  Ziemlich 
in  Anlehnung  an  Schumann  geben  ßritton 
und  Rose  folgende  Einteilung  derselben:  i.  Cere- 
anae,  2.  Hylocereanae,  3.  Echinocereanae,  4.  Echino- 
cactanae,  5.  Cactanae,  6.  Coryphanthanae,  7  Epi- 
phyllanae,  8.  Rhipsalidanae. 

Wir  sehen  also  hier  die  Säulenkakteen  (Cere- 
anae)  von  den  kletternden  und  aus  den  Stämmen 
wurzelnden  bereits  als  Subtribus  (Hylocereanae) 
getrennt.  Jeder  dieser  beiden  Subtribus  zerfallt 
wiederum  in  eine  Anzahl  Gattungen,  die  nach  dem 
Aufbau  von  Blüte,  Frucht  und  Habitus  unterschieden 
werden.  Britton  und  Rose  unterscheiden  38 
Genera  bei  den  ersten  und  9  Genera  bei  den  zweiten. 
Also  47  Gattungen  an  Stelle  der  alten  Gattung 
Cereus  1  Das  wird  entschieden  Widerspruch 
herausfordern.  Wenn  man  aber  Gattungen  wie 
Echinocereus,  Phyllocactus ,  Pfeififera,  Nopalea, 
Hariota,  Wittia,  Echinopsis  und  Pelecyphora  aner- 
kennt, wie  das  jetzt  geschieht,  kann  man  auch 
keiner  dieser  47  eine  Berechtigung  absprechen. 
Ob  es  möglich  sein  wird  hier  und  da  doch  einige 
dieser  neuen  Gattungen  einzuziehen,  kann  ich 
ohne  eingehende  Prüfung  nicht  sagen;  das  wird 
die  Zeit  lehren. 

Diese  Gattungen  sind  zu  einem  Teil  auf 
Lemaires  und  auf  meine  eigenen  Abteilungen 
begründet.  Die  Unvollkommenheit  der  letzteren 
fühlte  ich  wohl,  allein  bei  dem  dürftigen  Material, 
das  mir  damals  zur  Verfügung  stand,  war  vorerst 
nicht  mehr  zu  erreichen.  Eine  von  mir  längst 
geplante  Revision  der  übrigen  Kakteengattungen 
konnte  leider  wegen  anderweitiger  Inanspruch- 
nahme nicht  ausgeführt  werden.  Ich  war  voll- 
ständig überzeugt,  daß  das  System  der  Kakteen, 
mit  der  Zeit  eine  Erweiterung  erfahren  mußte. 
Das  ist  nun  jetzt  geschehen.  Man  darf  wohl  an- 
nehmen, daß  die  F"amilie  der  Kakteen  nunmehr 
in  ihren  großen  Zügen  ziemlich  scharf  umrissen 
ist.  Daß  trotzdem  noch  vieles  Neue  und  selbst 
manche  Überraschung  kommen  kann,  ist  bei  der 
lokalen  Verbreitung  der  einzelnen  Arten,  die  auch 
diese  große  Arbeit  bestätigt,  nicht  ausgeschlossen. 

Als  Gattung  i)  Cereus  nehmen  Britton  und 
Rose  meine  Sektion  Piptanthocereus  und  führen 
darunter  24  Arten  auf,  von  denen  Cereus  peruvianus 
Mill.  der  bekannteste  ist.  Bei  allen  diesen  fällt 
die  verwelkte  Blume  über  dem  Fruchtknoten  glatt 
ab,  wobei  der  Griffel  stehen  bleibt.  Die  Frucht 
ist  nackt,  d.  h.  fast  ohne  Schuppen  und  ohne  alle 
Haare  und  Stacheln.  Beim  Trocknen  werden  die 
Blüten  schwarz.  Die  Gattung  ist  verbreitet  von 
West-Indien  bis  Argentinien,  aber  nicht  in  Mexiko 
oder  jenseits  der  Anden.  Die  kleineren  Cereen 
mit  glatter  Frucht,  bei  denen  die  Reste  der 
Blütenhülle    nicht    abfallen,    bilden    die    Gattung 


3S6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  K.  XX.  Nr.  24 


2)  Monvillea,  z.  B.  M.  Cavendishii  Br.  u.  R.,  M. 
Spegazzinii  Br.  u.  R.  usw.,  im  ganzen  8  Arten 
aus  Südamerika. 

Unter  3)  Cephalocereus  vereinigen  Britton 
und  Rose  alles  was  wir  bisher  als  Cephalocereus 
und  Pilocereus  unterschieden.  Mir  scheint,  daß 
man  diese  Trennung  besser  doch  beibehalten 
sollte  und  daß  die  Cephalocereus  sich  durch  ihre 
kleinen  Blumen,  den  nach  unten  verschmälerten, 
Mamillaria  ähnlichen  Früchten  gut  unterscheiden. 
Leider  kommen  bei  uns  solche  Pflanzen  nie  zur 
vollen  Entwicklung.  Eine  gute  Darstellung  einiger 
solcher,  „Pseudocephalien"  genannter  Blütenstände 
wäre  sehr  willkommen  gewesen. 

Auf  die  übrigen  Gattungen  kann  ich  hier  nicht 
genauer  eingehen.  Ich  führe  sie  daher  nur 
namentlich  auf  unter  Angabe  der  Artenzahl  und 
eines  Beispieles  mit  der  alten  Nomenklatur: 

4)  Espostoa  (i   Art:  Cactus  lanatus  H.  B.  K.) 

5)  Browningia  (i  Art:  Cereus  candelaris  Meyen) 

6)  Setsonia  (i  Art:  Cereus  Coryne  Salm);  7)  Es 
contria  ( i  Art :  C.  chiotilla  Web.);  8)  Corryo 
cactus  (3  Arten,  z.  B.  Cereus  melanotrichus  K 
Schum.);  9)  Pachycereus  (10  Arten,  z.  B.  Cer 
Pringlei  Wats.),  diese  Gattung  umfaßt  die  in 
Mexiko  von  Sonora  bis  Yucatan  beheimateten 
Riesen;  10)  Leptocereus  (8  Arten,  z.  B.  Cereus 
assurgens  Griseb.);  il)Eulychnia  (4  Arten,  z.B. 
Eul.  breviflora  P  h  i  1.). ;  1 2)  Lemaireocereus  (2 1  Arten, 
z.  B.  Cer.  stellatus  Pfeiff.);  13)  Erdisia  (4  Arten, 
z.  B.  Cereus  squarrosus  Vaupel);  14)  Bergero- 
cactus  (i  Art:  Cereus  Emoryi  Engelm.); 
15)  Leocereus  (3  Arten,  z.  B.  Cer.  melanurus  K. 
Schum.);  16)  Wilcoxia  (4  Arten,  z.  B.  Cereus 
(Echinocereus)  tuberosus  Pos.);  17)  Peniocereus 
(i  Art:  Cer.  Greggi  Engelm.);  18)  Dendrocereus 
(i  Art:  Cer.  nudiflorus  Engelm.);  19)  Machaero- 
cereus  (2  Arten,  z.  B.  Cereus  eruca  Brand.); 
20)  Nyctocereus  (5  Arten,  z.  B.  Cer.  serpentinus 
DC);  21)  Brachycereus  (i  Art:  Cer.  Thouarsii 
Web.);  22)  Acanthocereus  (7  Arten,  z.  B.  Cereus 
peentagonus  H  a  w. , '  C.  baxaniensis  K  a  r  w.) ; 
23)  Heliocereus  (5  Arten,  z.  B.  Cer.  speciosus 
Cav.);  24)  Trichocereus  (19  Arten,,  z.  B.  C.  Spa- 


chianus  Lem.);  25)  Jasminocereus  (i  Art:  C. 
galapagensis  Web.);  26)  Harrisia  ( 1 7  Arten,  z.  B. 
Cer.  tortuosus  Forb.);  27)  Borzicactus  (8  Arten, 
z.  B.  Cer.  sepium  Db.);  28)  Carnegia  (i  Art: 
C.  giganteus  Engel  m.) ;  29)  Binghamia  (2  Arten, 
z.  B.  Cephalocereus  melanostele  Vaupel);  30) 
Rathbunia  (2  Arten,  z.B.  Cer.  sonorensis  Runge); 
31)  Arrojadoa  (2  Arten,  z.  B.  Cer.  rhodanthus 
Gurke);  32)  Oreocerus  (i  Art:  Cer.  Celsianus 
Berger);  33)  Facheiroa  (1  Art:  F.  publiflora 
Br.  u.  R.);  34)  Cleistocactus  (3  Arten,  z.  B.  Cer. 
Baumannii  Lern.);  35)  Zehntnerella  (i  Art:  Z. 
squamulosa  Br.  u.  R.);  36)  Lophocereus  (i  Art: 
Cer.  Schottii  Engelm.);  37)  Myrtillocactus  (4  Ar- 
ten, z.  B.  Cer.  geometrizans  Mart.);  38)  Neorai- 
mondia  (i  Art:  Pilocereus  macrostibas  K.  S c h u  m.). 

Die  Hylocereanae  zerfallen  in  die  folgenden 
Gattungen:  i)  Hylocereus  (18  Arten,  z.  B.  Cactus 
triangularis  L.);  2)  Wilmattea  (i  Art:  Cereus  mi- 
nutiflorus  Vaupel);  3)  Selenicereus  (16  Arten, 
z.  B.  Cereus  grandiflorus  Mill.);  4)  Mediocactus 
(2  Arten,  z.  B.  Cer.  setaceus  Salm);  5)  Deamia 
(i  Art:  Cer.  Testudo  Karw.);  6)  Weberocereus 
(3  Arten,  z.  B.  Cer.  tunilla  Web.);  7)  Werckleo- 
cereus  (2  Arten,  z.  B.  Cer.  Tonduzii  Web.);  8) 
Aporocatus  (5  Arten,  z.  B.  Cactus  flagelliformis 
L.);  9)  Strophocactus  (i  Art:  Cer.  Wittii  K. 
Schum.).  —  Zusammen  267  Arten  gegen  176  in 
Schumanns  Monographie  und  Nachträgen. 

Hiermit  schließen  die  ersten  beiden  Bände. 
Leider  ist  es  mir  unmöglich  Einzelheiten,  so  wichtig 
sie  auch  sind,  weiter  auszuführen.  Daß  auch  die 
Kritik  Raum  zur  Betätigung  finden  wird,  ist  offen- 
bar, z.  B.  werden  manche  Synonyme  auch  bei 
weiter  Fassung  der  Spezies  nach  unseren  Begriffen 
abzutrennen  sein.  Auch  in  der  Deutung  und  Ver- 
wendung alter  Namen  kann  man  mitunter  anderer 
Meinung  sein.  Über  den  Inhalt  des  IIL  Bandes 
werde  ich  später  berichten.  Ohne  die  großzügige 
Unterstützung  durch  das  Carnegieinstitut  wäre  die 
Arbeit  nicht  ausführbar  gewesen.  Das  Institut 
und  die  Verfasser  haben  sich  um  die  Erforschung 
dieser  schönen  amerikanischen  Pflanzenfamilie 
große  Verdienste  erworben. 


Die  küustliche  Parthenogenese  des  Froscheies. 


[Nachdruck  verboten.] 

Außer  der  normalen  Parthenogenese,  die  zu- 
erst 1 762  von  dem  Genfer  Naturforscher  B  o  n  n  e  t 
bei  der  Blattlaus  beobachtet  wurde,  kennt  man 
jetzt  durch  die  experimentell-biologischen  For- 
schungen der  letzten  Jahrzehnte  noch  eine  künst- 
liche. Von  künstlicher  Parthenogenese  spricht 
man,  wenn  reife,  unbefruchtete  Eier,  die  normaler- 
weise ihre  Entwicklung  nur  durch  das  Eindringen 
eines  Spermiums  beginnen,  durch  chemische  oder 
physikalische  Mittel  zur  Entwicklung  gebracht 
werden. 

Die  ersten  Untersuchungen  über  die  künstliche 


Von  Hermann  Voß. 

Parthenogenese  wurden  1886  von  Tichomiroff) 
an  den  Eiern  des  Seidenspinners  (Bombyx  mori) 
gemacht,  von  denen  ein  Teil  sich  parthenogene- 
tisch  entwickeln  kann,  der  größere  Teil  aber  der 
Befruchtung  bedarf.  Durch  Anwendung  eines 
mechanischen  —  Reiben  der  Eier  mit  einer  Bürste 
—  oder  chemischen  Reizes  —  Eintauchen  der 
Eier  in  Schwefelsäure  —  versuchte  Tichomi- 
roff den  Prozentsatz   der   sich  parthenogenetisch 


')  Tichomiroff,    Die    künstliche    Parthenogenesis    bei 
Insekten.     Arch.  f.  An.  u.  Pbys.  iS86. 


N.  F.  XX.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


357 


entwickelnden  Eier  zu  vergrößern.  Es  folgten 
dann  die  genialen  Experimente.  J.  Loebs,')  der 
durch  chemisch-physikalische  Reize  die  Entwick- 
lung unbefruchteter  Echinideneier  bis  zum  Pluteus- 
stadium  und  darüber  hinaus  anzuregen  vermochte. 

Auch  bei  anderen  Tierklassen  wurde  die  künst- 
liche Parthenogenese  mit  mehr  oder  weniger  Er- 
folg versucht.  Bei  den  Wirbeltieren,  und  zwar 
beim  Haushuhn,  wurde  der  erste  Versuch  einer 
künstlichen  Parthenogenese  von  D.  Barfurth") 
(189s)  gemacht.  Die  Keimscheibe  virginaler  Eier 
vom  Haushuhn  wurde  mit  einer  Stahlnadel  ange- 
stochen und  dann  künstlich  bebrütet.  Barfurth 
erzielte  aber  damit  nur  eine  „Fragmentierung  des 
Dotters",  die  er  auf  Gerinnung  oder  Wasserver- 
lust zurückführte.  Bessere  Erfolge  hatte  der  fran- 
zösische Forscher  Bataillon,  als  er  im  Jahre 
1910  diese  IVIethode  Barfurths  bei  Amphibien- 
eiern, und  zwar  bei  denen  des  Landfrosches 
(Rana  fusca)  in  Anwendung  brachte.  Bataillon'') 
entnahm  reife,  unbefruchtete  Eier  dem  Uterus  eines 
in  Copula  befindlichen  Weibchens  und  stach  sie 
mit  einer  feinen  Glas-  oder  Platinnadel  von  30  bis 
80  fi  Dicke  an.  IWit  dieser  einfachen  IVIethode 
gelang  es  B  a  t  a  i  1 1  o  n  nicht  nur,  die  Entwicklung 
der  Eier  in  Gang  zu  bringen,  sondern  sogar  frei- 
schwimmenden Kaulquappen  aus  solchen  ange- 
stochenen Eiern  zu  züchten. 

Dieses,  zunächst  so  unglaublich  erscheinende 
Resultat  Bataillons  wurde  in  den  nächsten 
Jahren  von  einer  ganzen  Reihe  von  Forschern 
bestätigt.  Ich  will  hier  nur  die  Namen  derselben 
anführen,  ohne  auf  ihre  Untersuchungen  im  einzelnen 
einzugehen:  Brächet,*)  Mac  Clendon,*)  De- 
horne,*)  Henneguy,")  Herlant,*)  Levy*) 
und  J.  Loeb  und  Bancroft.*"), 

Auch  ich  selber")  habe  im  Jahre  19 16  auf 
Veranlassung  meines  Lehrers,  Geheimrat  Barfurth, 

')  J.  Loeb,  Die  chemische  Entwicklungserregung  des 
tierischen  Eies.     Berlin   1909,  Springer. 

-)  D.  Barfurth,  Versuche  über  die  parthenogenetische 
Furchung  des  Hühnereies.    Arch.  f.  Entw.-Mechanik  Bd.  11,  1895. 

^)  Bataillon,  L'embryogenese  complcte  provoquee 
chez  les  .\mphibicns  par  piqüre  de  l'oeuf  vierge  de  Rana 
fusca.     Compt.  rendus  de  l'Acad.  de  Sc.  Paris    T.   150,   19 10. 

*)  Brächet,  Les  localisations  germinales  dans  l'oeuf 
parthenogenetique  de  Rana  fusca.  Arch.  de  Biologie  Bd.  26, 
1911. 

')  Mac  Clendon,  Artificial  parthenogenesis  in  verte- 
brates.     Americ.  Journ.  of  Physiology  Bd.  29,   1912. 

*)  Dehorne,  Le  nombre  des  chromosomes  chez  les 
Batraciens  et  chez  les  larves  parthcnogenctiques  de  Grenouille. 
Compt.  rend.  de  l'Acad.  d.  Sc.  Bd.   150,  Paris   1910. 

')  Henneguy,  Sur  la  Parthenogenese  experimcntalc 
chez  les  Amphibiens.  Compt.  rend.  de  l'.^cad.  d.  Sciences 
Bd.   152,   1911. 

*)  Herlant,  Etüde  sur  les  bases  cytologiques  du  meca- 
nisme  de  la  Parthenogenese  experimentale  chez  les  Amphibiens. 
Archives  de  Biologie  Bd.  28,   1913. 

')  Levy,  Über  künstliche  Entwicklungserregung  bei 
Amphibien.     Arch.  f.  mikr.  Anatomie  Bd.  82,   1913. 

">)  J.  Loeb  und  Bancroft,  The  Sex  of  a  Partheno- 
genetic  Tadpole  and  Frog.    Journal  of  exper.  Zoology  Bd.  14, 

1913- 

")  Voß,  Die  experimentelle  Herstellung  von  partheno- 
genetischen  Froschlarven  durch  Anstich  des  Eies  mit  einer 
Glasnadel.     Dissertation.     Rostock   1919. 


mich  mit  Bataillon  sehen  Anstichversuchen  be- 
schäftigt und  durch  Wiederholung  derselben  in 
jedem  F'rühjahr  einige  Erfahrungen  über  die 
Methode  und  die  Ergebnisse  solcher  Versuche  ge- 
wonnen. 

Noch  mehr  fast  als  die  Tatsache  der  weit- 
gehenden parthenogenetischen  Entwicklung  eines 
Wirbeltiereies  muß  die  Einfachheit  der  Methode 
in  Erstaunen  setzen.  Nichts  von  komplizierten 
chemischen  Lösungen,  wie  sie  Loeb  anwandte, 
oder  von  elektrischen  Strömen,  mit  denen  man 
auch  bisweilen  eine  parthenogenetische  Entwick- 
lung in  Gang  bringen  konnte;  nur  eine  leichte 
Verletzung  des  Eies  mit  einer  recht  feinen  Glas- 
nadel, und  die  Entwicklung  kann  in  den  günstig- 
sten Fällen  zu  Stadien  führen,  die  mit  den  anderen 
erwähnten  Methoden  kaum  erreicht  werden! 

Da  ist  es  nun  sicherlich  von  Interesse  zu  er- 
fahren, wie  Bataillon  auf  die  Idee  kam,  daß  ein 
einfacher  Anstich  mit  einer  feinen  Nadel  genügen 
müsse,  um  die  Entwicklung  eines  unbefruchteten 
Froscheies  zu  bewirken,  denn  —  um  das  gleich 
mit  den  eigenen  Worten  Bataillons  vorauszu- 
schicken —  „diese  Versuche  wurden  nicht  auf 
gut  Glück  gemacht". 

Bataillon  hatte  die  Eier  von  Bufo  calamita 
mit  Spermien  von  Triton  alpestris  befruchtet  und 
gefunden,  daß  eine  Entwicklung  der  mit  dem  art- 
fremden Sperma  befruchteten  Eier  eintritt,  ohne 
daß  es  zu  einer  Vereinigung  der  beiden  Kerne, 
des  Ei-  und  des  Samenkernes,  kommt.  Bataillon 
schloß  nun  aus  dieser  Tatsache,  daß  also  nur  die 
rein  mechanische  Wirkung  des  in  das  Ei  ein- 
dringenden Spermiums  die  Ursache  für  den  Be- 
ginn der  Entwicklung  sei,  und  daß  man  dann 
diese  Wirkung  des  Spermiums  durch  ein  An- 
stechen mit  einer  möglichst  feinen  Nadel  müsse 
ersetzen  können.  „Das  Resultat  war  erstaunlicher 
als  ich  erwartete,  da  ich  nur  an  eine  beschränkte 
Furchung  gedacht  hatte"  (Bataillon). 

Die  Technik  solcher  Bataillonscher  „An- 
stichversuche" ist  bis  auf  die  Herstellung  von 
Glasnadeln  mit  genügend  feiner  Spitze  recht  ein- 
fach, und  ich  will  sie  hier  ganz  kurz  angeben. 

Trennung  eines  in  Kopulation  befindlichen 
Froschpärchens.  Bestreichen  des  Weibchens  mit 
desinfizierenden  Flüssigkeiten  (Jodtinktur  oder 
Sublimat)  an  der  Bauchseite  und  in  der  Umgebung 
der  Kloake,  um  alle  ihm  etwa  anhaftenden  Spermien 
abzutöten.  Decapitieren.  Eröffnung  der  Bauch- 
höhle und  des  Uterus  mit  sterilisierten  Instrumenten 
(durch  Erhitzen  1). 

Herausnehmen  der  Eier  mit  einem  Hornlöfifel- 
chen  und  Verteilen  derselben  auf  einem  Objekt- 
träger. Anstich  mit  einer  10 — 20  j.i  dicken  Glas- 
nadel und  Einlegen  der  Objektträger  in  mit  Was- 
ser gefüllte  Glasschälchen. 

Wie  verhalten  sich  nun  solche  „angestochene" 
Eier  ?  Zunächst  fast  ganz  so  wie  normalbefruchtete. 
Jedes  von  der  Nadel  verletzte  Ei  beginnt  sich  zu 
entwickeln;  nach  ^/,  —  1  Stunde  haben  alle  Eier 
den    hellen    Pol    nach    unten    gedreht    und    nach 


358 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  24 


372 — 4  Stunden  tritt,  wie  auch  bei  den  Kontroll- 
eiern, die  erste  Furche  auf,  aber  nur  bei  einem 
Teil  der  Eier.  Die  anderen  furchen  sich  später 
oder  auch  gar  nicht. 

Hier  beginnt  sich  nun  also  schon  ein  wesent- 
licher Unterschied  zwischen  parthenogenetisch  sich 
entwickelnden  uhd  befruchteten  Eiern  bemerkbar 
zu  machen;  denn  befruchtete  Eier  erreichen  im- 
mer alle  gleichzeitig  das  2-,  4-,  8-Zellenstadium. 
Aber  die  Furchung  verläuft  bei  den  angestochenen 
Eiern  nicht  nur  zeitlich,  sondern  auch  örtlich  un- 
regelmäßig. Es  treten  Teilungen  in  3  Elastomeren 
oder  ganz  unregelmäßig  verlaufende  Furchen,  sog. 
„Barockfurchungen"  auf. 

Ferner  ist  zu  erwähnen,  daß  einige  Zeit  nach 
dem  Anstich  aus  der  Anstichstelle  eine  mehr  oder 
minder  große  Masse  des  Eiinhaltes  austritt  und 
das  „Extraovat"  bildet,  welches  zuerst  von  W.  R  o  u  x 
bei  seinen  entwicklungsmechanischen  Versuchen 
beobachtet  wurde. 

Form  und  Größe  des  Extraovates  ist,  wie  ich 
festgestellt  habe,  von  der  Dicke  der  zum  Anstich 
verwandten  Glasnadel  abhängig.  Bei  den  feinen 
Nadeln  von  10  ti  Dicke,  wie  ich  sie  in  meinen 
letzten  Versuchen  immer  benutzte,  ist  es  so  un- 
bedeutend, daß  es  die  Entwicklung  der  Eier  wohl 
kaum  in  dem  Grade  stören  dürfte,  wie  man  bis- 
her angenommen  hat. 

Wenn  wir  nun  in  der  Schilderung  des  Ent- 
wicklungsganges der  Ansticheier  fortfahren,  so  ist 
weiter  zu  sagen ,  daß  es  bei  den  Eiern  in  den 
verschiedensten  Stadien  der  Entwicklung  zu  einem 
Stillstand  derselben  kommt. 

Nur  wenige  Prozent  bilden  sich  bis  zur  Morula 
aus ;  der  kritischste  Punkt  aber  ist  die  Gastrulation. 
Nur  wenige  von  Hunderten  von  Eiern  überstehen 
sie  und  werden  zur  Neurula.  Von  diesen  sind 
dann  noch  die  meisten  mißgebildet  und  gehen 
bald  zugrunde.  Auf  tausend  Eier  habe  ich  bei 
meinen  Untersuchungen  in  den  Jahren  1916 — 19 
durchschnittlich  4  freischwimmende  Froschlarven 
erzielt.  Es  ist  mir  aber  nie  gelungen,  eins  dieser 
Tierchen  bis  zur  Metamorphose  und  darüber  hin- 
aus aufzuziehen.  Alle  bekamen  nach  einigen 
Wochen  eine  immer  stärker  werdende  Auftreibung 
des  Bauches,  eine  Art  „Bauchwassersucht",  an  der 
sie  dann  rettungslos  zugrunde  gingen. 

Daß  es  aber  möglich  ist,  richtige  Fröschchen 
aus  angestochenen  Eiern  zu  gewinnen,  ist  durch 
F".  Levy  und  durch  die  amerikanischen  Forscher 
J.  Loeb  und  Bancr oft  bewiesen  worden.  Levy 
gibt  in  seiner  oben  erwähnten  Arbeit  eine  gute 
Abbildung  von  einem  parthenogenetischen  Frosch, 
der  die  Metamorphose  überstanden  hat.  Inter- 
essant ist  die  Tatsache,  die  auch  aus  der  erwähnten 
Abbildung  deuthch  hervorgeht,  daß  dieses  Tier- 
chen nur  halb  so  groß  ist  wie  das  gleichaltrige 
Kontrolltier. 

Es  hängt  dies  ohne  Zweifel  damit  zusammen, 
daß  diese  parthenogenetischen  Tiere  ja  nur  aus 
einer  Zelle,  nämlich  der  Eizelle,  entstanden  sind, 
und  daß  infolgedessen   die  Chromosomenzahl,  — 


und  als  F"olge  davon  —  die  Größe  jeder  einzelnen 
Zelle  nur  die  Hälfte  von  der  bei  normalen  Tieren 
beträgt. 

Von  großer  Bedeutung  ist  es  ferner,  das  Ge- 
schlecht solcher  parthenogenetischer  Frösche  fest- 
zustellen, da  in  diesem  Falle  ja  der  vielleicht  ge- 
schlechtsbestimmende Einfluß  der  männlichen 
Samenzelle  fortfällt.  Soweit  mir  bekannt,  liegt 
darüber  bisher  nur  eine  einzige  Angabe  vor. 
Loeb  und  Bancr  oft  haben  191 3  das  Geschlecht 
eines  bis  zur  Metamorphose  aufgezogenen  Frosches 
als  weiblich  bezeichnet. 

Soviel  über  das  Schicksal  eines  „angestochenen" 
Froscheies!  Zum  Schluß  möchte  ich  nun  noch 
kurz  auf  einige  weitere  bedeutungsvolle  Tatsachen 
hinweisen ,  die  Bataillon  bei  seinen  späteren 
Anstichversuchen  festgestellt  hat. 

Bataillon  beobachtete,  daß  Eier,  die  bei  der 
Herausnahme  aus  dem  Uterus  zufällig  mit  Blut 
oder  Lymphe  benetzt  wurden,  eine  weit  bessere 
Entwicklung  zeigten  als  solche,  bei  denen  dies 
nicht  der  Fall  war.  Er  stellte  nun  systematische 
Versuche  in  folgender  Weise  an.  Ein  Teil  der 
Eier  eines  Weibchens  wird  vor  dem  Anstich  mit 
Blut  bestrichen,  ein  anderer  Teil  desselben  Tieres 
nicht. 

Es  ergab  sich  nun,  daß  der  Teil  der  Eier,  der 
mit  Blut  bestrichen  war,  regelmäßig  eine  weit 
bessere  Entwicklung  zeigte  als  der  andere.  Bei 
letzterem  kam  es  niemals  zu  einer  so  weitgehen- 
den Entwicklung  wie  wir  sie  oben  beschrieben 
haben. 

Will  man  also  aus  angestochenen  Eiern  Frosch- 
larven gewinnen,  so  ist  es  geradezu  eine  P'orde- 
rung  der  Technik,  die  Eier  vorher  mit  Blut  oder 
anderen  organischen  Substraten,  die  zelluläre  Ele- 
mente enthalten,  zu  bestreichen. 

Diesen  wichtigen  Faktor  der  künstlichen  Par- 
thenogenese des  Froscheies  durch  Anstich  bezeich- 
nete Bataillon  als  „inoculation",  da  nach  seiner 
Meinung  beim  Anstich  mit  der  Spitze  der  Nadel 
irgendwelche  Zellen  oder  Zelltrümmer  in  das 
Innere  des  Eies  hineingerissen,  „eingeimpft"  wer- 
den, die  dann  eine  günstige  Einwirkung  auf  die 
künstlich  hervorgerufene  Entwicklung  des  Eies 
entfalten. 

In  weiteren  Versuchen ')  konnte  Bataillon 
feststellen,  daß  nicht  nur  arteigene,  sondern  auch 
artfremde  Organsubstanzen,  z.  B.  Blut  anderer 
Amphibien,  Blut  des  Meerschweinchens,  Organbreie 
von  Milz  und  Hoden  der  Ratte  oder  des  Meer- 
schweinchens, und  ferner  auch  abgetötetes  Sperma 
vom  Karpfen  auf  angestochene  Froscheier,  die- 
selbe, die  Entwicklung  verbessernde  Wirkung 
haben.  Das  Wesentliche  in  allen  diesen  eben 
erwähnten  Substanzen  sind  die  zellulären  Elemente, 
denn,  wie  schon  Bataillon  festgestellt   hat  und 


')  Bataillon,  L'cmbryogenese  provoquee  chez  l'oeuf 
vierge  d'Amphibiens  par  inoculation  de  sang  on  de  sperme 
de  Mammifere.    Compt.  rend.  de  l'Acad.  d.  Sc.   1911,  Bd.  152. 


N.  F.  XX.  Nr.  24 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


359 


ich  es  im  vorigen  Frühjahr  bestätigen  konnte,  sind 
die  zellfreien  Extrakte  von  Organen  und  auch  das 
Blutserum  in  dieser  Beziehung  wirkungslos. 

Man  muß  sich  also  mit  Bataillon  vorstellen, 
daß  beim  Anstich  aus  diesen  organischen  Sub- 
straten Zellteile  mit  der  Glasnadel  ins  Innere  des 
Eies  hineinbefördert  werden  und  daß  diese  ge- 
formten Elemente  Substanzen  enthalten,  deren 
Einwirkung  auf  das  Ei  eine  bessere  Entwicklung 
derselben  bedingt.  Welcher  Art  nun  diese  be- 
treffenden Substanzen  sind,  darüber  kann  man 
Tatsächliches  noch  nicht  vorbringen,  und  auf  die 
darüber    aufgestellten    Hypothesen    will    ich    hier 


nicht  weiter  eingehen,  sondern  nur  ganz  kurz  er- 
wähnen, daß  es  sich  m.  E.  hier  um  Fermente 
handelt. 

Jedenfalls  verdienen  diese  sonderbaren  Tat- 
sachen eine  weitere  Durchforschung  und  Ergrün- 
dung. 

Sollte  es  mir  gelungen  sein,  den  Leser  durch 
diese  kurzen,  skizzenhaften  Ausführungen  auf  eins 
der  interessantesten  Gebiete  der  experimentellen 
Biologie  —  das  es  verdiente,  auch  bei  uns  in 
Deutschland  mehr  als  bisher  beachtet  zu  werden 
—  aufmerksam  zu  machen,  so  ist  der  Zweck 
dieser  Zeilen  erfüllt. 


Bücherbesprechungen. 


Donath,  Prof.  Ed.  und  Lissner,  Dr.  A.,  Kohle 
und  Erdöl.  (Sammlung  chemischer  und  che- 
misch-technischer Vorträge  XXVI,  2/4.)  Stutt- 
gart 1920,  Ferdinand  Enke. 
Der  schlichte  Titel  kennzeichnet  bei  weitem 
nicht  die  Fülle  des  in  diesem  Buche  der  bekannten 
Sammlung  Gebotenen.  Auf  108  Seiten  werden 
darin  behandelt:  „Die  Entstehung  und  chemische 
Beschaffenheit  von  Kohle  und  Erdöl",  sodann  in 
eingehender  und  vorzüglich  unterrichtender  Art 
„Die  Gewinnung  von  Erdölprodukten  aus  Kohlen, 
deren  Eigenschaften  und  technische  Verwertung". 
Im  ersten,  mehr  wissenschaftlichen  Absichten 
dienenden  Abschnitt  wird  der  Werdegang  beider, 
für  unser  Wirtschaftsleben  so  unendlich  wertvollen 
Stofte  geschildert,  wobei,  der  Natur  der  Verf.  ent- 
sprechend, die  Theorie  Potonies  der  Kohleent- 
stehung abgelehnt  wird,  statt  dessen  man  die 
wesentlichen  chemischen  Unterschiede  der  ver- 
schiedenen Kohlearten  betont  findet.  Noch  wert- 
voller erscheint  mir  der  mehr  technologisch 
gehaltene  zweite  Teil,  der  eine  erschöpfende 
Übersicht  über  die  derzeit  vorliegenden  Arbeiten 
zur  Tieftemperaturverkokung,  zur  Ver- 
flüssigung der  Kohle  und  zu  ihrer  rationellsten 
Verwertung  bringt.  iVIan  muß  von  Herzen  wün- 
schen, daß  alle,  die  in  irgendeiner  Weise  mit  der 
Verwertung  der  Kohle,  eines  unserer  kostbarsten 
Rohstoffe,  zu  tun  haben,  der  Frage  der  zweck- 
mäßigsten und  volkswirtschaftlich  ertragsreichsten 
Ausnutzung  der  Rohkohlen  ihr  ganzes  Bemühen 
widmen  möchten  1  Kommt  es  für  Deutschland 
doch  mehr  denn  je  darauf  an,  mit  eigenen  Mitteln 
Höchstes  zu  leisten,  um  dem  wirtschaftlichen 
Erdrosselungsbestreben  unserer  Feinde  erfolgreich 
zu  begegnen.  Einer  der  Wege  hierzu  ist  die 
neuartige  Kohleverwertung,  die  gestattet,  unbe- 
schadet der  sonstigen  Verwendung  der  Kohle  als 
Heizmittel,  uns  mit  Benzol,  Benzinen,  Schmierölen 
und  anderen  bisher  nur  vom  Auslande  erhältlichen 
Stoffen  zu  versorgen.  Donaths  Buch  ist  gerade 
darum  so  wertvoll  und  zu  empfehlen,  weil  es  eine 
Übersicht  gibt  über  die  wissenschaftlich  gesicher- 
ten Möglichkeiten   bei   der  Verfolgung   der  ange- 


deuteten Ziele.  Chemie  und  Technologie  der 
Kohleverwertung  sind  in  gleich  guter  und  klarer 
Weise,  z.  T.  durch  instruktive  Abbildungen  unter- 
stützt, dargestellt.  (Nicht  ganz  klar  bleibt  ledig- 
lich der  Einfluß  der  Teerentziehung  auf  den  Wert 
des  Generatorgases  für  den  Martinofenbetrieb 
S.  66/67.)  Wi""  besitzen  also  in  dem  vorliegenden 
Buche  den  Führer  in  diesem  Teil  des  Wieder- 
aufbauplanes der  deutschen  Wirtschaft,  zugleich 
einen  sehr  ansehnlichen  Beitrag  zur  angewandten 
Naturwissenschaft. 

Durch  Zusammenstellung  der  Fußnoten  und 
Literaturhinweise  an  den  Schluß  ist  die  Lesbar- 
keit unverkennbar  erhöht.  Der  Druck  ist  ausge- 
zeichnet. —  Ein  sinnstörender  Fehler  findet  sich 
S.  29,   13  V.  o. :  es  muß  heißen  „mehrringiger". 

Berichterstatter  wünscht  dem  Buche  weitest- 
gehende Verbreitung!  H.  Heller. 


Herz,  Prof.  Dr.  W.,   Leitfaden    der  theore- 
tischen   Chemie.       2.    durchgesehene    und 
vermehrte   Auflage.     Mit    32   Textabbildungen. 
Stuttgart  1920,  Ferdinand  Enke. 
Das    Buch    kann    als    „kleiner    N  e  r  n  s  t"    be- 
zeichnet werden;    stellt  es  doch  in  der  Tat  einen 
selbständigen    und    geschickten    Auszug   aus    dem 
größeren  Werke  dar,  der  im  Gegensatz  zu  diesem 
vom      Durchschnittschemiker       wirklich       „ohne 
Schwierigkeit  gelesen  werden  kann".    EinNacli 
teil  scheint  mir  nur  aus  dem  N ernst  übernom 
men  worden  zu  sein:    daß    nämlich    die  Thermo 
dynamik,    wenn    auch    kurz   genug,    an    den  An 
fang    gestellt  wurde.      Erfahrungsgemäß     pfleg' 
dieser    Umstand    den    Schüler    nicht    einzuladen 
Dazu  kommt  die  wegen  der  absichtlich  fehlenden 
mathematischen  Ableitung  negative  Prädizierung 
des  dritten  Hauptsatzes,    der   dadurch   nicht  ganz 
plausibel  erscheint.    Sehr  störend  ist  auch,  daß  in 
den    meisten  Fällen  „Körper"   statt  „Stoff"  gesagt 
wird;    eine   erhebliche  Unklarheit  in  der  Begriffs- 
bildung I      Des    weiteren    ist    die    Definition    der 
„Lösung"  S.  8  einfach  unmöglich.   —  Auch  ohne 
die  Theorie   der.  Isotopen   ist   es   nicht  richtig  zu 
sagen,  die  Atome  seien  „vollständig  gleich"  (S.  10). 


36o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  24 


Es  dürfte  sich  auch  empfehlen,  die  „reale  Existenz" 
der  Atome  vor  den  logischen  Extrapolationen 
darauf  wenigstens  grundsätzlich  abzuhandeln  (S.  12). 
—  Van  der  Waals'  Theorie  wird  ebenfalls 
besser  im  Anschluß  an  S.  18  gebracht.  —  S.  42 
fehlt  das  Maß  für  die  Kompressibilität.  —  S.  88 
ist  ein  veralteter  Wert  für  die  Beweglichkeit  des 
Wasserstofifions  eingesetzt. 

Diese  Anmerkungen  sollen  keineswegs  gegen 
das  Buch  im  ganzen  sprechen.  Nur  scheint  es 
mir,  als  seien  die  grundlegenden  Begriffe 
und  Vorstellungen  nicht  immer  mit  der  nötigen 
Sorgfalt  und  Schärfe  zum  Ausdruck  gebracht.  Im 
übrigen  ist  es  einfach  mustergültig,  wie  der 
Verf.  es  verstanden  hat,  mit  einem  sehr  be- 
scheidenen Aufwand  an  höherer  Mathematik  selbst 
schwierige  Beziehungen  darzulegen.  Vorzüglich 
sind  auch,  im  Gegensatz  zum  „Nernst"  die 
Kapitel  über  Kolloidchemie  und  über  den  Atom- 
bau auf  Grund  der  Röntgen-  und  der  Radio- 
aktivitätsforschung. Betone  ich  noch,  daß  das 
Ganze  in  einem  schlichten,  immer  klaren  Stil  ge- 
schrieben ist,  so  ist  es  berechtigt,  das  Buch  allen 
denen  angelegentlich  zu  empfehlen,  die  sich  über 
irgendein  Kapitel  der  theoretischen  Chemie  rasch 
und  so  unterrichten  wollen,  daß  ihnen  ein  Ein- 
dringen in  Teilprobleme  möglich  ist.  Dem  letzten 
Zweck  dient  die  reichliche  Angabe  von  Autoren- 
namen. 

Erwünscht  scheint  dem  Berichterstatter  eine 
noch  größere  Anwendung  schematischer  Abbil- 
dungen, so  z.  B.  beim  Kapitel  „Lösungsdruck" 
usw.  Und  etwas  Stilistisches :  warum  ist  an  dem 
alten  sprachwidrigen  Wort  „Anomalie"  bzw. 
„anomal"  hängen  geblieben?  Der  Gegensatz 
zu  „normal"  ist  doch  wohl  zweifellos  „a- nor- 
mal" ?  H.  Heller. 

Sohns,     Franz,     Unsere     Pflanzen.       Ihre 
Namenerklärung  und  ihreStellung  in 
der    Mythologie     und    im    Volksaber- 
glauben.   6.  Aufl.    218  S.    Leipzig  und  Berlin 
1920,  B.  G.  Teubner.     Geb.  16  M. 
Man  darf  wohl  behaupten,  daß  auf  wenig  Ge- 
bieten  der  Volkskunde  soviel  Unrichtiges,   Unbe- 
wiesenes   und    Unbeweisbares    geschrieben    wird, 
wie    auf  dem   Gebiet    der    volkskundlichen  (folk- 
loristischen)   Botanik.       Zusammenfassende    Dar- 
stellungen auf  diesem  Gebiet,  die  auf  wirklich  zu- 
verlässige Quellen  zurückgehen  und  sie  mit  Kritik 
ausschöpfen,   gibt  es  nicht.      Auch  Sohns'    Buch 
macht  hier  keine  Ausnahme,  was  bei  seiner  großen 
Verbreitung   gerade   in  Lehrerkreisen  sehr  zu  be- 
dauern ist.     Auf  diese  Weise  werden  die  Irrtümer 
statt  zu  verschwinden  immer  wieder  aufgewärmt. 


In  der  vorliegenden  6.  Auflage  sind  zwar  eine 
Reihe  von  Irrtümern,  die  der  Ref.  s.  Z.  bei  einer 
Besprechung  der  5.  Auflage  (Mitt.  zur  Gesch.  der 
Medizin  und  der  Naturwissensch.  12  [1912],  43  f) 
namhaft  machte,  verbessert,  immerhin  enthält  das 
Buch  deren  noch  eine  ganze  Menge.  Daß  dem 
Gotte  Donar  „so  ziemlich  alle  Pflanzen  und  Tiere 
heilig  waren,  deren  Äußeres  gelblich-rote  Färbung 
trägt"  (S.  176),  ist  völlig  unerwiesen.  Ganz  gewiß 
trifft  es  nicht  zu  für  den  aus  Asien  stammenden 
Bocksdorn  (Lycium),  der  den  Germanen  sicher 
unbekannt  war.  Die  Erklärung,  daß  der  Bocks- 
dorn wegen  der  roten  Blüten  und  Früchte  dem 
Donar  „geweiht"  war,  daß  an  die  Stelle  des 
Donars  dann  der  Teufel  trat  (daher  soll  der  Strauch 
den  Namen  „Teufelszwirn"  führen)  und  daß  der 
Bocksdorn  nach  dem  Bocke,  dem  Tiere  des  Donar 
(Teufel),  benannt  wurde,  klingt  ja  dem  Uneinge- 
weihten recht  hübsch,  ist  aber  nicht  richtig. 
Bocksdorn  dürfte  aus  Buchsdorn  wie  Lycium  bei 
Tabernaemontanus  (Kräuterbuch  1731,  1463)  heißt, 
entstanden  sein,  hat  also  wohl  mit  Bock  über- 
haupt nichts  zu  tun.  Die  Bezeichnung  Gundel- 
kraut  für  den  Quendel  hat  nichts  mit  ahd.  gund 
^  Eiter  zu  tun,  sondern  ist  eine  Verdeutschung 
des  griech.-lat.  cunila.  Die  geographischen  Be- 
zeichnungen sind  meist  recht  unzuverlässig,  weil 
eben  der  Verf  seine  Quellen  nicht  kritisch  be- 
trachtet. Das  Inhaltsverzeichnis  ist  nicht  zuver- 
lässig wie  einige  Stichproben  (Godeskraut,  Süß- 
holz) ergaben.  Immerhin  muß  zugegeben  wer- 
den, daß  das  Buch  von  den  vorhandenen  Dar- 
stellungen des  Stoffes  verhältnismäßig  am  besten 
unterrichtet  und  daß  die  Darstellung  eine  flüssige 
ist  Dr.  Marzell,  Gunzenhausen. 


De  Haas,  Rudolf,  Im  Schatten  afrikani- 
scher Jäger.  Bilder  aus  den  Steppen  am 
Kilimandscharo.  Berlin  192 1,  Scherl. 
Ein  feinsinniger  Naturbeobachter  erzählt  in 
diesem  Buche  von  den  ostafrikanischen  Steppen 
und  ihrem  Tierleben.  Er  führt  den  Leser  durch 
das  Pori,  die  mit  seltsam  geformten  Euphorbien, 
Mimosen,  eigenartigen  Leberwurstbäumen  usw. 
bestandene  Wildnis,  und  dann  in  die  baumlose 
Buga,  das  schier  endlose,  völlig  übersichtliche 
Grasmeer.  In  wechselreicher  Folge  ziehen  Tier- 
und  Jagdbilder  an  uns  vorbei,  und  wir  erhalten 
überdies  Einblicke  in  das  arbeitsreiche  Leben  der 
deutschen  Kulturpioniere  in  dem  fernen  Lande. 
Auf  afrikanischem  Boden  wurde  das  Buch  ge- 
schrieben. Wer  es  liest,  wird  verstehen,  daß  die 
Schönheit  Deutsch -Ostafrikas  in  den  Herzen  derer, 
die  es  kennen,  unvergänglich  weiterlebt. 

H.  Fehlinger. 


Inhalt:  A.  Berger,  Über  die  Geschichte  und  die  neuesten  Fortschritte  der  Kenntnis  der  Kakteen.  S.  353.  H.  Vofi, 
Die  künstliche  Parthenogenese  des  Froscheies.  S.  356.  —  Bücherbesprechungen:  Ed.  Donath  und  A.  Lissner, 
Kohle  und  Erdöl.  S.  359.  W.  Herz,  Leitfaden  "der  theoretischen  Chemie.  S.  359.  Fr.  Sohns,  Unsere  Pflanzen. 
Ihre  Namenerklärung  und  ihre  Stellung  in  der  Mythologie  und  im  Volksaberglauben.  S.  360.  R.  De  Haas,  Im 
Schatten  afrikanischer  Jäger.  S.  360. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der   G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  g;anxeo  Reihe  36.  Bood. 


Sonntag,  den  19.  Juni  1921. 


Nummer  ä5. 


Empirie  und  Wirklichkeit 
mit  besouderer  Rücksicht  auf  die  Bezieliiingeu  zwischen  Physik  iiud  Biologie. 

Ein  Beitrag  zur  naturwissenschaftlichen  Theorienbildung. 

Von  Dr.  Adolf  Meyer  (Göttingen). 


[Nachdruck  verboten.] 

Das  Problem  der  Erfahrung  (Empirie)  ist 
keineswegs  identisch  mit  dem  sog.  Realitätspro- 
blem. Gerade  aus  der  Vermengung  und  Gleich- 
setzung beider  Probleme  entsteht  eine  Fülle  der 
gröbsten  erkenntnistheoretischen  Irrtümer  und 
Mißverständnisse.  Das  zeigte  sich  mir  unlängst 
noch  wieder  in  besonders  drastischer  Weise  ge- 
legentlich einer  wissenschaftlichen  Diskussion  über 
die  philosophischen  Grundlagen  der  Relativitäts- 
theorie, die  kürzlich  hier  in  Göttingen  stattfand. 
Die  Philosophen  sprachen  von  Wirklichkeit  und 
meinten  empirische  Dinge  und  die  Physiker  spra- 
chen von  Erfahrung  und  meinten  die  Wirklich- 
keit. Es  sei  daher  gestattet,  im  folgenden  eine 
Klärung  dieses  für  jede  naturwissenschaftliche 
Theorie  so  eminent  wichtigen  Begriffspaares  zu 
versuchen. 

Den  logischen  Höhepunkt  in  jeder  Naturwissen- 
schaft stellt  ohne  Frage  die  Bildung  einer  Theorie 
des  bestimmt  abgegrenzten  Gebietes  dar.  Die 
unendliche  Fülle  der  elektromagnetischen  und 
•optischen  Erscheinungen  meistert  die  Maxwell- 
sche  Theorie,  und  aller  organischen  Phänomene 
sucht  die  Biologie  heute  durch  die  physiologisch 
interpretierte  Zelltheorie  Herr  zu  werden.  Es 
kann  gar  kein  Zweifel  bestehen:  Die  Theorien- 
bildung ist  die  höchste  logische  Funktion  aller 
Wissenschaft. 

Jede  naturwissenschaftliche  Theorie  aber  sagt 
irgendetwas  aus  über  wirkliche  Dinge  und  Ver- 
hältnisse. Dieses  Aussagen  ist  keineswegs  im 
Sinne  eines  „Abbildens"  der  Wirklichkeit  in  irgend- 
einer Form  gemeint.  Ob  die  Naturwissenschaft 
die  Wirklichkeit  beschreibt,  um  sie  abzubilden 
oder  um  sie  theoretisch  zu  beherrschen  wie  wir 
meinen,  das  ist  eine  zweite  Frage,  auf  die  wir 
nacher  noch  zu  sprechen  kommen  werden.  Einst- 
weilen wollen  wir  festhalten:  Jede  Theorie  ist 
eine  Aussage  über  Wirkliches.  Ja,  wir  wollen 
diesen  Satz  auch  umkehren  und  definieren: 
Naturwissenschaftlich  wirklich  ist  alles 
das,  was  aus  richtigen,  d.  h.  sich  in  das 
jeweilige  System  der  Naturwissen- 
schaften widerspruchslos  einfügenden 
naturwissenschaftlichen  Theorien  rein 
logisch  erschlossen  werden  kann.  Von 
„naturwissenschaftlich"wirklich  ist  deshalb  ge- 
sprochen, weil  von  vornherein  jede  Übertragung 
dieses  Wirklichkeitsbegriffes  auf  inadäquate  Gebiete, 
wie  Ethik  oder  Kunst,  in  denen  ja  auch  von 
„Wirklichkeit"  gehandelt  wird,  abgewehrt  werden 


soll.  Andererseits  soll  damit  aber  auch  gesagt 
werden,  daß  für  diejenigen  Gruppen  von  Wirk- 
lichkeiten, die  wir  gemeinhin  „Natur"  nennen, 
niemand  anders  als  die  Naturwissenschaften  zu- 
ständig sind.  So  etwas  wie  eine  „Metaphysik  der 
Natur",  die  über  Naturwirklichkeit  Gültiges  aus- 
sagen will,  ist  unmöglich.  Soweit  sind  wir  strenge 
Positivisten  im  Sinne  von  Machs  „Antimeta- 
physik",  ohne  uns  damit  auf  Machs  Lehre  vom 
Empirischen,  dem,  was  er  „Elemente"  oder  weni- 
ger gut  „Empfindungen"  nennt,  festzulegen.  Seine 
Ablehnung  jeder  Metaphysik  im  Gebiete  der 
Wissenschaft  jedoch  teilen  wir  völlig.  Damit  ist 
aber  auch  wieder  nicht  gesagt,  daß  nun  Meta- 
physik nicht  in  anderem  Sinne  sinnvoll,  ja  not- 
wendig sei.  Nur  eine  Metaphysik  der  Natur  gibt 
es  nicht.  Wohl  aber  eine  „Logik  der  Natur- 
wissenschaft", mit  der  sich  ja  das,  was  Kant 
unglücklicherweise  „Metaphysik  der  Natur"  genannt 
und  damit  allen  im  Gebiete  der  Naturwissenschaft 
absolut  unberechtigten  philosophischen  Speku- 
lationen (Schelling  und  seine  Schule)  einen 
Schein  von  Recht  verliehen  hat,  großenteils  deckt. 
Gegen  die  oben  gegebene  Definition  von  Wirk- 
lichkeit, die  wir  allen  unseren  folgenden  Erörte- 
rungen zugrundelegen  wollen,  ist  wohl  zweierlei 
eingewendet  worden.  Zunächst  kann  man  meinen, 
eine  solche  Bindung  der  Wirklichkeit  an  den  je- 
weiligen Zustand  des  Systems  der  Naturwissen- 
schaft bedeute,  daß  sie  nichts  Dauerndes,  stets 
mit  sich  Identisches,  Eleatisch-Starres,  kein  „an 
sich"  sei,  sondern  etwas  ständig  Veränderliches, 
eine  Funktion  des  Fortschritts  der  Naturwissen- 
schaften. Wir  haben  darauf  weiter  nichts  zu  er- 
widern, als  daß  wir  dem  völlig  zustimmen.  In 
der  Tat,  so  ist  es.  Was  ich  zurzeit  von  „der 
Natur"  wissen  kann,  das  sagen  mir  die  Natur- 
wissenschaften. Was  sie  mir  nicht  sagen  können, 
das  kann  mein  Verhalten  auch  weiter  nicht  be- 
einflussen, braucht  mich  also  nicht  zu  stören. 
Noch  etwas  anzunehmen,  was  in  eleatischer  Ge- 
mütsruhe als  ein  „an  sich"  hinter  dem,  was  wir 
zurzeit  wissen,  throne,  ist  völHg  belanglos.  Man 
wende  hier  nicht  ein,  daß  eine  solche  Auffassung 
jeden  Fortschritt  der  Wissenschaften  ertöte,  der 
doch  nur  daher  komme,  daß  wir  eine  ideale 
Wirklichkeit  postulieren,  von  der  die  gegenwärtige 
Wissenschaft  nur  ein  schwaches  Abbild  sei,  wie 
die  Schatten  in  der  Höhle  Platons  von  den 
wirklichen  Gestalten,  denen  sie  zugehören.  Allein 
so  ist  es   nicht,   von   einem  prinzipiell  unerkenn- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


baren  X  kann  mir  auch  keinerlei  Anregung  kom- 
men. Jeder  Fortschritt  in  den  Wissenschaften 
beruht  auf  Dissonanzen  von  Theorien.  Das  „ein- 
heitliche System  der  Naturwissenschaften"  ist  eben 
nur  idealiter  vorhanden.  Die  verschiedenen  Theo- 
rien über  die  verschiedenen  „Bereiche  der  Wirk- 
lichkeit" stimmen  eben  nicht  widerspruchslos  zu- 
sammen, sondern  hinterlassen  Dissonanzen  oder 
besser  Kontingenzen  und  Widersprüche,  die  wir 
zu  beseitigen  bestrebt  sind.  Daraus  allein  ent- 
springt aller  Fortschritt  in  der  Naturerkenntnis.  Also 
die  Wirklichkeit  wandelt  sich.  Was  dem 
primitiven  IVlenschen,  der  in  jedem  Bache,  in  jedem 
Baume  ein  ihm  freundlich  oder  feindlich  gesinntes 
Wesen  sah,  wirklich  war,  das  ist  ein  für  allemal 
dahin,  mögen  wir  nun,  wie  Schiller  in  den 
Göttern  Griechenlands  darüber  Trauer  empfinden 
oder  uns  dessen  freuen.  Ein  gleiches  gilt  vom 
Ptolemäischen  Weltbild  oder  dem  Euklidischen 
Raum.  Das  waren  WirkUchkeiten.  Solange  die 
naturwissenschaftlichen  Theorien  nicht  konstant 
sind,  solange  ist  es  die  Wirklichkeit  auch  nicht. 
Das  eleatische  Weltbild  und  seine  vielen  Nach- 
fahren sind  nur  Konstruktionen,  die  aus  dem 
Streben  stammen,  die  Kontingenzen  der  Theorien 
zu  überwinden,  keinesfalls  aus  einem  Vergleich 
der  Welt  an  sich  mit  der  der  Erscheinungen,  d.  h. 
der  jeweiligen  Lage  der  Wissenschaft.  Von  den 
Theorien  also  müssen  wir  ausgehen, 
wenn  wir  wissen  wollen,  was  wirklich  ist. 
Nicht  ebenso  befreunden  können  wir  uns  je- 
doch mit  dem  zweiten  Einwand,  den  man  gegen 
die  von  uns  verteidigte  Auffassung  erhoben  hat. 
Wenn  nur  das  wirklich  sei,  was  die  Theorien 
aussagen,  dann  müsse,  so  meint  man,  die  Wirk- 
lichkeit nicht  nur  veränderlich  sein,  sie  müsse  auch 
subjektiv  sein,  da  alle  Theorien  subjektiven  Ur- 
sprungs seien,  ja  es  müsse  deshalb  dann  vor  der 
Wissenschaft  ja  gar  keine  Wirklichkeit  gegeben 
haben.  Dagegen  ist  zu  sagen :  Gewiß  ist  jede 
Theorie  subjektiven  Ursprungs,  weil  sie  von  einem 
menschlichen  Individuum  erfunden  ist.  Aber  das 
Was,  das  darin  gedacht  wird,  das  ist  alles  andere 
als  „subjektiv".  Was  ist  denn  an  dem  Inhalt  der 
Maxwell  sehen  Gleichungen  subjektiv  ?  Offenbar 
gar  nichts.  Und  doch  ist  es  eine  Theorie.  Und 
ferner :  Wenn  wir  es  für  absurd  halten,  eine  Wirk- 
lichkeit vor  dem  Auftreten  des  Menschen  zu 
läugnen,  so  doch  nur  deshalb,  weil  unsere  gegen- 
wärtigen Theorien  von  der  Wirklichkeit  es  so 
verlangen,  weil  sie  uns  sagen,  daß  ein  Verständ- 
nis der  Wirklichkeit  bei  solcher  Annahme  un- 
möglich ist.  Hier  spielt  der  Zeitbegriff  hinein. 
Wie  vorsichtig  man  in  diesen  Fragen  zu  Werke 
gehen  muß,  das  mag  die  bekannte  Bemerkung 
Einsteins  lehren,  daß  ein  Mensch,  der  sich 
tausend  Jahre  mit  Lichtgeschwindigkeit  im  Welt- 
all herumbewegt  habe  und  dann  wieder  auf  seine 
alte  Stelle  auf  der  Erde  zurückkomme,  auf  dieser 
keinen  Tag  älter  geworden  sei.  Ob  es  auch  in 
einer  Welt  von  lauter  Steinen  „Wirklichkeit"  gibt, 
das  ist  für  uns  eine  völlig  müßige  Frage,   da  wir 


sie  einfach  nicht  entscheiden  können.  Wohl  aber 
ist  das,  was  unsere  chemischen  und  mineralogischen 
Theorien  über  unorganische  Systeme  aussagen, 
wirklich.  Das  ist  alles,  was  wir  verlangen  können. 
Halten  wir  also  fest:  Wirklich  ist  für  uns 
nur  das,  was  unsere  naturwissenschaft- 
lichen Theorien  inhaltlich  aussagen. 

Also  wohlgemerkt:  Nicht  die  naturwissen- 
schaftliche Theorie  als  solche  ist  wirklich.  Jede 
Theorie  als  solche  ist  natürlich  nur  ein  objektives, 
logisches  Gebilde,  ein  Logisma,  wie  ich  alle 
logischen  Gegenstände  ganz  allgemein  zu  nennen 
vorgeschlagen  habe,')  das  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen gilt,  ebenso  wie  alle  Sätze  der  Mathe- 
matik, die  ihrem  Wesen  nach  auch  Logismen  sind. 
Wirklich  hingegen  ist  nur  das,  was  eine  natur- 
wissenschaftliche Theorie  sachhch  aussagt. 
Zwischen  einer  naturwissenschaftlichen  und  einer 
mathematischen  Theorie  besteht  also  ein  be- 
merkenswerter, sachlicher  Unterschied.  Eine  mathe- 
matische Theorie  muß  nie,  kann  höchstens  etwas 
über  Wirkliches  aussagen.  Jeder  naturwissen- 
schaftlichen Theorie  ist  es  dagegen  wesentlich, 
über  Wirkliches  Aussagen  zu  machen.  Die  ver- 
schiedenen Geometrien  sind  mathematisch  alle 
gleich  richtig,  den  wirklichen  Raum  hingegen  be- 
schreibt jeweils  nur  eine  von  ihnen,  soweit  unsere 
Instrumente  das  zu  prüfen  gestatten.  Früher  war 
in  dieser  Beziehung  die  Euklidische,  jetzt  ist 
die  R  i  e  m  a  n  n  sehe  Geometrie  als  solche  ausge- 
zeichnet. Welche  einmal  in  ferner  Zukunft  diese 
Rolle  spielen  wird,  das  kann  uns  solange  gleich- 
gültig sein,  als  unsere  empirischen  Messungen 
innerhalb  der  „erlaubten"  Fehlergrenzen  mit  den 
auf  Grund  der  Riemannschen  Geometrie  er- 
rechneten Größen  zusammenstimmen.  Diese  Zu- 
sammenstimmung theoretisch  errechneter  mit 
empirisch  gemessenen  Größen  ist  keineswegs  ein 
„Abbilden"  im  Sinne  jener  philosophischen  Theorien. 
Denn  die  Vergleichung  solcher  Zahlen,  die,  da  sie 
bekanntlich  niemals  ein  genau  identisches  Ergebnis 
liefert,  schon  deshalb  keine  Abbildung  ist,  ge- 
schieht keineswegs,  um  die  Natur  zu  photogra- 
phieren,  sondern  lediglich,  um  die  Brauchbarkeit 
einer  Theorie  für  die  theoretische  (Wissenschaft) 
und  praktische  (Technik)  Beherrschung  der 
Wirklichkeit  festzustellen.  Das  letzte  Ziel 
aller  Naturwissenschaft  istja,  mit  jedem 
gewünschten  Grade  von  Genauigkeit 
vorausberechnen  zu  können,  welche 
und  vor  allem  wie  große  Veränderungen 
irgendein  Eingriff —  künstlicher  oder 
natürlicher  Art  —  in  einem  bestimmten 
System  hervorruft.  Diese  Vorausberechnung 
kann  nur  mit  dogmatischer  Voreingenommenheit 
ein  Abbilden  genannt  werden.  Der  Terminus 
„theoretische  und  praktische  Beherrschung"  kenn- 
zeichnet sie  meines  Erachtens  deutlicher. 


')  Man  vergleiche :  „Die  mechanistische  Idee  in  der  mo- 
dernen Naturvpissenschaft".  Diese  Zeitschrift  Jg.  J920,  Nr.  50. 
—  Ferner  die  Einleitung  meiner  alsbald  erscheinenden  „Logili 
der  Biologie". 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


363 


J  e  d  e  T  h  e  o  r  i  e  ist  als  solche,  das  ist  nun 
wohl  definitorisch  klar,  einLogisma.  In  solcher 
Formulierung  kann  man  dann  die  rein  mathe- 
matischen und  logischen  Theorien  dadurch  scharf 
von  den  naturwissenschaftlichen  scheiden,  daß  man 
sie  als  einheitliche,  d.  h.  widerspruchlos  ineinander 
gefügte  Komplexe  von  Theorismen  bezeichnet, 
während  sich  die  naturwissenschaftlichen 
Theorien  dann  als  logischeVerbindungen 
—  sit  venia  verbo !  —  vonTheorismen  und 
Empirismen  darstellen.  Empirismen  nenne 
■  ich  dann  alle  j  ene  Mo  tive  in  einer  natur- 
wissenschaftlichen Theorie,  die  einmal 
logisch  unreduzierbar  und  zum  anderen 
kontingent  sind.  Hinsichtlich  ihrer  logischen 
Unreduzierbarkeit  stimmen  sie  mit  den  Axiomen 
überein,  die  aber  nicht  auch  kontingent,  sondern 
vielmehr  „evident"  sind.  Ihre  exakteste  Formu- 
lierung haben  die  Empirismen  dann  erreicht,  wenn 
sie  in  Gestalt  von  Messungen  vorliegen.  Ihnen 
gegenüber  gibt  es  aber  natürlich  auch  qualitative 
Empirismen,  wie  in  den  morphologischen  Diszi- 
plinen der  Biologie  und  in  der  Psychologie.  Auch 
hier  geht  fraglos  das  Streben  dahin,  diese  morpho- 
logischen Empirismen  (=  Gestalten  im  Sinne 
Köhlers')  und  der  Psychologen)  so  bald  wie 
möglich  meßbar  zu  machen  (Konstanten),  bio- 
logisch gesprochen:  zu  physiologisieren. 

Nun  erst  sind  wir  in  der  Lage,  die  Begriffe 
Empirie  und  Wirklichkeit  mit  der  erforderlichen 
Schärfe  gegeneinander  abzugrenzen.  Wirklich 
ist  alles  das,  was,  wie  gesagt,  eine  natur- 
wissenschaftliche Theorie  als  Ganzes, 
als  diese  besondere  logische  Verbindung  von  Em- 
pirismen und  Theorismen  aussagt,  Empirie 
hingegen  bedeutet  nur  den  Komplex 
von  den  jeweiligen  Empirismen  (oder 
das  Empirisma),  die  der  bestimmten 
Theorie  zugrunde  liegen.  Das  Empirische 
ist  also,  lax  gesprochen,  nur  ein,  wenn  auch  sehr 
wesentlicher  Teil  des  Wirklichen. 

Fassen  wir  unsere  bisherigen  Ergebnisse  zu- 
sammen, so  können  wir  folgendes  sagen.  Allen 
Wissenschaften  von  der  Logik  bis  zur  Soziologie 
ist  der  theoretische  Charakter  gemeinsam.  Die 
Theorienbildung  ist  ihnen  allen  eigen.  Aus 
diesem  Rahmen  heben  sich  aber  zwei  verschiedene 
Typen  von  Theorienbildung  deutlich  ab,  die  lo- 
gisch-mathematische und  die  naturwissenschaftliche. 
Ferner  sind  nicht  alle  naturwissenschaftlichen 
Theorien  logisch  vom  gleichen  Range.  Hier  treten 
vielmehr  zwei  Untertypen,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  deutlich  hervor.  Wohl  aber  dürfen  wir 
von  der  mathematisch- logischen  Theorienbildung 
sagen,  daß  sie  überall  logisch  vom  gleichen  Range 
ist.  Von  verschiedenen  Rangstufen  wollen  wir 
nämlich  dann  sprechen,  wenn  wir  Theorien  bilden, 
von  denen  wir  ganz  genau  wissen,  daß  sie  logisch 
genommen  noch  nicht  vollkommen  sind,    daß  sie 


')  W.  Köhler:  „Die  physischen  Gestalten  im  Raum  und 
im  stationären  Zustand".     Braunschweig  1920. 


nur  ein  Provisorium  darstellen  für  künftige  exakte 
Theorien.  So  sind  alle  morphologischen  Theorien 
in  der  Biologie  nur  ein  Provisorium,  das  mög- 
lichst bald  durch  physiologisch  fundierte  Theorien 
ersetzt  werden  muß.  Alle  Morphologie  ist  „noch 
nicht  Physiologie"  (Goebel).')  Etwas  Derartiges 
kann  man  von  der  logisch-mathematischen  Theo- 
rienbildung aber  nicht  sagen.  Bewußte  logische 
Provisoria  gibt  es  hier  nicht.  Es  gibt  wohl  falsche 
Theorien,  hier  wie  überall,  aber  keine  von  denen 
man  schon  a  priori  weiß,  daß  sie  nur  ein  logisches 
Provisorium  darstellen.  Die  neue' „richtige"  Theorie 
ist  hier,  logisch  genommen,  stets  vom  gleichen 
Rang,  wie  die  abgewirtschaftete  alte  Theorie. 

Der  naturwissenschaftlichen  Theorienbildung 
gegenüber  ist  die  logisch-mathematische  durch 
den  Mangel  an  Empirismen  charakterisiert.  Sie 
vollzieht  sich  in  reinen  „Theorismen".  Theorismen 
sind  Axiome,  Definitionen,  Syllogismen,  mathe- 
matische Sätze,  Zahlen,  Hypothesen,  Theorien  als 
solche  usw.,  soweit  sie  natürlich  nicht  Benennungen 
von  Empirismen  sind,  also  alle  Logismen,  von 
denen  Dedekinds^)  Wort  von  den  „freien 
Schöpfungen  des  menschlichen  Geistes"  gilt,  zu 
denen  die  Empirismen  offenbar  nicht  gehören,  die 
man  zwar  auch  Schöpfungen  des  menschlichen 
Geistes  in  einem  bestimmten  Sinne,  aber  keines- 
wegs freie  nennen  kann.  Die  Theorismen  unter- 
scheiden sich  von  den  Empirismen  dadurch,  daß 
sie  nicht  kontingent  sind.  Kontingenz  ist  ein 
logischer  Grundbegriff,  der  daher  durch  Worte 
und  Beispiele  nur  verdeutlicht,  nicht  definiert 
werden  kann,  da  diese  zu  ihrer  erschöpfenden 
Definition  den  Begriff  der  Kontingenz  bereits 
voraussetzen.  Die  Worte  „Zufälligkeit",  „Faktizi- 
tät",  „Nichtnotwendigkeit"  umschreiben  nur  sehr 
ungenau  das  Gemeinte.  Am  nächsten  kommt  ihm 
noch  der  Begriff  der  logischen  Irreduzibilität. 
Aber  dieser  ist  wider  für  die  Kontingenz  zu  weit, 
denn  auch  rein  theoristische  Axiome  sind  irredu- 
zibel,  ohne  doch  auch  kontingent  zu  sein.  Hier 
muß  der  Begriff  der  definitorischen  Willkürlich- 
keit zu  Hilfe  kommen,  der  „freien  Schöpfung", 
wodurch  sich  die  theoristischen  Axiome  von  den 
kontingenten  scheiden.  Empirismen  sind  nicht 
willkürlich  definierbar.  Kontingenzen  gibt  es  nur 
im  Gebiet  naturwissenschaftlicher  Theorienbildung, 
der  Theorien  also,  die  aus  Empirismen  und  Theo- 
rismen sich  zusammensetzen,  und  die  ich  daher 
„komplexe  Theorien"  nennen  möchte.  Nun 
ist  es  aber  auch  nicht  so,  daß  die  Begriffe  „Em- 
pirisma" und  „Kontingenz"  identisch  sind.  Hier 
ist  wieder  der  Begriff  der  Kontingenz  der  um- 
fassendere. Zwar  kann  man  von  Kontingenzen 
nur  da  reden,  wo  irgendwie  Empirismen  im  Spiele 
sind,  nicht  aber  sind  die  Kontingenzen  an  die 
Empirismen  allein  gebunden.  Auf  diese  diffizilen 
Dinge  werden    wir   anderen  Orts  zurückkommen. 

')  „Die  Grundprobleme  der  heutigen  Pflanzenmorpholo- 
gie".    Biolog.  Centralbl.  Bd.  25,  1905,  Nr.  3. 

')  „Was  sind  und  was  sollen  die  Zahlen?"  3.  Aufl. 
Braunschweig   191 1.     Vorwort. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Hier  genügt  es  festzuhalten,  daß  alle  Empirismen 
auch  kontingent  sind  und  daß  es  im  Gebiet  der 
rein  theoristischen  Wissenschaften  Empirismen 
nicht  gibt,  sondern  nur  die  mit  ihnen  logisch  ver- 
wandten Axiome. 

In   diesem    Zusammenhange  ist   es  von  Inter- 
esse, darauf  hinzuweisen,  daß  Emil  Boutroux^) 
auch  im  Gebiete  der  Logik  und  Mathematik,  der 
„apriorisch  -  deduktiven    Disziplinen"    also,     deren 
Theorienbildung    wir   als  rein  theoretisch  zu  cha- 
rakterisieren versuchten,  Kontingenzen  nachweisen 
zu  können   geglaubt   hat.      Er  meint,    im  Begriffe 
des   Infinitesimalen,   des   Unendlichen    überhaupt, 
jenes  logische  Novum  aufgefunden  haben,   das  es 
erst  in  der  Mathematik,    aber   noch    nicht  in  der 
Logik  gibt,  durch  das    beide  Wissenschaften   sich 
als  gegeneinander  kontingent   erweisen,   das  also 
prinzipiell  verhindert,  jemals  eine  Brücke  zwischen 
ihnen    zu    schlagen.      Ich  glaube  nicht,    daß  dies 
Argument,  so  geeignet  es  auch  sein  mag,  auf  die 
in  manchem  Betracht  verschiedene  logische  Struktur 
beider  Gebiete  aufmerksam   zu   machen,   auf  die 
Dauer   das   von    Boutroux   im    Interesse  seiner 
Metaphysik   der   Freiheit   Gewünschte    zu    leisten. 
Denn   gerade  die  grundlegenden  Untersuchungen 
Georg    Cantors    u.  a.    auf   dem    Gebiete    der 
Mengenlehre,  die  man  mit  gleichem  Recht  sowohl 
zur    Logik    wie    zur    Mathematik    rechnen    kann, 
haben    doch    die    von  Boutroux    für  unmöglich 
gehaltene  Brücke  zwischen  beiden  Disziplinen  ge- 
schlagen.     Indem    die    Mengenlehre    den    Begriff 
des  Unendlichen    aus    den  Verstrickungen    meta- 
physischer Antinomien  und  —  trotz  Vai hinger 
und  seiner  Schule  I  ■ —  logischer  Fiktionen  befreit 
und  zu    einem    mathematisch   brauchbaren  Werk- 
zeug  umgestaltet   hat,   hat   sie  ihm  zugleich  den 
Charakter  des  Kontingenten  im  Sinne  B  o  u  t  r  o  u  x's, 
d.  h.  eines  keiner  weiteren  definitorischen  Analyse 
Fähigen,    nun    einmal    nur    hinzunehmenden    aus 
der  Metaphysik  der  Freiheit  geborenen  logischen 
Novums  genommen.     Er  ist,    wie    der  Zahl-  und 
Raumbegriff    (im     Sinne     der     Metageometrien), 
zu    einem  rein    logisch  -  theoristisch  -  definierbaren 
Instrument  der  Forschung  geworden,   dem  nichts 
Metaphysisches    mehr    anhaftet,    der    daher    nicht 
mehr  dazu  benutzt  werden  kann,  zwischen  Logik 
und    Mathematik    eine    Kontingenz    aufzurichten. 
So  steht  es  mit  allem,  was  ins  Gebiet  der  aprio- 
risch-deduktiven Wissenschaften,   der   reinen   Ma- 
thematik und  Logik,  der  Wissenschaften  von  den 
Theorismen  und  reinen  Theorismenkombinationen, 
des  Reichs  der  „freien  Schöpfungen  des  Geistes", 
fällt.     Kontingenzen   gibt    es   hier   nicht,   sondern 
höchstens    Axiome,    die    mit    den    Kontingenzen 
zwar  die  logische  Irreduzibilität  gemeinsam  haben, 
sich  aber  durch  ihre  definitorische    logische  Frei- 
heit   von   ihnen   wesentlich  unterscheiden.     Zwar 


')  „De  la  contingence  des  lois  de  la  nature."  4.  ed, 
Paris  igoz.  —  „De  l'idee  de  loi  naturelle  dans  la  science  et 
la  Philosophie  contetnporaines."  Paris  1895.  Beide  bedeut- 
samen Bücher  sind  auch  in  guten  Übersetzungen  bei  E.  Die- 
derichs  in  Jena  erschienen. 


gibt  es  auch  hier  Probleme,  die  auf  das  Vorhan- 
densein von  Kontingenzen  zu  deuten  scheinen, 
wie  ja  Boutroux  das  Unendlichkeitsproblem, 
wie  wir  soeben  gesehen  haben,  auf  diese  Weise 
lösen  zu  können  vermeint  hat  —  ohne  solche 
Probleme  hätte  ja  die  Forschung  jeden  Anreiz 
verloren  — ,  aber  es  bedeutet  in  diesen  Wissen- 
schaften allemal  nur  eine  Scheinlösung,  wenn  man 
sich  bei  der  Feststellung  von  Kontingenzen  und 
Fiktionen  beruhigt.  Hier  kann  und  darf  man 
nicht  eher  rasten,  als  bis  man  der  vermeintlichen 
Kontingenzen  durch  geeignete,  „frei  geschaffene" 
Definitionen  und  Axiome  in  logisch  völlig  befrie- 
digender Weise  Herr  geworden  ist.  Denn  hier 
ist  absolute  Rationalität  möglich. 

Ganz  anders  liegen  die  Dinge  im  Gebiete  der 
Naturwissenschaften,  der  Wissenschaften  von  den 
komplexen  Theorien,  den  Theorismen  und  Empi- 
rismen. Hier  gibt  es  echte  Kontingenzen.  Zwar 
gibt  es  auch  hier  apriorisch-logische  Deduktionen, 
und  der  Sinn  ihrer  „Mathematisierung",  der  „me- 
chanistischen Idee",  ^)  besteht  gerade  darin ,  das 
Vorkommen  solcher  apriorisch -deduktiven,  von 
Mathematik  und  Logik  zu  diesem  Zweck  ausge- 
arbeiteten und  bereitgestellten  Methoden  möglichst 
zu  vermehren.  Denn  Mathematisierung  der  Natur- 
wissenschaften bedeutet  eben  dieses :  Angleichung 
ihrer  logischen  Struktur  an  die  streng  rationale, 
apriorisch  deduktive,  theoristische  der  Mathematik, 
soweit  das  möglich  ist,  keineswegs  nur  eine  bloße 
Benutzung  mathematischer  Rechnungsoperationen. 
Der  Zusatz,  „soweit  das  möglich  ist"  ist  hier  be- 
sonders wichtig.  Denn  in  so  vollendet  rationaler 
Form,  wie  in  der  Mathematik,  ist  die  Mathemati- 
sierung der  Naturwissenschaft  eben  nicht  mög- 
lich. Das  verhindern  die  in  allen  Empirismen 
zum  Ausdruck  kommenden  Kontingenzen.  Ein 
modernes  Beispiel  möge  das  Gemeinte  erläutern. 
Niemand  wird  leugnen,  daß  die  Gravitationstheorie 
Einsteins  einen  gewaltigen  Fortschritt  derjeni- 
gen Newtons  gegenüber  bedeutet,  soweit  die 
Mathematisierung  der  ganzen  Physik  in  Frage 
steht.  Ja,  man  wird  die  Worte  Hilberts, ")  daß 
es  auf  diese  Weise  noch  einmal  möglich  sein 
wird,  die  physikalischen  auf  mathematische  Kon- 
stanten zu  reduzieren,  nicht  für  überschwänglich 
halten,  wofern  man  wenigstens  nicht  mehr  in  sie 
hineinlegt,  als  sie  besagen  wollen,  wofern  man 
nämlich  nicht  vergißt,  daß  es  sich  bei  diesen 
„mathematischen  Konstanten"  um  geometrische, 
und  zwar  nicht  um  rein  rationale  metageometri- 
sche, sondern  um  wirklichkeitsgeometrische,  „welt- 
geometrische" Konstanten  handelt,  physikalische 
Konstanten  also,  die  in  der  augenblicklich  von 
der  Wirklichkeit  geltenden  Riemannschen  Geo- 
metrie durch  Messung  ermittelt  werden  können. 
Darüber  darf  man  sich  keineswegs  täuschen,  auch 
die    Einst  einschen    Gravitationspotentiale    sind 

^)  Vgl.  meine  a.  a.  O.  zitierte  Arbeit.  Diese  Zeitschrift 
Jahrg.   1920,  Nr.  50. 

^)  Nachrichten  von  der  Ges.  d.  Wiss.  Göttingen.  Math, 
phys.  Kl.  Jahrg.   1915. 


I 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


365 


physikalische    Größen,    Empirismen,    Messungen, 
also  Kontingenzen.   So  wertvolle  Anregungen  die 
Relativitätstheorie     der    Wissenschaft    von 
den    Theorienbildungen    in    den    Wissenschaften, 
der  „Wissenschaft  von   der  Wissenschaft"   (H  u  s  - 
serl,^))   der  modernen  Logik  also,  gegeben  hat, 
man  wird  ihr  doch  nur  schaden,    wenn  man  ver- 
gißt, daß  sie  eine   rein  physikalische  Theorie  ist, 
die  mit  physikalischen  Messungen  steht  und  fällt. 
Worin  besteht  nun  aber  das  logisch  Wertvolle, 
das  uns  die  Relativitätstheorie  wenn  auch 
nicht  gerade  neu  gelehrt,  so  doch  in  ganz  beson- 
ders glänzender  Weise  wieder  bestätigt  hat  ?   Nun 
in    nichts    anderem    als    darin,    daß   sie   uns  aufs 
deutlichste  die  Richtung  aufzeigt,  die  die  Verwen- 
dung der  Empirismen  in  den  Naturwissenschaften, 
zunächst  in  der  Physik,    nimmt.      Es    ist   näm- 
lich  unverkennbar,    daß   in   den    Natur- 
wissenschaften    die    Tendenz    besteht, 
mit  möglichst   wenig   Empirismen   aus- 
zukommen.     Darin    besteht   unverkennbar    der 
theoretische     Fortschritt     der      Einstein  sehen 
Physik   gegenüber   der   Galilei- New tonschen, 
daß  sie  im  ganzen  mit  weniger,  voneinander  u  n  - 
abhängigen  Empirismen    (physikalischen  Kon- 
stanten, Messungen)  auskommen  kann  als  die  alte 
klassische  Physik,  die  diese  in  zwei  unvereinbare, 
auf  besondere  und  gesonderte  Gruppen  von  Em- 
pirismen aufgebaute  Teile,   die  Mechanik  und  die 
Thermodynamik  auseinanderriß.     Ich  glaube,  daß 
dies  Prinzip    des  Minimalgebrauchs   von 
voneinander  unabhängigen  Empirismen 
auch  das  in  logisch  einwandfreier,  also  von  keiner 
pragmatistischen  Metaphysik  mehr  getrübten  Form 
wiedergibt ,    was    Ernst    Mach-)    in    psycholo- 
gistischer  Terminologie  mit  seinem  so  außerordent- 
lich   fruchtbaren    Prinzip    der   Denkökonomie 
gemeint    hat.      Also    die    Entwicklung    der 
Naturwissenschaften  geht  dahin,  mög- 
lichst   viele    der   im  System    der   Natur- 
wissenschaften   gebrauchten    Empiris- 
men als  voneinander  abhängig  und  da- 
durch auch  exakt  ableitbar  aufzuweisen 
und    möglichst    wenig    Empirismen    zu- 
rückzubehalten, die,  da  sie  voneinander 
unabhängig     sind,      als      empiristische 
Axiome    (Messungen)    neben     den     rein 
rationalen  Axiomen  der  Logik  und  Ma- 
thematik verwandt  werden  müssen,  um 
in    aprio risch  -  deduktiven    Thorien    — 
komplexer  Art  also  —  die  verschiedenen 
Bereiche     der     Natur     beherrschen     zu 
können. 

Ganz  ohne  Empirismen  wird  es  also  in  den 
Naturwissenschaften  nie  gehen.  Selbst  in  dem 
idealsten  Falle,  daß  es  gelänge,  alle  physischen 
Empirismen  in  einer  einzigen  „mathematischen 
Weltkonstanten"  im  Sinne  Hilberts,   die   es  in 


')  Vgl-  »Logische  Untersuchungen"  Bd.   I,  2.  Aufl.,   1913 
^)  Vgl.  besonders    „Die    ökonomische  Natur    der    physi- 
kalischen Forschung".     Populärwiss.  Vorles.  4.  Aufl.    Leipzig 
1910.     Nr.  13. 


beschränkten  Bereichen  wohl  geben  wird,  zusam- 
menzufassen, würden  wir  doch  noch  ein  Empirisma, 
eine  Messung,  vor  uns  haben.  Interessant  ist  in 
diesem  Grenzfalle  nur,  daß  unser  Empirisma  dann, 
aber  nur  dann,  seine  Kontingenz  verloren  hat.  Es 
ist  aus  einer  kontingenten  Messung  zu  einer  reinen, 
unbenannten  Zahl  geworden.  Denn  wie  alle 
unabhängigen  Empirismen  in  dem  Augenblick 
ihre  Kontingenz  verlieren,  wo  sie  sich  als  ab- 
hängig, also  von  anderen  unabhängigen  exakt  ab- 
leitbar erweisen,  wie  z.  B.  die  Newtonsche 
Gravitationskonstante  durch  einfache  mathema- 
tische Setzung  aus  den  Einstein  sehen  ableitbar 
ist,  so  muß  auch  unser  fingiertes  allein  übrig 
bleibendes  Universalempirisma  inkontingent  sein, 
da  es  gestattet,  alle  nur  gewünschten  Empirismen 
rein  rational,  also  mathematisch-logisch,  mit  ab- 
soluter Genauigkeit  aus  ihm  abzuleiten  und  da- 
mit so  souverain  wie  möglich  die  Natur  zu  be- 
herrschen. In  ihm  wäre  die  definitive  Welt- 
formel gefunden. 

Physik  und  Biologie. 

Versuchen  wir  nun  noch,  aus  den  dargelegten 
Anschauungen  die  Konsequenzen  für  eine  exakte 
Formulierung  der  Beziehungen  von  Physik  und 
Biologie  zu  ziehen,  deren  Verhältnis  bekanntlich 
m  der  verdienstvollen  modernen  positivistischen 
Erkenntnistheorie  eine  große  Rolle  spielt. 

Mach  und  ihm  nahestehende  Philosophen 
lehren  bekanntlich,  daß  das  letzte  Gegebene,  die 
„Elemente",  auf  die  letztlich  alles  Wirkliche  redu- 
ziert werden  könne,  die  „Empfindungen"  seien, 
wobei  natürlich  unter  Empfindung  etwas  beträcht- 
lich Allgemeineres  verstanden  wird,  als  die  Psycho- 
logie damit  meint.  Aufgabe  aller  Wissenschaft 
ist  es  dann,  diese  letzten  elementaren  Qualitäten 
möglichst  „ökonomisch"  so  zu  verknüpfen,  daß  die 
gewonnenen  Regeln  uns  in  die  Lage  setzen,  jede 
beliebige  reale  Situation  mit  jeden  gewünschten 
Grade  von  Genauigkeit  zu  „beschreiben".  Das 
leisten  am  besten  die  „funktionalen"  Beziehungen 
der  Mathematik.  Zu  diesem  Zwecke  werden  alle 
Empfindungen  in  drei  große,  relativ  selbständige 
Gruppen  zerlegt,  in  deren  Bearbeitung  sich  dann 
die  drei  verschiedenen  Gruppen  von  Naturwissen- 
schaften teilen.  Werden  mit  ABC  .  .  .  alle  die- 
jenigen Komplexe  von  Empfindungen  bezeichnet, 
durch  die  uns  —  in  gewöhnlicher  Terminologie 
gesprochen  —  diejenigen  Gegenstände  vermittelt 
werden,  die  außer  uns  sind  und  unabhängig  von 
uns  wirken,  die  physische  Natur  also,  so  haben 
wir  in  ihnen  das  Gebiet  charakterisiert,  dessen 
ökonomisch  funktionale  Bearbeitung  Sache  der 
Physik  ist.  Außerdem  gibt  es  aber  noch  zwei 
weitere  Empfindungskomplexe,  abc  .  .  .  nämlich 
und  aßy  .  . .  Die  abc  . .  .  sind  die  wieder  relativ 
selbständigen  Empfindungskomplexe,  die  unseren 
„Leib"  konstituieren  und  aßy  endlich  diejenigen, 
die  unser  „Seelenleben"  zu  beschreiben  gestatten. 
Das  alles  sind  aber  keine  absolute  „Substanzen", 
sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grade  willkürliche, 


366 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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künstHche  Scheidungen,  Logismen  also,  die  sich 
aber  für  die  beherrschende  und  beschreibende 
Bewältigung  der  Wirklichkeit  als  sehr  „praktisch" 
herausgestellt  haben,  die  zudem  in  den  engsten 
Beziehungen  zueinander  stehen.  Und  zwar  stehen 
nicht  nur  aßy  ...  in  Abhängigkeit  von  abc  . . .,  was 
ja  jedem  geläufig  ist,  sondern  auch  von  ABC  .  . ., 
ferner  besonders  auch  abc  .  . .  von  ABC  .  .  .  usw. 
Die  Erforschung  der  Beziehungen  von  a,  b,  c  . .  . 
untereinander  und  zu  ABC  .  .  .  und  aßy  ...  ist 
dann  die  spezifische  Aufgabe  der  Biologie,  während 
die  Psychologie  ihrerseits  die  Beziehungen  der  aßy . . . 
unter  sich  und  zu  abc  .  . .,  sowie  auch  zu  ABC  .  . . 
erforscht.  Man  sieht,  alle  drei  Gruppen  von 
Naturwissenschaften  durchdringen  sich  in  den 
Grenzgebieten  auf  das  innigste. 

Diese  geniale  Konzeption  enthält  eine  Fülle 
von  Wahrheiten  und  bedeutsame  Anregungen  für 
jede  weitere  vergleichend  logische  Forschung.  Be- 
sonders treffend  charakterisiert  sie  meines  Er- 
achtens  weite  Gebiete  der  heutigen  Biologie  und 
Psychologie.  Der  Vorwurf  des  Sensualismus,  den 
man  ihr  oft  gemacht,  wiegt  aber  doch  wohl  zu 
leicht.  Von  Sensualismus  kann  man  doch  nur 
dann  sprechen,  wenn  man  zuvor  den  Begriff 
„Empfindung"  in  einseitig  psychologischer  Weise 
festgelegt  und  dann  eben  alles  Sensualismus  nennt, 
was  den  Empfindungsbegrifif  in  anderem  Sinne 
verwendet.  Den  Mach  sehen  Positivismus,  der 
ausdrücklich  einen  ganz  anderen  als  nur  psycho- 
logischen Empfindungsbegrifif  verwendet,  trifft 
man  damit  nicht.  Ziehen')  hat  daher,  weil  er 
voraussah,  daß  solche  rein  terminologische  Diffe- 
renzen den  oberflächlichen  Kritikern  den  Blick 
für  die  Sache  trüben  würden,  vorgeschlagen,  gar 
nicht  von  „Empfindungen"  oder  „Elementen"  zu 
reden  und  den  von  ihm  gebildeten  neutralen  Aus- 
druck „Gignomene"  zu  verwenden.  Wenn  Ziehen 
und  vor  ihm  Avenarius  in  ihren  termino- 
logischen Neuschöpfungen  auch  wohl  etwas  zu 
weitgehen,  darin,  daß  unsere  hergebrachte  Ter- 
minologie in  keinem  Falle  mehr  ausreicht,  das 
logische  Rüstzeug  der  modernen  Naturwissen- 
schaften zu  beschreiben,  wird  man  ihnen  unbe- 
dingt beipflichten  müssen. 

Trotzdem  ich  also  die  positivistischen  Kon- 
zeptionen über  das  Verhältnis  von  Physik  und 
Biologie  außerordentlich  hoch  bewerte  und  sogar 
glaube,  daß  die  hier  von  Mach  zum  ersten  Male 
begangene  Methode  einer  vergleichend  logischen 
Analyse  der  empirischen  Momente  unserer  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnis  die  allein  zum  Ziele 
führende  ist,  kann  ich  doch  den  gewonnenen  Re- 
sultaten nicht  vollauf  zustimmen.  Ich  meine,  daß 
sie  das  Ergebnis  eines  zwar  sehr  begreiflichen, 
aber  doch  allzu  voreiligen  Abschlusses  der  so 
verheißungsvoll  begonnenen  Analyse  sind.  Man 
wird  noch  viel  vorsichtiger  und  in  weit  größerem 
Umfange  die  Theorienbildung  in  Physik  und  Bio- 


')    „Erkenntnistheorie    auf    psychophysiolog.    und    physi- 
kalischer Grundlage".     Jena  191 3. 


logie  vergleichend  logisch  analysieren  müssen,  ehe 
man  es  wagen  darf^  bestimmte,  für  beschränkte 
Zeit  gültige  Schlüsse  daraus  zu  ziehen.  Unsere 
folgenden,  nur  noch  kurzen  Bemerkungen,  haben 
daher  auch  noch  nicht  den  Zweck,  diese  Analyse 
für  unser  derzeitiges  naturwissenschafthches  Theo- 
retisieren  zu  leisten,  sondern  nur  die  Ansatzpunkte 
klarer  herauszustellen,  von  denen  eine  solche  künftig 
wird  mit  Aussicht  auf  Erfolg  ausgehen  können. 
Fragen  wir  uns  zunächst  einmal,  welche  logi- 
sche Rolle  die  Mach  sehen  „Empfindungen"  und 
„Elemente"  und  die  „Gignomene"  Ziehens  im 
Aufbau  der  Wissenschaften  spielen,  was  für 
Strukturelemente  sie  darstellen.  Sind  es  in  unserer 
Terminologie  Empirismen  oder  Wirklichkeiten  ? 
Unzweifelhaft  sind  es  Empirismen,  denn  sie  stellen 
doch  die  letzten  logisch  nicht  weiter  analysier- 
baren Elemente  alles  Wirklichen  dar.  Das  un- 
analysierte  Wirkliche  enthält  also  unzweifelhaft 
ein  Mehr  gegenüber  den  Empirismen,  mag  das 
Mehr  auch  in  weiter  nichts  als  einer  spezifischen 
Kombination,  Komplexheit  von  Empirismen  be- 
stehen. Ist  aber  diese  jeweilige  besondere  Kom- 
bination von  Empirismen  wirklich,  dann  führt  es 
zu  Widersinnigkeiten,  jedes  darin  vorkommende 
Empirisma  (Empfindungsdatum  nach  Mach)  in 
gleichem  Sinne  wirklich  zu  nennen.  Es  ist  doch 
erst  durch  die  logische  Analyse  erschlossen.  Aus 
dieser  Verwechslung  der  letzten  Data  der  Positi- 
visten  mit  dem  Wirklichen  sind  eine  Reihe  von 
Mißverständnissen  des  Positivismus  entstanden. 
Wenn  nur  Empfindungen  und  solche  Gegenstände, 
die  unter  ganz  bestimmten  Bedingungen  als  Emp- 
findungen auftreten  können,  wirklich  sind,  dann 
sind  Elektronen,  Energiequanten,  Atome,  manche 
Sternsysteme  usw.,  die  prinzipiell  niemals  als 
Empfindungen  auftreten  können,  deren  Wirklich- 
keit nur  als  Ergebnis  richtiger  Theorien  erschlossen 
werden  kann,  eben  nicht  wirklich.  Tatsächlich 
haben  sich  ja  auch  manche  Positivisten  (Ost- 
wald) in  eigentümlicher  Verkennung  des  eigent- 
lich logischen  Charakters  ihrer  Thesen  zu  solchen 
Konsequenzen  entschlossen.  .Und  doch  fällt  alles 
Nebelhafte  sofort  von  diesen  Deduktionen,  wenn 
wir  uns  einmal  darüber  klargeworden  sind,  daß 
die  Data  der  Positivisten  logisch  Empirismen  und 
keine  Wirklichkeiten  sind.  Atome,  Elektronen 
usw.  verlieren  ihren  Wirklichkeitscharakter  durch- 
aus nicht,  wenn  wir  uns  mit  den  Positivisten  auf 
den  Standpunkt  stellen,  sie  nicht  für  Empirismen 
zu  halten.  Wirklich  war  ja  nach  unseren  obigen 
Ausführungen  alles,  was  aus  richtigen  Theorien 
erschlossen  werden  kann  und  muß,  während  die 
Empirismen  nur  einen  bestimmten  logischen  Teil 
jeder  Theorie  ausmachen.  Aber  nicht  darum  sind 
die  Data  der  bisherigen  Positivisten  (Empfindungen, 
Elemente,  Gignomene  usw.)  falsch,  weil  sie  offen- 
bare Wirklichkeiten  nicht  als  —  Empirismen  an- 
erkennen können,  sondern  weil  sie  nicht  die  ihnen 
in  der  modernen  naturwissenschaftlichen  Theorien- 
bildung zugedachte  Rolle  als  Empirismen  spielen 
können. 


N.  F.  XX.  Nr.  2q 


Naturwissenschaftliche  Woclienschrift. 


367 


Prüfen  wir,  um  das  zu  erhärten,  nun  noch 
kurz  einige  wirkliche  Empirismen  der  Physik 
und  Biologie  daraufhin,  ob  sie  mit  den  positivisti- 
schen Daten  übereinstimmen.  Zunächst  in  der 
Physik.  Es  ist  gar  kein  Zweifel  möglich  da- 
rüber, daß  die  Empirismen  der  Physik 
Messungen  sind.  Darin  hat  Planck')  unbe- 
dingt Recht.  Auf  Messungen  beruht  letzten  Endes 
das  gesamte  Gebäude  der  experimentellen  und 
theoretischen  Physik.  Der  Gang  jeder  Theorien- 
bildung in  der  modernen  Physik  ist  doch  kurz 
dieser:  Die  Aufgabe  ist,  einen  bestimmten 
physikalischen  Erscheinungskomplex  „aufzuklären", 
d.  h.  nach  unserer  Meinung,  ihn  unter  Einführung 
möglichst  wenig  neuer  Kontingenzen  so  zu  be- 
schreiben, daß  seine  universale  theoretische  und 
praktische  Beherrschung  möglich  ist.  Zu  diesem 
Zwecke  wird  dann  eine  Hypothese  ersonnen, 
die  nach  Lage  der  Dinge  imstande  sein  könnte, 
das  Gewünschte  zu  leisten.  Aus  dieser  Hypothese 
werden  dann  rechnerisch  bestimmte,  sich  in  exakten 
Zahlen  darstellende  Konsequenzen  ermittelt,  deren 
Messung  experimentell  möglich  ist.  Stimmt  dann 
die  errechnete  Maßzahl  mit  der  wirklich  gemesse- 
nen in  den  erlaubten  Fehlergrenzen  überein,  so 
gilt  die  Hypothese  als  verifiziert,  d.  h.  sie  hat  den 
logischen  Rang  einer  Theorie  des  betreffen- 
den Gebietes  errungen.  Wirklich  heißt  dann 
nach  unserer  Logik  der  durch  die  betreffende 
Theorie  beschriebene  Sachverhalt,  keinesfalls  die 
einzelne  Messung.  Diese  ist  vielmehr  das 
Empirisma,  auf  das  die  Theorie  sich 
stützt.  Ein  Empirisma  rein  für  sich 
betrachtet  ist  gar  nichts,  es  gewinnt 
logischen  Sinn  erst  im  Hinblick  auf  die 
Theorie,  zu  der  es  gehört.  Aber,  so  wer- 
den nun  vielleicht  die  Positivisten  Mach  scher 
Richtung  erwidern,  das  bestätigt  ja  vollauf  unsere 
Lehre  von  den  Empfindungen  als  den  letzten 
„Empirismen";  denn  was  ist  eine  physikalische 
Messung  anders  als  eine  Empfindung,  zumeist 
eine  optische?  In  der  Tat,  diese  Konsequenz  er- 
scheint auf  den  ersten  Blick  ebenso  bestechend, 
wie  unausweichlich.  Und  doch  ist  sie  falsch. 
Denn  die  Rolle  des.Empirismas  spielt  in 
unserem  Falle  die  gemessene  Zahl.  Die  Ge- 
sichtsempfindung hat  nur  die  völlig  nebensächliche 
Aufgabe,  ihre  Übereinstimmung  mit  der  errech- 
neten festzustellen.  Wie  gleichgültig  sie  dabei 
ist,  das  erhellt  schon  daraus,  daß  man  von  ihr 
den  denkbar  sparsamsten  Gebrauch  macht,  weil 
man  ihre  Unzuverlässigkeit  kennt,  weshalb  man 
die  Apparatur  so  baut,  daß  die  Fehlerquellen  der 
Empfindung  so  weitgehend  wie  möglich  ausge- 
schaltet sind,  und  weshalb  man  das  Ergebnis 
durch  möglichst  viele  Augen  feststellen  läßt,  um 
auch  hier  alles  Individuelle  möglichst  durch  das 
Normale  zu  überwinden.  Man  sieht,  die  Emp- 
findung spielt   hierbei   eine   ganz   untergeordnete 


Rolle.  Wären  Traummitteilungen  ein  physikalisch 
anerkanntes  Kontrollmittel,  man  würde  sich  die 
Übereinstimmung  beider  Zahlen,  um  die  Empfin- 
dung zu  meiden,  noch  lieber  durch  eine  Traum- 
mitteilung bestätigen  lassen.  Es  bleibt  dabei: 
In  der  Theorienbildung  der  heutigen 
Physik  spielt  nicht  die  Empfindung, 
sondern  die  Messung  die  Rolle  des 
Empirisma  s. 

Welche  Rolle  spielen  die  Empirismen  nun  in 
der  Biologie?  Lassen  sich  die  positivistischen 
Thesen  hier  vielleicht  mit  größerem  Recht  be- 
haupten, als  in  ihrem  Ursprungsland,  der  Physik? 
In  der  Tat  scheint  es  so.  Die  Arbeiten  vieler 
ausgezeichneter  Forscher,  wie  Verworn,  Jen- 
sen, Ziehen,  auch  Winterstein  scheinen 
dahin  zu  zielen. ')  Ja ,  man  kann  Avenarius 
System  geradezu  als  einen  grandiosen  Versuch 
deuten,  Physik  und  Psychologie  hinsichtlich  ihres 
Theoretisierens  von  der  Physiologie  her  anzu- 
packen. Auch  das  Ökonomieprinzip  Machs  ent- 
hält ein  bedeutsames  biologisches  Motiv.  Gleich- 
wohl ist  es  ein  verfehltes  Beginnen,  die  biologi- 
schen Wissenschaften  logisch  über  einen  Kamm 
zu  scheren.  Das  Theoretisieren  in  der  Biologie 
läßt  sich  noch  nicht  auf  einen  einzigen  General- 
nenner bringen  wie  in  der  Physik.  Die  verschie- 
denen biologischen  Wissenschaften,  wie  Physio- 
logie und  Entwicklungsmechanik,  die  morphologi- 
schen und  systematischen  Disziplinen  sind  logisch 
von  zu  verschiedener  Struktur.  Die  einen  nähern 
sich  der  Physik,  während  die  andern  noch  meilen- 
weit davon  entfernt  sind  und  noch  tief  in  histo- 
rischer Logik,  ')  dem  Gegenpol  der  mathemati- 
schen, stecken.  Infolgedessen  sind  auch  die  von 
den  verschiedenen  biologischen  Theorienbildungen 
verwendeten  Empirismen,  die  uns  hier  allein 
interessieren,  logisch  von  verschiedenem  Rang. 
Wir  können  uns  an  dieser  Stelle ")  nicht  auf  das 
ganze  weitschichtige  Problem  einlassen,  wir  wollen 
nur  an  einigen  markanten  Theorien  aufzeigen,  um 
was  es  sich  handelt,  und  wir  hoffen  nachweisen 
zu  können,  daß  auch  hier  die  Dinge  nicht  ganz 
so  einfach  liegen,  wie  die  derzeitigen  Positivisten 
uns  glauben  machen  wollen. 

Nach  der  herrschenden  positivistischen  Lehre 
umgrenzen  die  Empfindungskomplexe  a,  b,  c  .  .  . 
und  ihre  Beziehungen  zu  den  A,  B,  C  .  . .  und 
a,  iS,  y  . .  .  das  den  biologischen  Wissenschaften 
eigentümliche  Gebiet.  Damit  kann  zweierlei  ge- 
sagt sein.  Einmal,  daß  die  Empfindungen  a,  b, 
c  ...  das  Wirkliche  darstellten,  dessen  mög- 
lichst ökonomische   Beschreibung  Sache   der  Bio- 


')  Vgl.  u.  a.   „Acht  Vorlesungen  über  Theoretische  Phy- 
sik".    Leipzig  1910.     Erste  Vorl. 


')  Verworn,  , .Kausale  und  konditionale  Weltanschau- 
ung". Jena  1912.  Dazu  die  gleichnamige  Polemik  Roux's. 
—  Jensen,  „Erleben  und  Erkennen".  Jena  1919.  Ferner: 
Anatom.  Hefte  1.  Abt.,  H.  179  (59.  Bd.,  H.  3)  1921.  — 
Winterstein,  Ebd.,  I.  Abt.,   lyi'/lTS.  H.  (Bd.   57)   1919. 

*)  Vgl.  u.  a.  Rieh.  Kroner,  „Das  Problem  der  histo- 
rischen Biologie".  Abhandlungen  z.  theoret.  Biologie.  H.  2. 
Berlin  1919. 

')  Näheres  darüber  in  meiner  oben  angekündigten  „Logik 
der  Biologie". 


368 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


logie  sei.  Die  Biologie  würde  dadurch  letzten 
Endes  zu  einer  umfassenden  Kombinatorik  der 
a,  b,  c  . . .  Elemente.  Zweitens  kann  mit  jenem 
„Gebiet  umgrenzen"  gemeint  sein,  daß  die  a,  b, 
c  .  .  .  Empfindungen  die  Empirismen  dar- 
stellten, die  in  jeder  biologischen  Theorie  vor- 
kämen. Beide  Behauptungen  werden  in  den  posi- 
tivistischen Systemen,  und  zwar  meist  nicht  ge- 
sondert, vertreten.  Prüfen  wir  diese  Thesen  nun- 
mehr an  drei  verschiedenen,  grundlegenden  Theo- 
rien der  modernen  Biologie,  der  Deszendenz-, 
Zelltheorie  und  dem  Mendelismus. 

Die  Deszendenztheorie  ist  die  beherr- 
schende Theorie  aller  morphologischen  Wissen- 
schaften der  Biologie.  Nach  der  positivistischen 
These  müßte  sie  also  entweder  Aussagen  machen 
über  die  a,  b,  c  .  .  .  Empfindungen  oder  sie  müßte 
diese  bei  ihrem  Aufbau  als  Empirismen  benutzen 
oder  beides  zugleich  tun.  Die  Deszendenztheorie 
ist  letzten  Endes  logisch  als  eine  historische 
Theorie  zu  charakterisieren.  Ihr  Ziel  ist,  die  tat- 
sächliche Entstehung  und  weitere  Entfaltung  alles 
Organischen  im  Räume  überhaupt  und  besonders 
auf  der  Erde,  mit  anderen  Worten  also  die  Ge- 
schichte dieses  Organischen  zu  schildern.  Um 
das  kausale  Wesen  dieses  Organischen  selbst  ist 
es  der  Deszendenztheorie  zunächst  nicht  zu  tun. 
Mit  dessen  Aufhellung  beschäftigt  sich  vielmehr 
die  Physiologie.  Da  diese  nun  darnach  strebt, 
das  Organische  einmal  irgendwie  physikalisch- 
chemisch zu  definieren,  so  ist  die  Deszendenz- 
theorie in  dem  Augenblick,  wo  die  Physiologie 
diesem  ihrem  Ziel  einigermaßen  nähergekommen 
ist,  zur  Geschichte  eines  physikalisch  -  chemischen 
Systems,  das  allerdings  von  ganz  besonderer  Be- 
deutung ist,  geworden.  In  diesem  Grenzfalle  wer- 
den also  die  Empfindungen  in  ihr  keine  andere 
Rolle  spielen,  als  auch  sonst  in  der  Physik  und 
Chemie,  womit  für  diesen  Grenzfall  beide  positi- 
vistischen Thesen  abgelehnt  sind. 

Nun  ist  aber  die  Deszendenztheorie  zur  Zeit 
noch  nicht  die  Geschichte  eines  physikalisch- 
chemischen Systems,  sondern  einstweilen  nur  die 
organischer  Formen.  Wie  verhält  sie  sich  nun 
in  dieser  ihrer  augenblicklichen  Situation  zu  den 
positivistischen  Thesen?  Die  Deszendenztheorie 
enthält  ohne  Frage  Aussagen  über  Wirkliches, 
denn  was  Gegenstand  einer  Geschichte  sein  kann, 
ist  wirklich  oder  doch  einmal  wirklich  gewesen. 
Dieses  Wirkliche  kann  aber  nicht  als  Verknüpfung 
von  a,  b,  c  .  .  .  Elementen  schlechthin  ge- 
deutet werden.  Denn  wir  sahen,  daß  die  Ge- 
schichte des  Organischen  logisch  von  seiner  kau- 
salen Deutung  unabhängig  ist.  In  dem  Augen- 
blick, wo  das  Organische  kausal  als  physikalisch- 
chemisches System  definiert  werden  kann,  ist 
seine  Geschichte,  die  Deszendenztheorie,  ohne 
Frage  keine  Verknüpfung  von  Empfindungs- 
elementen mehr.  Es  ist  daher  nicht  angängig, 
das  Wesen  der  Deszendenztheorie  überhaupt  als 
Verknüpfung  von  a,  b,  c  .  .  .  Empfindungen  auf- 
zufassen.   Mit  mehr  Recht  könnten  die  Positivisten 


aber  meines  Erachtens  behaupten,  daß  die  Des- 
zendenztheorie zur  Zeit,  als  Geschichte  der  or- 
ganischenFormen  also,  den  obigen  positivistischen 
Thesen  Genüge  leiste.  Das  leitet  uns  hinüber 
zur  Prüfung  der  Empirismen,  die  der  Deszendenz- 
theorie zugrunde  liegen.  Denn  obschon  Empi- 
rismen und  Wirklichkeit  nicht  identisch  sind,  wie 
wir  wohl  zur  Genüge  auseinandergesetzt  haben, 
stehen  sie  doch  in  engster  funktionaler  Beziehung 
zueinander  derart,  daß  sie  beide  ähnlichen 
logischen  Charakter  haben.  Bestehen  die  Empi- 
rismen aus  Empfindungen,  so  ist  naturgemäß  auch 
die  aus  ihnen  aufgebaute  (durch  die  Theorismen) 
Wirklichkeit  eine  Verknüpfung  von  Empfindungen. 
Nun  meinen  wir,  daß  die  Deszendenztheorie,  so- 
lange sie  Geschichte  organischer  Formen  ist, 
aber  nur  solange,  eine  Verknüpfung  von  Empfin- 
dungselementen ist.  Ihre  Empirismen  sind  in 
diesem  Falle  organische  Formen,  denn  sie  bilden 
das  Material,  das  theoretisch  verknüpft  wird. 
Formen  aber  sind,  wie  alle  qualitativen  Empirismen 
überhaupt,  letzten  Endes  nur  auf  Empfindungs- 
elemente reduzierbar.  Jede  organische  Form  hat 
eine  bestimmte  Gestalt  und  Farbe,  übt  einen  be- 
stimmten Druck  aus  usw.  Als  Form  ist  sie  nur 
empfindungsanalytisch  zu  charakterisieren.  Über- 
wunden werden  diese  Empfindungsqualitäten  und 
damit  alles  „Formale"  erst  dann,  wenn  sie  durch 
exakte  Messungen  ersetzt  werden  können,  wenn 
eine  einzige  Empfindung  nur  noch  ganz  flüchtig 
und  unter  allen  Kautelen  dazu  benutzt  wird,  um 
eine  Messung  mit  einer  Rechnung  zu  vergleichen. 
Als  Resultat  dürfen  wir  also  buchen :  Solange  die 
Deszendenztheorie  eine  Geschichte  der  organischen 
Formen  ist,  kann  man  sie  im  Sinne  des  Positivis- 
mus als  eine  Verknüpfung  von  Empfindungsele- 
menten betrachten.  Sowie  man  aber  aus  dieser 
Not  eine  Tugend  macht,  wie  es  ebenfalls  die 
Positivisten  tun,  begibt  man  sich  aufs  Glatteis. 
Dieser  positivistische  Zustand  der  Deszendenz- 
theorie ist  vielmehr  nur  etwas  Vorübergehendes, 
möglichst  bald  physikalisch  -  chemisch  zu  Er- 
setzendes. 

Haben  somit  die  positivistischen  Thesen  für 
die  logische  Analyse  der  Deszendenztheorie  nur 
bedingte  Geltung,  so  gilt  auch  das  nicht  mehr  für 
die  höchstentwickelte  Theorie,  die  die  Biologie 
aufzuweisen  hat,  für  die  Theorie  der  Ver- 
erbung, den  zytologisch  fundierten  Medelismus. 
Empfindungsanalytisch  ist  den  Genen  nicht  mehr 
beizukommen,  das  ist  nur  noch,  worauf  auch  die 
Enzymhypothese  Goldschmidts ^)  hinweist,  phy- 
sikalisch -  chemisch ,  oder  biologisch  gesprochen : 
physiologisch  möglich.  Die  Gene  sind  ebenso 
ein  Gegenstand  exakt  quantitativer  Forschung  wie 
die  Atome,  denen  sie  logisch  am  ehesten  ver- 
gleichbar sind,  und  wenn  sich  die  Ergebnisse  der 
Morganschule  werden  verallgemeinern  lassen,) 
scheint  für  die  Biologie  der  Vererbung  eine  ähn- 


')  „Die  quantitative  Grundlage    von  Vererbung    und  Art- 
bildung".    Roux's  Vorträge  II.  24.   1920. 


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Naturwissenschaftliche  Wochensclirift. 


369 


liehe  Periode  anzubrechen,  wie  sie  die  organische 
Chemie  seit  der  genialen  Konzeption  Kekules 
erlebt  hat. 

Logisch  in  der  Mitte  zwischen  Deszendenz- 
und  Vererbungstheorie  steht  die  dritte  große  uni- 
versale Theorie  der  Biologie,  die  Zelltheorie. 
Soweit  sie  eine  rein  morphologische  Theorie  ist, 
d.  h.  soweit  sie  behauptet,  daß  alles  Organische 
aus  Zellen  besteht  oder  aus  solchen  entstanden 
ist  und  nur  dieses  tatsächliche  Gesehen  und  seine 
Geschichte  aufdecken  will,  ist  sie  logisch  vom 
gleichen  Rang  wie  die  Deszendenztheorie.  In 
diesem  Falle  sind  auch  die  Zellen  organische 
Formen,  Qualitäten  also,  die  empfindungsanalytisch 
erfaßbar  sind,  obschon  hier  praktisch  nur  zwei 
Empfindungsgruppen  in  Frage  kommen,  Gestalt 
und  Farbe.  Soweit  die  Zelltheorie  aber  physio- 
logisch fundiert  ist,  d.  h.  soweit  sie  alles  organische 
Geschehen  auf  solches  in  der  Zelle  und  den  Zell- 
systemen, den  Organen,  zurückführen  will,  soweit 
sie  also  physikalisch-chemische  Analyse  des  Or- 
ganischen treibt,  soweit  —  und  das  ist  fraglos  ihr 
tieferer  Gehalt,  dem  ihre  Zukunft  gehört  — ,  eignet 
die  Zelltheorie  durchaus  jenem  höheren  logischen 
Komplex  von  Theorienbildung,  dem  auch  die 
Theorie  der  Vererbung  und  die  Atomtheorie  zu- 
zurechnen sind.  Hier  kann  von  irgendwelchem 
Empfindungspositivismus  keine   Rede   mehr   sein. 


Aber  dieser  von  den  Empfindungen  ausgehende 
Positivismus  ist  nicht  der  allein  mögliche.  Be- 
zeichnet doch  selbst  Husserl,  der  in  dieser  Hin- 
sicht gewiß  nicht  belastet  ist,  sich  einmal  als 
einen  „ächten  Positivisten".*)  Die  eigentliche 
Tendenz  des  Positivismus  geht  unseres  Erachtens 
auch  tiefer.  In  der  Ausschaltung  alles  Meta- 
physischen aus  der  Naturphilosophie  und  in  ihrer 
Beschränkung  auf  eine  rein  logische  Analyse  der 
naturwissenschaftlichen  Theorien  sehen  wir  den 
eigentlichen,  letzten  Sinn  des  Positivismus,  welcher 
Tendenz  auch  wir  von  Herzen  zustimmen.  Der 
Empfindungspositivismus  ist  nur  eine  wenn  auch 
notwendige  und  bedeutsame,  so  doch  nur  eine 
historische  Etappe  auf  diesem  Wege.  Er  hat  die 
logische  Analyse  vorschnell  abgebrochen.  „Auf 
dem  Wege  zum  Dauernden"  ^)  wird  es  noch  viel 
mehr  vergleichendlogischer  Analyse  der  natur- 
wissenschaftlichen Theorienbildung  bedürfen.  End- 
gültig wird  die  Analyse  ebensowenig  jemals  ab- 
geschlossen sein  wie  die  Entwicklung  der  Natur- 
wissenschaften selbst,  deren  Echo  sie  ja  nur  in 
der  Logik  ist. 


')  „Logos".  Bd.  I,  H.  3,  1911.  „Philosophie  als  strenge 
Wissenschaft". 

'-)  Untertitel  des  2.  Bandes  von  Petzoldts  „Einführung 
in  die  Philosophie  der  reinen  Erfahrung".     Leipzig   1904. 


Einzelberichte. 


Zuui  Detei'ininatiouspi'obleni. 

Neue  Beiträge  zum  Determinationsproblem  *) 
bringt  eine  Arbeit  von  Hans  Spemann  und 
Hermann  Falkenberg,-)  welch  letzterer 
schon  1916  auf  dem  Felde  der  Ehre  sein  Leben 
ließ.  Es  handelt  sich  um  Versuche  an  Triton- 
larven, welche  Tiere  Spemann  ja  schon  früher 
zu  Betrachtungen  über  das  Determinationsproblem, 
die  Frage,  unter  welchen  Bedingungen  und  von 
wann  ab  die  Entwicklung  der  Teile  des  Eies 
determiniert  sei,  verwendet  hatte.  Tritonkeime, 
auf  dem  Blastula-  oder  früherem  Stadium  oder 
zu  Beginn  der  Gastrulation  median  durchtrennt, 
ergeben  stets  gleichgeschlechtliche  Zwillinge  oft 
asymmetrischen  Baues,  nämlich  mit  stark  verküm- 
merter ursprünglicher  Innenseite.  Bei  verschiedener 
Größe  der  zusammengehörigen  Zwillinge  infolge 
ungleicher  Größe  der  Teilstücke  ist  der  kleinere 
Zwilling  gegen  den  größeren  in  der  Entwicklung 
zurück  und  holt  den  Vorsprung  im  Laufe  des 
Wachstums  nicht  ein,  sondern  der  Abstand  ver- 
größert sich  noch.  Dies  muß  also  auf  einer 
dauernden  Benachteiligung  des  kleineren  Zwillings 


')  Vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1918,  S.  677. 

'')  H.  Spemann  und  H.  Falkenberg,  Über  asymme- 
trische Entwicklung  und  Situs  inversus  viscerum  bei  Zwillingen 
und  Doppelbildungen.  Archiv  für  Entwicklungsmechanik 
Bd.  XLV,  Heft  3,  1919,  S.  371—422,  3  Taf. 


beruhen,  die  irgendwie  mit  seiner  geringen  Größe 
zusammenhängt.  Dasselbe  ist  an  den  kleineren 
Beinchen  der  inneren  Seite  gegenüber  den  größeren 
der  Außenseite  zu  beobachten  und  ist  hier  wohl 
ebenso  zu  erklären.  Der  Kopf  der  Larven  erreicht 
einen  viel  höheren  Grad  von  Symmetrie  als  Rumpf 
und  Schwanz,  was  der  schon  von  Roux  gemach- 
ten, von  anderen,  wie  Spemann,  bestätigten 
Beobachtung  entspricht,  daß  die  Ergänzung  der 
fehlenden  Seite  vorn  einsetzt  und  nach  hinten 
fortschreitet.  Die  beachtenswerteste  unter  Spe- 
manns  neuen  F"eststellungen  ist  aber  wohl  die 
folgende :  bei  solchen  Zwillingen  oder  bei  Doppel- 
bildungen, wie  sie  durch  bloße  Einschnürung  des 
Eies  erzielt  werden,  hat  in  der  Regel  das  linke 
Wesen  normale  Lage  von  Herz  und  Darm,  das 
rechte  dagegen  nicht  selten  einen  typischen  Situs 
invertus  viscerum,  also  Vertauschung  von 
Rechts  und  Links  an  diesen  Eingeweiden.  Dies 
beweist ,  führt  Spemann  aus ,  daß  die  nor- 
male Asymmetrie  des  Eingeweidebaues 
schon  sehr  früh  in  der  Keimesgeschichte 
veranlaßt  ist,  „sie  muß  selbst  im  befruchteten 
Ei  schon  vorhanden  sein"  und  wohl  gleichzeitig 
mit  der  allgemeinen  bilateralen  Symmetrie  im 
Augenblick  der  Befruchtung  (Befruchtungsmeridian 
=  Medianebene  beim  Froschei)  entstehen  oder 
festgelegt  werden,  „und  zwar  infolge  einer  Pola- 
rität  und   Asymmetrie    des   Spermatozoons    oder 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


einer  bilateral  -  asymmetrischen  Mikrostruktur  des 
Eiplasmas  um  die  Eiachse  herum".  Die  Inversion 
des  Situs  könnte  dann  in  den  oben  erwähnten 
Fällen  auf  eine  durch  den  künstUchen  Eingriff 
hervorgerufene  Inversion  einer  Mikrostruktur  zurück- 
gehen. V.  Franz,  Jena. 

Das  Muttergestein  des  Serpentins  im  sächsi- 
schen Granulitgebirge. 

Zu  der  Frage,  aus  welchen  Gesteinen  die 
Serpentine  im  sächsischen  Granulitgebirge  ent- 
standen sind,  nimmt  W.  Bergt  im  Zentralbl.  f. 
Mineralogie  usw.,  1920,  Heft  23/24,  S.  422—429, 
Stellung.  Bei  seinen  eingehenden  Untersuchungen 
der  zahlreichen  Serpentinvorkommen  im  sächsi- 
schen Granulitgebirge  kam  E.  Dathe  1876  zu 
dem  Ergebnis,  daß  die  Granatserpentine  aus  einem 
Granatolivingestein,  die  Bronzitserpentine  aus 
einem  Bronzitolivingestein  hervorgegangen  sind. 
Diese  Angaben  Dath es  liegen  den  Darstellungen 
der  betreffenden  Serpentine  in  den  Erläuterungen 
zu  den  entsprechenden  Blättern  der  I.  Aufl.  der 
geologischen  Spezialkarte  Sachsens  zugrunde.  In 
den  gleichen  Erläuterungen  der  II.  Aufl.  dieser 
Karte  ist  dagegen  der  Olivin  als  Gemengteil  der 
Serpentine  gänzlich  verschwunden,  es  heißt  viel- 
mehr: „Sämtliche  Serpentine  des  Granulitgebirges 
sind  aus  der  Umwandlung  von  Pyroxengesteinen 
hervorgegangen.  Als  Muttergesteine  des  Granat- 
serpentins ist  ein  neben  Augit  und  Enstatit  noch 
Granat  in  wechselnder  Menge  führender  Pyroxen- 
fels  nachgewiesen  . .  .,  wogegen  das  Urgestein  des 
granatfreien  Bronzitserpentins  vorwiegend  aus 
Enstatit  und  Bronzit  bestand."  Auf  Grund  er- 
neuter Dünnschliffuntersuchungen  kommt  der  Verf. 
zu  folgendem  Ergebnis :  die  Darstellung  der  II.  Aufl. 
der  genannten  Erläuterungen,  wonach  i.  die  Ser- 
pentine des  sächsischen  Granulitgebirges  nicht 
aus  Olivin-,  sondern  aus  Pyroxengesteinen  hervor- 
gegangen, 2.  die  hier  und  da  angetroffenen  Pyroxen- 
felse  die  Reste  des  (olivinfreien  oder  äußerst  olivin- 
armen)  Muttergesteines  dieser  Serpentine  sein 
sollen,  muß  in  beiden  Punkten  als  falsch  bezeichnet 
werden.  Denn  i.  enthalten  die  Serpentine  neben 
Diopsid  reichlich  Reste  von  Olivin,  und  die  vor- 
handene Serpentinsubstanz  ist  zum  allergrößten 
Teil  aus  Olivin,  nicht  aus  Pyroxen  entstanden, 
und  2.  sind  die  Pyroxenfelsvorkommen  in  unserem 
Gebiet  keineswegs  Reste  des  Serpentinmutter- 
gesteins. Sie  liefern  im  Gegenteil  einen  ausge- 
zeichneten Beweis  dafür,  daß  Pyroxen  auch  hier 
weit  seltener  und  schwerer  der  Serpentinisierung 
anheimfallt  als  der  Olivin. 

Von  den  untersuchten  Schliffen  war  besonders 
einer  bemerkenswert,  der  von  einem  Serpentin 
von  Chursdorf  (Blatt  Penig-Burgstädt)  stammte. 
Auf  der  27  mm  langen  Diagonale  des  Schliffes 
zeigen  sich  12  Serpentin-  und  12  Pyroxenlagen, 
also  24  in  der  Mineralzusammensetzung  verschiedene, 
abwechselnde  Lagen  oder  Bänder.  Die  Serpen- 
tinlagen enthalten  reichlich  Olivinreste  in  kleinen 


isolierten  Körnern,  zeigen  Maschenstruktur  und 
reichliche  Ausscheidung  von  Erz.  Der  Zusam- 
menhang des  ursprünglichen  Olivinkörneraggre- 
gates  ist  durch  die  Serpentinisierung  vollständig 
aufgelöst.  Im  Gegensatz  dazu  haben  die  Pyro- 
xenlagen ihren  Zusammenhang  vollkommen  be- 
wahrt. Die  Serpentinisierung  dringt  hier  und  da 
leicht  in  sie  hinein,  hat  aber  gegen  den  Pyroxen 
nicht  viel  auszurichten  vermocht.  Die  Verhält- 
nisse führen  sehr  anschaulich  vor  Augen,  wie 
leicht  der  Olivin,  wie  schwer  dagegen  der  Pyroxen 
der  Serpentinisierung  verfällt.  Ferner  wiederholen 
sie  im  kleinsten  Maßstab  die  Art,  wie  Olivinge- 
stein (Serpentin)  und  Pyroxenfels  häufig  auch  im 
großen  miteinander  verbunden  sind.  Auch  die 
größere  Widerstandsfähigkeit  des  Kelyphits,  den 
man  in  den  angeführten  Gesteinen  recht  häufig 
begegnet,  gegen  die  Serpentinisierung  springt 
überall  in  die  Augen. 

Auch  ein  Vergleich  der  Analysen  der  in  Frage 
kommenden  Gesteine  —  soweit  die  geringe  Zahl 
von  nur  zwei  Analysen  einen  Schluß  zuläßt  — 
im  Osannschen  Dreieck  weist  darauf  hin,  daß  in 
den  beiden  untersuchten  Gesteinen  Olivin  als 
Gemengteil  vorhanden  ist.  Nach  des  Verf.s  Über- 
zeugung sind  also  die  Pyroxenfelse  zu  Unrecht  in 
den  Verdacht  gekommen,  hier  das  Muttergestein 
der  Serpentine  zu  sein.  Sie  sind  nur  räumlich 
innigst  mit  dem  Serpentin  verknüpft  und  genetisch 
nur-  insofern,  als  beide,  Olivingestein  (Serpentin) 
und  Pyroxenfels,  verschiedene  Pole  der  Diffe- 
renzierung des  gleichen  Gabbro-Peridotitmagmas 
darstellen.  Diese  Pyroxenfelse  sind  keineswegs 
die  unveränderten  Reste"  des  Serpentinmutterge- 
steins, sondern  die  Vertreter  eines  ganz  anderen, 
mit  diesem  vergesellschafteten,  gegen  die  Serpen- 
tinisierung aber  viel  widerstandsfähigeren  Ge- 
steins. F.  H. 

Ausbildung  der  nieuschlicheu  Gliedmaßen. 

Eine  Ableitung  der  den  Menschen  auszeichnen- 
den Körperbildungen  von  den  entsprechenden 
Bildungen  seiner  nächsten  Verwandten  im  zoolo- 
gischen System,  den  Anthropoiden,  ist  nicht  mög- 
lich. Zeugnisse  der  Stammes-  und  Individual- 
geschichte weisen  vielmehr  dahin,  daß  der  Mensch 
und  die  Anthropoiden  zwar  auf  eine  gemeinsame 
Ahnenform  zurückgehen,  sich  aber  nach  verschie- 
denen Richtungen  hin  weiter  entwickelten.  Für 
diese  Auffassung  trat  namentlich  Hermann 
Klaatsch  stets  eifrig  ein  und  in  seinem  nach- 
gelassenen Werk  über  den  Werdegang  der  Mensch- 
heit und  ihrer  Kultur  ^)  sind  die  Ergebnisse  seiner 
diesbezüglichen  Forschungen  zusammengefaßt. 

Einer  der  Grundgedanken  Klaatschs  ist, 
daß  der  Mensch  Körperbildungen  bewahrt  hat, 
wie  sie  bei  den  ursprünglichen  Säugetieren  ange- 
legt waren  und  von  denen  sich  die  heutigen  Ver- 


')  Klaatsch,  Der  Werdegang  der  Menschheit  und  die 
Entstehung  der  Kultur.  Berlin  1920,  Deutsches  Verlagshaus 
Bong  &  Co. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


371 


treter  dieser  Klasse   im  Laufe  jahrtausendelanger 
Entwicklung   mehr   oder  weniger   entfernt  haben. 
Die    im    System    dem    Menschen    am    nächsten 
stehenden  Tiere,  die  Anthropoiden,  weisen  Merk- 
male   der  Rückbildung   von  Vorfahrenformen  auf, 
die  menschenähnlicher  gewesen  sind.     Bei  jungen 
Anthropoiden    finden    sich    z.  B.  Kopfgrößen   und 
schöne    Scheitelwölbungen,    die    sich    nur    wenig 
vom  menschlichen  Zustand  entfernen.     Die  Vier- 
händigkeit,    die    auch    dem   Vormenschen    eigen 
war,   haben    alle    Affen   bewahrt,    aber   durch  die 
Rückbildung  des  Daumens  ist  ihre  Hand  zu  einem 
Kletterwerkzeug  geworden,  während  die  Menschen- 
hand ein  vielseitig  verwendbares  natürliches  Werk- 
zeug bildet,  ohne  das  es  nie  ein  künstliches  Werk- 
zeug   hätte   geben    können.      Durchaus  eigenartig 
menschlich  ist  der  Fuß,  der  in  der  Säugetierreihe 
nirgends  wieder  vorkommt.    Er  ist  wohl  auf  einen 
Urzustand   des   „Handfußes"    zurückzuführen,   wie 
ihn    der  Gorilla    noch    besitzt.      Die    Ahnen    des 
Menschen  müssen  Lebensbedingungen  unterworfen 
gewesen  sein,  welche  eine  Verstärkung  der  hinte- 
ren Gliedmaßen  und  eine  Umwandlung  des  Hand- 
fußes in  einen  Stützapparat  erforderten  (wogegen 
die  Umwelt   der  Anthropoiden  Verlängerung  der 
Arme    und  Verkürzung    der    Beine    begünstigte). 
Die    Meinung,    der    Menschenfuß    sei    erst    nach 
erfolgtem  Übergang  zur  aufrechten  Körperhaltung 
entstanden,  ist  nicht  zutrefifend.     Man    muß  einen 
mechanischen  Faktor  finden,   der   aus  dem  Greif- 
fuß den  Stützfuß    hat    hervorgehen    lassen.     Der 
weitestgehende  anatomische  Unterschied  zwischen 
beiden  liegt  in  der  großen  Zehe,  die  noch  bei  so 
manchen   farbigen   Rassen   in  ihrer  Stellung   und 
Beweglichkeit  an  die  Vorfahrenverhältnisse  erinnert. 
Das   Heranrücken    der    Großzehe   an    die  übrigen 
und     ihre    Verstärkung     erklärt    Klaatsch     als 
Folge  der  Anpassung  an  einen  Klettermechanismus, 
wie    er    gegenwärtig    noch    bei  Naturvölkern    be- 
obachtet   werden    kann,    beispielsweise    bei    den 
Australiern:   Ein    biegsamer  Zweig   wird  um  den 
Stamm  geworfen    und    immer   höher    und    höher 
hinaufgeschoben,     indem     der     Eingeborene     die 
Schlinge   mit   beiden  Händen   hält  und  die  Füße 
fest  gegen  den  Stamm  setzt.    Ein  solcher  Kletter- 
mechanismus  kam  für   die  Urmenschenafifen  oder 
Uraffenmenschen,  wie  wir  die  gemeinsamen  Ahnen 
dieser  Formen  nennen  können,  im  weitesten  Um- 
fange in  Betracht,  namentlich  beim  Wohnen  außer- 
halb der  Urwälder.  Die  Muskelmassen  der  Schulter, 
die  bei   solcher  Art   des    Ersteigens   von  Bäumen 
zum  Emporziehen  des  Rumpfes  dienen,  sind  beim 
Menschen  (im  Vergleich    mit   den    Anthropoiden) 
besonders  stark  entwickelt,  ebenso  die  zum  Nach- 
schieben   des    Körpers    dienenden    Muskeln    des 
Gesäßes.     Dieselben  Muskeln  aber   sind  es  auch, 
die   sich   für   die   Haltung  der  Wirbelsäule 
in  aufrechter  Stellung  am  besten  bewähren, 
sowie      für     die     Rückwärtsziehung      der 
Schultern,    wodurch    der  Kopf  seine  freie  Be- 
wegung   gewinnt.     So    hat    das   bezeichnete   Er- 
steigen   der  Bäume    die    eigenartige  Bildung    des 


Menschenfußes  und  die  aufrechte  Körperhaltung 
zugleich  begünstigt.  Die  Individuen,  bei  denen 
eine  der  menschlichen  ähnliche  Bildung  der  Groß- 
zehe und  eine  starke  Entwicklung  der  Schulter- 
und  Gesäßmuskeln  spontan  auftrat,  waren  im 
Vorteil  und  diese  Eigenschaften  mußten  sich  im 
Daseinskampfe  häufen  und  gesteigert  werden. 
Die  Fähigkeit  des  aufrechten  Ganges  zog  viele 
weitere  wichtige  Umbildungen  nach  sich. 

H.  Fehlinger. 

Die  Wandernngen  der  Secschwalben. 

Vogelberingungen  auf  Mellum,  dem  kleinen 
Werder  an  der  Wesermündung,  haben  nach  und 
nach  zu  einigen  beachtenswerten  Ergebnissen  ge- 
führt, über  die  H.  W  e  i  g  o  1  d  -  Helgoland  unter 
dem  Titel  „Im  Weltkrieg  von  der  Mellumplate 
nach  dem  Kapland"  berichtet.^)  Seit  1912  wurden 
die  Vögel  dort  durch  einen  Wärter  vor  Eierraub 
geschützt.  Schwere  Rückschläge  folgten  leider  im 
Kriege.  191 3  und  19 14  beringten  W  e  i  g  o  1  d  und 
ArnoMarx  1293  Jungvögel,  darunter  676  Brand- 
seeschwalben ,  618  Fluß-  und  möglicherweise 
Küstenseeschwalben,  27Zwergseeschwalben.  Nahe- 
zu 50  wurden  seither  zurückgemeldet,  weitere 
Meldungen  sind  leider  nicht  zu  erwarten,  da  die 
Aluminiumringe  inzwischen  sich  durchgescheuert 
haben,  während  die  Vögel  viel  älter  werden. 
Herangewachsen,  tummeln  sich  die  Vögel  auf 
dem  Meer,  im  August  ziehen  die  Brandseeschwalben, 
Sterna  cantiaca,  südwärts,  und  zwar  in  I4tägiger 
Reise  nach  Portugal,  wo  einige  überwintern, 
während  andere  nach  Afrika  ziehen,  wo  im  Früh- 
jahr ein  einjähriger  Vogel  knapp  10  Monate  nach 
der  Beringung  am  Kap  Sierra  Leone  in  Westafrika 
erlegt  wurde.  Im  Mai  fand  sich  sogar  einer  dicht 
bei  Kapstadt  im  äußersten  Südafrika,  vier  Jahre 
und  elf  Monate  nach  der  Beringung,  und  einer, 
wiederum  einjährig,  elf  Monate  nach  der  Be- 
ringung, zwischen  Loanda  und  Benguela  in  Portu- 
giesisch Angola.")  Die  Rückwanderung  beginnt 
wohl  meist  schon  im  April,  so  daß  die  letztge- 
nannten Fälle  sich  auf  „Nachzügler",  wie  Verf. 
sagt,  beziehen.^)  Wohl  zu  %  suchen  sie  wieder 
die  Heimatkolonie  zum  Brüten  auf.  —  Von  der 
Flußseeschwalbe,  Sterna  fluviatilis,  liegen  Rück- 
meldungen bis  aus  Portugal  vor,  ähnlich  von 
Zwergseeschwalben,  Sterna  minuta,  bis  aus  Süd- 
spanien. V.  Franz  (Jena). 

Hydroperoxyd  als  Lösungsmittel  II.  *) 

R.    H  a  11  e  r  '')     ließ     30  proz.     Hydroperoxyd 
(Merck)  auf  die  verschiedensten  pflanzlichen  Ge- 


')  Ornithologische  Monatsschrift,  XLV.  Jahrgang,  De- 
zember 1920,  S.  225 — 241. 

-)  Ähnliche  Rückmeldungen  von  Seescbwalben,  wenn 
auch  nicht  gerade  aus  so  weit  südlichen  Gebieten  wie  Kap- 
stadt, haben  auch  bereits  die  Holländer  mit  ihren  Beringungen 
zu  verzeichnen. 

^)  Es  ist  aus  den  Angaben  nicht  ersichtlich,  daß  alle 
Vögel  zum  Brüten   zurückwandern. 

■*)  Vgl.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  XIX,  S.  538,   1920. 

*)  TextU-Forschung  2,  S.  79,  1920. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


spinstfasern  wirken.  Er  erhielt  den  gleichen  Be- 
fund wie  in  der  ersten  Mitteilung  hierzu  angegeben 
wurde:  nach  einiger  Zeit  werden  die  meisten 
Fasern  zunächst  desorganisiert.  Je  nach  ihrer 
chemischen  Natur  zerfallen  sie  in  Bruchstücke  ver- 
schiedenster Art,  um  schließlich  unter  Bildung 
von  Glukose  in  Lösung  zu  gehen.  Als  Zwischen- 
stufe dieses  Zerfalls  tritt  stets  Zelluloseper- 
oxyd auf,  das  die  charakteristischen  Färbungen 
mit  Kaliumjodid-Stärke  gibt.     Auf  die  Geschwin- 


digkeit des  Zerfalls  sind  manche  Baumwollfärbun- 
gen von  bemerkenswertem  Einfluß,  ohne  daß 
irgendwelche  Gesetzmäßigkeit  mitgeteilt  wird. 
Mit  Chromoxyd  gebeizte  Baumwolle  zerfallt  ver- 
hältnismäßig rasch,  Aluminiumoxyd  verzögert  den 
Vorgang.  Für  die  Praxis  glaubt  der  Verf.  schließen 
zu  dürfen,  daß  Imprägnation  der  Wäsche  mit 
Aluminiumoxyd  die  Faser  vor  dem  Angriff  per- 
oxydhaltiger  Waschmittel  schützen  werde. 

H.  H. 


Bücherbesprechungen. 


Ziehen,  Th.,  Lehrbuch  der  Logik  auf  posi- 
tivistischer Grundlage  mit  Berück- 
sichtigung der  Geschichte  der  Logik. 
VIII  und  866  Seiten.  Bonn  1920.  47,50  M. 
Die  Logik  des  hervorragenden  Vertreters  der 
Philosophie  an  der  Universität  Halle  erhält  auch 
für  den  Leser,  welcher  auf  einem  anderen  philo- 
sophischen Standpunkt  als  der  Verf.  steht,  da- 
durch ein  besonderes  Interesse,  daß  der  Unter- 
suchung der  logischen  Probleme  und  der  Dar- 
stellung der  formalen  Logik  im  ersten  Hauptteil 
(S.  17 — 240)  eine  bis  auf  die  Gegenwart  fortge- 
führte Geschichte  der  Logik  vorausgeschickt  ist. 
Auch  die  Logiken  von  Rabus  und  Ueberweg 
geben  kurze  Übersichten  derselben,  doch  um- 
fassen diese  nicht  mehr  den  Zeitraum  der  letzten 
50  Jahre.  Die  große  Geschichte  der  Logik  von 
Prantl  reicht  aber  überhaupt  nur  bis  zur  Zeit 
der  Reformation.  In  dem  der  Geschichte  der 
Logik  folgenden  zweiten  Hauptteil  (S.  241 — 414) 
behandelt  Ziehen  die  erkenntnistheoretische, 
psychologische,  sprachliche  und  mathematische 
Grundlegung  der  Logik.  Von  Wichtigkeit  ist 
nach  Ziehen  vor  allem  die  erkenntnistheoretische 
und  psychologische  Grundlegung. 

Wenn  die  Lehren  der  formalen  Logik  „auch 
unabhängig  von  diesem  oder  jenem  erkenntnis- 
theoretischen Standpunkt  als  solche  zu  recht 
bestehen",  so  hat  der  Logiker  doch  „das  Recht 
und  die  Pflicht"  eine  erkenntnistheoretische  Grund- 
legung der  Logik  zu  versuchen,  dabei  muß  er 
sich  freilich  immer  dessen  bewußt  bleiben,  „daß 
jede  solche  Grundlegung  hypothetisch  ist".  Wenn 
er  einer  bestimmten  den  Vorzug  gibt,  so  kann 
das  nur  „unter  allen  Vorbehalten  und  ohne 
Bindung"  geschehen. 

Der  von  Ziehen  gewählte  Standpunkt  ist 
der  des  positivistischen  Binomismus. 
Der  Positivismus  läßt  ausschließlich  das  „Ge- 
gebene" gelten.  Gegeben  sind  nach  ihm  nur  die 
Empfindungen,  die  Erinnerungsbilder  und  die  Vor- 
stellungen. Dazu  kommen  noch  die  „hypothe- 
tischen Dinge  an  sich"  oder  die  „Reduktionsbe- 
standteile" nach  der  Bezeichnungsweise  Ziehens. 
Aus  der  Analyse  des  Gegebenen  resultieren  nach 
Ziehen  (S.  250)  zwei  Hauptarten  gesetzlicher 
Beziehungen   —  daher   die  Beziehung   seines   be- 


sonderen    Standpunktes    als     „Binomismus"    — : 

1.  Die  Kausalgesetze,  die  mit  den  sog.  Naturge- 
setzen zusammenfallen  —  ihre  Untersuchung  ist 
die    Aufgabe     der    Naturwissenschaften    —    und 

2.  die  sog.  „Parallelgesetze".  Letztere  „beziehen 
sich  im  einfachsten  Falle  z.  B.  auf  die  Zuordnung 
einer  bestimmten  Sinnesqualität  zu  einer  be- 
stimmten Hirnrindenerregung,  die  ihrerseits  von 
einem  bestimmten  z.  B.  optischen  Reiz  abhängt 
(Gesetz  der  spezifischen  Sinnesenergien)".  All- 
gemein begreifen  die  „Parallelgesetze",  die  sich 
im  Gegensatz  zu  den  Kausalgesetzen  auf  nach 
unserer  Beobachtung  „weglose  und  instantane" 
Wirkungen  beziehen,  i.  die  gesetzliche  Zuordnung 
der  Empfindungen  zu  den  Hirnrindenerregungen 
(den  „Reduktionsbestandteilen"),  ferner  2.  die  ge- 
setzliche Zuordnung  der  Erinnerungsbilder  zu  den 
Empfindungen  und  rückwärts  zu  den  Hirnrinden- 
erregungen, 3.  die  gesetzliche  Zuordnung  der  Vor- 
stellungen zu  den  Erinnerungsbildern  und  rück- 
wärts zu  den  Empfindungen  bzw.  den  Hirnrinden- 
erregungen und  endlich  4.  die  gesetzliche  Zu- 
ordnung der  verschiedenen  Vorstellungen  zuein- 
ander. Die  Untersuchung  dieser  parallel-gesetz- 
hchen  Beziehungen   ist  Aufgabe   der  Psychologie. 

Ziehen  will,  wie  es  der  Neopositivismus 
überhaupt  tut,  den  Gegensatz  von  Materie  und 
Psyche  eliminieren.  Wenn  er  daher  die  Worte 
materiell  und  psychisch  noch  gebraucht,  so  ge- 
schieht dies  nur  aus  Bequemlichkeitsrücksichten 
und  verwendet  er  sie  dabei  nicht  in  der  gewöhn- 
lichen Bedeutung.  „Psychisch"  bezeichnet  bei  ihm 
„nicht  ein  besonderes  psychisches  Etwas";  viel- 
mehr nennt  er  ebendasselbe  Gegebene,  das 
er,  wenn  es  in  bezug  auf  seine  kausalgesetzlichen 
Beziehungen  betrachtet  wird,  als  „materiell"  be- 
zeichnet, „psychisch",  wenn  er  es  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Parallelgesetze  untersucht. 

Innerhalb  der  psychischen  Prozesse,  welche 
Untersuchungsgegenstand  der  Psychologie  sind, 
verlaufen  die  Denkprozesse  nach  besonderen 
Parallelgesetzen.  Sie  sind  das  Objekt  der  Logik. 
Insofern  die  Logik  psychische  Prozesse  behandelt, 
hat  sie  Beziehungen  zur  Psychologie.  „Sie  kann 
ihre  Arbeit  nicht  beginnen,  ohne  wissenschaftlich 
untersuchtes  und  geordnetes  psychologisches 
Material"  zugrunde  zu  legen.    Ziehen  stellt  das- 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


373 


selbe    sehr   ausführlich    S.    316—402    zusammen. 
Doch  die  Logik  geht  über  die  Psychologie  hinaus. 
Letztere    untersucht   nur   den  tatsächlichen,   stets 
wechselnden  Verlauf  des  psychischen  Geschehens 
ohne    Rücksicht    auf   Richtigkeit    und    Falschheit 
des  Denkergebnisses    und   ohne  Bewertung    des- 
selben;  ebensowenig  „zieht  sie  praktische  Folgen 
(praktische  Denkregeln)  aus  ihren  Untersuchungs- 
ergebnissen".     Die   Logik    stellt   dagegen   unver- 
änderlich  gedachte  Normalvorstellungen  (Begriffe, 
Urteile)  au^  sie  untersucht  das  Denken  ausschließ- 
lich mit  Bezug  auf  seine  Richtigkeit  und  Falsch- 
heit,   soweit    dieselbe    von   den    formalen   Denk- 
akten abhängt,   sie  macht    einen  Wertunterschied 
zwischen  Richtigkeit  und  Falschheit,  sie  gibt  end- 
lich   auf  Grund    ihrer  Untersuchungen    praktische 
Denkregeln   im  Sinne   von  Normen.     Diese    vier 
Momente  verleihen  der  Logik  nach  Ziehen  trotz 
ihrer    psychologischen    Grundlage    eine    Sonder- 
stellung gegenüber  der  Psychologie.    Nach  Kant 
abstrahiert  die  reine  Logik  von  allen  empirischen 
Bedingungen.     Sie   hat   es   „mit  lauter  Prinzipien 
a  priori  t\x  tun".  Die  neueren Logizisten  (Husserl) 
wollen     die    Kantsche    Auffassung     der     Logik 
streng  durchführen.    Ziehen  lehnt  die  logizistische 
„reine"  Logik  ab.     Rein  ist  sie  nach  ihm  nur  in- 
sofern,  als  sie  die  zufälligen  psychologischen  Be- 
dingungen nachträglich  eUminiert  und  Normalvor- 
stellungen konstruiert.     Aber  ebenso  lehnt  er  die 
psychologistische  Richtung  der  Logik  ab,  die  mit 
dem  psychologisch  gegebenen  Denken  ohne  Kon- 
struktion von  Normalvorstellungen  auskommen  will. 
Da    so    die    Logik    nach  Ziehen    nicht    die 
Lehre   von   dem  Denken  schlechthin  ist  —  danh 
wäre    sie  nur   ein  Abschnitt  der  Psychologie  — ; 
sie  das  Denken  vielmehr    nach    einer  ganz  spezi- 
fischen Richtung   untersucht,   muß    ihr    noch  eine 
besondere  Grundlegung    gegeben  werden,    in    der 
allgemein    dargelegt    wird,    wie    sie    imstande    ist, 
die    ihr   gestellte  spezifische  Aufgabe   zu   erfüllen. 
Es   geschieht    dies  in    der   „autochthonen  Grund- 
legung" Ziehens  im  3.  Hauptteil  (S.  417 — 451). 
Der   4.  Hauptteil    endlich    behandelt   die    formale 
Logik  (S.  459 — 829).    Ziehen  teilt  sie  ein  in  die 
Lehre  von  den  Bagrififen  (S.  4^9 — 599),  die  Lehre 
von    den  Urteilen    (S.  600 — 709),    die  Lehre    von 
den  Schlüssen  (S.  710 — 796),   die  Lehre   von  den 
Beweisen  (S.  797 — 817)   und   die  Lehre   von  den 
Wissenschaften  (S.  818—829).     Er  steht  insofern 
im    Gegensatz    zu    der    neueren ,    von    Windel- 
band   u.    a.    vertretenen    Richtung,    welche    die 
Logik  eigentlich   nur   noch  als  Urteilslehre  ange- 
sehen wissen  will,   da  der  Begriff  im  Grunde  ge- 
nommen   nichts    ist    als    das    Resultat   oder    der 
Niederschlag  synthetischer  Urteile  und  der  Schluß 
nichts    als    die    Begründung    eines    Urteils    durch 
andere    schon    geltende    Urteile.      Ebenso    steht 
Ziehen  aber   auch  im  Gegensatz  zur  Einteilung 
der  älteren  Logik,  indem  bei  ihm  Schluß,  Beweis 
und    Wissenschaft    als     selbständig     koordinierte 
Glieder  neben  Begriff  und  Urteil  auftreten.     Eine 
noch  stärkere  Abweichung  von  der  jetzt  üblichen 


Einteilung  der  Logik  ist  dadurch  gegeben,  daß 
bei  Ziehen  die  Trennung  von  reiner  und  ange- 
wandter Logik  fehlt.  Die  angewandte  Logik  (die 
Methodenlehre)  untersucht  das  logische  Denken 
unter  den  besonderen  Bedingungen  der  einzelnen 
Wissenschaften.  Ziehen  stellt  die  wichtigsten 
Tatsachen  der  angewandten  Logik  nicht,  wie  es 
Wundt  u.  a.  getan  haben  in  einem  besonderen 
Teil  der  Logik,  neben  der  Methodenlehre  zu- 
sammen, sondern  fügt  sie  in  die  entsprechenden 
Kapitel  der  reinen  Logik  ein. 

Die  Logik  Ziehens   bildet   in   der  Form,   in 
welcher  er  sie  dargestellt  hat,  einen  integrierenden 
Teil  seines   ganzen  philosophischen  Systems,    des 
positivistischen  Binomismus.   Infolgedessen  war  er 
genötigt,   auf  die   logischen   Probleme   zum  Teil 
tiefer   einzugehen,   als    es   im  Interesse   der  Leser 
liegt,   welche   die   Logik   nur  zur  Hand   nehmen, 
um  sich  über  die  Technik  der  formalen  Logik  zu 
unterrichten.      Dagegen    wird    der   Naturforscher, 
welcher  auf  positivistischem  Standpunkt  steht,  bei 
Ziehen    das   finden ,    was    ihm   andere   Logiken 
nicht  bieten  können.     Die  Begründer   sowohl  des 
älteren  Positivismus  (Comte),  wie  des  Neo-Posi- 
tivismus (Avenarius,  Mach)  sind  der  Wissen- 
schaft   eine    Logik    von    ihrem    Standpunkte    aus 
schuldig  geblieben.     Schuppe   hat  diese  Lücke 
wohl  ausgefüllt;   doch   hält   er   einerseits  an  dem 
positivistischen     Standpunkt     nicht     streng     fest, 
andererseits    ist    es  ihm  auch  nicht  gelungen,   die 
großen  Schwierigkeiten,  welche  dem  Positivismus 
gerade  auf  logischen  Gebiete  begegnen,  zu  heben. 
Sie  kommen  bei  dem  positivistischen  Bionomismus 
Ziehens  zum  Teil  in  Wegfall.    Zur  Empfehlung 
dient  der  Ziehenschen  Logik  außerdem,  daß  die 
Darstellung    selbst    bei   der    tiefer  gehenden   Be- 
handlung der  logischen  Probleme  klar  und  faßlich 
bleibt.      Die    Aufstellungen    werden    stets    durch 
Beispiele  erläutert;    die  wichtigeren  Probleme  da- 
durch  in  ein  helleres  Licht  gesetzt,    daß   die  Be- 
handlung, welche  sie  im  Laufe  der  geschichtlichen 
Entwicklung  von  den  verschiedenen  philosophischen 
Richtungen  erfahren  haben,  eingehend  dargestellt 
ist.     Ein  Rest  ungelöster  Schwierigkeiten    bleibt 
freilich  auch   für   den  binomistischen  Positivismus 
Ziehens  bestehen.    Auf  eine  Kritik  der  Stellung, 
welche   er  zu  den  einzelnen  logischen  Problemen 
einnimmt,    wie    auf    das    philosophische    System 
selbst  kann  jedoch    hier    nicht    eingegangen  wer- 
den;   nur  das  möchte  ich  hervorheben,  daß  auch 
bei   ihm  der  Gegensatz  von  Materie    und  Psyche 
nicht,    wie    er    will,    ausgeschaltet,    sondern    nur 
zurückgeschoben   ist.      Bei   seiner  „parallelgesetz- 
lichen" Beziehung  der  Empfindung  zu  dem  „hypo- 
thetischen Ding  an  sich"  taucht  das  alte  Sphinx- 
rätsel wieder  auf.  Kranichfeld. 

Laue,  M.  v.,  Prof.  f.  theoret.  Physik  an  der  Uni- 
versität Berlin ,  Die  Relativitätstheorie. 
I.  Bd. :  Das  Relativitätsprinzip  der  Lorentztrans- 
formationen.  4.  verm.  Aufl.  Braunschweig 
192 1,  Fr.  Vieweg  u.  Sohn. 


374 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


Schlesinger,  Ludwig,    ord.  Prof.   d.   Mathematik 
a.  d.  Universität  Gießen,    Raum,   Zeit    und 
Relativitätstheorie.     Leipzig-Berlin  1920, 
B.  G.  Teubner. 
Engelhardt,   Dr.  Victor,   Dozent   an   der  Hum- 
boldt-Hochschule,  Einführung   in  die  Re- 
lativitätstheorie.      Charlottenburg     1920, 
Volkshochschulverlag. 
Lämmel,   Rudolf,   Wege  zur  Relativitäts- 
theorie.    4.    Aufl.     Stuttgart  1921 ,   Kosmos, 
Ges.   d.   Naturfreunde   (Franckhsche  Buchhand- 
lung). 
Einstein,  Albert,   Äther   und  Relativitäts- 
theorie.    Rede  gehalten  am    5.  Mai  1920  an 
der  Reichsuniversität    zu    Leiden.     Berlin   1920, 
Jul.  Springer. 
Ripke-Kühn,  Dr.  phil.  Leonore,   Kant  contra 
Einstein.    Erfurt  1920,  Keysersche  Buchhand- 
lung.    (Beiträge  zur  Philosophie   des  deutschen 
Idealismus,  Heft  7.) 
Isenkrahe,  Prof.  Dr.  C,  Zur  Elementarana- 
lyse   der    Relativitätstheorie.       Braun- 
schweig 192 1,  Fr.  Vieweg  u.  Sohn.     Sammlung 
Vieweg,  Heft  51. 
Mach,  Dr.  Ernst,   weil.   o.   Prof.  der  Universität 
Wien.     8.  Aufl.     Mit  einem  Anhang  „Das  Ver- 
hältnis der  Machschen  Gedankenwelt  zur  Rela- 
tivitätstheorie" von  Joseph  Petzold.   Leipzig 
192 1,  F.  A.  Brockhaus. 
Gei^ler,     Fr.     J.     Kurt,      Gemeinverständliche 
Widerlegung  des  formalen  Relativis- 
mus (von  Einstein  und  verwandten)  und  zu- 
sammenhängende   Darstellung    einer    grund- 
wissenschaftlichen Relativität.     76  S. 
Leipzig   192 1,  Otto  Hillmann. 
Die  Relativitätstheorie  Einsteins  steht  nach 
wie  vor  im   Mittelpunkt  der  Erörterung,    und    so 
erklärt    es   sich,    daß    für   die   grundlegende  Dar- 
stellung,   die    V.  Laue    im    Jahre    191 1    heraus- 
gegeben hat,  nunmehr  bereits  eine  vierte  Auflage 
erforderlich  geworden   ist.     Daß  das  Werk  seiner 
Aufgabe,   eine  Zusammenstellung   der  wichtigsten 
Untersuchungen   über  das  Thema   zu  geben,   im 
vollen  Maße  gerecht  wird,  ist  allgemein  anerkannt. 
Da   es  somit  zweifellos   eine   der  besten  wissen- 
schaftlichen Darstellungen   der  Relativitätstheorie 
darstellt,  mag  es  hier  zum  Ausgangspunkt  einiger 
kritischer   Betrachtungen    gewählt    werden.      Die 
Form,  die  v.  L  a  u  e  dem  Relativitätsprinzip  (S.  48) 
gegeben  hat,  lautet: 

„Man  kann  aus  der  Gesamtheit  der  Natur- 
erscheinungen durch  immer  weiter  gesteigerte 
Annäherung  immer  genauer  ein  Bezugssystem 
X,  y,  z,  t  bestimmen,  in  welchem  die  Naturgesetze 
in  bestimmten,  mathematisch  einfachen  Formen 
gelten.  Dies  Bezugssystem  ist  aber  durch  die 
Erscheinungen  keineswegs  eindeutig  festgelegt. 
Vielmehr  gibt  es  eine  dreifach  unendliche  Mannig- 
faltigkeit gleichberechtigter  Systeme,  welche  sich 
gegeneinander  mit  gleichförmigen  Geschwindig- 
keiten bewegen." 

Gegen  diese  sehr  abstrakte  Formulierung  lassen 


sich  die  folgenden  Bedenken  des  gesunden  Men- 
schenverstandes geltend  machen.  Eine  gleich- 
förmige Bewegung  durch  den  Raum  kann  nur 
dann  ohne  Einfluß  auf  den  Ablauf  der  Erschei- 
nungen sein,  wenn  der  Raum  selbst  keinerlei 
substantielle  physikalische  Eigenschaften  besitzt; 
nun  ist  aber  der  größte  Teil  der  Physik,  nämlich 
die  ganze  Physik  des  Äthers,  auf  der  Idee  auf- 
gebaut, der  leere  Raum  besitze  solche  substan- 
tiellen Eigenschaften.  Es  gibt  drei  Möglichkeiten 
für  eine  Physik  des  Raumes.  Die  Äthersubstanz 
kann  sich  erstens  in  absoluter  Ruhe  befinden  — 
das  ist  die  Auffassung  von  Lorentz.  Sie  wider- 
spricht eigentlich  jeder  vernünftigen  Vorstellung 
und  den  älteren  Anschauungen.  Der  Äther  könnte 
sich  zweitens  aber  auch  selbst  in  Bewegung  be- 
finden und  die  Loren tzsche  Theorie  braucht 
dann  nur  in  erster  Annäherung  zu  gelten.  Das 
ist  offensichtlich  von  vornherein  das  wahrschein- 
lichste und  entspricht  der  berühmten  Ätherwirbel- 
theorie Lord  Kelvins  (dargestellt  u.a.  in  Lodge, 
Der  Wehäther,  Braunschweig  1911).  Drittens 
kann  man  noch  annehmen,  der  Äther  existiere 
überhaupt  nicht,  wie  es  Einsteins  ursprüngliche 
Idee  gewesen  ist  und  wie  sie  auch  in  dem  vor- 
liegenden Buche  V.  Laues  noch  vertreten  wird. 
Es  muß  nun  hervorgehoben  werden,  daß  bei  der 
Annahme  eines  bewegten  Äthers  der  Fall  ein- 
treten kann,  daß  der  Einfluß  des  Äthers  auf  die 
bewegten  Körper  sich  infolge  gegenläufiger,  wir- 
belnder Bewegungen  gerade  heraushebt.  Für 
diesen  Spezialfall  stimmen  die  Ergebnisse  der 
Ätherphysik  dann  natürlich  mit  dem  angeführten 
Relativitätsprinzip  überein.  Der  Fall  hat  insofern 
eine  allgemeinere  Bedeutung,  als  nach  der  Äther- 
wirbeltheorie ja  auch  die  Materie  nichts  als  ein 
Bewegungszustand  des  Äthers  ist,  eine  gewisse 
Harmonie  also  stets  vorhanden  sein  muß.  Die 
Relativitätstheorie  leitet  also  von  dem  unhaltbaren 
Standpunkt  von  Lorentz  wieder  zur  alten  Äther- 
wirbeltheorie zurück,  und  borgt  dabei  ihr  Licht 
von  der  Ätherphysik,  wie  der  Mond  das  seinige 
von  der  Sonne. 

Diese  Auffassung  erklärt  ohne  weiteres,  wie 
die  Relativitätstheorie  in  manchen  Fällen  große 
Erfolge  haben  konnte,  im  allgemeinen  aber  mit 
den  einfachsten  Grundlagen  der  Logik  in  Wider- 
spruch geraten  mußte.  Man  erkennt  dies  am 
besten  an  der  Deutung  des  Versuchs  von  Michel- 
son.  Dieser  hatte  ergeben,  daß  das  Licht  bei 
seiner  Ausbreitung  einen  Einfluß  der  absoluten 
Erdbewegung  nicht  erkennen  ließ.  Der  Äther 
oder  die  Kraftfelder,  die  die  Lichtausbreitung 
vermitteln,  nehmen  also  offenbar  an  der  Erd- 
bewegung teil.  Eine  entsprechende  Theorie  ist 
auch  von  Stokes  aufgestellt.  (Vgl.  die  3.  Aufl. 
von  D  r  u  d  e  s  Optik,  bearb.  von  G  e  h  r  c  k  e ,  Leip- 
zig 191 2;  ferner  die  Arbeiten  Silbersteins, 
Phys.  Berichte,  1920,  S.  1515)-  Die  oft  ausge- 
sprochene Behauptung,  diese  Theorie  vom  mitbe- 
wegten Äther  stehe  mit  anderen  Versuchen, 
namentlich    dem    von    Fizeau    im  Widerspruch, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


375 


entbehrt  der  Begründung.  Bei  der  Erdbewegung 
verschieben  sich  natürlich  ganz  andere  Kraftfelder, 
als  im  fließenden  Wasser.  Einstein  verallge- 
meinerte das  Ergebnis  des  Michelsonschen 
Versuches  nun  in  ungeheuerlicher  Weise,  indem 
er  behauptete,  die  Lichtgeschwindigkeit  sei  relativ 
zu  allen  beliebig  bewegten  Beobachtern 
konstant.  Dieses  sog.  „Prinzip  von  der  Konstanz 
der  Vakuumlichtgeschwindigkeit"  steht  natürlich 
mit  der  gewöhnlichen  Logik  im  Widerspruch, 
denn  ein  bestimmter  objektiver  Bewegungsvorgang, 
wie  das  Licht,  kann  nicht  ganz  verschiedenen 
Bewegungen  gegenüber  gleich  schnell  verlaufen. 
Einstein  hat  den  logischen  Widerspruch  bekannt- 
lich durch  seine  Lehre  von  der  Relativität  der 
Zeit  zu  überwinden  versucht.  Der  Schluß,  eine 
Erscheinung,  die  bei  der  Erdbewegung  auftritt, 
müsse  auch  bei  der  Bewegung  eines  jeden  Be- 
obachters auf  der  Erde  in  der  gleichen  Weise  ver- 
laufen, ist  aber  doch  wohl  eine  unberechtigte 
Verallgemeinerung.  Einstein  hätte  zum  minde- 
sten einen  Versuch  mit  auf  der  Erde  bewegten 
Beobachtern  angeben  müssen.  Auf  diese  große 
Lücke  macht  v.  Laue  m.  E.  nicht  genügend  auf- 
merksam und  hebt  auch  die  wirklich  mit  bewegten 
Beobachtern  angestellten  Versuche,  wie  denjenigen 
von  Sagnac  ihrer  grundsätzlichen  Bedeutung 
nach  nicht  genügend  hervor.  Dieser  Versuch 
hat  bekanntlich  für  den  Äther  entschieden,  be- 
zieht sich  jedoch  nur  auf  rotierende  Bewegungen 
und  wird    daher   nicht  für  entscheidend  gehalten. 

In  dem  Buche  v.  Laues  wird  die  Relativitäts- 
theorie Einsteins  noch  als  ein  neues  umfassen- 
des Weltprinzip  der  Äthervorstellung  gegenüber- 
gestellt. Dagegen  möchte  ich  die  Auffassung  ver- 
treten, daß  das  Prinzip  nur  gelten  kann,  wenn 
sich  der  Einfluß  des  Äthers  zufällig  heraushebt. 
Den  besten  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  An- 
schauung erblicke  ich  darin,  daß  Einstein  selbst 
in  seiner  allgemeinen  Relativitätstheorie  neuerdings 
mit  aller  Kraft  versucht,  den  Anschluß  an  die 
Äthertheorie  wieder  zu  finden.  Über  diesen 
Rückzug  Einsteins  habe  ich  bei  v.  Laue  noch 
nichts  gefunden. 

Die  drei  Bücher  von  Schlesinger,  Engel- 
hard t  und  Lämmel  stellen  Versuche  dar,  die 
Ideen  Einsteins  dem  gebildeten  Laien  verständ- 
lich zu  machen  und  werden  dieser  Aufgabe  auch 
in  durchaus  anerkennenswerter  Weise  gerecht. 
Leider  vermisse  ich  in  allen  drei  Darstellungen 
den  Hinweis  darauf,  daß  Einsteins  Deutung 
des  Michelsonschen  Versuchs  durchaus  nicht 
die  einzig  mögliche  ist  und  daß  seine  kühne  Ver- 
allgemeinerung des  Ergebnisses  auf  alle  bewegten 
Beobachter  jeder  experimentellen  Grundlage  ent- 
behrt. Den  Gegensatz  zwischen  dem  Äther  und 
der  Relativitätstheorie  betont  vor  allem  Lämmel; 
er  sagt  sogar :  „Ich  will  freilich  bemerken,  daß  ich 
nicht  begreifen  kann,  wie  es  kommt,  daß  so  viele 
gescheite  Leute  an  den  Äther  geglaubt  haben. 
Ich  habe  (vor  dem  Aufkommen  der  Relativitäts- 
theorie)  die  Existenz    des  Äthers   nie  „geglaubt". 


L  ä  m  m  e  1  bespricht  auch  die  Vorstellung  vom 
bewegten  Äther  und  meint,  daß  derselbe  an  ver- 
schiedenen Teilen  des  Planetensystems  ganz  ver- 
schiedene Bewegungen  haben  müsse.  „Wie  in 
einem  zwar  lautlosen,  aber  doch  wildbewegten 
iVleere  müßten  die  Weltströmungen,  den  tragen- 
den Sternen  folgend,  durcheinanderwirbeln."  Viel- 
leicht betrachtet  Lämmel  einmal  den  Fixstern- 
himmel mit  seinen  Spiralnebeln  1  Von  einer 
Ätherwirbeltheorie,  aus  der  Kepler  und  Des- 
cartes  einst  die  Planetenbewegungen  ableiteten, 
scheint  er  nie  etwas  gehört  zu  haben.  Merk- 
würdig ist  sein  Einwand:  „Geht  nun  ein  aus  dem 
weiten  Weltraum  kommender  Lichtstrahl  durch 
diesen  mit  bewegtem  Äther  erfüllten  Sonnenraum 
hindurch,  so  würde  er  einen  nach  wechselnder 
Richtung  von  einer  Geraden  abweichenden  Weg 
beschreiben."  Lämmel  vergißt,  daß  eine  solche 
Ablenkung  gerade  durch  Einstein  wirklich  ent- 
deckt worden  ist  —  wieder  ein  Beweis  dafür,  daß 
Einsteins  Theorie  zur  Ätherwirbeltheorie  zu- 
rückführt I 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  ist  Einsteins 
Rückkehr  zum  Äther  in  seinem  Leidener  Vortrag 
über  „Äther  und  Relativitätstheorie"  vom  größten 
Interesse.  Man  sieht  dabei  jedoch,  wie  Einstein 
an  der  Ätherwirbeltheorie  noch  vollständig  ver- 
ständnislos vorbeigeht.  Daß  die  Auffassung  des 
Äthers  als  eines  festelastischen  Körpers  sich  mit 
seinem  Flüssigkeitscharakter  zwanglos  in  Über- 
einstimmung bringen  läßt,  wenn  man  ihm  eine 
molekulare  Wirbelstruktur  zuschreibt,  erwähnt  er 
nicht  und  scheint  ihm  unbekannt  zu  sein.  Daß 
die  mechanische  Deutung  der  Max  well  sehen 
Gleichungen  sehr  schwerfällig  ausfiel,  ist  durch- 
aus kein  durchschlagender  Einwand  gegen  dieselbe. 
Die  Natur  macht  vor  mathematischen  Schwierig- 
keiten nicht  halt,  und  die  Eleganz  der  Grund- 
gleichungen ist  meist  nur  die  Folge  von  geschickt 
durchgeführten  Vernachlässigungen.  Wenn 
Einstein  nun  weiter  ausführt,  die  Theorie  von 
L  o  r  e  n  t  z  hätte  dem  Äther  als  einzige  mechanische 
Eigenschaft  die  Unbeweglichkeit  gelassen  und  die 
Relativitätstheorie  hätte  ihm  auch  diese  Eigen- 
schaft genommen,  so  sieht  man,  wie  Einstein 
die  naheliegende  Lösung  —  nämlich  dem  Äther 
die  ihm  von  Lorentz  unberechtigterweise  ge- 
nommene Beweglichkeit  wieder  zurückzugeben 
—  gar  nicht  beachtet.  Auf  die  seltsamen  theo- 
retischen Vorurteile  näher  einzugehen,  die  Ein- 
stein von  dem  natürlichen  Wege  ablenken,  ver- 
bietet leider  der  Raummangel.  Statt  den  Wider- 
spruch zwischen  Äther  und  Relativitätsprinzip 
einfach  auf  die  Überspannung  des  letzteren  zum 
unhaltbaren  Prinzip  von  der  Konstanz  der  Vakuum- 
lichtgeschwindigkeit zurückzuführen  und  seine 
Theorie  dementsprechend  einzuschränken,  läßt  er 
nach  alter  Methode  den  Widerspruch  ruhig  be- 
stehen und  sucht  ihn  durch  Dialektik  zu  über- 
winden. Er  behauptet,  es  ließen  sich  „ausge- 
dehnte physikalische  Gegenstände  denken,  auf  die 
der   Bewegungsbegrifif  keine    Anwendung    finden 


376 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  25 


kann.  Sic  dürfen  nicht  als  aus  Teilchen  bestehend 
gedacht  werden,  die  sich  einzeln  durch  die  Zeit 
hindurch  verfolgen  lassen.  Das  spezielle  Relativi- 
tätsprinzip verbietet  uns,  den  Äther  als  aus  zeit- 
lich verfolgbaren  Teilchen  bestehend  anzunehmen, 
aber  die  Ätherhypothese  an  sich  widerstreitet  der 
speziellen  Relativitätstheorie  nicht".  Es  fragt  sich 
nur  ob  das  Verbot  des  Relativitätsprinzips  oder 
das  des  substantiellen  Äthers  auf  die  Dauer  mehr 
Bedeutung  haben  wirdi 

Glücklicherweise  hat  nun  auch  die  „Denk- 
empörung" gegen  die  hemmungslosen  Abstraktionen 
und  Verallgemeinerungen  Einsteins  mit  Kraft 
eingesetzt.  Die  Arbeit  von  Frau  Dr.  Ripke- 
Kühn  führt  die  Kritik  vom  Standpunkt  der 
Kan tischen  Philosophie  aus  durch  und  kommt 
auch  hier  zu  dem  Ergebnis,  daß  Einstein  ur- 
sprünglich richtige  Ideen  in  vollständig  unzu- 
lässiger Weise  verallgemeinert  habe.  Es  ist  zu 
hoffen,  daß  nicht  nur  die  philosophischen,  sondern 
auch  die  physikalischen  Grundlagen  nunmehr 
einer  systematischen  Kritik  unterzogen  werden. 
Allerdings  hat  die  Abwehrbewegung  gegen  die 
Übertreibungen  Einsteins  gerade  bei  den 
Physikern  noch  nicht  die  nötige  Ausdehnung  ge- 
wonnen, weil  die  herrschende  Äthertheorie  von 
Lorentz  kosmischen  Problemen  gegenüber  ver- 
sagt und  man  sich  noch  nicht  überall  entschließen 
kann,    zur  Ätherwirbeltheorie    zurückzukehren.    — 

C.  Isenkrahe  will  die  Relativitätstheorie  in 
ihre  Letztbestandteile  zerlegen.  Zu  einem  solchen 
Werk  will  sein  Buch  allerdings  zunächst  nur  die 
Einleitung  liefern.  Es  behandelt  eine  Reihe 
unumgänglicher  Vorfragen  und  sucht  sie  sachlich 
zu  erörtern.  Als  Leitfaden  dient  Weyls  „Raum, 
Zeit,  IVIaterie".  Ein  bestimmtes,  abschließendes 
und  klarstellendes  Urteil  über  die  Relativitäts- 
theorie habe  ich  in  dem  Buche  nicht  gefunden, 
vielleicht  holt  der  Verf.  dieses  in  späteren  Ver- 
öffentlichungen nach.  — 

Machs  Mechanik  enthält  bekanntlich  Be- 
trachtungen, die  für  E  i  n  s  t  e  i  n  s  Relativitätstheorie 
von  grundlegender  Bedeutung  geworden  sind.  So 
hat  das  Buch  nicht  nur  klassische  Bedeutung, 
sondern  auch  —  in  dem  Abschnitt  über  Newton 
—  höchst  aktuelle.  Die  neue  Auflage  enthält 
einen  Anhang,  in  dem  J.  Petzoldt  die  Be- 
ziehungen Machs  zur  Relativitätstheorie  behandelt. 
Dieser  Anhang  beschäftigt  sich  vor  allem  mit 
einer  Erörterung  der  philosophischen  Probleme; 
die  kühnen  Deutungen  der  physikalischen  Experi- 
mente durch  Einstein  werden  ziemlich  kritiklos 
wie  erwiesene  Tatsachen  behandelt. 

Kurt    Geißler,    der    durch    zahlreiche  Ver- 


öffentlichungen auf  dem  Gebiete  der  Philosophie, 
der  Mathematik,  besonders  der  Lehre  vom  Un- 
endlichen, sowie  der  Pädagogik  bereits  weiteren 
Kreisen  bekannt  sein  dürfte,  beleuchtet  und  unter- 
sucht das  Problem  des  Relativismus  eingehend 
von  allen  Seiten.  Er  gelangt  überall  zu  einer  Ab- 
lehnung der  Ein  st  einschen  Ideen,  denen  er  ein 
eigenes  System  gegenüberstellt.  Aus  den  durch- 
weg sehr  klar  und  verständlich  gehaltenen  Aus- 
führungen seien  die  Kapitel  „Die  Lobpreisung" 
und  „Die  Verödung  der  Physik  durch  die  rein 
formale  Behandlung"  besonders  hervorgehoben. 

Fricke. 

Rehmke,  J.,  DieSeele  desMenschen.  5. Aufl. 
1920.  128  Seiten.  (Aus  Natur  und  Geistes- 
welt. 36.  Bändchen.) 
Die  kleine  Schrift  orientiert  nicht  allgemein 
über  den  gegenwärtigen  Stand  der  psychologischen 
Forschung,  sondern  legt  nur  kurz  dar,  wie  vom 
Standpunkt  des  objektiven  Idealismus,  welchen 
Professor  Rehmke  (Greifswald)  vertritt,  das 
Wesen  der  Seele  und  das  Seelenleben  aufgefaßt 
wird.  Die  Beweisführung  des  Verfs  ist  deduktiv, 
insofern  er  von  allgemeinen  Sätzen  seiner  Grund- 
wissenschaft ausgeht.  Der  naturwissenschaftliche 
Beweis,  welchen  er  auf  S.  32  für  die  Möglichkeit 
der  vorausgesetzten  psychophysischen  Kausalität 
bei  Aufrechterhaltung  der  Geltung  des  Energie- 
gesetzes zu  führen  versucht,  ist  unzulänglich.  Eine 
psychophysische  Kausalität  wird  naturwissenschaft- 
lich stets  unerkennbar  bleiben.  Eine  entfernte 
Analogie  haben  wir  für  sie  nur  in  der  Teleologie 
des  biologischen  Geschehens,  wie  sie  Driesch 
u.  a.  auffassen.  Kranichfeld. 


Literatur. 

Barth,  Technischer  Selbstunterricht.  Vorstufe.  I.  Brief, 
Berlin  '21,  Oldenburg.     6  M. 

Eckardt,  Dr.  W.  R.,  Meervögel.  Mit  32  Abbildungen. 
Leipzig  '20,  Th.  Thomas.     3  M. 

Engler,  A.,  Das  Pflanzenreich.  75.  Heft.  Leipzig  '21, 
W.  Engelmann.     128  M. 

Hering,  Ewald,  Fünf  Reden.  Leipzig  '21,  \V.  Engel- 
mann.    14  M. 

Gothan,  Prof.  Dr.  Walter,  Paläobotanik.  (Sammlung 
Göschen.)  Berlin  '20,  Vereinigung  wissenschaftlicher  Ver- 
leger.    2,10  M. 

Bergens  Museums  Aarbok.  1918 — 1919.  I.  Heft.  Natur- 
widenskabelig  Raekke.  Bergen  '21 ,  A.  S.  John  Griegs 
Boktrykkeri  og  N.  Nielsen  &  Sohn. 

Droste,  Robert,  Das  Verhältnis  der  Geschlechtsbil- 
dung auf  der  Erde  und  die  Geschlechtsbestimmung.  Leipzig  '21, 
Xenien-Verlag. 

Giesenhagen,  Lehrbuch  der  Botanik.  8.  Aufl.  Leip- 
zig, B.  G.  Teubner.     18  M. 


Inhalt:  A.  Meyer,  Empirie  urd  Wirklichkeit.  S.  361.  —  Einzelb erlebte:  H.  Spemann  und  H.  Falkenberg,  Zum 
Determinationsproblem.  S.  369.  W.  Bergt,  Das  Muttergestein  des  Serpentins  im  sächsischen  Granulitgebirge.  S.  370. 
H.  Klaatsch,  Ausbildung  der  menschlichen  Gliedmaßen.  S.  370.  H.  Weigold,  Die  Wanderungen  der  Seeschwalben. 
S.  371.  R.  Haller,  Hydroperoxyd  als  Lösungsmittel  II.  S.  371.  —  Bücherbesprechungen:  Th.  Ziehen,  Lehr- 
buch der  Logik  auf  positivistischer  Grundlage  mit  Berücksichtigung  der  Geschichte  der  Logik.  S.  372.  Relativitäts- 
theorie. S.  373.      J.  Rehmke,  Die  Seele  des  Menschen.  S.  376.  —  Literatur:  Liste.  S.  376. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  InTalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reibe    36.  Band. 


Sonntag,  den  26.  Juni  1921. 


Nummer  26« 


[Nachdruck  verboten.] 


Erblichkeit  und  Nicht-Erblichkeit. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  F.  Alverdes,  Halle  a.  S. 


Beim  Vererbungsvorgang  werden  nicht  Eigen- 
schaften, sondern  lediglich  A  n  1  a  g  e  n  zu  solchen 
von  den  Eltern  auf  die  Nachkommen  übermittelt. 
Der  seit  dem  Jahre  1900  erstandenen  experi- 
mentellen Erblichkeitsforschung  ver- 
danken wir  es,  wenn  wir  diese  beiden  Begriffe 
scharf  unterscheiden  lernten.  Die  Eigenschaften, 
welche  das  Individuum  besitzt,  nennen  wir  mit 
Johannsen  seinen  Phänotypus,  mit  Siemens 
sein  Erscheinungsbild;  dieses  letztere  ent- 
steht während  der  persönlichen  Entwicklung  auf 
Grund  der  Erbanlagen,  welche  das  betreffende 
Geschöpf  von  seinen  Vorfahren  ererbt  hat. 

Die  Anlagen  allein  tun's  jedoch  noch  nicht,  es 
muß  vielmehr  noch  ein  Zweites  hinzutreten,  um 
die  Entstehung  eines  Individuums  und  seiner 
Eigenschaften  zustande  zu  bringen,  das  ist  eine 
passende  Lebenslage.  Was  nützt  ein  Korn 
der  besten  Weizenrasse,  wenn  der  Landmann  es 
auf  den  nackten  Fels  aussät,  was  nützt  ein  Reis 
der  edelsten  Obstsorte,  wenn  es  ungenügend  mit 
Wasser  versorgt  wird,  und  was  nützt  die  größte 
musikalische  Begabung,  wenn  jede  Möglichkeit 
fehlt,  dieselbe  zu  pflegen!  In  allen  drei  Fällen 
ist  eine  ungeeignete  Lebenslage  schuld,  daß  vor- 
handene Anlagen  nicht  zur  Entwicklung  kamen. 
Aber  nicht  allein  darüber  fällt  der  Lebenslage  ein 
Anteil  der  Entscheidung  zu,  ob  überhaupt  etwas 
entsteht,  sondern  mehr  oder  minder  weitgehend 
kann  die  äußere  Umgebung  auch  darüber  mitbe- 
stimmen, in  welcher  Weise  die  vorhandenen  An- 
lagen entwickelt  werden.  Besonders  deutlich  zeigt 
sich  dies  z.  B.  bei  der  Blütenfarbe  der  chinesi- 
schen Primel  {Priviida  sinensis),  welche  eine 
gewisse  Berühmtheit  erlangt  hat,  nachdem  Baur 
auf  diesen  interessanten  Fall  aufmerksam  machte. 
Wenn  wir  Primelpflanzen  einer  bei  Zimmertempe- 
ratur rotblühenden  Rasse  einige  Wochen,  bevor 
sie  blühen,  in  Warmhaustemperatur  von  30 — 35" 
versetzen,  so  erscheinen  bei  ihnen  ausschließlich 
weiße  Blüten,  während  ihre  in  Zimmertemperatur 
belassenen  Geschwister  nur  rote  Blüten  hervor- 
bringen. 

Nicht  eindringlich  genug  kann  es  betont  wer- 
den, daß  es  aber  nicht  auf  die  Lebenslage  allein 
ankommt,  denn  keine  Macht  der  Welt  vermag 
durch  äußere  Beeinflussung  bei  einer  Art  oder 
einem  Individuum  etwas  zu  erzeugen,  was  nicht 
auch  in  der  Anlage  vorhanden  ist;  so  ist  es  un- 
möglich, etwa  an  einem  Rosenstock  eine  himmel- 
blaue Blüte  oder  bei  einer  Kaninchenrasse  ein 
Rehgehörn  zu  erzüchten  oder  ein  gänzlich  un- 
musikalisches  Kind   mit  musikalischer   Begabung 


auszustatten.  Wir  müssen  also  sagen:  damit  bei 
einem  Individuum  eine  Eigenschaft  zustande 
kommt,  ist  zweierlei  erforderlich:  i.  die  betreffende 
Anlage  und  2.  eine  entsprechende  Lebenslage, 

In  der  Sprache  der  neueren  Forschung  be- 
zeichnen wir  das,  was  wir  hier  bisher  die  „An- 
lagen" nannten,  wohl  auch  als  Erbfaktoren 
oder  Gene;  dieselben  stellen  den  Genotypus 
(Johannsen)  oder  das  Erbbild  (Siemens) 
dar.  Es  wird,  wenn  wir  den  Einfluß  der  äußeren, 
in  der  Lebenslage  (im  Milieu)  gegebenen 
Faktoren  kennzeichnen  wollen,  gesagt,  die  Erb- 
faktoren reagieren  in  dieser  oder  jene  Weise 
auf  die  Faktoren  der  Lebenslage;  das  Reaktion  s- 
produkt  sind  dann  die  sich  ergebenden  Eigen- 
schaften des  Individuums  oder  sein  Phänotypus, 
sein  Erscheinungsbild;  die  Grenzen,  innerhalb 
welcher  dem  Individuum  ein  Variieren  möglich 
ist,  sind  ihm  durch  seine  Reaktionsnorm 
(Woltereck)  gezogen.  Beim  Vererbungsvor- 
gang werden  also  Erbfaktoren  übertragen,  welche 
mit  einer  ganz  bestimmten  Norm  ausgestattet 
sind,  auf  die  eine  Lebenslage  so,  auf  die  andere 
so  zu  reagieren.  Bei  den  verschiedenen  Tier-  und 
Pflanzenarten  sind  die  Anlagen  selbstverständlich 
mehr  oder  weniger  weitgehend  verschieden;  aber 
auch  schon  von  Individuum  zu  Individuum  schwankt 
die  Veranlagung;  um  uns  dies  vor  Augen  zu 
führen,  brauchen  wir  uns  nur  in  der  menschlichen 
Gesellschaft  umzusehen. 

Diese  Erkenntnis,  daß  stets  die  Anlagen  und 
eine  entsprechende  Lebenslage  zusammenzuwirken 
haben,  um  irgendeine  Eigenschaft  oder  Fähigkeit 
zur  Entfaltung  zu  bringen,  ist  von  größter  Be- 
deutung sowohl  für  den  praktischen  Züchter  wie 
für  den  Mediziner,  den  Pädagogen,  den  Ethno- 
logen und  den  Biologen.  Es  gibt  keine  Eigen- 
schaften, die  nur  vermittels  der  Lebenslage  ohne 
Anlage  oder  allein  durch  Anlagen  ohne  Mit- 
wirkung einer  Lebenslage  entstanden  sind.  Dies 
gilt  sowohl  für  körperliche  wie  für  geistige  Merk- 
male, doch  liegen  die  Verhältnisse  gerade  hin- 
sichtlich der  letzteren  ganz  besonders  kompliziert 
Bei  der  Entscheidung,  ob  ein  Mensch  ein  ihm 
angeborenes  Talent  zur  vollen  Entfaltung  bringt 
oder  nicht,  spielt  neben  dem  Umstände,  in  welches 
Milieu  er  durch  Geburt  oder  infolge  sonstiger  Er- 
eignisse gerät,  auch  die  Frage  eine  wichtige  Rolle, 
ob  er  die  nötige  Energie  aufbringt,  die  ihm  ver- 
liehene Gabe  in  der  richtigen  Weise  zu  pflegen. 
Die  bei  verschiedenen  Individuen  ganz  verschieden 
ausgebildete  Willensstärke  ist  ihrerseits  wieder 
ein  Produkt  der  Wechselwirkung  von  Veranlagung 


37« 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


hierzu  und  IVIilieu,  wobei  allerdings  nicht  aus  dem 
Auge  verloren  werden  darf,  daß  die  eine  Persön- 
lichkeit sich  von  außen  her  sehr  viel  mehr  beein- 
flussen läßt  als  die  andere.  An  diesem  Beispiel, 
bei  welchem  der  Wille  auf  die  Ausgestaltung 
einer  besonderen  Fähigkeit  von  hervorragender 
Bedeutung  sein  kann,  sehen  wir  bereits,  wie  weit- 
gehend im  Individuum  die  verschiedenen  Anlagen 
in  ihren  Auswirkungen  Einfluß  aufeinander  ge- 
winnen können. 

Der  Mensch  vermag  sich  bewußt  diejenige 
Lebenslage  zu  schaffen,  welche  er  zur  Ausge- 
staltung seiner  Fähigkeiten  für  die  geeignetste 
hält,  und  auch  seine  Mitmenschen  sind  bemüht, 
ihn  von  Kindheit  auf  in  einer  für  ihn  selbst  wie 
für  die  Allgemeinheit  nützlichen  Weise  zu  beein- 
flussen. Es  hängt  von  seiner  Gesamtveranlagung 
ab,  wie  er  auf  das  dargebotene  Milieu  „reagiert". 
In  der  Lebenslage  des  Menschen  ist  die  T  r  a  d  i  t  i  o  n 
(im  weitesten  Sinne  gefaßt)  von  größter  Be- 
deutung. Was  würde  aus  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft, wenn  die  Tradition  plötzlich  aufhörte, 
wenn  also  die  Jugend  nicht  mehr  in  der  Sprache, 
in  den  Handfertigkeiten  und  täglichen  Verrich- 
tungen unterwiesen  und  zu  einem  Berufe  heran- 
gebildet würde  1 

Daß  bei  Tieren  und  Pflanzen  Eltern  und  Nach- 
kommen stets  wieder  der  gleichen  Art  ange- 
hören, daß  also  z.  B.  aus  dem  Ei  eines  Haus- 
sperlings stets  wieder  ein  solcher  hervorgeht,  er- 
schien, weil  tausendfältig  beobachtet,  dem  Menschen 
als  selbstverständlich.  Demgegenüber  wurde  die 
Weitervererbung  bestimmter  Eigentümlichkeiten 
(z.  B.  einer  weißen  Haarlocke  oder  eines  Mutter- 
mals) als  ein  besonderer  Übertragungsvorgang 
aufgefaßt.  Nicht  aber  das  für  uns  oft  so  erstaun- 
lich wirkende  Wiedererscheinen  dieses  oder  jenes 
Merkmals  in  späteren  Generationen  bedarf  in 
erster  Linie  der  Aufklärung,  sondern  vor  allem 
muß  zunächst  einmal  das  Problem  gelöst  werden, 
wodurch  die  Konstanterhaltung  der  Arten  und 
Rassen  gewährleistet  ist.  Bei  der  Besprechung 
des  Vererbungsbegriffes  ist  ganz  besonders  her- 
vorzuheben, daß  das,  was  im  täglichen  Leben 
„erben"  genannt  wird  (also  die  soziale  Ver- 
erbung), eine  Übertragung  von  Lebenslage- 
faktoren ist  und  sich  damit  als  das  genaue 
Gegenteil  der  biologischen  Vererbung  dar- 
stellt, bei  welcher  es  sich  um  eine  Übertragung 
von  Erbfaktoren  handelt.  Mit  Recht  weist 
Johannsen  darauf  hin,  daß  aus  diesem  Grunde 
für  die  biologische  Vererbung  eigentlich  ein  neuer 
Begriff  zu  schaff"en  sei. 

Verschiedenheiten  zwischen  den  Individuen 
einer  bestimmten  Rasse  oder  Art  können  beruhen 

1.  darauf,  daß  dieselben  sich  in  einer  verschiedenen 
Lebenslage    befinden     oder    zeitweise    befanden, 

2.  auf   Unterschieden    in    ihren    Erbanlagen    und 

3.  auf  den  beiden  genannten  Umständen  gleich- 
zeitig. Dieselben  Ursachen  liegen  vor,  wenn  wir 
die  Verschiedenheiten  zwischen  Eltern  und  Kindern 
betrachten:  entweder  wirkten  auf  sie  verschieden- 


artige Lebenslagen  ein  oder  sie  sind  verschieden 
veranlagt  oder  —  und  letzteres  wird  wohl  meist 
der  Fall  sein  —  Lebenslage  und  Anlagen  sind 
gleichzeitig  irgendwie  verschieden. 

Jedes  Individuum  erhält  seine  Anlagen  von 
den  Vorfahren;  die  geschlechtliche  Vermehrung 
bringt  es  mit  sich,  daß  immer  wieder  neue  Kom- 
binationen von  Erbanlagen  gebildet  werden.  Nicht 
immer  vermögen  die  Erbfaktoren  ihre  Anwesen- 
heit durch  Ausbildung  entsprechender  äußerer 
Eigenschaften  zu  manifestieren,  weil  einerseits 
andere  Erbfaktoren,  andererseits  aber  auch  manche 
Lebenslagefaktoren  sie  daran  hindern  können.  Dies 
haben  die  zahlreichen  in  den  letzten  20  Jahren 
an  Tieren  und  Pflanzen  durchgeführten  Vererbungs- 
versuche kennen  gelehrt  (vgl.  hier  das  Beispiel 
der  chinesischen  Primel,  bei  der  Wärme 
die  Ausbildung  roten  Blütenfarbstoffes  unterdrückt). 

Besitzen  Eltern  und  Kinder  verschiedenartige 
Erbanlagen,  so  haben  sie  damit  eine  verschiedene 
Reaktionsnorm;  sie  werden  also  auch  auf  die 
gleiche  Lebenslage  mehr  oder  weniger  verschieden 
reagieren  müssen  I  Die  meisten  Verschiedenheiten 
hinsichtlich  der  Reaktionsnorm  bei  aufeinander- 
folgenden Generationen  erklären  sich  durch  die 
infolge  der  geschlechtlichen  Vermehrung  ein- 
tretende Neukombination  von  Erbanlagen;  ge- 
legentlich ereignet  sich  jedoch  auch  eine  andere 
Form  der  Reaktionsnormänderung,  welche  wir 
Sprungvariation  oder  Mutation  nennen 
und  bei  welcher  die  Reaktionsnorm  plötzlich  eine 
sprungartige  Veränderung  erleidet.  Die  Nach- 
kommen solcher  mutierter  Individuen  erlangen 
nicht  etwa  die  alte  Reaktionsnorm  wieder,  sondern 
behalten  die  neue  bei. 

„Rückschläge"  und  Atavismen  sind  wohl  stets 
dadurch  zu  erklären,  daß  sich  in  den  betreffenden 
Fällen  Erbfaktoren  generationenlang  nicht  mani- 
festieren konnten,  weil  sie  hierzu  nur  bei  Zu- 
gegensein anderer  Erbfaktoren  imstande  sind  oder 
weil  sie  durch  die  Wirksamkeit  anderer  Erbfaktoren 
überdeckt  wurden  oder  weil  die  erforderliche 
Lebenslage  fehlte. 

Durch  Kombination  von  Erbfaktoren  können 
unter  Umständen  Neuheiten  entstehen,  welche 
weder  bei  den  Eltern  noch  bei  den  weiteren  Vor- 
fahren vorhanden  waren;  wir  nennen  dieselben 
Kreuzungsnova.  Am  bekanntesten  sind  die 
Neuheiten,  welche  bei  Bastardierung  verschiedener 
Mäuserassen  entstehen  können.  Cuenot 
kreuzte  z.  B.  eine  wildfarbene  mit  einer  weißen 
Maus;  in  der  Enkelgeneration  zeigten  sich  dann 
neben  den  großelterlichen  Typen  schwarze  Tiere. 
(Wegen  weiterer  Einzelheiten  siehe  meine  jüngst 
erschienene  Schrift:  „Rassen-  und  Artbildung", 
Abhandlungen  zur  theoretischen  Biologie,  Heft  9, 
Berlin  1921,  woselbst  die  hier  berührten  Fragen 
im  Zusammenhang  mit  den  Problemen  der  Des- 
zendenzlehre eingehend  diskutiert  werden.) 

Für  den  Züchter  ist  eine  Erscheinung  von 
größter  Bedeutung,  welche  Baur  als  Nach- 
wirkung bezeichnet.    So  geht  bei  Haustierrassen 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


379 


infolge  schlechter  Ernährung  manches  Merkmal, 
wie  z.  B.  Frühreife  (worunter  beschleunigtes,  früh- 
zeitig abgeschlossenes  Wachstum  zu  verstehen  ist) 
für  mehrere  Generationen  verloren.  Eine  solche 
Nachwirkung  ist  naturgemäß  für  die  Züchtung 
domestizierter  Rassen  von  hervorragender  Wichtig- 
keit. Nur  durch  sie  ist  nach  Kronacher  die 
oft  außerordentliche  Steigerung  der  Haustierrassen 
möglich.  Nach  den  neueren  Anschauungen  be- 
ruhen auch  die  physiologischen  Rasseeigenschaften 
(wie  z.  B.  Milchleistung)  auf  besonderen  Erb- 
faktoren. Der  Ausbildungsgrad  derselben  ist  je- 
doch stark  abhängig  von  der  Lebenslage.  Die 
Leistungsfähigkeit  des  Individuums  hängt  nicht 
nur  ab  von  den  Einflüssen,  welche  dieses  selbst 
trafen  (z.  B.  Aufzucht,  Haltung,  Fütterung  und 
Übung),  sondern  auch  von  denjenigen,  welche  sich 
bei  den  Vorfahren  Geltung  verschafften.  Früher 
nahm  man  an,  daß  die  Eigenschaften  einer  be- 
stimmten Rasse  in  allen  Lebenslagen  konstant 
bleiben  und  daß  man  von  dem  Vorhandensein 
des  einen  Merkmals  stets  auf  das  andere  schließen 
dürfe.  Durch  Erfahrungen  höchst  unangenehmer 
Natur  ist  man  jedoch  von  dieser  Anschauung 
zurückgekommen.  Denn  wenn  sich  in  dem  einen 
Milieu  ein  für  uns  gleichgültiger  morphologischer 
Charakter  zusammen  mit  einer  Nutzungseigen- 
schaft voll  entwickelt,  so  ist  damit  noch  nicht  ge- 
sagt, daß  dies  auch  in  einem  anderen  Milieu  un- 
bedingt geschehen  muß.  Vielleicht  wirkt  das 
letztere  gerade  der  Ausbildung  der  Nutzungs- 
eigenschaft entgegen,  so  daß  wir  in  diesem  Falle 
den  morphologischen  Charakter  allein  auftreten 
sehen.  Derartiges  geschah  des  öfteren,  wenn 
Haustiere  von  dem  einen  Klima,  unter  welchem 
sie  gediehen,  in  ein  anderes,  völlig  davon  ver- 
schiedenes überführt  wurden. 

Die  Tätigkeit  des  Züchters  besteht  darin,  daß 
er  I.  die  in  gewünschter  Richtung  reagierenden 
Rassen  isoliert  oder  durch  bewußte  Kreuzung 
schafft  und  2.  auf  eine  Generation  wie  die  andere 
eine  gleich  günstige  Lebenslage  einwirken  läßt, 
um  durch  Nachwirkung  verstärkte  optimale  Re- 
aktionen aus  seinem  Material  herauszuholen.  Denn 
es  ist  nicht  nur  von  Bedeutung,  eine  Rasse  mit 
günstiger  Reaktionsnorm  zu  besitzen,  sondern  man 
muß  auch  eine  Lebenslage  herstellen,  auf  welche 
diese  Rasse  in  der  erwünschten  Weise  reagieren 
kann.  Es  genügt  dabei  nicht,  daß  das  Individuum 
selbst  unter  zweckentsprechenden  Verhältnissen 
aufwächst  und  lebt,  sondern  schon  die  vorauf- 
gehenden Generationen  müssen  sich  in  einem 
förderlichen  Milieu  befunden  haben. 

Die  Schwankungsbreite  der  physiologischen 
Eigenschaften  ist  also  durch  die  Erbfaktoren  fest- 
gelegt; der  individuelle  Ausbildungsgrad  dieser 
Eigenschaften  wird  jedoch  durch  die  auf  das  Einzel- 
tier sowohl  wie  durch  die  auf  seine  Vorfahren  ein- 
wirkende Lebenslage  bestimmt.  Die  Angehörigen 
verschiedener  Rinderrassen  liefern  nach  Kro- 
nachereinen  jährlichen  Milchertrag  von  550 — i  lool 
resp.    1200 — 2600  1,    1500 — 3500  1,   2000 — 7000 1 


usw.  Die  Rassenunterschiede  bleiben  bestehen 
auch  unter  der  gleichen  Lebenslage.  Trotz  bester 
Pflege  und  strengster  Auswahl  der  zur  Weiterzucht 
verwendeten  Tiere  ist  es  unmöglich,  über  die 
Variationsgrenze  der  Rasse  hinauszuzüchten.  Ganz 
allgemein  gesprochen  wird  man  Individuen  von 
mittlerer  Leistungsfähigkeit  einerseits  dann  er- 
halten, wenn  die  Anlagen  mittelgute  waren,  die 
Pflege  jedoch,  welche  aufgewendet  wurde,  eine 
sehr  sorgfältige  war;  andererseits  werden  sich 
selbst  bei  vortrefflichen  Anlagen  ebenfalls  nur 
Durchschnittsleistungen  erzielen  lassen,  wenn  die 
Lebenslage  eine  wenig  günstige  war.  Um  ein 
Beispiel  aus  dem  menschlichen  Leben  zu  geben: 
Derjenige,  welcher  viel  Fleiß  auf  die  Pflege  eines 
kleinen  Talentes  verwendet,  bringt  es  weiter  als 
ein  Genie,  das  seine  Gaben  verkommen  läßt. 

Da,  wie  wir  sahen,  nicht  Eigenschaften,  son- 
dern nur  „Anlagen"  (Erbfaktoren,  Gene)  bei  der 
Vererbung  übertragen  werden,  so  ist  es  eine 
höchst  unglückliche  Fragestellung,  ob  es  eine 
„Vererbung  erworbener  Eigenschaften" 
gibt  oder  nicht.  Zudem  war  von  jeher  eine 
Quelle  des  Mißverständnisses  der  Umstand,  daß 
die  Autoren  unter  dem  Begriffe  der  „Vererbung" 
ganz  verschiedene  Dinge  verstanden.  Die  einen 
bezeichneten  als  Vererbung  allein  schon  eine 
Übereinstimmung  in  den  Eigenschaften  (eine 
phänotypische  Übereinstimmung),  andere  er- 
kannten als  solche  nur  das  Vorhandensein  der 
gleichen  Reaktionsnorm  (eine  genotypische 
Übereinstimmung)  an,  wieder  andere  forderten 
das  gleichzeitge  Zugegensein  desselben  Phänotypus 
und  desselben  Genotypus. 

Eltern  und  Nachkommen  weisen  die  gleiche 
äußere  Erscheinung  (den  gleichen  Phänotypus)  auf, 
wenn  Anlagen  und  Lebenslage  die  gleiche  ist; 
ein  durch  viele  Generationen  konstant  bleibendes 
Milieu  kann  durch  Vermittlung  der  Nachwirkung 
den  Phänotypus  festigen  und  sichern.  Ebenso 
wird  der  Phänotypus  gelegentlich  gleich  ausfallen, 
trotzdem  die  Anlage  für  das  eine  oder  andere 
Merkmal  oder  die  Lebenslage  nicht  völlig  iden- 
tisch ist.  Eine  vorhandene  Nachwirkung  kann  es 
unter  Umständen  mit  sich  bringen,  daß  die  äußere 
Erscheinung  sich  noch  generationenlang  unver- 
ändert hält,  trotzdem  die  Lebenslage  wechselte. 
Unter  besonderen  Umständen  wird  es  vielleicht 
auch  geschehen,  daß  trotz  vorhandener  Differenzen 
bezüglich  einiger  Erbfaktoren  und  trotz  verschie- 
dener Lebenslage  das  Erscheinungsbild  sich  den- 
noch gleich  gestaltet.  Alle  solchen  Fälle  erscheinen 
bei  rein  phänotypischer  Beurteilung  als  Erblich- 
keit. 

Von  Nicht-Erblichkeit  eines  Merkmals 
sprechen  manche  Autoren  dann,  wenn  der  Phäno- 
typus bei  Eltern  und  Nachkommen  ein  verschie- 
dener ist.  Dieser  Erscheinung  können  differente 
Vorgänge  zugrunde  liegen :  entweder  änderte  sich 
die  Reaktionsnorm  oder  die  Lebenslage  oder  beides. 

Wird  bei  „Erblichkeil"  vorausgesetzt,  daß 
Phänotypus  und   Reaktionsnorm  gleichzeitig  sich 


38o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


ändern  muß,  so  können  diejenigen  Abänderungen 
nicht  mehr  als  „erblich"  anerkannt  werden,  welche 
lediglich  darauf  beruhen,  daß  ein  Milieuwechsel  den 
Phänotypus  verwandelte;  sondern  es  können  nur 
mehr  solche  Phänovariationen  zugelassen  werden, 
die  auf  Verschiebungen  der  Reaktionsnorm  beruhen. 
Schalten  wir  bei  der  Beurteilung,  ob  Erblichkeit 
oder  Nicht- Erblichkeit  vorliegt,  das  Erscheinungs- 
bild ganz  aus  und  betrachten  nur  mehr  das  Ver- 
halten der  Reaktionsnorm,  so  muß  man,  um  kon- 
sequent zu  sein,  auch  solche  Änderungen  „erblich" 
nennen,  die  sich  äußerlich  bei  einer  gegebenen 
Lebenslage  gar  nicht  manifestieren  können,  sondern 
die  nur  in  der  Erbmasse  gelegen  sind  und  sich 
dann  gelegentlich  hier  und  dort  einmal  bei  späte- 
ren Generationen  unter  anderen  Lebenslagen  oder 
bei  besonderen  Faktorenkombinationen  dokumen- 
tieren. 

Die  dargelegten  verschiedenartigen  Auffassungen 
der  Begriffe  Erblichkeit  und  Nicht-Erblichkeit  haben 
es  mit  sich  gebracht,  daß  eine  Einigung  über  sie 
sich  bisher  nicht  erzielen  ließ.  Denn  wie  soll 
eine  solche  möglich  sein,  wenn  der  eine  Autor 
unter  Erblichkeit  bereits  eine  jede  phänotypische 
Übereinstimmung  ohne  Ansehung  der  Erbanlagen, 
der  andere  eine  Identität  der  Reaktionsnorm  ohne 
Berücksichtigung  des  Erscheinungsbildes  und  ein 
dritter  nur  ein  gleichzeitiges  Übereinstimmen  der 
Phänotypen  und  Genotypen  versteht?  Auf  jeden 
Fall  aber  sind  die  beiden  Begriffe  nur  beschrei- 
bende Vergleichungen  sei  es  von  Phänotypen,  sei 
es  von  Genotypen  aufeinanderfolgender  Genera- 
tionen; sie  enthalten  keine  Aussage  über  die  Zu- 
stände der  Erbsubstanzen  selbst  und  über  die- 
jenigen Prozesse,  welche  sich  während  der  indi- 
viduellen Entwicklung  bei  ihrem  Zusammenwirken 
untereinander  und  mit  den  Faktoren  der  Lebens- 
lage abspielen. 

Das  Bild  einer  „Vererbung  erworbener  Eigen- 
schaften" kann  bei  rein  phänotypischer  Betrach- 
tungsweise auf  verschiedenem  Wege  zustande 
kommen;  i.  kann  sich  die  Reaktionsnorm  ändern, 
wodurch  auch  das  Erscheinungsbild  verändert 
wird;  eine  so  „erworbene  Eigenschaft"  hält  sich 
dann  ungezählte  Generationen  hindurch  bei  jenem 
IVlilieu,  in  welchem  sie  erschien,  und  vielleicht  in 
manchem  anderen  auch.  Eine  Reaktionsnorm- 
änderung bedeutet  stets  eine  tatsächliche  Um- 
prägung der  Rasse  oder  Art;  hier  ist  also  etwas 
wirklich  Neues  entstanden.  2.  Eine  Lebenslage- 
änderung kann  eine  Veränderung  des  Phänotypus 
mit  sich  bringen,  ohne  daß  die  Reaktionsnorm 
davon  berührt  wird ;  eine  solche  „erworbene  Eigen- 
schaft" verschwindet,  sowie  die  Lebenslage  wieder 
die  ursprüngliche  wird,  es  sei  denn,  daß  durch 
Nachwirkung  sich  der  neue  Phänotypus  noch 
während  einiger  Generationen  hält.  Nachwirkung 
ist  noch  keine  dauernde  Umprägung  der  Art,  da 
sie  keine  Veränderung  der  Reaktionsnorm  dar- 
stellt ;  denn  selbst  dort,  wo  sich  nach  Verschwin- 
den der  veränderten  Umweltsbedingungen  eine 
Nachwirkung    über    zahlreiche    Generationen    er- 


strecken kann  (wie  den  Untersuchungen  von 
Jollos  zufolge  bei  einem  Infusorium:  Paraviae- 
ciuni),  ist  ein  schließliches  Abklingen  derselben 
doch  stets  feststellbar. 

Eine  weitere  Form  der  „Vererbung  erworbener 
Eigenschaften"  ist  bisher  noch  nicht  aufgezeigt 
worden;  das  Bestehen  einer  solchen  wird  jedoch 
von  denjenigen  Autoren  behauptet,  welche  eine 
Nachwirkung  bereits  für  eine  Verschiebung  der 
Reaktionsnorm  halten;  sie  wäre,  wenn  sie  be- 
stünde, die  interessanteste.  Durch  IVIilieuänderung 
müßte  bei  ihr  im  Erscheinungsbild  ein  neues 
Merkmal  auftreten;  diese  Änderung  des  Phäno- 
typus hätte  die  Reaktionsnorm  aller  weiteren 
Generationen  in  der  Weise  zu  verschieben,  daß 
die  phänotypische  Änderung  beibehalten  würde, 
selbst  wenn  die  Lebenslage  die  alte  würde.  Man 
verwechsle  ein  solches  (zunächst  nur  in  der 
Theorie  vorhandenes  1)  Vorkommnis  nicht  mit 
einem  solchen,  bei  dem  sich  primär  die  Reaktions- 
norm und  dadurch  sekundär  der  Phänotypus  der 
betroffenen  und  aller  später  folgenden  Generationen 
verschiebt.  In  unserem  Falle  müßte  vielmehr  die 
phänotypische  Abänderung  das  Primäre  und  die 
Änderung  des  Genotypus  das  Sekundäre  sein. 
Dies  sind  keine  bloß  dialektischen  Unterschiede; 
sie  sind  vielmehr  nach  unseren  bisherigen  Erfah- 
rungen sehr  wohl  darin  begründet,  daß  die  Reak- 
tionsnorm der  in  den  Keimzellen  gelegenen  Erb- 
faktoren von  den  an  den  Eltern  sich  abspielenden 
rein  phänotypischen  Vorgängen  unberührt  bleibt. 

Als  lediglich  durch  Nachwirkung  entstanden 
müssen  wir  nach  Jollos  die  interessanten  Erschei- 
nungen auffassen,  welche  Kammerer  für  den 
Feuersalamander  mitgeteilt  hat.  Junge,  unregel- 
mäßig gefleckte  Tiere,  auf  gelbem  Lehm  gehalten, 
zeigten  starke  Vermehrung  des  gelben  Pigments; 
bei  solchen,  die  auf  schwarzer  Erde  lebten,  ver- 
mehrte sich  das  schwarze  Pigment.  Eine  derartige 
Behandlung  zeigte  ihre  Wirkung  auch  bei  den 
Nachkommen;  wurden  die  letzteren  denselben 
Bedingungen  unterworfen,  so  verstärkte  sich  die 
Abänderung  der  Färbung.  In  indifferentem  oder 
entgegengesetztem  Milieu  trat  ein  allmähliches 
Abklingen  der  Wirkung  auf.  Bei  weiteren  Ver- 
suchen verwendete  Kammerer  verschiedene 
Rassen,  welche  teils  aus  der  Natur  stammten,  teils 
in  der  angegebenen  Weise  künstlich  erzüchtet 
waren.  Bei  Eierstocksüberpflanzung  von  Weib- 
chen der  einen  Rasse  auf  solche  einer  anderen 
und  darauffolgender  Kreuzung  zeigte  es  sich,  daß 
nur  von  den  Tieren  der  Kunstrassen  eine  Beein- 
flussung der  Nachkommenschaft  in  Form  einer 
Nachwirkung  ausging,  nicht  von  Angehörigen  einer 
Naturrasse.  Daraus  jedoch,  daß  bei  den  Kreuzun- 
gen im  Laufe  der  Generationen  immer  wieder  eine 
mehr  oder  minder  rasche  Rückkehr  zu  den  Natur- 
rassen eintrat,  ist  zu  schließen,  daß  bei  den  expe- 
rimentell erzeugten  Kunstrassen  nicht  die  Re- 
aktionsnorm verändert  wurde,  sondern  daß  nur 
eine  Nachwirkung  vorlag.  Eine  solche  von  der 
durch  Kammerer  konstatierten   Dauer ,   welche 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


381 


mehrere  Generationen  in  Anspruch  nimmt  und 
sogar  übergepflanzte  fremde  Eierstöcke  in  Mit- 
leidenschaft zieht,  ist  von  höchster  Bedeutung. 

Die  Erscheinung,  daß  ein  Merkmal  sich  meh- 
rere Generationen  hindurch  zeigt  (solange  nämlich 
die  betreffenden  Tiere  und  Pflanzen  sich  unter 
dem  Einfluß  einer  veränderten  Lebenslage  befin- 
den), hat  man  wohl  falsche  Erblichkeit  oder 
Scheinvererbung  genannt.  Jedoch  auch  die 
extremsten,  als  „nicht  erblich"  bezeichneten  Va- 
riationen müssen  durch  irgendwelche  Anlagen  be- 
gründet sein ;  denn  sie  würden  nicht  erscheinen 
können,  wenn  sie  nicht  innerhalb  der  Reaktions- 
norm lägen.  Hierher  sind  auch  Vorkommnisse 
zu  rechnen,  wo  durch  einen  Parasiten  eine  krank- 
hafte Abänderung  erfolgte.  Gallenbildung  bei 
Pflanzen  gilt  als  ein  „nichterbliches  Merkmal". 
Es  reagieren  aber  nur  gewisse  Pflanzenarten  durch 
eine  solche  und  zwar  nur  auf  den  Stich  gewisser 
Insekten.  Andere  Arten  weisen  keine  solche  Re- 
aktionsmöglichkeit auf.  Die  Fähigkeit,  einen  be- 
stimmten Reiz  durch  Gallenbildung  zu  beantworten, 
ist  somit  bei  den  betreffenden  Arten  eine  durch 
ihre  Reaktionsnorm  festgelegte  Eigentümlichkeit; 
ob  die  Reaktion    erfolgt   oder    nicht,   hängt    von 


dem  Auftreten  des  entsprechenden  äußeren  Fak- 
tors (des  Insektenstiches)  ab.  Andererseits  ist 
das  Nicht-Beantworten  eines  solchen  Reizes,  wel- 
ches bei  denjenigen  Arten  zu  finden  ist,  die  zur 
Gallenbildung  nicht  instandgesetzt  sind,  eine  für 
diese  charakteristische  Eigentümlichkeit.  Die 
Differenz  zwischen  den  gallenbildenden  und  nicht 
gallenbildenden  Pflanzenarten  ist  also  ein  Unter- 
schied in  der  Reaktionsnorm;  das  Wesen  der 
Sache  wird  weniger  durch  die  Aussage  gekenn- 
zeichnet, daß  Gallen,  (ein  „äußeres  Merkmal")  im 
einen  Falle  vorhanden  sind,  im  anderen  fehlen. 
Denn  dieses  Merkmal  fehlt  ja  auch  denjenigen 
Individuen  gallenbildender  Arten,  welche  zufallig 
nicht  von  einem  Insekt  gestochen  wurden.  Es 
kann  also  das  Merkmal :  „nicht  gallenbildend"  her- 
vorgerufen werden  entweder  durch  Fehlen  einer 
entsprechenden  Reaktionsnorm  oder  trotz  Vor- 
handenseins einer  solchen  durch  Fehlen  des  aus- 
lösenden äußeren  Faktors  (des  Insektenstichs). 
Der  Begriff  der  Scheinvererbung  ist  daher  zu  be- 
schränken auf  die  Übertragung  eines  reizsetzenden 
äußeren  Faktors,  also  z.  B.  eines  Parasiten  von 
einer  Generation  auf  die  andere,  wie  dies  bei 
manchen  Krankheiten  vor  sich  geht. 


Eine  umkehrbare  Ventilrölire. 

Von  Prof.  Dr.  H.  Greinacber  (Zürich). 
[Nachdmck  verboten.]  Mit    I    Abbildung. 

Die  Verwendungsweise  der  Ventilröhren  ist  Wendung  der  Ventilröhren  zur  Entfernung  des 
eine  zweifache.  Einmal  kann  man  damit  hoch-  „Schließungslichts"  ist  namentlich  in  der  Röntgen- 
gespannten   Wechselstrom    in    Gleichstrom    um-      technik  eine  ausgedehnte. 


Abb.  I  a. 


Abb.  Ib. 


wandeln;  dann  aber  läßt  sich  der  Sekundärstrom 
eines  Induktors,  der  an  sich  schon  polare  Eigen- 
schaften hat,  durch  Abdrosselung  der  Schließungs- 
induktion   noch    völlig    gleichrichten.      Die    Ver- 


Bei  vielen  der  im  Handel  vorkommenden 
Ventilröhren  läßt  sich  nun  die  Ventilrichtung  nicht 
unmittelbar  erkennen.  Als  Leitregel  zur  Er- 
kennung der  durchgelassenen  Stromrichtung  kann 


382 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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zwar  der  Umstand  dienen,  daß  die  größere,  frei 
in  der  Glaskugel  angebrachte  Elektrode  Kathode, 
die  kleine,  meist  in  einem  engen  Fortsatz  ange- 
brachte Elektrode  Anode  wird.  Allein,  selbst  der 
Fachmann  wird  diese  Art  der  Polbestimmung  ge- 
legentlich lästig  finden.  Will  man  ferner  die 
Stromrichtung  umkehren,  sei  es,  daß  falsch  ver- 
bunden wurde,  oder,  daß  man  Versuche  mit 
Stromumkehr  machen  will,  so  wird  man  jeweils 
die  Zuleitungsdrähte  umwechseln  müssen. 

Die  neue  Röhre  ist  nun  so  eingerichtet,  daß 
man  die  Verbindungsdrähte  beliebig  anlegen  kann 
und  daß  man  nachträglich  die  Stromrichtung  nach 
Belieben  wählen,  auch  den  Strom  während  des 
Versuchs  kommutieren  kann.  In  einem  Metall- 
zylinder (Abb.  I  a)  befindet  sich  ein  Aluminium- 
kügelchen.  Dieses  verbindet  den  rechten  Stift 
metallisch  mit  dem  Hohlzylinder.  Da  sich  an 
diesem  (außen)  das  negative  Glimmlicht  unge- 
hindert ausbreiten  kann,  so  wirkt  er  als  Kathode. 


Der  Strom  fließt  leichter  vom  Stift  links  nach 
dem  rechts.  Dreht  man  aber  die  Glaskugel 
mittels  des  Scharniers  am  Holzstatif  etwas,  so  daß 
das  Kügelchen  nach  links  rollt  (Abb.  i  b),  so  ist 
die  Rolle  der  Elektroden  vertauscht,  und  der 
Strom  fließt  von  rechts  nach  links.  Man  bemerkt, 
daß  der  Strom  immer  von  der  höher  gelegenen 
Elektrode  (wie  es  der  Bedeutung  des  Wortes 
Anode  entspricht),  nach  der  tiefer  gelegenen 
Elektrode  fließt;  ein  Irren  scheint  ausgeschlossen. 
In  Wirklichkeit  muß  die  Röhre  (nicht  wie  in 
der  Skizze)  nur  um  ein  weniges  gekippt  werden, 
um  die  Umschaltung  vorzunehmen.  Es  lassen 
sich  mit  der  Röhre  eine  Reihe  hübscher  Wechsel- 
stromversuche ausführen,  die  um  so  wirkungs- 
voller ausfallen,  als  man  der  Ventilröhre  äußerlich 
gar  nichts  von  ihrer  Umkehrbarkeit  ansieht.  Die 
neue  Röhre  wird  von  der  Glasinstrumentenfabrik 
Emil  Gundelach  in  Gehlberg  (Thüringen)  ge- 
liefert. 


Notiz  über  Stentor  igneus  Ehrenl).  als  Ursache  auffallender  Wasserverfärbung. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Josef  Gicklhorn. 
(Aus  dem   pflanzenphysiologischen  Institut  der  Universität  in  Graz.) 


Die  Massenentwicklung  von  Algen  und  Flagel- 
laten  kann  unter  bestimmten  Bedingungen  in 
freier  Natur  derartige  Dimensionen  annehmen,  daß 
die  betreffenden  Standorte  verschiedene  Farben- 
änderungen zeigen,  die  durch  die  volkstümlichen 
Ausdrücke  „Wasserblüte,  roter  Schnee,  Blutsee 
usw."  allgemein  bekannt  sind.  In  einigen  Fällen 
ist  es  nur  die  Oberfläche  von  Wasser  oder  Schnee, 
in  anderen  aber  die  ganze  Wassermasse, 
welche  eine  Farbenänderung  erleidet.  Die  Zahl 
der  bisher  untersuchten  und  mitgeteilten  Beispiele 
ist  ganz  beträchtlich;  aus  einem  Überblick  ergibt 
sich  vor  allem,  daß  sehr  verschiedene  Gattungen 
und  Arten  von  Algen,  bzw.  Flagellaten  sich  an 
diesen  immer  recht  auffallenden  Verfärbungen 
des  Wassers  beteiligen  können.  Mit  Ausnahme 
der  im  Frühjahr  als  „Schwefelregen"  zu  beobach- 
tenden Gelbfärbung  der  Wasseroberflächen 
durch  ungeheure  Mengen  von  verwehtem  und  auf 
dem  Wasserspiegel  von  Seen,  Teichen  und  Tüm- 
peln abgelagertem  Pollen  von  Koniferen 
sind  es  wohl  durchgehends  Organismen,  wel- 
che eine  oft  überraschend  schnell  einsetzende 
Umfärbung  unserer  Binnenwässer  verursachen. 
Die  normale  Färbung  größerer  und  kleinerer 
Wasserbecken,  Flüsse  und  Bäche  in  grünlichen, 
gelblichen  oder  bläulichen  Tönen  wird  bekannt- 
lich aber  nicht  durch  Organismen,  sondern  durch 
rein  physikalische  Faktoren  bestimmte  (Aufseß). 

Indem  ich  im  einzelnen  auf  die  zusammen- 
fassenden Berichte  von  Zacharias  (l,  2),  Klaus- 
ner und  Thomas  (i,  2)  verweise,  will  ich  hier 
nur  zur  Übersicht  eine  kleine  Zusammenstellung 
der  häufigsten  und  charakteristischsten  Farben- 
änderungen   und    ihrer    Erreger    geben.      Grün- 


färbung  verursachen:  Chlorella  vulgaris,  Scene- 
desmus-,  Euglena-  und  Chlamydomonasarten,  die 
Volvocineen  Eudorina,  Volvox  und  Gonium  pec- 
torale,  in  seltenen  Fällen  selbst  die  Desmidiacee 
Cosmarium  silesianum.  Microcystis  und  Aphani- 
zomenonarten,  ebenso  Rivularia  echinulata  bewir- 
ken einen  schmutzig  grünen  oder  grünblauen 
Farbenton  der  Wasseroberfläche.  Gelbfärbung 
wird  hervorgerufen  durch  Diatomeen,  Ceratien 
und  Peridineen.  Rotfärbung  tritt  auf  bei 
Massenentwicklung  von  Euglena  sanguinea  und 
Eu.  haematodes,  der  Purpurbakterie  Chromatium 
Okeni;  ferner  wird  oft  Schnee  und  Eis  verfärbt 
durch  Haematococcus  pluvialis  und  ebenso  können 
Oscillatoria  rubescens  und  bestimmte  Peridineen 
den  Anstoß  für  auffallenden  Farbenwechsel  zu 
roten  Tönen  geben.  Bemerkenswerterweise  lösen 
sich  verschiedene  Algen  am  gleichen  Standort 
in  ihrer  Massenentwicklung  als  „Wasserblüte"  ab; 
so  bildete  im  großen  Plönersee  nach  Untersuchun- 
gen im  Jahre  1901  von  Juli  bis  August  Rivularia 
echinulata  eine  Wasserblüte,  auf  welche  Micro- 
cystis aeruginosa  vom  Oktober  bis  November  folgte. 
Die  von  Alpinisten  und  Polarfahrern  als  „roter 
Schnee"  beschriebene  Verfärbung  der  Schnee- 
flächen und  Gletscher  wird  nach  Chodat,  Wille, 
v.  Lagerheim,  Wittrock  u.a.  (siehe  0 1 1 - 
manns,  S.  213 — 219)  vor  allem  durch  Chlamydo- 
monaden  verursacht,  am  häufigsten  durch  Sphae- 
rella  nivalis;  doch  werden  bisher  nicht  weniger 
als  50  Organismenarten  als  Erreger  des  „Blut- 
schnees" genannt  (Oltmanns  S.  187).  Nach 
Simony  wird  der  „schwarze  Schnee"  oder  die 
Gletscherschwärze  durch  Protococcus  nigricans 
hervorgerufen. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


383 


Mit  dieser  Notiz  möchte  ich  auf  einen 
bisher  nie  erwähnten  Fall  aufmerksam 
machen,  in  dem  eine  auffallende  Fär- 
bung, bzw.  Umfärbung  des  Wassers 
durch  einen  Ciliaten  und  zwar  Stentor 
igneus  Ehren b.  verursacht  wurde.  Den 
ganzen  Sommer  und  Herbst  1920  über  und  in 
einer  allerdings  schwächeren  Entwicklung  während 
der  folgenden  milden  Wintermonate  beobachtete 
ich  in  einem  kleineren  Tümpel  im  Stiftingtal  bei 
Graz  die  Massenvegetation  dieses  Ciliaten.  Stentor 
igneus  kommt  hier  in  solchen  Mengen  vor,  daß 
der  Wasserspiegel,  Pflanzenteile  und  die  am  Rande 
eingelassenen  Pfosten  ganz  rotbraun  erscheinen. 
Es  handelt  sich  bei  diesem  Tümpel,  der  am  Nord- 
abhang der  Ries  im  Stiftingtal  an  einem  Fahrweg 
liegt,  anscheinend  um  einen  wegen  des  derzeit 
verschmutzten  Wassers  aufgelassenen  Tränkplatz 
für  Zug-  und  Weidetiere.  Bei  oberflächlichem 
Betrachten  ähnelt  der  Farbenton  des  Wasser- 
spiegels und  der  Uferränder  dem  einer  reich  ent- 
wickelten Diatomeenvegetation,  nur  ist  der  Farben- 
ton nicht  so  ausgesprochen  braun  oder  hellgelb, 
sondern  mehr  rotbraun  oder  oft  tief  dunkelrot. 
Bei  ruhigem  Wetter  erweist  isich  bei  genauerem 
Zusehen  die  Wasseroberfläche  wie  übersät  mit 
zahllosen  Pünktchen,  die  eben  ausschließlich  kon- 
trahierte Stentoren  sind.  Diese  sonst  nicht  häu- 
fige Art  ist  bekanntlich  durch  einen  einfach  ellip- 
soidischen  Kern  ausgezeichnet,  führt  reichlich 
Zoochlorellen  und  lagert  in  den  äußeren  Plasma- 
schichten zahllose  winzige  K  a  r  o  t  i  n  (=  Hämato- 
chrom-)Körnchen  ab.  Die  Größe  schwankt 
zwischen  300  und  400  fi  und  je  nach  dem  Zu- 
stand, ob  kontrahiert  oder  ausgestreckt,  variiert 
der  Farbenton  von  einem  schwachen  Karminrot 
bis  zu  einem  Dunkelrot.  Durch  Verlagerung 
undBallung  der  Karoti  nkörnchen  kann 
die  grüne  Farbe  der  Zoochlorellen  sich 
derart  geltend  machen,  daß  Stentor 
igneus  ebenso  einen  täglichen  Farben- 
wechsel erleiden  kann,  wie  Euglena 
haematodes,  welche  nach  Lemmermann 
(S.  486)  die  Gewässer  am  Tage  zinnoberrot,  gegen 
Abend  infolge  Umlagerung  des  Karotins  grün 
färbt.  Bei  meinem  Material  habe  ich  diesen 
Farbenwechsel  gleichfalls  verfolgen  können. 

Die  Farbenänderung,  welche  durch  die  Massen- 
vegetation von  Stentor  igneus  an  dem  ge- 
nannten Fundort  hervorgerufen  wird,  ist  besonders 
bei  stillem  Wetter  auffallend,  bei  bewegtem 
Wasser  oder  nach  starker  Verunreinigung  durch 
zugeführtes  Schmutzwasser  nach  Regen  verschwin- 


det die  braune  Farbe  des  Tümpels  und  macht 
einer  durch  die  suspendierten  Lehmteilchen  be- 
dingten ockergelben  Färbung  Platz.  Nach  dem 
Sedimentieren  kommt  zuerst  die  auffallende  rot- 
braune Farbe  der  Wasseroberfläche ,  und  erst 
später  bemerkt  man  die  festsitzenden  Stentoren 
an  Wasserpflanzen  und  den  Rändern  des  Tümpels. 

Nebenbei  erwähne  ich,  daß  Stentor  viridis, 
St.  polymorphus  und  St.  caeruleus  an 
dieser  Lokalität  fehlten,  während  in  einem  Tümpel, 
nur  wenige  Minuten  von  dem  früher  genannten 
entfernt,  besonders  Stentor  viridis  lockere 
Detritusflocken  intensiv  grün  durchfärbte.  Ver- 
einzelt kamen  auch  Stentor  caeruleus  und  St. 
polymorphus  hier  vor. 

In  diese  Notiz  möchte  ich  die  weitere  Beobach- 
tung aufnehmen,  nach  der  Stentor  igneus 
während  der  Wintermonate  1921  knapp 
unter  dem  Eis  in  Wasser  bei  Tempera- 
turenvon  i — s'C  überNullsich  ingroßer 
Menge  lebend  erhalten  hat.  Einmaliges, 
auch  nur  kurz  dauerndes  Einfrieren, 
haben  die  beobachteten  Stentoren  nie 
überlebt.  Ganz  in  Übereinstimmung  mit  älteren 
Literaturangaben  bei  Ehrenberg  (zit.  nach 
Bütschli)  beobachtete  ich  ein  Zerfließen  der 
vorher  kontrahierten  Stentoren. 

Literatur. 

Aufseß,  O.  V.,  Die  Farbe  der  Seen.  Ann.  d.  Physik. 
1904.  4.  Folge. 

Bütschli,  O.,  Protozoa.  Bronns  Klassen  und  Ordnun- 
gen des  Tierreiches.  II.  Bd.  III.  Abt.   1889.  S.   1814. 

Cohn,  F.,  I.  Haematococcus  pluvialis.  Jahresber.  d, 
schles.  Ges.  f.  vaterl.  Kultur.   1881.  S.  318. 

Ders. ,  2.  Untersuchungen  über  Bakterien.  II.  Beitr.  z. 
Biol.  d.  Pflanzen.  1.  Bd.   1875.  S.   164. 

Klausner,  C,  Die  Blutseen  der  Hochalpen.  Internat, 
Rev.  d.  ges.  Hydrobiol.  I.  Bd.   190S — 1909.  S.  359. 

Lemmermann,  E.,  Kryptogamenflora  der  Mark  Bran- 
denburg.    III.  Bd.  Algen  I.    1910.  S.  29  u.  486. 

Oltmanns,  Fr.,  Morphologie  und  Biologie  der  Algen. 
II.  Bd.    1905.    S.   187.   Daselbst  weitere  Literatur  S.  213—219. 

Plümecke,  O. ,  Beitrag  zur  Ernährungsphysiologie  der 
Volvocaceen,  Gonium  pectorale  als  Wasserblüte.  Ber.  d.  D. 
Bot.  Ges.  32.  Bd.  1914.  S.  131. 

Rostafinski,  Vorläufige  Mitteilungen  über  den  roten 
und  gelben  Schnee  usw.     Ref.  in  Justs  Jahresber.  8,  I.  T. 

Simony,  Über  den  schwarzen  Schnee  oder  die  Gletscher- 
schwarze.     Protococcus  nigricans.     Deutsch.  Alpenzeitg.   1881. 

Thomas,  Fr.,  I.  Ein  neuer  durch  Euglena  sanguinea 
erzeugter  kleiner  Blutsee  in  der  baumlosen  Region  der  Bündner 
Alpen.     Mitteil.  d.  thüring.  bot.  Ver.   1S97.  Bd.   10.  S.  28. 

Ders. ,  2.  Die  Aroser-  und  andere  Blulseen.  Ebenda 
Bd.   15.   1900. 

Zacharias,  O.,  I.  Über  die  ErgrUnung  der  Gewässer 
usw.     Biol.  Zentralbl.   1902.  Bd.  22.  S.  700. 

Ders.,  2.  Über  Grün-,  Gelb-  und  Rotförbung  der  Ge- 
wässer usw.  Forschungsber.  a.  d.  biol.  Station  zu  Plön.  T.  X, 
1903.  S.  296 — 303.     Daselbst  Literatur. 


Faläoklimatologisches  im  Lichte  der  Paläobotauik. 

[Nachdruck  verboten,]  Von  Dr.  Robert  Potoni^,  Geologische  Landesanstalt  Berlin. 

Von  H.  Potonie  *)  wurde  das  Klima,  in  dem      gedacht,    das    neben    beträchtlicher    Feuchtigkeit 
die  Karbonmoore  entstanden  sein  sollen,   als  tro-  >)  Potonie,  H.,  Die  Entstehung  der  Steinkohle, 

pisch  bezeichnet.     Hierbei   wurde   an   ein   Klima     s.  1521?. 


1910, 


384 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


eine  Durchschnittstemperatur  aufweist,  wie  sie 
heute  im  Bereich  des  Äquators  in  den  Ebenen 
vorhanden  ist. 

Die  Gründe  hierfür  waren  für  H.  P  o  t  o  n  i  e  in 
einer  Reihe  von  Eigenschaften  der  Karbonpflanzen 
gegeben,  die  sich  entsprechenden  Eigenschaften 
heutiger  Tropenpflanzen  an  die  Seite  steilen  lassen. 
So  wies  er  u.  a.  auf  die  Kauliflorie  gewisser 
Karbonpflanzen  hin,  und  weiter  auf  ihre  Jahres- 
ringlosigkeit,  auf  Baum-  und  Kletterfarne  usf.  — 
Mag  man  zu  dieser  Anschauung  H.  Potonies 
stehen  wie  man  will,  eines  ist  sicher,  die  Stein- 
kohlenpflanzen zwingen  uns  zu  der  Annahme,  daß 
sie  in  einem  außerordentlich  gleichmäßigen,  feuch- 
ten und  frostfreien  Klima  aufgewachsen  sind. 

Überall  auf  dem  Erdball,  wo  sich  in  den 
Schichten  der  Steinkohlenzeit  Pflanzenreste  vor- 
finden ,  die  die  genannten  Eigenschaften  zeigen, 
da  müßte  also  nach  H.  Potonie  zu  jener  Zeit 
ein  tropisches  Klima  geherrscht  haben.  Solches 
Klima  wäre  dann  aber  für  weite  Teile  des  Erd- 
balls zu  fordern,  weil,  wie  nachher  genauer  ange- 
deutet werden  soll,  eine  Steinkohlenflora  von 
mitteleuropäischem  Habitus  in  einem  Bereich  ge- 
funden worden  ist,  der  nahe  am  Nordpol  beginnt 
(Unterkarbon)  und  nicht  weit  nördlich  des 
Äquators  endet  (Mittelkarbon),  so  die  ganze  nörd- 
liche Erdhalbkugel  umspannend.  Man  müßte  sich 
vielleicht  sogar  sagen,  daß  auch  im  Gebiet  der 
heutigen  Eisbedeckung  einst  eine  tropische  Flora 
gegrünt  hat  und  zwar  deshalb,  weil  „tropisch" 
anmutende  Pflanzenreste  in  so  großer  Nähe  der 
Eiskalotte  gefunden  worden  sind. 

Mancherlei  Einwände  sind  nun  der  Annahme 
eines  karbonischen  „Tropenklimas"  gemacht  wor- 
den. 

So  äußert  Gothan  in  der  neuen  Auflage  von 
„Die  Entstehung  der  Steinkohle"  1920,  S.  153, 
das  größte  Hindernis  für  die  Annahme  eines  tro- 
pischen Klimas  für  die  Karbonmoore  liege  zweifel- 
los in  der  Verbreitung  der  heutigen  wichtig- 
sten Steinkohlenbecken,  die  sich  in  einem  ähn- 
lichen Gürtel  und  in  ähnlichen  Breiten  um  die 
Nordhemisphäre  herumzogen,  wie  die  heutigen 
Moore  der  temperierten  Zonen.  Zu  Gothans 
Einwand  ist  zu  sagen :  Die  wichtigsten  Steinkohlen- 
becken befinden  sich  nicht  deshalb  im  Bereich 
der  heutigen  Hauptmoorgebiete,  weil  dort  die 
Steinkohlenflora  besonders  zu  Haus  gewesen  wäre, 
sondern  deshalb,  weil  mächtige  Kohlenlager  Hand 
in  Hand  mit  Gebirgsbildungen  entstehen.  So 
sind  in  Europa  die  Hauptkohlenbecken  an  das 
Gebiet  der  armorikanisch  -  varistischen  Gebirgs- 
bildung  geknüpft,  jener  Gebirgsbildung,  die  durch 
Karbon-  und  Permzeit  wirkte.  Nicht  deshalb 
finden  sich  hier  besonders  viele  Karbonpflanzen- 
reste, weil  hier  die  klimatischen  Bedingungen  be- 
sondere gewesen  sind,  sondern  deshalb,  weil  hier 
die  Erhaltungsbedingungen  günstigere  waren.  Die 
Verbreitung  der  Karbonpflanzen  und  somit  auch 
das  Klima,  das  sie  brauchten,  reicht  weit  über  die 


Hauptkohlenvorkommen    hinaus,     was    ja    schon 
erwähnt  wurde. 

Gegen  die  Tropennatur  der  Karbonmoore 
ließe  sich  aber  vielleicht  folgendes  sagen.  Unsere 
heutigen  Flachmoore  der  gemäßigten  Zone  zeigen 
ebenfalls  Charaktere,  die  zu  den  Tropen  weisen. 
Man  könnte  daher  auch  von  der  Vergangenheit 
annehmen,  schon  damals  hätte  die  Vegetation 
der  Flachmoore  einen  Habitus  gehabt,  der  süd- 
licher gestimmt  war  als  der  der  Pflanzen  ihrer 
Umgebung,  und  man  müßte  hieraus  schließen, 
das  Klima  der  Karbonzeit  sei  ein  weniger  warmes 
gewesen  als  die  Pflanzen  der  karbonischen  Flach- 
moore vermuten  lassen. 

Wir  finden  nämlich  in  deutschen  Flachmooren 
u.  a.  folgende  zum  Süden  weisende  Pflanzen: 

Alnus  glutinosa, 

Carex  riparia; 

Cladium  mariscus, 

Convolvulus  sepium, 

Humulus  lupulus, 

Limnanthemum  nymphaeoides 

Lonicera  periclymenum, 

Oryza  claudestina  (blüht  bei  uns  schlecht), 

Phragmites  (bekommt  in  Kanada  keine 
Früchte,  während  Linnaea  Früchte 
trägt,    was  bei  uns  nicht  der  Fall  ist), 

Solanum  dulcamara. 
Auch  die  Farne  und  vor  allem  die  Farnbäume 
des  Steinkohlenwaldes  weisen  darauf  hin,  daß  die 
Karbonmoore  vielleicht  doch  nicht  in  einem  rein 
tropischen  Klima  entstanden  sind,  d.  h.  in  einem 
Klima,  das  der  in  der  Einleitung  gegebenen  Defi- 
nition entspricht.  Jedenfalls  pflegen  heutzutage 
die  Farnbäume  der  Tropen  nicht  im  Flachlande, 
sondern  namentlich  in  den  kühleren  aber  feuchten 
Schluchten  von  Gebirgen  zu  wachsen.  Hierzu 
möchte  ich  auf  H.  Chris  ts  Geographie  der  Farne 
(Jena,  1910)  verweisen.  Es  heißt  da(S.  42):  „Man 
würde  irren,  wenn  man  sich  vorstellen  wollte,  als 
ob  im  äquatorialen  Regenwald  das  Maximum  der 
Entwicklung  und  die  Zahl  der  Farne  mit  der 
Ebene,  mit  dem  Meeresniveau  oder  mit  der  höch- 
sten Temperatur  beginnen  würde.  Im  Gegenteil. 
Erst  in  gewisser  Höhe,  erst  mit  Beginn  der  Ge- 
birge und  sogar  erst  in  einer  namhaften  Höhe 
beginnt  das  Leben  der  Farne  sich  zu  einer  höch- 
sten Energie  zu  entfalten,  und  zwar  deshalb,  weil 
eben  die  Farne  nicht  das  absolute  Maximum  von 
Wärme  und  von  Feuchtigkeit  verlangen,  sondern 
weil  ihnen  eine  mäßige  aber  gleichmäßige  Wärme, 
eine  nicht  in  übermäßigen  Güssen  gespendete, 
sondern  eine  sanfter  verteilte  Regenmenge  kon- 
genial ist."  Und  weiter  äußert  sich  Christ 
(S.  52)  in  Anlehnung  an  Colenso  über  die  ge- 
waltige „Entfaltung  der  vermeintlich  ausschließlich 
tropischen  Baumfarne"  in  Neuseeland,  d.  h.  „im 
gemäßigten  Regenwalde  der  SHemisphäre".  Und 
bemerkt:  „In  diesem  tiefen  Süden  zeigt  es  sich, 
daß  vor  allem  Luft-  und  Bodenfeuchtigkeit  weit 
mehr  als  hohe  Temperatur  wesentliche  Bedingung 
für  die  Farnbäume   ist,    und   daß   ihnen  gelegent- 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


38S 


licher  Frost  nicht  schadet.  D  i  e  1  s  führt  an,  daß 
beschneite  Farnkronen  auf  Tasmania  kein  seltener 
Anblick  sind,  und  daß  in  WNeuseeland  die  Farn- 
bäume dicht  an  die  Gletscher  herangehen." 

Die  Farnbäume  sind  also  ein  schlechter  Be- 
weis für  das  „Tropenklima"  der  Karbonzeit.  Den- 
noch muß  man  sich  mit  Christ  (S.  50)  folgendes 
vergegenwärtigen,  um  zu  verstehen,  daß  anderer- 
seits diese  Pflanzen  auf  keinen  Fall  Bewohner  ge- 
mäßigter Zonen  sind :  „Die  südlichsten  Punkte, 
wo  noch  Farnbäume  auftreten,  sind  Tasmania  und 
die  Südinsel  Neuseelands  mit  Auckland.  In  Süd- 
Brasilien  geht  die  Dicksonia  Sellowiana  und  Also- 
phila  procera  bis  St.  Paulo;  in  N  Argentinien  bis 
Misiones;  im  Kapland  ist  Hemitelia  capensis  die 
letzte  Etappe  nach  Süden. 

Einleuchtend  tritt  hier  die  Gleichheit  der 
Temperaturkurve  und  die  hohe  Feuchtigkeit  der 
SHemisphäre  als  begünstigende  Ursache  hervor, 
wie  ja  auch  die  kleinen  und  entfernten  ozeanischen 
Inseln:  St.  Helena,  die  Sandwichsinseln  ihre  Cya- 
theaceen  haben,  bis  zu  den  Kanaren  hinauf,  nicht 
zu  reden  von  Polynesien,  wo  alle  Inselgruppen 
wahre  Herde  endemischer  Farnbäume  sind." 

Nach  alledem  wäre  also  nicht  unbedingt  eine 
hohe  Temperatur  für  den  Farnwald  der  Stein- 
kohlenzeit zu  fordern,  wie  dies  H.  Potonie  getan 
hat.  Denn  besonders  hohe  Temperatur  und  Luft- 
feuchtigkeit faßte  er  ja  unter  dem  Begriff  „tro- 
pisch" zusammen. 

Endgültig  entschieden  ist  aber  die  Frage  noch 
nicht,  ob  die  Karbonpfllanzen  wirklich  nirgends  als 
Tropenpflanzen  aufgetreten  sind,  denn  dann  könnte 
es,  wie  wir  sehen  werden,  in  der  Vorzeit  so  gut  wie 
überhaupt  kein  tropisches  Klima   gegeben  haben. 

Nehmen  wir  nämlich  an,  daß  tatsächlich  die 
Steinkohlenpflanzen  kühlere  aber  gleichmäßig 
temperierte  und  feuchte  Standorte  bewohnt  haben, 
was  die  Paläontologen  als  subtropische  Standorte 
zu  bezeichnen  pflegen,  so  müssen  wir  notgedrungen 
zugeben,  daß  solche  Standorte  ungemein  weit 
verbreitet  waren. 

Man  könnte  nun  darauf  hinweisen,  daß  dennoch 
Klimazonen  vorhanden  gewesen  sein  könnten,  da 
eine  bestimmte  Vegetation  ihre  Bedingungen  je 
nach  der  Klimazone  in  verschiedener  Höhe  über 
dem  Meeresspiegel  findet.  Wir  wissen  jedoch, 
daß  die  Reste  der  Vorzeitpflanzen,  soweit  sie  uns 
überkommen  sind,  fast  alle  etwa  in  Höhe  des 
Meeresspiegels  eingebettet  wurden ,  also  auch  in 
dieser  Höhe  gewachsen  sind.  Nur  an  solchen 
Stellen  waren  die  Bedingungen  zur  Erhaltung  ge- 
geben. Dies  zeigt,  daß  die  Farnbäume  der  Vor- 
zeit wohl  doch  nicht  an  Standorte  gebunden 
waren,  die  gänzlich  den  Standorten  rezenter  Farn- 
bäume entsprechen.  —  Daß  aber  die  Pflanzenreste 
der  Vorzeit,  soweit  sie  uns  erhalten  blieben,  so 
gut  wie  alle  aus  der  Ebene  stammen,  führt  uns 
zu  folgender  Anschauung:  Man  muß  sich  allmäh- 
lich deutlich  auf  den  Standpunkt  stellen,  daß,  so- 
weit vorhandene  Pflanzen  in  den  einzelnen  geo- 
logischen Abschnitten  ein  Urteil  erlauben,  während 


der  Vorzeit  vom  Karbon  bis  mindestens  zur 
Kreide  das  Klima  auf  unserem  Erdball  im  großen 
und  ganzen  immer  gleich  gewesen  ist  und  daß 
vor  allen  Dingen  dieses  Klima  während  dieser 
ganzen  Zeit  von  beiden  Polen  bis  zum  Äquator 
dasselbe  oder  doch  mindestens  ein  sehr  ähnliches 
gewesen  sein  muß. 

In  dieser  krassen  Form  ist  dieser  Schluß  noch 
nicht  gezogen  worden.  Freilich  finden  sich  Äuße- 
rungen, die  zu  dieser  Ansicht  hinüberleiten  können, 
aber  diese  Äußerungen  werden  nur  demjenigen 
verraten,  was  denn  eigentlich  der  Kern  der  Sache 
ist,  der  schon  vorher  versucht  hat,  sich  in  der 
angegebenen  Richtung  über  die  Dinge  klar  zu 
werden.  Wer  sich  dagegen  bisher  gezwungen 
fühlte  anderer  Ansicht  zu  sein,  der  wird  bei  dem 
geringen  Nachdruck,  mit  dem  man  bisher  diese 
Folgerungen  aus  den  paläophytogeographischen 
Tatsachen  vorgebracht  hat,  zu  der  Überzeugung 
kommen,  die  Paläobotaniker  seien  noch  nicht  in 
der  Lage,  einen  klaren  Schluß  zu  ziehen. 

Eine  Äußerung,  die  uns  zeigt,  in  welcher 
Richtung  man  der  Wahrheit  über  das  Klima  der 
Vorzeit  entgegengeht,  finden  wir  in  der  neuen 
Auflage  des  Potonieschen  Lehrbuchs  der  Paläo- 
botanik  (S.  476).  Sie  stammt  von  W.  Gothan 
und  lautet: 

„Eine  für  uns  außerordentlich  schwer  verständ- 
liche Erscheinung  beginnt  vom  Karbon  an  sich 
durch  viele  geologischen  Formationen  hindurch 
einzustellen;  das  Auftreten  polnaher  Vegetation 
von  einer  Art,  die  sich  von  der  höherer  Breiten 
nicht  viel  oder  gar  nicht  unterscheidet.  Mit  der 
oberdevonischen  und  kulmischen  Flora  beginnt 
dies  erstmalig  in  Erscheinung  zu  treten  und  taucht 
in  derselben  oder  ähnlicher  Form  im  Jura,  der 
unteren  (und  oberen)  Kreide  und  auch  im  Tertiär 
noch  wieder  auf.  Selbst  wenn  man  für  die  ter- 
tiären Floren  von  Spitzbergen,  Grönland,  Grinnel- 
land,  Neu-Sibirien ,  Ellesmere-Land  ein  etwa  alt- 
tertiäres Alter  annimmt,  verliert  die  Erscheinung 
nichts  von  ihrem  Befremdenden.  Wir  haben  zu- 
nächst in  Grönland  und  Spitzbergen  eine  kulmische 
Flora,  die  sich  eng  an  die  schottische  altkarboni- 
sche  Flora  anschließt;  dieselben  Formen,  anschei- 
nend auch  Zuwachszonenlosigkeit  der  Holzge- 
wächse sind  zu  beobachten  wie  bei  uns.  Da  das 
Problem,  wie  gesagt,  in  den  späteren  Perioden 
in  derselben  Form  auftaucht  und  sich  erst  in  der 
unteren  Kreide  Anzeichen  einer  nennenswerten 
stärkeren  Abkühlung  am  Pol  einzustellen  scheinen, 
so  bleibt  nichts  weiter  übrig,  als  in  diesen  Ge- 
bieten ganz  ähnliche  Vegetationsbedingungen  an- 
zunehmen, wie  in  den  höheren  Breiten ;  so  schwer 
es  uns  auch  fällt,  im  Rahmen  der  heutigen  Ver- 
hältnisse das  zu  verstehen, ')  so  müssen  wir  uns 
doch  zu  der  Vorstellung  relativ    gleich    günstiger 


')  Anmerkung  von  Gothan:  Die  Polarnacht  scheint 
noch  die  geringste  Rolle  bei  dieser  Frage  gespielt  zu  haben, 
da  im  Tertiär  sonst  nicht  wie  in  unseren  Breiten  dort  Mag- 
nolien, Sequoien,  Taxodien  ebensogut  existiert  haben  könnten, 
unter  offenbar  nicht  ungünstigen   Bedingungen. 


386 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


Bedingungen  für  die  Vegetation  in  verschiedenen 
Breiten  bequemen.  Auch  die  früher  öfter  ge- 
machten Annahmen  der  Polverlegungen  helfen 
uns  aus  dieser  Klemme  nicht  heraus  u-nd  man 
kommt  wohl  immer  mehr  von  der  Hypothese 
weitgehender  Änderung  der  Pollage  ab ; 
auch  wir  setzen  bei  unseren  Betrachtungen  diese 
Hypothese  beiseite." 

Wie  ersichtlich  folgert  Gothan  aus  einer 
großen  Fülle  von  Einzeltatsachen,  daß  während 
des  bei  weitem  größten  Teils  der  geologischen 
Vergangenheit  „relativ  gleich  günstige  Bedingungen 
für  die  Vegetation"  geherrscht  haben  müssen. 
Gleich  günstig  also  in  der  Nähe  der  Pole  und  in 
der  Nähe  des  Äquators.  Abgesehen  wird  dabei 
von  Erscheinungen  wie  die  Permische  Eiszeit  sie 
mit  sich  gebracht  hat.  Erscheinungen,  die  sich 
um  so  weniger  schon  heute  übersehen  lassen,  als 
auch  damals  die  Pflanzenwelt  in  ihrer  weiteren 
Verteilung  darauf  hinweist,  daß  abgesehen  von 
den  eigentümlichen  „lokalen"  Vereisungen  die 
zitierten  Worte  Gothans  für  diese  Zeit  eben- 
falls ihre  Geltung  haben. 

Durch  den  Ausdruck  „gleich  günstige  Be- 
dingungen" ist  jedoch  nicht  voll  und  ganz  er- 
schöpft, was  sich  als  logische  Folgerung  aus  den 
paläobotanischen  Tatsachen  ergibt.  Dieser  Aus- 
druck könnte  sich  auch  speziell  auf  Boden-,  Nieder- 
schlags- usw.  Verhältnisse  beziehen  und  wird  auch 
so  verstanden,  wie  Unterhaltungen  ergeben  haben, 
die  ich  namentlich  mit  Geologen  über  diese  Dinge 
gehabt  habe.  Kurz  und  gut,  man  wird  aus  dieser 
Ausdrucksweise  folgern  müssen,  es  sei  hier  ge- 
meint, die  verschiedenen  Bedingungen,  die  für 
das  Leben  der  Pflanze  notwendig  sind,  sie  hätten 
zur  Vorzeit  von  den  Polen  bis  zum  Äquator  in 
einem  günstigen  Wechselverhältnis  gestanden. 
Etwa  so,  daß  z.  B.  da,  wo  hohe  Temperatur  eine 
starke  Verdunstung  bedingte,  reichere  Nieder- 
schläge vorkamen,   die    das    wieder   gut  machten. 

Wenn  wir  zusehen  (und  dies  sei  für  den  Geo- 
logen gesagt),  wie  heute  die  Pflanzenwelt  auf  dem 
Erdball  verteilt  ist,  so  bemerken  wir,  daß  diese 
Verteilung  ganz  außerordentlich  abhängig  ist  von 
der  Temperatur.  Ja,  man  möchte  fast  sagen  in 
erster  Linie  von  der  Temperatur.  Man  beachte 
nur  einmal  die  verschiedenen  Vegetationsgrenzen 
beim  Besteigen  eines  Gebirges.  Man  könnte  ein- 
wenden, daß  gewisse  Gewächse  wärmeren  Klimas, 
so  z.  B.  die  Magnolien  sogar  in  den  Gärten  Nord- 
deutschlands noch  zu  gedeihen  vermögen.  Aber 
eben  nur  in  den  Gärten  und  durch  die  Pflege  des 
Gärtners.  Von  solchen  mehr  südlichen  Gewächsen, 
wie  auch  Ginkgo,  Tulpenbaum  usw.  welche  sind, 
die  sich  unter  der  Pflege  des  Gärtners  bei  uns 
wohl  fühlen,  wäre  weiter  zu  sagen,  daß  sie  sofort 
zugrunde  gehen  würden,  wenn  der  Gärtner  ihnen 
nicht  den  Platz  von  Konkurrenten  frei  hielte,  für 
hinreichendes  Wasser  sorgte  oder  dergleichen. 
Nur  derartiges  vermag  solchen  Pflanzen  die  ihnen 
in  ihrer  Heimat  gebotenen  Verhältnisse  zu  ersetzen. 

Betrachten  wir  nun  einmal  etwas  eingehender 


die  Verteilung  der  Pflanzen  der  Vorwelt  auf  dem 
Erdball,  so  bemerken  wir,  daß  seit  jener  Zeit, 
die  uns  zuerst  in  größeren  Mengen  Pflanzenreste 
hinterlassen  hat,  d.  h.  seit  dem  Karbon,  in  der 
Nähe  des  Pols  auch  weiterhin  häufig  dieselben 
oder  doch  nahe  verwandte  Arten  auftreten  wie 
in  Äquatornähe.  Die  Unterschiede,  die  sich 
zwischen  den  Südlichsten  und  nördlichsten  Vor- 
kommen feststellen  lassen,  sind  zu  geringe,  um 
auf  andere  Standortsverhältnisse  zu  deuten.  Das 
südlichste  Vorkommen  der  Karbonflora  beschreiben 
Douville  und  Zeiller.^)  Es  zeigt  durchaus 
den  europäischen  Typus  und  liegt  im  südlichen 
Oran  in  Nordafrika  bei  29"  nördl.  Breite.  Das 
Becken  von  Eregli  am  Schwarzen  Meer  zeigt 
ebenfalls  eine  rein  europäische  Karbonflora  hier 
sogar  mit  denselben  Horizonten  wie  sie  z.  B.  in 
Oberschlesien  auftreten.  Weiter  findet  sich  eine 
normale  Karbonflora  in  Spanien. 

Für  das  Unterkarbon  ist  zu  sagen,  daß  seine 
europäische  Flora  sehr  ähnlich  der  argentinischen 
und  peruanischen  ist  und  sie  sich  auch  durchaus 
derjenigen  Spitzbergens  an  die  Seite  stellen  läßt. 
Die  nördlichste  dieser  unterkarbonischen  Floren 
haben  wir  auf  dem  81"  nördl.  Breite. 

Besonders  aufklärend  in  unserer  Frage  wirkt 
die  Betrachtung  der  Gondwanaländer. 

Wo  sich  in  diesen  Gebieten  eine  Kulmflora 
nachweisen  läßt,  ist  sie  wieder  ohne  weiteres 
unserer  europäischen  Kulmflora  an  die  Seite  zu 
stellen.  Höheres  Karbon  ist  aus  diesen  Arealen 
unbekannt.  Erst  mit  der  Wende  der  Karbon-  zur 
Permzeit  sind  dann  wieder  Pflanzenreste  führende 
Schichten  nachweisbar,  die  Überreste  der  be- 
rühmten Gondwana-  oder  Glossopterisflora  auf- 
weisen. 

Diese  Flora  ist  charakterisiert  durch  eine 
Anzahl  von  Leitformen,  die  sich  mehr  oder 
weniger  zahlreich  überall  an  jenen  Orten  ge- 
funden haben,  deren  Gesamtgebiet  nach  dieser 
Flora  bezeichnet  wird.  Der  Name  Gondwanaflora 
stammt  von  einer  ostindischen  Lokalität,  der 
andere  von  einem  fast  überall  zahlreich  vor- 
handenen Pflanzentypus,  der  farnartigen  Glosso- 
pteris.  Als  Leit-  und  Charakterformen  dieser 
Flora  sind  zu  nennen  i.  die  Glossopteriden  (Glosso- 
pteris  und  Gangamopteris)  und  deren  Rhizome 
(Vertebraria),  2.  „Neuropteridium"  validum  Feist- 
mantel, ziemlich  große,  einmal  fiedrige,  in  der 
Blattform  an  Cardiopteris  und  Sphenopteridium 
dissectum  erinnernde  Wedel,  3.  ist  von  den  Equi- 
setales  zu  erwähnen  die  Schizoneura  (gondwa- 
nensis)  und  die  Phyllotheka-Arten,  4.  die  meist 
mit  Ginkgophyten  in  Verbindung  gebrachten 
Rhipidopsis-Arten,  sowie  einige  andere  z.  T. 
seltenere  Formen  wie  Belemnopteris ,  Ottokaria, 
Arberia  u.  a. 

Die  Glossopterisflora   stellt   also   einen  Typus 


')  Douville  et  Zeiller,  Sur  le  terrain  houiller  du 
Sud  Oranais,  Compt.  rend.  d.  seances  d.  l'Acad.  d.  Sciences, 
t.  CXLVI,  S.  732. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


387 


für  sich  dar.  Indessen  tritt  sie  nicht  überall  in 
reiner  Form  auf.  Vielmehr  zeigen  sich  hier  und 
da  europäisch  -  amerikanische  Einschläge.  So  sei 
nur  an  Südbrasilien  erinnert  und  weiter  sei  darauf 
hingewiesen,  daß  die  Glossopterisflora  an  der 
Dwina  zusammen  mit  einer  echten  europäischen 
Permokarbonflora  vorkommt.  Diese  letzteren  Tat- 
sachen beweisen,  daß  das  Klima  nicht  nur  in  den- 
jenigen Gegenden  überall  ein  verwandtes  gewesen 
sein  dürfte,  in  denen  wir  die  Glossopterisflora  auf- 
treten sehen,  es  dürfte  dieses  gleichartige  Klima 
sich  über  die  Glossopterisgebiete  hinaus  auch 
über  die  Gebiete  mit  typischer  Permokarbonflora 
erstreckt  haben.  Diese  Permokarbonflora  wieder- 
um beweist  durch  ihre  Zusammensetzung,  daß  sie 
ein  gleiches  Klima  beansprucht  wie  die  Floren 
des  vorangegangenen  Karbons. 

Wir    können    somit    die   zwar   zeitlich   außer- 
ordentlich   voneinander    getrennten     Floren    von 


Unterkarbon,  Oberkarbon  und  Rotliegendem  alle 
als  ein  und  demselben  Klima  entstammend  be- 
trachten und  daher  für  alle  Gebiete,  in  denen  sich 
in  den  in  Rede  stehenden  Formationen  Pflanzen- 
reste finden,  ein  gleichartiges  Klima  annehmen. 
Wie  gleichmäßig  das  Klima  zur  Vorzeit  auf  dem 
ganzen  Erdball  gewesen  sein  muß,  folgt  also 
namentlich  aus  der  Betrachtung  der  Pflanzen- 
verteilung um  die  Wende  vom  Karbon  zum  Perm. 
Es  geht,  dies  sei  zum  Schluß  noch  einmal 
betont,  nicht  an,  zu  behaupten,  die  Pflanzen  hätten 
zur  Vorzeit  im  weitgehendsten  Maße  die  Fähig- 
keit besessen,  sich  den  verschiedensten  klimati- 
schen Verhältnissen  anzupassen.  Zwar  sehen  wir 
heutzutage,  daß  hier  und  dort  abgehärtete  Formen 
einer  Art  hervorgebracht  werden  können,  was 
jedoch  heute  nur  ausnahmsweise  stattfindet,  das 
kann  man  für  die  Vorzeit  doch  schlecht  als  Regel 
gelten  lassen. 


Einzelberichte. 


Die  Elektrizitätsleitiiiig  in  festeu 
kristallisierten  Stoffen. 

Über  die  Elektrizitätsleitung  in  Lösungen  sind 
wir  dank  den  Untersuchungen  seit  Hittorf  und 
anderen  Forschern,  wie  Ostwald,  gut  unter- 
richtet. Sie  geschieht  so,  daß  in  jedem  Quer- 
schnitt des  Elektrolyten  gleichzeitig  ganz  bestimmte 
Mengen  positiver  und  negativer  Elektrizität  sich 
bewegen.  Die  Träger  dieser  Bewegung  sind  die 
entgegengesetzt  geladenen  Ionen.  Ihr  A  n  t  e  i  1  an 
der  Leitung  ist,  wie  man  weiß,  ganz  verschieden. 
Das  ergibt  sich  aus  den  Konzentrationsänderungen 
der  verschiedenen  Ionen,  die  durch  die  sog. 
Überführungszahlen  unmittelbar  gemessen 
werden  können. 

Bei  festen  einheitlichen  Stoffen  ist  eine  Be- 
stimmung von  Überführungszahlen  offenbar  weit 
schwieriger,  wenn  überhaupt  möglich,  weil  hier 
keine  Änderungen  der  Konzentration  gemessen 
werden  können.  So  ist  bisher  nur  einmal  eine 
derartige  Bestimmung  versucht  worden.  War- 
burg  und  Tegetmeier^)  elektrolysierten  er- 
hitzten Quarz,  sowie  Glas,  beides  ja  definierte 
chemische  Verbindungen.  Dabei  fanden  sie  eine 
„Konzentrationsänderung"  nur  für  Natrium, 
das  sich  in  beliebiger  Menge  durch  die  betreffen- 
den Stoffe  hindurchelektrolysieren  ließ.  Das  Sili- 
kation des  Glases  dagegen  nahm  an  der  Strom- 
bewegung offenbar  überhaupt  keinen  Anteil.  Es 
ergab  sich  also  die  sehr  merkwürdige  und  in  alle 
Lehrbücher  eingegangene  Tatsache,  daß  nur  das 
Kation,  nicht  aber  auch  das  Anion  in  festen 
kristallisierten  Stoffen  wandere. 

Dieser  allerdings   nur   auf  spärliche  Versuche 

')  Wiedemanns  Anoalen  21,  S.'  622,  1884  und  35, 
S.  455.  »888. 


gestützte  Schluß  ist  jedoch,  wie  neueste  Unter- 
suchungen von  C.  Tubandt*)  beweisen,  in  der 
bisher  üblichen  Fassung  nicht  aufrecht  zu  erhalten. 
Tu  b  an  dt  fand  vielmehr,  daß  sehr  wohl  auch 
A  n  i  o  n  e  n  fester  Systeme  wandern  können. 

Für  diese  experimentell  schwierigen  Unter- 
suchungen kam  eine  neue  Methodik  in  Anwen- 
dung. Es  wurden  kleine  Zylinder  aus  den  zu 
elektrolysierenden  Stoffen  gepreßt  und  diese  fest 
aneinander  haftend  dem  Stromdurchgang  ausge- 
setzt. Aus  einer  etwaigen  Gewichtsveränderung 
ließ  sich  dann  die  Konzentrationsänderung  er- 
mitteln. Dafür  war  aber  nötig,  daß  die  Zer- 
setzungsprodukte der  Elektrolyse  in  fester  Form 
und  so  abgeschieden  wurden,  daß  die  in  Lösung 
statthabenden  störenden  sekundären  Umsetzungen 
nach  Möglichkeit  ausgeschaltet  wurden,  so  daß 
eine  quantitative  Bestimmung  der  Elektrolysen- 
produkte stattfinden  konnte.  Zu  diesem  Zweck 
mußte  beispielsweise  die  Kathode  (auf  Grund 
früherer  Erfahrungen)  mit  einem  Zylinder  aus 
Silberjodid  kombiniert  werden,  weil  sonst  die  ab- 
geschiedenen Metalle  feinste  aderähnliche  Durch- 
wachsungen der  festen  Stoffe  bildeten,  so  daß  sie 
schließlich  die  Stromleitung  allein  übernahmen, 
das  eigentliche  Bild  also  fälschten.  Schaltete  man 
schließlich  zwischen  die  unmittelbar  an  die  Elek- 
troden anschließenden  Zylinder  noch  einen  oder 
mehrere  Zwischenzylinder,  so  hatte  man 
damit  ein  Medium  geschaffen,  das  dem  Wasser 
bei  der  Elektrolyse  von  Lösungen  entsprach.  Es 
mußte  der  neutrale  Zwischenzylinder  also  ge- 
wichtskonstant bleiben.  Geschah  dies,  so  war 
ein  Meßfehler  ausgeschlossen.  Man  hatte  also 
eine  Apparatur,  die   die  Bestimmung   von   Über- 


']  Zeitschr.  f.  anorg.  Chemie  115,  S.  105,   1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


führungszahlen  im  festen  Zu  stände  gestattete. 
Unter  der  Annahme  völliger  Dissoziation  des 
festen  Stoffes  kann  man  mithin  auch  die  Wande- 
rungsgeschwindigkeit im  festen  Stoff  be- 
rechnen. 

Wir  geben  im  folgenden  eines  der  ver- 
schiedenen Versuchsergebnisse  Tubandts  aus- 
führlich wieder,  um  die  Brauchbarkeit  und  Ver- 
trauenswürdigkeit seiner  bemerkenswerten  Mes- 
sungen darzulegen.  Bei  diesem  Versuch  betrug 
die  Höhe  der  Zylinder  einige  Zentimeter  (höch- 
stens 30  mm),  der  Durchmesser  10  mm.  Selbst- 
verständlich handelte  es  sich  um  tadellos  reine 
Präparate,  deren  Preßformen  sorgfältig  poliert 
waren.  Die  Anode  war  ein  Silberblech  von 
12  mm^,  die  Kathode  ein  Platinblech,  Das 
Ganze  befand  sich  in  einem  heizbaren  Porzellan- 
rohr, außerdem  war  in  den  Stromkreis  ein  Coulo- 
meter  zwischengeschaltet.  Bestanden  die  Zylin- 
der aus  festem,  regulären  Silberjodid,  so 
fand  man  folgende  Zahlen: 

Temperatur  150"      150"       300" 

Stromstärke  in  Milliampere       5  40  20 

Im  Coulometer  abgeschie- 
denes Silber  "  0,8337  0,5871  0,2906g 
An  Kathode  abgeschiedenes 

Silber  0,8339  0,5874  0,2908  g 

Gewicht  der  Zylinjler  vor  1  in  allen  Zylindern  un- 

und  nach  dem  Versuch  /  verändert  I 

Gewichtsabnahme  der 

Silberanode  0,8338  0,5874  0,2910 

Die  quantitative  Übereinstimmung  der  durch 
das  Coulometer  einerseits,  durch  den  Stromdurch- 
gang an  der  Kathode  andererseits  abgeschiedenen 
Silbermengen  beweist,  daß  das  Gesetz  von  Fara- 
day  auch  für  die  Elektrizitätsleitung  in  festen 
kristallisierten  Stoffen  streng  gültig  ist.  Durch 
jeden  Querschnitt  des  festen  Stoffes  müssen  mit- 
hin Silber  i  o  n  e  n  gehen,  die  der  jeweils  passieren- 
den Elektrizitätsmenge  genau  äquivalent  sind,  in 
Richtung  des  positiven  Stromes.  Das  Jod,  also 
das  Anion,  nimmt  an  der  Überführung  über- 
haupt keinen  Anteil,  so  daß  hiernach  der  War- 
burgsche  Befund  nicht  berührt  erscheint.  Aber 
Versuche  mit  Bleichlorid  PbClg  ergaben  ein 
zwar  grundsätzlich,  nicht  aber  dem  Sinne  nach 
gletches  Ergebnis.  Hier  nämlich  waren  die  nega- 
tiven Chlorionen  die  Träger  des  Stromdurchgangs, 
während  die  positiven  Bleiionen  an  feste  Lage  ge- 
bunden erschienen.  Auch  Bleifluorid  erwies 
sich  als  rein  elektrolytischer  Leiter,  aber  wiederum 
wandern  nur  die  negativen  Fluorionen. 

Aus  diesen  und  anderen  Versuchen  geht  her- 
vor, daß  feste  kristallisierte  Stoffe  immer  ein- 
seitig überführen,  aber  es  sind  nicht  nur  die 
Kationen,  sondern  beide  lonenarten,  die  jeweils 
den  Stromdurchgang  ermöglichen. 

Aus  den  von  Tubandt  und  Lorenz^)  be- 
stimmten Leitfahigkeitswerten  läßt  sich  weiterhin 
die    absolute    Wandern  ngsgeschwindig- 

')  Zeitschr.  f.  physik.  Chemie  87,  S.  523,   1914. 


keit  der  Silberionen  im  festen  Jodid  berechnen. 
Sie  ist  bei  145  Grad  0,55  10-^  cm/sec,  ein  Wert, 
der  der  Geschwindigkeit  der  Silberionen  i  n  W  a  s  - 
ser  bei  18  Grad  etwa  gleich  isti  Ein  auffallend 
hoher  Wert  ließ  sich  für  die  Beweglichkeit  des 
Silberions  im  Silbersulfid  berechnen:  oberhalb 
179  Grad  betrug  er  0,11  cm/sec,  war  also  etwa 
200  mal  so  groß  als  der  für  das  gleiche  Ion  i  n 
Wasser  von  18  Grad. 

Die  Untersuchungen  Tubandts  sind  von  Be- 
lang für  die  heutige  Auffassung  der  Gitterstruktur 
der  kristallisierten  Stoffe.  Man  hat  sich  vorzu- 
stellen, daß  die  Ionen  der  einen  Art  in  Form 
eines  Gerüstes  angeordnet  sind,  das  in  seinen 
Zwischenräumen  Kraftfelder  aufweist,  vermöge 
deren  die  Ionen  der  anderen  Art  gehalten  wer- 
den, doch  so,  daß  ihre  Beweglichkeit  kaum  be- 
einträchtigt ist.  Daraus  würde  sich  die  große 
Wanderungsgeschwindigkeit,  d.  h.  geringe  Reibung, 
erklären.  Hans  Heller. 


Naturschutz  in  Holland. 

Wegen  der  Seltenheit  der  meisten  Reiherarten 
in  unserem  Lande  und  im  Hinblick  auf  unsere  in 
Zukunft  wohl  enger  werdenden  Beziehungen  zu 
dem  Nachbarlande  Holland  sei  auf  dortige  präch- 
tige Reiherbrutstätten  und  die  Tätigkeit  der  „Ver- 
eeniging  tot  Behoud  van  Natuurmonumenten  in 
Nederland"  hingewiesen.  Von  letzterer  liegen 
mir  mehrere  Druckschriften  vor.  Das  1906  in 
Amsterdam  erschienene  dünne  Heftchen  behandelt 
die  Gründung  des  Vereins  und  seine  Ziele.  Hier 
wird  unter  Hinweis  auf  die  Beispiele  Amerikas 
und  Deutschlands  —  Conwentz  1904  —  für 
die  Sache  geworben  und  der  Ankauf  von  Natur- 
monumenten seitens  der  Vereinigung  als  das  für 
holländische  Verhältnisse  wichtigste  Mittel  zum 
Ziele  hingestellt.  Der  schon  umfangreichere  Be- 
richt von  1910  bringt  außer  Persönlichem  und 
Geschäfthchem  auch  schon  biologische  Beobach- 
tungen aus  den  inzwischen  erworbenen  Schutz- 
gebieten. Unter  diesen  steht  das  „N  a  a  r  d  e  r  - 
meer"  bei  Naarden  unweit  Amsterdam  und 
Utrecht  an  erster  Stelle. 

Das  Naardermeer  ist,  wie  ich  aus  eigener  An- 
schauung erwähne,  eine  etwa  25  qkm  große  Süß- 
wasser- und  Sumpffläche,  ehemals  von  Kanälen 
durchzogenes  „Polder"land,  das  man,  nachdem  es 
als  Ackerland  wenig  ertragreich  war,  mit  der  den 
Holländern  eigenen  Kunst  der  Wasserstands- 
regulierung jetzt  tiefer  unter  Wasser  gesetzt  und 
dadurch  für  die  Fischerei,  besonders  Aalfischerei, 
ertragreicher  gemacht  hat.  Ein  natürHcher  Zufluß 
aus  dem  in  Holland  weit  verzweigten  Rhein  und 
eine  Wasser  herauspumpende  Windmühle  regu- 
lieren zu  den  verschiedenen  Jahreszeiten  den 
Wasserstand  je  nach  Bedarf  Zum  Besuch  ist 
Mitgliedschaft  erforderlich  oder  besondere  Erlaubnis 
seitens  des  Vorsitzenden  der  Vereinigung  für 
Naturdenkmäler-Erhaltung,  Herrn  J.  Th.  Oude- 
mans  in  Putten  up  de  Veluve.     Das  Boot   fährt 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


389 


der  Baas  des  Naardermeers,  der  an  dessen  West- 
ende wohnhafte  einzige  Pächter  der  Fischerei. 
Trotz  der  vorgerückten  Jahreszeit  —  denn  es  war 
um  Herbstanfang,  somit  die  Brutzeit  der  Vögel 
längst  vorüber,  und  viele  bemerkenswerte  Arten 
waren  schon  fortgezogen  —  war  die  mehrstündige 
Fahrt  ein  großer  Naturgenuß  schon  wegen  der 
prächtigen,  mit  Laubbäumen  und  Gebüsch  durch- 
setzten Sumpf-  und  Wasserpflanzenwildnis,  die 
man  durchquerte.  Nur  flüchtige  Anblicke  ge- 
währten die  scheuen  Wasserhühner,  Wildenten, 
Lachmöwen,  Rohrweihen  und  Bartmeisen.  Übri- 
gens durchquert  auch  die  Eisenbahn  das  Gebiet, 
und  vor  dem  heransausenden  Zug  scheuen  die 
besonders  zahlreichen  Wasserhühner  nicht. 

Nach  dem  holländischen  Bericht  von  1910 
kommt  der  Löffelreiher  oder  Löff  1er,  Platalea 
leucerodia  L. ,  der  prächtige  schneeweise,  breit- 
schnäbelige  große  Reihervogel,  der  dort  und  im 
„Schwanenwasser"  bei  Helder  seine  einzigen  Brut- 
plätze in  ganz  Nord-  und  Mitteleuropa  hat,  jährlich 
im  Naardermeer  mit  Brut  auf  etwa  1 50  Stück,  die 
natürlich  nicht  alle  zugleich  sichtbar  werden  und 
spätestens  im  September  das  Gebiet  verlassen. 
Auch. der  noch  etwas  größere  Purpurreiher, 
Ardea  purpurea  L.,  brütet  gleichzeitig  dort  gleich- 
falls in  Röhricht,  nicht  immer  an  genau  denselben 
Stellen,  in  stattlicher  Anzahl.  Außerhalb  Hollands 
hat  auch  er  keine  Brutstätten  in  Nord  und  Mittel- 
europa. Genauere  Angaben  über  die  Zeit  der 
Eiablage  und  des  Schlüpfens  dieser  Vögel  über- 
gehe ich.  Weitere  Mitteilungen  handeln  über 
eine  kleine  Lachmöwenkolonie,  4  Nester  der  Rohr- 
weihe, über  die  bei  uns  nicht  brütende  Bartmeise. 
Eine  Anzahl  Löffel-  und  Purpurreiher  würden  be- 
ringt. Als  bemerkenswertes  Säugetier  wurde  der 
Fischotter  festgestellt. 

Der  Bericht  von  191 2  bringt  eine  vollständige 
Liste  der  Vögel  des  Naardermeers,  71  Namen, 
darunter  34  Brutvögel.  Daß  unter  diesen  auch 
der  Graureiher  (Blauwe  Reiger,  Ardea  cinerea  L.) 
nicht  fehlt,  ist  insofern  fast  selbstverständlich,  als 
man  ihn  in  Holland  sehr  häufig  auf  den  Wiesen 
sieht.  Bemerkenswert  ist  aber,  daß  auch  er  hier 
nicht  wie  gewöhnlich  auf  Bäumen,  sondern  im 
„Riet"  nistet.  Auch  die  große  Rohrdommel  ist 
Brutvogel.  Ein  beringter  Purpurreiher  wurde  von 
Calais  zurückgemeldet.  Weitere  Mitteilungen  han- 
deln über  den  „Staart"  auf  Texel,  der  seit  seinem 
Ankauf  1910  247,  191 1  360  und  19 12  478  Nester 
mittelgroßer  Sumpf-  und  Wasservögel  barg,  sowie 


über  zwei  weitere  neuangekaufte  Gebiete,  den 
„Leuvenomsche  Bosch"  und  das  Landgut  „Hagenau". 

Endlich  berichtet  das  Heft  1913 — 1917  über 
dieselben  und  abermals  über  drei  neue  Schutz- 
gebiete, den  „Putten"  auf  Texel,  mit  Brutplätzen 
des  uns  von  Hiddensee  und  derpommerschen  Küste 
als  Naturdenkmal  bekannten  Säbelschnablers, 
Recurvirostra  avosetta  L.,  die  „Noordwestplaat  bij 
Rottum"und  ein  Gebiet  bei  Oisterwijk  (Südholland). 
Jetzt  werden  aus  dem  Naardermeer  Rohrdommel, 
Rohrweihe  und  Bartmeise  auch  als  überwinternd 
gemeldet,  nebst  den  beiden  Wasserhuhnarten. 
Dieses  Heft  bringt  eine  Aufzählung  der  Pflanzen 
von  Oisterwijk,  den  eingehendsten  Bericht  über  die 
Vögel  des  Naardermeers,  ferner  eine  geologische 
Arbeit  von  E.  Dubois  „Wie  entstanden  die 
Moore  von  Oisterwijk?"  und  eine  Arbeit  von  W. 
G.  N.  van  der  Sleen  „Die  Mollusken  des 
Naardermeers",  mit  3  Tafeln,  doch  ohne  irgend 
überraschende  Ergebnisse,  endlich  Mitteilungen 
von  J.  Drijver  über  das  unbewohnte  Inselchen 
Griend,  im  Wattenmeer  unweit  Terschelling,  und 
seine  Vögel.  —  Der  Ankauf  weiterer  Schutz- 
gebiete ist  geplant. 

Demnach  ist  der  Naturschutz  in  Holland  in 
besten  Händen,  und  er  kommt  mancher  Vogelart 
zugute,  die  in  Deutschland  viel  seltener  und  nicht 
Brutvogel  ist.  V.  Franz  (Jena). 

In  Stein  bohrende  Asseln. 

Isopoden,  welche  in  Holz  und  Stein  Löcher 
bohren,  waren  gelegentlich  schon  an  verschiedenen 
Küsten  gefunden  worden,  so  von  Fritz  Müller 
in  Brasilien.  A.  Barrows  (University  of  Cali- 
fornia Publications  in  Zoology,  Vol.  19,  1919, 
S.  299)  hat  einen  solchen  kleinen  Steinbohrer, 
Sphaeroma  Pentoden,  eine  Assel  von  etwa  3  cm 
Länge  und  0,5  cm  Breite,  an  der  Küste  der  Bucht 
von  San  Francisco  genauer  beobachtet.  Das  Tier 
beißt  mit  seinen  starken  Mandibeln  kleine  Stein- 
fragmente ab  und  höhlt  sich  auf  diese  Weise  einen 
Gang  aus,  in  welchem  es  sich  verbirgt.  Der 
weichere  Tuff  wird  leichter  bearbeitet  wie  der 
Sandstein.  In  diesem  sind  dann  nur  die  lockeren 
Schichten  durchlöchert,  während  der  Tuff  überall 
von  Löchern  durchsetzt  ist.  Durch  die  Tätigkeit 
der  kleinen  Bohrer  wird  eine  umfängliche  Ero- 
sion der  Gesteine  in  der  Flutzone  bewirkt,  die 
Tiere  werden  somit  gelegentlich  einen  gewissen 
Anteil  an  der  Verwitterung  von  Gesteinen  haben. 

Miehe. 


Bücherbesprechungen. 


Niggli,  Paul,    Lehrbuch    der   Mineralogie. 

694  Seiten.     Mit  560  P'iguren  im  Text.     Berlin 

1920,    Gebr.  Borntraeger.      Preis    80  M.    (ohne 

Aufschläge). 

Das  vorliegende  Buch  gehört  nicht  zu  jenen 


neuen  Lehrbüchern,  die  nur  verbesserte  und  er- 
gänzte Neuauflagen  älterer  Vorbilder  darstellen. 
Es  unterscheidet  sich  bewußt  von  solchen,  sowohl 
durch  die  Art  der  Darstellung,  wie  durch 
die  Auswahl  des  Stoffes.    Auf  allen  Gebieten 


390 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  26 


werden  vor  allem  die  neuesten  Forschungsmetho- 
den und  -ergebnisse  in  großzügiger  Weise  berück- 
sichtigt. Dadurch  wird  das  Buch  zwar  weniger 
dem  Anfänger,  um  so  mehr  aber  dem  Fortge- 
schritteneren zu  einem  wertvollen  und  anregenden 
Führer  bis  zum  heutigen  Stande  der 
Wissenschaft.  Der  Verf.  hat  es  als  seine 
Aufgabe  betrachtet,  den  vielfach  vermißten  Kon- 
takt mit  den  der  Mineralogie  von  heute  dienenden 
Hilfswissenschaften,  d.  i.  Mathematik,  Physik,  Phy- 
sikalische Chemie,  Chemie  und  Geologie  möglichst 
überall  herbeizuführen.  Dazu  eignet  sich  aller- 
dings nur  die  „allgemeine  Mineralogie"  im  engeren 
Sinne  und  die  „allgemeine  Lehre  von  der  Ent- 
stehung, dem  Vorkommen  und  dem  Zusammen- 
vorkommen der  Mineralien".  Dem  Buche  fehlt 
daher  auch  die  ganze  spezielle  Physiographie  usw. 
der  Mineralien,  die  sonst  den  breitesten  Raum 
einnimmt.  Eine  Mineralbestimmungstabelle  wird 
deswegen  als  Ergänzung  empfohlen.  Ebenso 
sollen  die  vielfach  atlasartig  zusammengestellten 
Kristallbilder  der  wichtigsten  Mineralien,  eine 
nach  chemischen  Gesichtspunkten  geordnete  Über- 
sichtstabelle derselben  und  schließlich  ein  Mineral- 
verzeichnis im  Nachschlageteil  diesen  Mangel  aus- 
gleichen. Dies  wird  für  viele  Bedürfnisse,  wohl 
aber  nicht  für  alle ,  ausreichen.  Dadurch ,  daß 
Morphologie,  Optik,  Chemismus,  Paragenese  eines 
Minerales  an  verschiedenen  Stellen  gesucht  wer- 
den müssen,  ist  dem  Schüler  ein  Überblick  über 
dessen  gesamte  Eigenschaften  erschwert.  Bei  der 
Unmöglichkeit,  das  Buch  noch  umfangreicher  zu 
gestalten,  war  aber  wohl  an  eine  andere  Lösung 
dieses  Problems  nicht  zu  denken.  Das  Werk  ist 
somit  eigentlich  ein  Lehrbuch  der  „allgemeinen" 
Mineralogie.  Es  bietet  als  solches  gerade  gegen- 
über den  bisherigen  Lehrbüchern  den  eigentlichen 
im  Unterricht  verwertbaren  Stoff  dieser  Wissen- 
schaft in  einer  Form,  die  entschieden  als  großer 
Fortschritt  zu  bezeichnen  ist.  Im  folgenden  sei 
kurz  auf  einige  bemerkenswerte  Einzelheiten  auf- 
merksam gemacht. 

Der  Verf.  der  „geometrischen  Kristallographie  des  Dis- 
kontinuutns"  geht  natürlich  in  der  geometrischen  Kristallo- 
graphie, dem  ersten  Hauptabschnitt  des  Buches,  aus  von  dem 
Begriff  des  Kristalles  als  eines  reellen  homogenen  Diskonti- 
nuums.  Es  ergeben  sich  dadurch  als  Symmetrieelemente  auch 
Schrauben-Achsen  und  Gleitspiegelungsebenen  und  mit  ihnen 
die  32  Kristallklassen  einschließlich  der  zugehörigen  230  Raum- 
systeme. Sehr  abweichend  vom  bisherigen  Gebrauch  ist  die 
Zusammenfassung  der  gesamten  einfachen  Kristallformen  zu 
Ein-,  Zwei-,  Drei-,  Vier-,  Sechs-,  Acht-,  Zwölf-,  Sechzehn-, 
Vierundzwanzig-  und  Acbtundvierzigflächnern.  Didaktisch  hat 
ihre  Ableitung  aus  der  stereographischen  Projektion  manches 
für  sich.  Zunächst  geht  aber  dem  Schüler  dadurch  der  Über- 
blick über  die  in  den  einzelnen  Kristallklassen  möglichen 
Formen  und  ihre  Kombinationen  verloren.  Ob  die  darauf 
folgende  zusammenfassende  Tabelle  und  die  Folge  von  Kristall- 
bildern der  wichtigsten  Mineralien  diese  Schwierigkeit  ganz 
beheben  können,  ist  durch  den  praktischen  Unterricht  zu  ent- 
scheiden. Zu  begrüßen  sind  die  allgemeineren  durch  die 
.Strukturlehre  bedingten  Gesichtspunkte  in  dem  Kapitel  über 
Pseudosymmetrie  und  Zwillingsbildung.  —  Aus  dem  Haupt- 
abschnitt über  Kristall  ph  ysik  sei  als  zweckmäßig  die  Ein- 
führung in  die  Kristalloptik  hervorgehoben,  die  sich  auf  den 
Begriffen  Strahlengeschwindigkeit,  Normalengeschwindigkeit 
und  Brechungsindex  aufbaut  und  mit  Hilfe  der  Indikatrix  als 


universellster  Bezugsfläche  anzukommen  trachtet.  Dankenswert 
empfinden  wird  der  Anfänger  besonders  auch  die  Bilder  der 
zweiachsigen  Mineralien  mit  eingezeichneter  optischer  Orien- 
tierung. —  Ein  Kapitel  über  Kristalloptik  der  Röntgenstrahlen 
unter  Angabe  des  Laue-,  Bragg-  und  Debye-Scherrer- 
Verfahrens  schließt  sich,  dem  heutigen  Stande  der  Forschung 
entsprechend,  hier  an.  —  Der  letzte  Hauptabschnitt  des 
I.  Teiles  ist  der  Kristallchemie  gewidmet.  Wo  irgend  an- 
gängig, wie  bei  Polymorphismus,  Isomorphismus,  Morphotropie 
und  Isotypie,  werden  hier  physikalisch-chemische  Betrachtungs- 
weise neben  den  Beziehungen,  die  sich  aus  der  Struktur- 
forschung ergeben,  verwertet.  Begrüßenswert  sind  ausführ- 
lichere Zusammenstellungen  der  hierhergehörigen  Verhältnisse 
der  besonders  wichtigen  gesteinsbildenden  Mineralien.  Ein 
.Abschnitt  über  die  Beziehungen  zwischen  chemischer  Zusam- 
mensetzung, Molekularkonstilution  und  Kristallstruktur  versucht 
die  außerordentlich  aussichtsreiche  W er n ersehe  Lehre  von 
den  Koordinationsverbindungen  und  ihre  Anwendungen  be- 
sonders auf  die  Silikatchemie  zum  ersten  Male  für  den 
Unterricht  allgemein  dienstbar  zu  machen.  —  Die  Unter- 
suchungen van  Bemmelens,  Cornus  u.  a.  werden  in  dem 
Kapitel  über  die  „sogenannten  amorphen  Mineralien"  gebührend 
berücksichtigt. —  In  dem  letzten  Teil  des  Buches  über, .Entstehung 
und  Zusammenvorkomnien  der  Mineralien"  tritt  die  Geologie 
in  Beobachtung  und  Experiment  mehr  in  den  Vordergrund. 
Zweckentsprechend  ist  die  Behandlung  der  Pseudomorphosen 
unter  dem  Gesichtspunkt  des  Massenwirkungsgesetzes.  Die 
Phasenregel  als  beschränkendes  Gesetz  der  verschiedenen 
möglichen  Mineralassoziationen  wird  entsprechend  berücksich- 
tigt. Unterschieden  werden  zunächst  intra-,  peri-  und  apo- 
magmatische  Mineralgesellschaften.  Dann  folgen  die  Ver- 
witterungs-  und  sedimentären  Minerallagerstätten,  gegliedert  in 
klastisch-sedimentäre,  ausscheidungssedimentäre,  rückstands-, 
zementations-  und  akzessorischsedimentäre  Mineralbildungen. 
Van  t'Hoffs  Forschungen  über  ozeanische  Salzablagerungen 
und  besonders  auch  Forschungsergebnisse  der  Bodenkunde 
geben  hier  das  erforderliche  moderne  Gewand.  Den  Schluß 
bilden  die  metamorphen  und  zu  Metamorphen  gehörigen 
Mineralassozialionen.  Es  versteht  sich,  daß  hier  Gruben- 
manns  und  Königsbergers  Arbeiten  in  vollem  Umfange 
berücksichtigt  wurden.  —  Eine  beigegebene  Zusammenstellung 
der  wichtigsten  Fachliteratur  mag  willkommen  sein,  wenn 
weitere  Orientierung  in  irgendeiner  Frage  gewünscht  wird. 

Kurz:  Kein  leichtfaßlicher  Grundriß  zur  Ein- 
führung für  den  Anfänger,  aber  ein  Lehrbuch  im 
besten  Sinne,  wenn  auch  über  Einzelheiten  in  der 
Bearbeitung  die  Meinungen  geteilt  sein  mögen. 
Wer  in  die  modernen  Aufgaben,  Methoden  und 
Ziele  der  allgemeinen  Mineralogie  sich  Einblick 
verschaffen  will,  der  lasse  sich  die  Mühe  des 
Studiums  nicht  verdrießen.  Spangenberg. 


Seidlitz,  W.  v.,  Revolutionen  in  der  Erd- 
geschichte. Akademische  Rede.  42  Seiten. 
Jena  1920,  G.  Fischer. 
W.  V.  Seidlitz  untersucht  das  schon  öfter 
und  mit  verschiedenem  Ergebnis  erörterte  Ver- 
hältnis von  Revolutionen  und  Evolutionen  in  der 
Erdgeschichte.  Wie  die  Geschichte  der  Menschen 
zeigt  auch  die  der  Erde  einen  Wechsel  von  Wer- 
den und  Vergehen.  Kontinente  tauchen  auf  und 
sinken  in  die  Tiefe;  Gebirge  wölben  sich  auf  und 
Meere  treten  über  ihre  Ufer  und  wandern.  Von 
ihnen  abhängig  ist  das  tierische  und  pflanzliche 
Leben.  Von  seinen  ersten  Spuren  bis  zur  heutigen 
Flora  und  Fauna  läßt  sich  ein  steter  Wechsel 
durch  die  Zeitalter  erkennen.  Ruhige  Abschnitte 
wechseln  jedoch  mit  solchen  stärkerer  Umwand- 
lung und  Veränderung.  Zeiten  konzentrierter 
Entwicklung   und   schneller  Aufeinanderfolge  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Ereignisse  bilden  die  Grenzen  der  Zeitalter  der 
Erde.  Auf  die  Revolution  mit  ihren  katastro- 
phalen Ereignissen  folgt  die  Evolution. 

Georg  Cuvier  war  es,  der  vor  einem  Jahr- 
hundert den  Begriff  der  Revolution  mit  seiner 
„Kataklysmentheorie"  in  die  Geschichte  der  Erde 
einführte  —  im  Gegensatz  zu  Charles  Lyells 
„Aktualismus",  der  alle  Erscheinungen  der  Erde 
mit  den  heute  auf  ihr  waltenden  Kräften  zu  er- 
klären versuchte.  Cuvier  kam  zu  der  Über- 
zeugung, daß  die  tierische  Bevölkerung  der  __Erde 
mehrmals  gewechselt  habe,  und  auf  diese  Über- 
zeugung begründete  er  die  Annahme,  daß  die 
Tierwelt  zu  verschiedenen  Malen  durch  mehr  oder 
weniger  plötzliche  revolutionäre,  aber  lokal  be- 
grenzte Umwälzungen  vernichtet  worden  sei.  Von 
Neuschöpfungen  nach  solchen  Ereignissen  dagegen 
hat  er  niemals  gesprochen.  Spätere  Übertreibun- 
gen seiner  Theorie  —  so  stellte  d'Orbigny  27 
nacheinander  folgende  Schöpfungsakte  auf  — 
fallen  ihm  nicht  zur  Last.  In  der  modernen  Geo- 
logie und  Paläontologie  spielt  die  Kataklysmen- 
theorie noch  eine  gewisse  Rolle.  So  hat  Salo- 
m  o  n  darauf  hingewiesen ,  daß  scharfe ,  über 
größere  Gebiete  verfolgbare  Formationsgrenzen 
auf  Ereignisse  zurückzuführen  sind,  die  in  gewissem 
Sinne  katastrophal  gewirkt  haben. 

Seidlitz  untersucht  nun  nach  einer  histori- 
schen Einführung  an  bestimmten  Erscheinungen 
aus  Geologie  und  Paläontologie  in  einer  Reihe 
von  Kapiteln  (Veränderungen  im  Laufe  der  Erd- 
geschichte; Rhythmus  in  der  Erdgeschichte; 
Zyklen  und  Diastrophen ;  Entwicklung  des  orga- 
nischen Lebens),  ob  wir  heute  noch  den  unbe- 
dingten Aktualismus  Lyells  anerkennen  können, 
oder  ob  nicht  auch  zeitweilige  Perioden  der  Um- 
wälzung den  rascheren  Wandel  der  Lebensformen 
und  die  Häufung  und  Steigerung  der  Erscheinun- 
gen —  nach  dem  heute  vorliegenden  Material  — 
besser  zu  erklären  vermögen.  Er  kommt  zu  fol- 
gendem Schlüsse.  Wenn  wir  auch  noch  an  Ver- 
änderungen des  Weltbildes  und  an  die  Umbildung 
der  Tierwelt  besonders  an  den  Grenzen  der 
großen  Epochen  festhalten  können,  so  hat  uns 
doch  die  Kenntnis  der  allgemein  geologischen 
Veränderungen  periodische  Folge  und  rhythmi- 
schen Wechsel  gezeigt,  wodurch  die  sog.  „Revo- 
lutionen" an  den  Grenzen  der  Zeitalter  mit  fort- 
schreitender Erfahrung  immer  mehr  zu  gesetz- 
mäßigen Faktoren  im  Entwicklungsgang  der  Erd- 
oberfläche werden,  die  an  regelmäßig  sich  wieder- 
holende Erscheinungen  geknüpft  sind.  Den  Grund- 
satz des  Aktualismus  können  wir  nicht  ganz  ent- 
behren, aber  nicht  im  Sinne  Lyells,  sondern  in 
dem  beschränkteren  Sinne,  wie  ihn  von  Hoff 
uns  zeigt,  der  die  Grenzen  dieser  Theorie  klar 
erkannte  und  darauf  aufmerksam  machte,  daß  die 
gegenwärtig  auf  der  Erde  wirkenden  Kräfte  nicht 
zur  Erklärung  aller  Erscheinungen  genügen.  Ob- 
gleich überall  der  Fluß  der  Entwicklung  herrscht, 
braucht  die  wissenschaftliche  Bildersprache  der- 
artige   Vorstellungen     wie     „Revolutionen"     und 


Katastrophentheorie,  wenn  auch  ihre  geologische 
Bedeutung  mit  dem  nach  dem  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch üblichen  Sinne  dieser  Worte  nicht  über- 
einstimmt und  sie  heute  gemildert  erscheinen  im 
Gewände  der  „Diastrophen"  und  „Paroxysmen". 
Manche  bisher  noch  anscheinend  als  Unterbrechun- 
gen, weil  vereinzelt,  auftretende  Erscheinungen 
werden  sich  immer  mehr  nur  als  Höhepunkte  in 
den  gesamten  Entwicklungsgang  einfügen,  und  der 
jetzt  noch  durch  unsere  lückenhaften  Kenntnisse 
berechtigte  Begriff  der  Diastrophe  als  Umwälzung 
oder  Revolution  wird  dadurch  an  Bedeutung 
stetig  verlieren.  E.  Krenkel. 

Abraham,  M.,  Theorie  der  Elektrizität. 
IL  Band:  Elektromagnetische  Theorie 
der  Strahlung.  4.  Aufl.  394  Seiten  mit 
II  Abbildungen  im  Text.  Leipzig  und  Berlin 
1920,  B.  G.  Teubner.     Geh.  44  M. 

Die  rasche  Folge  von  Neuauflagen  zeigt,  wie 
sehr  das  Abrahamsche  Werk  in  ständig 
wachsendem  Maße  zum  unentbehrlichen  Führer 
auf  dem  Gebiet  der  reinen  Elektrodynamik  ge- 
worden ist. 

Es  handelt  sich  im  vorliegenden  um  einen 
nahe  unveränderten  Abdruck  der  3.  Auflage  des 
zweiten  Bandes,  auf  die  ich  vor  einigen  Jahren 
in  dieser  Zeitschrift  (15.  Band,  S.  199,  1916)  hin- 
weisen konnte.  Es  wird  hierin  der  gegenwärtige 
Stand  der  elektronentheoretischen  Kenntnis  der 
Konvektionsstrahlung  und  der  Wellenstrahlung 
soweit  erschöpfend  behandelt,  als  dies  ohne  Be- 
zugnahme auf  quantentheoretische  Vorstellungen 
möglich  ist.  Der  reiche  Inhalt  möge  hier  kurz 
nochmals  erwähnt  werden : 

Der  erste  Abschnitt  bezieht  sich  auf  das  Feld 
und  die  Bewegung  des  einzelnen  Elektrons.  Er 
beginnt  mit  der  Darlegung  der  physikalischen  und 
mathematischen  Grundlagen  der  Elektronentheorie, 
wendet  sich  dann  dem  Feld  und  der  Strahlung  der 
beliebig  bewegten  Punktladung  zu  und  betrachtet 
dann  die  Mechanik  des  Elektrons  allgemein  und 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Magnetonen. 

Der  zweite  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  den 
elektromagnetischen  Vorgängen  in  wägbaren 
Körpern.  Zuerst  werden  die  Erscheinungen  der 
Dispersion  der  elektromagnetischen  Wellen,  der 
magnetischen  Drehung  der  Polarisationsebene,  der 
Magnetisierung  und  der  Elektrizitätsleitung  in 
ruhenden  Körpern  behandelt.  Daran  schließt  sich 
die  Elektrodynamik  bewegter  Körper,  die  Me- 
chanik des  Strahlungsdrucks  und  schließlich  ein 
kurzer  Abriß  der  speziellen  Relativitätstheorie. 
Verf.  zeigt  hierin  insbesondere,  daß  sich  das 
Postulat  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit 
nicht  aufrecht  erhalten  läßt,  da  es  dem  Postulat 
von  der  Schwere  der  Energie  widerspricht. 

Allen  Entwicklungen  liegt  die  der  Max  well - 
sehen  Theorie  eigentümliche  Vorstellung  von  der 
Kontinuität  des  Äthers  und  des  elektromagnetischen 
Feldes  zugrunde.  Da  diese,  wie  neuerdings  immer 
wahrscheinlicher   wird,   nur   für   summarische  Be- 


392 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.-  Nr.  26 


trachtungen  derWirklichkeit  genügend  nahe  kommen 
dürfte,  bleibt  es  erstaunlich,  daß  trotzdem  auch 
für  das  einzelne  Elektron  bisher  kein  Widerspruch 
mit  der  Erfahrung  erkennbar  wurde. 

Einer  besonderen  Empfehlung  bedarf  das  vor- 
treffliche Werk  nicht  mehr.  A.  Becker. 


Voigt,  A.,  Wasservogelleben.   Ein  Führer 

zum    Strande.      Wissenschaft    und    Bildung. 

Einzeldarstellungen     aus     allen     Gebieten     des 

Wissens.     109  Seiten  mit  29  Figuren  im  Text. 

Leipzig  1921,  Quelle  u.  Meyer.     5  M. 

Wie   die  Tierwelt   des  Wassers  überhaupt,   so 

zeigt    auch     das    Leben     der    Wasservögel    viele 

interessante    und    bemerkenswerte    Züge,    die    in 

dem  vorliegenden   kleinen  Büchlein  eine  reizvolle 


und  fesselnde  Darstellung  gefunden  haben.  Der 
Verf ,  einer  unserer  besten  Kenner  des  heimischen 
Vogellebens,  hat  bei  der  Bearbeitung  überall  auch 
die  Ergebnisse  der  neueren  Forschung  mit  heran- 
gezogen, selbst  solche,  die  weiteren  Kreisen  bis 
jetzt  wohl  noch  unbekannt  geblieben  sein  dürften. 
So  sind  beispielsweise  außer  den  verschiedenen 
Beobachtungen  von  E.  Hesse  auch  die  inter- 
essanten Mitteilungen  von  O.  Heinroth  über 
das  Familienleben  der  Entenvögel  verwertet 
worden.  Jedem  Naturfreunde,  der  an  der  Meeres- 
küste oder  an  einem  Binnengewässer  das  Tun 
und  Treiben  der  verschiedenartigen  Wasser-  und 
Ufervögel  beobachtet  und  sich  darüber  näher 
unterrichten  will,  wird  die  kleine  Schrift  sicher 
ein  willkommener  Führer  sein.         R.  Heymons. 


Anregungen  und  Antworten. 


Zum  Kreislaufprozeß  des  Wassers.  Der  Aufsatz  von 
Prof.  Halbfaß  ,,Zum  Krei'slaufprozeß  des  Wassers"  (Naturw. 
Wochenschr.  "d.  Js.,  S.  86)  darf  nicht  ganz  ohne  Widerspruch 
bleiben,  weil  bei  einer  so  bestimmten  Sprache  ein  der  Sache 
Fernstehender  die  Mängel  der  Beweisführung  nicht  merkt. 

Schon  der  Ausgangssatz,  der  die  Wahrscheinlichkeit  der 
Zufuhr  voQ  Wasser  aus  dem  Welträume  beweisen  soll,  ist  sehr 
zweifelhaft.  Die  fortdauernde  Abnahme  der  Wassermenge 
auf  der  Erdoberfläche  ist  nur  soweit  wahrscheinlich,  als  ihr 
eine  fortschreitende  Änderung  in  den  Bedingungen,  z.  B.  in 
der  Temperatur  der  Erdkugel  entspricht.  Daß,  weil  der 
Wasserdruck  am  Boden  des  Wellmeers  bis  zu  900  kg/cm^  be- 
trägt, in  die  darunter  liegenden  Erdschichten  ,, fortwährend 
Wasser  abfließen"  müsse,  ist  ganz  unbegründet  für  einen  längst 
bestehenden  Ozean. 

Die  Hagelwetter  haben  ihren  sehr  bestimmten  Platz  in 
den  wandernden  Niederdruckgebieten  und  könnten  also  nur 
kosmischen  Ursprungs  sein,  wenn  auch  diese  letzteren  selbst 
es  wären.  Nun  hat  zwar  das  Entstehen  und  Vergehen  der 
atmosphärischen  Depressionen  noch  sehr  viel  Rätselhaftes, 
aber  nichts  darin  deutet  auf  ein  Eindringen  mit  planetarischer 
Geschwindigkeit  begabter  Massen  von  außen  in  die  Atmo- 
sphäre. Von  ,, Eisblöcken"  in  Höhen  von  ,,150  km"  weiß 
man  gar  nichts.  Auch  die  Frage,  warum  die  starken  Ge- 
witterregen ,  die  in  so  vielen  Tropengegenden  nachmittags 
auftreten,  nicht  in  der  kühleren  Nacht  als  Regen  niederfallen, 
zeugt  von  großer  Unbekanntschaft  mit  der  Meteorologie,  denn 
es  ist  sehr  leicht  einzusehen,  daß  in  der  Nacht  die  Schichtung 
der  Atmosphäre  stabiler  zu  sein  pflegt.  Die  Tatsache,  daß  in 
anderen  Teilen  der  Tropen  zu  gewissen  Jahreszeiten  die 
Nachtregen  ein  starkes  Übergewicht  haben,  bedarf  viel  mehr 
erner  besonderen  Erklärung.  W.  Koppen. 


Die  Wisente  im  Plesser  Tiergarten.  In  seinem  Aufsatze 
„Das  Ende  des  Wisents"  (Naturw.  Wochenschr.  13.  Febr.  1921) 
äußert  sich  Zimmermann  auch  über  die  Wisentherde  im 
Plesser  Tiergarten.  Da  seine  Angaben  nicht  ganz  zutreffend 
sind,    darf   ich    vielleicht    auf   meine  Ausführungen    in  meiner 


„Tierwelt  Schlesiens"  (Gustav  Fischer,  Jena  1921)  hinweisen, 
die  sich  auf  eine  Mitteilung  des  Fürstlich  Plessischen  Forst- 
amts vom  6.  November  1920  stützen.  Zu  diesem  Zeitpunkte 
zählte  der  Wisentbestand  noch  22  Stück.  Im  Herbst  1918 
waren  74  Wisente  vorhanden;  die  Tiere  wurden  von  Wild- 
dieben abgeschossen,  die,  zu  Banden  zusammengerottet  und 
mit  den  besten  Waffen  ausgerüstet,  die  Wälder  durchstreiften. 
Außer  dem  Wildererunwesen  droht  der  Erhaltung  der  Wisente 
keine  Gefahr.  Sie  sind  gesund,  und  ihre  Vermehrung  war 
bisher  gut.  F.  Fax. 

Nochmals  zum  Keilhackschen  Disjunktionsproblem.  Aut 
meine  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  35,  S.  828)  über  dieses  Thema 
geraachten  Mitteilungen  hin  erhielt  ich  von  Dr.  J.  Meixner, 
Graz  eine  Zuschrift,  in  der  ich  auf  die  Verbreitung  gewisser 
Turbellarien  aufmerksam  gemacht  werde,  Acrorhynchus 
neocomensis  z.  B.  bewohnt  einerseits  den  Neuenburger 
See  und  Lage  maggiore,  andererseits  den  Lunzer  Mittersee. 
vielleicht  ordnen  sich  auch  gewisse  Dalyellen,  Dalyellia 
fusca  und  D.  ornata  diesem  Gesichtspunkt  unter.  Ferner 
übersah  ich  in  meinem  vorigen  Bericht,  daß  ich  selbst  bereits 
einmal  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  32,  S.  52)  die  Verbreitung 
des  Käfers  Lesteva  Villardi  und  der  Höhlenspinne 
Paraleptoneta  mit  unserem  Problem  in  Zusammenhang 
gebracht  habe.  Hierzu  gesellen  sich  nun  noch  folgende 
weitere  Beispiele:  Viets  wies  vor  kurzem  aus  den  Dauphinfe- 
Alpen  die  bisher  nur  aus  der  Tatra  bekannte  Wassermilbe 
Feltria  kulezinskii  Schechtel  nach.  Aus  der  Dar- 
stellung, die  Müller  in  der  Rabenhorstischen  Kryptogamen- 
fiora  von  der  geogr.  Verbreitung  der  Lebermoose  gegeben 
hat,  ist  ersichtlich,  daß  P  rasant  h  us  suecicus  aus  Salzburg 
und  Frankreich  bekannt  ist,  Arnellia  fennica  aus  Steier- 
mark und  Kärnthen  einerseits  und  den  penninischen  Alpen 
andererseits;  die  nordischen  Marsu  pell  a -Arten  conden- 
sata,  sparsifolia,  nevicensis,  emarginata  tauchen 
an  den  beiden  Alpenflügeln  auf  und  M.  pygmaea  bildet 
insofern  ein  schönes  Beispiel,  als  sie  nur  von  einer  Stelle  in 
Steiermark   und  vom  Puy  de  Dome  bekannt  ist. 

Dr.  V.  Brehm,  Eger. 


Inhalt:  F.  Alverdes,  Erblichkeit  und  Nicht-Erblichkeit.  S.  377.  H.  Grein  acher,  Eine  umkehrbare  Ventilröhre.  (l  Abb.) 
S.  381.  J.  Gicklhorn,  Notiz  über  Stentor  igneus  Ehrenb.  als  Ursache  auffallender  Wasserverfärbung.  S.  382. 
R.  Potonie,  Paläoklimatologisches  im  Lichte  der  Paläobotanik.  S.  383.  —  Einzelberichte:  C.  Tubandt,  Die 
Elektrizitätsleitung  in  festen  kristallisierten  Stoffen.  S.  387.  Naturschutz  in  Holland.  S.  3S8.  A.  Barrows, 
In  Stein  bohrende  Asseln.  S.  389.  —  Bücherbesprechungen:  P.  Niggli,  Lehrbuch  der  Mineralogie.  S.  389.  W. 
V.  Seidlitz,  Revolutionen  in  der  Erdgeschichte.  S.  390.  M.Abraham,  Theorie  der  Elektrizität.  S.  391.  A.Voigt, 
Wasservogelleben.  Ein  Führer  zum  Strande.  S.  392.  —  Anregungen  und  Antworten :  Zum  Kreislaufprozeß  des  Wassers. 
S.  392.     Die  Wisente  im  Plesser  Tiergarten.   S.  392.     Nochmals  zum  Keilhackschen  Disjunktionsproblem.  S.  392. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  gaoceo  Reihe  36.  Baod. 


Sonntag,  den  3.  Juli  1921. 


Nummer  27. 


Über  die  kosmischen  Bewegungen  des  Äthers. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  K.  Vogtherr,  Berlin-Schöneberg. 

Der  Naturforscher  muß  jede  Spur  einer  Unstimmig- 
keit, wo  er  sie  nur  vorfindet,  eifrigst  festhalten  und 
verfolgen.  Denn  diese  Spuren  sind  seine  Zukunfts- 
hoffnung; sie  haben  bisher  immer  die  Wege  zu  neuen 
Erkenntnissen  gezeigt,  die  dann,  einmal  erfaßt,  in  der 
Tat  auch  den  einfachen  Verstand  zur  Befriedigung  ge- 
bracht haben.  Lenard. 


Das  Fundament,  auf  dem  der  Einsteinsche 
Neubau  der  Physik  errichtet  werden  soll,  ist  be- 
kanntlich die  Annahme,  daß  der  F  i  z  e  a  u  -  Versuch 
die  Unmöglichkeit  einer  Mitführung  des  Äthers 
durch  die  bewegte  Erdatmosphäre  beweise.  Diese 
Annahme  mag  richtig  sein,  jedoch  ist  dadurch 
offenbar  nicht  zugleich  die  Möglichkeit  ausge- 
schlossen, daß  Äther  und  Erdatmosphäre  aus 
irgendeinem  anderen  Grunde  gemeinsam  gleiche 
Bewegungen  machen.  Es  können  ja  noch  andere 
als  die  Reibungskräfte  bewegter  Luft  auf  den 
Äther  ihre  Wirkung  ausüben,  es  könnten  Magne- 
tismus und  Elektrizität,  Gravitation  und  Trägheit 
eine  Rolle  spielen.  Diese  Möglichkeiten  sind 
offenbar  bisher  noch  wenig  bedacht  worden. 

Dem  Fize  au -Versuch  soll  angeblich  der 
Michelson- Versuch  widersprechen,  indem  er 
aussagt,  daß  Erde  und  Erdäther  die  gleiche 
Relativbewegung  gegenüber  der  Sonne  aus- 
führen, oder  daß  zum  mindesten  die  Geschwin- 
digkeit ihrer  wechselseitigen  Bewegung  nicht 
größer  als  ein  Sechstel  der  Geschwindigkeit  der 
Erde  in  ihrer  Bahn  um  die  Sonne  sein  kann.  Er 
steht  dabei  in  Übereinstimmung  mit  anderen 
Versuchen,  *)  welche  ergaben,  daß  ein  Einfluß  der 
Erdbewegung  auf  den  Ablauf  eletromagnetischer 
Vorgänge  an  der  Erdoberfläche  sich  nicht  nach- 
weisen läßt,  obwohl  er  nach  der  Theorie  vom 
ruhenden  Weltäther  zu  erwarten  wäre.  Nun  sind 
aber  Fizeau-  und  Michelson- Versuch  hin- 
sichtHch  der  für  unser  Problem  aus  ihnen 
zu  ziehenden  Schlüsse  keineswegs  gleichwertig. 
Sofern  man  nämlich  nicht  mit  H.  A.  Lorentz 
oder  A.  Einstein  weit  hergeholte  und  ge- 
künstelte Annahmen  machen  will,  beweist  der 
Michelson- Versuch  durch  direkten  Augen- 
schein, daß  Erde  und  Luftäther  relativ  zueinander 
sich  nahezu  oder  völlig  in  Ruhe  befinden.  Der 
Fizeau- Versuch  dagegen  beweist  keineswegs 
direkt  das  Gegenteil.  Sondern  nur,  wenn  man 
von  der  Voraussetzung  ausgeht,  daß  der 
Äther  im  Welträume  ruhe  und  die  Erde  sich 
durch  ihn  hindurchbewege,  beweist  er,  daß  die 
bewegte  Erdatmosphäre  dem  in  ihr  befind- 


lichen Äther  nicht  die  eigene  Geschwindigkeit  zu 
erteilen  vermag,  und  auch  das  nur,  wenn  man  die 
Verhältnisse  in  der  Röhre  des  Versuchs  und  in 
der  freien  Atmosphäre  als  äquivalent  ansieht,  bzw. 
ihrer  Verschiedenheit  keinen  Einfluß  auf  die  Mög- 
lichkeit der  Mitführung  einräumt.  Letzteres  ist 
nur  zulässig  für  den  Fall,  daß  der  Äther  reibungs- 
los ist,  oder  wenigstens  keine  erhebliche  innere 
Reibung  der  bewegten  Teilchen  und  äußere 
Reibung  gegenüber  der  gewöhnlichen  Materie  be- 
sitzt. Denn  eine  in  einer  Röhre  befindliche,  zu- 
nächst ruhende  Flüssigkeit  von  bestimmter  Vis- 
kosität erfährt  durch  gleichmäßig  bewegte  und 
gleichmäßig  durch  sie  in  genügender  Dichtigkeit 
verteilte  feste  Körperchen  eine  um  so  größere 
Strömungsbeschleunigung,  je  größer  der  Durch- 
messer der  Röhre  ist,  senkrecht  zu  welchem  sich 
die  festen  Partikel  bewegen.  Bei  genügend  großem 
Querschnitt  und  Länge  der  Röhre  und  bei  ge- 
nügend langer  Dauer  der  Einwirkung  der  be- 
wegten Körper  würde  im  Zentrum  eine  fast 
völlige  Mitführung  der  Flüssigkeit  eintreten,  die 
zu  einer  völligen  und  allgemeinen  würde,  wenn 
auch  die  Röhrenwandung  mit  der  gleichen  Ge- 
schwindigkeit mitbewegt  würde.  An  die  Stelle 
der  Flüssigkeit  tritt  nun  im  Fizeau-  Versuch  der 
Äther  und  an  die  der  bewegten  festen  Körper 
treten  die  Luftmoleküle.^)  Überträgt  man  nun  die 
Versuchsverhältnisse  auf  die  der  freien  Atmo- 
sphäre, so  findet  man  einen  Röhrenquerschnitt 
von  der  Höhe  derselben  und  auch  drei  Seiten 
der  Röhrenwand,  welche  durch  die  angrenzenden 
Luftschichten  und  die  Erdoberfläche  vorgestellt 
werden,  sind  hier  mitbewegt,  nur  die  vierte  nicht, 
wo  der  bewegte  Luftäther  in  den  ruhenden  Welt- 
äther übergehen  würde. 

Diese  Vorstellung  führt  aber  zu  nichts,  denn 
die  Versuche  von  O.  Lodge,  welcher  eine  Ver- 
änderung der  Geschwindigkeit  eines  zwischen  zwei 
in  gleichem  Sinne  rasch  rotierenden  Stahlscheiben 


')   Man    könnte    sich    vorstellen,    daß    auch     der    nach 
Fresnel   nicht  mitbewegte  Teil  des  Äthers,  unabhängig  von 

eine  Mitbewegung  machte,   welche  im  Versuch  selbst 


(-^} 


')  von  Röntgen,   Rayleigh,  Brace,  Troutonund 
Noble. 


noch  unterhalb  der  Fehlergrenze  liegt,  aber  mit  der  Dauer 
der  einwirkenden  Beschleunigung  durch  die  Luftmoleküle  an 
Geschwindigkeit  zunimmt. 


394 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  27 


hindurchgesandten  Lichtstrahls  nicht  feststellen 
konnte,  *)  haben  gezeigt,  daß  der  Äther  keine 
oder  nur  sehr  geringe  Viskosität  besitzt.  Da  nun 
der  Fi zeau- Versuch  mit  Messingröhren  ange- 
stellt wurde,  und  man  annehmen  kann,  daß  Mes- 
sing sich  im  vorliegenden  Falle  wie  Stahl  verhält, 
so  ist  im  Fizeau -Versuch  eine  Reibung  des 
Äthers  an  der  Röhrenwand  und  gegenüber  dem 
nicht  in  Mitbewegung  versetzten  Äther  nicht  an- 
zunehmen. 

Richtiger  wäre  es  also  gewesen  zu  sagen: 
man  kann  die  Mitbewegung  des  Äthers  an  der  Erd- 
oberfläche, für  die  der  Michelson-Versuch  und 
andere  Versuche  sprechen,  durch  den  Einfluß  der 
bewegten  Erdatmosphäre  und  auch  sonst  auf  keine 
Weise  erklären.  Man  wollte  sich  jedoch  damit 
nicht  zufrieden  geben  und  erfand  die  bekannten 
Hypothesen,  die  darauf  angelegt  sind,  das  den 
Theoretikern  unbequeme  Ergebnis  des  Mi  c  h  eis  on  - 
Versuches  aus  der  Welt  zu  schaffen. 

In  folgendem  soll  versucht  werden,  einen 
anderen  Ausweg  aus  den  Schwierigkeiten  zu 
finden.  Zunächst  ist  ja  di.e  Voraussetzung,  daß 
der  die  Erde  umgebende  Äther  deren  Bewegung 
mitmache,  ebenso  berechtigt,  wie  die  entgegen- 
gesetzte. Anstatt  zu  fragen,  welche  Einflüsse  ver- 
möchten es,  den  ruhenden  Weltäther  zur  Mitbe- 
wegung in  der  Erdatmosphäre  zu  zwingen,  läßt 
sich  also  das  Problem  auch  am  anderen  Ende  an- 
packen. Man  frage  sich:  gibt  es  Einflüsse, 
welche  den  aus  irgendeinem  Grunde 
mitbewegten  Erdäther  zur  Ruhe  bringen 
würden?  Sollten  solche  Einflüsse  nicht  unbe- 
dingt als  die  unvermeidliche  Folgerung  aus  be- 
kannten Tatsachen  und  Beobachtungen  anzu- 
nehmen sein,  so  wäre  damit  offenbar  viel  gewonnen. 
Denn  das  Problem  der  Ursache  der  Mitbewegung 
des  Äthers  würde  dann  auf  den  Uranfang  der 
Erdbewegung  und  damit  aller  Bewegungen  im 
Sonnensystem  verschoben,  also  in  einen  Zustand 
der  Materie  verlegt,  der  viele  uns  unbekannte 
Möglichkeiten  in  sich  bergen  mag. 

Die  Einflüsse,  welche  den  mitbewegten  Erd- 
äther zur  Ruhe  brächten,  können  nun  offenbar 
nicht  von  selten  des  bewegten  Erdballs  selbst 
ausgehen.  Wir  müssen  hier  kosmische  Wirkungen 
ins  Auge  fassen.  Da,  wie  die  Versuche  ergaben, 
der  Äther  als  reibungslos  oder  nahezu  reibungs- 
los zu  betrachten  ist,  so  kommen  Reibungswider- 
stände des  bewegten  Erdäthers  gegen  den  ruhen- 
den Weltäther  nicht  in  Betracht,  sehr  wohl  je- 
doch der  aus  Undurchdringlichkeit  und  Trägheit, 
den  nie  fehlenden  Grundeigenschaften  alles  Stoff- 
lichen, sich  ergebende  Trägheitswiderstand.  Nach 
D  i  r  i  c  h  1  e  t  ist  zwar  der  Trägheitswiderstand 
einer  geradlinig- gleichförmig  bewegten  festen  Kugel 
in   einer   idealen  Flüssigkeit  gleich   Null,   jedoch 


')  O.  Lodge:  Der  Weltäther,  Braunschweig  191 1  und 
Phil.  Trans.  184  A,  727,  1893.  Man  könnte  vielleicht  gegen 
den  Versuch  den  Einwand  erheben ,  daß  ein  Scheibenabstand 
von  2,5  cm  zu  groß  ist,  um  die  Reibung  wahrnehmbar  zu 
machen. 


handelt  es  sich  im  vorliegenden  Falle  um  Ver- 
hältnisse, die  sich  nicht  mit  denen  einer  bewegten 
festen,  sondern  mit  denen  einer  in  einer  Flüssig- 
keit bewegten  flüssigen  Kugel  vergleichen  ließen, 
wobei  Kugel  und  Medium  aus  gleichem  Stoffe 
bestehen,  abgesehen  davon,  daß  die  Bewegung 
nicht  streng  geradlinig  ist.  Aus  Gründen  des  Träg- 
heitswiderstandes würde  also  der  mit  Erdge- 
*  schwindigkeit  bewegte  Erdäther  durch  den  um- 
gebenden Weltäther  bald  zur  Ruhe  gebracht 
werden,  wenigstens  in  der  Atmosphäre,  da  die 
Luft,  wie  der  Fizeau- Versuch  zeigt,  sich  der 
Relativbewegung  des  Äthers  nicht  widersetzen 
würde. ')     Es  gibt  hier  nur  einen  Ausweg : 

Der  die  Erde  weiterhin  umgebende 
Weltäther  ist  selbst  mit  Erdge- 
schwindigkeit in  der  Bahn  um  die 
Sonne  mitbewegt.  Damit  nun  aber  die 
gleiche  Schwierigkeit  nicht  von  neuem  in  ver- 
größertem Maßstabe  entsteht,  müßte  der  mit- 
bewegte Weltäther  in  einem  Ring  in  der  gleichen 
Bahn  wie  die  Erde  um  die  Sonne  kreisen.  Diese 
Vorstellung  hat  nichts  Verlockendes,  sie  bekommt 
aber  sofort  ein  natürliches  Aussehen,  wenn  auch 
die  übrigen  Planeten  derartige  Ätherringe  besitzen 
und  auch  der  Raum  zwischen  ihnen  durch  be- 
wegten Äther  ausgefüllt  ist,  derart,  daß  der 
Äther  des  Sonnensystems  umdieSonne 
kreist  mit  genau  der  Geschwindigkeit, 
welche  für  jeden  Radius  das  Newtonsche 
Gravitationsgesetz  vorschreibt,  also  mit 
vom  Zentrum  zur  Peripherie  abnehmender  Ge- 
schwindigkeit. Und  da  das  Sonnensystem  selbst 
eine  Bewegung  von  etwa  20  km/sec  besitzt,  so 
schließen  wir  aus  dem  gleichen  Grunde  weiter, 
daß  auch  es  im  ganzen  von  einer  Strömung  des 
Äthers  getragen  wird.  Wir  gelangen  so  zu  der 
Annahme,  daß  auch  der  Äther  im  Fixsternsystem 
nicht  ruht,  sondern  in  Strömungen  begriffen  ist, 
welche  nach  Geschwindigkeit  und  Richtung  der 
Eigenbewegung  der  Fixsterne  im  allgemeinen  ent- 
sprechen.-)  Die  Fixsterne  (mit  dem  evtl. 
sie  umkreisenden  Äther)  ruhen  also  im  all- 
gemeinen relativ  zum  Äther  ihrer  weiteren 
Umgebung,  sie  lassen  sich  gewissermaßen  von  seiner 

')  Das  gleiche  gilt  nicht  mit  Sicherheit  auch  für  das  Erd- 
innere. Durchsichtige  Medien  führen  den  Lichtäther  bekannt- 
lich mit  einem  durch  den  Fresnelschen  Mitführungskoef- 
fizienten    I ;-    bestimmbaren    Bruchteil   ihrer    eigenen    Ge- 

n'' 

schwindigkeit  mit  sich.  Für  undurchsichtige  könnte  man  den 
Brechungsexponenten  annähernd  durch  die  Quadratwurzel  aus 
der  Dielektrizitätskonstante  ersetzen  (die  Beziehung  gilt  streng 
nur  für  Gase).  Nun  ist  die  Dielektrizitätskonstante  der  Leiter 
gleich  unendlich,  also  n^  =  oo,  und  der  Fresnelsche  Mit- 
führungskoeffizient würde  in  diesem  Falle  gleich  I  ;  die  Mit- 
führung wäre  also  vollkommen.  Da  man  wegen  der  hohen 
Dichte  des  Erdballs  annimmt,  daß  sein  Inneres  aus  Eisen  be- 
steht, so  würde  also  im  Erdinnern  der  Äther  trotz  des  Träg- 
heitswiderstandes von  Seiten  eines  ruhenden  Weltäthers  mit- 
geführt werden.  Vgl.  dazu  A.  Michelson  u.  E.  W.  Mor- 
ley,  Am.  Journ.  of  Sc.  34,  334,   1887. 

'')  Die  seltenen  Sterne  mit  verhältnismäßig  großer  Eigen- 
bewegung —  es  wurden  solche  von  mehr  als  200  km/sec  be- 
obachtet — ,  mögen  davon  eine  Ausnahme  machen. 


N.  F.  XX.  Nr.  2^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


395 


Strömung  wie  schwimmende  Körper  treiben.  Diese 
Auffassung  steht  auch  mit  der  Tatsache  in  Ein- 
klang, daß  es  Gruppen  relativ  nahe  beieinander 
befindlicher  Fixsterne  gibt,  die  eine  gemeinsame 
Bewegung  zeigen.*) 

Der  Äther  bewegt  sich  also  so,  wie  die  großen 
und  schweren  Massen  der  Sonnen  und  Planeten 
sich  bewegen,  während  die  Meteore,  Kometen, 
jedenfalls  auch  Monde  auf  ihrer  Bahn  ihn  durch- 
streichen. Dies  legt  die  weitere  Vermutung  nahe, 
daß  auch  der  Äther  der  Gravitation  unterliegt 
und  auch  für  ihn  träge  und  schwere  Masse  gleich 
sind.  Es  ist  also  nicht  nötig,  anzunehmen,  daß 
der  Äther  den  Anstoß  zu  den  Bewegungen,  die 
er  im  Weltenraume  ausführt,  von  der  gewöhn- 
lichen Materie  erteilt  bekommen  hat.  Jedoch  ist 
es  auch  möglich,  daß  in  diesen  Ätherströmungen 
nicht  eine  Folge,  sondern  die  Ursache  oder  eine 
Begleiterscheinung  der  Gravitation  zu  sehen  ist 
und  daß  hier  der  Ausgangspunkt  für  eine  spätere 
Erklärung  der  Schwerkraft  vorliegt. 

Der  Ausdruck  „Mitführung"  leitet  auf  falsche 
Spur.  Genau  wie  alle  sonstigen  Körper  an  der 
Erdoberfläche,  wie  z.  B.  ein  frei  an  einem  Faden 
hängendes  Gewicht  oder  wie  die  atmosphärische 
Luft,  ist  auch  der  Äther  in  der  Bahn  um  die 
Sonne  nicht  „mit  geführt",  sondern  mit  be- 
wegt. Das  hängende  Gewicht  macht  die  Erd- 
bewegung ja  nicht  mit  infolge  Reibung  an  der  Luft 
oder  infolge  eines  Zuges  des  Fadens,  sondern  weil 
es  genau  wie  die  Erdkugel  selbst  den  Gesetzen 
der  Gravitation  und  Trägheit  gehorcht. 

Da  der  Äther  völlig  oder  nahezu  reibungslos 
ist,  so  macht  die  Unveränderlichkeit  derartiger 
Rotationen  und  Strömungen  in  ihm  innerhalb 
beobachtbarer  Zeiträume  keine  Schwierigkeiten, 
auch  findet  so  der  trotz  des  im  Räume  vor- 
handenen Äthers  widerstandslose  Lauf  der  Planeten 
um  die  Sonne  eine  einfache  Erklärung. 

Die  hier  vorgetragene  Annahme  steht,  soviel 
mir  bekannt,  mit  keiner  astronomischen  Beobach- 
tung in  Widerspruch.  Das  Doppler  sehe  Prinzip 
macht  offenbar  keine  Schwierigkeiten.  Denn  die 
Veränderung   der  Wellenlänge,  wenn   der   Äther 


')  Eine  solche  gemeinsame  Bewegung  findet  sich  z.  B. 
im  Sternbilde  der  Plejaden,  wo  von  51  Sternen  45  die  gleiche 
Eigenbewegung  besitzen  wie  Alkyone,  der  hellste,  mittlere 
Plejadenstern,  während  6  Sterne  still  stehen,  sich  also  nur  auf 
jene  Stelle  des  Himmels  projizieren,  ohne  dem  System  der 
Plejaden  anzugehören.  Auch  die  Bewegung  in  der  Gesichts- 
linie hat  sich  bei  jenen  Sternen,  soweit  sie  darauf  untersucht 
werden  konnten,  als  nahe  gleich  herausgestellt. 

Eine  über  aoo  Quadratgrad  sich  ausbreitende  Gruppe 
von  Sternen  im  Stier,  zu  denen  auch  mehrere  Hyadensterne 
gehören,  streben,  wie  L.  Bofi  aus  ihren  Eigenbewegungen  ge- 
funden hat,  nach  einem  bestimmten  Punkt  des  Himmelsge- 
wölbes hin.  Die  Konvergenz  ist  nur  eine  scheinbare  durch 
die  Perspektive  vorgetäuschte,  in  Wirklichkeit  laufen  die 
41  Sterne  parallel.  Der  Durchmesser  des  mächtigen  Stem- 
schwarmes  beträgt  nach  Boß  über  30  Lichtjahre. 

Gemeinsame  Eigenbewegungen  sind  ferner  an  5  Sternen 
des  großen  Bären  und  an  16  Heliumsternen  im  Perseus  fest- 
gestellt worden.  —  Siehe  O.  Knopf:  Das  Fixsternensystem, 
Handwörterbuch  d.  Naturwissenschaften ,  herausgegeben  von 
Korscheit  u.  a.   1913, 


auf  dem  Wege  der  Lichtstrahlen  eine  Beschleuni- 
gung oder  Verzögerung  erfährt,  wird  durch  die 
Änderung  der  Relativbewegung  zwischen  Äther 
und  Beobachter  wieder  ausgeglichen.  —  Die  Er- 
scheinung der  Aberration  derFixsterne  ist 
unter  der  Annahme  eines  reibungslosen  in  der  Erd- 
atmosphäre mitbewegten  Äthers  von  G.  G.  S  t  o  k  e  s 
erklärt  worden,*)  der  die  Ansicht,  daß  die  Erde 
mit  ihrer  ganzen  ungeheuren  Masse  den  Äther 
ohne  Störung  passiere,  eine  „rather  startling  hypo- 
thesis"  nennt.  Es  wird  zugegeben,  daß  die  Theorie 
von  Stokes  richtig  ist,  wenn  der  Äther  als 
wirbelfreie,  i.  e.  reibungslose  Flüssigkeit  betrachtet 
werden  kann,  die  ein  Geschwindigkeitspotential 
besitzt.^)  Stets  gibt  also  der  die  Lichtquelle 
direkt  umgebende  Äther  das  Bezugs- 
system für  die  Richtung  der  relativ  zu 
diesem  System  stets  geradlinig  fort- 
schreitenden Lichtstrahlen  ab  und  der 
Aberrationswinkel  ist  nur  von  der  transversalen 
Komponente  der  Relativbewegung  Erde — Stern  ab- 
hängig, wobei  es  gleichgültig  ist,  wie  viele  ver- 
schiedene Ätherströmungen  dazwischen  liegen.  D  i  e 
Erscheinungen  des  Dopplereffekts  und 
der  Aberration  bleiben  also  unbeein- 
flußt von  irgendwelchen  zwischen 
Lichtquelle  und  Beobachter  vorhande- 
nen gleichförmigen  oder  ungleichför- 
migen Bewegungen  des  Mediums  (wenig- 

v  . 
stens    soweit    nicht    höhere    Potenzen    von    -  in 

c 

Betracht  kommen).  Denn  die  Schwingungszahl 
ausgesandter  Lichtwellen  wird  durch  Bewegungen 
des  Äthers  nicht  beeinflußt,  ebensowenig  wie 
(nach  Stokes)  ihre  Richtung.  Beeinflußt  wird 
nur  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  und  damit 
die  Wellenlänge,  welche,  wenn  der  Strahl  aus 
dem  (relativ)  ruhenden  Äther  in  in  der  Fort- 
pflanzungsrichtung bewegten  Äther  eintritt,  von 
ersterem  aus  betrachtet  eine  Veränderung  erleiden. 
Sieht  man  sich  nach  einer  Möglichkeit  um,  die 
vorgetragene  Hypothese  durch  Beobachtung  zu 
prüfen,  so  denkt  man  sogleich  an  die  Berechnung 

')  Math,  and  Physic.  Papers,  Vol.  I,  Cambridge  l88o, 
S.  140  ff. 

2)  Vgl.  A.  H.  Lorentz,  Arch.  Neerl.  21,  1887  und  O. 
Lodge,  Phil.  Trans.  184  A,  1893.  Letzterer  sagt:  ,,lhe  line 
of  vision  in  fact  always  depends  on  the  motion  of  the  ob- 
server ,  not  at  all  on  the  motion  of  the  ether  so  long  as  it 
has  a  velocity  Potential.  Hence  nothing  can  be  simpler 
than  the  theorie  of  aberration,  if  this  condition  is 
satisfied.  ...  A  ray  is  straight,  whatever  the  mo- 
tion of  a  medium,  unless  there  are  eddies  and  according- 
ly  no  irrotational  currents  of  ether  can  divert  a  ray.  But  if 
the  observer  is  moving,  the  apparent  ray  will  not  be  the  true 
ray  and  accordingly  the  line  of  vision  will  not  be  the  true 
direction  of  object".    (S.   750). 

Dies  ist  das  vollständige  Aberrationsgesetz, 
wenn  hinzugefügt  wird :  die  Bewegungen  von  Lichtquelle, 
Medium  und  Beobachter  sind  zueinander  relativ,  es  bleibt 
also  gleichgültig,  ob  Lichtquelle,  Medium  (an  einem  bestimmten 
Ort)  oder  Beobachter  als  ruhend  angenommen  wird  —  und 
wenn  der  Aberrationswinkel  als  der  Winkel  zwischen  schein- 
barer und  wahrer  Richtung  des  Sterns  zur  Zeit  der  Be- 
obachtung definiert  wird. 


^9^ 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  2^ 


der  Lichtgeschwindigkeit  nach  Römer.  Der 
dabei  sich  ergebende  Wert  für  die  Verzögerung 
des  Eintritts  der  Verfinsterung  der  Jupitermonde 
müßte,  wenn  sie  richtig  ist,  eine  Veränderung 
erfahren.  Diese  würde  jedoch  sicher  nicht  mehr 
als  Vio  Sek.  betragen,  während  der  wahrschein- 
liche Fehler  dieses  Wertes  nach  den  neuesten 
Messungen  von  Glasenapp  noch  i  Sek.  be- 
trägt. *)  Es  scheint  also  leider  nicht  möglich  zu 
sein,  die  Hypothese  durch  Beobachtung  der  Ver- 
finsterung der  Jupitermonde  zu  prüfen. 

Bevor  A.  Einstein  den  Äther  beseitigte 
(oder  von  ihm  mit  Rücksicht  auf  die  Undulations- 
theorie  noch  den  Namen  beibehielt,  was  auf  das 
gleiche  hinausläuft) ,  ^)  herrschte  in  der  Physik 
von  Fresnel  bis  Lorentz  die  Lehre  vom 
absolut  bewegungslosen  Äther,  gegründet  vor 
allem  auf  das  Experiment  von  Fizeau.  „Man 
hat  diesen  Versuch  während  eines  halben  Jahr- 
hunderts als  den  direkten  experimentellen  Beweis 
für  die  Existenz  eines  die  Körper  durchdringenden, 
aber  doch  stets  ruhenden  Äthers  angesehen."  ^) 
Diese  Vorstellung  war  jedoch  im  Grunde  genom- 
men äußerst  unbefriedigend.  Denn  wie  kommt 
man  dazu,  irgendeinem  materiellen  Etwas  einen 
Zustand  absoluter  Ruhe  zuzuweisen?  Dieser  Be- 
griff ist  ebenso  unmöglich,  wie  der  der  absoluten 


')  Siehe  Winke  1  mann:  Handb.  d.  Physik,  6,  473,  1906. 

^)  A.  Einstein  sagt:  „Man  kann  die  Existenz  eines 
Äthers  annehmen;  nur  muß  man  darauf  verzichten,  ihm  einen 
bestimmten  Bewegungszustand  zuzuschreiben,  d.  h.  man  mufl 
ihm  durch  Abstraktion  das  letzte  mechanische  Merkmal  nehmen, 
welches  ihm  Lorentz  noch  gelassen  hatte".  Äther-  und 
Relat.-Theorie,  Vortrag,  Berlin  1920.    S.  9. 

Der  Äther  soll  also  ein  physikalisches  Etwas  sein,  aber 
gegenüber  Körpern  weder  einen  Zustand  der  Bewegung,  noch 
auch  der  Ruhe  haben.  Ein  solcher  Äther  ist  aber  das  reine 
Nichts,  der  leere  Raum,  von  dem  auch  Einstein  konse- 
quenterweise behauptet,  daß  ihm  „physikalische  Eigenschaften 
zukommen",  d.  h.  also  doch  wohl  soviel,  als  daß  er  physi- 
kalische Wirkungen  ausüben  könne  (p.   1 1   ibid.). 

')  M.  Laue:  Das  Relativitätsprinzip,  Braunschweig  191 1, 
S.  II. 


Bewegung.  Bezieht  man  aber  den  Ruhezustand 
des  Äthers  auf  bestimmte  Himmelskörper,  z.  B. 
auf  die  Sonne  oder  das  Fixsternsystem,  so  ist 
man  dadurch  noch  nicht  aus  der  Verlegenheit. 
Aus  welchem  Grunde  sollten  denn  unsere  Sonne 
oder  drei  Fixsterne,  indem  sie  die  Achsen  eines 
Koordinatensystems  festlegen,  vor  allen  anderen 
Sonnen  und  Fixsternen  den  Vorrang  haben,  den 
Ruhezustand  des  unendlich  ausgedehnten,  in  sich 
bewegungslosen  Äthers  für  den  ganzen  Weltraum 
zu  bezeichnen?  Offenbar  ist  die  Annahme  des 
absolut  im  Räume  oder  relativ  zum  Sonnensystem 
ruhenden  Äthers  nichts  anderes  als  ein  Ausdruck 
dafür,  daß  wir  über  den  Bewegungszustand  des 
Weltäthers  im  ganzen  oder  seiner  einzelnen  Ge- 
biete zueinander  bisher  nichts  wußten.  Daß  der 
Äther  zum  Sonnensystem  in  Ruhe  ist,  ist  (solange 
nicht  Beobachtungen  entgegenstehen)  eine  zu- 
lässige Annahme,  die  aber  absurd  wird,  sobald 
man  diesen  Ruhezustand  auf  den  ganzen  Welten- 
raum ausdehnen  will.  Somit  war  eigentlich  schon 
in  der  früheren  Auffassung  die  Vorstellung  von 
Strömungen  im  Weltäther  implicite  enthalten. 

Die  Hypothese  eines  gesetzmäßig  im  Welt- 
räume bewegten  Äthers  verlangt  nichts  Unmög- 
liches von  unserem  physikalischen  Denken,  im 
Gegenteil,  sie  stimmt  mit  der  allgemeinsten  Er- 
fahrung überein,  die  uns  kein  Ding  in  der  Natur 
als  bewegungslos  und  keine  Bewegung  als  gesetz- 
los zeigt.  Ist  der  Äther  ein  Ding  im  physikalischen 
Sinne,  ein  Etwas,  das  physikalische  Wirkungen 
ausüben  kann,  so  hat  er  auch  einen  Bewegungs- 
zustand. Daß  dieser  Bewegungszustand  nicht 
überall  im  unendlichen  Raum  der  gleiche  sei,  ist 
schon  a  priori  wahrscheinlich,  man  konnte  ihn 
aber  bisher  nicht  erkennen.  Der  Fizeau-  und 
Michelsonversuch  imVerein  geben  uns 
zum  ersten  Male  eine  Andeutung,  daß 
auch  da,  wo  man  bisher  nichts  von  Be- 
wegung wußte  und  deshalb'  sich  Ruhe 
dachte,  gesetzmäßig  geordnete  Be- 
wegung herrscht. 


Einzelberichte. 


Nene  Beiträge  zur  Theorie  und  Praxis  kata- 
lytisclier  Hydrierungen. 

Platinmohr,  kolloidales  Platin,  Palladium  und 
Nickel  vermögen  bekanntlich  in  hohem  Grade 
katalytisch  zu  wirken,  d.  h.  die  Geschwindig- 
keit zahlreicher  chemischer  Umsetzungen  stark  zu 
erhöhen.  Die  bekanntesten  Anwendungen,  die 
man  von  dieser  Fähigkeit  der  genannten  Stoffe 
macht,  sind  einerseits  Oxydationen,  bei  denen 
die  Stoffe  Sauerstoff  leicht  und  in  beliebig 
zu  wählender  Menge  übertragen,  andererseits 
Hydrierungen,  die  die  Übertragung  von 
Wasserstoff  bewirken.  Die  sog.  „Fetthärtung" 
beruht   auf  derartigen  Hydrierungen.      Man    führt 


dabei  Öle,  also  flüssige  Fette,  in  gesättigte  und 
alsdann  feste  Fettsubstanzen  über.  Die  Theorie 
aller  dieser  Umsetzungen  hat  sehr  zahlreiche  Ar- 
beiten seit  den  Tagen  der  Entdeckung  der  Metall- 
katalysatoren gezeitigt.  Jedoch  ist  die  Frage  nach 
dem  inneren  Grund  der  erwähnten  Wirkungen 
bis  heute  nicht  befriedigend  beantwortet  worden. 
Ein  wichtiges  Ergebnis  hatte  die  Untersuchung 
der  Oxydationskatalysen:  viele  von  ihnen 
gehen  nur  vor  sich,  wenn  das  dabei  verwendete 
Platin  sauerstoffhaltig  ist.  Insbesondere  die  Ar- 
beiten von  Engler  und  Wo  hier  machten  es 
wahrscheinlich,  daß  das  Platin,  wenn  es  Sauer- 
stoff absorbiert,  diesen  chemisch  bindet  und 
zwar    in    Form    eines   Superoxydes.      Diese  Auf- 


N.  F.  XX.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


397 


fassung  war  ein  erheblicher  Fortschritt  für  die 
Theorie;  sie  hat  sich  in  vielen  Fällen  bewährt. 
Experimentell  ist  sie  leicht  zu  begründen:  Platin- 
schwarz bläut  Kaliumjodid-Stärkepapier  deutlich, 
es  muß  also  ein  Peroxyd  enthalten.  Aus  diesem 
Befund  ist  nun  kein  Schluß  gezogen  worden  auf 
die  Theorie  der  Hydrierungen. 

Deren  Theorie  ist  vor  allem  von  Sabatier 
begründet  und  dahin  ausgesprochen  worden,  daß 
sich  aus  Metall  und  Wasserstoffgas  außerordentlich 
schnell  ein  instabiles  Hydrid  bilde,  das  in- 
folgedessen rasch  wieder  zerfalle.  Hierbei  soll 
der  Wasserstoff  atomistisch  werden  und  dadurch 
seine  große  Wirksamkeit  auf  sonst  schwer  an- 
greifbare Verbindungen  erlangen. 

Diese  Vorstellung  über  das  Wesen  der  kata- 
lytischen  Hydrierung  wird  in  einer  soeben  er- 
schienenen Arbeit  von  R.  Willstätter  und 
E.  Waldschmidt-Leitz  widerlegt.*)  In  ihren 
Untersuchungen  wird  nämlich  nachgewiesen,  daß 
die  anzunehmenden  Zwischenglieder  nicht  Hy- 
dride von  Metallen,  sondern  Wasserstoff  und 
Sauerstoff  enthaltende  Stoffe  sind,  daß  Wasser- 
stoffubertragungen  überhaupt  nur  stattfinden, 
wenn  der  Katalysator  Sauerstoff  enthält! 

Zu  ähnlichen  Ergebnissen  kamen  schon  K.  A. 
Hofmann  und  seine  Mitarbeiter.^)  Auch  sie 
fanden,  daß  die  Schnelligkeit,  mit  der  ein  Platin- 
kontakt wirkt,  sehr  von  der  vorausgehenden  Gas- 
beladung abhängt,  und  zwar  erhöhte  Sauerstoff- 
beladung viel  mehr  als  solche  mit  Wasserstoff. 
Die  Schlüsse  jedoch,  die  daraus  gezogen  werden, 
sind  mit  den  Befunden  Will  statt  ers  nicht  ver- 
einbar. Nach  Hofmann  soll  nämlich  der  Was- 
serstoff alsbald  den  Sauerstoff  entfernen  und  sich 
selbst  atomistisch  anlagern  in  je  nach  dem 
Alter  des  Präparats  verschiedener 
Weise.  Diese  wie  alle  früheren  Ansichten  finden 
in  den  nachstehend  kurz  zusammengefaßten  Ver- 
suchsergebnissen Willstätters  keine  Stütze. 

Nach  den  besten  Methoden  hergestellter  Platin- 
mohr wurde  im  Exsikkator  mittels  Hochvakuum- 
pumpe vollkommen  trocken  gemacht.  Nach  einigen 
Tagen  zeigte  sich  im  Exsikkator  die  Bildung  von 
Wasser.  Mithin  muß  selbst  sehr  trockener 
Platinmohr  Wasserstoff  und  sauerstoffhaltig  ge- 
blieben sein.  Der  Wasserstoff  kann  mithin  nicht 
atomistisch  gebunden  vorliegen.  Die  Reaktionen 
völlig  sauerstofffreien  Platinmohrs  waren  über- 
raschend. Er  erwies  sich  als  unfähig  zu  irgend 
einer  Hydrierung;  selbst  solche  Stoffe,  die  als 
typisch  ungesättigt  gelten,  wie  Äthylen  usw. 
blieben  völlig  unangegriffen.  Sobald  jedoch  der 
Mohr  wieder  mit  Sauerstoff  beladen  war,  ging  die 
Hydrierung  in  der  gewöhnlichen  Weise  vor  sich! 
Ein  Zahlenbeispiel: 

0,1  g  Platinmohr  in  10  ccm  Eisessig  suspen- 
diert wurde  30  Stunden  in  Wasserstoffatmosphäre 
geschüttelt.      Nach    dieser    Behandlung    war    der 


')  Berichte  d.  d.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.  113 — 138  (1921). 
')  Ebeoda  49,  2369  (1916)  und  53,  S.  298  (1920). 


Mohr  völlig  sauerstofffrei.  Wurden  nunmehr  im 
Stickstoffstrom  3,0  g  Benzol  in  3  ccm  Eisessig 
hinzugefügt,  so  trat  innerhalb  einer  halben  Stunde 
nicht  der  geringste  Verbrauch  an  Wasserstoff  ein, 
die  Hydrierung  des  Benzols  fand  also  nicht  statt ! 

Hierauf  wurde  10  Minuten  lang  Luft,  also 
Sauerstoff  zugelassen.  Dieser  wurde  durch  Was- 
serstoff verdrängt  und  dann  von  neuem  ge- 
schüttelt. In  den  ersten  30  Minuten  wurden  nun- 
mehr 145  ccm  Wasserstoff  verbraucht!  Dieser 
eine  von  vielen  Versuchen  beweist  ganz  offen- 
kundig, daß  erst  die  Anwesenheit  selbst  geringer 
Mengen  von  Sauerstoff  die  Hydrierung  hervorzu- 
rufen imstande  ist.  Das  gleiche  ist  auch  der 
Fall  für  Palladium  schwarz,  dessen  Adsorptions- 
vermögen für  Wasserstoff  bekanntlich  noch  größer 
ist.  Auch  die  kolloidalen  Metalle,  die  vor 
allem  Paal  zur  Hydrierung  benutzte,  enthalten 
Sauerstoff,  der  erst  die  Hydrierung  bedingt.  Sauer- 
stofffreie Kolloide  hydrierten  nicht. 

Nun  ist  folgende  Beobachtung  ungemein  wert- 
voll und  wichtig.  Ebenso  wie  Platinmohr  für  sich 
allein  in  Eisessig  durch  Wasserstoff  allen  Sauer- 
stoff verliert  (s.  o.),  so  geschieht  dies  auch  in 
allen  Fällen,  wenn  Platin  als  Hydrierungskataly- 
sator wirkt.  Dies  bedeutet,  daß  die  „Aktivität" 
eines  jeden  Katalysators  der  beschriebenen  Art 
abnehmen  wird.  Die  Hydrierungsgeschwin - 
digkeit  muß  also  kleiner  werden  und  schließ- 
lich aufhören.  Bei  diesem  Punkt  angelangt 
bläut  der  Mohr  kein  Kaliumjodidstärkepapier, 
d.  h.  er  enthält  keinen  Sauerstoff  mehr !    Beispiel : 

0,1  g  Platinmohr  mit  Sauerstoff  gesättigt 
wurden  zur  Hydrierung  von  3  g  Benzol  verwendet. 
Die  Absorption  von  Wasserstoff  kam  in  26  Stunden 
nach  Aufnahme  von  1320  ccm  zum  Stehen! 
Wurde  nunmehr  neue  Luft,  d.  h.  Sauerstoff,  zuge- 
führt, so  ging  die  Absorption  in  der  gleichen 
Geschwindigkeit  wie  vorher  weiter. 

Dieser  Sachverhalt  gibt  eine  Erklärung  für  die 
bisher  so  rätselhafte  Erscheinung,  daß  Kataly- 
satoren „ermüden"  können.  Die  Ursache  da- 
für ist,  zum  mindesten  in  diesem  Falle,  die  Auf- 
zehrung des  im  Platin  vorhandenen  Sauerstoffs, 
der  zur  Hydrierung  unbedingt  nötig  ist,  bei  dessen 
Fehlen  also  die  Kontaktwirkung  aufhören  muß. 
Eine  ähnliche  Deutung  findet  eine  andere  merk- 
würdige Erscheinung ,  die  der  „Vergiftung"  von 
Katalysatoren.  Sie  wird  bewirkt  in  erster  Linie 
durch  leicht  oxydierbare  anorganische  Stoffe,  wie 
Blausäure,  Schwefelverbindungen  usw.  und  beruht 
nach  Willstätters  Versuchen  wenigstens  z.  T. 
darauf,  daß  dem  Platin  durch  die  „Gifte"  der  zur 
Hydrierung  nötige  Sauerstoff  entzogen  wird, 
in  ähnlicher  Weise,  wie  das  bei  dem  eben  gege- 
benen Beispiel  schon  in  gewöhnlichen  Verhält- 
nissen früher  oder  später  immer  der  Fall  ist. 
Es  gelingt  aber  die  Vergiftung  zu  überwinden 
entweder  durch  vermehrte  Zufuhr  von 
Sauerstoff  oder  durch  Vermehrung  der 
Katalysatorenmenge.  Die  Wichtigkeit  dieses 
Befundes  für  die  gesamte  Praxis  der  Fetthärtung 


398 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  27 


usw.  bedarf  keiner  Erläuterung.  Gleichzeitig  aber 
ist  damit  die  einwandfreie  Messung  der  Ge- 
schwindigkeit katalytischer  Hydrierungen 
möglich  geworden,  die  nach  den  Untersuchungen 
von  Böesekeni)  mit  ziemlich  viel  Unsicherheit 
behaftet  schien.  Jede  Hydrierungsgeschwindigkeit 
namlich  stellt  sich  dar  als  die  Resultante  von 
eigentlicher  Hydrierungsgeschwindigkeit  und 
Abnahme  der  Katalysatormenge,  denn 
der  Katalysator  wird  während  der  Hydrierung  zu 
unwirksamem  Hydrid  reduziert.  Man  kann  auf 
Grund  dieser  einander  entgegen  laufenden  Vor- 
gange drei  Klassen  wasserstoffaufnehmender  Stoffe 
unterscheiden.  Solche,  bei  denen  die  Hydrierung 
so  rasch  veriäuft,  daß  die  „Ermüdung"  praktisch 
nicht  bemerkbar  ist;  dann  solche,  bei  denen  die 
Hydrierung  schwerer  erfolgt,  die  also  sehr  wohl 
meßbaren  Geschwindigkeitsabfall  zeigen;  endlich 
diejenigen  Stoffe,  die  erst  nach  der  W  i  1 1  s  t  ä  1 1  e  r  - 
sehen  Aktivierung  der  Hydrierung  überhaupt  fähie 
werden. 

Was  für  Platin  und  Palladium  gilt,  trifft  in 
ganz  der  gleichen  Weise  zu  auch  für  das  bei  der 
Fetthärtung  allgemein  angewendete  Nickel 
Während  Sabatier  starr  an  der  Meinung  fest- 
hielt, daß  nur  das  reine  Metall  hydrieren 
könne,  vertraten  Erdmann  und  Suida  im 
Gegenteil  die  Auffassung,  daß  gerade  das  Nickel- 
oxyd ul  die  Fetthärtung  beträchtlich  begünstigte. 
Dem  hinwiederum  traten  M  e  i  g  e  n  und  F  r  e  r  i  c  h  s 
im  Sinne  der  Sabatierschen  Theorie  entgegen.-) 
Dieser  vielfach  ausgefochtene  Streit  scheint  nun 
durch  Willstätter  endgültig  zugunsten  der 
Oxydkatalyse  entschieden.  Völlig  sauer- 
stofffreiesNickel  wirkte  ganz  und  gar  nicht 
hydrierend,  aber  schon  die  geringsten  Mengen 
Sauerstoff  brachten  die  Wasserstoffaufnahme  in 
Gang. 

Die  letzte  zu  ergründende  Frage  ist  natüriich 
wie  denn  nun  der  Sauerstoff  im  Kataly- 
sator gebunden  ist?  Willstätter  neigt 
der  Annahme  zu,  daß  ein  Su peroxydh vdrid 
.0— OH  ^ 


der  Formel  Pt 


OH 


entstünde.     Es  leuchtet 


ein,  daß  ein  derartiger  Stoff  zwar  denkbar  ist 
aber  nur  geringe  Stabilität  besitzen  kann.  Auf 
dem  durch  seinen  Zerfall  bedingten  Wechsel 
zweier  Wertigkeitsstufen  des  Platins  beruht  also 
die  Wasserstoffübertragung.  Eine  exakte  Beweis- 
führung hierfür  ist  mit  heutigen  Mitteln  freilich 
schwer  und  zunächst  nicht  zu  erwarten.  Die  mit- 
geteilten Befunde  sind  aber  an  sich  wertvoll  ge- 
nug. Bringen  sie  doch  die  endgültige  Klärune 
der  verwickelten  Hydrierungsvorgänge  durch  die 
anscheinend  paradoxe  Erkenntnis,  daß  Sauer- 
stoff der  eigentliche  Wasserstoffüberträger  ist. 
H.  Heller. 

)  Vgl.  Fahrion,  Die  Härtung  der  Fette.   Braunschweig. 


Über  die  deutschen  Hydren. 

Über   die   deutschen  Hydren   hat   neben  zahl- 
reichen  anderen   Autoren,   wie  Haase,   Wachs 
und  anderen,  namentlich  Paul  Schulze  in  letzter 
Zeit  Bemerkenswertes  veröffentlicht.    1914  gab  er 
eine    Bestimmungstabelle    der    deutschen    Hydra- 
arten,   in   der   er   nicht   weniger   als  acht  Arten 
unterschied.!)    Eine  solche  Vielzahl  schwer  unter- 
scheidbarer Arten   könnte  (Zusatz   des  Ref)  wohl 
im  Sinne  der  Auffassung  sprechen,  daß  Hydra  ein 
rückgebildetes   Endglied   der   Hydrozoenreihe   sei, 
welche   Ansicht    denn    auch    heute   diejenige   der 
meisten    Kenner    ist,    obgleich    man    mit    Kühn 
noch   sagen   darf,    „notwendig    ist    sie    nicht".  — 
Eine  zweite  Arbeit   behandelt   die  Bedeutung  der 
kleinen  „interstitiellen  Zellen"  im  Hydraektoderm.'') 
Sie  dienen  zum  Ersatz  einzelner  Zellen,  besonders 
der  Nesselzellen,  ferner  vornehmlich  zur  Knospen- 
und  Geschlechtszellenbildung,  und  der  Verf.  findet 
auch    hier    die    Auffassung    begründet:    „zugleich 
lehren   die   besprochenen  Verhältnisse   aufs   neue, 
daß  die  Süßwasserpolypen  nicht  primitive,  sondern 
hochspezialisierte  Organismen  sind".     Eine  dritte, 
umfangreiche    Arbeit,    „Neue    Beiträge    zu    einer 
Monographie  der  Gattung  Hydra",    mit  eingehen- 
dem Literaturverzeichnis,  im  Archiv  für  Biontolo- 
gie IV,    1917,    S.   29—109,    mit    dem    Untertitel 
„Zugleich  3.  Beitrag  zur  Kenntnis  tierischer  Körper 
der  Karotin-Xanthophyllgruppe",  bringt  u.  a.  Bei- 
trage zur  Frage  der  Längs-  und  Querteilung:  bei 
den  meisten  anscheinenden  Längsteilungen  dürfte 
es  sich  um  Regulationserscheinungen  zum  Zwecke 
der  Trennung    oder  Wiedertrennung   von  Mutter- 
tier  und   Knospe    nach    abnormer  Verschmelzung 
ihrer  basalen  Teile   handeln.     In   anderen   Fällen 
konnten   äußere  Verietzungen   den   Anlaß   bilden, 
so    das    Einreißen    des    oralen    Poles   beim    Ver- 
schlingen  ungewöhnlich   großer  Beute,   wie  z.  B. 
großer  Chironomuslarven.     Etwas  anders  scheint 
es  sich  mit  der  Querteilung  zu  verhalten,  die  z.  B. 
nach  ganz  leichter  Umschnürung  mit  einem  Faden, 
also   vermutlich   auch   zwischen   Algenfäden,   ein- 
t^W-   —   Auch  wird    im   Zusammenhang   hiermit 
erwähnt,     daß    mitunter    Hydren    einander    ver- 
schlingen.     Obwohl    hierzu   geringe  Neigung   be- 
steht,   kann   es   namentlich    beim    Streit    um    ein 
Beutetier    zufällig    geschehen.       Schon    Roesel 
vonRosenhof  war  das  bekannt.    Das  gefressene 
Tier   kann    lebend    oder    tot    wieder   ausgespieen 
werden,    es    kann    aber  auch  durch  seine  Nessel- 
kapseln   den  Fresser   töten.    —    Der  Hauptanreiz 
für  die  Bildung  der  Geschlechtsprodukte  wird  nicht 
m  Ernährungsschwankungen,   sondern  mit  Hert- 
wig,    Krapfenbauer    und    Frischholz    im 
Vorhandensein     eines     Temperaturoptimums     er- 
blickt. — 


1 


)  Schulze:    Bestimmungstabelle    der   deutschen  Hydra- 
arten. Sitzungsbericht  d.  Gesellsch.  naturf.  Freunde.  Berlin  1914. 
2)  Derselbe:    Die  Bedeutung  der  interstitiellen  Zellen  fllr 
die    Lebensvorgänge    bei    Hydra.       Ebenda,    Jahrgane    igi8, 
Nr.   7,  S.  252-277.  j       s     t.      ^     , 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


399 


Zur  Systematik  der  Hydren  ergab  sich 
folgendes:  „Hydra"  zerfällt  in  drei  Gattungen, 
Chlorohydra,  Hydra  und  Pelmatohydra.  Erstere, 
mit  Chlorohydra  viridissima  (viridis),  dem  „Grünen 
Süßwasserpolypen",  führt  Zoochlorellen  und  bildet 
eine  stachellose,  aus  fünf-  bis  sechsseitigen  pris- 
matischen Säulen  zusammengesetzte,  daher  in  Auf- 
sicht gefeldert  erscheinende  Eischale  (Embryothek). 
Unter  den  grauen  Polypen  unterscheidet  sich 
Pelmatohydra  von  Hydra  vornehmlich  durch  das 
Vorhandensein  eines  histologisch  differenzierten 
Stieles.  Hydra  bildet  5  meist  neue  Arten,  dar- 
unter die  alte  Hydra  vulgaris  Pallas,  voneinander 
unterscheidbar  zum  Teil  durch  die  verschieden 
ausgebildeten  Nesselkapseln.  Zu  unterscheiden 
sind  nämlich  folgende  vier  Arten  von  Nessel- 
kapseln: I.  große  birnförmige  Nesselkapseln, 
„Stilettkapseln"  oder  „Penetrantes",  mit  stacheln- 
besetztem Faden  zum  Durchschlagen  glatter  Chitin- 
flächen, 2.  kleine  birnförmige  Nesselkapseln, 
Wickelkapseln  oder  „Volventes",  zum  Umwickeln 
der  Borsten  der  Beutetiere,  3.  große  meist 
zylindrische  Kapseln  oder  „große  (streptoline) 
Glutinanten"  mit  biegsamem,  und  4.  kleine 
zylindrische  oder  „kleine  (stereoline)  Glutinanten" 
mit  starrem  Klebfaden,  beide  zum  Festhaften  beim 
Kriechen  dienend.  Nun  ist  Hydra  circumcincta 
nov.  spec.  nur  '/a  c^  l^ngi  Tentakel  nur  von 
'/s  Körperlänge,  alle  anderen  sind  größer,  H.  stel- 
lata  n.  sp.  hat  birnförmige  Streptolinen,  Hydra 
vulgaris  einen  nicht  gegen  die  Basis  verdickten 
Körper,  Hydra  attenuata  Pallas,  mit  3  Unterarten, 
die  einzige  getrenntgeschlechtliche  Art,  einen  dort 
verdickten;  die  plumpe  Hydra  oxycnida  nov.  sp.^) 
aber  kennzeichnen  nach  oben  stark  verjüngte 
Penetranten.^)  Auf  ähnliche  Weise  läßt  sich  Pel- 
matohydra in  die  zwei  Arten  P.  oligactis  (Pallas 
1 766)  (fusca)  und  P.  braueri  Bedot  (polypus  Brauer) 
scheiden,  erstere  getrenntgeschlechtlich,  letztere 
zwitterig,  jene  mit  zylindrischen,  diese  mit  birn- 
fbrmigen  Streptolinen.  —  Die  Gattung  Chloro- 
hydra soll  aus  gegenwärtigem  Mangel  an  Material 
später  genauer  behandelt  werden. 

Der  Verf  bittet  um  weiteres  Hydramaterial, 
besonders  mit  Geschlechtsprodukten.  Man  saugt 
die  Tiere  in  einer  Glasröhre  hoch,  verhindert 
durch  leichtes  Drehen  das  Festsetzen  und  läßt 
sie,  sobald  die  Tentakeln  sich  ausstrecken,  in 
40proz.  Formaldehyd  fallen.  Aufbewahrung  in 
zweiprozentigem. 

Verfütterung  von  Blattläusen,  grünen  Chiro- 
nomus  u.  dgl.  an  graue  Hydren  macht  diese  zu 
scheinbar  grünen,  mit  grüngefärbten  Körpern  im 
Entoderm.     Rote  Polypen,   die   überall  vorkom- 

')  Geschlechtsprodukte  dieser  Art  noch  nicht  bekannt. 

")  Eine  weitere,  also  sechste  Art,  von  Biitzow  i.  M.,  be- 
schreibt Boeker  im  Zool.  Anzeiger  1920,  Bd.  51,  Heft  II, 
S.  250 — 256.  Sie  ist  Hydra  stellata  ähnlich,  hat  aber  nicht 
birnenförmige,  sondern  ovale  bis  iitronenfdrmige  Streptolinen. 
Derselbe  Autor  erwähnt  noch,  bei  Wittenberg  Hydren  einer 
wahrscheinlich  siebenten,  neuen  Art  gesehen  zu  haben.  Sie 
trugen  die  Tentakeln  in  sanftem  Bogen  zurückgeschlagen,  der 
Unterlage  anliegend,   von  der  sich  die  Enden  wieder  abhoben. 


men  können,  entstehen  durch  Aufnahme  von  rotem 
Karotinoid  mit  den  durch  dieses  rot  gefärbten 
Kopepoden  oder  Ostrakoden.  Der  Farbstoff  wird 
zunächst  verdaut,  alsdann  sammelt  sich  in  den 
Darmzellen  neues  fettreiches  gelbliches  oder  röt- 
liches kolloidales  Karotinoid  in  Form  von  Kügel- 
chen  als  Speicherstoff,  der  allmählich  unter  Bräu- 
nung abgebaut  wird.  Mitunter  geht  das  Karotinoid 
auf  die  Hoden  und  Eier  über.  Bei  Regenerationen 
wird  es  im  Entoderm  zu  den  Verbrauchsstellen 
transportiert.  V.  Franz,  Jena. 

Nachtrag.    Vgl,  auch:  E.  Bolker,  Zur  Kenntnis  der 
Hydra  oxycnida,  Zool.  Anz.  Bd.  52,  Heft  5,   1921. 

Weiteres  über  die  „ältesten  Laudpflauzeu". 

Zu  dem  Artikel  „Die  ältesten  Landpflanzen" 
von  Herrn  Dr.  Potonie  (diese  Zeitschrift  vom 
26.  Dezember  1920,  S.  822)  möchte  ich  im  folgen- 
den einige  weitere  Ergänzungen  und  Betrachtungen 
geben.  Bei  dem  großen  prinzipiellen  Interesse, 
dem  sowohl  vom  geologischen  als  vom  botanischen 
Standpunkt  aus  jede  genauere  Nachricht  von  den 
ältesten  Landpflanzen  begegnen  muß,  erscheint 
ein  weiteres  Eingehen  darauf  auch  in  einer  popu- 
lären Zeitschrift  durchaus  angebracht.  In  dem 
genannten  Aufsatz  (S.  823)  war  schon  die  damals 
noch  nicht  genauer  bekannte  Pflanze  Asteroxylon 
Mackiei  erwähnt  worden  im  Zusammenhang  mit 
den  damit  zusammen  vorkommenden  Psilophyten 
bzw.  Rhynia-  und  Hornea- Arten.  Über  diese  (Aster.) 
ist  inzwischen  durch  die  ebenfalls  bereits  genannten 
Verff.  Kids  ton  und  Lang  Näheres  bekannt  ge- 
worden (Transact.  Roy.  Soc.  Edinb.  Bd.  55,  1920). 
Außerdem  findet  sich  in  der  neuen  3.  Auflage 
der  „Studies  in  fossil  Botany  von  D.  H.  Scott" 
bereits  Einiges  darüber.  Diese  Pflanze  unter- 
scheidet sich  von  den  früher  genannten  Rhynia 
und  Hornea  in  verschiedener  Beziehung.  Ihre 
Konstruktion  ist  entschieden  im  allgemeinen  kom- 
plizierter und  fortgeschrittener  als  die  der  genann- 
ten Formen.  Sie  findet  sich  jedoch  nicht  in  den 
jüngeren  Horizonten  der  Pflanzenhornsteinschichten 
(chert-bed),  von  denen  dort  die  Rede  war,  sondern 
speziell  in  den  unteren  Horizonten.  Die  Pflanze 
ist  im  ganzen  größer  als  die  beiden  anderen.  Sie 
besteht  aus  den  eigentlichen  Luftstämmchen,  die 
beblättert  waren,  den  blattlosen  Rhizomen  und 
einer  Übergangsregion.  Während  der  Zusammen- 
hang dieser  drei  Teile  durch  die  Funde  klar  be- 
wiesen wird,  werden  von  dem  Verf  noch  andere 
ebendort  gefundene  Pflanzenteile  dazu  gerechnet, 
nämlich  einmal  Stengelorgane  eigener  Art,  viel- 
leicht Sporangienträger,  und  ferner  Sporangien 
selbst.  Die  Rhizome  sind  etwa  i  —5  mm  dick 
und  meist  gabelig  verzweigt.  Eigentliche  Wurzeln 
sind  nicht  vorhanden  und  auch  Rhizoiden,  wie 
sie  bei  Rhynia  angegeben  werden,  fehlen  hier. 
Gewissermaßen  einen  Ersatz  dafür  bilden  feinere 
Auszweigungen  des  Wurzelstocks,  die  nach  Wurzel- 
art auch  in  tote  Gewebe  abgestorbener  Pflanzen 
hineingekrochen  sind.      Die  innere  Beschaffenheit 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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des   Wurzelstocks   ähnelt   der   von   Rhynia.     Die 
eben    genannte    Übergangsregion    zeigt    von    der 
Form  des  einfachen  zylindrischen  Leitbündels  des 
Wurzelstocks    bereits   Abweichungen    und    dieses 
nimmt    allmählich    einen    mehr    sternförmig    ge- 
lappten   Querschnitt    an,    dessen    Form    in    dem 
eigentlichen     Stammteil    darüber    zur    definitiven 
sternförmig  -  lappigen    Ausbildung    kommt.      Die 
Oberfläche  zeigt  hier  schuppige  Blätter,  zu  denen 
sich  besondere  Leitbündel  von  dem  Zentralbündel 
hin  erstrecken.     Die  beblätterten  Sprosse,  die  die 
eigentliche    charakteristische    Region    der    Pflanze 
ausmachen,    unterscheiden    sich    besonders    stark 
von  den  bedeutend  einfacheren  der  früher  genannten 
Psilophyten  (Rhynia  usw.).  Die  Sprosse  sind  i  cm 
bis    unter    I  mm    dick,    wobei    die    verschiedene 
Dicke  wahrscheinlich  in  Beziehung  zu  der  Region 
des  Stämmchens    steht,    indem    die  äußersten  die 
dünnsten  waren.     Die  Blätter,    von  einfacher  Ge- 
stalt, mit  eiförmigem  Querschnitt,  sind  etwa  ^/j  cm 
lang  und  geben  den  Sprossen  etwa  das  Aussehen 
eines    Lycopodiumstengels.      Außerordentlich    be- 
merkenswert ist,   daß  zwar  zu  jedem  Blatt  eine 
Blattspur     hinläuft,     die    jedoch    nicht 
in    das  Blatt   selbst    eintritt,    so   daß  also 
diese    Blätter    ähnlich    wie    die    Anhängsel    oder 
Dörnchen     der    Psilophyten    Adern     bzw.    leit- 
bündellos  bleiben.     Das  Leitbündel  (die  Stele) 
des  Stengels   hat  nunmehr  durchaus  sternförmige 
Gestalt   angenommen    und    ähnelt   einerseits  dem 
mancher  fossilen  Farne  (Zygopterideen),  anderer- 
seits   demjenigen    gewisser    lebender    Arten    von 
Lycopodium.      Merkwürdig    genug    ist,    daß    die 
gesamten  Tracheiden  des  Leitbündels  spiralverdickt 
sind,  während    man    bei  sonstigen  Farngewächsen 
mindestens  zum  Teil  Treppentracheiden  zu  finden 
gewohnt  ist.     Ohne  auf  die  weiteren  Einzelheiten 
der  Struktur  der  Stele  einzugehen,  betrachten  wir 
noch    kurz    die    Rinde.      Diese    besteht  aus   drei 
Zonen,  von  denen    die    mittlere  besonders  auffallt 
durch  ihre  lakunöse  Struktur,  die  dadurch  hervor- 
gerufen   wird,    daß    senkrecht    gestellte   Gewebe- 
platten in  radialer  Richtung  angeordnet  erscheinen, 
zwischen    denen    die    genannten    Lücken    stehen 
bleiben.     Die  Blätter  sowohl  wie  die  Stämmchen 
dienten  der  Assimilation,  wie  an  beiden  vorkom- 
mende Spahöffnungen  beweisen,  die  etwas  in  die 
Oberfläche  eingesenkt  waren. 

Die  weiter  vorn  genannten  Achsenteile,  die  sehr 
wahrscheinlich  Träger  von  Sporangien  darstellen 
und  Sporangien  selbst  wurden  in  so  enger  Ver- 
bindung mit  den  Stammorganen  von  Asteroxylon 
gefunden,  daß  die  Verff.  an  einem  Zusammenhang 
nicht  zweifeln.  Wir  wollen  die  Struktur  des 
Sporangiumträgers ,  die  von  der  der  Hauptachsen 
abweicht,  nicht  näher  besprechen,  dagegen  den 
Sporangien  noch  ein  paar  Worte  widmen,  die  von 
denen  von  Rhynia  und  Hornea  ganz  abweichen. 
Sie  sind  etwa  i  mm  lang,  bohnenförmig  und 
öfiTneten  sich  entgegen  denen  der  anderen  Psilo- 
phytalen  durch  einen  Spalt  am  breiteren  Ende. 
Die  Wandzellen    waren    wie    bei    Farnsporangien 


stark  verdickt,  außer  an  der  Öffnungsstelle,  und 
die  Sporen  hatten  das  Aussehen  von  normalen 
Pteridophytensporen,  stehen  z.  T.  in  Tetraden. 

Die  eben  kurz  beschriebene  Pflanzenform  zeigt, 
daß  in  dem  Hornstein  außer  den  sehr  einfach 
organisierten  Psilophyten  (Rhynia  usw.)  auch  schon 
etwas  kompliziertere  Pflanzen  vorhanden  waren, 
die  allerdings  in  mancher  Beziehung  noch  an  sie 
erinnern,  und  deswegen  auch  von  den  Verff.  als 
zu  derselben  Gewächsreihe  gehörig  betrachtet 
werden.  Höchst  befremdlich  bei  dem  genannten 
höher  organisierten  Typus  Asteroxylon  erscheint 
insbesondere  das  Verhalten  der  Blattspuren,  die 
gewissermaßen  an  der  Blattbasis  halt  machen  und 
die  Blätter  ähnlich  wie  die  kleinen  Anhängsel  der 
Psilophyten  und  auch  der  Moose  als  außerordent- 
lich primitiv  erscheinen  lassen.  Primitiv  erscheint 
auch  die  Struktur  der  Rhizome,  die  Abwesenheit 
von  Wurzeln  und  die  alleinige  Anwesenheit  von 
spiralisch  verdickten  Tracheiden  in  dem  Holzteil. 
Pteridophytenähnlich  ist  aber  das  Sporangium, 
spez.  farnähnlich  mit  seinen  verdickten  Wand- 
zellen; Sporophylle  haben  aber  auch  hier  gefehlt. 
Was  die  Vegetationsbedingungen  dieser  Pflanzen 
anlangt,  so  muß  schon  nach  dem  Zusammenvor- 
kommen mit  den  anderen  genannten  angenommen 
werden ,  daß  sie  mit  diesen  gleiche  ökologische 
Bedingungen  hatten  und  also  auf  sumpfigem  zum 
Teil  nassem  Boden  vegetierten.  Und  hierauf 
weist  gerade  besonders  die  lakunöse  Struktur 
der  Rinde  hin.  Obwohl  von  den  früher  beschrie- 
benen Formen  der  Psilophyten  in  mehrererlei  Be- 
ziehung erheblich  abweichend,  kann  man  diese 
Pflanze  doch  bei  anderen  bekannten  lebenden 
oder  fossilen  Pflanzentypen  noch  weniger  unter- 
bringen, und  so  kann  man  zunächst  den  Verff. 
wohl  recht  geben,  wenn  sie  diese  Pflanze  in  die- 
selbe Reihe  mit  Rhynia,  Hornea,  Psilophyton,  also 
zu  den  Psilophytalen  stellten. 

Die  ältere  Devonflora  gibt  uns  im  Vergleich 
zu  dem  nächst  jüngeren  und  den  jüngeren  Floren 
überhaupt  Veranlassung  und  Fingerzeige,  wie  sich 
die  Entwicklung  der  Landflora  in  den  ältesten 
Perioden  überhaupt  vollzogen  haben  wird.  Es 
darf  und  soll  keineswegs  angenommen  werden, 
daß  diese  altdevonischen  Pflanzenformen  etwa 
wirklich  die  ältesten  Landpflanzen  gewesen  sind, 
die  es  gegeben  hat.  Man  darf  wohl  annehmen, 
daß  z.  B.  im  Silur  bereits  eine  Landflora  von 
z.  T.  ähnlicher  oder  noch  primitiverer  Art 
existiert  haben  wird,  als  uns  diese  Devon- 
pflanzen nahelegen.  Ein  Hinweis  in  dieser 
Richtung  hat  uns  vor  kurzem  ein  Fund  in  dem 
Obersilur  von  Gotland  gegeben,  der  von  Halle 
(Svensk  Bot.  Tidskrift  1920,  S.  258)  bekannt  ge- 
macht wurde.  Es  ist  ein  zwar  nicht  bedeutender 
Fund,  der  aber  immerhin  erkennen  läßt,  daß  es 
sich  um  eine  Landpflanze  handelt,  die  nach  ihrem 
äußeren  Habitus  zu  schließen,  im  großen  und 
ganzen  den  Eindruck  der  devonischen  Psilophyten 
macht,  und  Halle  hat  sie  deswegen  auch  mit 
dieser  Gattung  in  Verbindung  gebracht.    Bei  der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


401 


Frage  der  Entwicklung  der  einfachsten  und  ältesten 
Landpflanzen  hat  u.  a.  schon  H.  Potoni^  in  Ver- 
bindung   mit    seiner    Perikaulom-Hypothese     die 
Meinung    aufgestellt,    daß    die    Landpflanzen    von 
Wasserpflanzen  abstammen  und  zwar  von  größeren 
gabelteiligen    Algen,     vom    Habitus    der    Tange 
(Fukaceen)  oder  dgl.    Indem  durch  gewisse  äußere 
Umstände    solche    Formen    aufs    Land    gelangten 
und   sich   schließlich    dem  Landleben   anzupassen 
genötigt    waren,    wahrscheinlich    über   eine  Stufe 
amphibischen  Daseins,  traten  an  sie  gänzlich  neue 
Bedingungen  und  Anforderungen  heran,  die  wesent- 
lich durch  das  Leben  in  dem  neuen  Medium,  der 
Luft,  hervorgerufen  wurden.    Das  Wasser  spielt 
für   die  Wasserpflanzen   nicht   nur   die  Rolle   des 
nährenden,  sondern  auch  eines  tragenden  Elements. 
Wir  finden  daher  bei  den  Wasserpflanzen  festigende, 
tragende  Skelett-  oder  Holzkörper  gar  nicht  oder 
nur   untergeordnet   ausgeprägt.     Stellt   man   sich 
auf  den  Boden   dieser  Vorstellung,   so   wird   man 
sich   die   ersten   Landpflanzen    vorstellen    können 
als   kriechende    niedrige   Gewächse,    die   erst   all- 
mählich ihre  Organe   höher   in  ihr  neues  Lebens- 
element, die  Luft,  emporzurecken  versuchten.    Es 
erwies  sich  nun  für  die  Pflanzen  nach  länger  an- 
dauerndem Luftleben   als  praktisch   und  durchaus 
nötig,   schon  um  in  Form  verschieden  hoher  Ge- 
wächstypen   den    Luftraum     besser    auszunutzen, 
ihren    Körper    allmählich    immer    weiter    in    die 
Höhe   zu  recken,   d.   h.   allmählich    das  Aussehen 
von  größeren  krautigen  und  schließlich  strauchigen 
und  baumförmigen  Gewächsen  anzunehmen.     Bei 
der  Annahme  der  Abstammung  von  algenartigen 
Gewächsen   wird   ursprünglich   noch   keine  Diffe- 
renzierung in  Stengel-  und  Blattorgane  anzunehmen 
sein,   sondern    die   im  ganzen  in  Form  von  mehr 
oder  weniger  nackten  Stengeln  ausgebildete  Pflanze 
wird  die  Ernährung,  Atmung  und  Assimi- 
lation   von    den    Stengelteilen    haben    besorgen 
lassen,    die    zugleich    als    Träger    der    Gesamt- 
pflanze dienten.    Im  Laufe  der  Zeit  wird  sich  dann 
eine    Arbeitsteilung    bemerkbar    gemacht    haben. 
Gemäß  ihrem  Charakter  wird   den   stengelig  aus- 
gebildeten Organen  die  Tätigkeit  des  Tragens  zu- 
zugewiesen worden  sein,  während  für  die  Assimi- 
lation     besondere      Anhangsorgane      ausgebildet 
wurden,    die   zugleich    die   der  Luft   dargebotene 
Oberfläche   vergrößerten.  *)    Diese    Primiüvblätter 
werden    vielleicht    zunächst    klein    und    schuppig 
oder  ähnlich  gewesen  sein,  und  erst  später  werden 
größere  Blattflächen  differenzierter  Art  aufgetreten 
sein,  wie  wir  sie  etwa  bei  den  Farnen,  den  Laub- 
bäumen   usw.  kennen.     Beim    Höherwachsen    der 
Stengelorgane    und    bei  der  stärkeren  Ausbildung 
des  Blatt-,   Blüten-    und   Fruchtsystems   wird   die 
Beanspruchung    der    tragenden    Stengelteile    eine 
allmählich  immer  stärkere  geworden  sein  und  die 
Pflanze  wird   dadurch  genötigt  worden   sein,   die 

')  Auch  bei  den  Wasseralgen  selbst  bemerkt  man  ja  mu- 
tatis  mutandis  eine  ähnliche  Tendenz,  indem  manche  Tange, 
Braun-  und  Rottange,  eine  Art  Sonderung  des  Körpers  in 
Stengel-  und  blattartige  flächige  Organe  eintreten  lassen. 


Tragfähigkeit  der  Stengel  insbesondere  der  Haupt- 
stengel entsprechend  zu  verstärken  und  diese  in 
entsprechender  Weise  auszurüsten,  zu  konstruieren. 
Wir  können  hierbei  in  der  Pflanzenwelt  zur  Er- 
reichung dieses  Zieles  einen  doppelten  Weg  er- 
kennen, der  sich  nach  der  Beschaffenheit  der  Ge- 
samtstengelstruktur oder,  wie  wir  jetzt  sagen 
können,  Stammstruktur,  richtet.  Der  eine  Weg 
bestand  darin,  daß  ähnlich  wie  es  bei  den  Farnen, 
den  Monokotylen  usw.  der  Fall,  ist  ein  System 
von  einzelnen  getrennten  Leitbündeln  im  Stamme 
bestehen  blieb  und  der  Stamm  einen  ständigen 
nachträglichen  Dickenzuwachs  nicht  erhielt.  In 
diesem  Falle  erreichte  die  Pflanze  ihren  Zweck, 
indem  sie  für  die  senkrecht  stehenden  tragenden 
Organe  genau  wie  der  Ingenieur  das  System  der 
hohlen  Säule  wählte  und  die  eigentlich  festigenden 
Skelettelemente  an  die  Peripherie  des  Stengels 
legte.  Der  andere  Weg,  der  ja  ebenfalls  wohl 
bekannt  ist,  ist  der,  daß,  wie  noch  jetzt  bei  den 
meisten  Nadel-  und  Laubbäumen,  ein  nachträglich 
in  die  Dicke  wachsender  Holzkörper  gebildet 
wurde,  der,  wie  aus  der  Botanik  bekannt  sein 
dürfte,  durch  ein  konzentrisch  gelegenes,  ständig 
nach  außen  sich  verschiebendes  Bildungsgewebe 
erzeugt  wird,  das  nach  innen  Holzzellen,  nach 
außen  Rinden  zellen  abscheidet. 

Auf  die  weiteren  Komplikationen,  die  nun 
ihrerseits  im  Laufe  der  Entwicklung  die  weiteren 
Einzelorgane  der  Pflanze  erlitten  haben,  wollen 
wir  uns  hier  nicht  weiter  einlassen,  sondern  uns 
wesentlich  darauf  beschränken,  nunmehr  nachzu- 
sehen, inwieweit  sich  die  eben  angestellten,  meist 
theoretischen  Betrachtungen  in  der  Praxis  durch 
die  fossilen  Funde  bestätigt  finden.  Aus  der 
früheren  Darstellung  von  R.  Potonie  ersieht 
man,  daß  so  gut  wie  sämtliche  bekannt  ge- 
wordenen älteren  Devonpflanzen  verhältnismäßig 
klein,  niedrig,  krautig  waren;  es  war  auch  dort 
bereits  genügend  hervorgehoben  worden,  wie 
außerordentlich  primitiv  und  einfach  z.  B.  die 
Stengelstruktur  der  Psilophyten  gewesen  ist.*) 
Keinerlei  festigende  Skelettelemente,  keinerlei 
Blätter  oder  wenn  man  diese  als  einen  Anfang 
davon  ansehen  will,  höchstens  die  kleinen  dornigen 
Anhängsel  an  dem  Stengel  erinnern  an  etwas 
Blattartiges,  während  andere  Pflanzen,  wie  das 
genannte  Asteroxylon,  schon  eine  Art  von  primitiver 
Beblätterung  aufweisen.  Zu  einem  ähnlichen  Bilde 
kommt  man,  wenn  man  die  in  der  böhmischen 
Devonflora  vertretenen  Formen  einer  Durchsicht 
unterwirft.  Indessen  zeigen  sich  hier  schon  An- 
fänge der  Ausbildung  einer  eigentlichen  Blatt- 
spreite und  einzelne  Gewächse  erreichen  bereits 
eine  Höhe  von  über  i  m.  Ganz  ausnahmsweise 
scheinen  auch  bereits  mehr  baumförmige  Formen 
im  Mitteldevon  vorgekommen  zu  sein,  worauf  ein 
merkwürdiger     Stamm     im   '  Nationalmuseum     in 

')  Ein  englischer  Forscher  hat  diese  Psilophytales  sogar 
noch  als  Algen,  Phallophytcn,  angesehen,  ein  indes  offenbar 
unmöglicher  Standpunkt.  Es  sind  die  einfachsten  Ptrido- 
phyten,  die  man  kennt. 


402 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Washington  nach  Whites  Beschreibung  hinweist. 
Verhältnismäßig  klein   und  krautig  scheinen  auch 
noch  die  Gewächse  des  späteren  Mitteldevons  ge- 
wesen zu  sein.     Indes   bemerkt  man   bei   diesen 
auch    schon   Ansätze    zur   Ausbildung    einer    mit 
richtiger  Aderung  versehenen  Blattspreite,  die  bei 
dem    von    Potonie    auch    erwähnten    (S.   825) 
Psygmophyllum  Kolderupi.      Auch   sonst   sind    in 
der  kleinen  Flora  von  Hyen  in  Norwegen  bereits 
weitere   Fortschritte    in    der  Pflanzenorganisation 
zu    bemerken,    auf   die    von    Potonie    ebenfalls 
schon  hingewiesen  wurde,   auf  die  wir   hier  aber 
nicht  näher  eingehen  wollen.     Alles  in  allem  er- 
weist sich  unseren  vorn  gemachten  theoretischen 
Forderungen    entsprechend    die    älteste    bekannte 
Landflora   als    im   ganzen  klein,    krautig,   mit   nur 
wenigen    oder    keinen    Festigungselementen    ver- 
sehen   und    mit   außerordentlich   gering    dififeren- 
tiierter  Beblätterung.    Ein   ganz   anderes  Bild  ge- 
winnen    wir     von     der     oberdevonischen     Flora. 
Potonie     hatte     diese    Verschiedenheiten    auch 
durch  die  Aufnahme  der  Bezeichnung  von  L  i  g  n  i  e  r 
charakterisiert,  indem  er  von  einer  älteren  mikro- 
phyllen    und    einer  jüngeren    makrophyllen  Flora 
sprach.     Anders  ausgedrückt:   der  Gegensatz  der 
jüngeren  oberdevonischen  Flora  gegen   die  ältere 
ist    ein   ganz    eminenter.      Im    Oberdevon    treten 
schon  eine  ganze  Reihe  von  Pflanzen  auf,  die  be- 
reits  eine  Beblätterung   und   eine  Ausbildung  der 
Blattspreite  hoch  entwickelter  Art   etwa  wie   bei 
Farnkräutern  zeigen,  und  ein  weiterer  Schritt  der 
Arbeitsteilung,   wie   wir  sie   vorn  theoretisch  uns 
gedacht    hatten,    ist    vollzogen.      Auch    was    die 
Komplikation  der  Stengelstruktur,  die  Ausbildung 
der   Stengelorgane    zu   besonderen  Trageorganen 
anlangt,    scheint    im   Oberdevon    bereits   in   dem 
beiderseitigen   Sinne   vollzogen   zu   sein,   wie   wir 
vorn    betrachtet    hatten.      Durch   einzelne   Funde 
wissen  wir  einmal,  daß  schon  im  Oberdevon  sich 
Gewächse  mit  echtem  großem  Holzkörper  gefun- 
den   haben,    der    nur  durch    einen  nachträglichen 
Zuwachs  von   der   Art   verstanden   werden  kann, 
wie  ihn   heute   noch  die  meisten   unserer  Bäume 
zeigen.     Aber    auch    der    andere   Weg,    die  Ver- 
legung   von   Skelettelementen    an    die   Peripherie 
der    Stengelorgane,    muß    bereits    mindestens    im 
Oberdevon    in    ausgiebigem   Maße    vollzogen   ge- 
wesen  sein ,   da   uns   aus   der  unmittelbar  darauf- 
folgenden Kulmflora   eine   ganze  Menge   von  Ge- 
wächsen bekannt   sind,    die    diese  Art  Stengelbau 
zeigen.     Sowohl    die  Größe    einzelner    im   Ober- 
devon charakteristischer  Pflanzengruppen  als  auch 
die  genannten  gefundenen  großen  Holzstämme  be- 
weisen ferner,  daß  große  mehr  oder  weniger  baum- 
förmige  Gewächse  damals  bereits  nicht  selten  waren. 
Fassen  wir  die  großen  Züge  dieses  Entwicklungs- 
bildes zusammen,  so  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß 
nach  den  gemachten  Funden  die  Entwicklung  der 
Landpflanze  von  der  Wasserpflanze  sich   etwa   in 
dem  Sinne   vollzogen  zu   haben  scheint,   wie  wir 
es    vorn    angenommen    hatten,    und    es    erscheint 
durchaus  verständlich,  wenn  der  verstorbene  eng- 


lische Paläobotaniker  E.  A.  N.  Arber  durch  die 
neueren  Funde  in  den  Devonfloren  dazu  begeistert 
wurde,  in  einem  besonderen  1920  erschienenen 
Buch  sowohl  die  Einzelergebnisse  der  Erforschung 
der  Devonfloren  zusammenzufassen  als  auch  die 
theoretische  Ableitung  der  Kormophyten,  d.  h. 
der  mit  einem  besonderen  Stamm  als  Tragorgan 
versehenen  Gewächse  in  Zusammenhang  mit  den 
Verhältnissen  der  Devonflora  zu  beleuchten.  Auch 
er  greift  dabei  auf  einen  Teil  der  Anschauungen 
zurück,  die  H.  P  o  t  o  n  i  e  in  seiner  Perikaulomhypo- 
these  bereits  früher  entwickelt  hatte.  Auch  von 
einem  neueren  englischen  Verfasser  sind  theo- 
retische Ableitungen  veröfifentlicht  worden,  die 
sich  mit  der  Abstammung  der  Landpflanzen  von 
den  Wasseralgen  befassen  (Church,  Thalassio- 
phyta  and  the  Subaerial  Transmigration  Botanical 
Memoirs  No.  3,  Oxford  University  Press,  1919). 
Dieses  Buch  ist  mir  noch  nicht  zu  Gesicht  ge- 
kommen, nach  Scotts  Mitteilungen  sollen  sich 
indes  die  spekulativen  Annahmen  des  Verf.  weit- 
gehend mit  den  tatsächlichen  Befunden  der  älteren 
Landflora  decken,  von  denen,  wohlgemerkt, 
Church  selbst  keine  Vorstellung  gehabt  haben 
soll. 

Man  könnte  noch  manche  interessanten  Be- 
trachtungen an  diese  alten  einfachen  Landfloren 
knüpfen,  z.  B.  die  Frage  der  Entwicklung  des 
Blattsystems  von  den  einfachsten  Anfängen  zu 
den  vollendeten  Formen,  indes  mag  es  hier  an 
den  prinzipiellen  Zügen  genügen. 

W.  Gothan. 

Die  diluvialen   Skelettfunde   von  Oberkassel 
bei  Bonn. 

Zu  Beginn  des  Jahres  191 4  wurden  bei  Ober- 
kassel bei  Bonn  zwei  fast  vollständig  erhaltene 
Menschenskelette  entdeckt.  Beide  Skelette  ent- 
stammen einmal  einer  intakten  Fundschicht,  deren 
geologische  Altersverhältnisse  vollkommen  klar 
liegen,  und  weiterhin  wurden  neben  den  Skeletten 
noch  einige  sehr  wertvolle  Beigaben  gefunden, 
welche  die  Kulturstufe,  der  die  Skelette  ange- 
hören, unzweideutig  bestimmen.  Funde  unter 
derartig  günstigen  Umständen  sind  selbst  in  den 
an  paläolithischen  Fundorten  so  reichen  Gebieten 
Südfrankreichs  verhältnismäßig  selten.  Dazu 
kommt,  daß  die  beiden  Oberkasseler  Skelette  den 
ersten  Aufschluß  über  die  Körperbeschaffenheit 
der  diluvialen  Bewohner  der  Ufer  des  Nieder- 
rheins geben.  Bisher  kannte  man  von  solchen 
nur  zwei  Zähne  und  sieben  Rippenbruchstücke 
eines  Kindes  (Martinsberg  bei  Andernach).  So 
verdient  der  Fund  von  Oberkassel  eine  ganz  be- 
sondere Beachtung. 

Die  Skelette  kamen  in  dem  Basaltbruch  des 
Herrn  Peter  Uhrmacher  in  der  Rabenlay 
bei  Oberkassel  gelegentlich  der  Abbauarbeiten 
zum  Vorschein  und  wurden  von  den  Arbeitern 
unter  möglichst  großer  Schonung  freigelegt  und 
dann  geborgen.    Bald  nach  der  Auffindung  wurden 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


403 


die  Professoren  Verworn  und  Bonnet  von 
der  Auffindung  in  Kenntnis  gesetzt,  die  sofort 
die  Funde  bargen  und  die  Fundstelle  sicherstellten. 

Nach  den  Feststellungen  dieser  beiden  Forscher 
haben  die  Skelette  in  einer  ziemlich  dicken 
Schicht  von  Rötel  in  vollkommen  gestrecktem  Zu- 
stande auf  der  Sandschicht  gelegen,  ob  in 
Rücken-  oder  Seitenlage  war  nicht  mehr  zu  er- 
mitteln. Dagegen  waren  beide  Skelette  mit  ihrer 
Längsrichtung  in  derselben  Himmelsrichtung  orien- 
tiert. Bedeckt  waren  beide  Skelette  nach  Angabe 
der  Arbeiter  mit  größeren,  flachen  Basaltblöcken 
und  ringsherum  lagen  ebenfalls  größere  und 
kleinere  Basaltschotterstücke.  An  der  Fundstelle 
der  Skelette  wurde  von  den  genannten  Forschern 
eine  kleine  Probegrabung  angestellt,  die  noch 
einige,  von  den  Arbeitern  übersehene  Skelettstücke 
in  situ  auffinden  ließ,  im  übrigen  aber  nur  den 
Nachweis  brachte,  daß  die  Fundstelle  mit  diesen 
beiden  Skeletten  wohl  erschöpft  ist. 

Die  gesamten  Funde  konnten  von  der  Uni- 
versität Bonn  erworben  werden,  die  sie  vorläufig 
dem  anatomischen  Institut  der  Universität  über- 
wies. Dort  hat  B  o  n  n  e  t  die  Skelette  konserviert, 
zusammengesetzt  und  sich  dann  ihrer  eingehenden 
wissenschaftlichen  Bearbeitung  unterzogen.  Die 
Ergebnisse  seiner  Forschungen  liegen  jetzt  in 
einer  umfangreichen  Publikation  vor,  die  auch 
äußerlich  der  Bedeutung  des  Fundes  entspricht 
(Der  diluviale  Menschenfund  von  Oberkassel  bei 
Bonn.  Bearbeitet  von  M.  Verworn,  R.  Bonnet 
und  G.  Steinmann.  Wiesbaden  1919,  J.  F. 
Bergmann.  193  S.,  28  Tafeln  und  42  Textab- 
bildungen). Sie  bildet  eine  Ehrengabe  der 
rheinischen  Gesellschaft  für  wissenschaftliche 
Forschung  zum  hundertjährigen  Bestehen  der 
Universität  Bonn.  In  dieser  Publikation  hat  Stein- 
mann  das  geologische  Alter  der  Funde  darzu- 
stellen unternommen.  Dann  beschreibt  Bonnet 
eingehend  die  Skelette,  und  vergleicht  sie  mit 
den  bisher  bekannten  diluvialen  Menschenfunden. 
Endlich  hat  Verworn  einen  kurzen  Fundbericht 
beigesteuert  und  die  Darstellung  der  Beigaben 
übernommen. 

Das  geologischeAlter  derFundstelle 
ist  nach  Steinmann  völlig  gesichert.  Sie  liegt 
an  der  Basis  der  Basaltschotterschicht,  die  auf 
einer  breiten  Sandschicht  ruht.  Diese  Sand- 
schicht gehört  nach  Steinmann  zu  der  Hochter- 
rasse des  Rheintales.  Zusammen  mit  den  Skeletten, 
dann  aber  auch  in  der  Nähe  derselben  wurden 
einige  Tierreste  aufgefunden,  von  denen  sich  zwei 
ausgesprochene  Diluvialtiere,  der  Höhlenbär  und 
das  Renn,  bestimmen  ließen.  Dadurch  ist  die 
Fundstelle  als  jungdiluvial  gesichert.  An  der 
Fundstelle  selber  liegt  leider  keinerlei  Lößbildung 
vor,  während  diese  östlich  und  südöstlich  der 
Basaltbrüche  als  eine  geschlossene  Decke  auftritt 
und  den  vulkanischen  Tuff  und  den  Bereich  der 
Hochterrasse  überkleidet.  Daß  die  Lößbildung 
hier  fehlt,  erklärt  sich  wohl  nur  durch  die  steile 
Neigung    des  Abhanges    des  Rabenlay  an    dieser 


Stelle.    Näher  als  jungdiluvial  läßt  sich  die  Fund- 
stelle geologisch  nicht  datieren. 

Wohl  aber  gestattet  uns  die  geologische 
Forschung  noch,  ein  Bild  davon  zu  entwerfen, 
wie  die  Fundstelle  zu  der  Zeit  aussah,  als  die 
diluvialen  Menschen  hier  ihre  Toten  bestatteten. 
Über  den  Skeletten  fand  sich  eine  sehr  mächtige 
Schicht  von  basaltischem  Hängeschutt.  Die 
Mächtigkeit  dieser  Schicht  beweist,  daß  die  Fund- 
stelle am  Fuß  einer  steilen  Basaltwand  gelegen 
haben  muß,  von  der  reichliche  Brocken  sich  ab- 
gelöst und  in  der  Form  eines  Schuttkegels 
angehäuft  haben.  Die  P'undstelle  hat  also  allem 
Anschein  nach  abriartigen  Charakter  gehabt.  Das 
Fehlen  von  Löß  auf  und  in  diesem  Schuttkegel 
spricht  dafür,  daß  seine  Bildung  in  eine  spätere 
Zeit  fällt  als  die  Ablagerung  des  jüngeren  Lösses. 

Die  Skelette  selbst  sind  ebenso  wie  auch 
die  Schädel  überraschend  gut  erhalten,  und  bis 
auf  wenige,  unwichtige  Teile  vollständig.  Sie  ge- 
hören zu  zwei  Individuen  von  verschiedener  Größe, 
von  verschiedenem  Lebensalter  und  verschiedenem 
Geschlecht.  Das  weibliche  Skelett  dürfte  einem 
etwa  20—25  Jahre  altem  Individuum  angehören, 
während  das  männliche  Skelett  ein  Lebensalter 
von  mindestens  50,  wahrscheinlich  aber  von  über 
60  Lebensjahren  hat.  Durch  dieses  verschiedene 
Lebensalter  und  durch  die  Zugehörigkeit  zu  ver- 
schiedenen Geschlechtern  wird  der  Wert  des 
Oberkasseler  Fundes  nur  noch  erhöht. 

Das  etwa  172  cm  lange  Skelett  des  alten 
Mannes  zeigt  unverkennbar  ancestrale  Merkmale. 
Sein  Schädel  hat  die  ansehnhche  Kapazität  von 
1500  ccm  und  gehört  an  die  untere  Grenze  der 
Dolichocephalie.  An  dem  hoch  und  gleichmäßig 
gewölbtem  Stirnbein  erscheint  als  Besonderheit  ein 
von  dem  einen  Processus  jugalis  bis  zum  anderen 
reichender  Überaugenwulst,  der  zwar  ziemlich 
schmal  und  niedrig  ist  und  sich  mit  der  analogen 
Bildung  an  den  Schädeln  der  Neandertalrasse  bei 
weitem  nicht  messen  kann,  sich  aber  doch  ganz 
anders  abgrenzt  wie  der  Arcus  superciliaris  bei 
den  rezenten  Menschen.  Auch  arn  Skelettbau 
finden  sich  noch  manche  andere  Ähnlichkeiten 
bzw.  Übereinstimmungen  mit  der  Neandertalrasse, 
z.  B.  in  der  Plumpheit  der  Rippen,  Ähnlichkeiten 
an  den  Ober-  und  Unterschenkelknochen  usw. 
Bonnet  möchte  diesen  Befund  als  Folgen  der 
Vererbung  und  nicht  als  Konvergenzerscheinung 
deuten,  während  er  andere  Ähnlichkeiten  bzw. 
gleiche  Befunde  mit  anderen  ungefähr  derselben 
Zeit  angehörigen  Skeletten  (namentlich  Cromagnon 
und  z.  T.  auch  noch  Chanzelade)  durch  die  An- 
nahme von  bereits  damals  vorhandenen  Kreuzun- 
gen erklären  möchte.  Die  scharf  ausgeprägte 
und  eigenartige  Verbindung  gewisser  auffallender 
Eigentümlichkeiten,  so  das  gleichzeitige  Vorhanden- 
sein des  Überaugenwulstes  mit  auffallend  recht- 
eckigen Augenhöhlen  und  einem  äußerst  promi- 
nenten Kinn,  das  Mißverhältnis,  das  namentlich 
in  der  enormen  Breite  des  brutalen  Gesichts- 
schädels   zum    verhältnismäßig    schmalen   Stirnteil 


404 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  27 


des  Hirnschädels  zum  Ausdruck  kommt,  das 
riesige  Jochbein ,  das  kurze  Gesicht  bei  einem 
Dolichocephalen  und  die  im  Verhältnis  zur  Länge 
auffallend  weite  Schläfengrube,  das  eigentümliche 
Verhältnis  der  im  Vergleich  zu  den  Oberarm-  und 
Oberschenkelbeinen  langen  Unterarm-  bzw.  Unter- 
schenkelknochen, die  plumpe,  stumpfkantige,  dicke 
und  gerade,  seitlich  zusammengedrückte  Tibia,  die 
dicke  Fibula,  die  merkwürdige  Richtung  des  kurzen, 
fast  gerade  nach  hinten  gerichteten  Trochanter 
minor  kennzeichnen  nach  Bonn  et  dieses  Skelett 
eines  alten  Mannes  als  eine  bisher  unbekannte 
und  neue  Form  des  diluvialen  Menschen. 

Das  weibliche,  etwa  142  cm  lange,  durch 
feineren  Knochenbau  und  den  sehr  stark  dolicho- 
cephalen Schädel  auf  den  ersten  Blick  von  dem 
männlichen  abweichende  Skelett  zeigt  bei  näherer 
Untersuchung  eine  solche  Menge  Ähnlichkeiten 
und  Übereinstimmungen  mit  diesem,  daß  man  es 
unter  Berücksichtigung  des  Geschlechtsdimorphis- 
mus als  mit  ihm  blutsverwandt  bezeichnen  muß. 
So  das  beiden  gemeinsame  Vorhandensein  eines 
mittleren  Stirn-  und  Scheitel wulstes,  die  gleiche 
Modellierung  der  Scheitelbeine,  ferner  die  bei  dem 
weiblichen  Skelette  ebenfalls  nicht  unbeträchtliche 
Jochbreite,  die  sehr  kräftige  Kieferentwicklung, 
das  Fehlen  der  Fossa  canina,  die  große  Schädel- 
kapazität, die  Kürze  des  Gesichts  bei  ausge- 
sprochenen Langschädeln,  die  eingezogene  Nasen- 
wurzel, die  schmalen  Nasenbeine  usw.  Die  Ver- 
einigung besonderer  Merkmale  gibt  auch  dem 
weiblichen  Skelett  ein  ganz  bestimmtes,  nament- 
lich bezüglich  des  Schädels,  an  das  Skelett  von 
Chanzelade  erinnerndes  Gepräge.  Nach  B o n n e t 
führt  auch  der  Schädel  dieses  weiblichen  Skelettes 
neben  den  angegebenen  ancestralen  Eigentümlich- 
keiten zu  gewissen  neolithischen  Formen  hinüber. 

B  o  n  n  e  t  möchte  überhaupt  beide  Skelette 
als  einen  besonderen,  bisher  noch  nicht  bekannten, 
zu  gewissen  neolithischen  Skeletten  hinüberführen- 
den Übergangstypus  betrachtet  wissen.  Für  diese 
Ansicht  dürfte  jedoch  Bonnet  schwerlich  An- 
hänger finden.  So  hat  auch  bereits  Szombathy 
sich  ablehnend  ausgesprochen  und  seinerseits  die 
Oberkasseler  Skelette  unbedenklich  als  typische 
Vertreter  der  Cromagnonrasse  erklärt  (Mitteilungen 
der  anthropologischen  Gesellschaft  Wien  L,  1920, 
Sitzungsberichte  S.  60  ff.).  Auch  mir  persönlich 
erscheint  diese  Zuteilung   als    die    einzig   richtige. 

Bei  den  Skeletten  fanden  sich  einige  wenige 
Beigaben.  Einmal  ein  aus  Knochen  verfertigtes 
Glättinstrument,  das  oben  in  einem  geschnitzten 
Tierkopf  endigt.  Auf  den  beiden  Schmalseiten 
dieses  Glättinstrumentes  sind  bis  nach  dem  unteren 
Ende  hin  Reihen  von  schrägen  Querstrichen  in 
Abständen  eingekerbt.  Derartige  Tierkopfschnitze- 
reien als  Endbekrönungen  an  langgestreckten 
Knochengeräten  sind  von  paläolithischen  Fund- 
orten Südfrankreichs  mehrfach  bekannt  geworden, 
sie  entstammen  alle  dem  unteren  Magdalenien. 
Das  zweite  Fundstück  stellt  gleichfalls  eine 
Knochenschnitzerei  dar,  und  zwar  eine  flache,  aus 


einem  großen  Röhrenknochen  plastisch  heraus- 
geschnitzte Darstellung  eines  Pferdes  oder  Rhino- 
zeros. Ähnliche  plastisch  geschnitzte  Tierköpfe 
haben  sich  in  nicht  gerade  geringer  Zahl  an  ver- 
schiedenen Fundorten  Südfrankreichs  gefunden. 
Auch  diese  Stücke  gehören  sämtlich  dem  Magda- 
lenien an,  und  zwar  gewöhnlich  den  älteren 
Schichten.  Sie  weisen  also  gleichwie  das  oben 
beschriebene  Glättinstrument  auf  das  ältere  Magda- 
lenien. 

Außer  diesen  beiden  Knochenschnitzereien 
wurden  noch  einige  unbearbeitete  Bruchstücke 
von  Tierknochen  gefunden,  von  denen  eins  mög- 
licherweise als  Werkzeug  gedient  haben  mag. 
Schließlich  fand  sich  auch  noch  ein  Feuerstein- 
splitter, der  durchaus  nichts  Charakteristisches  an 
sich  hat  und  erst  nachträglich  an  der  Fundstelle 
aus  dem  Lehm  herausgeschlemmt  wurde. 

Die  bereits  oben  ausgesprochene  Vermutung, 
daß  die  beiden  Skelette  dicht  an  einem  Abri, 
vielleicht  in  diesem  selbst  bestattet  seien,  wird 
dadurch  um  so  wahrscheinlicher,  als  die  französi- 
schen Funde  durchweg  zeigen,  daß  die  Begräbnisse 
an  den  Wohnstätten  selbst  stattgefunden  haben. 
Die  paläolithischen  Skelette  finden  sich  fast  allge- 
mein direkt  in  die  Kulturschicht  eingebettet. 
Letzteres  war  allerdings  in  Oberkassel  nicht  der 
Fall,  denn  sonst  hätten  sich  mehr  Kulturreste  als 
nur  die  spärlichen  Beigaben  in  der  unmittelbaren 
Nähe  der  Skelette  finden  lassen  müssen.  Eine 
Kulturschicht  existiert  zweifellos  in  Oberkassel 
unmittelbar  an  Stelle  des  Begräbnisses  selbst  nicht. 
Um  so  weniger  wird  man  in  der  Annahme  fehl- 
gehen, daß  der  ursprüngliche  Lagerplatz  in  näch- 
ster Nähe  lag  und  nur  durch  den  Steinbruchsbetrieb 
in  den  letzten  Jahrzehnten  zerstört  worden  ist, 
denn  nur  wenige  Meter  von  der  Fundstelle  fällt 
heute  der  Rand  des  Steinbruches  steil  in  die  Tiefe 
ab.  Auch,  der  nachträgliche  Fund  des  kleinen, 
oben  erwähnten  Feuersteinsplitters  spricht  für  die 
Annahme,  daß  sich  ursprünglich  ein  Lagerplatz 
in  der  Nähe  der  Fundstelle  befand. 

In  der  Bepuderung  mit  rotem  Farbstoff  haben 
wir  eine  typische  Funeralsitte  des  Paläolithikums 
vor  uns.  An  keinem  Knochen  der  beiden  Skelette 
finden  sich  Schnitt-  oder  Schabspuren,  wie  sie 
bei  der  Zerlegung,  Entfleischung  und  nachträg- 
lichen Färbung  mit  Roteisenstein  sich  hätten 
finden  müssen.  Die  Leichen  sind  also  unzerlegt 
mit  der  roten  Farbe  eingepudert  oder  bestreut 
worden,  und  die  Knochen  haben  sich  erst  all- 
mählich mit  der  roten  Farbe  durchtränkt. 

Nach  alledem  kann  kein  Zweifel  mehr  darüber 
sein,  daß  wir  in  dem  Oberkasseler  Skelettfund 
einen  Begräbnisfund  vor  uns  haben.  Die  Leichen 
sind  nach  dem  üblichen  Ritus  mit  rotem  Farb- 
stoff bestreut,  mit  Beigaben  versehen  und  mit 
größeren  Steinen  bedeckt  worden,  und  ein  glück- 
licher Zufall  hat  ihre  Skelette  in  erfreulichem  Er- 
haltungszustande bis  auf  unsere  Tage  gerettet. 
Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


N.  F.  XX.  Nr.  27 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


40s 


Psychische  Veranlagung  und  Yolkscharakter. 

In  seinem  kürzlich  erschienenen  Buch  über 
Massenpsyche  sucht  Wm.  McDougall^)  unter 
anderem  festzustellen,  ob  ererbte  psychische  Unter- 
schiede im  nationalen  Leben  der  Völker  eine 
wesentliche  Rolle  spielen,  oder  ob  sie  von  den 
Umwelteinflüssen  zurückgedrängt  werden;  ferner 
ob  die  Beständigkeit  solcher  Unterschiede  von 
langer  oder  kurzer  Dauer  ist.  Es  ist  kein  Zweifel, 
daß  infolge  des  Wechsels  der  Lebensbedingungen 
im  Verlaufe  der  Menschheitsentwicklung  nicht  nur 
körperliche,  sondern  auch  psychische  Unterschiede 
auftraten,  die  ebenso  wie  jene  Bestand  haben  und 
wie  die  augenfälligen  persönlichen  Abweichungen 
von  der  normalen  geistigen  Veranlagung,  deren 
Vererbung  viele  Generationen  hindurch  festgestellt 
werden  konnte. 

Wenn  die  großen  somatischen  Gruppen  der 
Menschheit  betrachtet  werden,  die  weiße,  die  gelb- 
braune und  die  schwarze  Rasse,  so  fallen  Eigen- 
arten der  Psyche  auf,  die  gewiß  nicht  durch 
gleichartige  Einwirkung  der  Umwelt  auf  jede 
Generation  zu  erklären  sind.  Aber  die  anthropo- 
logische Forschung  hat  bisher  diese  Rassenunter- 
schiede noch  nicht  hinreichend  erforscht.  Die 
geistigen  Eingenarten  der  Neger  beispielsweise 
sind  gut  ausgeprägt,  jedoch  schwer  zu  beschreiben ; 
auffallend  ist  beim  Neger  namentlich  sein  sorg- 
loses Wesen,  die  Hemmungslosigkeit  seiner 
Emotionen  und  seine  Willensschwäche,  im  tro- 
pischen Afrika  wie  im  Bereich  der  Hochkultur 
amerikanischer  Städte.  Die  semitische  Rasse  zeigt 
ebenfalls  trotz  ihrer  weiten  Zerstreuung  gewisse 
psychische  Besonderheiten  und  unter  nahe  ver- 
wandten Zweigen  der  weißen  Rasse  kann  trotz 
ähnlicher  Kultur  der  Bestand  psychischer  Eigen- 
tümlichkeiten nicht  bestritten  werden.  McDougall 
weist  hin  auf  die  Gegensätze  im  Temperament 
des  Engländers  und  Irländers,  der  Bretonen  und 
Normanen,  die  auf  nichts  anderem  als  verschiedener 
natürlicher  Artung  beruhen  können.  Selbst  in 
bezug  auf  den  Intellekt  scheinen  nicht  bloß  grad- 
mäßige, sondern  ebenso  artmäßige  Unterschiede 
zu  bestehen.  Die  logisch-deduktive  Denkweise 
des  Franzosen  und  die  empirisch-induktive  des 
Engländers  sind  wahrscheinlich  in  der  Erbveran- 
lagung begründet.  Selbstverständlich  bewirkt  die 
Tradition  Häufung  und  stärkere  Betonung  solcher 
Abweichungen  von  Geschlecht  zu  Geschlecht. 

Den  besten  Beweis  bestehen  bleibender  erb- 
licher Unterschiede  der  Psyche  erblickt  McD,  in 
den  Abweichungen  und  Ähnlichkeiten,  die  im 
Völkerleben  zum  Ausdruck  kommen  und  sonst 
nicht  zu  erklären  wären.  Die  gemeinsamen  Züge 
treten  um  so  deutlicher  hervor,  je  höher  organi- 
siert das  Gemeinschaftsleben  eines  Volkes  ist, 
während  individuelle  Abweichungen  im  selben 
Maße  zurücktreten.     Ein  Teil   der  Gemeinschafts- 


')  Wm.  McDougall,  „The  Group  Mind".     16  u.  304  S. 
Cambridge  1920.     Universily  Press. 


kultur  beruht  überall   auf  fremder  Geistesleistung, 
bei  jedem  Volk  Europas  wahrscheinlich  der  größere 
Teil.     In  die  Gemeinschaftskultur  gehen  aber  nur 
solche  eigene  wie   fremde  Elemente  ein,    die   der 
ererbten     geistigen    Eigenart    der    Mehrzahl    der 
Volksgenossen    entsprechen.      Andere    neue    Ge- 
danken vermögen    sich    nicht   allgemein    durchzu- 
setzen.   Kulturelemente,  die  zwar  Fuß  faßten,  aber 
dem  Volkscharakter  nicht  angepaßt  waren,  werden 
wieder  ausgemerzt.    Die  soziale  Umwelt  wird  auf 
diese  Weise  durch  einen  Auslesevorgang  gestaltet, 
welcher  der  natürlichen  Auslese  ähnlich  ist :  durch 
fortdauernde  Begünstigung  gewisser  Kulturelemente 
und  Ablehnung   anderer.     Die  selektive  Kraft  ist 
in  diesem  Fall   die   ererbte  Geistesverfassung  des 
Volkes.     In   Anpassung   an    die  Änderungen   der 
Lebensbedingungen   findet   eine   langsame  Wand- 
lung jeder  besonderen  Kultur  statt.    Die  Tradition 
kann    auf   diesen    Vorgang    ebenso    wie    auf   die 
natürliche  Auslese   hemmend    einwirken.      Als  ein 
Beispiel,    welches    zeigt,    daß    nur    dem    Volks- 
charakter   entsprechende    fremde    Kulturelemente 
weithin   übernommen   werden,    führt    McD.    den 
auf    dem     Grundsatz      unbedingter    Fügung     in 
den  Willen  Gottes  (oder  der  weltlichen  Obrigkeit) 
beruhenden  Islam  an.  Er  entspricht  der  psychischen 
Artung,    dem  Fatalismus  der  meisten  asiatischen 
Völker,   mit  Ausnahme  der  chinesisch-japanischen 
Völkergruppe,  und  vermochte  deshalb  im  größten 
Teile  Asiens  Eingang  zu  finden.    Die  Verbreitung 
des   protestantischen    und    des    katholischen    Be- 
kenntnisses in  Europa  scheint  ebenfalls  nicht  Zu- 
fallssache  zu   sein,    sondern    sich    im   allgemeinen 
mit  der  Verbreitung   des   nordischen  Rassentypus 
einerseits  und  des  alpinen  sowie  mittelländiscnen 
andererseits   zu   decken.     Soweit  Deutschland   in 
Betracht  kommt,   ist   diese  Annahme    wohl    nicht 
zutreffend;    zur   psychischen   Eigenart   der   Nord- 
völker paßt  allerdings   der  Protestantismus  besser 
als    der    Katholizismus.      Auch    der    Auffassung 
möchte  Ref.  nicht   zustimmen,   daß    in  bezug  auf 
das    politische    Leben     „bloß    jene    europäischen 
Völker,    unter    denen    der    nordische   Menschen- 
schlag  überwiegt,   individualistische   Formen   der 
sozialen  Organisation  entwickelten,  während  unter 
den  übrigen  eine  deutliche  Neigung  besteht,  sich 
auf  die  oberste  Autorität  des  Staates  zu  verlassen, 
von    der   man    Anregung    und  Führung   erwartet, 
ebenso  eine  Neigung   zu  zentralisierter  und  patri- 
archalischer Verwaltung;   dabei   ist   es  gleich,   ob 
die  Staatsform    monarchisch    oder   republikanisch 
ist".      Wir    haben    beispielsweise    in    Italien    ein 
durchaus    demokratisches    Gemeinwesen    und   ein 
Volk  mit  stark  individuahstischen  Tendenzen,  das 
in    einem   auffallenden  Gegensatz  zu  dem  sprach- 
lich   ihm    recht    nahverwandten    Franreich    steht. 
Das   größte  Maß   von   Selbstverwaltung   und  De- 
zentralisation   hat    das    typisch    alpine    Schweizer 
Volk  erreicht,  dessen  Individualismus  außer  jedem 
Zweifel  steht.     In  allen  diesen  Fällen  hatten  Um- 
weltsverhältnisse  die   ausschlaggebende   Rolle  bei 
den   nationalen  Gestaltungen.     McD.s  Auffassung 


4o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  27 


scheint  allzusehr  von  der  Gobineau-Cham- 
be  riain  sehen  Schule  beeinflußt  zu  sein. 

Hingegen  ist  der  Autor  im  Recht,  wenn  er 
sagt,  daß  kein  Volk  eine  ihm  völlig  fremde  Kultur 
aufnehmen  und  aus  eigenem  bewahren  kann; 
weder  die  Neger  von  Haiti  noch  die  zahlreichen 
Völker  Britisch-Indiens  behalten  ohne  Zwang  die 
ihnen  aufgezwungenen  Elemente  europäischer 
Kultur;  sie  entledigen  sich  ihrer,  sobald  die  Mög- 
lichkeit dazu  gegeben  ist.  Bei  so  weitgehenden 
Unterschieden,  wie  sie  zwischen  Europäern  und 
etwa  Negern  bestehen,  ist  es  nicht  zu  verwundern, 
wenn  auch  die  psychische  Veranlagung  und  ihr 
Ausdruck,  die  Kultur,  wesentlich  verschieden  und 
nicht  nach  Belieben  wandelbar  ist. 

Das  Verhalten  der  Kulturvölker  des  Ostens 
wie  der  Naturvölker  gegenüber  den  Versuchen 
des  Aufzwingens  europäischer  Kulturt  lehrt  über- 
dies,  daß   die  psychische  Erbveranlagung   ebenso 


beständig  ist  wie  die  körperliche.  Diese  psychischen 
Unterschiede  sind  in  langsamer  Entwicklung  ge- 
worden, die  in  den  einzelnen  Teilen  der  Erde 
ungleich  gerichtet  war,  sie  sind  ein  Ergebnis  jahr- 
tausendelanger Differenzierung,  das  nicht  willkür- 
lich zunichte  gemacht  werden  kann.  Wie  wenig 
gleiche  Umweltzustände  die  einmal  festgelegte 
psychische  Artung  zu  beeinflussen  vermögen,  zeigt 
das  von  M  c  D.  gewählte  Beispiel  der  austro- 
malayischen  Inselwelt,  wo  Angehörige  einer 
negroiden  Rasse  (Papua,  Melanesier)  und  der 
mongoloiden  (gelbbraunen)  Rasse  unmittelbar 
nebeneinander  wohnen,  aber  augenfällig  ver- 
schiedenen Kulturbesitz  haben.  Immerhin  ist  an- 
zunehmen, daß  der  Wechsel  der  Lebensbedingungen 
die  psychische  Artung  nicht  unberührt  läßt,  sondern 
Auslesevorgänge  und  durch  sie  langsam  vor  sich 
gehende  Änderungen  veranlaßt. 

H.  Fehlinger. 


Bticherbesprechungen. 


Walther,  J.,  Geologie  Deutschlands.  Leip- 
zig 192 1,  Verlag  von  Quelle  u.  Meyer.  Preis 
geb.  40  M. 

Gegenüber  der  ersten,  vor  10  Jahren  erschie- 
nenen Auflage  ist  die  vorliegende  dritte  wesent- 
lich erweitert.  Als  Einführung  in  die  Geologie 
der  Heimat,  die  nicht  streng  fachwissenschaftliche 
Ziele  verfolgt,  sondern  das  Interesse  weiterer 
Kreise  auf  geologische  und  geologisch-wirtschaft- 
liche Probleme  lenken  will,  verdient  sie  Beachtung 
und  Empfehlung;  um  so  mehr  als  es  bis  heute 
an  einer  vollständigen  und  modernen  Geologie 
Deutschlands  fehlt,  da  bekanntlich  Lepsius' 
Geologie  Deutschlands  durch  den  Tod  des  Verf. 
nicht  zum  Abschluß  gelangte.  Hoffentlich  wird 
diese  überall  sehr  schmerzlich  empfundene  Lücke 
bald  eine  Ausfüllung  erfahren. 

Der  erste  Teil  des  Werkes  bespricht  die  „ge- 
staltenden Kräfte",  in  die  Kapitel  über  Gelände- 
formen, Abtragung,  Gleichgewicht  der  Erdrinde, 
Erdbeben,  Vulkanismus,  geologische  F'ormationen 
eingereiht  sind.  Es  handelt  sich  hier  meist  um 
die  kurze,  allgemeinverständliche  Einführung  in 
Vorgänge  der  allgemeinen  Geologie,  die  vielleicht 
nicht  unbedingt  in  einer  Geologie  Deutschlands 
ihren  Platz  finden  müßte. 

Der  zweite  Teil  bringt  eine  Darstellung  der 
„geologischen  Geschichte"  Deutschlands  unter 
Berücksichtigung  seiner  Nachbargebiete.  Nach 
einer  Betrachtung  über  den  Gesamtbau  Deutsch- 
lands werden  die  wichtigsten  Züge  von  Tektonik 
und  Stratigraphie  (z.  B.  Dokumente  der  Urzeit, 
mitteldeutsches  Faltenland,  Kohlensümpfe,  bunte 
Sandwüste,  Bildung  der  tertiären  Gebirge,  die 
große  Schneezeit  die  ältesten  Menschen)  be- 
sprochen. 

Der  dritte  Teil  bringt  die  Charakterisierung 
der  einzelnen  geologischen  Landschaften.     Unter- 


schieden werden  als  „Geländeformen"  Ebenheiten 
(ausgefüllte  Senken,  abgetragene  Tafelländer, 
Rumpfländer),  die  Stufenländer  (tektonische  und 
abgetragene  Stufen,  Terrassen)  und  die  Bergländer 
(aufgeschüttete  Berge,  Faltengebirge,  Horste,  Ab- 
tragungsgebiete). Die  deutschen  Einzellandschaften 
werden  in  drei  Gruppen  eingeordnet :  in  die  nord- 
deutschen Senken  (z.  B.  Nordsee,  Kölner  Bucht), 
die  mittleren  Bergländer  (z.  B.  Rheinisches  Schiefer- 
gebirge, Mainzer  Becken,  Sudeten)  und  in  die 
Alpenlandschaften.  Die  Schilderung  der  Einzel- 
landschaften erregt  mancherlei  Bedenken.  So 
wäre,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  bei  der  Schilde- 
rung des  Erzgebirges,  der  Sächsischen  Schweiz, 
der  Alpenlandschaften  durch  genauere  Berück- 
sichtigung wichtiger  neuer  Arbeiten  ein  zutreffen- 
deres tatsächliches  Bild  ihres  Baues  zu  gewinnen 
gewesen. 

Die  beigegebene  geologische  Karte  im  Maß- 
stab I  :  2  Millionen  wird  besonders  erläutert.  Bei 
der  kartographischen  Darstellung  sind  nur  die 
wichtigsten  geologischen  Zusammenhänge  zum 
Ausdruck  gebracht  und  das  Kartenbild  so  verein- 
facht, daß  auch  der  im  Kartenlesen  Ungeübte 
ohne  weiteres  die  grundlegenden  Elemente  in 
Deutschlands  Landschaftsbilde  verfolgen  kann.  In 
einer  bunten  „Zeittafel"  sind  die  Schichtfolgen 
Deutschlands  genetisch  dargestellt.  — 

Aufmerksam  zu  machen  wäre  hier  gleichzeitig 
auf  Johannes  Walthers  Geologische  Struktur- 
karte von  Deutschland  (Wandkarte)  im  Maßstab 
I  :  800000  mit  Erläuterungen.         E.  Krenkel. 


Wilhelm  Biltz,  Ausführung  qualitativer 
Analysen.  II.  u.  III.  Aufl.  XI  und  150  S. 
mit  13  Abb.  im  Text  und  i  Tafel.  Leipzig 
1920,  Verlag  der  Akademischen  Verlagsgesell- 
schaft m.  b.  H. 


N.  F.  XX.  Nr.  2; 


Maturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


407 


Das  vorliegende  Buch  nimmt  unter  den  Lehr- 
büchern der  qualitativen  Analyse  eine  ganz  be- 
sondere Stellung  ein.  Das  zeigt  schon  das  sehr 
lesenswerte  Vorwort,  in  dem  es  u.  a.  heißt: 

„Über  den  Stil  läßt  sich  schwer  rechten,  und 
wenn  ich  in  Nachfolgendem  einen  Versuch  mache, 
dem  Stil  des  Analysierens,  den  ich  vor  mehr  als 
zehn  Jahren  bei  Clemens  Winkler  kennen 
gelernt  habe,  eine  möglichst  weite  Verbreitung 
zu  verschaffen,  so  will  ich  damit  durchaus  nicht 
über  andere  Stilarteri  des  Analysierens  den  Stab 
brechen.  Jedem  das  Seine.  Aber  wenn  es  die 
Aufgabe  ist,  diesen  Stil  nach  IVIöglichkeit  einheit- 
lich und  rein  zur  Durchführung  zu  bringen,  so 
geht  das  ohne  harte  Ausmerzung  alles  Fremd- 
artigen nicht  an. 

„Es  ist  mit  dem  Stil  des  Analysierens  ab- 
sonderlich gegangen.  Früh  hatte  man  erkannt, 
welcher  unermeßliche  erzieherische  Wert  für  den 
werdenden  Naturforscher  im  analytischen  Arbeiten 
liegt.  Aber  man  glaubte  wohl  späterhin,  nun 
auch  vieles  andere,  was  erzieherisch  wertvoll  ist, 
dem  Lehrgange  der  analytischen  Chemie  einver- 
leiben zu  müssen.  So  entstanden  ausgezeichnete 
Bücher,  die  aber  vielleicht  mehr  dazu  bestimmt 
waren,  „den  Anfänger  in  die  Chemie  einzuführen", 
als  ihn  analysieren  zu  lehren.  Im  folgenden  wird 
ein  Versuch  gemacht,  den  Stil  der  qualitativen 
Analyse  dadurch  zu  reinigen,  daß  man  sie  einmal 
von  all'  dem  befreit,  was  ihr  aus  pädagogischen 
Gründen  beigesellt  wird,  und  daß  man  nur  ihr 
Ziel  im  Auge  behält,  die  Zusammensetzung  eines 
Stoffes  aufs  sicherste,  genaueste  und  schnellste  zu 
ermitteln". 

Die  Wahrheit  dieser  Worte  kann  der  Unter- 
zeichnete aus  seiner  eigenen  Erfahrung,  die  sich 
auf  die  analytisch- chemische  Ausbildung  an  einer 
Universität  Mitteldeutschlands,  auf  sechsjährige 
Tätigkeit  an  dem  von  WilhelmBiltz  geleiteten 
Laboratorium  der  Bergakademie  Clausthal  und  auf 
eine  nunmehr  fast  siebenjährige  Tätigkeit  an 
eineni  staatlichen  Institut  erstreckt,  in  dem  die 
praktische  analytische  Arbeit  eine  ungemein  wich- 
tige Rolle  spielt,  nur  bestätigen.  Der  Unterricht 
in  der  analytischen  Chemie,  so  wie  er  heute  zu- 
meist geübt  wird,  bildet  keine  Analytiker  heran, 
weil  die  analytische  Chemie  in  den  Universitäts- 
laboratorien nur  Mittel  zum  Zwecke  des  «Unter- 
richts in  der  anorganischen  und  der  organischen 
Chemie  ist.  WilhelmBiltz  hat  sich  daher  mit 
seinem  Buche,  in  dem  er  das  eine  Ziel  verfolgt, 
zu  lehren,  „die  Zusammensetzung  eines  Stoffes 
aufs  sicherste,  genaueste  und  schnellste  zu  er- 
mitteln", ein  großes  Verdienst  erworben.  Dem 
schönen  Buche  ist  nicht  nur  weiteste  Verbreitung 
in  den  Kreisen  der  Studierenden  zu  wünschen, 
auch  Freunde  der  praktischen  Chemie,  wie  z.  B. 
Lehrer,  werden  an  ihm  ihre  Freude  haben. 
Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 

Neunzig,  K.,  Die  fremdländischen  Stuben- 
vögel.     (Zugleich    5.  Auflage    des    Dr.  Karl 


Rußschen  Handbuchs  für  Vogelliebhaber,  Bd.  1.) 
89s  S.  mit  400  Bildern  im  Text  und  42  Tafeln 
in  Farbendruck.     Magdeburg  1921,   Creutzsche 
Verlagsbuchhandlung.     95  M. 
Haltung  und  Pflege  der  lieblichen  gefiederten 
Fremdlinge,  die  vor   dem  Kriege   in  bunter  Fülle 
aus  fernen  Gegenden  zu   uns   kamen,   ist   infolge 
der  traurigen  Zeitverhältnisse  leider  schon  fast  zur 
Unmöglichkeit    geworden.      Trotzdem    dürfte    es 
Viele  geben,   die   das  Erscheinen   des   prächtigen 
Vogelbuchs    von  K.  Neunzig    lebhaft   begrüßen 
werden.      Es    ist  das   beste   was  auf  diesem  Ge- 
biete vorliegt  und  wird  jedem  Vogelfreunde,    der 
sich   Sinn    und  Verständnis   für   die   ausländische 
Vogelwelt  bewahrt  hat,  eine  Quelle  des  Genusses 
und    reicher   Belehrung    werden.      Nicht   weniger 
als  1450  Arten  fremdländischer  Vögel  finden  sich 
darin  behandelt,  eine  wohl  vollständige  Zusammen- 
stellung  überhaupt   aller  Arten   von  Käfigvögeln, 
die  bisher   nach  Europa    eingeführt    worden  sind| 
und  von  denen  man  viele  auch  schon  in  Deutsch- 
land hat  zur  Fortpflanzung  bringen  können.    Jede 
einzelne   Art   ist   unter  Angabe   ihrer   besonderen 
Merkmale    genau    gekennzeichnet    worden,     ihre 
Heimat   und  sonstigen  Eigentümlichkeiten   finden 
sich  vermerkt.    Ebenso  sind  das  Verhalten  in  der 
Freiheit  und   die  natürlichen   Lebenserfordernisse 
geschildert,  und  praktische  Winke  und  Ratschläge 
für  Zucht  und  Pflege  gegeben.    Überall  zeigt  sich 
das    sachkundige   Urteil,    denn    der  Verf.    konnte 
hierbei  aus  eigenen  reichen  Erfahrungen  schöpfen 
und  war  außerdem   in  der  Lage  seine  gründliche 
Kenntnis  der  Literatur  auf  diesem  Gebiete  in  aus- 
gezeichneter Weise   verwerten    zu   können.      Die 
Ausdrucksweise    ist    durchweg    klar    und    knapp. 
Besondere  Anerkennung  verdient  die  reiche  Aus- 
stattung mit  Abbildungen.    Die  vielen  Textfiguren 
veranschaulichen    die  charakteristischen  Merkmale 
in  trefflicher  Weise,  während  die  schönen  Farben- 
tafeln   allen   Ansprüchen    hinsichtlich    der   Natur- 
wahrheit ebenso   wie  in  künstlerischer  Beziehung 
genügen    und  nahezu  vollendetes  bieten.      So  sei 
das     Werk     allen     Interessenten     angelegentlich 
empfohlen,    und    wir  wollen    mit    dem  Verf.    nur 
wünschen,  daß  die  Zeiten,  welche  auch  dem  Minder- 
bemittelten   die    Haltung    fremdländischer    Vögel 
ermöglichen,  nicht  gar  zu  fern  sein  mögen. 

R.  Heymons. 

Yvonne  Boveri-Boner,   Beiträge   zur   ver- 
gleichendenAnatomiederNephridien 
niederer  Oligochäten.     8».     52  S.,  3  Taf. 
Jena  1920,  G.  Fischer.     Preis  8  M. 
Die    Arbeit    behandelt    die   Nierenorgane    der 
in    unseren    Gewässern    vorkommenden    niederen 
Süßwasserringelwürmer  Aeolosoma,  Chaetogaster, 
Stylaria,    Tubifex,    Lumbriculus    und    Haplotaxis. 
Sie  bringt  neue  Beispiele  für  die  aus  diesem  Ge- 
biet  nicht  mehr  ganz   unbekannte  erhebliche 
histologische  Verschiedenheit  der  mor- 
phologisch offenbar  gleichbedeutenden 
Organe.     Weder   in   der   Trichterbildung   noch 


408 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


U.  F.  XX.  Nr.  27 


im  Bau  der  Schlingen  des  Kanälchens  noch  in 
seiner  Peritonealbekleidung  fand  die  Verfasserin 
bei  ihrem  Material  einen  einheitlichen  Charakter, 
und  die  Veränderungen  in  diesen  Teilen  gehen 
nicht  parallel ,  so  daß  man  keine  auf-  oder  ab- 
steigende Reihe  bilden  kann.  Der  Trichter,  mit 
welchem  das  Nierenorgan  innen  anfängt,  scheint 
bei  Aeolosoma,  Stylaria  und  Tubifex  ausschließ- 
lich aus  Nephridialgewebe  gebaut,  bei  Lumbri- 
culus  und  Haplotaxis  gesellt  sich  zu  seiner  Bil- 
dung noch  Peritonealgewebe;  Chaetogaster  besitzt 
überhaupt  keinen  Trichter,  sondern  hat  geschlossen 
beginnende  Nierenorgane,  doch  ohne  Solenocyten, 
jene  langgestreckten  eingeißeligen  Wimperhohl- 
zellen, welche  bisher  nur  bei  manchen  meerbe- 
wohnenden Formen  an  geschlossen  beginnenden 
Nierenorganen  gefunden  wurden  und,  wie  mit 
Recht  hinzugefügt  wird,  den  weiteren  Vergleich 
mit  den  vielgeißeligen  Wimperflammenzellen  im 
Wassergefäßsystem  der  Plattwürmer ,  also  der 
niedersten  Mesodermtiere,  ermöglichen.  Verf. 
läßt  die  Frage,  ob  Chaetogaster  einst  Solenocyten 
besaß,  offen,  erwähnt  aber  noch,  zum  Teil  nach 
Hescheler,  daß  bei  manchen  sonstigen  niederen 
Oligochäten  der  Nierenkanal  ampullenartige  Er- 
weiterungen und  in  ihnen  Wimperflammen  ent- 
halten kann,  während  er  im  übrigen  unbegeißelt 
ist,  so  auch  bei  Stylaria. 

Erwähnt  sei  noch,  daß  bei  den  kleineren, 
durchsichtigen  Formen  die  Nierenorgane  erfolg- 
reich am  unverletzten  lebenden  Tier  studiert  wur- 
den.    Näheres  im  Original. 

V.  Franz,  Jena. 


Wilhelm  Ostwald,   Die  chemische  Litera- 
tur und  die  Organisation  der  Wissen- 
schaft.    Handbuch   der   allgemeinen   Chemie, 
herausgegeben  von  Wilhelm  Ostwald  und  Carl 
Drucker,  Bd.  I.    120  S.  in  gr.  8".     Leipzig  1919, 
Akademische  Verlagsgesellschaft  m.  b.  H. 
Es  gibt  wohl  keinen  Zweig   der  Naturwissen- 
schaft, der  in  den   letzten  Jahrzehnten   durch  Be- 
reicherung des  Tatsachenmaterials   eine   so  unge- 
heure Entwicklung  erfahren  hat   wie  die  Chemie. 
Demgemäß  ist   auch   in   der  Chemie   früher   und 
entschiedener   als   in   allen   anderen  Gebieten  der 
Naturwissenschaft  die  grundsätzliche  Frage  aufge- 
treten,  wie   das  gewaltige    und  von  Tag  zu  Tag 
wachsende    Tatsachenmaterial     zu    ordnen,     und 
ferner,  wie  die  Anhäufung  weiteren  Materials,  die 
jetzt   in    der   Regel   noch    mehr  oder  minder  zu- 
fällig erfolgt,  zu  organisieren  sei.    Das  große  Ver- 


dienst, die  grundsätzliche  Bedeutung  dieser  Frage 
am  klarsten  erkannt  und  in  zahlreichen  Veröffent- 
lichungen wieder  und  wieder  betont  zu  haben, 
kommt  dem  großen  Organisator  der  allgemeinen 
Chemie  Wilhelm  Ostwald  zu,  und  in  dem 
vorliegenden  Eingangsbande  zu  dem  auf  eine 
große  Zahl  von  Bänden  veranschlagten  „Hand- 
buch der  allgemeinen  Chemie",  das  er  in  Ge- 
meinschaft mit  seinem  Schüler  Carl  Drucker 
und  unterstützt  von  vielen  anderen  Fachgenossen 
herauszugeben  begonnen  hat  und  das  als  Ersatz 
für  sein  bekanntes,  großes,  nie  ganz  zum  Abschluß 
gelangtes  „Lehrbuch  der  allgemeinen  Chemie" 
dienen  soll,  legt  er  seine  Gedanken  und  Vor- 
schläge dazu  dar. 

In  sehr  übersichtlicher  Anordnung  bespricht 
Ostwald  in  seinem  Buche  zunächst  einige  all- 
gemeinere Themata  und  gibt  dann  eine  sehr  inter- 
essante Darstellung  der  Geschichte  des  chemischen 
Lehrbuchs.  Dann  behandelt  er  die  Systematik 
der  Chemie  und  —  in  einem  sehr  umfangreichen 
und  wichtigen  Schlußkapitel  —  das  ihm  am 
meisten  am  Herzen  liegende  Problem  der  organi- 
satorischen Technik.  Seine  Darlegungen,  deren 
grundsätzliche  Wichtigkeit  nach  Ansicht  des  Re- 
ferenten nicht  genug  betont  werden  kann,  bilden 
ein  in  sich  geschlossenes  Organisationssystem.  Sie 
sind  ungemein  fesselnd  zu  lesen  und  sollten  von 
einem  jeden,  der  die  allgemeine  Entwicklung  der 
Wissenschaft  mit  offenen  Augen  verfolgt,  beachtet 
werden.  Besonders  für  unser  Vaterland,  das  jetzt 
unter  so  entsetzlich  schwere  Existenzbedingungen 
gestellt  ist,  ist  die  Frage  der  Organisation  von 
ungemeiner  Wichtigkeit,  denn  Organisation  be- 
deutet Ersparnis  von  Arbeit  und  damit  von  Geld. 
Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Literatur. 

Wiener,  O.,  Physik  und  Kulturentwicklung.  Leipzig  '21, 
B.  G.  Teubner.     6  M. 

Teubners    kleine    Fachwörterbücher.      Leipzig    '21,    B.  G. 
Teubner. 

Bd.  7:  G lesen,  Fr.,  Psychologisches  Wörterbuch. 

Geb.  7  M. 
Bd.   6:    Schmidt,    C.    W.,   Geologisch  •  mineralo- 
gisches Wörterbuch.     Geb.  8  M. 
Bd.  8:    Kende,  O.,    Geographisches    Wörterbuch. 
Geb.  9  M. 
Mathematisch- Physikalische    Bibliothek  Bd.    40:    Kirch- 
berger,  P.,    Mathematische  Streifzüge    durch    die  Geschichte 
der  Astronomie.     Leipzig  '21,  B.  G.  Teubner.     2  M. 

Kohlrausch,  Friedrich,    Lehrbuch    der  praktischen 
Physik.      13.   Aufl.     Leipzig,  B.  G.  Teubner.     30  M. 


Inhalt:  K.  Vogtherr,  Über  die  kosmischen  Bewegungen  des  Äthers.  S.  393.  —  Einzelberlcbte :  R.  Willstätter  und 
E.  Waldschmidt-Leitz,  Neue  Beiträge  zur  Theorie  und  Praxis  katalytischer  Hydrierungen.  S.  396.  P.  Schulze, 
Über  die  deutschen  Hydren.  S.  398.  W.  Gothan,  Weiteres  über  die  „ältesten  Landpflanzen".  S.  399.  M.  Verworn, 
R.  Bonnet,  G.  Steinmann,  Die  diluvialen  SkeleUfunde  von  Oberkassel  bei  Bonn.  S.  402.  Wm.  McDougaU, 
Psychische  Veranlagung  und  Volkscharakter.  S.  405.  —  Bücherbesprechungen:  J.  Walther,  Geologie  Deutsch- 
lands. S.  406.  W.  Billz,  Ausführung  qualitativer  Analysen.  S.  406.  K.  Neunzig,  Die  fremdländischen  Stuben- 
vögel. S.  407.  Yvonne  Boveri-Boner,  Beiträge  zur  vergleichenden  Anatomie  der  Nephridien  niederer  Oligo- 
chäten. S.  407.  W.  Ostwald,  Die  chemische  Literatur  und  die  Organisation  der  Wissenschaft.  S.  408.  —  Literatur: 
Liste.  S.  40S. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  4a,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  PäU'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganten  Reihe    36.  Band. 


Sonntag,  den  lo.  Juli  1921. 


Nummer  28. 


[Nachdruck  verboteo.] 


Die  Entstehung  von  Roterden  und  Laterit. 

Von  Dr.  A.  Eichinger,  Regierungsrat,  Pforten  N.-L. 


Eine  der  merkwürdigsten  Naturerscheir>ungen, 
die  den  menschlichen  Geist  schon  lange  be- 
schäftigt, ist  die  Tatsache,  daß  im  Bereich  des 
tropischen  und  teilweise  auch  subtropischen 
Klimagürtels  eine  Bodenbildung  von  äußerlich 
sehr  gleichartiger  Art  auf  riesigen  Flächen  statt- 
gefunden hat,  die  Bildung  von  Roterden  und 
Laterit.  Ungeheure  Gebiete  in  allen  Kontinenten 
sind  mit  Roterden  bedeckt,  man  denke  nur  an 
die  riesigen  Flächen  in  Südamerika,  Afrika,  Asien, 
wo  oft  Tausende  von  Quadratkilometer  in  der 
Hauptsache  diese  Bodenart  aufweisen.  Während 
man  eine  Zeitlang  versuchte,  die  Ursache  der 
Entstehung  der  tropischen  Roterden  in  der  Art 
ihres  Muttergesteins  zu  suchen,  hat  sich  aber  bei 
der  Betrachtung  der  Tatsache,  daß  sie  eigentlich 
auf  jedem  Gestein  zu  entstehen  vermögen  und 
daß  ihre  Verbreitung  auf  bestimmte  klimatische 
Zonen  beschränkt  bleibt,  bald  die  Anschauung 
Bahn  gebrochen,  daß  sie  rein  klimatische  Bildungen 
sind  und  durch  das  Muttergestein  nur  in  unter- 
geordneter Weise  beeinflußt  werden.  Vielfach 
hat  man  früher  alle  Roterdebildungen  mit  dem 
Namen  „Laterit"  bezeichnet.  Dieser  Name  war 
zunächst  nur  für  eine  Art  Roterde  gedacht,  die 
Bestandteile  enthielt,  die  gebrannten  Ziegeln  ähn- 
lich sahen.  Gegenwärtig  bezeichnet  man  damit 
nur  Roterden,  die  auf  der  letzten  Stufe  ihrer 
chemischen  Verwitterung  stehen.  Meist,  aber 
durchaus  nicht  überall,  sind  sie  gekennzeichnet 
durch  das  Vorkommen  mehr  oder  weniger  harter 
schlackiger  Eisenkonkretionen,  die  in  ganz  ver- 
schieden großen  Körnern,  Brocken  auftreten  und 
sich  unter  Umständen  zu  mächtigen  Felsgebilden 
zusammenschließen  können.  Ein  besonderes  Kenn- 
zeichen des  Laterits  ist  ferner  seine  Unfruchtbar- 
keit, die  ihn  als  Kulturboden  ungeeignet  macht 
und  beweist,  daß  die  chemische  Zersetzung  seiner 
Bestandteile  sehr  weit  fortgeschritten  ist  und  daß 
er  keine  für  die  Pflanzenernährung  notwendigen 
Basen  usw.  abzugeben  vermag. 

Will  man  die  Entstehung  des  Laterits  ver- 
stehen, so  ist  es  notwendig,  über  die  Entstehung 
der  Roterden,  aus  denen  er  ja  hervorgegangen 
ist,  klar  zu  sein.  Das,  was  bei  den  Roterden  am 
meisten  auffiel  und  was  zu  ihrer  Benennung  führte, 
ist  ihre  rote  Farbe,  die  durch  die  Anwesenheit 
größerer  Mengen  von  Eisenhydroxyd  bedingt  ist. 
Bald  aber  erkannte  man  und  zwar  besonders  durch 
die  Arbeiten  von  Baur,  daß  auch  Aluminium- 
hydroxyd ein  integrierender  Bestandteil  der  Rot- 
erden ist.  Dahingegen  konnte  man  wahrnehmen, 
daß    Kieselsäure    und    Basen    in    weit    größerem 


Maßstabe,  als  man  das  in  heimischen  Böden  be- 
merken konnte,  der  Auswaschung  und  Fortfuhr 
unterliegen,  so  daß  man  annehmen  mußte,  daß 
die  Silikate  des  Bodens  einer  weitgehenden  Zer- 
setzung unterworfen  sind.  Kurzum  es  wurde  klar, 
daß  in  den  tropischen  Böden  die  chemische  Ver- 
witterung eine  ganz  besonders  starke  Rolle  spielt, 
daß  eine  starke  Wegfuhr  der  Bestandteile  der 
Silikate  vor  sich  geht,  daß  hingegen  die  Eisen- 
und  Tonerdehydrate  sich  im  Boden  ansammeln. 
In  der  Tat  zeigt  nun  auch  das  Endprodukt  der 
Bodenbildung,  der  Laterit,  eine  starke  Anhäufung 
von  Eisen-  und  Tonerdehydrat,  eine  Abfuhr  von 
Kieselsäure  und  Basen,  welche  letztere  oft  nur 
noch  in  Spuren  wahrnehmbar  sind. 

Daß  diese  Art  der  Bodenbildung  lediglich 
klimatischen  Ursachen  zuzuschreiben  ist,  bewies 
besonders  schlagend  Ward,  der  einen  sowohl  in 
England  als  auch  in  Indien  vorkommenden  Dolerit 
gleichen  geologischen  Alters  und  die  jeweils  unter 
den  verschiedenen  klimatischen  Faktoren  daraus 
entstandenen  Böden  untersuchte.  Die  Analysen 
ergaben  folgendes  in  Gewichtsprozenten: 

England  Indien 

Gehalt  an:      Dolerit    Boden       Dolerit     Boden 


Kieselsäure            49,3 

47,0 

50,4 

0,7 

Aluminiumoxyd    17,4 

i8,s 

22,2 

50,S 

Eisenoxyd                 2,7 

14,6 

9,9 

2.3,4 

Basen                     19,2 

9,5 

12,6 

Die  Anhäufung  von  Eisen-  und  Aluminium- 
hydroxyd, die  Wegfuhr  von  Kieselsäure  und  Basen 
im  tropischen  Indien  ist  mit  aller  Deutlichkeit 
ersichtlich. 

Während  im  gemäßigten  Klima  die  Zersetzung 
der  Silikate  nur  bis  zur  Kaolinbildung  geht,  wo- 
bei die  ausgeschiedene  Kieselsäure  gewöhnlich 
zurückbleibt,  unterliegen  im  tropischen  Klima 
auch  noch  die  kaolinartigen  Verbindungen  einer 
weiteren  Zersetzung,  wobei  die  Kieselsäure  weg- 
geführt wird,  während  nur  Eisen-  und  Aluminium- 
hydroxyd zurückbleiben. 

Diese  weitgehende  chemische  Zersetzung  der 
Silikate  im  tropischen  Klima  führte  man  früher 
hauptsächlich  auf  den  Kohlensäuregehalt  der  Luft 
zurück,  der  bei  der  üppigen  Vegetation  in  den 
Tropen  besonders  hoch  sein  sollte.  Beweise  hier' 
für  konnte  man  allerdings  bis  jetzt  nicht  einwand- 
frei erbringen.  Der  Durchschnitt  der  Luftanalysen 
aus  tropischen  Gegenden  zeigt,  daß  die  Luft 
keineswegs  mehr  an  Kohlensäure  enthält  wie  im 
gemäßigten  Klima.  Abgesehen  davon  lehnt  eine 
ganze  Anzahl    von  Gelehrten  den  großen  Einfluß 


4IO 


ISiatur wissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


der  Kohlensäure  bei  der  Zersetzung  von  Silikaten, 
wie  man  das  anderwärts  annimmt,  ganz  im  all- 
gemeinen ab.  Vielfache  Versuche  haben  einwand- 
frei ergeben,  daß  schon  chemisch  reines  Wasser 
imstande  ist,  Silikate  zu  zersetzen.  Und  zwar 
führt  man  diese  Erscheinung  auf  die  hydrolytische 
Wirkung  des  Wassers  zurück.  Sie  beruht  darauf, 
daß  ein  Teil  der  Wassermoleküle  in  Wasserstofif- 
und  Hydroxylionen  elektrisch  dissoziiert  ist.  Diese 
Ionen  sind  natürlich  stark  aktiv.  Zwar  ist  ihre 
Menge  in  der  Einheit  Wasser  nicht  groß,  sie 
steigert  sich  aber  ganz  beträchtlich  mit  Zunahme 
der  Temperatur.  Wenn  man  nun  bedenkt,  daß 
in  den  Tropen  die  Temperaturdurchschnitte  be- 
trächtlich höher  sind  und  zwar  durch  das  ganze 
Jahr  hindurch ,  daß  weiterhin  eine  meist  viel 
größere  Regenmenge  fällt  und  den  Boden  durch- 
sickert, so  wird  ohne  weiteres  klar,  daß  die  An- 
zahl der  den  Boden  durchsickernden  freien  Ionen 
relativ  sehr  viel  höher  ist,  als  im  gemäßigten 
Klima  und  damit  dürfte  eine  genügende  Erklärung 
für  die  größere  Intensität  der  chemischen  Ver- 
witterung in  tropischen  Böden  ohne  weiteres  er- 
wiesen sein. 

Unerklärt  bleibt  dabei  aber  folgendes: 
Die  Wegfuhr  der  aus  der  Verwitterung  der 
Silikate  frei  gewordenen  Basen  ist  leicht  zu 
deuten.  Sie  gehen  mit  der  Bodenkohlensäure  und 
anderen  Säuren  wasserlösliche  Verbindungen  ein, 
die  ausgewaschen  werden.  Nun  erweist  es  sich, 
daß  in  den  Roterden  die  Kieselsäure  auch  weg- 
geführt wird,  während  Eisen-  und  Aluminium- 
hydroxyd zurückbleiben.  Sowohl  Kieselsäure,  wie 
die  genannten  Hydroxyde,  sind  in  Wasser  unlös- 
lich. Die  zahlreichen  Theorien,  mit  deren  man 
diese  merkwürdige  Tatsache  zu  erklären  versuchte, 
möchte  ich  hier  nicht  aufführen.  Wesentlich 
näher  brachte  Vageier  die  Sache  einer  Deutung, 
als  er  die  Ergebnisse  der  Forschung  der  Kolloid- 
chemie auf  das  Problem  anwendete.  Bei  der 
Spaltung  der  Silikate  ist  es  wohl  sicher  anzu- 
nehmen, daß  sowohl  Kieselsäure,  wie  auch  die 
Hydroxyde  in  so  feiner  Zerteilung  auftreten,  daß 
sie  in  Wasser  kolloid  gelöst  sind  und  in  dieser 
Form  als  Sole  ohne  weiteres  beweglich  und  aus- 
waschbar sind.  Wenn  man  dies  annimmt  und 
diese  Annahme  ist  sicherlich  gerechtfertigt,  so  er- 
gibt sich  aus  den  Tatsachen  die  Schlußfolgerung, 
daß  das  Kieselsäuresol  im  Boden  stabil  ist  (denn 
es  wird  ja  ausgewaschen !),  während  die  Hydroxyd- 
sole aus  irgendwelchen  Gründen  ständig  der 
Ausfallung  oder  Gerinnung  unterliegen  (denn  die 
Hydroxyde  häufen  sich  tatsächlich  im  Boden  an- 
dauernd an!).  Vageier  sucht  nun  zu  beweisen, 
daß  die  Stabilität  des  Kieselsäuresols  auf  der 
relativ  starken  Konzentration  der  Bodenlösung 
beruht,  da  das  Kieselsäuresol  nach  experimentellen 
Forschungen  tatsächlich  bei  gesteigerter  Alkali- 
konzentration nicht  ausgefällt  wird,  während  es 
bei  relativ  schwacher  Alkalikonzentration  durch 
Elektrolytwirkung  ausgefällt  wird.  Dahingegen 
sind    nach    Vageier    Eisenhydroxyd-    und  Alu- 


miniumhydroxydsol  gegen  Elektrolytwirkung 
außerordentlich  empfindlich  und  werden  schon 
bei  geringen  Konzentrationen  ausgefällt.  Diese 
Erklärung  ist  aber  für  das  Verhalten  dieser  drei 
Sole  in  den  Roterden  nicht  ausreichend.  Sie  setzt 
eine  mehr  oder  weniger  gleichmäßige  Konzen- 
tration der  Bodenlösung  über  ungeheuere,  klima- 
tisch und  geologisch  sehr  verschiedenartige  Ge- 
biete voraus.  Wenn  man  nun  weiter  berücksichtigt, 
daß  bei  der  Ausfällung  der  Sole  nicht  nur  die 
Konzentration,  sondern  auch  die  Zusammensetzung 
der  Bodenlösung  unbedingt  noch  eine  Rolle  spielt, 
da  die  Kieselsäure  als  negatives  Sol  von  den 
Kationen,  das  Aluminium-  und  Eisenhydroxyd 
aber  als  positive  Sole  besonders  von  den  Anionen 
der  Bodenlösung  beeinflußt  werden  und  zwar  in 
beiden  Fällen  die  Wirksamkeit  der  Kationen  oder 
Anionen  mit  ihrer  höheren  Wertigkeit  steigt,  so 
dürfte  darin  noch  ein  sehr  schweres  Bedenken 
gegen  die  Annahme  Vagelers  beruhen. 

Auch  andere  Forscher  haben  mit  Anwendung 
der  Kolloidchemie  das  verschiedene  Verhalten 
der  Sole  zu  erklären  versucht.  Ehrenberg 
glaubt  z.  B. ,  daß  schon  das  bei  der  Zersetzung 
der  organischen  Substanz  im  Boden  entstehende 
Ammoniak  genügt,  um  die  positiven  Sole  (Eisen- 
und  Aluminiumhydroxyd)  auszufällen.  Diese  Er- 
klärung genügt  aber  deshalb  nicht,  da  tief  unter 
der  Oberfläche  des  Bodens  sich  die  gleichen  Vor- 
gänge abspielen,  wie  an  der  Oberfläche,  in  Tiefen, 
wo  sicher  kein  Ammoniak  mehr  gebildet  wird.  Auch 
die  Theorien  von  Gedroiz  u.  a.  können  eine 
befriedigende  Erklärung  nicht  geben. 

Im  Verlauf  meiner  langjährigen  Untersuchungen 
von  Roterden  während  meiner  Tätigkeit  am  land- 
wirtschaftlich-biologischen  Institut  Amani  (Deutsch- 
Ostafrika)  bin  ich  zu  folgender  Theorie  gelangt,') 
die  die  Anhäufung  von  Aluminium-  und  Eisen- 
hydroxyd, die  Wegfuhr  von  Kieselsäure  unge- 
zwungen erklärt. 

Wie  bekannt,  werden  in  einem  Sol  die  kolloid- 
gelösten Teilchen  durch  ihre  gleichsinnige  Ladung, 
die  positiv  oder  negativ  sein  kann,  vor  der  Aus- 
fällung oder  Gerinnung  geschützt.  Wird  ihnen 
die  Ladung  genommen,  so  vereinigen  sie  sich  zu 
größeren  Komplexen  und  fallen  aus  der  Lösung 
aus.  Darauf  beruht  z.  B.  die  Elektrolytwirkung. 
Kationen  mit  ihrer  positiven  Ladung  fällen  nega- 
tive Kolloide,  Anionen  mit  ihrer  negativen  Ladung 
fällen  positive  Kolloide  aus.  Natürlich  kann  auch 
durch  Zufuhr  anderer  geeigneter  Elektrizität  Aus- 
fällung erreicht  werden.  Läßt  man  z.  B.  ein 
positives  Kolloid  in  einer  genügend  engen  Kapil- 
lare steigen,  so  wird  es  ausgefallt.  Dies  beruht 
darauf,  daß  das  Dispersionsmittel  (Lösungsmittel) 
durch  Strömungsströme  (H  e  1  m  h  0 1 1  z)  eine  nega- 


')  Düngungsversuche  in  den  Deutschen  Kolonien,  Heft  6. 
Bericht  über  die  in  den  Jahren  19 11  — 19 15  am  Biolog.  landw. 
Institut  Amani,  Deutsch-Ostafrika,  ausgeführten  Gefäfldüngungs- 
versuche.  Beiträge  zur  Kenntnis  ostafrikanischer  Roterden 
und  Laterite.  1920.  Die  Arbeit  kann  gegen  Porto  (60  Pfg.) 
vom  Verfasser  an  Interessenten  abgegeben  werden. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


411 


tive  Ladung  erhält,  die  ausfällend  auf  das  positive 
Kolloid  wirkt.  Es  ist  klar,  daß  negative  Kolloide 
nicht  ausgefällt  werden.  In  der  Tat  kann  man 
sich  durch  einen  sehr  einfachen  Versuch  von 
dieser  Tatsache  überzeugen.  Läßt  man  z.  B.  ein 
positives  Kolloid  wie  Eisenhydroxydsol  in  einem 
Filtrierpapierstreifen  aufsteigen,  so  wird  man  die 
Wahrnehmung  machen,  daß  das  Eisenhydroxyd 
fast  unmittelbar  an  der  Eintauchstelle  ausgefällt 
wird  und  das  Papier  stark  braun  färbt,  während 
das  Lösungsmittel  bis  20  cm  und  höher  steigt. 
Dahingegen  steigen  negative  Kolloide  (z.  B.  Gold- 
sol)  ungehindert  hoch,  ohne  ausgefällt  zu  werden. 
Wendet  man  diese  Tatsache,  die  durch  verschie- 
dene Autoren  oftmals  untersucht  wurde,  auf  die 
Entstehung  der  Roterden  an,  so  ergibt  sich  mit 
einfacher  Logik  der  Schluß:  Das  Kieselsäuresol 
kann  als  negatives  KoUoidsol  die  Kapillaren  des 
Bodens  durchlaufen,  während  Aluminium-  und 
Eisenhydroxydsole  als  positive  Kolloidsole  in  den 
Kapillaren  des  Bodens  durch  die  Wirkung  der 
entstehenden  negativen  Strömungsströme  ausge- 
fällt werden  und  daher  im  Boden  ein  unbeweg- 
liches Element  darstellen.  Damit  dürfte  die  An- 
häufung beider  Hydroxyde  in  den  Roterden  und 
Lateriten  genügend  erklärt  sein. 

Man  könnte  nun  fragen,  warum  nur  in  den 
Tropen  und  Subtropen  Eisen-  und  Aluminium- 
hydroxyde sich  so  allgemein  anhäufen,  nicht  aber 
in  den  gemäßigten  Zonen.  Zunächst  ist,  wie 
schon  erläutert,  die  chemische  Verwitterung  in 
den  Tropen  viel  intensiver,  wie  im  gemäßigten 
Klima,  es  werden  daher  unvergleichlich  viel  mehr 
Gesteinmassen  chemisch  zersetzt  und  schon  daher 
rührt  die  größere  Menge  der  zurückbleibenden 
Hydroxyde.    Weiterhin  hat  im  gemäßigten  Klima 


der  Humus  eine  eigenartige  Wirkung.  Humus 
und  insbesondere  ungesättigter  Humus  (Humus- 
säuren) bildet  sich  im  gemäßigten  Klima  unend- 
lich viel  mehr,  als  im  tropischen  Klima,  wo  die 
Pflanzenreste  sehr  schnell  in  ihre  Grundelemenfe 
zerlegt  werden ,  so  daß  man  oft  auch  im  üppig- 
sten Urwald  nicht  die  geringste  Humusanhäufung 
feststellen  kann.  Der  ungesättigte  Humus  kann 
nun  mit  Wasser  kolloide  Lösungen  bilden,  die 
negativ  geladen  sind.  In  diesen  Lösungen  tritt 
er  als  Schutzkolloid  auf  und  erteilt  dem  geschützten 
Kolloid  seine  Ladung.  Humus  vermag  so  mit 
Eisen-  und  Aluminiumhydroxyd  kolloide  Kom- 
plexe zu  bilden,  die  nach  obigem  negativ  ge- 
laden sind  und  damit  die  Kapillaren  des  Bodens, 
ohne  ausgefällt  zu  werden,  durchlaufen  können. 
Und  in  der  Tat  sieht  man  in  dieser  Form  Eisen- 
und  Aluminiumhydroxyd  im  Boden  als  sehr  leicht 
bewegliches  Element.  Im  gemäßigten  Klima,  wo 
die  Entstehung  von  ungesättigtem  Humus  (Humus- 
säuren) sehr  begünstigt  ist,  sieht  man  daher  im 
Gegensatz  zum  tropischen  Klima  oft  eine  Ver- 
armung der  Böden  an  Eisen-  und  Aluminium- 
hydroxyd eintreten  (Bleichsand),  weiterhin  zeigt 
vielfach  das  Auftreten  von  Schwarz  wässern,  in 
denen  der  Kolloidkomplex  Humus-Aluminium- 
Eisenhydroxyd  enthalten  ist  und  dem  sie  ihre 
schwarze  Färbung  verdanken,  schon  an,  wie  sehr 
beweglich  diese  Hydroxyde  unter  dem  Einfluß 
von  ungesättigtem  Humus  sind.  Es  sei  erwähnt, 
daß  auch  in  den  Tropen  der  genannte  kolloide 
Humuskomplex  vorkommt  und  sogar  zur  Boni- 
tierung  der  Roterden  herangezogen  werden  kann, 
doch  würde  die  Erklärung  dieser  Tatsache  den 
Rahmen  dieses  Aufsatzes  übersteigen  und  ich  ver- 
weise auf  meine  oben  zitierte  Arbeit. 


[Nachdruck  verboten.] 


Die  Eückbilduug  der  Hüftbeine  bei  Seekühen. 

Von  Ernst  Stromer  (München). 
Mit   II   Textfiguren. 


Schon  seit  längerer  Zeit  ist  man  über  die 
Rückbildung  der  Hüftbeine  in  der  einen  Familie 
der  Seekühe,  der  Halicoridae  im  weitesten  Sinne, 
durch  die  Arbeiten  von  van  O  ort  (1903),  Lorenz 
von  Liburnau  (1904),  Schmidtgen(i9i2)  und 
vor  allem  von  Abel  (1904  usw.)  in  wesentlichen 
Zügen  unterrichtet  und  vielfach  sieht  man  die 
Reihe  der  Beckenrückbildung  bildlich  dargestellt. 
Untersuchungen  noch  unbeschriebener  Fundstücke 
im  Vergleich  mit  den  schon  bekannten  erlaubten 
nun  den  Schreiber  dieser  Zeilen  einiges  zu  be- 
richtigen und  vor  allem  die  Reihe  wesentlich  zu 
ergänzen.  Es  lohnt  sich  wohl,  eine  Abbildung 
davon  zu  geben  und  einige  Bemerkungen  hinzu- 
zufügen. Denn  sie  bietet  insofern  ein  besonderes 
Interesse,  als  sie  die  Folgen  der  Anpassung 
ursprünglich  landbewohnerder  Säugetiere  an  eine 
ganz  andere  Lebensweise ,  wesentlich  Schwim- 
men   mit    Hilfe     einer    Schwanzflosse,     in     sehr 


starker  Rückbildung  eines  wichtigen  Organs,  der 
ganzen  hinteren  Extremitäten,  wenigstens  teilweise 
zeigt,  während  die  so  bekannte  Reihe  der  Füße 
der  Equidae  nur  die  Umbildung  von  Gehfüßen  in 
Lauffüße  vorführt,  also  eine  viel  geringfügigere 
Umänderung. 

Das  älteste  uns  bekannte  Hüftbein  eines 
Halicoriden,  das  von  Eotherium  aegyptiacum 
Owen,  einer  noch  mit  vollständigem  Gebiß  und 
mit  Zahnwechsel  versehenen  Seekuh,  stammt  aus 
dem  unteren  Mitteleozän  Ägyptens  (unterste  Mo- 
kattam-Stufe).  Es  ist  dem  primitiver  Landsäuge- 
tiere im  wesentlichen  noch  gleich,  hat  ein  unge- 
fähr stabförmiges  Ilium  (Darmbein),  ein  wohlaus- 
gebildetes Acetabulum  (Gelenkpfanne  für  den 
Oberschenkel),  was  beweist,  daß  hier  noch  ein 
nicht  sehr  kleiner  Oberschenkel  frei  beweglich  vor- 
handen war,  und  ein  mäßig  weites  vom  Ös  pubis 
und    Ischium    (Scham-    und  Sitzbein)    umrandetes 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Foramen  obturatum  (Hüftloch).  Sicherlich  war 
das  Hüftbein  noch  mit  einem  oder  zwei  Kreuz- 
beinwirbeln in  ziemlich  fester  Verbindung  und 
wahrscheinlich  war  eine,  wenn  auch  kurze  Sym- 
ptiyse  (mittlere  Verbindung)  der  beiderseitigen 
Schambeine  vorhanden. 

Zwischen  diesem  Hüftbeine  und  dem  nächst- 
jüngeren aus  dem  oberen  Mitteleozän  (obere 
Pariser  Stufe)  Norditaliens,  das  wohl  zu  Proto- 
therium  veronense  de  Zigno  gehört,  klafft  noch 
eine  gestaltliche  Lücke.  Hier  sehen  wir  nämlich 
wesentliche  Rückbildungen  eingetreten:  das  Hüft- 
gelenk ist  etwas  unvollkommener,  das  Hüftloch 
ist  sehr  stark  verkleinert  und  die  Schambeinsym- 
physe  jedenfalls  aufgehoben. 


äußeren  Grübchen  und  dann  völlig  rückgebildet 
wird.  Darin  liegt  also  ein  neuer  Beleg  für  den 
neuerdings  in  seiner  Bedeutung  mehrfach  be- 
strittenen Parallelismus  von  Ontogenie  und  Phylo- 
genie  vor. 

Von  dem  mitteloligozänen  (Rupel-Stufe)  Hali- 
therium  Schinzi  Kaup  kennt  man  speziell  aus 
der  Gegend  von  Mainz  so  zahlreiche  Reste,  daß 
sich  u.  a.  eine  sehr  starke  Variabilität  des  Hüft- 
beins feststellen  ließ.  Die  Norm  schließt  sich  gut 
an  Eosiren  an,  indem  das  Hüftgelenk  erheblich 
seichter  und  unregelmäßiger  geworden  und  das 
Hüftloch  völlig  verschwunden  ist.  Das  Scham- 
bein ragt  wie  bei  jener  als  Eck  mehr  oder  weniger 
stark    ventralwärts    vor    und    das    Ischium    bleibt 


Reihe  der  Hüftbeine  von  Halicoridae. 

Abb.   I.     Eotherium  aegyptiacum  Owen,  unteres  Mitteleozän,  Ägypten. 

Abb.  2.     Prototherium  veronense  de  Zigno,    oberes  Mitteleozän,  Norditalien. 

Abb.  3.     Eosiren  libyca  Andrews,  Obereozän,  Ägypten.     3a  jung,    3b  fast  ausgewachsen. 

Abb.  4.     Halitherium  Schinzi  Kaup,  Mitteloligozän,  Rheinhessen. 

Abb.   5.     Metasytherium  Krahuletzi  Deperet,  Untermiozän,  Niederösterreich. 

Abb.  6.     Metaxytherium  Pelersi  Abel,  Mittelmiozän,    Niederösterreich. 

Abb.   7.  Miosiren  Kocki  DoUo,  oberstes  Miocän,  Belgien. 

Abb.  8.     Felsinotherium  Serresi  Gervais,  oberes  Ünterpliozän,  Südfrankreich. 

Abb.  9.     Halicore  australis  Owen  c/',  Gegenwart,  Australien. 

Abb.   10.     Halicore  dugong  Lac.   (/',  Gegenwart,  Rotes  Meer. 

Abb.   II.     Rhytina  gigas  Zimm.,  Gegenwart,  Behringsmeer. 

(Abb.   I,  5,  6  und   10  nach  Abel   1904,    Abb.  2,  3  nach  Stromer  1921,    Abb.  4' nach  Originalstück,    Abb.  7  nach  Dollu 

in  Stromer  1921,    Abb.  S  abgeändert  nach  Deperet  und  Roman   1920,  Abb.  9  und  II   nach  Lorenz  v.  Liburnau   1904.) 

Abb.   I — 10    in    '/o  °^'-  Gr.,    Abb.    II    in    '/lo    °^'-    Gr.,    a  Crista  lateralis  des  Iliura ,    b  Acetabulum  oder  dessen    Rudiment, 

c  Foramen  obturatum  oder  dessen  Rudiment,  d  Os  pubis  oder  dessen  Rudiment. 


Das  im  Alter  sich  eng  anschließende  Hüft- 
bein von  Eosiren  libyca  Andrews  aus  dem  Ober- 
eozän Ägyptens  (Qasr  es  Sagha-Stufe)  kennen  wir 
nun  im  jugendlichen  bis  zum  ausgewachsenen 
Zustande.  Es  zeigt  das  Hüftgelenk  zwar  kaum 
kleiner  als  bei  Prototherium  und  offenbar  noch 
gut  funktionsfähig,  die  Ansatzstellen  der  zum 
Oberschenkel  ziehenden  Muskeln  sind  jedoch 
schwächer  als  bei  den  besprochenen  Formen.  Vor 
allem  aber  ist  das  Hüftloch  in  völligem  Schwinden 
begriffen,  indem  es  zwar  noch  in  der  Jugend  als 
ganz  enger  Kanal  den  Knochen  schräg  durch- 
setzt,  mit   höherem  Lebensalter  jedoch  zu   einem 


eine  Platte,  die  sich  nur  etwas  streckt.  Seltene 
Varianten  aber  wiederholen  bald  frühere  Zustä-nde, 
indem  z.  B.  das  Hüftloch  sogar  noch  in  ähnlicher 
Weise  vorhanden  ist  wie  bei  Prototherium,  oder 
greifen  vor,  indem  das  Schambein  zu  einem  ganz 
kurzen  Eck  rückgebildet  ist.  Wir  haben  hier  aber 
wohl  nicht  nur  die  besonders  starke  Variabilität 
eines  funktionslos  werdenden  Organs  vor  uns, 
sondern  es  könnten  auch  Geschlechtsunterschiede 
mitspielen,  insofern  als  das  Schambeineck  bei 
männlichen  Tieren,  wo  Schwellkörper  und  Muskeln 
des  Begattungsorganes  an  ihm  entspringen,  wo  es 
also  nicht  ganz  funktionslos  ist,   weniger   rückge- 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliichc  Wochenschrift. 


413 


bildet  sein  mag  als  bei  weiblichen.  Bei  Hali- 
therium  Schinzi  kennen  wir  übrigens  auch  das 
Femur  (Oberschenkelbein)  und  wissen,  daß  es 
schlank,  klein,  aber  an  beiden  Enden  mit  wohl- 
ausgebildeten Gelenken  versehen  war,  daß  der 
Oberschenkel  also  noch  beweglich  am  Hüftbein 
und  mit  dem  wohl  stark  reduzierten  Unterschenkel 
gelenkte. 

Ein  nächstes  Stadium  führt  uns  IVIetaxytherium 
vor,  von  dem  man  aus  dem  Unter-  und  Mittel- 
miozän (i.  und  2.  IVlediterran-Stufe)  Deutschöster- 
reichs Hüftbeinreste  zweier  Arten  kennt.  Hier  ist 
die  Rückbildung  vor  allem  insofern  weitergegangen, 
als  das  eigentliche  Hüftgelenk  sehr  klein  und  flach 
und  von  Rauhigkeiten  umgeben,  statt  regelrecht 
umrandet  ist  und  als  das  Schambein  höchstens 
noch  als  ganz  kleines  Eck  vorragt. 

Im  geologischen  Alter  folgen  dann  unvoll- 
kommen bekannte  Hüftbeine  von  Miosiren  Kocki 
Dollo  aus  dem  obersten  Miozän  (Bolder-Stufe)  von 
Antwerpen  und  von  Felsinotherium  Serresi  aus 
dem  obereren  Unterpliozän  (PlaisanceStufe)  von 
Montpellier  in  Südfrankreich.  Bei  ihnen  scheint 
die  Verbindung  des  Ilium  mit  der  Wirbelsäule 
schwächer  zu  sein  als  bei  den  bisher  beschriebenen 
Formen ;  das  Hüftgelenk  ist  bei  ersterem  nur  noch 
durch  rauhe  Höckerchen,  bei  letzterem  gar  nicht 
mehr  angedeutet  und  das  Schambein  ist  bei 
ersterem  als  ganz  stumpfes  Eck  an  dem  hier  un- 
gewöhnlich breiten  Sitzbein  vorhanden.  (Bei 
Felsinotherium  sind  beide  noch  nicht  beschrieben.) 
Bei  den  lebenden  Formen  endlich  ist  der  Zu- 
sammenhang des  Hüftbeins  mit  einem  Kreuzbein- 
wirbel nur  noch  durch  ein  Band  gewahrt  und 
das  Hüftbein  ein  schlanker  Stab.  Bei  der  tropischen 
Halicore  (Dugong)  ist  sein  Hinterende  mehr  oder 
weniger  gering  verbreitert  und  von  dem  jenseitigen 
weit  getrennt.  Nur  ganz  ausnahmsweise  ist  an 
der  etwas  verdickten  Mitte  noch  ein  winziges 
Hüftgelenk  angedeutet  und  offenbar  entspricht 
der  Knochen  nur  dem  Ilium  und  Ischium.  Auch 
bei  der  im  18.  Jahrhundert  ausgerotteten,  voll- 
ständig zahnlosen  Rhytina  Stelleri  L.  (S  t  e  1 1  e  r  sehe 
Seekuh)  ist  das  der  Fall,  nur  ist  der  Stab  hier 
noch  einfacher  gestaltet. 

So  wenig  die  hier  kurz  vorgeführte  Reihe  einer 
wirklichen  geschlossenen  Stammesentwicklung 
entspricht,  schon  weil  die  Hüftbeine  von  Proto- 
therium,  Miosiren,  Felsinotherium  und  Rhytina 
sich  in  mancher  Beziehung  nicht  in  sie  einfügen, 
und  so  groß  die  Lücken  darin  noch  sind,  so  zeigt 
sie  doch  in  allen  wesentlichen  Zügen  die  all- 
mähliche Rückbildung  eines  wichtigen  Organes 
in  regelmäßiger,  wenn  auch  nicht  ununterbrochener 
Zeitenfolge. 

Das  Ilium  bleibt  demnach  stets  ein  lang  ge- 
streckter Knochen,    der   bald   stab-    bald    keulen- 


förmig ist,  aber  stärkere  Muskelansatzstellen 
(Leisten,  Kanten  und  Rauhigkeiten)  verliert  und 
zuletzt  sehr  schlank  wird  und  den  festeren  Zu- 
sammenhang mit  dem  Querfortsatze  eines  Kreuz- 
beinwirbels einbüßt.  Das  Ischium  verändert  sich 
gleichfalls  nicht  stark,  es  verliert  aber  bald  seine 
Ecken  (Spinae),  streckt  sich  etwas  und  wird  zu- 
letzt schmal.  Das  Os  pubis  dagegen  schwindet 
schon  zur  Mitteltertiärzeit  so  gut  wie  völlig,  nach- 
dem schon  im  Eozän  das  Hüftloch  durch  Ver- 
kleinerung und  schließlich  durch  Zuwachsen  ver- 
loren gegangen  ist.  Die  Hüftpfanne  endlich  wird 
bald  kleiner,  seichter  und  unregelmäßiger  und  ist 
vom  Obermiozän  an  nur  noch  angedeutet  oder 
durch  Rauhigkeiten  ersetzt. 

Offenbar  verläuft  gleichzeitig  eine  Rückbildung 
der  freien  Hinterextremität.  Sie  kann  bei  der 
ältesten  bekannten  Form  im  unteren  Mitteleozän 
noch  eine,  wenn  auch  geschwächte  Funktion  ge- 
habt haben,  war  aber  dann  sicher  rudimentär, 
wenn  auch  noch  bis  zum  Oligozän  frei  beweglich. 
Danach  waren  aber,  ähnlich  wie  bei  manchen 
rezenten  Walen,  wohl  nur  im  Fleisch  steckende 
Reste  von  ihr  vorhanden,  deren  Femur  durch 
Bänder  am  Hüftbein  befestigt  und  kaum  mehr 
zu  Eigenbewegungen  befähigt  war. 

Schließlich  kommt  noch  das  Verhältnis  der 
Größe  des  Hüftbeins  zur  Gesamtgröße  des  Tieres 
in  Betracht.  Letztere  ist  bei  Rhytina  mit  8 — 9  m 
Skelettlänge  am  größten;  bei  Halicore  beträgt  sie 
etwa  2,5  m,  bei  Felsinotherium  und  Miosiren  war 
sie  gewiß  erheblich  größer  als  bei  ihr,  bei  Hali- 
therium  etwas  größer,  bei  den  anderen  Formen 
aber  kleiner.  Leider  wissen  wir  nur  bei  Hali- 
therium  Schinzi,  daß  sie  bis  etwa  3  m  betrug. 
Dessen  Hüftbeinlänge  schwankt  nun  zwischen 
22,5  und  25,5  cm,  die  größte  Breite  am  Os  pubis 
zwischen  4  und  6  cm.  Wenn  wir  demgegenüber 
sehen,  daß  die  entsprechenden  Maße  der  Hüft- 
beine bei  Halicore  18 — -22  bzw.  1,5 — 2,5  cm  sind 
und  bei  Rhytina  4,5  bzw.  3,5  cm  und  die  Schlank- 
heit der  ganzen  Knochen  ansehen,  so  haben  wir 
den  Beweis,  daß  die  Hüftbeine  auch  in  ihrer  Ge- 
samtgröße im  Verhältnis  zur  Körpergröße  seit 
dem  Alttertiär  trotz  der  oben  erwähnten  Streckung 
des  Ischium  zurückgingen. 

Zum  Schlüsse  ist  zu  erwähnen,  daß  bei  der 
anderen  Familie  der  Seekühe,  den  Manatidae,  nach 
der  lebenden  Form  zu  schließen,  die  Rückbildung 
des  Hüftbeins  wesentlich  anders  verlaufen  ist  als 
bei  den  Halicoridae.  Bei  den  Zahn-  und  Barten- 
walen, sowie  bei  den  Urwalen  aber  sind  ganz 
ähnliche  Rückbildungsstadien  zu  beobachten  wie 
bei  diesen,  doch  sind  wir  noch  weit  entfernt  da- 
von, die  morphologischen  Stadien  in  der  zeitlichen 
Reihe  verfolgen  zu  können,  was  allein  beweisenden 
Wert  in  stammesgeschichtlicher  Beziehung  hat. 


414 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Zur  Ameisengeographie  von  Mitteleuropa. 


[Nachdruck  verboten.  1 

Der  Triashügel  von  Saint  Triphon  im  Rhone- 
tal,   den    S.  Galant    in   Nr.   17   dieser  Zeitschrift 
als    xerotherme    Ameiseninsel     schildert,     nimmt 
keine   so    ungewöhnliche  Stellung   ein,    wie   diese 
Darstellung  vermuten  läßt.      Bevor  man  aus  dem 
milden,  insubrischen  Klima  des  Genferseeufers  die 
trockenwarme   Caldera    des    mittleren    Wallis    er- 
reicht, die  sich  von  Martinach  und  den  Follateres 
bis    gegen   den   Deischberg    ausdehnt,    durchquert 
man  eine  ungewöhnlich    mannigfaltige  Folge    ver- 
schiedener   Klimate.      Während    an    den    Hängen 
des  Grammont  subalpine  und  alpine  Arten  zwischen 
der  Porte  du  Sex  und  Vionnaz  tief  zu  Tal  steigen 
und  ein   mildes,    feuchtes  Klima    verraten,    haben 
die  Hänge  von  Aigle  bis  Bex,    zwischen    welchen 
Städten    St.  Triphon    liegt,    ausgesprochen    xero- 
thermen    Charakter.      Die    Niederschläge    nehmen 
außerordentlich  rasch  ab  —  Aigle  hat  kaum  mehr 
Regen  als  Martinach  — ,    um    dann    ebenso    rasch 
wieder    bei    Bex    und    dem    Engpaß    von    Saint 
Maurice  anzusteigen,  worauf  dann  die  gleichmäßige 
Abnahme  bis  zum  Steppenklima  der  Innerwalliser 
Föhrenregion  ^)  einsetzt.    Daß  die  Umgebung  von 
Aigle    eine   ganze  Reihe    von  Arten  aufweist,    die 
dann    erst    wieder    im    Mittelwallis    auftreten,    ist 
längst  bekannt,    so    von  Pflanzen   die  Sfipa-hritn, 
Ononis  natrix,  Asfragalus  monspessjilanus,  Scor- 
zoicra  austriaca  u.  a.     Dazu    kommt   das   im  In- 
nerwallis fast  ganz  fehlende  Oitosma  ccinoidcs  subsp. 
vaiidcnsc    und    der    nur   bis    zur   Pissevache    und 
Dorenaz  reichende  Ruscus  aculcafus^  eine  freilich 
nichts  weniger  als  typisch  xerophile,  sondern  aus- 
gesprochen   hygrothermophile  Pflanze   des  Mittel- 
meergebiets.     Von    Insekten    seien    z.   B.  Älmifis 
religiosa,  Cicada  orui  und  SisypJuis  Sclu'iffcri  ge- 
nannt.   Es  ist  somit  nicht  verwunderlich,  daß  die 
im   ganzen    Mittelwallis    sehr    gemeinen    Ameisen 
Pla«!okpts  pyn i/iaca L^tr.  und  Caiiipo)iotus  aethiops 
Latr.  auch  hier  auftreten.    Daß  diese  beiden  Arten 
in  der  Schweiz  sonst  nicht  zusammen  vorkommen, 
entspricht  nicht  den  Tatsachen,  wie  übrigens  schon 
aus  den  Angaben  Foreis  hervorgeht  {Plagiolepis 
bei  St.  Maurice,  FuUy,  Sitten,  Siders,   Cavipoiwfus 
am  Genfersee  und  von  Martigny  bis  Siders).    Am 
Südhang  der  Alpen,  z.  B.  im  Tessin  kommt  dazu 
eine  ganze  Reihe  dem  Schweizer  Rhonetal  fehlen- 
den Ameisen,  wie  Mcssor  barbarus  (L.)  For.  ssp. 
structor  (Latr.),  Plicidole  pallidula  Nyl.,   Crcmasto- 
gaster  scntellaris  Ol.   und  Formica  ga^atcs  Latr. 
Die   Erdnester    der    letztgenannten    Art,    die    von 
Spanien    bis    Kleinasien    und    zum    Himalaya,    in 
Mitteleuropa    bis    in    die    Umgebung    von    Paris, 
Piemont,    Südtirol,    Krain,    Niederösterreich    und 
Ungarn  vorkommt,   traf  ich    in   großer  Menge  in 


Von  Dr.  H.  Garns. 


')  Vgl.  über  diese,  ihr  Klima  und  ihre  Florengeschicbte 
H.  Christ:  Die  Visp-Taler  Föhrenregion  im  Wallis.  Bulletin 
de  la  Murithienne  Bd.  XL  (1916 — 18),  Sion  1920.  Eine  aus- 
führlichere Darstellung  der  Vegetation  im  Unterwallis  bereitet 
der  Verf.   des  vorstehenden  Artikels  vor. 


den  Kastanien-,  Eichen-  und  Hopfenbuchen- ( Oj'/'ri'a'-) 
Gehölzen  des  Mendrisiotto  (Kanton  Tessin). 

Viel  bemerkenswerter  als  das  Vorkommen  von 
Plagiolcpis  und  Cniipoiiotus  aethiops  in  der 
Gegend  von  Aigle  scheint  mir  ein  anderes  zu 
sein,  das  ich  im  folgenden  behandeln  möchte: 
dasjenige  einer  nahen  Verwandten  der  Formica 
gagates,  der  Formica  picea  Nyl.  Beide  Arten,  die 
von  manchen  Autoren  nur  als  Rassen  der  ge- 
meinen F.  fusca  bewertet  worden  und  vielfach 
verwechselt  worden  sind,  müssen  auf  Grund  ihrer 
grundverschiedenen  Lebensweise  und  Verbreitung 
trotz  großer  morphologischer  Ähnlichkeit  scharf 
auseinander  gehalten  werden.') 

Formica  picea  ist,  wie  Bonner  darlegt,  eine 
ausgesprochen  nordische  Moorbewohnerin,  die  erst 
1846  von  Nylander  aus  Finnland  beschrieben 
worden  ist.  Von  1852  bis  1909  wurde  die  Art 
entweder  mit  F.  gagates  identifiziert  oder  als 
neue  Art  beschrieben,  so  von  Saunders  aus 
England,  von  Nassonow  aus  Transkaukasien 
und  von  Forel  aus  Santschön  in  China.  Erst 
1919  stellten  Emery  und  Bondroi t  aufs  neue 
die  Unterschiede  der  beiden  Arten  fest.  Nach 
Emery,  Bonner  und  Wasmann  reicht  das 
Areal  der  Moorameise  von  der  Mongolei  und  dem 
Kaukasus  bis  Skandinavien  (1860  von  Me inert 
und  191 2  von  Bonner  bei  Kopenhagen,  von 
anderen  auch  in  Jütland,  von  A  d  1  e  r  z  in  Schweden 
und  Norwegen  und  wohl  auch  auf  Öland  ge- 
funden), England,  Holland,  zum  Hohen  Venn  (wo 
sie  schon  1850  durch  A.  Förster  bei  Aachen 
festgestellt  worden  ist),  den  Ardennen  und  Luxen- 
burg.  Aus  Deutschland  wurde  sie  auch  noch  als 
„gagates"  von  Elberfeld  und  Regensburg  ange- 
geben, von  diesem  bisher  einzig  bekannten 
bayerischen  Fundort  durch  Herrich-Schäfer. 
Die  ziemlich  zahlreichen  Angaben  über  F.  gagates 
in  Österreich  dürften  sich  größtenteils  wirklich 
auf  diese  Art  beziehen,  doch  verstand  G.  Mayr 
[Formicina  austriaca  1855,  Die  europäischen  For- 
miciden  1861)  unter  diesem  Namen  auch  F.  picea 
und  selbst  einzelne  Campouotus-  und  Lasius- KrX^n. 
Sicher  kommt  picea  im  Böhmerwald  und  in  den 
Sudeten  (Altvater)  vor.  In  den  Alpen  wurde 
sie  zum  erstenmal  durch  A.  Förster  für  die 
Seiseralpe  in  Tirol  festgestellt.  Forel  fand  sie 
später  im  Rhonetal :  in  den  Streuriedern  zwischen 
Roche  und  Yvorne,  etwa  eine  Stunde  von  St.  Tri- 
phon entfernt.  Damit  ist  jene  Gegend  um  ein 
hochinteressantes    Glazialrelikt   reicher   geworden. 

')  Vgl.  hierüber  insbesondere  W.  Bonner,  Formica  fusca 
picea  eine  Moorameise.  Mit  Scblußbemerkung  von  E.  Was- 
mann.    Biol.  Zentralbl.  Bd.  XXXlV.   1914.  Nr.   I. 

Derselbe,  Die  Überwinterung  von  Formica  picea  und  an- 
dere biologische  Beobachtungen.     Ebenda  Bd.  XXXV.  Nr.  2. 

Aug.  Forel,  Die  Ameisen  der  Schweiz.    1915. 

H.  Kutter,  Myrmikologische  Beobachtungen.  Biol.  Zen- 
tralbl. Bd.  XXXVII.  1917.  Nr.  9. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


415 


Als  pflanzliches  Gegenstück  sei  auf  Hierochloc 
borealis  verwiesen,  die  F.  O.  Wolf  am  See  von 
Taney,  also  am  Roche  gegenüberliegenden  Hang 
entdeckt  hat.  Auch  sonst  ist  das  „Walliser 
Chablais"  reich  an  ähnlichen  Gegensätzen:  Gciiti- 
aiiii  lutea  steigt  noch  bei  St.  Maurice  und  Dorenaz 
bis  500  m  hinunter,  Piiius  Coiibra  und  Paradisia 
liliastriiii!  bis  looo  m,  wogegen  nur  wenige  Kilo- 
meter entfernt  Qucrciis  scssüiflora  und  piibcscens 
Höhen  von  1700,  ja  1800  m  erreichen  und  Stipa 
pcniiata  bis  2100  m  steigt! 

Den  dritten  Fundort  von  Fon)üca  picea  in  den 
Alpen  entdeckte  mein  Freund  HeinrichKutter 
19 16  am  Calmot  bei  Tschamut  am  Oberalppaß. 
Die  Ameise  baut  hier  in  etwa  1800  m  im  Gegen- 
satz zu  allen  übrigen  bisher  näher  untersuchten 
Fundorten  keine  Haufennester  aus  zerbissenem 
Torfmoos,  sondern  Erdnester.  Auch  dieser  Fall 
hat  manches  botanische  Gegenstück:  viele  Moor- 
pflanzen gedeihen  in  den  Alpen  ausgezeichnet  auf 
mineralischem  Boden,  so  TncJioplwrum  caespito- 
sHiii,  Viula  palustris,  Sphagiiuin  compadum  und 
andere  Torfmoose,  während  umgekehrt  so  charakte- 
ristische Felspflanzen  der  Alpen  wie  Prinnila 
Anricula,  Saxifraga  oppositifolia  und  Siatice 
Armeria  subsp.  vwntaiia  im  nördlichen  Alpen- 
vorland Quellmoore  (die  Aurikel  um  München, 
die  Staticc  in  der  var.  purpurca  [Koch]  bei  Mem- 
mingen) und  Seeufer  {Saxifraga  am  Boden-  und 
Untersee,  Staticc  am  Untersee)  bewohnen,  bzw. 
sich   nur  an  diesen  Standorten    erhalten   konnten. 

Die  Moore  der  Schweiz  sind  verhältnismäßig 
arm  an  lebenden  „Glazialrelikten".  Salix  myrtil- 
lüides  kommt  lebend  nur  noch  im  oberen  Toggen- 
burg, Betula  huniilis  bei  Abtwil,  Bctula  nana  am 
Stoß,  bei  Einsiedeln,  in  den  Berner  und  Freiburger 
Voralpen  und  in  den  großen  Juramooren  vor. 
Daß  sie  und  andere  Arten  (Salix  rctusa  und 
kcrbacea,  Dryas  octopctala  u.  a.)  früher  weiter  ver- 
breitet waren,  beweisen  die  Fosilfunde  in  der 
Gyttja  und  im  Glazialton  („Dryaston")  im  Liegen- 
den zahlreicher  Torfmoore.  Reicher  an  nordischen 
Arten  sind  die  Moore  Oberbayerns,  wo  die  3  erst- 
genannten Arten  noch  ziemlich  verbreitet  sind. 
So  kann  es  nicht  allzusehr  verwundern,  daß  auch 
unsere  nordische  Moorameise,  Formica  picea,  da- 
selbst weiter  verbreitet  ist  als  bisher  bekannt  war. 

Im  Sommer  1920  fand  ich  ein  Nest  im  Kirch- 
seeoner  Filz,  einem  Zungenbeckenmoor  im  Bereich 
des  alten  Inngletschers  zwischen  München  und 
Rosenheim,  und  weiter  einzelne  Exemplare  der 
glänzendschwarzen  Ameise  im  Moor  am  benach- 
barten Kastensee.  Wie  mir  Regierungsrat  Dr. 
H.  Paul  mitteilte,  hat  er  wiederholt  Nester  dieser 
Art  in  den  Chiemseemooren  beobachtet.')  Wahr- 
scheinlich hat  also  die  Ameise  in  den  Mittelgebirgen 
von  Belgien  bis  zu  den  Sudeten  und  bis  nach 
Mittelasien   die   Eiszeiten  überdauert   und  ist  aus 


1)  Aom.  während  des  Druckes.  Im  Juni  1921  fand  sie 
mein  Freund  E.  Schmid  auch  im  Bockuseegebiet:  im  Moor 
am  Biichelweiher  bei  Lindau. 


diesen  Refugien  den  zurückweichenden  Gletschern 
nach  Fennoskandien  und  in  die  Alpen  gefolgt. 

Das  Kirchseeoner  Moor  wird  vielleicht  auch 
sonst  noch  interessante  biogeographische  Auf- 
schlüsse bieten.  Die  heutige  Vegetation  und  da- 
mit die  Moorameise  werden  leider  infolge  der 
fortschreitenden  Entwässerung  und  Abholzung  in 
wenigen  Jahren  verschwunden  sein ,  aber  die  be- 
reits angelegten  Entwässerungsgräben  gewähren 
dafür  einen  prächtigen  Einblick  in  die  Genese  des 
Moores.  Ganz  wie  in  dem  durch  Nathorst, 
Schröter,  Neuweiler  u.  a.  berühmt  gewor- 
denen und  gleichfalls  in  diesen  Jahren  gänzlich 
abgetorften  Krutzelried  im  Bereich  des  alten 
Linthgletschers  (östlich  von  Zürich)  folgt  auch 
hier  über  der  Grundmoräne  Glazialton  und  Gyttja 
Ob  auch  hier  eine  „Dryasflora"  darin  enthalten 
ist,  müssen  weitere  Untersuchungen  lehren),  Leber- 
torf (Dy,  in  den  bisher  aufgeschlossenen  Rand- 
partien etwa  '/a  n^  mächtig)  und  Moostorf.  Inter- 
essant ist  eine  konkordante  Einlagerung  in  die 
aus  Sand  und  kristallinem  Geschiebe  bestehende 
Grundmoräne  von  einer  dünnen  Torfschicht  mit 
Stämmen  und  Zapfen  von  Pinus  silvestris  L.,  die 
hier  also  schon  vor  Ablagerung  des  „Dryastons" 
am  Gletscherrand  wuchs. 

Die  Formica  picca-Ntsier  von  Kirchseeon  traf 
ich  mitten  im  sehr  nassen  Zwischenmoor,  in 
großen  aus  Spliagnum  aciififolium  gebildeten  und 
mit  Politriclnoii  st  riet  um  und  Carex-  hx\.fa.  be- 
wachsenen Hochmoorbülten.  Im  übrigen  stimmen 
sie  völlig  mit  den  von  Bonner  aus  dem  Lyngby- 
Moor  in  Dänemark  beschriebenen  und  abgebildeten 
Nestern  überein,  so  daß  ich  auf  diese  Beschreibung 
verweisen  kann.  Bemerkenswert  ist  das  bei  dieser 
Art  wohl  noch  nicht  konstatierte  Vorkommen 
von  Puppen  der  Syrphidengattung  Microdon. 
Ein  Stück  des  Nestes,  das  ich  samt  Brut  und 
einer  Königin  mitnahm  und  frei  im  Zimmer  stehen 
hatte,  blieb  dauernd  nahezu  unverändert  und 
wurde  von  den  Ameisen  trotz  ihrer  bei  warmem 
Wetter  großen  Lebhaftigkeit  nicht  verlassen.  Die 
Nester  dieser  Art  sind  u.  a.  durch  die  großen, 
weißlichen  Anhäufungen  von  zerbissenem  Spliag- 
num auf  den  von  zahlreichen  Gängen  durchzoge- 
nen Büken  kenntlich. 

Ähnlich  verhalten  sich  die  Nester  der  zweiten 
in  Mooren  (allerdings  in  Mitteleuropa  häufiger  in 
Wäldern)  lebenden  Formica  Art ,  der  F.  cxsecta 
Nyl.,  deren  Moornester  Nils  Holmgren  be- 
schrieben hat.  Außerdem  traf  ich  aber  in  den 
schweizerischen  und  bayerischen  Mooren  noch  sehr 
regelmäßig  einige  andere  Ameisen  als  Bewohner 
von  Hochmoorbülten,  so  vor  allem  Alyrmica  ru- 
bra L.,  Lasiusßavus  F.  und  iimbratus  Nyl.,  seltener 
und  nur  in  trockenerem  Torf  auch  den  gemeinen 
Lasius  nigcr  L.  und  Tapinoma  crraticuni  Latr. 
Sahlberg  beschreibt  aus  Finnland  und  Bon- 
droit  aus  Belgien  gemischte  Moornester  von 
F'ormica  sanguinca  und  picea  (diese  als  Sklaven 
jener).  Die  Nester  der  vorwiegend  bis  ausschließlich 
unterirdisch  lebenden  lMSius-h.x\.zn  sind  von  außen 


4i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


höchstens  durch  das  Vorkommen  myrmekochorer 
Pflanzen  (z.  B.  Viola-Artcn,  auf  trockenen  Moor- 
wiesen sehr  regelmäßig  Thyviiis  Serpyllum)  zu 
erkennen.  Ich  gewann  durch  die  Beobachtungen 
der  letzten  Jahre  den  Eindruck,  daß  die  meisten, 
wenn  nicht  alle,  größeren  Hochmoorbülten  wenig- 
stens in  gewissen  Stadien  von  Ameisen  bewohnt 
werden  und  daß  diesen  somit,  neben  dem  Wachs- 
tum der  Torfmoore  und  Frostwirkungen  eine  ganz 
hervorragende  Bedeutung  bei  der  Entstehung  der 
Hochmoorbülten  und  vielleicht  auch  anderer,  doch 
sicher  nicht  aller  „Höckerlandschaften"  zukommt.') 
Die  „Ameisenhöcker'  sind  in  manchen  Gegenden 
so  häufig,  daß  für  sie  sogar  besondere  Volks- 
namen   bestehen,   so  im  Waadtländer  Jura   „teu- 


mons"  (nach  Ch.  Meylan)  und  in  Litauen  „küp- 
stas"  (nach  Abromeit,  Flora  von  Ost-  und 
Westpreußen,  1898,  S.  548). 


')  Vgl.  J.  Sahlberg,  Om  förekomsten  af  Kormica  ga- 
gates  hos  en  röd-myrart.  Meddel.  Soc.  pro  launa  et  flora  fen- 
nica  I.  1876. 

Th.  Kuhlgatz,  Vorstudien  über  die  Fauna  des  Belula 
nana-Hochmoores  im  Culraer  Kreis  in  Westpreußen.  Nord. 
Wochenschr.  N.  F.  I.   1902. 

Nils  Holmgren,  Ameisen  als  Hügelbildner  in  Sümpfen. 
Zool.  Jahrb.  System.  Bd.  XX.  1904. 

R.  Stäger,  Höckerlandschaften.  Mitt.  Naturf.  Ges. 
Bern   1913. 

Derselbe,  Erlebnisse   mit  Insekten.     Rascher,  Zürich  1919. 

W.  Höhn,  Moosdünen  und  Höckerbildungen  auf  schwei- 
zerischen Mooren.    Natur  und  Technik  Bd.  II,    1921,  Nr.  12. 


Einzelberichte. 


Das  Variiereu  der  morphologischen  iiud 
physiologischeu  Merkmale  der  Meüschen. 

Die  beschreibende  Anthropologie  stellt  zahl- 
reiche körperliche  Merkmale  der  menchlichen 
Rassen  fest,  sie  zeigt  hier  Ähnlichkeiten,  ja  Über- 
gänge, dort  mehr  oder  weniger  starke  Abweichun- 
gen. Auf  Grund  dieser  Merkmale  werden  dann 
einzelne  morphologische  Rassen  unterschieden 
und  die  einander  ähnlichen  zu  Rassengruppen  ver- 
einigt. Die  biologische  Seite  der  Rassenmerkmale 
wurde  jedoch  bisher  zu  wenig  studiert.  Mit 
Recht  betont  Prof.  E  u  g  e  n  Fischer')  die  Wich- 
tigkeit der  Unterscheidung  einerseits  der  in  An- 
passung an  bestimmte  Umweltfaktoren  durch 
natürliche  Zuchtwahl  entstandenen  „Idiovariationen" 
und  andererseits  der  sog.  „Paravariationen",  die 
nicht  erblich  sind  und  lediglich  die  Einwirkung 
der  peristaltischen  Faktoren  (Klima,  Nahrung, 
chemische  und  physikalische  Einflüsse)  auf  den 
Körper  zum  Ausdruck  bringen.  Die  Tiergeo- 
graphie und  die  Haustierforschung  zeigen,  welche 
starke  Einflüsse  die  Versetzung  in  eine  fremde 
Umwelt  ausübt.  So  wird  z.  B.  ein  von  reinen 
Rassenzuchttieren,  etwa  Stier  und  Kuh  Olden- 
burger oder  Simmentaler  Zucht,  im  trockenen 
hochgelegenen  Südwestafrika  geborenes  Tier  an 
Größe,  Form,  Proportionen  ganz  anders  als  die 
Eltern  waren.  Es  ist  klar,  daß  Domestikations- 
einflüsse  neue  „Paravariationen",  d.h.  nicht  erb- 
liche Änderungen  (z.  B.  Fettablagerung,  gesteigerte 
Körpergröße  usw.)  bewirken  können;  erbliche 
Rassenmerkmale  sind  das  aber  nicht.  Ob  im 
Domestikationszustand  auch  die  Erbmasse  (das 
„Keimplasma")  wirklich  fallibel  wird,  ob  leichter 
und  öfter  echte  Keimesvariationen  auftreten,  ist 
strittig.  Es  wäre  schon  denkbar,  sagt  F.,  aber 
andererseits  ließe  sich  die  Fülle  der  beobachteten 
Variationen  auch  erklären  durch  die  Annahme, 
daß    „spontan"     auftretende    Variationen    in    der 

')  Zur  Frage  der  Domestikationsmerkmale  des  Menschen. 
Zeitschrift  f.  Sex.-Wissensch.,  Bd.  S,  Heft  i. 


Domestikation  leichter  erhalten,  auch  biologisch 
schädliche  beschützt  und  gezüchtet  werden  können. 
Als  Paravariationen  des  Menschen,  denen  echte 
Erblichkeit  beim  Wechsel  der  Umwelt  nicht  eigen 
ist,  betrachtet  F.  die  Abweichungen  der  Haarform 
von  straff  bis  eng  spiralgedreht,  die  Skala  der 
Färbung  von  Haar,  Haut ')  und  Iris  (Albinismus, 
Melanismus,  Rutilismus),  die  wechselnde  Körper- 
größe (Pygmäen  und  besonders  Großwüchsige), 
die  Proportionsverschiedenheiten,  den  Wechsel  der 
Nasen-,  Lippen-  wie  überhaupt  der  Gesichts- 
formen, die  Faltenbildungen  am  Auge,  die  Stea- 
topygie  und  vieles  andere.  Diese  Eigenschaften 
werden  als  Domestikationsfolgen  aufgefaßt.  Das 
Auftreten  von  Paravariationen  infolge  willkürlicher 
Gestaltung  der  Fortpflanzungs-  und  Ernährungs- 
verhältnisse macht  es  in  vielen  Fällen  unmöglich, 
zu  entscheiden,  ob  zwei  gleiche  oder  ähnliche 
Rassenmerkmale  auf  eine  genealogische  Zusammen- 
gehörigkeit oder  auf  selbständiges  Auftreten  als 
spontane  Domestikationsmerkmale  zurückzuführen 
sind.  Eine  Reihe  physiologischer  Erscheinungen 
dürften  ebenfalls  Domestikationswirkungen  sein; 
daß  z.  B.  die  „Dauerbrust"  des  menschlichen 
Weibes  ähnlich  wie  das  sich  nicht  zurückbildende 
Euter  eine  Haustiereigenheit  darstellt  gegenüber 
den  stets  nach  der  Säugezeit  sich  stark  involvie- 
renden Zitzen  der  Wildformen,  hat  schon  Frie- 
denthal (1908)  ausgesprochen.  F.  fügt  hinzu, 
daß  man  wohl  auch  die  dauernde  Bereitschaft 
der  Frau  zur  Schwängerung,  also  das  Fehlen 
echter  Brunstzeiten,  die  dauernde  Ovulation,  als 
Domestikationswirkung  auffassen  kann.  Zwar 
gibt  es  einige  Angaben  über  Beobachtungen  in 
zoologischen  Gärten,  wonach  Schimpansen  ganz 
regelmäßig  alle  28  Tage  menstruieren,  genau  wie 
ein  menschliches  Weib.  Aber  dem  steht  die 
Meldung  der  Beobachter  des  Freilebens  der  Schim- 


')  Bei  den  Negern  in  Nordamerika  haben  sich  jedoch  die 
charakteristische  Haarform,  wie  die  Pigmentierung,  trotz  des 
Wechsels  der  Umwelt  durchaus  konstant  erhalten. 


N.  F.  XX.  Nr.  2i 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


417 


pansen  gegenüber,  daß  es  nur  zu  bestimmten 
Zeiten  Junge  gibt.  Die  Brunst  aller  anderen 
Tiere,  auch  der  niederen  Affen,  ist  physiologisch 
und  nach  ihren  anatomischen  Unterlagen  (Uterus- 
schleimhaut, Ovar)  nicht  identisch  mit  der  mensch- 
lichen Menstruation.  Auch  das  männliche  Tier 
ist  im  Freileben  nur  zu  bestimmten  Zeiten  sprung- 
bereit und  sexuell  libid,  der  Zuchthengst,  der 
Haushund  und  der  menschliche  Mann  immer.  Die 
Erklärung  der  verschiedenen  Verhaltens  ist  in 
Domestikationseinflüssen  zu  suchen. 

H.  Fehlinger. 

Ein  vergessener  Botaniker  des  16.  Jahr- 
Ininderts. 

Euricius  Cordus  (?  i486 — 1535)  ist  als 
Botaniker  so  gut  wie  vergessen.  In  Sachs' 
„Geschichte  der  Botanik"  (1875)  wird  nicht  ein- 
mal sein  Name  genannt.  Um  so  mehr  ist  August 
Schulz  dafür  zu  danken,  daß  er  uns  nach  seiner 
Studie  über  Cordus  den  Sohn,  über  „Valerius 
Cordus  als  mitteldeutschen  Floristen",*)  den  Vater 
Cordus  als  botanischen  Forseher  und  Lehrer  in 
einer  Schrift  schildert,  die  man  als  botanikohisto- 
risches  Kabinettstück  bezeichnen  darf.-') 

Euricius  Cordus  veröffentlichte  sein  jetzt 
so  selten  gewordenes  „Botanologicon"  in  Köln  1534, 
d.  h.  zwei  Jahre  vor  dem  Erscheinen  des  3.  (Schluß-) 
Bandes  von  B  r  u  n  f  e  1  s '  „Herbarum  vivae  eicones". 
Sein  Lebenslauf  ist  voll  des  menschlich  Inter- 
essanten.-') Er  führte  zunächst  das  bewegte  Leben 
eines  humanistischen  Literaten  und  Pädagogen. 
In  Erfurt,  der  Zentrale  des  eleganten  späteren 
deutschen  Humanismus,  verbrachte  er  lange  Jahre 


')  August  Schulz,  Valerius  Cordus  als  mitteldeulscher 
Florist.  In;  Mitteilungen  des  Thüringischen  botanischen  Vereins, 
N.  F.,  Heft  33  (Weimar  1916),  S.  37—66.  (Vgl.  mein  Referat 
in  den  Mitteilungen  zur  Geschichte  der  Medizin  u.  d.  Natur- 
wissenschaften XVI,   1917,  S.   192  f.) 

'')  August  Schulz,  Euricius  Cordus  als  botanischer 
Forscher  und  Lehrer.  (Abhandlungen  der  Naturforschenden 
Gesellschaft  zu  Halle  a.  d.  S.,  N.  F.,  Nr.  7),  Halle  a.  d.  S.  Im 
Selbstverlage  der  Gesellschaft.  In  Kommission  L.  Nebert. 
1919.  gf-  S".  32  S.  —  Kurz  wies  schon  F.  W.  E.  Roth  auf 
„Euricius  Cordus  und  dessen  liotanologicon  1534"  (in:  Archiv 
f.  d.  Geschichte  d.  Naturwissenschaften  u.  d.  Technik,  I,  1909, 
S.  279 — 281)  hin,  was  Schulz  wohl  übersehen  hat. 

')  Zu  der  von  Schulz  auf  S.  7  (Anm.  3)  zusammenge- 
stellten biographischen  Literatur  seien  u.  a.  hinzugefügt:  C. 
Krause,  Vom  Namen  des  Dichters  Euricius  Cordus.  — 
Neue  Untersuchungen  über  den  Namen  und  die  Schuljahre  des 
Dichters  Euricius  Cordus.  In:  Hessenland  1891,  S.  152 — 154, 
306—309,  318—320  und  1892,  S.  2—5.  —  Friedrich 
Küch,  Ein  unbekannter  Brief  von  Euricius  Cordus.  In:  Zeit- 
schrift d.  Ver.  f.  hessische  Geschichte  und  Landeskunde,  N.  F. 
XXX  (1907),  S.  158— 161.  —  Robert  Sommer,  Familien- 
forschung und  Vererbungslehre  (Leipzig  1907),  S.  160 — 163; 
Euricius  Cordus,  der  Reformationsdichter,  ein  Soldan  [Zu 
diesem  genealogischen  Irrtum  vgl.  man  aber:  Carl  Knetsch, 
Goethes  Ahnen  (Leipzig  1908),  S.  28  und  —  unabhängig  da- 
von —  Hermann  Dieraar,  Die  Chroniken  des  Wigand 
Gerstenberg  von  Frankenberg  (Veröffentlich,  d.  Histor.  Kom- 
mission f.  Hessen  u.  Waldeck,  VII,  l),  (Marburg  1909),  S.  479 
Anm.  5].  —  Weitere  Kleinliteratur  schließlich  im  Systemati- 
schen Inhaltsverzeichnis  zur  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  hess.  Gesch. 
u.  Landesk.  Bd.  I — 45,  bearb.  v.  Hans  Legband  (Kassel 
1912),  S.  68. 


des  Studierens,  Dichtens  und  Lehrens.  Nächst 
Helius  Eobanus  Hessus,  dem  „König"  des 
Erfurter  Kreises,  meisterte  er  wie  keiner  das  Epi- 
gramm. Aber  leben  konnten  er  und  seine  Fa- 
milie davon  nicht.  So  begann  er  Medizin  als 
spätes  Brotstudium.  Und  da  mußte  ihn  Italien 
locken.  Nicolo  Leoniceno  und  Giovanni 
Manardo  in  Ferrara  pflanzten  in  ihn  die  Liebe 
zur  scientia  amabilis.  1527  wurde  Cordus  von 
seinem  inzwischen  eingenommenen  Braunschweiger 
Stadtarztposten  *)  als  Medizinprofessor  an  die  neu- 
gegründete Marburger  Universität  berufen.  Doch 
der  alte,  ewig  junge  Kollegenzank  — ■  Cordus 
blieb  in  deren  Augen  der  unwissende  Poet!  — 
verleidete  ihm  bald  diese  akademische  Stellung, 
und  schon  1534  folgte  er  einem  Rufe  nach  Bremen 
als  Stadtarzt  und  Lehrer  am  akademischen  Gym- 
nasium.    Aber  im  nächsten  Jahre  starb  er. 

Sein  „Botanologicon"  vom  Jahre  1534")  ver- 
dient nach  Schulz  vor  allem  deswegen  unsere 
Beachtung,  weil  wir  aus  ihm  Form  und  Inhalt 
des  Unterrichts  in  der  „reinen"  Botanik  ah  einer 
deutschen  Universität  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts kennen  lernen.  Wir  sehen,  wie  dieser 
Unterricht  aus  einem  mit  Demonstrationen  und 
Bestimmungsübungen  verbundenem  Kolloquium 
bestand,  das  in  der  Wohnung  des  Professors,  im 
„botanischen  Garten"  und  auf  „botanischen  Ex- 
kursionen" abgehalten  wurde.  Denn  wenn  auch 
das  im  „Botanologicon"  dargestellte  botanische 
Gespräch  ofTenbar  nur  fingiert  ist,  so  dürfen  wir 
wohl  annehmen,  daß  die  darin  geschilderten  Ver- 
hältnisse der  Wirklichkeit  entsprachen  und 
Euricius  Cordus  in  der  dargestellten  Weise 
„Botanik"  zu  lehren  pflegte. 

Das  Kolloquium  zwischen  Cordus  und  seinen 
Begleitern  —  es  wird  von  Schulz  zum  Teil 
unter  kommentiertem  Originalabdruck  durchge- 
sprochen ^)  —  beschäftigt  sich  fast  ausschließlich  mit 


■)  Für  die  Braunschweiger  Zeit  führe  ich  noch  zwei  un- 
beachtet gelassene  Arbeiten  von  Friedrich  Cunze  an: 
Ein  Brief  des  Euricius  Cordus  aus  Braunschweig  (1523).  In: 
Jahrbuch  d.  Geschichtsvereins  f.  d.  Herzogtum  Braunschweig, 
I  (1902),  S.  103 — 107.  —  Der  Humanist  Euricius  Cordus  in 
Braunschweig.  In:  Braunschweigisches  Magazin,  X  (1904), 
S.  Sg-96. 

-)  Das  „Botanologicon"  erschien  dann  nochmals :  in  Paris 
1551,  nachdem  schon  vorher  1^49  in  Frankfurt  a.  M.  in 
Jean  Ruelles  lateinischer  Dioskur  ides- Übersetzung  im 
Anhange  ein  kurzer  Auszug  (Index  et  quasi  epilogus  seu  epi- 
tome)  abgedruckt  worden  war.  —  Ich  persönlich  konnte  bis 
jetzt  nur  die  Kölner  Ausgabe  erlangen. 

')  Angefügt  sei,  dafi  die  auf  S.  24  unten  von  Cordus 
angezogene  Schrift  des  Hubertus  Barlandus  folgenden 
genauen  Titel  führt:  Huberti  Barlandi  Philiatrii  Medici  Namur- 
censis  Velitatio  cum  Arnoldo  Nootz  Medicinae  apud  Louanienses 
doctore,  qua  docelur  non  paucis  abuti  nos  uulgo  Medicamini- 
bus  simplicibus,  ut  Capillo  Veneris  .  .  .  [Endet:]  Anluerpiae 
ex  aedibus  Henrici  Petri.  Middelbur.  Anno.  M.  D.  XXXII. 
(Exemplar  der  Sachs.  Landesbibl.  zu  Dresden:  Pharmacol. 
spec.  252).  —  Leider  sind  auch  einige  Druckfehler  stehen  ge- 
blieben, die  indessen  der  kundige  Leser  selbst  verbessern 
wird.  Zu  begrüßen  wäre  es,  wenn  Schulz  in  ähnlichen 
künftigen  Arbeiten  die  volkstümlichen  Pflanzennamen 
irgendwie  durch  den  Druck  auszeichnen  könnte,  um  dem 
Ethnobotaniker  die  Aufgabe  zu  erleichtern. 


4i8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


der  Bestimmung  von  mehreren  hundert  Phanero- 
gamen-  und  Kryptogamenformen,  die  sie  in  den 
zwei  Cord  US  gehörigen  Gärten  und  auf  dem 
Wege  von  dem  einen  zu  dem  anderen  antreffen. 
Es  handelt  sich  um  angebaute  oder  wildwachsende 
Pflanzen  oder  um  solche,  die  zu  diesen  in  irgend- 
einer Beziehung  stehen.  Der  Dioskuridische 
Pflanzenschatz  spielt  natürlich  die  Hauptrolle.  Man 
merkt  hier  den  Einfluß  der  beiden  italienischen 
Lehrer.  Doch  ehrtCordus  die  für  die  damalige 
Zeit  ganz  vereinzelt  dastehende  Meinung,  man 
könne  durchaus  nicht  alle  von  den  botanischen 
Schriftstellern  der  Antike  und  ihren  humanistischen 
italienischen  Kommentatoren  aufgeführten  Formen 
in  Deutschland  erwarten. 

So  sehen  wir  also  durch  Schulz'  Bemühungen 
Euricius  Cordus  als  botanischen  Forscher 
und  Lehrer  auf  dem  Hintergrunde  seiner  Zeit. 
Die  Geschichtsschreibung  der  biologischen  Natur- 
wissenschaften wird  an  der  schönen  Studie  nicht 
vorbeigehen. 

Dresden.  Rudolph  Zaunick. 

Eine  einfache  Torriclitnng   zur   Darstellung 
Ton  beliebigen  Kristallstrukturniodellen. 

Die  Notwendigkeit,  die  weitgehenden  und  tief- 
greifenden Ergebnisse  der  theoretischen  wie  ex- 
perimentellen Kristallstrukturforschung  im  Unter- 
richt leicht  zugänglich  zu  machen,  hat  die  Kon- 
struktion von  räumlichen  Modellen  erforderlich 
gemacht,  da  diese  sowohl  für  Vorlesungen  an 
Hochschulen,  wie  auch,  soweit  angängig,  im 
Unterricht  an  höheren  Lehranstalten,  die  beste 
und  anschaulichste  Vorstellung  dessen  vermitteln, 
was  mündlich  vorgetragen  wird.  Die  Struktur- 
modelle, die  heute  vielfach  zu  diesem  Zwecke 
verwendet  werden,  sind  nun  Modelle,  die  nur  eine 
bestimmte  Strukturart  darstellen  und  die  nicht 
verändert  werden  können.  Bei  den  heutigen 
Herstellungskosten  ist  diese  Starrheit  ein  Nachteil, 
da  die  verfügbaren  Mittel  vielfach  nicht  ausreichen, 
für  jeden  Strukturfall  ein  besonderes  Modell  an- 
fertigen zu  lassen.  Etwas  vorteilhafter  sind  in 
dieser  Beziehung  schon  die  Modelle,  die  zuerst 
L.  Sohncke  (Entwickl.  einer  Theorie  d.  Kristall- 
struktur, Leipzig  1879,  S.  179  — 180),  später  H.  L. 
Bowman  (Note  on  the  construction  of  the  Mo- 
dels to  illustrate  theories  of  crystal  structure,  Min. 
Mag.  16,  1911,  S.  51 — 54)  und  neuerdings  H.  L. 
Whitlock  (A  Model  for  Demonstrating  Crystal 
Structure.  Americ.  Journ.  Sei.  (IV),  49,  1920,  S.  259 
bis  264)  vorgeschlagen  haben.  Bei  diesen  Mo- 
dellen ist  die  Vornahme  von  teils  einer,  teils 
zweier  Translationen  ausführbar. 

Eine  Vorrichtung,  die  billig  und  einfach  her- 
zustellen ist  und  die  die  gewünschten  drei  Trans- 
lationen leicht  auszuführen  gestattet,  gibt  K. 
Spangenberg  im  Centralbl.  f  Mineral,  usw. 
192 1,  Heft  9,  S.  229 — 233  an.  Die  Stäbe,  auf 
denen  einfach  durchbohrte  Holzkugeln,  gegebenen- 
falls in  verschiedenen  Farben,  angebracht  werden 


sollen,  bestehen  aus  4  mm  starkem  Eisendraht 
und  werden  zweckmäßig  etwa  75 — 80  cm  lang 
gewählt.  Als  Fußgestell  dient  eine  quadratische, 
I  mm  starke  Eisenblechplatte  von  6  cm  Seiten- 
länge, deren  mittlerer  Teil  kreisförmig  eingebeult 
und  durchbohrt  wird.  In  diese  Durchbohrung 
wird  das  eine  Ende  des  Eisenstabes  gesteckt  und 
darauf  Stab  und  Platte  gut  vernietet.  Diese  Be- 
festigungsart erwies  sich  als  genügend  stabil  und 
dauerhaft.  Im  Notfall  kann  sie  leicht  repariert 
werden.  Die  Halbkugeln  von  2,5  cm  Durch- 
messer, deren  Bohrung  der  Stabdicke  von  4  mm 
möglichst  genau  anzupassen  ist,  lassen  sich  in 
der  Regel  ohne  weiteres  an  jeden  beliebigen  Ort 
des  Stabes  verschieben  ohne  herabzugleiten.  Sollte 
dies  doch  eintreten,  so  genügt  es,  am  unteren 
Pol  der  Kugeln  etwas  Wachs  oder  Plastilina  an- 
zubringen, und  die  Kugel  wird  am  gewünschten 
Ort  festgehalten.  Mit  etwa  150  Stäben  und  250 
weißen  und  250  roten  Kugeln  wird  man  selbst 
beim  gleichzeitigen  Aufbau  von  mehreren  recht 
kompliziert  zusammengesetzten  Strukturmodellen 
in  den  meisten  Fällen  auskommen. 

Man  kann  mit  diesen  verstellbaren  Stäben 
nicht  nur  alle  Raumgittertypen  herstellen,  sondern 
durch  entsprechendes,  wirkliches  Ineinanderstellen 
von  gleichartigen  Raumgittern  lassen  sich  natür- 
lich alle  Sohnckesche  regelmäßigen  Punktsysteme 
schnell  aufstellen.  Dabei  erlaubt  die  Verschieb- 
barkeit der  Kugeln  in  vertikaler  Richtung  beim 
Übergang  zu  Schraubungsachsen  die  notwendige 
Translation  leicht  während  des  Unterrichtes  aus- 
zuführen, wodurch  das  Verständnis  dieser  Opera- 
tion und  der  dadurch  entstehenden  Punktsysteme 
sehr  erleichtert  wird.  Auch  Gleitspiegelungs- 
ebenen  und  damit  alle  Schön flies-Fedorow- 
schen  „Raumgruppen  zweiter  Art"  lassen  sich 
während  der  Verlesung  aufbauen,  wenn  man  die 
Kugeln  durch  Befestigung  einer  leicht  sichtbaren 
Marke  genügend  asymmetrisch  gestaltet.  Natür- 
lich können  ebenso  leicht  die  bisher  experimentell 
ausgewerteten  viel  einfacheren  speziellen  Struktur- 
modelle aufgebaut  werden.  Bestimmte  Baugruppen 
(z.  B.  CO3  in  den  rhomboedrischen  Karbonaten, 
TiO.,  bei  Rutil  usw.)  können  durch  kleinere  Kugeln, 
mit  dünnen  Drahtstäben  an  einer  größeren  be- 
festigt, dargestellt  werden. 

Schließlich  bietet  sich  noch  die  Möglichkeit, 
die  Studierenden  alle  Modelle  mit  dem  gleichen 
billigen  Vorrat  an  Stäben  und  Kugeln  gelegent- 
lich bei  Übungen  selbst  ausführen  zu  lassen. 

F.  H. 

Die  Entstehung  der  artikulierten  Sprache. 

Nachdem  aus  dem  Vormenschen  durch  Er- 
langung des  aufrechten  Ganges  der  Mensch  her- 
vorgegangen war,  wurde  die  Kluft  zwischen  diesem 
und  den  Menschenaffen  erst  recht  vergrößert  durch 
die  Erfindung  des  Feuermachens,  die  den  Menschen 
die  Ausbreitung  über  die  ganze  Erde  ermöglichte. 
Diese  Erfindung  kann  beim  Schlagen  der   Feuer- 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


419 


Steinwerkzeuge  ebenso  gemacht  worden  sein,  wie 
bei  der  Holzbearbeitung;  sie  ist  zweifellos  allent- 
halben Zufallssache  gewesen,  nicht  das  Werk  eines 
grübelnden  Urzeitgenies.  Ein  hochentwickeltes 
Gemeinschaftsleben  konnte  aber  erst  nach  der 
Ausbildung  der  artikulierten  Sprache  entstehen 
und  dieses  Gemeinschaftsleben  gab  wieder  dem 
Kulturfortschritt  bedeutende  Anregungen.  Nach 
dem  anatomischen  Befund  müßte  der  Kehl- 
kopf der  Säugetiere  ebensogut  zu  einer  kompli- 
zierten Lautgebung  befähigt  sein  wie  der  mensch- 
liche. Aber  die  stete  und  ausschließliche  In- 
anspruchnahme der  Mundwerkzeuge  für  die  Nah- 
rungsaufnahme führte  dazu,  daß  die  Kiefer  vor- 
geschoben und  ihre  Hälften  einander  stark  genähert 
wurden,  wodurch  der  Raum  eingeengt  und  die 
Beweglichkeit  der  Zunge  beschränkt  wurde. ')  Die 
weite  Krümmung  der  menschlichen  Kiefer  ist  als 
ursprünglicher  Zustand  bestehen  geblieben.  Außer 
der  Bildung  der  Mundhöhle  ist  bei  den  Säuge- 
tieren die  geringe  Gehirnentwicklung  an  der  Ein- 
schränkung der  Lautgebung  schuld.  Beim  Men- 
schen entsprang  die  Lautsprache,  wie  bei  den 
Tieren,  Lust-  und  Unlustäußerungen.  Die  Quellen, 
aus  denen  die  einzelnen  Laute  und  später  Worte 
geflossen  sind,  sind  gewiß  recht  verschiedener 
Art.  Ob  Nachahmung  von  Geräuschen  der  Um- 
welt in  bedeutendem  Umfang  bei  der  Ausbildung 
der  Sprache  mitwirkte,  ist  fraglich.  Klaatsch 
glaubte  das  annehmen  zu  müssen,  während  es 
Wilhelm  Wundt  (Völkerpsychologie)  entschie- 
den bestritten  hat.  H.  Fehlinger. 

Beziehungen  zwischen  Nebennieren 
und  Keimdrüsen. 

Man  hat  wiederholt  versucht,  die  Beziehungen 
zwischen  den  Nebennieren  und  den  Keimdrüsen 
aufzudecken.  Es  war  jedoch  bisher  noch  nicht 
gelungen,  einwandfreie  Resultate  zu  erzielen.  So 
hat  man  nach  Kastration  eine  Hypertrophie  der 
Nebennierenrinde  beobachtet.  Ferner  sind  Fälle 
bekannt  einerseits  von  Hypoplasie  der  Nebenniere 
mit  Unterentwicklung  der  Testikel  (Tandler), 
bzw.  verzögerter  Entwicklung  der  Sexualcharaktere 
(Wiesel),  andererseits  von  Nebennierentumoren 
mit  prämaturer  Geschlechtsentwicklung  (von  Neu  - 
rath  zusammengestellt).  Ja,  Harms  wagt  so- 
gar, den  Charakter  der  Nebenniere  mit  dem  eines 
sekundären  Geschlechtsmerkmals  zu  vergleichen. 
Doch  fehlt  allen  bisherigen  Beobachtungen  „eine 
sichere  anatomische  Basis".  Diese  versucht  L  e  u  - 
pold  in  seiner  Untersuchung  über  die  „Be- 
ziehungen zwischen  Nebennieren  und  männlichen 
Keimdrüsen"  ^)  zu  schaffen. 

Dem  Hauptteil  seiner  Arbeit  liegen  Beobach- 
tungen zugrunde,  die  er  an  100  Männern  und 
Knaben  gemacht  hat.    Von  besonderer  Bedeutung 


')  Klaatsch,  Werdegang  der  Menschheit  usw. 

'')  Veröffentlichungen  aus  dem  Gebiete  der  Kriegs-  und 
Konstilutionspathologie.  Band  1,  Heft  4,  1920.  Gustav  Fischer, 
Jena. 


sind  die  Resultate  seiner  Wägungen,  die  er 
aus  den  100  Fällen  gewonnen  hat.  Zunächst 
macht  er  auf  die  Bedeutung  der  Körpergröße  für 
die  absoluten  Gewichte  von  Nebennieren  und 
Hoden  aufmerksam.  Dagegen  ist  das  Körperge- 
wicht für  das  Gewicht  der  beiden  Organe  be- 
langlos. Ferner  bewirken  konsumierende  Krank- 
heiten eine  Atrophie  der  Testikel,  während  die 
Nebennieren  unbeeinflußt  bleiben.  Die  Grundlage 
für  alle  weiteren  Beobachtungen  bildet  die  Tat- 
sache, daß  sich  unter  den  100  Fällen  52  mit  dem 
Gewichtsverhältnis  Hoden  :  Nebennieren  =  2,5  :  i 
befinden.  Interessant  ist  nun,  daß  in  der  Regel 
bei  akuten  Krankheiten  dieses  Verhältnis  gewahrt 
bleibt,  während  bei  chronischen  das  Gewicht  der 
Testikel  in  den  meisten  Fällen  zu  leicht  ist. 
Ferner  stellt  Leu  pold  in  allen  Fällen,  in  denen 
ein  Thymus  nachweisbar  ist,  auch  ein  abnorm 
niedriges  Nebennierengewicht  fest.  In  diesen 
Fällen  also  weicht  das  Gewichtsverhältnis  von  der 
Norm  ab.  Wenn  man  von  dem  Einfluß  der 
chronischen  Krankheiten  auf  die  Testikel  und  von 
der  Beziehung  zwischen  Thymus  und  Nebenniere 
absieht  und  vor  allem  berücksichtigt,  daß  abnorm 
niedriges  Nebennierengewicht  mit  abnorm  niedrigem 
Hodengewicht  verbunden  ist,  und  neben  zu  schweren 
Testikeln  zu  schwere  Nebennieren  gefunden  wer- 
den, so  erkennt  man  schon  eine  gewisse  Be- 
ziehung zwischen  beiden  Organen.  Es  bleibt  nur 
der  einseitige  Einfluß  konsumierender  Krankheiten 
auf  die  Hoden  zu  erklären.  Leu  pold  zieht  aus 
diesem  Verhalten  den  Schluß,  „daß  ein  gegen- 
seitiges Abhängigkeitsverhältnis  oder  vielleicht 
auch  ein  bestimmender  Einfluß,  den  das  eine 
Organ  auf  das  andere  ausübt,  in  der  Entwicklungs- 
periode, in  der  Zeit  des  Wachstums  besteht,  in 
der  Zeit  aber  nach  abgeschlossenem  Wachstum 
(oder  vielleicht  auch  nach  der  Pubertät)  nicht 
mehr  vorhanden  ist."  Dieser  Schluß  ist  durch  die 
Untersuchung  kindlicher  Organe  bestätigt  worden. 
Während  der  Pubertätsentwicklung  wächst  die 
Nebenniere  zunächst  sehr  schnell,  zeigt  dann  aber 
bald  ein  definitives  Gewicht.  Die  Entwicklung 
der  Testikel  geht  langsamer  vor  sich,  d.  h.  die 
Hoden  benötigen  für  die  völlige  Reifung  längere 
Zeit.  So  ergeben  sich  die  verschiedensten  Ge- 
wichtsverhältnisse in  der  Jugend,  während  sich 
im  Pubertätsalter  das  Verhältnis  dem  der  Er- 
wachsenen, also  2,5  :  I,  nähert.  Danach  scheinen 
also  die  Testikel  in  einer  gewissen  Abhängigkeit 
von  den  Nebennieren  zu  stehen.  Ob  die  Neben- 
nieren allein  einen  Einfluß  auf  die  Ausbildung 
der  Hoden  haben,  ist  fraglich.     Eine  große  Rolle 

—  wenn  auch  vielleicht  nicht  auf  direktem  Wege 

—  scheint  der  Thymus  zu  spielen.  Die  Wägungen 
haben  also  ergeben,  daß  ein  konstantes  Gewichts- 
verhältnis zwischen  Nebennieren  und  Testikeln 
besteht.  Abweichungen  vom  Durchschnittswert 
rufen  einerseits  die  Atrophie  der  Hoden  (bei  kon- 
sumierenden Krankheiten),  andererseits  die  Hyper- 
plasie der  Hoden,  bzw.  Hypoplasie  der  Neben- 
nieren (Persistenz  des  Thymus)  hervor.    Während 


420 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


der  Entwicklung  ist  für  die  Größe  der  Testikel 
die  definitive  Größe  der  Nebennieren  maßgebend, 
während  später  ein  solcher  Einfluß  nicht  mehr 
möglich  ist,  wie  die  Wirkungen  konsumierender 
Krankheiten  zeigen. 

Diese  Ergebnisse  werden  durch  die  mikro- 
skopischen Untersuchungen  Leupolds  gestützt. 
Hoden  und  Nebennieren  werden  auf  ihren  Fett- 
gehalt hin  verglichen.  Leupold  hält  die 
„funktionelle  Bedeutung"  der  Zwischenzellen  des 
Hodens  für  „noch  nicht  klargestellt".  Trotzdem 
läßt  er  sich  verschiedentlich  von  der  Anschauung 
leiten,  daß  die  Zwischenzellen  als  trophische  Hilfs- 
organe zu  betrachten  seien.  Die  wichtigen  Argu- 
mente, die  Tandler  und  Groß  für  die  An- 
schauung lieferten,  daß  die  Zwischenzellen  für  die 
innere  Sekretion  verantwortlich  zu  machen  seien, 
hat  Leupold  anscheinend  dabei  ganz  außer  acht 
gelassen.  Doch  hat  die  Frage,  ob  das  Fett  von 
den  Zwischenzellen  an  die  Samenepithelien  ab- 
gegeben oder  von  anderen  Zellgruppen  gebildet 
wird,  keine  so  weitreichende  Bedeutung  für  die 
weiteren  Untersuchungen  Leupolds,  daß  eine 
Entscheidung  unbedingt  nötig  wäre.  Zunächst 
ergibt  sich,  daß  im  allgemeinen  der  Grad  der  Ver- 
fettung in  den  Nebennieren  dem  der  Hoden  ent- 
spricht. Weiterhin  schließt  Leupold  aus  der 
verschiedenen  absoluten  Menge  doppeltbrechender 
Substanz,  daß  die  Nebennieren  den  Testikeln  im 
Fettstoffwechsel  übergeordnet  sind.  Wichtig  ist, 
daß  dieses  Abhängigkeitsverhältnis  erst  von  der 
Pubertät  an  besteht,  wie  aus  besonderen  Unter- 
suchungen Leupolds  hervorgeht. 

Die  mikroskopischen  Untersuchungen  bestätigen 
und  ergänzen  also  die  makroskopischen  Beobach- 
tungen. Doch  halte  ich  die  Ergebnisse  für  keine 
„sichere  anatomische  Basis"  —  ganz  abgesehen 
von  dem  Fehlen  einer  chemischen  Bestimmung 
des  Lipoidgehaltes  in  den  untersuchten  Organen. 
Immerhin  sind  wir  durch  die  mühsame  Arbeit 
Leupolds  in  der  Erforschung  der  Beziehungen 
zwischen  Nebennieren  und  Keimdrüsen  einen 
großen  Schritt  vorwärts  gekommen.  Vor  allem 
spricht  das  von  Leupold  angenommene  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zwischen  den  beiden  Organen 
gegen  eine  einseitige  Überschätzung  der  Keim- 
drüsen, bzw.  der  Pubertätsdrüse  in  bezug  auf  ihre 
inkretorische  Tätigkeit. 

Dresden.  Gustav  Zeuner. 

Keine  Bestätigung  der  Relativitätstheorie. 

Im  Jahresbericht  der  Carnegie  Institution  für 
1920  findet  sich  auf  S.  226  folgende  sehr  be- 
achtenswerte Mitteilung. 

„Nach  der  Meinung  von  Einstein  und  der 
Anhänger  der  allgemeinen  Relativitätstheorie  ist 
die  Verschiebung  aller  Sonnenlinien 
nach  Rot  eine  notwendige  und  grundlegende 
Bedingung  für  die  Annahme  dieser  Theorie.  Ein 
endgültiges  Ergebnis  würde  also  von  großer 
Wichtigkeit  sein,  und  es  ist  von  allerlei  Gesichts- 


punkten aus  zu  wünschen.  Im  Jahresbericht  für 
1917  sind  die  Ergebnisse  einer  Untersuchung  von 
St.  John  über  das  Verhalten  der  Linien  des 
Cyanogen-Bandes  bei  X  =  3883  gegeben.  Diese 
waren  ungünstig  für  die  Einstein  sehe  Hypo- 
these. Zu  diesem  negativen  Ausfall  mag  nun  das 
Ergebnis  der  Untersuchungen  der  dreifachen 
Magnesiumlinie  im  Grün  hinzugefügt  werden,  in 
Angströmeinheiten. 

Sonnenmitte  5167,336     5172,699     5183,619 

Bogenspektrum  336  696  6i8 

Sonne  —  Bogen  0,000  0,003  0,001 

Band  —  Mitte  0,002  0,001  0,001 

Die  von  der  Hypothese  verlangte  Verschiebung 
ist  =  0,011.  Bei  der  Wichtigkeit  der  Frage 
sollen  noch  weitere  und  umfassendere  Unter- 
suchungen angestellt  werden." 

Diese  Zahlen  zeigen  zunächst  die  große  Ge- 
nauigkeit der  Messungen,  die  den  gesuchten  Be- 
trag um  das  10  fache  übertrifft,  so  daß  dieser, 
falls  vorhanden,  sich  hätte  zeigen  müssen.  Die 
Bedeutung  dieser  Ergebnisse  liegt  darin,  daß  der 
Nachweis  aus  den  Messungen  bei  der  Sonnen- 
finsternis nicht  gelingen  kann,  hier  verdecken  sich 
die  Refraktion,  der  Dopplersche,  der  Courvoisier- 
und  der  Einstein-Effekt  derartig,  daß  sie  nicht  von- 
einander zu  trennen  sind,  so  daß  die  Ergebnisse 
nicht  eindeutig  sind.  Ebenso  die  Verschiebung 
des  Merkurperihels  ist  auch  auf  andere  Weise  zu 
erklären;  wenn  man  sie  aber  nach  Einstein 
erklärt,  dann  ergibt  die  Anwendung  der  Formel 
auf  die  anderen  Planeten  falsche  Werte,  so  daß 
hier  noch  Widersprüche  aufzudecken  sind,  wie 
W.  Mewes  gezeigt  hat.  Von  der  Rotver- 
schiebung sagt  Einstein  selber,  daß  mit  ihr 
die  Theorie  stehe  und  falle.  Sie  kann 
jederzeit  rein  beobachtet  werden,  sie  ist  das  ein- 
zige wirkliche  Beweismaterial,  und  sie 
ist  immer  negativ  ausgefallen.  Damit  fällt 
nach  Einstein  jeder  Grund  hin,  seine  Theorie 
noch  als  ein  naturwissenschaftlich  irgendwie  in 
Frage  kommendes  Theorem  zu  betrachten.  Be- 
ruhend auf  der  Forderung,  ein  falsch  gedeutetes 
Experiment  mit  einem  scheinbar  widersprechen- 
den zu  vereinigen,  ist  die  Relativitätstheorie  als 
ein  Irrweg  anzusehen,  der  nur  zu  einer  heillosen 
Verwirrung  geführt  hat.  Riem. 

Die  Helligkeitsänderungen  der  Sonne. 

Schwankungen  der  Helligkeit  der  Sonne  lassen 
sich  bei  ihrer  großen  Intensität  nicht  direkt  nach- 
weisen, wohl  aber  ist  es  möglich,  daß  sich  der 
Lichtwechsel  in  der  Helligkeit  der  Planeten 
spiegelt,  deren  Größe  um  meßbare  Beträge 
schwanken  kann.  Zwei  Ursachen  kann  die  Ver- 
änderlichkeit haben,  die  Sonne  kann  selber  die 
Helligkeit  ändern,  was  bei  ihrer  Größe  kaum 
wahrscheinlich  ist,  oder  sie  kann  von  einer  wolken- 
artig zerrissenen  Schicht  umgeben  sein,  die  die 
Sonnenenergie  an  verschiedenen  Stellen  verschieden 
stark   durchläßt.     Dies    ist   bei   Hinblick  auf  die 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift.' 


421 


unsymmetrische  Gestalt  der  Korona  sehr  wahr- 
scheinlich. Dann  aber  werden  nicht  die  Planeten 
gleichzeitig  die  gleichen  Schwankungen  ihrer 
Helligkeit  zeigen,  sondern  nacheinander,  in  dem 
Maße,  wie  durch  die  Umdrehung  der  Sonne  die 
verschiedenen  Planeten  durch  die  gleiche  Stelle 
der  Sonne  bestrahlt  werden.  Unter  Berück- 
sichtigung dieses  Umstandes  findet  sich  dann  in 
der  Tat,  daß  die  Größe  der  Sonne  um  einige 
hundertstel  Größen  schwankt,  wie  Beobachtungen 
von  Guthnick  in  Babelsberg  und  solche  in 
Chile  ergeben.  Auch  aus  den  Beobachtungen  der 
Sonnenkonstanten  hatte  man  geschlossen,  daß  die 
Sonnenenergie  um  0,10  Größen  schwankt,  und 
zwar  bisweilen  innerhalb  weniger  Tage  um  0,03 
Größen.  Aber  auch  die  Konstante,  die  die  Son- 
nenstrahlung auf  den  qcm  und  die  Minute  in 
Kalorien  angibt,  zeigt  bisweilen  seltsame  Sprünge. 
Während  sie  an  mehreren  Stationen  gleichmäßig 
mit  1,933  bestimmt  war,  1902 — 19 12,  war  anzu- 
nehmen, daß  in  der  gleichen  Phase  der  wieder- 
kehrenden Fleckenperiode  die  gleichen  Werte  sich 
ergeben  würden.  Dies  war  aber  nicht  der  Fall. 
Von  Juli  1919  bis  März  1920  finden  sich  Werte, 
die  in  verblüffender  Weise  schwanken,  bis  zu  8  "/o- 
Die  Strahlung  nimmt  erst  langsam  ab,  macht 
dann  im  November  einen  starken  Sprung  nach 
oben,  und  im  Dezember  ebenso,  und  hält  sich 
dann  mehrere  Monate  auf  einer  Höhe,  wie  in 
den  ganzen  15  Jahren  der  Beobachtung  sonst 
niclit.  Abbot  meint,  daß  diese  außergewöhnlich 
starke  Strahlung  sich  in  einer  ungewöhnlich  starken 
Bewölkung  und  großen  Kälte  im  Winter  in  Süd- 
amerika gezeigt  habe.  Auch  die  auffallend  große 
Fleckentätigkeit  der  Sonne  im  März  1920  wird 
nebst  den  starken  erdmagnetischen  Störungen 
hiermit  in  Verbindung  gebracht.  (Proc.  N.  A.  S. 
of  Un.  St.  Am.  1920,  November.)  Riem. 

Der  Ring  des  Saturn. 

Bekanntlich  bereitet  uns  in  diesen  Tagen  der 
Saturn  den  nur  alle  30  Jahre  wiederkehrenden 
Anblick,  daß  sein  Ring  in  eine  feine  Linie  aus- 
gezogen wird,  und  auf  wenige  Stunden  selbst  in 
großen  Fernrohren  verschwindet,  weil  wir  zurzeit 
gerade  auf  die  unbeleuchtete  Kante  sehen,  denn 
wir  gehen  durch  die  Ebene  des  Ringes.  Dieser 
Moment  ist  nach  den  Beobachtungen  von  Graff 
am  großen  6o-cmRefraktor  in  Hamburg  im  Laufe 
des  22.  Februar  eingetreten,  nachdem  dies  starke 
Instrument  am  18.  und  21.  Februar  keine  Spur 
der  feinen  Lichtlinie  mehr  zeigte,  während  am 
Abend  des  22.  der  Übergang  der  Erde  auf  die 
Sonnenseite  des  Ringes  schon  erfolgt  war.  Diese 
wichtige  Zeit  hat  nun  Meyermann  in  Göttingen 
benutzt,  am  dortigen  großen  Heliometer  den 
Planeten  zu  beobachten.  Am  22.  Februar  be- 
obachtete er  den  Ring  von  1 1  ^/j  Uhr  an,  und  sah 
ihn  um  12  Uhr  20  Min.  als  eine   feine  Lichtlinie, 


die  sich  auch  quer  über  den  Planeten  hinzog,  und 
zwar  in  einer  bisher  unbekannten  Weise.  Längs 
der  ganzen  Linie  schienen  feine  Pünktchen  aufzu- 
leuchten, wohl  infolge  einer  geringen  Unruhe  der 
Luft.  Am  23.  Februar  erschien  der  Strich  wieder 
in  der  gleichen  Weise,  und  die  Messung  ergab, 
daß  er  dem  doppelten  Ringdurchmesser  gleich- 
kam. Der  eigentliche  Ring  erschien  schon  als 
ein  heller  kräftiger  Strich,  deutlich  verschieden 
von  der  hellen  Linie,  und  diese  überragt  den  Ring 
nach  beiden  Seiten.  Am  24.  Februar  war  diese 
Erscheinung  ebenfalls  noch  wahrnehmbar,  später 
nicht  mehr.  Während  also  der  bekannte  Ring 
als  die  helle  Linie  mit  22  Sek.  Radius  erschien, 
war  die  längere  feine  Linie  ein  Außenring  mit 
etwa  40  Sek.  Radius,  und  der  Beobachter  meint, 
daß  er  aus  so  kleinen  und  weitläufig  verteilten 
Körperchen  besteht,  daß  er  sonst  nicht  wahrnehm- 
bar ist,  und  nun  sichtbar  wurde,  wo  wir  ihn  in- 
.  folge  der  Projektion  auf  eine  Linie  so  verstärkt 
sehen.  Es  ist  dies  eine  höchst  bedeutungsvolle 
und  für  die  Physik  des  Ringes  sehr  wichtige  Be- 
obachtung.    (Astr.  Nachr.  Nr.  5090.)        Riem. 

Spiralnebel  mit  auffallend  großen 
Geschwindigkeiten. 

Slip  her  stellte  solche  an  dem  großen  Nebu- 
larspektrographen  der  Lowell-Sternwarte  in  Ari- 
zona fest.  Der  Nebel  N.  G.  C.  584  von  der 
9,7  Größe  hat  einen  scharf  begrenzten  Kern  von 
spiraliger  Nebelmasse  umgeben.  Eine  Belichtung 
von  28  Stunden  in  den  Nächten  des  Januar  hat 
eine  so  starke  Verschiebung  der  Linien  ergeben, 
daß  nach  dem  Doppl ersehen  Prinzip  daraus 
eine  Bewegung  von  1800  km  in  der  Sekunde 
von  uns  weg  folgt.  Der  andere  Nebel  ist  eben- 
falls ein  Spiralnebel,  N.  G.  C.  936,  er  hat  einen 
deutlich  begrenzten  Kern,  und  sieht  im  ganzen 
etwa  aus  wie  Saturn  mit  wenig  geöffnetem  Ring, 
mit  etwa  85  Sek.  Durchmesser,  während  der 
ganze  Nebel  Durchmesser  von  2,5  und  3,5  Minuten 
hat.  Hier  hat  die  34 stündige  Belichtung  eine 
Verschiebung  der  Linien  gezeigt,  die  auf  eine 
Bewegung  von  1300  km  schließen  läßt,  ebenfalls 
von  der  Sonne  fortgerichtet.  Diese  beiden  Be- 
wegungen sind  ohne  Beispiel,  und  man  muß 
fragen,  ob  denn  hier  die  Linienverschiebung  in 
der  Tat  durch  das  Doppler  sehe  Prinzip  zu  er- 
erklären ist.  Wir  wissen,  daß  sonst  die  jüngsten 
Gebilde  am  Himmel  die  am  langsamsten  sich 
bewegenden  sind.  Ferner  hat  schon  Courvoi- 
sier  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  alle  diese 
Nebel  immer  große  und  von  der  Sonne  wegge- 
richtete Bewegungen  zeigen,  was  kosmogonisch  so 
unwahrscheinlich  ist,  daß  man  in  der  Tat  die 
Linienverschiebung  auf  andere  Weise  erklären 
muß,  durch  anomale  Dispersion  oder  durch  ioni- 
sierte Gase.  (Harvard  Coli.  Bull.  739  und  Lowell 
Obs.  Circ.  1921,  Januar  17.)  Riem. 


422 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


Bücherbesprechungen. 


Gebien,  H.,  Käfer  aus  der  Familie  der 
Tenebrionidae,  gesammelt  auf  der  „Ham- 
burger deutsch -südwestafrikanischen  Studien- 
reise 191 1".  168  Seiten  mit  2  Tafeln  und 
6  Kartenskizzen  sowie  69  Abbildungen  im  Text. 
Hamburgische  Universität.  Abhandlungen  aus 
dem  Gebiet  der  Auslandskunde  (Fortsetzung 
der  Abhandlungen  des  Hamburgischen  Kolonial- 
instituts) Band  5.  Reihe  C  Naturwissenschaften 
Band  2.  Hamburg  1920,  L.  Friederichsen  &  Co. 
36  M. 

Die  Arbeit  wendet  sich  in  erster  Linie  an  die 
Kreise  der  Entomologen  und  behandelt  die  im 
südwestafrikanischen  Faunengebiete  vorkommenden 
Tenebrioniden  oder  Schwarzkäfer,  eine  Gruppe, 
der  ja  auch  unser  allgemein  bekannter  Mehlkäfer 
(Tenebrio  molitor)  angehört.  Den  Laien  dürfte 
wohl  besonders  die  in  der  G  ebien sehen  Schrift 
geschilderte  Formenfülle  fesseln  und  wird  es 
interessieren  zu  erfahren,  daß  von  dieser  einen 
Käferfamilie  bis  jetzt  schon  nicht  weniger  als 
12000  verschiedene  Arten  beschrieben  worden 
sind.  Hochinteressant  sind  die  Mitteilungen,  die 
der  Verf.  über  die  Anpassungserscheinungen  macht, 
die  bei  vielen  der  besprochenen  Arten  zu  be- 
obachten waren.  So  zeigen  manche  der  auf 
hellem  Wüstensande  im  blendenden  Sonnenschein 
vorkommenden  „Schwarzkäfer"  ein  schneeweißes 
Aussehen,  andere  haben  Einrichtungen,  die  das 
Versinken  im  lockeren  Sande  verhindern  oder  das 
Austrocknen  in  der  brennenden  afrikanischen 
Sonnenglut  verhüten  sollen.  Auch  in  faunistischer 
Hinsicht  hat  sich  manches  interessante  ergeben, 
wie  überhaupt  die  Tenebrioniden  für  zoogeo- 
graphische Studien  sehr  geeignete  Objekte  sind. 
Der  Verf.  hat  für  seine  Untersuchungen  nicht  nur 
die  von  der  Hamburger  Studienreise  mitgebrachte 
Ausbeute  verwendet,  sondern  hat  auch  Material 
verschiedener  deutscher  Museen  zur  Verfügung 
gehabt.  Als  Mangel  muß  dagegen  bezeichnet 
werden,  daß  hierbei  die  großen  Schätze  des  Ber- 
liner Zoologischen  Museums  ganz  unbenutzt  ge- 
blieben sind.  Wären  auch  sie  mit  herangezogen 
worden,  so  würde  die  vorliegende  Studie  an 
wissenschaftlichem  Werte  wesentlich  gewonnen 
haben.  R.  Heymons. 

Friedrich  Li§mann,  Eine  Sammlung  seiner 

Werke.       6    Lieferungen     (Mappen)     mit     je 

12  Blatt.     Hanseatischer  Kunstverlag  Hamburg 

(Holstenplatz  2).     Preis    des    einzelnen    Blattes 

3  M.,   jeder    Mappe    25  M.      Einzelne  Mappen 

sind  nicht  käuflich,  auch  ist  eine  Erhöhung  des 

Preises   für   das   Gesamtwerk    nach   Erscheinen 

der  letzten  Mappe  vorgesehen. 

Es   ist   das  Lebenswerk  eines  talentvollen  der 

Kunst  allzufrüh  verloren  gegangenen  jungen  Malers, 

das  der  Öffentlichkeit  hiermit  zugänglich  gemacht 

wird.     Mitten   in  seiner  vollen  Schaffenskraft   ist 

Friedrich  Lißmann  durch  den  Krieg  heraus- 


gerissen worden  und  mußte  ihm  leider  auch  zum 
Opfer  fallen.  Im  Jahre  191 5  hat  er  noch  nicht 
35Jährig  den  Heldentod  erlitten.  Als  Mensch  wie 
als  Künstler  ist  Lißmann  seinen  eigenen  Weg 
gegangen.  Äußere  Anerkennungen  und  Ruhm 
waren  ihm  völlig  gleichgültig.  Um  so  mehr  zog 
ihn  die  Natur  an,  und  waren  ihm  die  Liebe  zur 
Tierwelt  und  ein  feinsinniges  künstlerisches  Emp- 
finden eigen.  In  unvergleichbarer  Weise  kommt 
dies  auch  in  seinen  Bildern  zum  Ausdruck  und 
gewährt  diesen  ihren  ganz  eigenartigen  Reiz. 
Wunderbar  ist  es  Lißmann  beispielsweise  ge- 
lungen, die  einsamen  von  Wasser-  und  Sumpf- 
vögeln bevölkerten  nordischen  Landschaften  in 
ihrem  schwermütigen  Charakter  wiederzugeben, 
oder  uns  die  großartigen  Naturschönheiten  Islands 
vor  Augen  zu  führen  oder  mit  staunenswerter 
Echtheit  Seepapageien  oder  anderes  Getier  mit 
ihrem  eigentümlichen  Gebahren  zur  Darstellung 
zu  bringen.  Die  Lebenswahrheit  und  die  natur- 
warme feine  künstlerische  Auffassung  sind  es,  die 
uns  überall  fesseln  und  die  in  trefflicher  Weise 
auch  in  den  nichtfarbigen  vom  Verlage  jetzt  heraus- 
gegebenen Reproduktionen  seiner  Werke  zum 
Ausdruck  kommen.  Kunstsinnige  Naturfreunde 
seien  daher  hiermit  auf  die  Sammlung  Lißmann 
aufmerksam  gemacht.  R.  Heymons. 


Fricke,  H.,  Der  Fehler  in  Einsteins  Rela- 
tivitätstheorie.    28   Seiten.     Wolfenbüttel 
1920,  Heckners  Verlag.    —    Geh.  5,10  M.  und 
Teuerungszuschlag. 
Derselbe,  Die  neue  Erklärung  der  Schwer- 
kraft.    24  Seiten.     Wolfenbüttel  1920,   Heck- 
ners Verlag.    —    Geh.  3,30  M.  und  Teuerungs- 
zuschlag. 
Verf.   sieht   den   Grundfehler   der  Einstein- 
sehen  Relativitätstheorie    darin,    daß   in    ihr   alle 
Körperbewegungen     ohne     Rücksicht     auf     das 
Zwischenmedium,  den  Äther,    untersucht  werden. 
Wenn    es   auch  richtig    ist,   daß  jede  Frage  nach 
dem  Mechanismus  eines  physikalischen  Vorgangs 
ohne  die  Einführung  eines  Zwischenmediums  uns 
gegenwärtig    unlösbar   erscheint,    so   übersieht    er 
jedoch,    daß    die    Relativitätstheorie    ihrer    Natur 
nach    auf   den  Mechanismus   der   von   ihr   zu  be- 
herrschenden Erscheinungen  überhaupt  nicht  ein- 
gehen muß.     Das  „Prinzip  von  der  Konstanz  der 
Vakuumlichtgeschwindigkeit"  glaubt  Verf  auf  ein 
völliges    Verkennen    der   Ergebnisse    der   Experi- 
mentalphysik   durch   Einstein   zurückführen   zu 
müssen.     Er   setzt   an   dessen  Stelle    ein  „Prinzip 
von   der  Konstanz   der   Zeit",   dessen   Sinn   dem 
Ref.  nicht  klar  geworden  ist. 

Wie  alle  Erscheinungen  an  bewegten  Körpern, 
insbesondere  die  wichtigen  Beobachtungen  von 
Fizeau,  Michelson  u.a.,  seiner  Meinung  nach 
ohne  jede  Schwierigkeit  auf  der  Grundlage  eines 
gewissen  Äthermechanismus  erklärbar  werden, 
sucht  Verf.  mit  der  Einführung  einer  eigenen  Vor- 


N.  F.  XX.  Nr.  28 


N  aturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


423 


Stellung  von  der  Konstitution  des  Schwerkraftfelds 
zu  zeigen.  Diese  Vorstellung  wird  in  der  an 
zweiter  Stelle  genannten  Schrift,  die  als  Auszug 
aus  einer  früher  veröffentlichten  umfassenderen 
Darstellung  erscheint,  näher  dargelegt.  Die 
Schwerkraftlinien  werden  als  Strömungslinien  des 
Äthers  angesehen,  die  den  Massen  Energie  zu- 
führen, welche  teilweise  in  einer  Erwärmung,  teil- 
weise in  der  Energie  der  fortschreitenden  Be- 
wegung der  Gesamtmasse  sich  wiederfinden   soll. 

A.  Becker. 

Dacquö,  Edgar,  Geologie II  (Stratigraphie). 

Sammlung  Göschen,   Vereinig,   wiss.   Verleger. 

56  Abb.,  7  Tafeln.  Berlin  Leipzig  1920. 
Dem  letzthin  hier  angezeigten  ersten  Bändchen 
ist  das  zweite  schnell  gefolgt.  Es  ist  durch  gleiche 
Zuverlässigkeit  und  Gediegenheit  ausgezeichnet. 
Nicht  auf  einen  vorübergehenden  Eindruck  auf 
bloße  „Leser"  ist  abgestellt,  sondern  auf  nach- 
haltige Beeinflussung  Derer,  die  inneren  Anteil 
am  Stoffe  zu  nehmen  beabsichtigen.  Fertige  oder 
vermeintliche  Ergebnisse  des  derzeitigen  Wissens- 
standes treten  zurück  gegenüber  bleibenden  Me- 
thoden. An  Beispielen  wird  ihre  Anwendung 
erläutert.  Das  ganze  Bändchen  zielt  auf  das  ideale 
Endziel  des  wahren  Lehrers  hin :  sich  selbst  beim 
Schüler  überflüssig  zu  machen. 

Den  Gesteinsablagerungen,  der  historischen 
Folge  geologischer  Ereignisse,  den  einzelnen  Zeit- 
altern einschließlich  der  ältesten  noch  versteine- 
rungslosen sind  die  vier  Hauptabschnitte  gewidmet. 
Die  eingebürgerten  Bezeichnungen  werden  zum 
Schluß  in  ihrer  Bedeutung  erklärt.  Auch  von 
den  Illustrationen  kann  in  jeder  Hinsicht  Gutes 
gesagt  werden.  Die  Fossiltafeln  sind  nach  den 
Abbildungen  des  bewährten  Zitt eischen  Lehr- 
buchs zusammengestellt.  E.  Hennig. 

Eckstein,  K.,  Die  Schmetterlinge  Deutsch- 
lands   mit    besonderer    Berücksichti- 
gung ihrer  Biologie.     3.  Band.     Spezieller 
Teil,    Fortsetzung.     3.  Die   eulenartigen  Falter. 
96  Seiten  mit  16  Farbendrucktafeln.     Schriften 
des    Deutschen    Lehrervereins    für    Naturkunde 
35.  Band.     Stuttgart  1920,  K.  G.  Lutz.     15  M. 
Den  bisher  erschienenen  Bänden  des  Schmetter- 
lingswerks,   in    denen    die   Tagfalter,    Schwärmer 
und  Spinner  behandelt  wurden,  reiht  sich  der  vor- 
liegende dritte  Band  über  die  Eulenschmetterlinge 
würdig   an.      Die  Farbentafeln,    auf  denen   außer 


den  Faltern  auch  jedesmal  die  zugehörigen  Raupen 
und  zum  Teil  auch  noch  die  Puppen  unserer  ein- 
heimischen Eulen  dargestellt  sind,  können  als 
trefflich  gelungen  bezeichnet  werden.  Der  Text 
ist  mit  Sorgfalt  bearbeitet.  Bei  jeder  Art  findet 
sich  neben  der  wissenschaftlichen  Benennung  auch 
ein  deutscher  Name  angegeben,  ebenso  sind  kurze 
Angaben  über  die  Lebensweise  oder  über  sonstige 
Eigentümlichkeiten  beigefügt.  Möge  das  Buch, 
dessen  Anschaffung  durch  den  billigen  Preis  er- 
leichtert wird,  eine  weite  Verbreitung  finden  und 
dazu  beitragen,  daß  auch  in  der  gegenwärtigen 
trüben  Zeit  die  Freude  am  Sammeln  und  Be- 
obachten unserer  heimischen  Schmetterlinge  nicht 
erlischt.  R.  Heymons. 

Reicheno w, Prof. Dr.  Anton,  DieKennzeichen 
der  Vögel  Deutschlands.     Schlüssel  zum 
Bestimmen,  deutsche  und  wissenschaftliche  Be- 
nennungen,   geographische    Verbreitung,    Brut- 
und   Zugzeiten  der    deutschen  Vögel.     Zweite, 
zeitgemäß  umgearbeitete  Auflage.     8*.     158  S. 
81  Abbildungen.    Neudamm,  J.  Neumann.    Geb. 
13  M.,  geh.  10  M.  und  Teuerungszuschlag. 
Das    bekannte,    bei    aller    Kürze    sehr    exakt 
durchgearbeitete    Büchlein    Reichenows    wird 
auch  in  dieser  zweiten  Auflage,    die  in  manchem 
Punkte    ergänzt   ist,   sich    alle    die    zu    Freunden 
machen,  denen  es  um  genaue  faunistische  Angaben 
und    um    genaue   Kenntnis   der   unterscheidenden 
Organisationsmerkmale    der   in  Deutschland  stän- 
dig oder  gelegentlich  beobachteten  Vögel  zu  tun 
ist.  V.  Franz,  Jena. 


Leick,  A.  und  W.,  Physikalische  Tabellen. 
Zweite,  neubearbeitete  Auflage.  96  S.  Samm- 
lung Göschen  1920. 
Das  vorliegende  handliche  Bändchen  enthält 
eine  kurze  tabellarische  Zusammenstellung  ausge- 
wählter mathematischer,  astronomischer,  geophysi- 
kalischer und  namentlich  physikalischer  Zahlen- 
werte, die  vornehmlich  Lehrer  und  Studierende 
zu  rascher  Orientierung  gern  zur  Hand  haben 
werden.  Die  nicht  behandelte  Frage  nach  der 
Genauigkeit  der  mitgeteilten  Beobachtungswerte 
wird  beim  Schulgebrauch  im  allgemeinen  zurück- 
treten. Immerhin  ist  es  zu  begrüßen,  daß  die 
Verf.  einige  Literatur  angeben,  aus  der  im  Be- 
darfsfall nähere  Einzelheiten  zu  entnehmen  wären. 

A.  Becker. 


Anregungen  und  Antworten. 


Allerletzter  Nachtrag  zu  meinen  „historischen  Bemerkun- 
gen über  die  Singzikaden".  —  Wenn  ich  nach  Jahren  aber- 
mals auf  dasselbe  bereits  in  der  ,,Naturw.  Wochenschr."  und 
in  der  „Leopoldina"  behandelte  Thema  zurückkomme ,  so 
bitte  ich  das  damit  erklären  zu  wollen,  daß  mir  seit  Jahr- 
zehnten zum  ersten  Male  Goethes  „Italienische  Reise"  wieder 
in  die  Hand  fällt  und  mich  durch  ihre  ewige  Jugend,  die 
diesem  Werke  und   seinem  Verfasser   beschieden    ist,    erfreut. 


Ich  stoße  da  auf  die  von  mir  in  der  „Leopoldina"  (Heft  LIII, 
Nr.  17,  Sept.  1917,  S.  80)  nach  meinem  Jenaer  Kollegen  V. 
Franz  zitierten  Worte,  zu  denen  Goethe  bei  seinem  Eintritt 
ins  südliche  Tirol  veranlaßt  wird  und  die  ich  bei  meiner  Nieder- 


')  Goethes  Werke,  14.  Band,  S.  360  ff. ,  herausgeg. 
von  Karl  Heinemann.  Leipzig  und  Wien,  Bibliographi- 
sches Institut. 


424 


bJaturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.'XX.  Nr.  28 


Schrift  nicht  im  Zusammenhange  mit  dem  Originale  nachgelesen 
hatte.  Dabei  gewinne  ich  die  feste  Überzeugung:  wie  ich  mit 
meiner  Behauptung ,  die  mich  seinerzeit  zur  Veröffentlichung 
der  „Bemerkungen  über  die  Singzikaden"  veranlaßt  hat, 
Goethe  habe  in  den  bekannten  Worten  Mephistos  im  „Prolog 
im  Himmel"  (Faust)  versehentlich  von  Zikaden  statt  von 
Heuschrecken  gesprochen,  im  Recht  zu  sein  beharre,  so  kann 
ich  mit  genau  dem  gleichen,  völlig  zweifellosen  Rechte  be- 
haupten, unser  Reisender  habe  bei  seinem  Erlebnisse  nicht  daran 
gedacht,  von  Zikaden,  sondern  von  H  euschreck  en,  wie 
er  sie  nennt,  zu  berichten.  Man  höre,  wie  seine  Worte  lauten : 
,,Das  Glocken-  und  Schellengeläute  der  Heuschrecken  ist  aller- 
liebst, durchdringend  und  nicht  unangenehm;  lustig  klingt  es, 
wenn  mutwillige  Buben  mit  einem  Feld  solcher  Sängerinnen  um 
die  Wette  pfeifen  ;  man  bildet  sich  ein,  daß  sie  einander  wirklich 
steigern.  Auch  der  Abend  ist  vollkommen  milde  wie  der 
Tag." 

Ich  habe  damals,  ohne,  wie  gesagt,  im  Originale  nach- 
zulesen und  im  Zusammenhange  mit  Franzs  Schilderung, 
keinen  Zweifel  haben  können,  daß  er  hier  die  ,, Heuschrecken" 
Goethes  für  Zikaden  angesehen  hat,  und  hinzugefügt  ,,dann 
sehe  ich  darin,  daß  er  [Goethe]  ganz  im  Banne  der  südlichen 
Sonne  stand  und  in  schönen  Tönen  das  noch  schönere  Italien 
vorausempfand,  daß  er  mit  einem  Worte  mit  den  Sinnes- 
organen des  berauschten  Jünglings  empfand  und  Größeres 
seiner  Zukunft  ahnte".  Jetzt,  wo  ich  die  Schilderung  unseres 
Dichters  selbst  nachlese,  sehe  ich,  daß  er  gar  nicht  daran 
denkt,  Zikaden  zu  hören,  sondern  eben  wirklich  das,  was  er 
nennt:  Heus  ci recken  und  zwar  Laubheuschrecken,  die 
auch  bei  uns  zu  Lande  ganz  besonders  bei  Eintritt  des  Abends 
und  in  der  Nacht,  sofern  es  Männchen  sind,  dem  stummen 
anderen  Geschlechte  Gelegenheit  bieten,  sich  den  Sängern  ,,in 
die  Arme"  zu  werfen.  Für  den  Laien  muß  ich  hinzufügen: 
Goethe  reiste  im  Herbste  (im  September),  wo  Zikaden  nicht 
mehr  lärmen,  was  sie  überhaupt  nur  beim  heißesten  Sonnen- 
schein") bei  Tage  tun,  während  die  Heuschrecken  im 
Frühjahre  aus  den  Eiern  schlüpfen  und  die  längste  Zeit  ihres 
Daseins  als  Larven  sich  die  nötigen  Vegetabilien  suchen,  mit 
denen  sie  sich  ernähren  und  die  sie  dem  geschlechtsreifen 
Zustande  zuführen.  Ihre  durch  Reibung  der  einen  Flügel- 
decke auf  der  anderen  über  ein  ,, Schrillfeld"  erzeugten 
Töne  haben  einen  durchaus  nicht  unangenehmen  Klang, 
sofern  er  den  Menschen  nicht  etwa  im  Schlafe  stört,  wie 
das  in  ganz  ähnlicher  Weise  erzeugte  Zirpen  des  nahe  ver- 
wandten Heimchens,  in  dessen  Nähe  ich  nicht  am  heimischen 
Herde  sitzen  möchte!   Doch  das  sind  Geschmackssachen,  über 


*)  Der  Italiener  hat  ein  Sprichwort,  aus  dem  die  Zeit 
des  „Zikadengesanges"  leicht  zu  entnehmen  ist,  ein  Wort,  das 
beiläufig  bemerkt,  nicht  ganz  ohne  sexuellen  Beigeschmack 
ist,  den  aber  nur  der  ,, Kenner"  versteht,  namentlich  auch 
der  Kenner  eines  an  äquivalen  Worten  so  unglaublich  reichen 
Dialekts,  wie  es  der  des  neapolitanischen  Volkes  ist.  Das 
diätetische  Sprichwort  lautet  „Quando  canta  la  ciga,  s'attacchi 
al  vino  e  lasci  la  —  fica",  zu  deutsch :  ,,wenn  die  Zikade 
singt,  nämlich  in  den  Monaten  Juni ,  Juli  und  August,  halte 
dich  an  den  Wein  und  laß  ab  von  der  Feige".  Im  Deutschen 
hat  man  einen  ähnlichen  Ratschlag,  der  aber  wohl  nur  durch 
mündliche  Überlieferung  bekannt  ist. 


die  sich  bekanntlich  nicht  streiten  läßt.  Genug,  es  genügt 
für  unsere  Zwecke,  daß  Goethe  Zikaden  nicht  gemeint 
hati     Q.  e.  d.  Q.  Taschenberg. 

Woher  stammt  der  Name  Keppernickel  ?  Zum  volkstüm- 
lichen Namen  „Keppernickel",'  (Naturw.  Wochenschr.  XX, 
Nr.  12,  S.  191)  für  Bärwurz  (Meum  athamanticum)  liest  man 
in  Carus  Sterne,  Herbst-  und  Winterblumen:  „Die  mit 
einem  dichten  braunen  Haarschopf  gekrönte,  wie  ein  Borsten- 
pinsel aussehende,  und  wie  Angelika  oder  Liebstöckel  duftende 
Wurzel  wurde  früher  bei  Frauenkrankheiten  angewandt  und 
deshalb  Mutterwurz  oder  einfach  Muttern  genannt."  Bärwurz 
bedeutet  also  Gebärwurz.  „Gebär"  wandelte  der  Volks- 
münd  in  ,,Keber"  oder  auch  „Kepper".  So  nennt  man  auch 
im  hiesigen  Orte  die  Schlüsselblume  (Primula  elatior)  ,,Kälber- 
glöckel";  der  Name  ist  aus  „gelbe  Glöckchen"  entstanden. 
Noch  ein  weiteres  Beispiel  hierzu:  Die  Wallfahrtskirche  auf 
der  „Kahlen  Höhe"  beim  Dorfe  Reichstädt  i.  Erzgeb.  nannte 
das  Volk  „Gallikirche".  Die  Kirche  war  aber  nicht,  wie 
manche  vermuteten,  dem  heil.  Gallus  geweiht,  sondern  sie 
hieß  eigentlich  „Kahl'-Hieh'-Kirche",  daraus  entstand  „Galli- 
kirche". Hier  ist  k  in  g,  in  den  beiden  vorher  genannten 
Fällen  aber  g  in  k  gewandelt  worden.  —  Nickel,  d.  i.  Racker, 
nannte  das  Volk  den  Keppernickel ,  darin  stimme  auch  ich 
Kiengel  zu,  weil  Meum  athamanticum  eine  wertlose  Futter- 
pflanze ist  im  Gegensatze  zur  Alpenbärwurz  (Meum  Mutellina), 
einer  weniger  stark  duftenden  und  schmeckenden  Abart.  „Diese 
soll  als  Weidekraut  besonders  zur  Güte  der  Alpenmilch  bei- 
tragen, und  auch  die  Gemsen  fressen  sie  mit  Vorliebe;  auch 
sollen  die  im  Mittelalter  als  Arzneimittel  hochberühmten 
„deutschen  Bezoar-  oder  Gemskugeln"  (Aegogropilae) ,  die 
man  im  Magen  der  Gemsen  findet,  nach  Martins  wesentlich 
aus  den  zusammengeballten  unverdaulichen  Schopffasern  der 
Bärwurzel  bestehen." 

Obl.  Zimmermann,  Pretzschendorf  i.  Sa. 


Literatur. 

Rein  dl,  Dr.  Josef,  Bayerische  Landeskunde.  (Samm- 
lung Göschen.)  Berlin  '21,  Vereinigung  wissenschaftlicher 
Verleger.     4,20  M. 

Schnirer,  Dr.  M.  T.,  Taschenbuch  der  Therapie.  Leip- 
zig '21,    Curt  Kabitzsch.     22,50  M. 

Mcintosh,  William  Carmichael,  The  Resources 
of  the  Sea.     Cambridge   '21,  The  University  Preß.     35   M. 

Günther,  Hanns,  Wellentelegraphie.  Stuttgart  '21, 
Franckhsche  Verlagsbuchhandlung.     6,60  M. 

Bley,  Fritz,  Von  nordischem  Urwilde.  Leipzig  '21, 
Voigtländers  Verlag. 

Berg  er,  Prof.  Dr.  Hans,  Psychophysiologie  in   12  Vor-  ■ 
lesungen.     Jena  '21,  Gustav  Fischer.      12  M. 

Dietrich,  Dr.  Walther,  Einführung  in  die  physika- 
lische Chemie  für  Biochemiker,  Mediziner,  Pharmazeuten  und 
Naturwissenschaftler.  Mit  6  Abbildungen.  Berlin  '21,  Julius 
Springer.     20  M. 

Well,  Arthur,  Die  innere  Sekretion.  Eine  Einführung 
für  Studierende  und  Ärzte.  Mit  35  Textabbildungen.  Berlin '21, 
Julius  Springer.     28  M. 


Inhalt:  A.  Eichinger,  Die  Entstehung  von  Roterden  und  Laterit.  S.  409.  E.  Stromer,  Die  Rückbildung  der  Hüft- 
beine bei  Seekühen.  (11  Abb.)  S.  411.  H.  Gams,  Zur  Ameisengeographie  von  Mitteleuropa.  S.  414.  —  Binzel- 
berichte:  E.  Fischer,  Das  Variieren  der  morphologischen  und  physiologischen  Merkmale  der  Menschen.  S.  416. 
A.  Schulz,  Ein  vergessener  Botaniker  des  16.  Jahrhunderts.  S.  417.  K.  Spangenberg,  Eine  einfache  Vorrichtung 
zur  Darstellung  von  beliebigen  Kristallstrukturmodellen.  S.  418.  Klaatsch,  Die  Entstehung  der  artikulierten  Sprache. 
S.  418.  Leupold,  Beziehungen  zwischen  Nebennieren  und  Keimdrüsen.  S.  419.  St.  John,  Keine  Bestätigung  der 
Relativitätstheorie.  S.  420.  Abbot,  Die  Helligkeitsänderungen  der  Sonne.  S.  420.  Meyermann,  Der  Ring  des  Saturn. 
S.  421.  Slipher,  Spiralnebel  mit  auffallend  großen  Geschwindigkeiten.  S.  421.  —  Bücherbesprechungen:  H.  Ce- 
fa ien,  Käfer  aus  der  Familie  der  Tenebrionidae.  S.  422.  Fr.  Lißmann,  Eine  Sammlung  seiner  Werke.  S.  422. 
H.  Fricke,  Der  Fehler  in  Einsteins  Relativitätstheorie.  Die  neue  Erklärung  der  Schwerkraft.  S.  422.  Ed.  Dacque, 
Geologie  II  (Stratigraphie).  S.  423.  K.  Eckstein,  Die  Schmetterlinge  Deutschlands  mit  besonderer  Berücksichtigung 
ihrer  Biologie.  S.  423.  A.  Reichenow,  Die  Kennzeichen  der  Vögel  Deutschlands.-  S.  423.  A.  und  W.  Leick, 
Physikalische  Tabellen.  S.  423.  —  Anregungen  und  Antworten:  Allerletzter  Nachtrag  zu  meinen  „historischen  Be- 
merkungen über  die  Singzikaden".  S.  423,     Woher  stammt  der  Name  Keppernickel?  S.  424.  —  Literatur:  Liste.  S.  424. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Guatav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganxen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  17.  Juli  1921. 


Nummer  29. 


Wilhelm  Ostwalds  Forschungen  zur  Farbenlehre. 
II.  Farbuovmen,  Farbeuvereine ;  der  Farbentag  in  München. 

Von  Hans  Heller. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit  4  Abbildungen. 


Die  neue  psychologische  Grundlegung  der 
Farbenlehre  durch  W.  Ostwald')  ergab  als 
natürliche  Ordnung  der  reinen  oder  Voll- 
farben  den  Farbkreis.  Er  besteht  aus  100 
Stufen,  die  von  Zitronengelb  ausgehend  über  Kreß, 
Rot,  Veil,  Ublau,  Eisblau,  Seegrün,  Laubgrün  nach 
Gelb  zurückkehrend  eine  geschlossene  Folge  dar- 
stellen, innerhalb  deren  zwei  benachbarte  Farb- 
töne den  für  das  normale  Auge  noch  eben  er- 
kennbaren Unterschied  besitzen.^)  Der  Farben- 
kreis stellt  die  wissenschaftliche  Grundlage  dar, 
auf  die  eine  jede  künftige  messende  Farbbe- 
zeichnung sich  zu  beziehen  haben  wird.  Die 
praktische  Verwendung  gemessener  Farben, 
wie  sie  in  der  Webindustrie  und  vielen  anderen 
Zweigen  des  mit  Farben  in  Berührung  kommen- 
den Gewerbes  in  Frage  kommt,  bedarf  der  feinen 
und  mannigfaltigen  Hundertteilung  jedoch  nicht. 
Für  sie  kommt  es  darauf  an,  aus  der  Fülle  der 
möglichen  Farben,  von  der  der  Farbenatlas  (I)*) 
eine  Vorstellung  verschafft,  eine  begrenzte  Anzahl 
der  gebräuchlichsten  Töne  und  ihrer  Abkömm- 
linge herauszuheben  und  für  den  allgemeinen  Ge- 
brauch bereitzuhalten.  Auch  der  Unterricht  in 
der  neuen  Lehre  erfordert  eine  Einschränkung 
des  Kreises,  um  zumal  den  jugendlichen  Schüler 
nicht  durch  Unübersichtlichkeit  der  Farbenfülle  zu 
verwirren  und  ihm  damit  die  Lust  zum  Farben- 
studium zu  nehmen.  Aus  solchen  Erwägungen 
heraus  erwuchs  die  Forderung,  die  Farben  zu 
normen,  d.  h.  ihrer  täglichen  Verwendung  ein 
abgekürztes  Schema  von  gemessenen  und  leicht 
wiederzugebenden  Tönen  zugrunde  zu  legen.  Ganz 
ähnlich,  wie  es  die  meisten  Industrien,  besonders 
nach  dem  Kriege,  mit  ihren  häufigst  gebrauchten 
Erzeugnissen  zu  tun  begonnen  haben;  es  sei  an 
die  Normung  von  Gewinden,  Glasgeräten  usw. 
erinnert. 

Für  die  Normung  der  Farben  kommen  zu- 
nächst die  dem  Beschauer  ohne  weiteres  in  die 
Augen  fallenden  Hauptfarben  des  hundertteiligen 
Kreises  in  Betracht.  Es  sind  deren  acht,  die 
oben  bei  der  kurzen  Kennzeichnung  des  Kreises 
bereits    genannt  worden  sind.     Sie    sind    die  sich 


')  Vgl.  den  ersten  Aufsatz  vom  Verf.,  Naturw.  Wochenschr. 
N.  F.,  XIX,  S.   129,   1920. 

*)  KreßOrange,  Veil- Violelt.  Die  Einwendungen  von 
Seitz{XVII)  gegen  diesen  guten  deutschen  Namen  sind  nicht 
stichhaltig. 

')  Die  römischen  Ziffern  verweisen  auf  die  Literatur- 
zusammenstellung. 


zunächst  anbietende  Grundlage  einer  Normung. 
Aber  sie  reichen  offenbar  nicht  aus,  da  die  „Sprünge" 
zwischen  ihnen  zu  groß  sind.  Ostwald  macht 
darum  eine  Unterteilung  in  je  3  Stufen,  so  daß 
man  erhält  ein  erstes,  zweites,  drittes  Gelb  und 
so  fort.  Er  ergeben  sich  mithin  3  X  8  :=  24  Stufen 
(Abb.  i).  Diese  sind  die  Stufen  des  genormten 
Farbenkreises,  also  die  Grundlage  der  praktischen 

Selb 


Seegrün 


Eisblau 


Kress 


Rot 


Ublau'-^^^^t^- ■^Veil 
Abb.   I.     Der  24  teilige  Farbkreis. 

Farbkunde.  Hier  ergibt  sich  nun  eine  erste  Un- 
ebenheit in  der  Farbnormung  überhaupt.  Der 
hundertteilige  wird  auf  einen  24 teiligen  Kreis 
eingeschränkt,  aber  beide  Zahlen  stehen  nicht  im 
Verhältnis  eines  einfachen,  geraden  Vielfachen  zu- 
einander. Drückt  man  die  24  Stufen  in  den  da- 
zugehörigen Ziffern  des  großen  Kreises  aus,  so 
sind  mithin  die  jeweiligen  Unterschiede  (rein 
zahlenmäßig I)  nicht  gleich,  wie  aus  der  folgen- 
den Tabelle  zu  ersehen  ist. 

Es   entsprechen   den  24  Stufen   die   folgenden 
24  Farbtöne  des  hundertteiligen  Kreises: 

L       IL      III.  I.        II.      III. 


Gelb 

00 

04 

08 

Ubläu 

50 

S4 

58 

Kreß 

1.3 

17 

21 

Eisblau 

63 

67 

71 

Rot 

25 

29 

.33 

Seegrün 

7S 

79 

83 

Veil 

38 

42 

46 

Laubgrün 

88 

92 

96 

Den  genormten  Farbenkreis  dieses  Aussehens 
findet  man  bildlich  dargestellt,  allerdings  in  durch 
die  mangelhafte  Drucktechnik  bedingter  unvoll- 
kommener Weise,  z.  B.  in  der  „Einführung"  (II), 
sowie  in  der  „Farbenlehre"  von  v.  Bezold- 
S  e  i  t  z  (XVII).  Es  ist  zu  beachten,  daß  dieser  ge- 
normte Kreis  nur  Voll  färben   enthält.     Durch 


426 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XX.  Nr. 


die  mannigfache  Teilmöglichkeit  von  24  dürfte  er 
in  der  Tat  die  beste  Grundlage  der  Farbnormung 
darstellen,  auch  deshalb,  weil  er  sich  zwanglos  an 
die  vier  Grundempfindungen  der  Farbe  im  Sinne 
der  Theorie  von  Hering  anschließt.  Wenn  darum 
T  r  i  1 1  i  c  h  (IX)  das  an  sich  doch  geringfügige  Miß- 
verhältnis 24:100  (s.  o.)  als  „Vergewaltigung"  be- 
zeichnet, so  muß  dieser  sonst  einsichtige  Kritiker 
gefragt  werden,  in  welcher  Weise  eine  Normung, 
deren  Wünschbarkeit  und  Notwendigkeit  nicht 
bestritten  wird,  denn  anders  vorgenommen  wer- 
den kann  (vgl.  XX). 

Nun  besteht  jeder  farbige  Aufstrich  außer  aus 
der  reinen  Farbe  aus  einem  Anteil  Weiß  und 
Schwarz.  Jeder  dieser  beiden  Anteile  kann 
innerhalb  bestimmter  Grenzen  die  beliebigsten 
Werte  annehmen.  Beide  mischen  sich  psycho- 
logisch zum  neutralen  Grau.  Es  sind  mithin 
von  jedem  reinen  Farbton  des  24  teiligen  Kreises 
die  folgenden  Gruppen  von  Abkömmlingen  mög- 
lich: I.  die  Mischungen  des  reinen  Farbtons  mit 
Weiß,  die  hellklaren  Farben,  2.  die  Mischungen 
der  Vollfarbe  mit  Schwarz,  die  dunkelklaren 
Farben,  endlich  3.  die  Mischungen  der  Vollfarbe 
mit  neutralem  Grau,  die  t  r  ü  b  e  n  Farben.  Graphisch 
stellt  sich  die  Gesamtheit  dieser  Abkömmlinge 
eines  gegebenen  Farbtons  dar  in  einem  gleich- 
seitigen Dreieck,  an  dessen  Ecken  Vollfarbe,  Weiß 
und  Schwarz  stehen  (Abb.  2).  Die  nächste  Forde- 
rung der  Farbnormung  ist  damit  gegeben.  Es 
handelt  sich  einfach  daruiji,  die  Mannigfaltigkeit 
der  neutralen  Grau  töne  innerhalb  der  Grenzen 
Schwarz  und  Weiß  einzuschränken. 


Abb.  2.     Farbtongleiches  Dreieck. 

Der  Leitgedanke,  nach  dem  dies  zu  geschehen 
hat,  ist  ein  wenig  anders  als  für  die  bunten  Farben. 
Diese  sind  geordnet  nach  dem  unmittelbaren 
psychischen  Eindruck,  der  (wenigstens  bei  nor- 
maler Beleuchtung  und  mit  hier  nicht  in  Betracht 
kommenden  geringfügigen  Ausnahmen)  einzig 
durch  den  Ton  bestimmt  ist,  da  sich  ihm  ja 
keine  weitere  Komponente  beigesellt.  Anders  bei 
den  unbunten  Farben.  Sie  liegen  graphisch  auf 
einer  Geraden,  an  deren  Enden  das  reine  Weiß 
einer-,  das  reine  Schwarz  anderseits  stehen.  Be- 
kanntlich besteht  nun  die  Tatsache,  daß  wir 
zwischen  beiden  Grenzen  nicht  unendlich  viele, 
sondern  nur  eine  begrenzte  Zahl  von  Stufen  zu 
unterscheiden  vermögen,  deren  Größe  man  als 
„Schwellenwert"  in  der  Psychologie  oft  behandelt 
hat.  Und  zwar  ist  für  unser  Empfinden  ein 
gleicher  Abstand  jener  Stufen  innerhalb  der  Grau- 


reihe dann  vorhanden,  wenn  der  Quotient  der 
jeweiligen  Weiß-  und  Schwarzanteile  der  gleiche 
ist.  Eine  für  unser  Empfinden  gleichabständige 
oder  arithmetische  Reihe  der  unbunten  Farben 
liegt  also  dann  vor,  wenn  die  Weißanteile  im 
geometrischen  Verhältnis  sich  verändern,  d.  h. 
so,  daß  der  Quotient  je  zweier  aufeinander  folgen- 
der Glieder  der  Reihe  derselbe  ist.  Diese  Be- 
ziehung bildet  nur  einen  Sonderfall  des  Weber- 
Fee  h  n  e  r  sehen  Gesetzes.  Will  man  die  unbunten 
Farben  also  normen,  so  hat  man  eine  geometrisch 
gestufte  Teilung  der  sie  symbolisierenden  Geraden 
vorzunehmen.  Dies  ist  in  Abb.  3  veranschaulicht, 
deren  Bedeutung  man  ohne  weiteres  erkennt.^) 
Die  geometrischen  Mittelwerte   der   auf  der   hier 


W  ( 


3  00 


Abb.  3.     Psychisch  gleichabständige  Graureihe. 

abgebildeten  Geraden  abgeschnittenen  Stücke  sind 
mit  Buchstaben  bezeichnet.  Diese  stellen  die 
für  unser  Auge  gleichabständigen  Grau- 
werte ziffernmäßig  dar;  beispielsweise  ist  a  ein 
Grau  mit  89  Weiß,  also  mit  li  Schwarz,  wenn 
100  =  absolutem  Weiß  angenommen  wird.  Nun 
zeigt  sich,  daß  man  in  der  Praxis  nicht  die  in 
der  Abbildung  ausgedrückten  engen  Graustufen 
benötigt,  sondern  auch  auskommt,  wenn  die  je- 
weils zweit  folgende  Stufe  ausgelassen  wird. 
Die  alsdann  verbleibende  Graureihe  liegt  den  ge- 
normten Grau  zugrunde.  Ostwald  bricht  sie 
willkürlich  bei  /  ab,  obwohl  diese  Stufe  mit  3,6 
Weiß  und  96,4  Schwarz  offensichtlich  noch  nicht 
das  absolute  Schwarz  darstellt.  Dies  geschieht 
wiederum  aus  der  praktischen  Erfahrung  heraus, 
daß  alle  bekannten  und  gemessenen  schwarzen 
Pigmente  einen  gewissen  Weißanteil  enthalten. 
Ja,  schon  die  Stufe  p  wird  nicht  eben  oft  erreicht. 
Doch  macht  andererseits  Krüger  (X)  darauf  auf- 
merksam, daß  für  die  bildende  Kunst  die  /i-Stufe 
eine  Beschränkung  darstelle,  die  gelegentlich  über- 
schritten werde.  Ich  lasse  das  dahingestellt.  Für 
unser  Thema  ergibt  sich  jedenfalls  aus  der  Normung 
der  Graureihe  eine  Folge  von  8  für  das  Empfinden 
gleichabständigen  Stufen.  Wie  haben  wir  die  ge- 
normten Grau  den  reinen  Farben  zuzuordnen? 
Diese  letzte  Aufgabe  der  Normung  erledigt  sich 
fast  von  selbst. 

Wir  tragen  im  farbtongleichen  Dreieck  (Abb.  4) 
auf  der  Seite  SW,  die  ja  die  unbunte  Graureihe 
symbolisiert,  die  Folge  der  soeben  gewonnenen 
8  Graunormen  acegilnp  ab  und  ziehen  durch 
die  erhaltenen  Punkte  zu  RS  und  RW  die  Paral- 
lelen. Dann  stellen  die  gewonnenen  rautenför- 
migen Felder  die  Gesamtheit  der  (genormten) 
Abkömmlinge  eines  Farbtons  dar.  Längs  RW 
liegen  die  (optischen)  Mischungen  des  reinen 
Tons  mit  Weiß,  die  hellklaren  Farben,    längs  RS 

*)  Bildliche  Wiedergaben  einer  Graureihe  siehe  z.  B. 
in  II.  „Grauleitern"  mit  den  8  unbunten  Normen  sind  auch 
käuflich  zu  haben. 


N.  F.  XX.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


427 


die  dunkelklaren  Farben,  inmitten  befinden  sich 
die  trüben  Farben.  Bricht  man  mit  Ostwald 
die  Graureihe  mit  /  ab,  so  gewinnt  man  mithin 
von  jedem  reinen  Ton  des  24tei!igen  Farbkreises 
28  Abkömmlinge.  Wenn  man  schließlich  sämt- 
lich 24  farbtongleichen  Dreiecke  so  anordnet,  daß 
ihre  SW-Seiten  zusammenfallen,  ihre  Flächen  aber 
strahlenförmig  nach  den  verschiedenen  Richtungen 
im  Raum  auseinanderlaufen  derart,  daß  die  Voll- 
farben sich  kreisförmig  um  die  Schwarz  -  Weiß- 
Achse  ordnen,  so  hat  man  den  genormten 
Farbkörper,  der  der  Veröffentlichung  Ost- 
walds  zugrunde  liegt,  mit  insgesamt  680  Farben 


Abb.  4.     Genormtes  farbtongleiches  Dreieck. 

Nun  ist  noch  zu  erörtern,  wie  die  Bezeichnung 
der  genormten  Abkömmlinge  jedes  Farbtons 
zu  geschehen  hat.   Zweckmäßig  so,  daß  man  der 
Farbtonnummer    den    Buchstaben    des   jeweiligen 
Graugehalts  anfügt.     Nach   dem  von  Beginn  der 
neuen  Lehre  an  befolgten  Grundsatz  ist  die  Reihen- 
folge im  Namen  der  drei  Farbkomponenten :  Voll- 
farbe, Weiß-;  Schwarzgehalt,  R  +  W  +  S  (vgl.  »)). 
Demgemäß  enthalten  die  genormten  Farben  zwei" 
Ziffern  für  den  Farbton,  einen  Buchstaben  für  den 
Anteil    an    Weiß,    einen    für    den    Schwarzanteil. 
Für  Hellklaren  würden  Ziffer  und  ein  Buchstabe 
ausreichen,  da   ein  Schwarzanteil  ja   fehlt.     Doch 
ist   Ostwalds   Vorschlag    bequemer   und    deut- 
licher,   auch    hier    den  Buchstaben    des  Schwarz- 
anteils  zu   nennen.     Das  Zeichen  16  ga   nämlich 
läßt  sofort  erkennen,  daß  wir  es  mit  einer  Farbe 
des  geringsten  Schwarzgehaltes,  also  mit  einer 
hellklaren    Farbe    zu    tun    haben.     So    bekommt 
demnach  jede  genormte  Farbe  an  Stelle   der  für 
den  100  teiligen  Kreis  gebräuchlichen  „Kennzahl" 
em  „Farbzeichen"  aus  zwei  Ziffern   und  zwei 
Buchstaben.     Diese  Farbzeichen  sind  in  das  Drei- 
eck der  Abbildung   eingefügt.     Über  seinen  Sinn 
wird  man    sich    sofort    klar,    wenn    man    sich  die 
ihm  zugrunde    gelegte  Bezifferung    der   Grauleiter 
nochmals  vorstellt.     Hier  ist  a  ein  Grau  mit  dem 
höchsten    Weiß,   also   mit   dem   geringsten 
Schwarz.     Mit   dem   alphabetischen  Fortschreiten 
also  nimmt  Weiß  ab,  Schwarz  zu.     Hohem  Weiß 
entspricht    unter    allen  Umständen    ein    niedriges 
Schwarz,  dessen  Betrag   nie  über   die  Ergänzung 
des  Weißanteils    zu  100   gehen    kann.     Im  Farb- 
zeichen    muß     mithin     der     dem    Schwarz    ent- 
sprechende   Buchstabe    immer    kleiner,    d.  h.    im 


Alphabet  dem  ersten  voranstehend  sein.  ^)     Farb- 
zeichen   mit    In    sind    nicht  möglich.     Endlich  ist 
für  die  Kenner   bzw.  Benutzer   der  früheren  Ver- 
öffentlichungen   Ostwalds    darauf    aufmerksam 
zu  machen,  daß  die  Farbzeichen   des   Atlas  mit 
denen  der  genormten  Farben  nicht  übereinstimmen, 
da    jene   ein    Gebiet,    diese    einen    bestimmten 
Wert  ausdrücken.     Bedauerlicherweise   ist   auch 
die  Herstellung  des  Farbkörpers  unter  etwas 
anderen  als  den  hier  mitgeteilten  Voraussetzungen 
erfolgt,    so    daß  die  Normen   hier  und  dort  nicht 
völlig  übereinstimmen  (vgl.  IV).   Völlig  im  Sinne 
dieser  neuen  Normen  sind  dagegen  alle  mit  einer 
entsprechenden     Bezeichnung     versehenen     Ver- 
öffentlichungen  der  Energie  werke  G.m.b.H., 
Groß-Bothen,  zurzeit  die  einzige  Stelle,  die  unter 
ständiger  Aufsicht   Ostwalds   alle  ihre  Erzeug- 
nisse  den  Normen   so  genau  anpaßt,  als   es   nur 
irgend   möglich  ist.     Von   den   zahlreichen  Lehr- 
und   Lernmitteln   sei   u.  a.   genannt   eine    Anzahl 
sog.  „Farborgeln",  die  eine  Sammlung  genormter 
Farbstoffe  bzw.  Tünchen  in  Pulvern  und  Wasser- 
tünchen darstellen. 

Die  Vorteile,    die    eine   durchgängige  Anwen- 
dung  der   quantitativen  Farbbezeichnung  für  alle 
mit  der  Erzeugung  farbiger  Gegenstände  beschäf- 
tigten  Industriezweige    mit   sich    bringen    würde, 
brauchen    nicht    geschildert   zu    werden.     Es  ver- 
hält sich  damit  ähnlich  wie  mit  genormten  Gegen- 
ständen der  Eisen-,  Glas-,   Holzbearbeitungs-  und 
Bauindustrie.      Vielleicht    nicht   jede    Fabrik    als 
solche,  aber  doch  die  Gesamtheit,  ganz  sicher  aber 
die   Verbraucher   der   genormten  Erzeugnisse 
werden  bald  der  vielfältigen  Segnungen  jener  ver- 
meintlichen  Einschränkung  inne.     Vor  allem 
für  uns  Deutsche  muß  zudem  immer    wieder  be- 
tont werden,    daß    wir    uns    den    Luxus   aller  be- 
liebigen Willkürlichkeiten  in  unseren  Erzeugnissen 
jetzt  nicht  mehr  gestatten  dürfen!  Je  schlichter 
und  übersichtlicher  wir  das  Heer  unserer  farbigen 
Erzeugnisse  gestalten,  auf  je  weniger  reine  Farb- 
töne   bekannten    Gehaltes    wir    uns    beschränken, 
um  so  größer  ist  notwendigerweise  die  Ersparnis 
an  kostbarer  Zeit  und  Materialien,  die  heute  durch 
langwieriges    Ausmustern,   Probefärben   usw.   ver- 
loren  gehen   (vgl.  VII,    S.  39).      Möchten    unsere 
Farbenhersteller  solcherlei  Gesichtspunkte  anstelle 
des    Bestrebens,   ständig   „aparte    Neuheiten"    auf 
den  Markt  zu  bringen,  walten  lassen. 

Etwas  anderes  kommt  hinzu.  Mit  Hilfe  der 
genormten  gemessenen  Farben  glaubt  Ostwald 
eine  wissenschaftlich  begründete  Harmonie- 
lehre der  Farben  aufstellen  zu  können,  in  ähn- 
licher Weise  wie  dies  H  e  1  m  h  o  1 1  z  für  die  musi- 
kalischen Harmonien  gelungen  ist  (V).  Kaum  ein 
Teil  der  Ostwald  sehen  Lehre,  hat  derart  häufige 
und  hartnäckige  Angriffe  erfahren  wie  dieser  erste 
Versuch    einer    rationell    begründeten    Farbenhar- 


»)  Demgemäfl  ist  ein  Beispiel  wie  17  ai  falsch,  das  sich 
in  einer  Besprechung  in  der  „Tägl.  Kundschau"  40,  Nr.  244 
1920,  vorfindet.  ^^ 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  29 


monik  (vgl.  z.  B.  XVIII).  Der  Verf.  muß  auf  Grund 
seiner  Kenntnis  der  Forschungen  Ost  walds,  auf 
Grund  eigener  iVIessungen  und  nach  Kenntnis- 
nahme der  gegnerischen  Abhandlungen  allerdings 
bekennen,  daß  wohl  selten  über  ein  Thema  derart 
aneinander  vorbeigeredet  wird  wie  hier.  Es  liegt 
außerhalb  des  Rahmens  dieser  Zeitschrift,  diese 
Auffassung  näher  zu  begründen.  Das  Wesentliche 
ergibt  sich  aus  dem  Folgenden  ohnehin. 

Betrachtet  man  den  24  teiligen  Kreis  der  Voll- 
farben, so  ist  ohne  weiteres  gegeben,  daß  ihm  die 
grundsätzlich  gleichen  Symmetrieverhältnisse  inne- 
wohnen wie  dem  loo teiligen  Kreis.  Für  diesen 
war  nun  schon  in  den  ersten  Abhandlungen  be- 
merkt worden,  daß  er  in  die  beiden  Hauptgruppen 
der  „warmen"  und  „kalten"  Farben  geschieden 
werden  kann,  eine  Erkenntnis,  die  sich  jedem 
einigermaßen  Sachverständigen  aufdrängt,  ohne 
daß  eine  Willkür  oder  Absicht  das  Empfinden 
dabei  etwa  täuschte.  Ein  gleich  unmittelbarer 
Gefühlswert  wohnt  nun  aber  auch  gewissen  Zu- 
sammenstellungen einzelner  Farben  des  Kreises 
inne.  Und  zwar  sind  es  Zusammenstellungen 
solcher  Vollfarben ,  die  im  Kreise  gleich- 
abständig  liegen;  insbesondere  empfinden  wir 
sehr  viele  Gegenfarben  als  „zueinander  pas- 
send" (VI).  Allerdings  muß  streng  darauf  ge- 
achtet werden,  daß  man  solchen  Beziehungen  die 
richtige  Grundlage  gibt:  nicht  jeder  beliebige 
Farbenkreis  weist  die  soeben  beschriebenen  Ver- 
hältnisse auf,  sondern  eben  nur  der  auf  exak- 
ter iVIessung  beruhende  (genormte)  Kreis. 
Wir  wollen  die  Ursachen  der  so  sich  gewisser- 
maßen selbsttätig  einstellenden  „harmonischen" 
Empfindungen  unerörtert  lassen;  genug,  daß  über- 
haupt gewisse  Farbenzusammenstellungen  als  be- 
sonders „angenehm"  festzustellen  sind.  Aber  wir 
dürfen  nunmehr  auch  umgekehrt  schließen,  daß, 
wenn  wir  zueinander  passende  Vollfarben  suchen, 
wir  sie  am  sichersten  und  leichtesten  dann 
finden  werden,  wenn  wir  gleichabständig  gelegene 
Stufen  des  genormten  Kreises  auswählen.  Nie- 
mand, der  VoUfarbenharmonien  sucht,  ist  durch 
das  Bestehen  eines  genormten  Kreises  ver- 
pflichtet, seine  Bemühungen  dadurch  abzu- 
kürzen, aber  andererseits  sollte  es  niemandem 
verwehrt  sein,  sich  jenes  gewissermaßen  mecha- 
nischen Mittels  zu  bedienen.  Durch  die  Nicht- 
anerkennung dieses  dem  Außenstehenden  beinahe 
selbstverständlichen  Satzes  seitens  vieler  Künstler 
ist  der  O st wald sehen  Farbenharmonielehre  das 
erste  und  gewichtigste  Hindernis  erwachsen.  An 
dieser  Stelle  kann  naturgemäß  nicht  Partei  er- 
griffen werden,  da  der  Leser  das  Beweismittel  der 
Farben  selbst  nicht  vorgeführt  bekommt,  und  es 
muß  zu  diesem  Zweck  auf  die  einschlägigen  Ver- 
öffentlichungen (III,  I)  verwiesen  werden.  Nur  sei 
berichtet,  daß  auf  Grund  des  vor  allem  bei  der 
Farbentagung  in  München  (31.  Jan.  bis  2.  Febr. 
1921)  aufgetretenen  Widerspruchs  solcher  Leute, 
die  „Harmonien"  lieber  intuitiv  schaffen  mögen, 
Ost  wald  den  Ausdruck  „Farbenharmonien"  auf- 


gegeben hat  und  statt  dessen  den  Begriff  „Farben- 
verein"  einführte.  Und  es  gilt  nun  im  allge- 
meinen die  Beziehung,  daß  Farbenvereine  eine 
harmonische  Wirkung  ausüben.  Damit  ist  nicht 
gesagt,  daß  nur  solche  Harmonien  ästhetisch 
wertvoll  seien;  wie  in  der  Musik  arbeitet  man 
auch  in  der  Malerei  zuweilen  mit  bewußt  emp- 
fundenen Disharmonien,  die  dennoch  durchaus 
ästhetisch  zu  wirken  vermögen. 

Bisher  handelte  es  sich  nur  um  vollfarbige, 
also  bunte  Farbenvereine.  Die  hierfür  gültigen 
Betrachtungen  lassen  sich  jedoch  auch  auf  die 
Gesamtheit  aller  anderen  Farben  übertragen.  Für 
die  unbunten  Farbenvereine  benötigt  man 
natürlich  drei  Stufen  zur  einfachsten  Harmonie, 
die  wiederum  gleich  sein  müssen.  Also  beispiels- 
weise cg  l  (vgl.  Abb.  2).  Um  Farbenvereine  unter 
den  trüben  Farben  herauszuheben ,  betrachte 
man  das  farbtongleiche  Dreieck.  Hier  enthalten 
die  in  Richtung  RW  liegenden  Felderreihen  den 
gleichen  Anteil  an  Schwarz,  wir  heißen  sie  darum 
auch  die  Schwarzgleichen,  die  RS  parallelen 
Felderreihen  stellen  dementsprechend  die  Weiß - 
gleichen  dar,  und  die  parallel  WS  liegenden  Felder- 
reihen besitzen  den  gleichen  Gehalt  an  reiner 
Vollfarbe ,  es  sind  die  Reingleichen,  oder, 
da  in  ihnen  allen  der  gleiche  bunte  Farbtonanteil 
von  wechselnden  Mengen  Grau  getrübt  oder  be- 
schattet ist,  so  kann  man  sie  auch  Schatten - 
reihen  nennen.  Farbtongleiche  Vereine  liegen 
nun  in  allen  gleichabständigen  Abkömmlingen 
jeder  der  drei  Arten  von  Reihen  vor,  z.  B.  inner- 
halb der  weißgleichen  pReihe:  pa,  pg,  pn.  In 
der  mit  ca  beginnenden  Reingleichen:  ca,  g e,  li, 
pn.  Aber  auch  schon  die  nichtgeteilte  Reihe 
wirkt  infolge  der  gleichmäßigen  Veränderung 
„harmonisch",  wie  am  einfachsten  aus  dem  Be- 
trachten einer  Graureihe  oder  Grauleiter  hervor- 
geht. 

Nun  gewährleistet  einzig  und  allein  die  Farben- 
messung  eine  eindeutige  und  immer  wiederhol- 
bare Kennzeichnung  irgendeines  Farbtons.  Und 
die  (an  dieser  Stelle  allerdings  nicht  demonstrier- 
bare) Erfahrung  lehrt,  daß  die  auf  Grund  der 
Messung  bzw.  Normung  zu  gewinnenden  Farben- 
vereine von  besonderem  ästhetischen  Wert  sind. 
Es  ist  darum  nur  zu  verständlich,  daß  Ost  wald 
von  seinen  Ergebnissen  reiche  Befruchtung  auch 
der  Kunst  erhofft,  nicht  im  Sinne  einer  Be- 
kehrung derjenigen  Maler,  bei  denen  neben  der 
Farbe  die  F"orm  ein  wesentlicher  Bestandteil 
ihrer  Werke  ist.  Vielmehr  in  der  Richtung  einer 
reinen  Farbkunst,  die  nur  Farben,  farbige 
Harmonien  und  zeitlich  aufeinander  folgende 
Farbeindrücke  zum  Mittel  ästhetischer  Genüsse 
nimmt.  In  den  Erzeugnissen  der  farbenfrohesten 
Expressionisten  sieht  er  Vorläufer  jener  „reinen 
Farbkunst".  Sie  liegt  außerhalb  des  Rahmens 
dieser  Betrachtung.  H.  L.  Stoltenberg  hat 
ihr  eine  besondere  Schrift  gewidmet  (VIII).  — 

Werfen  wir  zum  Schluß  noch  einen  Blick  auf 
die  praktische  Wirkung  und  den  Ausbau  der  Ost- 


N.  F.  XX.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


429 


w aidschen  Forschungen  und  Lehren.  Ihre  viel-, 
seitige  Anwendbarkeit  zeigt  eine  große  Anzahl  inT^ 
Fachzeitschriften  erschienener  Aufsätze,  von  denen 
am  Schluß  eine  Zusammenstellung  gegeben  wird. 
Der  Verbreitung  der  Lehre  dienen  die  Farben- 
tagungen, deren  bereits  in  mehreren  Groß- 
städten abgehalten  wurden.  Hervorzuheben  ist 
davon  die  Tagung  in  München,  da  bei  ihr  die 
meisten  Angriffe  gegen  die  Lehre  geschahen,  die 
zur  Klärung  der  Sachlage  wesentlich  beitrugen  (VII). 
Viele  Einwürfe  trafen  nicht  das  Wesen  der 
Sache.  Dies  ist  und  bleibt  die  Messung  der 
Farbe  I  Will  man  aber  die  quantitativen  Ergeb- 
nisse solcher  Messung  demonstrieren,  so  ist 
eine  Abbildung  gemessener  Farben  nötig.  Nun 
sind  eine  große  Anzahl  gerade  der  reinsten,  also 
grundlegenden  Farben  z.  Z.  n  u  r  durch  Aufstriche 
von  Teerfarbstoffen  abzubilden.  Die  aber 
sind  nicht  sehr  lichtecht.  Die  Künstlerschaft  be- 
ansprucht aber  mit  Recht  nur  echtes,  beständiges 
Material.  Darum  jedoch  die  pädagogisch  heut 
einfach  unersetzlichen  und  nötigen  Teerfarbstoffe 
abzulehnen  und  damit  die  Lehre  ihres  Ausdrucks- 
mittels zu  berauben,  ist  anmaßlich  und  mir  nicht 
verständlich.  Man  scheide  grundsätzlich  zwischen 
Kunst  1er  färben  und  Lehr  färben,  rechne  den 
ersten  nur  echte  Tünchen,  den  zweiten  auch 
minderbeständige  Materialien  zu,  so  ist  bei  doch 
leicht  nachzuprüfender  Gewissenhaftigkeit  der  Farb- 
stoffindustrie ein  ernsthaftes  Mißverständnis 
so  gut  wie  ausgeschlossen.  —  Auch  die  Harmo- 
nien mag  der  Künstler  auf  sich  beruhen  lassen. 
Das  ist  kein  Grund,  daß  die  Industrie  sich  ihrer 
nicht  mit  Vorteil  bediene,  wie  das  Beispiel  der 
Meißner  Porzellanmanufaktur  beweist.  Bei  dieser 
Gelegenheit  sei  übrigens  betont,  daß  Ostwald 
einen  inhaltlichen  Vergleich  von  Färb-  und 
akustischen  Harmonien  sehr  richtig  ablehnt;  sind 
sie  doch  in  der  Tat  wesensverschieden.")  — 
Endlich  ist  gegenüber  manchen  Seiten  zu  be- 
merken, daß  die  Einführung  der  Farbenlehre  in 
den  Schulunterricht  schon  heut  möglich  ist,  wenn 
man  sich  auf  den  Vortrag  eines  abgekürzten 
Systems  beschränken  würde.  Ein  solches  erläutert 
Ostwald  selbst  (IV,  6);  es  würde  sich  aufbauen 
auf  die  genormte  Graureihe  aein.  Eine  Er- 
leichterung und  Verbilligung  bedeutet  es  auch, 
daß  man  bunte  Farben  nach  einem  sehr  eigen- 
artigen Gedanken  Ostwalds  mit  jedem  Schreib- 
material stenographieren  kann  (IV,  7).  Es 
wird  hierbei  jeder  der  8  Hauptfarben  des  Farb- 
kreises eine  besondere  Strichlage  zugeordnet, 
ähnlich  wie  es  in  der  Wappenkunde  schon  üblich 

")  Trillich  (IX,  S.  78)  kritisiert  also  etwas,  was  Ost- 
wald selbst  entschieden  ablehnt.  Auch  die  kürzlich  von 
O. Hartmann  im  „Kosmos"  mitgeteilten  Beziehungen  zwischen 
Farben  und  Tönen  müssen  lediglich  als  feuilletonistische  Be- 
merkungen bewertet  werden. 


ist.  Die  Deutsche  Tusche  wird  uns  in  ge- 
wissen Grenzen  von  den  teuern  und  oft  sogar 
minder  guten  Erzeugnissen  des  Auslandes  unab- 
hängig machen. 

Ich  fasse  mich  dahin  zusammen:  der  heutige 
Stand  der  Farbenlehre  erlaubt  ihre  allgemeine  An- 
wendung in  industrieller  und  zum  Teil  auch  in 
künstlerischer  Absicht,  sowie  in  gewissen  Grenzen 
im  Schulunterricht.  Aus  volkswirtschaftlichen 
Gründen  ist  die  Normung  aller  Farbstoffe  der  In- 
dustrie notwendig,  der  des  Künstlers  er- 
wünscht. Es  bleibt  die  Aufgabe  der  wissen- 
schaftlichen Forschung,  die  Theorie  des  Farben- 
sehens überhaupt,  die  der  Kontrasterscheinungen 
im  besonderen  zu  erkennen.  Aufgabe  der  Farb- 
stoffindustrie ist  die  Auffindung  und  Herstellung 
von  Stoffen  größter  Reinheit  bei  größtmöglicher 
Beständigkeit.  Als  Mittelstelle  dieser  vielfältigen 
Arbeit  hat  bis  auf  weiteres  die  Werk  st  eile  für 
Farbkunde  in  Dresden  zu  gelten  (XII). 

Literatur. 

I.  W.  Ostwald,  Der  Farbenatlas.  2500  Farben  auf  103 
Tafeln.     Leipzig   19 18. 

II.  —  — ,  Einführung  in  die  Farbenlehre.  Leipzig  1920. 
Reclam. 

lü.  —  — ,  Der  Farbkörper.  12  Tafeln  mit  Text.  Leip- 
zig  1919. 

IV. ,    Die  Farbe.      Sammelschrift    für    alle    Zweige 

der  Farbkunde.     Leipzig.     Nr.  8,   1921. 

V.  —  — ,  Die  Harmonie  der  F'arben.  2./3.  gänzlich  um- 
gearbeitete Auflage.     Leipzig   1921. 

VI. ,    Welche    Farben    passen    zueinander?     Textil- 

ber.   über  Wissensch.,    Industrie    u.  Handel,   I,    S.  256,    1920. 

VII.  Farbentagung  in  München.  Bayerisches  Industrie- 
u.  Gewerbeblatt,   1921,  S.  32,  41. 

VIII.  Stoltenberg,  Reine  Farbkunst  in  Kaum  und  Zeit. 
Leipzig   1920.     (Erwägung  „bunter  Filmfarbspiele"  u.  ä.) 

IX.  H.  Trillich,  Farbenlehre  und  Farben-Normung. 
Zeitschr.  f.  öpfentl.  Chemie,  27,  S.  75,   1921. 

X.  F.  A.  O.  Krüger,  Farbnormen  in  der  Praxis.  Die 
Farbe,  Nr.  2,  1921. 

XI.  W.  Ostwald,  Zur  Dreifarbenfärberei.  Monatsschr. 
f.  Textilind.,  35,  S.   109,    1920. 

XII.  —  — ,  Die  Werkslelle  für  Farbkunde.  4.  Aufl. 
Leipzig   1920. 

XIII.  —  — ,  Die  neue  Farbenlehre  und  ihre  praktische 
Anwendung.  Verhandl.  d.  Ver.  z.  Beförderg.  d.  Gewerbe- 
fleifies,   1920,  S.   132. 

XIV.  P.  Krais,  O.s  Farbenlehre  in  der  Textilindustrie. 
Textilforschung,  2,  S.  87,   1920. 

XV.  R.  Hünlich,  Anwendung  der  Farbenlehre  in  der 
Weberei.     Monatsschr.  f.  Textilind.,  25,  S.  29,   1920. 

XVI.  R.  Fischer,  Die  O.sche  Farbenlehre  und  die  Buch- 
und  Steindruckfarbenfabrikation.  Zeitschr.  f.  angew.  Chemie, 
33,  I,  S.  299,   1920. 

XVII.  V.  Bezold-Seitz,  Die  Farbenlehre  im  Hinblick 
■auf  Kunst  und  Kunstgewerbe.     Braunschweig   1921. 

XVIII.  Ctitz,  Gibt  es  für  den  Künstler  verbindliche  Ge- 
setze der  Farbenwahl?  Deutsche  Kunst  u.  Dekoration.  XXIV, 
S.  335,  1921. 

XIX.  Georg  Gach,  Die  Farbenlehre  von  W.  Ostwald 
in  der  Färberei.  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Textilindustrie  1920, 
S.  296;   1921,  S.  3,   138,   148. 

XX.  H.  Heller,  Farbenlehre  und  Farbennormung.  Zeit- 
schrift f.  öffcntl.  Chemie,  27,  S.  112,  1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Äther  und  Relativitätstheorie. 

Von  Gerd  Nickel. 


Mit  4  Abbildungen  im  Text. 
Einstein    auf  Grund    seiner      keren  Bewegungsänderung  der  näher  am  Energie- 


[Nachdruck  verboten. 1 

Bekanntlich  ist 
Relativitätstheorie  zu  der  Auffassung  gelangt,  daß 
der  Äther  als  Träger  der  Licht-  usw.  -Ausbreitung 
abzulehnen  sei.  Im  Folgenden  möchte  ich  nun 
ganz  kurz  zeigen,  daß  es  auch  bei  Annahme  des 
Äthers  möglich  ist,  verschiedene  wichtige  Ergeb- 
nisse der  Relativitätstheorie  und  noch  anderes 
darüber  hinaus  zu  erklären. 

Nach  der  bekannten  Vorstellung  nehme  ich 
an,  daß  der  Äther  existiert  als  ein  äußerst  dünner, 
kontinuierlicher  unzerreißbarer  Stoff  von  sehr 
großer,  aber  endlicher  Elastizität.  Weiter  setze 
ich  voraus,  daß  in  diesem  Äther,  den  ich  mir 
unseren  ganzen  Raum  zunächst  gleichmäßig  er- 
füllend denke,  Trägheit  besitzende  Energiezentren 
vorhanden  sind,  deren  Energie  sich  darin  äußert,  daß 
sie  die  Fähigkeit  haben,  den  Äther  um  sich  her- 
um zu  verdichten.  Diese  Energiezentren  identi- 
fiziere ich  mit  den  „Elektronen".  Ein  Elektron 
ist  also  weiter  nichts  als  eine  Verdichtung  des 
;\thers. 


Zentrum  liegenden  Ätherteile.  Bewegt  sich  das 
Energiezentrum  aber  mit  größerer  Geschwindig- 
keit, so  erreicht  die  Bewegungsänderung  des 
Äthers  in  einem  viel  größeren  Raum  um  das 
Energiezentrum  einen  merkbaren  Betrag  und  diese 
bedeutend  größere  jetzt  in  Bewegung  befindliche 
Äthermenge  macht  nun  die  Masse  des  Elektrons 
aus,'  d.  h.  die  Masse  des  Elektrons  wächst  mit 
seiner  Geschwindigkeit. 

Ich  betrachte  nun  die  Bewegung  eines  Äther- 
punktes a  (Abb.  3)  bei  langsamer  Annäherung  eines 
Energiezentrums  e.  Der  Ätherpunkt  a  möge  seine 
Ruhelage  bei  i  haben,  wenn  sich  das  Energiezentrum 
e  im  Unendlichen  befindet.  Ist  e  bis  2'  gekom- 
men, so  wird  a  etwa  bis  2  gekommen  sein  usw. 
Ist  schließlich  e  bis  f  gekommen,  so  ist  a  bis  in 
die  allernächste  Nähe  von  e  gerückt,  entsprechend 
der  Elastizität  des  Äthers,  denn  in  e  herrscht  ja 
immer  die  ganz  bestimmte  Ätherdichte  des  Elek- 
trons. Analog  ist  die  Bewegung  von  a  bei  Ent- 
fernung von  e.  Im  ganzen  wird  a  also  eine  ge- 
schlossene Kurve  beschreiben. 


Abb.  I.  Abb.  2. 

e  ^  Energiezentrum  Graphische  Darstellung  der  ,\ther- 
und  Mittelpunkt  des  dichte  in  der  Umgebung  eines 
Elektrons  und  Punkt  Energiezentrums, 

größler  Ätherdichte. 
Die  Kreise  sind  Linien 
gleicher  Ätherdichte 
um  e  (ruhendes  Elek- 
tron). 


Wenn  sich  nun  ein  Elektron  bewegt,  geschieht 
das  dadurch,  daß  das  Energiezentrum  fortschreitet, 
während  der  Äther,  der  das  Elektron  bildet,  fort- 
während wechselt.  Bei  der  Bewegung  eines  Elek- 
trons ist  der  Vorgang  also  der,  daß  der  Äther 
von  allen  Seiten  herbeiströmt  zum  ankommenden 
Energiezentrum  —  denn  um  dasselbe  herrscht  ja 
immer  die  spezifische  Ätherdichte  des  Elektrons 
—  und  wenn  das  Energiezentrum  vorüber  ist, 
wieder  fortströmt. 

Ein  ruhendes  —  oder  besser  ein  unendlich 
langsam  sich  bewegendes  Elektron  —  hat  dann, 
da  wir  die  Masse  ja  durch  eine  Bewegungsände- 
rung messen,  nur  die  Masse  der  in  nächster  Nach- 
barschaft des  Energiezentrums  liegenden  Äther- 
menge, weil  die  Bewegungsänderung  der  entfernter 
liegenden  Teile  zu  gering  ist,  um  einen  meßbaren 
Beitrag  zu  liefern  gegenüber  der   bedeutend  stär- 


Abb.  3. 


Nehmen  wir  nun  an,  daß  e  mit  größerer 
Geschwindigkeit  als  vorher  vorübereilt,  so  wird  a 
nicht  mehr  dieselbe  Kurve  beschreiben,  sondern, 
infolge  der  endlichen  Elastizität  des  Äthers  eine 
flachere  Kurve,  etwa  die  gestrichelte.  Ist  nun  die 
Geschwindigkeit  von  e  noch  größer,  so  wird 
schließlich  bei  einer  bestimmten,  von  der  Elasti- 
zität des  Äthers  abhängigen  Geschwindigkeit  das 
Teilchen  a  nur  noch  in  einer  geraden  Linie  senk- 
recht zur  Fortbewegungsrichtung  von  e  schwingen. 

Denke  ich  mir  nun  die  Geschwindigkeit  von 
e  noch  größer,  so  wird  a  —  infolge  der  end- 
lichen Elastizität  des  Äthers  —  in  der  Zeit,  die  e 
vom  Unendlichen  bis  7'  braucht,  gar  nicht  mehr 
bis  7  gelangen  können,  sondern  nur  etwa  bis  zum 
Punkte  P  kommen,  d.  h.  die  zur  Bildung  eines 
Elektrons  nötige  Äthermenge  wird  nicht  in  7  zu- 
sammenkommen, es  wird  also  in  7  kein  Elektron 
vorhanden  sein.  Für  die  Bewegung  eines  Elek- 
trons wird  es  also  eine  ganz  bestimmte  Grenz- 
geschwindigkeit geben,  das  ist  eben  die  Licht- 
geschwindigkeit   c.        Die     Lichtgeschwindigkeit 


N.  F.  XX.  Nr.  29 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


43« 


selbst  ist  bestimmt  durch  die  endliche  Elastizität 
des  Äthers. 

Nach  unserer  Annahme  ist  ein  Elektron  — 
negative  elektrische  Ladung  —  weiter  nichts  als 
eine  durch  ein  Energiezentrum  hervorgerufene 
Verdichtung  des  Äthers.  Denken  wir  uns  nun 
ein  Elektron  in  einem  sehr  kleinen  Kreise  rotie- 
rend mit  sehr  großer  Geschwindigkeit,  so  ist  in- 
folge der  dauernden  Schwingung  des  Äthers  im 
Mittelpunkt  des  Kreises  der  Äther  ständig  weniger 
dicht  als  normal  —  wir  wollen  das  im  Gegensatz 
zur  Atherverdichtung  eine  Ätherverdünnung  nennen. 
Wenn  wir  oben  gesehen  haben,  daß  sich  uns  eine 
Ätherverdichtung  als  negative  Elektrizität  bemerk- 
bar gemacht  hat,  wird  uns  jetzt  die  Ätherver- 
dünnung als  positive  elektrische  Ladung  entgegen- 
treten. Ein  Elektron  war  ohne  merkliche  Masse 
vorstellbar,  weil  wir  es  uns  unendlich  langsam 
bewegt  denken  konnten.  Das  Bestehen  einer 
Ätherverdünnung  ist  aber  nur  möglich,  wenn  um 
sie  herum  eine  bestimmte  größere  Äthermenge, 
angeregt  durch  ein  oder  mehrere  kreisende  Elek- 
tronen, sich  in  schwingender  Bewegung  befindet. 
Diese  ganze  in  Bewegung  befindliche  Äthermenge 
wird  nun  als  Masse  der  Ätherverdünnung  in  Er- 
scheinung treten. 

Wir  haben  eben  zwei  Eigenschaften  einer 
Ätherverdünnung  festgestellt,  nämlich  das  Be- 
haftetsein mit  einer  positiven  elektrischen  La- 
dung und  einer  gegen  ein  ruhendes  Elektron 
sehr  großen  Masse.  Dies  aber  sind  zwei  bedeut- 
same Eigenschaften  eines  Atomkerns.  Daraus 
leiten  wir  die  Berechtigung  her,  unsere  Äther- 
verdünnung als  Atomkern  zu  identifizieren.  Je 
mehr  Elektronen  kreisen,  desto  stärker  wird  die 
Ätherverdünnung  —  d.  h.  die  positive  Ladung 
des  Kerns  —  und  desto  größer  ist  die  an  der 
Schwingung  teilnehmende  Äthermenge  —  d.  h. 
die  Masse  des  Atomkerns.  Aus  diesen  Betrach- 
tungen folgen  ohne  weiteres  die  bekannten  Er- 
gebnisse der  Atomphysik,  wie  die  elektrische 
Neutralität  der  Atome  und  die  Zunahme  der 
Masse  mit  der  Ordnungszahl. 

Doch  wir  wollen  die  in  Kreisbahnen  schwin- 
genden Elektronen  noch  eingehender  betrachten. 
Wir  nehmen  den  Atomkern  als  ruhend  an,  und 
der  einfacheren  Betrachtung  halber  nur  ein 
schwingendes  Elektron  —  das  wäre  also  ein 
Wasserstoffatom.  Das  Elektron  kehrt  dann  nach 
einer  Schwingung  wieder  auf  seinen  ursprüng- 
lichen Platz  zurück.  Infolgedessen  wird  jedes 
Ätherteilchen  in  der  Nähe  des  Elektrons  gleich- 
artige periodische  Schwingungen  ausführen.  An 
den  Umkehrpunkten  der  Schwingung  ist  die  Be- 
wegungsgröße jedes  Ätherteilchens  am  geringsten 
und  die  Richtung  der  Bewegung  senkrecht  zum 
Radius  der  Elektronenbahn  im  Drehungssinn  des 
Elektrons.  Auch  ist  an  diesen  Umkehrpunkten 
die  durchschnittliche  Ätherdichte  am  größten. 
Der  geometrische  Ort  für  alle  Umkehrpunkte  mit 
größter  Ätherdichte  ist  ein  Kreis,  in  derselben 
Ebene   und   konzentrisch   mit  dem  Rotationskreis 


des  Elektrons.  Wenn  nun  noch  ein  anderes 
Elektron  um  den  Atomkern  kreist,  dann  kann  es 
infolge  der  eben  betrachteten  Bewegungszustände 
des  x-'ithers  nur  in  der  Bahn  E  —  wo  schon  das 
erste  Elektron  kreist  —  oder  in  der  Bahn  Q  der 
Abb.  4  sich  bewegen.  Das  bedeutet  aber,  daß  die 
Elektronen  nicht  in  beliebigen  Entfernungen  um 
den  Atomkern  kreisen  können,  sondern  daß  ihre 
Bahnen  ganz  bestimmte  Radien  haben,  deren  Größe 
abhängig  ist  von  der  Anzahl  und  Geschwindigkeit 
der  kreisenden  Elektronen  und  der  Elastizität  des 
Äthers  (Plancksche  Quantenbahnen).  Je  mehr 
Elektronen  kreisen,  desto  kleiner  werden  natürlich 
die  Schwingungen  des  Äthers,  d.  h.  desto  geringer 
die  Abstände  der  Quantenbahnen. 


Abb.  4. 

K  =  Atomkern.     E  ^  Bahn  des  Elektrons. 

S  =  Schwingungen  des  Äthers. 

W  =  Wendepunkte  der  Schwingung  eines  Älherteilchens. 

Q  =  2.  Quantenbahn. 


Aus  unserer  Betrachtung  folgt,  daß  um  jeden 
Atomkern  herum  in  dauernder,  durchschnittlich 
zum  Atomkern  radialer  Richtung  Atherschwingun- 
gen  bestehen.  Ist  ein  zweiter  Atomkern  in  der 
Nähe,  so  werden  sich  die  Schwingungen  beider 
zusammensetzen.  Ein  Gleichgewicht  zwischen 
ihnen  wird  aber  erst  dann  vorhanden  sein,  wenn 
sich  die  Schwingungen  konzentrisch  zusammen- 
setzen. Das  kann  aber  nur  möglich  sein,  wenn 
die  Atomkerne  zusammenfallen.  Die  Atome  wer- 
den also,  um  das  Gleichgewicht  ihrer  Schwingun- 
gen herzustellen,  aufeinander  zustreben,  d.  h.  sie 
ziehen  sich  an  (Gravitationskraft). 

Um  jedes  Atom  ist  der  Äther  dichter  als  nor- 
mal, da  ja  bei  jedem  der  kreisenden  Elektronen 
die  Ätherdichte  von  der  spezifischen  Atherdichte 
des  Elektrons  selbst  abfällt.  Da  nun  die  Fort- 
pflanzung des  Lichtes  eine  Bewegung  des  Äthers 
ist,  muß  notwendig  das  Licht  in  der  Nähe  eines 
Atoms  eine  Ablenkung  von  seiner  geraden  Bahn 
erfahren,  scheinbar  infolge  der  Gravitationskraft 
(Einst  ein -Effekt).  Sind  sehr  viele  Atome  bei- 
sammen (Körper)  so  ist  die  Ätherdichte  zwischen 
den    Atomen    noch    bedeutend    größer    und   das 


432 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  29 


Licht   wird   noch   stärker   von  seiner  Bahn  abge- 
lenkt (Brechung). 

Wie  wir  schon  oben  sahen,  fällt  die  Äther- 
dichte um  jedes  Elektron  herum  bis  zur  normalen 
Ätherdichte  (im  Unendlichen)  ab.  Den  Dichte- 
abfall des  Äthers  nennen  wir  „elektrisches  Feld". 
Die  Änderung  des  elektrischen  Feldes  in  der  Zeit 
heißt  „magnetisches  Feld".  Ein  Elektron  ist  dann 
im  Gleichgewicht,  in  Ruhe,  wenn  die  Ätherdichte 
rings  herum  in  gleicher  Entfernung  vom  Elek- 
tronenmittelpunkt gleich  groß  ist.  Das  ist  z.  B. 
für  2  Elektronen  aber  erst  dann   der  Fall,    wenn 


sie  unendlich  weit  voneinander  entfernt  sind.  Das 
bedeutet  aber,  daß  Elektronen  sich  gegenseitig 
abstoßen. 

Durch  den  hier  kurz  ausgeführten  Gedanken- 
gang scheint  es  mir  möglich  zu  sein,  die  Äther- 
theorie mit  der  Relativitätstheorie  und  deren 
wichtigsten  Folgerungen  zu  vereinbaren.  Ob  die 
mathematische  Behandlung  dieser  Betrachtungen 
befriedigende  Resultate  liefert,  bleibe  dahingestellt. 
Anschaulich  jedenfalls  scheint  sich  hierdurch  eine 
Brücke  zwischen  verschiedensten  bisher  ungeklärten 
physikalischen  Begriffen  schlagen  zu  lassen. 


Bücherbesprechungen. 


Valentiner,  S.,  Die  Grundlagen  der  Quan- 
tentheorie in  elementarer  Darstellung. 
Dritte  erweiterte  Auflage.    Heft  1 5  der  „Samm- 
lung Vieweg".     92  Seiten   mit  8  Abbildungen. 
Braunschweig  1920,  F.  Vieweg  u.  Sohn.     Geh. 
5  M.  und  Teuerungszuschlag. 
Das   Erscheinen    der    vorliegenden  Neuauflage 
gibt  uns  eine  willkommene  Gelegenheit,  auf  diese 
vortreffliche  elementare  Darstellung  der  wichtigsten 
Probleme  und  bisherigen  Ergebnisse  der  quanten- 
theoretischen Forschung    erneut    empfehlend    hin- 
zuweisen.    Gegenüber   der   erst    vor   einem  Jahre 
erschienenen  zweiten  Auflage  (siehe  diese  Zeitschrift 
N.  F.  Bd.  XIX,  S.  335,  1920)  sind,  abgesehen  von 
der  Hinzufügung   eines  kurzen  Namen-  und  Sach- 
registers,  nennenswerte  Änderungen  nicht  erfolgt. 
A.  Becker. 

Hoffmann,  B.,  Führerdurch  unsereVogel- 
welt.  2.  Aufl.  (4.— 6.  Tausend).  216  S.  Klein  8". 
Mit  300  Notenbildern.  Bildschmuck  von  Karl 
Seffel.  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner. 
17  M.  -f  20%. 

Die  zweite  Auflage  ist  rasch  der  ersten  ge- 
folgt. Die  Zahl  der  erwähnten  Vogelarten  ist  um 
8  vermehrt,  der  Gesamtumfang  der  gleiche  ge- 
blieben, abgesehen  davon,  daß  zwei  leere  Noten- 
blätter angefügt  sind,  der  Preis  auf  mehr  als  das 
Vierfache  erhöht.  Immer  noch  könnte  man  einige 
wichtigere  Vogelarten  unter  den  Raubvögeln,  Eulen, 
Sumpf-  und  Schwimmvögeln  vermissen.  Das 
Büchlein  erfreut  sich  mit  Recht  offenbar  großer 
Beliebtheit  bei  den  Wanderburschen,  denen  er, 
wie  schon  bei  der  ersten  Auflage  (Naturw.  Wochen- 
schr.  1919,  S.  725)  hervorgehoben  wurde,  viel 
Anregung,  Freude  und  Auskunft  gibt.      V.  Franz. 


Das  Büchlein  ist  einer  Frau  gewidmet.  Richtig! 
Ein  Damenbuch.  Höchst  angenehm  zu  lesen, 
teilweise  gänzlich  literarisch  (so  in  den  völlig 
überflüssigen  Seiten  9 — 18),  am  Ende  eine  noch- 
malige „Erklärung"  benutzter  Fachausdrücke :  dem 
Untertitel  „Plaudereien"  ist  alle  Ehre  gemacht. 
Sicher  eine  achtunggebietende  Leistung.  Aber: 
glaubt  der  Verf  wirklich,  „weitere  Kreise"  mit 
—  nicht  etwa  den  Ergebnissen,  sondern  sogar  den 
Problemen  der  heutigen  Chemie  bekannt  ge- 
macht zu  haben?  Vielleicht  in  dem  Sinne,  daß 
der  Leser  nunmehr  mit„plaudern"  kann.  Mehr 
keinesfalls!  Dazu  ist  der  Stoff  denn  doch  zu 
spröde.  „Popularisierung"  ist  gewiß  ein  lobens- 
wertes Ziel.  In  Fällen  wie  dem  vorliegenden 
führt  sie  zu  dem  gleichen  unheilvollen  Dilettanten- 
tum, wie  es  die  Popularisierung  von  Philosophie, 
Politik  usw.  leider  zwar,  aber  doch  wohl  not- 
wendigerweise hervorgebracht  haben.  Übrigens 
ist  selbst  in  diesem  Büchlein  noch  viel  unklar 
geblieben ;  so  fehlt  eine  Verdeutlichung  des  grund- 
legenden Energiebegriffes,  und  die  Gleichung 
Masse  ^=  Energie  dürfte  selbst  Vorgebildeten  durch 
die  Sätze  auf  S.  75 — 77  nicht  verständlich  ge- 
worden sein.  S.  85  steht  das  veraltete  zu  niedrige 
Atomgewicht  des  Wismuts. 

Wer  sich  mit  dem  im  Titel  Genannten  ver- 
traut machen  will,  lese  zunächst  nicht  dieses  an 
sich  außergewöhnlich  fleißig  und  gewandt  ge- 
arbeitete Buch,  sondern  vertiefe  sich  mit  Ge- 
wissenhaftigkeit in  die  einschlägigen  Lehrbücher: 
alsdann  wird  er  auch  von  der  vorliegenden 
Arbeit  Gewinn  haben.  H.  Heller. 


Schmidt,  Dr.  Harry,  Probleme  der  moder- 
nen Chemie  in  allgemeinverständ- 
licher Darstellung.  Mit  9  Abb.  im  Text. 
Hamburg  1 92 1 ,  L.  Friederichsen  &  Co.   Preis  1 5  M. 


Literatur. 

Beck,  Richard,  Über  Protothamnopteris  Baldaufi 
Nov.  Sp.,  einem  neuen  verkieselten  Farn  aus  dem  Chemnitzer 
Rotliegenden.  Des  VI.  Bandes  der  Abhandlungen  der  Mathe- 
matisch-Physischen Klasse  der  Sachs.  Akademie  der  Wissen- 
schaften Nr.  V.  Mit  8  Abbildungen  im  Text  und  2  Tafeln. 
Leipzig  '20,  B.  G.  Teubner.     1,60  M. 


Inhalt:  H  Heller,  Wilhelm  Ostwalds  Forschungen  zur  Farbenlehre.  (4  Abb.)  S.  425.  Gerd  Nickel,  Äther  und  Rela- 
tivitätstheorie. (4  Abb.)  S.  430.  —  Bücberbesprecbungen:  S.  Valentiner,  Die  Grundlagen  der  Quantentheorie  in 
elementarer  Darstellung.  S.  432.  B.  Ho  ff  mann,  Führer  durch  unsere  Vogelwelt.  S.  432.  H.  Schmidt,  Probleme 
der  modernen  Chemie  in  allgemeinverständlicher  Darstellung.  S.  432.  —  Literatur:  Liste.  S.  432. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
.    Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  gaiuen  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  24.  Juli  1921. 


Nummer  30, 


[Nachdruck  verboten,] 


Das  Leuchten  der  Tiere. 

Von  Dr.  phil.  nat.  et  med.  Andre  Pratje. 
Mit  5  Abbildungen. 


Wer  je  die  Erscheinung  des  Meerleuchtens  mit 
eigenen  Augen  in  einer  schönen  warmen  Sommer- 
nacht schauen  durfte,  dem  wird  sie  unvergeßlich 
bleiben.  Das  Meer  erschien  dann  über  und  über 
mit  weißen  Streifen,  den  leuchtenden  Wellen- 
kämmen bedeckt.  Wenn  ein  Boot  die  Wasser- 
oberfläche durchfurcht,  so  bildet  sich  an  seinem 
Bug  eine  glitzernde  und  schimmernde  Welle  und 
jeder  Ruderschlag  scheint  wie  in  flüssiges  Silber 
getaucht. 

Die  Reisenden  haben  begeisterte  Schilderungen 
dieser  Erscheinungen  gegeben.  Früher  machte 
man  sich  über  das  Zustandekommen  des  Meer- 
leuchtens die  eigenartigsten  Vorstellungen.  Heute 
wissen  wir,  daß  es  auf  lebende  Organismen  zurück- 
zuführen ist. 

Ich  will  nicht  sämtliche  bisher  bekannten 
leuchtenden  Organismen  aufzählen,  sondern  mich 
darauf  beschränken,  nur  an  einigen  Beispielen  das 
Zustandekommen  der  Lichterzeugung  der  Orga- 
nismen zu  erläutern,  um  dann  auf  einige  allge- 
meinere Fragen  einzugehen,  auf  die  Theorie  der 
Lichterzeugung  und  ihre  Bedeutung  für  die  Or- 
ganismen. 

Bei  den  leuchtenden  toten  Fischen  und  dem 
leuchtenden  Fleisch  handelt  es  sich  nicht  um 
Lichterscheinungen  der  Tiere,  ihr  Leuchten  ist 
vielmehr  auf  die  Anwesenheit  von  Leuchtbakterien 
zurückzuführen,  mit  denen  wir  uns  hier  nicht 
näher  befassen  wollen. 

Unter  den  Protozoen  findet  man  den  Haupt- 
erreger des  Meerleuchtens  in  unseren  nordischen 
Meeren  in  Gestalt  der  kleinen  Cystoflagellate 
Noctihica  miliaris.  Es  handelt  sich  um  kleine 
bläschenförmige  Tierchen,  die  einen  Durchmesser 
von  etwa  '/j  mm  besitzen. 

Nehmen  wir  uns  einmal  ein  Glas  Meerwasser 
von  der  Meeresoberfläche,  in  dem  sich  fast  stets 
eine  Anzahl  Noktiluken  befinden,  vom  Strande 
mit  nach  Hause,  um  es  abends  in  unserem  Zim- 
mer zu  betrachten.  Wenn  wir  ins  dunkle  Zim- 
mer hineinkommen  und  das  Glas  ruhig  dasteht, 
bemerken  wir  gar  nichts.  Sowie  aber  durch  die 
Erschütterung  des  Bodens  oder  durch  Stoßen  an 
den  Tisch  das  Wasser  in  leichte  Bewegung  gerät, 
so  sehen  wir  mehr  oder  weniger  einzelne  Licht- 
blitze über  die  Wasseroberfläche  hinweghuschen, 
um  dann  wieder  zu  verschwindep.  Wir  sehen 
also,  daß  die  Noctihica  im  ruhenden  Zustande 
nicht  leuchtet,  sondern  nur  auf  mechanische 
Reizung  hin,  durch  Erschütterung  usw.  einzelne 
Lichtblitze   aussendet.     Aber   auch    durch   anders 


geartete  Reize  kann  man  die  Erscheinung  des 
Leuchtens  hervorrufen.  Läßt  man  chemische  Stofife 
einwirken,  von  denen  man  die  verschiedenartigsten 
Substanzen  ausprobiert  hat,  so  tritt  in  den  meisten 
Fällen  ebenfalls  ein  Aufleuchten  der  Tiere  ein. 
Die  gleiche  Erscheinung  kann  man  durch  elek- 
trische Reizung  hervorrufen. 

Die  Farbe  des  ausgesandten  Lichtes  ist  bläu- 
lich bis  grünlich  oder  erscheint  bisweilen  weiß- 
lich. Die  Angaben  über  die  Farbe  widersprechen 
sich  in  der  Literatur  ziemlich  erheblich,  was  wohl 
meist  darauf  zurückzuführen  ist,  daß  die  Be- 
obachtungen nicht  mit  vollständig  dunkel  adap- 
tierten Augen  vorgenommen  wurden  und  dem 
entsprechend  die  Helligkeitswerte  verschieden  er- 
schienen. Ein  Autor  unterschied  sogar  nach  der 
Farbe  des  Lichts  verschiedene  Arten  von  Noctihica, 
was  aber  sicher  nicht  berechtigt  ist.  Die  Inten- 
sität der  ausgestrahlten  Lichtes  ist  nicht  sehr  er- 
heblich, genaue  Messungen  liegen  nicht  vor,  doch 
kann  man  bei  ihrem  Schein  in  einigen  Zentimeter 
Entfernung  das  Zifferblatt  der  Uhr  noch  erkennen. 

Betrachten  wir  nun  einmal  eine  leuchtende 
Noctihica  unter  dem  Mikroskop  (Abb.  i),  was 
keineswegs  leicht  ist,  da  die  Tiere  nur  auf 
Reizung  hin  leuchten  und  es  mit  Schwierigkeiten 
verknüpft  ist,  die  Individuen  gerade  in  diesem 
Augenblicke  unter  das  kleine  Gesichtsfeld  des 
Mikroskopes  zu  bringen.  Nun  sehen  wir,  daß  das 
diffuse  Licht,  welches  die  einzelne  Noctihica  dem 
unbewaffnetem  Auge  auszustrahlen  scheint,  aus 
zahlreichen  einzelnen  Lichtpünktchen  zusammen- 
gesetzt ist.  Es  leuchtet  die  ganze  Körperober- 
fläche; aber  noch  mehr:  bisweilen  sieht  man  auch 
einen  größeren  stärker  leuchtenden  Fleck,  welcher 
der  Stelle  des  Zentralplasmas  entspricht.  Das 
Licht  wird  manchmal  an  der  Einsenkung,  die  zum 
Cytostom  hinabführt,  deutlich  reflektiert.  Das  ge- 
samte Protoplasma,  bzw.  die  in  ihm  enthaltenen 
Einschlüsse  vermögen  also  zu  leuchten.  Bisweilen 
leuchten  einzelne  kleine  Fleckchen  besonders  stark 
auf,  die  bei  näherer  Betrachtung  sich  wieder  aus 
mehreren  einzelnen  Pünktchen  zusammengesetzt 
erweisen. 

Werden  die  Noktiluken  in  ihrer  Lebenstätig' 
keit  gestört,  so  senden  sie  ein  ziemlich  gleich- 
mäßiges Licht  aus,  welches  nicht  sofort  wieder 
erlischt.  Durch  die  infolge  des  Absterbens  ein- 
tretende Zusammenziehung  des  Protoplasmas, 
wird  ein  sehr  erheblicher  langdauernder  mecha- 
nischer Reiz  ausgeübt.  Die  Intensität  des  Lichtes 
dieser  absterbenden  Individuen  ist  allerdings  nicht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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so  groß,  wie  die  der  einzelnen  Lichtblitze  nor- 
maler Tiere.  Mit  den  Fingern  zerriebene  Nokti- 
luken  leuchten  noch  zwei  Minuten  hinterher. 

Diese  Auflösung  des  Lichtes  der  Noctiluca  bei 
stärkerer  Vergrößerung  in  einzelne  kleine  Pünkt- 
chen legt  die  Vermutung  nahe,  daß  diese  Pünkt- 
chen den  zahlreichen  von  uns  bei  Tages- 
licht beobachteten  im  Protoplasma  zerstreut 
liegenden,  stärker  lichtbrechenden  Tröpfchen  ent- 
sprechen. Ich  habe  nun  diese  Tröpfchen  sowohl 
mit  den  verschiedenen  Lösungsmitteln,  als  auch 
mit  den  bekannten  Fettfärbemethoden  näher  unter- 
sucht und  festgestellt,  daß  es  sich  bei  ihnen  um 
echte  Neutralfette  handelt.  Die  einzelnen  Tier- 
chen sind  bisweilen  dicht  mit  ihnen  angefüllt. 
Neuerdings  habe  ich  nun  auch  noch  den  Fettge- 
halt dieser  Tiere  makrochemisch,  quantitativ  be- 
stimmt; er  hat  die  ansehnliche  Höhe  von  1270 
der  Trockensubstanz.  Außer  echten  Neutralfetten 
sind  auch  noch  Cholesterine  und  phosphorhaltige 
Verbindungen  vorhanden.  Wir  werden  später 
noch  sehen,  mit  welchem  Recht  man  diese  ver^ 
schiedenen  Substanzen  mit  dem  Leuchtvorgang 
in  Beziehung  bringt.  Ein  absoluter  Beweis  dafür 
liegt  allerdings  bis  heute  noch  nicht  vor,  doch 
konnte  ich  beobachten,  daß  Individuen  mit  zahl- 
reichen Fetttröpfchen  besonders  hell  aufleuchteten. 

Neben  den  Noktiluken  gibt  es  auch  noch  einige 
andere  Protozoen,  die  Leuchtvermögen  besitzen, 
besonders  in  der  nah  verwandten  Gruppe  der 
Dinoflagellaten.  Auch  in  unseren  deutschen  Meeren 
kommen  leuchtende  Ccratiiivi-  und  Peridiniuni- 
Arten  vor. 

Auf  die  Coelenteraten  will  ich  nicht  näher 
eingehen,  es  gibt  eine  ganze  Anzahl  von  leuchten- 
den Medusen,  ich  erwähne  nur  die  schöne  Pclagia 
noctiluca,  auch  verschiedene  leuchtende  Polypen- 
kolonien, besonders  Campanularien  sind  beschrieben 
worden. 

Unter  den  Tunikaten  verdanken  die  Pyrosomen 
ihrem  Leuchtvermögen  ihren  Namen :  Feuerwalzen. 

Die  leuchtenden  Würmer  und  Seesterne  lasse 
ich  unerwähnt  und  wende  mich  gleich  zu  den 
Weichtieren.  Unter  den  Muscheln  verdient  die 
in  den  europäischen  Meeren  ziemlich  weit  ver- 
breitete Bohrmuschel  Pholas  daciyhis  besondere 
Beachtung.  Denn  bei  ihr  haben  wir  ein  Leuchten, 
welches  außerhalb  des  Tieres,  außerhalb  der 
lebenden  Zelle  stattfindet.  Die  Bohrmuschel 
sondert  nämlich  ein  Leuchtsekret  ab,  das  be^ 
sonders  aus  der  Öffnung  des  Atemrohres  hervor- 
gepreßt wird.  Ein  Schüler  von  Chun,  Förster 
hat  in  einer  kurz  vor  dem  Kriege  erschienenen 
Arbeit  die  Leuchtorgane  von  PJiolas  daciylits 
näher  untersucht.  Es  sind  5  verschiedene  Leucht- 
organe vorhanden,  und  zwar  in  der  Gegend  des 
Atemrohres  und  am  Mantel,  alle  liegen  auf  der 
inneren  Mantelfläche.  Die  Leuchtorgane  bestehen 
aus  zahlreichen  einzelnen  Drüsen,  bei  denen  man 
zweierlei  Arten,  Schleim-  und  Leuchtdrüsen,  unter- 
scheiden kann,  welche  ihr  Sekret  durch  schmale 
Ausführungsgänge    in   den  Mantelraum    entleeren. 


Das  Sekret  der  Leuchtdrüsen  besteht  aus  einer 
Flüssigkeit  und  darin  eingebetteten  Körnchen;  es 
wird  durch  Umwandlung  des  homogenen  Inhaltes 
der  Drüsenzellen  gebildet.  Diese  selbst  zerfallen 
dabei  nicht,  sondern  regenerieren  sich  immer 
wieder  von  neuem.  Eine  reiche  Blutgefäß-  und 
Nervenversorgung  konnte  nachgewiesen  werden. 
Durch  Kontraktion  von  Muskeln  wird  das  Sekret 
herausgepreßt.  Es  leuchtet  auf,  sobald  es  mit 
dem  Wasser  in  Berührung  kommt.  Der  gleich- 
zeitig gebildete  Schleim  dient  dazu,  die  einzelnen 
Leuchtkörnchen  mit  einem  Schleimmantel  zu  um- 
geben und  nach  Möglichkeit  zu  isolieren,  wodurch 
die  Verteilung  im  Wasser  gewährleistet  wird.  In 
diesem  Falle  ist  das  Leuchten  also  nicht  an  die 
lebende  Zelle  gebunden,  sondern  das  von  ihnen 
ausgeschiedene  tote  Sekret  vermag  noch  lange 
hinterher  zu  leuchten. 

Unter  den  Schnecken  gibt  es  nur  wenig 
leuchtende  Formen,  während  sich  in  der  dritten 
Gruppe  der  Weichtiere,  unter  den  Tintenfischen 
ganz  typische  Leuchttiere  entwickelt  haben;  ge- 
hören zu  ihnen  doch  die  zahlreichen  leuchtenden 
Tiefseeformen,  mit  denen  uns  die  wissenschaft- 
lichen Ergebnisse  der  Deutschen  (Valdivia)  Tief- 
see-Expedition unter  Chun  bekannt  gemacht 
haben.  Bei  einigen  Formen,  welche  noch  lebend 
mit  dem  Tiefennetz  heraufkamen,  konnte  Chun 
im  lebenden  Zustande  in  der  Dunkelkammer  den 
Leuchtvorgang  direkt  beobachten  und  sogar  eine 
photographische  Aufnahme  davon  herstellen.  Eine 
Zeichnung  nach  einer  solchen  Aufnahme  zeigt 
uns  Abb.  2.  Es  handelt  sich  um  Thamiiafolavipas 
diadciiia.  Sie  zeichnet  sich  durch  eine  außer- 
ordentliche Vielgestaltigkeit  der  einzelnen  Leucht- 
organe aus.  Sie  besitzt  im  ganzen  22  Leucht- 
organe, die  nach  nicht  weniger  als  10  verschiedenen 
Prinzipien  gebaut  sind.  Das  Licht  der  verschiedenen 
Leuchtorgane  besitzt  eine  verschiedene  Farbe,  die 
mittleren  Augenorgane  sind  prachtvoll  ultramarin- 
blau, das  mittlere  der  5  Bauchorgane  strahlt  him- 
melblau und  die  beiden  am  After  befindlichen 
Organe  sind  rubinrot  gefärbt.  Dieser  rote  Glanz 
wird  durch  die  vor  den  Organen  befindlichen 
Spindelzellen  erzeugt,  die  wie  eine  rote  Scheibe 
vorgeschaltet  sind. 

Trotz  der  Kleinheit  dieser  Gebilde  besitzen 
sie  doch  einen  recht  komplizierten  Bau.  Abb.  3 
zeigt  uns  einen  Schnitt  durch  ein  Hautorgan  von 
Abraliopsis  Morisü.  In  der  Mitte  liegt  die  eigent- 
lich leuchtende  Substanz,  die  bei  verschiedenen 
Arten  verschieden  aufgebaut  ist  und  meist  aus 
stark  lichtbrechenden  Zellen  besteht,  welche  aber 
verschmelzen  können,  so  daß  schließlich  nur  noch 
ein  stark  lichtbrechender  streifiger  Körper  vor- 
handen ist.  An  diesen  Leuchtkörper  lagert  sich 
nach  innen  ein  reflektrierendes  Tapetum  an, 
welches  einen  perlmutterartigen  Glanz  besitzt.  Bei 
unserer  Form  besteht  der  Reflektor  aus  einer  An- 
zahl konzentrisch  ineinander  geschachtelter  La- 
mellen. Er  besteht  aus  einem  mittleren  und  zwei 
seitlichen  Teilen.     Bedeckt   wird   dieser  Reflektor 


N.  F.  XX.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


435 


nach  innen  von  einer  dichten  Pigmenthülle,  welche 
aus  einzelnen  großen  Chromatophoren  besteht. 
Ganz  nach  innen  liegen  noch  zahlreiche  große 
Blutgefäßräume,  welche  die  Hinterfläche  und  die 
Seitenwandungen  des  Organs  umgeben.  Die 
Lichtstrahlen,  welche  vom  Leuchtkörper  ausgehen, 
müssen  zunächst  noch  eine  Linse  passieren,  die 
hier  einen  deutlich  faserigen  Bau  besitzt.  In  ihr 
kann  man  unregelmäßig  gestaltete  kleine  Kerne 
erkennen.  An  der  Seite  treten  stärkere  und  feinere 
Fasern  an  die  Linse  heran.  Die  äußere  Haut  vor 
dem  Leuchtorgan  ist  durchsichtig  geworden  und 
zu  einer  Art  Kornea  umgestaltet.  Wir  sehen  also, 
daß  es  sich  um  recht  komplizierte  Gebilde  handelt, 
die  die   meisten  Elemente   eines  Auges   erkennen 


einen  optischen  Teil  unterscheiden.  Dieser 
optische  Teil  hätte  nun  aber  gar  keinen  Sinn, 
wenn  das  Leuchten  nicht  auch  innerhalb  des 
Leuchtorganes  stattfände.  Es  konnte  aber  im 
Leben  im  Aquarium  beoachtet  werden,  daß  das 
Tier  bei  Reizung  eine  Wolke  leuchtenden  Se- 
kretes ausspritzt.  Das  in  viele  einzelne  Tropfen 
und  F"äden  zerteilte  Sekret  leuchtet  bei  Berührung 
mit  dem  Meerwasser  hell  auf  und  liefert  ein 
grandioses  Feuerwerk.  So  sehen  wir  bei  den 
Tintenfischen  zwei  grundverschiedene  Prinzipien 
der  Leuchtfunktion  verwirklicht.  Auf  ihre  Be- 
deutung kommen  wir  noch  später  zurück. 

Ähnlich  kompliziert  gebaute  Leuchtorgane  wie 
bei  den  Tintenfischen  finden  wir  bei  einigen  pela- 


Abb.   I.     Leuchtende  Noctiluca    (nach  Pratje). 

lassen,  nur  statt  der  lichtempfindlichen  Elemente 
haben  wir  lichterzeugende  vor  uns. 

Wir  müssen  annehmen,  daß  die  Lichtproduktion 
bei  den  Tintenfischen  im  Innern  der  Leuchtorgane 
stattfindet  und  zwar  höchstwahrscheinlich  inner- 
halb der  Zellen,  indem  wir  uns  hier  vorzustellen 
haben,  daß  der  Leuchtkörper  aus  Drüsenzellen 
besteht. 

Aber  nicht  alle  Tintenfische  besitzen  ein  Leuchten 
innerhalb  der  Zellen.  Denn  bei  dem  im  Mittel- 
meer vorkommenden  Heterothciäis  ist  ein  großes 
drüsiges  Leuchtorgan  beschrieben  worden,  welches 
in  der  Gegend  des  Tintenbeutels  sich  befindet. 
Dieser  letztere  ist  fast  ganz  verdrängt  und  rück- 
gebildet worden.  Er  funktioniert  hauptsächlich 
noch  als  Pigmentschicht  für  das  Leuchtorgan.  Am 
Leuchtorgan  selbst  kann  man  einen  drüsigen  und 


Abb.  2.      Tiefseetintenfisch : 

Thaumatolampas  diadema 

(nach  C  h  u  n). 


gischen  Krebsen,    während   andere   in  Drüsen  ein 
Leuchtsekret  hervorbringen. 

Unter  den  Insekten  begegnen  wir  wieder 
einigen  allgemein  bekannten  Leuchttieren;  denn 
unseren  Johanniskäfer  wird  wohl  fast  jeder  schon 
einmal  zu  Gesicht  bekommen  haben.  In  Deutsch- 
land gibt  es  hauptsächlich  zwei  verschiedene  Arten, 
den  großen  Johanniskäfer,  Lainpyris  iiociiluca, 
deren  vollständig  flügellose  Weibchen  unter  dem 
Namen  der  Glühwürmchen  bekannt  sind,  und  den 
kleinen  Johanniskäfer,  iMmpyris  splendidula,  wel- 
cher nach  neuerer  Nomenklatur  als  Pliansis  splen- 
didula bezeichnet  wird.  Bei  ihm  besitzen  die 
Weibchen  im  Gegensatz  zur  ersten  Art  noch 
schuppenförmige  Stummel  als  Flügelrudimente. 
Das  kleine  Johanniswürmchen  bekommt  man 
häufiger  zu  Gesicht,  da  die  Männchen  massenhaft 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schwärmen  und  eine  stärkere  Leuchtfähigkeit  be- 
sitzen als  die  großen  Johanniskäfer.  Die  Männ- 
chen fliegen  des  Nachts  an  baumbewachsenen, 
etwas  feuchten  Orten,  während  die  Weibchen  an 
der  Erde  oder  an  niederen  Gewächsen  sitzen.  Die 
Leuchtkäfer  sind  ebenso  wie  ihre  Larven  ausge- 
sprochene Nachttiere.  Sowohl  die  erwachsenen 
Tiere,  Männchen  wie  Weibchen,  als  auch  die 
Nymphen,  Larven  und  Eier  haben  die  Fähigkeit 
Licht  zu  erzeugen,  allerdings  in  verschiedenem 
Maße.  Das  Männchen  von  Lampyris  splciididiila 
besitzt  zwei  große  Leuchtorgane  an  der  Bauch- 
seite der  beiden  letzten  Hinterleibsringe.    Sie  sind 


Blutraume 


BlutgefaS 


Reflektor 


Plgmentmantel 
'(Ghromatophoren) 


-.  a 


Leuchlkörper 


Abb.  3.      Schnitt    durch    ein    Hautleuchtorgan    eines    Tiefsee- 
tintenfisches (Abraliopsis  Morisii)    (nach  Chun). 


Dorsal- 
schichi 


als  weiße  Stellen  in  der  unge- 
färbten Chitinwand  sichtbar.  Das 
Weibchen  besitzt  dagegen  14  ver- 
schiedene Leuchtorgane,  die  im 
einzelnen  allerdings  etwas  kleiner 
gestaltet  sind;  das  größte  liegt 
an  /der  Bauchseite  des  letzten 
Hinterleibsringes,  dann  noch  ver- 
schiedene kleinere  knollenförmige 
Organe,  besonders  an  der  Seite 
der  ersten  Hinterleibsringe  und  in 
der  Mitte  des  3.  und  5.  Ringes. 
Das  Leuchten  ist  vom  Rücken 
des  Tieres  aus  zu  sehen.  Ähnlich 
sind  die  Leuchtorgane  bei  dem 
großen  Johanniskäfer  verteilt, 
doch  sind  sie  bei  dem  Männchen 
sehr  viel  schwächer  entwickelt 
und  bei  dem  Weibchen  nur  von  der  Bauchseite 
aus  zu  sehen,  weshalb  sich  diese  auf  den  Rücken 
zu  legen  pflegen  oder  sich  an  hohe  Grashalme 
anhängen,  damit  ihr  Licht  gesehen  werden  kann. 
Während  unsere  einheimischen  Leuchtkäfer  zu  der 
Familie  der  Caiitharideii  oder  Malacodcrmaia, 
d.  h.  Weichhäuter  gehören,  findet  man  in  den 
Tropen  verschiedene  leuchtende  Arten  unter  den 
Elaterideji,  den  Schnellkäfern.  Besonders  der 
Cucujo,  Pyrophoriis  Hoctüucus,  welcher  in  Brasilien 
und  in  anderen  Teilen  Südamerikas  vorkommt, 
ist  allgemeiner  bekannt  geworden.     Während  wir 


bisher  Einzelheiten  fast  nur  von  unseren  ein- 
heimischen Leuchtkäferarten  kannten,  befaßt  sich 
eine  während  des  Krieges  erschienene  Arbeit  von 
Geipel,  eines  Schülers  von  Chun,  eingehend 
auch  mit  der  Anatomie  der  Leuchtorgane  tro- 
pischer Käfer. 

Die  Leuchtorgane  der  Lampyriden  bestehen 
aus  zwei  verschiedenen  Zellschichten,  einer  Dorsal- 
und  einer  Ventralschicht  (Abb.  4).  Die  Dorsal- 
schicht liegt  unmittelbar  dem  Fettkörper  an  und 
sieht  weiß  und  undurchsichtig  aus.  Sie  besteht 
aus  großen  eng  aneinander  gedrängten  Zellen 
vom  Charakter  eines  Piattenepithels.  Darunter 
befindet  sich  die  Ventralschicht,  welche  der  eigent- 
liche Sitz  des  Leuchtens  ist,  weshalb  man  auch 
von  der  Leuchtzellenschicht  spricht.  Sie  ist  gelb- 
lich gefärbt  und  besteht  aus  einzelnen  Parenchym- 
zellen.  Diese  Zellen  sind  kleiner  als  die  Dorsal- 
schicht und  sind  angefüllt  mit  einer  Menge  mikro- 
skopisch kleiner  Körnchen.  Diese  Schicht  ist  nur 
durch  eine  feine  Epithelschicht  von  dem  Chitin 
getrennt,  welches  an  dieser  Stelle  durchsichtig 
ist.  Die  Haupttracheen  geben  zahlreiche  Neben- 
ästchen  ab,  die  sich  baumartig  in  der  Dorsal-  und 
in  der  Ventralschicht  verzweigen.  Die  letzten, 
feinsten  Tracheen  führen  zu  den  sog.  Tracheen- 
endzellen.  Diese  sind  in  6 — 7  Fortsätze  ausge- 
zogen, in  die  je  eine  Kapillare  eingebettet  ist. 
Die  Frage,  ob  die  Fortsätze  der  Tracheenendzeilen 
miteinander  in  Verbindung  stehen,  ist  noch  unent- 
schieden, ebenso  wird  die  Frage,  ob  die  Fortsätze 


Kern  der  Dorsalzelle 


Kern  der  Endzelle 
Tracheenendzelle 


Abb.  4.      Querschnitt  durch  das  Leuchtorgan  eines  tropischen  Lampyriden 
(Photinus)  (nach  Geipel). 


in  das  Plasma  der  Leuchtzellen  eindringen ;  wahr- 
scheinlich verlaufen  sie  aber  zwischen  den  Zellen. 
Sowohl  an  den  Tracheen  wie  an  den  Endzellen 
kann  man  Nervenäste  nachweisen. 

Die  weiße  Dorsalschicht  löst  sich  in  Kalilauge 
auf,  ihre  chemische  Zusammensetzung  ist  noch 
nicht  näher  untersucht,  wahrscheinlich  handelt 
es  sich  um  Harnsäure-  und  Guaninkristalle.  Auch 
über  ihre  Bedeutung  sind  die  Ansichten  getrennt. 
Die  älteren  Autoren  hielten  sie  für  ein  Zerfalls- 
produkt der  Ventralschicht,  während  heute  die 
Anschauung   immer   allgemeinere  Geltung  findet. 


N.  F.  XX.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


437 


welche  in  dieser  Uratschicht  eine  Art  Reflektor 
sieht,  welcher  dazu  dient,  die  Intensität  des 
Lichtes  zu  erhöhen. 

Die  Leuchtzellen  kann  man  wohl  als  einzellige 
Drüsen  ohne  Ausführungsgang  betrachten,  wofür 
auch  das  Vorhandensein  der  zahlreichen  kleinen 
Körnchen  im  Plasma  spricht.  Die  zahlreichen  zu 
ihnen  verlaufenden  Tracheen  mit  ihrer  reichen 
Verästelung  sind  imstande,  die  Drüsen  reichlich 
mit  Sauerstoff  zu  versorgen,  welcher  dann  durch 
die  Wandungen  der  Tracheenkapillaren  in  die 
Zelle  hinein  diffundieren  kann,  um  dort  Oxyda- 
tionsprozesse durchzuführen.  Wir  werden  noch 
sehen,  daß  durch  die  Oxydation  eines  Leucht- 
stoffes der  Leuchtvorgang  am  besten  erklärt  wird. 

Interessante  Aufschlüsse  über  die  Natur  und 
die  Herkunft  der  Leuchtorgane  von  Lampyris 
haben  uns  neuere  entwicklungsgeschichtliche 
Untersuchungen  von  R.  V  o  g  e  1  gegeben,  welcher 
zeigen  konnte,  daß  der  eigentliche  Leuchtkörper 
entweder  embryonal  oder  bei  anderen  Organen 
erst  im  Larvenstadium  aus  dem  Fettkörper  her- 
vorgeht. Die  Einschlüsse  der  Fettkörperzellen 
bestehen  nun  aber  nicht,  wie  man  anzunehmen 
geneigt  ist,  in  der  Hauptsache  aus  Fetttröpfchen, 
sondern  vielmehr  aus  Eiweiß-  bzw.  Dotterkügel- 
chen.  Diese  letzteren  sollen  allmählich  zerfallen 
in  immer  feinere  Körnchen  und  so  den  eigent- 
lichen „Leuchtstoff"  liefern. 

Nun  wollen  wir  uns  noch  den  Wirbeltieren 
zuwenden,  bei  denen  eigentlich  nur  unter  den 
Fischen  leuchtende  Formen  bekannt  geworden 
sind,  während  die  Beobachtungen  von  leuchtenden 
Vögeln  usw.  wohl  auf  Irrtümern  beruhen.  Aber 
gerade  unter  den  Knochenfischen  finden  wir  eine 
große  Vielgestaltigkeit  der  Leuchtorgane,  wie  sie 
nur  die  Tiefsee  hervorzubringen  vermochte.  Die 
deutsche  Tiefsee-Expedition  an  Bord  der  „Valdivia" 
unter  Chun  hat  uns  mit  einer  ungeheuren  und 
teilweise  direkt  phantastischen  Formenmannig- 
faltigkeit bekannt  gemacht.  Die  treffliche  Be- 
arbeitung der  Tiefseefische  durch  Brauer  mit 
zahlreichen  Farbentafeln  gibt  uns  einen  schwachen 
Abglanz  von  den  dort  in  der  Tiefe  herrschenden 
Formen  und  Farben: 

Unter  den  Leuchtorganen  der  Fische  herrscht 
eine  ähnliche,  wenn  nicht  sogar  noch  größere 
Mannigfaltigkeit,  als  unter  den  Leuchtorganen  der 
Tintenfische  und  wir  finden  alle  Übergänge  zwi- 
schen kleinen,  einfach  gebauten,  pigmentlosen  Or- 
ganen, die  nur  aus  einem  Häufchen  Drüsenzellen 
bestehen,  bis  zu  ganz  komplizierten  Gebilden,  die 
mannigfache  Hilfsapparate  aufweisen.  Ich  will 
nicht  alle  diese  verschiedenen  Typen  beschreiben, 
sondern  lediglich  das  in  Abb.  5  dargestellte  Organ 
von  Gonostoina  clüngatum  näher  schildern.  Die 
Hauptmasse  des  Leuchtorgans  besteht  aus  Drüsen- 
zellen, die  ein  Epithel  von  Schläuchen  bilden,  welche 
ihrerseits  radiär  um  einen  Hohlraum  angeordnet 
sind.  Dieser  Hohlraum  mündet  durch  einen  Kanal 
nach  außen,  während  er  bei  anderen  Formen 
blind  endet  oder  gar  nicht  ausgebildet  wird.   Dem 


Drüsenkörper  anliegend  findet  sich  ein  Maschen- 
werk von  Zellen,  das  als  Reflektor  gedeutet  wird. 
Außerhalb  davon  ist  noch  eine  sog.  Gallertschicht 
vorhanden.  Nach  innen  ist  das  Leuchtorgan  von 
einem  Pigmentmantel  umgeben.  Einzelne  Blut- 
gefäße sind  vorhanden,  während  Nervenfasern  nur 
in  den  seltensten  Fällen  nachgewiesen  werden 
konnten.  Die  Leuchtorgane  anderer  Tiefseefische 
weisen  außer  den  bereits  beschriebenen  Hilfs- 
apparaten noch  stärker  lichtbrechende  Körper  auf, 
die  als  Linsen  gedeutet  werden.  Die  Drüsen 
selbst  sind  mit  Sekretkörnern  dicht  erfüllt,  und 
es  kann  nicht  bezweifelt  werden,  daß  diese  Drüsen- 
zellen das  Licht  hervorbringen,  also  Leuchtzellen 
darstellen.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  handelt  es 
sich  um  geschlossene  Drüsen,  bei  denen  sich  der 
Leuchtvorgang  innerhalb  der  Zellen  abspielen 
muß.  Bei  dieser  von  uns  betrachteten  Form 
münden  die  Drüsen  durch  einen  Kanal  an  die 
Außenwelt,  so  daß  hier  das  Sekret  in  das  um- 
gebende Wasser  entleert  werden  könnte.  Wahr- 
scheinlich ist  es  jedoch  nicht  so,  da  dann  die 
Hilfsapparate,  wie  Reflektor  und  Pigmentmantel 
nicht  recht  verständlich  wären.  Vielleicht  werden 
nur  die  Zersetzungsprodukte  nach  außen  entleert. 
Nachdem  wir  so  an  einigen  Beispielen  gesehen 
haben,  wie  der  Vorgang  des  Leuchtens  in  der 
Tierwelt  seine  Verwirklichung  gefunden  hat  und 
wie  vielerlei  komplizierte  Apparate  für  die  Ver- 
stärkung der  Erscheinung  geschaffen  worden  sind, 
wollen  wir  uns  jetzt  noch  zwei  allgemeineren 
Fragen  zuwenden ,  der  Frage  nach  dem  Wesen 
der  Lichterzeugung  und  der  Frage  nach  der  Be- 
deutung des  Leuchtens  für  die  Tierwelt. 


AusfOhrungsgang 


Abb.  5.     Leuchtorgan  von  Gonostotna  elongatum  (Tiefseefisch) 
(nach  Brauer). 


Man  war  schon  seit  alter  Zeit  bestrebt,  für  die 
so  auffällige  Erscheinung  des  Leuchtens  der  Tiere 
eine  Erklärung  zu  finden,  und  die  alten  Beobachter 
dieses  Phänomens  machten  sich  die  eigenartigsten 
Vorstellungen  darüber.  Auf  alle  diese  älteren 
Theorien  will  ich  nicht  eingehen,  sondern  nur 
kurz  die  Ansichten  darstellen,  die  heute  im  all- 
gemeinen vertreten  werden. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Man  ist  sich  darüber  einig  geworden,  daß  es 
sich  bei  den  Leuchtvorgängen  der  Organismen 
um  chemische  Prozesse  handeln  muß,  ganz  abge- 
sehen von  der  Frage,  ob  diese  chemischen  Vor- 
gänge an  die  lebende  Zelle  gebunden  sind  oder 
auch  an  totem  Material  vor  sich  gehen  können. 
Gerade  verschiedene  ältere  Autoren,  unter  ihnen 
besonders  auch  Pflüger,  hielten  das  Leuchten 
für  eine  unmittelbare  Lebensäußerung  der  leben- 
den Substanz;  Pflüger  brachte  es  in  Zusammen- 
hang mit  der  Atmung.  Ahnliche  Vorgänge  wie 
beim  Leuchten  sollen  bei  jedem  Lebensprozeß 
dauernd  vor  sich  gehen,  vielleicht  nur  nicht  so 
intensiv,  so  daß  sie  äußerlich  nicht  sichtbar  wer- 
den. Aber  schon  aus  den  wenigen  Beispielen, 
die  ich  habe  anführen  können,  kann  man  ersehen, 
daß  die  Frage  gar  nicht  so  allgemein  zu  lösen 
ist,  daß  sie  sich  gar  nicht  so  scharf  auf  ein  Ent- 
weder —  oder  zuspitzt.  Denn  einerseits  haben 
wir  Formen  kennen  gelernt,  bei  denen  der  Leucht- 
vorgang an  die  Zelle  gebunden  zu  sein  scheint ; 
ich  erinnere  nur  einerseits  an  die  einzelligen 
Lebewesen,  an  die  Bakterien  und  an  Noctüuca, 
und  andererseits  an  die  Fülle  von  höheren  Tieren, 
bei  denen  wir  Drüsen  ohne  Ausführungsgang  als 
Leuchtorgane  finden,  bei  denen  der  Vorgang  sich 
innerhalb  der  Zelle  abspielen  muß ;  in  allen  diesen 
Fällen  sprechen  wir  vom  intrazellulären  Leuchten. 

Im  Gegensatz  hierzu  haben  wir  aber  auch 
einige  Formen  kennen  gelernt,  bei  denen  ein  Se- 
kret an  die  Außenwelt  abgesondert  wird,  welches 
erst  außerhalb  des  Tierkörpers  zu  leuchten  be- 
ginnt. Ich  erinnere  an  das  Leuchten  der  Bohr- 
muscheln und  die  ähnlichen  Erscheinungen  bei 
Ostrakoden  und  Copepoden ;  aber  auch  bei  einigen 
höheren  Formen,  bei  einzelnen  Tintenfischen  und 
vielleicht  sogar  bei  einigen  Knochenfischen  kann 
man  die  gleiche  Erscheinung  beobachten.  Diesen 
Vorgang  bezeichnet  man  als  extrazelluläre  Lumi- 
neszenz. In  allen  diesen  Fällen  leuchtet  also  das 
an  sich  tote,  außerhalb  des  Organismus  sich  be- 
findende Sekret ;  doch  dürfen  wir  nicht  vergessen, 
daß  es  doch  seinerseits  von  der  lebenden  Tierzelle 
produziert  worden  ist.  Und  auch  umgekehrt 
müssen  wir  sagen,  daß  die  Stoffe,  welche  sich  in 
der  lebenden  Zelle  befinden  und  das  Leuchten 
erzeugen,  nicht  unbedingt  selbst  lebend  zu  sein 
brauchen ;  im  Gegenteil  zahlreiche  Versuche  weisen 
sogar  darauf  hin,  daß  die  Leuchtfunktion  dieser 
Substanzen  nicht  an  das  Leben  geknüpft  ist,  daß 
sie  vielmehr  auch  nach  dem  Absterben  des  Tieres, 
bzw.  der  Zellen  ihre  Leuchtfähigkeit  noch  längere 
Zeit  behalten  können.  Ich  erwähnte  bereits,  daß 
mit  den  Fingern  zerriebene  Noktiluken  noch  zwei 
Minuten  hinterher  leuchten.  Nach  Harvey  sollen 
sollen  über  CaCij  getrocknete,  also  tote  Bakterien 
aufleuchten,  wenn  sie  mit  Oj-haltigem  Wasser 
befeuchtet  werden.  Ebenso  verhalten  sich  die 
Leuchtorgane  zahlreicher  Metazoen,  die  aus  dem 
Tierkörper  herausgeschnitten,  noch  mehrere  Stun- 
den hinterher  zu  leuchten  vermögen,  wie  Ver- 
suche  an   unseren   Johanniskäfern    beweisen.    So 


kommen  wir  zu  dem  Schluß,  daß  der  Leucht- 
vorgang selbst  nicht  an  die  lebende  Zelle  ge- 
bunden ist,  sondern  vielmehr  an  Stoffe,  die 
außerhalb  der  lebenden  Zelle  Leuchtfahigkei 
besitzen;  daß  aber  andererseits  diese  Stoffe  von 
lebenden  Zellen  produziert  werden  und  so  doch 
indirekt  mit  dem  Lebensvorgang  im  Zusammen- 
hang stehen. 

Zur  weiteren  Klärung  der  Vorgänge,  die  sich 
beim  Leuchtprozeß  abspielen,  sind  von  ganz  be- 
sonderer Bedeutung  zahlreiche  Beobachtungen, 
welche  immer  wieder  von  fast  allen  Autoren  bei 
den  verschiedensten  Tieren  gemacht  und  durch 
zahlreiche  Experimente  noch  erhärtet  worden 
sind.  Es  handelt  sich  um  die  Tatsache,  daß  in 
den  meisten  Fällen  die  Gegenwart  von  freiem 
Sauerstoff  eine  notwendige  Vorbedingung  für  die 
Lichterzeugung  darstellt.  Hierdurch  werden  aber 
auch  viele  anatomische  Einrichtungen  verständlich, 
die  wir  im  Bau  der  einzelnen  Leuchtorgane  kennen 
lernten,  wie  z.  B.  die  reiche  Blutgefäßversorgung 
bei  zahlreichen  Leuchtorganen  oder  die  starke 
Tracheenverästelung  in  den  Leuchtorganen  der 
Leuchtkäfer. 

Andererseits  hat  man  aber  doch  zeigen  können, 
daß  dieser  Sauerstoffverbrauch  mit  der  Sauerstoff- 
atmung selbst  direkt  nichts  zu  tun  hat.  Die  Not- 
wendigkeit der  Sauerstoffzufuhr  spricht  mit  sehr 
großer  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  es  sich  bei 
den  Leuchtprozessen  um  einen  Oxydations- 
vorgang handelt,  und  damit  haben  wir  eine  der 
wichtigsten  heutigen  Anschauungen  über  das 
Wesen  des  Leuchtvorganges  der  Organismen.  Die 
Tatsache,  daß  es  sich  bei  dem  Licht  der  Organis- 
men um  kaltes  Licht  handelt,  bei  dem  man  eine 
wesentliche  Wärmezunahme  nicht  feststellen  kann, 
spricht  nicht  dagegen,  da  auch  physikalisch- 
chemisch derartige  Erscheinungen  verständlich 
sind.  Das  Licht  der  Organismen  ist  außerordent- 
lich rationell;  denn  während  bei  unseren  mensch- 
lichen Lichtquellen  der  größte  Teil  der  Energie 
in  Wärme  umgesetzt  wird,  hat  man  bei  dem 
tierischen  Licht  festgestellt,  daß  sogar  96  "  „  Aus- 
nützung stattfindet. 

Die  Oxydationshypothese  hat  also  große  Wahr- 
scheinlichkeit. Nun  fragt  es  sich  aber  noch,  was 
für  Stoffe  werden  denn  oxydiert?  Und  da  müssen 
wir  leider  feststellen,  daß  wir  trotz  der  unge- 
heuren Zahl  von  Arbeiten  über  das  Leuchten  der 
Tiere  heute  noch  nichts  Sicheres  über  diese  Frage 
wissen.  „Doch  eben  wo  Begriffe  fehlen,  da  stellt 
ein  Wort  zur  rechten  Zeit  sich  ein";  man  be- 
zeichnet diese  Stoffe  ganz  allgemein  als  Photo- 
gene. Doch  immerhin  wissen  wir,  wie  wir  uns 
derartige  Stoffe  vorstellen  können  und  zwar  durch 
den  Vergleich  mit  organischen,  nicht  organisierten 
Substanzen.  Es  war  vor  allem  der  Chemiker 
Radcziczewski,  welcher  bereits  im  Jahre  1888 
darauf  hinwies,  daß  eine  große  Anzahl  organischer 
Substanzen  leuchten,  wenn  man  sie  im  alkalischen 
Zustande  mit  aktiven  Sauerstoff  zusammenbrachte. 
So   leuchten    fast   alle    ätherischen   Öle,   die   aro- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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matischen  Kohlenwasserstoffe,  die  fetten  Öle  und 
ihre    Bestandteile,    diejenigen    Alkohole,    welche 
mehr    als  vier  Kohlenstoffatome   besitzen,    Chole- 
sterine, Gallensäuren,  Protagon,  Lezithin,  Trauben- 
zucker und  die  Aldehyde  und  ihre  Derivate.    Nach 
Radcziczewski    sind    noch    eine    Anzahl    von 
guten    Arbeiten    über    die    Oxylumineszenz    che- 
mischer Substanzen   gemacht  worden.     Besonders 
Trautz  hat  sich  mit  diesem  Problem  befaßt,   in 
den  letzten  Jahren   noch  Blanchetiere,  Ville 
und   Derrien    und   Heller.      Es    handelt    sich 
meist    um    Glyoxalderivate    und    andere    Abbau- 
produkte   des   Abbaues  stickstoffhaltiger   Verbin- 
dungen.    Eine   ganze  Anzahl   von   diesen  Stoffen 
kommen   in   der  lebenden  Zelle  vor  und  manche 
finden  wir  auch  gerade  in  den  lichtproduzierenden 
Zellen  und  Organen.     Ich   erwähnte  bereits,    daß 
die  Trockensubstanz   der  Nodüiica   zu  1 2  "/^    aus 
fettartigen  Substanzen  besteht,  aus  echten  Fetten, 
Cholesterinen  und  Phosphatiden.     Diese  Tatsache 
gewinnt    unter   jenem    Gesichtspunkt    eine    neue 
Bedeutung.      Auch   in   den   Leuchtsekreten    zahl- 
reicher Metazoen  sind  Fetttröpfchen  und  ähnliche 
Substanzen  gefunden  und  als  „Leuchtstoffe"  ange- 
sehen worden.    Auch  die  Abstammung  der  Leucht- 
organe der  Leuchtkäfer  aus  dem  Fettkörper  schien 
auf   die    gleiche   Tatsache    hinzuweisen.      Jedoch 
waren   hier  die   Zelleinschlüsse   hauptsächlich  Ei- 
weiß und  Dottersubstanzen.     Mir  scheint  es  auch 
durchaus   nicht   nötig  zu  sein,   daß   ein   und  der- 
selbe Stoff  in   all  den  verschiedenen  Tiergruppen 
die   Ursache   des  Leuchtens   darstellt;    die   große 
Mannigfaltigkeit    deutet    vielmehr   auch    auf  eine 
Verschiedenheit  der  ursächlichen  Bedingungen. 

Auch  Trojan  nimmt  an,  daß  der  Chemismus 
des  Leuchtvorganges'  mit  Umsetzung  von  Eiweiß- 
körpern zusammenhängt,  bei  welchen  Purinbasen 
und  Harnsäure  gebildet  werden. 

Der  Franzose  D  u  b  o  i  s  behauptet  aus  dem 
Leuchtsekret  der  Bohrmuschel  zwei  verschiedene 
Extrakte  hergestellt  zu  haben,  die  er  als  Luci- 
ferin  und  Luciferase  bezeichnete,  von  denen  die 
letztere  ein  oxydaseartiges  Ferment  darstellen 
soll.  Die  Luciferase  kann  man  durch  Kalium- 
permanganat, Bleisuperoxyd  oder  sauerstoffhaltiges 
Wasser  ersetzen. 

Harvey  hat  aus  Leuchtkäfern  und  aus  der 
leuchtenden  Crustacee  Cypridina  ähnliche  Sub- 
stanzen gewonnen,  eine  wärmebeständige,  das 
„Photophelein"  und  eine  durch  Wärme  zerstör- 
bare Substanz,  das  „Photogenin".  Später  hat  er 
hierfür  die  Bezeichnungen  von  Dubois  „Luci- 
ferin"  und  „Luciferase"  mit  Vorsetzen  des  Tier- 
namens angenommen.  Das  Q'/^/i;'/-'''«  -  Luciferin 
wird  zu  Oxyluciferin  oxydiert.  Der  Vorgang  kann 
auch  in  entgegengesetzter  Richtung  vor  sich 
gehen,  es  handelt  sich  um  einen  reversiblen 
Prozeß.  Die  Luciferase  ist  ein  Eiweißkörper,  und 
zwar  ein  Albumin,  mit  allen  Eigenschaften  eines 
Enzyms.  Die  chemische  Natur  des  Luciferins 
konnte  nicht  ganz  sicher  festgestellt  werden,  es 
hat  einige  Ähnlichkeit  mit  Peptonen.     Bei  Leucht- 


bakterien, einem  Ringelwurm,  einem  Tintenfisch 
und  einem  Knochenfisch,  sowie  bei  Noctiluca  ge- 
lang es  nicht,  diese  zwei  verschiedenen  Substanzen 
zu  isolieren. 

Daß  bei  dem  Leuchtvorgang  Enzyme  mit- 
wirken, darauf  scheinen  auch  die  allerneuesten 
Untersuchungen  von  Gerretsen  an  Leucht- 
bakterien hinzudeuten.  Er  schreibt  das  Entstehen 
des  Leuchtstoffes  der  Tätigkeit  der  „Photogenase" 
zu  und  die  Oxydation  dieses  Leuchtstoffes  soll 
durch  eine  Oxydase  erfolgen. 

Zum  Schluß  wollen   wir  jetzt  noch  die  Frage 
erörtern,    welche   Bedeutung   die  Lichterzeugung 
der  Organismen   im    Haushalte    der  Natur,    insbe- 
sondere   für    die    Tiere    selbst    hat.      Die    große 
Mannigfaltigkeit,  die  wir  in  den  Leuchtvorgängen 
und    den    Leuchtorganen   kennen    gelernt    haben, 
läßt  uns  von  vornherein    vermuten,    daß  durchaus 
nicht  alle   den  gleichen  „Zweck"  verfolgen,    nicht 
durch  das  gleiche  Prinzip  erklärt  werden  können. 
Handelt  es  sich  denn  aber  überhaupt  um  zweck- 
mäßige Einrichtungen   oder   handelt   es  sich  viel- 
leicht   nur   um  Vorgänge,    die   als  Begleiterschei- 
nungen   irgendwelcher    anderer   Vorgänge    statt- 
finden, etwa  als  Oxydationsprozesse  irgendwelcher 
Stoffwechselprodukte  oder  dergleichen  ?  Eine  ganze 
Reihe    von  Organismenlicht    ist    sicher  auf  diese 
Weise  zu  erklären.     Denn  bei  dem  Leuchten  der 
Protozoen,    der    Noctiluca    und    der    Peridiueen, 
können    wir   ebensowenig    wie    bei   den    Leucht- 
bakterien   irgendeinen    Zweck    finden,    mit    dem 
Leuchtvorgang    dieser  Organismen  verknüpft  sein 
sollte.    Wenn  wir  aber  die  meisten  Metazoen  be- 
trachten mit  ihren  außerordentlich  kompliziert  ge- 
bauten   Leuchtorganen,    mit    den    mannigfaltigen 
Hilfseinrichtungen,  wie  Reflektoren,  Pigmentmantel, 
Linse  usw.,  so  würden  uns  alle  diese  Einrichtungen 
doch   gänzlich   unverständlich    bleiben,    wenn    wir 
nicht  annehmen,    daß    der  Leuchtvorgang  für  das 
Tier    selbst    und    sein    Fortkommen    von   irgend- 
welcher   Bedeutung    ist.       Und    man    kann    auch 
mancherlei   Vorteile    feststellen,    die     die    Licht- 
produktion für  die  Tiere  mit  sich  bringt. 

Betrachten  wir  zunächst  den  Nutzen,  den  die 
Tiere  selbst  von  ihren  Leuchtorganen  haben 
können.  Viele  der  Leuchttiere  leben  in  voll- 
ständiger Dunkelheit,  in  den  Tiefen  des  Welten- 
meeres, in  die  kein  Lichtstrahl  mehr  hinabdringt. 
Dadurch  wird  es  verständlich,  daß  manche  der 
dort  lebenden  Tiere  selbst  einen  Lichtkegel  er- 
zeugen, bei  dessen  Schein  sie  sehen  können  mit 
ihren  manchmal  stark  entwickelten  Augen.  Nun 
ist  es  ihnen  möglich  sich  zu  orientieren,  sie  können 
ihrem  Nahrungserwerb  nachgehen  und  ihre  Feinde 
erkennen. 

Interessante  Versuche  hat  der  Fürst  von 
Monaco  gemacht,  welcher  elektrische  Lampen 
in  die  Tiefe  des  Meeres  hinabließ,  um  welche 
sich  dann  eine  große  Anzahl  von  Frischen  und 
Krebstierchen  ansammelten.  Das  führt  zu  der 
Auffassung,  daß  die  Leuchtorgane  in  manchen 
Fällen   zur  Anlockung  der  Beute  dienen  können. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Noch  größere  Bedeutung  haben  aber  die 
Leuchtorgane  ohne  Zweifel  für  die  Erkennung  der 
Artgenossen,  besonders  zur  Auffindung  des  ande- 
ren Geschlechts.  Bei  den  Leuchtkäfern  scheint 
das  Leuchten  hierbei  eine  wesentliche  Rolle  zu 
spielen,  wie  zahlreiche  Beobachtungen  gezeigt 
haben.  Man  kann  deutlich  sehen,  daß  die  fliegen- 
den Männchen  durch  die  an  der  Erde  sitzenden 
Weibchen  angelockt  werden.  Daß  nicht  etwa 
der  Geruch  es  ist,  der  die  Anlockung  vollbringt, 
in  ähnlicher  Weise,  wie  es  z.  B.  bei  Schmetter- 
lingen der  Fall  ist,  bei  denen  die  Männchen  auf 
viele  Kilometer  Entfernung  die  Weibchen  durch 
den  Geruch  wahrnehmen,,  zeigten  Versuche,  bei 
denen  man  die  Johanniskäferweibchen  in  durch- 
löcherte Pappschachteln  setzte,  worauf  sie  von  den 
Männchen  nicht  mehr  gefunden  wurden.  Auch 
das  Gebahren  der  Weibchen  des  großen  Johannis- 
käfers, sich  auf  den  Rücken  zu  legen  od«-  den 
Hinterleib  emporzuhalten,  so  daß  die  Leuchtorgane 
sichtbar  werden,  gibt  einen  Hinweis  auf  die  Be- 
deutung dieser  Organe. 

Auch  in  der  Tiefsee  spielen  die  Leuchtorgane 
für  die  Auffindung.,  der  Geschlechter  sicher  eine 
Rolle.  Sieht  man  sie  doch  bei  Tiefseefischen 
und  Tintenfischen  meist  in  ganz  charakteristischer 
Anordnung  und  oft  noch  dazu  in  verschiedenen 
Farben  erstrahlen,  so  daß  man  unwillkürlich  zu 
der  Auffassung  geführt  wird,  daß  dort  unten  in 
den  Tiefen  des  Weltenmeeres  die  Leuchtorgane 
eine  ähnliche  Rolle  spielen  wie  droben  am  Tages- 
licht die  mannigfachen  Färbungen  und  Zeichnun- 
gen der  Tiere. 

In  vereinzelten  Fällen  mag  vielleicht  das  tieri- 
sche Licht  als  Schreck-  oder  Warnlicht  aufzufassen 
sein  oder  wenigstens  dazu  dienen,  den  Feind  irre 
zu  führen.  Besonders  die  schon  erwähnte  Be- 
obachtung an  Tintenfischen  spricht  dafür,  welche 
ein  Sekret  ausspritzen,  das  im  Wasser  eine  leuch- 
tende Wolke  erzeugt,  welche  sicher  ebenso  wie 
die  Entlehrung  des  Tintenbeutels  dazu  geeignet 
ist,  das  Tier  den  Blicken  des  Verfolgers  zu  ent- 
ziehen. 


Es  gibt  also  eine  ganze  Reihe  von  Erklärungs- 
möglichkeiten, ohne  daß  wir  aber  in  jedem  ein- 
zelnen Falle  mit  Sicherheit  entscheiden  könnten, 
welche  Bedeutung  das  Leuchten  für  das  betreffende 
Tier  besitzt.  So  bleiben  trotz  der  zahlreichen 
Arbeiten  auf  dem  so  interessanten  und  anziehen- 
den Gebiet  der  leuchtenden  Tiere  auch  heute 
noch  eine  große  Reihe  von  ungelösten  Problemen. 


Literaturverzeichnis. 

In  fofgenden  Schriften  findet  man  ausführlichere  Literatur- 
angaben : 

Dittrich,  R.,  Über  das  Leuchten  der  Tiere.  Wissen- 
schaft!. Beilage  zum  Programm  d.  Realgymnasiums  am  Zwinger 
zu  Breslau.     Breslau  1888. 

Mangold,  E.,  Die  Produktion  von  Licht.  In:  Handb. 
der  vergl.  Physiol.  von  H.  Winterstein.  Bd.  3,  2.  Hälfte, 
S.  225 — 392.     Jena  1910. 

Pütter,  A.,  Leuchtende  Organismen  (Sammelreferat).  In; 
Zeitschr.  f.  allgem.  Physiol.     Bd.  5,  S.   17 — 53,   1905. 

Später  erschienene,  benutzte  Literatur : 

Blanchetiere,  Oxydation  et  lumlnescence.  In:  C.  R. 
Acad.  Sei.  Paris.     Bd.  157,  S.   118—121,  1913. 

Förster,  J.,  Über  die  Leuchtorgane  und  das  Nerven- 
system von  Pholas  dactylus.  In :  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool. 
Bd.   109,  S.  349—392,   1914- 

Geipel,  E.,  Beiträge  zur  Anatomie  der  Leuchtorgane 
tropischer  Leuchtkäfer.  In:  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.  Bd.  112, 
S.  239—290,   19 1 5- 

Gerretsen,  F.  C,  Über  die  Ursachen  des  Leuchtens 
der  Leuchtbakterien.  In:  Centralbl.  f.  Bakt.  usw.  II.  Abt., 
Bd.  52,  S.  353—373.   i920. 

Harvey,  E.  N. ,  Studies  on  bioluminescence  I — XII: 
In:  Amer.  Journ.  of.  Physiol.  Bd.  37 — 41;  Journ.  of  biol. 
Chem.  Bd.  31  ;  und  Journ.  of  general  Physiol.  Bd.  I — 2. 
1915 — 1920. 

Harvey,  E.  N. ,  The  nature  of  animal  light.  „Mono- 
grapbs  on  exper.  Biol."     Philadelphia  1920. 

Heller,  R.,  Biolumineszenz  und  Stoffwechsel.  In: 
Intern.  Zeitschr.  f.  pbysik.-chem.  Biol.    Bd.  3,  S.   lo6ff.,   1917. 

Pratj  e,  A.,  Noctiluca  miliaris  Sur.  Beiträge  zur  Morphol., 
Physiol.  u.  Cytologie  I.  In:  Arch.  f.  Frotistenkunde.  Bd.  42, 
S.  I — gS,  1921. 

Trautz,  M.,  Studien  über  Chemolumineszenz.  In:  Zeit- 
schr. f.  physik.  Chemie.     Bd.   53,  S.   I  ff.,   1905." 

Trojan,  E.,  Die  Lichtentwicklung  bei  Tieren.  In: 
Intern.  Zeitschr.  f.  pbysik.-chem.  Biol.     Bd.  3,  S.  94ff.,  1917. 

Vogel,  K.,  Zur  Topographie  und  Entwicklungsgeschichte 
der  Leuchtorgane  von  Lampyris  noctiluca.  In :  Zool.  Anz. 
Bd.  41,  S.  325—332,   1913- 


Einzelberichte. 


Das  Problem  der  Uubefruchtbarkeit. 

(Mit  2  Abb.) 

Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  es  nicht 
stets  möglich  ist,  durch  Verbindung  beliebiger 
Eltern  eine  Nachkommenschaft  zu  erhalten,  son- 
dern daß  in  vielen  Fällen  der  Versuch  dazu  er- 
folglos verläuft. 

Dieses  negative  Ergebnis  ist  dann  die  Regel, 
wenn  es  sich  um  Eltern  handelt,  welche  mehr 
oder  weniger  weitgehend  voneinander  verschieden 
sind.  Daß  dann  morphologische  Eigentümlich- 
keiten der  Gameten  ihre  Vereinigung  unmöglich 
machen,   oder   daß  zwischen  den  Keimzellen  sol- 


cher einander  fernstehender  Eltern  nur  geringe 
oder  keine  Affinitäten  bestehen,  und  daß  ihr  etwa 
zustande  kommendes  Verschmelzungsprodukt  oft 
ein  zur  Weiterentwicklung  ungeeignetes  Reaktions- 
system darstellt,  ist  leicht  zu  verstehen,  und  bietet 
theoretisch  nur  geringeres  Interesse. 

Um  so  bemerkenswerter  ist  es,  daß  manche 
geplante  Eiterverbindungen  keine  oder  nur  mangel- 
hafte Nachkommenschaft  ergeben,  nicht  nur  „trotz- 
dem", sondern  sogar  gerade  „weil"  die  beteiligten 
Eiterorganismen  nahe  miteinander  verwandt  sind. 

Zweierlei  Gründe  lassen  sich  für  das  Fehlen 
oder  die  Einschränkung  der  Fortpflanzungsfähig- 
keit als  unmittelbare  Ursachen  heranziehen.    Einer- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


441 


seits  kommt  es  vor,  daß  zwar  eine  Vereinigung 
der  beiden  Keimzellen  stattfindet,  daß  aber  die 
entstehende  Zygote  mangelhaft  ist  und  früh  zu- 
grunde geht  oder  sonst  für  die  Erhaltung  der 
Art  ausscheidet.  In  diesem  Falle  handelt  es  sich 
um  zygotische  Unfruchtbarkeit.  Andererseits 
kömmt  es  vor,  daß  eine  Verschmelzung  der  Keim- 
zellen, obwohl  dieselben  sonst  dazu  geeignet  er- 
scheinen, nicht  stattfindet.  Hier  unterbleibt  also 
schon  die  Empfängnis  (Syllepsis),  wodurch  es  zur 
aposylleptischen  Unfruchtbarkeit  kommt.  Von  der 
Möglichkeit,  daß  eines  der  beiden  zur  Kreuzung 
verwendeten  Eiterindividuen  etwa  überhaupt  keine « 
oder  nur  teilweise  brauchbare  Gameten  hervor- 
bringt, daß  also  gametische  Unfruchtbarkeit  oder 
echte  Sterilität  vorliegt,  darf  in  diesem  Zusammen- 
hange abgesehen  werden. 

Die  folgenden  Erörterungen  sollen  sich  nur  auf 
eine  Nachkommenlosigkeit  oder  mangelhafte  Fort- 
pflanzung infolge  von  Störungen  in  der  Empfäng- 
nis, also  im  Anschluß  an  partielle  oder  totale 
Unbefruchtbarkeit  (Aposyllepsis)  beschränken.  Da- 
bei wird  sich  von  selbst  die  Möglichkeit  ergeben, 
einige  recht  verschieden  erscheinende  biologische 
Tatsachen  unter  einheitlichen  Gesichtspunkten 
zusammenzufassen. 

Am  übersichtlichsten  liegen  die  Verhältnisse 
der  Unbefruchtbarkeit  bei  vielen,  in  haploider 
Phase  Mycelien  bildenden  Pilzen. 

Bei  den  Phycomyceten  wurde  zuerst  festge- 
stellt (Blakeslee  1904),  daß  nicht  stets  beliebige 
Mycelien  oder  Teile  der  gleichen  Mycelien  von 
Mucorineen,  wie  das  bei  Sporodiuia  grandis  der 
P'all  ist,  sich  miteinander  geschlechtlich  vereinigen, 
sondern  daß  es  innerhalb  mancher  Arten  zweierlei 

Mycelien  gibt,   + -Mycelien  und Mycelien,  von 

denen  jede  Gruppe  in  sich  nicht  zur  Coenozy- 
gotenbildung  schreitet,  während  zwischen  Myce- 
lien beider  Gruppen  es  mit  großer  Lebhaftigkeit 
zu  Kopulationsvorgängen  kommt.  Spätere  Unter- 
suchungen an  Pliycomyces  nifei/s  zeigten  dann 
(Burgeff  1915),  daß  die  Eigenschaft,  als  +-  oder 
—  Mycel  zu  reagieren,  sich  erblich  wie  jedes  be- 
liebige andere  von  mendelnden  Anlagen  bedingte 
Merkmal  verhält. 

Ganz  ähnliche  Resultate  ergaben  sich  bei  den 
Basidiomyceten.  Neben  Arten  ohne  eine  erbliche 
Spezialisierung  in  bezug  auf  die  Befruchtbarkeit 
{Hypockiins  tcrrcstris  Kniep  191 3,  Collybia 
conigena  Kniep  1917)  fanden  sich  andere  Arten, 
bei  welchen  wiederum  zweierlei  Typen  zu  unter- 
scheiden waren.  Bei  dem  Antherenbrand  {Usfi- 
lagu  violacca)  liegen  die  Verhältnisse  sehr  ähnlich, 
wie  bei  Pliycomyces,  nur  außerordentlich  viel  klarer, 
da  die  Zygoten  hier  nicht  vielkernig  sind,  wie  die 
Coenzygoten  oder  besser  die  daraus  entstehen- 
den Keimsporangien,  sondern  durch  die  einkerni- 
gen Brandsporen  repräsentiert  werden,  deren 
haploide  Nachkommen,  also  die  Sporidien,  einzeln 

geprüft  sich  zu  je  einer  Hälfte  dem  +■   und 

Typus  angehörig  erwiesen  (Kniep  191 1). 

Nun  ist  es  bekannt,  daß  die  meisten  Organismen - 


arten  zweierlei  verschiedene  haploide  Gameten- 
sorten  hervorbringen,  und  daß  diese  wohl  wechsel- 
weise miteinander  kopulieren,  nicht  aber  männ- 
liche mit  männlichen  oder  weibliche  mit  weib- 
lichen. Traten  also  auch  bei  den  Pilzen  zwei 
Typen  von  Haplonten  bzw.  Gameten  auf,  so  lag 
es  außerordentlich  nahe,  diese  Differenzierung  in 
zwei  durch  Sexualsymbiose  verknüpfte  Mycelsorten 
als  eine  Vorstufe  der  geschlechtlichen  Differen- 
zierung anzusehen.  Da  eine  morphologische  Ver- 
schiedenheit der  beiden  Mycelsorten  nicht  festzu- 
stellen war,  mußte  eine  physiologische  Geschlechts- 
differenzierung angenommen  werden. 

Daß  die  sonst  bekannte  geschlechtliche  Diffe- 
renzierung der  Haplonten  in  Makrogameten  und 
Mikrogameten  rein  phänotypisch  ist'),  während  es 
sich  hier  um  eine  genotypische  Verschiedenheit 
handelt,  ist  demgegenüber  ganz  besonders  hervor- 
zuheben. Dies  Verhalten  dürfte  zu  schweren 
Zweifeln  an  einer  Homologisierbarkeit  der  bei 
anderen,  in  Haplophase  befindlichen  Organismen 
vorkommenden  geschlechtlichen  Differenzierung 
mit   der   Differenzierung   der  Pilzmycelien    in    -f- 

und Typen   berechtigen.     Dazu  kommt  dann 

noch  ein  weiteres  Bedenken. 

Die  Prüfung  des  Basidiomyceten  Schizophyllum 
covunnue  ergab  nämlich  (Kniep  1919),  daß  der- 
selbe nicht  nur  in  zwei  Sorten  von  haploiden 
Mycelien  vorkommt,  sondern  in  einer  ganzen  An- 
zahl von  solchen.  Diese  stehen  zueinander  in 
ganz  verschiedenen  Beziehungen,  so  daß  etwa  das 
Mycel  a  mit  c  und  d  zusammentritt,  b  dagegen 
wohl  mit  c,  aber  nicht  mit  d  usw.  Daß  ein  sol- 
ches Verhalten  mit  der  überraschenden  Einheitlich- 
keit bei  der  ditypen  geschlechtlichen  Differenzie- 
rung kaum  harmoniert,  liegt  auf  der  Hand.  Und 
dabei  handelt  es  sich  nicht  um  einen  Sonderfall, 
sondern  um  eine  auch  bei  anderen  Basidiomyceten 
(Kniep  1919)  und  bei  Mucorineen  (Burger 
1919)  vorkommende  Erscheinung. 

Einen  Weg  der  Erklärung  findet  man  dann, 
wenn  man  an  die  Erfahrungen  über  die  zygotische 
Unfruchtbarkeit  anknüpft. 

Bei  der  Frage  der  zygotischeru  Unfruchtbarkeit 
ist  es  möglich  gewesen,  durch  die  Annahme  be- 
sonderer Letal faktoren  zu  einem  gewissen 
Einblick  in  die  recht  verwickelten  Verhältnisse  zu 
gelangen.  Unter  Letalfaktoren  werden  dabei  Erb- 
anlagen verstanden,  welche  im  heterozygotischen 
Zustande  ohne  weitere  Bedeutung  sind,  dann  aber, 
wenn  sie  homozygotisch  auftreten,  das  Gleich- 
gewicht in  der  Zygote  soweit  stören,  daß  dieselbe 
entweder  früher  oder  später  zugrunde  geht  (oder 
gelegentlich  auch  bloß  nicht  mehr  zur  Ausbildung 
normaler    Keimzellen    befähigt    ist) '-),    oder    daß 


')  Das  bei  der  Moosgattung  Sphaeroctiipiis  beobachtete 
Vorkommen  von  chromosomaler  Differenz  zwischen  männlichen 
und  weiblichen  Haplonten  stellt  eine  isoliert  stehende  Aus- 
nahme sekundärer  Art  dar  („totale"  Heterogametie  der  Di- 
plonten). 

''■)  Daß  es  auch  Letalfaktoren  gibt,  in  deren  Gegenwart 
die  Haplonten  nur  im  einen  oder  anderen  Gametengeschlecht 


442 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sie  besonders  empfindlich  ist  und  daher  in  ver- 
hältnismäßig größerem  Maßstab  allerlei  Zufällig- 
keiten der  Umwelt  erliegt.  Durch  die  Heran- 
ziehung solcher  Letalfaktoren  (Morgan)  als  Er- 
klärungsprinzip gelang  es,  den  Ausfall  oder  die 
zahlenmäßige  Verminderung  gewisser,  nach  den 
Vererbungsregeln  zu  erwartender  diploider  Phäno- 
typen bei  Bastardierungsversuchen  durch  Elimi- 
nation zwanglos  abzuleiten.  Die  entwicklungs- 
mechanische Seite  des  Problems,  nämlich  die 
Frage  danach,  worauf  die  charakteristische  Wir- 
kung der  Letalfaktoren  beruht,  konnte  bei  dieser 
rein  vererbungstheoretischen  Behandlung  beiseite 
gelassen  werden  ^). 


Elimination 


faktoren  seien  dabei  Faktoren  verstanden,  welche 
auf  ihresgleichen  eine  abstoßende  Wirkung  aus- 
üben ^).  Der  Erfolg  dabei  sei,  daß  Zellen,  welche 
gleichnamige  Oppositionsfaktoren  tragen,  sich 
nicht  oder  nur  mehr  oder  weniger  ungern  mit- 
einander vereinigen  lassen,  und  daß  auch  sonst 
die  Gegenwart  von  gleichartigen  Oppositions- 
faktoren störend  wirkt.  Auch  in  diesem  Fall 
darf  die  entwicklungsmechanische  Seite  des  Pro- 
blems, die  Frage  nach  der  Kausalität  der  Oppo- 
sition, zunächst  außer  acht  gelassen  bleiben,  da 
für  die  vererbungstheoretische  Behandlung  nur 
das  konditionale  Verhalten  von  Bedeutung  ist. 
Durch  die   Heranziehung  der  Oppositionsfaktoren 


(f)     (ö)     (Ü) 
I       I       I 

D)   m  (m: 


Prohibition 


F.® 


(I)      (Ö)      (D) 
1         1         U 

(ffi)   (m   @ 


Für  die  Frage  der  Unbefruchtbarkeit  erscheint 
es  nun  möglich,  durch  die  Annahme  besonderer 
Oppositions faktoren  ein  einheitHches  Er- 
klärungsprinzip zu  schaffen.     Unter   Oppositions- 


soll nur  versucht  werden,  die  Beeinträchtigung  des 
Auftretens  gewisser  vererbungstheoretisch  zu  er- 
wartender diploider  Phänotypen  durch  Prohi- 
bition abzuleiten '-). 


existieren  könne  (gametic  lethals)  kann  hier  aufler  Betracht 
bleiben,  da  dies  auf  das  Gebiet  der  gametischen  Sterilität 
führt.  Dagegen  ist  vielleicht  zu  erwähnen,  dai3  das  alleinige 
Auftreten  eines  Letalfaktors  ohne  ein  normales  Allelomorph, 
wie  das  bei  geschlechtsgebundenen  Letalfaktoren  im  hetero- 
zygotischen  Geschlechte  in  Betracht  kommt,  ebenfalls  zum 
Ausfall  der  betreffenden  Kombination  führt. 

')  In  manchen  Fällen  kennt  man  die  Wirkungsweise  des 
LetaUaktors,  so  bei  dem  Faktor  für  Gclbblättrigkeit  bei  Antiy- 
rhiitum,  der  homozygotisch  die  für  die  Assimilation  erforder- 
liche Chlorophyllbildung  ganz  unterbindet.  In  anderen  Fällen 
ist  über  die  Phänogenese  der  Letalität  nichts  bekannt. 


')  Der  Vergleich  eines  Oppositionsfaktors  mit  einer  elek- 
trisch geladenen  Elektrode,  die  gleichnamig  geladene  Elek- 
troden abstößt,  gibt  wohl  ein  Bild  vom  Charakter  der  Oppo- 
sitionsfakloren,  ohne  sie  jedoch  erklären  zu  können,  zumal 
eine  Anziehung  zwischen  ungleichen  Oppositionsfaktoren  nicht 
anzunehmen  ist.  Vielleicht  handelt  es  sich  um  die  Fähigkeit 
zur  Abgabe  wachstumshemmender  Stoffwechselprodukte ,  wie 
sie  auch  von  Bakterien  bekannt  sind. 

*)  Den  Unterschied  von  Elimination  und  Prohibition  kann 
man  sich  leicht  an  einem  Beispiele  klarmachen,  n  Eizellen 
der  Sorte  a  werden  im  Überschuß  besamt  mit  Samen,  der  zu 
gleichen  Teilen  a-  und  b-Zellen  enthält,     Es  werden   also  zu- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


443 


Nimmt  man  das  Vorhandensein  von  solchen 
Oppositionsfaktoren  an,  so  findet  man  keine 
Schwierigkeiten  für  das  Verständnis  der  Dinge 
bei  den  Pilzen.  Bei  Pliycomyccs,  Ustilago  violacca 
und  anderen  muß  man  dann  voraussetzen,  daß 
zwei  solche  Oppositionsfaktoren  im  Spiele  sind, 
die  allelomorph  sind,  also  in  homologen  Chromo- 
somen liegen.  Träger  des  gleichen  Oppositions- 
iaktors  werden  dann  durch  die  Wirkung  der  Oppo- 
sition, entgegen  der  trotzdem  selbstverständlich 
noch  vorhandenen  wechselweisen  zygotaktischen 
(Blakeslee)  Anziehung,  an  der  Verschmelzung 
verhindert. 

Die  Verhältnisse  bei  Schisopliylkim  liegen  dem- 
gegenüber so,  daß  wohl  mehrere  Oppositions- 
faktoren vorhanden  sind,  bei  denen  erst  durch 
ausgedehntere  Vererbungsversuche  zu  ermitteln 
wäre,  ob  und  in  welchem  Umfange  sie  paarweise 
allelomorph  sind  oder  Gruppen  multipler  Allelo- 
morphe  darstellen.  Jedenfalls  lassen  sich  unter 
dieser  Annahme  ähnlich  komplizierte  Systeme  von 
Affinität  und  Antagonismus  ableiten,  wie  sie  bis- 
her (Kniep)  bekanntgegeben  sind.  Sehr  wichtig 
für  die  Beurteilung  der  Sachlage  in  diesem  Sinne 
ist  die  Feststellung,  daß  aus  ganz  entfernten 
Gegenden  stammende  Mycelien  von  Schizophylluin 
am  ausgiebigsten  miteinander  verschmelzen.  Sie 
wird  durch  die  Annahme  von  Oppositionsfaktoren, 
die  bei  fernstehenden  Formen  selten  gleich  sein 
werden,  ohne  weiteres  verständlich  gemacht;  die 
Vorstellung  dagegen,  daß  paarweise  vereinbare 
Haplonten  zueinander  gleichsam  komplementäre 
Faktoren  besäßen,  versagt  in  solchen  Fällen.  Da- 
mit dürfte  die  schon  als  selbstverständlich  hinge- 
stellte Unabhängigkeit  der  Oppositionsfaktoren  von 
der  stets  vorhandenen  isogametischen  Attraktion 
verschiedener  Mycelien  erwiesen  sein  ^). 

Auch  die  merkwürdigen  Befunde  über  die  Be- 
ziehungen zwischen  den  parasitischen  und  den 
von    ihnen   befallenen    Mucorineen,    nämlich    daß 


nächst  im  Mittel  gleich  oft  Verbindungen  aa  und  ab  möglich 
sein.  Findet  nun  eine  Elimination  der  aa-Zygoten  statt ,  so 
resultieren  nur  n/2  Nachkommen  der  Konstitution  ab;  findet 
eine  Prohibition  der  aa-Zygotenbildung  statt,  so  werden  die 
für  a- Samenzellen  zuständigen  a- Eizellen  nachträglich  auch 
von  b  befruchtet ;  es  resultieren  also  n  Nachkommen  der 
Konstitution  ab.  Die  beiden  beigegebenen  Schemata  zeigen 
dasselbe  für  einen  einfachen  Mendelfall.  Links  ist  der  hetero- 
zygotische  zwittrige  Elter  angegeben,  dann  folgen  die  ge- 
schlechtsdimorphen Gametangien  ($  und  0-"');  Samenzellen  (er) 
seien  doppelt  so  viel  vorhanden  als  Eizellen  (9) ;  das  ange- 
kreuzte Chromosom  trage  bei  Elimination  den  Letalfaktor,  bei 
Prohibition  den  Oppositionsfaktor,  und  gelange  in  die  Hälfte 
der  Gameten  jeder  Sorte.  Die  punktierten  Gameten  kommen 
unter  den  Umständen  nicht  zur  Befruchtung,  die  punktierte 
Zygote  geht  zugrunde.  Das  Verhältnis  der  Heterozygoten  (ab) 
und  Homozygoten  (bb)  ist  dann  bei  Elimination  2:1,  bei 
Prohibition  3  :  I  (oder  auch  >  3  :  I ,  wenn  eine  nennenswerte 
Ablenkung  der  normalen  Gameten  erfolgt,  wodurch  wiederum 
die  Befruchtung  normaler  Eizellen  von  Prohibitionsgameten 
begünstigt  wird). 

')  Zu  erwarten  wäre  unter  den  Umständen,  daß  eine 
Schwächung  des  Oppositionsfaklors  durch  die  Lebenslage 
auch  die  Vereinigung  homologer  Mycelien  ermöglichen  würde 
—  eine  Vermutung,  welche  anscheinend  ausnahmsweise  im 
Verhalten  alternder  Kulturen  eine  Bestätigung  findet. 


meist  nur  -f -Parasiten  auf  — Wirten  parasitieren 
können  und  umgekehrt  (Burgeff  1921)  stehen 
gut  im  Einklang  mit  der  Annahme  von  Oppo- 
sitionsfaktoren. Es  liegt  kein  Grund  dagegen  vor, 
daß  verwandtschaftlich  nicht  einmal  allzu  ver- 
schiedene Pilzarten  einander  gleiche  oder  ähnliche 
Oppositionsfaktoren  aufweisen  können.  Die  Be- 
trachtung des  Parasitismus  selbst  als  eines  rudi- 
mentären Geschlechtsvorganges  (Burgeff)  wird 
dadurch  natürlich  in  keiner  Weise  berührt. 

Alles  in  allem  bietet  die  Einführung  von  Op- 
positionsfaktoren, also  die  Annahme  einer  geno- 
typischen Opposition,  einen  unschwer  gangbaren 
Weg  zur  Ableitung  der  Besonderheiten  beim  Ge- 
schlechtsvorgange der  Pilze.  Unter  den  Um- 
ständen stellt  dann  die  Stufenleiter  von  Ver- 
schiedenheiten beim  Sexualakt  der  Pilze  zum  Teil 
nur  eine  Reihenfolge  von  Fortpflanzungstypen 
ohne  oder  mit  verschiedenartigen  Oppositions- 
faktoren dar,  hat  aber  mit  der  sonst  vorkommen- 
den Geschlechtsdifierenzierung  nichts  zu  tun. 
Wenn  man  trotzdem  auch  hier  von  „geschlecht- 
licher" Differenzierung  sprechen  will,  so  muß  man 
jedenfalls  im  Auge  behalten,  daß  es  sich  um  einen 
dritten  Typus  derselben  (Aethogametie)  handelt, 
welcher  von  der  phänotypischen  Anisogametie  ^) 
der  Haplonten  (die  oft  auch  auf  den  Diplonten 
übergreift)  und  der  genotypischen  Heterogametie 
der  Diplonten  grundsätzlich  zu  unterscheiden  ist 
(Prell  1921). 

Analoge  Erscheinungen,  wie  bei  den  Pilzen, 
finden  sich  überraschenderweise  auch  bei  höheren 
Pflanzen  und  bei  Tieren.  Dabei  handelt  es  sich 
um  eine  Spezialisierung,  die  neben  der  gameten- 
geschlechtlichen  einhergeht  und  sich  dadurch  ohne 
weiteres  als  unabhängig  davon  erweist.  Zuerst 
beobachtet  wurde  dieselbe  bei  zwittrigen  Organis- 
men, also  solchen,  bei  welchen  die  zur  Vereini- 
gung vorgesehenen  Gameten  sich  von  der  gleichen 
Zygote  herleiten  können,  und  daher  stammt 
auch  die  unglücklich  gewählte  Bezeichnung  als 
Selbststerilität.  Obwohl  es  sich  dabei  nicht 
um  echte  (gametische)  Sterilität  handelt,  sondern 
um  Unbefruchtbarkeit,  und  obwohl  dabei  nicht 
bloß  eine  Unbefruchtbarkeit  durch  eigene  Ge- 
schlechtszellen in  Betracht  kommt  (also  individuelle 
Identität  der  zu  verbindenden  Eltern),  sondern 
eine  solche  durch  Geschlechtszellen  von  gewisser 
genotypischer  Struktur  oder  Herkunft,  dürfte  es 
praktisch  aussichtslos  sein,  den  fest  eingeführten 
Namen  durch  einen  anderen,  wie  etwa  Selbst- 
unempfänglichkeit  (Sirks),  zu  ersetzen. 

Die  Tatsache,  daß  die  Narben  zwittriger  Blüten 
manchmal  mit  dem  Blütenstaub  der  gleichen  Blüte 
nicht  fruchtbar  bestäubt  werden  können,  ist  der 
pflanzenzüchterischen  Praxis  schon  sehr  lange  be- 
kannt; entsprechend  der  ebenso  bekannten  Tat- 
sache, daß  diese  Unbefruchtbarkeit  sich  auch  auf 


')  Bei  manchen  Mucorineen  (Zygorrhyiichus),  bei  welchen 
verschieden  gestaltete  Seitenäsle  des  gleichen  Mycels  mitein- 
ander Zygosporen  bilden,  scheint  auch  echte  Anisogametie 
vorzukommen  (Blakeslee  1904). 


444 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  30 


die  übrigen  Blüten  des  gleichen  Stockes  erstreckt, 
konnte  dasselbe  Verhalten  auch  für  die  Blüten 
vegetativ  davon  gewonnener  Sprößlinge  ermittelt 
werden  {Lüiiim  hiilbiferiti)i). 

Wesentliche  Fortschritte  brachte  dann  der  Ver- 
such, die  Erblichkeitsverhältnisse  der  Selbststerilität 
aufzuklären.  Bei  verschiedenen  Pflanzen,  besonders 
klar  bei  Vcronica syriaca  (Lehmann  19 19),  stellte 
sich  einheitlich  heraus,  daß  in  der  Nachkommen- 
schaft zweier  selbststeriler  Pflanzen  vier  Gruppen 
von  Sprößlingen  aufzutreten  pflegen,  welche  jede 
in  sich  nicht  fortpflanzungsfähig  sind,  wechselweise 
verbunden,  aber  Nachkommenschaft  liefern.  Eine 
Erklärung  für  dies  merkwürdige  Verhalten  konnte 
bisher  noch  nicht  gegeben  werden,  nachdem  die 
ursprünglich  vorgenommene  Faktorenanalyse  sich 
als  nicht  ausreichend  erwiesen  hatte.  Die  soeben 
an  den  Pilzen  erprobten  Hilfsannahmen  ermöglichen 
es  jetzt,  dem  Problem  näher  zu  kommen.  Auch 
in  diesem  Falle  liegt  es  nahe,  den  Hauptwert 
nicht  auf  die  Tatsache  des  vorkommenden  Zu- 
sammenpassens,  sondern  auf  die  des  gelegentlichen 
Nichtzusammenpassens  zu  legen.  Es  wäre  dann 
also  nicht  mit  dem  Vorhandensein  besonderer, 
gleichsam  komplementärer, Stimulantia  (Jos t  1907) 
für  das  Pollenwachstum  zu  rechnen,  sondern  mit 
Hemmungsstoffen  (Correns  191 3),  welche  sich 
der  normalen  zygotaktischen  Attraktion  bzw.  der 
normalen  Stimulation  des  Pollenwachstums  durch 
chemische  Substanzen  der  Narbe  widersetzen. 

Die  Arbeitshypothese  vom  Vorkommen  von 
Oppositionsfaktoren  läßt  nun  in  der  Tat  das 
sonderbare  Verhalten  der  Nachkommen  selbst- 
steriler Pflanzen  mühelos  ableiten.  Geht  man 
von  der  Voraussetzung  aus,  daß  ein  Satz  von  vier 
Oppositionsfaktoren  beteiligt  sei,  welche  als  mul- 
tiple AUelomorphe  auf  homologen  Chromosomen 
gelegen  seien,  so  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß 
aus  der  Verbindung  der  Eltern  Oj  O2  und  O3  O^ 
die  Sprößlinge  Oj  O3,  Oj  O^,  Oo  O3  und  Og  O4  her- 
vorgehen müssen,  also  die  verlangte  Tetratypie 
der  Nachkommenschaft  zustande  komtnt*). 

Eine  große  Schwierigkeit  für  das  ganze  Pro- 
blem bedeutet  es,  daß  es  sich  bei  der  Selbst- 
sterilität nicht  um  das  Verhalten  von  Haplonten 
zueinander  handelt,  wie  bei  den  Pilzen,  sondern 
um  das  Verhalten  von  Haplonten  zu  Diplonten. 
Erfolgt  eine  Selbstbestäubung,  also  gelangt  etwa 
der  Pollen  mit  dem  Faktor  O,  auf  die  Narbe 
seiner  IMutterpflanze  Oj  Og ,  so  wird  seine  Ent- 
wicklung selbstverständlich  durch  die  diploiden 
Zellen  derselben  gestört,  weil  diese  auch  den 
Faktor  Oj  enthalten.  Ob  dabei  der  Pollenschlauch 
gar  nicht  in   die   Narbe   eindringen  kann  (Carda- 

')  Erwähnt  sei,  daß  es  unter  sonst  selbststerilen  Pflanzen 
gelegentlich  auch  solche  gibt,  die  selbstfertil  sind.  Hierbei 
ist  jedenfalls  anzunehmen,  dafi  die  Empfindlichkeit  für  Oppo- 
sitionsfaktoren  von  besonderen  Sensibilationsfaktoren  bestimmt 
wird,  welche  gegen  die  Faktoren  für  Unempfindlichkeit  rezessiv 
sind.  Bei  Kreuzung  der  fertilen  gegen  die  selbststerilen  Sippen 
ergibt  sich  dann  für  fertil :  steril  das  Verhältnis  3 : 1  (Reseda 
nach  Comp  ton)  oder  15:1  bei  Homomerie  der  Sensibila- 
toren  (Antirrh'mttm  nach  Baur). 


mine)  oder  nicht  weit  oder  nicht  rasch  genug 
[Ociwfliera),  ist  von  sekundärem  Iifteresse,  weist 
aber  schon  auf  verschiedene  Intensität  des  dem 
normalen  Pollenwachstum  widerstrebenden  Oppo- 
sitionsfaktors hin. 

Die  Opposition  bleibt  im  Prinzip  die  gleiche, 
wenn  derselbe  Pollen  Oj  auf  eine  andere  Pflanze 
der  gleichen  Klasse  Oj  Og  gelangt;  immerhin 
scheint  hier  gelegentlich  der  Widerstand  des  Op- 
positionsfaktors vom  Pollenwachstum  überwunden 
werden  zu  können,  so  daß  unerwartete  Befruchtung 
eintritt  (Klasse  i  bei  Cardamiiic  nach  Correns). 

Verwickelter  werden  die  Dinge  dann,  wenn 
man  den  Kreuzungsmöglichkeiten  der  vier  Spröß- 
lingstypen untereinander  und  mit  den  beiden 
Eltern,  kurz  also  der  sechs  möglichen  Paarkombi- 
nationen zwischen  den  vier  Oppositionsfaktoren, 
nachgeht.  Die  Versuche  ergaben  bei  Cardamine 
und  ?  "(VYw/'tv?,  daß  die  vier  Sprößlingstypen  wechsel- 
weise miteinander  fertil  sind;  bei  Liuaria  (Cor- 
rens 1916)  fand  sich  auch  eine  individuelle  Aus- 
nahme davon.  Die  Rückkreuzungen  führten  bei 
Cardaviiiic  zu  dem  Resultat,  daß  im  wesentlichen 
einer  der  Sprößlingstypen  (O,  O^)  mit  beiden  Eltern 
fertil  war,  je  einer  mit  je  einem  der  Eltern  (Oj  O4 
und   Oo  O3),    der    vierte    mit   keinem   der    Eltern 

(o.,o,): 

Die  Faktorenanalyse  stößt  hier  auf  neue  Kom- 
plikationen. Am  einfachsten  liegen  die  Dinge 
.bei  einer  Kreuzbefruchtung,  bei  welcher  etwa 
Pollen  Ol  der  Pflanze  Oj  O.,  auf  Narben  der 
Pflanzen  O^  Oj,  oder  O,  O4  gelangt ;  auch  in  diesem 
Falle  findet  eine  direkteOpposition  auf  geno- 
typischer Basis  statt.  Anders  wird  die  Sache  aber, 
wenn  etwa  der  Pollen  O^  einer  Pflanze  OaOi,  auf 
die  Narbe  der  Tochterpflanze  Ob  Oc  gelangt.  Die 
Vererbungsversuche  an  Cardamine  haben  in  diesem 
Falle  ergeben,  daß  hier  ein  verschiedenes  Ver- 
halten eintreten  kann;  bei  der  einen  Sprößlings- 
gruppe blieb  eine  solche  Verbindung  steril  (O3 
aus  O3O4  auf  O.,  O4),  bei  der  anderen  war  sie 
fertil  (O2  aus  O/O.j  auf  Oj  O3). 

Hier  spielt  augenscheinlich  ein  neues  Moment 
hinein,  nämlich  das  Zustandekommen  einer  indu- 
zierten Opposition.  Bei  deren  Erörterung 
ist  man  dann  gezwungen  die  rein  konditional- 
vererbungstheoretische  Basis  zu  verlassen,  und 
etwas  dem  kausal-phänogenetischen  Zusammen- 
hange nachzugehen. 

Den  Vorgang  der  Induktion  kann  man  sich 
entwicklungsmechanisch  vielleicht  so  vorstellen, 
daß  durch  das  Entstehen  aus  einem  Gonotokonten 
O3  O4  der  Haplont  O3  mit  einem  Protoplasma 
ausgestattet  ist,  welches  noch  die  Hemmungs- 
stoffe von  O,  enthält;  dieses  Protoplasma  wird 
dann  in  ähnlicher  Weise  reagieren,  als  wenn 
der  die  Ausbildung  der  Hemmungsstoffe  veran- 
lassende Faktor  O4  selbst  noch  vorhanden  wäre, 
nur  dürfte  die  Wirksamkeit  der  induzierten  Oppo- 
sition   viel    größeren    Schwankungen    unterliegen. 

Eine  andere  und  wohl  bessere  Erklärungs- 
möglichkeit ist  die,    daß   man   die  induzierte  Op- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


445 


Position  vollkommen  von  der  direkten  trennt 
und  sie  tiefer  zu  fassen  sucht.  Das  geschieht, 
wenn  man  die  induzierte  Opposition  als  eine  rein 
plasmatische  Reaktion  ansieht  und  sie  auf  Vor- 
gänge vom  Charakter  der  Anaphylaxie  zurück- 
führt. Der  Pollen  mit  dem  Faktor  Oa  ist  dann 
anaphylaktisch  empfindlich  zu  denken  gegen  die 
von  Ob  hervorgebrachten  Substanzen,  gegen  die 
er  ursprünglich  bei  seiner  Entstehung  im  Organis- 
mus Oa  Ob  Schutzstoffe  gebildet  hatte ;  kommt  er 
dann  bei  der  Bestäubung  mit  dem  Ob  enthalten- 
den Diplonten  OaOi,  in  Berührung,  so  wird  er 
dadurch  mehr  oder  weniger  geschädigt  und  oft 
von  der  Befruchtung  ausgeschlossen. 

Durch  die  Verbindung  von  direkter  und 
induzierter  Opposition  lassen  sich  dann  die  Ver- 
hältnisse des  Erbganges  bei  Cardamuic  verstehen, 
wenn  man  Verschiedenheiten  in  der  Potenz  der 
Oppositionsfaktoren  annimmt. 

Ein  ähnliches  Vorkommen  von  Unbefrucht- 
barkeit,  wie  bei  den  selbststerilen  Pflanzen,  ist  auch 
von  einem  Tier,  der  zwittrigen  Seescheide  Cioiia 
intestinalis  (Morgan  19  lo)  untersucht  worden. 
Anscheinend  spielen  hier  mehr  Oppositionsfaktoren 
herein,  analog  dem  Verhalten  von  Schizophylkini, 
deren  Isolierung  und  Gruppierung  nach  den  vor- 
liegenden Ergebnissen  noch  nicht  möglich  ist. 

Daß  Unbefruchtbarkeit  auch  für  die  getrenntge- 
schlechtigen Tiere  zu  berücksichtigen  ist  und  für 
die  mangelhaftere  Fortpflanzung  bei  Inzucht  ge- 
legentlich mit  verantwortlich  gemacht  werden 
muß,  ist  äußerst  wahrscheinlich,  aber  noch  nicht 
experimentell  belegt. 

Außer  bei  den  „physiologisch  sexualdififerenten" 
Pilzen  und  den  „selbststerilen"  Pflanzen  und  Tieren 
kommt  nun  Unbefruchtbarkeit  noch  bei  einer 
dritten  Gelegenheit  vor,  nämlich  bei  der  Erschei- 
nung der  Heterostylie. 
\  Bekanntlich    gibt     es    bei    den    heterodistylen 

Pflanzen,  wie  den  Primeln  und  anderen,  zwei 
Typen,  welche  sich  durch  ihre  Blütenform  unter- 
scheiden, nämlich  kurzgriffelige  mit  hochgestellten 
Antheren  und  langgriffelige  mit  tiefgestellten 
Antheren.  Miteinander  gekreuzt  (legitime  Be- 
stäubung) geben  diese  beiden  Typen  reichlichere 
Nachkommenschaft,  als  wenn  sie  innerhalb  der 
Typen  verbunden  werden  (illegitime  Bestäubung); 
in  manchen  Fällen  findet  eine  illegitime  Be- 
fruchtung überhaupt  nicht  statt. 

Die  Spezialisierung  in  zwei  verschiedene  diploide 
Typen,  welche  miteinander  in  Sexualsymbiose 
leben,  legt  vielleicht  auch  hier  die  Annahme  von 
Beziehungen  zur  geschlechtlichen  Differenzierung 
der  Diplonten  nahe.  Dafür  würde  sprechen,  daß 
sowohl  die  Heterostylie,  als  auch  die  heterogame- 
tische  Bisexualität  auf  genotypischer  Basis  be- 
ruhen. In  beiden  Fällen  ist  die  Unbefruchtbarkeit 
zwischen  Haplonten  gleicher  Herkunft  nicht  an 
eine  einzelne,  in  den  Haplonten  vorhandene  An- 
lage, sondern  an  das  Vorhandensein  einer  be- 
stimmten Kombination  von  mehreren  derselben 
in    dem    die    Haplonten    erzeugenden    elterlichen 


Diplonten  gebunden  und  daher  bei  den  Haplonten 
selber  rein  plastotypisch  bedingt.  Wichtig  ist  aber 
der  Unterschied,  daß  bei  der  Bisexualität  und  der 
nahestehenden  Heterodynamie  die  Verschiedenheit 
der  diploiden  Eltern  eben  die  Verschiedenheit  der 
Gameten  als  männliche  oder  weibliche  zur  Folge 
hat,  bei  der  Heterostylie  aber  eine  andere,  gleich- 
zeitig und  unabhängig  davon  auftretende  Eigen- 
schaft. Dies  und  die  Tatsache,  daß  es  auch  Tri- 
morphismus  der  Heterostylie  gibt  {Lytlirum)  spricht 
dafür,  beide  Arten  der  Differenzierung  als  unab- 
hängige Parallelerscheinungen  anzusehen. 

Das  Vorkommen  herabgesetzter  oder  fehlender 
Nachkommenerzeugung  bei  der  illegitimen  Be- 
stäubung der  Heterostylen  läßt  sich  nun  ohne 
weiteres  auf  induzierte  Opposition  zurückführen. 
Für  die  Mechanik  der  plastotypisch  bedingten 
Unbefruchtbarkeit  liegt  es  dabei  nahe,  wiederum 
zu  der  Annahme  von  anaphylaktischen  Erscheinun- 
gen zu  greifen.  Man  könnte  dann  etwa  annehmen, 
daß  der  Pollen  mit  dem  Faktor  A  gegen  den  Einfluß 
des  ihn  umgebenden  Gewebes  AB  erst  Schutz- 
stoffe bildet,  und  dann,  nach  seiner  Umkapselung 
durch  die  Pollenmembran  gegen  dieselben  Ge- 
webe von  einer  bestimmten,  durch  die  Gesamt- 
konstitution AB  bedingten  chemischen  Beschaffen- 
heit so  empfindlich  wird,  daß  er  beim  Versuch 
des  Keimens  darauf  mehr  oder  weniger  Not  leidet. 
Daß  durch  eine  solche  Anschauungsweise  das 
phänogenetische  Problem  bereits  gelöst  wäre,  wird 
man  allerdings  kaum  behaupten  dürfen;  aber  es 
ist  so  doch  wenigstens  möglich,  an  Bekanntes  von 
anderen  Gebieten  anzuknüpfen. 

Damit  dürfte  die  Zahl  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Typen  der  Unbefruchtbarkeit,  von 
denen  nur  wenige  Einzelheiten  berücksichtigt 
werden  konnten,  einen  Abschluß  gefunden  haben. 

Faßt  man  die  bisherigen  Resultate  über  die 
Verhinderung  oder  Erschwerung  der  Fortpflanzung 
infolge  des  Auftretens  von  Unbefruchtbarkeit  zu- 
sammen, so  lassen  sich  zwei  verschiedene  Ur- 
sachen dafür  einander  gegenüberstellen,  nämlich 
die  direkte  oder  genotypisch  bedingte  Unbefrucht- 
barkeit und  die  induzierte  oder  plastotypisch  bedingte 
Unbefruchtbarkeit.  Und  diese  beiden  Ursachen 
sind  an  den  einzelnen  beobachteten  Fällen  von 
Unbefruchtbarkeit  in  verschiedener  Weise  beteiligt. 
Im  einen  Falle  liegt  ein  rein  genotypisch  be- 
stimmtes Verhalten  vor  (Pilze),  im  anderen  ein 
rein  plastotypisch  bestimmtes  (Heterostylie),  im 
dritten  schließlich  führt  die  Verknüpfung  von 
genotypischer  und  plastotypischer  Bestimmung 
(selbststerile  Pflanzen  und  Tiere)  zu  einer  erheb- 
lichen Verwicklung.  Hoffentlich  gelingt  es,  nach- 
dem so  ein  Überblick  über  die  konditionalen 
Verhältnisse  gewonnen  ist,  nunmehr  auch  in  die 
kausalen  Zusammenhänge  dieser  ebenso  interessan- 
ten,   wie   eigenartigen  Dinge   tiefer  einzudringen. 

Zitierte  Schriften. 
Baur,  E. ,    Einführung   in   die  experim.  Vererbungslehre, 
III.  Aufl.,   1919.  —  Blukeslee,  A.  F.,    Proc.  Americ.  Arad. 
of  Arts  and  Sei.,  XL,   1904.    —    Burgeff,    H.,    Flora,  CVII, 


446 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  30 


1914;  CVIII,  1915;  Ber.  Deutsch.  Bot.  Ges.,  1920.  —  Bur- 
ger, O.  F.,  Bot.  Gaz.,  LXVIII,  1919  (ref.  Zeilschr.  f.  Bot. 
XII,  1920).  —  Correns,  C,  Biol.  Zenlraibl,  XXXIII,  1913; 
Naturwissenschaften,  IV,  1916.  —  Jost,  L. ,  Bot.  Zeitung, 
LXV,  1907.  —  Kniep,  H.,  Zeitschr.  f.  Bot.,  V,  1913;  IX, 
1917;  XI,  1919;  Verh.  Physilä.-Med.  Ges.  Würzburg,  1919. — 
Lehmann,  E.,  Zeitschr.  f.  indukt.  Abst.  U.Vererbungslehre, 
XXI,  1919.  —  Morgan,  T.  H.,  Arch.  f.  Entw.-Mech.,  XXX, 
1910.  —  Prell,  H.,  Arch.  f.  Entw.-Mech.    (im  Druck),   1921. 

Prell,  Tübingen. 

Haiiptebene  der  Milchstraße. 

Die  wahre  Lage  der  Hauptebene  der  Milch- 
straße, die  sog.  galaktische  Ebene  hat  Graff  in 
Hamburg  auf  photometrischem  Wege  bestimmt, 
indem  er  eine  Reihe  von  Querschnitten  durch  die 
Milchstraße  legte,  und  dann  durch  deren  Schwer- 
punkte eine  Ebene  legte.  Es  zeigte  sich  das 
wichtige  Ergebnis,  daß  die  so  erhaltene  Ebene 
einen  größten  Kreis  ergibt,  daß  in  der  Ebene 
dieses  Kreises  die  Sonne  liegt,  und  daß  also  das 
visuelle  Bild  der  Milchstraße  gerade  den  schwächsten 
Objekten,  Sternhaufen  und  Nebeln  verdankt  wird, 
nicht  den  schwachen  Sternen  bis  zur  9,5.  Größe, 
aus  denen  Ristenpart  seinerzeit  abgeleitet  hatte, 
daß  die  Sonne  außerhalb  der  Hauptebene  liege 
und  daß  ferner  die  Milchstraße  aus  zwei  sich 
schneidenden  Ebenen  bestehe,  die  um  einen  er- 
heblichen Winkel  gegeneinander  geneigt  waren. 
Diese  Sterne  sind  offenbar  nicht  zahlreich  genug, 
das  wahre  Bild  der  Milchstraße  zu  ergeben,  dies 
tun  jene  Objekte,  die  alle  schwächer  als  die 
12.  Größe  sein  dürften,  ein  kosmologisch  wichtiger 
Befund.  Riem. 

Ein  Gasstern. 

Am  13.  Dezember  1920  haben  Pease  und 
Anderson  auf  der  Mt  Wilson  -  Sternwarte  nach 
der  von  Mich  eis  on  angegebenen  Interferenz- 
methode mit  Hilfe  des  250- cm- Spiegels  eine 
Durchmesserbestimmung  des  Sternes  Beteigeuze 
im  Orion  vorgenommen.  Sie  haben  den  Durch- 
messer zu  0,047  Bogensekunden  gemessen.  Nun 
ist  die  Parallaxe  des  Sternes  ziemlieh  unsicher  be- 
kannt, sie  dürfte  in  der  Gegend  von  0,016  Sek. 
liegen.  Mit  dieser  Annahme  würde  sich  dann 
der  Durchmesser  des  Sternes  zu  2,94  astronomische 
Einheiten  ergeben,  das  ist  mit  anderen  Worten 
eine  Größe  des  Sternes,  dessen  Querschnitt  der 
Bahn  des  Mars  nahekommen  würde.  Es  gäbe 
das  im  Vergleich  zu  unserer  Sonne  das  64-mil- 
lionenfache  Volumen,  und  da  es  aus  anderen 
Gründen  als  wahrscheinlich  zu  betrachten  ist, 
daß  die  Sterne  eine  durchschnittliche  mittlere 
Größe  haben,  so  bleibt  nur  übrig  anzunehmen, 
daß  der  Stern  ein  ganz  außerordentlich  dünner 
Gasstern  sein  muß,  wie  ihn  Emden  in  seinem 
Werk  über  Gaskugeln  beschrieben  hat.  Offen- 
bar hat  der  Stern  nach  Art  der  Plejadensterne 
eine  sehr  ausgedehnte  Atmosphäre,  die  sich  an 
der  Bildung  der  Interferenzstreifen  beteiligt,  so 
daß  diese  ungeheure  Größe  herauskommt.  (Pop. 
Astronomy  1921,  Januarheft.)  Riem. 


Clieniische   Konstitution   und   physiologische 
Wirksamkeit  bei  Kokaiualkaloiden. 

Die  wichtige  und  im  allgemeinen  noch  recht 
unbefriedigend  beantwortete  Frage  nach  dem  Zu- 
sammenhang zwischen  chemischer  Konstitution 
und  physiologischer  Wirksamkeit  hat  im  Gebiet 
der  Älkaloide,  die  dem  Kokain  nahestehen,  eine 
bemerkenswerte  Förderung  erfahren.  Um  sie  zu 
verdeutlichen,  seien,  ohne  nähere  Begründung  der 
angegebenen  Konstitution,  die  wichtigsten  hierher 
gehörigen  Stoffe  in  ihrer  chemischen  Formulierung 
abgebildet.  Sie  leiten  sich  ab  von  dem  sog. 
Tropan  (I).  Gliedert  man  an  den  in  ihm  be- 
findlichen Ring  bestimmte  Seitenketten  an,  so 
erhält  man  das  Tollkirschengift  Atropin  (II), 
sowie  das  in  den  Coca-Arten  weitverbreitete 
Kokain  (III): 


cn/         \h,         ch/         ^ch,          ch,.oh 

CIIj.N       (Ih, 

CHj.N        CH.O-CO.CH  Call-, 

1            1 

'                1                          ,'., 

I 

II. 

cnf    !     Vh.co,ch, 

CHj.N       CH.O-CO.QHr, 


C1I„ 


CH. 


.\ 


CH 


III. 


Die  physiologische  Wirksamkeit  des  Atropins 
ist  sehr  vielseitig,  am  bekanntesten  ist  wohl  seine 
pupillenerweiternde  Einwirkung  auf  das  Auge. 
Kokain  lähmt  in  erster  Linie  die  Endigungen 
der  sensiblen  Nerven,  wirkt  also  anästhesie- 
rend. Bei  der  ausgedehnten  Verwendung  beider 
Älkaloide  ist  es  verständlich,  daß  schon  seit  langer 
Zeit  Untersuchungen  vorgenommen  wurden,  die 
strukturellen  Bestandteile  zu  erkennen,  die  die 
bemerkenswerten  physiologischen  Eigenschaften 
der  genannten  Stoffe  bedingen.  Durch  Variation 
der  Seitenketten  insbesondere  sind  dabei  zahl- 
reiche neue  und  nicht  minder  wertvolle  Stoffe 
gewonnen  worden,  so  z.  B.  Eukain,  Novokain  und 
andere.   Sie  alle  wirken  schwächer  als  Kokain. 

In  einer  großen  Zahl  experimentell  schwieriger 
und  methodisch  sehr  bemerkenswerter  Arbeiten 
hat  in  letzter  Zeit  J.  v.  Braun-BerHn ')  durch 
systematische  Veränderungen  von  Natur  und 
Stellung  der  im  Kokain  vorhandenen  Gruppen 
die  folgenden  Ergebnisse  erlangt.  Es  ist  für  die 
hierher  gehörigen  Älkaloide  das  Gesamtmole- 
kül von  auffallend  geringem  Einfluß  auf  die 
physiologischen    Eigenschaften,     dagegen    haben 


')  Ber.  d.  d.  Pharmaz.   Gesellsch.  30,  S.  295  (Heft  5). 


N.  F.  XX.  Nr.  30 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


44; 


scheinbar  geringfügige  Änderungen,  wie  Ver- 
längerung einer  Kette  oder  Entfernung 
zweier  Substituenten  voneinander  die 
größte  Wirkung.  Insbesondere  der  letzte  Umstand 
hat  dabei  zu  einem  wichtigen  Ergebnis  geführt. 
Es  gelang  v.  B  r  a  u  n  zum  ersten  Male,  denjenigen 
Punkt  herauszufinden,  bei  dem  die  physiologische 
Wirksamkeit  zweier  Seitenketten  ihr  Höchstmaß 
erreicht.  Dieses  Optimum  der  Wirkung  tritt  ein, 
wenn  der  Stickstoff  und  der  mit  einem  Säurerest 
beladene  Sauerstoff  (vgl.  die  Formeln)  durch  drei 
Kohlenstoffatome  voneinander  getrennt  sind.  Es 
ist  sehr  bemerkenswert,  daß  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  dieser  ausgezeichnete  Punkt  auch  in  den 
natürlich  gefundenen  Alkaloiden  verwirklicht 
ist.  Vielleicht  zufällig,  ist  es  doch  erwünscht  zu 
sehen,  ob  auch  in  anderen  Gebieten  natürlicher 
Stoffe  ähnliche  Verhältnisse  obwalten. 

Bei  den  zahlreichen  im  Verlauf  der  Unter- 
suchung neu  dargestellten  Stoffen,  die  aufzuführen 
hier  zu  weit  führen  würde,  gelang  v.  Braun  die 
Synthese  einiger  Verbindungen,  die  die  Grund- 
lage der  eben  skizzierten  Ausführungen  bilden, 
und  die  von  der  genannten  optimalen  physio- 
logischen Wirksamkeit  sind.  Als  das  beste 
Derivat  aller  untersuchten  bzw.  dargestellten  Ko- 
kainalkaloide  erwies  sich  ein  Stoff  der  Formel 


.CH...         (CHä)-,.0-C0-C(,H6 

\/ 
N  I 

I 

CH  ^ 


CH. 


der  mit  dem  Namen  Benzoyl-oxy-propyl-norek- 
gonidin  -  ester  zu  belegen  ist.  Dieser  Stoff  ist 
dem  Kokain  in  seiner  anästhesierenden  Kraft 
weit  überlegen.  Er  ist  zudem  nicht  giftig 
und  kann  ohne  Zersetzung  sterilisiert  werden. 
Das  Kokain  ist  also  durch  die  erlittene  Umfor- 
mung in  hohem  Grade  veredelt  worden.  Auch 
fabrikatorische  Schwierigkeiten  treten  in  nennens- 
wertem Grade  nicht  auf.  ^)  Der  Stoff  wird  daher 
industriell  (in  den  Grenzacher  Chemischen  Wer- 
ken) bereits  gewonnen  und  führt  den  Handels- 
namen Ekkain.  —  Neben  der  hohen  theoreti- 
schen Wichtigkeit  dieser  Entdeckung  sei  besonders 
dieser  neue  Erfolg  einer  Veredelung  weniger 
wertvollen  Naturproduktes  hervorgehoben. 
H.  Heller. 

')  D.R.P.  301  139. 


Bücherbesprechungen. 


Die  Farbe,  Sammelschrift  für  alle  Zweige  der 
Farbkunde.  Unter  Mitwirkung  zahlreicher  Mit- 
arbeiter herausgegeben  von  Wilhelm  Ostwald. 
I.  Jahrgang,  I.  Mappe.  Leipzig  1921,  Verlag 
Unesma.  11,55  M. 
Mit  der  vorliegenden  Mappe  beginnt  eine  Reihe 
von  Veröffentlichungen  zu  erscheinen,  die  nach 
Form  und  Inhalt  sehr  bemerkenswert  sind.  Weder 
Zeitschrift  noch  Buch  stellt  diese  „Sammelschrift" 
die  erste  Verwirklichung  dessen  dar,  wonach  sich 
wohl  ein  jeder,  der  aus  irgendeinem  Grunde 
literarische  Unterlagen  zu  erwerben  oder  auch 
nur  zu  benutzen  wünschte,  gesehnt  hat :  die  Mög- 
lichkeit, eine  jede  Abhandlung,  und  sei  sie  noch 
so  klein  an  Umfang,  einzeln,  ohne  den  Ballast 
eines  ganzen  Zeitschriftenjahrganges  oder  eines 
dicken  Werkes  zu  benutzen.  Wer  irgendeine 
Arbeit  aus  dem  in  diesen  Tagen  gewaltig  sich 
verbreiternden  Gebiet  der  Farbkunde  zu  besitzen 
oder  auch  nur  durchzulesen  wünscht,  braucht 
lediglich  diese  Arbeit  anzufordern;  er  erhält  sie, 
ohne  verpflichtet  zu  sein,  die  anderen  auch  nur  in 
dieser  ersten  Mappe  befindlichen  Abhandlungen 
zum  gleichen  Thema  mit  in  Kauf  nehmen  zu 
müssen.  Die  Sammelschrift  ist  also  eine  Folge 
von  Veröffentlichungen ,  von  denen  eine  jede 
einzeln  gedruckt  und  geheftet  erhältlich  ist,  so 
daß  man  nach  Belieben  alle  oder  auch  nur  eine 
beschränkte  Anzahl  erwerben  kann.  Da  sie  alle- 
samt im  Weltformat  16:22,6  erscheinen,  so  macht 


eine  Sammlung,  gegebenenfalls  auch  Bindung,  nie 
Schwierigkeiten;  kurz,  die  Vorzüge  dieser  Form 
der  Veröffentlichung  leuchten,  zumal  in  diesen 
Zeiten  der  allgemeinen  Teuerung,  ohne  weiteres 
ein.  Berichterstatter  möchte  wünschen,  es  folgten 
bald  andere  Verleger  dem  guten  Beispiel  in  allen 
Fällen,  wo  nicht  anderweitige  Gründe  eine  solche 
Aufteilung  der  Druckwerke  zu  verbieten  scheinen. 
Inhaltlich  bringt  diese  Mappe  acht,  zumeist 
der  Feder  W.  Ostwalds  selbst  entstammende 
Abhandlungen,  die  den  von  dem  Herausgeber  be- 
gonnenen Neubau  der  Farbkunde  nach  Maß  und 
Zahl  fortbilden  helfen.  So  ist  die  „Anordnung 
aller  Farben  in  Flächen  und  Reihen"  erläutert,  für 
die  praktische  Verwendung  des  Farbkörpers  eine 
beträchtliche  Erleichterung.  Andere  Beiträge  er- 
klären die  auf  Grund  der  Farbnormung  sich  er- 
gebenden „Farbzeichen"  und  „abgekürzten  Farb- 
systeme". Sogar  die  stenographische  Wiedergabe 
gesehener  bunter  Farben  mit  Bleistift  oder  Feder 
ist  hier  erstmalig  beschrieben.  F.  Krüger 
handelt  von  den  Farbnormen  vom  Standpunkt 
des  Praktikers,  Goldschmidt  endlich  spricht 
von  den  weißen  Farben  in  Natur  und  Technik. 
Es  handelt  sich  mithin  um  eine  Reihe  höchst  be- 
langvollerSchriften,  die  denen,  die  die  neue  Farben- 
lehre kennen  (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  N.  F., 
XIX,  S.  129),  willkommene  Bereicherungen  ihrer 
Kenntnisse  sein  werden.  Wir  kommen  auf  Einzel- 
heiten  der  schönen  Veröffentlichung   in  anderem 


448 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  30 


Zusammenhang  ausführlicher  zurück.  Hier  ge- 
nügt es,  die  neue  Sammelschrift  nachdrücklich  zu 
fleißigem  Studium  zu  empfehlen.  Der  sehr  niedrige 
Preis  vor  allem  eben  der  einzelnen  Arbeiten  (die 
nicht  teurer  sind  als  im  Rahmen  der  Gesamt- 
mappe 1)  läßt  es  angezeigt  erscheinen,  die  Ver- 
öffentlichungen zu  dauerndem  Besitz  zu  erwerben. 
Ein  jeder  kann  auf  diese  Weise  zur  Verbreitung 
tieferen  und  richtigen  Verständnisses  aller  Farben 
und  ihrer  Anwendungen  beitragen.     H.  Heller. 


Euler,  Hans,  Chemie  der  Enzyme.  2.,  voll- 
ständig umgearbeitete  Auflage.  I.  Teil.  All- 
gemeine Chemie  der  Enzyme.  Mit  32  Text- 
figuren und  I  Tafel.  München  u.  Wiesbaden 
1920,  J.  F.  Bergmann.  Geh.  56  M. 
Die  Chemie  der  Enzyme  hat  in  den  letzten 
Jahren  in  vieler  Hinsicht  beträchtliche  Fortschritte 
gemacht.  Die  Notwendigkeit  einer  völligen  Um- 
arbeitung des  1910  zuerst  erschienenen  Buches 
ist  dafür  ein  Ausdruck.  Sachlich  ist  damit  sehr 
viel  gewonnen  worden.  Rückt  doch  immer  mehr 
des  gerade  in  diesem  Gebiete  überreichen  und 
unübersichtlichen  Tatsachenmaterials  in  den  Be- 
reich messender  und  damit  eigentlich  erst  wissen- 
schaftlicher Untersuchung.  Dem  Unbefangenen 
mag  freilich  auch  jetzt  noch  vieles,  allzuvieles  rein 
empirisch  und  außerhalb  bekannter  allgemeiner 
Gesetzmäßigkeiten  stehend  erscheinen.  Der  Verf. 
läßt  erfreulicherweise  über  diesen  unfertigen  Cha- 
rakter der  Enzymchemie  keinen  Zweifel.  Um  so 
mehr  glaubt  der  Berichterstatter  deshalb  be- 
rechtigt zu  sein,  gewissen  sehr  entschieden  aus- 
gesprochenen Ansichten  des  hochgeschätzten  Verf. 
ein  Fragezeichen  beizufügen.  So  dort,  wo  die 
Enzyme  „im  allgemeinen"  als  Kolloide  ge- 
kennzeichnet werden.  Soll  das  heißen,  das  ihre 
katalytische  Wirkung  im  wesentlichen  von 
ihren  kolloidalen  Eigenschaften  bestimmt  wird,  so 
ist  demgegenüber  zu  betonen,  daß  ein  experi- 
menteller Anhalt  hierfür  nicht  gegeben  ist; 
Willstätters  Arbeiten  widersprechen  dem 
durchaus,  und  auch  Michaelis  hat  sich  jüngst 
sehr  bestimmt  in  gegenteiligem  Sinne  geäußert. 
Übrigens  legt  gelegentlich  Verf.  selbst  der  Be- 
handlung der  Enzyme  als  Kolloide  nur  geringen 
heuristischen  Wert  bei  (S.  62).  Und  wenn  (S.  85) 
gegenüber  Wo.  Ostwald  die  Absorption  als 
eindeutig  chemischer  Vorgang  bezeichnet  wird, 
so  muß  gefragt  werden,  welches  denn  der  wesent- 
liche Unterschied  und  die  Grenze  zwischen  „che- 
mischen Valenzkräften"  und  „Molekularattraktions- 
kräften"  ist?  Immerhin:  diese  Ausstellungen  be- 
rühren das  Wesen  des  Werkes  nicht.  Wir  be- 
sitzen darin  vielmehr   eine  ganz  vorzügliche  Dar- 


stellung der  in  der  enzymatischen  Chemie  ob- 
waltenden allgemeinen  Verhältnisse. 

Nach  einem  einleitenden  Abschnitt  über  Dar- 
stellung, Reinigung  und  Aufbewahrung  der  En- 
zyme werden  besprochen  die  Enzyme  als  Elektro- 
lyte,  als  Kolloide,  ihre  allgemeine  Reaktionskinetik, 
der  Einfluß  von  Giften,  Temperatur,  Strahlung; 
endlich  enzymatische  Reaktionsgleichgewichte  und 
Synthesen,  spezifische  Wirkungen  und  endlich  die 
Enzymbildung  in  der  lebenden  Zelle.  Die  im 
Rahmen  dieser  wahrhaft  umfassenden  Übersicht 
gegebene  Literatur,  sowie  die  wohldurchdachte 
Hervorhebung  des  hypothesenfreien  sicheren 
Materials  machen  das  Buch  jedem,  der  sich  mit 
dem  auch  praktisch  so  wichtigen  Gebiet  befassen 
will,  zum  unentbehrlichen  und  zuverlässigen  Führer 
und  Helfer  bei  weiteren  Forschungen.  Für  solche 
Leser,  und  nur  diese  haben  den  vollen  Genuß  des 
Werkes,  empfindet  Berichterstalter  jedoch  einige 
Abschnitte  etwas  zu  breit  angelegt.  Beispiels- 
weise sind  die  elektrolytischen  Dissoziationsgleich- 
gewichte (S.  16  ff.)  zu  allgemein  gefaßt:  die  Ab- 
leitung der  K-Definition  muß  einem  angehenden 
Enzymatiker  bekannt  sein !  Das  Gleiche  gilt  für 
die  Kolloide  (S.  63  ff.),  den  osmotischen  Druck  usw. 
Selbst  fast  wörtliche  Wiederholungen  kommen 
dadurch  zustande  (S.  64  u.  65).  Durch  den  in 
diesen  Teilen  häufigen  Gebrauch  des  Wortes  „be- 
kanntlich" stützt  der  Verf.  diese  Auffassung  selbst. 
Die  Kürzung  dieser  Abschnitte  ist  dringend  zu 
empfehlen.  S.  109/10  können  die  Formeln  von 
Henri  (1)  wegfallen. 

S.  17  muß  es  unter  Fig.  la  heißen;  10*  statt 
lO"".  —  S.  50  durfte  der  Name  Hantzschs 
nicht  fehlen.  —  S.  94  ist  die  Abkürzung  Ac  besser 
auszuschreiben. 

Der  Preis  des  sachlich  höchst  schätzenswerten 
und  gut  ausgestatteten  Buches  muß  als  niedrig 
bezeichnet  werden.  H.  Heller. 


Literatur. 

Bütschli,  Prof.  Otto,  Vorlesungen  über  vergleichende 
Anatomie.  3.  Lieferung:  Sinnesorgane  und  Leuchtorgane.  Mit 
den  Textiiguren  452 — 722.    Berlin  '21,  Julius  Springer.    48  M. 

Taschenberg,  Prof.  Dr.  O.,  Bibliotheca  Zoologia  II. 
Verzeichnis  der  Schriften  über  Zoologie,  welche  in  den  perio- 
dischen Werken  enthalten  und  vom  Jahre  1S61/1SS0  selb- 
ständig erschienen  sind.  Leipzig  '21,  W.  Engelmann.  Liefe- 
rung 21   36  M.,  Lieferung  22  36  M.,  Lieferung  23  44  M. 

Rohleder,  Dr.  med.  Hermann,  Monographien  über 
die  Zeugung  beim  Menschen.  Leipzig  '21,  G.  Thieme.  Band  V; 
Die  Zeugung  bei  Hermaphroditen,  Kryptorchen,  Kirorchen 
und  Kastraten.  16,60  M.  Band  VII  (Ergänzungsband):  Die 
künstliche  Zeugung  (Befruchtung)  im  Tierreich.     21   M. 

Schmaltz,  Dr.  med.  vet.,  Das  Geschlechtsleben  der 
Haussäugetiere.  3.  neubearbeitete  Auflage  mit  67  Abbildungen. 
Berlin  '21,  R.  Schoetz.     62  M. 


Inhalt:  .\ndre  Pratje,  Das  Leuchten  der  Tiere.  (5  Abb.)  S.  433.  —  Einzelbericbte:  Prell,  Das  Problem  der  Unbe- 
fruchtbarkeit.  (2  Abb.)  S.  440.  Cr  äff,  Hauptebene  der  Milchstraße.  S.  446.  Pease  und  Anderson,  Ein  Gasstern. 
S.  446.  J.  V.  Braun,  Chemische  Konstitution  und  physiologische  Wirksamkeit  bei  Kokainalkaloiden.  S.  446.  — 
Bucherbesprechungen:   Die  Farbe.  S.  447.     II.  Euler,  Chemie  der  Enzyme.  S.  448.  —  Literatur:  Liste.  S.  44S. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  gaoxen  Reibe  36.  Bond. 


Sonntag,  den  31.  Juli  1921. 


Nummer  31. 


■■■-■äts 


Wie  orientiert  sich  die  Ameise? 


[Kachdnick  verboten.] 

Wenn  ich  zu  der  im  Titel  gestellten  Frage 
hier  mir  einige  Bemerkungen  vom  Standpunkt 
des  Geruchschemikers  erlaube,  so  geschieht  dies 
aus  zwei  Gründen.  Es  soll  nämlich  zu  zeigen 
versucht  werden,  daß  die  Unstimmigkeiten  in  der 
Erklärung  des  Orientierungsproblems  dieser  Tiere 
nicht  auf  diese,  sondern  auf  uns  zurückzu- 
führen sind;  mit  anderen  Worten,  es  läßt  sich 
zeigen,  daß  bei  wirklich  exakter  Befragung  der 
Natur  nach  diesem  ihren  „Rätsel"  eine  befriedigende 
Deutung  tatsächlich  möglich  ist.  Dann  aber,  und 
das  ist  das  Zweite,  wird  sich  aus  dieser  Deutung 
auch  eine  Erklärung  für  den  vielbewunderten  und 
bisher  ebenfalls  noch  ganz  rätselhaften  „sozialen 
Instinkt"  der  Ameise  geben  lassen. 

Wenn  wir  sagen  „der"  Ameise,  so  ist  das 
nicht  ganz  richtig  insofern,  als  es  sich  bei  den 
gleich  zu  beschreibenden  Versuchen  um  solche  an 
der  roten  Waldameise  (Formica  rufa  L.),  also 
um  eine  der  zahllosen  Arten  handelt.  Da  andere 
Arten  aber  im  wesentlichen  gleichartig 
reagierten,  so  darf  man  wohl  mit  Recht  verallge- 
meinern. Die  Versuche  stammen  von  dem  Frank- 
furter Psychologen  Hans  Henning,  der  darüber 
in  der  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie 
der  Sinnesorgane  berichtet  hat.^) 

Henning  beobachtete  und  experimentierte 
im  Freien,  dies  ist  der  grundlegende  Unterschied 
zu  der  überwiegenden  Mehrzahl  anderer  Ameisen- 
forscher, die  in  Formicarien  und  anderen  von  der 
natürlichen  Umgebung  der  Ameisen  abweichenden 
Behältnissen  arbeiteten.  Wir  werden  bald  die 
Richtigkeit  und  Erfolge  der  Hennin  gschen 
Methode  erkennen.  Dreier  Mittel  bedient  sich 
nach  Brun  die  Ameise,  um  sich  außerhalb  des 
Nestes  zurechtzufinden:  des  Auges,  des  Tast- 
sinnes und  des  Geruchs.  Welcher  Sinn  ist 
ausschlaggebend?  Und  wichtiger :  genügen 
diese  Sinnesfunktionen  zur  „Erklärung"  unserer 
Frage  ?  Lassen  wir  die  Erfahrung  sprechen.  Wenn 
wir  uns  etwa  i  m  von  einer  daherkrabbelnden 
Ameise  ihr  plötzlich  in  den  Weg  stellen,  so  stutzt 
sie  und  antwortet  also  auf  unsere  Bewegung. 
Wenn  wir  ferner  im  hellen  Sonnenlicht  einen 
scharfbegrenzten  Schatten  auf  den  Haufen  fallen 
lassen  (etwa  mittels  eines  Pappdeckels  oder  dgl.), 
so  bemerken  wir  bald,  daß  die  Tiere  den  Schatten 
meiden  und  ins  Helle  auswandern.  Diese  ganz 
einfachen  Versuche   beweisen,    ebenso    wie   viele 


*)  Zusammenfassende  Darstellung  aller 
Fragen:  Hans  Henning,  Der  Geruch. 
J.  A.  Barth. 


hier    bebandelten 
Leipzig     1916. 


Von  Hans  Heller. 

andere  wissenschaftlich  verfeinerten  Versuche,  daß 
die  Ameise  sieht  und  sich  auch  durch  Sehen 
orientieren  kann.  Aber:  helle  Sonne  und  dadurch 
bedingte  scharf  ausgeprägte  Helligkeitsunterschiede 
in  der  Umgebung  des  Nestes  sind  die  Aus- 
nahme. Ja,  im  Walde,  der  ohnehin  ein  zer- 
streutes Licht  am  Boden  aufweist,  kommt  an  be- 
deckten Tagen  eine  Orientierung  nach  Beleuchtungs- 
unterschieden ganz  sicher  erst  in  allerletzter  Linie 
in  Frage.  Gehörsorgane  sind  bei  der  Ameise 
nicht  nachgewiesen.  So  kommen  auch  sie  für 
die  Orientierung  nicht  in  Betracht.  Anders  steht 
es  mit  dem  Geruch. 

Daß  er  das  wichtigste  Mittel  für  das  sich 
auf  Nahrungs-  und  andere  Wege  begebende  Tier 
sei,  haben  die  meisten  Forscher  erkannt.  Die 
Schwierigkeit  lag  nur  darin,  daß  doch  auf  einer 
der  vielbegangenen  Straßen  vom  Nest  zur  Fütter- 
stelle usw.  überall  der  gleiche  Duft  vorhanden 
ist.  Mancherlei  Erklärungen  sind  deshalb  im 
wahrsten  Sinne  „gemacht"  worden,  um  aus  diesem 
Dilemma  herauszuhelfen.  Der  einfachste  Weg 
der  experimentellen  Untersuchung  aber  blieb  merk- 
würdigerweise unbetreten:  nämlich,  das  Verhalten 
der  Ameisen  auf  künstlichen  Fährten  zu 
studieren!     Diesen  „Kniff"  benutzte  Hennig. 

Zunächst  fand  er,  wenn  er  eine  Ameise  auf 
berußtem  Papier  dahinlaufen  ließ,  daß  sie  auf 
I  mm  Wegstrecke  ihren  Unterleib  dreimal  auf 
die  Unterlage  auftupft.  Wenn  das  Tier  ein  paar- 
mal über  das  Papier  gelaufen  war,  so  nahm  man 
einen  deutlichen  Duft  von  Ameisensäure  wahr. 
Also :  während  ihres  Laufes  sondert  die  Ameise 
ständig  die  charakteristisch  duftende  Ameisen- 
säure ab,  d.  h.  sie  schafft  unter  allen  Umständen 
eine  für  das  Geruchsorgan  merkbare  Fährte, 
deren  Kennzeichen  der  Duft  der  Ameisensäure 
ist.  Nunmehr  wurde  folgender  Versuch  gemacht. 
An  einem  von  Ameisen  nicht  begangenem 
Baumstamm  irgendwelcher  Art  pinselte  Hen- 
ning vom  Erdboden  bis  in  Reichhöhe  eine  Fährte 
mit  Ameisensäurelösung.  Was  geschah?  Noch 
ehe  Hennig  eine  Verbindungsspur  vom  Fuß  des 
Baumes  zu  der  in  der  Nähe  befindlichen  „Straße" 
der  Ameisen  gepinselt  hatte,  kletterten  10  bis  20' 
Ameisen  an  der  Künstlichen  und  vorher  nie  ver- 
folgten Fährte  in  die  Höhe.  Andere  folgten,  und 
in  kurzer  Zeit  war  fast  der  gesamte  Verkehr 
auf  die  künstliche  Fährte  gezogen  1  Wir 
schließen  daraus,  daß  die  so  viel  stärkere  D  u  f  t  - 
Wirkung  der  Kunstfährte  die  Tiere  zu  deren  Be- 
gehen veranlaßte.  So  stark  ist  die  Reaktion 
auf  den  Geruchsreiz,   daß   selbst  die  noch  nasse 


450 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


Fährte  eifrig  begangen  wurde,  obwohl  die 
Ameise  sonst  bekanntlich  jede  Feuchtigkeit  streng 
meideti  Und  nicht  nur  Ameisensäure 
wirkte  in  dieser  drastischen  Weise,  sondern  auch 
solche  Chemikalien,  deren  Duft  dem  der  Ameisen- 
säure sehr  nahe  steht,  z.  B.  Formaldehyd. 
Dieser  Umstand  beweist  also,  daß  es  nicht  „Futter- 
gerüche" sind,  denen  die  Ameise  nachgeht,  sondern 
ganz  einfach  ihr  bekannte  ameisenartige  Düfte. 
Daß  dem  so  ist,  geht  weiter  hervor  aus  dem 
Verhalten  der  Tiere  auf  der  künstlichen  Fährte. 
Sie  gingen  jeder  absichtlichen  oder  auch  nur  durch 
die  Unebenheit  der  Baumrinde  bedingten  Biegung 
der  Fährte  nach,  ließen  sich  also  zweifellos  nicht 
durch  den  in  Nähe  der  Fährte  befindlichen  all- 
gemeinen Duft  leiten,  sondern  vielmehr  durch 
die  Stärke  der  auf  der  Fährte  befindlichen 
Geruchserregung.  Am  oberen  blinden  Ende  der 
Fährte  machten  alle  Ameisen  halt,  irrten  eine 
Zeit  lang  suchend  umher  und  stiegen  dann  unbe- 
laden  auf  der  Fährte  zum  Nest  zurück.  Alle  diese 
Beobachtungen  scheinen  nun  allerdings  auch  so 
gedeutet  werden  zu  können,  daß  es  eben  der  un- 
gewöhnlich starke  Duft  der  künstlichen  Fährte 
gewesen  sei,  der  die  Reaktion  veranlaßt  habe. 
Im  gewöhnlichen  Zustand  aber  könnten  nicht 
nur,  sondern  müßten  sogar  auch  andere  Duft- 
erregungen statthaben,  wie  das  ja  von  vielen 
Forschern  angenommen  wird,  damit  erklärt  werden 
kann,  wie  denn  die  Ameise  den  Rückweg  findet? 
Aber  ein  weiterer  Versuch  Hennings  macht 
auch  die  letzte  Wahrscheinlichkeit  zunichte,  daß 
neben  dem  Ameisenduft  noch  Futter-  oder 
andere  Düfte  bei  der  Straßenbildung  eine  Rolle 
spielen.  Legte  er  nämlich  an  einem  von  Ameisen 
zum  Zweck  der  Nahrungssuche  lebhaft  begangenem 
Baum  an  dessen  der  natürlichen  Ameisenstraße 
abgewendeten  Seite  eine  künstliche  Fährte  an, 
so  liefen  wiederum  in  kürzester  Frist  sämtliche 
Ameisen  auf  der  künstlichen  Fährte,  ohne  sich 
weiter  um  die  gewohnte  und  von  ihnen  selbst 
erzeugte  Spur  zur  kümmern.  Wenn  nun  die 
beiden  Fährten  verbunden  wurden,  so  trat  weiter 
etwas  Bemerkenswertes  auf.  Je  spitzer  der 
Winkel  war,  den  natürliche  und  künstliche  Fährte 
miteinander  bildeten,  um  so  mehr  Tiere  bevor- 
zugten die  Kuns  t spur.  All  dies  zusammen  be- 
weist deutlich,  daß  von  einer  „Polarisation"  der 
Ameisenspur  oder  von  verschiedenen  Duftqualitäten 
auf  derselben  Spur  der  Ameise  nicht  die  Rede 
sein  kann.  Wohl  aber  ist  in  Fällen,  wo  die  Nase 
versagt,  sehr  wohl  eine  Mitwirkung  des  Auges 
denkbar.  Das  ist  nicht  gesucht  erklärt,  sondern 
bestätigt  eine  geläufige  Erfahrung.  Auch  ein 
„Nasentier"  wie  der  Hund  orientiert  sich  in 
manchen  Fällen  nur  nach  dem  Auge.  Denken 
wir  auch  an  den  Menschen  selbst  1  Für  gewöhn- 
lich finden  wir  uns  mit  dem  Gesichtssinn  zurecht. 
In  dunkler  Nacht  im  Zimmer  verlassen  wir  uns 
ausschließlich  auf  das  Tastgefühl.  Niemand 
wird  darum  sagen,  unsere  Orientierung  sei  „rätsel- 
haft".     Wohl    aber    dürfen  wir  aussprechen,    daß 


der  Hauptsinn  für  unsere  Orientierung  das 
Auge  sei,  daneben  auch  Geruch,  Gehör,  Tast- 
gefühl. Uud  gleichermaßen  gilt  für  die  Orien- 
tierung der  Ameisen,  daß  in  ganz  überwiegen- 
der Weise  der  Geruch  ihr  erstes  Orientierungs- 
mittel sei,  der  in  gewissen  Fällen  durch  andere 
Sinne  ergänzt  wird.  Eine  solche  Ergänzung 
liegt  nun  offenbar  vor  beim  Heimweg  der 
Ameise.  Wie  in  einem  Kanal  (oder  ganz  wört- 
lich: wie  in  einer  seitlich  durch  duftlose  Räume 
begrenzten  Straße)  muß  das  futterbeladene  Tier 
die  Heeresstraße  seines  Nestes  zurückkehren.  Biegt 
von  dieser,  wie  im  erwähnten  Versuch,  eine  ge- 
ruchlich stärker  wirksame  Kunststraße  ab,  so 
wird  unbedenklich  diese  bevorzugt.  Anders  aber, 
wenn  sie  in  sehr  weit  geöffnetem  Winkel  ab- 
zweigt. Dieser  Umstand  wirkt  auf  das  unentwegt 
„der  Nase  nach"  gehende  Tier  wie  ein  in  den 
Weg  gelegtes  Hindernis,  das  Stutzen  und  —  sagen 
wir  getrost:  Aufmerken  auf  den  Weg  zur  Folge 
hat.  Es  kann  kaum  befremden,  daß  die  unge- 
wohnte Richtung  vernachlässigt  wird,  um  so 
mehr,  als  auf  der  natürlichen  Straße  vom  Nest 
kommende  Tiere  einen  sichtbaren  Anhalt  für 
den  „richtigen"  Weg  gewähren. 

Daß  in  der  Tat  von  einer  auf  die  ganze  Länge 
einer  Straße  verteilten  Ab-  bzw.  Zunahme  des 
Ameisenduftes  nicht  gesprochen  werden  kann, 
bewies  Henning  durch  einen  weiteren  Versuch. 
Von  einem  Nest  gingen  zwei  Straßen  in  genau 
entgegengesetzter  Richtung  aus.  Brachte  er  nun 
ein  Tier,  daß  auf  der  einen  Spur  vom  Nest  weg- 
lief, auf  die  andere  Straße,  und  zwar  in  gleicher 
Entfernung  vom  Nest,  so  lief  das  Tier  nunmehr 
auf  das  Nest  zu.  Es  behielt  also  die  (nunmehr 
falsche)  Richtung  bei.  Dies  geschah  in  zahlreichen 
Versuchen  in  98"/(,  der  Fälle.  Die  Ameise  be- 
nimmt sich  also  so,  daß  an  eine  Abstufung  des 
Spurduftes  nicht  mehr  gedacht  werden  darf.  — 

Ist  unsere  Folgerung  richtig,  daß  sich  die 
Ameise  in  überwiegendem  Maße  nach  dem  Ge- 
ruch orientiert,  so  tritt  alsbald  die  Frage  auf,  wie 
sich  denn  das  einzelne  Tier  abseits  der  Straße 
zurechtfinde?  Auch  es  macht  eine  Spur,  und  so 
könnte  jede  vom  Nest  ausgehende  Spur  zu  einer 
„Straße"  Veranlassung  geben.  Damit  verhält  es 
sich  folgendermaßen:  zwar  erzeugt  jedes  Indivi- 
duum eine  Fährte,  aber  deren  Duftstärke  ist  für 
das  Tier  nicht  wahrnehmbar.  Es  ist  wirklich 
so,  und  man  kann  sich  durch  Wiederholung  der 
Henningschen  Versuche  leicht  davon  über- 
zeugen; die  nach  dem  Geruch  sich  orientierende 
Ameise  bedarf  einer  hohen  Duftkonzentration, 
um  sich  danach  zurechtfinden  zu  können.  Der 
Mensch  ist  empfindlicher  als  die  Ameise! 
Denn  er  nimmt  einen  Ameisenduft  wahr,  nach- 
dem etwa  10  Tiere  über  die  gleiche  Stelle,  z.  B. 
ein  Blatt  Papier,  gelaufen  sind.  Die  Ameise 
aber  riecht  erst  nach  durchschnittlich  66,  ja  oft 
erst  nach  100  Überquerungen  soviel,  daß  sie  sich 
nach  der  entstandenen  Fährte  richtet,  also  sie 
überhaupt  als  Fährte  e  r  k  e  n  n  1 1   Gewiß  ein  über- 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


451 


raschender  Befund  I  Und  doch  wird  er  verständ- 
lich, ja  geradezu  biologisch  notwendig  bei 
folgender  Überlegung. 

Würde  jedes  Tier  eine  merkbare  Spur  machen, 
so  führten  vom  Nest  in  Kürze  unzählige  Spuren 
ins  Gelände.  Kein  nach  Futter  ausgehendes  Tier 
wüßte,  welche  Fährte  ihren  Erzeuger  zu  einem 
Ort  geführt  hat,  an  dem  es  etwas  Eßbares  gab. 
Erst  die  Häufigkeit,  mit  der  eine  bestimmte  Rich- 
tung begangen  wird,  gibt  dafür  Gewähr,  daß  nach- 
folgende Tiere  ihrerseits  in  dieser  Richtung  zu 
Futter-  bzw.  Baustoffen  gelangen  werden.  Wäre 
es  anders,  so  verirrte  sich  die  Mehrzahl  der 
Tiere,  sie  fänden  nicht  den  geschlossenen  Weg 
zum  Futter,  und  in  Bälde  wäre  die  Kolonie  aus- 
gestorben. Damit  hängt  auch  zusammen,  daß 
verirrte  Tiere  an  ihrer  eigenen  Einzelspur  den 
Rückweg  zum  Nest  nicht  finden.  Dies  ist  der 
Forschung  längst  bekannt  und  immer  sehr  ein 
Beweis  gegen  die  Geruchsorientierung  gewesen. 
Nach  Obigem  dürfte  es  nicht  mehr  seltsam  er- 
scheinen. Aber  es  leuchtet  ohne  weiteres  auch 
ein,  daß  bei  solcher  Sachlage  immer  ein  großer 
Teil  der  Nestbewohner  sich  verirren  wird,  so  daß 
die  Wahrscheinlichkeit  der  Kolonieerhaltung  nicht 
groß  sein  kann.  So  ist  es  in  der  Tat:  wer  Ge- 
legenheit hat,  ein  größeres  Gebiet  mit  Ameisen- 
staaten zu  beobachten,  wird  bemerken,  daß  die 
Zahl  der  verlassenen  Haufen  die  der  bewohnten 
überwiegt.  Verf.  zählte  in  zwei  ausgedehnten 
Waldungen  (bei  Blankenese  nahe  Hamburg  und 
in  der  Harth  bei  Leipzig)  5  ausgestorbene  auf  3 
belebte  Kolonien,  Henning  fand  das  Verhältnis 
sogar  wie  2:1. 

Wie  wenig  empfindlich  die  Ameise  ist,  geht 
beispielsweise  daraus  hervor,  daß  sie  unberührt 
beibt  von  Düften,  die  uns  die  Luft  geradezu 
„schwül"  erscheinen  lassen.  Jasminöl,  Ananasöl 
in  großer  Konzentration  lassen  die  Tiere  ganz 
gleichgültig.  Wieder  verständlich :  wohinaus  müßte 
es  führen,  wenn  die  ganze  Kolonie  auf  jeden  in 
der  Luft  auftretenden  Duft  reagieren  würde?! 
Hinwiederum  wird  es  sofort  bemerkt,  wenn  Zweige, 
Tannennadeln  usw.  mit  den  genannten  Ölen  be- 
pinselt wurden.  Alsdann  reichte  die  hohe  Duft- 
stärke dieser  Gegenstände  hin,  deutliche  Kund- 
gebungen der  Ameise  zu  veranlassen,  und  zwar 
Mißfallenskundgebungen.  In  vielen  Versuchen 
wies  Henning  nach,  daß  gänzlich  unbekannte 
Düfte  eine  feindliche  Äußerung  der  Ameisen 
hervorrufen,  daß  andererseits  aber  bekannte 
Düfte  nur  dann  angenommen  werden,  wenn  ihre 
Konzentration  bekannt  ist.  Nur  die  Ameisen- 
säure und  alle  ihr  der  Qualität  nach  verwandten 
Düfte  erregen  die  Ameise  in  jeder  Konzentration 
in  zustimmender  Weise.  Wenn  Henning  jedoch 
ein    Tier    mit    irgendeiner   Duftstoflflösung    be- 


pinselte, so  nahm  dieses  Individuum  auch  Gegen- 
stände auf,  die  mit  der  gleichen  Lösung  be- 
strichen waren,  —  mochte  deren  Duft  vorher 
noch  so  verschmäht  worden  sein!  Auch  dies  ist 
ein  überzeugender  Beweis  dafür,  daß  es  die  Reize 
der  Antennen  sind,  denen  die  Ameise  ihre 
Orientierung  verdankt;  der  Antennen,  die  der 
Sitz  des  Geruchsvermögens  sind.  — 

Fassen  wir  das  Gesagte  zusammen,  so  dürfen 
wir,  wenn  eine  „Erklärung"  von  Naturereignissen 
überhaupt  einen  Sinn  haben  soll,  mit  voller  Be- 
rechtigung auf  unsere  Titelfrage  antworten:  die 
Ameise  orientiert  sich  in  erster  und  ausschlag- 
gebender Weise  nach  ihrem  Geruchsvermögen  1 
Wenn  demgegenüber  gesagt  wird,  daß  die  Ameise 
in  ihrem  entwicklungsgeschichtlich  früheren  Sta- 
dium und  auch  als  Geschlechtstier  geflügelt 
sei,  so  daß  alsdann  eine  Geruchsfährtenbildung 
ausgeschlossen  wäre,  so  ist  das  ein  hinfälliger 
Einwand.  Niemand  zweifelt,  daß  der  Urmensch 
und  nun  gar  erst  weiter  zurückliegende  Formen 
in  der  Entwicklung  zum  heutigen  Menschen 
sich  in  recht  verschiedenartiger  Weise  zurecht- 
gefunden haben  werden.  Sagt  diese  Erkenntnis 
das  Geringste  über  unser  heutiges  Orientierungs- 
vermögen aus?  Mit  nichten.  Und  so  dürfen  wir 
mit  Recht  sagen,  daß  ein  besonderer  „Orientierungs- 
sinn" für  die  Ameise  nicht  angenommen  zu 
werden  braucht.  Die  Reaktionen  des  uns  be- 
kannten und  durchaus  nicht  rätselhaften  Ge- 
ruchssinnes langen  hin,  die  Orientierung  der 
Ameise  zu  verstehen. 

Sie  reichen  aber  auch  hin,  ein  verwickelteres 
Problem  im  Leben  der  Ameisen  einfach  und  dar- 
um gut  zu  erklären :  den  Sozialinstinkt  der  Ameise. 
Wodurch  wird  eine  Ameisenkolonie  zusammen- 
gehalten? Wir  sahen  es  oben:  dadurch,  daß  die 
Ameise  erst  auf  eine  Duftkonzentration  gewisser 
Stärke  antwortet,  daß  sie  zweitens  eine  ausge- 
sprochene Reizbarkeit  für  Ameisensäure  aufweist. 
Läßt  sie  sich  durch  diese  Umstände  leiten,  so 
ergibt  sich  notwendig  eine  rein  zahlenmäßige 
Anhäufung  von  Individuen  am  selben  Platz,  d.  h. 
Koloniebildung.  Wenn  Henning  die  An- 
tenne abschnitt  oder  wenn  er  den  Ameisensäure- 
duft durch  andere  Düfte  übertönte,  so  hörte  der 
Zusammenhalt  der  Kolonie  mit  seinen  scheinbar 
so  „durchdachten"  Einrichtungen  sofort  und  ohne 
Widerrede  auf.  So  können  wir  den  Satz  des 
Forschers  verstehen:  „die  Staatenbildung  ist  eine 
Angelegenheit  der  Antenne".  Ein  verblüffendes 
Ergebnis.  Aber  es  lag  nicht  in  unserer  Absicht, 
dies  viel  weiter  reichende  Problem  zu  erörtern. 
So  brechen  wir  hier  ab  mit  der  Erkenntnis,  daß 
die  Orientierung  der  Ameise  keine  anderen  Rätsel 
bietet  als  die,  welche  auch  unsere  Sinnesfunk- 
tionen letzten  Endes  noch  aufgeben. 


452 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


Einzelberichte. 


Die  deutschen  Olschieferlager. 

Über  diese  Lagerstätten  und  ihre  Bedeutung 
für  unsere  Erdölversorgung  berichtet  G.  Schmitz 
in  der  „Deutsch.  Bergwerks- Ztg."  1921,  Nr.  62, 
S.  5.  Deutschlands  Erdölgewinnung  betrug  in 
Friedenszeiten  nur  8  "j^  von  seinem  Gesamtver- 
brauch. Durch  die  Wegnahme  von  Elsaß  Loth- 
ringen gingen  auch  noch  die  Erdölquellen  von 
Pecheisbrunn  verloren,  denen  etwa  die  Hälfte  des 
in  Deutschland  gewonnenen  Erdöls  entstammte. 
Durch  unseren  ungünstigen  Valutastand  sind  wir 
mehr  denn  je  darauf  angewiesen,  nach  neuen 
Gewinnungsmöglichkeiten  im  eigenen  Lande  uns 
umzusehen.  Eine  solche  ergibt  sich  in  der  Aus- 
beutung von  Lagern  bituminöser  Schiefer,  deren 
Vorkommen  in  den  verschiedensten  Teilen 
Deutschlands  z.  T.  schon  seit  Jahrhunderten  be- 
kannt ist.  Das  den  Lagern  entsickernde  Öl  fand 
bis  in  den  Krieg  hinein  nur  örtliche  Verwendung, 
z.  T.  als  Heilmiitel,  wie  das  Tegernseer  „St.  Qai- 
rinusöl".  Erst  während  des  Krieges  begann  man 
die  deutschen  Ölschieferlager  systematisch  zu 
untersuchen  und  die  Gewinnungsmöglichkeiten  des 
in  ihnen  enthaltenen  Öls  zu  erforschen. 

Als  ölhaltig  kommen  in  Deutschland  vor  allem 
die  Posidonienschiefer,  Mergelschiefer  des  Lias,  in 
Betracht,  die  stellenweise  bis  zu  einer  Mächtigkeit 
von  10  m  anstehen.  Der  Ölgehalt  ist  außer- 
ordentlich verschieden  und  schwankt  zwischen  i 
und  30  "/o-  Die  Untersuchungen  ergaben,  daß  die 
Ölschiefervorkommen  in  Deutschland  viel  häufiger 
sind,  als  man  ursprünglich  angenommen  hatte. 
Reiche  Lager  befinden  sich  vor  allem  in  der 
Gegend  von  Reutlingen,  wo  sich  aus  i  cbm 
Schiefer  rund  230I  Rohöl  gewinnen  lassen.  Auch 
in  Baden  sind  bedeutende  Mergelschieferlager  er- 
schlossen worden,  doch  reicht  ihr  Ölgehalt  für 
eine  nutzbringende  Ausbeute  nicht  hin.  Dagegen 
besitzt  Bayern  sehr  ergiebige  Vorkommen  im 
fränkischen  Jura  und  im  Alpenvorland.  Im  Kar- 
wendeigebirge  und  in  den  Bergen  um  Garmisch 
hat  man  mit  dem  Abbau  des  teilweise  bis  zu 
30  %  Rohöl  enthaltenden  Gesteins  begonnen. 
Außerdem  kommen  Ölschiefer  noch  vor  im  Hessi- 
schen, am  Harz,  in  Hannover  und  bei  Braunschweig. 

Die  Gewinnung  des  Rohöls  aus  dem  Schiefer 
geschieht  in  Schwelanlagen,  und  zwar  am  vorteil- 
haftesten in  erhitzten  Trommeln,  da  man  dabei 
außer  dem  Öl  aus  jedem  Kubikmeter  Gestein  noch 
etwa  100  1  Gas  von  900  WE  erhält,  das  zur 
Heizung  der  Trommeln  verwendet  werden  kann. 
Das  Rohöl  läßt  sich  in  gleicher  Weise  wie  son- 
stiges Erdöl  verarbeiten.  Die  Asche  dient  als 
Rohstoff  für  die  Zement-  oder  Kunststeinindustrie. 
Der  Ölschiefer  kann  auch  unmittelbar  als  Heiz- 
material verwendet  werden. 

Mit  Rücksicht  auf  die  Schwierigkeit  unserer 
Erdölversorgung  verdienen  die  deutschen  Ölschiefer- 
vorkommen und  Versuche  zu  ihrer  industriellen 
Ausnutzung  ernsteste  Beachtung.  F.  H. 


Ein   einfaches   Hilfsmittel    für   genaue    Ab- 
lesungen an  Büretten. 

Genaues  Ablesen  an  Büretten  bei  maßanalyti- 
schen Arbeiten  ist  mit  Schwierigkeiten  verknüpft, 
da  es  nicht  einfach  ist,  das  Auge  in  die  richtige 
Stellung  zu  bringen.  Man  hatte  daher  schon  seit 
langem  Hilfsmittel  konstruiert,  die  ein  möglichst 
exaktes  Arbeiten  ermöglichen  sollten.  Die  älteren 
Hilfsmittel  in  Schwimmerform  haben  sich  als  un- 
zuverlässig erwiesen  und  sind  heute  wohl  aus  den 
Laboratorien  verschwunden.  Der  Schellbach- 
Streifen  erfüllt  ebenfalls  nicht  seinen  Zweck.  Die 
„Visierblende"  mit  dem  nach  Gockels  Angaben 
daran  befestigten  Blatt  weißen  Papiers  leistet 
Gutes,  wenn  sie  richtig  angesetzt  wird  und  wenn 
ihre  obere  Fläche  genau  eben  und  matt  ist,  und 
die  Bürette  keine  Unebenheiten  an  der  Außen- 
fläche aufweist.  Am  sichersten  gestattet  die  von 
der  staatlichen  Eichungskommission  vorgeschrie- 
bene Art  der  Teilung,  die  sog.  Ringteilung,  ein 
genaues  Ablesen.  Der  hohe  Anschaffungspreis 
und  der  Umstand,  daß  diese  Büretten  nach  einen 
für  viele  Arbeiten  des  Chemikers  nicht  geeigneten 
Grundsatz  geeicht  wurden,  steht  ihrer  allgemeinen 
Verbreitung  im  Wege. 

Daß  man  aber  auch  mit  der  einfachsten  Bü- 
rette, wenn  man  sie  sorgfältig  nach  den  eigenen 
Bedürfnissen  eicht  und  eine  wirklich  zweckmäßige 
Ablesevorrichtung  besitzt.  Ausgezeichnetes  leisten 
kann,  zeigt  G.  Bruhns  in  der  Chemiker-Zeitung, 
Nr.  42,  1921,  S.  337 — 338.  Als  Ablesevorrichtung 
benutzt  er  die  Wasser  wage  in  ihrer  einfachsten 
Gestalt,  nämlich  in  der  Form  eines  kleinen  U- 
Rohres,  das  z.  T.  mit  Wasser  oder  einer  anderen 
passenden  Flüssigkeit  gefüllt  ist.  Durch  Biegen 
eines  etwa  12 — 15  cm  langen,  am  besten  J — 10  mm 
lichte  Weite  aufweisenden  Glasrohres  kann  man 
sich  diese  Wasserwage  in  wenigen  Minuten  her- 
stellen. Der  Abstand  der  Schenkel  voneinander 
betrage  etwa  30—40  mm  im  Lichten.  Indem 
man  das  Röhrchen  dicht  an  die  Bürette  hält, 
braucht  man  nur  die  beiden  Flüssigkeitsspiegel  in 
den  Schenkeln  in  eine  Ebene  mit  dem  Flüssig- 
keitsspiegel in  der  Bürette  zu  bringen,  womit  die 
parallaxenfreie  Einstellung  des  Auges  erreicht  ist. 
Nimmt  man  Wasser  als  Flüssigkeit,  so  stört  leicht 
dessen  zu  große  Beweglichkeit;  die  beiden  Spiegel 
schwanken,  wenn  man  das  Rohr  nicht  ganz  ruhig 
hält.  Dies  läßt  sich  dämpfen,  indem  man  Watte- 
stopfen fest  in  die  Rohrenden  einsetzt  oder  auch 
Kappen  aus  ganz  kurzen  Glasrohren  darüber  stülpt, 
die  sehr  eng  an  das  U-Rohr  passen.  Dadurch 
wird  zugleich  ein  staubsicherer  Abschluß  erzielt. 
Man  kann  auch  dickere  Flüssigkeiten,  wie  Gly- 
zerin, Paraffinöl,  wählen,  doch  findet  der  Verf. 
darin  keinen  Vorteil,  und  wenn  einmal  von  dem 
Inhalt  etwas  verschüttet  wird,  ist  es  am  unschäd- 
lichsten, wenn  es  sich  nur  um  destilliertes  Wasser 
handelt.  Bei  der  Ablesung  hält  man  das  Rohr 
so,   daß   der   eine  Schenkel  neben  und   vor,   der 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


453 


andere  auf  derselben  Seite  neben  und  hinter  der 
Bürette  steht.  Es  ist  erforderlich,  daß  man  gegen 
einen  hellen  Hintergrund  beobachtet.  Bei  dunklen 
Lösungen  (Permanganat,  Jodjodkalium)  oder  brau- 
nen Büretten  (Silberlösung)  muß  eine  Lampe  in 
der  richtigen  Höhe  dicht  hinter  die  Bürette  ge- 
stellt werden,  jedoch  etwas  seitlich,  damit  sie 
nicht  blendet.  F.  H.    , 

Neue  Uöglichkeiteu  der  theoretischen 
\S:.-   -■  Biologie.       . -,^.i.---.vj^.^.asjYi 

In  einer  ausführlichen,  in  der  Zeitschrift  für 
allgemeine  Physiologie,  Band  XIX,  Heft  1/2,  er- 
schienenen Arbeit  hat  der  Autor  den  Versuch 
gemacht,  die  exakten  Methoden  der  statistischen 
Mechanik  für  die  Zellularphysiologie  nutzbar  zu 
machen. 

Nach  einer  längeren  erkenntnistheoretischen 
Einleitung,  in  der  unter  anderen  eine  eigenartige 
Klassifikation  der  neueren  biologischen  Theorien 
gegeben  wird,  zeigt  der  Verf.,  wie  der  Chemis- 
mus der  lebenden  Zelle  mit  Hilfe  der  Gib b 'sehen 
Methoden  als  Wahrscheinlichkeitsproblem  aufge- 
faßt und  behandelt  werden  kann. 

Der  Grundgedanke  ist  folgende,  aus  der  Bio- 
gentheorie geschöpfte  Arbeitshypothese :  Der  Stick- 
stofifgehalt  der  Teilchen  der  lebenden  Substanz 
ist  wechselnd,  rascher  oder  langsamer  sich  mit  dem 
Reizzustande  ändernd.  Und  zwar  beziehen  wir 
den  Stickstoffgehalt  der  Einfachheit  halber  (nach 
Abderhalden  u.  a.)  auf  Gruppen  von  3  oder 
6  Kohlenstoffatomen  (C-  C-C  Triosen,  Alanin,  Amino- 

"        III  il  .111    - 
säuren    usw.    oder    CC-C-CC-C    Hexose,  Amino- 

:..^.,n  lii  II  II  II  II III  :  ::\,;., 

säure  Leucin).    Die  Verteilung  der  N  Atome  über 
diese  Gruppen  folge  nun  der  Gau  fischen  Formel 

r7re-'^'«'du 
h  =  Constante,  v  =  Anzahl  der  N  (auf  3  C),  u  =  An- 
zahl der  C-Gruppen  eines  Teilchens. 

Teilchen  mit  sehr  geringem  und  sehr  hohem 
Stickstoffgehalt  sind  am  seltensten,  die  mit  mittlerem 
Prozentgehahe  vorherrschend. 

Dabei  ist  in  Verfolgung  der  Ideen  der  statisti- 
schen Mechanik  über  den  sog.  Phasenfluß  ange- 
nommen, daß  der  Stickstoffgehalt  der  Teilchen 
auch  unabhängig  von  den  Reizverhältnissen  alle 
möglichen  Werte  annimmt. 

Starke  äußere  Reize  wirken,  wie  an  der  be- 
treffenden Stelle  gezeigt  wird,  derart  auf  die  sym- 
metrische Gauß'sche  Glockenkurve,  daß  sie  seit- 
lich eingedrückt  erscheint. 

Durch  Anwendung  eines  interessanten  Ansatzes 
von  Gibbs  undBoltzmann  läßt  sich  plausibel 
machen,  daß  die  schiefe  Kurve  (B  i  o  g  e  n - 
Zerfallskurve)  von  selbst  das  Bestreben 
hat,  sich  zu  restituieren. 

Die  Schiefe  dieser  statistischen  Kurve  und 
andere,  in  der  Originalarbeit  nachzulesende,  mathe- 


matische Kriterien,  sind  nämlich  ein  Maß  der 
Entropie  des  statistischen  Gleichgewichtes.  Die 
Entropie  strebt  aber  einem  Maximum  zu,  hier 
identisch  mit  der  normalen,  symmetrischen  Kurve. 
Für  Interessenten  sei  die  einfachste  Formel  der 
Zelle  als  sog.  algebraisches  Modell  angeführt:    ,^ 

*"«         ip  —  s 
f f      ^"dA,  ....dAs=i 

_  Phasen  .     ,   i  .    /  .     - 

■'?j!r.!.;'X-.  O'ix^  .7;  , 

?/» '=  Arbeitsfähigkeit  der  Zelle,  e  =  Energieinhalt, 
Ö  =  Verteilungskoeffizient,  A, k^  die  verschie- 
denen Biogene, 

alle 


P'- 


der  Phasenraum   eines  Bipeen^j 

Phasen 

alle  Verbindungsformen  mit  verschiedenem  Stick- 
stoffgehalt, die  es  durchlaufen  kann. 

Ähnlich  ist  die  Assimilation  zu  behandeln  als 
notwendige  Zunahme  der  Systeme  eines  statisti- 
schen Gleichgewichtes  mit  chemischen  Reaktions- 
möglichkeiten.  ;- / 

Ein  kurzer  Exkurs  über  mathematische  und 
chemische  Grundbegriffe  (Bertrands  Paradoxon 
und  Tautomerie)  leitet  zur  Behandlung  des  Or- 
ganismus als  Summe  verschiedener  Wahrschein- 
lichkeiten über.  Wir  dürfen  im  Anorganischen 
zwei  Wahrscheinlichkeiten,  die  vielfach  ineinander 
überfließen,  unterscheiden :  die  chemische  W., 
Weh   und  die  physikalische  W.,  Wph. 

Beide  sind  im  Organismus  mehr  weniger  ein- 
ander entgegengesetzt  (wofür  mehrere  Gründe 
angeführt  werden),  ihre  Summe  +0. 

Erst  die  Einführung  der  spezifischorga- 
nischen Wahrscheinlichkeit,  der  organischen 
Form,  erhöht  diese  kaum  von  o  verschiedene 
Weh  -(- ph  zur  Notwendigkeit,  =  I. 

Im  Anhang  wird  noch  über  die  durch  vor- 
liegende Ideen  mögliche  Einführung  der  Quanten- 
theorie in  die  Physiologie  berichtet. 

H.  Latzin,  Wien-Atzgersdorf. 


Geologische  Bedeutuug  derSchweremessungen. 

gg" — /g  :  hinter  diesen  mystischen  Zeichen  birgt 
sich  eine  Fülle  von  Problemen  von  weitreichender 
Bedeutung.  Schon  lange  ist  es  bekannt,  daß  die 
Schwerkraft  auf  der  Erdoberfläche  auch  im  Niveau 
des  Meeresspiegels  nicht  überall  gleich  ist.  Theo- 
retisch müßte  sie  einen  zwar  wechselnden  aber 
von  der  Form  des  Geoids  gesetzmäßig  abhängigen 
Wert  besitzen.  (Die  Geophysiker  nennen  ihn  y^; 
Helmert  (Berlin)  hat  den  Wert  dieser  „Theo- 
retischen Normalschwere"  für  jede  geographische 
Breite  genau  berechnet.)  Die  experimentellen 
Beobachtungen  jedoch,  die  namentlich  mit  einem 
Pendelapparat  angestellt  werden,  und  eine  große 
Genauigkeit  aufweisen  (unbedingt  verläßlich  ist 
noch  die  4.  Dezimale  der  in  Metern  ausgedrückten 


454 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


Beschleunigung),  zeigen  oft  andere  und  unabhängig 
von  der  geographischen  Breite  wechselnde  Zahlen. 

Mit  dem  beobachteten  Wert  der  Schwere  (g) 
werden  einige  Korrekturen  vorgenommen. 

Um  ihn  mit  der  Schwere  an  anderen  Be- 
obachtungsorten vergleichen  zu  können,  nimmt 
man  die  Reduktion  auf  den  Meeresspiegel  vor. 
Man  erhält  den  Wert  gn,  indem  man  sich  den 
Beobachtungsort  samt  seinem  Gesteinssockel  in 
Höhe  des  Meeresspiegels  hinabgezogen,  „konden- 
siert" denkt.  In  g^  ist  also  auch  die  Anziehungs- 
kraft der  zwischen  dem  Meeresspiegel  und  dem 
Beobachtungsort  liegenden  Gesteinsmassen  ent- 
halten. Die  Differenz  g„ — y^  bedeutet  die  wirk- 
liche totale  Schwerestörung.  Sie  hat  haupt- 
sächlich Bedeutung  für  die  Isostasiefrage.  Denkt 
man  sich  aber  die  über  der  Geoidfläche  liegenden 
Gesteinsmassen  abgetragen,  beseitigt,  bzw.  die 
Meere  zugeschüttet,  so  erhält  man  den  Wert  go". 
Die  Abweichung  des  Wertes  g^"  von  der  theo- 
retischen Normalschwere  y^  bedeutet  eine 
D  i  c  h  t  e  anomalie,  denn  aus  ihr  kann  man  auf 
das  spezifische  Gewicht  derjenigen  Teile  des  Erd- 
körpers schließen,  die  unter  der  Geoidfläche 
liegen.  Ist  der  Wert  g(,"  größer  als  y„,  also  die 
Difi'erenz  positiv,  so  liegt  unter  der  Geoidfläche 
hauptsächlich  spezifisch  schweres  Material,  Sima, 
man  spricht  dann  von  Massen-  oder  Dichteüber- 
schuß. Ist  die  Differenz  negativ,  so  ist  leichtes, 
Salisches  Material  in  größerer  Mächtigkeit  vor- 
handen (Dichtedefizit).  (Dieses  Dichtedefizit 
kann  isostatisch  kompensiert  sein  [durch  hoch- 
aufragendes Gebirge  z.  B.],  braucht  also  durchaus 
nicht  immer  eine  Seh  wer  eanomalie  zu  bedingen. 
Dichte-  und  Schwerestörung  sind  grundverschieden 
voneinander.) 

Aus  den  so  ermittelten  Verhältnissen  in  den 
tieferen  Teilen  der  Erdkruste  bzw.  ihrer  magma- 
tischen Unterlage,  zieht  Koßmat  bedeutungs- 
volle geologische  Folgerungen  (Nr.  II  des  XXXVIII. 
Bandes  der  Abhandlungen  der  math.-phys.  Klasse 
der  Sachs.  Akademie  der  Wissenschaften  1921), 
von  denen  hier  einige  herausgegriffen  seien. 

Deutlich  zeigt  sich  der  Unterschied  zwischen 
dem  mitteleuropäischen  Kontinentalgebiet  und 
dem  südlich  sich  anschließenden  mediterranen 
Faltungsgürtel.  Im  ersteren  Gebiet  finden  sich 
nur  geringe  Störungen  der  Dichte,  im  Bereich 
der  jungen  Kettengebirge  hingegen  liegen  tiefe 
„Dichtetröge"  neben  Streifen,  wo  der  größte  Teil 
der  Erdkruste  aus  spezifisch  schweren  Massen  be- 
steht. In  den  Dichtetrögen  sind  die  leichten, 
salischen  Bestandteile  der  Kruste  und  der  tieferen 
mehr  oder  weniger  plastischen  Zonen  zu  dicken 
Würsten  zusammengehäuft.  Nach  oben  ragen  sie 
als  Gebirge  empor,  nach  unten  tauchen  sie  tief 
in  das  schwerere  Magma  hinein.  Man  kann  von 
Faltentiefgang  sprechen,  ein  Ausdruck,  der  in 
diesem  Zusammenhang  wohl  zuerst  von  dem 
Schweizer  Geologen  Albert  Heim  gebraucht 
worden  ist. 

Das   stärkste   derartige  Dichte-   oder   Massen- 


defizit weisen  die  Alpen  auf  In  ihrer  Westhälfte 
ist  es  am  ausgeprägtesten  in  der  Briangonnais- 
zone,  in  den  Ostalpen  folgt  es  dem  kristallinen 
Zentralstreifen  und  nimmt  mit  der  Verbreiterung 
des  Gebirges  nach  der  ungarischen  Tiefebene  all- 
mählich ab.  Während  sich  in  den  Westalpen 
das  Dichtebild  mit  der  Deckentheorie  verträgt,  ja 
von  Albert  Heim  geradezu  als  ihre  unbedingte 
Bestätigung  angesprochen  wird,  kann  man  das 
von  den  Ostalpen  nicht  behaupten.  Hier  ist  die 
Massenveiteilung  vielmehr  nicht  in  Einklang  zu 
bringen  mit  jener  Theorie,  die  die  nördlichen 
Kalkalpen  als  Schubdecke  weit  aus  dem  Süden 
herholt  und  die  Tauern  als  Fenster  auffaßt.  Man 
muß  die  kristallinen  Zentralalpen  auch  tektonisch 
als  die  Axialzone  der  Ostalpen  auffassen. 

Auch  die  übrigen  Faltengebirge  des  Mittel- 
meergebietes sind  Streifen  von  Dichtedefiziten; 
dabei  ist  auffallig,  daß  die  Zone  geringster  Dichte 
an  ihre  Außenseite  rückt,  während  auf  der  inneren, 
der  pannonischen  bzw.  tyrrhenischen  Senke  zu- 
gekehrten Gebirgsseite  Massenüberschuß  herrscht. 
Von  beiden  „Innensenken"  nimmt  Koßmat  an, 
daß  sie  sich  infolge  ihres  Dichteüberschusses  senken. 
Den  wieder  sucht  er  zu  erklären  durch  Einwande- 
rung aus  der  Defizitzone  verdrängten  schweren 
Magmas  im  Laufe  des  gegenwärtigen  (seit  dem 
Jungmesozoikum,  etwa  dem  Jura,  dauernden) 
Faltenzyklus.  Ein  Senkungsgebiet  anderer  Art, 
ebenfalls  mit  Dichteüberschuß  ausgestattet,  ist  die 
Adria,  die  als  ein  Rest  der  mediterranen  Geo- 
synklinale  aufgefaßt  wird.  Sie  ist  daher  auch  von 
den  „Randsenken"  scharf  unterschieden,  die  durch 
Dichtedefizit  charakterisiert,  eigentlich  noch  den 
benachbarten  Kontinentalschollen  angehören  und 
sich  nur  deshalb  in  sinkender  Bewegung  befinden, 
weil  sie  von  einem  neben  ihnen  in  die  Dicke 
(d.  h.  nach  oben  und  unten)  wachsenden  Falten- 
gebirge mit  hinabgezogen  werden.  Die  Randsenken 
sind  meist  mit  Sedimenten  erfüllt,  so,  als  nächst- 
liegendes Beispiel,  das  oberbayerische  Alpen- 
vorland. 

In  der  Frage  der  Faltungsursache  berührt  sich 
Koßmat  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit 
Wegen  er.  Auch  Koßmat  nimmt  an,  „daß  die 
Faltengürtel  zwischen  steiferen,  in  Bewegung  be- 
griffenen Schollen  der  Erdrinde  zusammenge- 
staucht sind".  Jedoch  spricht  er  sich  gegen  das 
völlige  Auseinandertriften  und  den  Zerfall  von 
Kontinenten  aus,  die  Wegener  annimmt,  und  hält 
die  Ozeanböden  nicht  für  „breit  klaffende  Magma- 
felder", sondern  für  Senkungsgebiete. 

Innerhalb  der  steifen  Kontinentalschollen  liegen 
die  Verhältnisse  anders  als  im  Gebiet  der  jungen 
Faltengebirge.  Koßmat  beschreibt  die  Schwere- 
verhältnisse im  außeralpinen  Deutschland  besonders 
genau.  Abgesehen  davon,  daß  hier  die  Ab- 
weichungen von  der  Normalschwere  überall  ver- 
hältnismäßig gering  sind,  zeigt  sich  auch,  daß  die 
Horste  (z.  B.  Schwarzwald,  Vogesen,  Harz)  im 
Gegensatz  zu  den  jungen  Kettengebirgen  ausge- 
sprochene   Dichteschwellen    sind,    also    Über- 


N.  F.  XX.  Nr.  31 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


455 


Schüsse  aufweisen.  Dementsprechend  zeigen  die 
tektonischen  Senken  z.  B.  der  Oberrheingraben, 
Franken  und  Teile  von  Norddeutschland  Massen- 
defizit. Bei  dieser  Gelegenheit  wird  die  Mög- 
lichkeit angedeutet  durch  genaue  Untersuchung 
der  Schwereverhältnisse  Norddeutschlands  die 
Formen  des  heute  tief  begrabenen  Untergrundes 
zu  ermitteln,  beispielsweise  festzustellen,  wo  kar- 
bonische Schichten  horstartig  emporragen  und 
vielleicht  durch  Bohrungen  oder  Schächte  erreich- 
bar wären. 

Sehr  bemerkenswert  ist,   daß   sich  im  Dichte- 


bild der  Kontinentalschollen  keine  Spur  mehr 
von  den  alten  Faltungszyklen  erhalten  hat,  die 
auch  unser  Gebiet  noch  betroffen  haben.  Z.  B. 
findet  sich  von  den  Dichteanomalien  des  varisti- 
schen  Gebirges,  die  zur  Karbonzeit  zweifellos  denen 
im  heutigen  Mittelmeergebiet  geglichen  haben, 
keine  Spur  mehr;  ebensowenig  ist  natürhch  von 
den  Dichtestörungen  des  kaledonischen  und  ar- 
chäischen Faltungszyklus  erhalten. 

So  klingen  die  Bewegungen  einer  jeden  Periode 
der  Gebirgsbildung  allmählich  aus. 

C.  W.  Kockel. 


Bücherbesprechungen. 


Dannemann,   Friedrich,    Die   Naturwissen- 
schaften in  ihrer  Entwicklung   und  in 
ihrem  Zusammenhange.     2.  Aufl.    I.  Bd.: 
Von  den  Anfängen  bis  zu  dem  Wiederaufleben 
der  Wissenschaften.  Mit  64  Abb.  im  Text  und 
mit    I    Bildnis   von   Aristoteles,     gr.  8".     XII, 
486  S.     Leipzig    1920,    Verlag    von    Wilhelm 
Engelmann.      Preis    geh.    20   M.,    geb.    24  M. 
(hierzu  50  7o  Verleger-Teuerungszuschlag). 
Daß  Friedrich  Dannemanns  große  vier- 
bändige     Naturwissenschaftsgeschichte      (Leipzig 
1910 — 1 3)  schon  jetzt  in  2.  Auflage  zu  erscheinen 
beginnt,    ist    ein    erfreuliches    Zeichen     für     den 
keimenden    humanistischen    Geist    innerhalb    der 
aktuellen  Naturwissenschaften.      Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  näher  darzulegen,  welche  Bedeutung  der 
Wissenschaftsgeschichte    zur   Ermittlung    des    Er- 
kenntniswertes der  Tatsachen   zukommt,   wie   sie 
die    Kritik   schärft    und    den   myopen  Blick    des 
modernen  Spezialisten   weitet,   von   welchem  Er- 
lebniswert  die   Geschichte   ist,   wie   sie   die   sog. 
allgemeine  Bildung  auf  ein  höheres  Niveau  erhebt, 
wie   sie   —   mit   einem  Worte   gesagt  —  die  via 
regia   zwischen  Realismus    und   Humanismus  dar- 
stellt.     Wer  schon    den    Geist   von    Siegmund 
Günthers  kleinem  Kompendium  der  „Geschichte 
der    Naturwissenschaften"    (3.  Aufl.,    Leipzig,    Ph. 
Reclam,  1920)  verspürt  hat  und  nun  Friedrich 
Dannemanns  in  größeren  Rahmen  eingespannte 
Geschichtsdarstellung    durcharbeitet,    wird    selbst 
empfinden,     von    welcher    geistesbildenden     und 
ethischen     Bedeutung     die    Naturwissenschaftsge- 
schichte ist. 

Dannemann  hat  recht  getan,  für  die  Neu- 
auflage seines  Werkes,  die  in  dem  anschwellenden 
Strome  historischer  Sonderuntersuchungen  die 
Kräfte  eines  einzelnen  schier  zu  erschöpfen  droht, 
sich  der  Mitarbeit  mehrerer  physikalisch  -  chemi- 
scher Fachhistoriker  zu  versichern.  Überall  merkt 
man  die  bessernde  Hand  Dannemanns  und 
seiner  Helfer.  Ergänzungen  und  Verbesserungen, 
die  ich  für  die  biologiegeschichtlichen  Abschnitte 
des  I.  Bandes  zusammengestellt  habe,  werden  in 
dem  Nachtrage  eines  späteren  Bandes  Platz  finden. 
So   bin   ich  ihrer  Erwähnung   für  jetzt  enthoben. 


Bei  der  Fülle  des  vom  Verf.  einzufangenden  Stoffes 
ist  es  leicht  begreiflich,  wenn  der  historische 
Spezialist  nicht  in  allem  Dannemanns  Stand- 
punkt einnimmt.  Doch  hat  auch  er  am  ganzen 
Werke  seine  Freude. 

Die  1 3  Abschnitte  des  neuaufgelegten  I.  Bandes 
umfassen  Altertum  und  Mittelalter,  das  16.  Jahr- 
hundert mit  eingeschlossen.  Doch  hieße  es  eine 
Geschichte  der  Naturwissenschaften  dieser  riesigen 
Zeitspanne  in  nuce  schreiben,  wollte  man  auch 
nur  die  Hauptlinien  nachzeichnen.  Wer  sich  der 
Notwendigkeit  historischer  Denkungsart  nicht  ab- 
sichtlich verschließt  und  Dannemanns  Dar- 
stellung beschaulich  auf  sich  einwirken  läßt,  wird 
hohen  Gewinn  mit  herübernehmen  in  sein  modern- 
naturwissenschaftliches Denken  und  Forschen. 
Der  Lernende  wie  der  Lehrende  kann  hier  neue 
Kräfte  sammeln. 

Möchten  recht  bald  einsichtsvolle  Unterrichts- 
verwaltungen auch  der  Naturwissenschaftsgeschichte 
den  Platz  an  der  akademischen  Sonne  einräumen, 
die  Stellung,  die  einer  alle  naturwissenschaftlich- 
technischen Disziplinen  umspannenden  Geschichte 
unbedingt  gebührt  1  Dannemanns  großes  Ge- 
schichtswerk kann  sicherlich  mit  die  verschlosse- 
nen Hochschultore  sprengen. 

Dresden.  Rudolph  Zaunick. 


Brigl,  P. ,  Die  chemische  Erforschung 
der  Naturfarbstoffe.  Braunschweig  1921, 
Friedrich  Vieweg  &  Sohn.  Preis  14,—  (17,20)  M. 
und  Teuerungszuschlag. 

Das  Buch  liest  sich  wie  eine  gute  Erzählung! 
Auch  wenn  man  den  Inhalt  kennt,  muß  man 
seine  Freude  haben  an  der  angenehm  dahin- 
fließenden Vortragsweise,  an  der  weisen  Auswahl 
aus  der  Fülle  an  Stoff,  an  der  ganz  und  gar  nicht 
trocknen  Darstellung  des  rein  Experimentellen; 
kurz,  Berichterstatter  gesteht,  daß  ihn  beim  Lesen 
des  200  Seiten  starken  Büchleins  ähnlich  warme 
Empfindungen  der  Bewunderung  vor  der  Fülle 
chemischer  Forscherleistung  bewegten  wie  beim 
Studium  der  Arbeiten  Willstätters  selbst. 
Gewiß  ein  hohes  Lobl  Möchte  jeder  der  orga- 
nischen Chemie  Teilhafte  sich   dadurch  bewogen 


456 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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fühlen,  sich  das  Buch  anzueignen.  Es  ist  die 
beste  Übersicht  über  das  reizvolle  Gebiet. 

Die  Einteilung  geschah  nach  chemischen  Ge- 
sichtspunkten: nach  den  Naphtalinderivaten  kom- 
men die  des  Anthracens  (Alizarin,  Carminsäure), 
dann  die  Carotinoide  (der  Farbstoff  der  IVIohrrübe, 
Tomate  usw.),  die  große  Gruppe  der  Flavonfarb- 
stoffe  und  der  Anthocyanidine.  Indigo,  Purpur 
und  endlich  Chlorophyll  machen  den  Beschluß. 
Dazwischen  finden  sich  Abschnitte  über  Farbe 
und  Konstitution,  sowie  über  die  Variation  der 
Pflanzenfarben.  Nichts  Wesentliches  fehlt,  und  in 
einem  beinahe  spannenden  Zuge  wird  einem  die 
Welt  der  Pflanzenfarbstoffe  enthüllt. 

Aufgefallen  ist  mir  die  teilweise  Ausschreibung 
des  C  in  den  Benzolringen.  Chinone  erscheinen 
manchmal  wie  Ketene.  Und  durchweg  unrichtig 
angegeben  ist  der  Name  Marchlewskis  (siel), 
der  allein  auf  S.  161  viermal  in  der  Form  IVIach- 
lewski  auftritt.  Der  nicht  recht  glückliche  For- 
scher, der  wohl  als  Erster  reines  Alizarin  in  den 
Händen  hatte,  verdient  schon,  recht  genannt  zu 
werden.  Doch  sind  das  kleine  Schönheitsfehler 
eines  ansonst  trefflichen  Buches.  Zwei  saubere 
Spektraltafeln   verdeutlichen   den  Text   recht  gut. 

H.  Heller. 

Meyer,    Eugen,     Wirklichkeitsblinde     in 
Wissenschaft  und  Technik.    Abwehr  der 
unter  diesem  Titel  erschienenen  Streitschrift  von 
A.  R  i  e  d  1  e  r  und  der  Streitschrift  „Theorie  und 
Wirklichkeit    bei    Triebwerken    und    Bremsen" 
von  St.  Löffler.    55  S.   Berlin  1920,  J.  Springer. 
Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  den  äußerst  un- 
erquicklichen, von  Riedler  und  Löffler  herauf- 
beschworenen und  von  diesen  mit  unerhörter  per- 
sönlicher   Gehässigkeit    geführten    Streit    um    die 
Richtigkeit  der  Löffl ersehen  Anschauungen  über 
Reibung    näher    einzugehen;    da  aber    in    unserer 
Zeitschrift    die   Schrift  von  Riedler   besprochen 
wurde,    sei   wenigstens    auf  die    nun   vorliegende, 
sachliche   Erwiderung  Meyers   hingewiesen,   die 
sich    übrigens    im    wesentlichen    auf    kurze    aber 
energische  Richtigstellungen  beschränkt.     Ein  Ur- 
teil,   welches  Meyer   dabei    über  Löffl  ers  An- 
schauungen   u.  a.    fällt,    möchte    ich    dabei    hier 
wörtlich  wiedergeben,  weil  es  so  treffend  gewisse 
„Erfinder"  charakterisiert,  die  leider  immer  wieder 
ihr  Unwesen  treiben  und  von  denen  es  gerade  in 
jüngster  Zeit  wieder  eine  Reihe  gibt  zum  Schaden 
der  Menschheit  und  der  Dummen,  die  ihnen  mehr 
trauen    als  den  freilich   so   vielfach   verschrieenen 
und    als    unbeliebt    geltenden    Gelehrten   (ich    er- 
innere   an    die    in   letzter    Zeit   mehrfach    in    den 


Tageszeitungen  besprochenen  neuen  Vorschläge  zur 
Energiegewinnung  aus  der  Atmosphäre  als  Kohle- 
ersatz u.  ä.);  das  Urteil  hat  also  allgemeines  Inter- 
esse. „Es  gibt  gewisse  Erfinder,  deren  Erfindungen 
mit  den  Tatsachen  der  Mechanik  und  mit  aller 
Wirklichkeit  so  im  Widerspruch  stehen,  daß  jeder 
Fachmann  sofort  ihre  Unbrauchbarkeit  einsieht, 
die  sich  aber  darüber  nicht  belehren  lassen.  Sie 
bleiben  bei  ihren  falschen  Anschauungen,  sehen 
die  Kritik  eines  Fachmanns  lediglich  als  ein  Fest- 
halten an  überlieferten  Anschauungen,  als  Ausfluß 
von  Wissensdünkel  an.  Auch  dadurch,  daß  jeder 
neu  hinzugerufene  Fachmann  das  Urteil  des  vor- 
hergehenden bestätigt,  lassen  sie  sich  keineswegs 
belehren.  Jetzt  meinen  sie,  die  Fachgenossen 
seien  voneinander  beeinflußt,  eine  herrschende 
Zunft  verfolge  den  Erfinder  und  lasse  die  Wahr- 
heit nicht  aufkommen.  So  fühlen  sie  sich  dann 
durch  jede  sachliche  Kritik   persönlich  gekränkt." 

Valentiner. 


Kistner,  A.,  Geschichte  der  Physik.  I.  Die 
Physik  bis  Newton.  II.  Die  Physik  von  Newton 
bis  zur  Gegenwart.  2.  Aufl.  Sammlung  Göschen. 
Nr.  293,  294.  Berlin  und  Leipzig.  V.  W.  V. 
1919. 

Es  ist  stets  von  Wert,  sich  in  die  Geschichte 
einer  Disziplin  zu  vertiefen ;  nicht  zum  wenigsten 
gilt  das  gerade  in  der  heutigen  Zeit  von  der  Ge- 
schichte der  Physik  —  in  der  heutigen  Zeit,  in 
der  die  Relativitätstheorie  althergebrachten  An- 
schauungen entgegentritt.  Die  Betrachtung  der 
Geschichte  lehrt  uns,  wie  langsam  oft  eine  Theorie, 
die  der  heutigen  Generation  nichts  Wunderbares 
mehr  zu  enthalten  scheint,  weil  sie  darin  erzogen 
wurde,  sich  gegenüber  gewohnten  Anschauungen 
und  Vorurteilen  durchsetzen  konnte,  und  sie  gibt 
uns  Mut,  auch  heutigentags  von  Gewohntem  uns 
zu  trennen.  So  ist  es  denn  sehr  erfreulich,  daß 
vor  kurzer  Zeit  die  2.  erweiterte  Aufl.  der  kurz- 
gefaßten Geschichte  der  Physik  von  Kistner 
erschienen  ist.  Sie  wird  vielen  ein  interessanter 
und  angenehmer  Lesestoff  sein  und  kann  durchaus 
empfohlen  werden.  Der  Inhalt  des  2.  Bändchens 
ist  —  das  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  der  Fülle 
der  neuzeitlichen  Entdeckungen  —  wesentlich 
stärker  zusammengedrängt  als  der  des  I.  Bänd- 
chens. Besonders  wertvoll  in  dem  oben  ange- 
deuteten Sinne  ist  ja  aber  auch  gerade  die  im 
1.  Bändchen  etwas  ausführlicher  behandelte  frühere, 
langsamere  Entwicklung  der  Physik,  z.  B.  die  zur 
Zeit  des  Kopernikus,  Galilei,  Kepler, 
Newton.  Valentiner. 


Inhalt:  H.  Heller,  Wie  orientiert  sich  die  Ameise?  S.  449.  —  Einxelberichte:  G.  Schmitz,  Die  deutschen  Ol- 
schieferlager.  S.  452.  G.  Bruhns,  Ein  einfaches  Hilfsmittel  für  genaue  Ablesungen  an  Büretten.  S.  452.  H.  Latzin, 
Neue  Möglichkeiten  der  theoretischen  Biologie.  S.  453.  Koßmat,  Geologische  Bedeutung  der  Schweremessungen. 
S.  453.  —  BUcberbesprechungen :  Fr.  Dannemann,  Die  Naturwissenschaften  in  ihrer  Entwicklung  und  in  ihrem 
Zusammenhange.  S.  455.  P.  Brigl,  Die  chemische  Erforschung  der  Naturfarbstoffe.  S.  455.  E.  Meyer,  Wirklich- 
keitsblinde in  Wissenschaft  und  Technik.  S.  456.     A.  Kistner,  Geschichte  der  Physik.  S.  456. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  PäU'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganzen  Reihe    36.  Band. 


Sonntag,  den  7.  August  1921. 


Nummer  S'i, 


Die  chemischen  Niederschläge  des  norddeutschen  Diluviums. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Eduard  Zache. 


Im  norddeutschen  Diluvium  treten  neben  den 
Sand-  und  Tonbänken  Lager  aus  kohlensaurem 
Calcium  und  Brauneisen  auf,  die  durchweg  zwar 
eine  schwache  Mächtigkeit  und  eine  spärliche 
Verbreitung  besitzen,  aber  wegen  ihrer  eigenartigen 
Bildungsweise  Beachtung  verdienen. 

Was  zunächst  die  Lager  aus  kohlensaurem 
Calcium  betrifft,  so  beschreibt  Heß  von  Wie  h- 
dorff)  ein  solches  aus  der  Nachbarschaft  von 
Guben  mit  folgenden  Worten:  Am  östlichen  Ab- 
hänge des  Tälchens  vom  Göhlen-See  zur  Neiße 
liegt  ein  200  m  langes  Kalklager.  Es  zeigt  ein 
wannenförmiges  Lager  wie  beim  Seekalk.  Die 
Oberfläche  ist  horizontal.  Die  Decke  erreicht 
eine  Höchstmächtigkeit  von  10  m.  Die  Decke 
ist  steinig-kiesiger  Sand.  Es  ist  i  km  lang  und 
200 — 400  m  breit.  Nicht  weit  von  ihm  liegt 
noch  ein  zweites  kleineres.  Das  Kalklager  ist 
durchschnittlich  3,5  m  mächtig  und  wechselt  von 
1,2  bis  10,5  m.  Der  Kalk  entspricht  durchaus 
dem  alluvialen  Wiesenkalk;  der  Kalk  ist  erdig, 
leicht  zerreiblich  und  fühlt  sich  tonig  an,  besitzt 
eine  helle  Farbe  und  eine  deutliche  Schichtung. 
Das  Liegende  ist  diluvialer  Kies,  Mergel  usw.  Auch 
Berg  ha  US-')  erwähnt  schon  dieses  Kalklager 
von  Groß  Drewitz  im  Gubener  Kreise,  indem  er 
von  einem  Mergeltuff  spricht,  der  in  der  dortigen 
Feldmark  auf  einer  zusammenhängenden  Fläche 
von  200  bis  300  Morgen  Größe  vorkommt  und 
ausgebeutet    in    einem    Kalkofen    gebrannt   wird. 

Ein  zweites  Beispiel  wird  von  W.  Wolff)  auf- 
geführt und  befindet  sich  in  der  Forst  Gnewau, 
Kr.  Neustadt,  Westpreußen.  Die  feingeschichtete 
graue  Kalkmasse  ist  4  m  mächtig,  und  darüber 
liegt  entweder  Geschiebelehm  oder  auch  Kies. 
Das  Liegende  war  nicht  sichtbar,  besteht  aber,  so 
viel  zu  erfahren  war,  aus  nordischem  Sand  und  Kies. 

Ein  drittes  Lager  hat  Deecke*)  gefunden 
und  zwar  bei  der  Försterei  Endingen,  Kr.  Franz- 
burg, Neuvorpommern.  Der  Kalktuff  wird  von 
Sauden  eingeschlossen  und  ruht  zwischen  zwei 
Geschiebelehmen. 

Endlich  möchte  ich  noch  nach  Wah  n  s c  h  a f  fe'^') 


')  Heß  von  Wi  ch  d  or  f  f:  Über  ein  neues  ausgedehntes 
Kalklager  von  Groi3  Drewitz  unweit  Guben.  Monatsbl.  d. 
deutsch,  geolog.  Ges.  Nr.   i,   1910,  S.  72. 

^J  Berghaus:  Landbuch  der  Mark  Brandenburg.  Bd.  I, 
1854,  S.  220. 

')  W.  Wolff:  Beobachtungen  über  neue  Vorkommen 
von  fossilführendem  Diluvium.  Monatsbl.  d.  deutsch,  geolog. 
Ges.    1905,  S.  295. 

■*)   Deecke,  Globus  78,   iqoo,  S.   13 — 15. 

')  Wahnschaffe:  Die  Oberflächengestaltung  des  nord- 
deutschen Flachlandes,  3.  Aufl.,  Stuttgart  1909,  S.  296. 


Schichten  aus  CaCOg  erwähnen,  die  Keil  hack 
festgestellt  hat.  Die  erste  Stelle  liegt  in  der  Um- 
gegend von  Dahnsdorf  5  km  nördlich  von  Nie- 
megk.  Die  Aufschlüsse  finden  sich  nördlich  und 
südlich  von  der  Chaussee  in  der  Nähe  der  Kom- 
turmühle. Hier  wird  ein  Süßwasserkalk  ge- 
wonnen, der  über  2  m  mächtig  ist  und  viel  Kon- 
chylien  enthält.  Die  zweite  Ortlichkeit  wird  öst- 
lich von  dem  Dorfe  Mörz  angeführt,  das  weitere 
3  km  nördlich  von  Dahnsdorf  liegt;  dort  wird 
ein  2  m  mächtiger  Süßwasserkalk,  der  nach  oben 
zu  in  entkalkten  eisenschüssigen  Lehm  übergeht, 
zunächst  von  ^j  "^  mächtigem  Geschiebelehm 
und  sodann  von  i  m  mächtigem  steinigen  Tal- 
sand überlagert.  Endlich  ist  bei  Wahnschaffe 
noch  ein  dritter  Fundort  aus  dieser  Gegend  an- 
geführt, nämlich  die  Obermühle  bei  Beizig,  wo 
eine  Tiefbohrung  als  unterste  angetroffene  Schicht 
tertiäre  Sande  von  großer  Mächtigkeit  vorfand, 
bedeckt  von  lO  m  mächtigen  Talsanden,  die  im 
oberen  Teil  große  nordische  Blöcke  enthalten. 
Darüber  folgt  der  Süßwasserkalk  von  5  m  Maxi- 
malmächtigkeit, der  im  unteren  Teil  Pflanzen- 
und  Tierreste  enthält,  während  die  ersten  in  den 
höheren  Schichten  fehlen.  Den  Süßwasserkalk 
überlagert  Geschiebelehm  oder  blockreicher  Ge- 
schiebesand, und  wo  der  erstere  dem  Süßwasser- 
kalk unmittelbar  auflagert,  zeigen  sich  Schichten- 
störungen. 

An  diesen  Stellen  handelte  es  sich  um  ein  Pul- 
ver von  CaCO^.  Fr i edel*)  berichtet  aber  auch 
von  einem  festen  Kalkstein:  In  der  Nähe  des 
neuvorpommerischen  Städtchens  Richtenberg  wird 
Sand  und  Kies  abgegraben.  Durch  das  grandige 
Diluvium  ziehen  Bänke  von  verhärteten  Kalkplatten, 
die  mitunter  mehrere  Zoll  hoch  und  sehr  schwer 
sind  und  gewissen  Rüdersdorfer  Kalkbruchsteinen 
ähneln.  Sie  sind  gelegentlich  beim  Bauen  von 
Fundamenten  usw.  mit  Vorteil  verwendet  worden. 

Solche  festen  Kalksteine  waren  offenbar  in 
früheren  Zeiten  sehr  begehrt,  weil  Berghaus 
an  der  erwähnten  Stelle  eine  große  Anzahl  von 
Fundpunkten  nennt.  So  berichtet  er  S.  i6i  von 
dem  Kalkberg  hinter  dem  Schenkendorfschen 
Eichwalde  bei  der  Stadt  Guben:  „Aus  diesem 
Kalkberge  werden  die  zum  Bau  benötigten  Kalk- 
steine gebrochen,  doch  scheinen  sie  mehr  zum 
Brennen  benutzt  worden  zu  sein."  Ferner  findet 
man  nach  ihm  in  der  Niederlausitz  und  zwar  in 
der  Herrschaft  Sorau  wie  auch  zu  Jessen  (Kr.  Sorau) 


')  Friedel :  Brandenburgia.    Monatsblatt  der  Gesellschaft 
für  Heimatkunde    der  Prov.  Brandenburg   VII,    1899,    S.    374. 


458 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


und  zu  Bernsdorf  (Herrschaft  Pforten)  gute  und 
zum  Bau  sehr  dienUche  Kalksteine;  weiter  sind 
Kalksteine  gefunden  bei  Pieschkau  im  Sorauschen 
und  zu  Kalke  im  Triebeischen,  das  seinen  Namen 
wahrscheinlich  von  den  umliegenden  Kalkgebirgen, 
wo  verschiedene  Brüche  im  Gang  sind ,  führt. 
Berghaus  fügt  hinzu,  daß  neue  Nachrichten 
diesen  Fundpunkt  nicht  erwähnen,  nur  von  Kalke 
heißt  es,  daß  es  einzelne  Nester  von  Kalksteinen 
in  den  Bergen  gäbe,  daß  man  jedoch  nicht  danach 
grabe.  Bei  Syrau,  nördlich  von  Sorau,  wurde 
früher,  wie  Berghaus  weiter  anführt,  Kalkstein 
gegraben,  und  bei  Zelz,  südwestlich  von  Triebel, 
kam  Kalk  in  einzelnen  unbedeutenden  Nestern 
vor.  Bei  Groß-Ziescht  im  Jüterbog-Luckenwalder 
Kreise,  meldet  er  weiter,  liegen  einige  Schritt  vom 
Dorfe  entfernt  die  sog.  Kalkkuhlen,  welche  den 
Kalk  zum  Bau  der  aus  Feldsteinen  aufgeführten 
Kirche  des  Ortes  geliefert  haben  sollen.  Endlich 
bringt  er  noch  eine  Angabe  Girards  bei,  wo- 
nach sich  bei  Alt  Golm  in  der  Nähe  von  Beeskow 
Kalksteine  vereinzelt  in  Nestern  gefunden  haben 
und  wonach  auch  auf  der  Feldmark  des  Ritter- 
gutes Ragow  im  lehmigen  Sandboden  der  Höhe 
viel  Kalk  vorhanden  ist. 

Aus  diesen  Beschreibungen,  auch  aus  denen 
von  Berghaus,  geht  hervor,  daß  es  sich  um 
Lager  oder  Nester  handelt,  in  welchen  das  kohlen- 
saure Calcium  allein  vorkommt.  Daneben  aber 
gibt  es  nun  noch  eine  zweite  Gruppe ,  wo  es 
mit  Kies  gemischt  ist,  wobei  es  sich  auch  um 
loses  oder  verfestigtes  Gestein  handelt. 

An  dem  Abhang  zwischen  Niederfinow  und 
Liepe,  der  die  uckermärkische  Stufe  gegen  das 
Oderbruch  abgrenzt,  waren  vor  dem  Kriege 
eine  große  Anzahl  von  Kiesgruben  dicht  neben- 
einander im  Betrieb,  und  hier  fand  ich  häufig  in 
den  Kies  eingebettet  Nester  aus  kohlensaurem 
Calcium,  das  eine  wechselnde  P"estigkeit  aufwies, 
in  der  Regel  aber  aus  einer  staubartigen  losen  Masse 
bestand.  In  diese  Gruppe  gehören  die  Schollen - 
steine,  die  in  einigen  Rummeln  des  Hohen 
Flämings  auftreten.  F  r  i  e  d  e  P)  berichtet  darüber : 
Der  Braut  Rummel  beginnt  i  km  östlich  von 
dem  Dorfe  Grubo,  das  8  km  südlich  von  dem 
Bahnhof  Wiesenburg  liegt.  Er  hat  eine  Tiefe 
von  10  m,  und  ungefähr  2  m  über  der  Sohle  und 
7  m  unter  der  Kante  ragt  das  Konglomerat  aus 
der  östlichen  Böschung  hervor.  Es  ist  also  etwa 
I  m  stark  und  hat  eine  Seitenausdehnung  von 
1,5  m.  Die  an  und  für  sich  sehr  lose  Struktur 
ist  im  Erdreich  noch  weicher.  Die  Schollen 
zeigen  an  einigen  Stellen  deutliche  Kreuzschich- 
tung, weisen  aber  im  ganzen  horizontale  und 
parallele  Lagerung  auf.  Der  Kies  besteht  aus 
kleinen  Steinchen.  Der  zweite  Rummel  mit 
Schollensteinen  ist  der  von  Garrey  und  ein  dritter 
ist  der  Neuendorfer.  Beide  beginnen  nicht  weit 
von  dem  Dorfe  Garrey,    das    8    km    südlich    von 

')  E.  Fried  el:  Brandenburgia.  Monatsblatt  der  Gesell- 
schaft für  Heimatkunde  der  Prov.  Brandenburg  XVIII,  1909, 
Nr.  5,  S.   133. 


Niemegk  liegt.  In  dem  Neuendorfer  Rummel 
treten  die  Schollen  8  m  über  der  Sohle  und  i  m 
unter  der  Randhöhe  auf  und  lassen  sich  100  m 
weit  verfolgen,  wobei  sie  2  m  Mächtigkeit  be- 
sitzen. Sie  führen  gröbere  Gesteinstrümmer  als 
die  des  Braut  Rummels. 

Hier  möchte  ich  einen  Fundort  nach  der 
Karte  einfügen.  10  km  nördlich  von  Finster- 
walde findet  sich  auf  der  100  000  Karte  ungefähr 
über  eine  Länge  von  10  km  die  Bezeichnung 
„alte  Kalkgruben";  deshalb  vermute  ich,  daß  es 
sich  um  Aufschlüsse  gehandelt  hat,  die  in  früheren 
Zeiten  im  Betrieb  waren,  denn  auf  diese  Stelle 
bezieht  sich  zweifellos  die  folgende  Bemerkung 
von  Berghaus:  „Im  Gebiet  von  Babben  (Stan- 
desherrschaft Drehna)  steht  ein  Steinbruch  im 
Betrieb,  die  Felsart  ist  sehr  grob  gewoben,  bricht 
leicht  und  hat  eine  rotbraune  Farbe  wie  Lohe. 
Der  untere  Rumpf  des  Kirchturms  von  Groß- 
Mehßow  ist  augenscheinlich  aus  grobgehauenen 
Stücken  dieses  Gesteines  erbaut.  In  der  Folgezeit 
ist  dies  Gestein  nicht  weiter  benutzt  worden. 
Jetzt  wird  es  aber  zu  Stallgebäuden  verwandt." 
Aus  dieser  Beschreibung  darf  man  wohl  entnehmen, 
daß  es  sich  auch  um  ein  solches  Konglomerat 
handelt,  wie  es  die  Schollensteine  vorstellen. 

Die  bisher  beschriebenen  Vorkommen  des 
kohlensauren  Calciums  sind  als  Nester  und  Lager 
bezeichnet  worden,  weil  sie  trotz  ihrer  geringen 
Mächtigkeit  und  ihres  bescheidenen  Umfanges 
immerhin  noch  eine  zusammenhängende  Schicht 
bilden.  Ihnen  steht  nun  ein  ganz  abweichen- 
des Vorkommen  gegenüber.  In  den  hellbraunen 
Tonen  der  Provinz  Brandenburg  ist  mir  häufig 
das  CaCOg  in  der  Form  von  Knöllchen  und 
kleinen  Knauern  begegnet,  weswegen  diese  Tone 
sich  auch  nicht  ohne  weiteres  für  die  Ziegel- 
fabrikation eignen.  Am  häufigsten  habe  ich  sie 
in  den  Tonen  gefunden,  die  in  einer  sehr  auffallen- 
den Lagerung  in  den  Sandgruben  von  Nieder- 
Löhme  bei  Königs- Wusterhausen  auftreten.  Dort 
finden  sich  in  der  Sandböschung  Einschaltungen 
aus  hellbraunem  Ton,  die  unvermittelt  in  der 
Wand  auftreten  und  zwar  in  Form  von  abge- 
stumpften Kegeln,  weswegen  sie  auch  etwas  aus 
der  Wand  herausragen.  Sie  verraten  sich,  abge- 
sehen von  ihrer  Farbe,  deutlich  durch  die  Festig- 
keit, weil  sich  auf  ihrer  Oberfläche  lange  Regen- 
risse eingegraben  haben,  während  links  und  rechts 
daneben  der  Sand  heruntergerollt  ist.  Einige 
dieser  Kegel  haben  eine  breite  Basis  und  reichen 
von  der  Sohle  bis  zur  Oberfläche,  wo  sie  abge- 
stumpft sind,  andere  dagegen  sind  viel  kleiner 
und  enden  schon  in  halber  Höhe  der  Grubenwand. 
Fast  ebenso  zahlreich  wie  die  unterirdischen 
Lagerstätten  aus  CaCOg  sind  die  aus  Brauneisen. 
Die  wichtigste  ist  von  mir  in  den  Aufschlüssen 
der    Braunkohlengrube    Präsident ')    westlich    von 

')  E.  Zache:  Spuren  tektonischer  Kräfte  im  Nieder- 
lausitzer  Vorland.  Archiv  der  Brandenburgia,  Gesellschaft  für 
Heimatkunde  der  Prov.  Brandenburg,  Bd.  V,  1899,  S.  543 
bis  572. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


459 


Fürstenberg  a.  O.  entdecl<t  worden.  Die  Braun- 
kohlenflöze sind  dort  zu  vier  großen  Sätteln  auf- 
gerichtet, die  Nordsüd  streichen  und  in  früheren 
Zeiten  zutage  ausgingen,  wodurch  mehrere  gün- 
stige Gelegenheiten  erzeugt  worden  waren,  um 
das  Brauneisensteinflöz  zu  beobachten.  Es  liegt 
nämlich  auf  der  Grenze  zwischen  dem  Tertiär 
und  dem  Diluvium  und  beginnt  mit  einem  Pflaster 
aus  nordischen  Kiesen  und  Gerollen.  Zwischen 
ihnen  und  noch  etwas  darüber  liegt  das  Erz,  das 
nur  30  cm  mächtig  ist.  Die  unterste  Schicht  be- 
steht aus  Kugeln  von  2  cm  Durchmesser,  während 
der  Rest  eine  gleichförmige  Masse  bildet.  Das  Lager 
wird    bedeckt   von    einem    mächtigen    Diluvialton. 

Eine  zweite  Stelle  findet  sich  in  der  Septarien- 
tongrube  am  Südende  des  Schermützel  Sees  bei 
Buckow.  Dort  liegen  zwei  schwache  Bänke  aus 
Toneisenstein  zwischen  tertiären  Sanden  über 
einer  mächtigen  Bank  aus  Septarienton. ')  Die 
Schichten  fallen  auch  hier  unter  einem  flachen 
Winkel  ein.  Weil  die  Flöze  hier  zwischen  ter- 
tiären Schichten  lagern,  sollte  man  annehmen, 
daß  sie  nicht  zum  Diluvium  gehören,  was  aber 
in  der  Tat  der  F"all  ist,  wie  ich  in  einem  späteren 
Abschnitt  nachweisen  werde. 

Ganz  ähnliche  unbedeutende  Lager  aus  Braun- 
eisen, das  durch  Sand  und  Ton  verkittet  ist, 
wurden  von  mir  noch  an  anderen  Stellen  beobachtet. 
Z.  B.  habe  ich  solche  in  mehreren  Ziegeleigruben 
in  der  Umgegend  von  Sorau  festgestellt.  Dort 
finden  sie  sich  auf  der  Sohle  von  diluvialen  San- 
den und  Kiesen,  die  ihrerseits  auf  tertiären  Tonen 
ruhen.  In  der  Grube  dicht  hinter  dem  Restau- 
rant Rautenkranz  fanden  sich  dicke  feste  Bänke 
aus  eisenschüssigen  Sanden,  während  ebensolche 
Kiesbänke  auf  dem  tertiären  Ton  ruhen,  der  einen 
schmalen  Rücken  bildet  und  sich  parallel  mit  der 
Sorau — Kohlfurter  Eisenbahn  in  der  Nähe  vom 
Bahnhof  Kunzendorf  hinzieht.  Eine  weitere  Fund- 
stelle konnte  ich  im  Sommer  19 13  in  einer  großen 
Kiesgrube  in  der  Nähe  des  Eichberges  gegenüber 
dem  Bahnhof  Groß-Gastrose  an  der  Neiße  fest- 
stellen. Vereinzelt  ragten  die  eisenschüssigen  Kies- 
blöcke auch  aus  dem  Waldboden  hervor. 

Eine  auffallende  Gesteinsbildung,  die  meiner 
Meinung  nach  auch  hierher  gehört,  hat  Fried eP) 
viel  beschäftigt.  Es  handelt  sich  um  den  roten 
Trebuser  Sandstein,  wie  er  ihn  genannt  hat.  (Das 
Dorf  Trebus  liegt  wenige  Kilometer  nördlich  von 
der  Stadt  Fürstenwalde  a.  S.).  Er  beschreibt  die 
Steine  folgendermaßen:  Ein  und  derselbe  Block 
ist  im  Gefüge  und  der  Farbe  sehr  verschieden, 
von  feinen,  gleichmäßig  verteilten  Sandstein- 
körnern bis  zu  erbsen-,  ja  bohnengroßen  ungleich- 
artigen Stücken,  sehr  hart,  dunkelrot  bis  hellrot, 
mit  und  ohne  Glimmerplättchen.  Die  mit  dem 
Trebuser    Sandstein    vergesellschafteten    Diluvial- 

')  F.  Wahnschaffe:  Die  Lagerungsverhältnisse  des 
Tertiärs  und  Quartärs  der  Gegend  von  Buckow.  Seperalabdruck 
aus  dem  Jahrb.  der  Kgl.  Preuß.  Geolog.  Landesanstalt  für  1S93. 

-)  E.  Friedel;  Brandenburgia.  Monatsblau  der  Gesell- 
schaft für  Heimatkunde  der  Prov.  Brandenburg  VH,  1898,  S.  385. 


geschiebe  sind  ungleich  mehr  abgeschliffen  und 
sphäroidaler  ausgestattet  als  jene.  Der  Bergamts- 
rat Flottmann  hat  im  Jahre  1782  auf  dem 
Fürstenwalder  Felde  bohren  lassen  und  fand  die 
Steine  in  2  Fuß  Tiefe,  aber  nur  2—3  Zoll  hoch, 
mächtig.  Unter  ihnen  fand  er  nichts  als  Lehm 
bis  auf  40  Fuß  Tiefe.  Sie  finden  sich  nur  nester- 
weise, z.  B.  in  den  Hufenbergen  ^4  Meile  nörd- 
lich von  Fürstenwalde,  in  den  Rauenschen  und 
den  Duberow  Bergen,  in  der  Gemarkung  Trebus, 
auf  dem  Gelände  am  Jänikendorfer  Weg  und  in 
der  Nähe  des  Trebuser  Sees.  Der  Stein  war 
wegen  seiner  leichten  Spaltbarkeit  ein  beliebter 
Baustein;  daher  findet  er  sich  in  den  Mauern  des 
Rathauses  von  Fürstenwalde  und  in  der  dortigen 
Stadtmauer,  ferner  in  den  älteren  Mauerresten 
der  Trebuser  Kirche  und  in  den  Gebäuden  des 
dortigen  Gutshofes.  Auch  ein  Steinkistengrab  bei 
Klein  Rietz  zwischen  Fürstenwalde  und  Beeskow 
war  sorgfältig  aus  großen  schiefrig  gespaltenen 
Platten  dieses  rotbraunen  Sandsteins  erbaut. 

Aus  den  Aufzählungen  ergibt  sich,  daß  es  sich 
an  allen  Stellen  um  ein  Gemisch  von  Ton,  Sand 
oder  Kies  mit  einem  Eisenoxyd  handelt,  so  daß 
diese  eisenschüssigen  Konglomerate  genau  mit 
denen  übereinstimmen,  deren  Bindemittel  aus 
kohlensaurem  Calcium  besteht.  Im  Gegensatz  zu 
ihnen  gibt  es  nun  auch  unter  den  Eisennieder- 
schlägen einige  fast  ganz  reine,  d.  h.  sand-  und 
kiesfreie  Abscheidungen.  Ich  führe  diese  Lager- 
stätten wieder  nach  Wahnschaffe  an:  Ein 
Eisenocker  wird  südlich  von  Dahnsdorf,  östlich 
vom  Verbindungsweg  Dahnsdorf— Lühnsdorf  un- 
weit Niemegks  abgebaut.  Seine  Mächtigkeit  soll 
30  m  betragen.  Überlagert  wird  er  von  einer 
steinig  lehmigen  Bildung,  die  als  verwaschene 
Grundmoräne  angesprochen  werden  kann.  Der 
Eisenocker  besitzt  eine  wechselnde  Ausbildung 
und  ist  im  frischen  Zustand  dunkelgrün,  d.  h.  er 
enthält  kohlensaures  und  humussaures  Eisenoxydul, 
das  beim  Liegen  in  rotbraunes  und  rotes  Eisen- 
oxydhydrat übergeht.  Eine  der  Analysen  ^j  hatte 
folgendes  Ergebnis: 

Kieselsäure  6,80  "/, 

Tonerde  3,74  „ 

Eisenoxyd  19,50  „ 

Eisenoxydul  19.71  „ 

Kalkerde  13,86  „ 

Magnesia  0,28  „ 

Kali  0,25  „ 

Natron  0,07  „ 

Schwefelsäure  1,69  „ 

Phosphorsäure  0,25  „ 

Kohlensäure  22,93  „ 

Humus  2,20  „ 

Stickstoff  0,06  „ 
Hygroskopisches  Wasser    6,10  „ 

Glühverlust  2,80  „ 

100,33  7o 


')  Hucke:   Geologische  Ausflüge    in  der  Mark  Branden- 
burg.    Leipzig  19H,  S.  12«. 


46ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


Endlich  ist  nicht  weit  von  dieser  Stelle,  näm- 
lich bei  Baitz,  in  der  Mitte  zwischen  Beizig  und 
Brüclc  noch  ein  zweites  Lager  aus  Eisenocker 
durch  eine  Bohrung  festgestellt  worden. 

Die  aufgeführten  Ablagerungen  des  kohlen- 
sauren Calciums  und  des  Brauneisens  sind  durch 
chemische  Prozesse  hervorgebracht  worden, 
im  Gegensatz  zu  den  Bänken  aus  Ton  und  Sand, 
die  rein  mechanischen  Ursprungs  sind. 

Bei  der  Bildung  der  Bikarbonate  des  Cal- 
ciums und  des  Eisens  werden  ihre  festen  Ver- 
bindungen in  Lösungen  verwandelt  und  können 
somit  wandern,  wenn  auch  nur  in  geschlossenen 
Rinnen.  Sobald  nämlich  die  Lösungen  an  die 
Luft  kommen,  spaltet  sich  die  eine  Hälfte  der 
Kohlensäure  wieder  ab,  so  daß  unlösliche  Kar- 
bonate entstehen;  das  Karbonat  des  Eisens  gibt 
auch  noch  die  andere  Hälfte  ab  und  bildet  mit 
dem  Sauerstoff  der  Luft  ein  festes  Hydroxyd.  In 
dieser  Weise  entsteht  der  oberirdische  Wiesen- 
oder Seekalk  und  der  Raseneisenstein. 

Für  die  oberirdischen  Ansammlungen  bildet 
das  nordische  Schuttgebirge,  der  Geschiebelehm, 
den  alleinigen  Ausgangspunkt.  Die  Kohlensäure 
der  Luft  wandert  mit  dem  Regenwasser  und  mit 
der  Luft  in  die  Tiefe  und  erzeugt  die  löslichen 
Bikarbonate.  Auf  den  Haarspalten  des  Bodens 
folgen  sie  der  Schwerkraft  und  gelangen  in  das 
Grundwasser,  in  der  eine  Anreicherung  dieser 
Lösungen  entsteht. 

Sobald  das  Grundwasser  zutage  getreten  ist 
und  verdunstet,  beginnt  die  Abspaltung  der  einen 
Hälfte  der  Kohlensäure.  Weil  aber  oberirdisch 
eine  scharfe  Trennung  zwischen  den  Lagern  aus 
Raseneisenerz  und  kohlensaurem  Calcium  vorliegt, 
muß  die  Sonderung  der  beiden  Karbonate  schon 
auf  dem  Wege  zur  neuen  Lagerstätte  vor  sich 
gehen,  und  sie  kann  nur  bedingt  sein  durch  die 
Verschiedenheit  ihrer  spezifischen  Gewichte. 

Den  Vorgang  der  Abscheidung  der  unlöslichen 
Eisenverbindungen  kann  man  in  jedem 
Frühjahr  in  den  Abzugsgräben  des  Oderbruches 
beobachten.  Wenn  hier  nach  einem  niederschlags- 
reichen Herbst  und  Winter  im  Frühjahr  das  Grund- 
wasser in  die  Abzugsgräben  tritt,  entsteht  auf  der 
Oberfläche  des  Wassers  eine  schillernde  Haut,  und 
auf  dem  Grunde  der  Gräben  sammelt  sich  ein 
flockiger  hellbrauner  Niederschlag  an,  der  aus 
kolloidem  Brauneisen  besteht.  Aber  auch  im 
Sommer  kann  dies  geschehen;  so  war  der  sehr 
regenreiche  Sommer  1920  für  das  Oderbruch  ver- 
hängnisvoll. Die  Gräben  waren  während  des 
Kieges  zum  großen  Teil  verkrautet  und  verstürzt; 
an  allen  niedrigen  Stellen  hatten  sich  große 
Wasserflächen  angesammelt.  Als  dann  im  Herbst 
die  Meliorationsarbeiten  einsetzten,  fiel  das  Wasser 
schnell  fort,  und  es  entstanden  in  dem  langsam 
fließenden  Wasser  der  Gräben  an  vielen  Stellen 
die  schillernden  Häute. 

Die  Entstehung  des  kohlensauren  Calciums 
an  einer  neuen  Lagerstätte  aus  dem  doppeltkohlen- 
saurem Calcium  läßt  sich  in  den  Tropfsteinhöhlen 


an  den  Stalaktiten  und  Stalagmiten  verfolgen. 
Hier  überzieht  sich  jeder  Tropfen,  der  an  der 
Decke  hängt,  mit  einer  Haut  aus  Kalkspatkristallen. 
Sobald  der  Tropfen  abfällt,  bleibt  ein  Teil  der 
Kristalle  hängen  und  vergrößert  mantelartig  den 
Stalaktiten;  dort,  wo  der  Rest  des  Tropfens  auf 
dem  Boden  auffällt,  überzieht  sich  die  Stelle  eben- 
falls mit  einer  Schicht  aus  Kalkspatkristallen  und 
bildet  den  Stalagmiten,  so  daß  ihm  die  innere 
Höhle  fehlt.  Die  Tropfsteinbildungen  lehren  also, 
daß  die  Ausscheidung  des  kohlensauren  Calciums 
rein  anorganisch  vor  sich  geht,  weil  in  den  finsteren 
Höhlen  jedes  Pflanzenleben  ausgeschlossen  ist. 

Wo  sich  heutigen  Tages  Calciumkarbonat  im 
Wasser  absetzt,  beteiligen  sich  auch  die  unterge- 
tauchten Wasserpflanzen  als  Mithelfer;  indem  sie 
bei  dem  Assimilationsprozeß  Kohlensäure  ver- 
brauchen, sorgen  sie  für  ihre  Herabminderung,  so 
daß  die  Abscheidung  das  CaCOg  beschleunigt 
wird.  Die  Bildung  der  Kalkspatkristalle  geht 
aber  auch  hier  hauptsächlich  an  der  Oberfläche 
der  Gewässer  vor  sich,  und  die  Kristalle  sinken 
zu  Boden,  wobei  sie  durch  den  Wellenschlag  zer- 
trümmert werden.  In  der  Tat  erkennt  man  auch 
unter  dem  Mikroskop  bei  der  Untersuchung  des 
Wiesenkalkes  nur  kleine  durchsichtige  Plättchen 
ohne  bestimmte  Gestalt. 

Wie  die  oberirdischen  Lager  dieser  beiden 
Metallverbindungen  streng  voneinander  getrennt 
sind,  so  ist  dies  auch  bei  den  unterirdischen  der 
Fall,  und  beide  stimmen  ebenso  in  ihrer  Zusam- 
mensetzung völlig  miteinander  überein,  wie  es 
z.  B.  besonders  deutlich  bei  den  beiden  unter- 
irdischen Lagern  von  Groß-Drewitz  und  Gnewau 
der  Fall  ist,  die  direkt  mit  Wiesenkalk  verglichen 
werden. 

Bei  den  unterirdischen  Lagern  aus  Brauneisen- 
stein, z.  B.  bei  dem  der  Grube  Präsident,  ist  die 
Ähnlichkeit  mit  den  oberirdischen  nicht  so  groß, 
und  zwar  wird  die  Abweichung  durch  das  Auf- 
treten der  Kiese  hervorgerufen.  Gerade  in  diesem 
Punkte  stimmen  sie  aber  wieder  mit  vielen  Nieder- 
schlägen aus  CaCOg  überein. 

Der  Umstand,  daß  den  meisten  dieser  che- 
mischen Niederschläge  Kiese  und  Gerolle  beige- 
mischt sind,  muß  einen  Grund  haben,  der  allein 
in  den  äußeren  Umständen  gesucht  werden  kann, 
unter  denen  sich  der  Absatz  vollzogen  hat. 

Für  den  Luftzutritt  ist  nun  nicht  unbedingt 
eine  oberirdische  Lage  der  Speicherstätte  erforder- 
lich, sondern  es  genügt  auch  eine  Höhle,  wie  bei 
der  Bildung  der  Tropfsteine,  d.  h.  diese  chemischen 
Niederschläge  sind  durch  Untereisströme  erzeugt 
worden.  Jedenfalls  mußte  eine  große  Anzahl  von 
Bedingungen  erfüllt  sein,  wenn  ein  solches  Lager 
entstehen  sollte.  Das  wichtigste  Erfordernis  war 
aber  unzweifelhaft  der  Untereisstrom  selbst,  der 
die  Lösungen  mit  sich  führte.  Diese  mußte  er 
indessen  erst  auf  einem  langen  Wege  gesammelt 
haben.  Für  die  Mächtigkeit  der  Lager  war  die 
Zeitspanne  maßgebend,  während  welcher  die  Höhle 
sich    offen    hielt,    und    für    die    Ausdehnung    des 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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künftigen  Lagers  war  der  Umfang  der  Höhle  be- 
stimmend. 

Die  Lager  weisen  einen  durchgreifenden  Unter- 
schied auf,  so  daß  man  zwei  Gruppen  unter- 
scheiden kann,  die  bedingt  sind  durch  das  Fehlen 
oder  das  Vorhandensein  von  nordischen 
Kiesen.  Dort,  wo  die  Beimengungen  fehlen,  be- 
stand die  Decke  der  Höhle  aus  einer  Schicht  von 
reinem  Eis,  und  dort,  wo  sich  Kiese  beigemischt 
finden,  war  die  Decke  aus  einer  Schicht  von 
nordischem  Schutteis  gebildet,  so  daß  sich  beim 
Abschmelzen  die  Gesteinsbrocken  loslösten  und 
in  den  Untereisstrom  hinabfielen. 

Es  findet  sich  noch  ein  auffallender  anderer 
Gegensatz  und  zwar  in  erster  Linie  bei  den  Lagern 
aus  kohlensaurem  Calcium,  indem  dort  solche  auf- 
treten, die  aus  einer  lockeren  Masse  bestehen 
und  andere,  die  fest  sind.  Dagegen  bilden  die 
Niederschläge  der  Eisenverbindungen  eine  feste 
Masse.  Die  Verfestigung  des  Pulvers  entsteht, 
wenn  die  Luft  Zutritt  hat,  wie  aus  einer  Be- 
obachtung Fried  eis  am  Scharmützel-See  deut- 
lich hervorgeht.  Hier  lagert  auf  dem  Großen 
und  Kleinen  Werl  an  der  Oberfläche  eine  Schicht 
aus  großen  und  kleinen  festen  Kalksteinen  von 
sehr  verschiedener  Gestalt,  während  unter  ihr  das 
CaCOg  eine  weiche  Masse  bildet.  Die  Verfestigung 
kann  nur  daher  kommen,  daß  der  Spiegel  des 
Sees  gefallen  ist,  so  daß  die  Inseln  auftauchten, 
wobei  die  oberste  Schicht  abtrocknete.  Auch  die 
Kalkknauern  in  den  diluvialen  Tonen  müssen  ent- 
standen sein,  indem  sie  in  einem  flachen  Strom 
zusammengerollt  wurden,  deshalb  ist  ihr  Vor- 
kommen auch  beschränkt. 

Welche  Rolle  die  Untereisströme  bei  der  Ab- 
lagerung der  Tone  und  Sande  gespielt  haben,  ist 
von  mir  bereits  in  einem  früheren  Aufsatz  ^)  er- 
örtert worden.  Jetzt  wird  ersichtlich,  daß  auch 
die  chemischen  Niederschläge  einen  Beleg  für  die 
Annahme  liefern,  daß  die  diluviale  Eisdecke  sich 
aus  zwei  Arten  von  Eisbänken  aufbaute,  näm- 
lich aus  solchen  von  reinem  Heimeis  und 
solchen  aus  nordischem  Schutteis.  Danach 
stammte  das  Inlandeis  also  in  seiner  ganzen 
Mächtigkeit  nicht  einzig  und  allein  aus  Skandi- 
navien. Wie  die  Untereisströme  ihre  Arbeit  ver- 
richteten, ergibt  sich  aus  einer  Arbeit  Keil- 
hacks,^)  die  schon  vor  vielen  Jahren  veröffent- 
licht wurde.  Hier  führt  Keil  hack  aus,  daß, 
während  der  Sand  von  Upsala  zu  •'/.i  und  mehr 
aus  Orthoklas  und  anderen  Mineralien  besteht, 
unsere  norddeutschen  Sande  Quarz  in  solcher 
Menge  enthalten,  daß  dieser  Quarz  '■'l^  bis  */,(,  des 
Ganzen  auszumachen  pflegt.  Die  untersuchten 
schwedischen  Sande  ergaben  im  Mittel  3 1  "/^  Quarz 
und  69  "/o  andere  Mineralien,    während    die   deut- 


')  E.  Zache:  Die  diluviale  Eisdecke  "und  die  letzte 
Krustenbewegung  in  Norddeutschland.  Naturw.  VVochenschr. 
N.  F.   18.  Bd.,  der  ganzen  Reihe  34.  Bd.,  S.   161,   1919. 

^)  K.  Keilhack;  Nordische  und  einheimische  Bei- 
mengungen im  Diluvium.  Zeitschr.  d.  deutsch,  geolog.  Ges., 
Bd.  XLVIII,  S.  227,  1896. 


sehen  aus  80  "/^  Quarz  und  20  "/^  andere  Mine- 
ralien bestehen.  Der  Quarz  stammt  aus  dem 
tertiären  Untergrund  und  ist  eben  dort  zu  finden, 
wo  die  weißen  Glimmerplättchen  herstammen, 
die  noch  leichter  festzustellen  sind.  Der  Unter- 
eisstrom besorgte  die  Mischung,  indem  er  die 
Gesteinstrümmer  von  der  alten  Oberfläche  abhob 
und  sie  mit  denen  mischte,  die  er  von  der  Decke 
aus  nordischem  Schutteis  dazu  empfing. 

Auch  der  Septarienton  von  Buckow  mit  den 
tertiären  Sanden  und  den  Bänken  aus  Toneisen- 
stein ist  umgelagertes  Tertiär,  weil  sich  unter 
dem  Septarienton  nordische  Gesteinsblöcke  ge- 
funden haben,  die  ihn  daher  ins  Diluvium  weisen. 
Endlich  müssen  deshalb  auch  die  Einlagerungen 
von  tierischen  und  pflanzlichen  Resten, 
die  sich  z.  B.  in  dem  unterirdischen  Süßwasser- 
kalk von  Dahnsdorf  und  dem  der  Obermühle  bei 
Beizig  vorfinden,  ebenfalls  durch  einen  Untereis- 
strom vom  Erdboden  aufgehoben,  verschleppt 
und  wieder  fallen  gelassen  worden  sein. 

Nachdem  ich  mich  in  den  vorausgehenden 
Abschnitten  mit  der  Zusammensetzung  der 
unterirdischen  chemischen  Niederschläge  beschäftigt 
und  die  Unterschiede,  die  sich  hier  herausgestellt 
hatten,  zu  begründen  versucht  hatte,  will  ich  nun 
dazu  übergehen,  die  Abweichungen  der  Lage- 
rung zu  untersuchen  und  ihre  Ursachen  festzu- 
stellen. Wie  aus  den  Beschreibungen  hervorgeht, 
liegen  die  Bänke  entweder  horizontal  oder  sie 
sind  aufgerichtet,  und  zwar  ist  die  erste  Art 
bei  den  höheren  und  die  zweite  bei  den  tieferen 
anzutreffen.  Von  den  wagerechten  ist  nichts  be- 
sonderes auszusagen,  um  so  mehr  aber  wird  von 
den  aufgerichteten  zu  sprechen  sein.  Es  kommen 
daher  nur  die  beiden  Aufschlüsse  mit  dem  Braun- 
eisen zur  Erörterung  von  der  Braunkohlengrube 
Präsident  und  vom  Südende  des  Schermützel-Sees 
bei  Buckow. 

An  dieser  letzten  Stelle  treten  noch  einige 
weitere  geologische  Erscheinungen  in  dem  Profil 
hervor,  die  eine  wichtige  Rolle  bei  der  Deutung 
spielen.  In  der  halben  Höhe  des  Profils  läuft  eine 
wagerechte  Linie  entlang,  wodurch  es  in 
zwei  Teile  zerlegt  wird,  die  große  Abweichungen 
in  der  Lagerung  der  Schichten  aufweisen.  Die 
hangenden  sind  horizontal  gelagert,  und  die 
liegenden,  d.  h.  die  tertiären  Sande  mit  den  Ton- 
eisensteinbänken,  sind  aufgerichtet.  Die  wage- 
rechte Linie  des  Profils  stellt  den  Durchschnitt 
durch  eine  wagerechte  Ebene  dar,  die  eine  echte 
Flutebene  ist,  wie  sie  von  einem  Untereisstrom 
erzeugt  wurde.  Ein  Profil  mit  diesem  Schichten- 
bau findet  sich  in  jedem  geologischen  Lehrbuch 
und  zwar  an  der  Stelle,  wo  von  den  Störungen 
im  Bau  der  Erdrinde  die  Rede  ist  und  dient  als 
Beleg  dafür,  daß  an  dieser  Örtlichkeit  eine  Krusten- 
bewegung zu  verzeichnen  ist.  In  unserem  Falle 
würde  die  Erläuterung  lauten:  nachdem  die  Bank 
aus  Septarienton  und  die  darüber  lagernden 
Schichten  aus  tertiären  Sanden  nebst  den  Ton- 
eisensteinflözen   von    einem   Untereisstrom   abge- 


402 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


setzt  worden  waren,  trat  die  Krustenbewegung 
ein,  die  nicht  bloß  den  weiteren  Absatz  unter- 
brach, sondern  auch  das  strömende  Wasser  zwang, 
die  aufgerichteten  Schichten  bis  auf  eine  gewisse 
Tiefe  hin  wieder  wegzuführen  und  die  neue  Ober- 
fläche einzuebnen.  Nachdem  die  Flutebene  her- 
gestellt worden  war,  setzte  der  Niederschlag  des 
Untereisstromes  wieder  ein,  und  die  horizontalen 
hangenden  Sande  fielen  zu  Boden.  In  dem  Profil 
der  Grube  Präsident  sind  nur  die  gestörten 
liegenden  Schichten  vorhanden,  d.  h.  es  fehlt  die 
wagerechte  Flutebene,  weil  sie  hier  mit  der  Tages- 
oberfläche zusammenfällt.  Ich  stelle  mir  daher 
vor,  daß  sich  hier  nach  der  Krustenbewegung 
kein  Untereisstrom  mehr  entwickelte,  weil  die 
Decke  der  Eishöhle  nicht  mächtig  genug  war. 
Das  geht  auch  daraus  hervor,  daß  in  diesem 
Strich  der  Untere  Sand  nebst  dem  Geschiebe- 
lehm vollständig  fehlt.  Die  Eishöhle  ist  ausge- 
füllt worden  mit  einem  sehr  mächtigen  hellbraunen 
Ton,  der  hier  eine  große  Verbreitung  besitzt. 

Für  die  Absätze,  die  eine  horizontale  Lage 
einnehmen,  ergibt  sich  daher,  daß  sie  sämtlich 
erst  nach  der  Krustenbewegung  entstanden  sein 
können. 

Die  Bedeutung  der  Krustenbewegung  für  die 
Entstehung  der  chemischen  Niederschläge  im 
obersten  Diluvium  wird  besonders  klar  beleuchtet, 
wenn  man  die  oben  beschriebenen  Lager  von 
der  Komturmühle  bei  Dahnsdorf,  von  Mörz  und 
Baitz  nach  dieser  Auslegung  der  Störungen  von 
Buckow  und  der  Grube  Präsident  noch  weiter 
prüft.  Alle  sind  eingebettet  in  die  oberste  Decke 
des  Diluviums  auf  einer  merkwürdigen  Vor- 
stufe des  Hohen  Flämings  in  der  Umgegend 
von  Niemegk,  dort,  wo  das  oberste  Planetal  aus 
dem  Höhenzug  heraustritt. 

Die  Böschung  des  Hohen  Flämings  nimmt 
hier  zwischen  Beizig  und  Niemegk  einen  sehr  auf- 
fälligen Verlauf.  Soweit  sie  das  untere  Planetal 
begrenzt,  d.  h.  zwischen  Ragösen,  Ditimannsdorf 
und  Lütte,  streicht  sie  in  der  Nordsüdlinie  und 
besitzt  einen  steilen  Hang,  der  sich  über  lOO  m 
erhebt.  Sobald  man  aber  südlich  von  Lütte  nach 
Schwanebeck  kommt,  knickt  der  Rand  plötzlich 
unter  einem  Rechten  Winkel  nach  Osten  um  und 
streicht  in  der  Westost  Linie  bis  Alt  Rottstock  bei 
Brück,  wo  er  wieder  in  die  alte  Nordsüd- Richtung 
einbiegt.  Dabei  verflacht  sich  die  Erhebung  auf 
67  m.  Im  Gegensatz  hierzu  läßt  sich  die  100  m- 
Kurve  mit  dem  Nordsüd  Streichen  über  Lütte 
hinaus  nach  Beizig  und  Kranepuhl  bis  Rädigke 
verfolgen,  wo  auch  sie  unter  einem  Rechten  Winkel 
nach  Osten  umknickt,  bis  sie  den  Rand  in  der 
Höhe  von  Treuenbrietzen  erreicht.  In  diesem 
Winkel  liegt  Niemegk  mit  72  m  Meereshöhe. 
Von  hier  aus  erblickt  man  als  eine  deutliche  Land- 
marke die  Windmühle  von  Garrey,  die  158  m 
hoch  liegt.  Dicht  bei  diesem  Dorf  an  der  höchsten 
Stelle  der  Böschung  entspringen  zwei  Trockentäler, 
der  Neuendorfer  und  derGarreyer  Rum- 
mel, die  beide  auf  das  oberste  Planetal  zulaufen. 


Diese  auffallenden  Züge  der  Landschaft,  d.  h. 
die  Böschung  mit  der  Stufe  davor,  sind  das  Er- 
gebnis einer  Krustenbewegung  an  dieser 
Stelle,  wie  aus  der  folgenden  Beschreibung  eines 
Aufschlusses  deutlich  hervorgehen  wird.  Östlich 
von  Niemegk  bei  Kirstenhof  sind  von  K  e  i  1  h  a  c  k  ^) 
in  mehreren  Tongruben  große  Störungen  entdeckt 
worden.  Das  Liegende  ist  ein  in  enge  Sättel 
und  IMulden  zusammengepreßter  Ton,  der  von 
einer  wagerechten  Linie  abgeschnitten  wird,  und 
das  Hangende  besteht  aus  einer  '/j  bis  i  m 
mächtigen  Decke  aus  Geschiebelehm.  Das 
Liegende  als  Ganzes  stellt  einen  Sattel  dar,  dessen 
Längsachse  parallel  mit  der  Chaussee  Niemegk — 
Haselow,  d.  h.  Ostwest,  streicht.  Die  drei  Gru- 
ben stehen  mit  ihren  Längsachsen  senkrecht  zu 
diesem  Streichen,  so  daß  ihre  Längswände  die 
Sättel  und  Mulden  zeigen,  während  die  Querwände 
wagerechte  Schichtung  aufweisen. 

Die  Störung  liegt  somit  kurz  vor  der  100  m- 
Kurve  zwischen  Rädigke  und  Treuenbrietzen,  und 
es  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  die  Formen 
des  Geländes  durch  die  Bewegung  der  Erdrinde 
an  dieser  Stelle  erzeugt  wurden,  und  daß  auch 
die  Entstehung  der  chemischen  Niederschläge 
damit  zusammenhängt.  Sie  treten  nämlich  auf 
längs  einer  geraden  Linie,  die  auf  der  Höhe  158 
bei  Garrey  beginnt  und  sich  über  Rädigke  und 
Dahnsdorf  bis  Mörz  verfolgen  läßt.  Die  Ablage- 
rungen von  CaCO^  beginnen  mit  den  wagerecht 
geschichteten  Schollensteinen  nicht  weit  unterhalb 
der  höchsten  Stelle,  woraus  hervorgeht,  daß  die 
Krustenbewegung  schon  vorübergegangen  war, 
ehe  sie  sich  gebildet  hatten.  Ihr  Niederschlag  er- 
folgte in  einer  Eishöhle,  deren  Decke  aus  einer 
mächtigen  Schicht  nordischen  Schutteises  bestand. 
Diese  Auslegung  darf  man  zugrunde  legen,  weil 
die  höchste  Stelle  des  Hohen  Flämings  eine 
außerordentlich  starke  Decke  aus  Oberen  Geschiebe- 
lehm trägt.  Wenn  die  Bewohner  von  Zixdorf 
und  Garrey  einen  Brunnen  anlegen  wollen,  so 
müssen  sie  30  —  60  m  tief  in  den  Boden  hinab- 
gehen, bevor  sie  auf  Wasser  stoßen,  und  zwei 
kräftige  Männer  sind  erforderlich,  um  aus  einem 
Brunnen  Wasser  herauf  zu  pumpen.  Mit  dem 
Auftreten  dieser  zusammenhängenden  Decke  aus 
Geschiebelehm  hängt  auch  die  Entstehung  der 
Rummel  zusammen.  Sie  hält  nämlich  das  Regen- 
wasser oberirdisch  fest,  so  daß  es  sich  auch  hier 
einen  Weg  suchen  muß.  Beide  Rummel  ent- 
springen in  dem  Garreyer  Kessel,  der  mit  seinen 
Ausbuchtungen  von  der  150  m-Kurve  umgrenzt 
wird  und  aus  Geschiebelehm  besteht.  Die  eigent- 
liche Austiefung  dieser  Risse  hat  mit  der  Krusten- 
bewegung selbst  nur  so  weit  etwas  zu  tun,  als 
dadurch  hier  die  schroffe  Böschung  erzeugt  wurde. 
Sie  selbst  setzte  nämlich  erst  ein,  als  der  Nieder- 
schlag des  Oberen  Geschiebelehms   beendet  war, 

')  K.  Keilhack:  Geologische  Beobachtungen  während 
des  Baus  der  Brandenburgischen  Städtebahn.  Sonderabdruck 
aus  dem  Jahrbuch  der  Kgl.  Preuß.  Geolog.  Landesanstalt  für 
1903,  Berlin   1903. 


N.  F.  XX.  Nr.  3: 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


463 


weshalb  sie  sich  nur  so  weit  bergab  erstreckt,  als 
der  Geschiebelehm  hinabreicht  und  im  Sand- 
gebiet aufhört.  Man  trifft  den  Geschiebelehm 
noch  eine  ziemliche  Strecke  bergab  an;  so  findet 
er  sich  neben  dem  Weg  Niemegk — Garrey  bis  zu 
der  Kreuzung  mit  der  Straße  Neuendorf — Zixdorf. 
Erst  weiter  abwärts  hört  er  auf  und  macht  dem 
Sand  Platz,  der  eine  dichte  Steinbestreuung  auf- 
weist, so  daß  erst  hier  die  Auflösung  der  nordi- 
schen Schuttdecke  vollendet  war.  Die  Böschungen 
der  Rummel  haben  im  Bereich  des  Geschiebe- 
lehms eine  beachtenswerte  Gestalt,  sie  werden 
nämlich  in  fast  gleichen  Abständen  von  kurzen 
Seitentälern  unterbrochen,  die  das  Regenwasser 
in  das  Haupttal  leiten.  Die  Austiefung  der 
Rummel  ist  natürlich  in  erster  Linie  die  Arbeit 
der  Schneeschmelze  und  von  Wolkenbrüchen,  wie 
ein  solcher  im  Frühjahr  1908  hier  niederging  und 
große  Verwüstungen  anrichtete,  indem  er  z.  B. 
in  einem  dritten  Rummel,  dem  Brautrummel,  große 
Mengen  von  Geschieben  freilegte.  Bei  Kirstenhof 
hat  sich  die  Schutteisdecke  der  Höhle  glatt  auf 
die  unterirdische  Flutebene  gelegt,  und  auch  der 
Süßwasserkalk  von  Beizig  wird  zum  Teil  von 
Geschiebelehm  überlagert.  Wo  er  sich  findet, 
zeigt  der  liegende  Süßwasserkalk  Störungen,  deren 
Entstehung  ich  darauf  zurückführen  möchte,  daß 
die  Decke  der  Höhle  hier  einstürzte,  bevor  das 
Innere  vollständig  ausgefüllt  war. 

Die  chemischen  Niederschläge  der  Niemegker 
Stufe  sind  herbeigeschafft  worden  von  den  Unter- 
eisströmen, die  aus  der  mächtigen  Decke  von 
nordischem  Schutteis  die  Lösungen  erhalten 
hatten.  Als  nun  durch  die  Krustenbewegung  die 
Zahl  der  Spalten  sich  vergrößerte,  konnte  auch 
eine  lebhafte  Abscheidung  einsetzen.  Immerhin 
aber  war  die  Zeitspanne  eine  beschränkte,  weil 
mit  dem  Verschwinden  des  Eises  auch  die  unter- 
irdische Abscheidung  aufhören  mußte.  Sie  ging 
von  da  ab  in  eine  oberirdische  über,  und  der 
Geschiebelehm  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch 
die  Quelle  für  die  beiden  Lösungen. 

Die  oberirdischen  Niederschläge  fielen  daher 
schon  aus,  als  die  Oberfläche  noch  nicht  bevöl- 
kert war,  so  daß  wenigstens  die  untersten  Schich- 
ten noch  keine  Fossilien  enthalten  können.  Ich 
kenne  nur  ein  oberirdisches  Lager  aus  kohlen- 
saurem Calcium,  das  vor  dem  Kriege  ausgebeutet 
wurde.  Es  liegt  halbwegs  zwischen  der  Pritz- 
hagener  Mühle  und  Münchehofe  etwa  4  km  nörd- 
lich vom  Bahnhof  Dahmsdorf — Müncheberg  an 
der  Ostbahn.  Obwohl  ich  dieses  Lager  wiederholt 
besucht  habe,  fand  ich  dort  niemals  Reste  von 
Tieren  und  Pflanzen,  wohl  aber  zertrümmerte 
Diatomeenschalen  bei  einer  mikroskopischen  Unter- 
suchung. Das  Lager  liegt  in  einem  flachen  Wiesen- 
grunde und  ist  nur  50cm  mächtig;  die  umliegen- 
den Böschungen  tragen  die  Reste  des  Oberen 
Geschiebelehms.  Es  wäre  daher  wohl  möglich, 
daß  dieses  Lager  zu  den  ersten  gehörte,  das  ober- 
irdisch entstanden  war.  Die  Diatomeenschalen 
finden  sich   auch   in  den  unterirdischen  und  sind 


daher  mit  der  Lösung  eingespült  worden.  Im 
Gegensatz  dazu  berichtet  Fried el  von  dem 
Wiesenkalk  von  Hermsdorf,  daß  dort  Schildkröten- 
schalen und  Werkzeuge  des  Menschen  aus  Stein 
und  Bronze  gefunden  worden  sind. 

Wenn  nun  auch  die  oberirdischen  Lager 
eigentlich  hier  nicht  mehr  behandelt  werden 
dürfen,  so  scheint  es  mir  doch  zweckmäßig  auf 
sie  noch  zum  Schluß  einzugehen,  weil  sie  aus 
dem  Geschiebelehm  herstammen  und  weil  ihre 
Verbreitung  und  ihre  Mächtigkeit  Anknüpfungs- 
punkte gewähren,  um  diese  Zustände  bei  den 
unterirdischen  beurteilen  zu  können.  Freilich  sind 
die  Zeiten  vorüber,  in  denen  sie  im  Haushalte  des 
Menschen  eine  Rolle  spielten,  und  daher  sind  auch 
ihre  Fundpunkte  völlig  vergessen  worden.  Des- 
halb muß  man  wieder  auf  Berghaus  zurück- 
gehen, wenn  man  über  ihr  Vorkommen  und  ihre 
Verwendung  etwas  erfahren  will.  Er  führt  aus 
allen  Kreisen  Stellen  auf,  wo  sich  die  Lager  finden. 
Ich  will  hier  nur  die  Örtlichkeiten  beibringen,  wo 
der  Wiesenkalk  ausgebeutet  wurde,  weil 
das  ein  Zeichen  dafür  ist,  daß  er  besonders  mächtig 
war.  Aus  dem  Arnswalder  Kreise  z.  B.  zählt  er 
folgende  Ortschaften  auf:  Schlagenthin,  Conraden, 
Crampe  und  Spechtsdorf  nebst  Vorwerk  Lubsee; 
hier  und  bei  Crampe  stehen  Kalköfen  zum  Brennen 
des  Wiesenkalkes  im  Betrieb.  Dasselbe  ist  der 
Fall  auf  dem  Rittergute  Liebenow,  dessen  sanft- 
hügelige Feldmark  von  vier  Seen,  dem  Beewer, 
dem  Großen  und  Kleinen  Cratzack  und  dem 
Zieten-See  durchschnitten  ist.  In  den  sie  be- 
gleitenden Brüchen  sind  bedeutende  Kalklager 
vorhanden.  Der  Wiesenkalk  des  Vorwerkes  Bär- 
winkel bei  Neu  -  Hardenberg  im  Oderbruch  ,  be- 
richtet Berghaus  weiter,  wurde  in  früheren 
Zeiten  gebrannt  und  als  Mörtel  verarbeitet  und 
ebenso  der  Wiesenkalk  des  Werbellin-Sees.  Von 
seiner  Verwendung  berichtet  auch  Friedel,  daß 
in  Wildau  am  Westzipfel  bis  ungefähr  1888  eine 
Zementfabrik  bestand,  die  den  alluvialen  Wiesen- 
kalk mit  Septarienton  von  Joachimstal  zusammen 
verarbeitete.  Ähnlich  war  es  nach  Friedel  in 
Hermsdorf  bei  Berlin. 

Eine  noch  bedeutendere  Rolle  spielten  in  alter 
Zeit  die  märkischen  Raseneisensteinlager, 
über  die  Berghaus  ebenfalls  ausführlich  Aus- 
kunft gibt.  Die  wichtigsten  Ansammlungen  finden 
sich  in  den  ausgedehnten  aber  flachen  Niederun- 
gen der  Provinz.  Im  17.  Jahrhundert  bestand  bei 
Rathenow  an  der  Havel  ein  Eisenhüttenwerk,  das 
im  Jahre  1721  einging,  aber  nicht  aus  Mangel  an 
Erz,  sondern  wegen  des  großen  Holzverbrauchs. 
Im  Jüterbog- Lucken  walder  Kreise  in  der  Niederung 
der  Nuthe  südlich  von  Luckenwalde,  bei  Schöne- 
feld und  Paplitz  und  in  dem  Tal  östlich  von 
Baruth  gegen  die  Dahme  hin  und  über  sie  hinaus 
fand  sich  das  Erz  bis  zum  Unteren  Spreewald. 
Hier  war  ein  Hüttenwerk  der  Gräflich  Solmschen 
Standesherrschaft  Baruth  im  Betrieb  mit  einem 
Hochofen,  einem  Frisch-  und  Stabfeuer,  zwei 
Stabhämmern    und     einem    Zainhammer.      Nicht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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weit  davon,  bei  Gottow,  wurde  1750  bis  1754 
ein  landesherrliches  Hüttenwerk  mit  einem  Hoch- 
ofen und  einem  Stabhammer  angelegt.  Es  brachte 
für  7860  Taler  Produkte  und  wurde  im  Jahre 
1837  verkauft.  Die  Sümpfe  und  Brüche  der  Um- 
gegend von  Zehdenick  an  der  Havel  lieferten 
Jahrhunderte  hindurch  für  das  dortige  Hüttenwerk 
das  Erz.  Es  wird  schon  1438  erwähnt  und  war 
seit  1620  beständig  im  Betrieb.  Im  Jahre  1801 
ist  es  eingegangen;  in  den  letzten  Jahren  hatten 
seine  Produkte  einen  Wert  von  21755  Talern 
jährlich.  Das  größte  Eisenhüttenwerk  der  Provinz 
war  wohl  das  von  Peitz,  das  so  ergiebig  war,  daß 
1666  das  auswärtige  Eisen  verboten  wurde.  In 
der  Umgegend  dieser  Stadt,  wo  sich  heute  die 
großen  Teiche  befinden,  erreichte  das  Eisenerz 
6—10  Zoll  und  selbst  15—16  Zoll  Mächtigkeit 
wie  z.  B.  auf  den  Bruchwiesen  bei  Kasel.  Hier 
wurden  im  Jahre  1821  3000  Ztr.  Guß  waren  und 
2000  Ztr.  Stangeneisen  erzeugt.  Im  Jahre  1852 
wurden  im  südlichen  Teile  der  Provinz  Branden- 
burg noch  2199  t  Raseneisenslein  gefördert.  Ein 
weiteres  Hüttenwerk  der  Provinz  mit  Namen 
Pleiskehammer  hat  von  1840  bis  1850  32409  Ztr. 
38 Va  Pfd.  Roheisen  geliefert;  es  verarbeitete  die 
Erze  des  Slernberger  Horstes. 

Wenn  diese  Angaben  über  die  oberirdischen 
Lager  genügen,  so  darf  man  aus  ihnen  wohl  den 
Schluß  ziehen,  daß  sie  häufiger  und  ausgedehnter 
sind  als  die  unterirdischen,  und  von  letzteren  ist 
dann  wieder  zu  sagen,  daß  die  hangenden  häufiger 
sind  als  die  liegenden,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
im  Liegenden  die  Niederschläge  aus  CaCOg,  so- 
weit mir  bekannt,  völlig  fehlen.  Daraus  geht 
wohl  deutlich  hervor,  daß  während  des  Ab- 
schmelzens  des  Eises  die  chemischen  Vorgänge 
sich  allmählich  häuften,  bis  sie  mit  dem  Ver- 
schwinden des  Eises  den  höchsten  Stand  erreichten. 
Eine  vermehrte  Lösung,  Wanderung  und  Ab- 
scheidung setzte  erst  ein,  als  durch  die  Krusten- 
bewegung eine  große  Zahl  von  Spalten  eröffnet 
worden  war,  wodurch  der  Luft  ein  ausgedehnter 
Zutritt  zu  den  festen  IVIetallverbindungen  in  dem 
nordischen  Schutteis  eröffnet  worden  war.  Diese 
Auslegung  läßt  sich  direkt  ableiten  aus  den 
chemischen  Niederschlägen    der   Niemegker  Stufe. 

Aber  die  beiden  Eisenflöze  der  Grube  Präsi- 
dent und  vom  Schermützel  -  See  bei  Buckow  sind 
ein  Beleg  dafür,  daß  auch  in  der  Zeit,  als  das 
Abschmelzen  eben  einsetzte,  und  die  Eisdecke 
noch  ihre  ursprüngliche  Mächtigkeit  besaß,  schon 
große  Eishöhlen  bestanden  haben  müssen,  die 
von  der  Oberfläche  aus  einen  Luftstrom  erhielten. 
Deshalb  muß  hier  die  Spaltenbildung  in  einer 
anderen  Weise  als  durch  eine  Krustenbewegung 
eingeleitet  worden  sein.  Es  wurde  schon  hervor- 
gehoben, daß  der  Dilluvialton,  der  das  Braun- 
eisensteinlager der  Grube  Präsident  bedeckt,  bis  zur 
Oberfläche  reicht,  so  daß  hier  sowohl  der  Untere 
Sand  als  auch  der  Obere  Geschiebelehm  fehlen. 
Am  Schermützel  -  See  ist  die  Schichtenfolge  eine 
andere,  deshalb  muß  sich  der  Vorgang  beim  Ab- 


schmelzen wieder  anders  abgespielt  haben.  Jeden- 
falls tritt  in  der  Umgebung  der  Grube  Präsident 
kein  Oberer  Geschiebelehm  auf,  und  deshalb  muß 
hier  in  der  diluvialen  Eisdecke  eine  oberste  Lage 
aus  nordischem  Schutteis  gefehlt  haben.  Solche 
Lücken  waren  die  gegebenen  Plätze  für  die  Ent- 
stehung von  Spalten,  weil  das  Eis  hier  schmolz, 
und  das  Wasser  sich  einen  Weg  in  die  Tiefe 
bahnte,  bis  es  auf  dem  Erdboden  angekommen 
war,  wo  es  sich  sammelte  und  durch  seine  Wärme 
die  Höhle  ausschmolz.  Wo  dagegen  eine  ausge- 
dehnte Bank  aus  nordischem  Schutteis  die  oberste 
Schicht  der  diluvialen  Eisdecke  bildete,  hielt  sie 
die  Wärme  ab  und  schützte  die  liegenden  Eis- 
schichten, so  daß  das  Abschmelzen  nur  von  unten 
her,  d.  h.  von  der  Innenfläche  der  Decke  aus, 
vor  sich  gehen  konnte.  War  die  nordische  Schutt- 
eisbank besonders  mächtig,  so  wird  sie  auch  als 
Decke  einer  Eishöhle  länger  Widerstand  geleistet 
haben,  als  dort,  wo  das  nicht  der  Fall  war. 

Das  gehäufte  Auftreten  der  Niederschläge  in 
den  hangenden  Schichten  läßt  noch  eine  weitere 
Vermutung  zu  über  den  Bau  der  diluvialen  Eis- 
decke. Die  Bänke  aus  nordischem  Schutteis 
müssen  in  den  hangenden  Schichten  zahlreicher 
und  mächtiger  gewesen  sein  als  in  den  liegenden, 
und  hier  muß  das  reine  Heimeis  den  Hauptbe- 
standteil gebildet  haben.  Und  doch  fanden  sich 
die  nordischen  Schutteisschichten  auch  schon  in 
den  tiefsten  Lagen  vor,  wie  die  Kies-  und  Ge- 
röllbank der  Grube  Präsident  lehrt.  Somit  wer- 
den schon  in  sehr  früher  Zeit,  als  die  Vereisung 
noch  nicht  die  höchste  Mächtigkeit  erreicht  hatte, 
einzelne  Schutteisströme  weit  nach  Süden  vorge- 
drungen sein,  während  die  große  Verschiebung 
der  nordischen  Verwitterungsschicht  erst  später 
einsetzte. 

Die  wechselnde  Mächtigkeit  des  Geschiebelehms 
ist  schon  ein  Zeichen  für  die  verschiedenartige 
Beschaffenheit  der  Örtlichkeiten,  wo  der  Ver- 
witterungsschutt sich  angehäuft  hatte,  und  die 
mächtigsten  Ströme  werden  auch  auf  dem  Wege 
bis  zur  neuen  Lagerstätte  ihren  Reichtum  an  Ge- 
steinstrümmern bewahrt  haben.  Die  Täler  der 
schwedischen  Elfen  und  die  großen  Seen  des 
Vorlandes  sind  wohl  als  die  wichtigsten  Sammel- 
stellen der  Gesteinstrümmer  anzusprechen. 

An  dieser  Stelle  mischten  sich  auch  die  Cal- 
cium- und  Eisenverbindungen  dem  Gesteinsschutt 
bei.  Die  Mischung  war  eine  sehr  gründliche, 
weil  der  Gcschiebelehm  im  großen  und  ganzen 
überall  denselben  Reichtum  an  diesen  Verbindungen 
besitzt,  wie  das  schon  aus  seiner  durchgehenden 
hellbraunen  Farbe  erkennbar  wird,  die  aus  der 
Mischung  der  rostfarbenen  Eisenverbindungen  mit 
dem  weißen  Calciumkarbonat  entstanden  ist. 

Die  gründliche  Durchdringung  der  ganzen 
Gesteinsmasse  mit  den  beiden  Verbindungen  ist 
das  Ergebnis  des  Verwitterungsvorganges  an  der 
Oberfiäche  des  skandinavischen  Gebirgszuges.  Die 
farbigen  Mineralien  der  Erstarrungsgesteine  die 
dort   die  Oberfläche   bilden,   sind   die  Ursprungs- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


465 


Stätte  der  beiden  Metalle,  und  durch  den  che- 
mischen Anteil  des  Verwitterungsvorganges  sind 
ihre  löslichen  Verbindungen  in  Bewegung  gesetzt 
worden,  so  daß  sie  bei  der  mechanischen  Ver- 
witterung dann  in  dem  Schutt  eingehüllt  wurden. 
Von  der  Dauer  des  Verwitterungsvorganges 
kann  man  sich  natürlich  keine  Vorstellung  machen. 
Man  muß  sich  damit  begnügen,  noch  andere 
Zeugen  beizubringen,  und  sie  bieten  sich  dar  in 
unseren  Feldsteinen,  soweit  sie  aus  Granit  und 
ähnlichen  Erstarrungsgesteinen  bestehen.  Sie 
zeigen  einen  auffallenden  Farbenunterschied  gegen- 
über den  schwedischen  Graniten,  die  aus  der 
'T'iefe  von  Steinbrüchen  stammen  und  als  Werk- 
steine Verwendung  finden.  Ein  schönes  Beispiel 
bilden  die  Steine  im  Unterbau  des  Lutherdenk- 
mals auf  dem  Neuen  Markt  in  Berlin.  Sie  prangen 
noch  in  der  dunkelroten  Farbe,  während  die  Feld- 


steine zu  einem  blassen  Rot  ausgeblichen  sind. 
Auch  die  Wirkung  der  mechanischen  Verwitterung 
ist  an  den  Feldsteinen  deutlich  zu  erkennen,  weil 
sie  niemals  mehr  die  scharfen  Kanten  und  Ecken 
zeigen,  die  sie  beim  Loslösen  vom  Gebirge  be- 
saßen. Diese  Glättung  war  schon  vollendet,  ehe 
die  Blöcke  durch  das  Eis  verschoben  wurden. 

Aus  den  obigen  Darlegungen  ergeben  sich  die 
folgenden  Schlüsse: 

1.  Es  gibt  nur  eine  diluviale  Vergletscherung. 

2.  Das  diluviale  Eis  bestand  aus  wechselnden 
Schichten  von  reinem  Heimeis  und  nordischem 
Schutteis. 

3.  Das  Abschmelzen  ging  in  Eishöhlen  mit 
Untereisströmen  vor  sich. 

4.  Gegen  das  Ende  der  Eiszeit  setzte  eine 
Krustenbewegung   ein,   die   das   Gelände   formte. 


Einzelberichte. 


Bildung  der  mensclilichen  Geschleclitszellen. 

Im  Archiv  für  Rassen-  und  Gesellschaftsbiologie 
(13. Bd.  1921,  Heft  S— 6)  gibt  Dr.  Hans  Frieden- 
thal eine  genaue  Darstellung  der  Bildung  der 
menschlichen  Geschlechtszellen.  Untersuchungen 
haben  ergeben,  daß  in  der  Stammzelle,  wie  F. 
die  befruchtete  Eizelle  nennt,  schon  nach  der 
dritten  Furchung  eine  Scheidung  stattfindet  in 
kleinere  sich  schnell  teilende  Zellen  und  größere 
kern-  und  nährstoffreiche  Zellen,  die  an  Teilungs- 
geschwindigkeit hinter  den  anderen  zurückbleiben. 
Letztere  sind  Keimbahnzellen.  Sie  wandern  schon 
zu  dieser  Zeit  „in  die  Bildungsstätten  der  späteren 
Eierstöcke  und  Hoden  ein  und  werden  dort  als 
Ureier  und  Ursamenzellen  durch  ihre  Größe  und 
ihren  Nährstoffreichtum  deutlich  von  allen  übrigen 
Körperzellen  unterscheidbar,  wenn  der  Keimling 
Haselnußgröße  und  ein  Alter  von  etwa  30  Tagen 
erreicht  hat."  Aus  ihnen  werden  durch  weitere 
Teilungen  Eimutterzellen  und  Samenmutterzellen. 
Eimutterzellen-,  ja  selbst  Eizellenbildung,  findet 
beim  Menschen  vereinzelt  schon  im  ersten  Lebens- 
jahr statt,  während  die  ersten  Samenmutterzellen 
aus  den  Ursamenzellen  erst  kurz  vor  dem  Eintritt 
der  Geschlechtsreife  entstehen.  Die  Zahl  der 
Keimzellen,  die  menschliche  Eierstöcke  einige 
Jahre  nach  der  Geburt  enthalten,  werden  auf  mehr 
als  eine  halbe  Million  geschätzt,  es  reifen  im 
Laufe  des  Lebens  aber  nur  etwa  2000.  Weit 
größer  ist  die  Zahl  der  Samenfäden,  die  gebildet 
werden  und  abgegeben  werden  können.  F.  er- 
rechnet etwa  eine  Billion.  Anfänglich  ist  die 
Gestalt  der  Keimbahnzelle  bei  beiden  Geschlech- 
tern ungefähr  gleich.  Die  Ursamenzellen  sind 
verhältnismäßig  groß  und  haben  einen  großen 
kugelförmigen  Kern,  der  neben  reichem  Netzwerk 
bis  zu  drei  große  Kernkörperchen  enthält.  Eine 
dichte   Masse   mit   zwei  kleinsten  Teilungskörper- 


chen  umgibt  den  Kern.  Im  Zelleib  sind  zahlreiche 
Fadenkörnchen  verteilt.  Die  Stützzellen  und  Ur- 
samenzellen füllen  die  Samenkanälchen  anfänglich 
aus,  so  daß  erst  später  ein  fortlaufender  Hohlraum 
sich  in  ihnen  bildet.  Bis  zur  beginnenden  Ge- 
schlechtsreife wird  von  den  männlichen  Keimbahn- 
zellen nur  eine  geringe  Zahl  von  Zellengeschlech- 
tern gebildet.  Die  beginnende  Reifung  zeigt 
Veränderungen  im  Aussehen  des  Kernes  an :  „Die 
Kernschleifenmassen  häufen  sich  an  einem  Pol  des 
Kernes  an  unter  Aufhellung  der  übrigen  Kern- 
räume. Es  bildet  sich  ein  Fadenknäuel  aus,  der 
durch  einen  doppelten,  mehrfach  abgeteilten  Fa- 
den gebildet  wird.  Wenn  die  Samenmutterzelle 
sich  zur  Teilung  anschickt,  bildet  sie  nicht  wie 
ihre  Ahnenstufen  bisher  23  vollständige  und  eine 
unvollständige  Kernschleife  aus,  sondern  nur  12 
Kernschleifen,  die  vierfach  erscheinen  und  die 
doppelte  Stoffmasse  enthalten  wie  die  bisherigen 
Kernteilungsformen.  Etwa  viermal  soviel  wie  die 
Kerne  der  Körperzellen.  Die  Zahl  der  Kern- 
schleifen ist  auf  die  Hälfte  herabgesetzt.  Bei  der 
Teilung  der  Samenmutterzelle  trennen  sich  die 
Vierergruppen  der  Kernschleifen  zu  je  zwei  Doppel- 
gruppen. Die  entstehenden  Vorsamenzellen  teilen 
sich  bald  darauf  wieder  in  je  zwei  Samenzellen 
unter  erneuter  Trennung  der  Doppelschleifen. 
Aus  einer  Samenmutterzelle  sind  durch  zwei  Tei- 
lungen vier  Samenzellen  entstanden,  welche  die 
halbe  Schleifenzahl  und  die  halbe  Kernschleifen- 
masse enthalten  gegenüber  den  bisherigen  Keim- 
bahnzellen. Von  den  vier  aus  einer  Samenmutter- 
zelle entstandenen  Samenzellen  besitzen  zwei  eine 
unvollständige  Kernschleife  neben  elf  vollständigen, 
während  die  zwei  übrigen  zwölf  vollständige  Kern- 
schleifen enthalten.  Die  ersteren  bilden  männchen- 
bildende, die  letzteren  weibchenbildende  Samen- 
fäden aus.  Durch  Eindringen  eines  Samenfadens 
mit  elf  vollständigen  Kernschleifen  in  eine  Eizelle 


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entsteht  ein  mannbildendes  Ei,  während  beim 
Eindringen  eines  Samenfadens  mit  zwölf  vollstän- 
digen Kernschleifen  in  eine  Eizelle  ein  weib- 
bildendes Ei  entsteht." 

Bei  der  wenige  Monate  dauernden  Umbildung 
der  männlichen  Geschlechtszelle  zum  Samenfaden 
fällt  alles  fort,  was  beim  Aufsuchen  der  Eizelle 
hinderlich  sein  könnte;  zugleich  bilden  sich  ein 
Bohrkopf  und  ein  Schwanzruder  aus,  welche  das 
Aussehen  des  Samenfadens  dem  eines  Geißeltier- 
chens ähnlich  machen.  „Alle  Umwandlungen 
dienen  der  Aufgabe,  eine  selbstbewegliche  Ma- 
schine zu  schaffen,  welche  die  Hälfte  der  ererbten 
Kernschleifenmasse  und  ein  Teilungskörperchen 
in  dem  Innern  einer  befruchtungsfähigen  Eizelle 
abzuliefern  imstande  ist."  Die  Samenfaden  können 
nach  ihrer  Ablösung  aus  den  Stützzellen  noch 
Monate  hindurch  im  Nebenhoden  verweilen,  fallen 
aber  schließlich  der  Rückbildung  anheim,  wenn 
sie  nicht  ausgestoßen  werden.  Ihre  Beweglichkeit 
erwacht  erst  in  der  Samenflüssigkeit  und  sie  kann 
selbst  außerhalb  des  Körpers  über  eine  Woche 
lang  erhalten  werden.  „Bei  zahlreichen  Lebe- 
wesen werden  die  Samenfäden  durch  chemische 
Stoffe  zum  Ei  geführt  und  dort  durch  besondere 
Pforten  der  Eihüllen  zum  Eiprotoplasma  hin  ge- 
leitet, nicht  aber  bei  dem  an  sich  nackten  Men- 
schenei,  welches  von  den  in  Auflösung  begriffenen 
Begleitzellen  wie  von  einer  besonderen  Hülle  um- 
geben wird." 

Beim  weiblichen  Embryo  folgt  „auf  die  Ein- 
wanderung der  Keimbahnzellen  in  die  Geschlechts- 
leisten die  Vermehrungszeit,  welche  zu  einer 
raschen  Größenzunahme  der  sich  ausbildenden 
Eierstöcke  führt  unter  gleichzeitiger  Ausbildung 
von  Bindegewebe  und  Blutgefäßen  im  Eierstock. 
Ohne  scharfe  Grenze  geht  die  Vermehrungsstufe 
der  Keimbahnzellen  in  die  Wachstumsstufe  über 
und  schon  vom  hundertsten  Tage  nach  der  Be- 
fruchtung ab  setzt  auch  die  Auflösung  und  Rück- 
bildung zahlreicher  Keimbahnzellen  ein,  die  von 
da  ab  in  der  Regel  ununterbrochen  zunimmt,  bis 
gegen  das  50.  Lebensjahr  hin  keine  Keimbahn- 
zellen mehr  im  weiblichen  Körper  anzutreffen 
sind".  Die  Bildung  von  Eierstockbläschen  dauert 
bis  zum  dritten  Lebensjahr,  nachher  findet  nur 
die  Reifung  der  früher  angelegten  und  die  Rück- 
bildung der  übergroßen  Mehrzahl  statt.  Im  Innern 
der  Eizelle  befindet  sich  neben  dem  Kern  ein 
Gebilde  aus  dichterer  Innenmasse  und  dicker  Hüll- 
masse, das  Dotterkern  genannt  wird  und  dem 
Teilungskörperchen  der  männlichen  Keimbahn- 
zellen vergleichbar  ist.  Es  geht  zugrunde,  wäh- 
rend durch  den  Samenfaden  bei  der  Befruchtung 
ein  sich  verdoppelndes  neues  Teilungskörperchen 
eingeführt  wird. 

Wie  es  bei  der  männlichen  Geschlechtszelle 
der  Fall  ist,  so  sorgt  auch  bei  der  Eizelle  der 
Reifungsvorgang  für  Hälftelung  der  Kernschleifen- 
masse und  gleichmäßige  Verteilung  der  auszu- 
scheidenden Erbanlagen.  Damit  wird  Verdoppelung 
der  Erbmasse  vermieden.     Bei  der  Reifung  legen 


sich  die  Kernschleifen  in  den  Eimutterzellen  an- 
einander und  bilden  nach  Spaltung  Vierergruppen, 
zwölf  an  der  Zahl,  welche  im  Gegensatz  zu  den 
Samenmutterzellen  keine  unvollständigen  Kern- 
schleifen aufweisen.  Nach  Bildung  der  Kern- 
teilungsfigur spalten  sich  die  Vierergruppen  in 
Doppelgruppen.  Zwölf  Doppelgruppen  von  Kern- 
schleifen werden  mit  einer  geringen  Plasmamenge 
unterhalb  der  durchsichtigen  Hülle  von  der  Ei- 
zelle abgetrennt.  Das  abgetrennte  Zellstück  wird 
Richtungskörperchen  oder  Polzelle  genannt.  In 
einer  zweiten  Teilung  trennen  sich  in  Eizelle  und 
Polzelle  die  Doppelgruppen  von  Kernschleifen. 
Es  wird  eine  neue  Polzelle  mit  zwölf  einfachen 
Kernschleifen  ausgestoßen.  Nach  Beendigung  der 
Reifeteilungen  liegen  drei  Polzellen  mit  je  zwölf 
Kernschleifen  zwischen  Eizelle  und  Hülle.  Der 
Kern  der  Eizelle  enthält  nur  noch  die  Hälfte  der 
Kernschleifenzahl,  ebenso  wie  der  Kern  der 
Samenzelle  nach  der  zweiten  Reifeteilung.  Vor 
der  Eireifung  muß  die  Eimutterzelle  die  doppelte 
Masse  an  Kernschleifensubstanz  gehabt  haben,  da- 
mit nach  der  Vierzellenbildung  die  Hälfte  der  für 
die  Keimbahnzellen  üblichen  Menge  an  Kern- 
schleifenmasse übrigbleiben  kann.  Aus  den  zwölf 
übriggebliebenen  Kernschleifen  bildet  sich  in  der 
reifen  Eizelle  ein  neuer  Kern,  der  weiblicher  Vor- 
kern genannt  wird.  Aus  dem  Kopf  des  einge- 
drungenen Samenfadens  entsteht  durch  Flüssig- 
keitsaufnahme aus  der  Eizelle  ein  Kern,  der  männ- 
liche Vorkern,  der  bis  zur  Größe  des  weiblichen 
Vorkernes  heranwächst,  auf  diesen  zuwandert, 
sich  an  ihn  anlegt  und  zuletzt  mit  ihm  verschmilzt. 
Der  neue  Kern,  der  erste  Kern  des  neuen  Ge- 
schlechts, entspricht  einem  Kern  mit  24  Kern- 
schleifen, wenn  ein  weibchenbildender  Samenfaden 
eingedrungen  war,  von  denen  zwölf  den  beiden 
Großeltern  von  Vaterseite,  zwölf  den  beiden  Groß- 
eltern von  Mutterseite  her  ihrer  Herkunft  nach 
ent.sprechen.  Drang  ein  männchenbildender  Samen- 
faden ein,  so  enthält  der  erste  Kern  des  neuen 
Geschlechts,  wie  alle  folgenden,  eine  unvollständige 
Kernschleife  neben  23  vollständigen.  Das  Ge- 
schlecht des  Lebewesens  ist  mithin  eine  der  vielen 
Anlagen,  die  durch  die  Beschaffenheit  des  elter- 
lichen Erbgutes  bestimmt  sind. 

Im  Anfang  der  Entwicklung  der  befruchteten 
Eizelle  laufen  die  Lebensprozesse  langsam  ab. 
Nahrungsaufnahme,  Verdauung  und  Ausscheidung 
sind  ganz  geringfügig,  ebenso  die  Atmung,  nicht 
nur  wegen  der  „Kleinheit  der  Austauschfläche 
bei  der  Kugelgestalt,  sondern  auch  durch  die 
räumliche  Trennung  von  den  sauerstofführenden 
Blutgefäßen  der  mütterlichen  Teile".  Ein  Wachs- 
tum findet  anfänglich  kaum  statt,  gesteigert  ist 
nur  die  Vermehrungsfähigkeit  des  Zellstoffes.  Nach 
der  dritten  Furchung  und  der  Unterscheidung 
von  Körper-  und  Keimbahnzellen  teilen  sich  die 
ersteren  rascher  und  umwachsen  die  größeren 
dotterhaltigen  Keimbahnzellen.  „Solange  die 
Furchungszellen  von  gleicher  Größe  sind,  können 
wir    den    entstandenen   Zellhaufen    als    Maulbeer- 


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larve  bezeichnen  und  mit  Einzellerkolonien  ver- 
gleichen, bei  denen  die  Einzelwesen  einander 
gleichen.  Nur  wenige  Säugetiere  bilden  nackte 
Maulbeerlarven  ohne  Hülle,  und  zwar  diejenigen, 
deren  Keimling  sich  frühzeitig  in  die  Gebärmutter- 
schleimhaut einnistet.  Alle  Affenarten,  Insekten- 
fresser, einige  Nagetiere,  Fledermäuse  und  von 
Halbaffen  Tarsius  ähneln  dem  Menschen  in  dem 
frühzeitigen  Verlust  der  EihüUen,  während  bei 
Kaninchen,  Beuteltieren  und  anderen  Säugetieren 
die  Hüllen  der  Maulbeerlarven  vermutlich  durch 
Wasseraufnahme  bedeutend  an  Dicke  gegenüber 
der  Eizellhülle  gewonnen  haben."  Bemerkenswert 
ist,  daß  die  Teilungen  des  befruchteten  Menschen- 
eies anfänglich  ganz  langsam  aufeinanderfolgen, 
so  daß  der  Menschenkeim  noch  ein  ungegliederter 
Zellhaufen  ist,  wenn  im  gleichen  Zeitverlauf  etwa 
ein  Beuteltier  bereits  geboren  und  von  der  Mutter 
in  den  Beutel  übergeführt  worden  ist.  „Am  Ende 
der  ersten  Lebenswoche  ähnelt  die  Höhe  der  Ent- 
wicklung des  Menschenkeimes  noch  immer  der 
von  allereinfachsten  Lebewesen,  nämlich  der  von 
schmarotzenden  Übergangstieren  .  .  .  Die  ge- 
ringe Dottermenge  des  menschlichen  Eies  reicht 
gerade  aus,  um  diesem  den  selbständigen  Nahrungs- 
erwerb auf  der  Stufe  des  Einzeller  und  des  Ein- 
zellerhaufens zu  ersparen  und  die  Entwicklungs- 
höhe eines  Übergangstieres  zu  erreichen,  welches 
schmarotzend  sich  festsetzend  sich  selbsttätig  er- 
nähren kann."  Den  Gedanken  an  eine  Dotter- 
sackernährung der  Frucht  bei  den  Ahnenstufen 
des  Menschen  legt  die  Ausbildung  eines  weder 
der  Atmung  noch  der  Ernährung  dienenden  Dqtter- 
sacks  beim  Menschenkeimling  nahe.  Der  Über- 
gang zur  Schmarotzerstufe  des  Keimlings  ist  als 
Erlangung  einer  höheren  Daseinsstufe  anzusehen. 
„Vom  Standpunkt  der  Mutter  ist  die  schmarotzende 
Lebensweise  der  Frucht  wirtschaftlicher  als  eine 
gleichgroße  Nährstoffbeigabe  zum  Ei,  vom  Stand- 
punkt der  Frucht  sind  beide  Arten  etwa  gleich- 
wertig." H.  Fehlinger. 

Künstliche  Parthenogenese  bei  Vaucheria  und 
die  geschlechtliche  Tendenz  ihrer  Keimzellen. 

In  früheren  Untersuchungen  behandelt  Cor- 
rens  die  F"rage,  ob  die  Sexualzellen  einhäusiger 
(monöcischer)  Pflanzen  jeweils  die  Anlagen  zu 
beiden  Geschlechtern  oder  ob  die  Eizellen  bloß 
das  weibliche,  die  Samenzellen  bloß  das  männ- 
liche Geschlecht  vererben.  Wäre  letzteres  der 
Fall,  dann  müßte  irgendwo  im  Lebenslauf  eines 
Monöcisten  eine  Aufspaltung  der  Geschlechts- 
tendenz eintreten.  Die  Frage  ist  experimentell 
zu  entscheiden,  wenn  man  die  Zellen  männlicher 
oder  weiblicher  Sexualorgane  vegetativ  zur  Ver- 
mehrung bringt.  Je  nachdem  müßten  sich  hier 
entweder  wieder  monöcische  oder  aber  männliche 
bzw.  weibliche  Pflanzen  ergeben.  Correns  ist 
bei  diesen  Versuchen,  die  sich  auf  Laubmoose 
erstreckten,  bis  zu  den  Schwesterzellen  der  Sexual- 
zellen,  den  Antheridium-  und  den  Archegonium- 


wandzellen  vorgedrungen  mit  dem  Ergebnis,  daß 
immer  monöcische  Regenerate  entstanden,  also 
eine  Aufspaltung  nicht  nachweisbar  war.  Er 
stellt  es  als  wünschenswert  hin,  zur  letzten  Ent- 
scheidung mit  den  Sexualzellen  selbst  zu  arbeiten 
und  diese  ungeschlechtlich  zur  Vermehrung  zu 
bringen.  Diese  Lücke  ist  nun  von  J.  v.  Wett- 
stein  (Ber.  d.  d.  botan.  Ges.  38,  1920)  ausgefüllt 
worden.  Wettstein  arbeitete  mit  der  Algen- 
gattung Vaucheria,  die  männliche  und  weibliche 
Sexualorgane  in  Gestalt  von  Antheridien  und 
Oogonien  trägt.  Es  gelang,  durch  bestimmte 
Verletzungen  sowohl  das  Oogonium  als  auch  das 
Antheridium  zum  vegetativen  Auswachsen  zu  ver- 
anlassen. Es  bildeten  sich  dabei  Vaucheriapflänz- 
chen,  die  ganz  unabhängig  davon,  welchem  Sexual- 
organ sie  entstammten,  immer  beiderlei  Geschlechts- 
produkte entwickelten,  also  monöcisch  waren.  Da 
nun  sowohl  die  Oogonien  als  auch  die  Antheri- 
dien im  reifen  Zustand  bloß  Sexualkerne  ent- 
halten, so  mußten  sich  die  Kerne  des  ausge- 
wachsenen Fadengeflechts  im  einen  Fall  von  dem 
Eikern,  im  anderen  Fall  von  den  Spermatozoid- 
kernen  herleiten  (weibliche  bzw.  männliche  Par- 
thenogenesis).  Aus  diesen  Versuchen  ist  also  mit 
Deutlichkeit  zu  ersehen,  daß  auch  noch  die 
Sexualzellen  der  Monöcisten  beiderlei  Geschlechts- 
charaktere zu  übertragen  imstande  sind. 

P.  Stark. 

Der  Aufbau  der  Zellulose. 

Zellulose  und  Lignin  sind  die  Hauptbestand- 
teile des  Holzes.  Beide  Stoffe  sind  ihrer  chemi- 
schen Natur  nach  so  gut  wie  unbekannt.  Das 
Lignin  hat  H.  Wislicenus  jüngst  bezeichnet 
als  „die  Summe  aller  aus  dem  Bildungs-  oder 
Kambialsaft  durch  Adsorption  auf  den  Ober- 
flächenkörper Zellulosefaser  niedergeschlagener 
hochmolekularer  kolloid  gelöster  Stoffe".')  Es 
ist  also  ein  Gemenge  mehrerer  Verbindungen,  das 
zu  trennen  künftiger  Arbeit  vorbehalten  ist.  Die 
Zellulose  dagegen  ist  chemisch  einheitlich, 
ist  ein  chemisches  Individuum,  von  dem  lediglich 
unklar  ist,  wie  seine  Konstitution  zu  deuten  sei. 
Dies  erscheint  merkwürdig  in  Anbetracht  der  um- 
fangreichen Verwendung  und  Veredelung,  die 
unsere  Industrie  seit  langem  schon  mit  der  Zellu- 
lose vornimmt;  es  sei  an  die  Herstellung  des 
Papiers,  der  Baumwolle,  der  Zellstoffwatte,  der 
Kunstseide  usw.  erinnert.  Heut  stehen  wir  vor 
der  wirtschaftlichen  Notwendigkeit,  aus  den  ein- 
heimischen Rohstoffen  das  Höchstmögliche  an 
veredelten  Erzeugnissen  herauszuholen.  Mit  den 
bisherigen  bescheidenen  Kenntnissen  über  die 
Struktur  der  Zellulose  gelingt  das  aber  nicht.  Wir 
bedürfen  zu  diesem  Zweck  einer  Kenntnis  des 
Zellulosemoleküls,  die  es  gestattet,  unsere  che- 
mischen Mittel  planvoll  und  der  Eigenart  des 
Moleküls  entsprechend  wirken  zu  lassen.      Dieser 


•)  Kolloid-Zeitschrift  27,  S.  209,  1920. 


468 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


Aufgabe,  ein  genaueres  Bild  vom  Zellulosemole- 
kül zu  bekommen,  hat  sich  in  dankenswerter 
Weise  ein  Forscher  angenommen,  dessen  Erfolge 
auf  anderen  Gebieten  der  organischen  Chemie 
die  Hoffnung  berechtigt  erscheinen  lassen,  daß  ihm 
auch  bei  dieser  neuen  Arbeit  wichtige  Erkennt- 
nisse beschieden  sein  werden.  Die  ersten  Ergebnisse 
seiner  Untersuchungen  legt  Kurt  Heß  soeben  vor.^) 
Seit  längerer  Zeit  schon  ist  bekannt,  daß  Zel- 
lulose beim  chemischen  Abbau  ein  Polymeres 
eines  Zuckers  liefert,  die  Zellose,  die  bei 
weiterem  Abbau  ausschließlich  Glukose  (Trauben- 
zucker) liefert.  Glukose  also  ist  der  letzte 
chemisch  wohlgekennzeichnete  Baustein  der  Zel- 
lulose. Die  Frage  nach  deren  Struktur  ist  des- 
halb eigentlich  enger  gefaßt,  wie  sich  die  Glukose- 
moleküle unter  Wasseraustritt  zum  Zellulosekom- 
plex zusammenketten,  und  wieviele  Glukosemole- 
CH.,OH— CH(OH)— CH(OH)- 


küle  an  diesem  Vorgang  teilnehmen.  Die  Un- 
löslichkeit der  Zellulose  sowie  Versuche,  ihr  Mole- 
kulargewicht zu  ermitteln  veranlaßten  schon  früh- 
zeitig, an  sehr  große  Moleküle  zu  glauben.  Da 
die  Zellulose  sich  ferner  leicht  verestern  läßt,  wo- 
von bei  der  Herstellung  von  Schießbaumwolle 
und  Künstseide  der  ausgedehnteste  Gebrauch  ge- 
macht wird,  so  muß  sie  alkoholische  Hydroxyl- 
gruppen aufweisen.  Endlich  ist  die  Reißfestigkeit 
der  Zellulosefaßer  sehr  groß,  so  daß  das  Molekül 
wahrscheinlich  von  ziemlich  geschlossener  und 
nicht  etwa  sperrig  kettenförmiger  Bauart  ist.  All 
diesen  Erwägungen  folgend,  stellt  Heß  nun  eine 
Formel  der  Zellulose  auf,  die  zunächst  nur  als 
„Arbeitsformel"  zu  betrachten  ist,  deren  Richtig- 
keit aber  schon  durch  verschiedene  anschließend 
kurz  besprochene  Arbeiten  recht  wahrscheinlich 
gemacht  worden  ist.  Glukose  hat  die  Struktur 
-CH(OH)-CH(OH)-C=0. 


\ 


H 


Denkt  man  sich  aus  diesem  Molekül  H-  und  OH  herausgenommen,  so  entsteht  ein  Stoff  der  Formel 
CHaOH-CH(OH)-CH— CH(OH)— CH(OH)— C  =  0. 

Denkt  man  sich  endlich  vier  solcher  Moleküle     tritt)  kondensiert,  so  erhält  man  einen  Stoff,  der  als 
mit  einem  fünften  (unter  mehrfachem  Wasseraus-      Tetra-glucosidyl-glucose  zu  bezeichnen  ist: 

CH— O— CH— CH(OH)— CH(OH)— CH— CH(0H)-CH20H 
/cH— O— CH— CH(OH)— CH(OH)— CH-CH(OH)— CHoOH 
CH  -O— CH— CH(OH)— CHi  OH)— CH— CH(OH)— CH^OH 
CH 
CH-O— CH-CH(OH)— CH(OH)-CH— CH(0H)-CH20H 


V 


CH.30H 

So,  oder  doch  sehr  ähnlich  so  ist  die  che- 
mische Formel  der  Zellulose  aufzufassen.  Sie  stellt 
sich  also  dar  als  eine  Anhäufung  von  Zucker- 
molekülen in  ganz  ähnlicher  Weise,  wie  dies 
E.  Fischer  für  die  Gerbstoffe  der  Tanninklasse 
gefunden  hat. 

Chemische  Stützen  für  die  angegebene  Formel 
sind  neben  anderen  die  folgenden  Umsetzungen. 
Beim  Abbau  der  Zellulose  tritt  neben  Glukose 
eine  Biose  auf  in  einem  bei  vielen  Versuchen  als  fast 
konstant  ermittelten  Verhältnis  von  i :  4.  Auch 
ein  auf  Grund  der  Formel  vorausgesagtes  Isomeres 
ist  soeben  wirklich  entdeckt  worden.^)  Endlich 
gewannen  Heß  und  seine  Mitarbeiter  Abbaustoffe, 
die  den  gerbstoffartigen  Bau  der  Zellulose  noch 
verdeutlichen. 

Es  bleibt  nun  noch  die  Frage,  in  welcher 
Weise  die  formulierten  Moleküle  zum  natürlich 
vorkommenden  Zellulosemolekül  zusammentreten. 
Heß  glaubt,   daß   dies  durch  Nebenvalenzen 


')  Zeitschr.  f.  Elektrochemie  26,  S.  240,  1920;  Zeitschr. 
f.  angew.  Chemie  34,  S.  49,  1921.  Vgl.  auch  Ber.  d.  d. 
Chem.  Ges.  54,  S.  499,  1921. 

*)  Zeitschr.  f.  angew.  Chemie  33,  S.  100,   1920. 


geschehe,  d.  h.  durch  Restbeträge  der  in  den 
Molekülen  betätigten  Affinitätskräfte  ^).  Auf  diese 
Weise  ist  von  vornherein  die  Möglichkeit  gegeben, 
das  eigentliche  Zellulosemolekül  zu  beliebig  großen 
Ausdehnungen  anwachsen  zu  lassen,  wodurch  das 
scheinbar  so  sehr  hohe  Molekulargewicht  der 
Zellulose  verständlich  würde.  Heß  vergleicht  den 
Zelluloseaufbau  mit  dem  eines  Kristalls.  Auch 
hier  liegen  nicht  einzelne  Moleküle  unabhängig 
nebeneinander,  sondern  Nebenvalenzen  verbinden, 
ja  verflechten  gewissermaßen  Molekül  mit  allen 
Nachbarmolekülen,  eine  Erkenntnis,  die  die  Rönt- 
genforschung  im  Gebiet  der  molekularen  Dimen- 
sionen dank  den  Arbeiten  Laues  und  anderer 
gebracht  hat.  Diese  molekulare  Verknüpfung  ge- 
horcht zwar  durchaus  bestimmten  Symmetriege- 
setzen, das  Einzelmolekül  aber  als  solches 
hat  aufgehört  zu  bestehen.  Der  ganze 
Kristall  ist  ein  einziges  Molekül,  wie 
dies  Pfeiffer^)  zuerst  klar  ausgedrückt  hat.  D  i  e  - 

')  ^g'-  "Die  chemische  Valenz  in  heutiger  Auffassung" 
V.  Verf.,  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.   18,  S.  273,   1919. 

^)  Zeitschr.  f.  anorgan.  Chemie  92  (1915)  und  folgende 
Bände. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


Maturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


469 


selben  Verhältnisse  liegen  vor  bei  der  Zellu- 
lose. Auch  hier  ist  die  Faser  ein  Molekül, 
einem  Kristall  völlig  vergleichbar.  Das  von 
Scherrer')  aufgenommene  Laue-Diagramm  der 
Zellulose  bestätigt  dies  in  bester  Weise.  Damit 
erledigt  sich  die  Frage  nach  der  Größe  und  nach 
dem  Gewicht  des  Zellulosemoleküls;  sie  hat,  wie 
für  alle  festen  Stoffe,  ihren  Sinn  verloren. 

Um  diese  oben  kurz  dargestellten  Vorstellungen 
von  Heß  zu  rechtfertigen,  bedarf  es  nun  freilich 
noch  eines  anderen,  schwerer  zu  führenden  Be- 
weises, ob  nämlich  synthetische  Stoffe  ähn- 
licher Struktur  die  gleichen  oder  ähnliche 
Eigenschaften  haben,  wie  der  natürliche  und  hier 
auf  Grund    von    analytischen  Reaktionen   for- 


')  Zsigmondy,  KoUoidchemie.    3.  Aufl.     1920,  S.  408. 


mulierte  Stoff.  Die  bisherigen  Ergebnisse  der  in 
dieser  Richtung  angestellten  Versuche  liefern  in 
der  Tat  wertvolle  Bestätigungen  der  Heßschen 
Auffassung.  Zunächst  gelangte  man  zu  Stoffen, 
wie  Penta-stearylglukose  und  ähnlichen.  Sie  zeigen 
fettähnlichen  Charakter.  Je  mehr  Hydroxyl- 
gruppen aber  in  solche  Moleküle  eingeführt 
wurden,  um  so  mehr  näherten  sich  die  ent- 
standenen Stoffe  der  Zellulose  I  Mag  also  das  ab- 
gebildete Formelstück  in  Einzelheiten  noch  nicht 
völlig  richtig  sein  —  die  Grundlage  ist  geschaffen, 
auf  der  wir  vielleicht  zur  synthetischen 
Zellulose  kommen,  auf  der  sicherlich  aber  Ar- 
beiten erledigt  werden  können,  die  die  technische 
Veredelung  der  Zellulose  in  hohem  Maße 
fördern  werden.  H.  Heller. 


Bücherbesprechungen. 


Oppenheim,  S.,  Das  astronomische  Welt- 
bild im  Wandel  der  Zeiten.  Aus  Natur 
und  Geisteswelt,  Nr.  444  und  445,  134  und 
130  S.  Leipzig  u.  Berlin  1920.  Je  Nr.  3,50  M. 
und  Teuerungszuschläge. 
Das  erste,  in  3.  Auflage  erscheinende  Bänd- 
chen enthält  die  Astronomie  bis  zur  Gegenwart, 
in  ihrer  Entwicklung  und  zeichnet  sich  durch 
Vollständigkeit  und  Klarheit  der  Darstellung  aus. 
Der  zweite  Teil  befaßt  sich  in  6  Abschnitten  mit 
den  Problemen,  an  denen  die  Gegenwart  vor- 
nehmlich arbeitet.  Die  Probleme  der  Störungen, 
der  Stabilität,  der  Kometen,  der  Gestalt  der  Him- 
melskörper, der  Anordnung  der  Fixsterne  und 
der  Gravitation.  Man  wird  in  diesen  Abschnitten 
alle  hierher  gehörigen  Fragen  besprochen  finden, 
so  daß  beide  Teile  zusammen  alles  Wesentliche 
enthalten.  Zu  bemerken  wäre  nur  weniges,  in 
Teil  I,  daß  Auwers  den  Begleiter  des  Prokyon 
errechnete  vor  der  Entdeckung,  in  Teil  II  zu  S.  23, 
daß  es  jetzt  mehr  als  lOOO  kleine  Planeten  sind. 
S.  28  die  gegebenen  Zahlen  der  Umlaufszeiten 
von  Jupiter  und  Saturn  sind  nicht  genau  =2:5. 
S.  29 — 30  die  Kan tische  und  die  Laplacesche 
Kosmogonie  sind  voneinander  total  verschieden, 
und  als  durchaus  unbrauchbar  erwiesen.  S.  126: 
Eine  die  Gravitation  bei  Finsternissen  abschirmende 
Wirkung  ist  durch  Bottlinger  und  See  sehr 
wahrscheinlich  gemacht  worden;  von  Oppen- 
heim wird  dies  übersehen.  S.  129:  Die  Rela- 
tivitätslehre jetzt  schon  als  bewiesen  hinzustellen, 
erscheint  mindestens  verfrüht,  werden  doch  ihre 
Grundlagen  immer  mehr  angegriffen,  und  das 
Merkursglied  ist  auf  anderem  Wege  mindestens 
ebensogut  zu  erklären.  Riem. 


Klein,  Dr.  Jos.,  Chemie.  Organischer  Teil. 
5.,  verb.  Aufl.  Berlin  und  Leipzig  1920,  Ver- 
einigung wissensch.  Verleger.  W.  de  Gruyter 
&  Co.     (Samml.  Göschen  Nr.  38.)     5,20  M. 


Fünf  Auflagen  dieses  geschickt  zusammen- 
gestellten Bändchens  beweisen  seine  Beliebtheit. 
Wirklich  stellt  es  eine  sachlich  zuverlässige,  durch- 
aus empfehlenswerte  Übersicht  über  das  große 
Gebiet  dar.  Ein  paar  Bemerkungen  werden  dem 
guten  Ruf  des  Büchleins  nicht  schaden,  ihre  Be- 
rücksichtigung bei  künftigem  Erscheinen  dürfte 
ihm  vielmehr  nutzen. 

Da  eine  derartige  Einführung  keine  theoreti- 
sche Vertiefung  anstreben  kann,  so  ist  grundsätz- 
lich die  praktische  Bedeutung  für  die  Behand- 
lung einzelner  Stoffe  maßgeblich  zu  machen. 
Damit  dürfte  auch  am  besten  zu  eingehenderem 
Studium  der  organischen  Chemie  angeregt  wer- 
den. Demgemäß  empfiehlt  Berichterstatter,  Ka- 
pitel vorwiegend  theoretischer  Bedeutung,  wie 
„Nitrosubstitutionsprodukte  der  Kohlenwasser- 
stoffe", „Cyanverbindungen"  u.  ä.  zu  kürzen.  Das 
wichtige  Kapitel  der  Teerfarbstoffe  aber  muß 
unbedingt  etwas  ausführlicher  gehalten  werden  I 
Die  Frage  der  Benzol  formel  kann  getrost  un- 
erörtert  bleiben,  ganz  bestimmt  aber  ist  die  Pris- 
menformel, sowie  die  Diagonalformel  zu  streichen ; 
dagegen  darf  die  Begriffsbestimmung  „Base"  nicht 
in  einer  Fußnote  abgetan  werden  (S.  166).  Manche 
wichtige  Fortschritte  der  organischen  Chemie 
sind  unberücksichtigt  geblieben :  S.  "J"]  die  Essig- 
säuredarstellung aus  Acetylen,  S.  99  die  Ver- 
wendung der  Laktate  als  Glyzerinersatzmittel, 
S.  141  die  Phenol-Aldehyd-Kondensationen.  — 
Die  Kennzeichnung  von  Chlorophyll  (S.  176)  und 
der  Gerbstoffe  (S.  169)  kann  bestimmter  abgefaßt 
werden.  —  S.  161  steht  ein  Druckfehler:  es  muß 
Geraniol  heißen.  —  Nochmals:  das  Büchlein 
ist,  der  Ausstellungen  ungeachtet,  recht  brauchbar 
und  anerkennenswert.  H.  Heller. 


Peter,  B.,  Parallaxenbestimmungen  am 
Repsoldschen  Heliometer  der  Leip- 
ziger Sternwarte.     Abh.   der   Sachs.  Aka- 


470 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


demie  der  Wiss.    33  S.    Leipzig  1920,  Teubner. 

Geh.  1,50  M.  u.  Teuerungszuschläge. 
Nach  dem  Tode  des  Beobachters,  der  als  aus- 
gezeichneter Heliometerbeobachter  bekannt  war, 
hat  Naumann  die  Rechnungen  ausgeführt,  die 
sich  auf  5  hellere  Sterne  beziehen.  Für  «  Cassio- 
pejae  ist  kein  Ergebnis  herausgekommen,  da  einer 
der  Vergleichssterne  offenbar  selbst  eine  starke 
Parallaxe  hat, «  Ursae  min  und  C  Draconis  haben  eine 
Par  =  o  ergeben,  y  Draconis  ergab  o",043  +  o",oi5 
und  die  beiden  Glieder  des  Doppelsterns  61.  Cygni, 
bei  dem  bekanntlich  Bessel  die  erste  solche 
Messung  durchgeführt  hat,  ergaben  o",263  +o",032 
und  o",237 +o",022.  Die  Messungen  sind  also 
sehr  genau.  Riem. 


Hartmann,  H.  J. ,  Astronomie.  Der  Kultur 
der  Gegenwart.  Teil  III,  Abt.  III,  Band  3.  639  S. 
mit  44  Abb.  und  8  Tafeln.  Leipzig  und  Berlin 
192 1,  Teubner.  46  M.  u.  Zuschläge. 
Ein  wahrhaft  großartiges  Werk,  das  durch 
Zusammenarbeit  einer  Anzahl  Spezialforscher  ent- 
standen ist,  deren  jeder  sein  Gebiet  in  ausführ- 
licher Darstellung  bearbeitet  hat.  Es  ist  im  besten 
Sinne  populär,  setzt  freilich  das  in  den  bekannten 
populären  Werken  gegebene  als  bekannt  voraus, 
und  gibt  einen  Querschnitt  durch  die  Kenntnisse 
der  Gegenwart,  so  vollständig  und  zuverlässig, 
wie  nur  möglich,  so  daß  jeder,  der  sich  mit  den 
Problemen  und  Ergebnissen  der  modernen  astro- 
nomischen und  astrophysikalischen  Forschung  be- 
faßt, hier  alles  Material  beisammen  findet.  Es  ist 
das  um  so  wertvoller,  als  sehr  vieles  davon  sich 
nur  in  schwer  zugänglichen  Zeitschriften  findet, 
und  so  zerstreut,  daß  nur  der  darin  ganz  bewan- 
derte Forscher  einen  Überblick  über  die  ein- 
schlägige Literatur  haben  kann.  Es  gilt  dies  be- 
sonders von  den  Aufgaben,  an  denen  zurzeit  am 
meisten  gearbeitet  wird,  und  deren  Literatur  daher 
ganz  unübersehbar  ist,  das  ist  die  Physik  der  Fix- 
sterne, die  Gut  hn  ick,  und  das  Sternsystem,  das 
Kobold  bearbeitet  hat.  Boll  spricht  über  das 
astronomische  Weltbild,  seine  Entwicklung,  und 
die  Zusammenhänge  mit  Religion,  Astrologie  und 
Weltanschauung.  Ginzel  behandelt  die  Chrono- 
logie, auf  der  er  die  unbestrittene  Autorität  ist. 
Hartmann  die  Zeitmessung  und  den  modernen 
Zeitdienst,  A  m  b  r  o  n  n  die  astronomische  Orts- 
bestimmung, sowohl  der  Sterne,  wie  der  Punkte 
auf  der  Erde,  und  die  dazu  dienenden  Hilfsmittel. 
Sehr  anschaulich  entwickelt  Flotow  die  Erwei- 
terung des  Raumbegriffes ,  erst  Bestimmung  der 
Größe  der  Erde  aus  Gradmessungen,  Ermittlung 
des  Meters,  dann  die  Parallaxe  der  Sonne  und 
der  Sterne.  Hepperger  befaßt  sich  mit  den 
Gesetzen  der  Planetenbewegung  seit  Kepler  und 
Newton  bis  zur  Entdeckung  des  Neptun  und 
der  Erforschung  der  Kometenbahnen.  Graff 
stellt  unsere  Kenntnisse  von  der  Physik  der 
Planeten  dar,  wobei  beim  Mars  leider  die  sehr 
anschauliche  Erklärung  von  Bau  mann  nicht 
erwähnt  ist,  die  allen  Erscheinungen   am  meisten 


gerecht  wird.  Auch  die  Ideen  von  Hörbiger 
hätten  eine  Würdigung  verdient,  obwohl  die  Kos- 
mologie als  zu  hypothetisch  mit  Recht  aus  dem 
Buche  ausgeschaltet  ist,  das  eben  nur  Ergebnisse 
und  Forschungsmethoden  geben  will.  Prings- 
heim  behandelt  das  schwierige  Kapitel  der 
Sonnenforschung,  die  Beobachtungsergebnisse,  die 
Spektralforschung  und  die  Strahlung,  sowie  einige 
neue  Sonnentheorien.  Auch  hier  ist  das  unge- 
heure Material  in  meisterhafter  Weise  übersicht- 
lich dargestellt.  Ambro nn  bespricht  dann  die 
Instrumente  und  Sternwarten,  während  Oppen- 
heim die  Gravitation  behandelt,  ihre  Erklärung, 
das  Newtonsche  Gesetz  und  die  Beziehungen 
zur  Relativitätstheorie,  von  der  behauptet  wird, 
daß  sie  durch  die  Finsternis  vom  29.  Mai  1919 
glänzend  bestätigt  sei.  Bekanntlich  hat  sich  ge- 
zeigt, daß  die  Aufnahmen  gar  keine  Beweiskraft 
haben,  was  zur  Zeit  der  Niederschrift  wohl  noch 
nicht  bekannt  war.  Druck  und  Ausstattung  sind 
dem  Inhalt  entsprechend  ausgezeichnet. 

Riem. 


Hahn,  K.,  Grundriß  derPhysik  für  höhere 
Lehranstalten  und  Fachschulen,  so- 
wie zum  Selbstunterricht.  Mit  326  Fig. 
VIII  und  274  S.  Leipzig  1920,  B.  G.  Teubner. 
Das  Buch  wird  vielen  dienlich  sein,  dem  Lehren- 
den als  Leitfaden,  dem  Schüler  und  Studenten 
zum  Selbststudium  oder  als  Repetitionsbuch.  Es 
ist  sehr  inhaltsreich  bei  knapper  und  klarer  Dar- 
stellungsweise. Die  Anordnung  des  Stoffes  ist 
der  Art,  daß  die  Zusammenhänge  der  einzelnen 
Teile  des  ganzen  großen  Gebietes  hervortreten. 
Erfreulicher  Weise  hat  der  Verf.  vor  Anwendung 
zahlreicher  Formeln  und  vor  Differentialrechnung 
(letztere  natürlich  in  geringem  Umfang)  nicht 
zurückgeschreckt.  Zweckmäßig  erscheint  mir  auch, 
die  geschichtliche  Entwicklung  in  besonderen 
kleinen  Abschnitten  am  Ende  eines  jeden  Kapitels, 
das  immer  eine  Gruppe  von  Erscheinungen  um- 
faßt, zusammenhängend  vorzubringen.  Im  Anhang 
ist  auf  5  Seiten  eine  „Zeittafel"  „die  einen  Über- 
blick über  die  Gesamtleistungen  der  bedeutendsten 
Physiker  und  über  die  Entwicklungsphasen  der 
Physik  geben  soll",  mitgeteilt.  Valentiner. 


Vater,  R.,TechnischeWärmelehre  (Thermo- 
dynamik).    2.  Aufl.  von  Dr.  Fritz  Schmidt. 
(A.  N.  u.  G.  Nr.  516)  122  S.  mit  46  Abb.   im 
Text.     Leipzig  u.  Berlin  1920,   B.  G.  Teubner. 
In  der  Sammlung  „Aus  Natur  und  Geisteswelt" 
sind    von  Vater    mehrere    Bändchen    erschienen, 
die    sich    auf  die    Wärmelehre,    wie    sie    zur    Be- 
urteilung der  Wärmekraftmaschinen  in  der  Praxis 
gebraucht  wird,  beziehen.      Sie  sind  infolge  ihres 
Eingehens  auf  die  praktischen  Fragen  und  infolge 
ihrer   Einfachheit    und    Leichtverständlichkeit   mit 
Recht  sehr  beliebt  und  haben  sämtlich  in  kurzer  Zeit 
immer   neue    Auflagen    erlebt.      Das   vorliegende 
Bändchen    ist   in    erster  Auflage    19 16   erschienen 
und    nun   nach   dem  Tode    des  Verf.  (Jan.  1919) 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


471 


von  Schmidt,  seinem  langjährigen  Mitarbeiter, 
neu  herausgegeben  worden.  Wesentliche  Ände- 
rungen wurden  nicht  vorgenommen.  Das  Bänd- 
chen zerfällt  in  die  7  Abschnitte:  i.  Zustand  und 
Zustandsänderungen,  2.  Wärme  und  Arbeit,  3.  Der 
Carnotsche  Kreisprozeß,  4.  Dämpfe,  5.  Entropie, 
6.  S-T-Diagramm,  7.  I-S-Diagramm. 

Valentiner. 


Oppenheimer,  C,  Der  Mensch  als  Kraft- 
maschine. Leipzig  192 1,  G.  Thieme. 
Es  ist  dem  Verf.  gelungen,  in  einer  relativ 
knappen  Darstellung  ein  umfassendes  und  auch 
dem  Laien  verständliches  Bild  von  den  Energie- 
wandlungen in  unserem  Körper,  speziell  in  unseren 
Muskeln,  zu  geben.  Das  Problem  ist  für  jeden 
Naturwissenschaftler  und  Techniker  von  so  großem 
Interesse  und  durch  die  Forschungen  aus  der 
allerletzten  Zeit  (Hill,  M e y e r h o f  u.a.)  so  weit 
gefördert  worden,  daß  die  vorliegende  Zusammen- 
stellung sicher  vielen  willkommen  sein  dürfte. 
Der  Biologe  wird  —  was  heute  sicher  nötig  ist 
—  von  neuem  darauf  hingewiesen,  wie  kompli- 
ziert alle  Vorgänge  im  Organismus  sind  im  Ver- 
gleich zu  den  bisher  von  der  Technik  gelösten 
Problemen;  den  Techniker  wird  es  vor  allem  in- 
teressieren, in  der  Muskeltätigkeit  das  Problem 
der  direkten  Überführung  chemischer  Energie  in 
kinetische  gelöst  zu  finden. 

Brücke  (Innsbruck). 


Schmidt,  F.  A.,  Wie  erhalte  ich  Körper 
und  Geist  gesund?  600.  Bändchen  der 
Sammlung  „Aus  Natur  und  Geisteswelt".  Ber- 
lin und  Leipzig  1921,  G.  B.  Teubner. 
Wenn  auch  in  derselben  Sammlung  schon  ein 
anderes  Bändchen  über  die  Gesundheitslehre  (Nr.  i, 
von  Buch  n  er  und  von  Grub  er)  aufzuweisen 
hat,  so  ist  das  Erscheinen  dieses  neuen  Bändchens 
doch  sehr  zu  begrüßen.  Auch  wenn  jenes  keine 
neue  Auflage  mehr  erleben  sollte,  so  wird  dieses 
ein  vollgültiger  Ersatz  sein  können.  Man  erkennt 
das  Bestreben  des  Verf.,  gerade  den  praktischen 
Bedürfnissen  gerecht  zu  werden,  und  man  kann 
sagen,  daß  ihm  das  gelungen  ist.  Jenes  andere 
Bändchen  bringt  'dem  Leser  vielleicht  mehr  die 
wissenschaftlichen  Grundlagen  der  Gesundheits- 
lehre zum  Bewußtsein,  das  vorliegende  vernach- 
lässigt diese  nicht  etwa,  vermeidet  aber  ausführ- 
lichere Besprechungen  derselben,  es  gibt  vielmehr 
dem  Leser  die  besten  Handhaben  dafür,  wie  er 
sich  selbst  verhalten  muß,  um  seinen  Körper  und 
Geist  gesund  zu  erhalten,  in  der  Jetztzeit  wahrlich 
für  jeden  Deutschen  eine  wichtige  Angelegenheit. 
Es  ist  dem  Werkchen  deswegen  eine  schnelle 
Verbreitung  zu  wünschen ;  viel  Nutzen  würde 
daraus  entspringen.  Der  Verf.  kehrt  mit  Bewußt- 
sein hervor,  daß  Gesundheit  nicht  bloß  der  Gegen- 
satz zu  Krankheit  sein  darf.  Er  sagt  in  der  Ein- 
leitung: „Es  war  mir  darum  zu  tun,  den  Begriff" 
des  Gesund-  und  Wohlseins  weiter  auszudehnen 
und  weniger  das  stete  ängstliche  Bedachtsein  auf 


Vermeidung  von  Schädlichkeiten  zu  betonen  als 
vielmehr  die  Gewinnung  eines  Standes  von  Ge- 
sundheit, der  erlaubt,  unbekümmert  und  froh  alles 
Gute  und  Schöne,  was  das  Leben  zu  bieten  ver- 
mag, auch  zu  genießen.  Grundlegend  dafür  ist 
eine  rechte  volle  Gesundheitsfreude,  und  die  er- 
wirbt man  insbesondere  durch  ein  ausreichendes 
Maß  kräftigender  und  abhärtender  Körperpflege." 
In  diesem  Sinne  behandelt  Verf.  die  Ernährung 
und  Genußmittel,  die  Luft  und  die  Pflege  der 
Atmungsorgane,  die  Funktion  und  Pflege  der  Haut, 
die  Kleidung,  die  Körperpflege  durch  Muskelübung 
und  Sport,  die  Hygiene  der  Arbeit  und  endlich 
die  Gefahren,  die  in  den  einzelnen  Lebensaltern 
Geist  und  Körper  drohen.  Gerade  das  letzte 
Kapitel  gibt  einen  guten  Abschluß  und  dürfte 
besonders  lehrreich  sein. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Thomas,  Karl,  Nahrung  und  Ernährung. 
Die  wichtigsten  Tatsachen  aus  der  Nahrungs- 
mittelkunde und  Ernährungslehre.  Zugleich  Er- 
läuterungsschrift zu  Rubners  Nahrungsmitteltafel 
für  Schulen  und  Haushaltungsschulen  und  für 
den  praktischen  Gebrauch.  IL  umgearbeitete 
Auflage.  Mit  einer  Tabelle  und  einer  Tafel. 
Leipzig  und  Berlin  1920,  B.  G.  Teubner. 
Die  erste  Auflage  dieses  62  Seiten  starken, 
für  weiteste  Kreise  bestimmte  Büchlein  war  schon 
vor  dem  Kriege  abgeschlossen.  Diese  Neuauflage 
baut  sich  auf  denselben  Grundsätzen  auf.  Die 
alten  Lehren  sind  in  ihren  Grundlagen  nach  der 
Auffassung  des  Autors  dieselben  geblieben;  der 
traurige  Zusammenbruch  unseres  Volkes  habe 
ihnen  recht  gegeben.  Wenn  auch  hierüber  nach 
der  Meinung  des  Referenten,  nämlich  was  den 
Nahrungsbedarf  des  Menschen,  d.  h.  den  Bedarf 
an  den  einzelnen  Bestandteilen  der  notwendigen 
Nahrung,  die  Diskussion  noch  nicht  ganz  abge- 
schlossen sein  dürfte,  so  kann  das  an  dem  Ge- 
samturteil des  Buches  nichts  ändern.  Es  über- 
trifft die  meisten  sich  mit  dem  gleichen  Thema 
beschäftigenden  allgemeinverständlichen  Schriften 
an  Gediegenheit  und  Gründlichkeit  ganz  bedeutend. 
Nach  einer  Einleitung  über  die  allgemeinen  der 
Schrift  zugrunde  liegenden  Begriffe  behandeln 
die  einzelnen  Kapitel  die  Nährstoffe  und  ihre  Um- 
arbeitung in  Stoffwechsel,  den  Energiewechsel,  die 
Wirkung  der  Nahrung  auf  den  Menschen.  Es  ist 
ein  gemeinverständliches  Lehrbuch  im  besten 
Sinne.  Alle  nur  irgendwie  in  Betracht  kommen- 
den Fragen  sind  erörtert.  Alles  ist  klar  und  jedem 
Gebildeten  verständlich  dargestellt.  So  wird  sich 
jeder  über  die  noch  immer  brennenden  und  noch 
sehr  lange  für  uns  so  wichtig  bleibenden  Er- 
nährungsfragen gründlich  unterrichten  können. 
Ganz  besonders  werden  diejenigen  das  Buch  mit 
Dank  begrüßen,  die  berufen  sind,  an  irgendeiner 
Stelle  über  Nahrung  und  Ernährung  gemeinver- 
ständlichen Unterricht  zu  erteilen.  Sie  werden 
schlechterdings  alles  finden,  was  sie  nur  wünschen 
können.      Daß   die   R  u  b  n  e  r  sehe   „Nährwerttafel 


472 


Naturwissenscliaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  32 


für  Schulen  und  Haushaltungsschulen"  beigegeben 
ist,  erhöht  noch  den  Wert  des  Buches,  kann  man 
doch  an  der  Hand  dieser  Tafel  und  der  beige- 
gebenen Erklärung  alle  Arten  von  Speisen  auf 
ihren  eigentlichen  Nährwert  genau  berechnen,  sei 
es  nun,  daß  man  nur  für  seine  eigene  Familie 
oder  für  sich  selbst  oder  daß  man  für  größere 
und  größte  Gemeinschaften  zu  sorgen  hat.  Bei- 
spiele, wie  man  eine  derartige  Berechnung  vor- 
nimmt, erleichtern  die  Handhabung.  —  Ein  so 
nützliches  Buch  wird  hoffentlich  eine  große  Ver- 
breitung finden.  Huebschmann  (Leipzig). 


Beck,  R.,  Über  Protothamnopteris  Bai- 
daufi  n.  sp.,  einen  neuen  verkieselten 
Farn  aus  dem  Chemnitzer  Rotliegen- 
den. Abh.  Math.  Phy.  Kl.  sächs.  Ak.  d.  Wiss. 
XXXVI,  Nr.  5,  S.  511—522,  2  Tafeln,  5  Fig. 
Leipzig  1920,  G.  B.  Teubner. 
Der  leider  im  vorigen  Jahr  so  plötzlich  ver- 
storbene, sonst  als  Erzlagerstättenforscher  sich 
einer  weiten  Berühmtheit  erfreuende  Verf,  hatte 
einige  Jahre  vor  seinem  Tode  seine  alte,  von 
A.  Schenk  übererbte  Vorliebe  für  die  fossilen 
Pflanzen  gewissermaßen  wieder  neu  geweckt,  und 
das  reiche  Material  der  sächsischen  F"undorte,  so- 
wohl an  Abdrücken,  als  an  echt  versteinerten 
Stücken  hätte  ihm  noch,  zumal  nach  dem  Tode 
Sterz  eis,  ein  reiches  Arbeitsfeld  geboten.  Leider 
ist  außer  einer  kleinen,  in  der  „Isis"  erschienenen 
Schrift  nur  die  vorliegende  als  Resultat  seiner 
Arbeiten  herausgekommen.  Verf.  beschreibt  in 
der  Arbeit  einen  trotz  äußerlich  großer  Schön- 
heit doch  im  einzelnen  leider  nicht  genügend  voll- 
kommen erhaltenen  verkieselten  Farnstamm  aus 
dem  als  Fundstätte  solcher  Petrefakte  berühmten 
Chemnitzer  Rotliegenden.  Es  handelt  sich  um 
ein  dort  einzigartiges  Stück,  dessen  Stammstruktur 
an  die  alten  permischen  Osmundaceenstämme 
(Thamnopteris)  erinnert,  die  Kidston  und  Gwynne- 
Vaughan  beschrieben  haben.  Die  Form  des  Blatt- 
stielbündelquerschnitts weicht  jedoch  von  der  der 
rezenten  und  fossilen  Osmunda-  (bzw.  Todea-) 
Stämme  ab,  indem  das  Leitbündel  nicht  die 
charakteristische ,  adaxial  -  konkave  Hufeisenform 
aufweist,  sondern  die  Form  einer  Linse  oder 
kleinen  Platte  zeigt.  Er  gehört  also  nicht,  worauf 
man  beim  Lesen  des  Namens  verfallen  möchte, 
zu  den  Osmundaceen,  sondern  zu  anderen  Farnen, 


der  etwas  vagen  Gruppe  der  „Priraofilices"  Arbers 
angehörig,  nach  Verf.  auch  nfcht  zu  Zygopterideen. 
Jedenfalls  zeigt  das  Fossil,  daß  im  Chemnitzer 
Rotliegenden  immer  noch  unbekannte  Formen 
verborgen  sind.  W.  Gothan. 


Kirchberger,  Paul,  Was  kann  man  ohne 
Mathematik  von  der  Relativitäts- 
theorie verstehen?  VIII  u.  87  S.  Karls- 
ruhe i.  B.  1920,  C.  F.  Müllersche  Hofbuchhand- 
lung. 
Die  kleine  Schrift  soll  den  Laien  in  die  Frage- 
stellung der  Relativitätstheorie  einführen,  ohne 
irgendwie  sich  auf  wissenschaftliche  Fachbildung 
zu  stützen.  Durch  Vergleiche,  Beispiele  gelingt 
es  dem  Verf.  in  humorvollem  Plauderton,  frei  von 
jeder  mathematischen  Entwicklung,  ausgezeichnet, 
die  Grundgedanken  der  Theorie  klar  zu  machen. 
Es  ist  richtig,  daß  es,  wie  Kirchberger  in 
seinem  Vorwort  schreibt,  vielen  Lesern  und  ge- 
rade denen,  an  die  der  Verf.  sich  wenden  möchte, 
nicht  so  sehr  auf  die  physikalischen  Folgerungen, 
auf  die  Gestalt  der  Lorentz-Transformation  an- 
kommt, „sondern  lediglich  auf  die  Grundgedanken, 
die  Relativierung  von  Raum  und  Zeit,  sowie  die 
Möglichkeit,  die  Theorie  an  Hand  der  Tatsachen 
nachzuprüfen".  Unter  den  vielen  „allgemeinver- 
ständlichen" Darstellungen  des  jetzt  so  oft  be- 
sprochenen Prinzips  gehört  das  Bändchen  zweifel- 
los zu  den  besten  und  am  leichtesten  verständ- 
lichen. 

Nach  einer  Einführung,  in  der  von  dem  kine- 
matischen und  dem  mechanischen  Relativitäts- 
prinzip die  Rede  ist,  behandelt  der  Verf.  auf  etwa 
40  Seiten  die  spezielle  Relativitätstheorie,  in  den 
folgenden  30  Seiten  das  allgemeine  Relativitäts- 
prinzip. 

Besonders  empfohlen  wird  das  Büchlein  durch 
ein  freundliches  Geleitwort  von  M.  v.  Laue. 

Valentiner. 


Literatur. 

Brandler-Pracht,  Karl,  Die  Sintflut  kommt  wieder. 
Berlin  '20,  Reform-Verlag. 

Dingler,  Dr.  Hugo,  Prof.  an  der  Univ.  München, 
Kritische  Bemerkungen  zu  den  Grundlagen  der  Relativitäts- 
theorie. Vortrag  gehalten  auf  der  86.  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  und  Ärzte.     Leipzig  '21,  S.  Hirzel.     3  M. 

Steinriede,  Dr.  Franz,  Anleitung  zur  mineralogischen 
Bodenanalyse.  2.  Auflage.  Leipzig  '21,  W.  Engelmann. 
Geb.  60  M. 


Inhalt:  Eduard  Zache,  Die  chemischen  Niederschläge  des  norddeutschen  Diluviums.  S.  457.  —  Einzelberichte: 
H.  Friedenthal,  Bildung  der  menschlichen  Geschlechtszellen.  S.  465.  J.  v.  Wettstein,  Künstliche  Parthenogenese 
bei  Vaucheria  und  die  geschlechtliche  Tendenz  ihrer  Keimzellen.  S.  467.  K.  Heß,  Der  Aufbau  der  Zellulose. 
S.  467.  —  Bücbetbesprecbungen:  S.  Oppenheim,  Das  astronomische  Weltbild  im  Wandel  der  Zeiten.  S.  469. 
J.  Klein,  Chemie.  S.  469.  B.  Peter,  Parallaxenbestimmungen  am  Repsoldschen  Heliometer  der  Leipziger  Sternwarte. 
S.  469.  K.  Hahn,  Grundriß  der  Physik  für  höhere  Lehranstalten  und  Fachschulen,  sowie  zum  Selbstunterricht.  S.  470. 
R.  Vater,  Technische  Wärmelehre.  S.  470.  C.  Oppenheimer,  Der  Mensch  als  Kraftmaschine.  S.  471.  F.  A.  Schmidt, 
Wie  erhalte  ich  Körper  und  Geist  gesund-  S.  471.  K.  Thomas,  Nahrung  und  Ernährung.  S.  471.  R,  Beck,  Über 
Protothamnopteris  Baldaufi  n.  sp.,  einen  neuen  verkieselten  Farn  aus  dem  Chemnitzer  Rotliegenden.  S.  472.  P.  Kirch- 
berger, Was  kann  man  ohne  Mathematik  von  der  Relativitätstheorie  verstehen?  S.  472.  —  Literatur:  Liste.  S.  472. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganten  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  14.  August  1921. 


Nummer  33» 


Zur  Biologie  unserer  einheimischen  Egel. 

Von  O.  Kuhn. 


[Nachdruck  verboten.] 

Fast  in  allen  stehenden  Gewässern  unserer 
Heimat  sind  Egel  in  mehr  oder  weniger  zahl- 
reichen Formen  stets  vorhanden  und  doch  exi- 
stieren über  die  im  einzelnen  außerordentlich  ver- 
schiedenartige und  darum  sehr  interessante  Lebens- 
weise dieser  Tiere  nur  ältere  und  zum  Teil  unge- 
naue Angaben.  So  erscheint  es  als  berechtigt 
und  notwendig,  die  vorliegenden  Untersuchungen 
nachzuprüfen  und  zu  erweitern.  Da  aber  natur- 
gemäß ein  abschließendes  Bild  nur  nach  jahre- 
langen Beobachtungen  und  genauester  Berück- 
sichtigung aller  einzelnen,  Abweichungen  von  der 
Regel  veranlassenden  Faktoren  zu  gewinnen  ist, 
so  kann  das  Folgende  keinen  Anspruch  auf  Voll- 
ständigkeit machen,  soll  vielmehr  nur  eine  Über- 
sicht über  die  Resultate  zahlreicher  Einzelbe- 
obachtungen sein  und  damit  eine  Grundlage  bilden 
für  weitere  Arbeiten  auf  diesem  Gebiet. 

Im  Gegensatz  zu  den  ebenfalls  in  unseren  Ge- 
wässern sehr  häufigen  trikladen  Turbellarien,  von 
denen  die  verschiedene  Arten  fliessendes  Wasser  vor- 
ziehen, wenn  nicht  überhaupt  beanspruchen,  gedeihen 
die  Egel  am  besten  in  Seen  oder  kleinen  Wasseran- 
sammlungen, sowie  deren  unmittelbaren  Zu-  und 
Abflüssen,  wenn  dieselben  kein  zu  starkes  Gefälle 
haben.  Es  hängt  dies  wohl  damit  zusammen, 
daß  diese  Tiere  einerseits  hier  reichlicher  Nahrung 
finden,  andererseits  zur  Ablage  ihrer  Kokons  und 
zur  Brutpflege  Wasserpflanzen  aufsuchen  und  nur 
im  Notfall  an  Steine  oder  dergleichen  gehen.  An- 
gaben über  ausschließliche  Verbreitung  irgend- 
welcher Arten  in  Gewässern  von  bestimmtem  Charak- 
ter lassen  sich  kaum  machen,  da  die  meisten  in  dieser 
Hinsicht  als  ziemlich  anspruchlos  zu  gelten  haben 
und  außerdem  recht  beweglich  und  wanderlustig 
sind.  Stets  ausschlaggebend  ist  natürlich  das  Vor- 
kommen der  betreffenden  Nahrungstiere. 

Was  zunächst  die  Fortbewegung  anbe- 
langt, so  kann  man  dabei  zwei  Typen  unterscheiden, 
von  denen  der  eine,  nämlich  das  Kriechen, 
allen  Egeln  zukommt.  Bei  den  Fischegeln  (Ich- 
thyobdelliden)  wird  der  hintere  Saugnapf  dicht 
hinter  dem  vorderen  aufgesetzt,  der  im  Quer- 
schnitt runde  Körper  ohne  besondere  Kontraktionen 
hoch  empor  gewölbt  und  beim  Vorsetzen  des 
Mundsaugnapfes  gerade  gestreckt;  Piscicola  z.  B. 
gewährt  so  ein  Bild,  das  an  die  Fortbewegung 
der  Spannerraupen  erinnert.  Profoclepsis  und 
andere  dagegen  dehnen  beim  Vorsetzen  des  Mund- 
saugnapfs ihren  Körper  in  der  Längsrichtung  und 
kontrahieren  denselben  beim  Nachziehen  des 
Hinterendes,  ohne  dabei  die  Bauchseite  von  der 
Unterlage    abzuheben.      Wieder    andere    Formen 


verbinden  diese  beiden  Prinzipien  der  Kürzung 
und  Verlängerung  des  Körpers  indem  sie  sich 
gleichzeitig  kontrahieren  und  nach  Art  der  Pisci- 
cola krümmen,  andererseits  mit  der  Streckung 
des  Körpers  sich  flach  der  Unterlage  anlegen.  Be- 
sonders Helobdclla  stagnalis  zeichnet  sich  in  dieser 
Hinsicht  aus  und  bringt  es  zu  einer  erstaunlichen 
Geschwindigkeit,  weshalb  sie  schon  von  Ph.  Fr. 
Braun  (1805)  als  „Läufer"  bezeichnet  wurde.  Die 
Ichthyobdelliden  und  Arrhynchobdelliden  bewegen 
sich  außerdem  noch  durch  Schwimmen  fort. 
Die  gewandtesten  Schwimmer,  die  Herpobdelliden, 
komprimieren  dabei  ihren  Körper  dorsoventral 
und  treiben  sich  durch  vertikale,  schlängelnde 
Bewegungen  vorwärts.  Auch  Piscicola  vermag 
ganz  gut  zu  schwimmen ;  die  beiden  Saugscheiben 
sind  dabei  flach  ausgespannt,  der  übrige  Körper 
verändert  jedoch  seine  Gestalt  nicht. 

In  bezug  auf  die  Ernährung  sind  unsere 
einheimischen  Egel  äußerst  anspruchslos.  Die 
meisten  Arten  nehmen  recht  selten,  häufig  nur 
einmal  im  Jahr  Nahrung  zu  sich,  die  dann  in  den 
Darmblindsäcken  aufbewahrt  für  lange  Zeit  aus- 
reicht. So  scheint  der  medizinische  Blutegel 
{IJirudo  ■medicinalis^  mehr  als  zwei  Jahre  ohne 
Nahrungsaufnahme  leben  zu  können.  Allerdings 
ist  dementsprechend  die  bei  einem  Saugakt  auf- 
genommene Menge  groß  und  das  Tier  nach  dem 
Saugen  ziemlich  steif  und  unbeweglich.  Zeitlich 
findet  die  Nahrungsaufnahme  im  allgemeinen  nur 
im  März  und  April  statt,  also  vor  der  Fort- 
pflanzungsperiode und  gelegentlich  nach  der  Ab- 
lage der  Eier  noch  einmal.  Hat  ein  Egel  ein 
Beutetier  gefunden,  so  heftet  er  sich  mit  dem 
Mundsaugnapf  an,  durchbohrt  die  Haut  des  Opfers 
mit  dem  Rüssel  bzw.  ritzt  sie  mit  den  Kiefern  an 
und  saugt  die  Körpersäfte,  gegebenenfalls  auch 
einzelne  Zellen  aus.  So  ernähren  sich  die  meisten 
unserer  Egel  als  temporäre  Parasiten  auf  Wirbel- 
losen oder  Wirbeltieren,  ohne  dabei  auf  bestimmte 
Gattungen  oder  Arten  angewiesen  zu  sein.  Die 
Glossosiphonien  und  Helobdclla  stagnalis  saugen 
an  Mollusken  und  Würmern,  ferner  werden  mit 
Vorliebe  frisch  abgelegte  und  daher  noch  weiche 
Herpobdellidenkokons  ausgesogen.  Piscicola  wird 
eine  Gefahr  für  den  Fischbestand,  sobald  er  in 
größeren  Mengen  auftritt;  auch  Hewiclepsis  geht 
an  Fische  und  Amphibien.  Profoclepsis  (esselata, 
eine  Form,  die  hinsichtlich  ihres  Baus  zahlreiche 
Besonderheiten  aufweist,  verhält  sich  auch  in  be- 
zug auf  ihre  Nahrungstiere  abweichend,  indem  sie 
offenbar  ausschließlich  vom  Blut  von  Wasservögeln 
lebt.     Der  medizinische  Blutegel,   der   in  Ungarn 


474 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  33 


zu  Hause  ist,  aber  auch  noch  in  einigen  Seen 
Deutschlands  sich  findet,  ändert  seine  Ernährungs- 
weise im  Laufe  der  Entwicklung;  die  jungen  Tiere 
saugen  an  Schnecken  und  dergleichen,  während 
die  Erwachsenen  auf  das  Blut  von  Warmblütern 
angewiesen  sind.  Ein  solcher  Wechsel  mag  auch 
bei  anderen  unserer  einheimischen  Egel  vorkom- 
men, doch  liegen  Angaben  darüber  noch  nicht 
vor.  Während  die  bisher  erwähnten  Formen  nur 
Blut  und  höchstens  einzelne  Zellen  aufnehmen, 
sind  die  Herpobdelliden  imstande,  wenigstens 
Würmer  und  andere  kleine  Wirbellose  restlos  auf- 
zusaugen. Ein  Verwandter  des  medizinischen  Blut- 
egels, der  Pferdeegel  [Haemopis  saiigiiisiiqa)  end- 
lich verschlingt  seine  Beute,  die  auch  aus  Wirbel- 
losen, wie  Regenwürmer  bis  zu  seiner  eigenen 
Körperlänge  besteht,  ungeteilt.  Die  wenigen 
stumpfen  Zähne  seiner  Kiefer  sind  im  Gegensatz 
zu  denen  von  Hinido  nicht  mehr  zum  Durch- 
schneiden der  Epidermis  größerer  Tiere  fähig. 

Am  meisten  unterscheiden  sich  die  einzelnen 
Gattungen  hinsichtlich  ihrer  Fortpflanzungs- 
biologie, so  daß  hier  besonders  interessante 
Verhältnisse  zu  erwarten  sind.  Für  Hcmidcpsis 
viargi)iata  wurde  sogar  Parthenogenese  angegeben 
(Whitman  1878);  demgegenüber  ist  jedoch  an- 
zunehmen, wie  auch  schon  von  anderer  Seite 
(Brumpt  1900)  geäußert  wurde,  daß  es  sich  in 
diesen  und  ähnlichen  Fällen  um  Selbstbefruchtung 
handelt,  da  ja  bekanntlich  die  Hirudineen  Zwitter 
sind,  und  Brumpt  bei  Zuchtversuchen  mit  iso- 
lierten Tieren  (Ileiiiidepsis  margi/ia/a,  Glossosi- 
phonia  complaiiata,  HelobdeUa  stagnalis,  Piscicola 
geomctra,  Herpobdella  atomaria  und  octoatlatd) 
keine  entwicklungsfähigen  Eier  erhielt.  Innerhalb 
mancher  Gattungen  (besonders  Glossosiphoitia  und 
Herpobdella)  sind  Bastardierungen  sehr  häufig, 
ihre  Bedeutung  für  die  Systematik  ist  jedoch  bis 
jetzt  noch  vollständig  unberücksichtigt  geblieben. 
Verhältnismäßig  einheitlich  ist  der  Bau  der 
primären  Geschlechtsorgane,  während  in  der  Ge- 
staltung ihrer  Ausführgänge,  besonders  in  der  Aus- 
bildung von  Begattungsorganen  erhebliche 
Verschiedenheiten  sich  bemerkbar  machen.  Die 
Geschlechtsöffnungen  liegen  stets  im  Vorderende 
des  Wurms  und  zwar  bei  Hacmopis  etwa  im  ersten 
Viertel,  die  weibliche  durch  vier  der  nicht  mit 
den  Segmenten  übereinstimmenden  Ringel  ge- 
trennt hinter  der  männlichen  im  7.  Segment.  In 
bezug  auf  die  Begattungsorgane  lassen  sich  zwei 
Gruppen  unterscheiden.  Die  eine  davon,  der  unter 
anderem  Hacmopis  sauguisiiga  angehört,  zeichnet 
sich  durch  den  Besitz  eines  muskulösen,  ausstülp- 
baren Penis  aus,  der  bei  der  Begattung  in  die 
Vagina  des  Partners  eingeführt  und  durch  den 
das  Sperma  unmittelbar  seinem  Bestimmungsort 
zugeleitet  wird.  Bei  der  Begattung  legen  sich 
die  Tiere  in  der  Regel  gleichsinnig  orientiert,  d.  h. 
beide  Kopfenden  nach  einer  Seite,  mit  ihren 
Ventralflächen  aneinander;  eine  bei  zahlreichen 
zwittrigen  Würmern  vorkommende  gegenseitige 
Begattung  kann  daher  nur  nacheinander  stattfinden, 


was  auch  leicht  zu  beobachten  ist.     Ganz  anders 
ist  der  Endteil  der  Leitungswege  des  männlichen 
Geschlechtsapparates  bei  der  zweiten  Gruppe  ge- 
baut, womit  auch  eine  andere  Art  der  Begattung 
in     Zusammenhang     steht.        Die     beiden     Vasa 
deferentia  bilden    hier   bei  ihrer  Vereinigung  eine 
zweihörnige    Erweiterung,    die    Spermatophoren- 
tasche,  die  durch  einen  kurzen  Kanal  nach  außen 
mündet.    Aus  dem  Sekret  zahlreicher  in  die  Tasche 
mündender  Drüsen  wird  eine  chitinähnliche  Sub- 
stanz   abgeschieden,     welche    das    Spermatophor 
bildet,    das  bei  den    einzelnen  Arten    wechselndes 
Aussehen  hat.    Bei  Profoclcpsis  ist  es  unscheinbar, 
plump,    enthält    zahlreiche  Röhren    und   wird  bei 
der  Kopulation    stets    an   die   Vagina    angeheftet, 
oft    sogar    ein    wenig    in    diese    hineingeschoben, 
stellt  also  eine  Art  Penis  dar,  nur  daß  dieser  nach 
jedem  Begattungsakt  neu  gebildet  wird.    Bei  Pis- 
cicola  wird    das  Spermatophor   ebenfalls  an  einer 
bestimmten  Stelle,  nämlich  in  unmittelbarer  Nähe 
der    Vagina    eingepflanzt,    während    es    bei    den 
Herpobdelliden  und  Glossosiphonien  an  beliebigen 
Stellen  des  ventralen  Teils  der  Clitellarregion  oder 
ihrer    engeren    Umgebung    gefunden    wird.      Das 
Anheften     des     Spermatophors     geschieht     unter 
heftigen    Kontraktionen    und    Drehungen    des   be- 
treffenden Tiers,    dann    wird    die   flüssige  Samen- 
masse   unter    allmählicher    Abnahme    dieser    Be- 
wegungen in  den  Körper  des  Partners  eingepumpt, 
wobei  auch  eine  Verquellung  der  Spermatophoren- 
wand  eine  gewisse  Rolle  spielen  mag  und  schließ- 
lich gehen  die  Tiere  steif  und  ohne  auf  Reize  zu 
reagieren  auseinander,    um  längere  Zeit  in  einem 
derartigen  Ruhestadium  zu  verbleiben.    Die  Hüllen 
fallen  ab  oder  werden  resorbiert,  die  Narben  sind 
noch  lange  sichtbar.     Die  Frage,  wie  die  Sperma- 
tozoen   aus  dem  Gewebe   zu  den  Eiern  gelangen, 
hat  Kowalewsky   an  Hclobdclla  algira   unter- 
sucht.    Dabei  konnte    er  feststellen,  daß  sie  durch 
aktive  Wanderung    in  die    ventralen  Lakunen   ge- 
langen   und    von    da    teils    durch    die    Wand   des 
Ovidukts  die  hier  passierenden  Eier  erreichen,  teils 
in  den  phagocytären  Organen    resorbiert  werden. 
Die    Ablage    der    Eier    erfolgt    bei    allen 
kleineren    Formen    in   der  Regel   sehr    bald    nach 
der    Begattung.      Bei    Hacmopis    dagegen    sollen 
zwischen    Begattung    und    Eiablage    I  ^/j    Monate 
liegen  und  von  Hinido  gibt  Ebrard  an,  daß  er 
noch  nach  6 — 9  Monaten   fruchtbare  Eier  hervor- 
bringe, die  nur   in  der  Zeit   von  Juli  bis  Oktober 
abgelegt    werden.      Sonst    ist   der   Zeitpunkt    der 
Begattung,    die   Dauer    der   Eireifung    und    damit 
auch    der    Termin    der    Eiablage    einerseits    vom 
Klima,    andererseits  von  der  Witterung  abhängig. 
In    hochgelegenen,     kalten    Gewässern     schreiten 
Formen,  die  sonst  mehrere  Generationen  im  Jahr 
hervorbringen,    erst    spät    zur    Fortpflanzung    und 
kommen  oft  kaum  zur  Ablage  eines  zweiten  Ge- 
leges, während  warmes  Wetter,  besonders  im  Früh- 
jahr, die  Tiere  früher  zur  Fortpflanzung  veranlaßt 
und    die   Eireifung    beschleunigt.      Glossosiplwnia 
complanafa    legt    nur   einmal   im  Jahr   und   zwar 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


475 


meist  schon  im  März  oder  April  ihre  Eier  ab. 
Hemiclepsis  margiiiata,  Glossosiplionia  liefcroclita 
und  Profodcpsis  tcssdafa  bringen  in  der  Zeit 
zwischen  April"  und  September  2—3  Gelege  her- 
vor. Helobddla  stagitalis  endlich  schreitet  in  der- 
selben Zeit  jeden  Monat  etwa  einmal  zur  Eiablage. 

Bei  allen  Egeln  werden  die  Eier  in  einem  von 
den  Hautdrüsen  des  Clitellums  hervorgebrachten 
Kokon  abgelegt,  der  bei  den  einzelnen  Gruppen 
eine  verschiedene  Beschaffenheit  zeigt.  So  ist  er 
bei  allen  Rüsselegeln  (Rhynchobdelliden)  mit  Aus- 
nahme der  Ichthyobdelliden,  nur  ein  dünnes,  durch- 
sichtiges und  gallertig  bleibendes  Häutchen,  das 
entweder  am  Körper  des  Muttertieres  befestigt 
{Glossosiplionia  Jietcrodita,  Ildobddla  sta^nalis) 
oder  an  Pflanzenteilen  angeheftet  wird  (Hemiclepsis 
ma)ginafa,  Glossosiplionia  complaiiata,  Protodepsis 
fesselata).  Das  Muttertier  bildet  durch  Hoch- 
wölbung des  Rückens  an  seiner  Bauchseite  eine 
seichte  Grube,  in  der  dann  die  in  den  Kokon  ge- 
hüllten Eier  Platz  haben.  Es  ist  im  ersten  Fall 
nur  wenig  beweglich,  bleibt  aber  auch  im  zweiten 
Fall  bis  zum  Ausschlüpfen  der  jungen  Tiere 
bei  Störung  hartnäckig  über  seinem  Gelege  sitzen. 
Nur  von  Zeit  zu  Zeit  wird  durch  undulierende 
Bewegung  des  ganzen  mit  dem  Endsaugnapf  fest- 
gehefteten Körpers  für  die  nötige  Zufuhr  von 
frischem,  sauerstoffreichem  Wasser  gesorgt.  Bei 
allen  diesen  Formen  sind  die  Eier  dotterreich,  die 
Embryonen  bekommen  also  ihr  Nährmaterial  im 
Ei  selbst  mit,  verlassen  infolgedessen  spät  die  Ei- 
hülle  und  nehmen  erst  spät  selbständig  Nahrung 
auf.  Piscicola  bildet  dotterarme  Eier,  legt  aber 
stets  nur  eines  mit  einer  bestimmten  Menge 
Dottersubstanz  zusammen  in  einem  Kokon  ab,  der 
an  untergetauchten  Pflanzenteilen  oder  Steinen  an- 
geheftet wird.  Auch  bei  den  Arrhynchobdelliden 
wird  das  Nähreiweiß  den  dotterarmen  Eizellen  in 
flüssiger  Form  in  dem  nach  der  Ablage  rasch  er- 
härtenden und  sich  bräunenden  Kokon  mitgegeben, 
doch  werden  hier  stets  mehrere,  bei  manchen  Arten 
sehr  viele  Eier  in  einem  Kokon  untergebracht. 
Fast  alle  unsere  einheimischen  Egel  legen  ihre 
Kokons  im  Wasser  ab  mit  Ausnahme  der  Gnathob- 
delliden,  die  zu  diesem  Zweck  ans  Land  gehen 
und  sich  im  Schlamm  oder  feuchter  Erde  ein- 
wühlen; ihre  Kokonhüllen  sind,  entsprechend  der 
größeren  Gefahr  auszutrocknen,  auch  von  besonders 
dicker  und  fester  Beschaffenheit. 

Die  Zahl  der  Eier,  ihre  Anordnung  im  Kokon 
und  die  Zahl  der  auf  einmal  abgelegten  Kokons 
ist  sowohl  bei  den  verschiedenen  Arten  als  auch 
innerhalb  einer  Art  sehr  verschieden.  Die  meisten 
Eier  scheint  Hemiclepsis  margiiiata  mit  bis  zu 
200  in  einem  Kokon  unterzubringen,  wobei  die- 
selben in  zwei  bis  drei  Lagen  übereinander  liegen. 
Die  größte  Kokonzahl  in  einer  Legeperiode  bringen 
Herpobdelliden  und  Protodepsis  tessdafa  hervor. 
Die  Larven  schlüpfen  bald  aus  der  Eihülle  und 
schwimmen  dann  in  der  Nährflüssigkeit  herum, 
wobei  sie  durch  schluckende  Bewegungen  diese 
zu  sich  nehmen. 


Entsprechend  der  verschiedenen  Ausbildung 
der  Eier  und  Kokons  ist  auch  die  Entwick- 
lungsgeschichte bei  den  einzelnen  Gruppen 
verschieden.  Die  Rüsselegel  außer  den  Fischegeln 
zeigen  eine  typische  direkte  Entwicklung  ohne 
Metamorphose.  Sie  erzeugen  wie  oben  erwähnt 
Eier,  die  reichlich  Nähreiweiß  enthalten.  Infolge- 
dessen erreichen  die  Jungen  noch  innerhalb  der 
Eischale  einen  hohen  Grad  der  Entwicklung  und 
durchbrechen  die  Eischale  und  kurz  darauf  die 
Kokonhülle  erst  spät,  etwa  am  sechsten  Tage  nach 
der  Eiablage,  worauf  sie  sich  mit  Hilfe  eines  schlei- 
migen Sekrets  mit  ihrem  Vorderende  an  der  Bauch- 
seite des  Muttertieres  festsetzen.  Ihre  Organisation 
ist  auf  diesem  Stadium  sehr  einfach :  Schlund-  und 
Hautmuskelschlauch  fehlen,  als  Nahrung  dient  der 
in  der  Darmhöhle  noch  reichlich  vorrätige  Dotter. 
Bei  Hemiclepsis  marginata  z.  B.  sind  erst  etwa 
sechs  Wochen  nach  der  Eiablage  alle  Organe  so- 
weit ausgebildet,  daß  jetzt  die  Festheftung  am 
Muttertier  mit  Hilfe  des  hinteren  Saugnapfes  er- 
folgen und  auch  aktiv  Nahrung  aufgenommen 
werden  kann.  Erst  nach  Erreichung  der  Ge- 
schlechtsreife verlassen  die  jungen  Tiere  ihre  Mutter. 
Die  Eier  von  Piscicola  sind  dotterarm  wie  die- 
jenigen der  Gnathobdelliden ;  dementsprechend 
stimmt  ihre  Entwicklungsgeschichte  mit  der  von 
Haeniopis  und  Hinido  überein.  Bei  diesen  findet 
sich  eine  komplizierte  Metamorphose,  indem  die 
Embryonen  früh  ausschlüpfen  und  bei  Haemopis 
5  Tage  nach  der  Ablage  des  Kokons  als  etwa 
0,4  mm  große,  rundliche  Larven  mit  trichter- 
förmiger Mundöffnung  im  Nähreiweiß  herum- 
schwimmen. Diese  Larven  wachsen  allmählich 
heran,  bilden  einen  Hautmuskelschlauch,  larvale 
Exkretionsorgane  und  einen  muskulösen  Pharynx 
aus,  durch  den  der  Darmhöhle  neues  Nähreiweiß 
zugeführt  wird.  Erst  nach  4 — 10  Wochen,  je  nach 
der  Temperatur,  sind  die  Larvenorgane  verschwun- 
den, die  definitiven  angelegt  und  der  junge  Egel 
verläßt  den  Kokon.  Dieselben  Verhältnisse  bis 
auf  geringe  Abweichung  im  Bau  der  Larve  finden 
sich  bei  den  Herpobdelliden. 

Zum  Schluß  wäre  noch  etwas  über  die  Lebens- 
d  a  u  e  r  zu  sagen.  Es  ist  verständlich,  daß  gerade 
hier  wenig  exakte  Angaben  vorliegen,  da  eine 
Beobachtung  in  der  Natur  kaum  möglich  ist,  und 
an  Aquariumstieren  gewonnene  Resultate  nicht 
ohne  weiteres  auf  die  freilebenden  übertragen 
werden  dürfen.  Die  kleineren  Arten  werden  im 
allgemeinen  wohl  kaum  mehr  als  ein  bis  zwei 
Jahre  alt  werden.  Andere  scheinen  recht  lange 
zu  leben,  so  wird  von  Korscheit  das  Alter  des 
medizinischen  Blutegels,  der  ja  auch  erst  im  vierten 
oder  fünften  Jahr  geschlechtsreif  wird,  auf  20 — 27 
Jahre  geschätzt. 

Zitierte  Literatur. 

Bergh,  R.  S.,  Über  die  Metamorphose  von  Nephelis. 
Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.    Bd.  41,  1885. 

— ,  — ,  Die  Metamorphose  von  Aulostoma  gulo.  Arbeiten 
aus  d.  zool.  Institut  Würzburg.     Bd.  VII,   1885. 

Brandes,    G.,     Die    Ilirudineen    in    Leuckart;     Die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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tierischen  Parasiten  des  Menschen.  2.  Aufl.,  Bd.  I.^,  1869 
bis   1901. 

Braun,  Joh.  Ph.  Fr.,  Systematische  Beschreibung 
einiger  Egelarten,  sowohl  nach  ihren  äußeren  Kennzeichen  als 
nach  ihrem  inneren  Bau.     Berlin   1805. 

Brurapt,  E.,  Reproduction  des  Hirudinees.  Recherches 
experimentelles  sur  la  fecondation.  Bull,  de  la  soc.  de 
France  XXV,   1900. 

Bürger,  O.,  Weitere  Beiträge  zur  Entwicklungsgeschichte 
der  Hirudineen,     Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.     Bd.   72,   1902. 

Ebrard,  Nouvelle  monographie  des  Sangsues  raedicales. 
Paris   1857. 

Johansson, Die  Hirudineen  in  Brauer:  Süßwasserfauna 
Deutschlands.     Bd.   13.      1909. 


Moquin-Tandon,  Monographie  de  la  famille  des 
Hirudinees.     2.  edit.     Paris   1846, 

Sukatschoff,  B.,  Beiträge  zur  Entwicklungsgeschichte 
der  Hirudineen.     Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.    'Bd.  73,   1903. 

Whitman,  Ch.  O.,  The  embryologie  of  Clepsine. 
Quart.  Journ.  Micr.  sc.  vol.   18.      187S. 

— ,  — ,  Spermatophors  as  a  mean  of  hypodermic  impri- 
gnation.     Journ.  of  morph.     vol.  IV.     Boston   1891. 

Ein  voUstädiges  Literaturverzeichnis  findet  sich  in  meiner 
Bearbeitung  der  Hirudineen  in:  Beiträge  zur  Naturdenkmal- 
pflege herhausgegeben  von  Geh.  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Con- 
wentz.  Band  VIII:  Das  Naturschutzgebiet  am  Federsee  in 
Württemberg,     Verlag  von  Bornträger,  Berlin. 


Gedanken  über 


[Nachdruck  verbotep.] 

Immer  klarer  wird 
die  der  Historiker  stolz  „Weltgeschichte"  nennt 
und  bis  ins  vierte  Jahrtausend  v.  Chr.  zurück  ver- 
folgen kann,  nur  die  letzten  Ausklänge  von  Be- 
wegungen sind,  die  seit  der  Menschwerdung  — 
d.  h.  seit  mehreren  hunderttausend  Jahren  —  die 
Ausbreitung    des   Menschengeschlechts    über    die 


die  Entwicklung  der  menschlichen  Kultur  und  die  Ausbreitung 
des  Menschengeschlechts.  *) 

Von  Dr.  K.  Olbricht-Breslau. 
Mit  3  Abbildungen. 

es,  daß  die  Erscheinungen,     die  Erdoberfläche   in   zwei    sehr  verschiedenartige 

Faunengebiete.    Südlich  derselben  überwiegen  die 
altertümlichen     meist    schon    vor    dem    mittleren 
Tertiär    entstandenen    Formen,     wie    Beuteltiere, 
Kloakentiere,  Großreptilien,  altertümliche  Insekten- 
fresser, Faultiere,  Gürteltiere,  Schuppentiere,  Dick- 
häuter und  Tapire;    das  ist  die  Alterde,    deren 
Formen  in  Australien  und  den 
Südspitzen     von     Afrika    und 
Amerika    am    altertümlichsten 
sind.     Die  Nordkontinente  bil- 
den   die    Neu  erde    mit    der 
Fülle  der  jüngeren  Säugetiere, 
die  vielfach  erst  im  Eiszeitalter 
und   Pliozän  entstanden.     Daß 
aber    auch    die    Neuerde    in 
früheren     Zeiten     von 
altertümlichen    Formen 
bewohnt  wurde,   lehrt  die 
Paläontologie,    die    zeigt,    daß 
Tiergruppen,    die    heute    weit 
nach    Süden    verschoben    sind 

—  wie  Tapire  und  Beuteltiere 

—  noch  in  der  Tertiär-  und 
Kreidezeit  in  Europa  und  Nord- 
amerika lebten. 

Zweifellos  ist  die  Nord- 
halbkugel  mit  ihren  aus- 
gedehnten Landmassen 
das  Entstehungszentrum  der  Säugetiere, 
die  in  immer  größerer  Artenfülle  sich  hier  ent- 
wickelten und  altertümliche  Formen  nach  Süden 
verschoben.  Nicht  der  warme  Süden,  sondern 
der  gemäßigte  Norden  scheint  der  Entwicklung 
—  wie  die  Säugetierfunde  des  Tertiärs  in  Europa 
und  Nordamerika  zeigen  —  günstiger  gewesen 
zu  sein,  während  in  der  Tropenzone  die 
altertümlichen  Formen  persistieren. 
Besonders  die  mittlere  gemäßigte  Zone 
gleich  ab  von  der  Erstarrung  des  Lebens 
unter  der  Länge  des  polaren  Winters, 
wie    von     der    Erschlaffung     unter    dem 


— —  Nordgrenze  derAlferde 
+  +  Pnmifive  J^sek^enfresse^ 


O  BiPuHer  u. Zahnarme 

•  BeuHer  allein 

®  BeuHer  u-Kloakenhere 
Erdoberfläche  veranlaßten,  und  die  offenbar  ganz 
ähnlichen  Gesetzmäßigkeiten  folgen,  wie  sie  seit 
dem  Beginn  der  Tertiärzeit  —  d.  h.  seit  mehreren 
Millionen  von  Jahren  —  die  Verbreitung  der 
Säugetiere  über  die  Erde  bedingten. 

Dies    lehrt     ein    kurzer    Vergleich    der    Ver- 
breitung beider. 

Die  Nordgrenze   der   Zahnarmen    teilt 


')  Mit  dieser  Überschrift  will  ich  lediglich  zum  Ausdruck 
bringen,  daß  ich  bei  den  Druckschwierigkeiten  schon  jetzt  in 
dieser  Form  einige  vorläufige  Ergebnisse  von  Arbeiten  bringen 
möchte,  deren  Abschluß  erst  in  mehreren  Jahren  zu  erwarten 
ist,  deren  VerüflTentlichung  mir  aber  zeitgemäfi  erscheint. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Treibhausklima  der  an  Nahrung  über- 
reichen Tropen  scheint  die  biologischen 
Prozesse,  die  das  Leben  der  Säuger  be- 
dingen, ammeisten  gefördert  zu  haben. 

Bei  den  Menschenrassen  unterscheiden  wir  heute 
drei  verschieden  hoch  entwickelte  Schichten.  Die 
älteste  umfaßt  die  protomorphen  Rassen 
(Australier,  Papua,  Vedda,  Ainu,  Buschmänner 
und  Hottentotten),  eine  mittlere  Schicht  die  Neger 
und  dunkelhäutigen  Völker  Südasiens  (Drawida 
und  Verwandte),  eine  obere  die  Vertreter  weißen 
und  gelben  Rasse  (Europäer  und  Mongolen). 

Die  Verbreitung  dieser  drei 
Schichten  zeigt  dasselbe  Bild 
wie  die  der  Säuger.  Die  Süd- 
spitzen der  Kontinente  be- 
wohnen —  mit  Ausnahme 
Amerikas,  das  wahr- 
scheinlich erstvonAsien 
aus  von  Menschen  be- 
siedelt wurde  —  die  pro- 
tomorphen Rassen ,  den  Rest 
der  Alterde  die  mittlere  Schicht, 
die  Neuerde  die  Oberschicht. 
Aber  nicht  nur  dies.  Es  läßt 
sich  auch  nachweisen,  daß 
Menschentypen,  die  den  pro- 
tomorphen Rassen  in  der  Kul- 
tur durchaus  ähneln,  ja  so- 
gar noch  primitiver  sind,  noch 
während  der  Eiszeit  in  Europa 
lebten  und  erst  später  hier  aus- 
starben. Was  liegt  näher,  als 
auf  Grund  dieser  mehr  als  auffal- 
lenden Übereinstimmungen  zu 
schließen,  daß  auch  der  Mensch 
in  der  gemäßigten  Zone  entstand  und  nicht  dort, 
wo  noch  heute  niedere  Menschenrassen  verharren. 
Für  einen  logisch  denkenden  Natur- 
forscher kann  ein  Gebiet,  in  dem  noch 
heute  die  primitiven  Formen  persi- 
stieren und  höhere  entarten  (Hindu)  un- 
möglich zugleich  ein  Entwicklungs- 
zentrum höherer  Formen  sein. 

Schon  aus  der  Verbreitung  der  Menschenrassen, 
die  sich  zonenartig  um  Mitteleuropa  als  Mittel- 
punkt anordnen,  könnte  man  schließen,  daß  dieses 
das  große  Entwicklungszentrum  gewesen  ist,  das 
wellenartig  im  Laufe  der  Zeit  die  einzelnen 
Menschentypen  abstieß,  die  sich  dann  naturgemäß 
in  Anpassung  an  neue  Wohngebiete  und  weiter 
differenzierten.  Ein  zweiter  Mittelpunkt  scheint 
Hochasien  gewesen  zu  sein,  das  in  jüngerer  Zeit 
die  verschiedenen  Wellen  der  Mongolen  aussandte. 
Was  sagt  zu  diesen  Erwägungen  die  Vorgeschichte  ? 

Diluvialgeologie  und  Vorgeschichte, 
eng  miteinander  verknüpft,  sind  beide 
einstens  berufen,  die  Frage  nach  dem  Warum 
und  Wie  der  Menschwerdung  zu  beantworten. 
Wie  die  Diluvialgeologie  lehrt  (vgl.  meinen  Auf- 
satz: Der  Verlauf  des  Eiszeitalters  in  Nordeuropa 
Naturw.  Wochenschr.  Heft   20,    1920)   haben   wir 


es  wohl  mit  mindestens  vier  größeren  Vereisungen 
zu  tun,  deren  periglaziale  Löße,  insofern  be- 
sonders wichtig  und,  als  sie  in  Europa  (und  sonst 
nirgends  1)  an  zwei  zahlreichen  Stellen  Reste  des  Ur- 
menschen und  seiner  Kultur  liefern.  Von  diesen 
Lößen  mag  der  der  ersten  Vereisung  entsprechende 
vor  etwa  450000—430000  Jahren,  der  der  zweiten 
entsprechende  vor  370000 — 300  000,  der  folgende 
(obere  Abteilung  des  älteren  Löß)  vor  180000 
bis  150000  Jahren  sich  gebildet  haben.  Der 
Würmlöß  (jüngerer  Löß)  entstand  etwa  vor 
40  000  bis  50  000  Jahren,  der  Bühllöß  (jüngster  Löß, 


weisse  Rasse 
E.Schichf    ■■::;;■  blonde  Haare 
•••  blaueAugen 
E.  Schicht  //  Neger  u.  Dravida 


I.Schichf 


Gelbe  Rasse 
Kurzkopf  i.  verschied.Gnedt 
Mongolenfalte  am  Auge 
Malaienwanderungcn 


'  Prolomorphe  Rassen  lohneTöpfereiJ 

Floltlehm)  vor  etwa  30000.  Das  sind  rohe  An- 
näherungszahlen, die  aber  einen  Einblick  in 
die  Länge  der  Zeiten  geben,  mit  denen  wir  es  zu 
tun  haben. 

Als  Eolithikum  bezeichnet  man  eigenartig 
gestaltete  Feuersteine ,  die  möglicherweise 
dem  Menschen  als  Werkzeuge  gedient  haben 
können ,  deren  Entstehung  aber  auch  auf  natür- 
liche Weise  erklärt  werden  kann.  Zweifellos  als 
menschliche  Artefakte  zu  betrachten  sind  aber 
erst  die  vielfach  intensiv  braunrot  patinierten  meist 
rundlich  gestalteten  Fäustel  des  Chelleen,  Acheu- 
leen^)  und  Mousterien(Al  tpaläolithikum  oder 
Faustkeilkultur).  Eine  höhere  Stufe  verraten 
schon  die  zierlichen  Klingen  des  Jungpalä- 
ojl  i  t  h  i  k  u  m  s  (K  1  i  n  g  e  n  k  u  1 1  u  r).  Diesen  fehlt 
die  häufig  das  Ältpaläolithikum  charakterisierende 
Patina  und  in  immer  höherem  Umfange  werden 
die  Klingen  durch  meist  aus  Renntierhorn  herge- 
stellten Pfeilspitzen  und  Harpunen  vertreten ;  ein 
Zeichen,   daß   der  Mensch   schon  den  Fernkampf 


')  Derart  patiniert  sind  auch  die  meisten  Funde  von 
Markkleeberg,  die  —  soweit  sich  die  Sachlage  an  Ort  und 
Stelle  noch  übersehen  läßt  —  auf  einer  Oberfläche  gelegen 
haben  müssen,  die  in  der  Mindelriflzwischeneiszeit  verwitterte. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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erlernt  hat.  Dazu  kommt  eine  Fülle  von  Höhlen- 
malereien, die  nicht  nur  darauf  hinweisen,  daß 
der  Mensch  sich  zeltartige  Wohnungen  baute, 
Seile  drehte  und  primitive  Gewänder  anfertigte, 
sondern  auch  schon  Spuren  von  Religion  (Toten- 
bestattung und  Maskentänze)  aufwies.  Je  nach 
der  Vervollkommnung  sprechen  wir  von  Aurig- 
nacien,  Solutreen  und  Magdalenien,  die 
zusammen  nach  den  meist  aus  Renntiergeweihen 
angefertigten  Waffen  auch  als  Tarandien  (Ebur- 
neen)  bezeichnet  werden. 

Allmählich  geht  das  Jungpaläolithikum  in  das 
Mesolithikum  über.  Das  Ren  verschwindet 
und  die  Waffen  werden  aus  Hirschhorn  ange- 
fertigt. An  den  Küsten  entstehen  die  großen 
Abfallhaufen  der  Kjökkenmöddinger.  Plumpe 
Tongefaße,  schriftartig  bemalte  Kiesel  (Azilien), 
Hund  und  Torfschwein  als  Haustiere  deuten  eine 
Höherentwicklung  an,  wofür  auch  an  den  Spitzen 
geschliffene  Beile  sprechen. 

Völhger  Schliff  und  Durchbohrung  der  Stein- 
beile verbunden  mit  hochentwickelter  Töpferei, 
Anlage  von  Wohngruben  und  kunstvoll  erbauten 
Blockhäusern  (Pfahlbauten)  ist  das  Kennzeichen 
des  Neolithikums,  in  dem  der  Mensch  aus 
Gräsern  das  Getreide  züchtet,  einen  primitiven 
Pflug  erfindet,  Obst  veredelt  und  als  wichtigste 
Haustiere  Rind  und  Pferd  zähmt.  Auch  der 
Gebrauch  des  Feuers  macht  große  Fortschritte, 
so  daß  gegen  Ende  des  Neolithikums,  das  in  die 
beiden  Perioden  der  Band-  und  Schnur- 
keramik zerfällt,  in  immer  größerem  Umfange 
Bronzegeräte  auftreten.  Diese  überwiegen  in  der 
nur  ein  kurzes  Übergangsstadium  darstellenden 
Bronzezeit  um  bald  vom  Eisen  abgelöst  zu 
werden.  Das  ist  die  Eisenzeit,  deren  jüngsten 
Abschnitten  die  bergbauliche  Gewinnung  der 
Kohle  und  die  Erfindung  des  Eisenbetons,  der 
Dampfmaschine  und  der  Elektrizität  ihren  Stempel 
aufdrücken.  Durch  Erfindung  des  eisernen  Pfluges 
wird  der  Ackerbau  gewaltig  gesteigert  und  eiserne 
Werkzeuge  ermöglichen  erst  das  Benutzen  von 
Stein  und  Lehm  (Ziegel)  als  Baumaterial,  wobei 
in  holzreichen  Ländern  die  ältesten  Steinbauten 
den  Holzbauten  nachgeahmt  wird  (griechischer 
Tempel  nach  Sarasin). 

Wie  weit  das  Eolithikum  im  Tertiär  zurück- 
reicht, entzieht  sich  noch  völlig  unserer  Kenntnis 
und  wird  wohl  auch  kaum  je  mit  Sicherheit  ent- 
schieden werden  können.  Wahrscheinlich  fallt  es 
auch  in  die  beiden  älteren  Vereisungen  (Günz  und 
Mindel),  so  daß  es  mindestens  200000  Jahre  um- 
fassen dürfte. 

In  die  warme  Mindel-Rißzwischeneiszeit  mit 
ihrer  intensiven  Verwitterung  fallen  die  mit  einer 
warmen  Fauna  verbundenen  Kulturen  des  C  h  e  1  - 
leen  und  Altacheuleen,  während  dasjung- 
acheuleen*)  in  Lößen  der  Rißeiszeit  gefunden 
wird.     Das  mit  einer  warmen  Fauna  verbundene 


Altmousterien  fallt  anscheinend  in  die  Riß- 
würminterglazialzeit,  während  der  jüngere  Löß 
(Würmlöß)  der  Fundplatz  des  Jungmousterien, 
S o  1  u t r e n  und  Aurignacien  ist.  Falls  sich 
diese  mit  den  Lößfunden  am  besten  übereinstim- 
mende Parallelisierung  richtig  erweist,  umfaßt  das 
Altpaläolithikum  annähernd  150 000  Jahre.  In  den 
jüngeren  Abschnitten  der  Würmvereisung  und  der 
Bühlzeit  blüht  dann  das  Jungpaläolithikum, 
das  mit  dem  Magdalenien  schon  ins  Postglazial 
reicht  und  etwa  20000  Jahre  umfassen  dürfte.  Die 
hier  erkennbare  Beschleunigung  der  Kul- 
turentwicklung vergrößert  sich  noch  in  der 
Folgezeit,  so  daß  Mesolithikum,  Neolithikum  und 
Metallzeit  nur  noch  je  3  bis  4  Jahrtausende  um- 
fassen. 

Die  hier  angegebenen  Werte  gelten  jedoch 
nur  für  Europa,  wo  allein  das  Paläolithi- 
kum  in  sicher  erwiesener  diluvialer 
Lagerstätte  vorkommt.  In  den  übrigen  Erd- 
teilen ist  es  anscheinend  überall  erst  postglazial  ^) 
und  in  der  Kultur  der  protomorphen  Rassen  per- 
sistiert noch  heute  in  Australien,  Ceylon,  Jesso 
und  Südafrika  eine  mehr  und  mehr  im  Aussterben 
begriffene  Kultur,  die  in  manchen  Einzelheiten 
(keine  Töpferei,  primitive  windschirmartige  Hütten, 
Felsenmalereien)  stark  an  das  europäische  Palä- 
olithikum  erinnert,  so  daß  die  Frage  unbedingt 
aufgeworfen  werden  muß,  ob  es  sich  hier  nicht 
um  die  am  weitesten  von  Europa  weg 
verschobenen  letzten  lokal  umgeform- 
ten Reste  der  Paläolithkultur  handelt. 
Auch  für  die  dann  notwendigen  Wanderungen  fin- 
den wir  Anhaltspunkte  in  den  zahlreichen  Höhlen- 
malereien des  Dekhan  und  der  Sahara;  der  Nach- 
weis (Weule)  von  der  Buschmannkultur  eigen- 
tümlichen Steinringen  in  Ostafrika  ist  dann  von 
größter  Bedeutung  als  weiteres  Bindeglied. 

In  eigenartigem  Lichte  erscheint  uns  auch  die 
Kultur  mancher  Melanesier  und  ihren  plumpen 
Tongeräten,  der  Vorliebe  für  Maskentänze,  die 
den  Darstellungen  in  europäischen  Höhlen  auf- 
fallend gleichen  und  dem  Schwein  als  Haustier. 
Vielleicht  erweist  sie  sich  in  Zukunft  einmal  als 
der  letzte  Rest  der  mesolithischen  Völkerwelle. 
Daß  diese  einstens  auch  in  Mittelafrika  (südliches 
Kongobecken)  vorhanden  war,  später  aber  ganz 
in  der  Negerkultur  aufging,  scheint  die  Gleichheit 
der  Bögen  einiger  Negerstämme  mit  denen  der 
Melanesier  anzudeuten  (Weule).-) 

Ein  großer  Teil  der  Mongolen  (Indianer,  Es- 
kimo, Malaien),  sowie  Neger  und  Drawida  würde 
dann  der   neolithischen  Welle    entsprechen,   doch 


•)  An  dieses  schließt  H  a  u  s  e  r  als  neue  interglaziale 
Kultur  des  Micoquien,  dessen  Selbständigkeit  aber  die 
Mehrzahl  der  Forscher  noch  bestreitet. 


')  Auch  für  die  in  verkitteten  Schottern  vorkommenden 
Fäustel  am  Sambesifall  läßt  sich  ein  diluviales  Alter  nicht 
zwingend  erweisen,  zumal  in  der  Tropenzone  die  Verkit- 
tung viel  schneller  vor  sich  geht,  als  in  gemäßigten  Klimaten. 
Außerordentlich  wichtig  ist  die  Mitteilung  Blankenhorns, 
daß  in  Ägypten  das  Chelleen  sehr  jung  ist  und  erst  gegen 
Ende  der  Eiszeit  auf  der  jüngsten  Nilterasse  —  die  mit  Wurm 
zu  parallelisieren  ist  —  erscheint. 

*)  Das  erinnert  an  die  disjunktive  Verbreitung 
mancher  Tiere  (Tapir), 


N.  F.  XX.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


479 


bedarf  es  noch  zahlreicher  Vorarbeiten,  um  das 
Ausmaß  dieser  genauer  zu  begrenzen  und  die 
Forschung  wird  dadurch  erschwert,  daß  z.  T. 
durch  den  schon  seit  frühesten  geschichtlichen 
Zeiten  einsetzenden  Einfluß  des  Handels  eiserne 
Werkzeuge  und  Waffen  sich  weit  auch  über  Kul- 
turen von  neolithischem  Gepräge  verbreitet  haben. 
Auch  ein  eingehenderes  Studium  verglei- 
chender Keramik  dürfte  auf  viele  dieser 
Fragen  noch  Licht  werfen,  desgleichen  die  Ver- 
breitung der  Maskentänze,  die  am  Ende  des 
Jungpaläolithikums  entstanden,  aber  sicher  noch 
bis  weit  ins  Neolithikum  hineingereicht  haben,  da 
sie  bei  einem  großen  Teil  der  Neger  und  Indianer, 
die  auch  auf  der  dem  Ackerbau  (Pflugwirtschaft) 
vorausgegangenen  Stufe  des  Hackbaues  (E.  Hahn) 
stehen  geblieben  sind,  noch  heute  vorkommen. 

Den  Beginn  derMenschwerdung  müssen 
wir  in  das  Ende  der  Tertiärzeit  setzen.  Da- 
mals differenzierten  sich  aus  einem  uns  noch  un- 
bekannten, einem  Gibbon  nicht  unähnlichen  Wesen 
die  Hominiden  und  Anthropoiden,  welche 
letztere  in  den  Urwäldern  der  Tropenzone  mit 
ihrer  Überfülle  zu  den  bekannten  baumbewohnen- 
den „Karrikaturen  des  Menschen"  herabsanken. 

Wenn  dabei  zwischen  einzelnen  Hominiden 
und  Anthropoiden  im  Skelett  Ähnlichkeiten  auf- 
treten (Gorilla-Neger,  Orang -Europäer -Australier, 
Gibbon-Mongole),  so  ist  dies  nicht  mit  Klarheit 
ein  Beweis  für  eine  Vielstämmigkeit  der  Mensch- 
heit,^) wogegen  eine  Fülle  anderer  Erscheinungen 
spricht  (Haut-  und  Haarforschungen  von  Fritsch), 
wie  die  Fähigkeit  der  Bastardbildung  zwischen 
den  verschiedensten  Menschenrassen,  sondern  Folge 
einer  Konvergenz  bedingt  durch  ähnliche 
Wohngebiete.  Lehren  doch  gerade  die  anthro- 
pologischen Untersuchungen  der  nordamerikani- 
schen Einwanderer,  daß  diese  schon  nach  wenigen 
Generationen  „indianerähnlich"  werden,  d.  h.  das  die 
Neue  Welt  (und  schließlich  jeder  größere  Land- 
raum) sich  eine  eigene  Rasse  bildet. 

Nachdem  der  Fit  hekan  th  rop  us  durch  ein- 
wandfreie Forschung  als  ein  gibbonähnlicher  An- 
thropoide, wenn  auch  mit  ungemein  großer 
Schädelkapsel  festgestellt  ist,  muß  als  unbedingt 
ältester  sicherer  Hominide  des  Homo  heidel- 
bergensis  betrachtet  werden,  wenngleich  er 
nach  neueren  Untersuchungen  seines  Zahnbaus 
nicht  mehr  als  direkter  Vorfahre  der  höheren 
Menschentypen  angesehen  werden  darf. 

Seine  Lagerung  zusammen  mit  einer  warmen 
tertiäre  Anklänge  aufweisenden  Fauna,  in 
Kiesen,  die  von  mindestens  drei  verschiedenen 
Lößen  überlagert  werden,  sowie  die  Überdeckung 
mit  manganeisenhaltiger  Kruste  stellen  ihn 
spätestens  in  die  Mindel- Rißzwischeneiszeit,  also 
in  dieselbe  Zeit  wie  das  Chelleen,  falls  er  nicht 
noch  eine  Eiszeit  älter  ist. 


')  Welchen  Unfug  diese  Lehre  anstiften  kann,  zeigen  die 
pbantastiscbea  Gedankensprünge  eines  Maurus  Horst,  die 
zweifellos  auf  manchen  Nichtfachmann  faszinierend  wirken 
werden. 


Im  Übrigen  ist  der  Träger  der  Faustkeilkultur 
der  Neanderthalmensch  mit  seinem  massigen 
Schädel,  an  dem  besonders  die  Kleinheit  der  Hirn- 
kapsel im  Gegensatz  zu  den  stark  entwickelten 
Kiefern  auffällt.  Nach  den  Forschungen  von 
K 1  a  a  t  s  c  h  liegt  in  ihm  einSammeltypus^)  vor, 
dessen  Bau  Eigentümlichkeiten  zahlreicher  heute 
differenzierter  Rassen  wie  der  Australier,  Neger, 
Mongolen  und  Europäer  in  sich  vereint.  Wie  wir 
schon  sahen,  war  die  diluviale  Faustkeilkultur 
über  den  größten  Teil  Europas  verbreitet  und  es 
mehren  sich  die  Anzeichen,  daß  ihr  Träger  auch 
im  Norden  in  Gebieten  gelebt  hat,  über  die  sich 
später  das  Eis  der  Würmvereisung  ergoß  (Funde 
am  Kaiser  Wilhelmkanal,  bei  Berlin,  in  der  Lüne- 
burger Heide).  Einige  Funde  deuten  sogar  darauf 
hin,  daß  der  Mensch  auf  einer  damals  noch  vor- 
handenen Landbrücke  zusammen  mit  anderen  dilu- 
vialen Säugern  nach  dem  östlichen  Nordamerika 
auswanderte  und  sich  dort  einige  Zeit  hielt,  um 
später  auszusterben,  bis  daß  von  Asien  her  eine 
Neubesiedlung  erfolgte. 

Die  Faustkeilkultur  hielt  sich  bis  in  den  Höhe- 
punkt der  Würmvereisung.  Unter  gewaltigen 
Kämpfen  (Funde  von  Krapina)  wird  der  Neander- 
thaler  von  der  neuen  zierlicheren  Aurignac- 
rasse^)  ausgerottet,  die  an  Australier  und  Euro- 
päer anklingt.  Wahrscheinlich  entwickelte  sie 
sich  während  der  letzten  Zwischeneiszeit  in  dem 
nordöstlichen  Europa,  um  dann  mit  dem  Vor- 
rücken des  Würmeises  nach  Süden  verschoben  zu 
werden.  Der  Aurignacmensch  ist  der  Träger  der 
Klingenkultur,  die  wir  schon-  schilderten.  In 
folge  der  zunehmenden  Zerkleinerung  der  Nahrung 
mit  Werkzeugen  (Forschungen  von  A  ich  ho  ff) 
ist  der  Unterkiefer  im  Schattenriß  schon  auf  1 8  "/, 
des  Schädels  heruntergegangen  (26  Heidelberger, 
24  Neanderthaler,  16  Australier,  14,6  Europäer) 
und  das  sich  ausbildende  Kinn  zeigtden 
Beginn  der  Lautsprache. 

Nicht  zum  wenigsten  die  Verbesserungen  der 
Jagdmethoden,  zu  denen  später  das  Züchten  von 
Haustieren  und  die  Erfindung  des  Ackerbaus 
kommt,  und  vielleicht  auch  die  Abnahme  der 
Menschenfresserei  (Funde  von  Krapina)  bewirken 
eine  starke  Zunahme  der  Zahl  der  Menschen 
und  dies  äußert  sich  in  der  gewaltigen  Aus- 
dehnung der  Kultur  gegen  Ende  des  Eis- 
zeitalters von  Europa  über  die  Nachbargebiete 
Afrikas  und  Asiens.  Vielfach  scheinen  sich  am 
Außen  rande  der  Klingenkultur  ^)  auch 
die  letzten  Reste  der  Faustkeilkultur  erhalten  zu 
haben,  was  ihr  gleichzeitiges  Vorkommen  in  einem 
großen  Teile  Vorderasiens  beweist  (Baier).     Noch 

')  Klaatsch:  Die  Fortschritte  der  Lehre  vom  Neander- 
thalrasse  (Ergebnisse  der  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte, 
XVII.  Band,  S,  461). 

-)  Teilweise  vermischten  sich  aber  auch  beide  Rassen 
(Predmost). 

')  DaJ3  nach  Klaatsch  (Klaatsch  und  Heilborn  S.  367) 
die  Dolche  der  Klingenkultur  von  Predmost  ,, verblüffend"  an 
die  Kasuardolche  der  Papua  erinnern,  ist  wohl  mehr  als  ein 
„Zufall". 


48ö 


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läßt  sich  die  Frage,  ob  der  Bleichungsprozeß, 
der  eine  rosighelle  Haut,  sowie  das  depigmen- 
tierte blaue  Auge  und  das  blonde  Haar  schuf  und 
möglicherweise  mit  der  Eiszeit  in  Zuaammen- 
hang  steht,  schon  beim  Aurignacmensch  einge- 
setzt hat,  nicht  einwandfrei  beantworten.  Wäre 
es  so,  müßte  man  die  heute  dunkelhäutigen 
Menschenrassen  als  später  nachpigmentiert  an- 
sehen ,  wofür  manche  Erscheinungen  sprechen 
(Hellhäutigkeit  der  Neger  kurz  nach  der  Geburt). 
Andere  Forscher  wiederum  (Schieferdekker) 
wollen  aus  der  Vorliebe  der  Jungpaläolithiker  für 
hellen  Muschelschmuck  auf  eine  dunkle  Hautfarbe 
schließen. 

Daß  es  keine  unüberwindlichen  Schwierigkeiten 
kostet,  in  den  noch  lebenden  protomorphen  Rassen 
die  an  die  äußersten  Enden  der  Fest- 
länder verdrängten  Jungpaläolithiker 
zu  sehen,  erwähnte  ich  schon.  Von  diesen  haben 
die  Australier,  Vedda  und  Aino  große  Ähnlich- 
keit mit  dem  Aurignacmenschen,  während  der 
Buschmann  und  Hottentotte  wohl  durch  einseitige 
Weiterentwicklung  und  Anpassung  ihr  heutiges 
Aussehen  erhielten,  wobei  die  negroiden  Merkmale 
andeuten,  daß  damals  schon  Vorgänge  wirksam 
waren,  die  später  bei  der  Rasse  der  Neger  schärfer 
ausgeprägt  wurden,  während  die  mongoloiden 
Merkmale  eine  Konvergenz  zu  den  Mongolen  (An- 
passung an  Steppen?)  bedeuten,  aber  sicher  keine 
nähere  Verwandschaft. 

Zahlreiche  Reststämme  im  Süden  Vorder- 
indiens, in  Indonesien  (Negritos)  und  Innerafrika 
(Pygmäen)  sind  wohl  in  einsame  Waldgebiete 
verdrängte  und  dort  rückentwickelte  Kümmer- 
formen') der  protomorphen  Welle.  Dieser  ge- 
hören auch  die  Papua  und  ein  Teil  der  Melanesier 
an,  deren  Kultur  schon  auf  eine  geringere  Höher- 
entwicklung (Reste  der  Mesolithiker  ?)  hinweist. 
Die  höherstehenden  Vertreter  der  pigmentierten 
die  Alterde  bewohnenden  Menschen  sind  zweifel- 
los die  Neger  und  die  zahlreichen  in  Südasien 
wohnenden  dunkelfarbigen  Stämme,  die  der 
Sammelnamen  Dravida  umfaßt  und  die  (Rest- 
völker und  geschichtliche  Nachweise)  ursprünglich 
ganz  Indien  und  Südchina  besiedelten.  Daß  sie 
äußerlich  nicht  so  einheitlich  auftreten  wie  die 
Neger,  liegt  einmal  in  der  starken  Zerrissenheit 
Südasiens  und  Indonesiens,  sodann  in  der  stär- 
keren Vermischung  mit  jüngeren  Eindringlingen 
(Hindu  und  Malaien)  von  der  Neuerde  her. 

Nach  ihrem  Kulturgehalt  (Hackbau  und  Töpfe- 
rei) sind  Neger  und  Drawida  wahrschein - 
Hch  Vertreter  der  neolithischen  Welle. 
Während  aber  die  Drawida  welliges  schlichtes 
Haar,  starke  Körperbehaarung  und  starken  Bart- 
wuchs mit  der  Entwicklungsreihe,  die  vom  Austra- 
lier zum  Eurpäer  führt,  verbindet,  haben  sich  die 
Neger    durch  Anpassung    offenbar   an   die  großen 

')  Darauf,  daß  ein  Heraustreten  aus  dem  Walde  in  die 
Steppe  ein  Höherentwickcln,  ein  Zurückgehen  in  den  Wald 
ein  Tiefersinken  auch  für  die  Säugetiere  bedeutet,  weist  Hilz- 
h  eimer  hin. 


Wald-  und  Savannengebiete  Afrikas  einseitig  weiter- 
entwickelt, die  Körperbehaarung  und  den  Bart- 
wuchs stark  eingebüßt,  sowie  im  Bau  des  Körpers, 
vor  allem  aber  der  Kieferregion  Wege  einge- 
schlagen, die  viel  früher  zum  Gorilla  führten. 

Zweifellos  eine  Höherentwicklung  stellen,  was 
vor  allem  die  Geräumigkeit  der  Schädel- 
höhle und  das  Hirngewicht*)  angibt,  die 
weiße  und  gelbe  Rasse  dar,  die  typischen  depig- 
mentierten Formen  der  Neuerde,  die  auch  allein 
Völker  höherer  Kultur  lieferten.  Bei  der  unge- 
mein starken  Rassenmischung,  die  in- 
folge zahlreicher  sich  häufig  kreuzender  Wande- 
rungen das  Menschenchaos  der  Neuerde  geschaffen 
hat,  sehen  wir  noch  in  vielen  Einzelheiten  unklar 
und  es  gilt  erst  einmal,  reine  Rassen  von 
Mischrassen  zu  trennen.  Nehmen  wir  als 
Merkmal  der  weißen  Rasse  das  Vorkommen  des 
blauen  Auges,  so  umfaßt  sie  bis  auf  die  jüngeren 
mongolischen  Einwanderer  (Restvölker  der  Magy- 
aren, Einen  und  Lappen)  alle  Völker  Europas  und 
zerfällt  somit  in  einen  südlichen  brünetten  Typus 
mit  mäßig  pigmentierter  Haut  und  einen  nörd- 
lichen blonden  Typus  mit  heller  Haut.  Fassen 
wir  aber  den  Begriff  enger  und  schließen  Rund- 
köpfe aus,  so  bleibt  nur  der  um  das  Ostseegebiet 
siedelnde  Teil  der  Germanen  über  und  der  größte 
Teil  der  Bevölkerung  Europas  muß  als  Mischrasse 
betrachtet  werden,  da  der  Aurignacmensch  ein 
ausgesprochener  Langkopf  war. 

Diese  Mischformen  müssen  wir  unbedingt  auf 
Vermengungen  mit  mongolischem  Blute  zurück- 
führen, da  der  ausgesprochene  kurze  Kopf  das 
wichtigste  Merkmal  dieser  Rasse  ist,  die  zudem 
durch  mehr  oder  weniger  gelbe  Hautfarbe,  straffe 
dunkele  Haare,  vorspringende  Backenknochen,  ein 
schief  gestelltes  Auge  (Mongolenfalte)  gekenn- 
zeichnet wird  und  im  Zurücktreten  der  Körper- 
behaarung und  des  Bartwuchses  eine  ähnliche 
einseitige  Verbildung  andeutet,  wie  der  Neger. 
Nur  mußte  diese  anders  erfolgen,  da  der 
Mongole  der  Mensch  der  Steppen  ist 
und  im  wüstenbedeckten  Hochasien 
seine  Rassenmerkmale  uns  am  schärf- 
sten entgegentreten   (vgl.   die  Rassenkarte). 

Wir  werden  wohl  annehmen  dürfen,  daß  der 
Mongole  sich  aus  den  östlichen  Zweigen  der  vom 
Aurignacmenschen  aus  sich  weiter  entwickelnden 
Neolithiker  herausspezialisiert  hat  und  daß  die  am 
längsten  in  Hochasien  siedelnden  Stämme  die 
mongolischen  Merkmale  (gelb  Anpassung  an 
Steppen  ?)  am  reinsten  entwickelten,  während  die 
schon  frühzeitig  auswandernden  sie  weniger  deut- 
lich aufweisen  und  vielfach  wieder  pigmentierten 
(Indianer).  Fassen  wir  eine  gelbliche  Hautfarbe 
als  Rassenmerkmal  der  Mongolen  auf,  gehören  zu 
ihr  auch  alle  amerikanischen  Stämme,  die  auch 
das  straffe  Haar  und  vielfach  die  vorspringenden 
Backenknochen  aufweisen,    nehmen  wir  die  Mon- 


*)  Dieses  beträgt  im  Durchschnitt  für  die  Europäer  1335  g, 
für  die  Chinesen  1332,  Malaien  und  Indianer  je  1266,  Hindu 
1253,  Neger  1244,  Australier  1185. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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golenfalte  hinzu,  beschränkt  sich  die  Rasse  auf 
Asien  und  einige  scheinbar  unregelmäßig  über 
ganz  Amerika  verbreitete  Stämme. 

Trotz  der  jetzt  gerade  häufig  (Weule)  ver- 
tretenen Ansicht,  daß  der  Amerikaner  eine 
selbständige  Rasse  darstellt,  die  auf  diluvialen 
heute  ausgestorbenen  Urrassen  wurzelt  (vielleicht 
veranlaßt  durch  die  als  irrtümlich  erkannten  For- 
schungen Ameghinos,  aus  unzulänglichem  Ma- 
terial einen  diluvialen  Pampamenschen  zu  rekon- 
struieren), wird  wohl  ihre  Ableitung  von  Mongo- 
loiden  immer  wahrscheinlicher.  Nur  handelt  es 
sich  um  Mongolen,  die  nur  kurze  (relativ  1)  Zeit 
im  Isolationsgebiet  Hochasien  lebten,  schon  die 
gelbe  Hautfarbe  erhielten  und  später  durch  An- 
passung an  die  Neue  Welt  z.  T.  umgestaltet 
wurden,  vor  allem  nachpigmentierten,  so  die  braun- 
rote Farbe  bekommend.  Einen  ähnlichen  sich 
frühzeitig  nachpigmentierenden  Zweig  der  mon- 
golischen Rasse  stellten  auch  die  Malaien  dar, 
die  dazu  stark  mit  dunkelfarbigen  Urvölkern  ge- 
kreuzt wurden  und  sich,  begünstigt  durch  Wind 
und  Strömung,  über  ganz  Indonesien,  Polynesien 
ausdehnten,  bis  Madagaskar  und  Neuseeland  ge- 
langend. Auch  die  Chinesen  und  Japaner  ^) 
scheinen  stark  mit  dunkelfarbigen  Urvölkern  ge- 
kreuzt zu  sein. 

Bevor  wir  auf  die  Wanderungen  der  Mongolen 
eingehen,  müssen  wir  noch  etwas  bei  der  Bevöl- 
kerung Europas  verweilen. 

Hier  entwickelten  sich  allmählich  im  Ostsee- 
gebiet und  in  den  großen  östlichen  Steppen- 
gebieten die  Rassenmerkmale,  die  den  Indo- 
germanen  auszeichnen  und  indogermanische 
nach  Süden  und  Südosten  gerichtete  Wanderungen 
beherrschen  das  ganze  Neolithikum,  wobei  ich 
schon  in  meinem  Eiszeitaufsatz  andeutete,  daß 
d<  Gründe  hierfür  wohl  teilweise  in  Klimaver- 
schlechterungen zu  suchen  sind,  die  diese  Acker- 
bau treibenden  Stämme  zeitweise  zum  Auswandern 
zwangen.  Eine  starke  Indogermanenaus- 
wanderung  setzt  gegen  Ende  des  Neo- 
lithikums ein  und  dauert  auch  in  der  Bronze- 
zeit fort.  Durch  sie  gelangen  (vgl.  Karte)  die 
Arier  um  2000  v.  Chr.  nach  Indien  und  zahlreiche 
andere  blonde  Restvölker  zeigen  im  Verein  mit 
der  Megalithkultur  diese  Völkerwelle  an, 
bei  der  jedoch  die  äußersten  Vorposten  durch 
Rassenmischung  und  klimatische  Anpassung  ziem- 
lich entarteten  und  ihre  somatischen  Merkmale 
verloren. 

Trotzdem  die  Arier  sich  anfangs  in  Indien 
durch  das  Kastenwesen  gegen  Vermischung  und 
fiintartung  zu  schützen  suchten,  gelang  ihnen  das 
nicht  und  aus  dem  ehemaligen  Herrenvolke  wur- 


')  Es  ist  wohl  auch  kein  Zufall,  daß  der  Südosten  Asiens, 
dessen  Kultur  eigenartig  barock  (Bauten,  Schrift,  Sitten)  ist 
und  seit  Jahrtausenden  auf  gleicher  Höhe  verharrt,  auch  in 
seinen  Säugern  und  Pflanzen  altertümliche  Züge  zeigt,  weit  ab- 
gelegen von  den  Zonen  stürmischer  Entwicklung  und  Um- 
formung. 


den  die  erschlafften  stark  mit  Drawidablut  durch- 
setzten Hindu. 

Daß  die  mit  lichten  Wäldern  und  Steppen 
bedeckten  Landstriche  des  mittleren  und  östlichen 
Europa  die  Urheimat  der  Indogermanen  sind,  ist 
das  Ergebnis  der  siedlungsarchäologischen 
Arbeiten  Kossinnas  und  seiner  Seh  üler, 
die  sich  durchaus  mit  den  Ergebnissen  richtig 
gedeuteter  Philologenarbeit  (Schrader, 
Mach,  Peucka)  decken  und  indirekt  durch 
die  wellenförmige  Anordnung  der  Menschentypen 
um  Mitteleuropa  als  Zentrum  bewiesen  werden. 
Hier  war  auch  Gelegenheit  geboten  aus  Gräsern 
Getreide  zu  veredeln  und  durch  Züchten  der 
Rinder  als  Zugtiere  den  Hackbau  zu  der  höheren 
Pflugkultur  (Hahn)  zu  erheben.  Jedoch  scheinen 
die  Indogermanen  zur  Steinzeit  noch  nicht  ganz 
Europa  besiedelt  zu  haben,  sondern  im  Süden  und 
Westen  saßen  andere  Stämme,  die  vielfach  als 
„Mittelmeerrasse"  bezeichnet  werden  und  über  die 
wir  noch  nicht  klar  sehen. 

Wie  aus  der  weißen  Rasse  die  Indogermanen, 
so  heben  sich  aus  diesen  als  höchstentwickelte 
Typen  die  Germanen  heraus,  deren  allmähliches 
Herausquellen  aus  dem  südlichen  Schweden  und 
dem  südlichen  Küstengebiet  der  Ostsee  die  von 
Kos  sin  na  aufgebaute  Siedlungsarchäologie  klar 
erkennen  läßt.  Die  letzten  Wellen  dieser  Ger- 
manenexpansion, die  in  die  schon  erwähnte  nach- 
christliche Zeit  der  Klimaverschlechterung  (Moor- 
leichenforschungen von  Hahne)  fallen,  haben  wir 
wohl  in  der  Völkerwanderung  zu  suchen,  in 
der  Germanenscharen  ganz  Europa  und  die  Atlas- 
länder überfluteten,  das  Römerreich  vernichteten 
und  zu  gleicher  Zeit  die  seefahrenden  Normannen 
alle  europäischen  Meere  durchsegelten. 

Im  westlichen  Asien  und  südlichen  Europa 
schlugen  die  von  Europa  ausgehenden  Indo- 
germanenwellen  mit  denen  zusammen,  die  aus 
Hochasien  periodisch  Mongolenstämme  abstießen 
und  die  noch  im  Mittelalter  weit  nach  Westen 
sich  ergossen  als  Wanderstraße  die  steppenreichen 
Flachlandschaften  Rußlands  (goldene  Horde,  Mon- 
golenschlucht bei  Liegnitz)  und  den  Donauweg- 
(Lechfeld,  Restvolk  der  Magyaren  in  Ungarns 
Steppen)  benutzend,  hier  bis  Mittelfrankreich 
dringend  (katalaunische  Ebene).  So  entsteht 
wahrscheinlich  in  uns  in  den  Einzelheiten  noch 
unklaren  Zusammenhängen  die  große  Mischbevöl- 
kerung im  südlichen  und  östlichen  Europa  (man 
denke  an  den  Ausspruch  Napoleons  „Kratze  am 
Russen  und  es  kommt  der  Tatar  zum  Vorschein" 
und  an  die  mongolischen  Züge  der  Großrussen), 
die  je  nach  dem  Alter  der  Mischung  ihr  mongo- 
lisches Blut  (Kurzköpfe  1)  mehr  oder  weniger  deut- 
lich zeigt. 

In  Vorderasien  und  Nordostafrika  kam  zu 
diesem  Zusammenprallen  der  Völkerwellen  noch 
ein  anderes  Moment.  Wasserreiche  Flüsse  durch- 
strömen regenarme  Gebiete,  die  hundertfältigen 
Ertrag  geben,  wenn  man  die  Flüsse  zu  Kanälen 
abzweigt  und   mit  diesen   das  Land  berieselt,  an 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  33 


geeigneten  Stellen  Dämme  bauend.  Das  ist  aber 
nur  möglich,  wenn  nomadisierende  Stämme  seß- 
haft werden  und  sich  zu  größeren  Verbänden  zu- 
sammenschließen. So  veranlaßt  diese  Beriese- 
lungskultur (Richthofen)  Bildung  von 
Staaten  und  in  Ägypten,  Babylonien  und  Assyrien 
treten  solche  uns  zuerst  in  großem  Umfange  ent- 
gegen. Staatenbildung  zwingt  zum  Bau  von 
Städten,  Ackerbau,  Tempelbau,  Wetterbeobachtung, 
Zeitbestimmung  (Astronomie)  und  Erfindung  der 
Schrift  sind  nur  Folgeerscheinungen.  Phöniziens 
Küsten  vermitteln  den  Verkehr  zwischen  Vorder- 
asien und  dem  Westen;  das  zentral  im  östlichen 
Mittelmeerbecken  gelegene  Kreta  wird  ein  großes 
Handelsemporium,  von  dem  die  Kultur  auch  nach 
Griechenland  und  Etrurien  herübergreift  (ägäische 
Kultur).  Im  Laufe  des  Altertums  verschiebt  sich 
die  Kultur  von  Asien  westwärts  über  Griechen- 
land   nach  Rom,    da    die   westlichen  Völker    mit 


ihrem  stärker  indogermanischen  Einschlag  offenbar 
kräftiger  sind  und  im  Mittelalter  sehen  wir  ihr 
Weiterwandern  nach  dem  mittleren  und  nörd- 
lichen Europa,  von  dem  aus  der  Europäer  nach 
Sperrung  der  Landwege  von  Europa  nach  Indien 
durch  die  Türken  (Eroberung  Konstantinopels) 
den  Seeweg  nach  Indien  auffindet  und  die  Er- 
oberung und  Kolonisierung  des  größten  Teiles  der 
Erde  beginnt  (Neuzeit). 

In  großem  Umfange  entstehen  unter  seinem 
Einflüsse,  besonders  in  der  Neuen  Welt,  Misch- 
rassen (Mestizen,  Mulatten,  Zambos),  die  in  Süd- 
amerika den  größten  Teil  der  Bevölkerung  aus- 
machen. Es  schwindet  der  Rassenbegriff 
und  an  seine  Stelle  tritt  der  durch 
Sprache  gekennzeichneteNationalitäts- 
begriff.  War  die  Menschheit  früher  ein- 
mal in  Rassen  einzuteilen,  so  werden 
wir  sie  in  Zukunft  in  Nationen  ein- 
teilen müssen  und  bei  jeder  Rasseneinteilung 
bleiben  schon  heute  mehr  oder  weniger  große 
Restbestände  über,  die  dieser  von  körperlichen 
Merkmalen  ausgehenden  Einteilung  trotzen. 

Mehrere  Natio  ne  n  oderVölker  durch 
eine  gewisse  Einheit  des  Wohngebietes 


auch  kulturell  und  sprachlich  einander 
genähert,  bilden  dann  Völkergruppen 
(Germanen,  Romanen,  Slaven),  wobei  z.  B.  die 
Romanen  aus  dem  Teil  der  Bevölkerung  Europas 
entstanden,  der  längere  Zeit  unter  dem  Kultur- 
einflusse des  Römischen  Weltreiches  gestanden  hat. 
Zum  ersten  Male  scheint  sich  durch  Rassen- 
vermischung  auf  einheitlichem  Kultur- 
boden eine  solche  Völkergruppe  im  Bereiche 
der  altorientalischen  Kultur  entwickelt  zu  haben, 
das  sind  die  Semiten,  die  sich  später  durch 
Wanderungen  auch  über  den  ganzen  Norden  Afrikas 
ausdehnten,  dann  Mischung  mit  Negern  ihre  häu- 
figen negroiden  Einschläge  (wulstige  Lippen)  er- 
hielten und  an  den  Berührungsflächen  mit  den 
Negern  als  Mischrasse  zweitenGrades  die 
Hamiten  erzeugten,  die  sich,  das  Niltal  als 
Wanderschaft  benutzend,  schon  heute  in  Ostafrika 
weit  nach  Süden  vorgeschoben  haben. 

Während  also  in  der  Alt- 
erde mehr  oder  weniger  in- 
folge der  Abschließung 
der  Stämme  gegenein- 
ander die  Rassen  per- 
sistieren, setzt  auf  der  Neu- 
erde in  immer  größerem  Um- 
fang der  Vermischungs- 
prozeß ein,  der  die  Menschen 
zu  Völker  und  Völkergruppen 
zusammenschließt,  die  sich  we- 
niger durch  Körperbau,  als 
durch  Kultur  und  Sprache 
unterscheiden. 

Aber  die  Mischung  bedeutet 
—  wie  ja  auch  die  geschlecht- 
liche F'ortpflanzung  in  der  Na- 
tur—  zugleich  eine  Blutauf- 
frischung, die  nicht  wenig  zum  Kulturaufstiege 
beiträgt,  sofern  sie  unter  gleich  hochstehenden  In- 
dividuen erfolgt.  Insofern  wird  das  Verbrechen  an 
der  Kultur  Europas,  das  verblendete  Staatsmänner 
Englands  und  Frankreichs  begangen  haben,  indem 
sie  unfähig,  die  deutschen  Heere  allein  zu  bekämpfen, 
schwarze  und  gelbe  Hilfstruppen  nach  Europa 
holten  „zur  Vernichtung  der  Barbaren",  bald  ge- 
nug in  den  Kolonialgebieten  beider  Staaten  von 
selbst  rächen. 

Ein  besonderes  Kennzeichen  der  neuzeitlichen 
Kultur  ist  die  Zusammenhäufung  der  Bevölkerung 
in  großen  Städten. 

Wenden  wir  auf  diese  die  statistische 
Methode  an,  so  erkennen  wir,  daß  die  Gebiete 
stärkster  Städtebildung  —  vielfach  unabhängig 
von  Bodenschätzen  —  auf  zwei  großen,  die  mittlere 
gemäßigte  Zone  dem  Äquator  parallel  durch- 
querenden Linien  (vgl.  Karte)  liegen,  die  ich 
Optimalen  genannt  habe,  weil  auf  ihnen  offen- 
bar die  menschliche  Kultur  ihr  Optimum  erreicht. 
Daß  im  Bereiche  dieser  Optimalen  auch  die 
Fundpunkte  der  ältesten  Säugetiere  und  der  ältesten 
Menschen  liegen,  ist  wohl  mehr  als  ein  Zufall, 
sondern  ist  wohl  die  Folge  der  schon  zu  Anfang 


N.  F.  XX.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


483 


dieser  Zeilen  erwähnten,  uns  z.  Z.  noch  unklaren 
biologischen  Verhältnisse. 

Überblicken  wir  das  bisher  Vorgetragene, 
das  mehr  Probleme  aufstellen  als  sie 
mangels  Tatsachenmaterials  lösen  soll. 
Es  zeigt  immerhin,  daß  auch  bei  dem  großen 
Problem  der  Ausdehnung  des  Menschengeschlechts 
die  geringen  bisher  gemachten  Fortschritte 
viel  weniger  dem  iVIangel  an  Tatsachen 
—  deren  es  schon  genug  gibt  —  sondern  dem 
Vorhandensein  großer  Vorurteile  vor 
allem  von  selten  der  Historiker  alten  Schlages 
zuzuschreiben  sind. 

Die  bemerkenswerte  Rolle,  die  aber  unser 
Heimatboden  bei  diesen  Bewegungen  spielt,  soll 
uns  auch  guten  Mutes  machen,  daß  unser  Volk 
nicht  verloren  ist,  sondern  auch  in  Zukunft  bei 
der  beginnenden  Neuordnung  der  Welt  dazu  be- 
rufen ist,  tätig  mitzuwirken. 

Sagt  doch  ein  Franzose  nicht  zu  Unrecht :  „E  s 
ist  offenbar  die  Aufgabe  des  Deutsch- 
tums,  die  Ideenretorte   der  Menschheit 


zu  sein 


Literatur. 


Simroth,  Die  Pendulationstheorie  (Leipzig  1907,  Nach- 
tragheft 1914).  Für  alle  Zukunft  eine  Fundgrube  für  den  Tier- 
geographen, auch  wenn  der  Grundgedanke  (Polverschiebungen 
stehen  in  Widerspruch  mit  den  Eiszeitforschungen)  abgelehnt 
werden  muß. 

Klaatsch-Heilborn,  Der  Werdegang  der  Mensch- 
heit und  die  Entstehung  der  Kultur  (1920). 

Schuchhardt,  Alt  Europa  (1920). 

Hauser,  Urmensch  und  Wilder  (1921). 


Hahn,  E.,  Von  der  Hacke  zum  Pflug  (Wissenschaft  und 
Bildung   1914). 

Wcule,  Atlas  der  Völkerkunde  (Leipzig   1914). 

Montelius,  Europa  als  Urheimat  der  Arier  (Umschau 
igzi). 

Dazu  eine  Fülle  von  Einzelaufsätzen,  namentlich  in  den 
Fachzeitschriften  (Zeitschr.  f.  Ethnologie,  Prähistorische  Zeit- 
schrift, Archiv  für  Anthropologie  und  Mannus).  In  letzterem 
veröffentlicht  namentlich  Kossinna,  der  unermüdliche  Vor- 
kämpfer für  die  Entwicklung  der  Indogermanen  in  Mittel- 
europa, seine  temperamentvollen  Arbeiten,  die  bei  weniger 
aggressiver  Form  zweifelsohne  der  von  ihm  vertretenen  Idee 
mehr  nützen  würden. 

Im  Prometheus  (Heft  6,  1921)  entwickelt  Karl  Sajo 
seine  Gedanken  „Über  die  Urstätten  der  Entwicklung  der 
Lebensformen".  Die  auf  die  Entwicklung  der  Menschheit  be- 
züglichen Ausführungen  müssen  trotz  interessanter  Anregungen 
abgelehnt  werden,  da  sie  nach  den  geologischen  Tatsachen 
mehrfach  in  direktem  Widerspruch  stehen  und  in  bedenklichem 
Umfange  mit  erst  in  jüngsten  Zeiten  versunkenen  Festländern 
arbeiten. 

Den  Abdruck  der  drei  Kärtchen  verdanke  ich  dem  liebens- 
würdigen Entgegenkommen  meines  Verlegers,  Herrn  Georg 
Hirt  Reger  in  Leipzig.  Ich  entnahm  sie  meinem  „Erdkund- 
lichen Lehrstoff"  (1921),  in  dem  ich  namentlich  die  Opti- 
malenberechnung  (S.  54)  und  die  Verbreitung  der  Säuger 
(S.  39  usw.)  eingehender  entwickelt  habe. 

Im  übrigen  verweise  ich  noch  auf  meinen  Aufsatz  „Die 
Dauer  der  Eiszeit"  (Naturw.  Wochenschr.  1921,  Nr.  15)  mit 
genaueren  Zahlenangaben. 

Nach  Abschluß  dieser  Zeilen  (Juli  1921)  erschien  der  von 
Blankenhorn  bearbeitete  Band  der  regionalen  Geologie 
über  Ägypten.  Blankenhorn  weist  daraufhin,  daß  in 
einer  Hauptvereisung  mächtige  Schotter  abgelagert  wurden, 
die  in  einer  folgenden  Zwischeneiszeit  z.  T.  abgetragen  wurden 
und  unter  Wüslenklima  verwitterten.  Zwei  niedrige  Terassen 
entsprechen  der  Riß-  und  Würmeiszeit.  Erst  mit  Abschluß 
der  Eiszeit  erscheint  das  Chelleen  gegenüber  Mitteleuropa 
stark  verspätet. 


Bücherbesprechungen. 


Born,  Max,  Die  Relativitätstheorie  Ein- 
steins und  ihre  physikalischen  Grund- 
lagen. Gemeinverständlich  dargestellt.  Mit 
129  Textabb.  und  einem  Portrait  Einsteins. 
X  u.  242  S.  Berlin  1920,  Julius  Springer. 
Dieses  bedeutende,  eigenartige  Buch  bietet 
eigentlich  nicht  weniger  als  eine  allgemeinver- 
ständliche Darstellung  der  ganzen  Grundlagen  der 
Physik  und  ihrer  theoretischen  Behandlung,  im 
besonderen  eine  Darstellung  der  Anschauungen 
über  Raum  und  Zeit,  in  denen  sich  das  Problem 
der  Relativität  aller  Bewegung  entwickelt  hat. 
Insofern  besonderes  Gewicht  auf  die  eingehende 
Erörterung  dieser  Grundlagen  mit  philo- 
sophischem und  historischem  Einschlag  gelegt 
wird,  ist  es  viel  Inhalts-  und  umfangreicher  als 
die  üblichen  Darstellungen  der  Relativitätstheorie. 
Denn  diese  Erörterung  forderte  das  Heranziehen 
aller  für  das  Raum-Zeitproblem  wichtigen  physi- 
kalischen Erfahrungen.  Ein  weiter  Weg  ist  es 
zwar,  den  so  der  Leser  geführt  wird;  aber  es  müs- 
sen in  der  Tat  die  Grundgesetze  der  klassischen 
Mechanik,  die  Relativität  der  Kinematik  und  der 
Dynamik,  die  Grundgesetze  der  Optik,  der  Elek- 
trizität und  damit  d  i  e  Eigenschaften  bekannt  sein. 


die  der  so  kunstvoll  erdaciite,  substantielle  Äther 
besitzen  soll,  um  zum  Verständnis  der  speziellen 
und  allgemeinen  Relativitätstheorie  zu  gelangen. 
Born  widmet  der  Vermittlung  dieser  Vorkennt- 
nisse 5  Kapitel,  zusammen  160  Seiten  seines 
Buches.  Mit  Gründlichkeit  wird  ohne  Verwendung 
höherer  Mathematik  durch  die  Gebiete  der  Mecha- 
nik, der  Optik,  der  Elektrodynamik  hindurch  der 
Begriff  der  Relativität  und  die  in  der  Optik  zu- 
erst auftauchende  und  notwendig  erscheinende 
Äthervorstellung  verfolgt.  Zwangläufig  führt  die 
Darstellung  den  Leser  zur  Ablehnung  des  Äthers 
und  zur  „Loslösung  von  gewohnten  Anschauungen, 
die  scheinbar  notwendige  Bestandteile  der  Vor- 
stellungswelt sind".  Methodisch  wird  durch  die 
5  Kapitel  das  Verständnis  der  Relativitätsforderung 
angebahnt  und  in  dem  Leser  selbst  die  Forderung 
nach  einem  Ersatz  für  die  Äthertheorie  lebendig, 
und  damit  die  Forderung  nach  einem  neuen  In- 
halt der  Begriffe  von  Raum  und  Zeit.  So  vorbe- 
reitet kann  man  sich  mit  Aussicht  auf  Erfolg 
einer  Untersuchung  des  Begriffes  der  Gleichzeitig- 
keit zuwenden  und  damit  in  die  spezielle  und  allge- 
meine Relativitätstheorie  einzudringen  versuchen. 
Die  spezielle  Relativitätstheorie  wird  im  6.  Kapitel  in 


484 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  33 


origineller  Weise  behandelt.  Im  letzten  Kapitel  geht 
Born  auf  die  allgemeine  Relativitätstheorie  ein  und 
führt  den  Leser  zur  klaren  Erkennung  des  großen 
Problems,  zur  klaren  Erkenntnis  dessen,  daß  die 
Forderung  nach  völliger  Relativität  (auch  der  be- 
schleunigten Bewegung)  darauf  hinausläuft,  anzu- 
nehmen, daß  Trägheit  und  Gravitationsfeld  ein- 
ander ersetzen  können.  Es  gelingt  Born  aufs  beste; 
zum  Teil,  indem  er  gut  erdachte  Vergleiche  heran- 
zieht; es  sei  nur  erinnert  an  die  Ausführung  der 
Gedanken  des  im  geschlossenen,  bewegten  Kasten 
befindlichen  Wichtelmännchens,  ferner  an  den 
Feldmesser,  der  vor  die  Aufgabe  gestellt  ist,  ein 
kugeliges  mit  dichtem  Wald  bedecktes  Gelände 
auszumessen,  dazu  also  auf  die  IVIeßkette  ange- 
wiesen ist  und  die  Methoden  der  Euklidischen 
Geometrie  nur  von  Stelle  zu  Stelle  fortschreitend 
anwenden  kann.  Ein  weiteres  Eindringen  in  die 
allgemeine  Relativitätstheorie  ist  bei  der  Ver- 
meidung höherer  iVIathematik  natürlich  nicht 
möglich. 

Man  kann  im  Zweifel  sein,  ob  es  ganz  zweck- 
mäßig ist,  den  Zugangsweg  zum  Relativitätsprinzip 
so  lang  zu  machen,  wie  es  hier  geschieht.  Es 
kann  befürchtet  werden,  daß  das  größere  Publi- 
kum nicht  sehr  weit  über  den  Anfang  hinaus 
kommt,  zumal  die  Anforderungen  an  die  Aufmerk- 
samkeit des  Lesers  nach  den  ersten  Kapiteln  von 
Seite  zu  Seite  wachsen.  Der  mathematisch  und 
physikalisch  geschulte  und  ernstlich  lernbegierige 
Leser  wird  Born  dankbar  sein ;  er  wird  sich  mit 
um  so  größerer  Freude  in  das  Buch  vertiefen,  als 
er  gerade  in  den  ersten  5  Kapiteln,  insbesondere 
dem  4.  über  Optik  und  dem  5.  über  Elektro- 
dynamik einen  ihm  äußerst  wertvollen  Leitfaden 
durch  das  moderne  System  physikalischer  Er- 
kenntnis finden  wird.  Auch  dem  Fachmann  wird 
die  Darstellung  großen  Genuß  und  Nutzen  bringen. 

Valentiner. 

Ranke,  Johannes,  Der  Mensch.  Kleine  Aus- 
gabe. Bd.  L  Der  menschliche  Körper.  Leipzig 
und  Wien  1920,  Bibliographisches  Institut. 
Der  Inhalt  dieses  fast  300  Seiten  starken 
Buches  (einer  gekürzten  Ausgabe  des  bekannten 
Werkes  des  Verf.)  ist  ein  sehr  reicher.  Es  be- 
handelt die  Entwicklung,  den  Bau  und  das  Leben 
des  menschlichen  Körpers.  Die  Einleitung  gibt 
eine  anthropologische,  bzw.  anthropometrische 
Betrachtung.  Dann  wird  die  Entwicklungsge- 
schichte in  ihren  Grundzügen  behandelt,  wobei 
auch  die  allgemeinen  Eigenschaften  der  lebenden 
Substanz  besprochen  werden.  Anschließend  daran 
hören  wir  von  den  wichtigsten  Entwicklungs- 
störungen, bzw.  ihren  Produkten,  den  Mißbildun- 
gen. Dann  stellt  sich  uns  der  fertige  menschliche 
Körper  dar.  Ein  kurzes  Schema  der  ganzen  An- 
lage, ein  Überblick  über  den  Vorgang  der  Kräfte- 
erzeugung geht  der  genaueren  Schilderung  der 
Eingeweide,  insbesondere  ihrer  Lage  zueinander 
voraus.  Dann  folgt  der  Hauptteil  des  Buches, 
die    Beschreibung    der    Organsysteme    und    ihrer 


Tätigkeit:  i.  das  Gefäßsystem,  2.  das  Drüsen- 
system, bei  dem  die  Organe  der  Blutreinigung 
von  denen  der  Bluterneuerung  unterschieden  wer- 
den, 3.  das  Knochensystem,  4.  das  Muskelsystem, 
5.  das  Nervensystem  und  6.  die  Sinnesorgane  und 
Sprechwerkzeuge.  —  Hier  wird  nicht  nur  alles 
Anatomische,  sondern  ganz  besonders  auch  jede 
Funktion  genau  besprochen.  Das  Buch  ist  reich 
mit  Bildern  versehen,  teils  im  Text,  teils  auf 
Tafeln,  die  zum  größten  Teil  als  sehr  gut  be- 
zeichnet werden  müssen.  Die  Darstellung  ist  un- 
gemein anregend.  Sie  ist  nicht  lehrbuchartig; 
man  erkennt  in  dem  Darsteller  einen  wissen- 
schaftlich tief  durchgebildeten  und  künstlerisch 
empfindenden  Menschen,  dem  es  nicht  nur  auf 
eine  Aufzählung  von  Einzelheiten  ankommt,  son- 
dern der  zeigen  will,  wie  sich  alles  Einzelne  in 
den  großen  Plan  einpaßt  und  in  Wechselwirkung 
mit  dem  Ganzen  und  wieder  mit  anderen  Einzel- 
heiten steht.  Das  Buch  erinnert  in  seiner  Art  an 
das  Schaffen  jener  ausgestorbenen  Generation,  die 
in  allen  Sätteln  gerecht  und  nicht  bloß  Fach- 
gelehrsamkeit zu  geben  imstande  war.  Hier  liegen 
aber  auch  die  Mängel  des  Buches,  und  ein  strenger 
Kritiker  müßte  die  Ungleichheit  der  einzelnen 
Teile  tadeln,  das  liebevolle  Verweilen  des  Verf. 
bei  Dingen,  die  ihn  sehr  interessieren,  das  schnel- 
lere Hinweggleiten  über  andere,  die  dem  Leser 
vielleicht  sehr  wichtig  wären.  Aber  diese  Mängel 
dürfen  nicht  in  den  Vordergrund  gebracht  werden. 
Denn  sie  werden  wahrscheinlich  dem  lernenden 
Leser  seine  Aufgabe  erleichtern.  Solch  eine 
Kritik  kann  aber  auch  deswegen  nicht  geübt 
werden,  weil  das  Buch  das  Vermächtnis  eines 
Toten  ist,  der  hier  Zeugnis  von  einer  gemein- 
verständlichen Darstellungskraft  ablegt,  wie  man 
sie  wohl  selten  finden  wird.  Der  Herausgeber 
hätte  aber  doch  einiges  im  Texte  ändern  müssen. 
Denn  es  finden  sich  einige  Ungenauigkeiten,  ins- 
besondere anatomischer  Natur,  die  dem  Fachmann 
nicht  angenehm  sein  können.  Um  nur  ein  Bei- 
spiel zu  erwähnen,  so  sei  auf  die  Darstellung  der 
weißen  Blutkörperchen  hingewiesen ,  die  unsern 
heutigen  Kenntnissen  nicht  entspricht. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Much ,  Hans,  Die  Partigengesetze  und 
ihre  Allgemeingültigkeit.  70  S.  Leipzig 
1921,  Verlag  von  Curt  Kabitzsch.  15  M. 
Zu  den  sog.  „Partigengesetzen"  ist  Much  auf 
Grund  seiner  Tuberkulosestudien  gekommen.  Er 
betont  aber  ihre  Allgemeingültigkeit,  „nicht  nur 
für  Krankheitserreger,  sondern  auch  für  Krank- 
heitserzeugnisse (Krebszellen  u.  a.)  und  weiterhin 
für  alle  zusammengesetzten  reizhaften  (reaktiven) 
Stoff-  und  Kraftmischungen".  —  Mit  der  vorliegen- 
den Schrift  wendet  er  sich  an  weitere  Kreise, 
um  sie  mit  seiner  Lehre  bekannt  zu  machen.  Dazu 
ist  folgendes  zu  bemerken.  Much  hat  klarer  wie 
viele  andere  erkannt,  daß  unsere  Vorstellungen 
von  Infektion  und  Immunität   und    die  darauf  be- 


N.  F.  XX.  Nr.  33 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


485 


ruhenden  Heil-  und  Bekämpfungsbestrebungen 
böse  Lücken  aufweisen  und  in  mancher  Beziehung 
einer  fruchtlosen  Einseitigkeit  verfallen  sind.  Es 
muß  auch  als  ein  Verdienst  Muchs  bezeichnet 
werden,  daß  er  im  Gegensatz  zu  der  humoralen 
die  zelluläre  Immunität  wieder  mehr  in  den  Vor- 
dergrund gebracht  und  die  nicht-spezifischen  Ab- 
wehrkräfte  (unabgestimmte  Immunität  in  seinem 
Sinne)  gebührend  berücksichtigt  hat,  obwohl 
hier  schon  manche  Einzelheiten  seiner  Lehren 
nicht  ohne  weiteres  hingenommen  werden  können. 
—  Was  die  Partigengesetze  (wie  konnte  ein  „bio- 
logischer Feinfühler"  ein  so  schreckliches  Wort 
ersinnen I)  betrifft,  so  lehrt  Much,  daß  alle  Anti- 
gene aus  Teilantigenen  bestehen,  die  mit  oder 
auch  gegeneinander  im  Körper  wirksam  sind,  daß 
man  ihre  Wirkungen  im  einzelnen  durch  Haut- 
reaktionen feststellen  und  danach  sein  therapeuti- 
sches Handeln  einstellen  kann.  Nicht  nur  für  die 
Tuberkulose,  sondern  überhaupt  für  fast  alles,  was 
Krankheit  ist,  werden  von  ihm  auf  diesem  Wege 
die  großartigsten  Perspektiven  eröffnet.  Von  dem 
Tuberkuloseproblem  z.  B.  behauptet  iVIuch,  es 
sei  von  ihm  gelöst.  Der  Schlüssel  für  diese  Be- 
wältigung der  Natur  ist  nichts  Kompliziertes,  son- 
dern eine  dünne  Säure,  mit  der  die  Antigene  „auf- 
geschlossen" werden.  Der  Leser  dieser  Schrift 
muß  gewarnt  werden.  Die  Frage,  ob  prak- 
tisch mit  den  Muchschen  Partigenen  bei  der 
Tuberkulosebehandlung  günstige  Resultate  erzielt 
werden  können,  was  übrigens  von  Erfahrenen  be- 
stritten wird,  ist  dabei  ganz  ohne  Belang.  Be- 
weisende Grundlagen  für  seine  Lehre  hat  Much 
nicht  erbracht.  Das  würde  nicht  hindern,  sie  zu 
diskutieren;  aber  die  Zeit,  sie  als  Tatsache  vor 
die  iVlasse  zu  bringen,  ist  wahrlich  noch  nicht  ge- 
kommen. —  Das  hochtrabende  Selbstbewußtsein, 
das  aus  dieser  Schrift  noch  mehr  als  aus  anderen 
Arbeiten  Muchs  spricht,  übersteigt  alles,  was 
man  vom  wissenschaftlichen  Schrifttum  erwarten 
darf  Wenn  Much  sich  selbst  für  ein  Genie  hält, 
so  ist  das  seine  Sache.  Daß  er  es  ausspricht,  ist 
nicht  sehr  geschmackvoll,  ebenso  nicht  die  Ab- 
urteilung der  Unbegabten,  die  ihm  nicht  folgen 
können,  und  vieles,  vieles  andere.  Sollte  das 
wirklich  der  richtige  Weg  sein,  um  der  Lehre, 
die  er  für  so  unendlich  wichtig  hält,  die  Bahn 
frei  zu  machen?  —  Der  Referent  hat  einmal 
irgendwo  etwas  von  der  Bescheidenheit  der  Genies 
gelesen.  Huebschmann  (Leipzig). 


Schaxel,  Julius,    Die    allgemeine    und    ex- 
perimentelle   Biologie    bei    der    Neu- 
ordnung des  medizinischen  Studiums. 
Jena  192 1,  G.  Fischer. 
Als    einer   der  wenigen  „Biologen"   vom  Fach 
nimmt  Verf.  zu  der  vorliegenden  Frage  das  Wort. 
Er   rekapituliert   zunächst   kurz  die  Wünsche,   die 
—   meist    von    medizinischer    Seite   —    geäußert 
worden    sind,    und    prüft    dann    ihre  Erfüllbarkeit. 


Ein  Rückblick  lehrt,  daß  im  Gegensatz  zu  den 
scharf  umgrenzten  exakten  Naturwissenschaften 
die  organischen  (sive  biologischen)  Fächer  nicht 
in  sich  geschlossen  sind,  „sondern  sich  auf  Bo- 
tanik, Zoologie,  vergleichende  Anatomie,  Paläonto- 
logie, Entwicklungsgeschichte,  Anatomie,  Physio- 
logie und  anderes  mehr  verteilen  und  in  dieser 
Verteilung  von  den  Inhabern  verschiedener  Lehr- 
stühle zweier  Fakultäten  gelehrt  werden."  —  Es 
fragt  sich  nun,  ob  ein  Teil  dieser  Fächer  durch 
Vorlesungen  über  allgemeine  und  experimentelle 
Biologie  ersetzt  werden  kann.  Verf.  stellt  sich 
aber  die  Vorfrage,  ob  es  überhaupt  heute  schon 
eine  Biologie  als  Wissenschaft  für  sich  gibt,  und 
kommt  nach  kurzem,  scharf  erfassendem  Über- 
blick zur  Bejahung  dieser  Frage.  Er  zeigt  sodann, 
welchen  außerordentlichen  Bildungswert  der  Unter- 
richt in  der  „Allgemeinen  Biologie"  geben  würde, 
wie  gerade  hier  auch  die  Gelegenheit  wäre,  die 
Nachbargebiete,  sowohl  nach  den  Geisteswissen- 
schaften hin  (Logik,  Erkenntnistheorie  und  Psycho- 
logie) als  auch  nach  den  Naturwissenschaften  hin, 
zu  berühren,  während  die  angewandten  Gebiete 
der  Botanik  und  Zoologie  in  die  klinische  Aus- 
bildung fallen  könnten.  —  Ist  so  Verf.  der  Meinung, 
daß  allgemeine  Biologie  in  den  vorklinischen 
Semestern  gelehrt  werden  kann,  so  muß  er  auch 
einen  gangbaren  Weg  zeigen,  sie  in  den  heutigen 
Lehrbetrieb  einzufügen.  Wo  soll  sie  gelehrt  wer- 
den und  von  wem  ?  —  Besondere  Institute  wären 
die  beste  Lösung.  Wo  sie  nicht  zu  beschaffen 
sind,  kommen  die  botanischen,  zoologischen  und 
auch  physiologischen  oder  anatomischen  Institute 
in  Betracht.  —  „Das  Entscheidende  ist  die  Per- 
sonenfrage." Verf.  will,  daß  der  Lehrer  haupt- 
amtlich diesen  Unterricht  erteile  und  daß  er  Fach- 
mann sei  und  selbständiger  Forscher  in  biolo- 
gischen Fragen.  —  Versuche  sollten  jedenfalls  ge- 
macht werden.  Die  Neuordnung  brauche  nicht 
plötzlich,  sondern  könne  allmählich,  versuchsweise 
durchgeführt  werden.  —  Der  Ref.  steht  auf  dem 
Standpunkt,  daß  die  Einführung  der  allgemeinen 
Biologie  in  den  Unterricht  der  Mediziner  sehr 
wünschenswert  ist,  und  wird  durch  die  Aus- 
führungen des  Verf.  in  der  Anschauung  bestärkt, 
daß  sie  logisch  und  tatsächlich  bei  dem  heutigen 
Stand  der  Wissenschaft  auch  möglich  ist.  Er 
unterschätzt  aber,  noch  weniger  als  der  Verf.  die 
großen  Schwierigkeiten  der  Instituts-  und  insbe- 
sondere der  Personenfrage.  Andere  Schwierig- 
keiten, wie  z.  B.  der  Widerstand  einzelner  Fach- 
professoren, wären  leichter  zu  überwinden,  wenn 
jene  nicht  wären.  Es  bleibt  nach  der  Meinung 
des  Ref.  in  der  Tat  nichts  anderes  übrig,  als  in 
allmählicher  Folge  dem  Fach  der  allgemeinen 
Biologie  die  Wege  zu  ebnen,  am  besten  durch 
systematische  Neuschaffung  von  Instituten,  und 
den  Entwicklungsgang  dieser  Institute  von  vorn- 
herein auch  den  Wünschen  anzupassen,  die  von 
medizinischer  Seite  erhoben  werden.  Aber  für 
eine  solche  Entwicklung  der  Dinge  sind  leider 
die  heutigen  Zeiten  die  denkbar  schlechtesten,  was 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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jedoch   nicht   hindern  darf,   das  Ziel   im  Auge  zu 
behalten.  Huebschmann  (Leipzig). 


Kauffmann,  Prof  Dr.  Hugo,  Beziehungen 
zwischen  physikalischen  Eigen- 
schaften und  chemisch  er  Konstitution. 
(Chemie  in  Einzeldarstellungen  Bd.  X).  Stutt- 
gart 1920,  Ferdinand  Enke.  Geh.  60  M.,  geb. 
70  M. 

Dieses  Buch  des  bedeutenden  Forschers  be- 
schränkt sich,  wie  das  ihm  in  vieler  Beziehung 
ähnliche  Buch  von  Smiles,  leider  auf  orga- 
nische Verbindungen.  Ein  Seitenstück  für  die 
Chemie  der  anorganischen  Stoffe  fehlt  also  noch 
immer,  obwohl  die  neuen  Erkenntnisse  über  den 
Atombau  die  Behandlung  des  vorliegenden  Gegen- 
standes ganz  besonders  reizvoll  und  vor  allem 
aussichtsreicher  erscheinen  lassen  als  dies  für  die 
organischen  Verbindungen  trotz  der  Fülle  von 
Beobachtungen  sich  erwiesen  hat.  Denn  zieht 
man  das  Ergebnis  aus  der  ungemein  reichhaltigen 
und  höchst  sorgsam  gewählten  Arbeit  des  Verf.s, 
so  muß  man  mit  einiger  Enttäuschung  sich  ge- 
stehen, daß  die  Frage  nach  den  im  Titel  ge- 
nannten Beziehungen  noch  ganz  und  gar  der  be- 
friedigenden Antwort  harrt.  Vielerlei  Antworten 
liegen  zwar  vor,  —  aber  wir  erstreben  stets  ein 
multum  statt  des  multa.  Dennoch  oder  vielmehr 
deshalb  muß  eine  Zusammenstellung  wie  die  vor- 
liegende von  Zeit  zu  Zeit  gegeben  werden.  Der 
Antrieb  für  die  Forschung,  der  in  dem  Ergebnis 
solcher  rückschauenden  und  zusammenfassenden 
Betrachtungen  liegt,  ist  sehr  hoch  einzuschätzen, 
wenn  das  Buch  den  geeigneten  Leser  findet. 
Gerade  Kauf fmanns  Arbeit  braucht  eine  Leser- 
schaft, die  sich  den  Sinn  für  das  Allgemeine,  das 
von  engbrüstigen  Hypothesen  freie,  für  das  Philo- 
sophische  in  der  Chemie  bewahrt  hat!  Der  Be- 
richterstatter kann  nichts  herzlicher  wünschen, 
als  daß  dieses  Buch  recht  viele  solcher  Leser 
gewönne  und  erziehe.  Sie  sind  in  unserer  Zeit 
der  Vereinzelung  einerseits,  des  Nützlichkeits- 
strebens  andererseits  nötiger  denn  je. 

IVIit  Befriedigung  darf  festgestellt  werden,  daß 
Stil  und  Stoffbehandlung  des  Verfs  überaus  ge- 
pflegt und  großzügig  erscheinen.  Infolge  seiner 
auffallend  biegsamen  Sprache,  die  sich  vor  ge- 
wissen formalen  Kühnheiten  nicht  scheut,  ist  es 
dem  Verf  gelungen,  beinahe  ein  lesbares  Buch 
geschaffen  zu  haben,  soweit  das  bei  der  Not- 
wendigkeit umfangreicher  Tabellen  jemals  mög- 
lich ist  Aber  auch  im  Tabellenmaterial  prägt 
sich  die  Meisterung  des  Stoffes  aus:  hat  der  Verf 
doch  alle  Zahlen  der  riesigen  Literatur  auf  die 
Atomgewichtstabelle  von  19 16  als  Grundlage  um- 
gerechnet. 

Obwohl  laut  Vorwort  das  Buch  nur  nackte 
Tatsachen  ohne  Theorie  bringen  will,  so  konnte 
doch  jegliches  Theoretischen  nicht  entraten 
werden.  Erfreulicherweise,  denn  dem  ist  die 
Formulierung  eines  großen  Gedankens  des  Verf.s 


zu  verdanken,  daß  nämlich  jedes  Atom  die 
Ebene  des  polarisierten  Lichts  drehe  (S.  238). 
Eine  zweite  wichtige  Erkenntnis  ist  hier  ebenfalls 
zuerst  zum  umfassenden  Ausdruck  gebracht,  die 
Bedeutung  der  Häufung  in  größeren  Molekülen. 
Es  ist  überraschend  und  sehr  anregend  nachge- 
wiesen, daß  viele  bisher  als  Anomalien  gekenn- 
zeichnete Erscheinungen  nunmehr  als  natürliche 
Folge  von  gehäuften  Gruppen  (Eurogenie)  aufge- 
faßt werden  können,  was  insbesondere  beim  Mo- 
larvolumen (warum  falscherweise  Molekular- 
volumen, S.  9fi.  ?)  deutlich  wird.  Auf  jeden  Fall 
ist  mit  dem  Begriff  der  „Häufung"  ein  sehr  breites 
und  hypothesenfreies  Erklärungsprinzip  geschaffen, 
dessen  innere  Voraussetzungen  zu  ergründen  ein 
höchst  lehrreiches  und  wichtiges  Ziel  der  nächsten 
Forschung  bilden  wird,  obwohl  in  manchen 
Fällen  allerdings  auch  mit  Eurogenie  nicht 
eben  viel  „erklärt"  wird  (vgl.  Viskosität,  Schmelz- 
punkte  der   Polyhalogenverbindungen    usw.  1).    — 

Im  ganzen  haben  wir  es  mit  einem  Werk  zu 
tun,  das  als  Leistung  Bewunderung  erheischt,  als 
Grundlegung  für  zusammenfassende  Arbeiten  und 
Theorien  eine  große  und  des  Gebotenen  würdige 
Leserschaft  dringend  erwünscht  erscheinen  läßt. 
Demgegenüber  haben  die  folgenden  kleinen  Be- 
merkungen nur  nebensächliches  Interesse : 

Im  Kapitel  über  „Farbe"  fehlt  eine  Berück- 
sichtigung des  Zusammenhanges  zwischen  Farbig- 
keit und  Dispersitätsgrad,  wie  denn  über- 
haupt die  Abhängigkeit  der  ersten  vom  Ver- 
teilungsgrad und  die  damit  zusammenhängende 
erhebliche  Unsicherheit  in  der  Farbbezeichnung 
nicht  genug  betont  ist.  Vermißt  wurde  auch  ein 
Kapitel  über  die  „Löslichkeit",  sowie  endlich  über 
die  Polymorphieerscheinungen. 

S.  160/61  ist  die  Feststellung,  daß  „Teilnahme 
des  Cyans  oder  der  Nitrogruppe  an  einer  Häufung 
den  Siedepunkt  stark  herabdrückt"  recht  mißver- 
ständlich !  Nicht  die  absoluten  Siedepunkte,  son- 
dern nur  die  _/-Werte  werden    herabgedrückt.  — 

Schließlich  sei  betont,  daß  der  Preis  des  Buches 
angesichts  seines  auf  420  Seiten  ausgebreiteten 
Inhalts ,  seines  Papiers  und  seines  ganz  vorzüg- 
lichen Druckes  schlechthin  niedrig  genannt  wer- 
den muß,  daß  er  jedenfalls  aber  kein  Grund  zur 
N  i  c  h  t  anschaffung  sein  darf 

_____  H.  Heller. 

Weil,  Arthur,  Die  innere  Sekretion.  Eine 
Einführung  für  Studierende  und  Ärzte.  Berlin 
1921,  Julius  Springer. 

Es  war  ein  guter  Gedanke  des  Verf,  von  dem 
üblichen  Schema,  die  Lehre  der  inneren  Sekretion 
darzustellen,  abzuweichen.  Er  geht  in  seiner  Dar- 
stellung nicht  von  der  einzelnen  Blutdrüse  aus, 
sondern  versucht  umgekehrt,  „von  den  einzelnen 
Funktionen  auszugehen  und  den  Anteil  der  ver- 
schiedenen Inkrete  an  den  Lebensäußerungen  zu 
analysieren".  —  Gerade  diese  Behandlung  des 
Themas  wird  nicht  nur  Medizinern,  sondern  Bio- 
logen  überhaupt  willkommen    sein   müssen,    weil 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


487 


so  viel  deutlicher  und  anschaulicher  die  Rolle  der 
innersekretorischen  Drüsen  für  alle  Lebensfunk- 
tionen in  die  Erscheinung  tritt.  Verf  gibt  zu- 
nächst eine  einleitende  Übersicht  über  den  Be- 
griff der  inneren  Sekretion  und  über  die  Ent- 
wicklungsgeschichte und  Histologie  der  Blutdrüsen. 
Dann  wird  ihre  Bedeutung  analysiert  für  die 
Physiologie  des  Blutes,  den  Kreislauf,  die  Atmung 
und  die  Stimmbildung,  den  Stoffwechsel,  für 
Wachstum  und  Körperform,  für  die  Fortpflanzung, 
den  Geschlechtstrieb,  für  die  psychischen  Vor- 
gänge. Ferner  finden  wir  ein  Kapitel  über  die 
Chemie  der  Inkrete,  eins  über  die  IVIethoden  zu 
ihrem  Nachweis  und  eins  über  die  Wechselwir- 
kungen der  Drüsen  untereinander.  Endlich  be- 
handelt Verf  in  einem  besonderen  Kapitel  die 
Frage  der  Beziehungen  zwischen  Nervensystem 
und  innerer  Sekretion.  —  Es  ist  keine  Frage,  daß 
das  Buch  einen  ausgezeichneten  Überblick  über 
die  neuzeitliche  Lehre  von  der  inneren  Sekretion 
gibt.  Es  soll  eine  Einführung  sein,  aber  die 
kritische  Darstellung  muß  auch  auf  den  auf  dem 
Gebiete  vertrauten  Forscher  anregen,  zumal  da 
es  Verf.  nicht  verabsäumt,  auch  auf  die  noch 
reichlich  vorhandenen  Lücken  der  Lehre  hinzu- 
weisen. Die  Ausstattung  des  Buches  mit  seinen 
3S  Abbildungen  ist  ausgezeichnet,  die  Schreibweise 
angenehm.  —  Alles  in  allem  kann  man  sagen, 
daß  es  eine  wesentliche  Bereicherung  des  Schrift- 
tums dieses  wichtigen  Gebietes  darstellt. 

Huebschmann  (Leipzig). 


b)  Astronomisch-Geographisches,  c)  Sonne  und 
IVIond;  erste  Parallaxenbestimmung;  im  6.  Ab- 
schnitt: a)  Bestimmung  der  Geschwindigkeit  im 
Visionsradius  nach  dem  Dopplerschen  Prinzip, 
b)  die  Polbewegung.  Valentiner. 


Kirchberger,    P.,    Mathematische    Streif- 
züge durch  die  Geschichte  derAstro- 
nomie.      IV   und  54  S.    mit    22  Fig.     (Math.- 
phys.  Bibliothek  herausgeg.   von  W.  Lietzmann 
und  A.  Witting.  Nr.  40).      Leipzig  1921,   B.  G. 
Teubner. 
Aus  der  Geschichte  der  Astronomie  sind  einige 
Kapitel  herausgegriffen,  die  hier  mit  einiger  Aus- 
führlichkeit   mit   modernen  mathematischen  Hilfs- 
mitteln   (aber    ohne    schwierigere    mathematische 
Erörterungen,  ohne  Differentialrechnung  und  ana- 
lytische   Geometrie)   behandelt    werden.     Es  sind 
z.  T.  Gebiete,   die  seltener  in  allgemeinverständ- 
lichen Schriften    astronomischen  Inhalts   in  dieser 
Ausführlichkeit   dargestellt   werden.     Daher  wird 
das   Bändchen   vielen   Lesern    unserer    Zeitschrift 
willkommen  sein.     Wie  die  Wahl  des  Stoffes,  so 
ist  auch  die  Darstellungsweise  originell   und  reiz- 
voll.     Die    einzelnen    Kapitel    sind    in    die   6  Ab- 
schnitte   zusammengefaßt:     i.    Das    Altertum    bis 
Hipparch.     2.  Die  Planetentheorien  von  Ptolemäus, 
Kopernikus   und   Tycho.     3.  Kepler.     4.  Newton. 
5.  Von  Halley  bis  Bessel.     6.  Proben  aus  moderner 
Astronomie.     Diese  Abschnitte  sind  einigermaßen 
unabhängig  voneinander,  sogar  die  einzelnen  Ka- 
pitel in  den  Abschnitten  stehen  z.  T.  nur  in  losem 
Zusammenhang,  was  auch  der  Titel  des  Bändchens 
„Streifzüge"  schon  andeutet.    Im  i.  Abschnitt  wird 
z.  B.  behandelt  a)  Chronologie  und  Kettenbrüche, 


Planck,  M. ,  Das  Wesen  des  Lichts.  Vor- 
trag, gehalten  in  der  Hauptversammlung  der 
Kaiser- Wilhelm- Ges.  am  28.  Okt.  1919.  Berlin 
1920,  Springer. 

Planck  läßt  uns  hier  einen  kurzen  Rückblick 
tun  auf  den  Weg,  den  die  physikalische  Forschung 
in  ihrem  Suchen  nach  dem  Verständnis  des 
Lichts  gegangen  ist.  In  wundervoll  künstlerischer 
Darstellung  gibt  er  uns  einen  Überblick  über  den 
Wandel  der  Lichttheorien  von  Newton  und  von 
Huygens  bis  in  die  heutige  Zeit  mit  dem  Hin- 
weis auf  die  großen  neuen  Erkenntnisse  der  letzten 
Jahrzehnte,  aber  auch  darauf,  daß  mit  diesen 
neuen  Erkenntnissen  neue  schwierige  Fragen  auf- 
getreten sind,  die  sich  zurzeit  noch  immer  auf 
das  Verständnis  der  Existenz  der  Energiequanten 
beziehen.  Valentiner. 


Behrend,  Fr.,  Die  Kupfer-  und  Schwefel- 
erze von  Osteuropa.  Aus  „Quellen  und 
Studien".  Herausgegeben  vom  Osteuropäischen 
Institut  in  Breslau.  88  S.  Leipzig  192 1,  Teubner. 
14  M. 

Das  vorliegende  Heft  will  vollbewußt  dem 
Bedürfnis  dienen,  unsere  Wissenschaft  künftig  auf 
die  uns  allein  noch  verbliebenen  oder  dereinst 
wieder  zugänglichen  Quellen  einzustellen,  nach- 
dem uns  für  die  Gegenwart  und  nächste  Zukunft 
die  Überseebeziehungen  gewaltsam  verkrüppelt 
sind.  Es  ist  eine  wichtige  Zusammenstellung  der 
bedeutsameren  Vorkommnisse  in  Finnland,  Ruß- 
land nebst  Teilen  von  Sibirien,  Polen,  Rumänien, 
Bulgarien,  Serbien,  Griechenland  und  europäischer 
Türkei  im  früheren  Sinne.  Hier  wirklich  klaren 
Einblick  und  Übersicht  zu  gewinnen,  war  ohne 
diesen  zuverlässigen  Führer  recht  schwer.  Die 
Anführung  der  wichtigeren  Literatur  erleichtert 
tieferes  Eindringen  in  Einzelheiten  des  Stoffs. 

Der  geologische  Gesichtspunkt  tritt  hinter  dem 
wirtschaftlichen  stark  zurück.  Genetische  Erklä- 
rungen der  einzelnen  Erzvorkommen  (z.  B.  der 
russischen  Vertretung  unseres  Kupferschiefers)  sind 
ganz  aus  dem  Spiel  geblieben.  Das  entspricht 
ja  auch  nur  dem  Bedarf,  dem  die  Arbeit  entgegen- 
kommen soll.  „Das  bisherige  russische  Reich  ein- 
schließlich Sibiriens  ist  vielleicht  eins  der  kupfer- 
reichsten Gebiete  der  Welt"  (S.  23).  Auf  solche 
Feststellungen  stützt  sich  manch  hoffnungsvoller 
Ausblick  auf  gegenseitige  Stützung  zwischen 
Deutschland  und  Rußland  gegenüber  der  vöHig 
einseitigen  Ausbeutung  durch  gemeinsame  Feinde 
in  Westeuropa.  Man  kann  nicht  sagen ,  daß  ein 
kritikloser  Optimismus  die  Feder  geführt  hat. 
Dem    gewaltigen    Stoff  kann    hier    im    einzelnen 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nicht    nachgegangen    werden.      Ein   Nachschlage- 
werk läßt  sich  nur  der  Tendenz  nach  kennzeichnen. 

Edw.  Hennig. 

Kämmerer,  H. ,  Die  Abwehrkräfte  des 
Körpers.  Eine  Einführung  in  die  Immunitäts- 
lehre. 479.  Bändchen  der  Samml.  Wissensch.- 
gemeinverständlicher  Darstellungen  „Aus  Natur 
und  Geisteswelt".  II.  Aufl.  Leipzig  und  Berlin 
1919,  B.  G.  Teubner. 

Die  erste  Auflage  dieses  Bändchens  wurde  in 
Nr.  13  des  Jahrgangs  1916  dieser  Zeitschrift  be- 
sprochen. Ich  kann  auf  die  dortige  Empfehlung 
verweisen,  da  das  Buch  im  wesentlichen  dasselbe 
geblieben  ist.  Es  hat  eine  Erweiterung  erfahren 
durch  die  Lehren,  die  der  Krieg  für  die  Schutz- 
impfungen, bzw.  Behandlung,  gegen  einige  Kriegs- 
seuchen gegeben  hat.  —  Die  Allgemeingültigkeit 
der  Immunitätserscheinungen  als  Zustände  ver- 
änderter Reaktionsfähigkeit  gegen  wiederholte 
Einführung  eines  Stoffes  von  Antigencharakter  ist 
leider  auch  in  dieser  Auflage  nur  an  versteckter 
Stelle  gerade  erwähnt.  Der  Schluß  mit  dem  An- 
wendungsversuch der  Darwinschen  Theorie  auf 
die  Immunitätsvorgänge  ist  glücklicher  als  der 
der  vorigen  Auflage,  womit  nicht  gesagt  sein 
soll,  daß  ich  mich  mit  den  jetzt  geäußerten  Ge- 
dankengängen des  Verf.  einverstanden  erkläre.  ■ — 
Erfreulich  ist,  daß  das  Buch  gelesen  worden  ist; 
möge  es  bald  die  dritte  Auflage  erleben. 

Huebschmann  (Leipzig). 


in  dem  biologische  Probleme   mit   moderner  Me- 
thodik untersucht  werden. 

Brücke,  Innsbruck. 


Michaelis,  L. ,    Praktikum    der   physikali- 
schen Chemie,  insbesondere  der  Kol- 
loidchemie    für    Mediziner     und    Bio- 
logen.    Berlin   192 1,  J.  Springer. 
Ein   kleines   Buch   von    160  Seiten   und  doch 
muß    es    von   jedem,    der   als  Autodidakt  (anders 
ist    es  ja   meist  kaum  möglich)    sich  praktisch  in 
das  Gebiet  der  Kolloidchemie  einzuarbeiten  sucht, 
auf  das  AUerwärmste  begrüßt  werden.    Die  reiche 
praktische   Erfahrung    des  Autors    und  sein  Lehr- 
talent spricht  aus  jeder  Seite.      Bei  der  von  Jahr 
zu  Jahr  wachsenden  Bedeutung  der  physikalischen 
Chemie,  und  vor  allem  der  Kolloidchemie  für  den 
Biologen     im    allerweitesten    Sinne    des    Wortes 
könnte    dieses    Praktikum    sicher    reiche    Früchte 
tragen;  es  dürfte  in  keinem  Laboratorium  fehlen. 


Domo,  C,  Klimatologie  im  Dienste  der 
Medizin.  Heft  50  der  Sammlung  Vieweg: 
„Tagesfragen  a.  d.  Geb.  d.  Naturwissenschaften 
u.  d.  Technik."  Braunschweig  1920,  Fr.  Vieweg 
&  Sohn. 
Es  ist  keine  Frage,  daß  zwischen  Klimatologie 
und  Heilkunde  noch  manche  unerforschten  oder 
zu  wenig  erforschten  Beziehungen  bestehen.  Aber 
jedem  Biologen  überhaupt  müssen  die  Beziehungen 
zwischen  Lebewesen  und  umgebender  Atmosphäre 
am  Herzen  liegen.  Es  ist  darum  sehr  zu  be- 
grüßen, daß  der  Verf  in  seinem  74  Seiten  starken 
Buch  alle  in  Betracht  kommenden  Fragen  dem 
Leser  vor  Augen  führt  und  das  in  einer  voll- 
kommen sachlichen  und  auch  dem  Nicht  Physiker 
gut  verständlichen  Weise.  Zusammensetzung  der 
Luft,  Temperatur,  Luftfeuchtigkeit  usw.,  Radio- 
aktivität und  Elektrizität  der  klimatischen  Ele- 
mente, Sonnen-  und  Himmelsstrahlung  und  vieles 
andere  noch  wird  so  in  seinen  Beziehungen  zur 
Medizin  besprochen  und  zum  Schluß  auch  die 
Wetterkunde  herangezogen.  —  Das  Buch  muß 
Interesse  erwecken  und  wird  hoffentlich  Berufene 
veranlassen,  sich  noch  mehr  mit  diesem  zweifellos 
wichtigen  Thema  zu  beschäftigen. 

Huebschmann  (Leipzig). 


Literatur, 

France,  R.  H.,  Das  Edaphon,  Untersuchungen  zur  Öko- 
logie der  bodenbewohnenden  Mikroorganismen.  (Arbeiten 
aus  dem  Biologischen  Institut  München  Nr.  2.)  Mit  30  Ab- 
bildungen und  zahlreichen  Tabellen.  2.  Auf  läge.  Stuttgart '21, 
Franckhsche  Verlagsbuchbandluug.     12  M. 

Wilhelmi,  Prof.  Dr.  J.,  Die  Bekämpfung  der  gesund- 
heitlichen und  wirtschaftlichen  Schädlinge.  Denkschrift  zur 
Ausgestaltung  der  Schädlingsbekämpfung  in  Deutschland. 
(Veröffentlichungen  aus  dem  Gebiete  der  Medizinalvcrwaltung. 
XII.  Band,  Heft  2.)     Berlin  '21,  R.  Schoetz.     4  M. 

Mayer,  Dr.  Adolf,  Agrikulturchemie.  Band  I.  Die 
Krnährung  der  grünen  Gewächse.  Mit  40  Textabbildungen 
und  einer  Tafel.     Heidelberg  '21,  Carl  Winter.     54  M. 

Hartmann,  Dr.  M.,  Praktikum  der  Protozoologie. 
4.  wesentlich  erweiterte  Auflage.  Mit  12.S  teils  farbigen  Ab- 
bildungen im  Text.     Jena  '21,  Gustav  Fischer.     30  M, 

Panconcelli-Calzia,  Prof.  Dr.,  Experimentelle  Pho- 
netik. Mit  3  Figuren.  (Sammlung  Göschen.)  Berlin  '21, 
Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.     2,10  M. 


Inhalt:  O.  Kuhn,  Zur  Biologie  unserer  einheimischen  Egel.  S.  473.  K.  Olbricht,  Gedanken  über  die  Entwicklung 
der  menschlichen  Kultur  und  die  Ausbreitung  des  Menschengeschlechts.  S.  476.  —  Bücherbesprecbungen :  M.  Born, 
Die  Relativitätstheorie  Einsteins  und  ihre  physikalischen  Grundlagen.  S.  483.  J.  Ranke,  Der  Mensch.  S.  4S4. 
H.  Much,  Die  Partigengesetze  und  ihre  Allgemeingültigkeit.  S.  4S4.  J.  Schaxel,  Die  allgemeine  und  experimen- 
telle Biologie  bei  der  Neuordnung  des  medizinischen  Studiums.  S.  4S5  H.  Kau  ff  mann,  Beziehungen  zwischen 
physikalischen  Eigenschaften  und  chemischer  Konstitution.  S.  486.  A.  Weil,  Die  innere  Sekretion.  S.  486.  P.  Kirch - 
berger,  Mathemalische  Streifzüge  durch  die  Geschichte  der  Astronomie.  S.  487.  M.  Plank,  Das  Wesen  des  Lichts. 
S.  487.  Fr.  Behrend,  Die  Kupfer-  und  Schwefelerze  von  Osteuropa.  S.  486.  H.  Kämmerer,  Die  Abwehrkräfte 
des  Körpers.  S.  4S8.  L.  Michaelis,  Praktikum  der  physikalischen  Chemie,  insbesondere  der  Kolloidchemie  für 
Mediziner  und  Biologen.  S  .48S.    C.  Domo,  Klimatologie  im  Dienste  der  Medizin.  S.  4S8.  — Literatur;  Liste.  S.  488. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenslraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  (fanxen  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  21.  August  1921. 


Nummer  34« 


Die  biologischen  Vorgänge  im  Boden. 

Von  Priv.-Doz.  Dr.  Hans  Wießmann,  Berlin. 


[Nachdruck  verboten.] 

In  die  Zeit  des  Aufschwungs  der  medizinischen 
Bakteriologie  vor  etwa  40  Jahren  fällt  auch  die 
Geburtsstunde  der  biologischen  Erforschung  des 
Bodens. 

In  seiner  klassischen  Arbeit,  in  welcher  Ro- 
bert Koch  (i)  die  Herstellung  von  Bakterien- 
Reinkulturen  durch  Einführung  fester  Nährböden 
lehrte  und  somit  den  Grundstein  zur  exakten 
bakteriologischen  Forschung  überhaupt  erst  legte, 
berichtete  er  gleichzeitig  über  das  reichliche  Vor- 
kommen von  Bakterien  im  Boden. 

Befruchtet  von  dem  Geist  dieses  genialen 
Forschers,  dauerte  es  nur  kurze  Zeit  bis  zu  jener 
aufsehenerregenden  Entdeckung  durch  die  beiden 
Agrikulturchemiker  H  e  1 1  r  i  e  g  e  1  und  W  i  1  f  a  r  t  h , 
welche  das  rätselhafte  Verhalten  der  Leguminosen 
klärte. 

Schon  im  Altertum  war  bekannt,  daß  die 
Hülsenfrüchte  den  Boden  bereichern  und  das  Ge- 
deihen der  Nachfrüchte  begünstigen. 

Eine  Erklärung  hierfür  hatte  man  natürlich 
nicht. 

Selbst  bis  in  die  JVIitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
wußte  man  die  günstige  Wirkung  dieser  Pflanzen 
nicht  zu  deuten. 

Zwar  wurde  wiederholt  die  Vermutung  ge- 
äußert, daß  die  bodenbereichernde  Wirkung  als 
eine  Stickstoffwirkung  aufzufassen  wäre,  und  die 
Schmetterlingsblütler  sich  den  Stickstoff  der  Luft 
zunutze  machen  könnten. 

Diese  Frage  wurde  in  den  fünfziger  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  von  Boussingault  (2) 
eingehend  bearbeitet,  jedoch  in  negativem  Sinne 
entschieden. 

Andererseits  häuften  sich  in  der  Folgezeit  die 
Beobachtungen  über  die  stickstoffbereichernde 
Wirkung  der  Leguminosen  immer  mehr. 

In  Deutschland  war  es  der  hervorragende  Land- 
wirt Schultz-Lupitz  (3),  der  auf  Grund  seiner 
praktischen  Erfahrungen  mit  aller  Bestimmtheit 
die  Hülsenfrüchte    als   Stickstoffsammler    erklärte. 

So  stand  man  vor  einem  großen  Rätsel,  das 
man  durch  allerlei  Annahmen  zu  deuten  versuchte. 
Keine  der  aufgestellten  Hypothesen  aber  konnte 
sich  kritischer  Beurteilung   gegenüber   behaupten. 

Erst  im  Jahre  1886  ist  es  Hellriegel  und 
Wilfarth  (4)  durch  ihre  klassischen  Unter- 
suchungen gelungen,  den  Schleier  zu  lüften,  der 
über  dem  rätselhaften  Verhalten  der  Legumi- 
nosen lag. 

Die  beiden  Forscher  haben  gezeigt,  daß  die 
Schmetterlingsblütler  durch  Mikroorganismen, 
welche  in  die  Wurzeln  eindringen  und  Knöllchen 


bilden,  befähigt  werden,  den  Stickstoff  der  Luft  zu 
assimilieren.  Sterilisierten  sie  nämlich  den  Boden, 
und  hielten  sie  ihn  während  derVegetationszeit  steril, 
so  bildeten  sich  an  den  Wurzeln  keine  Knöllchen, 
und  die  Stickstoffgewinne  blieben  aus.  Sobald  sie 
aber  mit  einer  Erdaufschwemmung  impften  und 
auf  diese  Weise  lebenstätige  Mikroorganismen  in 
den  Boden  brachten,  setzte  die  KnöUchenbildung 
und  mit  ihr  die  Stickstoffsammlung  wieder  ein. 

Somit  war  das  Rätsel  gelöst. 

Das  Verdienst  der  beiden  Forscher  Hell- 
riegel  und  Wilfarth  ist  um  so  höher  zu  be- 
werten, als  durch  die  bedeutungsvolle  Entdeckung 
unser  Wissen  über  die  Ernährung  der  Pflanzen 
erweitert  und  die  Frage  der  Gründüngung  in 
neues  Licht  gerückt  wurde,  aber  auch  deshalb, 
weil  der  Impuls  dieser  wissenschaftlichen  Großtat 
erst  das  tiefere  Interesse  weckte  für  das  im  Boden 
kreisende  Leben. 

Mit  dieser  Entdeckung  wurde  die  durch  Pasteur 
und  seine  Schule  zwar  schon  erschütterte  mecha- 
nisch-chemische Auffassung  von  dem  Kräftespiel 
im  Boden  mehr  denn  vorher  als  zu  einseitig  er- 
kannt und  auf  eine  erweiterte  Grundlage  gebracht 
durch  Einbeziehung  der  biologischen  Betrachtungs- 
weise, eines  Faktors,  der  lange  um  Gleichbe- 
rechtigung mit  den  beiden  anderen  zu  kämpfen 
hatte  und  auch  heute  mitunter  noch  nicht  die 
berechtigte  Berücksichtigung  findet,  wohl  aber  nur 
eine  Folge  übertriebener  Prophezeihungen  und  zu 
hoch  gespannter  Hoffnungen. 

Es  war  natürlich,  daß  man  sich  zunächst  mit 
der  Natur  der  Knöllchenorganismen  eingehend 
befaßte. 

Trotz  der  bereits  schon  vorher  vonWoronin(5) 
gemachten  Beobachtung  über  das  Vorhanden- 
sein von  Bakterien  in  den  Knöllchen,  hatten  kurz 
vor  der  Mitteilung  der  Hellriegeischen  Arbeit 
Brunchhorst  (6)  und  Frank  (7)  die  Gebilde 
in  den  Knöllchen  für  besondere  Inhaltsstoffe  ge- 
halten. 

Aber  bald  war  jeder  Zweifel  darüber  beseitigt ; 
denn  dem  bekannten  Bakteriologen  Beijerinck(8) 
war  es  gelungen,  die  Bakteriennatur  durch  Züchtung 
auf  künstlichen  Nährböden  darzutun. 

Die  Knöllchenbakterien  gaben  sich  als  kleine 
Stäbchen  zu  erkennen,  die  etwa  ein  tausendstel  mm 
groß  sind  und  im  Ackerboden  häufig  vorkommen. 

So  unscheinbar  aber  diese  Organismen  auch 
sein  mögen,  so  haben  sie  doch  eine  große  wirt- 
schaftliche Bedeutung;  denn  durch  ihre  Tätigkeit 
wird   in   ungeheuren  Mengen   der  sonst  so   träge 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Stickstoff  der  Luft  dem  Kreislauf  des  organischen 
Geschehens  einverleibt. 

Man  hat  berechnet,  daß  in  Deutschland  durch 
die  KnöUchenbakterien  jährlich  ungefähr  250000 
Tonnen  Stickstoff  aus  der  Luft  in  organische  Form 
übergeführt  werden  (9),  das  entspricht  etwa  der 
dreifachen  früher  eingeführten  Chilesalpetermenge. 

Wenn  auch  die  KnöUchenbakterien  im  Acker- 
boden häufig  vorkommen,  so  kann  man  doch  nicht 
sagen,  daß  sie  sich  überall  finden.  Deshalb  ge- 
deihen auf  manchen  Böden  die  Leguminosen 
schlecht  und  bilden  an  ihren  Wurzeln  keine  Knöll- 
chen.  Das  ist  hauptsächlich  auf  solchen  Böden 
der  Fall,  die  vorher  noch  keine  Leguminosen 
trugen,  oder  auf  sog.  Neuland. 

In  Holland  hat  man  schon  lange,  bevor  man 
überhaupt  von  der  Existenz  der  KnöUchenbakterien 
etwas  wußte,  das  Wachstum  der  Leguminosen 
dadurch  gefördert,  daß  man  auf  ein  Feldstück 
vor  der  Saat  Erde  brachte  von  einem  anderen 
Feld,  das  bereits  Leguminosen  trug.  Man  hat 
also  dem  Instinkt  und  der  Erfahrung  und  nicht 
einer  begründeten  Auslegung  folgend  —  eine  Er- 
scheinung, der  man  in  der  praktischen  Landwirt- 
schaft häufig  begegnet  —  eine  Bodenimpfung 
ausgeführt.  Wissenschaftlich  begründet  wurde 
diese  erst  durch  Salfeld  (lo). 

Später  haben  Nobbe  und  Hiltner  (11)  zur 
Beimpfung  Reinkulturen  von  KnöUchenbakterien 
eingeführt,  Nitragin  genannt,  das  von  Hiltner 
später  verbessert  wurde.  Ein  anderes  ähnliches 
Impfmittel  ist  Azotogen  (12).  Mit  diesen  Rein- 
kulturen werden  zum  Teil  recht  gute  Erfolge 
erzielt 

Auf  Kulturland  ist  der  Impferfolg  mitunter 
beschränkt.  Hier  gedeihen  ohne  Impfung  die 
Leguminosen  häufig  schon  gut.  So  haben  z.  B. 
Versuche,  die  von  Hugo  Fischer  (13)  auf  dem 
Versuchsfelde  des  agrikulturchemischen  Institutes 
in  Dahlem  ausgeführt  worden  sind,  gezeigt,  daß 
auf  einem  Feldstück  die  geimpften  Pflanzen  im 
Wuchs  nicht  besser  standen  als  die  ungeimpften, 
obwohl  der  Boden  seit  mindestens  7  Jahren  keine 
Leguminosen  getragen  hatte. 

Nitragin  und  Azotogen  sind  aber  nicht  die 
einzigen  in  den  Handel  gebrachten  Impfmittel. 
Es  existieren  noch  zahlreiche  andere  Impfstoffe, 
die  aber  weniger  für  den  Landwirt  als  für  den 
Händler  nutzbringend  sind. 

So  werden  seit  mehreren  Jahren  sog.  Universal- 
kulturen in  den  Handel  gebracht.  Durch  Impfung 
mit  diesen  UKulturen  soll  es  möglich  sein,  alle 
Pflanzenarten,  also  auch  Getreide-  und  Hackfrüchte, 
Obst-  und  Gemüsepflanzen  usw.  zur  Stickstoff- 
bindung anzuregen  (14).  Kritische  Versuche  aber, 
wie  sie  von  verschiedenen  Forschern  (15)  u.  a.  auch 
von  Lemmermann  und  seinen  Mitarbeitern 
angestellt  worden  sind,  haben  die  Wertlosigkeit 
dieses  Impfstoffes  dargetan,  was  insofern  eigentlich 
nicht  überraschend  ist,  als  das  symbiotische  Zu- 
sammenleben  von   Bakterien   und   Pflanzenwurzel 


sich  bloß  auf  wenige  Familien  erstreckt  und  nur 
bei  diesen  eine  Impfung  angebracht  erscheint. 

Außer  den  Leguminosen  zeichnen  sich  nämlich 
vor  allem  nur  noch  die  Erlen  und  Ölweiden  durch 
Knöllchenbildung  an  ihren  Wurzeln  aus.  Auch 
bei  diesen  Pflanzen  werden  die  Knöllchen  durch 
Organismen  hervorgerufen,  deren  Natur  zwar  nicht 
genau  bekannt  ist;  es  scheinen  aber  bakterien- 
artige Organismen  zu  sein,  vermittels  deren  die 
befallenen  Pflanzen  ebenfalls  befähigt  sind,  den 
Stickstoff  der  Luft  aufnehmen  zu  können  (16). 

Wie  Bakterien  leben  übrigens  auch  Algen, 
insbesondere  Cyanophyceen ,  und  Pilze  mit  den 
Wurzeln  höherer  Pflanzen  zusammen.  Sehr  ver- 
breitet in  der  Natur  findet  man  die  Vergesell- 
schaftung von  Pilzen  mit  den  Wurzeln,  die  sog. 
Mykorrhizenbildung,  wobei  die  Pilze  entweder  nur 
an  der  Oberfläche  der  Wurzeln  oder  im  Innern 
der  Wurzelzellen  leben.  Viele  unserer  Bäume 
zeichnen  sich  durch  Mykorrhizenbildung  aus,  be- 
sonders aber  die  Waldbäume.  Man  findet  sie 
größtenteils  bei  jenen  Pflanzen,  die  humushaltige 
Böden  bewohnen.  Über  die  Bedeutung  der 
Mykorrhiza  sind  verschiedene  Theorien  aufgestellt 
worden.  Am  verständlichsten  aber  wird  sie  m.  E. 
durch  eine  von  Miehe  (17)  gegebene  Erklärung 
beleuchtet.  Nach  Ansicht  von  Miehe  ist  die 
Mykorrhizenbildung  eine  mehr  oder  weniger  aus- 
gestaltete Modifikation  des  Nährsalzerwerbes.  Durch 
die  Verbindung  der  Pflanzenwurzel  mit  dem  Pilz  ist 
die  Pflanze  instandgesetzt,  mit  den  so  zahlreich 
im  Boden  wuchernden  Pilzen  den  Wettkampf  auf- 
nehmen zu  können.  Ohne  Pilz  könnten  die  Nähr- 
stoffe von  der  Pflanze  nicht  in  organischer  Form, 
sondern  erst  nach  ihrer  Mineralisierung  aufge- 
nommen werden.  Durch  die  Vereinigung  mit 
dem  Pilz  aber  hat  sich  die  Pflanze  davon  unab- 
hängig gemacht,  was  ihr  natürlich  auf  humus- 
haltigen  Böden  erhöhte  Existenzmöglichkeit  zu- 
sichert und  sie  sogar  zum  Kolonisten  geeignet 
macht.  Es  ist  selbst  wahrscheinlich,  daß  die 
Pflanze  infolge  der  Mykorrhiza  fähig  ist,  nicht  nur 
den  Humusstickstoff,  sondern  auch  den  atmo- 
sphärischen Stickstoff  aufnehmen  zu  können.  Die 
mykorrhizatragenden  Pflanzen  sind  um  so  mehr 
auf  eine  erhöhte  Aneignungsmöglichkeit  für  die 
Nährstoffe  angewiesen,  als  sie  ein  geringes 
Wasserdurchströmungsvermögen  besitzen  (18),  was 
übrigens,  wie  Lemmermann  (19)  nachgewiesen 
hat,  auch  für  die  Leguminosen  gilt.  Durch  das 
Zusammenleben  mit  Pilzen  bzw.  Bakterien  aber 
haben  sich  diese  Pflanzen  für  die  geringere  Auf- 
nahme von  Wasser  und  der  darin  gelösten  Nähr- 
stoffe schadlos  gehalten. 

Wir  haben  bis  jetzt  im  Boden  lebende  Orga- 
nismen kennen  gelernt,  die  befähigt  sind,  den 
Stickstoff  der  Luft  zu  binden,  aber  erst  dann, 
nachdem  sie  in  Gemeinschaft  mit  höheren  Pflanzen 
getreten  sind. 

Es  gibt  aber  im  Boden  auch  Organismen,  die 
bereits  im  freilebenden  Zustand  die  Fähigkeit  der 
Stickstoffassimilation  besitzen. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


491 


Den  ersten  Nachweis  dafür  brachte  Berthe- 
lot (20);  er  fand,  daß  ausgebreitete  Ackererde 
sich  mit  Stickstoff  anreichert ;  gleichzeitig  bewies 
er,  daß  diese  Erscheinung  an  lebende  Organismen 
gebunden  ist;  denn  sie  machte  sich  nicht  geltend, 
sowie  die  Erde  längere  Zeit  auf  100"  erhitzt 
worden  war. 

Bald  darauf  glückte  es  dem  russischen  Bakterio- 
logen Winogradsky  (21)  aus  Petersburger  Erde 
ein  Bakterium  zu  isolieren,  das  in  stickstoftfreier 
Nährlösung  bei  Anwesenheit  bestimmter  Kohle- 
hydrate freien  Stickstoff  aufzunehmen  vermochte. 
Es  war  dies  ein  Buttersäurebildner,  ein  sporen- 
bildendes Stäbchen,  das  wie  die  übrigen  Butter- 
säurebakterien sauerstoffeindlich,  also  anaerob  ist, 
von  ihnen  sich  aber  dadurch  unterschied,  daß  es 
nur  bestimmte  Kohlehydrate  vergären  konnte. 
Winogradsky  belegte  das  Bakterium  mit  dem 
Namen  Clostridium  Pasteurianum. 

Danach  sind  noch  andere  Buttersäurebakterien 
gefunden  worden,  welche  ebenfalls  den  Luftstick- 
stoff assimilieren  können  (22). 

Schließlich  hat  Bredemann  (23)  nachge- 
wiesen, daß  alle  in  der  Literatur  unter  ver- 
schiedenen Namen  gehende  Buttersäurebakterien 
einer  Art  angehören,  dem  Bacillus  amylobacter, 
und  daß  sie  sämtlich  die  Fähigkeit  haben,  freien 
Stickstoff  zu  binden;  mitunter  ist  ihnen  zwar  die 
Befähigung  verloren  gegangen,  jedoch  kann  sie 
ihnen  durch  eine  Kultur  im  Boden,  eine  sog.  Erd- 
passage, wieder  angezüchtet  werden. 

Mit  Hilfe  einer  Stickstoffbindung  durch  die 
Buttersäurebakterien  aber  würde  sich  die  von 
Berthelot  beobachtete  Erscheinung  nicht  er- 
klären lassen;  denn  die  Buttersäurebakterien  sind 
im  allgemeinen  sauerstoffeindlich,  während  Ber- 
thelot die  Stickstoffanreicherung  gerade  bei  un- 
gehindertem Luftzutritt  beobachtete.i 

Nun  wurde  aber  von  Beijerinck  (24)  ein 
anderes  stickstoffbindendes  Bakterium  entdeckt, 
Azotobacter  genannt,  das  kein  Buttersäurebildner, 
sondern  ein  sauerstoffliebender  Mikroorganismus 
ist.  Da  dieser  ein  starkes  Stickstoffsammlungs- 
vermögen besitzt,  so  läßt  sich  durch  seine  Tätig- 
keit die  Stickstoffanreicherung  im  durchlüfteten 
Boden  wohl  erklären. 

Die  Azotobacterorganismen  —  Beijerinck 
unterschied  2  Arten  —  kommen  häufig  im  Boden 
vor,  wenn  freilich  ihre  Verbreitung  durchaus  nicht 
so  allgemein  ist,  wie  man  früher  annahm  (25). 

Zu  ihren  Lebensbedürfnissen  zählen  genügen- 
der Luftzutritt,  an  Nährstoffen  vor  allem  Kalk  und 
Phosphorsäure,  weniger  Kali  (26).  Daneben  steht 
das  Vorkommen  im  engen  Zusammenhang  mit 
der  basischen  Reaktion  des  Bodens  (27).  Be- 
sonders gefördert  wird  die  Tätigkeit  der  Azoto- 
bacterbakterien  durch  die  Gegenwart  von  Kollo- 
iden (28}. 

Unbedingt  notwendig  aber  zur  Ausübung  der 
Stickstoffassimilation  ist  das  Vorhandensein  von 
Kohlenstoffsubstanzen  im  Boden  als  Energiequelle. 
Während  den  KnöUchenbakterien  diese  Stoffe  von 


den  Wirtspflanzen  geliefert  werden,  müssen  die 
freilebenden  Stickstoffbinder  dieselben  dem  Acker- 
boden entnehmen.  Hier  stehen  ihnen  die  ver- 
schiedensten Kohlenstoffquellen  zur  Verfügung, 
vor  allem  Zellulose,  die  von  Ernterückständen 
herrührt,  z.  T.  in  Form  von  Grün-  und  Stall- 
düngung in  den  Boden  kommt. 

In  der  Tat  konnte  Pringsheim  (29)  sowohl 
bei  Reinkulturen  von  Clostridium  wie  von  Azo- 
tobacter nachweisen,  daß  sie  auch  Stickstoff 
sammeln  können  in  Verbindung  mit  zellulose- 
zersetzenden Bakterien. 

Vorher  hat  schon  AI  fr.  Koch  (30)  durch 
Versuche  festgestellt,  daß  dem  Boden  einverleibte 
Zusätze  von  Traubenzucker,  Rohrzucker,  Stärke 
und  besonders  Mannit  die  Stickstoffbindung  er- 
heblich fördern  und  somit  das  Wachstum  der 
Pflanzen  auf  stickstoffarmen  Böden  zu  steigern 
vermögen.  Er  hat  durch  Zuckerung  des  Bodens 
2 — 3  fache  Mehrerträge  erzielt,  allerdings  voraus- 
gesetzt, daß  ein  längerer  Zeitabschnitt  zwischen 
der  Zuckerbehandlung  des  Bodens  und  der  Aus- 
saat liegt. 

Auch  Zellulose  hat  AI  fr.  Koch  (31)  unter 
bestimmten  Bedingungen  als  geeignete  kohlen- 
stoffquelle befunden.  Wenn  es  aber  zu  einer 
Stickstoffbindung  kommen  soll,  so  muß  nach  An- 
gabe des  genannten  Forschers  die  Zellulose  rasch 
zersetzt  werden.  Zu  diesem  Zweck  soll  eine  Zu- 
führung von  Stallmist  dienlich  sein,  als  Sitz  der 
richtigen  zellulosezersetzenden  Bakterien.  Koch 
schreibt  diesem  Umstand  sogar  z.  T.  die  günstige 
Wirkung  der  Stallmistdüngung  zu. 

Es  kann  aber  auch  sein,  daß  es  nicht  auf  die 
Schnelligkeit  der  Zersetzung,  sondern  auf  ganz 
andere  Momente  ankommt.  So  hat  sich  z.  B. 
das  Verhältnis  der  zur  Verfügung  stehenden  Stick- 
stoff- und  Kohlenstoffmengen  (32),  fernerhin  der 
Sauerstoffgehalt  der  organischen  Nährstoffe  von 
Einfluß    auf   die  Stickstoff bindung    erwiesen    (33). 

Vor  kurzem  hat  man  (34)  auch  geprüft,  ob 
die  Zellmembranen  des  Sphagnummooses  und 
jungen  Sphagnumtorfes  den  Stickstoffassimilanten 
als  Kohlehydratquelle  dienen  können,  und  ist  da- 
bei zu  einem  günstigen  Ergebnis  gekommen,  be- 
sonders dann,  wenn  diese  Stoffe  im  aufgeschlossenen 
Zustande  angewandt  wurden.  Eine  Umsetzung 
dieses  Befundes  in  die  Praxis  wäre  von  großer 
Bedeutung;  denn  man  könnte  durch  Düngung 
mit  diesen  verhältnismäßig  billigen  Stoffen  eine 
Stickstoffanreicherung  des  Bodens  bewerkstelligen. 
Inwieweit  aber  die  bisher  im  Laboratorium  fest- 
gestellten Ergebnisse  für  die  Praxis  von  Wichtig- 
keit sind,  muß  erst  erprobt  werden. 

Bis  jetzt  war  jedenfalls  das  Bestreben,  aus  Torf 
bzw.  Moorboden  wirksame  Dünger  herzustellen, 
nicht  von  Erfolg  begleitet  gewesen,  obwohl  man 
es  bereits  auf  den  verschiedensten  Wegen  ver- 
suchte (35). 

Auch  der  seit  einigen  Jahren  durch  Vergären- 
lassen eines  Gemisches  von  Melasseschlempe  und 
Torf   hergestellte   Dünger,    Guanol  (36)   genannt, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


hat  nach  Versuchen  von  Lemmermann  und 
dem  Verfasser  die  Hoffnungen  nicht  erfüllt,  die 
ihm  von  mancher  Seite  zugesprochen  worden  sind. 

Wir  wollen  nun  die  weitere  Frage  stellen: 
Hat  überhaupt  die  Stickstoffbindung  durch  die 
freilebenden  Organismen  eine  praktische  Be- 
deutung? 

Diese  Frage  ist  viel  umstritten  worden. 

Nach  der  Entdeckung  der  stickstoffsammelnden 
Bakterien  hegte  man  die  Hoffnung,  durch  Er- 
füllung ihrer  Lebensbedingungen,  den  Stickstoff 
der  Luft  in  hohem  JVlaße  nutzbar  machen  zu 
können. 

Ja,  man  ging  sogar  soweit,  daß  man  schon 
durch  Einimpfung  von  Stickstoff  bindenden  Bak- 
terien in  den  Boden  Erfolge  zu  erzielen  glaubte. 
Eine  besonders  große  Rolle  spielte  hierbei  das 
Alinit;  es  war  das  eine  Reinkultur  des  Bacillus 
ellenbachensis,  den  Caron  (37)  aus  dem  Boden 
seines  Gutes  züchtete.  Zahlreiche  Versuche  sind 
damit  ausgeführt  worden;  ihr  Ergebnis  aber  blieb 
nach  kritischer  Überprüfung  nur  ein  negatives. 

Seitdem  tauchen  im  Handel  immer  wieder 
neue  Impfpräparate  auf,  die  sich  aber  als  wertlos 
herausstellen. 

In  allerletzter  Zeit  berichtet  Hiltner  (38)  je- 
doch von  einem  Impfstoff,  durch  dessen  An- 
wendung bei  Rüben  ein  Mehrertrag  zu  erzielen 
sei.  Die  in  den  Boden  gebrachten  Organismen 
sollen  im  Wurzelbereich  der  Rüben  leben  und 
hauptsächlich  durch  ihre  stickstoffsammelnde 
Tätigkeit  auf  das  Wachstum  fördernd  wirken. 
Auch  bei  Getreide  glaubt  Hiltner  durch  ähn- 
liche Impfstoffe  Erfolge  zu  erzielen.  Bis  jetzt 
liegen  jedoch  noch  zu  wenige  Erfahrungen  vor, 
um  den  -  Wert  dieser  Impfstoffe  beurteilen  zu 
können. 

Die  häufigen  Mißerfolge  der  Bodenimpfung 
sind  darauf  zurückzuführen,  daß  das  Gedeihen 
der  Bakterien  im  Boden  in  erster  Linie  von  den 
ihnen  gewährten  Existenzbedingungen  abhängig 
ist.  Sind  diese  nicht  gegeben,  so  nützt  auch  die 
Impfung  nichts. 

Keineswegs  kann  ich  deshalb  dem  Vorschlag 
Bornemanns  (39),  die  Kohlensäureproduktion 
im  Boden  zu  fördern  durch  Einimpfung  be- 
sonders tätiger  kohlensäureproduzierender  Bak- 
terien, beipflichten.  Ich  bin  vielmehr  der  Meinung, 
daß  ein  solcher  Vorschlag  zwar  Hoffnungen  er- 
weckt, aber  nur  Enttäuschungen  bringt.  Wenn 
Bornemann  auf  den  Fortschritt  hinweist,  den 
die  Gärungsindustrie  durch  Züchtung  besonders 
tätiger  Gärungsorganismen  machte,  so  zieht  er 
nicht  in  Betracht,  daß  dort  die  Verhältnisse  wesent- 
lich einfacher  liegen.  Der  Bierbrauer  hat  ein  Nähr- 
substrat von  bestimmter  Zusammensetzung,  dem 
die  gewählte  Hefe  am  besten  zusagt.  Der  Boden 
aber  unterscheidet  sich  schon  auf  demselben 
Acker  in  mannigfaltiger  Art.  Der  Bierbrauer  kann 
durch  bestimmte  Manipulationen  die  von  ihm 
nicht  gewünschten  Organismen  unterdrücken,  was 
dem  Landwirt  nur  in  beschränktem  Maße  möglich 


ist.  In  I  ccm  Ackerboden  wohnen  je  nach  seiner 
Art  und  Güte  l  Million  bis  50  Millionen  Orga- 
nismen (40);  würden  in  i  ccm  Würze  ebenso 
viele  verschiedenste  Mikroorganismen  hausen,  so 
dürfte  es  dem  Bierbrauer  schwer  gelingen,  trotz 
Einimpfung  einiger  weniger  spezifischer  Hefezellen 
den  Gärprozeß  nach  bestimmter  Richtung  hin  zu 
beeinflussen. 

Die  von  Bornemann  in  Erwägung  ge- 
zogenen Kohlensäurebakterien  dürften  deshalb 
ebensowenig  Erfolge  haben  wie  bis  jetzt  die 
Impfung  mit  frei  lebenden  stickstoffbindenden 
Bakterien. 

Was  wir  tun  können,  die  Mikroflcra  im  Boden 
zu  beeinflussen,  ist  eine  zielbewußte  Bearbeitung 
und  Pflege  desselben.  Und  unter  Schaffung  der 
geeigneten  Lebensbedingungen  mögen  zweifellos 
die  stickstoffbindenden  Bakterien  den  Boden  mit 
Stickstoff  anreichern. 

Leider  aber  ist  die  Größe  der  von  ihnen  ge- 
leisteten Arbeit  festzustellen,  mit  großen  Schwierig- 
keiten verknüpft,  worauf  die  bestehenden  Meinungs- 
verschiedenheiten über  die  praktische  Bedeutung 
der  Stickstoffassimilanten  zurückzuführen  sind. 

Man  könnte  glauben,  daß  der  Nachweis  des 
Stickstoffzuwachses  durch  eine  chemische  Analyse 
leicht  zu  erbringen  sei.  Das  ist  aber  nicht  der 
Fall.  Denn  ein  Boden,  der  über  ein  Stickstoff- 
kapital von  4000  kg  auf  i  ha  verfügt,  weist  einen 
Stickstoffgehalt  von  o,ioi  "j^  auf.  Steigt  nun  der 
Sdckstoffvorrat  um  40  kg  pro  ha,  was  einer  guten 
Düngergabe  entspricht,  so  wächst  der  Prozentge- 
halt des  Bodens  an  Stickstoff  nur  um  ein 
tausendstel  Prozent  (41).  Zum  Nachweis  derart 
geringer  Mengen  aber  versagen  unsere  chemischen 
Methoden. 

Man  versuchte  noch,  auf  einem  anderen  Weg 
zur  Erkenntnis  der  Stickstoffbindung  zu  gelangen, 
durch  Heranziehung  sog.  Dauerversuche,  von  denen 
einer  der  meist  genannten  durch  JuliusKühn(42) 
in  Halle  ausgeführt  wurde.  Kühn  hat  mehr  als 
20  Jahre  ununterbrochen  auf  dem  gleichen  Feldstück 
Winterroggen  angebaut.  Obwohl  während  der 
ganzen  Zeit  nie  mit  Stickstoff  gedüngt  wurde, 
haben  die  Erträge  nicht  abgenommen.  Kühn 
folgerte  daraus,  daß  die  Ernten  hätten  zurück- 
gehen müssen,  wenn  nicht  durch  die  Tätigkeit 
der  stickstoffsammelnden  Bakterien  eine  besondere 
Stickstoffquelle  zur  Verfügung  gestanden  hätte. 

Pfeiffer  (43)  jedoch  weist  nach,  daß  auch 
ohne  Zuhilfenahme  der  Stickstoffbindung  die  lang- 
jährigen ohne  Düngung  erreichten  Ernten  sich 
erklären  lassen.  Denn  es  gibt  Böden,  die  wohl 
fähig  sind,  ohne  Erschöpfung  viele  Jahre  lang  die 
Pflanzen  mit  Stickstoff  zu  versorgen.  Dabei  wird 
aber  das  Stickstoffkapital  des  Bodens  allmählich 
aufgezehrt    und    infolgedessen  Raubbau  getrieben. 

Die  Kühnschen  Versuche  lassen  also  auch 
eine  Erklärung  zu,  die  sich  nicht  auf  die  Tätig- 
keit stickstoffsammelnder  Bakterien  stützt. 

Auch  die  von  Hof  er  (44)  gemachte  Beobach- 
tung erbringt  m.  E.  nicht  einen  Beweis  von  Stick- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


493 


Stoffbindung.  Da  für  Fischteiche  eine  Salpeter- 
düngung durch  eintretende  Denitrifikation  gefährdet 
ist,  hat  Hof  er  versucht,  den  Luftstickstoff  nutzbar 
zu  machen  durch  Schaffung  geeigneter  Lebens- 
bedingungen für  die  stickstoffbindenden  Bakterien. 
Dazu  hat  er  kalkreiche  Teiche  mit  Kali  und 
Phosphorsäure  gedüngt  und  mit  einem  Zusatz  von 
Kohlehydraten  versorgt.  Infolge  der  Düngung 
stieg  die  Planktonmenge  und  der  P'ischzuwachs. 
Die  Beigabe  von  Kohlehydraten  aber,  besonders 
in  Form  von  Biertrebern  und  Abfallzellulose,  hat 
den  Fischzuwachs  in  gesteigertem  JVIaße  gefördert. 
Hofer  schließt  daraus  auf  eine  Stickstoffsammlung 
durch  die  freilebenden  Bakterien.  Eine  Erhöhung 
des  Stickstoffgehaltes  der  Wässer,  oder  eine  ver- 
mehrte Anzahl  von  stickstoffsammelnden  Orga- 
nismen konnte  nicht  nachgewiesen  werden.  Also 
ist  auch  hier  ein  direkter  Beweis  von  Stickstoff- 
bindung nicht  erbracht,  und  der  etwaige  Einwand, 
daß  bei  stickstoffloser  Düngung  Raubbau  an  Stick- 
stoff betrieben  worden  sei,  könnte  nur  schwer 
entkräftet  werden,  zumal  m.  E.  die  Wirksamkeit 
der  Kohlehydrate  nicht  genug  gesichert  ist 

Mit  der  Frage  der  Stickstoffbindung  durch 
niedere  Organismen  hängt  auch  eng  die  Beur- 
teilung über  den  Wert  der  Brache  zusammen.  In 
der  alten  Dreifelderwirtschaft  ließ  man  zur  Er- 
zielung höherer  Ernteerträge  ein  ganzes  Jahr  den 
Acker  unbestellt.  Mit  der  Zeit  trat  diese  sog. 
Schwarzbrache  mehr  in  den  Hintergrund,  bis 
Caron  (45)  erneut  auf  ihren  Vorteil  hinwies. 
Seitdem  hat  sich  ein  lebhafter  Meinungsaustausch 
für  und  wider  die  Brache  entwickelt.  Meiner 
Meinung  nach  kommt  die  Pfeiffersche  Ansicht  (46) 
entschieden  der  Wahrheit  am  nächsten.  Dieser 
Forscher  spricht  der  Brache  in  besonderen  Fällen 
ihren  Wert  durchaus  nicht  ab,  wie  man  aus  den 
Ausführungen  von  Löhnis  anzunehmen  glauben 
muß  (47).  Er  will  die  Brache  aber  nur  in  Aus- 
nahmefällen angewandt  wissen,  nämlich  auf 
schweren,  bindigen  Böden,  um  ihnen  die  richtige 
Ackergare  zu  verleihen,  welche  ohne  Brachehaltung 
auf  die  Dauer  schwer  erzielbar  sei.  Im  übrigen 
aber  halten  Pfeiffer  und  andere  Forscher  (48) 
die  Brache  für  einen  Raubbau  an  Stickstoff.  Denn 
es  ist  zweifelhaft,  ob  bei  Brachehaltung  durch  die 
stickstoffbindenden  Organismen  mehr  Stickstoff 
gesammelt  wird  als  bei  gewöhnlicher  Bodenbe- 
arbeitung. Sicher  aber  ist  es,  daß  während  der 
Brachezeit  die  Bodennährstoffe,  insbesondere  auch 
die  Stickstoffsubstanzen  im  verstärkten  Masse  ab- 
gebaut werden  und  dadurch  einer  gesteigerten 
Auswaschung  in  den  Untergrund  ausgesetzt  sind. 
Wie  der  Abbau  der  hochmolekularen  orga- 
nischen Stoffe,  insbesondere  der  Stickstoffver- 
bindungen, im  Boden  vor  sich  geht,  wollen  wir 
nun  betrachten.  Man  bezeichnet  ihn  im  allge- 
meinen mit  den  landläufigen  Namen  Verwesung, 
Fäulnis,  Vermoderung.  Liebig  hielt  diese  Pro- 
zesse für  lang.same  Verbrennungen.  Heute  wissen 
wir,  daß  die  durch  den  Luftsauerstoff  bewirkten 
Veränderungen   nur  äußerst  gering  sind,   daß   die 


Umwandlungen  vielmehr  von  lebenden  Organismen 
und  ihren  Enzymen  besorgt  werden. 

Die  Schar  der  Organismen,  die  sich  am  Ab- 
bau der  organischen  Stickstoffverbindungen  im 
Boden  beteiligt,  ist  eine  große  und  mannigfaltige ; 
es  sind  sowohl  Pilze,  wie  aerobe  und  anaerobe 
Bakterien. 

Durch  ihre  Tätigkeit  entstehen  zunächst  aller- 
lei Zwischenprodukte,  die  für  uns  aber  geringeres 
Interesse  haben,  wie  das  schließlich  gebildete 
Ammoniak  und  der  entstehende  Salpeter. 

Die  Intensität  der  Ammoniakbildung  im  Boden 
hängt  von  der  Art  des  Bodens,  seinem  Wasser- 
gehalt und  der  Durchlüftung,  aber  auch  von  der 
Art  der  Stickstoffsubstanz  ab. 

In  leichten  Böden  geht  der  Abbau  rascher  vor 
sich  als  in  schweren. 

Der  Stickstoff  im  Leder-  und  Knochenmehl 
wird  schlechter  ammonisiert  als  im  Blut-,  Fleisch- 
und  Hornmehl.  Bei  den  Gründüngungspflanzen 
hat  ihr  Alter  einen  großen  Einfluß  auf  die  Schnellig- 
keit der  Zersetzung  (49).  Im  jungen  Zustand  geht 
die  Ammonisierung  rascher  vor  sich  als  in  älteren 
Stadien.  Es  beruht  dies  darauf,  daß  der  Stickstoff 
der  Pflanzen  mit  dem  Alter  in  einen  schwerer  ab- 
baufähigen Zustand  übergeht;  außerdem  hat  nach 
Untersuchungen  von  Lemmermann  und  Ta- 
zenko  (50)  der  Gehalt  an  Rohfaser,  der  ebenfalls 
mit  dem  Alter  zunimmt,  einen  großen  Einfluß 
auf  den  Abbau  der  Grünsubstanz. 

Besonders  rasch  geht  im  Boden  die  Umwand- 
lung des  Harnstoffs  in  kohlensaures  Ammoniak 
vor  sich.  Doch  wird  diese  Arbeit  von  den  Bak- 
terien meist  schon  auf  der  Düngerstätte  oder  in 
der  Jauchegrube  besorgt  und  ist  bei  unrationeller 
Aufbewahrung  der  Jauche  die  Ursache  für  die 
mitunter  sehr  großen  Stickstoffverluste. 

Aus  der  Intensität  der  Ammoniakbildung  suchte 
man  Rückschlüsse  zu  ziehen  auf  die  Wirkung  und 
Ausnützung  der  organischen  Stickstoffdüngemittel 
in  den  verschiedenen  Böden.  Zu  diesem  Zweck 
wurde  von  Remy  (51)  ein  Verfahren  ausgearbeiet, 
das  darauf  beruht,  daß  eine  Peptonlösung  mit  dem 
zu  prüfenden  Boden  geimpft  wurde.  Die  nach 
einigen  Tagen  gebildete  Ammoniakmenge  sollte 
ein  Maßstab  sein  für  die  sog.  „Fäulniskraft"  des 
Bodens  und  seine  Verwertung  der  organischen 
Stickstoffdüngemittel.  Zweifellos  wäre  ein  solches 
Verfahren  von  Bedeutung,  da  man  an  Stelle  zeit- 
raubender Düngungsversuche  auf  bequeme  Weise 
in  kurzer  Zeit  sich  über  die  Wirksamkeit  orga- 
nischer Stickstoffdüngemittel  unterrichten  könnte. 
Durch  Untersuchungen  von  Lemmermann  und 
seinen  Mitarbeitern  (52)  wurde  aber  nachgewiesen, 
daß  die  Zersetzungsvorgänge  in  Nährlösungen 
ganz  anders  verlaufen  als  im  Boden  und  deshalb 
nicht  als  Maßstab  für  den  natürlichen  Veriauf 
gelten  können. 

Mit  der  Ammoniakbildung  aber  haben  die 
organischen  Stickstoffverbindungen  noch  nicht  den 
Endpunkt  ihres  Wandlungsprozesses  erreicht.  Das 
Ammoniak   wird   im  Boden  zu  Salpeter  oxydiert. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Auch  die  Bildung  des  Salpeters  hielt  man  früher 
für  einen  chemischen  Prozeß.  Pasteur  aber,  der 
bereits  eine  Reihe  von  Gärungen  als  biologische 
Prozesse  erkannt  hatte,  hegte  auch  bezüglich  der 
Nitrifikation  die  Vermutung,  daß  es  sich  nicht  um 
einen  chemischen,  sondern  biologischen  Vorgang 
handle. 

In  der  Tat  war  durch  Arbeiten  von  Schlö- 
sing  und  Müntz  (53)  der  biologischen  Auf- 
fassung bald  zum  Siege  verholfen  worden. 

Aber  erst  nach  weiteren  10  Jahren  ist  es  den 
beiden  russischen  Gelehrten  Winogradsky  und 
Omelianski  (54)  gelungen  die  Nitrifikationser- 
reger  aufzufinden.  Es  ergab  sich,  daß  die  Sal- 
peterbildung von  2  Gruppen  von  Bakterien  be- 
sorgt wird.  Die  eine  Gruppe  oxydiert  das  Am- 
moniak zu  Nitrit,  die  andere  überführt  das  Nitrit 
in  Nitrat. 

Betrachten  wir  die  Nitrifikationsbakterien  vom 
ernährungsphysiologischen  Standpunkt,  so  bieten 
sie  viel  Interessantes.  Sie  ernähren  sich  nämlich 
nicht  von  organischen  Kohlenstofifverbindungen, 
sondern  decken  ihren  Kohlenstoffbedarf  aus  der 
Kohlensäure  der  Luft.  Diese  Fähigkeit  besitzen 
außer  wenigen  anderen  Bakteriengruppen  sonst 
nur  die  mit  Chlorophyll  ausgestatteten  Pflanzen 
und  zwar  nur  unter  Mithilfe  der  Sonnenenergie. 
Die  Nitrifikationsbakterien  sind  aber  weder  chloro- 
phyllhaltig,  noch  bedienen  sie  sich  zur  Kohlen- 
säurezerlegung der  Sonne.  Die  Natur  hat  also  in 
diesen  kleinen  Baumeistern  einen  ganz  anderen 
Weg  eingeschlagen,  um  aus  mineralischen  Stoffen 
Protoplasma  aufzubauen.  Natürlich  können  auch 
die  Nitrifikationsbakterien  diese  Synthese  nicht 
ohne  Energieaufwand  vollziehen.  Zu  diesem  Zweck 
oxydieren  sie  Ammoniak  bzw.  Nitrit  und  benützen 
die  dabei  frei  werdende  Energie  zur  Reduktion 
der  Kohlensäure. 

Aus  dem  Sauerstoff  bedürfnis  der  Salpeterbildner 
erklärt  sich,  daß  die  Nitrifikation  im  Boden  leb- 
haft verläuft,  sofern  dieser  genügend  durchlüftet 
ist;  außerdem  aber  muß  er  über  eine  normale 
Feuchtigkeit  verfügen  und  darf  nicht  sauer  rea- 
gieren. 

Demnach  sind  bei  den  einzelnen  Bodenarten 
die  Bedingungen  für  den  Verlauf  der  Salpeter- 
bildung verschieden  günstig.  Bei  schweren,  un- 
durchlässigen Tonböden  liegen  die  Verhältnisse 
schlechter  als  bei  humosen  Lehm-  und  Sandböden, 
da  die  Tonböden  gewöhnlich  zu  feucht  sind  und 
infolgedessen  unter  Mangel  an  Luftzutritt  und 
Wärme  leiden.  Besonders  ungünstig  aber  sind 
die  Lebensbedingungen  auf  Moorböden  (55);  denn 
hier  kommt  zu  dem  hohen  Feuchtigkeitsgehalt 
und  der  mangelhaften  Durchlüftung  noch  die  saure 
Reaktion  hinzu.  Es  ist  deshalb  notwendig,  diese 
Böden  zu  entwässern  und  zu  kalken.  Obwohl 
zwar  in  der  Praxis  selbst  durch  die  stärkste 
Kalkung  eine  Neutralisation  der  Moorböden  nicht 
zu  erreichen  ist  (56),  muß  man  sich  doch  hüten, 
allzu  große  Kalkmengen  anzuwenden.  Denn  bei 
sehr  starken  Kalkungen  zeigt  sich  zwar_im  ersten 


Jahr  ein  außerordentlich  günstiger  Einfluß,  um  so 
schlimmer  aber  sind  die  Nachwirkungen  in  den 
folgenden  Jahren.  Eine  Erklärung  hierfür  hat  man 
zwar  noch  nicht ;  doch  scheint  die  Beeinträchtigung 
des  Pflanzenwachstums  aufs  engste  mit  der  Frage 
der  Stickstoffernährung  der  Pflanzen  zusammen- 
zuhängen (57). 

Während  auf  den  unkultivierten  Moorböden 
eine  Nitrifikation  überhaupt  nicht  stattfindet  oder 
diese  nur  sehr  gering  ist,  verläuft  sie  auf  Sand- 
böden mitunter  zu  rasch.  Das  kann  für  den 
Landwirt  oft  von  Nachteil  sein,  da  der  aus  den 
organischen  Stickstoffdüngemitteln  gebildete  Sal- 
peter der  Auswaschung  in  den  Untergrund  unter- 
liegt und  somit  für  die  Pflanzen  verloren  geht. 
Diese  Gefahr  ist  auf  Sandböden  größer  als  auf 
den  bindenden  Lehm-  und  Tonböden.  Der  Zeit- 
punkt der  Düngung  mit  organischen  Stickstoff- 
düngemitteln  wird  also  bestimmt  durch  den  Ver- 
lauf der  Nitrifikation.  Einen  schönen  Beweis  da- 
für liefern  mehrjährige  Versuche,  die  Lemmer- 
m  a  n  n  und  der  Verf.  ausführten.  So  war,  um 
nur  ein  Beispiel  herauszugreifen,  auf  lehmigem 
Sandboden  bei  Herbstdüngung  mit  Blutmehl 
der  Ertrag  fast  nur  halb  so  groß  wie  bei  F  r  ü  h  - 
j  a  h  r  s  anwendung. 

Im  Ackerboden  findet  also  selbst  in  Winter- 
monaten Salpeterbildung  statt.  Daß  diese  mit- 
unter ziemlich  kräftig  sein  kann,  geht  aus  Unter- 
suchungen von  Alfred  Koch  hervor  (58). 

In  einem  besonders  tätigen  Zustand  aber  sollen 
sich  die  Bodenbakterien  im  Frühjahr  befinden,  und 
zwar  unabhängig  von  den  jeweils  herrschenden 
Temperaturen  (59).  So  soll  durch  die  Impfung 
mit  einer  Erdprobe,  die  im  Frühjahr  entnommen 
wird,  unter  gleichen  Bedingungen  eine  intensivere 
Salpeterbildung  sich  hervorrufen  lassen  als  mit 
einer  im  Winter  genommenen  Erdprobe  des 
gleichen  Feldstückes. 

Durch  Untersuchungen  von  Lemmermann 
und  W i c h  e rs  (60)  aber  stellte  sich  heraus,  daß  die 
bisher  erbrachten  Beweise  von  dem  periodischen 
Auf-  und  Ableben  der  Bakterientätigkeit  im  Boden 
unzureichend  sind  und  auch  andere  Erklärungen 
zulassen. 

In  der  Salpeterbildung  haben  wir  einen  Vor- 
gang kennen  gelernt,  der  nur  bei  normaler  Durch- 
lüftung des  Bodens  stattfindet;  ist  der  Boden  zu 
naß,  so  wird  nicht  nur  die  Entstehung  des  Sal- 
peters unterbunden,  sondern  die  Zerstörung  des 
bereits  vorhandenen  bewirkt  unter  Entweichung 
von  elementarem  Stickstoff.  Infolge  des  ge- 
steigerten Wassergehaltes  und  der  dadurch  her- 
beigeführten geringeren  Durchlüftung  des  Bodens 
nimmt  eine  Bakterienflora  überhand,  die  diesen 
Vorgang  auslöst,  den  man  als  Denitrifikation  be- 
zeichnet. 

Es  ist  et  wa  2  5  Jahre  her,  alsPaulWagner(61) 
die  Beobachtung  machte  über  die  schädliche 
Wirkung  von  frischem  Stallmist  auf  das  Pflanzen- 
wachstum und  die  Ertragsverminderung  auf  dessen 
salpeterzersetzenden  Einfluß  zurückführte.    Seiner- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


495 


zeit  setzte  in  der  Landwirtschaft  eine  allgemeine 
Besorgnis  ein,  die  sich  soweit  steigerte,  daß  man 
eine  Stallmistdüngung  fast  für  schädlich  hielt.  Da 
waren  es  in  erster  Linie  Pfeiffer  und  Lem- 
mermann  (62),  welche  jene  übertriebene  Furcht 
zurückwiesen,  und  zeigten,  daß  die  Salpeterzer- 
störung für  die  Praxis  durchaus  nicht  die  Be- 
deutung hat,  die  man  ihr  zuschrieb,  da  sie  nur 
bei  weitgehendem  Luftabschluß  einsetzt.  Es 
können  nämlich  dann  die  denitrifizierenden  Bak- 
terien, deren  es  eine  große  Anzahl  gibt,  ihr  Sauer- 
stoffbedürfnis nicht  aus  der  Luft  decken  und 
zerstören  infolgedessen  den  Salpeter.  Dement- 
sprechend fanden  später  Lemmermann  und 
Wichers  (63)  bei  steigendem  Wassergehalt  des 
Bodens  eine  zunehmende  Stickstoffentbindung. 

Die  Bedingungen  zur  Salpeterzerstörung  sind 
daher  in  erster  Linie  auf  JVIoor-  und  Sumpfböden 
und  in  Gewässern,  hingegen  auf  Ackerböden  nur 
ausnahmsweise  gegeben. 

Zwar  ist  auf  rohen  Moorböden  infolge  ihres 
sauren  Charakters  die  Tätigkeit  der  Denitrifikations- 
bakterien nur  eine  geringe,  durch  Kalkzufuhr  wird 
sie  aber  gesteigert,  und  es  ist  wahrscheinlich,  daß 
die  Denitrifikation  eine  Ursache  der  bereits  er- 
wähnten Kalkschädigung  auf  Moorböden  ist  (64). 

Am  intensivsten  verläuft  der  Salpeterzerstörungs- 
prozeß aber  entschieden  in  Gewässern.  So  hat 
Hofer  (65)  bei  Teichdüngungsversuchen  festge- 
stellt, daß  bei  einer  Düngung  von  163  kg  Chile- 
salpeter pro  ha  innerhalb  zweier  Wochen  der  ge- 
samte Stickstofi  entwichen  war,  in  einem  Fall 
schon  nach  6  Tagen.  Die  Salpeterzerstörung  ver- 
lief so  rasch,  daß  sie  stündlich  verfolgt  werden 
konnte.  Eine  Düngung  der  Fischteiche  mit  Sal- 
peter erscheint  demnach  ohne  praktischen  Erfolg, 
was  Ho  f  e  r  veranlaßte,  andere  Wege  einzuschlagen, 
die  wir  bereits  kennen  lernten. 

Die  notwendige  Lebensenergie  gewinnen  die 
Denitrifikationsbakterien  durch  Oxydation  vor- 
handener organischer  Stoffe  vermittels  des  dem 
Salpeter  entnommenen  Sauerstoffs.  Man  war  des- 
halb der  Meinung,  daß  die  Denitrifikation  nur 
nach  Zuführung  reichlicher  Mengen  kohlenstoff- 
haltiger Substanzen  stattfinden  könne.  Das  ist 
aber  nicht  der  Fall,  denn  Untersuchungen  von 
O  e  1  s  n  e  r  (66)  haben  gezeigt,  daß  auch  ohne  be- 
sondere Zugabe  dieser  Stoffe  Salpeter  zerstört 
wird,  sofern  nur  der  Luftzutritt  durch  reichlichen 
Wassergehalt  des  Bodens  beschränkt  ist.  Es  ge- 
nügt also  mitunter  schon  der  Kohlenstoffvorrat 
des  Bodens. 

An  Stelle  von  Kohlenstoffsubstanzen  können 
übrigens  auch  Schwefel  und  oxydationsfähige 
Schwefelverbindungen  als  Energiequelle  für  manche 
denitrifizierende  Bakterien  dienen  (67). 

Bis  jetzt  haben  wir  zwar  gehört,  daß  der 
Ernteausfall,  den  Wagner  und  auch  andere  bei 
Düngungen  mit  Stroh,  frischem  Stallmist  oder  Kot 
beobachteten,  nicht  auf  Stickstoffverflüchtigung 
durch  Denitrifikation  zurückzuführen  ist,  wir  haben 
aber    noch    nicht    die    Ursache    für    die    Ernteer- 


niedrigungen kennen  gelernt.  Auch  dafür  haben 
neben  Schneidewind  (68),  Pfeiffer  und 
Lemmermann  (69),  als  sie  seinerzeit  die 
Denitrifikationsfurcht  in  ruhigere  Bahnen  lenkten, 
bereits  die  richtige  Antwort  erteilt.  Sie  haben 
durch  Versuche  klar  gelegt,  daß  die  Beein- 
trächtigung des  Pflanzenwachstums  infolge  des 
Stickstoffverbrauchs  durch  die  Bodenorganismen 
hervorgerufen  wird.  Durch  die  Düngung  mit 
frischen  kohlenstoffhaltigen  Substanzen  wird  näm- 
lich den  Bodenbakterien  eine  ihnen  willkommene 
Kohlenstoffnahrung  zugeführt.  Es  setzt  infolge- 
dessen eine  üppige  Vermehrung  derselben  ein, 
und  der  zum  Aufbau  ihres  Körpereiweißes  not- 
wendige Stickstoff  wird  dem  Boden  entnommen 
und  auf  diese  Weise  den  Pflanzen  entzogen.  Es 
entsteht  also  im  Boden  ein  förmlicher  Nahrungs- 
kampf um  den  Bodenstickstoff  zwischen  Bakterien 
einerseits  und  Pflanzenwurzeln  andererseits,  ein 
Kampf,  bei  dem  die  Pflanze  den  Kürzeren  zieht  (70). 

Sind  die  organischen  Stoffe  aber  genügend 
verrottet,  so  geben  sie  für  die  Bodenorganismen 
eine  weniger  günstige  Kohlenstoffquelle  ab.  Der 
Bodenstickstoff  bleibt  den  Pflanzen  zur  Ver- 
fügung, und  die  günstige  Wirkung  des  Stallmistes 
kann  zur  Geltung  kommen.  Bei  Versuchen,  welche 
Lemmermann  und  der  Verf.  ausführten,  ergab 
sich  z.  B.  bei  Anwendung  von  frischem  Pferde- 
mist ein  Ernteausfall  von  40  "/o;  ließen  wir  aber 
den  gleichen  Pferdemist  vor  der  Düngung  sechs 
Wochen  lang  verrotten,  so  war  eine  Ernteerhöhung 
von  etwa  10%  eingetreten. 

Außer  Stickstoff  werden  von  den  im  Boden 
lebenden  Organismen  aber  auch  noch  andere 
Pflanzennährstoffe  in  Form  ihrer  Körpersubstanz 
festgelegt,  vor  allem  Kali  und  Phosphor  (71). 
Liegen  diese  Nährstoffe  nicht  in  löslicher  Form 
vor,  so  werden  sie  durch  die  von  den  Organismen 
produzierte  Kohlensäure  und  ausgeschiedenen 
organischen  ,  Säuren  in  Lösung  gebracht.  Auf 
diese  Weise  werden  die  schwerlöslichen  Boden- 
phosphate, ja  selbst  Silikate,  wie  Orthoklas, 
Nephelin  u.  a.  teilweise  gelöst  (72). 

Die  von  den  Bodenorganismen  erzeugte  Kohlen- 
säuremenge wird  von  manchem  Forscher  recht 
hoch  geschätzt.  Löhnis  (73)  berechnet  sie  auf 
9000  kg  pro  ha  im  Jahre;  Stoklasa  (74)  gibt 
dafür  sogar  noch  eine  größere  Zahl  an;  er  schätzt 
sie  auf  15000  kg  oder  71/2  Millionen  Liter. 
Pfeiffer  (75)  jedoch  hält  diese  Schätzungen  für 
zu  hoch;  nach  seinen  Berechnungen  können  im 
Boden  höchstens  jährlich  5000  kg  Kohlensäure 
pro  ha  entstehen. 

Immerhin  sind  diese  Kohlensäuremengen  noch 
groß  genug,  um  bei  der  Aufschließung  der  Boden- 
nährstoffe eine  bedeutsame  Rolle  spielen  zu  können, 
und  sicherlich  gewinnen  sie  noch  dadurch  an  Be- 
deutung, daß  sie  den  Kohlensäuregehalt  der  über 
dem  Boden  liegenden  Luftschicht  erhöhen  und 
damit  die  Assimilationstätigkeit  der  Pflanzen 
fördern. 

In  neuerer  Zeit  aber  wird  entschieden  die  Be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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deutung  der  Bodenkohlensäure  überschätzt.  Nicht 
angängig  aber  ist  es,  wenn  den  Landwirten  be- 
züglich der  Kohlensäureversorgung  der  Pflanzen 
Maßregeln  anempfohlen  werden,  die  einer  be- 
wiesenen und  erprobten  Grundlage  entbehren. 

Unter  den  kohlensäuregebenden  Substanzen 
im  Boden  macht  entschieden  die  Zellulose  den 
Hauptteil  aus.  Große  Mengen  davon  werden  teils 
als  Ernterückstände,  teils  in  Form  von  Grün-  und 
Stallmistdüngung  jährlich  dem  Boden  einverleibt. 
An  ihrem  Abbau  beteiligen  sich  die  verschiedensten 
Organismen,  sowohl  Pilze  (76)  wie  auch  Aktino- 
myceten {jy)  und  Bakterien.  Den  ersten  Ein- 
blick in  das  Leben  der  Zellulosebakterien  haben  wir 
durch  die  Untersuchungen  von  Omelianski  (78) 
bekommen.  Omelianski  hat  2  verschiedene 
Arten  aufgefunden,  die  beide  anaerob  leben;  die 
eine  Art  bildet  bei  der  Zersetzung  der  Zellulose 
außer  Fettsäuren  und  Kohlensäure  noch  Wasser- 
stoff, die  andere  noch  Methan.  K  e  1 1  e  r  m  a  n  (79) 
jedoch  schreibt  die  Bildung  von  Wasserstoff  und 
Methan  nicht  den  Zellulosebakterien,  sondern  bei- 
gemischten Begleitbakterien  zu.  Außerdem  be- 
richtet dieser  amerikanische  Forscher  von  der 
Auffindung  einiger  aerob  lebender  Zellulosezer- 
setzer, was  aber  von  anderer  Seite  (80)  bezweifelt 
wird.  Gleichwohl  ist  anzunehmen,  daß  im  Acker- 
boden der  Abbau  der  Zellulose  in  erster  Linie 
durch  aerobe  Organismen  ausgeübt  wird.  Denn 
es  ist  ein  durch  praktische  Erfahrung  erprobtes 
Gebot,  die  Stallmist-  und  Gründüngung  nur  so- 
weit unterzupflügen,  daß  der  Luftzutritt  ein  unge- 
hinderter ist.  Um  die  Zersetzung  im  günstigen 
Sinne  zu  fördern,  muß  man  deshalb  nasse  Böden 
entwässern  und  schwere  kalken.  Denn  Kalk  be- 
günstigt die  Entstehung  der  Krümelstruktur  des 
Bodens  und  erleichtert  somit  den  Luftzutritt. 
Gleichzeitig  bindet  er  die  bei  der  Zersetzung 
entstehenden  Säuren  und  schafft  eine  für  das 
Bakterienleben  günstige  Reaktion.  Auf  leichten 
Sandböden  hingegen,  die  ja  nicht  an  Luftmangel 
leiden,  muß  man  mit  einer  Kalkdüngung  vor- 
sichtig zu  Werke  gehen.  Die  Anwendung  von 
Ätzkalk  ist  zu  vermeiden,  da  sonst  der  Abbau 
der  organischen  Stoffe  zu  rasch  und  zu  radikal 
verläuft  und  infolgedessen  nur  zu  einer  mangel- 
haften Bildung  von  Humus  führt. 

Die  Humusbildung  aber  ist  für  den  Boden 
von  größter  Bedeutung;  denn  der  Humus  ist  der 
Regulator  für  den  Wasser-  und  Nährstoffhaushalt 
des  Bodens,  und  somit  ein  indirekter  hervorragen- 
der Förderer  des  Pflanzenwachstums.  Er  trägt  in 
hohem  Maße  bei  zur  Herstellung  der  Ackergare, 
jenes  lockeren,  krümeligen  und  elastischen  Zu- 
standes  der  Ackerkrume,  welche  das  Ziel  jeder 
Bodenbearbeitung  ist. 

Bei  der  Entstehung  des  Humus  und  der  Acker- 
erde spielen  auch  die  Regenwürmer  eine  große 
Rolle,  worauf  schon  D  a  r  w  i  n  (81)  hingewiesen  hat. 

So  sehen  wir,  daß  der  Boden  kein  totes  Sub- 
strat ist,  als  was  er  mit  dem  bloßen  Auge  er- 
scheint.    Leben  doch  schon  in  einem  Gramm  oft 


Millionen  von  Organismen,  zertrümmern  und  bauen 
auf  und  zimmern  aus  den  toten  Überresten  der 
Pflanzen  und  Tiere  Stoffe  zurecht,  die  wieder 
neues  Leben  ermöglichen. 

So  mannigfaltig  auch  die  von  den  Bakterien 
ausgeführten  Vorgänge  sein  mögen,  stets  dienen  sie 
ihnen  dazu,  ernährend  und  kraftspendend  zu  wirken. 
Wie  das  Tier  und  die  Pflanze  führen  auch  die 
Bakterien  Prozesse  aus,  auf  Grund  deren  sie 
Energie  gewinnen  und  dadurch  instand  gesetzt 
werden,  ihre  Lebensleistungen  zu  vollziehen  und 
den  Aufbau  ihres  Körpers  zu  vollbringen. 

Aufgabe  der  Forschung  ist  es,  die  Lebensvor- 
gänge der  Bodenorganismen  genau  kennen  zu 
lernen,  ihr  praktisches  Ziel  aber:  Die  Bodenbe- 
arbeitung bewußt  so  zu  gestalten,  daß  die  günstig 
wirksamen  Organismen  in  ihrer  Tätigkeit  gefördert, 
die  schädlichen  Lebewesen  aber  gehemmt  werden. 

Literaturangaben. 

1)  R.  Koch,  Mitt.  d.  Kais.  Gesundh. -Amts,   l8Sl,   I,  S.  34. 

2)  Boussingaul t ,  Compt.  rend.,  1854,  38,  S.  580,  717. 

Agronomie,  Chimie  agricole  et  Physiologie,  i86o,  Bd.  I. 

3)  Schultz-Lupitz,    Landw.  Jahrb.   1881,   10,  S.   777. 

Die  Kalidüngung  auf  leichtem  Boden.    Berlin   1883. 

4)  Hellriegel,    Die   landw.  Vers.-Stat.,   1887,  33,  S.  464. 
Wilfarth,  Die  landw.  Vers.-Stat.,   1887,  34,  S.  460. 
Hellriegel  u.  Wilfarth,    Beilageheft   zu  d.  Zeitschr. 
d.  Ver.  f.  d.  Rübenzuckerind.,   1888. 

5)  Woronin,  Mem.  de  l'Acad.  des  sciences  de  St.  Peters- 
bourg,   1866,   10,  Nr.  6. 

Bot.  Ztg.,  1866,  24,   S.  329. 

6)  Brunch  erst,  Ber.  d.  Deutsch.  Bot.  Ges.,   1885,  3,  S.  241. 

7)  Frank,  Ber.  d.  Deutsch.  Bot.  Ges.,   1885,  3. 

8)  Beijerinck,    Bot.  Ztg.,    188S,    46,8.725;    1890,    48, 
S.  837. 

9)  R  e  m  y ,    Verh.    d.    Gesellsch.    deutsch.    Naturforscher   u. 
Ärzte,   1902,  74,  S.  213. 

10)  Salfeld,  Deutsche  Landw.  Presse,  1888,  15,  S.  630; 
1889,  16,  S.  632;  1891,  18,  S.  1033;  1892,  19,  S.  647; 
1S99,  26,  S.   120. 

lUustr.  Landw.  Ztg.,   1904,  24,  S.   133. 

11)  Nobbe  u.  Hiltner,  Sachs.  Landw.  Zeitschr.,  1896,  44, 

S.  90. 
Hiltner  u.  Störmer,  Arb.  a.  d.  Biolog.  Abt.  d.  Kais. 
Gesundh. -Amts,   1903,  3. 
Hiltner,  Prakt.  Blatt,  f.  Pflanzenbau  u. -schütz,   1904,2. 

Naturwiss.  Zeitschr.  f.  Land-  u.  Forstwirtsch.,   1904,  2, 

S.  127. 
Schneidewind,  Landw.  Jahrb.,  1907,  36,  S.  604. 
Gerlach  u.  Vogel,  Cenlr.  f.  Bakt.,  11,   1908,20,  S.  61. 
Albrecht,  Prakt.  Blatt,  f.  Pflanzenbau  u.  -Schutz,    1912, 
10,  S.  32. 

12)  Simon,  Sachs.  Landw.  Ztg.,  1911,  59,  S.  194,  1912, 
60,  S.   16. 

Deutsche  Landw.  Presse,    191 1,  38,  S.  257;    1913,  40, 

S.  390. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1912,  35,  S.  340. 
Popp,  Deutsche  Landw.  Presse,   191 1,  38,  S.  492. 
V.   Feilitzen,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1911,  29,  S.   198. 
Heinze,  Jahresber.  f.  angew.  Bot.,   1912,   10,  S.   112. 

Landw.  Jahrb.   1918,  51,  S.  761. 

13)  Hugo  Fischer,  Gartenflora,  1913,  62,  S.  42. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1914,  41,  S.  286. 

14)  Kühn,    Deutsche  Landw.  Presse,    1917,    44,  S.  467. 

15)  Pfeiffer,  Deutsche  Landw.  Presse,   1919,46,  S.  759. 
Ahr,  Deutsche  Landw.  Presse,  1920,  47,  S.  43. 
Bart  hei,  Centr.  f.  Bakt.,  11,   1920,  50,  S.   192. 

16)  Nobbe,  Schmid,  Hiltner  und  Hott  er.  Die  Landw. 
Vers.-Stat.,   1S92,  41,  S.   138. 

Nobbe    und    Hiltner,    Die  Landw.    Vers.-Stat.,    1895, 
45.  S.   155- 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Hiltner,  Die  Landw.  Vers.-Stat.,  1896,  46,  S.  153. 

Nobbe  und  Hiltner,    Naturw.  Zeitschr.    f.  Land-  und 

Forstwirtschaft,   1904,  2,  S.  366. 

Shibata,  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.,   1902,  37,  S.  662. 

Peklo,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1910,  27,  S.  451. 

Lieske,    Morphologie    und  Biologie    der    Strahlenpilze. 

Leipzig   1921,  S.  264. 

17)  Miehe,  Flora,   1918,  XI,  (Neue  Folge)  S.  431. 

18)  Stahl,  Jahrb.  f.  wiss.  Bot.,   1900,  34,  S.  539. 

19)  Lemmermann,  Die  Landw.  Vers.-Stat.,  1907,  67,  S.  207. 

20)  Berthelot,  Chimie  vegetale  et  agricole.   Paris  1899. 

Compt.  rend.,   18S5,   loi,  S.  775;    1887,   104,  S.  205. 

21)  Winogradsky,    Compt.    rend.,    1893,    116,    S.    1385; 
1S94,  118,  S.  353. 

Arch.  d.  sc.  bio).  St.  Pelersbourg,   1895,  3i  S.  297. 
Kochs  Jahresber.,  1S95,  6,  S.  273. 
Centr.  f.  Bakt.,  II,   1902,  9,  S.  43. 

22)  H.  Pringsheim,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1906,   16,  S.   795; 
1908,  20,  S.  248;   1909,  24,  S.  48S. 

Haselhoff  u.  Bredemann,  Landw.  Jahrb.   1916,  35, 
S.  381. 

23)  Bredemann,    Centr.  f.  Bakt.,  II,   1909,  23,  S.  385. 

24)  Beijerinck,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1901,  7,  S.  561. 

25)  Christensen,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1915,  43,  S.   I. 

26)  Ger  lach  u.  Vogel,   Centr.  f.  Bakt.,  II,  1902,  8,8.669; 
1902,  9,  S.  817,  881;    1903,   10,  S.  636. 
Krzeminiewska,   Bull,  de  l'Acad.   d.  sc.  de  Cracovie, 
1910,  S.  376. 

Bot.  Centr.-BI.,   191 1,  116,  S.  52. 

Centr.- Bl.  i.  Agr.  Chem.,  1911,  40,  S.  443. 
Vogel,  Centr.  f.  Bakt.,  II,  1912,  32,  S.  411. 
Stoklasa,  Biochem.  Zeitschr.,   1915,    1916. 

27)  Christensen,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1907,  17,  S.  109,  161, 
378;   1911,  29,  S.  347;   1915,  43,  S.  I. 

Vgl.  V.  Feilitzen,  Fühl.  Landw.  Ztg.,   1910,  59,  S.  4S9. 

28)  Krzeminiewski,     Anzeig.     d.    Akad.    d.    Wissensch. 
Krakau,   1908. 

Hiltner,    Prakt.  Blatt,    f.  Pflanzenbau    u.  -schütz,    1910, 
8,  S.  43. 

Kaserer,  Ber.  d.  Deutsch,  bot.   Ges.,   1910,  28,  S.  2o8. 
Zeitschr.  f.   d.  landw.  Versuchsw.   in  Österr.,' 1911,    14, 

s.  97. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1912,  33,  S.  381. 
Remy  u.  Rösing,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   191I,  30.  S.  349. 
Hugo  Fischer,  Fühl.  Landw.  Ztg.,  1911,  60,  S.  73. 
Rahn,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1912,  35,  S.  429. 
Söhngen,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1913,  38,  S.  621. 
Prazmowski,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1913,  37,  S.  299. 
BuSmann,  Journ.  f.  Landw..    1913,  61,  S.  97. 
Neu  mann,    Deutsche  Landw.  Presse,   1913,  40,  S.  833. 

Fühl.  Landw.  Ztg.,   1914,  63,  S.  278. 
Löhnis  u.  Green,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   19 14,  40,  S.  50. 

29)  H.  Pringsheim,  Centr.  f.  Bakt.,  II,    1909,  23,  S.  300; 
1910,  26,  S.  222. 

MitL  d.  Deutsch.  Landw.  Ges.,  1913,  28,  S.  26,  43,  295. 
30J    Alfred    Koch,    Lietzendorf,    Krull     u.    Alves, 
Journ.  f.  Landw.,   1907,  55,  S.  355. 
Alfr.  Koch,  Journ.  f.  Landw.,   1909,  57,  S.  269. 

31)  Alfr.  Koch,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1910,  27,  S.   1. 

Mitt.   der  Deutsch.  Landw.  Ges.,   1910,  25,  S.   173. 

32)  Feisinger,      Zeitschr.     f.     d.    landw.     Versuchsw.     in 
Österreich,  191 1,  14,  S.  1039. 

33)  Dvorak,    Zeitschr.   f.    d.    landw.    Versuchsw.  in  Österr., 
1912,  15,  S.  1077. 

34)  Schmidt,  Centr.   f.  Bakt.,   II,   1921,  52,  S.  281. 

35)  Tacke,    MItt.    d.  Ver.    z.   Ford.    d.    Moork.,    1918,    36, 
S.  369. 

36)  Wilkening,  Die  Herstellung  v.  Spiritus  aus  Melasse  u. 
Guanol  aus  Melasseschlcmpe.     Hannover. 

Norddeutsche  Landw.  Ztg.,   1917,   13,  S.  203. 
Alfr.  Koch,  Fühl.  Landw.  Ztg.,   1916,  65,  S.   145. 
Foth,  Zeitschr.  f.  Spiritusind.,   1917,  40,  S.  255. 
Bruns,  Blätter  f.  Zuckerrübenbau,   1917,  24,  S.   14. 
Vogel,  Zeitschr.  f.  Spiritusind.,  1919,  42,  S.  9. 
Meyer  u.  Schröter,    Blätter  f.  Zuckerrübenbau,   1920, 
27,  S.  90. 


Gehring,  Fühl.  Landw.  Ztg.,   1919,  68,  S.  259. 

Mitt.  d.  Ver.  z.  Ford.  d.  Moorkultur,   1920,  38,  S.  373. 
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37)  Caron,  Die  Landw.  Vers.-Stat.,   1895,  45,  S.  401. 

38)  Hiltner,   Mitt.    d.    Deutsch.    Landw.    Ges.,     1921,    26, 
S.  243. 

39)  Bornemann,  Deutsche  Landw.  Presse,  1920,  47,  S.  683. 

40)  Ramann,  Bodenkunde.    3.  Aufl.  Berlin  1911,  S.  439. 

41)  Löhnis,  Boden-Bakterien  u.  Boden  Fruchtbarkeit.    Ber- 
lin  1914,   S.  44. 

42)  Kühn,    Berichte  a.    d.    Physiol.  Labor,    u.    d.   Versuchs- 
anst.  d.  Landw.  Instituts  d.  Univ.  Halle,   1901,  15. 

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43)  Pfeiffer,     Stickstoffsammelnde    Bakterien,     Brache     u. 
Raubbau.     Berlin   1912. 

Ehrenberg,  Fühl.  Landw.  Ztg.,  1913,  62,  S.  449;    1914, 

63,  S.   178. 

Löhnis,  Fühl.  Landw.  Ztg.,  19 13,  62,  S.  83S. 

44)  Hofer,    Allgemeine    Fischerei-Ztg.,     1914,     1915,   1916. 

Mitt.  der  Deutsch.  Landw.  Ges.,   1915,  30,  S.  179. 
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1915,  S.  417. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1916,  46,  S.  304. 

Fühl.  Landw.  Ztg.,   1916,  65,  S.  393. 

45)  Caron,    Die  Landw.  Vers.-Stat.,    1895,    45,  S.  401. 

Kochs  Jahresber.,   1897,  S,  S.  212. 

Jahrb.   der  Deutsch.  Landw.  Ges.,   1900,   15,  S.  43. 

46)  Pfeiffer,     Stickstoffsammelnde    Bakterien,     Brache    u. 
Raubbau.     Berlin   1912. 

47)  Löhnis,  Bodenbakterien  und  Bodenfruchtbarkeit.     Ber- 
lin   1914. 

48)  Schneidewind,    Die    Stickstoffquellen    u.     die   Stick- 
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Kuhn-Archiv,   1914,  5,  S.  57. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1915,  43,  S.  478. 
Mitscherlich,    Mitt.    d.  Deutsch.  Landw.  Ges.,    1909, 
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49)  Löhnis,    Handbuch    der  landw.    Bakteriologie.      Berlin 

1910,  S.  S72- 

50)  Lemmermann  u.  Tazenko,  Landw.  Jahrb.  1909,  38, 
S.   lOl. 

51)  Remy,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1902,  8,  S.  66. 

52)  Lemmermann,     Fischer,     Kappen    u.     Blanck, 
Landw.  Jahrb.,   1909,  38,  S.  319. 

Hugo  Fischer,    Centr.  f.  Bakt.,  II,    1909,  22,  S.  654; 

1909,  24,  S.  62. 

Lemmermann,  Fischer  u.  Heinitz,  Landw.  Jahrb. 

1911,  41,  S.  755. 

Vgl.    auch  Löhnis,    Handbuch  d.   landw.  Bakteriologie, 

1910,  S.    573    und    Vorlesungen    über    landw.    Bakterio- 
logie,  1913,  S.  339. 

53)  Nach     Winogradsky,      Handbuch      der      technischen 
Mykologie  von  Lafar.     Jena   1907,  3,  S.   132. 

54)  Winogradsky,    Centr.    f.    Bakt.,    II,   1896,    2.    S.    415, 
449- 

Winogradsky    u.    Omelianski,    Centr.    f.  Bakt.,    II, 

1899,  5.  s.  329- 

Omelianski,    Centr.    f.    Bakt.,    II,    1899,    5,    S.    473, 

537.  652- 

Omelianski,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1902,  8,  S.  7S5. 

55)  Ritter.  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1912,  34,  S.   577. 

Internat.  Mitt.  f.  Bodenkunde,   1912,  2,  S.  411. 

Fühl.  Landw.  Ztg.,   1912,  61,  S.  601. 
Christensen,  Centr.   f.  Bakt.,  II,   1913,  37,  S.  414. 
Arnd,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1916,  45,  S.   554. 

Landw.  Jahrb.,   19 18,  51,  S.  297. 

56)  Tacke,  Jahrb.  f.  Moorkultur,   1913,  2,  S.   I. 

57)  Fleischer,  Landw.  Jahrb.   1891,  20,   S.  600. 
Densch,  Landw.  Jahrb.,   1913,  44,  S.  331. 

Arnd,    Landw.    Jahrb.,     1914,    47,    S.    371  ;     1916,    4g, 
S.   191. 

Centr.    f.  Bakt.,  II,   1916,    45,  S.  554;    1919,    49,  S.   1. 
Gully,  Landw.  Jahrb.  f.  Bayern,   1916,  6,  S.   I. 
Lemmermann,  Fischer,  Kappen  u.  Blanck,  1909, 
38,  S.  319. 


498 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Hugo    Fischer,     Die    Landw.    Vers.-Stat. ,    igog,    70, 

S.  335- 

58)  Alfr.  Koch,    Journ.    f.  Landw.,    1911,    5g,  S.   303. 

59)  Löhnis,  Mitt.   d.  Landw.   Inst.  Leipzig,   1905,  7,  S.  I. 

Handbuch  d.   Bakteriologie.     Berlin   1910,  S.  619. 
Vorlesungen  über    landw.  Bakteriologie.      Berlin   1913, 
S.  340. 

60)  Lemmermann     u.     Wichers,    Centr.    f.    Hakt.,    II, 
1920,  50,  S.  33. 

61)  P.   Wagner,  Die  Landw.  Vers.Stat,   1897,    48,  S.  247. 

Deutsche  Landw.  Presse,   1895,  22,  S.   123,  212. 

62)  Pfeiffer   u.    Lemra  erm  ann ,    Die  Landw.  Vers.-Stat., 
1900,  54,  S.  386. 

Lemmermann,  Habilitationsschrift.     Jena   1900. 

63)  Lemmermann  u.  Wichers,  Centr.  f.  Bakt.,  11,  1914, 
41,  S.  608. 

64)  Lemmermann,     Fischer,     Kappen    u.     Blanck, 
Landw.  Jahrb.,   1909,  38,  S.  319. 

Arnd,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1916,  45,  S.   554. 
Landw.  Jahrb.,   1916,  49,  S.   igi. 

65)  Hofer,  Allgemeine   FischereiZtg.,    1914,   1915,   1916. 
Herrn.   Fischer,   Fühl.  Landw.  Ztg.,    igi4,  63,  S.  244. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1919,  49,  S.  461. 

66)  Oelsner,  Centr.  f.  Bakt,  II,   1918,  48,  S.  210. 

67)  Beijerinck,  Centr.   {.  Bakt.,  II,   1904,   11,  S.  593. 
Lieske,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1913,  37,  S    I12. 
Geh  ring,  Centr.  f.  Bakt.,   II,   1915,  42,  S.  402. 

68)  Schneidewind,    Journ.    f.  Landw.,    1897,  45,  S.   173. 

69)  Pfeiffer    u.    Lemmermann,    Die  Landw.  Vers.-Stat., 
1900,  54,  S.   386. 

70)  Krüger  u.  Schneide  win  d  ,    Landw.  Jahrb.   1899,  28, 
S.  217;   1901,  30,  S.  633. 

Gerlach  u.  Vogel,  Centr.  f.  Bakt.,  II,  igoi,  7,  S.  60g. 
V,  Seelhorst  u.  F reckmann,  Journ.  f.  Landw.,  1904, 
52,  S.   163. 

V.  Seelhorst,  Journ.   f.  Landw.,   1906,   54,  S.  283. 
Hiltner  u.  Peters,  Kochs  Jahresber.,   1906,   7,  S.  455. 


Lemmermann,    Fischer    u.    Huseck,    Die  Landw, 

Vers.-Stat.,   1909,  70,  S.  317. 

Pfeiffer,    Frank,    Friedländer    u.    Ehrenberg, 

Mitt.  d.  Landw.  Inst.  Breslau,   igog,  4,  S.  753. 

Vogel,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   igi2,  32,  S.   169. 

Bischoff,  Journ.  f.  Landw.   1914,  62,  S.   I. 

V.  May,    Mitt.   d.  Landw.    Lehrkanzeln    f.    Bodenkultur, 

igi4,  2,  S.  440. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1916,  44,  S.  413. 

71)  Kryopoulus,  Centr.  f.  Bakt,  II,   1917,  47,  S.  645. 
Stoklasa,  Centr.  f.  Bakt.,  11,   igii,  2g,  S.   385. 
Sewerin,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   igio,  28,  S.   561. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,  igi2,  32,  S.  498. 
Duschetkin,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1912,  33,  S.  379. 
Skalkij,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1920,  50,  S.   189. 

72)  Bassalik,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1913,  37,  S.   104. 

Centr.  f.  Bakt.,  II,   1913/1914,  39,  S.   154. 
Centr.  f.  Bakt.,  II,   1914,  40,  S.    193. 

73)  Löhnis,  Vorlesungen    über    landw.  Bakteriologie.     Ber- 
lin 1913,  S.  349. 

74)  Stoklasa,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1911,  29,  S.  503. 

75)  Pfeiffer,  Fühl.  Landw.  Ztg.,   1920,  69,  S.  361. 

76)  Vanlterson,   Centr.  f.  Bakt.,  II,   1907,   11,  S.  6S9. 
Mütterlein,  Centr.  f.  Bakt.,  II,    1914,  39,  S.   167. 

77)  Krainsky,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1914,  41,  S.  649. 

78)  Omelianski,    Centr.    f.    Bakt.,    II,     igo2,    8,    S.   193; 
1904,  II,  S.  369;  1904,  12,  S.  33. 

79)  Kellerman  u.  McBeth,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1912,  34, 
S.  485;   1913/14,  39.  S.  502. 

80)  Omelianski,  Centr.  f.  Bakt.,  II,   1913,  36,  S.  472. 

H.  Pringsheim,  Mitt.  d.  Deutsch.  Landw.  Ges.,   1913, 
28,  S.  296. 

Angew.  Bot.,   1920,  2,  S.  217. 
Vgl.  auch  Rippel,   Angew.  Bot.,   tgig,    I,  S.  78;   1920, 
2,  S.  222. 

81)  Darwin,    Die   Bildung    der    Ackererde.      Deutsch   von 
Carus.     1882. 


[Nachdruck  verboten.] 


Eine  uralte  Kochsalzgewinuung  in  Mexico. 

Von  Prof.  Dr.  Karl  Reiche. 
Mit  3  Abbildungen. 


Einige  Kilometer  nördlich  von  der  Stadt 
Mexico,  am  Südfuße  der  malerischen  Sierra  de 
Guadaloupe  und  am  Rande  einer  sumpfigen,  in  der 
Regenzeit  mehr  oder  minder  von  leicht  salzhalti- 
gem Wasser  überfluteten  Niederung  liegt  das  Dorf 
Zacatenco,  dessen  niedrige,  lehmfarbige  Häuser 
wahrlich  nicht  die  Aufmerksamkeit  des  Reisenden 
auf  sich  lenken;  eher  schon  die  aus  alter  spani- 
scher Kolonialzeit  herstammende  Wasserleitung, 
deren  zahllose  Bogen  den  wasserführenden  Kanal 
auf  ihrer  Wölbung  tragen.  Was  aber  den  Blick 
des  Beobachters  am  meisten  fesselt,  sind  verschie- 
den hohe,  hier  und  da  in  der  Niederung  verstreute 
und  auch  wohl  in  das  Dorf  hineinreichende  Hügel, 
die  aus  trockenem  Schlamm  bestehen  und  durch 
massenhaft  in  ihnen  vorhandene  Topfscherben 
einen  künstlichen  Ursprung  verraten.  Gelegent- 
lich sieht  man  ein  verlassenes  oder  noch  bewohn- 
tes Häuschen  auf  ihrem  Gipfel.  Jeder  Ausflug  in 
jene  Gegend  legte  mir  die  Frage  nach  ihrer  Her- 
kunft nahe;  waren  es  die  Sockel  von  Häusern, 
welche  in  den  früher  vorhandenen,  weit  umfäng- 
licheren See  hinaus  gebaut  waren?  Dagegen 
sprach  das  lehmige  Material,  welches  vom  Wasser 


unfehlbar  zerweicht  und  fortgespült  worden  wäre. 
Sie  als  stehengebliebene  Reste  einer  früheren, 
höheren  Bodenbedeckung  betrachten  zu  wollen, 
verwickelte  in  noch  größere  Widersprüche  —  aber 
was  waren  sie  in  Wirklichkeit  ?  Die  Schwierigkeit 
wuchs,  als  ich  ähnliche  Bildungen  in  einem  ande- 
ren Dorfe  derselben  Gegend  sah,  wo  gegenwärtig 
überhaupt  keine  Wasserflächen  vorhanden  sind. 
Das  Rätsel  fand  seine  unerwartete  Lösung,  als 
eine  meiner  pflanzengeographischen  Exkursionen 
mich  in  das  wenige  Kilometer  weiter  östlich, 
nach  dem  Texcoco-See  zu  gelegene  Dorf  Aragon 
führte;  dort  stellte  sich  heraus,  daß  jene  künst- 
lichen Hügel  zu  einer  sehr  altertümlichen  Salz- 
gewinnung in  Beziehung  standen,  wie  sie  dort  bis 
auf  den  heutigen  Tag  noch  üblich  ist  und  auch 
noch  anderwärts  um  den  See  herum  betrieben 
wird.  Da  mit  zunehmender  Trockenlegung  dieser 
Wasserfläche  die  dortige  Salzindustrie  über  kurz 
oder  lang  aufhören  wird,  so  ist  es  vielleicht  von 
Interesse,  sie  in  Wort  und  Bild  zu  überliefern 
(Abb.  i). 

Zum  Verständnis  des  Folgenden  möge  zunächst 
auf  die  geographische  Tatsache  hingewiesen  wer- 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


499 


den,  daß  die  Stadt  Mexico  in  der  abflußlosen 'S! 
Hochebene  von  Anahuac  liegt,  und  daß  die  stehen-  -* 
den  Gewässer  solcher  Gebiete  mehr  oder  minder 
salzhaltig  sind.  In  früheren  Jahrzehnten  und  Jahr- 
hunderten waren  die  gewaltigen  Wassermassen  der 
in  regenreichen  Zeiten  stark  vergrößerten  Seen 
eine  schwere  Gefahr  für  die  Stadt  Mexico,  und 
legten  schon  frühe  den  Gedanken  an  eine  künst- 
liche Entwässerung  nahe.  Sie  wurde  (nach 
Terrys  Reiseführer  durch  die  Republik  Mexico) 
bereits  1607  von  dem  portugiesischen  Wasserbau- 
ingenieur Enrico  Martinez  in  Angriff  genom- 
men, aber  erst  unter  der  glanzvollen  Regierung 
des  Präsidenten  Porfirio  Dia z  im  Jahre  1900 
nach  mancherlei  Fährlichkeiten  beendet,  und  zwar 


Abb.   I.     Künstlicher  Hügel    aus  ausgelaugter  Salzerdc 
im  Dorfe  Aragon. 


in  der  Form  des  ca.  6,5  km  langen  Tajo  (=  Kanal) 
de  Nochistongo,  durch  welchen  das  Hochtal  von 
Mexico,  durch  Vermittlung  verschiedener  Flüsse, 
nach  dem  Atlantischen  Meere  abwässert.  In  frühe- 
ren Zeiten,  bevor  jener  künstliche  Abzugsgraben 
vorhanden  war,  mag  das  Wasser  der  großen  Seen 
salziger  gewesen  sein  als  heute,  obwohl  ein  leichter 
Salzgehalt  auch  heute  noch  wahrzunehmen  ist, 
einmal  an  der  Zusammensetzung  der  betreffenden 
Flora,  und  dann  an  der  Durchsetzung  des  aus- 
trocknenden Seebodens  mit  salzigen  Ausscheidun- 
gen. Damit  aber  sind  wir  wieder  bei  unserem 
eigentlichen  Thema  angelangt.  Denn  diese  salz- 
haltige, trockene  Erde  ist  das  Rohmaterial  für  die 


nunmehr  zu  schildernde  Salzfabrikation.  Es  wird 
während  der  trockenen  Jahreszeit  in  der  Umgebung 
des  Texcoco-Sees  gegraben,  in  Säcke  gefüllt  und 
auf  dem  Rücken  von  Eseln  in  das  Dorf  Aragon 
überführt;  das  ist  ein  reizloser  Ort,  dessen  lehm- 
farbige Häuser  sich  kaum  vom  lehmigen  Boden 
abheben.  Dort  wird  die  Masse  zu  Pulver  zer- 
kleinert. Unterdessen  hat  man  daselbst  trichter- 
förmige Gruben  (pilas)  im  Boden  ausgehöhlt,  ein- 
zeln oder  mehrere  nebeneinander,  die  etwa  i  m 
Durchmesser  und  0,5  m  Tiefe  haben.  Sie  er- 
innerten mich  an  riesig  vergrößerte  Fanggruben 
von  Ameisenlöwen,  wie  ich  sie  vor  Jahrzehnten 
in  der  Dresdener  Heide  aufgespürt  habe.  Im 
Boden  des  Trichters  befindet  sich  eine,  durch  ein 
Büschel  Agavefasern  siebartig  verengte  Ausfluß- 
öffnung, die  in  einen  horizontal  verlaufenden, 
fingerdicken,  hohlen  Rohrhalm  führt.  Da  die 
Stelle,  wo  die  Gruben  angelegt  sind,  nach  der 
einen  Seite  senkrecht  abfällt,  so  kommt  hier  das 
Rohr  zutage  und  ragt  einige  Zentimeter  weit  her- 
vor; unterhalb  seiner  Mündung  steht  ein  halb  in 
den  Boden  eingegrabener,  irdener  Topf;  ist  die 
Vorrichtung  außer  Betrieb,  so  ist  er,  um  das 
Hineinfallen  von  Erde  usw.  zu  verhüten,  zuge- 
deckt (Abb.  2,  3).  Soll  nun  die  Herstellung 
des  Kochsalzes  in  Angriff  genommen  werden,  so 
beschickt  man  die  Trichtergruben  mit  der  ge- 
mahlenen Erde  und  rührt  sie  mit  Wasser  an ;  die 
Salzlösung  filtriert  durch  den  Agavefaserptropfen 
in  das  horizontale  Rohr  und  von  diesem,  tropfen- 
weise und  als  leicht  gelbliche  Flüssigkeit,  in  den 
untergestellten  Topf.  Ist  dieser  gefüllt,  so  wird 
er  ins  Haus  des  Fabrikanten  gebracht  und  sein 
Inhalt  in  eine  flache,  auf  Steinen  über  Feuer 
stehende,  rechteckige  Blechpfanne  (paila)  gegossen. 
Jenes  ,Haus'  ist  eine  fensterlose  Lehmhütte,  deren 
Tür  Licht  und  Luft  ein-  und  den  Rauch  des 
Feuers  ausläßt;  sie  ist  von  den  Bewohnern  und 
gelegentlich  auch  von  deren  Hühnern  bevölkert; 
der  Aufenthalt  in  dem  beißenden  Rauche  des 
Holzfeuers  ist  für  den  Ausländer  keine  Annehm- 
lichkeit. Der  Inhalt  der  Pfanne  wird  nun  zum 
Sieden  erhitzt;  der  dabei  reichlich  auftretende 
gelbliche  Schaum,  der  die  Unreinigkeiten  des 
Rohmaterials  enthält,  wird  fleißig  abgeschöpft,  und 
schließlich  fällt  das  tadellos  weiße,  kristallinische 
Kochsalz  aus,  welches  ein  in  der  Umgegend  gut 
gehender  Marktartikel  ist.  Beim  Abscheiden  dieses 
Salzes  bleibt  eine  Mutterlauge  zurück,  die  noch 
Natronsalpeter  und  kohlensaures  Natron  enthält. 
—  Schließlich  sei  berichtet,  daß  die  ausgelaugte 
Erde,  bzw.  der  Schlamm,  aus  den  Trichtern  ent- 
fernt und  in  nächster  Nähe,  wo  er  nicht  stört, 
aufgehäuft  wird.  Bedenkt  man,  daß  sich  dies 
Verfahren  vielfach,  Jahr  für  Jahr,  Jahrzehnte  für 
Jahrzehnte,  wiederholt,  so  begreift  man,  daß  sich 
schließlich  jene  Hügel  und  Wälle  bilden  müssen, 
von  denen  eingangs  als  von  etwas  Unbegreiflichem 
die  Rede  war.  In  diese  trockenen  Schlammhügel 
können  später,  nach  Bedarf,  von  neuem  Trichter- 
gruben ausgegraben  werden. 


Soo 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


*■  ^^' 


Abb.  2  und  3.     Örtlichkeiten  im  Dorfe  Aragon,  wo  die  Trichtergruben  zu  sehen  sind. 


Bücherbesprechungen. 


Kammerer,    Paul,    Über    Verjüngung    und 
Verlängerung      des     persönlichen 
Lebens.     Stuttgart  und  Berlin  192 1,  Deutsche 
Verlagsanstalt. 
Nur   mit    einigem  Widerstreben   gehe   ich    an 
eine    kurze  Besprechung  dieser  Flugschrift   heran, 
deren   Notwendigkeit    mir   auch   aus    den   6   von 
dem  Verf.  angeführten  Gründen  nicht  einleuchtet 
Wenn  Steinachs  neue  Forschungen  über  „Ver- 
jüngung" —  diese  bilden  den  wesentlichen  Inhalt 


der  54  Seiten  starken  Schrift  — ,  sich  in  irgend- 
einer Form  bewähren,  so  wird  es  nicht  des  super- 
lativ-optimistischen  Beifalls  des  Verf.  bedürfen. 
Aber  noch  stehen  diese  Forschungen,  was  Theorie 
und  Praxis  betrifft,  im  Stadium  der  wissenschaft- 
lichen Aussprache.  Wenn  manche  schwerwiegenden 
Einwände  auch  vielleicht  nicht  ganz  beseitigt 
werden,  so  kann  immer  noch  Brauchbares 
übrig  bleiben.  —  Aber  warum  immer  wieder 
neue   Broschüren,    in    denen    nichts  Neues  steht? 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


501 


—  Was  Verf.  über  Verjüngung  von  niederen 
Tieren  und  Pflanzen  schreibt,  muß  ich  in  diesem 
Zusammenhange  als  unwissenschaftlich  bezeichnen. 
Das  wiegt  nicht  leichter,  sondern  im  Gegenteil 
schwerer  in  einem  allgemeinverständlichen  Auf- 
satz, der  die  vorliegende  Schrift  doch  sein  soll, 
da  sie  aus  einem  Vortrag  in  einem  Volksbildungs- 
verein hervorgeht.  Wenn  Verf.  aber  in  einem 
Volksbildungsverein  mit  den  Gegnern  Steinachs 
in  derselben  Weise  abrechnete  wie  in  dieser  Schrift, 
so  ist  das  zu  verurteilen.  Wissenschaftliche  Pole- 
miken gehören  überhaupt  nicht  in  einen  Volks- 
bildungsverein. —  Ich  rate  jedem,  der  sich 
durchaus  über  die  Verjüngungsangelegenheit 
unterrichten  will,  das  Buch  Steinachs  selbst 
zur  Hand  zu  nehmen  und  nicht  den  Panegyricus 
Kammerers.  Er  dient  auch  nur  dem  Tages- 
bedarf, wie  es  der  Verf.  anderen  derartigen  Bro- 
schüren mit  Recht  vorwirft;  ob  auch  in  „begreif- 
licher Ausnützung  der  Konjunktur?" 

Huebschmann  (Leipzig). 


Wiegers,  Fritz,  Diluvialprähistorie  als 
geologische  Wissenschaft.  Abhandl.  d. 
Preuß.  geol.  Landesanstalt  N.  F.  84.  210  S. 
mit  68  Abb.  Berlin  1920.  19,50  M. 
Der  durch  zahlreiche  Arbeiten  zur  Diluvial- 
archäologie bekannte  Landesgeologe  Wiegers 
legt  in  der  vorliegenden  Schrift  eingehend  dar, 
wie  Geologie  und  Prähistorie  aufeinander  ange- 
wiesen sind  und  einander  ergänzen  können.  Seine 
Ausführungen  bieten  im  Grunde  genommen  ein 
vollkommenes  Handbuch  der  Diluvialarchäologie. 
W.  beginnt  mit  einer  kurzen  Geschichte  der  Dilu- 
vialarchäologie, um  die  wechselseitigen  Einflüsse 
der  Geologen  und  Prähistoriker  auf  die  Entwick- 
lung dieser  Wissenschaft  festzustellen.  Dann  folgt 
eine  eingehende  Darstellung  und  Kritik  des 
französischen  Chronologieschemas.  Als  Grund- 
lagen für  die  Stratigraphie  geologischer  Schichten 
in  Frankreich  galten  besonders  drei  Fundgebiete: 
die  quartären  Ablagerungen  des  Meron  bei  Marignac 
(Gironde),  die  Garonneterrassen  zwischen  den 
Pyrenäen  und  Toulouse  und  die  Ablagerungen 
der  Somme  bei  Amiens  und  Abbeville.  Von 
diesen  drei  Fundgebieten  hat  nach  W.  zunächst 
einmal  das  erstere  auszuscheiden,  da  die  Horizon- 
tierung  der  Schichten,  aus  denen  auch  jegliche 
Fauna  fehlt,  vollkommen  unsicher  ist.  In  der 
Deutung  der  Garonneterrassen  weicht  W.  z.  T. 
von  den  durch  B o u  1  e  und  Obermaier  ver- 
tretenen Ansichten  ab.  Nach  W.s  Schlußfolge- 
rungen fällt  die  Obermai  ersehe  dritte  Terrasse 
nicht  in  die  dritte  Eiszeit,  sondern  in  die  zweite 
Eiszeit  der  Pyrenäen,  und  wenn  man  das  Argu- 
ment Obermaiers,  daß  das  Acheuleen  älter 
sein  müsse  als  die  von  ihm  gemiedenen  Terrassen, 
auf  die  richtig  erkannten  Verhältnisse  anwendet, 
so  kann  das  Acheuleen  nur  in  den  Zeitraum  der 
vorletzten  Zwischeneiszeit  oder  der  vorletzten  Eis- 
zeit fallen.  Das  dritte  Fundgebiet,  die  Ablage- 
rungen der  Somme,  ist  deswegen  von  besonderer 


Wichtigkeit,  weil  die  dortigen  diluvialen  Terrassen 
durch  ihre  Überlagerung  mit  älterem  und  jüngerem 
Löß  gegenwärtig  das  einzige  Bindeglied  zwischen 
dem  deutschen  und  dem  französischen  Diluvium 
bilden.  Die  drei  Sommeterrassen  gliedert  W.  in 
der  Weise,  daß  er  die  oberste  Terrasse  in  das 
Präglazial  setzt;  sie  enthält  keine  Artefakte.  Die 
mittlere  Terrasse  fällt  in  den  Anfang  der  ersten 
Interglazialzeit ;  sie  läßt  in  den  Artefakten  eine 
Entwicklung  des  Chelleen  von  den  frühesten  An- 
fängen an  erkennen.  Die  untere  Terrasse  gehört 
nach  W.  in  die  letzte  Zwischeneiszeit.  Die  in 
ihr  enthaltenen  Artefakte  sollen  nach  dem  franzö- 
sischen Forscher  C  o  m  m  o  n  t  ein  Chelleen  evolue 
darstellen.  Diese  Deutung  ist  aber  sicher  falsch. 
W.  macht  es  vielmehr  wahrscheinlich,  daß  es  sich 
um  ein  Zusammenvorkommen  von  Acheuleen- 
und  Mousterientypen  handelt.  Nach  dieser  Ana- 
lyse der  französischen  Stratigraphie  geht  W.  auf 
die  Gliederung  des  deutschen  Diluviums  über.  Er 
gibt  zunächst  einmal  eine  chronologisch  geordnete 
Liste  von  Funden,  deren  Stratigraphie  in  der  geo- 
logischen Literatur  hinreichend  bekannt  und  im 
allgemeinen  sicher  begründet  ist.  Daran  reiht 
sich  dann  eine  Reihe  von  Funden,  deren  Strati- 
graphie noch  ungeklärt  ist.  All  diese  strati- 
graphischen  Erkenntnisse  verarbeitet  W.  zu  einem 
ausführlichen  Abriß  der  prähistorisch-typologischen 
Gliederung  für  Deutschland.  W.  bietet  dabei  für 
die  bisher  nach  den  französischen  Fundorten  be- 
nannten Perioden  gut  deutsche  Namen.  Über 
diese  und  über  verschiedene  andere  Einzelheiten 
gibt  am  besten  die  nachstehende  Tabelle  einen 
Überblick. 


Frankreich 


Deutschland 


Eolithikum 


Praechelleen 

Chelleen 

Unteres  Acheuleen 

Oberes  Acheuleen 

Unteres  Mousterien 

Oberes  Mousterien 

Aurignacien 

Solutreen 

Magdalcnien 

Azilien.  Tardenoisen 


IVor-Faustkeil  Stufe 
Halberstädter  Stufe 
Hundisburger  Stufe 
Markkleeberger  Stufe 
Weimarer  Stufe 
Sirgensteiner  Stufe 
Willendorfer  Stufe 
Predmoster  Stufe 
Thainger  Stufe 
Ofneter  Stufe 


Eiszeitschema 


Präglazial,   erste 
Eiszeit 
Anfang]   der  ersten 
Mitte     ;   Zwischen- 
Ende    J       eiszeit 
2.  Eiszeit 
2.  Zwischeneiszeit 
Anfang  |    ^^^ 

Erste  Hälfte  (letzten 
ZweiteHälftef  Eis- 
desgl.  J    "" 

Postglazial. 


Der  Schlußabschnitt  beleuchtet  das  sachliche 
Verhältnis  der  Geologie  zur  Prähistorie  im  allge- 
meinen. In  diesen  Schlußabschnitt  sind  zwei 
größere  Unterabschnitte  hineinverflochten.  Der 
eine  von  ihnen  behandelt  unsere  gegenwärtige 
Kenntnis  von  den  Siedelungen  und  Wanderungen 
der  Altsteinzeitmenschen.  W.  tritt  hier  vor  allen 
Dingen  der  Frage  nach  der  Abhängigkeit  des 
Diluvialmenschen  vom  Boden,  auf  dem  er  lebte, 
näher,  und  weist  dabei  auf  die  große  Wichtigkeit 
der  Geologie  der  Rohmaterialien  hin.  In  einem 
zweiten  Abschnitt  werden  einige  Fehler  der  prä- 
historischen Bestimmungsmethoden  besprochen. 
Der  ganze  fünfte  Abschnitt    betont    noch    einmal 


502 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


zusammenfassend  die  Wichtigkeit  der  Geologie 
als  Grundlage  der  Wissenschaft  vom  fossilen 
Menschen.  Dabei  erklärt  W.  wiederum  die  ganze 
Diluvialprähistorie  als  eine  geologische  Disziplin. 
Ich  habe  bereits  früher  einmal  In  dieser  Zeit- 
schrift (N.  F.  14,  191 5,  S.  705  ff.)  auf  die  Unhalt- 
barkelt  einer  derartigen  Ansicht  hingewiesen  und 
halte  meine  dort  ausgesprochene  Anschauung  auch 
gegenüber  diesem  neuerlichen  Vorstoß  vollkom- 
men aufrecht.  Am  Schluß  seines  Buches  erhebt 
W.  die  Forderung,  die  geologischen  Landes- 
anstalten möchten  eine  eingehende  Berücksichti- 
gung der  Diluvialprähistorie  bei  der  Landes- 
aufnahme veranlassen,  und,  wenn  möglich,  die 
Errichtung  eines  besonderen  Forschungsinstitutes 
für  Diluvialprähistorie  In  Angriff  nehmen.  Beide 
Forderungen  können  wir  nur  auf  das  wärmste 
befürworten.  IVlöchte  das  Buch  recht  vielen  Geo- 
logen eindringlich  die  Bedeutung  der  Diluvial- 
prählstorle  vor  Augen  führen;  durch  eigene  Be- 
obachtungen im  Gelände,  auch  für  die  anderen 
Perloden  der  Prähistorie  (z.  B.  IVIoorgeologie, 
Frage  der  Küstenbildung  usw.)  würden  sie  sowohl 
der  Geologie  als  der  Prähistorie  außerordentlich 
viel  neue  Erkenntnisse  zuführen  können.  Die 
größte  Förderung  würde  natürlich  ein  besonderes 
Forschungsinstitut  bedeuten,  in  dem  alle  diese  Be- 
obachtungen zusammenfließen  und  von  dem  aus  sie 
dann  weiter  verfolgt  werden  können.  So  ist  be- 
reits in  Frankreich  ein  derartiges  Institut  ge- 
schaffen, und  Spanien  ist  ihm  darin  gefolgt.  Will 
man  in  Deutschland  durchaus  den  romanischen 
Ländern  auf  diesem  Gebiet  die  Führerrolle  über- 
lassen ? 

Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Potonids     Lehrbuch     der     Paläobotanlk. 

2.  umgearbeitete   Auflage    von    Prof.    Dr.    W. 

Gothan.      Mit  Beiträgen    von  San.- Rat  Dr.  P. 

Menzel   und    Dr.  J.  Stoller.     Mit  326  Abb. 

Berlin  1921,  Bornträger. 
Die  I.  Lieferung  des  nunmehr  vollständig  vor- 
liegenden Werkes  Ist  bereits  besprochen  worden 
(N.  F.  XIX,  Nr.  34),  das  damals  hinsichtlich  all- 
gemeiner Bedeutung  und  Ausstattung  Gesagte, 
gilt  auch  von  den  letzten  beiden  Lieferungen. 
Bedauerlich  Ist,  daß  Verf.  die  ausländische  Lite- 
ratur der  letzten  Jahre  nur  noch  zum  Teil  berück- 
sichtigen konnte.  Z.  B.  bei  den  Calamariaceen 
wäre  dies  sehr  erwünscht  gewesen.  Aber  das 
Manuskript  war  ja  längst  druckfertig  abgeschlossen. 
So  konnte  manches  nur  in  die  Schlußbetrachtun- 
gen aufgenommen  werden,  wie  die  wichtigen 
jüngsten  Aufschlüsse  über  die  Devonpflanzen 
(Rhynia,  Hornea).  Eingehend  werden  die  Cyca- 
dophyten  mit  ihren  z.  T.  an  Angiospermen  er- 
innernden Blüten  und  Samen  behandelt,  ein  Ver- 
gleich mit  den  Gnetaceen  wäre  hier  vielleicht  am 
Platze  gewesen.  Verf  führt  den  systematischen 
Teil  bis  zu  den  Koniferen,  wobei  in  einem  be- 
sonderen Abschnitt  auch  die  Hölzer  behandelt 
werden.     Im  Gegensatz  zu  allen  bisherigen  Lehr- 


büchern der  Paläobotanlk  —  wenn  wir  von 
Schenks  Handbuch  absehen  —  schließt  das 
Buch  damit  nicht.  Auf  etwa  60  Seiten  gibt 
Menzel  eine  gedrängte  Übersicht  der  fossilen 
Blütenpflanzen,  wodurch  das  Buch  für  den  Bota- 
niker an  Wert  gewinnt.  Spätere  Untersuchung, 
gestützt  auf  die  Revision  der  „klassischen"  Tertiär- 
floren wird  hier  allerdings  noch  viel  Zweifelhaftes 
auszuscheiden  haben.  Stoller  gibt  einen  Über- 
blick über  die  Quartärflora.  Er  deutet  die  Flora 
von  Tegelen  im  Niederrheingebiet  als  Interglazial. 
Danach  hätte  also  die  Tertiärflora  in  ihrer  typi- 
schen Zusammensetzung  {Magnolien,  Sequoia, 
Vifis,  Taxothmn)  die  erste  Vereisung  überlebt, 
eine  Anschauung,  die  noch  keineswegs  allgemein 
geteilt  wird. 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Schluß- 
betrachtungen, in  denen  Gothan,  gestützt  auf 
eine  reiche  Einzelkenntnis,  die  Floren  der  einzelnen 
Perioden  zusammenfassend  charakterisiert.  Trotz 
der  großen  Lückenhaftigkeit  des  Materials  ergeben 
sich  interessante  Ausblicke  auf  die  Pflanzengeo- 
graphie früherer  Erdperioden  sowie  die  Ökologie 
ihrer  Floren.  Ein  kurzer  Überblick  der  verschie- 
denen Anschauungen  über  die  Phylogenle  des 
Pflanzenreichs  und  einige  historische  Angaben 
machen  den  Beschluß. 

Im  Verein  mit  dem  Literaturverzeichnis,  das 
vielleicht  noch  ausführlicher  hätte  sein  können, 
ergibt  dies  alles  eine  im  ganzen  recht  lückenlose 
Übersicht  über  das  Gebiet,  wie  man  sie  von 
einem  „Lehrbuch"  verlangen  muß. 

Bei  einer  Neuauflage  dürfte  es  auch  möglich 
sein,  einige  sprachliche  Härten  zu  beseitigen,  die 
sich  wohl  aus  der  Notwendigkeit  erklären,  daß  in 
ein  schon  fertiges  Manuskript  Nachträge  einge- 
schoben werden  mußten. 

Kräusel  (Frankfurt  a.  M.). 


Gothan,  W. ,   Paläobotanlk.     Mit  28  Abbild. 

Sammlung  Göschen  828.     Berlin -Leipzig  192O, 

Verein,  wissensch.  Verl. 
Gleichzeitig  mit  dem  Lehrbuch  erscheint  diese 
kurze,  gedrängte  Übersicht  der  Ergebnisse  paläo- 
botanischer  Forschung.  Die  Anordnung  ist  die 
gleiche,  an  die  systematischen  Kapitel  schließen 
sich  Betrachtungen  aus  der  Pflanzengeographie 
früherer  Erdperioden.  In  einem  geschichtlichen 
Überblick  werden  auch  einige  Literaturhinweise 
gegeben  für  den,  der  tiefer  in  das  Gebiet  eindringen 
will.  So  dürfte  auch  dieses  Göschenbändchen 
seinen  Zweck,  das  Interesse  an  den  Ergebnissen 
der  Forschung  in  weitere  Kreise  zu  tragen,  gut 
erfüllen.  Die  meist  nach  Wandtafeln  angefertigten 
Bilder  geben  manche  Objekte  doch  wohl  etwas 
zu  klein  und  undeutlich  wieder. 

Kräusel,  Frankfurt  a.  M. 


Scott,   D.    H.,    Studies    in   Fossil    Botany. 
3''   ed.    I.  Pteridophyta.    London  1920,  Black. 
Die  „Studies"   des   englischen   Paläobotanikers 
bilden   eine   unentbehrliche  Grundlage  für  jeden, 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


503 


der  paläobotanisch  arbeiten  will.  Die  Eigenart 
des  Buches  besteht  in  der  vergleichend  anato- 
mischen Betrachtungsweise,  der  sich  alles  andere 
unterordnen  muß.  Die  Fortschritte,  die  die  letzten 
Jahre  hinsichtlich  der  anatomischen  Untersuchung 
der  fossilen  Pflanzen  gebracht  haben,  sind  be- 
trächtlich, nicht  zuletzt  ist  daran  Scott  selbst 
beteiligt.  Auch  wer  der  Einführung  der  ver- 
gleichenden Anatomie  zur  Lösung  phylogenetischer 
Fragen  (Stelärtheorie)  zweifelnd  gegenübersteht, 
wird  zugeben  müssen ,  daß  sie  trotz  manchen 
Falschen  und  Voreiligen  höchst  befruchtend  ge- 
wirkt hat.  Dies  kommt  in  fast  allen  Kapiteln 
zum  Ausdruck,  die  im  Vergleich  zur  2.  Auflage 
erhebliche  Umgestaltungen  erfahren  haben.  Dies 
gilt  namentlich  für  die  Farne.  Ein  ganz  neuer 
Abschnitt  behandelt  die  Psilophytales,  jene  eigen- 
tümliche devonische  Pflanzengruppe,  deren  nähere 
Kenntnis  wir  namentlich  Halle,  Kidston  und 
Lang  verdanken  (vgl.  den  Aufsatz  von  R.  Po- 
tonie  in  Heft  52, 1920).  Die  Ergebnisse  ihrer  grund- 
legenden Untersuchungen  sind  hier  zum  ersten 
IVlale  ausführlich  zusammengefaßt.  Zahlreiche, 
zum  großen  Teile  neue  Abbildungen  in  vorzüg- 
licher Ausführung  erläutern  den  Text. 

HofifentHch  schließt  sich  auch  Band  II  bald  an, 
für  den  ja  auch,  z.  B.  bei  den  Gymnospermen, 
manche  Erweiterungen  zu  erwarten  sind. 

Kräusel  (Frankfurt  am  Main). 

Hauser,  O.,  Ins  Paradies  des  Urmenschen. 

Fünfundzwanzig  Jahre  Vorweltforschung.     263  S. 

18  Taf.     Hamburg  und  Berlin  1920,   Hofifmann 

und  Campe.  Geb.  25  M. 
In  dem  vorliegenden  Buche  versucht  der 
Schweizer  Archäologe  O.  Hauser  über  sein 
Lebenswerk  einen  Überblick  zu  geben,  von  seinen 
ersten  archäologischen  Studien  und  seinen  ersten 
Hügelgräbergrabungen  an  bis  zu  seiner  Grrabung 
in  Vindonissa  und  seiner  mehr  als  20jährigen 
Arbeit  in  Südfrankreich,  die  ihn,  vor  allen  Dingen 
durch  die  Entdeckung  des  Homo  Mousteriensis 
im  Jahre  1908,  in  den  weitesten  Kreisen  bekannt 
gemacht  hat.  Zwar  pflegt  man  gewöhnlich  als 
46jähriger  sein  Lebenswerk  noch  nicht  zu  über- 
blicken —  oder  wenigstens  nicht  zusammenfassend 
darzustellen,  auch  dann  nicht,  wenn  man  in  die- 
sem Alter  bereits  auf  eine  25jährige  Tätigkeit 
auf  einem  bestimmten  Gebiete  zurückblicken 
kann.  Aber  einmal  liegen  in  dem  Falle  Haus  er 
die  Verhältnisse  insofern  anders,  als  sein  schweres 
Lebensschicksal  —  obwohl  schweizerischer  Staats- 
angehöriger wurde  er  zu  Beginn  des  Krieges  aus 
seiner  langjährigen  Arbeitsstätte  in  Südfrankreich 
vertrieben  und  sein  Besitz  sequestriert  —  zu  einem 
derartigen  abschließenden  und  zusammenfassenden 
Überblick  herausforderte.  Ohne  Zweifel  hat  dieses 
Lebensschicksal  H.  manche  Sympathie  verschafft. 
Durch  das  vorliegende  Buch  dürfte  er  jedoch  ein 
gut  Teil  derselben  wieder  verscherzen.  Denn  zu 
offensichtlich  geht  durch  dieses .  Buch  das  Ver- 
langen, aus  diesem  Lebensschicksal  möglichst  viel 


Kapital  herauszuschlagen.  Das  ganze  Buch  ist 
vollständig  auf  belletristische  Gesichtspunkte  ein- 
gestellt, in  ungemein  anziehender  und  fesselnder 
Darstellung  berichtet  uns  H.  von  den  Ergebnissen 
seiner  Ausgrabungen,  läßt  uns  einen  Einbhck  in 
die  Technik  dieser  Grabungen  tun,  erklärt  uns 
den  Entwicklungsgang  der  Werkzeuge  der  Alt- 
steinzeitmenschen und  versucht  das  Leben  dieser 
Urmenschen  zu  rekonstruieren.  Dabei  findet  sich 
manche  köstliche  Anekdote  über  die  Freuden  und 
Leiden  des  Ausgräbers,  aus  seinen  Erlebnissen  in 
Südfrankreich  usw.  Wenn  für  die  Altsteinzeit  auf 
diese  Weise  ein  größerer  Interessentenkreis  ge- 
wonnen wird,  kann  das  der  Wissenschaft  ja  nur 
recht  sein.  Trotzdem  wird  diese  nicht  umhin 
können,  gegen  einen  Punkt  in  dem  H.schen  Buche 
ganz  energisch  zu  protestieren,  nämlich  gegen  die 
Art  und  Weise,  wie  H.  seine  Gegner  behandelt. 
H.  begnügt  sich  nämlich  nicht,  diese  mit  An- 
griffen zu  überschütten,  sondern  er  schreckt  dabei 
weder  vor  sachlicher  Entstellung  noch  vor  per- 
sönlicher Verunglimpfung  zurück.  All  diese  An- 
griffe haben  nur  das  eine  Ziel,  Mitleid  für  den 
schwergekränkten  und  verfolgten  H.  zu  erwecken, 
all  seine  Gegner  (und  zu  diesen  Gegnern  gehören 
fast  alle  Forscher,  die  auf  dem  Gebiet  der  Dilu- 
vialarchäologie irgendwie  gearbeitet  haben)  herab- 
zusetzen und  dadurch  die  Persönlichkeit  H.s  nur 
an  Bedeutung  gewinnen  zu  lassen.  Wer  sehen 
kann,  vermag  sich  von  selber  ein  Urteil  darüber 
zu  bilden,  wer  wirklich  die  Wissenschaft  als  solche 
vorwärts  gebracht  hat,  —  H.  oder  seine  Gegner. 
Wernigerode  a.  H.  Hugo  Mötefindt. 


Rivista  di  Biologia,  herausgegeben  von  G.  B  r  u  - 
nein  und  O.  Polimanti.     Bd.  2,  712  Seiten. 
Rom   1920,  G.  Bardi. 
Die  Ziele,   die  sich  die  Herausgeber   gesteckt 
haben,  und  die  Wege,    auf  denen  sie   sie  zu  ver- 
wirklichen  streben,   sind   an   dieser  Stelle  (N.  F. 
Bd.  XIX,    S.  411,    1920)    bereits    gekennzeichnet 
worden.     Der  zweite   Band   der  Rivista   übertrifft 
den    ersten    an  Umfang   und   Reichhaltigkeit  des 
Inhalts.     Der    Aufgabe,    die   Einzeldisziplinen    zu 
gemeinsamer  Arbeit  zu  vereinigen  und  die  inter- 
nationale Wissenschaft  durch    Anknüpfung   neuer 
und  Festigung  alter  Beziehungen  zu  fördern,  wird 
weiter  mit  schönem  Eifer  gedient. 

Von  Originalarbeiten  sei  zuerst  G  r  a  s  s  i  s  Ein- 
leitung zur  Vorlesung  über  Vergleichende  Ana- 
tomie genannt,  um  die  als  Lehrfach  der  Mediziner 
auch  in  Italien  wie  bei  uns  der  Kampf  entbrannt 
ist.  Der  ausgezeichnete  Zoologe  teilt  zugleich 
den  Verteilungsplan  seines  Kollegs  mit,  das  in 
69  eineinhalbstündigen  Lektionen  und  30  Demon- 
strationsstunden eine  wohlgeordnete  Allgemeine 
Zoologie  auf  vergleichend  -  anatomischer  Grund- 
lage bietet.  Weiter  seien  genannt:  J.  S.  S zy- 
ma nski  über  Aktivität  und  Ruhe  bei  Tieren  (in 
deutscher  Sprache),  C.  Artom  über  genetische 
Studien,  A.  Russo  über  den  Stoffwechsel  der 
Säugetiereier,  O.  P  o  1  i  m  a  n  t  i  über  den  Atmungs- 


504 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  34 


rhythmus  der  Fische,  E.  Giglio-Tos  über  die 
Faktoren  der  Entwicklung,  C.  Frarnja  über 
Krankheitserreger,  M.  Rappini  über  die  anato- 
mischen Grundlagen  des  Muskelsinns  (worauf  eine 
Entgegnung  von  Th.  Cipollone  folgt),  G.  C a m  - 
p  a  n  i  1  e  über  Orobauche ,  G.  S  e  r  g  i  über  fossile 
Menschen,  B.  Longo  über  Parthenokarpie. 

Zusammenfassende,  kritische  Übersichten  wer- 
den über  Gewebekulturen  und  zytologische  Fragen 
gegeben. 

Neben  vollständigen  italienischen  Bibliographien 
sind  die  Besprechungen  der  internationalen  Lite- 
ratur wertvoll,  die  die  Aufmerksamkeit  auf  man- 
ches, jetzt  leicht  übersehbare  Werk  lenken.  Das 
Gleiche  gilt  für  die  internationalen  wissenschaft- 
lichen Bewegungen  und  Maßnahmen  auf  Kon- 
gressen und  in  Instituten.  Gegen  die  sog.  inter- 
alliierten Veranstaltungen  nimmt  die  Rivista  Stel- 
lung. 


Im  biographischen  Teil  sind  folgenden  Deutschen 
Nachrufe  gewidmet:  den  Zoologen  Bütschli  und 
Eisig,  dem  Botaniker  Pfeffer  und  dem  Ana- 
tomen Fürbringe r.  J.  Schaxel,  Jena. 


Bloch,    W.,   Einführung   in  die  Relativi- 
tätstheorie.     (Aus    Natur    und    Geisteswelt 
Nr.  6i8.)     2.  Auflage.     Leipzig   u.  Berlin  1920, 
B.  G.  Teubner. 
Auf  die    I.  Auflage   des  Bändchens  wurde  in 
dieser  Zeitschrift  hingewiesen,  es  wurde  die  klare 
Darstellungsweise  hervorgehoben  und  warm  emp- 
fohlen.    Die    2.,    nun    schon    nach    2   Jahren    er- 
schienene Auflage    ist    gegen    die    i.  wenig   ver- 
ändert.    Der  Abschnitt  über   Masse    und  Energie 
ist  etwas  umgearbeitet,  die  Besprechung  der  Rot- 
verschiebung der  Spektrallinien  in  dem  Abschnitt 
über  die  allgemeine  Relativitätstheorie  etwas  aus- 
führlicher gefaßt.  Valentiner. 


Anregungen  und  Antworten. 


Noch  ein  Wort  zum  „Kreislauf"  des  irdischen  Wassers. 
Die  ganz  auf  irrigen  Voraussetzungen  beruhenden  Auslassun- 
gen Prof.  Nölkes  in  Nr.  21  zwingen  mich  um  der  Klärung 
des  Tatbestandes  willen  zu  folgender  Richtigstellung  seiner 
sechs  Einwände. 

1.  Ein  kosmisches  Eisgeschoß  kann  nicht  wie  ein  metal- 
lisch-erdiges Meteor  die  Lufthülle  durchschlagen  und  durch- 
beulen, sondern  zersplittert  naturgemäB  in  zahllose  Stücke  — 
bei  loo  m  Durchmesser  des  Eindringlings  in  über  loo  Milli- 
arden Brocken  von  Nufigröße,  die  natürlich  einen  Orkan  vor 
sich  herjagen  und  eine  schmale  „Hagelbahn"  erzeugen. 

2.  Daß  diese  Hagelwolke  nicht  mit  30  km/sec.  in  der 
Luft  weiterschießen  kann  wie  ein  festes  Meteor  kleiner  Ab- 
messungen, ist  klar.  Der  Sturm  ist  nur  eine  andere  Form  der 
anfänglichen  Eigengeschwindigkeit. 

3.  Die  ziemlich  gleiche  Größe  der  Hagelstücke  folgt  aus 
Zersplitterung ,  Reibung  und  Abschmelzung.  Es  fallen  auch 
massive  Brocken  mit  ungeheurer  Eigenkälte. 

4.  Die  Struktur  des  „geschichteten"  Hagelkorns  als  all- 
gemeine Erscheinung  besteht  nicht.  Die  Glazialkosmogonie 
behandelt  auch  gar  nicht  den  rein  terrestrischen  Hagel ,  son- 
dern nur  denjenigen  von  kosmischer  Herkunft,  also  was  Neues. 

5.  Da  „Meteore"  etwas  grundsätzlich  anderes  sind  als 
unsere  Kleineiskörper,  so  sind  die  Beanstandungen  Professor 
Nölkes  hier  ganz  gegenstandslos. 

6.  Es  wird  leider  verschwiegen,  daß  es  glazialkosmogonisch 
einen  Verlust  irdischen  Wassers  gibt,  z.  B.  bei  Vulkanaus- 
hauchung  von  Wasserstoff.  Hör  biger  spricht  zudem  von 
25  cm  Ozeanverlust,  aber  in  einem  Kopfrech  enbeispiel, 
und  zwar  von  „möglicherweise  auch  weniger".  Alle 
die  blendenden  Formeln  und  die  Folgerung  der  Windbeschleuni- 
gung sowie  der  uns  angedichteten  Folgerung  der  Zunahme  der 
Sonnenmasse  und  Jahresverkürzung  sind  gegenstandslos ;  die 
Sonne  betr.  kennt  die  Gl.-K.  sogar  bedeutende  Massenver- 
luste, die  wiederum  in  der  Kritik  übergangen  werden. 


Prof.  Nölke  nennt  unsere  Lehre  eine  „gewaltige  Arbeit", 
die  uns  ,, befähigte,  die  entferntesten  Probleme  kosmogonischer, 
geologischer  und  meteorologischer  Art  miteinander  zu  ver- 
knüpfen". Wir  danken  aufrichtig  für  diese  Meinung  und 
denken,  daß  wir  damit  mehr  geleistet  haben,  als  nur  zu  er- 
hoffen gewesen  wäre.  Phil.  Fauth. 


Zur  Aufklärung. 
Die  Bemerkungen,  welche  Herr  Prof.  F.  Nölke  in 
Bremen  und  Geh.-Rat  Kö  ppen  in  Hamburg  zu  meinem  Auf- 
satz „zum  Kreislaufprozeß  des  Wassers"  (Naturw.  Wochenschr. 
d.  J.  Nr.  6)  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlicht  haben ,  nötigen 
mich  zu  folgender  Erklärung.  Durch  einen  ungenauen  und 
zweideutigen  Ausdruck  im  Text,  den  nachträglich  zu  ver- 
bessern nicht  mehr  möglich  war,  weil  bei  einer  versuchten 
Berichtigung  der  Aufsatz  schon  abgesetzt  war,  haben  meine 
Ausführungen  offenbar  den  Eindruck  erweckt,  als  stimmte  ich 
den  theoretischen  Erörterungen  über  die  Welteiskosmogenie 
seitens  Hörbiger  und  Fauth  rückhaltlos  zu  und  unter- 
striche dieselbe  noch.  Dies  ist  keineswegs  der  Fall. 
Mir  kam  es  nur  darauf  an,  dieselben  in  ihrem  Hauptkern  dem 
Publikum  einmal  wieder  vor  Augen  zu  führen,  weil  ich  aller- 
dings der  Überzeugung  bin,  daß  in  ihnen  trotz  vieler  Schief- 
heiten, Unrichtigkeiten  und  Übertreibungen  im  einzelnen  doch 
ein  Kern  von  Wahrheit  steckt,  der  der  allgemeinen  Beachtung 
wert  ist.  In  einem  besonderen  Aufsatz,  der  nächstens  ver- 
öffentlicht wird,  werde  ich  die  hauptsächlichsten  sachlichen 
Irrtümer  jener  Theorie  aufdecken.  Immerhin  stellen  sie  doch 
einen  höchst  beachtenswerten  Versuch  dar,  eine  Erklärung 
dafür  zu  finden,  daß  der  Wasservorrat  der  Erde  in  historischer 
Zeit  trotz  offensichtlicher  Abnahme  der  Wassermenge  an  der 
Erdoberfläche  —  in  diesem  Punkte  habe  ich  eine  wesentlich 
andere  Meinung  als  Koppen  —  konstant  geblieben  zu  sein 
scheint.  W.  Halbfaß. 


Inhalt:  H.  Wießmann,  Die  biologischen  Vorgänge  im  Boden.  S.  489.  K.  Reiche,  Eine  uralte  Kochsalzgewinnung 
in  Mexico.  (3  Abb.)  S.  498.  —  Bücberbesprecbungen:  P.  Kammerer,  Über  Verjüngung  und  Verlängerung  des 
persönlichen  Lebens.  S.  500,  Fr.  Wiegers,  Diluvialprähistorie  als  geologische  Wissenschaft.  S.  501.  Potonie, 
Lehrbuch  der  Paläobotanik.  S.  502.  W.  Gothan,  Paläobotanik.  S.  50z.  D.  H.  Scott,  Studies  in  Fossil  Botany. 
S.  502.  O.  Haus  er,  Ins  Paradies  des  Urmenschen.  S.  503.  Rivista  di  Biologia.  S.  503.  W.  Bloch,  Einführung 
in  die  Relativitätstheorie.  S.  504.  —  Anregungen  und  Antwrorten:  Noch  ein  Wort  zum  „Kreislauf"  des  irdischen 
Wassers.  S.  504.     Zur  Aufklärung,  S.  504. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Patz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a,  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganxeo  Reihe  36.  Bond. 


Sonntag,  den  28.  August  1921. 


Nummer  35. 


Gesetz  und  Zufall  in  der  Natur. 

Vortrag,  gehalten  im  Naturwissenschaftlichen  Verein  Kiel  am  13.  Dezember  1920. 

Von  Prof.  O.  Martienssen. 


[Nachdruck  verboten. 1 

Während  die  Philosophen  es  sich  zur  Aufgabe 
stellen,  alle  Naturerscheinungen  zu  ergründen  und 
auf  einzelne  als  richtig  erkannte  Axiome  durch  rein 
logische  Überlegungen  zurückzuführen,  liegt  die 
Arbeit  des  Physikers  in  der  Beschreibung  der  Er- 
scheinungen und  Ordnung  unter  bestimmte  ein- 
fache Gesichtspunkte. 

Dieser  Unterschied  in  den  Disziplinen  macht 
es  möglich,  daß  der  Zufall,  den  der  Philosoph 
kaum  anerkennt,  dem  Physiker  als  Baustein  des 
Weltbildes  dienen  kann ,  und  daß  das  Studium 
der  Zufallserscheinungen  in  der  modernen  Physik 
einen  breiten  Platz  einnehmen  kann.  Wie 
diese  letzteren  von  den  Methoden  der  Physiker 
behandelt  werden  und  wie  der  Gegensatz  von 
Zufall  und  Gesetz  überbrückt  wird,  soll  in  nach- 
folgenden Ausführungen  an  einigen  Beispielen 
erläutert  werden. 

Was  sollen  wir,  rein  physikalisch  aufgefaßt, 
unter  Zufall  verstehen?  Nach  der  Ansicht  Spi- 
nozas gibt  es  in  der  Natur  nichts  Zufälliges. 
„Zufällig  wird  nach  ihm  ein  Ding  nur  wegen 
unserer  mangelhaften  Erkenntnis  genannt." 

Nach  Schopenhauer  muß  ein  Ereignis  als 
zufallig  bezeichnet  werden,  wenn  in  ihm  mehrere 
voneinander  unabhängige  Kausalreihen  zusammen- 
stoßen, die  für  sich  allein  das  Ereignis  nicht  ver- 
anlaßt hätten.  Es  fragt  sich  indessen,  ob  es 
Kausalreihen  gibt,  die  von  Anbeginn  an  vonein- 
ander unabhängig  sind.  Ist  dies  nicht  der  Fall, 
so  kommt  die  Erklärung  Schopenhauers 
ebenfalls  auf  eine  Negierung  des  Zufalls  hinaus. 
Sagt  er  doch  selbst:  „In  der  Natur  ist  alles,  was 
geschieht,  notwendig,  denn  es  geht  aus  seiner 
Ursache  hervor;  betrachten  wir  aber  das  einzelne 
Ereignis  in  Beziehung  auf  das  Übrige,  welches 
nicht  seine  Ursache  ist,  so  erkennen  wir  es  als 
zufällig." 

Er  läßt  demnach  nicht  ein  Ereignis  als  solches, 
sondern  nur  das  Zusammentreffen  zweier  Ereig- 
nisse als  zufällig  gelten. 

Ganz  ähnlich  versteht  John  Stuart  Mill 
in  seiner  Logik  den  Zufall.  „Denn,  sagt  er,  es 
ist  gewiß,  daß  alles,  was  geschieht,  das  Resultat 
eines  Gesetzes  ist,  d.  h.  die  Wirkung  von  Ur- 
sachen und  nur  das  Fehlen  der  Erkenntnis  dieser 
Ursachen  läßt  uns  ein  Ereignis  als  zufällig  er- 
scheinen." 

Nicht  sagt  er  uns  aber,  woraus  er  dieses  „ge- 
wiß" schließt.  Die  Behauptung  „es  gibt  keinen 
Zufall"  ist  vielmehr  eine  Hypothese,  die  über  die 
Grenzen  der   Erfahrung  hinausgeht.     Sie  ist  eine 


Extrapolation,  deren  Zulässigkeit  nicht  bewiesen 
ist.  Sie  mag  zur  Abklärung  eines  einheitlichen 
Weltbildes,  zur  Aufstellung  eines  philosophischen 
Systems  nützlich  sein,  sie  kann  aber  einem  exakten 
Naturforscher,  der  nur  auf  experimentelle  Beweise 
fußt,  nicht  als  Tatsache  gelten. 

Wir  müssen  also  die  Frage,  „gibt  es  einen  Zu- 
fall in  der  Natur",  zum  mindesten  offen  lassen. 

Tun  wir  dieses,  so  können  wir  mit  Timer- 
ding „ein  Ereignis  als  zufällig  bezeichnen,  wenn 
es  nicht  aus  anderen  Ereignissen  oder  bestimmten 
als  gegeben  anzusehenden  Prämissen  nach  festen 
Regeln  oder  nach  bestimmten  Vernunftgründen 
gefolgert  werden  kann".  Bei  einem  zufälligen  Er- 
eignis werden  demnach  alle  erkennbaren  Um- 
stände, die  für  das  Ereignis  in  Betracht  kommen, 
dieses  noch  nicht  bestimmen,  vielmehr  kann  es, 
wenn  alle  diese  Umstände  erfüllt  sind,  eintreten 
oder  auch  ausbleiben.  Mathematisch  ausgedrückt : 
die  Differentialgleichungen  geben  trotz  Einsetzen 
aller  erkennbarer  Bestimmungsstücke  keine  ein- 
deutige Lösung. 

Physikalisch  ergibt  sich  daraus  folgende  Defi- 
nition: 

Unendlich  kleine,  ja  auch  sehr  kleine  Größen 
und  sehr  kleine  Änderungen  von  Größen  sind 
praktisch  nicht  erkennbar,  und  als  nicht  vorhanden 
anzusehen  —  wollten  wir  anders  verfahren,  so 
wäre  keine  Physik  möglich,  da  wir  dann  den  Zu- 
stand der  ganzen  unermeßlichen  Welt  bei  jedem 
einzelnen  Experiment  in  Rücksicht  ziehen  müßten; 
folglich  liegt  ein  Zufallsereignis  vor,  wenn  winzig 
kleine  Veränderungen  der  Prämissen  das  Ereignis 
wesentlich  abändern  oder  in  Frage  stellen  können. 
Dieselben  Verhältnisse  haben  wir,  wenn  eine  sehr 
große  Anzahl  gleichwertiger  Bestimmungsstücke 
das  Ereignis  bedingen,  von  denen  jedes  einzelne 
in  seiner  Größe  gegenüber  dem  Folgeereignis 
verschwindend  klein  ist. 

Ein  fallender  Stein  schlägt  senkrecht  unter  der 
Abfallstelle  am  Boden  auf:  das  ist  kein  Zufall. 
Denn  die  Richtung  der  Schwerkraft  bestimmt 
praktisch  allein  die  Auftreffstelle. 

Zufall  aber  ist  es,  wenn  im  Herbste  ein  welkes 
Blatt,  senkrecht  unter  der  Abfallstelle  zu  Boden 
sinkt.  Denn  der  Fall  des  Blattes  wird  von  vielen 
Umständen  in  gleichem  Maße  beeinflußt:  Vom 
Luftwiderstande,  vom  Winde,  von  der  Temperatur, 
von  der  Blattform  und  -große,  von  seinem  Ge- 
wicht, seiner  Schwerpunktlage  usw.  Wif  sehen 
daher  die  Blätter  bald  in  gestreckter  Bahn  dahin- 
segeln,   bald  wie  ein  Raubvogel  kreisen,   bald  in 


5o6 


Katurwissenscliaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


Hast  sich  fortgesetzt  drehen,  bald  behutsam  flat- 
tern, wie  ein  SchmetterHng.  Wie  sollen  wir  da 
wissen,  wohin  der  Flug  in  jedem  einzelnen  Falle 
zielt. 

Klar  ist  der  Unterschied  auch  beim  labilen 
Gleichgewicht:  Wenn  ich  den  Federhalter  genau 
senkrecht  auf  die  Spitze  stelle,  so  ist  es  gewiß, 
daß  er  umfällt,  unbestimmt  bleibt  aber,  nach 
welcher  Seite  er  fällt:    das   hängt  vom  Zufall  ab. 

Von  Mises  sagt,  Zufallsereignisse  sind  da- 
durch in  der  Natur  bedingt,  daß  die  Geschehnisse 
zwar  im  allgemeinen  regulär  im  Sinne  der  mecha- 
nischen Differentialgleichungen  verlaufen,  daß  aber 
an  einzelnen,  singulären  Zeitpunkten  Verzweigun- 
gen der  regulären  Lösung  eintreten,  an  denen  der 
Ablauf  der  Ereignisse  nicht  eindeutig  durch  die 
mechanischen  Gleichungen  bestimmt  ist.  Wir 
können  auch  sagen,  das  Werden  der  Welt  stößt 
auf  Scheidewege,  an  denen  kein  Wegweiser  steht 
oder  gerät  gar  auf  Feldwege,  wo  jede  Richtungs- 
angabe fehlt. 

Man  wird  nun  geneigt  sein  zu  glauben,  daß 
jede  physikalische  Forschung  unmöglich  wird, 
wenn  wir  in  der  Physik  derartige  Verzweigungs- 
punkte als  wirklich  vorhanden  annehmen.  Die 
Aufgabe  der  Physik  ist  ja  gerade,  aus  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  heraus  ein  Ereignis  vorher- 
zusagen. 

In  der  Tat  kann  auch  die  Physik  mit  dem 
einzelnen  Zufallsereignis  gar  nichts  anfangen. 

Ganz  anders  liegt  es  aber  bei  einer  großen 
Anzahl  gleichartiger  Ereignisse,  die  nacheinander 
oder  gleichzeitig  nebeneinander  geschehen. 

Auf  eine  solche  Summe  von  Ereignissen  kön- 
nen die  Ergebnisse  der  Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung erfahrungsgemäß  angewandt  werden,  und 
diese  liefert  uns  gerade  für  die  Zufallsereignisse, 
ja  nur  für  Zufallsereignisse  bestimmte  Voraussagen 
der  Ereignisse. 

Solche  Summen  von  Ereignissen  treten  uns 
überall  in  der  Natur  entgegen,  da  die  Materie  aus 
einzelnen  Atomen,  die  Elektrizität  aus  einzelnen 
Elektronen,  die  Atome  wieder  aus  kleinen  dis- 
kreten Teilchen  aufgebaut  erscheinen.  Das  Zufalls- 
spiel der  mikroskopischen  Welt  liefert  uns  nach 
den  Regeln  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  die 
Gesetze  der  makroskopischen  Welt. 

Wie  sich  auf  der  Unbestimmtheit  und  Regel- 
losigkeit des  einzelnen  Falles  in  der  Gesamtheit 
eine  Gesetzmäßigkeit  aufbauen  läßt,  möchte  ich 
Ihnen  zunächst  an  einem  Beispiel,  dem  sog. 
Galtonbrett  zeigen,  das  in  der  Kinderstube,  mehr 
oder  minder  geschmackvoll  verziert,  ein  Tivoli- 
spiel genannt  wird. 

.      .64.      . 

•  32 •32-      • 
■i6-32-i6- 

•  8  •24-24-  8  • 

•  4  .I6.24- 16-  4  • 

•  2  • I0.20-20- 10-  2  • 

•  I  •  6  • I 5 . 20 • I 5 ■  6  •  I  . 


Wir  haben  auf  einem  schräg  gestellten  Brett 
eine  Anzahl  Nägel,  die  in  Diagonalreihen  ange- 
ordnet sind  (in  vorstehender  Figur  durch  Punkte 
angedeutet).  Lasse  ich  eine  kleine  Kugel  in  der 
Mitte  zwischen  2  Nägeln  rollen,  so  stößt  sie  sofort 
auf  einen  Nagel  der  2.  Reihe  und  es  hängt  ledig- 
lich vom  Zufall  ab,  ob  sie  rechts  oder  links  von 
ihm  weiter  rollt.  Beide  Fälle  sind  gleich  wahr- 
scheinlich, weil  kein  Grund  vorliegt,  weshalb  eine 
Seite  bevorzugt  werden  sollte.  Hat  die  Kugel 
sich  für  eine  Seite  entschieden,  so  wird  sie  sofort 
in  der  3.  Reihe  wieder  auf  einen  Nagel  stoßen, 
und  wird  wieder  je  nach  Zufall  rechts  oder  links 
weiter  rollen.  Der  Weg  den  die  Kugel  durch 
die  Nagelreihe  nimmt,  ist  demnach  ein  rein  zu- 
fälliger. Vom  Zufall  hängt  auch  das  Fach  ab,  in 
welchem  sie  schließlich  ankommt.  Wir  können 
darüber  nicht  die  geringste  Vermutung  aussprechen. 

Wiederholen  wir  aber  den  Versuch  sehr  oft, 
sagen  wir  64000  mal,  so  wird  die  Sachlage  eine 
andere.  Es  wird  etwa  gleich  oft  vorkommen, 
daß  eine  Kugel    rechts   vom    mittleren  Nagel  der 

2.  Reihe  vorbeirollt,  und  daß  sie  links  vorbeirollt. 
Bei  unendlich  häufigen  Wiederholungen  hätten  wir 
beide  Fälle  gleich  oft.  Denn  wenn  dies  nicht 
der  Fall  wäre,  so  wäre  dies  ein  Beweis  dafür,  daß 
ein  Grund  für  die  Bevorzugung  einer  Seite  vor- 
liegt und  die  Wahl  der  Seite  wäre  nicht  zufällig. 
Es  wird  demnach  bei  den  64000  Versuchen  die 
Kugel  etwa  32 000 mal  rechts  und  etwa  32 000 mal 
links  bei  dem  Nagel  vorbeilaufen. 

Von  diesen  letzteren  32000  Kugeln  werden 
wieder   etwa  16000  links  von  dem  Nagel   in  der 

3.  Reihe,  16000  rechts  vorbeilaufen;  durch  dieses 
Fach  gehen  aber  auch  etwa  16000  Kugeln  von 
denen,  die  bei  der  2.  Nagelreihe  den  rechten  Weg 
wählten,  so  daß  wir  hier  im  ganzen  32  000  Kugeln 
etwa  haben.  Fahre  ich  so  fort,  so  erhalte  ich 
bei  der  7.  Reihe  eine  Verteilung  der  Kugeln  auf 
die  einzelnen  Fächer,  wie  ich  in  der  Figur  ange- 
deutet habe. 

Jeder  Nagel  repräsentiert  auf  dem  Wege  der 
einzelnen  Kugel  einen  Verzweigungspunkt  im  Sinne 
von  von  Mises.  Wenn  wir  aber  den  Fall  aller 
64000  Kugeln  als  ein  Gesamtereignis  zusammen- 
fassen, so  kommen  wir  zu  einem  bestimmten  Ver- 
teilungsgesetz, das  lautet:  ""/j^  aller  Kugeln 
werden  etwa  in  das  mittlere  Fach  fallen,  in  die 
beiden  daneben  liegenden  Fächern  nur  etwa  '"/g^, 
in  das  4.  Fach  von  der  Mitte  nur  etwa  ^64  "■  s-  f- 

Dieses  Gesetz  ist  indessen  kein  strenges,  es 
ist  ein  statistisches  Gesetz,  das  aussagt,  daß  die 
Verteilung  etwa  der  berechneten  entsprechen  wird. 
Es  wäre  höchst  unwahrscheinlich,  daß  mal  eine 
ganz  andere  Verteilung  herauskommt,  möglich 
wäre  aber  eine  solche. 

Solche  statistischen  Gesetze  sind  ganz  anderer 
Art,  wie  strenge  Naturgesetze,  wie  z.  B.  das  Fall- 
gesetz. Nehme  ich  z.  B.  die  Beziehung  der  durch- 
fallenen  Strecke  zur  Fallzeit  s^-^gt^,  so  sagt 
das  Gesetz  aus:  Wenn  ein  Körper  zu  Boden  fallt 
und    wenn    weiter    nichts    vorhanden    wäre,    wie 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


507 


dieser  Körper  und  die  Erde,  und  nichts  diesen 
Fall  störe,  dann  würde  die  Fallstrecke  in  dieser 
Weise  von  der  Fallzeit  abhängen  und  die  Gleichung 
würde  mathematisch  genau  bei  jedem  Versuch  er- 
füllt sein.  Die  genannten  Bedingungen  sind  aber 
niemals  erfüllt  und  deshalb  gibt  der  Versuch  stets 
ein  mehr  oder  minder  abweichendes  Resultat. 

Demgegenüber  setzen  wir  für  ein  statistisches 
Gesetz  keine  unerfüllbaren  Bedingungen  an,  sondern 
nehmen  die  Verhältnisse  so,  wie  sie  wirklich  sind, 
d.  h.  mehr  oder  minder  unbestimmt,  vom  Zufall 
abhängend  und  verlangen  von  dem  Gesetz  aus 
diesem  Grunde  auch  nur  eine  ungefähre  Über- 
einstimmung mit  dem  Versuch. 

Viele  Naturgesetze  sind  nun  derartige  statistische 
Gesetze,  obgleich  sie  uns  in  der  makroskopischen 
Welt  nicht  als  solche  erscheinen.  Das  ist  immer 
dann  der  Fall,  wenn  die  Wahrscheinlichkeit  einer 
meßbaren  Abweichung  so  ungeheuer  klein  ist,  daß 
wir  in  unserem  kurzen  Leben  sie  niemals  erwarten 
dürfen.  Die  Möglichkeit,  eine  solche  Abweichung 
einmal  zu  erhalten,  liegt  aber  stets  vor.  In  neuerer 
Zeit  haben  wir  oftmals  gelernt,  die  Versuchsan- 
ordnungen so  abzuändern,  daß  die  Wahrschein- 
lichkeit nicht  mehr  arg  klein  ist.  Dann  beobachten 
wir  auch  stets  diese  Abweichungen. 

Ich  möchte  hierfür^  nur  einige  wenige  Beispiele 
herausgreifen,  natürlich  unter  Weglassung  aller 
wahrscheinlichkeitstheoretischen  Rechnungen. 

Ein  solches  statistisches  Gesetz  ist  z.  B.  das 
Mariotte  Gay  -  Lussacsche  Gesetz  pv=:RT  für 
ideale  Gase,  das  angibt,  daß  der  Druck,  den  eine 
bestimmte  Menge  Gas  auf  die  Gefäßwände  aus- 
übt, um  so  höher  ist,  je  höher  die  Temperatur 
und  je  kleiner  das  Volumen  ist,  auf  das  es  zu- 
sammengedrückt wird. 

Das  Gesetz  ergibt  sich  aus  der  kinetischen 
Gastheorie,  nach  der  ja  die  Moleküle  eines  Gases 
in  schneller  Bewegung  sind.  Jedes  Molekül  fliegt 
gerade  aus,  bis  es  auf  ein  anderes  stößt,  prallt 
von  diesem  ab  und  fliegt  in  irgendeiner  anderen 
Richtung  weiter,  bis  es  in  dieser  wieder  auf  ein 
Molekül  stößt  usw. 

Die  Bewegung  eines  jeden  Moleküles  ist  eine  zu- 
fällige: eine  winzig  kleine  Richtungsänderung  ändert 
den  Zusammenstoß  und  die  Richtung  nach  der 
es  abprallt,  das  getroffene  Molekül  wird  ebenfalls 
in  anderer  Richtung  angestoßen  und  bald  werden 
alle  Moleküle  durch  die  kleine  Änderung  der  Be- 
wegungsrichtung eines  einzigen  eine  ganz  andere 
Bewegung  bekommen.  Die  Bewegung  erscheint 
dadurch  völlig  ungeordnet,  jeder  Zusammenprall 
bedeutet  einen  Verzweigungspunkt,  ebenso  wie  der 
Aufprall  der  Kugel  auf  einen  Nagel  des  Galton- 
brettes. 

Um  Ihnen  klar  zu  machen,  welch  wildes  Durch- 
einander in  einem  Gase  herrscht,  sei  erwähnt,  daß 
sich  unter  normalen  Umständen  in  jedem  ccm 
27  Trillionen  Moleküle  befinden  mit  einer  Durch- 
schnittsgeschwindigkeit von  z.  B.  beim  Sauerstoff 
461  m  pro  Sekunde  und  daß  jedes  einzelne  Mole- 


kül etwa  4  Milliarden  mal  pro  Sekunde  mit  einem 
anderen  kollidiert. 

Der  Druck  auf  die  Gefäßwände  ergibt  sich  aus 
den  Stößen,  mit  denen  die  Moleküle  bei  ihrer 
wilden  Reise  gegen  die  Gefäßwände  prallen. 
Hätten  sie  alle  beim  Auftreffen  die  Geschwindig- 
keit c,  so  wäre  der  Druck  p  =  |Nmc-,  wenn  N 
ihre  Anzahl  pro  ccm,  und  m  die  Masse  eines 
einzelnen  Moleküles.  Dieser  Druck  würde  dem 
Mariotte-Gay-Lussacschen  Gesetze  entsprechen. 
Nun  haben  aber  nicht  alle  Moleküle  dieselbe  Ge- 
schwindigkeit beim  Auftreffen  auf  die  Wände, 
sondern  bald  größere,  bald  kleinere.  Es  ist  ganz 
unmöglich  anzugeben,  welche  Geschwindigkeit 
ein  einzelnes  Molekül  gerade  besitzt.  Möglich  ist 
indessen,  mit  Hilfe  der  Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung anzugeben,  wie  sich  die  Geschwindigkeit 
um  einen  mittleren  Wert  herum  verteilt,  geradeso 
wie  es  bei  dem  Galtonbrette  möglich  war,  anzu- 
geben, wie  sich  die  Kugeln  auf  die  einzelnen 
Fächer  verteilen.  Man  bekommt  das  sog.  Max- 
wellsche  Geschwindigkeitsverteilungsgesetz,  nach 
welchem  von  N  Moleküle  dN  eine  Geschwindig- 
keit c-|-dc  besitzen: 

^^    -  -^'.dc, 


dN: 


y/ra 


■c-=-e 


wo  a  die  wahrscheinlichste  Geschwindigkeit  be- 
deutet. 

Bildet  man  das  mittlere  Geschwindigkeitsquadrat 
sehr  vieler  Moleküle,  so  ergibt  sich  der  Wert,  den 
wir  in  unsere  Druckgleichung  einsetzen  müssen. 
Es  ist  aber  durchaus  nicht  gesagt,  daß  gerade  die 
in  einem  Momente  aufprallenden  Moleküle  diesen 
Mittelwert  besitzen.  Eine  größere  Abweichung 
ergibt  sich  aber  aus  der  Rechnung  als  höchst 
unwahrscheinlich,  so  daß  wir  nur  aus  diesem 
Grunde  keine  Gelegenheit  haben  sie  zu  beobachten. 

Ebenso  ist  es  durchaus  nicht  gesagt,  daß  irgend- 
eine Anzahl  von  n  Molekülen,  immer  genau  das  Vo- 
lumen einnimmt,  das  das  Mario ttesche  Gesetz 
verlangt;  wie  Smoluchowski  berechnete,  ist 
die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  statt  )'  Moleküle, 
wie  es  das  Mariottesche  Gesetz  verlangt,  eine 
Anzahl  n  Moleküle  in  einem  bestimmten  Volumen 

j,n 

sind  W(n)  =  e-'— ,.    Diese  Wahrscheinlichkeit  ist, 
nl 

wenn  n  merklich  von  )■   abweicht,    bei    größeren 

Voluminas  ungemein  klein.     Nehmen  wir  an,  wir 

beobachteten  tatsächlich    einmal,    daß    die  Dichte 

eines  Gases  in  einem  ccm   i  "/o    größer   wäre   als 

normal,  n  also  i  "/^  größer  als  v  wäre,  so  können  wir 

nach  Smoluchowski  erst  nach  10 '"  Jahren 
auf  die  Wiederkehr  der  Erscheinung  rechnen.  Dies 
ist  eine  Zahl  mit  100  Billionen  Nullen,  die  aus- 
geschrieben 1000  mal  um  den  Äquator  reicht. 
Gegen  diese  Zeit  wären  geologische  Zeitperioden 
verschwindend  kurze  Zeiten. 

Ganz  andere  Größenordnung  haben  indessen 
die  Wahrscheinlichkeiten  für  eine  Abweichung 
vom  Mittelwert,    wenn    wir    unsere    Beobachtung 


So8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


auf  ganz  kleine  gedrückte  Flächen  oder  ganz 
kleine  Volumina  richten. 

Bringen  wir  in  eine  Flüssigkeit  oder  schwebend 
in  ein  Gas  mikroskopisch  kleine  Teilchen  von 
io~^  bis  iO~^  mm  Durchmesser,  so  wird  die 
Zahl  der  Molekel,  die  in  einer  Richtung  pro  Se- 
kunde aufprallen,  nicht  mehr  so  arg  groß  sein, 
der  Mittelwert  der  Geschwindigkeit  dieser  kleinen 
Anzahl  wird  nicht  mehr  gleich  dem  Mittelwert 
einer  sehr  großen  Anzahl  sein  und  auch  nicht 
ihre  Druckwirkung.  Es  wird  infolgedessen  der 
Druck  merklich  schwanken. 

Der  Druck  von  der  entgegengesetzten  Seite 
wird  ebenfalls  schwanken,  also  in  jedem  Momente 
merklich  vom  ersteren  verschieden  sein.  Die 
Folge  davon  ist,  daß  das  Teilchen  unter  dem 
Anprall  der  Moleküle  hin-  und  hergeworfen  wird 
und  eine  ganz  regellose  ungeordnete  Bewegung 
ausführt. 

Diese  Bewegung  läßt  sich  tatsächlich  im  Mikro- 
skop, oder  besser  noch  im  Ultramikroskop  gut 
beobachten.  Sie  wird  in  der  Physik  B  r  o  w  n  sehe 
Bewegung  genannt,  nach  dem  englischen  Bota- 
niker Brown,  der  sie  zuerst  an  den  Pollen  der 
Clarkia  pulchella  beobachtete,  kleine  zylindrische 
Körperchen  von  ca.  ^soo  i"™  Länge. 

Jedes  Teilchen  bewegt  sich  bei  der  Brown- 
schen  Bewegung  völlig  regellos.  Man  kann  aber, 
wie  es  Svedberg,  Perrin  u.  a.  getan  haben, 
beobachten,  wie  weit  sich  ein  Teilchen  in  einer 
bestimmten  Richtung  in  einer  bestimmten  Zeit, 
sagen  wir  lO  Minuten,  von  seiner  Anfangs- 
lage entfernte.  Stellt  man  solche  Beobach- 
tungen an  vielen  Teilchen  an,  so  kommt  man 
natürlich  zu  ganz  verschiedenen  Werten,  einige 
werden  vielleicht  i  mm,  andere  nur  '/loo  ^^ 
fortgewandert  sein.  Bildet  man  aber  den  Mittel- 
wert aus  einer  großen  Anzahl  von  Beobachtungen, 
so  kommt  man  zu  einem  ziemlich  bestimmten 
Wert. 

Einstein  und  Smoluchowski  haben  nun 
etwa  gleichzeitig  berechnet,  wie  groß  dieser  Mittel- 
wert sein  müßte  nach  den  Regeln  der  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung, bei  Annahme  einer  ganz 
regellosen,  dem  Zufall  unterworfenen  Molekular- 
bewegung bei  gegebener  Größe  der  Teilchen  und 
der  Moleküle.  Dieser  berechnete  Wert  stimmt 
mit  dem  beobachteten  überein.  Auch  die  mittlere 
berechnete  und  beobachtete  Abweichung  vom 
mittleren  Wert  stimmt  überein. 

Diese  Übereinstimmung  zeigt,  daß  die  Auf- 
fassung der  Molekularbewegung  als  eine  zufällige, 
und  die  Auffassung  desMario  tte-  Gay-Lussac- 
schen  Gesetzes  als  ein  statistisches  Gesetz  zu- 
lässig ist. 

Nicht  nur  die  Schwankungen  des  Druckes,  auch 
die  der  Dichte  sind  experimentell  nachweisbar. 
Haben  wir  kein  ideales  Gas,  sondern  ein  Gas  in 
der  Nähe  der  kritischen  Temperatur,  bei  der  es 
ja  in  den  flüssigen  Zustand  übergeht,  so  ergibt 
nach  Smoluchowski  und  Kammerling- 
Ones  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung,   daß   die 


mittlere  Abweichung  der  Dichteverteilung  von 
der  normalen  sehr  groß  wird.  Diese  großen 
Dichteschwankungen  veranlassen  große  Schwan- 
kungen des  Brechungsexponenten  des  Lichtes. 
Dies  veranlaßt  bei  durchscheinendem  Lichte  eine 
Opaleszenz,  die  tatsächlich  der  Rechnung  ent- 
sprechend beobachtet  wird. 

Derartige  Dichteunterschiede  lassen  sich  auch 
unter  normalen  Verhältnissen  beobachten,  wenn 
man  eine  Substanz  in  sehr  geringer  Konzentration 
mit  einer  anderen  mischt.  Dabei  kann  die  bei- 
gemischte Substanz  auch  aus  festen  diffundierten 
Teilchen  bestehen.  Svedberg  benutzte  1912 
für  seine  Versuche  eine  kolloidale  Goldlösung,  in 
der  die  einzelnen  Goldkörnchen  im  Ultramikroskop 
noch  gut  erkennbar  sind.  In  größeren  Räumen 
sind  die  Goldteilchen  gleichmäßig  verteilt,  d.  h. 
in  jedem  ccm  etwa  die  gleiche  Anzahl,  so  daß 
ihre  Dichte  konstant  erscheint.  Svedberg 
stellte  nun  sein  Mikroskop  durch  Abbiendung  des 
Gesichtsfeldes  auf  einen  sehr  kleinen  Raum  ein, 
so  daß  nur  die  Teile  sichtbar  wurden,  die  in  die- 
sem kleinen  Räume  von  etwa  Vi 00  ^n^i  im  Kubus 
sich  gerade  befanden.  Er  beobachtete  39  mal  in 
der  Minute  in  gleichen  Zeitabständen,  wie  viele 
Teile  sichtbar  waren.  Seine  Tabelle  fing  mit  den 

Zahlen  an  i,  2,  o,  o,  o,  2,  o,  o,  i,  3,  2,  4 

Es  ist  demnach  durchaus  nicht  die  Dichte  kon- 
stant, sondern  sie  schwankt  um  den  mittleren 
Wert  1,55  Teilchen  herum.  Berechnet  man  aber 
die  mittlere  Schwankung,  so  ergibt  sich,  daß  diese 
wieder  dem  Werte  gleich  ist,  den  Smoluchowski 
für  diesen  Fall  mit  Hilfe  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung unter  Annahme  einer  ganz  ungeordneten 
Bewegung  errechnete. 

Bei  einer  großen  Reihe  von  Naturgesetzen  hat 
sich  bisher  ihr  statistischer  Charakter  nachweisen 
lassen,  so  daß  von  ehernen  Naturgesetzen  gar 
nicht  mehr  die  Rede  sein  kann. 

So  z.  B.  ist  der  2.  Hauptsatz  der  Wärmelehre 
ein  statistisches  Gesetz;  derselbe  besagt  bekannt- 
lich, daß  Wärme  nicht  von  selbst  von  niedrigerer 
Temperatur  auf  höhere  Temperatur  übergeht. 

Wenn  wir  einen  Teekessel  voll  Wasser  auf 
den  Teetisch  stellen,  so  wird  in  Übereinstimmung 
mit  diesem  Satze  keine  Hausfrau  erwarten,  daß 
das  Wasser  von  selbst  ins  Kochen  gerät.  Mög- 
lich wäre  es  indessen,  es  müßten  nur  durch  Zu- 
fall gerade  die  Moleküle  alle,  die  sich  im  Kessel 
befinden,  eine  große  Geschwindigkeit  haben,  wäh- 
rend dafür  besonders  langsame  außerhalb  des 
Kessels  herumfliegen.  Denn  hohe  Molekular- 
geschwindigkeit ist  gleichbedeutend  mit  hoher 
Temperatur.  Dieser  Zustand  ist  nur  ungemein 
unwahrscheinlich.  Nach  dem  Maxwellschen 
Verteilungsgesetz  ist  nämlich  der  Prozentsatz  be- 
sonders schneller  Moleküle  nur  klein  und  es  ist 
deswegen  gar  nicht  zu  erwarten,  daß  gerade  die 
vielen  Trillionen  von  Molekülen  im  Kessel  die 
schnellen  sind.  Dieser  Zustand  dürfte  so  selten 
eintreten,  daß  wir  ihn  in  unserem  kurzen  Leben 
nicht    erwarten    dürfen.      Es    wäre    ein   Wunder, 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


509 


wenn  wir  es  erlebten,  ein  Wunder  aber,  das 
keineswegs  den  physikalischen  Gesetzen  zuwider- 
läuft. 

Ebenso  wird  z.  B.  niemand  erwarten,  daß  ein 
Buch,  das  hier  ruhig  Hegt,  plötzlich  an  die  Decke 
fliegt,  indem  sich  seine  Wärme  in  kinetische 
Energie  verwandelt.  Und  doch  ist  gerade  das 
Hochwerfen  von  Gegenständen  durch  Umwand- 
lung von  Wärme  in  kinetische  Energie  eine  Er- 
scheinung, die  jede  Hausfrau  täglich  beobachten 
kann  oder  wenigstens  könnte. 

Lassen  wir  schmutziges  Wasser  in  einem  Glase 
stehen,  so  beobachten  wir,  daß  die  kleinen  sus- 
pendierten Schmutzteilchen  allmählich  zu  Boden 
sinken,  und  das  Wasser  oben  im  Glase  sich  klärt. 

Über  dem  Boden  bleibt  indessen  eine  Wasser- 
schicht von  mehr  oder  minder  großer  Dicke 
schmutzig.  Beobachten  wir  diese  Schicht  mit 
einem  guten  iVIikroskop,  so  sehen  wir,  daß  sie 
aus  Teilchen  besteht,  welche,  bald  hier  bald  dort 
sich  vom  Boden  erheben  und  nach  oben  ge- 
schleudert werden.  Was  bei  dem  großen  Buche 
sehr  unwahrscheinlich  war,  ist  bei  den  sehr  kleinen 
diffundierten  Schmutzpartikeln  nicht  mehr  so  arg 
unwahrscheinlich.  Bei  der  sehr  großen  Anzahl 
der  vorhandenen  Teilchen  können  wir  daher  solche 
Fälle  schon  in  kurzer  Zeit  in  größerer  IVIenge  be- 
obachten. Smoluchowski  berechnete  in  einer 
Emulsion  mit  bekannter  Körnchengröße  nach  den 
Regeln  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  wie  viele 
nach  oben  fliegende  Teilchen  zu  erwarten  sind, 
und  fand  seine  Erwartung  bei  der  Beobachtung 
bestätigt. 

Diese  Erscheinung,  die  dem  2.  Hauptsatz  wider- 
spricht, könnte  dazu  dienen  ein  Perpetuum  mobile 
zweiter  Art  zu  bauen,  das  Arbeit  leistet  unter 
Verbrauch  von  Wärme  aus  der  Umgebung.  Wir 
brauchen  zu  diesem  Zwecke  in  der  Flüssigkeit 
nur  kleine  Ventile  anzubringen,  welche  die  auf- 
steigenden Teilchen  hindurchlassen,  aber  nicht 
wieder  zurücklassen.  Allmählich  würde  dann 
durch  Wärmeverbrauch  eine  größere  IVIenge  fester 
Substanz  gehoben  und  diese  könnte  z.  B.  zum 
Treiben  einer  Uhr  benutzt  werden.  Derartige 
Ventile  wären  allerdings  sehr  zart,  ihre  Kon- 
struktion ist  aber  nicht  von  vornherein  unmög- 
lich. Ahnliche  Ventile  könnten  wir  uns  dann 
auch  in  unsere  Fenster  einbauen,  die  schnelle 
Moleküle  hereinlassen,  nicht  aber  langsame,  und 
wir  hätten  ohne  jede  Heizung  wohlige  Wärme  in 
den  Zimmern  bei  strengster  Kälte  draußen. 

Die  Wirkung  des  Zufalls  tritt  uns  nicht  nur 
bei  der  Wärmebewegung  der  Moleküle  entgegen, 
sondern  noch  bei  vielen  anderen  Erscheinungen 
in  der  Physik,  so  z.  B.  in  der  Radioaktivität. 

Wie  Sie  wissen  gibt  es  eine  große  Reihe 
radioaktiver  Elemente,  die  mit  großer  Geschwindig- 
keit Heliumatome  und  Elektronen  ausschleudern. 

Der  Versuch  zeigt,  an  größerer  Menge  radi- 
aktiver Substanzen  ausgeführt,  daß  die  Anzahl 
der  pro  Sekunde  ausgestoßenen  Heliumatome  der 
Anzahl  der   vorhandenen  Atome  proportional  ist. 


Das  Verhältnis  l  dieser  beiden  Zahlen  ist  für 
ein  gegebenes  Element  konstant. 

Auf  diese  Tatsache  gründete  Rutherfort 
die  Zerfalltheorie  radioaktiver  Substanzen.  Er 
nimmt  an,  daß  die  Heliumatome  und  Elektronen 
im  Atomkerne  desselben  in  fortgesetzter  Bewegung 
sind.  Durch  diese  Bewegung  ändert  sich  fortge- 
setzt die  Gesamtkonstellation  der  Atomteile  und 
es  wird,  wenn  auch  äußerst  selten  vorkommen, 
daß  ein  Heliumatom  oder  Elektron  in  ein  labiles 
Gleichgewicht  gerät. 

Dann  wird  es  je  nach  Zufall  im  Verbände  des 
Atomes  bleiben  oder  fortgeschleudert  werden.  Im 
letzteren  Falle  zerfällt  das  Atom  in  ein  Helium- 
atom resp.  Elektron  und  dem  Restatom,  dem 
Folgeprodukt  des  Zerfalls,  das  ganz  andere  che- 
mische Eigenschaften  besitzt  als  die  Muttersub- 
stanz. Die  Zufälligkeit  des  Zerfalls  bringt  es  mit 
sich,  daß  einige  Atome  schon  sehr  bald  zerfallen, 
also  eine  sehr  kurze  Lebensdauer  haben,  andere 
aber  eine  sehr  lange  Lebensdauer.  Hat  man  aber 
eine  sehr  große  Anzahl  von  Atomen,  wie  es  z.  B. 
in  einem  Milligramm  Substanz  der  Fall  ist,  so 
kann  man  von  einer  mittleren  Lebensdauer  reden. 
Wendet  man  nun  auf  den  Zerfall  die  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung an,  so  ergibt  sich,  daß  die 
mittlere  Lebensdauer  der  reziproke  Wert  der  obigen 
Konstanten  A  ist,  und  daß  tatsächlich  das  Ver- 
hältnis A  bei  großer  Atomzahl  eine  Konstante 
sein  muß.  A  selbst  ist  die  Wahrscheinlicjikeit  da- 
für, daß  irgendein  Atom  in  einer  bestimmten 
Sekunde  zerfällt. 

Habe  ich  aber  nur  eine  geringe  Anzahl  von 
Atomen,  so  kann  die  im  einzelnen  Experiment 
beobachtete  Zerfallkonstante  nicht  mehr  mit  dieser 
Wahrscheinlichkeit  genau  übereinstimmen,  sondern 
muß  um  diesen  Wert  herum  schwanken. 

Geringe  Mengen  radioaktiver  Substanzen  sind 
leicht  z.  13.  als  radioaktiver  Niederschlag  herzu- 
stellen, man  kann  sie  natürlich  weder  sehen  noch 
wägen,  sondern  nur  durch  ihre  radioaktive  Wirkung 
wahrnehmen.  Die  ausgeschleuderten  Heliumatome 
kann  man  aber  einzeln  zählen.  Wenn  man  sie 
nämlich  gegen  einen  Diamanten  fliegen  läßt,  ruft 
jedes  aufprallende  Atom  ein  Aufblitzen  hervor. 

Ruther  fort  und  Geiger  einerseits,  Regener 
andererseits  haben  nun  gezählt,  wie  viel  Helium- 
atome z.  B.  pro  Minute  von  einer  Substanz  aus- 
geschleudert wurden.  Sie  fanden  hierbei  durchaus 
keinen  konstanten  Wert,  sondern  erhebliche 
Schwankungen  um  denjenigen  Wert  als  Mittel- 
wert, der  sich  aus  der  beobachteten  Zerfallkon- 
stante größerer  Substanzmengen  ergibt. 

Bortkiewicz  hat  ihr  Zahlenmaterial  wahr- 
scheinlichkeitstheoretisch in  allen  Einzelheiten 
untersucht  und  gefunden,  daß  die  beobachteten 
Schwankungen  der  Theorie  entsprechen,  die  an- 
nimmt, daß  der  Zerfall  eines  einzelnen  Atomes 
ein  rein  zufälliger  ist.  Diese  Annahme  erscheint 
also  zulässig. 

Die  moderne  Physik  kennt  noch  eine  ganze 
Reihe  von  Gesetzen,  deren  statistischer  Charakter 


510 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


mit  der  Zeit  offenbar  wurde.  Oftmals  konnten 
Versuchsanordnungen  erdacht  werden,  bei  denen 
die  Wahrscheinlichkeit  größerer  Abweichungen 
vom  Normalwert  größer  wird:  immer  werden 
dann    auch    derartige    Abweichungen    beobachtet. 

Alle  diese  Untersuchungen  zwingen  uns  dazu, 
im  Gegensatz  zur  älteren  Lehre  einen  Zufall  in 
der  Natur  gelten  zu  lassen,  und  den  Glauben  an 
die  unwandelbaren  Naturgesetze  zu  begraben. 

Damit  ist  aber  auch  die  Gültigkeit  des  Kau- 
salitätsprinzipes  in  Frage  gestellt,  welches  besagt, 
daß  der  augenblickliche  Zustand  eines  abge- 
schlossenen Systems  seine  Veränderungen  in  der 
Zukunft  eindeutig  bestimmt. 

Wenn  man  unter  Zustand  nach  Frank  die 
Werte  aller  physikalisch  meßbaren  Merkmale  des 
Systems  versteht,  so  ergibt  die  Braunsche  Be- 
wegung klipp  und  klar  die  Ungültigkeit  des  Kau- 
salgesetzes. Denn  wenn  wir  auch  für  einen  Augen- 
blick Lagen  und  Geschwindigkeiten  aller  in 
Braunscher  Bewegung  befindlichen  Teilchen 
kannten,  Temperatur,  Dichte  und  Natur  der  Flüssig- 
keit in  der  sie  schwimmen,  so  würden  doch  ihre 
Lagen  im  nächsten  Augenblick  völlig  unbestimmt 
bleiben. 

Wenn  allerdings  auch  Lage  und  Geschwindig- 
keit jedes  einzelnen  Moleküls  der  F"lüssigkeit  be- 
kannt wären,  dann  wäre  es  denkbar,  daß  dann 
auch  die  Braunsche  Bewegung  gegeben  wäre. 
Wir  würden  uns  dann  auf  den  Standpunkt  von 
La  place  stellen,  der  sagt: 

„Denken  wir  uns  alle  Veränderungen  in  der 
Körperwelt  in  Bewegungen  von  Atomen  aufge- 
löst,  so  wäre  einem  Geist,   der  für  einen  Augen- 


blick alle  Kräfte  kannte,  welche  die  Natur  beleben 
und  die  gegenwärtige  Lage  der  Wesen,  aus  denen 
sie  besteht,  nichts  ungewiß,  Zukunft  und  Ver- 
gangenheit wäre  seinem  Blicke  gegenwärtig." 

Heute  wissen  wir  indessen,  daß  die  Annahrrie 
von  Laplace  nicht  richtig  ist,  die  Bewegungen 
der  Atome  bedingen  nicht  alle  Veränderungen 
der  Körperwelt. 

Die  Explosion  eines  Atomes  Radium-Emanation 
in  der  Flüssigkeit,  die  sicher  hin  und  wieder  eintritt, 
würde  die  Bewegung  aller  Moleküle  gänzlich  ab- 
ändern und  damit  auch  die  Bewegung  der  diffun- 
dierten Teilchen  in  der  Flüssigkeit.  Unsere  Berech- 
nung ihrer  Bewegung  aus  dem  Zustand  der  Bewegung 
und  der  Lage  der  Moleküle  wäre  illusorisch.  Wenn 
wir  weiter  auch  die  Bewegungen  der  den  Atomkern 
bildenden  Teile  kennten  und  daraus  die  Atomexplo- 
sionen berechnen  wollten,  so  ist  nicht  einzusehen, 
weshalb  nicht  wieder  in  diesen  Teilen  Bewegungen 
stattfinden  sollten,  welche  das  Resultat  unserer 
Rechnung  stören.  Soweit  wir  auch  teilen,  soviele 
Beslimmungsstücke  wir  auch  in  unserer  Gleichung 
einsetzen,  immer  läßt  sich  eines  angeben,  das  wir 
nicht  einsetzten,  und  das  alleine  unter  Umständen 
unsere  ganze  Rechnung  über  den  Haufen  wirft, 
und  alles  Geschehen  gänzlich  abändert. 

Wenn  demnach  der  Geist,  von  dem  Laplace 
redet,  noch  so  große  Kenntnisse  von  dem  Zustand 
der  Natur  in  einem  Augenblick  hat,  er  könnte 
doch  niemals  die  Gleichung  der  Weltentwicklung 
aufstellen,  die  unter  allen  Umständen  eine  ein- 
deutige Lösung  hat.  Nach  der  Zukunft  gefragt, 
müßte  auch  er  antworten:  „Das  weis  ich  nicht, 
das  hängt  vom  Zufall  ab." 


Bticherbesprechungen. 


Heilborn,  A. ,  Entwicklungsgeschichte 
des  Menschen.  388.  Bändchen  der  Samm- 
lung „Aus  Natur  und  Geisteswelt".  II.  Auflage. 
Leipzig  und  Berlin  1920,  B.  G.  Teubner. 
In  vier  Vorlesungen  wird  das  Gebiet  behandelt, 
d.  h.  Verf.  holt  ziemlich  weit  aus,  indem  er  zu- 
nächst die  Geschichte  der  Entwicklungslehre  und 
ihre  Bedeutung  für  die  Abstammungslehre  erörtert 
und  dann  die  Eigenschaften  der  Zelle  als  Elementar- 
organismus, die  der  Geschlechtszellen,  die  Prin- 
zipien der  Befruchtung  und  die  der  Vererbung  be- 
spricht. So  kommen  auf  die  eigentliche  Ent- 
wicklungslehre nur  gerade  30  Seiten,  während  der 
Rest  des  Buches  den  Entwicklungsstörungen, 
bzw.  Mißbildungen  gewidmet  ist.  Es  ist  die  Frage, 
ob  diese  Anordnung  des  Stoffes  ein  Nachteil  ist. 
Dazu  möchte  ich  zunächst  bemerken,  daß  ich 
zwar  die  Vorliebe  mancher  Anatomen  für  die 
Mißbildungslehre  verstehe,  daß  ich  aber  durchaus 
nicht  einsehe,  was  sie  in  einem  allgemeinverständ- 
lichen Büchlein  über  die  Entwicklungsgeschichte 
soll.  Jawohl,  sie  bringt  etwas  Gruseln  und  etwas 
Sensation,    aber    sie    muß    doch    nur    ein   kleines 


mattes  Ausschnittchen  bleiben,  und  der  innere 
Zusammenhang  der  Mißbildungen  als  Entwick- 
lungsstörungen mit  dem  Vorhergehenden  wird 
bei  der  gedrängten  Darstellung  keinem  Laien  klar 
werden.  —  Die  Kürze  der  Darstellung  der  eigent- 
lichen Entwicklungsgeschichte  halte  ich  allerdings 
für  keinen  Nachteil.  Denn  bei  genauerem  Ein- 
gehen auf  Einzelheiten  würden  wohl  die  Schwierig- 
keiten, verständlich  zu  bleiben,  allzu  große  ge- 
wesen sein.  Was  Verf.  jetzt  bringt,  ist  verständ- 
lich und  gibt  wenigstens  einen  gewissen  Einblick 
in  die  ebenso  komplizierten  wie  eigenartigen  Vor- 
gänge. Auch  die  beiden  ersten  Kapitel  sind  recht 
gut  und  geben  eine  willkommene  Ergänzung  zu 
den  Darstellungen  biologischer  Vorgänge,  die  in 
anderen  Bändchen  der  Sammlung  zu  finden  sind. 
So  wird  alles  in  allem  der  Lernbegierige  beim 
Lesen  dieses  Büchleins  wohl  auf  seine  Kosten 
kommen.  Huebschmann  (Leipzig). 


Panconcelli-Calzia,  G.,  ExperimentellePho- 
netik.  Sammlung  Göschen.  Berlin  und  Leip- 
zig 1921,  Ver.  wiss.  Verl. 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Sil 


Die  Vertreter  sehr  verschiedener  Berufe  haben 
sich  wissenschaftlich  oder  praktisch  mit  der  Pho- 
netik zu  befassen ;  ihnen  allen  kann  das  vorliegende 
Büchlein  zur  Einführung  empfohlen  werden.  Es 
ist  klar  und  sachlich  geschrieben,  der  Mangel  an 
Abbildungen  (Kurven  usw.)  ist  ein  Nachteil,  der 
vielleicht  bei  einer  neuen  Auflage  in  einer 
günstigeren  Zeit  behoben  werden  kann.  Gartens 
Beobachtungen  an  dem  von  ihm  konstruierten 
Schallschreiber  wären  dann  vielleicht  auch  nach- 
zutragen. Brücke  (Innsbruck). 


in  das  Gebiet  einzudringen  und  dadurch  manchen 
Biologen  das  wichtige  Arbeitsgebiet  zu  erschließen 
hilft,  so  hat  sie  ihren  Zweck  schon  erfüllt. 

Huebschmann  (Leipzig). 


pietrich,  Walther,  Einführung  in  die  physi- 
kalische Chemie  für  Biochemiker, 
Mediziner,  Pharmazeuten  und  Natur- 
wissenschaftler. Berlin  1921,  Julius  Springer. 
100  Druckseiten  für  dieses  umfangreiche 
Wissensgebiet,  also  ein  Kompendium  zur  ober- 
flächlichen Orientierung  oder  zum  Auswendig- 
lernen! Ich  glaube  nicht,  daß  man  mit  einem 
solchen  Urteil  die  Arbeit  des  Verf.  abtun  darf.  Sie 
zeugt  von  einem  nicht  gewöhnlichen  Darstellungs- 
talent und  führt  dem  Leser  mit  großer  Klarheit 
die  Elemente  der  physikalischen  Chemie  vor 
Augen.  Natürlich  wird  niemand  nach  dem  Studium 
dieser  Schrift  die  Probleme  der  physikalischen 
Chemie  beherrschen  gelernt  haben.  Aber  wenn 
man  sich  vor  Augen  hält,  wie  unabsehbar  groß 
die  Bedeutung  dieser  Wissenschaft  für  alles  bio- 
logische Geschehen  ist,  wie  mangelhaft  aber  heute 
immer  noch  der  Unterricht  darin  für  Biologen  aller 
Schattierungen  ist,  so  muß  man  eine  so  klar  ge- 
schriebene Einführung  immerhin  sehr  begrüßen. 
Wenn  sie  hier  und  da  die  Anregung  schafit,  weiter 


Müller,  Friedrich,  Konstitution  und  Indi- 
vidualität. Rektoratsantrittsrede  gehalten  im 
Wintersemester  1919  an  der  Universität  München. 
München  1920. 
Der  bekannte  Kliniker,  der  nun  auch  als 
Revolutions- Rektor  der  Münchener  Universität 
weit  über  München  hinaus  eine  populäre  Persön- 
lichkeit geworden  ist,  spricht  hier,  und  wer  sich 
von  seiner  eigenartigen  fesselnden  Redekunst  eine 
Vorstellung  machen  will,  der  soll  diese  kleine 
Schrift  zur  Hand  nehmen.  Nach  einer  Einleitung, 
die  durch  die  Stürme  des  Jahres  1919  beherrscht 
wird,  zeigt  er  an  dem  Beispiel  der  Konstitutions- 
lehre, die  er  in  prägnanter  Kürze  darstellt,  daß 
hier  entgegen  dem  Vorwurf  der  Zersplitterung, 
den  man  in  neuerer  Zeit  der  Wissenschaft  oft  ge- 
macht habe,  das  Verlangen  nach  einer  Synthese 
erfüllt  sei,  die  er  als  ein  Band  bezeichnet,  „das 
alle  Fächer  der  Medizin  und  Naturwissenschaften 
aufs  engste  verbindet  und  dadurch  der  unheil- 
vollen Zersplitterung  in  lauter  Spezialgebiete  ent- 
gegenwirkt". —  Sodann  werden  die  neueren  Be- 
strebungen zur  Vertiefung  des  Studiums,  insbe- 
sondere der  Medizin,  kurz  gestreift.  Der  Redner 
will  dabei  jeden  Zwang  vermieden  wissen.  Denn 
nur  die  freie  Entwicklungsmöglichkeit  der  Stu- 
dierenden könne  Individualitäten  heranbilden.  Ein 
hoffnungsvoller  Appell  an  die  Jugend  beschließt 
die  Rede.  Huebschmann  (Leipzig). 


Anregungen  und  Antworten. 


Paläoklimatisches  im  Lichte  der  Geophysik.  Die  von 
Dr.  Robert  Potonie  in  Nr.  26  dieser  Zeitschrift  aufge- 
führten Tatsachen  legen,  wie  mir  scheint,  eine  andere  Deutung 
nahe,  welcher  sich  die  Geologen  unter  irrtümlicher  Berufung 
auf  die  Geophysiker  hartnäckig  verschliel3en ; 

Da  es  gänzlich  ausgeschlossen  ist,  dafi  in  irgendeiner 
Zeit  seit  dem  Kambrium  am  Äquator  und  an  den  Polen 
gleiche  Temperaturen  im  Meeresniveau  geherrscht  haben, 

da  es  ebenso  ausgeschlossen  ist,  daß  Bäume  der 
wärmeren  gemäßigten  Zone,  unter  welchen  Temperaturen 
es  auch  sei,  die  Polarnacht  —  in  üppigem  Wachstum  vieler 
Generationen  I   —  überdauern, 

so  müssen  wir  zusehen,  ob  nicht  diese  bei  der  heutigen 
Breitenlage    der  Funde    ganz    unerklärlichen    Tatsachen   bei 
Annahme  von  Breitenänderungen  erklärlich  werden. 
Diese  sind  in  doppelter  Weise  möglich: 

1.  Gegen  die  Annahme  von  großen  Änderungen  der  Erd- 
achse hat  die  Geophysik  nichts  einzuwenden,  als  daß  sie  für 
den  Nachweis  derselben  die  Unterstützung  seitens  der  Paläon- 
tologen erwartet; 

2.  eine  große  Reihe  von  Tatsachen  spricht  dafür,  wie 
Alfred  Wegener  gezeigt  hat,  daß  die  Kontinentalblöcke, 
in  einer  Simaunterlage  schwimmend,  ihren  Ort  langsam  durch 
Polflucht  und  Westwanderung  verändern  (natürlich  zum  je- 
weiligen, nicht  zum  jetzigen  Äquator  und  Westpunkt  hin). 

Der  Versuch,  die  Lage  der  Klimagürtel  der  Erde  für  alle 
Zeiten  vom  Karbon  bis  zum  Quartär  von  diesen  Gesichts- 
punkten aus  aufzustellen,  ergibt  im  großen  und  ganzen  ein 
überraschend  zusammenhängendes  und   einfaches  Bild,']  wenn 


auch  einzelne  Widersprüche  noch  zu  klären  sind.  Da  es 
sehr  viele  Tatsachen  sind,  die  sich  widerspruchslos  zu- 
sammenfügen müssen,  um  dieses  Bild  zu  geben,  ist  es  nicht 
zu  verwundern,  daß  dieses  nicht  auf  einen  Hieb  geht. 

Nehmen  wir  einige  der  von  R.  Potonie  erwähnten  Tat- 
sachen. S.  386 :  eine  Karbonflora  von  rein  europäischem 
Typus  findet  sich,  und  zwar  am  Meeresspiegel,  von  Oran  in 
29°  n.  Br.  bis  Grinnelland  in  81  °  n.  Br.  —  der  Abstand  ist 
nicht  merklich  größer  als  der  von  Wendekreis  zu  Wendekreis, 
Auch  die  Angabe  über  Peru  steht  damit  nicht  im  Widerspruch, 
weil  dieses  nur  etwa  30°  vom  damaligen  Äquator  abstand; 
wohl  aber  die  aus  Argentinien.  Aus  dessen  Nachbarschaft 
aber  besitzen  wir  aus  einer  geologisch  wenig  späteren  Zeit 
schon  die  berühmten  Eiszeitspuren.  Von  der  Schwelle  von 
Karbon  und  Perm  haben  wir  eine  Fülle  von  Klimazeugen: 
vom  Südpol  in  Südafrika,  um  das  sich  nach  Wegeners 
Rekonstruktion  die  Glazialfunde  aus  Südamerika,  Indien  und 
Australien  nahe  herumgruppieren ;  von  der  äquatorialen  Regen- 
zone im  langen  Steinkohlengürtel  von  China  über  Südrußland, 
Mitteldeutschland,    England    nach    Pennsylvanien    und    Te.\as, 


')  A.  Wegener;  Die  Entstehung  der  Kontinente  und 
Ozeane.  2.  Aufl.  Braunschweig  1920  (Sammlung  „Die  Wissen- 
schaft", Bd.  66). 

W.  Koppen:  Polwanderungen,  Verschiebungen  der 
Kontinente  und  Klimageschichte.  Peterm.  Mitteil.  192 1.  — 
Derselbe:  L'ber  Änderungen  der  geogr.  Breiten  und  des 
Klimas  in  geol.  Zeit.  Geografiska  Annaler  1920.  —  Derselbe  : 
Zur  Paläoklimatologie.     Meteorolog.  Zeitschr.,  1921,  S.  97. 


SI2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  35 


der  sich  nach  derselben  Rekonstruktion  auf  einen  größten 
Kreis  einstellt;  endlich  von  der  nördlichen  Trockenzone  in 
Spitzbergen,  das  im  Unterkarbon  noch  zusammen  mit  Grön- 
land und  Schottland  im  äquatorialen  Regengürtel  gelegen 
hatte,  nun  aber  durch  dessen  Südwärtsbewegung  aus  ihm 
hinausgeraten  war.  Bei  der  Weiterbewegung  des  Äquators 
kam  vom  Rotliegenden  an  für  unendlich  lange  Zeit  Deutsch- 
land in  diesen  Trockengürtel.  Daß  von  der  nördlichen  Polar- 
zone aus  dem  Karbon  und  weiter  bis  ins  Alttertiär  keine 
Zeugnisse  vorliegen,  erklärt  sich  daraus,  da£l  sie  inmitten  des, 
damals  noch  weit  größeren,  Stillen  Ozeans  lag. 

Die  Äußerung  von  Gothan,  diePotonie  auf  S.  385 
anführt,  halte  ich  nach  allem  diesem  durchaus  nicht  für  in 
der  Richtung  liegend,  welche  aus  dem  jetzigen  Wirrwarr  der 
Paläoklimatologie  herausführt  *)  —  im  Gegenteil  nur  für  einen 
Beweis  der  Hilflosigkeit,  in  die  er  sich  dadurch  versetzt,  daß 
er  die  Hypothese  weitgehender  Polverlegungen,  ohne  Be- 
gründung, beiseite  setzt. 

Vom  Perm  bis  zum  Eozän  verlief  der  Äquator  mit  ge- 
ringen Schwankungen  von  Westindien  durch  die  Tethys  bis 
zu  den  Sundainseln.  Durch  die  entgegengesetzte  Polflucht 
der  Kontinenalblöcke  im  Norden  und  Süden  wurde  die  be- 
kannte Bruchzone  der  Erde  geschaffen. 

Von  der  Permischen  Eiszeit  glaubt  Potonie  absehen  zu 
müssen,  weil  sie  eben  in  die  Behauptung  ,, gleich  günstiger 
Bedingungen"  in  der  Nähe  der  Pole  und  am  Äquator  absolut 
nicht  hineinpaßt.  Aber  man  entschließe  sich  doch  endlich, 
statt  über  all  diese  Sachen  nur  den  Kopf  zu  schütteln  und 
Bedingungen  anzunehmen,  die  eben  auf  einer  von  der  Sonne 
bestrahlten  Erde  ganz  unmöglich  sind,  die  größten  sicher  fest- 
gestellten Tatsachen  der  Erdgeschichte  ohne  Voreingenommen- 
heit zu  betrachten  und  den  einzigen  mit  ihnen  verträglichen 
Weg  zu  gehen.  Wenn  dabei  hier  und  da  in  weniger  er- 
forschten Ländern  gemachte  Beobachtungen  vorläufig  uner- 
klärlich bleiben,  so  vergesse  man  nicht,  daß  deren  Beobachter 
von  anderem  Standpunkt  ausgingen  und  die  Tatsachen  viel- 
leicht noch  einer  anderen  Deutung  fähig  sind. 

Nirgends  halten  sich  Irrtümer  so  hartnäckig,  wie  auf 
Zwischengebieten,  wo  die  eine  Wissenschaft  für  von  ihr  be- 
hauptete Unmöglichkeiten  sich  auf  die  andere  beruft,  die  sie 
angeblich  fordere.  Ein  schönes  Beispiel  dafür  war  die  Nebel- 
bläschentheorie seligen  Andenkens.  Jetzt  scheint  gar,  schreck- 
licherweise, die  Fau  th-H  ö  rb  iger  sehe  Glazialkosmogonie 
ein  solches  Beispiel  werden  zu  wollen !  W.  Koppen. 


Zu  der  sprachlichen  Bemerkung  von  H.  Heller  in  der 
Besprechung  des  Herzschen  Buches  in  Nr.  24  der  Naturw. 
Wochenschr.  ist  folgendes  zu  sagen : 

Das  Bestreben,  auch  in  naturwissenschaftlichen  Arbeiten 
auf  sprachliche  Richtigkeit  zu  dringen,  ist  hocherfreu- 
lich. Leider  muß  ich  aber  den  Ausführungen  Hellers  wider- 
sprechen. Das  Wort  ,,Anomalia"  ist  durchaus  nicht  , .sprach- 
widrig", sondern  ein  gutes  griechisches  Wort  ^Aymiial.ia  (Ano- 
malia)  =  die  Unebenheit,  Ungleichheit,  abgeleitet  von  dem 
Eigenschaftswort  uiwiiaXoi  (anömalos)  =  uneben,  ungleich- 
artig, verschieden ,  das  abgeleitet  wird  von  bfirüoi  (homalos) 
^  gleich,  eben,  glatt,  und  der  Vorsilbe  «;■-  (an-),  die  der 
deutschen  ,un'-  entspricht. 

Das  zweite  in  Betracht  kommende  Stammwort  ist  das 
lateinische  norma  =  Winkelmaß,  Richtschnur,  Regel,  mit  dem 
davon  abgeleiteten  Eigenschaftswort  normalis  und,  als  Gegen- 
satz hierzu,  abnormis.  Zu  diesem  ist  das  Hauptwort  abnor- 
mitas  richtig  gebildet,  wenn  es  auch,  wenigstens  nach  der  mir 
zur  Verfügung  stehenden  Literatur,  im  klassischen  Latein  nicht 
vorkommt. 

Im  Deutschen  sind  als  richtig  gebildete  Fremdwörter  nur 


möglich  einerseits  aus  dem  Lateinischen  normal,  abnorm,  Ab- 
normität, aus  dem  Griechischen  anomal,  Anomalie.  Alle 
anderen  Formen  sind  sog.  hybride  Bildungen,  d.  h.  aus  Latein 
und  Griechisch  zusammengewürfelt,  z.  B.  „anormal"  aus  der 
griechischen  Vorsilbe  a-  (=:  an-)  und  dem  lateinischen  nor- 
malis. Solche  Mißbildungen  sind  für  einen  nur  einigermaßen 
sprachlich  Gebildeten  ein  Greuel,  wenngleich  leider  in  der 
wissenschaftlichen  Sprache  sehr  verbreitet,  z.  B.  Dysfunktion 
(gr.  Svs- ,  lat.  fuuctio),  inonokuliir  (gr.  iiorof^  lat.  oculus, 
französischer  Endung  -aire)  statt  nuokular  (lat.  unus,  oculus, 
Endung  -aris)  —  wofür  man  zur  Not  ja  auch  einäugig  setzen 
könnte,  ohne  in  den  Verdacht  der  Ungebildetheit  zu  kommen 
■ — ,  oder  das  von  Potonie  eingeführte  Wort  Inkohlung 
(lat.  in-,  deutsch   kohlen)  statt  Ein  kohlung  usw. 

Aber  die  Richtigkeit  der  Bildung  muß  nicht  nur  bei 
Fremd-  und  Lehnworten,  sondern,  und  vor  allem,  bei  der 
Neubildung  deutscher  Worte  verlangt  werden.  Als  Beispiel 
sei  nur  das  undeutsche  Wort  ,, Fastebene"  erwähnt.  Zusam- 
mensetzungen mit  dem  Umstandswort  fast  sind  im  Deutschen 
nicht  möglich ;  man  spricht  nicht  von  Fastinseln  und  Fast- 
göttern, sondern  von  Halbinseln  und  Halbgöttern,  ohne  dabei 
den  Begriff  der  Hälfte  mathematisch  genau  festzulegen;  es 
kann  also  nur  llalbebene  heißen. 

Es  sollte  mich  freuen,  wenn  die  Hell  ersehe  Anregung 
dazu  beitrüge,  bei  den  zahlreichen  Lesern  der  Naturwissen- 
schaftlichen Wochenschrift  das  sprachliche  Gewissen  zu  schär- 
fen und  den  Sinn  für  die  Richtigkeit  und  Güte  der  deutschen 
Muttersprache  zu  heben,  des  einzigen  Gutes,  das  uns  die 
Feinde  nicht  rauben  können,  wenn  wir  es  uns  nicht  rauben 
lassen  wollen.  Dr.  Weinhold,  Plauen. 


Zu  der  gleichen  Frage  ging  noch  folgende  Äußerung  ein: 
,, Anomal"  ist  das,  was  in  die  Reihe  nicht  paßt,  aus  ihr 
herausfällt,  und  bildet  so  begrifflich  den  Gegensatz  zu 
„normal",  mit  dem  es  sprachlich  nicht  das  geringste  zu 
tun  hat.  (Wenn  gelegentlich  selbst  Leute,  die  Griechisch 
können,  das  Wort  von  ä  priv.  und  rniioi  Gesetz  ableiten  wollen, 
so  ist  auch  das  falsch  ;  dann  hätte  zudem  ja  wieder  das 
griechische  Wort  eine  lateinische  Endung.)  Will  man  den 
Begriff  ,, normal"  mit  einem  auch  sprachlich  zugehörigen  Worte 
verneinen,  so  benutze  man  ,, innormal"  oder  ,, abnorm" ;  ,, ab- 
normal", das  man  hin  und  wieder  hört,  möchte  ich  nicht 
empfehlen,  dagegen  ist  ,, unnormal"  wohl  nicht  zu  beanstanden, 
wenn  wir  „normal"  als  einigermaßen  eingedeutscht  ansehen 
dürfen.  Man  vergesse  aber  nicht,  daß  wir  für  den  Begriff 
eine  ganze  Reihe  gut  deutscher  Worte  haben,  so  ,, regelwidrig", 
„auffallend",  ,, ungewöhnlich"  oder  ganz  einfach  und  ehrlich 
,, krankhaft".  Dr.  Hoppe-Rinteln. 


*)  Ganz  abgesehen   davon,    daß    darin    anscheinend  zwei- 
mal ,, höhere"  statt  ,, niedrigere"  Breiten  gesagt  ist. 


Literatur. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.     Leipzig  '21,  B.  C.  Teubner. 
Centnerszwer,    M. ,    Das    Radium    und    die  Radio- 
aktivität.    2.  Aufl. 
Schau,  A.,  Statik.     2.  Aufl. 
Schau,  A.,  Festigkeitslehre.     2.  Aull. 
Stern,  E.,  Angewandte  Psychologie. 
Krebs,  N.,    Allgemeine  Geographie:    Die  Verbreitung 
des  Menschen  auf  der  Erdoberfläche. 
Strecker,  Dr.  K.,  Jahrbuch  der  Elektrotechnik.   S.Jahr- 
gang.    München  und  Berlin  '20,  R.  Oldenbourg.     42  M. 

Meyers  Kleiner  Handatlas.  Lief.  I.  Leipzig- Wien  '21. 
10  M. 

Deneke,  11.,  Zur  monistischen  Weltauffassung.  Altenau 
i.  Harz  '21,  Dr.  Deneke.     15  M. 

Baur,  Prof.  Dr.  E. ,  Die  wissenschaftlichen  Grundlagen 
der  Pflanzenzüchtung ,  ein  Lehrbuch  für  Landwirte,  Gärtner 
und  Forstleute.     Berlin  '21,  Gebr.  Bornträger. 


Inbalt:  O.  Martienssen,  Gesetz  und  Zufall  in  der  Natur.  S.  505.  —  BücbcTbesprechungen :  A.  Heilborn,  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Menschen.  S.  510.  G.  Panconcelli-Calz  ia,  Experimentelle  Phonetik.  S.  510.  Walther 
Dietrich,  Einführung  in  die  physikalische  Chemie  für  Biochemiker,  Mediziner,  Pharmazeuten  und  Naturwissenschaftler. 
S.  511.  Fr.  Müller,  Konstitution  und  Individualität.  S.  511.  —  Anregungen  und  Antworten:  Paläoklimatisches  im 
Lichte  der  Geophysik.  S.  511.     Sprachliche  Bemerkung.  S.  512.     „Anomal".  S.  512.  —  Literatur:  Liste.  S.  512. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Fätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m,  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganxen  Reihe   36.  Band, 


Sonntag,  den  4.  September  1921. 


Nummer  36« 


Geiiieinschaftdienliche  Zweckmäßigkeit,  die  Lösung  des  Problems 

der  Dysteleologien. 


[Nachdruck  verboten.] 

Erich  Becher  hat  bei  der  Erörterung  der 
zweckmäßigen  Einrichtungen  der  Pflanzengallen, 
welche  von  Pflanzen  erzeugt  werden,  aber  aus- 
schließlich im  Dienste  der  sie  bewohnenden  In- 
sektenlarven stehen,  den  Begriff  der  fremddienlichen 
Zweckmäßigkeit  geprägt,  aber  zugleich  daraufhin- 
gewiesen, daß  wir  bei  den  Gallen  auch  Bildungen 
finden,  welche  mit  dieser  fremddienlichen  Zweck- 
mäßigkeit in  Widerspruch  zu  stehen  scheinen. 
Solche  „Dysteleologien",  scheinbare  Widersprüche 
mit  den  Naturzwecken,  treten  uns  nun  beim  bio- 
logischen Geschehen  außerordentlich  häufig  ent- 
gegen; ja  manche  Dysteleologien  sind  sogar  eine 
ausnahmslose  Regel.  So  wunderbar  zweckmäßig 
viele  Einrichtungen  sind,    um  so  wunderbarer,   je 


Von  Hermann  Kranichfeld,  Oberlößnitz-Dresden. 

enthält,  welcher  Herbst  außer  Apfelsäure  Gift- 
stoff (0,01  HgCl)  zugesetzt  hatte. 

Die  wunderbar  zweckmäßigen  Einrichtungen 
auf  der  einen  Seite  und  die  „Dummheiten"  der 
Natur,  wie  E.  Becher  die  betrefTenden  Erschei- 
nungen nennt,  auf  der  anderen  Seite,  bilden  offen- 
bar einen  Widerspruch,    der  eine  Lösung  fordert. 

Sie  kann  in  zwei  Momenten  gefunden  werden. 
Die  Dysteleologien  entstehen  nämlich  in  sehr  vielen 
Fällen  nur  durch  eine  falsche  Betrachtungs- 
weise. Wie  bei  den  Untersuchungen  physikalischer 
Prozesse  und  Gegenstände  wenden  wir  auch  auf 
die  biologischen  Vorgänge  und  Einrichtungen  die 
isolierende  Abstraktion  an.  Für  jene  ist  sie 
zulässig.       Bei    der    Untersuchung    der    Strahlen- 


genauer wir  sie  kennen  lernen,  so  ist  doch  keine  brechung  können  wir  zunächst  von  den  Neben- 
wirklich vollkommen.  Selbst  das  Auge  des  erscheinungen  der  Dispersion  des  Lichtes,  der 
IVIenschen  hat  in  seiner  Konstruktion  Mängel,  die,  Ausdehnung  des  durchleuchteten  und  erwärmten 
wie  H  e  1  m  h  o  1  z  sagt,  ein  mittelmäßiger  Optiker  Körpers  usw.  absehen.  Das  ist  jedoch  bei  bio- 
bei  seinen  Instrumenten  zu  vermeiden  weiß.  Ein  logischen  Untersuchungen  nicht  angängig.  Be- 
Widerspruch scheint  ferner  darin  zu  liegen,  daß  trachten  wir  auch  hier  das  Einzelne  nur  an  sich, 
die  relativen  Vorteile,  welche  solche  Einrichtungen  nicht  in  dem  Zusammenhang,  in  welchem  es  mit 
dem  Individuum  gewähren,  durch  entsprechende  dem  Ganzen  und  mit  anderen  Teilen  desselben 
Vorteile  der  Konkurrenten  wieder  paralysiert  steht,  so  kommen  wir  notwendig  zu  falschen 
werden.     „Die  Natur  verleiht  auf  der  einen  Seite  Vorstellungen.      Denn    das  Einzelne   wird   in  der 


einem  viel  verfolgten  Tiere  schnelle  Bewegungs- 
organe, Schutzfärbung,  Schutzinstinkte  usw.,  ande- 
rerseits Seinern  Verfolger  auch  Schnelligkeit,  feine 
Sinnesorgane,Überlistungsinstinkte,  Fangmittel  usw. 
Warum  diese  sich  widersprechenden  und  einiger- 
maßen sich  paralysierenden  Maßnahmen?"  (E. 
Becher).  Noch  schärfer  tritt  uns  der  Be- 
griff der  Dysteleologie  in  den  Vorgängen  und 
Bildungen  entgegen,  die  nicht  nur  unvollkommen 
sind,  sondern  uns  direkt  zweckwidrig  erscheinen. 
So  entstehen  bei  der  Regeneration  bisweilen 
Wesen  mit  zwei,  ja  drei  Köpfen,  mit  mehreren 
Schwänzen  usw.    Nach  den  Versuchen  von  Stei- 


Welt  des  organischen  Geschehens  in  dem  Grad 
durch  seine  Stellung  in  der  Gemeinschaft  be- 
stimmt, daß  ein  Teil,  der  aus  dieser  Gemeinschaft 
gelöst  —  also  in  isolierender  Abstraktion  —  be- 
trachtet wird,  nicht  richtig  verstanden  werden 
kann.  Bei  den  Schnellfahrten,  welche  vor  einer 
Reihe  von  Jahren  auf  der  elektrischen  Bahn  Ber- 
lin-Zossen angestellt  wurden,  versagte  bei  einer 
Geschwindigkeit  von  200  km  in  der  Stunde  bei 
den  Führern  die  Akkommodation  des  Auges.  Sie 
konnten  die  auf  der  Strecke  an  ihnen  vorüber- 
eilenden Gegenstände  und  Zeichen  nicht  mehr 
erkennen,    während    die    Schnellflieger    unter    den 


nach    rufen    bei    jungen    kastrierten    Tieren    die  Vögeln    bei    ohngefähr    gleicher   Geschwindigkeit 

unter  die  Haut  verpflanzten  Geschlechtsdrüsen  die  im  Flug    noch    die    kleinsten  Insekten    erhaschen. 

Bildung    der     ihnen    entsprechenden    sekundären  Es  ist  das  zweifellos   eine  Unvollkommenheit  des 

Geschlechtscharaktere     hervor,     mögen     die     be-  menschlichen    Auges,    doch    fällt    sie    nicht    unter 

treffenden    Tiere    dem    einen    oder    dem    anderen  den    Begriff    der    Dysteleologie.      Es    würde    im 

Geschlecht   angehören.      Die    Mauerbiene    deckelt  Gegenteil    gegen  das  Gesetz    der  Sparsamkeit    in 

ihre  Zelle    zu,    nachdem    sie    ihr    Ei    hineingelegt  der  Natur  verstoßen,  wenn  der  Akkommodations- 


hat,  auch  wenn  man  ihr  dieses  vorher  heraus- 
nahm. Die  im  Wasser  ziellos  umherschwärmen- 
den Samenfäden  der  Farne  werden  nach  Pfeffer 
von  der  von  den  weiblichen  Organen  ausge- 
schiedenen Apfelsäure  angelockt;  sie  schlüpfen 
aber  auch  in  eine  Kapillare,    die   eine  Flüssigkeit 


apparat  des  menschlichen  Auges  sich  mit  der 
gleichen  Schnelligkeit  und  Präzision  wie  der  der 
Schnellflieger,  auf  die  verschiedenen  Entfernungen 
einstellte,  weil  der  Mensch  nach  seiner  ganzen 
natürlichen  Organisation  sich  gar  nicht  so  schnell 
wie  jene   fortzubewegen   imstande   ist.      So   geht 


SH 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XX.  Nr.  36 


durchweg  zweckmäßigerweise  die  vollkommene 
Ausbildung  eines  Organs  nicht  weiter,  als  es  dem 
Bedürfnis  des  Organismus  entspricht. 

Der  Grad  der  Anpassung  ist  aber  nicht  nur 
von  der  Stellung  abhängig,  in  welcher  ein  Teil 
eines  Einzelorganismus  zu  anderen  Teilen  des- 
selben steht;  er  wird  auch  bestimmt  von  der 
Stellung  des  Einzelorganismus  oder  vielmehr  der 
Art,  zu  welcher  der  Einzelorganismus  gehört,  zu 
den  anderen  Arten  im  ganzen  Organismenreich. 
Das  Ziel,  welchem  sich  letzteres  nach  jeder  Um- 
wälzung und  jedem  Hereinbrechen  einer  neuen 
Formenwelt,  wie  wir  sie  im  Verlaufe  der  geolo- 
gischen Entwicklung  beobachten,  wieder  zu  nähern 
sucht,  ist  die  Wiederherstellung  der  Harmonie, 
des  Gleichgewichtes  aller  der  unzähligen  großen 
und  kleinen  Tier-  und  Pflanzengruppen,  welche 
uns  die  Systematik  kennen  lehrt.  Das  Ziel  ist 
erreicht,  wenn  für  jede  Art  die  Gleichung  zwischen 
dem  Vermehrungs-  und  dem  Vernichtungskoeffi- 
zienten besteht. 

In  dem  Wettstreit  zwischen  Schiffspanzer  und 
Geschütz  folgt  auf  die  Verstärkung  des  Panzers 
stets  eine  Verstärkung  der  Durchschlagskraft  der 
Geschosse  und  umgekehrt.  Da  ist  das  Verhältnis 
so,  wie  E.  Becher  glaubt,  es  auch  auf  die  Natur 
übertragen  zu  müssen.  Jede  Nation  erstrebt  im 
Grunde  genommen  statt  des  Gleichgewichtes  ihr 
eignes  Übergewicht.  Anders  ist  es  im  Organismen- 
reich. Hier  bleibt  das  Verhältnis  zwischen  An- 
griffswaffen  und  Schutzwafifen  der  betreffenden 
Gruppen  unverändert,  wenn  nach  einem  phylo- 
genetischen Fortschritt  oder  nach  einer  Umwäl- 
zung der  äußeren  Lebensbedingungen  das  Gleich- 
gewicht wieder  hergestellt  ist.  Etwas  anderes 
wird  gar  nicht  erstrebt.  Die  Anpassung  der  Einzel- 
organismen an  die  äußeren  Verhältnisse  und  an 
die  Konkurrenten  im  Kampfe  ums  Dasein  kann 
daher  nur  eine  relative  sein.  Die  absolute  Voll- 
kommenheit des  Einzelnen  wäre  eine  Unvollkom- 
menheit  des  Ganzen;  sie  würde,  indem  sie  dem 
Einzelnen  die  Alleinherrschaft  gegenüber  seinen 
Konkurrenten  verschaffte,  die  Harmonie  des 
Ganzen  stören. 

Daß  tatsächlich  ein  Gleichgewicht  in  der  Or- 
ganismenwelt besteht,  haben  die  von  IVIöbius 
zuerst  entdeckten  Gesetze  der  Biozönosen  (1878) 
bewiesen.  Sie  bilden  geschlossene  Gemeinden 
lebender  Wesen,  in  welchen  nicht  nur  bestimmte 
Arten,  die  gerade  an  der  betreffenden  Stelle  alle 
Bedingungen  für  ihre  Entstehung  und  Erhaltung 
finden,  dauernd  leben,  sondern  auch  die  Anzahl 
der  Individuen  der  einzelnen  Arten  bestimmten 
Beschränkungen  unterliegt.  Sie  steigt  und  fällt 
wohl  in  den  verschiedenen  Jahren,  aber  sie 
schwankt  dabei  immer  nur  um  einen  konstanten 
Mittelwert.  Dies  Verhältnis  kann  Jahrhunderte 
und  Jahrtausende  hindurch  sich  unverändert  er- 
halten, wenn  die  Lebensbedingungen,  wie  z.  B. 
in  einem  der  Kultur  nicht  unterworfenen  Land- 
strich, die  gleichen  bleiben  und  keine  Störungen 
von   außen   eintreten.     Es  springt  in  die  Augen, 


daß  bei  diesen  konstanten  Biozönosen  die  An- 
passungen nur  relativ  vollkommen  sein  können. 
Soll  nämlich  die  Konstanz  derselben  erhalten 
bleiben,  dann  darf  durchschnittlich  jedes  Paar  nur 
wieder  ein  zur  Fortpflanzung  kommendes  Paar 
als  Nachkommenschaft  hinterlassen.  Würde  das 
Verhältnis  im  Durchschnitt  auch  nur  um  einen 
Bruchteil  überschritten,  so  müßte  die  betreffende 
Art  in  kurzer  Zeit  die  anderen  Arten,  welche  die 
gleiche  Stellung  im  Naturhaushalt  haben,  ver- 
drängen. Der  Kampf  ums  Dasein  muß  daher  alle 
anderen  Nachkommen  vernichten.  Sie  dürfen  nur 
soweit  angepaßt  sein,  daß  sich  durchschnittlich 
in  den  aufeinanderfolgenden  Generationen  die 
Gleichheit  von  Vermehrungs-  und  Vernichtungs- 
koeffizienten ergibt. 

Es  kann  dies  Moment  allerdings  nur  dann  für 
die  Zweckmäßigkeit  der  nur  relativ  vollkommenen 
Ausbildung  der  adaptiven  Einrichtungen  geltend 
gemacht  werden,  wenn  sich  zeigen  läßt,  daß  jenes 
Gleichgewicht  selbst  nicht  auf  Zufall,  sondern 
wieder  auf  einem  teleologischen  Prinzip  beruht. 
Dieser  Nachweis  muß  erst  geführt  werden.  Denn 
es  liegt  zunächst  nahe,  das  Gleichgewicht  als  eine 
einfache  Wirkung  des  Kampfes  ums  Dasein  auf- 
zufassen. 

Daß  der  Vermehrungskoeffizient  bei  einer  Art 
nicht  dauernd  unter  den  Vernichtungskoeffizienten 
sinken  kann,  läßt  sich  einfach  aus  dem  Begriff 
des  Kampfes  ums  Dasein  folgern.  Denn  eine 
solche  Art  müßte  notwendig  in  kurzer  Zeit  zu- 
grunde gehen.  Es  läßt  sich  aber  auch  die  Tat- 
sache, daß  der  Vernichtungskoeffizient  in  einer 
Biozönose  durchschnittlich  nicht  unter  den  Ver- 
mehrungskoeffizienten sinkt,  unter  gewissen  Vor- 
aussetzungen aus  dem  Kampf  ums  Dasein  ableiten. 

Angenommen,  der  Vermehrungskoeffizient  sei 
zunächst  größer  als  der  Vernichtungskoeffizient, 
so  wird  sich  die  betreffende  Art  auf  Kosten  an- 
derer Arten  so  lange  ausbreiten  und  diese  ver- 
drängen und  vernichten,  bis  sie  auf  Arten  trifft, 
die  ihr  gewachsen  sind.  Mit  diesen  muß  sie  sich 
dann,  wenn  sie  nicht  selbst  zugrunde  gehen  soll, 
ins  Gleichgewicht  setzen. 

Gegen  diese  Auffassung  erhebt  sich  jedoch 
eine  Schwierigkeit.  Wäre  das  Gleichgewicht  in 
den  Biozönosen  auf  diese  Weise  entstanden,  dann 
müßte  im  Verlauf  der  phylogenetischen  Entwick- 
lung eine  fortwährende  Reduktion  der  Arten  statt- 
gefunden haben.  Wir  können  das  zwar  nicht  an 
Beispielen  neuentstandener  Arten  zeigen,  da  wir 
solche  nicht  kennen;  die  von  uns  beobachteten 
neuen  Mutanten  sind  in  der  freien  Natur  alle 
wieder  untergegangen.  Wir  haben  aber  eine 
Analogie  für  den  Vorgang,  der  bei  einer  solchen 
phylogenetischen  Entwicklung  stattgefunden  haben 
müßte,  in  den  Störungen,  welche  das  Eindringen 
fremder  Arten  in  den  Biozönosen  verursacht.  Sie 
üben,  wenn  sie  sich  überhaupt  halten  können,  in 
der  Regel  eine  vernichtende  Wirkung  auf  die 
alten  Arten  aus.  So  ging  infolge  der  Einführung 
der   Ziegen   auf  der  Insel   St.  Helena  (15 13)  die 


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dortige  alte  Flora  und  Fauna  fast  völlig  zugrunde. 
Indem  die  Ziegen,  die  sich   in  ungeheurem  Maße 
vermehrten,  das  Unterholz,    welches    die   Humus- 
decke  an   den   steilen  Hängen  festgehalten  hatte, 
abweideten    und    zum    Absterben    brachten,    ver- 
schwand mit  der  vom  tropischen  Regen  nun  weg- 
gespülten Humusschicht  auch    der  Hochwald    der 
sonst  dichtbewaldeten  Insel  und  mit  ihm  die  ganze 
von    ihm  abhängige  Flora  und  Fauna.     Ähnliche, 
wenn  auch  nicht  so  tiefgreifende  Störungen   ent- 
standen bei  der  Einführung  des  Mungo  in  Jamaika, 
des  europäischen  Viehs  in  den  Pampas  von  Argen- 
tinien,  der   Bisamratte    in    Böhmen  usw.     Größer 
noch  ist  der  Einfluß  neu  eingeführter  oder  einge- 
schleppter niederer  Organismen,  weil  diese  einen 
weiteren  Verbreitungskreis  zu  haben  pflegen.    Ein 
besonders   interessantes   Beispiel    dieser  Art    wird 
von   Escherich    in    seinem    Buch:    „Die    ange- 
wandte Entomologie  in  den  Vereinigten  Staaten" 
erwähnt.     Ein  Franzose  Trouvelot   in  Medfort 
im    Staate    Massachusetts    hatte    im    Jahre    1868 
eine    Anzahl    von    Eiern     des    Schwammspinners 
(Lymantria  dispar)  aus  Europa   bezogen,    um   sie 
aus  Liebhaberei  weiter  zu  züchten.   Einige  Raupen 
entschlüpften  ihm  und  entwickelten  sich  im  Freien 
zu  Schmetterlingen,  die  sich  nun  mit  unheimlicher 
Schnelligkeit   vermehrten.      Nach    einigen    Jahren 
wimmelte  der  Wohnort  des   Züchters   und  seine 
nächste    Umgebung    von    Raupen.      Die     Bäume  , 
waren  kahl  gefressen,   die  Raupen  bedeckten    die' 
Wände  der  Häuser,    daß    man    ihre    Farbe    nicht  f 
erkennen  konnte,  sie  drangen   in   die  Zimmer  ein 
und    störten    die    Bewohner    im    Schlafe.      Nach 
20   Jahren    waren    etwa     1600    Quadratkilometer 
von    dieser   Plage    heimgesucht.      Der  Staat    be- 
willigte  jährlich    25000    bis    150 000   Dollar    zur 
Bekämpfung  derselben,    ohne    einen  Erfolg  zu  er- 
zielen.    Bis  zum  Jahre  1904  hatten  sich  die  Rau- 
pen über  etwa  7400  Quadratkilometer   verbreitet. 
Nun  griff  die  Zentralregierung  in  Washington  ein. 
Es   wurde   von    da    ab  jährlich   etwa  eine  Million 
Dollar   aufgewandt,    um  die  Überflutung   der  be- 
treffenden Staaten  durch  den  Eindringling   einzu- 
dämmen,   doch    ging   sie,    wenn   auch  langsamer, 
unaufhaltsam    weiter.     Die    technischen  Bekämp- 
fungsmittel   blieben    ihr    gegenüber    so    gut    wie 
wirkungslos. 

Darwin  meinte,  daß  eine  starke  Vermehrung 
einer  Art  die  Schranken  in  sich  trage,  da  die 
Individuen  einer  Art,  weil  sie  den  gleichen  Platz 
im  Naturhaushalt  einnehmen,  sich  selbst  die 
schärfste  Konkurrenz  machen  müßten.  In  der 
Tat  findet  zwischen  den  Individuen  des  Schwamm- 
spinners der  heftigste  Kampf  ums  Dasein  statt. 
Aber  wir  sehen  nicht,  daß  dadurch  die  Aus- 
breitung der  Art  über  immer  weitere  Gebiete 
aufgehalten  wird.  Im  Gegenteil  treibt  der  Kampf 
ums  Dasein  sie  an,  immer  weitere,  noch  unbesetzte 
Gebiete  zu  erobern.  Auch  das  ist  nicht  richtig, 
daß  die  Widerstände  mit  dem  weiteren  Vordringen 
wachsen.  Die  Widerstandskraft  der  bedrohten 
Pflanzenarten  wird    nicht  größer,   sondern    immer 


geringer,    da    ihre    Individuenzahl    abnimmt.      Je 
kleiner    aber    die  Zahl    der  Individuen   einer   Art 
ist,  desto  größer   ist  die  Gefahr   für    das  einzelne 
Individuum.     Die   körnerfressenden  Vögel  können 
einem     großen    Getreidefeld     keinen     ernstlichen 
Schaden    zufügen,     dagegen     erwähnt    Darwin 
selbst,  daß  er  auf  einem  einzelnen  Beete  in  seinem 
Garten  niemals  habe  Getreide    zur  Reife    bringen 
können.     Allerdings  würde   der  Schwammspinner 
in    Amerika,    wenn    auch   alle    gegen    ihn    ange- 
wandten   Bekämpfungsmittel    erfolglos    geblieben 
wären,  schließlich  eine  Grenze  seiner  Ausbreitung 
in  den  klimatischen  Verhältnissen  gefunden  haben. 
Und  dann  wäre    auch    notwendig,    bei    ihm   eine 
Herstellung    des    Gleichgewichts    zwischen    Ver- 
mehrungs-    und   Vernichtungskoeffizienten   erfolgt. 
Es  gibt  ja  stets   Pflanzen,    welche    den    Angriffen 
der   Schädlinge    einen   stärkeren  Widerstand    ent- 
gegenzusetzen   vermögen    und    so    einen  relativen 
Schutz  gegen  die  drohende  Gefahr  besitzen.    Wenn 
diese  auch  durch  die  Schädhnge  geschädigt  wer- 
den,  so   überwiegt  doch    bei    ihnen    der  Vorteil, 
der   ihnen    durch   die  Vernichtung  ihrer  Konkur- 
renten   erwächst,    den  Nachteil.      Sie  werden  all- 
mählich die  Plätze  derselben  einnehmen.     Ist  der 
Schädling     an    den    Grenzen    der    Ausbreitungs- 
möglichkeiten  angekommen,    so   beginnt  nun  der 
intensivere  Kampf  gegen  diese  partiell  geschützten 
Pflanzenarten.      Auch    von    diesen     gehen     noch 
manche  unter,  bis  nur  die  übrig  sind,  welche  dem 
'  Schädling  die  Wage  halten.  Wie  das  Vordringen 
des  Schwammspinners  zeigt,  verläuft  dieser  Prozeß 
so  schnell  und  wegen  der  immer  größer  werden- 
den Peripherie  seines  Verbreitungsgebietes  mit  so 
starker  Zunahme  der  Verbreitungsgeschwindigkeit 
—  in  den  ersten  20  Jahren  hatte  der  Schwamm- 
spinner 1600  Quadratkilometer,  in  den  folgenden 
15    Jahren    (7400—1600)    5800  Quadratkilometer 
erobert  —  daß  nur  die  Pflanzen    erhalten  bleiben 
können,  die  schon  von  vornherein  einen  partiellen 
Schutz   besaßen,   daß  derselbe   also  nicht  erst  im 
Kampf  mit  den  Schädlingen  gezüchtet  sein  kann. 
Das  Resultat  einer  solchen  Entwicklung  haben 
wir  in  den  Pflanzenarten  vor  uns,    die  wir  in  der 
Heimat  der  Blattschneideameisen   antreffen.     Alle 
europäischen    Pflanzenarten,    die    dort    eingeführt 
werden,  erliegen  in  kurzer  Zeit  den  Angriffen  der 
Ameisen.     Dagegen  besitzen  die    dort  heimischen 
Pflanzen  gegen  diese  jenen  partiellen  Schutz.    Alle 
anderen  Pflanzen  müssen  nach  dem  Auftreten  der 
Blattschneideameisen    verdrängt    oder    vernichtet 
worden  sein. 

Die  Ausbreitung  des  Schädlings  kommt  also 
wohl  auch,  wenn  nur  der  Kampf  ums  Dasein  im 
Spiel  ist,  zum  Stillstand,  aber  erst  wenn  der  Er- 
oberungszug vollendet  und  ihm  zahlreiche  Pflan- 
zen-  und  Tierarten  zum  Opfer  gefallen  sind. 

Gegen  den  ganzen  Vergleich,  bei  welchem  wir 
von  der  Erschütterung  des  Gleichgewichtes  in 
einer  Biozönose,  die  mit  dem  Eindringen  einer 
fremden  Art  in  dieselbe  verbunden  zu  sein  pflegt, 
auf  die  Wirkung  des  Auftretens  neuer  Formen  in 


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der  phylogenetischen  Entwicklung  schließen, 
könnte  man  nun  den  Einwand  erheben,  daß  sich 
die  Fortschritte  in  den  Anpassungen  einer  Art 
nach  Darwin  in  so  kleinen  Schritten  und  so 
langen  Zeiträumen  vollziehen,  daß  die  natürliche 
Zuchtwahl  —  anders  als  bei  dem  Vordringen  des 
Schwammspinners  —  bei  den  bedrohten  Arten 
stets  eingreifen  und  das  Gleichgewicht  in  den 
Biozönosen  wieder  herstellen  konnte,  ehe  es  zu 
einer  wesentlichen  Verschiebung  desselben  kam. 
Diese  Darwinsche  Vorstellung,  nach  welcher 
die  phylogenetische  Entwicklung  in  gleitenden, 
auf  geologische  Zeiträume  verteilten  Übergängen 
erfolgte,  ist  jedoch  durch  den  Neu-Mendelismus 
(W.  Johannsen)  erschüttert  worden.  Nach  ihm 
macht  die  Entwicklung  nur  dann  einen  Schritt 
nach  vorwärts,  wenn  ein  neues  Gen  auftritt.  Wenn 
nun  auch  die  Entstehung  der  Gene  noch  in  voll- 
ständiges Dunkel  gehüllt  ist,  so  wissen  wir  doch, 
daß  es  sich  bei  dem  Auftreten  derselben  nicht 
um  gleitende  Übergänge,  sondern  um  Schritte 
oder  vielmehr  um  kleinere  oder  größere  Sprünge 
handelt,  die  plötzlich  da  sind.  Außerdem  über- 
sieht man  bei  der  Darwinschen  Auffassung,  daß 
die  Verschiebung  des  Gleichgewichtes  zwischen 
dem  Vermehrungskoeffizienten  und  dem  Ver- 
nichtungskoeffizienten gar  nicht  allein  durch  Ver- 
besserung der  Anpassungen  zustande  kommt.  Sie 
kann  erfolgen  entweder  durch  Erniedrigung  des 
Vernichtungskoeffizienten,  d.  h.  durch  bessere  An- 
passung oder  durch  Erhöhung  des  Vermehrungs- 
koeffizienten, d.  h.  durch  größere  Fruchtbarkeit. 
In  betreff  dieser  läßt  sich  nun  zeigen,  daß  sie  von 
Art  zu  Art,  von  Sippe  zu  Sippe  den  größten 
Schwankungen  und  Verschiedenheiten  unterworfen 
ist.  Während  die  Forelle  2000  Eier  legt,  legt 
der  Hering  150000,  der  Karpfen  500000,  der 
Stör  2  Millionen,  der  Cabeljau  4  Millionen,  der 
Steinbutt  30  Millionen  Eier.  Ähnliche,  wenn  auch 
nicht  so  große  Verschiedenheiten  finden  hinsicht- 
lich der  Fruchtbarkeit  auch  zwischen  den  ver- 
schiedenen Arten  der  Vögel  und  der  Säugetiere 
statt.  So  legt  der  Kondor  nach  Darwin  2  Eier, 
der  Strauß  20,  der  Eissturmvogel  nur  i  Ei.  Es 
sind  das  Sprünge  von  einer  Art  zur  anderen,  die 
der  Art  mit  der  größeren  Fruchtbarkeit  bei  ihrer 
Entstehung  zum  Teil  ein  enormes  Übergewicht 
gegeben  haben  müssen.  —  Der  Vergleich 
des  Auftretens  neuer  Formen  in  der  phylogene- 
tischen Entwicklung  mit  dem  Einbruch  fremder 
Arten  in  eine  Biozönose  ist  daher  berechtigt. 
Schon  eine  geringe  Verschiebung  des  Gleichge- 
wichtes zwischen  Vermehrungs-  und  Vernichtungs- 
koeffizienten nach  der  Seite  des  Vermehrungs- 
koeffizienten hat  ja  den  größten  Einfluß  auf  die 
Verbreitungsmöglichkeiten  einer  Art.  Hinterläßt 
das  Elternpaar  durchschnittlich  statt  eines  zwei 
zur  Forpflanzung  kommende  Paare  von  Jungen, 
so  erreicht,  wie  bekannt,  nach  dem  Schachbrett- 
felderproblem, die  Nachkommenschaft  bereits  in 
der  64.  Generation  eine  Zahl  mit  einer  20  stelligen 
Ziffer.    Tritt  eine  neue  Form  auf,  so  ist  nun  eine 


dreifache  Möglichkeit  gegeben.  Dieselbe  ist  den 
Konkurrenten  entweder  unterlegen,  dann  ver- 
schwindet sie  wieder,  oder  sie  steht  mit  ihnen 
im  Gleichgewicht,  dann  tritt  eine  Störung  der 
Biozönosen  nicht  ein,  oder  sie  ist  ihnen  überlegen, 
dann  verbreitet  sie  sich  mit  Unterdrückung  anderer 
Formen  wie  der  Schwammspinner  in  Massachusetts. 
Der  Gleichgewichtsfall  ist  aber  nur  ein  Grenzfall 
unter  unendlich  vielen  anderen  möglichen  Fällen. 

Wenn  nur  der  Zufall  im  Spiel  ist,  muß  daher 
auch  jeder  Fortschritt  in  der  phylogenetischen 
Entwicklung  in  der  Regel  mit  einer  Störung  der 
bestehenden  Biozönosen  und  mit  Vernichtung  zahl- 
reicher anderer  Formen  verbunden   gewesen  sein. 

Wie  war  nun  der  tatsächliche  Verlauf  der 
Entwicklung  nach  dem  Zeugnis  der  Geologie? 
Er  entspricht  dem  Ergebnis  unserer  Erwägungen 
nur  zum  Teil.  In  jeder  Formation  taucht  wohl 
eine  Welt  neuer  Geschlechter  und  Sippen  auf 
und  verschwindet  eine  andere  vom  Schauplatz. 
Doch  verläuft  hier  die  Verdrängung  der  alten 
Arten  durch  die  neuen  in  der  Regel  anders  als 
bei  dem  Einbrechen  einer  neuen  Form  in  die 
jetzt  bestehenden  Biozönosen ,  wo  eine  Form 
unaufhaltsam  vordringt  und  hundert  andere  Formen 
verdrängt  und  vernichtet.  Das  letztere  kommt 
allerdings  auch  in  der  geologischen  Entwicklung 
vor.  Die  frappantesten  Beispiele  dafür  bilden  die 
Fusulinen  im  Karbon  und  die  Nummuliten  im 
Eozän.  Diese  Foraminiferensippen  eroberten  das 
ungeheure  zentrale  Mittelmeer  (Thetys)  mit  Aus- 
nahme seiner  nördlichen  Buchten  so  vollständig, 
daß  die  mächtigen  Schichten  der  betreffenden 
Kohlen-  und  Nummulitenkalke  fast  nur  von  Fusu- 
linen- und  Nummulitenschalen  gebildet  werden. 
Kalkgehäuse  liegt  hier  auf  Kalkgehäuse.  Ein  ähn- 
liches Vorherrschen  einzelner  Sippen  begegnet 
uns  noch  bei  den  Rudisten  der  Kreidezeit,  beim 
Encrinus  liliformis  in  einzelnen  Schichten  des 
Muschelkalkes  und  bei  manchen  anderen  Formen. 
Doch  sind  das  immer  nur  Ausnahmen.  In  der 
Regel  erscheinen  gleichzeitig  zahlreiche  neue  Ge- 
schlechter, die  sich  im  Gleichgewicht  befinden. 
Nach  unseren  obigen  Erörterungen  könnten  wir, 
wenn  nur  der  Kampf  ums  Dasein  im  Spiele  wäre, 
einen  solchen  Tatbestand  nur  als  das  in  ver- 
kürzender Perspektive  geschaute  Endergebnis  ver- 
schiedener Prozesse  ansehen,  von  denen  jeder  so 
verlaufen  sein  müßte,  wie  wir  es  für  die  Ent- 
stehung des  Pflanzenbestandes  im  Gebiet  der  Blatt- 
schneideameisen annahmen.  Daß  die  geologische 
Urkunde  von  ihnen  nichts  meldet,  ließe  sich 
daraus  erklären,  daß  ihr  Ablauf  nur  kurze  Zeit  in 
Anspruch  genommen  haben  könnte.  Aber  jeden- 
falls müßten  in  jedem  einzelnen  Prozeß  zahlreiche 
Arten  untergegangen  sein.  Die  Zahl  der 
Arten  würde  sich  im  Verlauf  der  phylo - 
genetischen  Entwicklung  nicht  ver- 
größert haben,  sie  müßte  im  Gegenteil 
reduziert  worden  sein.  Das  steht  jedoch 
mit  den  Tatsachen  in  Widerspruch. 

Wenn  die  Folgerungen,    die  sich  aus  der  An- 


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Wendung   des  Zufallsprinzipes   auf  die  phylogene- 
tische Entwicklung  und  die  Herstellung  des  Gleich- 
gewichtes  im    Organismenreich    mit    dem    Tatbe- 
stand in  Widerspruch    stehen,    so    ist   das  ein  Be- 
weis, daß  hier  nicht  nur  der  Zufall  im  Spiele  ge- 
wesen sein  kann,  sondern  noch  ein  anderes  Prinzip 
eingegriffen  haben  muß.    Das  war  ja  bekanntlich 
auch    die   Auffassung    von   Goethe,    der    einen 
wunderbaren  intuitiven  Blick    für   die  großen  Zu- 
sammenhänge der  Natur  besaß  und  vieles  bereits 
ahnte,    was   die  exakte  Naturforschung  erst  lange 
nach  ihm  feststellen  konnte.      Er  erkannte  zuerst 
das  Problem,  das  in  dem  Gleichgewicht,  in  welchem 
sich  die  Arten   innerhalb   des   Organismenreiches 
befinden,    besteht    und    nahm   zur  Erklärung  des- 
selben   ein  „Kompensationsgesetz"    an.      Ähnlich 
urteilte  Geoffroy  de  St.  Hilaire,  der  von  einer 
Loi  de  balancement  organique  sprach.    Eine  deut- 
liche   Vorstellung,   davon,    worin    dies    Kompen- 
sationsgesetz bestehe  und  wie  nach  ihm  die  Ent- 
wicklung verlaufen  sei,  besaßen  freilich  beide  nicht. 
Alphonse  de  Candolle   formulierte   es   zwar 
dahin,    „daß    wenn    eine    nützliche    Änderung    in 
einem    Punkte    eines    Lebewesens    entstehe,    auf 
einer  anderen  Stelle  eine  Änderung  im  gegensätz- 
lichen  Sinne   erfolge".     Doch   wies  Glos    schon 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  nach,  daß 
sich    das    Kompensationsgesetz    in    dieser    Form 
nicht  aufrecht  erhalten  lasse  (Glos,  Examen  cri- 
tique    de    la  loi   dite  de   balancement   organique 
dans  le  regne  vegetal,  1864). 

Einen  Gegner  der  teleologischen  Auffassung 
des  biologischen  Geschehens  wird  der  obige 
Kettenschluß  nun  schwerlich  überzeugen,  da  in 
ihn,  wie  es  auf  dem  phylogenetischen  Gebiete 
stets  der  Fall  ist,  verschiedene  Voraussetzungen 
eingehen,  die  sich  durch  Beobachtung  nicht  veri- 
fizieren lassen  und  er  aus  diesem  Grunde  zu  einem 
zwingenden  Beweis  nicht  ausreicht.  Es  ist  darum 
von  Wichtigkeit,  daß  wir  jetzt  Kompensationen, 
wie  sie  Goethe  nur  voraussetzte,  ohne  sie  im 
einzelnen  nachweisen  zu  können,  wirklich  kennen 
gelernt  haben ;  und  zwar  Kompensationen,  die  sich 
nicht  auf  das  Prinzip  der  natürlichen  Zuchtwahl 
zurückführen  lassen.  Bei  dem  Kampf  gegen  die 
Schädlinge  in  der  Forst-  und  Landwirtschaft  hat 
inan  Beobachtungen  gemacht,  welche  uns  auf 
einem  allerdings  beschränkten  Gebiete  einen  Blick 
in  den  wunderbaren  Mechanismus  tun  lassen,  durch 
den  jener  Ausgleich  hergestellt  wird. 

Charakteristisch  ist  es  für  das  Auftreten  der 
Schädlinge,  daß  sie  sich  in  manchen  Jahren  und 
Gegenden  plötzlich  in  ungeheurer  Weise  ver- 
mehren und  zu  einer  Gefahr  für  die  Kulturen 
werden,  um  dann  ebenso  schnell  wieder  auf  ihren 
früheren  Stand  zurückzusinken.  Die  technischen 
Bekämpfungsmittel  versagen  bei  einzelnen  Schäd- 
lingen, wie  bei  der  Nonne,  dem  Kiefernspinner 
und  zahlreichen  anderen  Schädlingen,  fast  voll- 
Ständig.  Was  das  Gleichgewicht  wieder  herstellt, 
ist  eine  natürliche  Kompensation.  Man  hat  sie 
zuerst  bei  der  Nonne  entdeckt.    Sie  besteht  darin. 


daß  die  Raupe  derselben  von  einem  Schmarotzer 
(einer  Tachine)  befallen  und  zum  Absterben  ge- 
bracht wird.  Weitere  Beobachtungen  haben  zur 
Aufstellung  des  Gesetzes  geführt,  daß  die  Ver- 
mehrung der  Schädlinge  in  der  Regel  durch  die 
Nützlinge,  wie  man  vom  land-  und  forstwirtschaft- 
lichen Standpunkte  aus  die  Schmarotzer  nennt,  in 
Schranken  gehalten  wird  und  eine  Überflutung 
durch  jene  nur  dann  zustande  kommt,  wenn  aus 
irgendeinem  Grunde  die  Kompensation  nicht 
eingreifen  konnte.  Dieses  Gesetz  ist  nun  in 
interessanter  Weise  durch  das  Experimentum 
crucis  bestätigt  worden. 

In  Kalifornien  war  eine  Schildlaus  aus  Austra- 
lien eingeschleppt  worden.     Da  der  die  Vermeh- 
rung derselben  in  Australien  regulierende  Nutzung 
nicht  gleichzeitig  mit  eingeführt  worden  war,  ver- 
mehrte sich  die  Schildlaus  in  solchem  Maße,  daß 
den  in  Kalifornien  wirtschaftlich  nicht  unbedeuten- 
den Orangen-    und  Zitronenplantagen    der  Unter- 
gang drohte.  Köbele,  ein   Deutsch- Amerikaner, 
riet,   den   entsprechenden   Nutzung   in  Australien 
aufzusuchen,  wo  derselbe  vorhanden   sein   müsse, 
da  dort  die  Vermehrung  der  Schildlaus  in  engen 
Schranken  gehalten  sei.     Trotz  des  Widerstandes 
kurzsichtiger  Behörden,  welche  die  Kosten  scheuten, 
gelang   es   ihm,   seinen   Vorschlag   durchzusetzen. 
Er  ging  selbst  nach  Australien  und  entdeckte  hier 
den   betreffenden  Nutzung   in  einem  Marienkäfer, 
dem  Novius  cardinalis.  In  einem  Staatsinsektorium 
wurde  dieser  nun  in  Kalifornien  in  großen  Massen 
künstlich   gezüchtet    und   in    Kisten    und    Säcken 
an  die  Plantagenbesitzer  geschickt.   In  kurzer  Zeit 
war  die  Macht  der  Seuche  vollständig  gebrochen. 
Mit    gleichem    Erfolge    ging    Prof.    B erlese    in 
Florenz    gegen    eine    andere    Schildlaus    (Diaspis 
pentagona)    vor,    welche    aus  Amerika    ohne  den 
die    Vermehrung     regulierenden     Nützling     nach 
Italien  verschleppt  war  und  bei  ihrer  hemmungs- 
losen Verbreitung  die  Grundlage  der  Seidenraupen- 
zucht, die  Maulbeerkulturen  zu  vernichten  drohte. 
B erlese  entdeckte  1906  in  einer  amerikanischen 
kleinen   Schlupfwespe    (Prospaltella    berlesei)    den 
Kompensator.     Durch   ihre  Einführung   gelang  es 
auch  in  Italien  die  Gefahr  für  die  Maulbeerkulturen 
zu  beseitigen.     Den  schlagendsten  Beweis  für  die 
Geltung   des   Kompensationsgesetzes    bildet   aber 
die  jetzt  gelungene  Eindämmung  der  Verbreitung 
des    Schwammspinners    in    Massachusetts.       Der 
Schwammspinner   hat   in   Europa   und  Asien   ein 
sehr    großes    Verbreitungsgebiet,    tritt   aber    hier 
überall  in  der  Regel  in  so  geringer  Individuenzahl 
auf,  daß  er    keinen    größeren  Schaden  verursacht. 
Howard,   der  Leiter  des  dem  Ackerbauministe- 
rium   in  Washington    angegliederten   entomologi- 
schen   Institutes,    schloß    daraus,    wie    Köbele, 
daß  in  Europa  und  Asien  Regulationen  gegen  die 
unmäßige  Vermehrung  des  Schädlings  vorhanden 
sein    müßten.      Als    darum    alle   technischen   Be- 
kämpfungsmittel   sich    als    wirkungslos    erwiesen, 
folgte   er   dem   Beispiel   von  Köbele  und  B er- 
lese.   Dabei  ging  er  in  der  großzügigsten  Weise 


518 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


vor.  In  den  verschiedensten  Ländern  bzw.  Be- 
zirken Europas  und  Asiens,  in  denen  der  Schwamm- 
spinner angetroffen  wird*  errichtete  er  biologische 
Beobachtungs-  und  Sammelstationen  mit  der  Auf- 
gabe, die  Nützlinge,  welche  der  Verbreitung  des 
Schwammspinners  entgegenwirkten,  aufzusuchen. 
Auf  diese  Weise  bekam  er  eine  große  Menge  ver- 
mutlicher Nützlinge  in  die  Hand,  die  dann  in 
zahlreichen  Feldstationen  in  Amerika  genauer  auf 
ihr  Verhalten  und  ihre  praktische  Verwendbarkeit 
untersucht  wurden.  So  gelang  es  ihm  nicht  nur 
das  von  ihm  verfolgte  praktische  Ziel  zu  erreichen 
und  der  Schwammspinnerplage  in  Massachusetts 
ein  Ende  zu  bereiten;  es  wurde  auch  der  ganze 
Mechanismus  der  Regulationen  genauer,  als  es 
bis  dahin  geschehen  war,  festgestellt  (vgl.  Esche- 
rich  1.  c). 

Das  Charakteristische  in  dem  Verhältnis  von 
Nutzung  und  Schädling  besteht  darin,  daß  die 
Nützlinge  hinsichtlich  ihrer  Ernährung  bzw.  Brut- 
pflege durch  erblichen  Instinkt  ausschließlich  auf 
die  Schädlinge  und  zwar  je  auf  eine  bestimmte 
Art  der  Schädlinge  angewiesen  sind.  Infolge- 
dessen führt  der  Ausschlag  nach  der  einen  Seite 
von  selbst  den  Ausschlag  nach  der  anderen  Seite 
herbei.  Durch  das  flutartige  Anschwellen  der 
Schädlinge  wird  der  Boden  für  die  Vermehrung 
der  Nützlinge  geschaffen,  die  ja  nicht  vom  Him- 
mel fallen,  sondern  schon  da  sind  und  da,  wo  es 
zu  einer  Überflutung  der  Schädlinge  kommt,  nur 
durch  zufällige  Umstände  so  reduziert  waren,  daß 
sie  ihre  Funktion  als  Bremsvorrichtung  für  die 
Vermehrung  der  Schädlinge  nicht  mehr  mit  Er- 
folg versehen  konnten.  Im  reziproken  Verhältnis 
zur  Vermehrung  der  Nützlinge  steht  nun  die  Ab- 
nahme der  Schädlinge.  Mit  dieser  Abnahme  der 
Schädlinge  muß  aber  auch  die  Zahl  der  Nützlinge 
wieder  zurückgehen,  da  ihre  Existenz  von  der 
Existenz  jener  abhängt;  doch  würden  ohne  eine 
weitere  Regulation  die  Nützlinge  doch  schließlich 
die  Oberhand  über  die  Schädlinge  gewinnen. 
Damit  wäre  dann  die  völlige  Ausrottung  der 
Schädlinge  und  zugleich  der  Untergang  der  Nütz- 
linge gegeben.  Dies  wird  dadurch  vermieden, 
daß  auch  die  Vermehrung  der  Nützlinge  wieder 
durch  Schmarotzer,  die  sog.  Schädlinge  zweiten 
Grades,  eingedämmt  wird.  Diese  legen  ihre  Eier 
nicht  ausschließlich,  aber  doch  mit  Vorliebe  in 
den  Larven  der  Nützlinge  ab;  sie  tun  dies  vor 
allem  dann,  wenn  die  Nützlinge  überhand  genom- 
men haben.  Dadurch  erhalten  die  Schädlinge 
wieder  Spielraum. 

So  greifen  verschiedene  Faktoren  ineinander, 
um  das  Gleichgewicht  herzustellen,  das  trotz  des 
zeitweiligen  Schwankens  ein  stabiles  bleibt. 

Die  Entstehung  dieser  Kompensationen  kann 
nun  nur  zum  Teil  auf  die  natürliche  Zuchtwahl 
zurückgeführt  werden.  Wir  haben  es  mit  zwei 
verschiedenen  Kompensationen  zu  tun.  Durch  die 
eine,  welche  in  dem  Verhältnis  des  Nützlings  zum 
Schädling  besteht,  wird  das  Gleichgewicht  in  den 
Biozönosen    hergestellt,   die   Existenz   der   Schäd- 


lings- und  Nützlingsart  wird  aber  dabei  aufs 
äußerste  gefährdet.  Die  natürliche  Zuchtwahl 
hätte  daher  die  Entstehung  eines  Instinktes,  durch 
welchen  der  Nutzung  hinsichtlich  seiner  Ernährung 
bzw.  seiner  Brutpflege  auf  eine  einzige  bestimmte 
Schädlingsart  angewiesen  ist,  nicht  fördern  können, 
sondern  sie  notwendig  unterdrücken  müssen.  Bei 
der  zweiten,  der  Hilfskompensation,  welche  in  dem 
Verhältnis  des  Schädlings  zweiten  Grades  zum 
Nützling  besteht,  liegen  die  Verhältnisse  anders. 
Der  Schädling  zweiten  Grades  ist  nicht  an  die 
Existenz  des  Nützlings  gebunden  und  daher  durch 
seine  Beziehungen  zu  diesem  in  seinen  Vermeh- 
rungsmöglichkeiten nicht  eingeschränkt.  Auf  die 
Entstehung  dieser  Regulation  ist  das  Prinzip  der 
natürlichen  Zuchtwahl  in  Thesi  anwendbar.  Aber 
wenn  das  auch  bei  der  Hauptregulation  nicht  der 
Fall  ist,  so  könnte  man  doch  immerhin  versuchen, 
auch  bei  ihr  das  Zusammenwirken  der  verschie- 
denen Faktoren  als  zufälliges  Ergebnis  zufalliger 
Beziehungen  hinzustellen.  Da  wir  eine  solche 
Regulation  zwar  nicht  immer,  aber  doch  in  sehr 
vielen  Fällen  antreffen,  würde  dem  Zufall  damit 
eine  größere  Leistung  aufgebürdet  als  man  geneigt 
sein  wird,  ihm  im  allgemeinen  zuzutrauen;  aber 
unmöglich  wäre  es  nicht,  daß  der  bloße  Zufall  bei 
der  Entstehung  des  Verhältnisses  von  Nützling 
und  Schädling  gewaltet  hätte.  Ausgeschlossen  ist 
dagegen  diese  Auffassung  bei  dem  Symphilie- 
verhältnis  zwischen  den  Lomechusini  und  den 
Formicaarten,  auf  das  E.  Wasmann  hingewiesen 
hat.  Es  tritt  uns  am  deutlichsten  in  den  Be- 
ziehungen zwischen  Lomechusa  strumosa  und 
Formica  sanguinea  entgegen  und  dient,  wie  ich 
an  anderer  Stelle  zeige,  ebenso  wie  das  Verhältnis 
von  Nützlingen  und  Schädlingen,  als  Kompensation 
zur  Erhaltung  des  Gleichgewichtes  in  den  Biozö- 
nosen. Auch  hier  ist  jede  Art  der  Lomechusini 
hinsichtlich  der  Ernährung  bzw.  der  Brutpflege 
auf  eine  bestimmte  Formicaart  angewiesen;  aber 
die  betreffende  Art  der  Lomechusini  ist  nicht  nur 
durch  einen  erblichen  Instinkt  an  eine  bestimmte 
Formicaart  gebunden,  sondern  ebenso  andererseits 
die  Formicaart  an  die  bestimmte  Lomechusiniart. 
Bei  einer  derartigen  Regulierung  kann  von  Zufall 
nicht  mehr  die  Rede  sein,  wir  sind  genötigt  auf 
ein  teleologisches  Prinzip  zu  rekurrieren. 

Damit  ist  ein  fester  Punkt  für  die  Beurteilung 
der  Frage  gegeben,  ob  das  Gleichgewicht  in  die 
Biozönosen  auf  einem  teleologischen  Prinzip  be- 
ruht oder  auf  die  natürliche  Zuchtwahl  bzw.  bloße 
Zufälligkeiten  zurückzuführen  ist.  Von  ihm  aus 
gewinnen  auch  die  anderen  für  die  teleologische 
Auffassung  geltend  gemachten  Gründe  eine  größere 
Sicherheit.  Ja  wir  dürfen,  wenn  das  teleologische 
Prinzip  einmal  gilt,  schließen,  daß  auch  der  in 
der  phylogenetischen  Entwicklung  oft  in  so  merk- 
würdiger Weise  hervortretende  Wechsel  in  der 
Fruchtbarkeit  der  Arten  und  Sippen  durch  das- 
selbe bestimmt  ist  und  Arten  nur  dann  mit  einer 
so  ungeheuren  Fruchtbarkeit,  wie  sie  etwa  der 
Bandwurm  besitzt,  auftreten,   wenn   auch  der  Ge- 


I 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


fahrenkomplex,  mit  dem  sie  es  zu  tun  haben,  ein 
außerordentlich  großer  ist.  Eine  besondere  Kom- 
pensation würde  dann  nur  in  den  Fällen  nötig 
sein,  wo  von  Zeit  zu  Zeit  sich  einstellende  Ge- 
fahrenkomplexe eine  bestimmte  Art  bedrohen 
und  sie  vernichten  würden,  wenn  sie  nicht  eine 
über  den  gewöhnlichen  Vernichtungskoeffizienten 
hinausgehende  Vermehrungsfähigkeit  besäßen.  Sie 
muß  bei  normalen  Verhältnissen  kompensiert 
werden. 

Beruht   das  Gleichgewicht  in  den  Biozönosen 
und  im  Organismenreich  auf  einem  teleologischen 
Prinzip ,   so    ist   damit   auch    die  Antwort  auf  die 
Frage  gegeben,  die  uns  zunächst  beschäftigte,  ob 
die  Unvollkommenheiten   der   adaptiven   Einrich- 
tungen   als  Dysteleologien    anzusehen   sind.      Sie 
sind  es  nicht.    Denn  die  nur  relativ  vollkommenen 
Einrichtungen   entsprechen   dann   einem   höheren 
Naturzweck    und    sind    gerade    wegen    ihrer    nur 
relativen    Vollkommenheit     zweckmäßig.       Auch 
Weis  mann  muß  anerkennen,  daß  die  Verbesse- 
rung der  adaptiven  Einrichtungen   auf  dem  Wege 
der   Selektion   aufhört,   wenn   die   Erhaltung  der 
Art  gesichert   ist.      So   bleibt   nach  ihm  die  Ein- 
richtung   der    Fruchtbestäubung    unvollkommen, 
solange  der  Bestand  der  Art  durch  diesen  Mangel 
nicht  gefährdet    ist  (Deszendenztheorie  I,  S.  226). 
Hinsichtlich  des  fehlerhaften  Instinktes  bei  Sitaris 
humeralis  sagt  er:   „Warum  sollte  sich  in  diesem 
Falle   der  auslösende  Reiz   noch   weiter  speziali- 
sieren, wenn  ohne  dies  immer  noch  genug  Sitaris- 
larven  auf  Weibchen  gelangen.   —   Was  dem  In- 
stinkt   an    Genauigkeit    abgeht,    wird    durch    die 
Masse  der  jungen  Larven  (100  Eier)  ersetzt."    Das 
Ziel  ist  also  auch  nach  W  e  i  s  m  a  n  n  die  Gleichung 
zwischen    Vernichtungs-    und    Vermehrungskoeffi- 
zienten und  wird  entweder  durch  Anpassung  oder 
durch  erhöhte  Fruchtbarkeit  erreicht. 

Unsere  ganze  Beweisführung  war  bisher  darauf 
gerichtet,  nachzuweisen,  daß  an  dem  Zustande- 
kommen des  Gleichgewichtes  im  Organismenreich 
ein  teleologisches  Prinzip  beteiligt  ist.  Daraus 
folgerten  wir  dann,  daß  ein  Widerspruch  zwischen 
den  unvollkommenen  adaptiven  Einrichtungen  und 
der  sonstigen  Zweckmäßigkeit  im  biologischen 
Geschehen  nicht  besteht.  Wir  können  diesen 
Schluß  aber  auch  umkehren. 

Ich  erinnere  dabei  an  den  geistreichen  Beweis 
von  G.  Wolff  für  die  Richtigkeit  der  Abstam- 
mungslehre. Nach  ihm  wird  die  Abstammungs- 
lehre immer  nur  eine  Hypothese  bleiben,  da  sie 
durchweg  auf  Analogieschlüssen  beruht  und  den 
Analogieschlüssen  der  hypothetische  Charakter  in 
besonderem  Grade  anhaftet;  es  soll  aber  die  An- 
nahme einer  Hypothese  gerechtfertigt  sein,  wenn 
sie  einen  wirklichen  Widerspruch  löst.  Bei  dem 
gewöhnlichen  morphologischen  und  embryologi- 
schen Beweisen  für  die  Abstammungslehre  geschieht 
das  nicht.  Denn  die  Tatsache,  daß  z.  B.  die 
Hand  des  Menschen  und  der  Fuß  des  Pferdes 
oder  der  Flügel  des  Vogels  nach  dem  gleichen 
Konstruktionsprinzip    gebaut    sind,     bietet    wohl 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


519 


Schwierigkeiten  für  die  Erklärung,  enthält  jedoch 
in  sich  keinen  Widerspruch.  Wohl  aber  besteht 
ein  solcher  zwischen  den  rudimentären  Organen 
und  der  allgemeinen  Zweckmäßigkeit  des  biologi- 
schen Geschehens.  Die  Abstammungslehre  löst 
diesen  Widerspruch,  damit  ist  ihre  Annahme  nach 
G.  Wolff  gerechtfertigt.  Darin,  daß  sie  auch 
eine  Antwort  auf  die  schwierigen  Fragen  hat, 
welche  die  anderen  morphologischen  und  embryo- 
logischen Fragen  an  uns  stellen,  liegt  natürlich 
eine  weitere  Bestätigung  der  Annahme,  ohne  daß 
es  jedoch  nach  G.  Wolff  ein  Beweis  für  dieselbe 
wäre. 

In     analoger   Weise    können     wir    nun    auch 
schließen :  da  durch  die  Annahme,  daß  das  Gleich- 
gewicht    im    Organismenreich    auf   einem    teleo- 
logischen Prinzip  beruht,  der  Widerspruch  zwischen 
der  allgemeinen  Zweckmäßigkeit  im  biologischen 
Geschehen     und     den    Unvollkommenheiten    der 
adaptiven  Einrichtungen   gelöst  wird,   ist  die  An- 
nahme   selbst    gerechtfertigt.      Auch    hier    würde 
zur  weiteren  Bestätigung   derselben    dienen,    daß 
sie  zugleich,    ähnlich    wie   die  Abstammungslehre 
Tatsachen   in   ein   helleres  Licht  stellt,    die   zwar 
keine  Widersprüche  enthalten,  aber  doch  Schwierig- 
keiten für  ihre  Auffassung  bieten.    Hierher  gehört 
die     fremddienliche    Zweckmäßigkeit    Bechers, 
bei  welcher  eine  Art  adaptive  Einrichtungen  zum 
Vorteil  einer   anderen  Art  besitzt,   gehören  aber 
auch     die     merkwürdigen     wechselseitigen     An- 
passungen   wie    bei    den  Blütenpflanzen    und    den 
betreffenden    blütenbefruchtenden    Insekten,    oder 
die   wechselseitigen  Anpassungen   von   zwei  Indi- 
viduen   derselben    Art    bei    den    Geschlechtsindi- 
viduen, oder  die  wechselseitigen  Anpassungen  ver- 
schiedener    Teile     eines     Individuums     bei     den 
Koaptationen.       Die      letzteren     sind     besonders 
interessant     und    wichtig,    da    sie    vielfach    auch 
auf    experimentellem    Wege    festgestellt    werden 
konnten.    Ich  erinnere  nur  an  die  vonWessely 
in  jüngster  Zeit  gemachten  Versuche,  der  künstlich 
die  Verkleinerung  einer  Augenlinse   des   neuge- 
borenen  Jungen    durch    Schnitt    herbeiführte    und 
nun  beobachten  konnte,    daß    infolge  dieser  Ver- 
kleinerung ein  Kleinerbleiben    des  einen  Gesamt- 
auges   in    allen    seinen    Dimensionen    eintrat,    das 
wieder    ein    Zurückbleiben    des    Wachstums    der 
Nachbarteile  einschHeßlich  der  Knochenhöhle  nach 
sich  zog. 

Nehmen  wir  die  Bezeichnungen  fremddienliche 
und  selbstdienliche  Zweckmäßigkeit  im  Bech er- 
sehen Sinne,  so  ist  die  hier  hervortretende  Zweck- 
mäßigkeit bald  selbstdienlich,  beiden  Koaptationen; 
bald  fremddienlich,  bei  den  Kompensationen,  bei 
denen  der  Vorteil  nicht  auf  Seiten  der  beiden 
Arten  liegt,  welche  die  Kompensation  bilden, 
sondern  der  anderen  Arten,  welche  mit  ihnen  der 
Biozönose  angehören ;  bald  zugleich  selbstdienlich 
und  fremddienlich  bei  den  wechselseitigen  An- 
passungen von  Blüten  und  Insekten.  Wir  können 
diese  verschiedenen  Arten  der  Zweckmäßigkeit  aber 
unter  der  gemeinsamen  Bezeichnung  der  gemein- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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schaftdienlichen  Zweckmäßigkeit  zusammen- 
fassen, und  zwar  dient  die  Zweckmäßigkeit  hier 
Gemeinschaften,  die  durch  funktionelle  Beziehungen 
zwischen  den  Gliedern  der  Gemeinschaft,  seien  es 
nun  zahlreiche  Arten,  oder  nur  zwei  Arten,  oder 
Individuen  einer  Art,  oder  Teile  eines  Individuums, 
hergestellt  werden  und  in  ihnen  bestehen.  Das 
gilt  auch  von  den  Biozönosen.  Bei  ihnen  handelt 
es  sich  um  Arten,  welche  gemeinschaftlich  einen 
größeren  oder  kleineren  Bezirk  bewohnen.  Die 
funktionellen  Beziehungen  zwischen  ihnen  werden 
durch  den  Kampf  ums  Dasein  hergestellt,  der  so 
geregelt  ist,  daß  im  Durchschnitt  die  Gleichung 
zwischen  dem  Vermehrungs-  und  dem  Ver- 
nichtungskoeffizienten besteht.  Dem  Zustande- 
kommen dieser  Gleichung  dienen  nun  ebenso  wie 
etwa  die  Kompensationen  auch  die  nur  unvoll- 
kommenen adaptiven  Einrichtungen. 

Wenn  aber  die  letzteren  damit  eine  ausreichende 
Erklärung  gefunden  haben  und  mit  der  das  ganze 
biologische  Geschehen  beherrschenden  Zweck- 
mäßigkeit in  Einklang  gebracht  sind,  so  bleibt 
noch  das  Problem  der  scheinbar  direkt 
zweckwidrigen  Erscheinungen  (S.  513) 
ungelöst.  Die  in  den  Biozönosen  hervortretende 
gemeinschaftdienliche  Zweckmäßigkeit  hat  mit 
ihnen  nichts  zu  tun.  Wohl  aber  gehen  auch  sie 
in  der  gemeinschaftdienlichen  Zweckmäßigkeit  auf, 
wenn  man  bei  letzterer  unter  Gemeinschaft  die 
Artgemeinschaft  in  ihrer  realen  Bedeutung  ver- 
steht. 

Das  Wort  Art  bezeichnet  nicht  nur  eine  be- 
griffliche Zusammenfassung  bestimmter  Individuen, 
die  gleiche  Merkmale  besitzen,  sondern  auch,  wie 
die  Worte  Familie  und  Stamm,  eine  reale  Ge- 
meinschaft. Sie  wird  gebildet  von  Individuen, 
deren  Keimplasma  bzw.  Genotyp  sich  von  einem 
und  demselben  Genotyp  ableitet  und  im  Wesent- 
lichen unverändert  geblieben  ist.  Von  den  Ge- 
meinschaften der  Familie,  des  Stammes,  der  Varietät 
unterscheidet  sich  die  Artgemeinschaft  dadurch, 
daß  bei  ihr  der  gemeinsame  Ursprung  des  Genotyps 
höher  liegt.  Auf  die  weiteren  Unterschiede  ein- 
zugehen, ist  hier  nicht  der  Ort. 

Alle  der  Erhaltung  der  Art  dienenden  Vor- 
gänge sind  im  höchsten  Grade  zweckmäßig;  sie 
unterscheiden  sich  dabei  von  den  zweckmäßigen 
Vorgängen,  bei  denen  der  menschliche  Intellekt 
beteiligt  ist,  dadurch,  daß  sie  nicht  auf  Grund 
von  Urteilen,  welche  den  einzelnen  Fall  berück- 
sichtigen, zustande  kommen,  sondern  nach  einem 
teleologischen  Gesetz.  Nach  diesem  tritt  der  Ab- 
lauf der  Vorgänge,  wie  bei  dem  anorganischen 
Geschehen,  mit  Notwendigkeit  ein,  entspricht  aber 
dabei  dem  unter  den  äußeren  und  inneren  Be- 
dingungen, welche  ihn  ausgelöst  haben,  vor- 
handenen Bedürfnis  des  Organismus,  doch  ist  das 
Gesetz  nur  auf  die  Bedingungen  eingestellt,  welche 
man  als  die  normalen  bezeichnen  kann,  d.  h.  auf 
Bedingungen,  welche  unter  den  gewöhnlichen 
Verhältnissen  eintreten,  unter  denen  die  Art  lebt. 

Daß  die  Zweckmäßigkeit  des  Naturgeschehens 


eine  gesetzliche  ist  und  nicht  auf  Willkür  beruht, 
ist  selbst  wieder  eine  außerordentlich  zweckmäßige 
Einrichtung.  Nur  so  ist  das  Ineinandergreifen  der 
einzelnen  Vorgänge  genügend  gesichert.  Ein  der 
menschlichen  intelligenten  Handlung  analoges 
zweckmäßiges  Geschehen,  wie  es  die  Psychovita- 
listen  annehmen,  würde  viel  zu  langsam  ablaufen 
und  zu  unsicher  sein,  als  daß  bei  ihm  das  wunder- 
bare Zusammenspiel  der  Einzelvorgänge,  das  uns 
z.  B.  bei  dem  Entwicklungsgeschehen  oder  bei 
dem  Chemismus  der  physiologischen  Prozesse 
überhaupt  entgegentritt,  möglich  wäre.  Es  kommt 
bei  allen  diesen  Vorgängen  ja  nicht  nur  darauf 
an,  daß  etwas  geschieht,  sondern  daß  es  auch  in 
dem  richtigen  Rhythmus  geschieht.  Es  muß 
jeder  Vorgang  präzis  einsetzen  und  ablaufen  und 
tausend  verschiedene  Vorgänge  müssen  sicher 
ineinandergreifen.  Auch  bei  dem  menschlichen 
Organismus  sind  daher  die  Entwicklungsvorgänge 
und  die  lebensnotwendigen  physiologischen  Pro- 
zesse der  Willkür  entzogen  und  naturgesetzlich 
geregelt.  Dabei  ist  die  möglichste  Einfachheit 
der  teleologischen  Einrichtungen  dadurch  gewahrt, 
daß  sie  nur  den  verschiedenen  normalen  äußeren 
und  inneren  Bedingungen  —  normal  im  obigen 
Sinne  genommen  —  angepaßt  ist. 

Eine  solche  Einrichtung  genügt  für  den  Natur- 
zweck. Die  von  den  gewöhnlichen  abweichenden, 
entweder  künstlich  gesetzten  oder  durch  besondere 
individuelle  Verhältnisse  gegebenen  Bedingungen 
brauchen  nicht  berücksichtigt  zu  werden,  da  der 
Naturzweck  nur  auf  den  Bestand  der  Art  und 
das  Gleichgewicht  der  Arten  im  Natur- 
reich, nicht  auf  die  Erhaltung  des  einzelnen  In- 
dividuums als  solches  geht. 

Wenn  man  neben  der  artdienlichen  Zweck- 
mäßigkeit noch  eine  selbstdienliche  angenommen 
hat,  so  beruht  dies  darauf,  daß  man  dieses  Ver- 
hältnis verkannte.  Da  die  gemeinschaftdienliche 
Zweckmäßigkeit  uns  bei  der  Artgemeinschaft  stets 
in  den  Lebensprozessen  der  Individuen  entgegen- 
tritt —  die  Artgemeinschaft  besteht  ja  nur  in  In- 
dividuen —  und  darauf  gerichtet  ist,  sowohl  den 
gegenwärtigen  Bestand  der  Art  zu  erhalten,  wie 
den  zukünftigen  Bestand  derselben  zu  gewähr- 
leisten, führte  man  zwar  die  Einrichtungen,  welche 
dem  zukünftigen  Bestand  der  Art  sichern  sollen, 
auf  die  artdienliche;  die  auf  die  Erhaltung  des 
gegenwärtigen  Bestandes  gerichteten  aber  auf  die 
selbstdienliche  Zweckmäßigkeit  zurück.  Schienen 
sie  doch  im  Dienste  des  Individuums  selbst  zu 
stehen.  Man  übersah,  daß  bei  ihnen  das  Indi- 
viduum nur  insoweit  in  Betracht  kommt,  als  es 
zum  Bestand  der  Art  gehört,  nicht  als  einzelnes 
Individuum  an  sich. 

Daß  es  selbstdienliche  Zweckmäßigkeit  im 
Sinne  einer  Zweckmäßigkeit,  die  auf  die  Erhaltung 
des  einzelnen  Individuums  und  auf  die  besonderen 
individuellen  Bedingungen,  unter  denen  es  lebt, 
eingestellt  ist,  nicht  gibt,  ist  eine  Tatsache,  die 
man  eigentlich  gar  nicht  erst  besonders  festzu- 
stellen hat,  da  sie  sich  dem  Beobachter  unmittel- 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


521 


bar  aufdrängt.  Ist  doch  die  ganze  EJrnährung  der 
Tierwelt  auf  Vernichtung  von  Individuen  der 
Tier-  und  Pflanzenwelt  angewiesen.  Ein  einziger 
Bissen  eines  Wales  bedeutet  den  Tod  von  Milli- 
onen von  Einzelwesen.  Das  Gleichgewicht  in  den 
Biozönosen  setzt  ferner  voraus,  daß  von  allen 
Nachkommen  eines  Elternpaares  —  und  wenn  es 
mehr  als  100  000  wären  —  alle  bis  auf  zwei  im 
Kampf  ums  Dasein  zugrunde  gehen.  Dieser 
furchtbare  Kampf  ums  Dasein  ist  tatsächlich  vor- 
handen, wenn  er  auch  nicht  dazu  bestimmt  zu 
sein  scheint,  die  phylogenetische  Entwicklung  vor- 
wärts zu  treiben,  sondern  die  Arten  auf  der  Höhe 
zu  halten. 

Damit  fällt  nun  ein  helles  Licht  auf  die  schein- 
bar zweckwidrigen  Bildungen  und  Vorgänge.  Sie 
entstehen  dadurch,  daß  einzelne  Individuen  unter 
anormale  Bedingungen  geraten.  Da  das  teleolo- 
gische Naturgesetz  auf  diese  nicht  eingestellt  ist, 
können  bei  den  betreffenden  Individuen  die  Vor- 
gänge der  Entwicklung  und  der  sonstigen  physio- 
logischen Prozesse  falsche  Bahnen  einschlagen, 
oder  die  vorhandenen  Bedingungen  können  zur 
Ausbildung  der  normalen  Formen  nicht  ausreichen, 
oder  die  physiologischen  Prozesse  können  so  ver- 
laufen, daß  durch  sie  das  Leben  des  Individuums 
geschädigt  wird.  Es  entstehen  dann  Mißbildungen, 
Krüppelformen,  Krankheiten.  Es  sind  das  zweck- 
widrige Erscheinungen,  soweit  das  einzelne  Indi- 
viduum in  Betracht  kommt;  doch  stehen  sie  mit 
dem  Naturzweck,  der  nur  auf  die  Erhaltung  der 
Art  geht,  nicht  im  Widerspruch. 

Der  Morpholaxis  der  Planaria  liegt  ein  allge- 
meineres biologisches  Gesetz  zugrunde,  nach  wel- 
chem der  Organismus  die  Fähigkeit  besitzt,  unter 
besonderen  Umständen  den  vorhandenen  Bau  ab- 
zubrechen und  ihn  nach  den  Konstruktionsprinzi- 
pien des  Typus,  aber  in  einer  anderen,  den  be- 
sonderen Verhältnissen  angepaßten  Form  und 
zwar  mit  dem  vorhandenen  Zellmaterial,  aber 
unter  Umlagerung  und  Entdifferenzierung  bzw. 
Neudifferenzierung  desselben,  wieder  aufzurichten. 
Dieses  Gesetz  tritt  uns  in  den  Vorgängen  bei 
dem  Puppenstadium  der  holometabolen  Insekten 
und  der  Zystenbildung  der  höheren  Protozoen, 
aber  ebenso  bei  den  Cölenteraten,  die  infolge  von 
Nahrungsentziehung  auf  den  fünften  Teil  ihres 
Gewichtes  zurückgehen  und  dementsprechend 
kleiner  werden,  bei  den  Anuren,  die  ihren  Schwanz 
nicht  abwerfen,  sondern  zurückbilden  und  abbauen 
und  auch  beim  Menschen  entgegen,  wenn  der 
zahnlose  Unterkiefer  desselben  sich  umformt.  Es 
ist  das  eine  weitverbreitete  zweckmäßige  Ge- 
schehensweise, die  bei  jeder  Art  in  besonderer 
Weise  ausgelöst  wird.  Bei  den  holometabolen 
Insekten  und  den  Anuren  erfolgt  die  Auslösung 
durch  innere  Entwicklungsbedingungen,  bei  der 
Zystenbildung  der  höheren  Protozoen  und  der 
Formveränderung  der  Cölenteraten  durch  äußere 
Bedingungen.  Das  Letztere  ist  auch  bei  der 
Mopholaxis  der  Planaria  der  Fall.  Sie  tritt  ein, 
wenn    ein    Teil    des    Zellmaterials    isoliert    wird. 


Ist  dieses    total   vom    Ganzen    getrennt,    so    ent- 
steht eine  vollständige,  kleinere  Planaria,    ist   von 
einem  lebenswichtigen  Organ  nur  ein  Teil    abge- 
löst, befindet  sich  das  Organ  selbst  aber  noch  im 
Zusammenhang  mit  dem  ganzen  Organismus,   so 
ergänzt  sich  letzteres  oder  baut  sich  vielmehr  zu 
einem  kleineren  vollständigen  Organ  um.     Es  ist 
das  eine  bei  der  Gefahr  der  Zerreißung,    welcher 
die  Planaria  ausgesetzt  ist,  sehr  zweckmäßige  art- 
dienliche   Einrichtung.      Daß    bei    Geltung    dieses 
Gesetzes  der  Morpholaxis  bei  tieferen  Einschnitten 
in  den  vorderen  Teil  des  Wurmes  mehrere  Köpfe 
entstehen  müssen,   mindert  die  gemeinschaftdien- 
liche   Zweckmäßigkeit   nicht    im    geringsten.      Es 
würde  vielmehr   eine   unnötige  und  darum  nach- 
teilige  Komplikation  bedeuten,   wenn   das  Gesetz 
auf  solche  beim  wissenschaftlichen  Versuche  künst- 
lich gesetzten,    aber   in   der  Natur  kaum  vorkom- 
menden Bedingungen  eingestellt  wäre.     Planarien 
mit   mehreren   Köpfen    findet    man   in    der  Natur 
nur  äußerst    selten;    für   die  Erhaltung    der   Art- 
gemeinschaft sind  sie  ohne  irgendwelche  Bedeutung. 
Das  Gleiche  gilt  für  die  weiteren  oben  angeführ- 
ten Beispiele.     Die  von  St  ei  nach  und  Herbst 
künstlich  hergestellten  Bedingungen  sind  überhaupt 
nur  wissenschaftliche  Versuchsbedingungen.      Für 
die  Arterhaltung  der  Mauerbiene  ist  es   aber  von 
Wichtigkeit,  daß  die  Zelle  zugedeckelt   wird   und 
daß   darum   der  Reflex,   durch   welchen   dies  be- 
wirkt wird,  sicher  funktioniert;  dagegen  ist  es  für 
sie  völlig  irrelevant,    ob    das    manchmal   auch    in 
solchen  Fällen  geschieht,  wo  das  Ei  aus  der  Zelle 
herausgenommen  wurde.    Ebenso  entsprechen  die 
für  die  eigentliche  Regeneration  festgelegten  Vor- 
gänge den  Bedingungen,  welche  in    der  Mehrzahl 
der  Fälle   gegeben    sind.     Bei   den  Reptilien   und 
Amphibien    wird   die    Schwanzbildung    durch    die 
Verletzung  des  Achsenskeletts  ausgelöst,  weil  mit 
dieser   ja    in    der    Regel    auch    ein    Verlust    des 
Schwanzes  verbunden  ist;   die  hinteren  Segmente 
des  Regenwurmes  brauchen   nur  die  Anlagen  zur 
Regeneration    des   Schwanzes   zu    enthalten,    weil 
von  ihnen  aus  die  des  ganzen  Wurmes  doch  nicht 
erfolgen  kann. 

Gegenüber  unserem  Hauptsatz,  daß  der  Natur- 
zweck nur  auf  die  Erhaltung  der  Art,  nicht  des 
einzelnen  Individuums  gehe,  könnte  man  allerdings 
auf  die  Drieschsche  dynamische  Teleologie  hin- 
weisen. Bei  dieser  handelt  es  sich  um  die  beiden 
Fragen,  ob  die  teleologischen  Vorgänge  als  rein 
maschinelle  Vorgänge  aufgefaßt  werden  können 
und  ob  bei  ihnen  auch  die  besonderen  individu- 
ellen Verhältnisse  eine  zweckmäßige  Reaktion  aus- 
lösen. Für  uns  kommt  hier  nur  die  zweite  Frage 
in  Betracht.  Driesch  bejaht  sie,  kann  aber  nur 
eine  kleine  Anzahl  von  Beispielen  als  Belege  für 
seine  Auffassung  anführen.  Die  wunderbaren  An- 
passungen, die  in  der  Bildung  von  Antikörpern 
bestehen,  hat  Driesch  früher  —  allerdings  schon 
mit  einem  Fragezeichen  —  als  individuelle  An- 
passungen gelten  lassen  wollen  (Driesch,  Die 
Seele,  S.  3).     Daß  sie  es  nicht  sind,  d.  h.  daß  sie 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


nicht  den  besonderen  individuellen  Verhältnissen 
entsprechen,  beweisen  die  Dysteleologien ,  die 
Fälle,  in  denen  die  Antikörperbildung  zum  Tode 
des  Individuums  führt.  Ich  erinnere  nur  an  die 
Erscheinung  der  sog.  Überempfindlichkeit.  Als 
das  schlagendste  Beispiel  für  die  individuelle  An- 
passung führt  man  wohl  die  Regeneration  der 
Augenlinse  des  Triton  in  dem  G.  Wol  ff  sehen 
Versuche  an.  Aber  gerade  an  diesem  Beispiel 
läßt  sich  nachweisen,  daß  die  Vorgänge  bei  diesen 
scheinbar  individuellen  Anpassungen  mit  den  Vor- 
gängen bei  der  Entstehung  der  sog.  zweckwidrigen 
Bildungen  vollständig  auf  eine  Stufe  zu  stellen 
sind,  nur  daß  bei  ihnen  zufällig  das  Resultat 
zweckmäßig  ist.  Wie  die  Versuche  von  W  e  s  s  e  1  y 
zeigen,  gilt  für  die  Augenlinse,  die  ja  auch  sonst 
eine  besondere  Stellung  innerhalb  der  übrigen 
Organe  einnimmt  (Chemismus,  Form  der  Epithel- 
zellen) auf  den  frühen  Entwicklungsstufen  das 
Gesetz  der  Morpholaxis ,  wenn  Wessely  auch 
nicht  besonders  darauf  hinweist.  Nach  einem  von 
ihm  künstlich  herbeigeführten  Defekt  in  der  Linse 
eines  eben  geborenen  Jungen  ordneten  sich  die 
Zellen  derselben  so  um,  daß  wieder  eine  normal 
gebaute,  aber  kleinere  Linse  entstand.  Ich  möchte 
die  Regeneration  der  Tritonlinse  nun  so  auffassen, 
daß  sie  auf  einer  Morpholaxis  beruht,  die  mit  auf 
das  Material  der  Iris  übergreift.  Dasselbe  wird, 
wie  bei  der  Planaria,  entdifferenziert,  neudifferen- 
ziert  und  nach  den  für  die  Linse  geltenden  Kon- 
struktionsprinzipien umgelagert.  Es  würde  von 
Interesse  sein  festzustellen,  ob  die  regenerierte 
Linse  des  Triton  die  gleichen  merkwürdigen  che- 
mischen Reaktionen  zeigt  wie  die  normalen  Linsen. 
Es  wäre  dies  ein  weiterer  Beweis  dafür,  daß  sich 
der  Vorgang  nach  einem  allgemeinen  teleologischen 
Gesetz  vollzieht.  Wenn  dann  bei  Anwendung 
desselben  auf  die  in  den  G.  Wolffschen  Ver- 
such gesetzten  künstlichen  Bedingungen,  auf  die 
es  nicht  eingestellt  ist,  doch  ein  zweckmäßiges 
Resultat  herauskam,  so  konnte  das,  wie  gesagt, 
nur  ein  Zufall  sein.  Daß  dem  so  ist,  ergab  sich 
bei  dem  Fi  seh  Ischen  Versuch,  bei  welchem 
mehrere  regenerierte  Linsen  entstanden.  Auch 
die  anderen  bis  jetzt  aufgefundenen  angeblichen 
Fälle  der  dynamischen  Teleologie  dürften  in  ähn- 
licher Weise  zu  erklären  sein. 

Das  Resultat  der  bisherigen  Erörterungen  läßt 
sich  dahin  zusammenfassen,  daß  die  Zweckmäßig- 
keit in  den  Naturprozessen  uns  durchweg  als  eine 
gemeinschaftdienliche  entgegentritt.  Für  die 
Lösung  des  Problems  der  Dysteleologie  kommt 
diese  gemeinschaftdienliche  Zweckmäßigkeit  in 
Betracht,  soweit  es  sich  bei  ihr  um  die  Gemein- 
schaft der  Biozönosen  und  die  Artgemeinschaft 
handelt.  Aus  der  ersteren  folgt,  daß  die  UnvoU- 
kommenheiten  der  adaptiven  Einrichtungen  im 
Naturzweck  selbst  liegen  und  von  ihm  gefordert 
sind,  aus  der  zweiten,  daß  die  scheinbar  zweck- 
'  widrigen  Bildungen  und  Prozesse  vollständig  außer- 
halb des  Naturzweckes  liegen  und  ihn  überhaupt 
nicht  berühren,  also  auch  nicht  als  Dysteleologien 


aufgefaßt  werden  können.  Wenn  daher  E.  Becher,' 
der  von  der  fremddienlichen  Zweckmäßigkeit  auf 
einen  überindividuellen  Grund  der  Naturgesetz- 
mäßigkeit schloß,  wegen  der  Dysteleologie  glaubte 
diesen  nicht  als  einen  intelligenten  bezeichnen  zu 
können,  so  fällt  für  uns  dies  Bedenken  hinweg. 
Das  tiefere  Eindringen  in  die  Naturvorgänge,  wie 
es  in  neuerer  Zeit  besonders  auf  dem  Gebiete 
der  physiologischen  Chemie  gelungen  ist,  läßt  uns 
Gesetzmäßigkeiten  von  so  wunderbarer  Kompli- 
ziertheit und  zielsicherer  Zweckmäßigkeit  erkennen 
(Antikörper,  Hormone),  daß  sich  die  Annahme 
eines  überindividuellen  intelligenten  Grundes 
derselben  aufdrängt,  während  der  Widerspruch 
mit  dieser  Auffassung,  den  E.  Becher  in  den 
Dysteleologien  sah,  tatsächlich  nicht  besteht.  Auch 
auf  darwinistischer  Seite  wird  jetzt  die  Ansicht 
vertreten,  daß  eine  metaphysische  Finalität  die 
kausalen  Naturgesetze  in  deistischem  Sinne  so 
geordnet  habe,  daß  sie  in  ihrem  Ablaufe  zu  der 
zweckmäßigen  Naturordnung  führen  (Plate, 
Weismann,  Bütschli  u.  a.).  Doch  beruht 
dieser  Ablauf,  wie  besonders  hervorgehoben  wer- 
den muß,  nicht  auf  einem  direkten  Eingreifen 
dieses  überindividuellen,  intelligenten  Grundes, 
sondern  auf  den  strengen,  von  ihm  geordneten 
Gesetzmäßigkeiten,  die  sich  auf  dem  biologischen 
Gebiete  mit  derselben  Notwendigkeit  vollziehen, 
wie  die  Gesetze  des  anorganischen  Geschehens. 
Auch  in  betreff  dieses  Punktes  herrscht  eine  weit- 
gehende Übereinstimmung.  Selbst  ein  Biolog  wie 
Wasmann,  der  als  Mitglied  des  Jesuitenordens 
auf  dem  dogmatischen  Standpunkt  der  katholischen 
Kirche  steht,  will  das  Naturgeschehen  nur  durch 
natürliche  Ursachen  erklären  „die  von  Anfang  an 
durch  Gottes  Weisheit  gesetzmäßig  geordnet 
wurden".  Dasselbe  erfolgt  nach  ihm  „nach  den 
von  Anfang  an  in  sie  gelegten  Gesetzen  als  wirk- 
liches Naturgeschehen,  nicht  als  willkürliches 
Eingreifen  Gottes  in  die  Tätigkeit  der  Ge- 
schöpfe". 

Das  Ziel,  auf  welches  die  Zweckmäßigkeit  im 
Naturleben  angelegt  ist,  ist,  soweit  wir  es  aus  dem 
Ablauf  des  biologischen  Geschehens  erkennen 
können,  die  Entfaltung  der  Arten  zu  einem  immer 
größeren  Reichtum  und  die  Aufrechterhaltung  der 
Ordnung,  bei  welcher  diese  unendlich  große  Zahl 
von  Arten  und  Varietäten  sich  im  Gleichgewicht 
befindet  und  bei  einer  Störung  durch  einen  phylo- 
genetischen Fortschritt  oder  durch  eine  Umwälzung 
der  äußeren  Verhältnisse  sich  immer  wieder  ins 
Gleichgewicht  setzt.  Das  letztere  setzt  nun  doch 
das  Auftreten  neuer  teleologischer  Gesetzmäßig- 
keiten voraus.  Während  wir  bei  der  Erhaltung 
der  Ordnung  im  Organismenreich,  die  wir  z.  Z. 
nur  beobachten  können,  von  der  Annahme  der 
Drieschschen  dynamischen  Teleologie  absehen 
konnten,  ist  das  bei  der  Neuordnung  im  phylo- 
genetischen Fortschritt  nicht  mehr  der  Fall.  Hier 
muß  das  teleologische  Gesetz  auf  neue  Bedingungen 
eingestellt  werden.  Auch  diese  Weiterbildung  ist 
aber   ein  Naturgeschehen    und    vollzieht    sich    als 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


523 


solches   mit  Notwendigkeit.     Wir   können  diesen 
Punkt  hier  nur  andeuten. 

Auch  auf  das  metaphysische  Problem,  welches 
darin  liegt,  daß  das  teleologische  Naturgesetz, 
welches  nur  auf  die  Art,  nicht  auf  das  Individuum 
eingestellt  ist  und  die  biologischen  Geschehnisse  mit 
Notwendigkeit  ablaufen  läßt,  in  Widerspruch  steht 
mit  den  Postulaten  der  praktischen  Vernunft  des 
Menschen,  der  nicht  nur  Naturwesen,  sondern  auch 
geistig  -  sittliches  Wesen  ist  und  als  solches  eine 
sittliche  Weltordnug  fordern  muß,  die  über  der 
Naturordnung  steht  und  ohne  letztere  aufzuheben, 
der  Freiheit  Raum  läßt  und  auf  das  Individuum, 
die  Persönlichkeit  des  einzelnen  angelegt  ist,  kann 
an  dieser  Stelle  nicht  näher  eingegangen  werden. 
Nur  darauf  möchten  wir  hinweisen,  daß  wir  im 
Naturgeschehen   eine  Analogie   dafür   haben,   wie 


eine  solche  sittliche  Weltordnung  in  Einklang  zu 
bringen  ist  mit  der  Naturordnung.  Wir  haben  — 
wenigstens  vom  modernen  teleologischen  Stand- 
punkt aus  gesehen  —  auch  im  Naturleben  eine 
niedere  und  eine  höhere  Ordnung  des  Geschehens 
in  der  anorganischen  und  in  der  organischen  Welt. 
In  der  organischen  Welt  sind  die  Gesetze  des 
anorganischen  Geschehens  nicht  aufgehoben  und 
doch  kommen  in  ihr  ganz  andere  Vorgänge  und 
Bildungen  zustande,  als  in  der  anorganischen 
Welt,  weil  die  Gesetze  des  anorganischen  Ge- 
schehens hier  in  dem  Dienste  des  Naturzwecks 
stehen.  So  läßt  sich  annehmen,  daß  wieder  die 
mechanischen  und  die  teleologischen  Gesetze  des 
Naturgeschehens  in  den  Dienst  der  höheren  sitt- 
lichen Weltordnung  gestellt  sind. 


Einzelberichte. 


Neue  Yeröffentlichungen  zur  Ornis  Bußlands. 

Unter  dem  Titel  „Aus  der  ornithologischen 
Literatur  Rußlands"  veröffentlicht  Hermann 
Grote,  der  während  seiner  Kriegsgefangenschaft 
im  Ural  Gelegenheit  zu  einem  eingehenden  Studium 
des  reichen  russischen,  uns  nur  schwer  zugäng- 
lichen und  daher  vielfach  überhaupt  nicht  näher 
gekannten  ornithologischen  Schrifttums  gehabt  und 
seine  Zeit  dazu  verwandt  hat,  die  wertvollsten 
dieser  Arbeiten  ins  Deutsche  zu  übertragen,  einen 
Teil  seiner  Übersetzungen  zunächst  auszugsweise. 
„Wie  wichtig  für  uns  diese  Übersetzungen  sind", 
so  urteilt  O.  Kleinschmidt  (Dederstedt,  Bez. 
Halle),  durch  den  diese  Berichte  lediglich  gegen 
Erstattung  der  heute  allerdings  nicht  unerheblichen 
Druckkosten  zu  beziehen  sind,  „zeigt  am  besten 
folgender  Umstand.  Die  breite  Lücke  zwischen 
dem  europäischen  und  japanischen  Kirschkern- 
beißer wird  durch  drei  in  der  russischen  Literatur 
beschriebene  Formen  von  Loxia  coccothraustes 
ausgefüllt,  von  denen  in  der  deutschen  Literatur 
weiter  nichts  bekannt  ist,  als  die  Namen.  Die 
Grot eschen  Übersetzungen  enthalten  diese  und 
andere  Beschreibungen,  aber  in  der  Hauptsache 
eine  Fülle  biologischer  und  geographischer  Mit- 
teilungen, die  für  das  Verständnis  der  paläarktischen 
Avifauna  unentbehrlich  sind."  Wie  sehr  Klein- 
Schmidts  Urteil  zu  Recht  bestand,  lehren  die 
beiden  jetzt  erschienenen  Hefte  der  Grot  eschen 
Berichte  und  Übersetzungen,  auf  die  daher  an 
dieser  Stelle  auch  etwas  näher  eingegangen  wer- 
den soll. 

Im  ersten  derselben  berichtet  der  Herausgeber 
über  B.  Shitkows  ornithologische  Beobachtungen 
auf  der  Samojedenhalbinsel  und  referiert  im  An- 
schluß daran  noch  kurz  über  zwei  Arbeiten 
K.  Derjugins  und  V.  Bianchis,  die  die  Ornis 
des  mittleren  und  unteren  Ob,  sowie  der  Ob- 
mündung  und  des  angrenzenden  Teiles  der  Samo- 


jedenhalbinsel behandeln.  —  Die  über  100  000  qkm 
große  Samojedenhalbinsel  (Ja-mal  oder  auch  Jal- mal) 
war  ornithologisch  bisher  gänzlich  unerforscht.  Nur 
über  den  äußersten  Süden  lagen  vor  der  191 3  er- 
schienenen Veröffentlichung  Shitkows  einige 
Mitteilungen  Finschs  in  dessen  Bearbeitung 
seiner  im  Jahre  1876  zusammen  mit  Alfred 
B  r  e  h  m  unternommenen  Reise  nach  Westsibirien,*) 
und  die  beiden  eben  erwähnten  Arbeiten  Der- 
jugins und  Bianchis  vor.  S  h  i  t  k  o  w  bereiste 
im  Auftrage  der  Russischen  Geographischen  Ge- 
sellschaft die  Halbinsel  im  Frühjahr  und  Sommer 
1908  in  ihrer  gesamten  Ausdehnung;  über  die 
ornithologische  Ausbeute  seiner  auch  an  sonstigen 
Ergebnissen  reichen  Reise  hat  er  selbst  eine  ein- 
gehende Darstellung  veröffentlicht,-)  „die  bei  uns 
nicht  einmal  ihrem  Titel,  geschweige  denn  ihrem 
Inhalt  nach  bekannt  geworden  ist."  Er  teilt  die 
Halbinsel  faunistisch  in  drei  Zonen  ein ;  in  eine 
nördliche,  etwa  vom  71."  an,  die  verhältnismäßig 
arm  an  Gewässern  ist  und  ausgeprägten  polaren 
Charakter  trägt  und  deren  Vogelleben  nach  Arten 
und  Stückzahl  ein  verhältnismäßig  armes  ist,  in 
eine  mittlere,  die  etwa  zwischen  dem  71."  und 
dem  68.**  gelegen,  reich  an  stehenden  und  fließen- 
den Gewässern  ist  und  sich,  wenigstens  was  die 
Stückzahl  anbelangt,  durch  einen  viel  größeren 
Vogelreichtum  auszeichnet,  sowie  in  eine  süd- 
liche, vom  68."  an  bis  zu  den  Südgrenzen  der 
Halbinsel  sich  erstreckende,  in  der  die  Erle  sich 
einstellt,  Weidendickichte  häufiger  werden  und 
im  Süden  sogar  krüppelhafter  Nadelwald  erscheint. 
Von  den  52  von  Shitkow  für  die  Halbinsel 
nachgewiesenen  Vogelarten    —    eine   Anzahl,    die 


')  Finsch,  O.,  Reise  nach  Westsibiiien  im  Jahre  1876. 
Wissenschaftl.  Ergebnisse,  Wirbeltiere.  —  Verh.  Zool.  Botan. 
Gesellsch.  Wien,  29,  1880,  S.  128—280. 

''j  Shitkow,  B.,  Vögel  der  Halbinsel  Jamal  (russ.).  — 
Ann.  du  Musec  Zoologique  de  l'Acad.  Imp.  d.  Sc.  de 
St.  Pctersbourg,  17,  1912  (erschienen  1913),  311 — 369. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


der  Reisende  hier  anzutreffen  gehofft  hatte,  kam 
allerdings  nicht  zur  Beobachtung,  eine  Anzahl 
anderer  wurde  nur  flüchtig  gesehen  und  konnte 
auf  ihre  Artzugehörigkeit  hin  nicht  bestimmt 
werden,  so  daß  S  h  i  t  k  o  w  selbst  seine  Zusammen- 
stellung als  noch  keine  alle  auf  der  Halbinsel 
möglichen  Arten  umfassende  ansieht  —  waren  die 
Schneehühner  in  der  nördlichen  Zone  nur  spär- 
lich vertreten,  weil  in  dieser  die  von  ihnen  ver- 
langten größeren,  mit  Polarweidengesträuch  be- 
standenen Flächen  fehlten.  Dagegen  lagen  fast 
ausschließlich  in  ihr  die  Brutplätze  der  Ringel- 
gans, Branta  bernicla  L.,  während  Saat-  und  Bläß- 
gänse viel  seltener  waren,  als  in  der  mittleren 
Zone.  In  dieser  liegen  die  meisten  Brutplätze 
der  beiden  zuletzt  genannten  Arten ;  zusammen 
mit  dem  Moorschneehuhn,  Lagopus  lagopus  L., 
tritt  das  auch  noch  über  die  nördlichere  Zone 
sich  verbreitende  Alpenschneehuhn,  Lagopus  mutus 
Mont.  (oder  rupestris  Gm.,  wie  G  r  o  t  e  annimmt) 
auf,  während  die  im  südlicheren  Teile  der  Zone 
häufigere  Kleine  Raubmöwe,  Stercorarius  parasiti- 
cus  L.,  nördlich  des  Jurubei  durch  die  Mittlere 
Raubmöwe,  St.  pomarinus  Temm.,  ersetzt  wird, 
die  im  Brutgebiet  der  ersteren  nur  selten  vor- 
kommt und  offenbar  die  Nachbarschaft  derselben 
meidet.  Die  zweite  Zone  grenzt  anscheinend  das 
Brutgebiet  der  Gelbköpfigen  Bachstelze,  Budytes 
citreola  Fall.,  nach  Norden  ab,  während  die  Schnee- 
ammer hauptsächlich  die  Küsten  der  nördlichen 
Zone  bewohnt.  In  der  südlichen  Zone  endlich 
mischen  sich  unter  die  Vertreter  einer  ausge- 
prägten Tundraornis  noch  verschiedene  Enten- 
und  Strandläuferarten,  einige  Sänger  und  Raub- 
vögel. 

Ein  Vergleich  der  Verbreitung  der  Vögel  von 
Ja-mal  mit  derjenigen  der  Vögel  des  unteren 
Jenissei,  über  die  eine  wertvolle,  bei  uns  ebenfalls 
kaum  bekannt  gewordene  Veröffentlichung  von 
A.  Tugarino  und  S.  B u t u r  1  i n  ^)  vorHegt,  er- 
gibt nach  Shitkow,  daß  die  Grenzen  der  Ver- 
breitung und  des  Brutvorkommens  einer  Reihe 
von  Vogelarten  auf  der  Samojedenhalbinsel  viel 
südlicher  liegen,  als  im  Jenisseigebiet.  Der  Bruch- 
wasserläufer beispielsweise  wurde  nur  bis  zum 
67^5."  n.  Br.  beobachtet,  während  er  auf  der 
Taimyrhalbinsel  noch  bis  über  den  70."  hinaus 
vorkommt,  Bekassine  und  Doppelschnepfe  dringen 
auf  Jamal  kaum  über  den  68."  hinaus  vor,  finden 
sich  am  Jenissei  und  östlich  von  diesem  aber  noch 
über  den  70."  nordwärts,  die  Pfeifente  erreicht 
auf  Ja-mal  schon  unterm  67^/2.''  ihre  Nordgrenze, 
ist  dagegen  am  Jenissei  noch  fast  unterm  71." 
Brutvogel.  Die  Ursachen  dieser  Erscheinung 
liegen  darin,  daß  auf  der  Samojedenhalbinsel  die 
Baumgrenze  südlicher  verläuft,  als  am  Jenissei. 
Larix  sibirica  und  Picea  excelsa  erreichen  auf  der 
Samojedenhalbinsel    bereits    unterm    67  V»-**    ihre 

')  Tugarino,  A.  und  Buturlin,  S.,  Materialien  über 

die    Vögel    des   Jenisseischen  Gouvernements  (russ.).   —  Mitl. 

(Sapiski)    Krasnojarsker   Abt.    Kuss.    Geogr.    Gesellsch.,  Abt. 
Phys.  Geogr.,   I,   191 1,  Lief.  2 — 4,  440  S. 


nördlichste  Grenze,  während  sie  am  unteren  Jenis- 
sei fast  bis  zum  70."  vordringen.  — 

D  er j  u g i  n ,  dessen  Arbeit  *)  trotz  verschiedener 
Mängel  immerhin  eine  wertvolle  Ergänzung  der 
Finschschen  Mitteilungen  bildet,  hat  in  seinem, 
den  Lauf  des  Ob  zwischen  Beresow  und  Obdorsk 
umfassenden  Beobachtungsgebiet  von  156  be- 
obachteten Arten  114  als  sichere  Brutvögel  nach- 
weisen können.  Für  eine  Anzahl  von  ihnen  gibt 
er  die  Nordgrenze  ihrer  Verbreitung  an  —  Em- 
beriza  rustica  Fall.:  64.°  n.  Br.,  Carpodacus  ery- 
thrinus  Pall. :  62."  n.  Br. ,  Sylvia  atricapilla  L. : 
64."  n.  Br. ,  Muscicapa  atricapilla  L.:  64."  n.  Br., 
Accentor  montanellus  Pall.:  66."  30.'  n.  Br.,  Orty- 
gometra  porzana  L. :  64.°  n.  Br.,  Anas  querque- 
aula  L.:  66."  30.'  n.  Br.  — ;  einige  andere,  von 
Fi n seh  und  Brehm  nur  südlicher  beobachtete, 
wurden  erheblich  nördlicher  angetroffen,  wie  z.  B. 
Alauda  arvensis  L.  unter  dem  66."  30.'  n.  Br., 
Turdus  musicus  unter  dem  66."  n.  Br.,  Gallinago 
gallinago  L.,  die  von  Shitkow  (s.  o.)  allerdings 
noch  bis  zum  68."  beobachtet  worden  ist,  unter 
dem  66."  30.'  n.  Br.,  Totanus  littoreus  L.  ebenfalls 
unter  dem  66."  30.'  n.  Br.  usw.  Haus-  und  Feld- 
sperling sind  in  Beresow  bereits  Jahresvögel,  der 
erstere,  der  zu  Brehms  und  Finschs  Zeiten 
Obdoisk  noch  nicht  erreicht  hatte,  wurde  als 
solcher  auch  hier  festgestellt. 

V.  Bianchi  gibt  in  seiner  nur  kürzeren  Mit- 
teilung") lediglich  eine  Liste  der  von  J.  War- 
dropper  im  Obmündungsgebiet  gesammelten 
Vögel;  sie  umfaßt  25  Arten,  darunter  10,  die 
Shitkow  in  seinem  Verzeichnisse  nicht  aufführt, 
von  denen  aber  Arten,  wie  Anthus  cervinus, 
Oedemia  nigra  usw.  seinem  Beobachtungsgebiet 
ebenfalls  angehören  dürften.  — 

Das  zweite  Heft  der  G roteschen  Berichte 
enthält  eine  Zusammenstellung  der  Vögel  Nord- 
westrußlands: der  Gouvernements  Pskow  (Ples- 
kau),  Nowgorod  und  St.  Petersburg  und  über- 
mittelt uns  damit  die  Kenntnis  von  der  Ornis 
eines  Gebietes,  das  sich  dem  von  uns  während 
des  Krieges  besetzt  gehaltenem  Teile  Westruß- 
lands unmittelbar  anschließt.  Im  Hinblick  auf  die 
so  erfolgreiche  Tätigkeit  unserer  feldgrauen  Orni- 
thologen  gerade  auch  in  Westrußland  —  z.  Z.  er- 
scheint ja  eine  zusammenfassende  Darstellung  der- 
selben aus  der  Feder  des  Grafen  Zedlitz,")  eines 
unserer  erfolgreichsten  hier  tätig  gewesenen  Orni- 
thologen  —  darf  es  vielleicht  von  vornherein  auf 
eine    noch   größere   Beachtung    rechnen,    als    das 

')  Derjugin,  K.,  Eine  Reise  an  den  mittleren  und 
unteren  Lauf  des  Obj  und  die  Fauna  dieses  Gebiets.  —  Tra- 
vaux  de  la  See.  Imp.  d.  Natur,  de  St.  Petersb.,  Sect.  Zool. 
et  Physiol.,  29,   1898,  47 — 140. 

')  Bianchi,  V.,  Zur  Avifauna  der  Objmündung  und  des 
anliegenden  Teils  der  Halbinsel  Ja-mal.  —  Ann.  du  Musee 
Zool.  de  l'Acad.  Imp.  d.  Sc.  de  St.  Petersb.  14,  1909,  S.  IV— VI. 

')  Zedlitz,  Graf  O.,  Die  Avifauna  des  westlichen 
Pripjetsumpfes  im  Lichte  der  Forschung  deutscher  Ornithologen 
in  den  Jahren  1915 — 1918.  —  Journ.  f.  Ornithol.  68,  1920, 
177 — 235,  350 — 388;  69,  1921,  50-90  (und  noch  im  Er- 
scheinen). 


N.  F.  XX  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


525 


r 


erste  Heft:  ermöglicht  es  uns  doch,  interessante 
Vergleiche  zu  ziehen  und  viele  unserer  Feststel- 
lungen zu  ergänzen  und  zu  erweitern. 

Die  Vogel  weit  des  Gouv.  Pleskau  hat  19 10 
durch  Sarudny  eine  erschöpfende  Darstellung 
erfahren ')  und  ist  später  von  ihm  durch  eine 
weitere  kleinere  Arbeit  noch  ergänzt  worden,  -) 
nachdem  K.  Derjugin  vorher  schon  unter  Be- 
nutzung der  Sarudny  sehen  Lokalsammlutrg  über 
sie  berichtet  hatte.^)  Nach  Sarudnys  Arbeit 
erschienen  dann  noch  zwei  diese  wertvoll  er- 
gänzende Beiträge  von  P.  Nesterow  und  I.  Ni- 
fc  a  n  d  r  o  w,*)  sowie  von  E.  I  s  p  o  1  a  t  o  w.")  Weniger 
eingehend  durchforscht  ist  in  ornithologischer  Hin- 
sicht das  Gouv.  Nowgorod ;  alles  bis  dahin  be- 
kannte faßte  1910  V.  Bianchi  in  seiner  Arbeit 
„Unsere  Kenntnis  der  Vögel  des  Gouvernements 
Nowgorod",*^)  dem  dabei  vor  allem  auch  das  reiche 
Balgmaterial  des  Petersburger  Zoologischen  Mu- 
seums zur  Verfügung  gestanden  hatte,  zusammen. 
Ihm  verdanken  wir  auch,  nachdem  1886  bereits 
E.  Büchner  in  seiner  Arbeit  ,.Die  Vögel  des 
St.  Petersburger  Gouvernements" ')  die  Ornis  des 
Gebietes  grundlegend  behandelt  hatte,  eine  neuere 
Bearbeitung  der  Vogelwelt  des  vogelkundlich  recht 
gut  durchforschten  St.  Petersburger  Gouverne- 
ments.*) Aus  ihm  kennt  man  269  Arten,  von 
denen  241  mehr  oder  minder  regelmäßig  vor- 
kommende Erscheinungen  sind,  176  Arten  brütend 
festgestellt  und  von  diesen  wiederum  57  als  Jahres- 
vögel nachgewiesen  werden  konnten.  Aus  dem 
Nowgoroder  Gouvernement  dagegen  sind  bisher 
nur  217  Arten  nachgewiesen  worden,  für  eine  An- 
zahl weiterer,  die  Bianchi  namentlich  aufführt, 
darf  das  Vorkommen  jedoch  als  recht  wahrschein- 
lich angenommen  werden.  Die  Liste  der  Vögel 
des  Gouvernements  Pleskau  endlich  umfaßt  287 
Vogelformen. 

Ein  Vergleich  der  Ornis  des  Pleskauschen 
Gouvernements    mit    derjenigen    von    Nowgorod 


')  Sarudny,  N.,  Die  Vögel  des  Gouvernements  Pskow 
(russ.).  —  Mem.  de  l'Acad.  Imp.  d.  Sc.  de  St.  Petersb.,  VIII. 
.Ser.,  Vol.  XXV,  Nr.  2  (182  S.). 

')  Ders.,  Neues  über  die  ornithologische  Fauna  des  Gouv. 
Pskow  (russ.).  —  Ornithol.  Mitt.   igil,  S.  21. 

')  Derjugin,  K.,  Ornithologische  Forschungen  im  Gou- 
vernement Pskow  (russ.).  —  Travaux  de  la  Soc.  Imp.  d.  Na- 
tur, de  St.   Petersb.  XXVII,  3,   1897,   '7— 38- 

*)  Nesterow,  P.  und  Nikandrow,  I.,  Zug  und  Brut- 
vorkommen der  Vögel  der  Umgegend  von  Pskow  (russ.).  — 
Ann.  du  Musee  Zool.  usw.   18,   1913,   102 — 124. 

'')  Ispolat  o  w,  E.,  Interessante  Funde  im  Pskowschen 
Gouvernement  (russ.).  —  Ornithol.  Mitt.   191 1,  291 — 292. 

'')  Ann.    du  Musee  Zool.  usw.   15,    1910,  75 — 176  (russ.). 

')  Beiträge  z.  Kenntn.  d.  Russ.  Reiches  (3)  II,  1886,  so- 
wie Nachtr.  in:  Ann.  du  Musee  Zool.  usw.  2,   1897,  453 — 4*'2. 

')  Bianchi,  V.,  Liste  der  Vögel  des  St.  Petersburger 
Gouvernements  (russ.).  —  Ann.  de  Musee  Zool.  usw.  12,  1907, 
86 — 113.  Hierzu  erschienen  noch  ein  „Erster"  u.  ein  „Zweiter 
Nachtrag"  ebenda  13,  1908,  S.  XXXVI— XLV  bzw.  17,  1912, 
XL — XLVllI,  sowie  das  ,, Verzeichnis  der  von  D.  Glasunow 
im  St.  Petersburger  Gouvernement  gesammelten  Vögel"  eben- 
da, 14,  1909,  169 — 179,  während  vorher  schon  die  „Vögel, 
die  für  das  Gouvernement  St.  Petersburg  neu  und  selten  sind" 
ebenda,  8,   1903,  XXV — XXXII  erschienen  waren. 


und  St.  Petersburg  ergibt  manches  interessante- 
„Im  Gouvernement  Pskow  finden  einige  Vogel- 
arten die  Nordostgrenze  ihres  Brutverbreitungsge- 
bietes. So  kommen  hier  Emberiza  hortulana, 
Lanius  minor,  Acrocephalus  palustris,  Dendroco- 
pus  medius,  Athene  noctua,  Turtur  turtur  als 
Brutvögel  vor,  zwar  mehr  oder  weniger  selten,  in 
den  benachbarten  genannten  Gouvernements  da- 
gegen schon  nicht  mehr.  Der  weiße  Storch 
nistet  hier  noch  regelmäßig,  während  er  im 
Petersburger  resp.  Nowgorodschen  Gouvernement 
nur  eine  seltene  Erscheinung  ist,  hier  allerdings 
in  den  südlichen  Bezirken  einzuwandern  beginnt. 
Die  Moorente  (Nyroca  ferruginea)  brütet  im 
Pskowschen  regelmäßig,  geht  aber  nach  Norden 
nicht  über  die  Grenzen  dieses  Gouvernements 
hinaus.  Von  Interesse  ist  das  (seltene)  Brutvor- 
kommen von  Rotsternigen  Blaukehlchen  und  Beutel- 
meise. Cinclus  und  Alcedo  haben  hier  gebrütet, 
während  sie  weiter  nordöstlich  nur  recht  seltene 
Wintergäste  sein  sollen.^)  Anthus  campestris  ist  im 
Pskowschen  Gouvernement  nicht  seltener  Brut- 
vogel, im  Petersburger  hingegen  als  solcher  höchst 
selten. 

Einige  Vogelarten  haben  im  Gouvernement 
Pskow  ihre  westlichsten  Vorposten :  Acrocephalus 
dumetorum  nistet  regelmäßig  in  den  Gärten  der 
Stadt  Pskow  (es  ist  das  der  bis  jetzt  westlichste 
Fundort  des  Brutvorkommens),  Acanthopneuste 
borealis  wurde  als  seltener  IBrutvogel  in  den 
Mischwäldern  des  nördlichsten  Teiles  des  Kreises 
Porchow,  sowie  am  Radilowsee  aufgefunden;  es 
dürfte  dies  das  südwestlichste  Brutvorkommen 
dieses  Laubsängers  sein.  Offenbar  neuerdings 
eingewandert  in  das  Gebiet  ist  Acanthopneuste 
viridanus,  der  auch  schon  in  Esth-  und  Livland 
als  sehr  seltener  Brutvogel  festgestellt  worden 
ist.  Der  Bergfink  erreicht  im  Gouvernement 
Pskow  die  Südgrenze  seines  Brutgebiets,  die 
Nordische  Schafstelze  nistet  hier  noch  regelmäßig 
und  in  beträchtlicher  Zahl ;  nach  London  ist 
sie  übrigens  auch  im  Baltikum  (selbst  in  Kurland) 
als  Brutvogel  eine  gewöhnliche  Erscheinung".  — 

Ich  muß  es  mir  versagen,  hier  auf  noch 
weitere  Einzelheiten  einzugehen  und  kann  vor 
allem  auch  nicht,  so  sehr  dies  dem  selbst  auch 
während  des  Krieges  in  Westrußland  beobachteten 
Ornithologen  reizt,  den  Vergleich  mit  unseren 
eigenen  westrussischen  Feststellungen  vornehmen; 
vielleicht  bietet  sich  dazu  später  noch  einmal  Ge- 
legenheit. Aber  eines  sei  noch  getan:  der  Dank 
an  Hermann  Grote  ausgesprochen,  der  uns 
diesen  Einblick  in  das  russische  ornithologische 
Schrifttum  ermöglicht  hat.  Möchte  die  Veröffent- 
lichung seiner  Berichte,  die  vor  allem  auch  für 
den  Tiergeographen  eine  reiche  Fundgrube  bilden, 
trotz  der  großen  Schwierigkeiten  weiterhin  ihren 
Fortgang  nehmen.  Rud.  Zimmermann. 

')  Hierzu  bemerkt  Grote,  daß  nach  einer  ihm  mündlich 
gemachten  Mitteilung  Barons  A.  v.  Fersen  Cinclus  auch  im 
Südteile  des  Gouvernements  St.  Petersburg  ein  (und  zwar 
keineswegs  sehr  seltener)  Wintergast  ist. 


S26 


t^aturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


Bücherbesprechungen. 


Rinne,  Friedrich,  Die  Kristalle  als  Vor- 
bilder des  feinbaulichen  Wesens  der 
Materie.  Mit  einer  Zeichnung  von  A.  Dürer, 
den  Bildnissen  von  P.  v.  Groth,  M.  v.  Laue, 
W.  C.  V.  Röntgen  und  A.  Schön  flies  auf 
fünf  Kunstdrucktafeln  sowie  mit  1 00  Textfiguren. 
loi  Seiten.  Berlin  1921,  Gebr.  Borntraeger.  25  M. 
Das  Buch  stellt  sich  zweierlei  Aufgaben.  Die 
bisherigen  Ergebnisse  der  experimentellen  For- 
schungen vom  Feinbau  der  Kristalle,  wie  sie  sich 
an  M.  V.  Laues  Entdeckung  der  Röntgenstrahlen- 
beugung  durch  den  Raumgitterbau  geknüpft  haben, 
will  es  einmal  der  „weitesten  Verbreitung  im 
Kreise  der  naturkundlich  Interessierten"  zugäng- 
lich machen.  Außerdem  sieht  der  Verfasser  seine 
größere  Aufgabe  darin,  „in  möglichst  allgemein 
verständlicher,  aber  auch  den  Fachgenossen  manches 
Neue  bietender  Art,  die  Grundzüge  des  feinbaulichen 
Wesens  der  Materie  aus  den  Charakterzügen  der 
Kristalle  abzuleiten".  Es  werden  daher  auch  die 
amorphen  Körper,  also  die  Gase  und  Flüssigkeiten 
mit  in  den  Kreis  der  Betrachtungen  hereinbezogen. 
Zunächst  findet  sich  neben  der  geschichtlichen 
Entwicklung  der  Feinbauforschung  ein  einfacher 
Übersichtsplan  der  32  Kristallklassen  und  der  zu- 
gehörigen Symmetrieerscheinungen  im  sichtbaren 
wie  im  Feinbau.  Danach  werden  die  feinbaulichen 
Verhältnisse  der  kristallinen  mit  denen  der  amorphen 
Materie  in  grundsätzlichen  Zusammenhang  gebracht, 
ihre  gemeinsamen  Charakteristika,  sowie  das  Ge- 
gensätzliche ihrer  Feinbauart  entsprechend  hervor- 
gehoben. Als  allgemeiner  Grundzug  der  Materie 
ergibt  sich  daraus  in  jedem* Falle  ihr  Feinbau 
aus  anisotropen  Stabilitätsgebilden.  Gase,  Flüssig- 
keiten, Fastkristalle  (die  sog.  „flüssigen"  Kristalle) 
und  Kristalle  erscheinen  in  diesem  Zusammenhang 
als  eine  „Metamorphosenreihe",  eine  Reihe  von 
gesetzmäßigen  Zustandswandlungen,  wie  sie  die 
betreffende  Materie  beim  Wechsel  physikalischer 
Verhältnisse,  z.  B.  des  Wärmegrades,  durchlaufen 
kann.  Charakteristisch  ist  dabei  das  Bild  einer 
sprunghaften  Wandlung  des  Energieinhaltes  der 
einzelnen  Erscheinungsformen. 

Es  würde  hier  zu  weit  führen,  die  interessanten 
Einzelheiten  der  weiteren  Abschnitte  zu  erwähnen 
und  hinsichtlich  ihres  Gehaltes  an  anregenden  Be- 
trachtungen zu  würdigen.  Der  Inhalt  sei  nur  an- 
gedeutet durch  Wiedergabe  der  folgenden  Kapitel- 
überschriften:  Allgemeine  tektonische  Gliederung 
des  Feinbaues  der  Kristalle;  Zusammenhang  der 
Feinbauteile  bei  Mischkristallen  und  Verwachsungen 
als  Übergängen  zwischen  chemischer  Verbindung 
und  physikalischem  Gemisch;  Morphotropie  und 
Topotropie;Isotypie;  Kristallwachstum  und  Kristall- 
auflösung; Chemische  Vorgänge  an  Kristallen ;  Ver- 
such eines  Einblicks  in  den  Verlauf  chemischer 
Vorgänge  durch  Vermittlung  von  Beobachtungen 
an  Kristallen;  Analogie  der  morphologischen 
Wirkung  physikalischer  und  chemischer  Felder 
auf   Kristallbauten;     Kristallphysiologie    und    die 


Systematik  der  Atomarten.  —  Es  verdient  hervor- 
gehoben zu  werden,  daß  neben  Untersuchungen 
des  Verfassers  und  seiner  Schüler  überall  die  An- 
schauungen und  Ergebnisse  der  besten  neueren 
Arbeiten,  z.  B.  von  Bohr,  Kossei  und  Tertsch 
über  den  möglichen  Atomfeinbau,  von  Reis  über 
die  verschiedenen  Typen  vom  Gitterbau,  von 
Johnsen,  Groß  und  Niggli  über  die  Kristall- 
wachstumsgeschwindigkeiten, von  Fajans,  Aston 
und  Paneth  über  die  verschiedenen  Atomarten, 
herangezogen  und  verwertet  worden  sind. 

Im  Schlußwort  hebt  der  Verfasser  ausdrück- 
lich hervor,  daß  die  gezogenen  Schlußfolgerungen 
„beim  jetzigen  Anfangsstadium  der  feinbaulichen 
Forschung  natürlich  noch  oft  eher  in  Anregungen 
ausklingen  als  zum  Abschluß  führen".  In  der  Tat 
bietet  das  Buch  dadurch,  daß  es  fast  alle  der 
vielen  durch  die  Feinbauforschung  noch  unge- 
lösten Probleme  anschneidet,  den  Kreisen,  für  die 
es  bestimmt  wurde,  wertvollen  Einblick  in  vielerlei 
Hinsicht.  Infolge  der  gemeinverständlichen  Art 
der  Darstellung  und  der  bekannten  gewandten 
Schreibweise  des  Verfassers  wird  es  auch  jedem 
willkommen  sein,  der  ohne  die  Notwendigkeit  fach- 
wissenschaftlicher Einzellektüre  über  den  jetzigen 
Stand  der  Feinbauforschung  und  über  die  sich 
daraus  entwickelnden  Anschauungen  erstmalig 
orientiert  sein  will.  Spangenberg. 

Walther,  Johannes,  Geologische  Heimat- 
kunde von  Thüringen.  5.  Aufl.  262  S., 
158  Textfig.,  I  Karte.  Jena  1921,  G.  Fischer. 
Geh.  21  M.,  geb.  27  M. 
In  noch  nicht  20  Jahren,  von  denen  die  Kriegs- 
zeit füglich  abgerechnet  werden  kann,  5  Auflagen, 
das  spricht  von  einem  so  ausgedehnten  Leserkreis 
eines  doch  nur  auf  beschränkten  Raum  gemünzten 
Büchleins,  das  es  eigentlich  nicht  erst  bekannt  ge- 
geben zu  werden  braucht.  SchUeßt  es  sich  doch 
einer  ganzen  Reihe  populärer  Werke  des  Verfassers 
an,  der  sich  damit  das  Verdienst  erworben  hat, 
daß  das  im  Volke  vorhandene  starke  Bedürfnis 
nach  Anleitung  in  geologisch -paläontologischen 
Dingen  nicht  von  unberufener  Seite  befriedigt 
und  damit  in  falsche  Bahnen  gelenkt  wird.  Die 
geologischen  Wanderführer  durch  Thüringen  oder 
Teile  desselben  von  Franke  und  Kirste  (beide 
1912)  u.  a.  m.  bestehen  übrigens  daneben  in 
vollen  Ehren  und  beweisen  nur  die  Intensität  des 
Bedürfnisses. 

Zu  den  geologischen  Wanderungen,  die  nach 
der  historischen  Übersicht  über  die  Gesamt- 
geschicke des  Landes  den  zweiten  Teil  bilden,  ist 
eine  neue  (Nr.  3)  hinzugetreten.  Die  sehr  sauber 
und  klar  in  Schwarzweißkunst  gezeichnete  geo- 
logische Karte  von  Regel  (-Giltsch)  am 
Schluß  ist  durchaus  imstande,  die  schöne  Bey- 
sch  lag  sehe  Übersichtskarte  wenigstens  beim 
Wandern  zu  ersetzen.  Das  Verzeichnis  größerer 
Sammlungen  im  Lande  (S.  251)  wird  Vielen  will- 


N.  F.  X)C.  Nr.  36 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


5^7 


I 


kommen  sein,  wie  auch  die  ausführlichen  Erklä- 
rungen der  Fachausdrücke  in  einem  Sonder- 
verzeichnis Manchem  den  ohnehin  fesselnd  ge- 
schriebenen Inhalt  erst  voll  zugänglich  machen 
werden. 

Der  rühmlichst  bekannte  lebensvolle  Stil  des 
Verf.  führt  nach  meinem  Empfinden  hier  und  da 
zu  einer  Zuschärfung,  die  in  der  Vorstellung  des 
ungeübten  Lesers  leicht  zur  Übertreibung  werden 
könnte.  Aber  auch  rein  sachlich  wird  selbstver- 
ständlich manche  Meinungsverschiedenheit  mög- 
lich sein,  wo  dem  Leser  ein  scheinbar  unbe- 
dingter fester  Besitz  der  Wissenschaft  entgegen- 
tritt. Dahin  gehören  die  im  Lande  Goethes 
besonders  auffallenden  Lehren  unaAifhörlicher  Ka- 
tastrophen bzw.  extremer  klimatischer  Ereignisse, 
wie  Dürren,  Wüsten,  Überschwemmungen,  Meeres- 
einbrüche, Stürme,-  vulkanischer  Verheerungen 
u.  dgl.  Nicht  einverstanden  kann  ich  z.  B.  auch 
sein,  wenn  ohne  weitere  Einschränkung  einem 
größeren  Publikum  Kreuzschichtung  als  Beweis 
für  Dünenbildung  hingestellt  wird  (S.  74). 

Zu  erwähnen  wären  noch  kleine  Ünausge- 
glichenheiten  (östliche  Winde  des  Diluviums  S.  113, 
westliche  am  gleichen  Gegenstand  erläutert  S.  215), 
sowie  eine  verhältnismäßig  hohe  Zahl  von  Druck- 
fehlern, die  nicht  alle  in  der  Berichtigung  (S.  VI) 
aufgenommen  sind. 

Doch  das  sind  bereits  Äußerlichkeiten,  die 
niemand  in  dem  Genuß  des  liebevoll  geschriebe- 
nen Werkchens  und  in  der  daraus  zu  schöpfenden 
Belehrung  behindern  sollen  und  behindern  werden. 
—  Edw.  Hennig. 

Schmidt,  C.  W.,  Geologisch-mineralogi- 
sches Wörterbuch.  (Teubners  kleine  Fach- 
wörterbücher Band  6.)  Mit  211  Abbildungen. 
Leipzig  und  Berlin  1921.  Ladenpreis:  geb.  8M. 
Bei  der  Beliebtheit,  deren  sich  Mineralogie  und 
Geologie  auch  in  Laienkreisen  erfreuen,  ist  die 
Herausgabe  eines  derartigen  Büchleins  an  sich 
gewiß  zu  begrüßen.  Die  Auswahl  der  erläuterten 
Begriffe  dürfte  auch  im  allgemeinen  den  in  Frage 
kommenden  Wünschen  gerecht  werden.  Dabei 
darf  aber  die  notwendige  Kürze  des  Ausdrucks 
die  Klarheit  der  Erläuterung  nicht  beeinträchtigen. 
Diese  schwierige  Aufgabe  ist  hier  und  da  nicht 
glücklich  gelöst  worden  (z.B.  bei  „Doppelbrechung", 
„Habitus",  „Schlangenalabaster").  Anzuerkennen 
ist  die  Sorgfalt,  die  der  etymologischen  Ableitung 
der  Namen  gewidmet  worden  ist.  Die  Auswahl 
der  Biographien  von  Geologen  und  Mineralogen 
muß  dagegen  als  verbesserungsbedürftig  bezeichnet 
werden,  sowohl  hinsichtlich  der  älteren  wie  der 
zeitgenössischen  Forscher. 

Vor  allem  aber  müssen  Fehler,  die  sich  an- 
scheinend besonders  im  mineralogischen  Teil 
finden,  späterhin  unbedingt  vermieden  werden. 
Die  auffallendsten  seien  hier  genannt.  Falsch  ist 
die  Verwendung  des  Wortes  „Quarz"  an  Stelle 
von  „SiO.2"  bei  den  Begriffen:  Achat,  Chalcedon, 
Moosachat,  Kieselsandstein  und  Onyx,  vor   allem 


aber  bei  „Tridymit".  —  „Anatas"  ist  nicht  „iso- 
morph" mit  Rutil  und  Brookit.  —  „Braunspat"  ist 
keine  „Varietät  von  Dolomit".  —  Der  „Chiastolith" 
hat  seinen  Namen  durchaus  nicht  von  einer  „kreuz- 
förmigen Gestalt  der  Kristalle".  —  Den  Pleochrois- 
mus  des  „Cordierits"  kann  man  nicht  als  „stark" 
bezeichnen.  —  Beim  Begriff  „Doppelbrechung" 
muß  es  heißen:  „Parallel  zur  Hauptachse  (nicht 
„zum  Hauptschnitt")  einfallende  Strahlen  erleiden 
keine  „Doppelbrechung".  —  Die  Neubildungen  in 
„Garbenschiefern"  bestehen  nicht  aus  „Horn- 
blende". —  „Glimmerschiefer"  ist  nicht  durch 
„Kontaktmetamorphose"  umgewandelt.  —  Man 
darf  nicht  sagen,  der  „Granat"  sei  häufig  in  kri- 
stallinen Schiefern  als  typisches  „Kontaktmineral". 

—  Bei  „hexagonales  Kristallsystem"  (ebenso  bei 
„tetragonales  Kristallsystem")  ist  das  Wort  „min- 
destens" zu  streichen.  —  Die  Fassung  des  Be- 
griffes „Kantenwinkel"  entspricht  nicht  der  allge- 
mein üblichen  (siehe  auch  „Konstanz  der  Kanten- 
winkel"). —  Unter  „Kristallsysteme"  ist  die  Be- 
schreibung des  „monokUnen  Achsenkreuzes"  voll- 
kommen falsch.  —  Der  „Labradorit"  ist  nicht 
gerade  eine  „seltene"  Varietät  des  Plagioklas.  — 
Die  Definition  „linear  polarisiert"  und  dement- 
sprechend „Polarisation  des  Lichtes"  ist  falsch: 
linear  polarisiert  ist  nicht  Licht,  „dessen  Schwin- 
gungen sich  nur  in  einer  Ebene"  vollziehen.  — 
Die  „Mineralogie"  kann  man  nicht  gut  als  einen 
„Zweig"  der  Geologie  betrachten.  —  „Bajonnet- 
förmig  verbogener  Molybdänglanz"  ist  wohl  eine 
Verwechslung  mit  „Antimonglanz".  —  „Optische 
Anomalien"  haben  mit  „mimetischen  Verwachsun- 
gen" nichts  zu  tun.  —  Unter  „Paramorphose" 
versteht  man  nicht  „die  Eigenschaft  dimorpher 
Substanzen,    in    zwei  Modifikationen   aufzutreten". 

—  „Phyllit"  ist  nicht  durch  „Kontaktmetamorphose" 
entstanden,  —  „Prehnit"  ist  kein  „Kalktongranat". 

—  Bei  dem  Begriff  „rhombisches  Kristallsystem" 
ist  hinzuzufügen,  daß  Symmetrieachsen  und  -ebenen 
„ungleich"  sind.  —  „Schwefel"  ist  nicht  „meist" 
vulkanisch.  —  Ein  „Sol"  ist  nicht  die  „Lösung 
eines  Minerals".  —  Bei  dem  Begriff  „Symmetrie- 
gesetz" ist  zu  streichen:  „z.  B.  bei  Zwillings- 
bildung", bei  „Zonengesetz"  ist  das  zweite  DJal 
das  Wort  „Zonen"  durch  „Kanten"  zu  ersetzen. 

K.  Spangenberg. 


Gehrcke,     E. ,     Die     Relativitätstheorie 
eine     wissenschaftliche     Massensug- 
gestion.     Kommissionsverlag   K.   F.   Köhler, 
Leipzig  1920. 
Die   Schrift   stellt   den   Abdruck   eines  öffent- 
lichen   Vortrages    dar,    der    im    August    vorigen 
Jahres    in    Berlin    gehalten    wurde.       Gehrcke 
greift  darin  vor  allem  die  Lehre  Einsteins  von 
der  Relativität  der  Zeit  an,    wonach    für  bewegte 
Körper   die   Zeit    langsamer   als   für  ruhende  ver- 
fließen   soll.      Einstein    hatte    zur   Veranschau- 
lichung   seiner  Ideen    von   Zwillingen  gesprochen, 
von  denen  der  eine   am  Orte   seiner  Geburt   ver- 


528 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  36 


blieben  ist,  der  andere  aber  gleich  nach  seinei' 
Geburt  auf  eine  große  Reise  geschickt  wird,  von 
der  er  als  Schulknabe  zurückkehrt.  Er  findet 
dann  seinen  Bruder  als  Greis  mit  weißen  Haaren 
vor,  falls  dieser  nicht  überhaupt  schon  gestorben 
ist  und  der  nächsten  Generation  Platz  gemacht 
hat.  Da  nach  Einstein  der  Begriff  der  Bewegung 
nun  aber  relativ  ist,  so  hat  jeder  der  Zwillinge 
das  Recht,  sich  für  ruhend  zu  halten  und  den 
anderen  die  Bewegung  ausführen  zu  lassen,  so  daß 
dann  also  jeder  den  anderen  für  jünger,  sich  aber 
für  gealtert  oder  gar  schon  für  tot  hinstellen  muß. 
In  der  Tat  scheint  Gehrcke  Einsteins  ge- 
wagte Idee  von  der  Relativität  der  Zeit  hier  ad 
absurdum  geführt  zu  haben  und  es  ist  bisher 
nichts  darüber  bekannt  geworden,  daß  Einstein, 
der  in  Gehrckes  Vortrag  selbst  anwesend  war, 
den  Einwand  widerlegt  hätte.  Mir  selbst  ist  nie 
klar  geworden,  wie  sich  Einstein  die  Feststel- 
lung des  verschiedenartigen  Zeitverlaufs  für  die  ver- 
schieden schnell  bewegten  Beobachter  eigentlich 
denkt,  denn  diese  sind  doch  nicht  auf  mitbewegte 
Uhren  angewiesen,  sondern  können  beispielsweise 
ein  und  dieselbe  Turmuhr  benutzen,  und  müssen 
dann  doch  die  gleiche  Zeit  feststellen,  wenn  sie 
wieder  an  den  gleichen  Ort  zurückkehren.  Gehrcke 
vergleicht  die  durch  die  Relativitätstheorie  ge- 
schaffene Lage  mit  derjenigen ,  die  Andersen 
in  seinem  Märchen:  „Des  Kaisers  neue  Kleider" 
schildert.  Hier  sieht  der  Kaiser  mit  seinen 
Ministern  und  Untertanen  dem  Weben  eines  Ge- 
wandes zu,  das  die  Eigenart  hat,  von  denjenigen 
Menschen  nicht  gesehen  zu  werden,  die  dazu  nicht 
klug  genug  sind,  und  alle  stehen  schließlich 
staunend  vor  den  leeren  Webstühlen,  weil  niemand 
sich  zu  bekennen  getraut,  daß  er  nichts  sieht. 

Wenn  Einstein  und  seine  Anhänger,  statt 
diese  Einwendungen  zu  entkräften,  einfach  auf  die 
Erfolge  in  der  Astronomie  hinweisen  oder  den 
Angriffen  unsachliche  Motive  unterschieben,  so 
wird  damit  die  Aufklärung  nicht  gefördert.  Hätte 
Einstein  behauptet,  alle  Zahlen  seien  gerade 
Zahlen,  so  läge  der  Unsinn  noch  klarer  zutage, 
als  bei  der  Relativität  der  Zeit,  und  doch  könnten 
Einsteins  Anhänger  mit  Recht  geltend  machen, 
daß  die  Theorie  sich  in  50  "/^  der  Fälle  vortreff- 
lich bewähre.  Alle  empirischen  „Beweise"  der 
Einst  einschen  Theorie  —  es  sind  zwei  oder 
drei  —  beweisen  in  Wirklichkeit  nur  die  „Kon- 
stanz der  Lichtgeschwindigkeit"  für  bestimmte 
Fälle,  nicht  aber  die  Allgemeingültigkeit  dieses 
Satzes  und  die  daraus  abgeleitete  Relativität  der 
Zeit. 

Der  rein  ablehnende  Standpunkt  in  Gehrckes 


Arbeit  ist  jedoch  etwas  unbefriedigend.  Frucht- 
barer als  die  Erörterung  philosophischer  Probleme 
scheint  mir  die  Heranziehung  der  anschaulichen 
Äthertheorie,  und  es  muß  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  gerade  Gehrcke  diesen  Weg  in 
einer  bisher  wenig  beachteten  Polemik  gegen 
Einstein,  die  sich  in  den  Verhandlungen  der 
Deutschen  physikalischen  Gesellschaft,  19 19,  bes. 
S.  6"],  findet,  mit  Erfolg  beschritten  hat.  Er  wies 
den  Schwierigkeiten  gegenüber,  die  der  Michel- 
sonsche  Versuch  der  Anschauung  vom  absolut 
ruhenden  Äther  bereitete,  auf  die  Theorie  des 
mit  der  Erde  bewegten  Äthers  von  Stokes  hin, 
die  durchaus  nicht  zu  unlösbaren  Widersprüchen 
führt  und  für  den  gesunden  Menschenverstand  den 
einfachsten  Ausweg  aus  der  ganzen  Verwirrung 
darstellt.  Einer  Anwendbarkeit  der  Ein  st  ein- 
schen Formeln  in  bestimmten  Fällen  widerspricht 
die  Äthervorstellung  nicht.  Kann  man  sich  doch 
für  die  Substantialität  des  Äthers  eigentlich  keinen 
besseren  Beweis  als  die  Lichtablenkung  durch  das 
Schwerkraftfeld  denken.  —  Jedenfalls  hat  sich 
Gehrcke  durch  den  Hinweis  auf  die  logischen 
Widersprüche,  zu  der  die  einseitige  Übertreibung 
der  abstraktmathematischen  Methode  führt,  ein 
großes  Verdienst  erworben,  und  es  wird  hoffent- 
lich bald  gelingen,  auf  Grund  anschaulicher  Vor- 
stellungen ein  klares  Bild  von  der  Bedeutung  der 
Eins  t ein  sehen  Formulierungen  und  dem  Um- 
fange ihres  Geltungsbereiches  zu  erhalten. 

Fricke. 

Moeller,   Dr.-Ing.  Max,  Das  Ozon.    Eine  physi- 
kalischchemische Einzeldarstellung.  Mit  32  Text- 
figuren.    Braunschweig   1921,   F"riedrich  Vieweg 
u.  Sohn.     Geh.   12  M. 
Dieses   als   Heft  52   der   „Sammlung  Vieweg" 
erschienene    Werkchen    gibt    eine    nach    Auswahl 
und  Behandlung    des    umfangreichen  Stoffgebietes 
wohlgelungene    Übersicht    über    die    wichtigsten 
Tatsachen  und  Probleme  der  physikalischen  Chemie 
des  Ozons,  das  von  wissenschaftlich  wie  praktisch 
gleich  großer  Bedeutung  ist.      Der  „Hauptzweck" 
des    Büchleins,    durch    Kennzeichnung    der    noch 
vorhandenen  Probleme  zu  einer  Beschäftigung  mit 
dem   interessanten  Gase  anzuregen,   erscheint   im 
wesentlichen  erreicht,  wenn  man  als  Arbeiter  auf 
diesem  Gebiet  Leute  mit  der  nötigen  experimen- 
tellen und    mathematischen  Begabung  voraussetzt. 
Zu  sachlichen  Beanstandungen  ist  kein  Anlaß. 
Die  Rechnungen  sind,   nach  Stichproben,    richtig. 
Der  klare  Druck  und  die  Abbildungen  tragen  zur 
Lesbarkeit    des  empfehlenswerten  Bändchens    bei. 

H.  H. 


lulialt:  H.  Kranichfeld,  Gemeinschaftdienliche  Zweckmäfligkeit,  die  Lösung  des  Problems  der  Dysteleologien.  S.  513. 
—  Kinzelberichte:  H.  Grote,  Neue  Veröffentlichungen  zur  Ornis  Rußlands.  S.  523.  —  Bücherbesprechungen: 
Fr.  Rinne,  Die  Kristalle  als  Vorbilder  des  feinbaulichen  Wesens  der  Materie.  S.  526.  Joh.  WaUher,  Geologische 
Heimatkunde  von  Thüringen.  S.  526.  C.W.Schmidt,  Geologisch-mineralogisches  Wörterbuch.  S.  527.  E. Gehrcke, 
Die  Relativitätstheorie  eine  wissenschaftliche  Massensuggestion.  S.   527.     M.  Moeller,  Das  Ozon.  S.   528. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Guitav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  so.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36.  Bond. 


Sonntag,  den  ii.  September  1921. 


Nummer  B7. 


Dante  und  das  Weltbild  des  Mittelalters. 

Zum  Gedächtnis  von  Dantes  600.  Todestage  am  14.  September  192 1. 
Von  Dr.  Viktor  Engelhardt,  Berlin-Friedenau. 


[Nachdruck  verboten.  1 

Dante  war  Dichter,  Politiker  und  Historiker 
und  wollte  auch  nichts  anderes  sein.  —  Sein 
Leben  bewegte  sich  vom  Speziellen  zum  Allge- 
meinen. Als  Bürger  von  Florenz  war  er  hinein- 
gestellt ins  Parteigezänk  und  ins  Parteigetriebe, 
als  Verbannter  aber  wurde  er  von  kleinen  Alltags- 
zielen frei  und  richtete  den  Blick  auf  das  Ganze 
der  damaligen  Kultur.  Er  gelangte  schließlich  zu 
jener  abschließenden  Synthese,  die  wir  in  der 
göttlichen  Komödie  bewundern  und  erweiterte 
damit  das  persönliche  Schicksal  zum  historischen, 
ja  komischen  Erlebnis. 

Der  Weg  vom  Speziellen  ins  Allgemeine  war 
gleichzeitig  ein  solcher  von  der  Zukunft  in  die 
Vergangenheit.  Als  Mitglied  der  guelfischen  Re- 
gierung von  Florenz  nahm  Dante  Anteil  an  der 
politischen  Entwicklung  der  Tage.  Er  leistete 
Zukunftsarbeit,  denn  er  stand  unter  dem 
Einfluß  der  neuen  wirtschaftlichen  Situation.  Das 
Bürgertum  blühte  empor  und  zwang  den  Adel, 
soweit  es  nicht  mit  ihm  um  die  Herrschaft 
kämpfte,  zu  demokratischen  Gedankengängen. 
—  Arbeit  an  der  Zukunft  wird  aber  immer  Ar- 
beit bleiben  —  vita  activa.  Allein  • —  für  sich 
kann  sie  niemals  zur  abschließenden  Synthese 
führen.  Diese  Synthese  vermag  das  eigene,  der 
Zukunft  zugewendete  Erlebnis  des  iVIannes  wohl 
in  sich  zu  tragen  —  muß  aber  die  festen,  „ewig" 
sicheren  Formen  in  der  geistigen  Tradition  der 
Epoche  suchen.  —  So  mischt  auch  die  göttliche 
Komödie,  wie  jedes  Werk  bahnbrechender  Genies, 
Altes  und  Neues  zu  glücklicher  Einheit.  Es  wahrt 
die  Kontinuität  und  weist  doch  den  Weg,  welchen 
kommende  Generationen  zu  gehen  haben. 

Das  Neue  vermag  im  Kunstwerk  natürlich  nur 
dort  zu  erscheinen,  wo  es  im  Leben  erschienen 
ist.  Dante  gehört  noch  nicht  zur  Renaissance, 
aber  die  Kräfte,  welche  dereinst  den  Geist  der 
Wiedergeburt  erschaffen  sollten,  begannen  sich  in 
seiner  Zeit  zu  regen.  Unter  dem  Einfluß  bürger- 
lich kaufmännischen  Unternehmertums  achtete 
man  auf  die  selbständige,  handelnde,  von  tradi- 
tionellen Fesseln  freie  Persönlichkeit.  Der  Begriff 
der  Individualität  löste  den  IVIenschen  ganz  lang- 
sam aus  der  einheitlichen,  duldenden  Geistigkeit 
des  katholischen  Weltgefühls.  Pur  Dante  wurde 
das  Leben  zur  Läuterung  und  ein  Weg  zu  Gott. 
Das  ist  in  seinen  Formen  noch  durchaus  mittel- 
alterlich gedacht.  Für  Dante  wurde  aber  auch 
umgekehrt  die  Läuterung  zum  Leben.  Die  Sün- 
der des  Purgatorio  dulden  nicht,  sie  handeln. 
Sie  kommen  der  göttlichen  Gnade  durch  eigenen 


freien  Willen  entgegen,  und  erringen  auf  diese 
Weise  die  wahre  Vereinigung  mit  der  göttlichen 
Natur.  Das  ist  Aktion,  nicht  Passion.  Das  ist 
Renaissance,  nicht  Mittelalter.  Das  Neue  ist  in 
den  Begriff  der  „vita  activa"  gebannt,  wie  das 
Neue  in  Dantes  Leben  in  die  politische  Arbeit 
an  seiner  revolutionären  Epoche. 

Da  der  Weg  der  Geschichte  dem  in  der  Gegen- 
wart handelnden  Menschen  jedoch  unbekannt  ist, 
muß  der  einzelne,  wenn  er  für  das  Ziel  seines 
Handelns  ein  abschließendes  Gedankensystem  ver- 
langt, die  Formen  für  dasselbe  den  geistigen  Er- 
rungenschaften der  Vergangenheit  entnehmen. 
Auf  diese  Weise  wird  jedes  abschließende  System 
zum  Wiederspiegel  des  bisher  Gedachten,  —  und 
Dantes  göttliche  Komödie  zum  höchsten  dichte- 
rischen Ausdruck  des  mittelalterlichen  Weltbegriffs. 
Was  wir  aus  dem  Staube  pedantischer  Scholasten 
nur  mühsam  herausholen  können,  finden  wir  in 
Dantes  Werk  oft  von  poetischer  Schönheit  um- 
glänzt. Damit  wird  der  Dichter,  auch  für  den 
naturwissenschaftlich  Interessierten  wertvoll,  denn 
er  zeigt  dem  Physiker  und  Biologen  das  Weltbild 
des  Mittelalters  in  auch  heute  noch  genießbarer 
Form. 

Es  erscheint  zwar  gefährlich  vom  „Weltbild 
des  Mittelalters"  zu  sprechen,  wenn  es  sich  nur 
um  das  Weltbild  eines  mittelalterlichen  Mannes 
handeln  kann  —  aber  wir  haben  gerade  der  gött- 
lichen Komödie  gegenüber  ein  Recht  so  allgemein 
zu  reden.  Zwar  ist  auch  das  Mittelalter,  so  ein- 
heitlich seine  Kultur  dem  rückschauenden  Geist 
erscheinen  mag,  von  auseinanderstrebenden  Lehr- 
meinungen erfüllt,  aber  Dante  vereinigte  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  das  Getrennte.  —  Er  lernte 
die  Wissenschaft  seiner  Zeit  in  verhältnismäßig 
reifem  Alter  kennen,  als  die  Verbannung  ihm 
Muße  zu  ausgedehnten  Studien  ließ.  Am  stärk- 
sten wurde  er,  was  ganz  natürlich  ist,  von  der 
damals  in  ihrer  Hochblüte  stehenden  Scholastik 
ergriffen.  Albert  der  Große  lieferte  ihm  nach 
He  feie  das  Gegenständliche  und  Stoffliche, 
Thomas  von  Aquino  die  Methode.  *)  Aber  rein 
scholastisch  ist  Dantes  Weltbild  nicht.  Zahl- 
reiche Fäden  laufen  durcheinander  und  stempeln 
den  Dichter  in  philosophischer  Beziehung  zum 
Eklektiker.^)  Einerseits  verbindet  ihn  seine  Hin- 
neigung  zu    Albert   dem  Großen    mit  neuplatoni- 

')  Hefele,  Dante.     Stuttgart   1921,  S.  42. 

^)  ^S'-  Baumgartner,  Grundrifi  der  Geschichte  der 
Philosophie  der  patristischen  und  scholastischen  Zeit,  in  Frie- 
drich Überwegs  Grundriß,  2.  Bd.,   10.  Aufl.,  Berlin  19 15,  S.  525. 


530 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


scher  Mystik  —  und  andererseits  wurde  vieles 
den  sich  an  Augustin  anschließenden  franziskani- 
schen Theologen  entnommen.  Dante  lieferte 
kein  geschlossenes,  philosophisches  System,  er 
förderte  die  Wissenschaft  nicht,  aber  er  wurde 
gerade  durch  seine  Unentschiedenheit  wertvoll. 
Die  göttliche  Komödie  gibt  nicht  nur  die  Auf- 
fassung eines  einzigen  Mannes,  sondern  spiegelt 
zahlreiche  Lehrmeinungen  wieder  und  überliefert 
ups  damit  tatsächlich  ein  „Weltbild  des  Mittel- 
alters". 

Gerade  das,  was  in  wissenschaftlicher  Beziehung 
das  Mittelalter  von  der  Neuzeit  scheidet,  der  allen 
Lehrmeinungen  gemeinsame  Geist,  tritt  deutlich 
hervor.  —  Dieser  „Geist  des  Mittelalters"  ist  nur 
aus  seiner  Geschichte  zu  verstehen.  Der  Unter- 
gang der  antiken  Welt  hatte  in  der  religiösen 
Bewegung  des  frühen  Christentums  seinen  posi- 
tiven, weiterführenden  Ausdruck  gefunden.  Das 
Religiöse  war  das  Neue  und  trat  der  wissenschaft- 
lichen Überlieferung  feindlich  gegenüber.  Alle 
Geistesarbeit  wurde  für  Jahrhunderte  in  den  Dienst 
der  Dogmenbildung  gestellt.  Erst  als  diese  — 
zwar  nicht  in  der  ursprünglich  erwünschten,  ein- 
heitlichen Gestalt  —  aber  in  abgegrenzter,  West- 
und  Oststrom  trennender  Zweiheit  beendet  war, 
wurden  die  Geister  für  wissenschaftliche  Beschäf- 
tigung frei.  Die  Verbindung  mit  der  Antike  war 
unterdes  ziemlich  verloren  gegangen  und  konnte 
nur  auf  dem  Umweg  über  die  Araber  wieder 
aufgenommen  werden.  Durch  die  Araber  lernte 
man  den  Aristoteles  samt  seinen  morgenländischen 
Kommentatoren  kennen  • —  und  fand  in  ihm  das 
wissenschaftliche  Rüstzeug,  welches  man  brauchte. 
Der  von  Dogmenkämpfen  zwar  befreite,  aber 
an  die  Dogmen  gebundene  Verstand  verlangte 
sein  Recht  —  und  versuchte  zu  beweisen,  was 
er  glauben  mußte.  Die  Philosophie  wurde  zur 
Magd  der  Theologie. 

Die  theologisch-dogmatische  Schulung  konnte 
natürlich  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  freiere  geistige 
Tätigkeit  bleiben,  um  so  weniger,  als  sich  dieselbe 
nur  in  den  Klöstern  entfaltete.  Für  den  Dogma- 
tiker  galt  die  Erfahrung  nichts,  die  Autorität  da- 
gegen alles.  So  suchte  man  auch  auf  dem  Gebiet 
weltlich-wissenschaftlicher  Fragen  nach  einer  un- 
bedingten Autorität  und  fand  sie  in  dem  oft  arg 
verstümmelten  Aristoteles.  Die  Naturwissenschaft 
des  Mittelalters  wurde  Bücherwissen  und  kam 
höchst  selten  über  die  Irrtümer  des  Aristoteles 
und  seiner  Kommentatoren  hinaus,  ja  blieb  sehr 
oft  hinter  dem  griechischen  Meister  zurück. 

Die  starke  Einwirkung  des  von  den  Arabern 
überlieferten  Aristoteles  fand  kurz  vor  Dantes 
Tagen  statt.  Sie  vollzog  sich  zuerst  im  Schöße 
des  dominikanischen  Ordens.  Während  die 
Franziskaner  Augustinus  auch  in  philosophischen 
Dingen  über  den  Aristoteles  stellten,  verlangten 
die  Dominikaner,  daß  sich  der  große  Kirchen- 
lehrer in  welllichen  Fragen  unter  die  Autorität 
des  heidnischen  Gelehrten  beuge.  —  Der  Auf- 
schwung aristotelischer  Philosophie  in  den  Kreisen 


der  Dominikaner  ist  vor  allem  jenen  beiden  Män- 
nern zu  verdanken,  die  wir,  als  bedeutend  für 
Dantes  wissenschaftliche  Stellungnahme  bereits 
kennen  gelernt  haben:  Albertus  Magnus  und 
Thomas  von  Aquino.  —  Albertus  war  einer  jener 
seltenen,  großen  Polyhistoren,  welche  fast  das 
ganze  Wissen  ihrer  Zeit  umfassen  —  die  Fülle 
des  einzelnen  aber  mit  Zersplitterung  und  Mangel 
an  einheitlicher  Zusammenfassung  erkaufen.  Er 
wurde  zum  Lehrer  der  Zeit  und  so  ist  es  höchst 
wahrscheinlich,  daß  Dantes  Einzelkenntnisse, 
Dantes  wissenschaftliches  Material,  zum  großen 
Teil  aus  Albertinischer  Quelle  stammt. 

Solcher  Einzelkenntnisse  finden  wir  in  der 
göttlichen  Komödie  außerordentlich  viel.  Es 
sei  nur  an  die  zahlreichen  astronomischen  Be- 
trachtungen erinnert,  welche  Dantes  Jenseits- 
wanderung leiten  und  die  eine  innige  Vertrautheit 
mit  astronomischer  Zeitbestimmung  verraten. 
Dante  bemüht  sich  weiter  um  die  Erklärung  der 
Flecken  des  Mondes  (Parad.  2.  Ges.);  er  weiß 
(von  Aristoteles)  daß  der  Erdschatten  bis  zur 
Venus  reicht  (Parad.  9.  Ges.)  und  daß  die  Milch- 
straße aus  einzelnen  Sternen  besteht:  „Milchstraße 
nennen  möcht'  ich  sie  wohl:  sie  wiesen  Stern 
an  Stern"  (Parad.  14.  Ges.). 

Interessanter  als  Dantes  astronomische  Be- 
merkungen sind  seine  geographischen  Ansichten. 
Wir  treffen  in  ihnen  auf  die  ersten  Ahnungen 
eines  neuen  Geistes.  Die  Erde  ist  eine  Kugel 
(siehe  z.  B.  Fegef.  2.  Ges.).  Die  westliche  Seite 
ist  ganz  vom  Meer  bedeckt,  aus  welchem  nur  der 
Berg  der  Läuterung  in  die  Höhe  ragt.  Ihn  übers 
Meer  hin  erreichen  zu  wollen  ist  Vermessenheit. 
Ulysses  scheiterte  an  seinen  Ufern,  als  er  von  den 
Säulen  des  Herkules  zur  untergehenden  Sonne 
fuhr  (Hölle  26.  Ges.).  —  Der  Drang,  die  unbe- 
kannte Seite  der  Erde  zu  erforschen,  lebt  in  den 
von  Ulysses  handelnden  Versen;  —  er  muß  also 
auch  in  D  an t es  Zeitgenossen  schon  so  rege  ge- 
wesen sein,  daß  der  Dichter  sich  bemüßigt  fühlt, 
vor  überkühnen  Abenteuern  zu  warnen.  —  Die 
alten  Bedenken,  welche  glaubten,  daß  die  Anti- 
poden von  der  Erde  fallen  müßten,  sind  in  Dan- 
tes Zeit  allerdings  schon  längst  zerstreut.  Der 
Dichter  wendet  sich  im  tiefsten  Höllengrund,  im 
Mittelpunkt  der  Erde  um:  „Er  bückte  sich,  um 
häuptiings  uns  zu  wenden,  ich  fühlte  nun  mich 
auf  dem  Kopfe  stehen"  (Hölle  34.  Ges.).  Einen 
Augenblick  später  aber  fühlt  er,  daß  unten  liegt, 
was  bisher  oben  war  und  daß  auf  den  Abstieg 
jetzt  ein  Aufstieg  folgt. 

Weniger  zahlreich  sind  die  eingestreuten  kli- 
matischen und  meteorologischen  Bemerkungen. 
Im  33.  Gesang  der  Hölle  erfahren  wir,  daß  Winde 
„nur  aus  Sonnendunst  entstehen",  und  im  14.  Ge- 
sang des  Fegefeuers  wird  uns  vom  Wasserkreis- 
lauf berichtet. 

Auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  (vgl.  Hölle 
28.  Ges.)  und  Physiologie  ist  Dante  mehr  zu 
Hause.  Im  25.  Gesang  des  Fegefeuers  wird  bei- 
spielsweise die  Frage  der  Zeugung  ausführlich  be- 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


531 


handelt.    „Das  beste  Blut  .  .  .  wir  aufgespart  .  .  . 
Formkraft  gibt  ihm  das  Herz,  das  es  verwahrt.  .  .  . 
Nicht  Glieder  schafft  es,  es  erhält  die  ArtI    Hier- 
zu wird  erst    es  nochmals  zubereitet,    eh    es   zum 
Blutvermischen   niedergleitet.   —   Es   fluten  beide 
nun  in  eins   zusammen,    das    eine    leidet    und  das 
andere    schafft,    nach  Art    des  Herzens,    welchem 
sie  entstammen."  —  Die  Vermischung  bringt  erst 
vegetatives    Leben    hervor,    welches   langsam    zu 
tierischem    Dasein     erwacht.      „Doch    jetzt    muß 
dieses    Tier    zum    Menschen    werden."      Die 
Menschenwerdung   führt  Dante    auf  die  direkte 
Einwirkung    Gottes    zurück,     dessem    Oden    die 
menschliche  Seele  entstammt,  welche  darum  gött- 
lich und  unsterblich  ist  (vgl.  Parad.  7.  Ges.).    Jeder 
Mensch    hat    nur    eine  Seele    und   nicht   wie   die 
Platoniker  meinen,    eine  doppelte,    eine  denkende 
und  eine  fühlende:   „Denn    mehr   als  eine  Seele 
sich    zu    denken    ist  irrig.      Eine    nur    hat    jede 
Brust"  (Fegef.  4.  Ges).   —  Nach  dem  Tode  bildet 
die  Seele  einen  Schattenleib,    mit    dem    sie  Hölle 
oder    Fegefeuer    durchwandert     und    der    nichts 
anderes   ist  als  der  Wiederspiegel  ihres  innersten 
Wesens.     „Denn  jeder  Drang  gestaltet   seinen 
Schatten,   drum   sahst  du   hager   diese   Nimmer- 
satten I" 

Dantes  Stellung  zu  den  beiden  großen  wissen- 
schaftlichen Irrtümern  seiner  Zeit  ist  verschieden. 
Die  Alchymisten  sitzen  als  Fälscher  in  der  Hölle : 
„Da  Minos  selbst,  der  nie  das  Recht  verletzte, 
nur  wegen  Alchymie  hierher  mich  setzte"  (Hölle 
29.  Ges.).  Die  Astrologen  aber,  welche  allerdings 
auch  Betrüger  sein  können,  treiben  eine  nicht 
unberechtigte  Wissenschaft.  Die  Sterne  be- 
stimmen zwar  nicht  das  menschliche  Schicksal, 
denn  der  Wille  ist  frei,  aber  sie  spiegeln  es 
wieder  und  sind  so  aufs  engste  mft  dem  Menschen 
verknüpft.  — 

Die  Fülle  aller  dieser  Einzelheiten  ordnet  sich 
—  mehr  oder  weniger  gut  —  in  ein  umfassendes 
Weltsystem.  Hier  spüren  wir  des  großen  Syste- 
matikers Geist.  Dantes  Welt  ist  die  des  Ari- 
stoteles im  Sinn  des  Thomas  von  Aquino.  Die 
Erde  steht  im  Mittelpunkt.  Um  sie  kreisen  die 
Sphären  der  Planeten  und  der  Fixsternhimmel. 
Das  Ganze  wird  eingeschlossen  durch  die  „erste 
bewegliche  Sphäre"  von  welcher  die  Kraft  für  die 
Bewegung  aller  folgenden  Kreise  stammt.  Diese 
erste  bewegliche  Sphäre  ist  die  Grenze  für  Zeit 
und  Raum,  ja  durch  sie  werden  Raum  und  Zeit 
erst  gebildet,  erst  bestimmt.  „Er  (dieser  Kreis) 
gab  euch  erst  den  Raum!"  —  und  „jede  Schnelle 
wird  nach  ihm  bemessen"  (Parad.  27.  Ges.). 

Diese  letzte  Sphäre  ist  selbst  nicht  mehr  im 
Raum,  Jebt  nicht  mehr  in  der  Zeit;  —  sie  ist  in 
Gott,  der  raumlos,  zeitlos  und  bewegungslos  im 
Empyreum  thront  (vgl.  Parad.  30.  Ges.).  Gott 
ist  reines  Sein.  Seine  Gedanken  aber  werden 
stufenweise  niedergetragen  in  die  raumzeitliche 
Welt  des  Werdens:  „Was  nicht  stirbt,  und  was 
stirbt,  strahlt  das  nur  wieder,  was  Gott  als  Schöpfer 
liebend    sich    gedacht"    (Parad.    13.    Ges.).      Das 


Bindeglied  zwischen  Gott  und  raumzeitlicher  Be- 
wegung bilden  die  jenseits  der  letzten  Sphäre 
kreisenden  Engel.  Sie  entsprechen  den  räum-  und 
zeitlosen  Ideen  der  Platoniker,  den  Müttern  Fausts. 
Ihre  Kreise  sind  das  Urbild  der  Welt.  —  Sie 
übermitteln  Gottes  Kraft  an  den  „Seraph"  den 
Beweger  der  ersten  Sphäre.  „Jetzt  sah  ich,  wie 
den  Reigen  sie  verließen,  des  Urbewegungs- 
quell  der  Seraph  bleibt"  (Parad.  8.  Ges.). 
.  .  .  „den  seel'gen  Geist  nur  recht  verstehen  lerne : 
er  ist  nicht  Gott,  jedoch  von  ihm  gesandt.  Er 
kreist  um  ihn  in  ew'ger  Himmelsferne  und  eint 
an  Kraft  und  Stoff,  was  sich  verwandt". 

Die  im  Seraph  noch  einheitliche  göttliche  Kraft 
wird  im  Ring  (Parad.  2.  Ges.)  der  Fixsterne  ver- 
vielfältigt und  individualisiert.  „Verteilt  wird 
dieses  Sein  im  zweiten  Ringe,  drum  glänzt  ver- 
schieden dessen  Bilderpracht"  (Parad.  2.  Ges.). 

Von  der  Fixsternsphäre  wird  die  göttliche 
Kraft  durch  die  Engel  (Intelligenzen)  der  Planeten- 
kreise bis  zur  Erde  getragen.  Auf  Erden  selbst 
herrscht  Fortuna  als  Gottes  Mittelsperson,  als 
Gottes  Beauftragte,  welche  die  Weltgeschichte 
lenkt. 

Die  diesseftige  Welt  ist  Gottes  Schöpfung. 
Sie  besteht  nicht  von  Ewigkeit  an,  sondern  Raum 
und  Zeit  entstanden  mit  ihr.  Aus  Gott  geboren 
treibt  das  All  zu  Gott  zurück.  Die  Liebe  Gottes 
hält  alles  in  Bewegung,  die  Liebe  zu  Gott  ist  der 
Urgrund  von  Sein  und  Werden.  Alles  bliebe 
„ganz  -ungelöst,  erklärt  es  nicht:  die  Liebe" 
(Parad.  7.  Ges.).  Durch  die  Liebe  wird  ein  irra- 
tionales Prinzip  in  das  Weltbild  eingeführt,  ein 
Prinzip,  um  welches  alle  Gedanken  der  Komedia 
kreisen.  Durch  die  „Hölle"  der  Erkenntnis  ver- 
mag Virgil,  das  Symbol  der  Vernunft,  zu  führen. 
Auf  dem  Berg  der  Läuterung  beginnt  die  Ver- 
nunft zu  versagen.  Die  hingebende  Tat  tritt  an 
ihre  Stelle  —  und  schließlich  vermag  uns  im 
Paradies  nur  die  Liebe,  in  Beatricens  Gestalt  zur 
wahren  Gottesanschauung  zu  erheben.  In  der 
Anschauung  Gottes  aber  wird  alles  erfaßt,  was 
dem  Verstände  unfaßbar  bleibt;  in  der  Anschauung 
Gottes  wird  die  Welt  erlebt:  „Tief  innen  sah  ich 
wunderbar  sich  einen,  in  einem  Buch,  das  Gottes 
Liebe  band,  was  wir  vom  All  zerstreut  zu  sehen 
meinen  .  .  .  Zerrann  das  Bild,  so  hatt  ich  mehr 
vergessen,  als  ich  besaß,  ja  als  .  .  .  die  W  e  1 1  be- 
sessen an  Wissenschaft"  (Parad.  33.  Ges.). 

Tief  wurzeln  Dantes  Gedanken  im  Mittel- 
alter —  aber  sie  sind  auch  hier,  in  ihrer  letzten 
Tiefe  nicht  nur  ein  Abschluß,  sondern  ein  An- 
fang. Sie  weisen  auf  die  schwärmerische,  neu- 
platonische Mystik  der  Renaissance  und  leiten 
über  diese  hinaus  zu  einer  Selbstbescheidung  der 
Vernunft,  welche  einst  in  Galilei  die  neue  Wissen- 
schaft hervorbringen  sollte.  Die  Vernunft  wird 
sich  ihrer  Grenzen  bewußt  und  wird  dadurch 
fähig  gemacht,  die  ihr  gemäße  Arbeit  ganz  zu 
erfüllen:  „Begnügt  mit  dem  euch:  ,was  da  isti' 
auf  Erden,  denn,  solltet  ihr  auch  das  ,warum' 
verstehen.    —    Maria    brauchte    Mutter    nicht    zu 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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werden"  (Fegef.  3.  Ges.).  Diese  Worte  klingen 
wie  eine  Stelle  aus  Galileis  Werken.  Hier  lebt 
ein  Geist,    der  sich  einst   rein   und  klar  aus  aller 


Mystik  erheben  sollte.  Es  ist  der  Geist ,  der 
schließlich  zur  Naturwissenschaft  der  neuen  Zeit 
geführt  hat. 


Was  ist  Pflanzenschutz?^)  "* 

Von  Reg.-Rat  Dr.  Martin  Schwanz, 
Leiter  der  wirtschaftlichen  Abteilung  und  Vorstand  des  Laboratoriums    für  allgemeinen  Pflanzenschutz  der  Biologischen 
[Nachdruck  verboten.]  Reichsanstalt   für  Land-  und  Forstwirtschaft. 

hin  mit  dem  Verhältnis  der  angewandten  Zoologie 


Das  Langersehnte  ist  eingetroffen.  Nahezu  ein 
Vierteljahrhundert  hat  die  Reichsregierung,  haben 
die  Landesregierungen  durch  Sachverständige  und 
Fachinstitute  Pflanzenschutz  treiben  lassen,  Inter- 
essen verfolgt,  von  denen  man  in  der  naturwissen- 
schaftlichen Öffentlichkeit  nichts  wußte  und  nichts 
wissen  wollte.  In  den  meisten  naturwissenschaft- 
lichen Kreisen  fragte  man  nicht  einmal  danach, 
was  Pflanzenschutz  sei. 

Nun  ist  das  anders  geworden.  Die  wirtschaft- 
liche Not  Deutschlands,  die  Notwendigkeit,  alles 
an  die  Steigerung  der  Produktion  der  deutschen 
Landwirtschaft  zu  setzen,  hat  schon  während  des 
Krieges  begonnen ,  die  Aufmerksamkeit  breiter 
naturwissenschaftlicher  Kreise  auf  den  Pflanzen- 
schutz zu  lenken,  denen  es  bisher  fern  gelegen 
halte,  sich  mit  der  Lösung  wirtschaftlicher  Fragen 
zu  befassen. 

Sie  wollen  jetzt  alle  dem  Pflanzenschutz  helfen. 
Man  kommt  mit  Vorschlägen  aller  Art,  wie  das 
Versäumte  nachzuholen  sei,  wie  die  Wissenschaft 
den  Pflanzenschutz  fördern  könnte.  Dieses  Streben 
ist  mit  Dankbarkeit  —  und  nicht  ohne  Genug- 
tuung —  zu  begrüßen.  Ich  vermisse  nur  unter 
den  in  diesem  Wetteifer  aufgeworfenen  vielen 
Fragen  noch  immer  die  eine  Frage:  „Was  ist 
Pflanzenschutz?". 

Die  Meinungen  darüber  scheinen  mir  außer- 
halb der  eigentlichen  Pflanzenschutzkreise  noch 
wenig  geklärt  zu  sein.  Ich  will  versuchen,  dar- 
zulegen, was  man  im  Pflanzenschutz  selbst  unter 
Pflanzenschutz  versteht. 

Ziel  des  Pflanzenschutzes  ist  Steigerung  der 
Erträge  des  Pflanzenbaues  durch  Verhütung  von 
Mißwachs  und  Ernteverlusten.  Er  sucht,  im 
Pflanzenbau  die  günstigsten  Lebensbedingungen 
der  Kulturpflanzen  zu  schaffen  und  zu  erhalten. 
Hierzu  gehört  auch  die  Bekämpfung  der  Pflanzen- 
krankheiten und  Pflanzenschädlinge. 

Deshalb  ist  aber  Schädlingsbekämpfung  schlecht- 
weg noch  kein  Pflanzenschutz,  ebensowenig  wie 
Schädlingsbekämpfung  als  ein  Teil  der  ange- 
wandten Entomologie  oder  besser  gesagt  der  an- 
gewandten Zoologie,  an  sich  allein  das  gesamte 
Aufgabengebiet  der  angewandten  Entomologie 
oder  Zoologie  ausmacht.  Angewandte  Zoologie 
ist  ja  doch  z.  B.  auch  eine  von  der  medizinischen 
Wissenschaft  benötigte  Hilfswissenschaft,  ohne  daß 
sie  beanspruchen  könnte,  die  medizinische  Wissen- 
schaft selbst  vorzustellen.   Ebenso  steht  es  weiter- 


zur  Fischerei,  zur  Viehzucht,  Jagdwissenschaft  usw. 

Grundlage  des  Pflanzenschutzes  ist  die  wissen- 
schaftliche biologische  F"orschung.  Daß  man  nur 
auf  dieser  Grundlage  fruchtbringend  im  Pflanzen- 
schutz arbeiten  kann,  ist  keine  neue  Entdeckung. 
Wenn  das  Häuflein  wissenschaftlicher  Pflanzen- 
schutzforscher jahrzehntelang  klein  geblieben  ist, 
so  tut  man  unrecht,  die  Schuld  hieran  eben 
diesen  kleinen  Häuflein  beizumessen,  das  schon 
in  früheren  Zeiten  der  Mühe  Wert  fand,  sich  statt 
anderen  Problemen  den  Aufgaben  des  Pflanzen- 
schutzes zuzuwenden. 

Pflanzenschutz  ist  keine  Domäne  der  Botanik, 
Zoologie  oder  Chemie,  sondern  ein  Arbeitsgebiet, 
auf  dem  sich  alle  Naturwissenschaften,  die  das 
Wesen  der  belebten  Natur  ergründen  helfen  kön- 
nen, gegenseitig  hilfreich  die  Hand  reichen  müssen. 
An  der  Arbeit  im  Pflanzenschutz  sind  vor  allem 
Botanik,  Zoologie,  Bakteriologie,  Biologie,  Physio- 
logie, Vererbungslehre,  Chemie,  Physik,  Meteoro- 
logie, Geologie,  Phänologie  beteiligt. 

Es  darf  aber  nicht  außer  acht  gelassen  wer- 
den, daß  Pflanzenschutz  nach  dem  Arbeitsziel  eine 
rein  wirtschaftliche  Angelegenheit  ist.  Nur  nach 
den  Arbeitswegen  ist  er  zu  einem  Teil  auch  eine 
wissenschaftliche,  zum  anderen  Teile  aber  gleich- 
falls eine  wirtschaftliche  Angelegenheit. 

Die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  der  land- 
wirtschaftlichen Ertragssteigerung  macht  in 
Deutschland  den  Pflanzenschutz  zu  einer  öffent- 
lichen Angelegenheit. 

Man  hat  im  Pflanzenschutz  die  Pflanzenschutz- 
forschung und  den  Pflanzenschutzdienst  zu  unter- 
scheiden. Beide  sind  eng  miteinander  verknüpft 
und  aufeinander  angewiesen,  sie  müssen  aber 
streng  auseinander  gehalten  werden. 

Die  in  der  Pflanzenschutzforschung  tätigen 
Einzelwissenschaften     arbeiten     in     angewandter 


•)  Vgl.  hierzu  die  in  der  letzten  Zeit  erschienenen  Auf- 
sätze : 

1.  L.  Lindinger,  Ein  neuer  Weg  der  Schädlings- 
forschung.    Nalurw.   Wochenschr.   1921,  Nr.   17,  S.  255. 

2.  J.  Wilhelmi,  Die  Bekämpfung  der  gesundbeillichen 
upd  wirtschaftlichen  Schädlinge.  Veröfi.  aus  dem  Gebiete  der 
Medizinalverwaltung.     Berlin   1921,    XII.  Bd.,    2.  Helt,  S.  63. 

3.  J.  Wilhelmi,  Zu  Ausgestaltung  der  Schädlingsbe- 
kämpfung.    Naturw.  Wochenschr.   1921,  Nr.  21,  S.  312. 

4.  K.  Escherich,  Angewandte  Entomologie  und  Phyto- 
pathologie. Zeitschr.  f.  angew.  Entomologie  Bd.  VII,  Heft  2, 
S.  441. 

5.  L.  Reh,  Die  Ausbildung  der  praktischen  Zoologen. 
Ebenda  S.  447. 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Richtung,  d.  h.  zur  Erzielung  wirtschaftlicher  Er- 
folge, an  der  Lösung  von  Einzelaufgaben  des 
Pflanzenschutzes.  Der  Pflanzenschutzdienst  sucht 
die  wissenschaftlichen  Ergebnisse  der  Forschung 
zur  Nutzanwendung  zu  bringen,  die  Tagesfragen 
des  Pflanzenschutzes  nach  dem  jeweiligen  Stande 
der  Wissenschaft  möglichst  nutzbringend  zu  be- 
antworten. Die  Pflanzenschutzforschung  ersinnt, 
schmiedet  und  verbessert  unausgesetzt  das  Hand- 
werkszeug, mit  dem  der  Pflanzenschutzdienst  all- 
jährlich der  Landwirtschaft  hilft,  die  Pflanzen  an- 
zubauen und  die  Ernte  einzubringen.  Bei  dieser 
praktischen  Arbeit  sammelt  der  Pflanzenschutz- 
dienst praktische  Erfahrungen,  die  wiederum  für 
die  Forschung  richtunggebend  sein  müssen.  Die 
praktische  Durchführung  des  Pflanzenschutzes  liegt 
unmittelbar  im  Interesse  des  Volkswohles.  Pflanzen- 
schutzdienst ist  daher  auch  unmittelbar,  Pflanzen- 
schutzforschung aber  nur  mittelbar  (durch  den 
Pflanzenschutzdienst)  öflentliche  Angelegenheit. 

Pflanzenschutzforschung  ist  wie  jede  andere 
wissenschaftliche  Betätigung  frei.  Sie  muß  in 
ihrer  Auswirkung  frei  sein  und  ist  daher  unorgani- 
sierbar.  Der  Pflanzenschutzdienst  ist  an  politisch 
umgrenzte  wirtschaftliche  Gebiete  gebunden,  die 
er  fortlaufend  pünktlich  zu  versorgen  hat.  Er 
muß  deshalb  innerhalb  dieser  organisiert  sein. 
Diese  Organisation  macht  ihn  zu  einem  Werk- 
zeug des  Staates  für  die  Förderung  des  Volks- 
wohles, aber  auch  zu  einem  Werkzeug  der  Wissen- 
schaft für  die  Heranschaffung  von  Erfahrungs- 
tatsachen. 

Die  Anfänge  der  jetzt  in  Deutschland  bestehen- 
den Organisation  des  amtlichen  Pflanzenschutz- 
dienstes reichen  bis  in  die  Zeit  der  im  Jahre  1899 
erfolgten  Gründung  der  Biologischen  Abteilung 
beim  Kaiserlichen  Gesundhehsamt  zurück,  aus 
der  sich  die  jetzige  Biologische  Reichsanstalt  für 
Land-  und  Forstwirtschaft  entwickelte.  Damals 
wurden  gleichzeitig  oder  bald  darauf  die  staat- 
lichen Pflanzenschutzanstalten  der  Bundesstaaten 
eingerichtet,  deren  Gesamtheit  auf  Veranlassung  der 
Reichsregierung  in  der  Zeit  von  1903—1905  unter 
Führung  der  BiöTbgischen  Reichsanstalt,  als  der 
zuständigen  Reichsbehörde,  zur  Organisation  des 
deutschen  Pflanzenschutzdienstes  zusammenschloß. 
Jahrzehntelang  waren  diese  staatlichen  Pflanzen- 
schutzanstalten, die  man  ja  doch  für  die  unmittel- 
bare praktischeVerwertungbiologischer  Forschungs- 
ergebnisse, d.  h.  zur  Ausübung  des  praktischen 
Pflanzenschutzdienstes  gegründet  hatte,  gezwungen, 
die  für  ihre  Arbeiten  nötigen  spezialwissenschaft- 
lichen Grundlagen  sich  vorwiegend  allein  zu 
schafi"en.  Da  außerhalb  dieser  Anstalten  nur  ganz 
vereinzelte  Vertreter  der  Naturwissenschaften  für 
den  Pflanzenschutz  Interesse  zeigten,  blieb  die 
F'örderung  der  Pflanzenschutzforschung  den  An- 
gehörigen des  amtlichen  Pflanzenschutzdienstes 
fast  allein  überlassen.  Bei  der  großen  Vielge- 
staltigkeit der  Aufgaben  des  Pflanzenschutzes 
mußte  die  kleine  Schar  seiner  Diener  sich  außer- 
ordentlich vielseitig  betätigen  und,  um  den  vieler- 


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lei  an  sie  herantretenden  Fragen  nach  Kräften 
gerecht  werden  zu  können,  sich  auf  allen  Gebieten 
der  Hilfswissenschaften  des  Pflanzenschutzes  gleich- 
zeitig einarbeiten.  Ohne  Zweifel  hätte  wohl 
manche  Einzelfrage  des  Pflanzenschutzes  ihrer 
Lösung  rascher  und  besser  entgegengeführt  wer- 
den können,  wenn  ihre  Erforschung  von  einem 
nicht  mit  Pflichten  des  Pflanzenschutzdienstes  be- 
lasteten Spezialisten  aufgenommen  und  durchge- 
führt worden  wäre.  Solche  Spezialisten  wollten 
sich  jedoch  nicht  finden  lassen. 

Jetzt    haben    sich    die   Verhältnisse    geändert. 
Deutschland   verfügt    heute   nicht   nur   über   eine 
Organisation    für    die  Ausübung    des    praktischen 
Pflanzenschutzdienstes,    sondern    auch    äußerhalb 
dieser   Organisation   über   eine    wachsende   Schar 
von    Vertretern    der    angewandten    Naturwissen- 
schaften,  die   sich  der  freien  Forschung    auf  dem 
Gebiete  des  Pflanzenschutzes  widmen.   Vor  allem 
ist   es   dem  Vorkämpfer   der   angewandten  Ento- 
mologie    Escherich     zu     verdanken,     daß     in 
Deutschland    nicht    nur     die    angewandte    Ento- 
mologie   aufblühen    konnte,    sondern    daß    auch 
zahlreiche  Vertreter  dieser  Wissenschaft  sich  dem 
fruchtbaren    Arbeitsgebiete    des    Pflanzenschutzes 
zuwandten.     Diese  günstige  Wendung   der  Dinge 
mußte     der     Pflanzenschutzforschung     wie     dem 
Pflanzenschutzdienst   in    gleicher    Wese   förderlich 
zugute  kommen.     Das  Eingreifen  zahlreicher  Spe- 
zialisten in  die  Pflanzenschutzforschung   führte  zu 
einer     gründlicheren     Lösung      wissenschaftlicher 
Einzelfragen    des    Pflanzenschutzes     und    besserte 
und  befestigte  dadurch    die  Grundlage   des    prak- 
tischen Pflanzenschutzdienstes.    Der  Pflanzenschutz- 
dienst   wurde   aber  jetzt   auch    stark  entlastet,  da 
seine  Vertreter    nunmehr   die    ihnen    früher  allein 
zugefallenen    Aufgaben   der   Erforschung   der   von 
ihnen    zu    behandelnden    Erscheinungen    mit    den 
Vertretern    der   reinen  Forschung   teilen  konnten. 
Es  ist  zu  hoffen,  daß  die  im  Interesse  der  Förde- 
rung   auf    beiden    Arbeitsgebieten    anzustrebende 
reinliche     Scheidung      zwischen     Pflanzenschutz- 
forschung  und  Pflanzenschutzdienst   mit   der  Zeit 
immer  besser   wird  durchgeführt  werden  können. 
Wenn  in  den  Kreisen  des  Pflanzenschutzdienstes 
häufig  darauf  hingewiesen  worden  ist,  daß  Pflanzen- 
schutz   und    Medizin    miteinander    zu    vergleichen 
seien,  so  ist  dieses  so  zu  verstehen,  daß  den  mit 
der  Ausführung   des   praktischen   Pflanzenschutz- 
dienstes   beauftragten    Fachleuten    eine    ähnliche 
Rolle  zukommt,  wie  den  praktischen  Ärzten.    Die 
Spezialforschung  sollte  diesen  Fachleuten  und  den 
für  den  Pflanzenschutzdienst  errichteten  Instituten 
abgenommen  und  freien  Forschern  in  besonderen 
Forschungsinstituten     zugewiesen     werden.      Die 
Forderung,  daß  man  im  Pflanzenschutzdienst  keine 
Trennung  der  Institute  und  Beratungsstellen  nach 
Spezialfächern,    z.  B.  Zoologie    und   Botanik    vor- 
nehmen dürfe,   wird  jedem    einleuchten,    der    mit 
der  Praxis  des  Pflatizenschutzdienstes  zu  tun  hat. 
Ebensowenig  wie  der  praktische  Arzt,   der   seine 
Patienten  in  allen  vorkommenden  Fällen   beraten 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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muß,  nur  über  Kenntnisse  in  einem  Spezialfach 
seiner  Wissenschaft  verfügen  darf,  darf  der  im 
Pflanzenschutzdienst  tätige  Fachmann  nur  ein  ein- 
seitiger Spezialist  sein. 

Der  Entwicklungsgang,  den  der  deutsche  Pflanzen- 
schulz über  den  Pflanzenschutzdienst  zu  einer  von 
diesem  Pflanzenschutzdienst  sich  immer  mehr 
trennenden  Pflanzenschutzforschung  geführt  hat, 
hatte  trotz  allen  Schwierigkeiten,  die  auf  dem 
eingeschlagenen  Wege  den  bisherigen  Vertretern 
des  Pflanzenschutzdienstes  erwuchsen,  doch  die 
gute  Folge,  daß  jetzt,  wo  die  Notlage  des  Reiches 
das  Eingreifen  eines  leistungsfähigen  Pflanzen- 
schutzdienstes erfordert,  dieser  Dienst  bereits  fertig 
eingerichtet  ist  und  über  tüchtige,  vielseitig  ge- 
bildete, praktisch  erfahrene  Kräfte  verfügt. 

Wenn  zwischen  den  rein  wissenschaftlichen 
Kreisen,  die  sich  nunmehr  dem  Pflanzenschutz 
zuwenden,  und  den  von  ihnen  bisher  isolierten 
Vertretern  des  praktischen  Pflanzenschutzdienstes 
Mißverständnisse  aufkommen  konnten,  so  liegt  die 
Schuld  vielleicht  auf  beiden  Seiten.  Beide  sind 
in  der  Vergangenheit  ihre  Wege  zu  sehr  allein 
gegangen,  so  daß  sie  jetzt  beim  endlichen  Zu- 
sammenkommen Schwierigkeiten  haben,  ihre  Ar- 
beitsbegriffe miteinander  zu  vergleichen.  Ganz 
abgesehen  davon,  daß  man  Begriffe  wie  Pflanzen- 
schutz, Schädlingsbekämpfung  und  angewandte 
Entomologie  miteinander  vermengte  und  ver- 
wechselte, sind  noch  neu  gebildete  Worte  und 
Begriffe  aufzuklären.  So  hat  die  vielleicht  nicht 
ganz  glücklich  gewählte  Bezeichnung  Phytopatho- 
logen  für  den  neuen  Berufsstand  der  Vertreter 
des  praktischen  Pflanzenschutzdienstes  zu  der 
mißverständlichen  Auffassung  geführt,  es  handle 
sich  bei  diesen  Vertretern  lediglich  um  Erforscher 
von  Pflanzenkrankheiten,  d.  h.  besonders  myko- 
logisch  und  physiologisch  arbeitende  Botaniker. 
Man  hat  geglaubt,  der  amtliche  deutsche  Pflanzen- 
schutzdienst, der  seine  Beamten  vielfach  als  Phyto- 
pathologen  bezeichnete,  forderte,  das  Pflanzenschutz 
lediglich  von  Botanikern  auszuüben  sei.  Die  weitere 
Verwechslung  von  praktischem  Pflanzenschutz,  d.  h. 
Pflanzenschutzdienst  mit  Pflanzenschutzforschung 
führte  zu  der  irrigen  Meinung,  die  amtlichen  Stellen 
des  Pflanzenschutzes  wollten  die  Vertreter  der 
anderen  Spezialwissenschaften,  insbesondere  der 
Zoologie,  von  der  Betätigung  im  Pflanzenschutz 
überhaupt  ausgeschlossen  sehen.  Die  Größe  dieser 
Irrtümer  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  wenn  man 
bedenkt,  daß  in  der  zuständigen  Reichsbehörde 
für  Pflanzenschutz  an  der  Spitze  der  wirtschaft- 
lichen Abteilung,  welche  die  auf  praktischen  Ge- 
bieten arbeitenden  vierzehn  landwirtschaftlich-bio- 
logischen Laboratorien  umfaßt,  ein  Zoologe  steht, 
und  daß  diesem  Zoologen  auch  das  Laboratorium 
für  allgemeinen  Pflanzenschutz  unterstellt  ist. 
Ferner  darf  doch  der  Umstand  nicht  außer  acht 
gelassen  werden,  daß  von  den  32  wissenschaft- 
lichen Beamten  der  Reichsanstalt  15  Zoologen 
von  Fach  sind. 

Es    ist    auch    unrichtig,    wenn    immer    wieder 


behauptet  wird,  in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  sei  das,  was  man  in  Deutschland  Pflanzen- 
schutz nennt,  lediglich  Aufgabe  der  angewandten 
Entomologie.  Die  Biolog-ische  Reichsanstalt  für 
Land-  und  Forstwirtschaft  ist  nicht  mit  dem 
Bureau  of  Entomology,  sondern  mit  der  Gesamt- 
heit der  Fachinstitute  des  Departement  of  Agri- 
culture  zu  vergleichen,  nur  mit  dem  Unter- 
schiede, daß  sie  viel  jünger  und  unter  ganz 
anderen  Entwicklungsbedingungen  erwachsen  ist 
und  sich  mit  dem  amerikanischen  Rieseninstitut 
auch  nicht  in  einem  kleinen  Teil  messen  kann. 
Die  Arbeitsaufgaben,  die  in  Amerika  je  einem 
großen  „Bureau"  mit  zahlreichen  Unterabteilungen 
zugewiesen  sind,  fallen  in  Deutschland  je  einem 
Laboratorium  mit  wenigen  Hilfskräften  zu.  Eben- 
so steht  es  mit  der  Organisation  des  Pflanzen- 
schutzdienstes im  Deutschen  Reiche,  die  erst 
unter  Mitwirkung  der  Biologischen  Reichsanstalt 
für  Land-  und  Forstwirtschaft  geschaffen  werden 
mußte  und  sich  aus  ganz  kleinen  Anfängen  zu 
entwickeln  hatte.  In  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  verfügt  jeder  Staat  seit  langem 
über  eine  kompetente  landwirtschaftliche  Ver- 
suchsstation mit  einem  Stab  von  Sachverstän- 
digen, unter  denen  sich  nicht  nur  Entomologen, 
sondern  auch  Vertreter  der  übrigen  Hilfswissen- 
schaften des  Pflanzenschutzes  befinden.  Außer- 
dem hat  fast  jeder  Staat  noch  eine  landwirt- 
schaftliche Schule,  wo  alle  Fachwissenschaften, 
darunter  auch  allgemeine  und  angewandte  Botanik, 
Entomologie  und  Phytopathologie  gelehrt  werden. 
Daneben  sind  zahlreiche  County  agents  oder 
Field  agents  als  praktische  beratende  Sachver- 
ständige tätig,  denen  ein  Hauptteil  der  Auf- 
gaben der  deutschen  amtlichen  „Phytopathologie" 
zufällt. 

Alle  diese  vielseitigen  Einrichtungen  haben 
in  Amerika  frühzeitig  zur  Arbeitsteilung  und 
damit  zu  einer  gesunden  und  kräftigen  Ent- 
wicklung nach  jeder  Spezialrichtung  hin  geführt. 
In  Deutschland  hat  es  aus  den  schon  dargelegten, 
in  der  Entwicklung  des  deutschen  Pflanzen- 
schutzes liegenden  Gründen,  an  der  Möglichkeit 
einer  solchen  gedeihlichen  Arbeitsteilung  bisher 
gefehlt.  Die  Anfänge  sind  jedoch  in  der  während 
der  letzten  Jahre  vollzogenen  Umgestaltung  der 
Biologischen  Reichsanstalt  für  Land-  und  Forst- 
wirtschaft und  dem  im  Ausbau  begriffenen  deut- 
schen Pflanzenschutzdienst  geschaffen  worden. 
Aufgabe  aller  an  dem  deutschen  Pflanzenschutz- 
dienste und  dem  Wohle  des  deutschen  Volkes 
interessierten  Kreise  sei  es,  an  dem  in  Angriff 
genommenen  Werke  nach  Kräften  mitzuarbeiten 
und  sich  deshalb  zunächst  von  dem  zu  unter- 
richten, was  der  deutsche  Pflanzenschutz  bedeutet 
und  was  und  mit  welchen  Mitteln  auf  diesem 
Gebiete  gearbeitet  und  geschaffen  wird. 

Die  Biologische  Reichsanstalt  für  Land-  und 
Forstwirtschaft  hat  alle  am  Pflanzenschutz  inter- 
essierten deutschen  Fachleute  gebeten,  für  die 
Ziele     des    deutschen    Pflanzenschutzes     mitzuar- 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


535 


beiten,  und  ist  jederzeit  bereit,  jedem  ernstlich 
interessierten  Fachmann  mit  ihren  Arbeitsmitteln 
bei  der  Arbeit  zu  helfen.  Bei  der  Größe  des 
Arbeitsgebietes  und  der  Fülle  der  Arbeitsaufgaben 
ist  sie  auf  die  regste  Mitarbeit  aller  interessierten 
Kreise  angewiesen  und  für  jede  Unterstützung 
dankbar.  Deshalb  ist  die  von  Lindinger  aus- 
gegangene Anregung,  die  naturwissenschaftlichen 
Vereine  und  Gesellschaften  möchten  sich  an  der 
systematischen  Durchforschung  Deutschlands  auf 
seine  Schädlinge  beteiligen,  nur  zu  begrüßen,  so 
irrig  auch  sonst  die  in  seinem  Aufsatz  vertretene 
Auffassung  vom  deutschen  Pflanzenschutzdienst, 
seiner  Organisation  und  deren  Arbeitsweise  ist. 
Es  ist  ihm  offenbar  auch  noch  nicht  bekannt  ge- 
worden, daß  die  Biologische  Reichsanstalt  für 
Land-  und  Forstwirtschaft  mit  Hilfe  der  bestehen- 
den amtlichen  Organisation  des  Pflanzenschutz- 
dienstes seit  mehr  als  einem  Jahre  die  systema- 
tische Durchforschung  des  Reichsgebietes  auf 
seine  Pflanzenschädlinge  in  Angriff  genommen 
hat,  und  daß  man  dabei  ist,  das  für  ein  solches 
Unternehmen  nötige  Beobachternetz  mit  allen 
Mitteln,  auch  unter  Heranziehung  der  von  Lin- 
dinger ins  Auge  gefaßten  Kreise,  möglichst 
leistungsfähig  auszubauen. 


Bei  genügender  Kenntnis  des  deutschen  Pflanzen- 
schutzes, seiner  Aufgaben  und  seiner  Einrichtungen 
wird  man  auch  leicht  einsehen,  daß  Vorschläge, 
die  darauf  abzielen,  den  Pflanzenschutz  mit  der 
Schädlingsbekämpfung  und  Ungeziefervertiigung 
in  der  Menschen-  und  Tierhygiene,  in  der  Wasser- 
hygiene, Fischerei,  Hauswirtschaft  und  Industrie 
zu  einer  Organisation  für  die  Überwachung  und 
Vereinheitlichung  des  gesamten  Schädlingswesens 
zusammenzufassen,  ein  Unding  sind.  Bevor  man 
auf  die  Suche  nach  einem  Reichskommissar  ginge, 
der  einer  solchen  organisatorischen  Aufgabe  ge- 
wachsen wäre,  würde  vor  allem  erst  der  zur 
Unterstützung  dieses  Verwaltungsbeamten  vorge- 
sehene, das  gesamte  Gebiet  des  Schädlingswesens 
übersehende  wissenschaftliche  Beamte  (Universal- 
„Bionom")  ausfindig  zu  machen  sein.  Ein  solches 
Unterfangen  könnte  den  Sachkenner  anmuten  wie 
z.  B.  die  Schaffung  eines  Reichskommissariates 
für  die  Überwachung  und  Vereinheitlichung  des 
gesamten  Räderwesens,  ohne  Rücksicht  auf  die 
Art  und  Beschaffenheit  der  Räder,  ihrer  Zwecke 
und  der  Betriebe,  in  denen  sie  laufen  1 

Pflanzenschutz  will  wirtschaftliche  Werte  er- 
arbeiten helfen.  Das  kann  nur  auf  dem  Boden 
der  Wirklichkeit  gelingen. 


Einzelberichte. 


Über  die  Funktion   der  sog.   „Hydropoten" 
bei  Wasserpflanzen. 

In  neuerer  Zeit  hat  Mayr  eigenartige  Organe 
an  Wasserpflanzen  beschrieben,  die  er  als  Hydro- 
poten (=  Wassertrinker)  bezeichnet  in  der  An- 
nahme, daß  es  Gebilde  sind,  die  der  Aufnahme 
von  Flüssigkeit  aus  dem  umgebenden  Milieu  die- 
nen. Es  handelt  sich  um  Zellgruppen,  die  sich 
morphologisch  von  der  Umgebung  deutlich  ab- 
heben, stark  durchlässige  Außenwände  besitzen 
und  sehr  oft  eine  deutliche  Zuordnung  zu  den 
Nerven  der  Blätter,  den  Wasserleitungsbahnen, 
erkennen  lassen.  Nach  der  allgemeinen  Auffas- 
sung, die  man  von  den  Wasserleitungsverhältnissen 


entsprechenden  Apikaiöffnungen  der  Wasserpflan- 
zen, die  durch  Abstoßung  von  Gewebepartien  Zu- 
standekommen, im  Dienste  der  Wasseraurscheidung 
stehen.  Sie  würden  also  die  Spaltöffnungen  der 
Landpflanzen,  welche  die  Transpiration,  die  bei 
den  Wasserpflanzen  wegfällt,  regeln,  ersetzen. 
Diese  Auffassung  wird  von  Riede  (Flora,  114, 
1920)  eingehend  geprüft.  Er  bestimmte  zunächst 
bei  zahlreichen  Wasserpflanzen  das  Verhältnis 
Sproßgewicht  :  Wurzelgewicht  und  fand  —  wie 
zu  erwarten  —  daß  das  Wurzelsystem  den  Land- 
pflanzen gegenüber  stark  zurücktritt  —  bis  zu 
vollständigem  Verschwinden.  Vom  Mayr  sehen 
Standpunkt  aus  wäre  nun  zu  erwarten  gewesen, 
daß   die  Zahl    der  Hydropoten  um  so  größer  ist. 


der    Hydrophyten    hat,    hat     die    Deutung    von     je  weniger  Wurzeln  vorhanden  sind,  da  die  Hydro- 
Mayr  manches  Bestechende.     Das  Wurzelsvstem      nntpn  Ja  HiV  PunUi^r,  ^»^  \a7.,.-,„i„  „.„„.„ ii._ 


lyr  manches  Bestechende.  Das  Wurzelsystem 
ist  vielfach  sehr  stark  reduziert,  die  Gefäße  und 
Tracheiden  sind  verkümmert,  und  die  Kutikula, 
die  bei  Landpflanzen  einen  soliden  Abschluß  nach 
außen  bildet,  verschwindet.  Das  sind  alles  Mo- 
mente, die  dafür  sprechen,  daß  die  Wasser-  und 
Nährsalzaufnahme  durch  die  Oberfläche  des 
Sprosses,  insbesondere  der  Blätter  stattfindet.  Von 
diesem  Standpunkt  wäre  es  also  sehr  wohl  mög- 
lich, daß  sich  besondere  Organe  herausbildeten, 
die  diesen  Verkehr  erleichtern.  Hält  man  sich 
aber  lediglich  an  die  morphologischen  Charaktere 
der  Hydropoten,  dann  ist  auch  die  umgekehrte 
Deutung  möglich,  daß  sie  analog  den  Hydathoden, 
den  Wasserspalten,  und  den  diesen  einigermaßen 


poten  ja  die  Funktion  der  Wurzeln  ersetzen  sollen. 
Dies  hat  sich  aber  keineswegs  bestätigt.  Riede 
führt  nun  zahlreiche  Experimente  an,  die  für  die 
andere  Auffassung  sprechen.  Er  kultivierte  Wasser- 
pflanzen unter  sonst  gleichen  Bedingungen  zum 
Teil  in  festgewurzelten,  zum  Teil  in  schwimmen- 
dem Zustand.  Es  zeigte  sich,  daß  die  festgewur- 
zelten Individuen  viel  besser  gediehen.  Das  be- 
sagt, daß  das  Vorhandensein  der  Wurzeln  nicht 
gleichgültig  ist,  daß  sie  vielmehr  imstande  sind, 
die  Nahrungsaufnahme  wesentlich  zu  fördern. 
Ferner  wurden  die  hydropotenführenden  Partien 
von  Wasserpflanzen  mit  Paraffin  überzogen,  das 
eine  Wasseraufnahme  unmöglich  machte,  und 
trotzdem  gediehen  die  Objekte  ohne   wahrnehm- 


536 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


bare  Störungen.     Weiterhin  wurden   die  Wurzeln 
von     Myriophyllum     (Tausendblatt)     und    Elodea 
(Wasserpest)   mit  Ferrocyankalium    in    Berührung 
gebracht  und   das  Aufsteigen    dieses   Stoffes,    der 
sich  sehr  leicht  mit  Ferrichlorid  als  Berliner  Blau 
nachweisen  läßt,  kontrolliert.     Es   zeigte  sich  ein 
sehr    intensives    Vordringen    des    Stoffes    in    die 
Sproßregion  und  insbesondere  bei  Limnanthemum 
(Teichblume)  glückte  der  Nachweis,  daß  die  Hydro- 
poten  starke  Ansammlungen  von  Ferrocyankalium 
aufweisen,  eine  Tatsache,    die   mit  ihrer  Deutung 
als    Ausscheidungsorgane   in    schönstem    Einklang 
steht.     Im  Anschluß  daran  wurden  Wasserpflanzen 
in    zwei    verschiedene    Gefäße    getaucht,    derart, 
daß  sich  die  Wurzel  im  einen,  die  Blattspreite  im 
andern,  der  Blattstiel  aber  als  Verbindungsbrücke 
in  Luft  befand.     Es  ergab  sich  nun,  daß  der  Stiel 
an    der   Basis    frisch    blieb,    an    der    Spitze    aber 
welkte,    was   mit   der    reichlichen  Aufnahme  von 
Flüssigkeit  durch  die  Hydropoten  im  Widerspruch 
steht.      Nach    derselben  Richtung   wiesen  Experi- 
mente,  bei  denen   beide  Gefäße  Ferrocyankalium 
enthielten.     Das    Eisensalz    drang    von    der    Basis 
aus  sehr  weit  vor,  während  es  an  der  Spitze  mehr 
oder  minder  lokalisiert  blieb.     Um  eine  quantita- 
tive   Vorstellung    von     dem    Saugvermögen    der 
Wurzel  zu  erhalten,    wurden  Potetometerversuche 
angestellt,  d.  h.,  die  Wurzeln  wurden  in  ein  Gefäß 
eingetaucht,  das  eine  Messung  der  aufgenommenen 
Wassermengen   ermöglichte.      Der   Sproß    befand 
sich  ebenfalls  in  Wasser,  aber  Wurzel-  und  Sproß- 
pol waren  durch  eine  Scheidewand  getrennt.    Auch 
auf  diesem  Wege  ergab  sich  ein  deutlicher  Wasser- 
anstieg von  der  Wurzel  aus;   wurden  die  Hydro- 
poten des  Sproßteils  mit  Paraffin  verschlossen,  dann 
war    die   Wasseraufnahme    stark    gehemmt;    das 
deutet  ebenfalls  darauf  hin,    daß    die  Hydropoten 
der   Sekretion    dienen.      Durch   Verwendung   von 
Doppelpotetometern,  an  denen  man  nicht  nur  die 
Aufnahme   durch    die  Wurzel,    sondern    auch    die 
Abgabe    durch    den    Sproß    in    die    umgebende 
Flüssigkeit    feststellen  konnte,    ergänzte  das  Bild; 
es  zeigte  sich,  daß  der  aufwärts  gerichtete  Wasser- 
strom zwar  geringer  ist  als  bei  Landpflanzen,  daß 
er  aber  doch  deutlich  vorhanden  ist.    Das  deutet 
—   in  Verbindung    mit    der    Tatsache,    daß    die 
Hydrophyten  nach  Hannig  dasselbe    osmotische 
Gefälle   wie    die    Landpflanzen    besitzen   und    daß 
Wieler  die  Erscheinung  des  Blutens,  das  ja  auf 
dem  Wurzeldruck  beruht,  auch  bei  Wasserpflanzen 
beobachtet  hat,  darauf  hin,  daß  das  Saftsteigen  — 
wenn  wir  von  den   wurzellosen  Schwimmpflanzen 
absehen,    sich    bei    beiden   biologischen   Gruppen 
in  derselben  Weise  abspielt,  wenn  auch  erhebliche 
quantitative  Differenzen  bestehen.     Mit  Rücksicht 
auf  die  Hauptfrage  aber  ergibt  sich,  daß  die  Hy- 
dropoten im  wesentlichen  nicht  Aufnahme-,    son- 
dern Ausscheidungsorgane  sind,   worauf  auch  die 
gelegentliche     Beobachtung     von     Sekreten     bei 
Limnanthemum  und  Aponogeton  hindeutet. 

Peter  Stark. 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Neue  ForschuDgeu  auf  dem  Gebiete  der 
Stellarastrouomie. 

Über  seine  Studien  an  Sternhaufen  auf 
Grund  photographischer  Aufnahmen  berichtet 
Shapley  im  Astrophysical  Journal  (Sept.  1920). 
Auffallend  ist  zunächst  der  hohe  Prozentsatz  ver- 
änderlicher Sterne  innerhalb  der  Sternhaufen,  so- 
wie die  Kürze  der  Perioden  dieser  Veränderlichen. 
In  8  Sternhaufen  wurden  nicht  weniger  als  88  Ver- 
änderliche mit  fast  durchweg  weniger  als  einen 
Tag  betragenden  Perioden  gefunden.  —  Da  von 
einer  Reihe  von  Sternhaufen  die  Parallaxe  be- 
kannt und  auch  ihre  Gesamthelligkeit  durch 
Holetschek  gemessen  ist,  konnten  auch  die 
absoluten  Helligkeiten  dieser  Objekte  berechnet 
werden.  Sie  ergaben  sich  innerhalb  ziemlich  enger 
Grenzen  als  nahezu  gleich,  im  Mittel  zu  8,8+0,5  magn. 
Die  gesamte  Lichtemission  eines  Sternhaufens 
würde  danach  im  Mittel  etwa  das  275  000  fache 
der  Sonnenstrahlung  sein. 

Besonders  interessant  ist  der  Nebel  N.S.  C.  7789, 
dessen  scheinbarer  Durchmesser  etwa  20'  beträgt^ 
während  die  Entfernung  auf  3300  parsec  *)  ge- 
schätzt wird.  In  diesem  Sternhaufen,  der  sonach 
einen  wahren  Durchmesser  von  etwa  20  parsec 
haben  dürfte,  wurden  1 104  Sterne  meist  zwischen 
17.  und   19.  Größe  gezählt. 

Als  durchschnittliche  Sterndichte  im  Milch- 
straßensystem zwischen  +32"  und  — 20''  galak- 
tischer  Breite  findet  Shapley  für  den  Quadrat- 
grad 23000  Sterne  bis  zur  20.  Größe. 

Der  erste  Nachweis  von  Störungen  außer- 
halb des  Sonnensystems  wurde  von  Paras- 
kevopoulos  an  dem  spektroskopischen  Doppel- 
stern 13  Ceti  erbracht.  13  Ceti  ist  zunächst  ein 
visueller  Doppelstern  mit  einer  Umlaufszeit  von 
6,88  Jahren;  die  hellere  Komponente  ist  ihrerseits 
ein  spektroskopischer  Doppelstern  von  etwa  zwei- 
tägiger Periode.  In  der  Bahnbewegung  des 
spektroskopischen  Doppelsterns  zeigten  sich  nun 
Störungen,  die  durch  die  gravitierende  Ein- 
wirkung des  visuellen  Begleiters  hervorgerufen 
werden.  So  ist  denn  die  Gültigkeit  des  Gravi- 
tationsgesetzes im  Fixsterngebiet  nunmehr  nicht 
nur  indirekt  durch  die  Befolgung  der  Kepler- 
schen  Gesetze  seitens  der  Doppelsterne,  sondern 
auch  direkt  durch  die  Beobachtung  dieser  Stö- 
rungen erwiesen. 

Am  veränderlichen  Stern  (3  C  e  p  h  e  i  war  von 
Hertzsprung  eine  jährliche  Verkürzung  der 
Periode  um  0,079  Sekunden  bemerkt  worden.  Eine 
Bearbeitung  des  handschriftlichen  Nachlasses  von 
Schwerd  durch  Ludendorff  (Astr.  Nachr. 
Nr.  5076)  konnte  die  Realität  dieser  Perioden- 
änderung dadurch  bestätigen,  daß  Schwerds 
Beobachtungen  desselben  Veränderlichen  aus  den 
Jahren  1823  bis  1826  eine  entsprechend  längere 
Periode  erkennen  lassen.  Kbr. 


')  Die  in  der  Slellarastronomie  übliche  Einheit  ,,l  parsec" 
oder  „Sternweite"  entspricht  einer  Entfernung  von  3,2  Licht- 
jahren,   bei  der    die  jährliche  Parallaxe  eine  Sekunde  beträgt. 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


537 


Eiu  iuteressanter  Doppelstern  vom  Algoltypus. 

Der    regelmäßige    Lichtwechsel     des    Sternes 
Algol  im  Perseus  läßt  sich  bekanntlich  aufs  exak- 
teste durch  die  Annahme  erklären,  daß  wir  einen 
Doppelstern  vor  uns  haben,  dessen  eine  Kompo- 
nente jedoch    dunkel   ist    und  bei   jedem  Umlauf 
die    helle  Komponente  fast   völlig  bedeckt.     Die 
Richtigkeit  dieser  Hypothese  ist  durch   die  spek- 
troskopisch   festgestellte,    periodische    Bewegung 
des  leuchtenden  Sterns  in  Richtung  der  Gesichts- 
linie  erwiesen   worden   und  in   neuerer  Zeit  sind 
noch     gegen    hundert     ähnlicher,     veränderlicher 
Sterne    vom    „Algol-Sypus"    aufgefunden    worden. 
Ein    interessantes    Glied    dieser    Gruppe    ist    der 
Stern   RT  Lacertae   {a  =  2i^S7A''\  ö  =  +  4Z°2^' 
für  1900),  dessen  Bahnelemente  von  W.  Fowler 
sehr  vollständig  bestimmt  werden  konnten  (Astro- 
phys.  Journal,  Nov.  1920).      Die    Bahnebene   läuft 
fast  genau   durch   die  Sonne,   so   daß  alle  5. 07 39 
Tage    eine    beinahe    zentrale  Bedeckung   der   an- 
nähernd gleich  und  zwar  sehr  großen  Sterne  ein- 
tritt,   die   nur  wenig  mehr  als    einen  Sterndurch- 
messer voneinander  entfernt  sind.     Dadurch  sinkt 
dann  die  Helligkeit  von  der  Größenklasse  8,8  auf 
9,4   herab,    wie    es    z.  B.   zur    Epoche    Jul.    Tag 
2418024,444  Gr.  m.  Zt.   der   Fall  war.     Die  Ge- 
schwindigkeit in  der  Gesichtslinie  erreicht  bei  der 
Elongationsstellung  150  km/sec,  so  daß  die  Spek- 
trallinien   für   lichtstarke   Instrumente    eine  starke 
Verschiebung  zeigen  müßten.    Der  größte  Radius 
der    nur   schwach    elliptischen  Sterne    ist  4,3  mal 
so    groß    wie    der    der   Sonne,   die   sog.  absolute 
Größe    wäre    danach    1,8,    der  Abstand    von    uns 
beläuft  sich  auf  1100  Lichtjahre,  die    Dichte    der 
Gestirne  ist  aber  nur  0,013  der  Sonnendichte. 

Kbr. 


Die  Ilavölker  Nord-Rhodesiens. 

Am  Kafue,  einem  Nebenflusse  des  oberen 
Sambesi,  leben  noch  wenig  bekannte  Negervölker, 
die  durch  Gemeinsamkeit  der  Sprache  (das  Ha) 
und  mancher  Eigenarten  des  Kulturbesitzes  ver- 
bunden sind.  Bisher  wurden  sie  in  der  völker- 
kundlichen Literatur  Maschukulumbe  genannt, 
doch  ist  das  ein  Spottname,  der  ihnen  von  den 
benachbarten  Barotsi  wegen  der  Besonderheit  der 
Haartracht  (Chignon)  beigelegt  wurde.  In  ihrer 
eben  veröffentlichten  Monographie  über  diese 
Völker  empfehlen  E.  W.  Smith  und  A.  M. 
Dale,  die  Bezeichnung  Maschukulumbe  fallen  zu 
lassen  und  sie  die  Ha  sprechenden  Völker  zu 
nennen.^)  Dem  Werk  von  Smith  und  Dale, 
das  auf  gründlicher  eigener  Kenntnis  der  in  Rede 
stehenden  Völker  beruht,  seien  hier  einige  An- 
gaben entnommen,  wenige  von  den  vielen,  für 
die  afrikanische  Völkerkunde  wichtigen  Tatsachen, 
die  es  mitteilt. 


')  Smith  und  Dale:  „The  Ila-speaking  Peoples  of 
Northern  Rhodesia."  2  Bände.  London  1920,  Macmillan. 
50  sh. 


Die  körperliche  Erscheinung  der  Ha  ist  recht 
verschieden,    doch    lassen    sich    zwei    bestimmte 
Typen    unterscheiden,    die    durch  Übergänge  mit- 
einander   verbunden    sind.       Die    Menschen    des 
einen    Typus    sind    hochgewachsen,    kräftig    aber 
mager,  langbeinig  und  breitschulterig.    Der  wohl- 
geformte   Kopf  wird    auf  einem    ziemlich    langen 
Hals    gut    getragen;     die    Oberaugenbogen    sind 
deutlich  sichtbar,  ohne  jedoch  stark  hervorzutreten, 
die  Nase  ist  lang  und   gerade  oder  gebogen,    die 
Nasenflügel  schmal,   der  Mund    ist   klein    und  die 
Lippen  sind  nur  mäßig  vorgestülpt;   sie  kommen 
der  europäischen  Form  nahe.    Die  von  S.  und  D. 
gebrachten    Bilder    zeigen,    daß    es    sich    um    den 
Typus  handelt,    den  v.  Luschan    als  den  hami- 
tischen  bezeichnet;   er    ist  wohl  von  den  Küsten- 
ländern des  Roten  Meeres  über  das  Seengebiet  bis 
Südafrika    vorgedrungen.      So    angenehm    Leute 
dieses  feinen  Typus  sind,    so  abstoßend  sind  jene 
des   kurzwüchsigen  Typus,    der    außer   durch    die 
kleinere  Gestalt  ausgezeichnet  ist  durch  plumpen 
Körperbau,  Neigung  zu  Fettleibigkeit,  Stiernackig- 
keit,   niedrige  Stirne,    eine  breite,    an    der  Wurzel 
eingedrückte  Nase,    großen  Mund    und    stark  auf- 
gestülpte   Lippen.      Beide    Typen    sind    auf    die 
einzelnen  Gesellschaftsklassen    ganz  unregelmäßig 
verteilt;  man  findet  den  feinen  Typus  ebenso  bei 
Sklaven  wie  den  groben  bei  Häuptlingen. 

Die  Hautfarbe   ist    bei    neugeborenen  Kindern 
schmutzig    gelb,    ähnlich    wie    bei    Kindern    tief- 
brünetter Europäerinnen,    aber  schon  am  zweiten 
Tage  kann  man  das  Nachdunkeln  merken.    Jugend- 
liche   und  Erwachsene    sind    schokoladebraun    bis 
fast  schwarz.    Kranke  Leute  verlieren  Farbe.    Al- 
bino wurden  nie  gesehen.    Das  Haar  neugeborener 
Kinder    ist    wie    Werg,    nicht    kraus,    und    die 
Färbung    ist   entschieden    heller   wie    im  späteren 
Leben;   der  Wandel  tritt  bald  ein.     Bei  manchen 
Personen  stehen  die  Haarbüschel    ganz  dicht,    bei 
anderen  treten  sie  weiter  auseinander,  aber  nie  in 
dem    Maße    wie    bei    den    Buschleuten.      Ähere 
Männer  haben  verhältnismäßig  starken  Bartwuchs. 
Die  Haare  in  der  Achselhöhle  und  in  der  Scham- 
gegend werden  ausgezupft,  das  übrige  Körperhaar 
wird  nicht  entfernt  und  es  ist  bei  älteren  Männern 
recht    reichlich.      Die  Muskelentwicklung    ist    so- 
wohl bei  Männern  wie  bei  Frauen  sehr  gut.    Die 
gute  Haltung    der  Frauen    wird    vornehmlich    auf 
den  Brauch  zurückgeführt,  Lasten  auf  dem  Kopfe 
zu  balancieren.     AUern  tritt  bald  ein,    namentlich 
die  Frauen   altern    sehr  frühzeitig    und    besonders 
verwahrloste     frühgealterte     Sklavinnen     machen 
einen  kläglichen  Eindruck,  manche  sehen  aus,  als 
ob  sie  hundert  Jahre  alt  wären,  obzwar  sie  kaum 
fünfzig  sind. 

Zahnverderbnis  ist  sehr  häufig.  Sie  wird  an- 
scheinend begünstigt  durch  den  Brauch,  die  oberen 
Schneidezähne  und  häufig  auch  die  Eckzähne  aus- 
zuschlagen. Infolge  davon  wachsen  die  unteren 
Schneidezähne  bis  zu  einem  Viertelzoll  über  die 
Ebene  der  benachbarten  empor,  so  daß  der  Auf- 
biß mangelt. 


538 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Die  IIa  sind  zwar  starke  Esser,  aber  sie  ver- 
mögen zeilweise  Hunger  gut  zu  ertragen.  Weit 
empfindlicher  sind  sie  gegen  Durst,  der  sie  viel 
früher  erschöpft  als  Hunger.  Gegen  Hitze  sind 
sie  wenig  empfindlich.  Bei  Kälte  werden  die 
Leute  runzelig,  aber  sie  scheinen  unter  ihr  nicht 
ernstlich  zu  leiden. 

Gesichts-  und  Gehörssinn  sind  gut;  deren  fort- 
währende Übung  im  Daseinskampf  macht  erstaun- 
liche Leistungen  möglich.  Wie  schon  manche 
andere  Forscher,  so  sind  auch  unsere  Autoren 
der  iVIeinung,  daß  eine  rassenmäßige  schärfere 
Ausbildung  dieser  Sinne,  verglichen  mit  Europäern, 
nicht  besteht,  denn  letztere  können  ihr  Gesicht 
und  Gehör  durch  Anpassung  an  die  Erfordernisse 
der  Wildnis  zu  der  gleichen  Leistungsfähigkeit 
bringen  wie  die  Naturvölker.  Wenig  empfindlich 
ist  der  Geruchssinn  der  IIa;  der  schlimmste  Ge- 
stank belästigt  sie  nicht.  Der  Hautsinn  ist  wahr- 
scheinlich weniger  fein  als  bei  den  Europäern; 
doch  ist  vielleicht  auch  daran  die  Lebensweise 
schuld,  namentlich  das  Unbekleidetsein,  der  Haut. 
Auf  Märschen  versäumen  die  IIa  keine  Gelegen- 
heit, sich  in  Bächen  und  Tümpeln  zu  erfrischen, 
aber  daheim  bekunden  sie  keine  Neigung,  oft  mit 
Wasser  in  Berührung  zu  kommen.  Wer  sich  ein- 
mal im  IVIonat  wäscht,  leistet  in  der  Beziehung 
schon  viel.  Dagegen  schmieren  sie  sich  gerne 
mit  Fett  ein,  was  notwendig  ist,  weil  sonst  die 
Haut  leicht  rissig  wird.  Bekleidete  IIa  stinken 
viel  mehr  als  nackte  oder  halbnackte.  Smith 
glaubt,  die  unreinen  Kleider  machen  den  Unter- 
schied aus,  doch  ist  es  ganz  gut  möglich,  daß 
Kleider  überhaupt  den  Negern  nicht  gut  ange- 
paßt sind,  weil  sie  deren  sonst  starke  Perspiration 
hindern.  Der  Ref.  möchte  der  schon  vor  vielen 
Jahren  geäußerten  Auffassung  von  Gustav 
Fritsch  beipflichten,  daß  die  Negerhaut  wahr- 
scheinlich eine  Fettsäure  ausscheidet,  von  der  ihr 
Geruch  herrührt,  der  unabhängig  von  den  dem 
Körper  etwa  anhaftenden  Unreinlichkeiten  ist.  Es 
ist  anzunehmen,  daß  der  Negerhaut  die  Funktion 
eines  Exkretionsorgans  in  höherem  Maße  eigen 
ist  als  der  Europäerhaut.  Durch  Bekleidung  wird 
diese  Funktion  gehemmt,  weshalb  auch  der  Ge- 
sundheitszustand von  Negern  in  europäischer 
Kleidung  meist  weniger  gut  ist  als  der  der  unzivili- 
sierten. 

In  den  Dörfern  und  in  den  Hütten  der  IIa 
herrscht  größte  Unsauberkeit,  was  im  Verein  mit 
der  persönlichen  Unreinlichkeit  krankheitsbegün- 
stigend  wirkt.  Von  Infektionskrankheiten  kommen 
vor:  Pocken,  Lepra,  Masern,  Mumps  und  eine 
nicht  näher  bekannte  Krankheit,  deren  auffalligstes 
Kennzeichen  ein  eitriger  Hautausschlag  ist.  Auch 
Malaria  ist  häufig.  Die  Kindersterblichkeit  ist 
groß.  Der  Abschnitt  über  Krankheiten  und  Heil- 
mittel ist  ein  wichtiger  Beitrag  zur  Kenntnis  der 
Medizin  der  Naturvölker,  doch  kann  hier  auf  den 
Gegenstand  nicht  weiter  eingegangen  werden. 

Von  Kriegen  abgesehen,  achten  die  IIa  im  all- 
gemeinen   das    Leben    der    Mitmenschen,   jedoch 


nicht  aus  Wertschätzung  des  Lebens,  sondern  aus 
Furcht  vor  den  Folgen  des  Tötens  eines  Men- 
schen, denn  das  ist  ein  Verstoß  gegen  die  Ge- 
meinschaft, sowie  eine  Herausforderung  der  Götter 
dieser  Gemeinschaft  und  man  fürchtet  die  Geister 
der  Abgeschiedenen  und  das  Unheil,  das  Blut- 
vergießen kündet.  Diese  Furcht  ist  es  auch,  welche 
von  der  Tötung  unheilbarer  oder  alter  Leute  ab- 
hält. Zudem  sind  Totschläger  —  von  möglichen 
Strafen  abgesehen  —  der  Verachtung  der  Gemein- 
schaft preisgegeben.  Einen  einzelnen  Fremden 
zu  töten  entschließt  man  sich  eher,  weil  man 
weder  seine  Stammesgenossen ,  noch  die  Rache 
fremder  Götter  zu  fürchten  hat  und  der  Glaube 
herrscht,  der  Geist  des  Fremden  könne  ohne 
Schwierigkeit  in  seine  Heimat  vertrieben  werden. 

Kindermord  kommt  vor  bei  gewissen  unge- 
wöhnlichen Vorkommnissen  bei  der  Geburt,  bei 
verkehrter  Geburtslage,  oder  auch,  wenn  bei  dem 
Neugebornen  die  Zähne  bereits  durchgebrochen 
sind,  und  später,  wenn  ein  oberer  Zahn  zuerst 
durchbricht,  oder  wenn  das  Kind  nach  etwa  drei 
Jahren  noch  nicht  gehen  kann.  Kinder  von  Mäd- 
chen, die  noch  nicht  in  den  Frauenstand  aufge- 
nommen wurden,  werden  ebenfalls  getötet.  Die 
Veranlassung  ist  wieder  Furcht  vor  Unheil. 

Selbstmord  ist  bei  den  IIa  nicht  ungewöhnlich 
und  wird  manchmal  aus  nichtigen  Gründen  be- 
gangen. 

Die  Lebensauffassung  der  IIa  ist  die  animisti- 
sche.  Ihr  liegt  die  Annahme  einer  vom  Körper 
verschiedenen  und  unter  gewissen  Bedingungen 
von  ihm  trennbaren  selbständigen  Wesenheit  zu- 
grunde, die  das  Leben  bedingt.  Die  Vorstellung 
von  einer  Seele  des  Lebenden  ist  eine  wesentlich 
andere  als  bei  den  Menschen  des  europäischen 
Kulturbereiches.  Vor  allem  ist  der  Seelenbegriff 
nicht  einheitlich,  es  wird  neben  einer  Lebensseele 
eine  Schatten-  oder  Bildseele  angenommen.')  Wie 
zutreffend  B.  Ankermanns  Auffassung  von  der 
Gleichbedeutung  von  Schatten  und  Bild  bei  den 
Negern  ist,  beweist  die  Angabe  in  Bd.  2,  S.  162 
des  IIa- Werkes,  daß  Väter  sich  gegen  ein  Photo- 
graphieren  ihrer  Kinder  wehren,  weil  damit  deren 
Schatten  (Tschingohule)  weggenommen  würde 
und  sie  sterben  müßten.  Auch  durch  Hexerei 
kann  jemandens  Schatten  weggenommen  werden. 
Die  Lebensseele  ist  Moza,  der  Atem,  oder  Muwo, 
der  Wind;  beide  Bezeichnungen  werden  anschei- 
nend gleichbedeutend  gebraucht.  Dazu  kommen 
noch  andere  geistige  Elemente,  welche  zum  Be- 
griff des  lebenden  Wesens  (im  Gegensatz  zum 
leblosen  Körper)  gehören.  Der  Seelenstoff  (oder 
besser  gesagt  der  Stoff  der  Lebensseele)  durch- 
dringt den  ganzen  Körper,  doch  ist  er  übernatür- 
lich, unpersönlich.  Beim  Tode  verläßt  die  Lebens- 
seele den  Körper  und  wartet  auf  die  Wieder- 
geburt. Vom  Körper  geschieden  ist  die  Seele 
nicht     mehr    unpersönlicher    Stoff,    sondern    ein 


')  Vgl.  Ankermann,    Totenkult    und    Seelenglaube  bei 
afrikanischen  Völkern;    Zeitschr.  f.  Ethnologie,  1918,  S.  89  ff. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Wesen  (Musanguschi),  das  sich  um  das  Grab,  in 
Bäumen  und  Wohnstätten  herumtreibt.  (Das 
scheint  aber  nur  für  die  Zeit  bis  zur  Verwesung 
des  Körpers  zu  gelten.)  Vermittels  geheimnis- 
voller Kräfte  in  Medikamenten  kann  jedoch  ein 
lebender  Mensch  Seelenstoff  seinem  Körper  ent- 
nehmen, der  sich  in  ein  Tier  verwandelt.  Auch 
können  Zauberer  diesen  Stoff  so  beeinflussen,  daß 
er  nicht  mehr  für  die  Wiedergeburt  in  Betracht 
kommt,  sondern  zu  einem  böswilligen  Geist 
(Tschiswa)  wird. 

Wertvolles  Material  zur  Völkerpsychologie 
bilden  die  ausführlichen  Mitteilungen  von  Smith 
und  Dale  über  die  religiösen  Vorstellungen  der 
IIa,  ihre  Wissenschaft,  soziale  Organisation,  Rechts- 
auffa'^sungen,  persönliches  Betragen,  Nahrungsbe- 
schaffung, Spiele  und  anderes.  Auch  Erzählungen 
dieser  Völker,  Sprüche,  Rätsel  und  Vexierfragen 
werden  mitgeteilt,  die  Einblick  in  die  Psyche  ge- 
währen. H.  Fehlinger. 

Neuere  Gewöllnntersuchungeu  vou  Tag-  und 
Nachtraubvögelü. 

Unter  dem  etwas  sensationell  gefärbten,  wohl 
für  die  breiten  Massen  berechneten  Titel:  „Detektiv- 
studien in  der  Vogelwelt"  ist  als  erste  Nummer 
der  Veröffentlichungen  der  Süddeutschen  Vogel- 
warte von  deren  Leiter  Dr.  Kurt  Floericke 
ein  kleines  Bändchen  erschienen,  das  die  Ergeb- 
nisse einer  größeren  Anzahl  von  GewöUunter- 
suchungen  enthält.  Obwohl  diese  im  wesentlichen 
zu  keinerlei  neueren  Ergebnissen  geführt  haben, 
sondern  schon  Bekanntes  bestätigen,  verdienen  sie 
doch  Beachtung  nicht  nur  insofern,  weil  unter 
den  untersuchten  Gewöllen  sich  größere  Mengen 
auch  aus  Gegenden  befunden  haben,  aus  denen 
derartige  Untersuchungen  bisher  noch  nicht  vor- 
lagen —  schade,  daß  der  Verf.  ihre  Mengen  nicht 
zahlenmäßig  angibt  I  — ,  sondern  vor  allem  auch, 
weil  durch  die  zunehmende  Zahl  derartiger  Unter- 
suchungen das  Bild  über  die  Nahrung  der  unter- 
suchten Vögel  auch  in  seinen  Feinheiten  ein 
immer  sichereres  und  klareres  wird  und  ihre  hohe 
wirtschaftliche  Bedeutung  immer  schärfer  hervor- 
tritt. 

Am  zahlreichsten  unter  den  Gewöllen  waren 
die  der  Eulen  vertreten,  deren  Untersuchungen 
im  wesentlichen  immer  das  gleiche  Bild  ergab: 
die  Wühlmäuse  bilden  die  Hauptnahrung  dieser 
Vögel.  Am  ausschließlichsten  waren  Mäusereste 
in  den  Gewöllen  der  Waldohreule  vertreten, 
während  in  denen  der  Sumpfohreule  auch  schon 
andere  Tiere  häufiger  auftraten.  Spitzmäuse 
fanden  sich  in  den  Gewöllen  der  Schleiereule 
zahlreicher  vor,  Vogelreste  besonders  häufig  in 
solchen  des  Waldkauzes.  In  denen  des  Stein- 
kauzes wieder  traten  neben  Mäusen  vor  allem  die 
Kerfe  in  den  Vordergrund. 

Von  der  Schleiereule  wurden  3430  Ge- 
wölle aus  Württemberg,  Hessen,  Nord-  und  Ost- 
deutschland, Frankreich   und   den  Pripjetsümpfen, 


sowie  früher  bereits  160  aus  der  Priegnitz  unter- 
sucht. In  ihnen  waren  Spitzmäuse  mit  23,6 "/,,, 
Echte  Mäuse  (einschl.  0,59  "/o  Ratten)  mit  20,7  "j,,, 
Wühlmäuse  mit  50,7  7o.  Vögel  mit  nur  0,3  7o  und 
Kerfe  mit  3.8"/,)  vertreten.  Junghasen  wurden 
nur  zweimal  nachgewiesen.  Zusammen  mit  den 
Untersuchungen  früherer  Forscher  ergaben  sich 
aus  17 081  Einzelfällen  folgende  Zahlen:  Spitz- 
mäuse 28  I  "/q.  Echte  Mäuse  (einschl.  0,23  "/„  Ratten) 
22,8  ö/o,  Wühlmäuse  46.3  7o'  Vögel  1,2  "/„  und 
Kerfe  0,66  "/„.  Der  Einfluß  der  lokalen  Umgebung 
auf  die  Nahrung  spricht  daraus,  daß  in  den  Ge- 
wöllen aus  den  Pripjetsümpfen  die  Spitzmäuse, 
die  in  diesem  Falle  sich  fast  ausschließlich  aus 
Crossopus  fodiens  zusammensetzten,  mit  46  %,  in 
Gewöllen  aus  Polen  aber  nur  mit  21,8  "/q,  in  solchen 
aus  dem  Champagne  mit  43,5  "/„  und  in  denen 
aus  der  Cote  Lorraine  mit  26,7  "/„  vertreten  waren. 
Gewölle  aus  Nordfrankreich  enthielten  20  "/o,  solche 
aus  Heilbronn  nur  7  "/„  Spitzmäuse. 

Von  der  Waldohreule  wurden  1570  aus 
Polen,  Mähren,  Brandenburg,  Sachsen,  Braun- 
schweig und  Hessen  stammende  Gewölle  unter- 
sucht. Die  in  den  Gewöllen  der  Schleiereule  so 
stark  vertretenen  Spitzmäuse  treten  in  denen  der 
Waldohreule  ganz  in  den  Hintergrund;  unter  den 
3417  Beutetieren  befanden  sich  nur  59  oder  1,72  "/oi 
während  die  Wühlmäuse  mit  80  "/^  und  die 
Echten  Mäuse,  unter  denen,  den  Aufenthaltsorten 
des  Vogels  entsprechend,  die  Waldmäuse  über- 
wogen und  auch  die  Rötelmaus  noch  zahlreich 
vertreten  war,  während  bei  der  Schleiereule  Haus- 
und hinter  dieser  Waldmäuse  den  Hauptanteil 
bildeten,  mit  12,6  "/o,  Vögel  aber  mit  nur  0,55  "/o 
und  Kerbtiere  mit  3,3  "/o  vertreten  waren.  Mit 
früheren  von  anderen  Forschern  vorgenommenen 
Untersuchungen  von  insgesamt  13736  Gewöllen 
ergeben  sich  für  die  einzelnen  Tiergruppen  die 
folgenden  Anteilzahlen  an  der  Nahrung:  Wühl- 
mäuse 84,5%,  Echte  Mäuse  il,8  7o.  Spitzmäuse 
0.75  "/o.  Vögel  1,47,,  und  Kerfe  0,78  «/„.  Reste 
von  Junghasen  wurden  nur  il  oder  0,0970  vor- 
gefunden. 

In  den  untersuchten  400  Gewöllen  der  Sumpf- 
ohreule,  die  ausschließlich  auf  dem  östlichen 
Kriegsschauplatz,  vorwiegend  in  den  Pripjetsümpfen 
gesammelt  wurden,  überwogen  mit  76,9  7o  eben- 
falls wieder  die  Wühlmäuse,  unter  denen  Arvicola 
amphibius  —  418  anderen  Wühlmäusen  standen 
202  der  eben  genannten  Art  gegenüber  —  be- 
sonders häufig  vertreten  war,  während  die  Echten 
Mäuse  einschließlich  eines  lOproz.,  auf  die  Wander- 
ratte entfallenden  Anteiles  22,4  "/o  der  Beutetiere 
ausmachten,  Spitzmäuse  überhaupt  nicht  festge- 
stellt werden  konnten  und  Vögel  mit  0,68  "/o.  so- 
wie Kerbtiere  mit  6,6  "/o  beteiligt  waren.  Jung- 
hasen wurden  in  3  Fällen  nachgewiesen.  Zu- 
sammen mit  früheren  Untersuchungen  ergeben 
sich  aus  I191  Gewöllen  die  folgenden  Ziffern: 
Spitzmäuse  0,56  "/o .  Wühlmäuse  76,9  "/o  >  Echte 
Mäuse  (einschl.  Ratten)  18,6  7o,  Vögel  i  "/(,  und 
Kerfe  2,3  % 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Vom  Waldltauz  lionnten  1440  Gewölle  teils 
aus  Rußland  und  Frankreich,  teils  aus  der  Neu- 
mark, von  Hamburg  und  Harburg,  aus  Friesland, 
Hannover  und  Württemberg,  sowie  von  Schön- 
buch untersucht  werden.  Unser  Vogel  besitzt 
von  den  untersuchten  Arten  —  es  entspricht  dies 
auch  recht  gut  allen  früheren  Feststellungen  durch 
Magenuntersuchungen  und  den  Beobachtungen  am 
Horste  —  den  abwechselungsreichsten  Speisezettel; 
neben  Mäusen,  die  allerdings  ebenfalls  noch  den 
Hauptbestandteil  der  Nahrung  bilden  und  von 
denen  die  Echten  Mäuse  (einschl.  2,8 "/(,  Anteil 
von  Ratten)  mit  14,8  "/o  und  die  Wühlmäuse  mit 
55,6  "/q  vertreten  waren,  konnten  7,6%  Klein- 
vögel, in  der  Hauptsache  watdbewohnende  Sing- 
vogelarten und  1,3  "/o  J3g<^ wild  (Junghasen,  junge 
Rebhühner  und  Fasanen)  festgestellt  werden.  Ver- 
hältnismäßig häufig  traten  dann  weiter  Eichhörn- 
chen, Siebenschläfer  und  Haselmäuse  in  den  Ge- 
wöllen auf.  Auch  der  Hamster  fehlte  nicht  und 
neben  Lurchen  (Fröschen)  ließen  sich  in  einzelnen 
Fällen  auch  Fischreste  nachweisen.  Spitzmäuse 
waren  mit  8,4%,  der  Maulwurf,  der  bei  anderen 
Eulenarten  (Schleier-  und  Waldohreule)  nur  in 
verschwindender  Zahl  beobachtet  wurde,  mit  7,8  '7o 
unter  den  Beutetieren  vertreten.  Einschließlich 
der  früheren  Untersuchungen  anderer  Forscher 
ergaben  sich  aus  2541  Gewöllen  die  folgenden 
Zahlen:  Maulwürfe  2,5  "/„,  Spitzmäuse  8,9%,  Echte 
Mäuse  (einschl.  Ratten)  15,2  "/q,  Wühlmäuse  56.7  "/o. 
Kleinvögel  7,1  "/o'  Jagdwild  0,75  "/o.  Frösche  1,3  "/o 
und  Fische  0,27  °/q. 

In  560  Steinkauzgewöllen,  die  in  der 
Champagne,  in  Rheinhessen,  Württemberg,  Nieder- 
österreich und  Polen  gesammelt  worden  waren, 
wurden  3,2  %  Spitzmäuse,  14,1  "/(,  Echte  Mäuse, 
40,2  "/o  Wühlmäuse,  0,59  '/„  Vögel,  2,1  "/o  Kriech- 
tiere und  39,9  "/o  Kerfe  festgestellt;  Befunde,  die 
zusammen  mit  den  Feststellungen  früherer  Orni- 
thologen  aus  insgesamt  1508  Gewöllen  das  fol- 
gende Bild  ergeben :  Spitzmäuse  2,3  "/o  >  Kchte 
Mäuse  10,7  %,  Wühlmäuse  49,3  "/g,  Vögel  1,5  "/o. 
Kriechtiere   1,0  %,  und  Kerfe  34,4  "/o- 

Von  Tagraubvögeln  konnten  2070  Gewölle 
des  Mäusebussards  aus  Oberhessen,  Württem- 
berg, Hannover  und  Polen,  57  vom  Turmfalk 
aus  Württemberg  und  Schlesien,  sowie  265  vom 
Schreiadler  aus  der  Gegend  von  Hamburg, 
aus  der  Mark,  Pommern,  Schlesien  und  den  Pripjet- 
sümpfen  untersucht  werden.  In  den  Gewöllen 
des  Mäusebussards  konnten  5324  Beutetiere, 
nämlich  42  Maulwürfe,  125  Echte  Mäuse  und  23 
Ratten,  4380  Wühlmäuse,  61  Hamster  und  Ziesel, 
56  Schermäuse,  41  Hasen,  19  Kaninchen,  7  Reb- 
hühner und  Fasanen,  18  Kleinvögel,  i  Dohle, 
36  Kriechtiere  (Schlangen,  Eidechsen  und  Blind- 
schleichen), 33  Frösche,  31  Käfer,  370  Heu- 
schrecken und  Grillen ,  22  Raupen  und  Regen- 
würmer sowie  in  59  Fällen  Aas  und  Fleisch  fest- 
gestellt werden.  Zusammen  mit  76  Untersuchun- 
gen Uttendörfers  ergibt  sich,  in  Anteilen  aus- 
gedrückt,  das  folgende  Bild:    Maulwürfe  0,88  "/„, 


Echte  Mäuse  2,7  "/o.  Wühlmäuse  83,5  %,  Hamster 
i.i  "/'o'  Jagdwild  1,2  "j^,  Kleinvögel  0,33  "j^,  Kriech- 
tiere und  Lurche  1,2  "/o-  sowie  Kerfe  und  Würmer 
7,7  %.  Einem  Anteil  von  87,3  7o  schädlicher 
Nager  steht  demnach  also  nur  der  geringe  Prozent- 
satz von  1,2  "/q  Jagdwild  gegenüber,  wobei  in 
zwei  Fällen  durch  den  Nachweis  von  Schrotkörnern 
zusammen  mit  Hasenwolle  und  Rebhuhnfedern, 
der  mit  einigen  Befunden  früherer  Forscher  im 
Einklang  steht,  auch  neuerdings  wieder  der  Be- 
weis erbracht  sein  dürfte,  daß  dieses  letztere  zu 
einem  Teil  wenigstens  sich  aus  Fallwild  zusam- 
mensetzt. 

Die  untersuchten  57  Gewölle  des  Turm- 
falken ergaben  45  Wühlmäuse,  i  Waldmaus, 
12  Eidechsen  sowie  30  Heuschrecken  und  Grillen. 
Zusammen  mit  früheren  Feststellungen  anderer 
Ornithologen  lieferten  596  Einzeluntersuchungen 
folgendes  Bild:  Wühlmäuse  90,4  "/o-  Echte  Mäuse 
2  °/o,  Vögel  0,S  "/„,  Eidechsen  2  "/o  ""d  Kerfe 
(deren  Anteil  infolge  der  unsicheren  Angabe 
„viele"  durch  frühere  Forscher  leider  aber  nur  ein 
ungenauer  ist)  5  "/o- 

Die  Gewölluntersuchungen  des  Schreiadlers 
sind  besonders  wertvoll,  weil  ihnen  ältere  nicht 
zur  Seite  stehen  und  auch  Magenuntersuchungen 
bisher  nur  an  einigen  wenigen  Vögeln  vorgenom- 
men werden  konnten.  Nachgewiesen  wurden  in 
den  untersuchten  265  Gewöllen  7  Maulwürfe, 
21  Ratten,  14  Waldmäuse,  26  Wasserratten,  88 
Wühlmäuse,  15  Eichhörnchen,  4  Siebenschläfer, 
6  Hasen,  3  Kaninchen,  i  Hamster,  4  junge  Katzen, 
5  junge  Gänse,  i  Brachvogel,  2  Wachteln,  i 
Wachtelkönig,  3  Bekassinen,  10  Drosseln,  17  Klein- 
vögel, 1 5  Frösche,  13  mal  Fischschuppen  und  Gräten, 
119  Käfer,  12  Wasserwanzen  und  11  mal  Reste 
von  Tellerschnecken.  Diese  Zahlen  entsprechen 
folgenden  prozentualen  Anzahlen:  1,7  "i'o  Maul- 
würfe, 37,4  %  Mäuse  und  Wühlmäuse,  4,7  "/o 
Eichhörnchen  und  Siebenschläfer,  3,7  "/(,  Jagdwild, 
2,2  '7o  Haustiere,  7  7o  Vögel,  3,7  \  Frösche, 
3,2%  Fische  sowie  35,6 7o  Kerfe  und  Schnecken, 
woraus  hervorgeht,  daß  auch  bei  diesem  Vogel 
noch  immer  der  Nutzen  den  Schaden    überwiegt. 

Angefügt  sind  der  Arbeit  noch  die  Ergebnisse 
der  Untersuchungen  von  410  Krähen-  und  1056 
Storchgewöllen  (von  denen  die  letzteren  ebenfalls 
wieder  die  so  oft  zu  hörende  Behauptung  von 
der  jagdlichen  Schädlichkeit  des  Storches  wider- 
legen) sowie  Feststellungen  des  Mageninhaltes 
einer  zwar  recht  großen  Anzahl  von  Arten,  aber 
meistens  nur  immer  wenigen  Individuen,  auf  die 
aber  hier  nicht  weiter  eingegangen  werden  soll. 
Interessenten  mögen  sie  an  Ort  und  Stelle  nach- 
schlagen. —  Dagegen  soll  aber  noch  auf  die  Be- 
deutung hingewiesen  werden,  die  derartige  Unter- 
suchungen oft  auch  für  faunistische  Feststellungen 
erlangen  können.  Rörig  beispielsweise  stellte 
aus  den  in  den  Gewöllen  der  Waldohreule  vor- 
gefundenen Resten  der  Arvicola  ratticeps  eine 
viel  größere  Verbreitung  dieser  bis  dahin  nur  von 
zwei     deutschen    Fundorten     bekannten    Art     in 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


541 


Deutschland  fest  und  Greschik  wies  sie,  wieder- 
um aus  den  GewöUuntersuchungen  der  Waldohr- 
eule erstmalig  für  Ungarn  nach.  Aus  diesem 
Grunde  auch  wäre  zu  wünschen,  daß  man  künftig 
bei  der  Veröffentlichung  derartiger  Untersuchungen 
summarische  Angaben,  wie  „Wühlmäuse"  usw., 
möglichst   vermeiden    und    den    Befund    genauer 


nach  Arten  angeben  und  in  allen  den  Fällen,  wo 
es  sich  nicht  um  allgemein  verbreitete  Tiere  han- 
delt, wie  beispielsweise  bei  dem  in  den  GewöU- 
untersuchungen so  häufig  festgestellten  Sieben- 
schläfer, der  Haselmaus  usw.  auch  den  genaueren 
Fundort  mit  angeben  wollte. 

Rud.  Zimmermann,  Dresden. 


Bücherbesprechungen. 


Pauli,  R.,  Über  psychische  Gesetzmäßig- 
keit. Mit  42  Abbildgn.  88  S.  Jena  1920, 
Gustav  Fischer. 
Die  Abhandlung  beschäftigt  sich  in  erster  Linie 
mit  dem  Weberschen  Gesetze.  Das  Weber- 
sche  Gesetz  besagt,  daß  ein  Reizzuwachs,  um 
eben  merklich  zu  werden,  in  konstantem,  relativen 
Verhältnis  zu  dem  schon  vorhandenen  Reiz  stehen 
muß.  Setzt  man  die  eben  merklichen  Unterschiede 
der  Größe  nach  einander  gleich ,  dann  gelangt 
man  zu  der  Formulierung,  die  Fechner  dem 
Gesetz  gegeben  hat:  wenn  der  Reiz  in  geometri- 
scher Progression  wächst,  dann  wächst  die  Emp- 
findung bloß  in  arithmetrischer  Progression.  In 
graphischer  Darstellung  ergibt  sich  das  bekannte 
Bild  einer  Logarithmuskurve.  Wie  kommt  nun 
diese  Beziehung  zustande?  Es  gibt  3  Deutun- 
gen, die  physiologische,  die  psychophysische  und 
die  psychologische.  Die  maßgebenden  Größen 
für  die  Beurteilung  sind  der  Reiz  R,  die  Nerven- 
erregung N,  die  zugehörige  Empfindung  E  und 
der  daran  anschließende  zentrale  Prozeß  Z.  Zwi- 
schen diesen  4  Größen  kann  auf  Grund  des 
Weberschen  Gesetzes  an  einer  Stelle  keine 
Proportionalität  herrschen.  Die  psychophysische 
Deutung  sucht  den  entscheidenden  Punkt  bei  dem 
Übergang  der  Nervenerregung  in  Empfindung. 
Diese  Annahme  beruht  im  wesentlichen  auf  meta- 
physischen Erwägungen  und  kann  für  überwunden 
gelten.  Tatsächlich  bewegt  sich  gegenwärtig  der 
Streit  nur  noch  um  die  physiologische  und  psy- 
chologische Interpretierung.  Die  psychologische 
Deutung  setzt  die  Größen  R,  N  und  E  einander 
proportional  und  sucht  die  Lösung  im  zentralen 
Prozeß.  Der  Reizzuwachs  soll  immer  an  dem 
bereits  vorhandenen  Reiz  gemessen  werden,  so 
daß  der  Maßstab  sich  mit  dem  Anwachsen  des 
Reizes  ständig  ändert :  das  Weber  sehe  Gesetz 
ist  der  Ausdruck  einer  messenden  Vergleichung 
der  Bewußtseinsinhalte  (W  u  n  d  t).  Gegen  diese 
Deutung  läßt  sich  manches  geltend  machen;  so 
sprechen  schon  einige  Erfahrungen  der  Psycho- 
logie dagegen.  Bedenklich  muß  es  vor  allem 
stimmen,  daß  das  Webersche  Gesetz  auch  für 
Reizgebiete  gilt,  wo  man  einen  solchen  messen- 
den Vergleich  von  Empfindungen  nicht  annehmen 
kann :  bei  den  chemotaktischen  Reaktionen  der 
Bakterien  (Pfeffer)  und  bei  der  Berührungs- 
empfindlichkeit der  höheren  Pflanzen  (Stark). 
Das  sind  Tatsachen,  die  nach  der  physiologischen 


Deutung  hindrängen.  Die  physiologische  Deutung 
nimmt  an,  daß  die  Größen  N,  E  und  Z  einander 
proportional  sind  und  daß  das  entscheidende 
Moment  weiter  zurückliegt,  beim  Übergang  von 
R  zu  N:  die  Nervenerregung  wächst  nicht  pro- 
portional dem  Reiz,  sondern  in  der  Weise,  wie 
es  im  Weberschen  Gesetz  seinen  Ausdruck  fin- 
det. Zwei  Argumente  gibt  es,  welche  die  phy- 
siologische Theorie  zu  ihren  Gunsten  anführen 
kann :  der  Zusammenhang  zwischen  Reizstärke 
und  Zuckungshöhe  bei  Versuchen  an  einem  Nerven- 
Muskelpräparat  des  Frosches  und  das  Verhalten  des 
Aktionsstroms  bei  wachsendem  Reiz  (Druckreiz, 
Lichtreiz  usw.).  In  beiden  Fällen  wächst  der  Er- 
folg nicht  proportional  dem  Reiz,  sondern  mit 
zunehmender  Reizstärke  immer  langsamer  und 
langsamer,  so  daß  wieder  die  typische  Logarith- 
muskurve resultiert.  Hier  ist  aber  die  Beteiligung 
von  Empfindungen  am  Zustandekommen  des  Bil- 
des ausgeschlossen.  Damit  ist  die  Frage  nach 
der  Deutung  des  Weberschen  Gesetzes  sehr 
stark  eingeengt,  wenn  auch  noch  keineswegs  ge- 
klärt ist,  welche  Ursachen  der  mathematischen 
Beziehung  zugrunde  liegen.  Beachtung  verdient 
jedenfalls,  daß  auch  auf  rein  physikalischem  Ge- 
biet analoge  Beziehungen  festgestellt  worden  sind 
(Empfindlichkeit  von  IVIeßinstrumenten). 

Das  Buch  gibt  einen  umfassenden  Überblick 
über  die  Gültigkeit  des  Weberschen  Gesetzes 
auf  psychologischem  Gebiet  und  enthält  zahlreiche 
Kurvenbilder,  die  den  Text  in  wünschenswerter 
Weise  veranschaulichen.  Stark. 


Bodforss,    Dr.    Sven,    Die    Äthylenoxyde. 

Ihre  Darstellung  und  Eigenschaften.    (Sammlung 

Ahrens,   Bd.  XXVI,   Heft  5/6).     Stuttgart   1920, 

Ferdinand  Enke.     5  M. 

Die  Äthylenoxyde  sind  innere  Anhydride  von 

mehrwertigen  Alkoholen  bzw.  Hydroxylverbindun- 

gen  des  Kohlenstoffs,  stellen  also  einen  an  Umfang 

kleinen    Ausschnitt   aus    der   organischen    Chemie 

dar.     Da   auch    ihre  theoretische  Wichtigkeit  nur 

untergeordnet   ist,   so    ist   die    vorliegende  Arbeit 

über     Darstellungsmethoden     und     Eigenschaften 

dieser  Stoffe  nur  für  einen  beschränkten  Kreis  von 

Fachgenossen  von  Belang.     Für  solche    empfiehlt 

sich  das  Heft  allerdings  so  gut  wie  ausschließlich 

durch  die  Literaturangaben.     Die  Herausarbeitung 

weiterer   Gesichtspunkte    ist   dem  Verf  nicht  ge- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


^  N.  F.  XX.  Nr.  37 


lungen,  was  dem  Stoff  doch  nur  zum  Teil  zur 
Last  fällt. 

Einige  Druckfehler  sind  stehen  geblieben,  wo- 
runter die  Schreibung  „etyl-"  statt  „aethyl"  (S.  51 
und  54)  den  deutschen  Leser  besonders  stört.  — 

Papier  und  Druck  sind  sehr  gut,  der  Preis 
niedrig.  H.  H. 

Ostwald,  Wilhelm,  Mathetische  Farben- 
lehre. 2.  vermehrte  und  verbesserte  Auflage. 
Leipzig  192 1. 

,   Die   Farbschule.     Eine  Anleitung  zur 

praktischen    Erlernung    der    wissenschaftlichen 
Farbenlehre.     2.  bis  3.,    umgearbeitete  Auflage. 
Leipzig  1921. 
—  ■ — ,   Die   Harmonie   der  Farben.     2.  bis 
3.,    gänzlich    umgearbeitete    Auflage.      L  Text, 
II.  Beilagen.      Leipzig  192 1.      Sämtlich    Verlag 
Unesma  G.  m.  b.  H. 
Der   Inhalt    der   vorliegenden  Neuauflagen  ist 
in  großen  Zügen   an    anderer  Stelle  der  „Naturw. 
Wochenschr."  mitgeteilt  worden.     So  können  wir 
uns  hier  auf  die  Hervorhebung   des  bei  der  Neu- 
bearbeitung  wesentlich  Veränderten  beschränken. 
Die  „Mathetische  Farbenlehre"  ist  um  die  Er- 
klärung   und    Verwendung    des    Fee hn ersehen 
Dreiecks,    sowie    um    den    logarithmischen    Farb- 
körper  bereichert,    im    übrigen    fast    unverändert 
gelassen    worden.      Das   Buch    ist    die   beste  Dar- 
stellung   der    Ordnung   der    Farben   nach    wissen- 
schaftlichen Gesichtspunkten. 

Die  ganz  auf  den  elementaren  Unterricht  ein- 
gestellte „Farbschule"  macht  sich  die  neusten 
technischen  Hilfsmittel  Ostwalds  zu  eigen. 
Auffallenderweise  ist  gerade  in  diesem  Büchlein 
die  so  vorzügliche  Bezeichnung  „Tünche"  für  mal- 
fertige Farbstoffe  verlassen  und  statt  dessen  der 
übliche  schlechte  Ausdruck  „Farbe"  beibehalten 
worden.  Das  führt  zu  bedauerlichen  und,  wie  ich 
glaube,  unnötig  gewesenen  Unzuträglichkeiten  in 
der  Nomenklatur.  —  S.  36  steht  unter  den  Ziffern 
der  Reinheit  ein  Druckfehler:  XI  statt  XII.  — 
Der  hellgraue  Einband  erscheint  für  den  häufigen 
Gebrauch  des  Buches  zu  empfindlich. 

„Die  Harmonie  der  Farben",  1918  zuerst  er- 
schienen, konnte  völliger  Umarbeitung  unterzogen 
werden,  da  ihr  nunmehr  die  genormten  Farben 
zugrunde  gelegt  werden  durften  —  zweifellos  ein 
wichtiger  Fortschritt.  Auch  hier  ist  Wert  gelegt 
auf  praktische  Vorführung  und  Anschaulichkeit 
der  abgeleiteten  harmonischen  Beziehungen,  wes- 
halb ein  Kästchen  mit  eingestellten  Farbkärtchen 
den  genormten  Farbkreis,  die  Grauleiter  und  ein 
farbtongleiches  Dreieck  enthält.  Dieses  An- 
schauungsmittel ist  vorzüglich.  Nur  erscheint 
dem  Berichterstatter  der  Unterschied  vom  3.  Veil 
zum  I.  Ublau  zu  groß,  die  Stufen  im  Eisblau  und 
Seegrün  dagegen  sehr  klein. 

Alle  drei  Bände  stellen  wichtige  Veröffent- 
lichungen zur  Farbenlehre  dar.  Es  erübrigt  sich 
zu  sagen,  daß  sie  in  einem  meisterhaften  Stil  ge- 
schrieben  sind    und    schon    dadurch    aufs  höchste 


anregen.  —  Die  druck-  und  buchtechnische  Aus- 
staltung  sind  gut,  die  Preise  mäßig. 

H.  Heller. 

Kleinschrod,    Franz,    Das    Lebensproblem 
und    das    Positi  vitätspri  nzip    in    Zeit 
und  Raum    und    das   Einsteinsche    Re- 
lativitätsprinzip   in    Raum    und    Zeit. 
Eine    prinzipielle    Untersuchung,    zugleich    ein 
neuer   Weg   zur   Lösung    des   Lebensproblems. 
Frankfurter  Zeitgemäße  Broschüren  Bd.  XXXX, 
H.  1 — 3.     1920. 
Als    das   Energieprinzip    seine    große   Frucht- 
barkeit für  die  Erklärung  der  physikalischen  Natur- 
vorgänge längst  bewiesen  hatte,  war  es  keineswegs 
selbstverständlich,  daß  es  auch  im  Reiche  des  Or- 
ganischen gelten  würde,  und  es  bedurfte  erst  außer- 
ordentlich mühevoller  Versuche  von  Rubner  u.  a., 
ehe  man  diese  Tatsache  feststellen  konnte;  ja  es 
gibt  auch  heute  noch  ernsthafte  Forscher,  die  die 
Gültigkeit    des  Entropiesatzes    für   die   organische 
Natur  leugnen.     Infolgedessen  ist  es   eine   durch- 
aus berechtigte  Problemstellung  zu  fragen,  inwie- 
weit die  Resultate  der  Relativitätstheorie  im  Bio- 
logischen   bestätigt    oder    als    ungültig   befunden 
werden.     Dieses  Problem   in   voller   Klarheit    als 
solches  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Unter- 
suchung gemacht  zu  haben,  ist  unstreitig  ein  Ver- 
dienst  der   oben  angezeigten  Arbeit,    obschon  ja 
auch  andere  Forscher   vorher   schon    darauf  hin- 
gewiesen haben.    Kleinschrod  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  Konsequenzen  der  Relativitäts- 
theorie im  Reiche  des  Organischen    nicht  gelten, 
vielmehr  gilt  das  Relativitätsprinzip   nur  im  phy- 
sikalisch chemischen  Gebiet    und    wird    im  Biolo- 
gischen   durch   sein    logisch   übergeordnetes  Posi- 
tivitätsprinzip  aufgehoben. 

Das  ist  die  These.  Ihre  Begründung  erfolgt 
aber  mit  wissenschaftlich  gänzlich  unzureichenden 
Mitteln.  Aus  einer  bestimmten  vorgefaßten  meta- 
physischen Einstellung  wird  alles  dogmatisch  dedu- 
ziert und  gelegentlich  an  reichlich  naiven  Beispielen 
aus  der  „Erfahrung"  erläutert.  So  große  Aner- 
kennung das  ehrliche  Bemühen  und  Ringen  des 
Verfassers  mit  seinem  Problem  auch  verdient, 
ebensosehr  ist  die  methodisch  gänzlich  unzuläng- 
liche Art  seiner  Lösung  geeignet,  die  an  sich 
richtige  Problemstellung  überhaupt  zu  diskreditieren. 
Einmal  zeigen  die  Äußerungen  des  Verfassers 
über  die  Relativitätstheorie,  daß  er  sich  durch 
seine  Metaphysik  den  unvoreingenommenen  Zu- 
gang zu  ihr  völlig  verbaut  hat.  Er  hat  sie  ein- 
fach nicht  verstanden,  was  insofern  auch  nicht 
weitet  wunderzunehmen  braucht,  als  er  seine 
Kenntnis  von  ihr,  von  der  bekannten  „populären" 
Darstellung  Einsteins  abgesehen,  die  er  aber 
mehrfach  schief  zitiert,  nur  Aufsätzen  verdankt, 
die  nach  ihrer  gatizen  populären  Tendenz  nicht 
als  ausreichendesQuellenmaterial  angesehen  werden 
können,  es  auch  gar  nicht  haben  sem  sollen.  „Ein 
lebendiges  sich  selbst  bewegendes  oder  ruhendes 
System  ist  einem  leblosen  oder  physikalisch  ruhen- 


N.  F.  XX.  Nr.  37 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


543 


den  oder  bewegten  System  weder  mathematisch, 
noch  in  der  Natur  dogmatisch  gleichwertig.  Beide 
können  daher  niemals  aufeinander  bezogen  werden. 
Aber  gerade  das  tut  .  .  .  Einstein"  (S.  47).  Ich 
meine,  gründlicher  kann  man  den  Sinn  des  Re- 
lativitätsprinzips nicht  mißverstehen  1 

Nicht  weniger  unzulänglich  als  seine  Kritik 
der  Relativitätstheorie  ist  das  Positivitätsprinzip 
des  Verf.  hinsichtlich  seiner  biologischen  Leistung. 
IVIan  sollte  doch  endlich  einmal  aufhören,  die  un- 
endlich komplizierte  Fülle  der  biologischen  Tat- 
sachen und  Probleme  aus  einem  einzigen,  noch 
dazu  nur  metaphysisch  fundierten  Prinzip  ableiten 
zu  wollen.  Metaphysische  Biologie  haben  wir 
nachgerade  doch  übergenug  genossen!  Man  braucht 
sich  nur  die  drei,  aus  seinem  Prinzip  abgeleiteten 
„mathematischen  biologischen  Handformeln"  (S.  49) 
anzusehen,  um  sofort  zu  erkennen,  daß  diese  öde 
Mathematikspielerei  doch  für  die  theoretische 
Beherrschung  biologischer  Tatsachen  nicht  das 
geringste  leistet.    Genug  des  Unsinns  1 

Alles  in  allem  also  ein  völlig  mißglückter, 
unzulänglicher  Versuch,  ein  im  übrigen  klar  ge- 
sehenes Problem  zu  bewältigen. 

Adolf  Meyer. 

Lämmel,  Dr.  Rudolf,  Die  Grundlagen  der 
Relativitätstheorie.  Populärwissenschaft- 
lich dargestellt.  Berlin  1921,  Julius  Springer. 
Das  Buch  unterscheidet  sich  von  den  meisten 
anderen  dadurch,  daß  der  Verfasser  eigene  Wege 
geht,  keine  Auslegungen  und  Erklärungen,  sondern 
selbständige  Darlegungen  gibt.  Das  mathema- 
tische Beiwerk  fehlt  völlig.  Die  anschauliche  Art 
der  Darstellung  ist  unbedingt  anzuerkennen,  da 
sie  die  sonst  meist  sehr  abstrakt  und  dogmatisch 
vorgetragene  Einsteinsche  Hypothese  einer  ver- 
nünftigen Kritik  leichter  zugänglich  macht.  Der 
schwache  Punkt  bleibt  die  Stellung  zum  Äther, 
dem  der  Verfasser  jetzt  anscheinend  etwas  freund- 
licher gegenübersteht  als  in  seinen  früheren  Ver- 
öffentlichungen. Daß  die  Vorstellung  vom  „absolut 
ruhenden"'  Äther  nicht  befriedigt,  kann  und  muß 
zugegeben  werden.  Aber  die  Gründe,  die  Lämmel 
gegen  einen  mit  der  Materie  in  Übereinstimmung 
bewegten  Äther  anführt,  sind  nicht  stichhaltig, 
am  wenigsten  sein  Hauptargument,  daß  nämlich 
ein  mit  den  Gestirnen  bewegter  Äther  optisch 
nicht  nachweisbar  sei.  Er  sagt  darüber  S.  62 : 
„Als  eine  Art  dünner  Atmosphäre  müßte  dann 
jeder  Planet  und  Mond,  müßte  vor  allem  auch 
die  Sonne  mit  einer  Schicht  mitgeführten  Äthers 
ausgestattet  sein.  Dann  müßten  sich  astrono- 
mischeStrahlenbrechungen  zeigen,  welche 
die  uns  bekannten  in  der  irdischen  Luft  überlagern 
würden.  Davon  ist  nicht  die  geringste  Spur  er- 
mittelt 1"  Das  stimmt  doch  wohl  nicht  ganz! 
Gerade  derartige  Brechungen  in  der  Nähe  der 
Sonne  sind  doch  eben  durch  die  Relativitäts- 
theorie in  den  Mittelpunkt  des  Interesses  gerückt 
worden.    Vielleicht  ist  das  Schwerkraftfeld  nichts 


anderes,  als  der  bisher  vergeblich  gesuchte  „Äther- 
orkan" oder  „Ätherwind".  Die  Angaben  Lämmeis 
über  die  Widersprüche  in  der  Äiherphysik  sind 
nicht  zutreffend.  Insbesondere  ist  die  Aberration 
kein  Beweis  für  die  absolute  Ruhe  des  Äthers, 
wie  auch  v.  Laue  (Die  Relativitätstheorie,  4.  Aufl., 
S.  27)  zugesteht  und  wie  die  keineswegs  wider- 
legte Auflassung  von  Stokes  zeigt  (vgl.  Drudes 
Optik,  3.  Aufl.,  Leipzig  1912).  Die  anschauliche 
Darstellung  von  Lämmel  zeigt  also  gerade,  auf 
wie  schwachen  Füßen  die  physikalischen  Grund- 
lagen der  Relativitätstheorie  in  Wirklichkeit  stehen. 

Fricke. 

Moszkowski,  Alexander,  Einstein.  Einblicke 
in  seine  Gedankenwelt.  Gemeinverständliche 
Betrachtungen  über  die  Relativitätstheorie  und 
ein  neues  Weltsystem.  Entwickelt  aus  Ge- 
sprächen mit  Einstein.  Hamburg  192 1,  Hoff- 
mann u.  Campe.  F.  Fontane  u.  Co.,  Berlin. 
Das  Buch  ist  aus  Gesprächen  hervorgegangen, 
die  der  Verf.  an  den  Abenden  der  „Literarischen 
Gesellschaft"  im  Hotel  Bristol  geführt  hat;  man 
wird  etwas  an  Eckermanns  Gespräche  mit 
Goethe  erinnert.  Es  bestand  von  Anfang  an 
das  Einverständnis  darüber,  daß  das  Gespräch 
einer  besonderen  Entwicklung  ausgesetzt  und  an 
die  vorletzten  und  letzten  Dinge  heranzuführen 
sei.  Die  Unterhaltungen  behandeln  die  Grund- 
lagen der  Relativitätstheorie,  das  Wesen  der 
Kraft,  die  Charakteristik  großer  Forscher,  die 
Menschenerziehung,  die  Eigenart  des  Entdeckers, 
Mehrdimensionales,  Erkenntnistheoretisches,  prak- 
tische Fragen  der  Wissenschaft,  Atommodelle  und 
ähnliches  und  endlich  Einsteins  Werdegang 
und  Persönlichkeit.  Das  Buch  ist  von  einem  un- 
bedingten Bewunderer  Einsteins  geschrieben, 
ein  kritischer  Standpunkt  liegt  dem  Verf.  fern. 
Daß  Schriften  dieser  Art  eine  gewisse  Gefahr 
darstellen,  da  sie  Ausdruck  einer  „Massensuggestion" 
sind  und  eine  solche  verbreiten  helfen,  darf  nicht 
verschwiegen  werden.  Anzuerkennen  ist  jedoch 
die  leicht  faßliche  Art,  in  der  die  naturphilosophi- 
schen Probleme  hier  behandelt  werden. 

Fricke. 

Berger,  H.,  Psychophysiologie  in  i2Vor- 
lesungen.  lOöSeiten.  Jena  1921,  G.Fischer. 
Das  leicht  faßliche  und  recht  anregend  ge- 
schriebene Buch  kann  als  erste  Einführung  in  das 
Gebiet  jener  psychologischen  Vorgänge,  deren 
physiologischen  Begleiterschehiungen  uns  z.  T.  be- 
kannt sind,  empfohlen  werden.  Der  Physiologe 
wird  an  den  Ausführungen  des  Autors  allerdings 
manches  auszusetzen  haben,  wie  z.  B.  die  Be- 
deutung die  der  Verf.  der  Muskelsensibilität  für 
die  Lageempfindungen  und  den  Bewegungs- 
empfindungen der  Augenmuskeln  für  den 
optischen  Raumsinn  zuschreibt,  oder  wie  etwa  die 
Anwendung  des  Biotonus  auf  die  Theorie  der 
Gefühle.  Brücke  (Innsbruck). 


544 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


R  F.  XX.  Nr.  37 


Literatur. 

Kopff,  Prof.  Dr.  A.,  Die  Einsteinsche  Relativitätstheorie. 
Leipzig  '20,  Greßner  &  Schramm.     1,50  M. 

Hamilton,  Louis,  Ursprung  der  französischen  Bevölke- 
rung Canadas.     Berlin  '20,  Neufeld  &  Henius. 

Schnurre,  Dr.  O.,  Die  Vögel  der  deutschen  Kultur- 
landschaft.    Marburg  a.  d.  L.  '21,  G.  Braun. 

Lieske,  Prof.  Dr.,  Morphologie  und  Biologie  der 
Strahlenpilze.     Leipzig  '21,  Gebr.  Bornträger. 

Buchner,  Prof.  Dr.  Paul,  Tier  und  Pflanze  in  intra- 
zellularer Syinbiose.     Berlin  '21,  Gebr.  Bornträger. 

Lindner,  Prof.  Dr.  P. ,  Photographie  ohne  Kamera. 
Berlin  '20,  Union,  Deutsche  Verlagsgesellschaft. 

Kober,  Prof.  Dr.  L.,  Der  Bau  der  Erde.  Mit  4Ö  Text- 
figuren und  2  Tafeln.     Berlin  '21  ,    Gebr.  Bornträger.     80  M. 

Bretscher,  K.,  Der  Vogelzug  in  Mitteleuropa.  Mit 
16  Karten  und  vielen  Tabellen.     Innsbruck  '20,  Wagner. 

Grünbaum-Lindt,  Das  physik.  Prakt.  des  Nicht- 
physikers.  3.  verb.  u.  erw.  Aufl.  Leipzig  '21,  G.  Thieme. 
Geb.  36  M. 

Trunkel,  Dr.  H.,  Repetitorium  der  Botanik.  5.  verb. 
Aufl.  Aus:  Breitensteins  Repetitorien,  Nr.  19.  Leipzig  '21, 
J.  A.  Barth.     Brosch.   15  M. 

Gehes  Arzneipflanzen  •  Taschenbuch.  Zur  textlichen  Er- 
gänzung von  Gehes  Arzneipflanzenkarten-Sammlung.  Dresden  N., 
Gehe  u.  Co.,  A.-G. 

Brigl,  P.,  Die  chemische  Erforschung  der  Naturfarb- 
stofi'e.     Braunschweig  '21,  Fr.  Vieweg  u.  Sohn.      14  M. 

V.  Bezold,  Die  Farbenlehre.  11.  Aufl.  mit  60  Figuren 
und  12  zum  Teil  farbigen  Tafeln.  Braunschweig  '21,  Fr.  Vie- 
weg &  Sohn.     35  M. 

Tschirch,  Dr.  A.,  Die  biochemische  Arbeit  der  Zelle 
der  höheren  Pflanzen  und  ihr  Rhythmus.  Bern  '21,  Paul 
Haupt.     5   M. 

Wiesent,  Dr.  J.,  Die  Fortschritte  der  drahtlosen  Tele- 
graphie  und  ihre  physikalischen  Grundlagen.  II.  Aufl.  mit 
20  Abbildungen.     Stuttgart  '21,  F.  Enke.     6  M. 

Sammlung  chemischer  und  chemisch-technischer  Vorträge, 
Band  XXVI,  Heft  7. 

Chapmann,  Einige  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der 
analytischen  Chemie. 

Neuburger,  Dr.,  Neuere  Ergebnisse  der  Forschung  über 
die  Radioaktivität  des  Kaliums  und  Rubidiums  im  letzten 
Dezennium.     Ebenda  '21.     2,50  M. 

Wittin  g,    A.,    Einführung   in    die  Infinitesimalrechnung. 

I.  Die    Ditferentialrechnung.     II.    Aufl.      Leipzig    '21,    B.    G. 
Teubner.     2  M.  » 

Witting,    A.,    Einführung    in    die  Infinitesimalrechnung. 

II.  Die  Integralrechnung.    II.  Aufl.    (Aus:  Mathematisch-Physi- 
kalische Bibliothek.)    Bd.  41.  Leipzig '21,  B.  G.  Teubner.    2  M. 

Carnegie  Institution  of  Washington.  Annual  Report  of 
the  Director  of  the  Department  of  Rerrestrial  Magnetism. 
(Extracted  from  Year  Book  Nr.  19,  for  the  year  1920,  pp.  277, 
to  320,  2  plates.) 

Oppenheimer,  Prof.  Dr.,  Der  Mensch  als  Kraft- 
maschine.    Leipzig  '21,  G.  Thieme.      15  M. 

Grimsehl,  Lehrbuch  der  Physik.  Bd.  i:  Mechanik- 
Akustik,  Wärmelehre  und  Optik.  Leipzig '21,  B.  G.  Teubner.  32  M. 

Grimsehl,  Lehrbuch  der  Physik.  Bd.  2;  Magnetismus, 
Elektrizität.     Leipzig  '20,  B.  G.  Teubner.     22  M. 

Abraham,  Dr.,  Theorie  der  Elektrizität.  1.  Band;  Ein- 
führung in  die  Maxwellische  Theorie  der  Elektrizität.  VI.  um- 
gearb.  Aufl.  mit   II   Figuren  im  Text.     Leipzig  '21.     26  M. 

Loewit,  Dr.  M.,    Infektion  und   Immunität.     Nach  dem 


Tode  des  Verfassers  herausgegeben  von  Dr.  G.  Bayer.  Mit 
33  Texlfiguren  und  2  farbigen  Tafeln.  Berlin  '21,  Urban  u. 
Schwarzenberg. 

Strasburger,  Lehrbuch  der  Botanik.  15.  umgearb. 
Auflage  mit  849  zum  Teil  farbigen  Abbildungen.  Jena  '21, 
G.  Fischer.     44  M. 

Annual  Report  of  the  Smithsonian  Institution.  1915  und 
1916. 

Aus   Sammlung  Vieweg: 

1.  Valentiner,  Dr.,  Anwendungen  der  Quantenhypo- 
these in  der  kinetischen  Theorie  der  festen  Körper  und  der 
Gase.     Heft  16.     5,60  M. 

2.  Wegener,  Dr.,  Die  Entstehung  der  Mondkrater. 
Heft  55.     4,80  M.      ^ 

Aus  Sammlung  Göschen: 

Broili,  Prof.  Dr.  F.,  Paläozoologie  (Systematik).  Mit 
118  Abbildungen.  Berlin  '21,  Vereinigung  w.  Verleger. 
2,10  M.  u.  100%. 

v.  Düngern,  Prof.  Dr.  Emil  Frhr.,  Über  die  Prinzipien 
der  Bewegung,  das  Wesen  der  Energie  und  die  Ursachen  der 
Stoßgesetze.     Jena  '21,  G.  Fischer.     5  M. 

Meyers  Handlexikon.  8.  völlig  neubearbeitete  Auflage. 
Leipzig  '21,  Bibliographisches  Institut. 

Tropfke,  Geschichte  der  Elementar-Mathematik.  Ber- 
lin, Vereinigung  wiss.  Verleger. 

Sapper,  Auswanderung  und  Tropenakklimatisation. 
Würzburg,  Kabitzsch  u.  Mönnich.     2,50  M. 

Lehner,  Tafeln  zum  Bestimmen  der  Mineralien.  Berlin, 
Vereinigung  wiss.  Verleger.      10  M. 

Penck,  Wesen  und  Grundlagen  der  morphologischen 
Analyse.  Leipzig,  B.  G.  Teubner.  2,20  M.  u.  100%  Teue- 
rungszuschlag. 

Lud  ewig,  Radioaktivität.  (Sammlung  Göschen.)  Ber- 
lin, Vereinigung  wiss.  Verleger.  2,10  M.  u.  loo"/,,  Teuerungs- 
zuschlag. 

Haeckel,  Entwicklungsgeschichte  einer  Jugend.  Leip- 
zig, K.  F.  Koehler. 

Epsten,  Ein  Blick  ins  Jenseits.      Köln,  Ewald  Schwae. 

Fischer  u.  Schrader,  Entstehung  und  chemische 
Struktur  der  Kohle.     Essen,  W.  Girardet.     5   M. 

Cloß,  Der  Mechanismus  tiefvulkanischer  Vorgänge. 
Braunschweig,  Friedr.  Vieweg  u.  Sohn.  9  M.  u.  Teuerungs- 
aufschlag. 

Zander,  Das  Leben  der  Biene.     Stuttgart,   Eug.  Ulmer. 

Schmid  Kugelbach,  Geschichten  aus  der  Arche 
Noah.     Leipzig,  Schloeßmann.     Geb.   18  M. 

Euler,  Dantes  Göttliche  Komödie.  Volksvereins-Ver- 
lag G.  m.  b.  H.     7,20  M. 

Walther,  Geologische  Heimatbunde  von  Thüringen. 
Jena,   Gustav  Fischer.     Geh.  21,  geb.  27  M. 

Pöschl,  Farbwarenkunst.     Leipzig,  G.  A.  Glöckner. 

Haecker,  Allgemeine  Vererbungslehre.  Braunschweig, 
Fr.  Vieweg  u.  Sohn.     Geh.  46,  geb.  54  M. 

Molisch,  Mikrochemie  der  Pflanze.  Jena,  G.  Fischer. 
Geh.  58,  geb.  68  M. 

Hagedoorn,  The  Relative  Value  of  The  Processes 
Causing  Evolution.    Uitgevers-M.,  Martinus  Nijhoff.    Gld.  9. 

Rinne,  Gesteinskunde.  6.  u.  7.  Aufl.  Leipzig,  Dr.  Max 
Jänecke. 

Kahler,  Dr.  Karl,  Luftelektrizität.  (Sammlung  Göschen.) 
Berlin '21,  Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  Mit  100  °/o 
Teuerungszuschlag  4,20  M. 

Mannheim,  Prof.  Dr.  E. ,  Pharmazeutische  Chemie. 
(Sammlung  Göschen.)  Berlin  '21  ,  Vereinigung  wissenschaft- 
licher Verleger.     Mit   loo  %  Teuerungszuschlag  4,20  M. 


Inhalt:  V.  Engelhardt,  Dante  und  das  Weltbild  des  Mittelalters.  S.  529.  M.  Schwartz,  Was  ist  Pflanzenschutz f 
S.  532.  —  Einzelberlcbte:  Riede,  Über  die  Funktion  der  sog.  ,,Hydropoten"  bei  Wasserpflanzen.  S.  535.  Shapley, 
Neue  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Stellarastronomie.  S.  536.  W.  Fowler,  Ein  interessanter  Doppelslern  vom 
Algollypus.  S.  537.  E.  W.  Smith  und  A.  M.  Dale,  Die  Ilavölker  Nord-Rhodesiens.  S.  537.  K.  Floericke, 
Neuere  GewöUuntersuchungen  von  Tag-  und  Nachiraubvögeln.  S.  539.  —  Bücherbesprechungen:  R.  Pauli,  Über 
psychische  Gesetzmäßigkeit.  S.  541.  Sven  Bodforss,  Die  Alhylenoxyde.  S.  541.  W.  Ostwald,  Maihetische 
Farbenlehre.  Die  Farbschule.  Die  Harmonie  der  Farben.  S.  542.  Fr.  Kleinschrod,  Das  Lebensproblem  und  das 
Positiviiätsprinzip  in  Zeit  und  Raum  und  das  Einsteinscbe  Rclaiivitälsprinzip  in  Raum  und  Zeit.  S.  542.  R.  Lämmel, 
Die  Grundlagen  der  Relativitätstheorie.  S.  543.  A.  Moszkowski,  Einstein.  S.  543.  H.  Berger,  Psychophysiologie 
in   12  Vorlesungen.  S.  543.  —  Literatur:  Liste.  S.   544. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  rn.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S, 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band : 
der  ganzen  Reibe  36.  Band, 


Sonntag,  den  i8.  September  1921. 


Nummer  38t 


Zur  Geschichte  der  Einführung  der  Papageien. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  S.  Killermann,  Regensburg. 
Mit  3  Abbildungen. 


Als  die  ersten  tropischen  Ziervögel  erscheinen 
bei  uns  die  Papageien.  Ihre  Farbenpracht,  noch 
mehr  aber  ihre  Zähmbarkeit  und  die  Leichtig- 
keit, mit  der  sie  menschliche  Sprechlaute  nach- 
zuahmen lernen,  machten  sie  schon  bei  den 
alten  Völkern  beliebt.  Nach  Brehm  (VHP 
S.  15)  ist  die  Zähmung  dieser  Vögel,  die  in  ge- 
wisser Hinsicht  an  die  Unterjochung  unserer  Haus- 
tiere erinnert,  uralt.  In  der  altindischen  IVIytho- 
logie  galten  sie  als  Sinnbilder  des  Mondes,  und 
es  gibt  eine  rührende  Elegie  in  der  Sanskritsprache, 
die  von  der  dankbaren  Treue  eines  Papageis  er- 
zählt: „Da  der  Baum,  der  ihm  Zeit  seines  Lebens 
Nahrung  und  Obdach  gewährt  hat,  verdorrt  und 
eingeht,  so  beschließt  auch  der  Vogel  zu  sterben". 
Nach  Aelian')  (um  200  n.  Chr.)  wurden  die 
Papageien  in  Indien  für  heilig  gehalten  und  bil- 
deten die  Begleitung  des  Königs;  trotz  ihrer 
Menge  ißt  kein  Brahmane  je  ihr  Fleisch;  sie 
schätzen  sie  wegen  ihrer  Fähigkeit,  die  mensch- 
liche Sprache  nachzuahmen.  —  Im  persischen 
Märchen  -)  wird  dem  Papagei  menschlicher  Ver- 
stand zugeschrieben. 

Was  nun  die  Einführung  von  Papageien  in  die 
westlichen  Kulturländer  betrifft,  so  scheinen  die 
alten  Ägypter  von  ihnen  keine  Kenntnis  besessen 
zu  haben;  auch  in  der  Bibel  findet  sich  kein  Beleg 
hierfür.  Am  frühesten  wurden  die  Griechen  auf 
dem  Alexanderzug  nach  Indien  mit  diesen  Vögeln 
bekannt  und  zwar  mit  dem  in  Indien  und  Ceylon 
als  Stubenvogel  häufig  gehaltenen  grünen,  rotge- 
bänderten  Halsbandsittich  (Palaeornis  tor- 
quata).  Nach  K  e  1 1  e  r  ''j  schreibt  zuerst  K  t  e  s  i  a  s, 
der  griechische  Leibarzt  des  Perserkönigs  Arta- 
xerxes  IL,  um  387  v.  Chr.  von  einem  Vogel 
Bittakos  und  Onesikritos,  Steuermann  in  der 
Flotte  Alexanders,  brachte  die  ersten  lebenden 
Exemplare  nach  Europa.  Selbstverständlich  haben 
dann  auch  die  reichen  Römer  sich  für  solche 
Vögel  interessiert.  Marcus  Portius  Cato  (im 
2.  Jahrhundert   v.    Chr.)    wetterte    unter   anderem 


')  De  natura  anim.alium  Hb.  .XIll  cap.  iS  (ed.  Seh  neider), 
p.  176:  Ibi  etiam  psittaci  aluntur,  et  sursum  deorsum,  ultro 
citroque  circum  regem  versantur.  Nee  psiltacum  idcirco  In- 
dorum  quisquam,  etsi  eorum  magna  illic  multitudo  sit,  edit; 
i|uia  eos  sacros  putent,  et  Brahmanes  quidem  ex  avibus  plu- 
rimi  hunc  aestiment.  Quod  quidem  ipsum  non  abs  re  se 
facere  profitentur,  quod  solus  psittacus  humanam  verborum 
appellationem  explanata  oris  e,\pressione ,  et  vocis  confor- 
matione,  imitando  consequalur. 

-)  Das  persische  Papageienbuch;  Sammig.  von  Märchen, 
l'bers.  von  Iken.     Leipzig   1905. 

»)  Die   antike  Tierwelt,   I,  Bd.,  S.  45—49. 


gegen  die  Sitte  der  jungen  römischen  Stutzer 
seiner  Zeit,  mit  zahmen  Papageien  auf  der  Faust 
in  den  Straßen  herumzuspazieren. 

P 1  i  n  i  u  s  (um  60  n.  Chr.) ')  beschreibt  die 
Papageiart,  um  die  es  sich  handelt,  folgender- 
maßen: „Die  Papageien  lernen  sogar  Worte 
sprechen.  Wir  erhalten  diesen  Vogel  aus  Indien 
unter  dem  Namen  Sittace ;  er  ist  am  ganzen  Körper 
grün,  nur  mit  einem  mennigroten  Halskragen.  Er 
grüßt  die  Fürsten  und  spricht  die  vorgetragenen 
Worte  nach,  ist  besonders  mit  Wein  berauscht 
ausgelassen.  Sein  Kopf  ist  ebenso  hart  wie  sein 
Schnabel;  auf  diesen  schlägt  man  ihn  mit  einem 
Eisenstäbchen,  wenn  er  sprechen  lernen  soll.  Sonst 
fühlt  er  die  Schläge  nicht.  Beim  Abfliegen  faßt 
er  mit  dem  Schnabel  zu,  stützt  sich  darauf  und 
macht  sich  so  für  die  Schwäche  seiner  Füße 
leichter." 

Vielfach  ist  in  der  römischen  Literatur  von 
dem  Vogel  die  Rede,  dessen  auch  verschiedene 
Dichter  (Ovid,  Persius)  gedenken.-)  Der  Wert 
richtete  sich  nach  der  Dressur  und  manch 
sprechender  Papagei  galt  mehr  als  ein  mensch- 
licher Sklave.  Heliogabal  setzte  seinen  Gästen 
Papageiköpfe  zum  Essen  vor. 

Bei  Albertus  Magnus  (f  1280)  finden  wir, 
obwohl  er  mehrmals  auf  diesen  Vogel  in  seinem 
Tierbuch  ^)  zu  sprechen  kommt,  gegenüber  P 1  i  - 
nius  keine  neue  Daten.  Es  ist  fraglich,  ob  Al- 
bertus je  einen  Papagei  zu  sehen  bekam.  Seine 
Beschreibung  bezieht  sich  natürlich  auf  den  Hals- 
bandsittich (viridis  tota,  torque  aliquantulum  co- 
loris  aurei).  Er  hebt  die  breite  Zunge  dieses 
Vogels  hervor,  die  er  als  die  Grundlage  seines 
Sprechtalentes  betrachtet,  und  gibt  Indien,  Ara- 
bien und  die  regenlosen  Gebiete  der  Tropen  als 
Heimat  an. 

Der  zweite  deutsche  Naturkundige  jener  Zeit 
Konrad  von  Megenberg'')  (um  1330)  be- 
merkt, daß  die  Vögel  meist  auf  die  Wörter:  „Ave 
chere")  d.  h.  Gott  grüß  dich,  Lieber"  abgerichtet 
waren.  Er  dürfte  schon  eher  ein  Exemplar  ge- 
sehen haben.    Der  italienische  Humanist  und  Ver- 

')  Nat.  Hist.,  X,  41   (58),  bei  Mayhoff  vol..  11,  p.   1S7. 

')  Näheres  s.  bei  Aldrovandi,  Ornitbologia  lib.  .VI 
(Francofurti  1610). 

■')  De  animalibus  über  1  21  ;  II  74;  IV  94;  VlII  215; 
\11  204;  XXI  26;  XXIII  13S  nach  der  neuen  Ausgabe  von 
H.  Stadler,  Münster  1916,  21.  Vgl.  auch  meine  „Vogel- 
kunde des  Albertus  M."  (Kegensburg   1916),  S.  40. 

*)  Ausgabe  von  H.  Schulz   S.   184. 

*)  Wohl    nach    Persius:    ,,Quis    expedivit    Psittacis    suum 


U6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


fasser  eines  Tierbuches  Petrus  Candidus') 
(1460)  erzählt,  daß  sein  Vater  zu  Venedig  einen 
abgerichteten  Papagei  gesehen,  der  aus  dem  Ge- 
dächtnis zwei  volle  Papyrusseiten  sprechen  konnte 
und  auf  lOOO  Goldgulden  gewertet  war.  Als 
Heimat  der  Vögel  gibt  dieser  Autor  die  „Nil- 
quellen" an. 

Die  wenigen  Europäer,  welche  in  jener  Zeit 
Papageien  in  ihrem  Wildleben  beobachteten,  waren 
die  berühmten  venetianischen  Reisenden  Marco 
Polo  und  Nicolo  de  Conti.  Der  erstere '-) 
(um  1290)  sah  in  Ormus  am  persischen  Meer- 
busen in  dem  dortigen  Dattelpalmenwald  neben 
Frankolinen  auch  Papageien  und  erzählt  im  3.  Buch 
25.  Kap.,  daß  es  im  Königreich  Koulam  (jetzt 
Quilon,  Malabar)  neben  verschiedenen  seltsamen 
Tieren  (schwarzen  Panthern)  Papageien  gebe,  „von 
denen  einige  weiß  wie  Schnee  mit  roten  Füßen 
und  Schnäbeln,  andere  rot  und  grün  und  wieder 
andere  sehr  klein  sind".  Unter  den  weißen  ver- 
mute ich  Kakadus. 

Nicolo  de  Conti, '^)  der  zu  Anfang  des 
15.  Jahrhunderts  25  Jahre  lang  im  Osten  weilte 
und  1441  seinen  Reisebericht  abfaßte,  unterscheidet 
3  Papageiarten:  eine  rote  mit  gelbem  Schnabel 
(Eos  bornea  nach  Stresemann),  eine  mit  ver- 
schiedenen Farben  Noro  genannt  (Lorius  domi- 
cella  nach  Stres.)  und  eine  dritte,  weiß,  von  der 
Größe  eines  Huhnes,  Cachos  genannt  (Cacatua 
moluccensis  nach  Stres.). 

Durch  den  im  Mittelalter  aufblühenden  Le- 
vantehandel und  die  Kreuzzüge  werden  Papageien 
des  öftern  nach  Europa,  Italien  vor  allem  und 
auch  Deutschland,  gebracht  worden  sein.  Ge- 
legentlich finden  sich  in  Archiven  und  Chroniken 
Notizen  über  solche  Ziervögel.  P.  M.  Baum- 
garten*)  hat  im  Vatikanischen  Archiv  als 
früheste  beglaubigte  Nachricht  über  einen  Papagei 
an  der  Kurie  die  aus  der  Zeit  Martins  V.  (142 1) 
entdeckt.  Ein  Deutscher  namens  Johannes  wird 
da  als  F'amiliare  des  Papstes  und  Wärter  eines 
Papageis  (Custos  papagalli)  bezeichnet,  und  ihm 
werden  von  der  apostolischen  Kammer  die  nötigen 
Gelder  für  den  Unterhalt  des  Vogels  angewiesen. 
Als  der  Papst  im  Frühjahr  des  Jahres  1424  in 
Tivoli  gewesen  war,  wurde  beim  Wegzug  der 
Käfig  mit  dem  Papagei  vergessen.  Ein  Bote 
(Gordinoctius  mit  Namen)  wurde  hingesandt, 
um  ihn  zu  holen,  wofür  i  Gulden  (floren.  unum) 
bezahlt  wurde.  —  Am  päpstlichen  Hofe  scheinen 
Papageien  sehr  beliebt  gewesen  zu  sein  und  heute 
heißt  noch  ein  vatikanischer  Hof  Cortile  dei  Papa- 
galli, d.  h.  Hof  der  Papageien.  Die  Tiere  wurden, 
wie    Baumgarten    denkt,    hauptsächlich    durch 


Gesandtschaften,   Missionäre   usw.   nach   Rom  ge- 
bracht und  dem  Papste  verehrt. 

Aus  dem  15.  Jahrhundert  gibt  es  auch  für 
Deutschland  Urkunden  über  das  Halten  von  Papa- 
geien. 1)  In  Straßburg  soll  1449  bereits  ein  Haus 
darnach  benannt  worden  sein.  Im  Jahre  1458 
verehrte  der  Rat  von  Nürnberg  dem  Erzbischof 
von  Mainz  einen  Sittich,  der  um  25  fl.  von  An- 
tonPaumgartner'-)  gekauft  worden.  Der  Vogel 
wurde  in  einem  vergoldeten  Käfig  nach  Aschaffen- 
burg  gebracht  und  es  hat  sich  noch  die  ganze 
Rechnung  hierfür  erhalten,  im  ganzen  50  Pfund 
12  Schilling  2  Heller.  1460  kaufte  der  Rat  von 
dem  genannten  Herrn  wiederum  einen  Papagei 
für  die  Königin  von  Böhmen ;  die  Sache  kam  auf 
65  Pfund  I  Schilling  1 1  Heller  zu  stehen. 

In  der  Beschreibung,  die  der  Humanist 
Castaldo  da  Feltre,  1503  Doktor  in  Padua, 
von  dem  Garten  der  Brüder  P  r  i  u  1  i  in  Murano 
bei  Venedig  gibt,^)  fehlt  auch  nicht  der  Papagei: 
„Du  bemerkst  einen  ungeheuren  Käfig,  der  mit 
Eisenruten  bedeckt  und  300  mal  geteilt  ist  nach 
Art  eines  Gitters;  von  hier  grüßt  dich  oft  der 
Papagei  mit  menschlicher  Stimme". 

Andere  Hofnachrichten,  die  sich  auf  die  Hal- 
tung von  Papageien  beziehen,  bringt  Chle- 
dowski.  ■•)  Darnach  mußte  Ercole  Roberti, 
Hofmaler  in  Ferrara  (f  1496)  für  die  aus  Neapel 
stammende  Herzogin  Eleonora  einen  Papageien- 
käfig vergolden.  Eine  andere  Dame,  die  Herzogin 
Renata  di  Francia,  Beschützerin  der  Hugenotten, 
ließ  um  1563  für  ihren  Papagei  auf  dem  Schloß 
Montargis  bei  Chartres  einen  Käfig  bauen,  der 
nicht  weniger  als  6  Stockwerke  hoch  war. 

Altere  Abbildungen  von  Papageien  finden  sich 
in  W  i  1  p  e  r  t  s  •'')  herrlichem  Mosaikwerk,  das  als 
Denkmal  deutscher  Forschungsarbeit  noch  im 
Kriege  vollendet  wurde  (Probe  Nr.  32);  die  Art 
(im  allgemeinen  grün)  ist  nicht  genauer  zu  be- 
stimmen. In  einer  frühen,  im  britischen  Museum 
befindlichen  Miniatur  „Schöpfung  der  Tierwelt",") 
erscheint  unser  Halsbandsittich,  mit  dem  (weiß- 
lichen) Halsring  deutlich  charakterisiert.  Schön 
rot  beringt  sitzt  er  in  lebensvoller  Haltung  an 
einem  Bächlein  auf  grüner  Waldwiese  mitten  unter 
einheimischem  Getier  auf  dem  Gemälde  „St.  Jo- 
hannes in  der  Waldlandschaft",')    das   der   merk- 


')  Vgl.  meine  Arbeit  „Das  Tierbuch  des  P.  Candidus". 
Zool.  Annalen  VI,  S.   164  ff. 

')  H.  Lemke,  Die  Reisen  des  Venezianers  Marco  Polo  im 
13.  Jahrhd.  (Hamburg   1907),  S.  99  u.  475  f. 

■')  Bei  E.  Stresemann,  Die  Vögel  von  Seran  (Ceram) 
Novitates  Zoologicae  Vol.  XXI  (London  1914),  S.  81. 

*)  Historisches  Jahrbuch  der  Görres-Ges.  XXVI  (1905), 
S.  945  f.     Curiosa  aus  dem  Vatik.  Archiv. 


')  Nach  dem  Anzeiger  z.  Kunde  der  deutschen  Vorzeil 
1873,  Nr.  5.     Zool.  Garten  XIV  (1873),  S.  267. 

'■')  Im  Wappen  dieser  berühmten  Kaufmannsfamilie ,  die 
um  1300  in  Nürnberg  auftaucht,  erscheinen  auch  drei  Hals' 
bandsittiche;  s.  Nürnberger  Wappenbuch  und  den  Dürer- 
sehen  sog.  Paumgartner  Altar,  Mittelbild ;  München,  A.  Pinak. 
Nr.  240. 

')  Nach  Molmenti,  Storia  die  Venezia  (Bd.  2,  S.  354) 
bei  Ch.  El  fr.  Pauly,  Der  venetianische  Lustgarten  (Straß- 
burg Heitz   1916),  S.   II. 

*)  Cas.  V.  Chledowski,  Der  Hof  von  Ferrara  (Berlin 
igio),   S.  497  u.  303. 

")  Erschienen  im  Verlag  Herder,  Freiburg  i.  Br. 
")   J.   O.  Westwood,    lUuminated  Illustrationes    of   the 
bible.     London   1S96,  Genesis  Mus.  brit. 

')  Berlin,   K.  Friedrich-Museum  Nr.   1631. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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würdige  Holländer  Geertgcn  tot  sint  Jans 
(1465 — 95)  geschaffen. 

Daß  der  Halsbandsittich  auch  in  Deutschland 
bekannt  war ,  zeigt  der  Kupferstich  M.  Schon- 
gauers  „Die  Flucht  nach  Ägypten",  den  hier') 
kürzlich  H.  Schenck  behandelt  hat.  Auf  dem 
Drachenbaum  sitzt  er  mft  herabgebogenemSchweife, 
in  einer  Haltung,  wie  sie  auch  Brehm  (Vögel  II'', 
S.  332)  von  dem  Vogel  gibt.  Der  Stich  stammt 
nach  Wendland  aus  der  Zeit  um  1470.  Ich 
denke:  wäre  das  Werk  in  Spanien  geschaffen 
worden,  so  hätte  der  Meister  eher  den  für  die 
Westküste  Afrikas  in  Betracht  kommenden  Jako 
auf  den  Drachenbaum  gesetzt.  —  Im  Museum  zu 
Colmar,  der  Wirkungsstätte  Schongauers,  ist 
übrigens  noch  ein  zweites  Bild  „Predigt  des  Jo- 
hannes des  Täufers"  aus  der  „oberrheinischen 
Schule"  (1440 — so),  das  uns  den  genannten  Papa- 
gei in  Farben  (grün)  auf  einem  rottrüchtigen  Sand- 
dornstrauch zur  Vorstellung  bringt. 

Unterdessen  war  offenbar  auch  der  in  Afrika 
heimische  Graupapagei,  der  sog.  Jako  (Psit- 
tacus  erithacus  L.),  ebenfalls  ein  sehr  gelehriges 
Tier  durch  die  Entdeckungen  der  Portugiesen  an 
der  afrikanischen  Westküste  öfters  nach  Europa 
gebracht  worden.^)  Als  die  französischen  Edel- 
leute  Betencourt  und  Gadiferus  um  14CX) 
die  kanarischen  Inseln  besetzten,  konnten  sie  und 
die  nachfolgenden  Missionäre  sich  nicht  genug 
über  die  dort  zahlreich  vorhandenen  gezähmten 
und  wilden  Papageien  wundern.^) 

Abbildungen  dieser  Art  erscheinen  vor  allem 
auf  dem  Gemälde  „Adam  und  Eva"  (Florenz, 
Galerie  Pitti),  das  als  Dürer  kopie  aus  der  Hand 
von  Lukas  Cranach  (um  1520)  angesprochen 
wird.  Die  dort  dargestellte  Tierwelt  (Hirsch,  Reb- 
huhn usw.)  ist  sicherlich  des  letzteren  Arbeit;  der 
dazu  gesetzte  Papagei  ist  mit  grauem  Federkleid 
und  kurzem  roten  Schweif  sehr  gut  gegeben. 
Weiter  finde  ich  den  Jako  auf  dem  Bilde  „Ma- 
donna mit  dem  Apfel"'')  von  L.  Lombard 
(1505 — 66),  einem  Lütticher  Maler,  und  auf  dem 
Bildnis  einer  Dame  ^)  die  den  Vogel  an  einer 
Kette  hält  —  zugeschrieben  dem  „Meister  der  weib- 
lichen Halbfiguren".  Aus  späterer  Zeit  (1640) 
stammt  ein  Bild  vom  Graupapagei  in  der  Mün- 
chener Residenz  (päpstliches  Zimmer,  Frucht- 
stück). Ebenda  (A.  Pinakothek  Nr.  533  u.  1399) 
sieht  man  noch  zwei  feine  Bilder  von  Jakos,  die 
aus  ihren  Käfigen  genommen  von  der  Dame  ge- 
füttert werden  —  Kleingemälde  der  beiden  Hol- 
länder Fr.  V.  Mieris  (1635 — 81)  und  C.  Netz- 
scher (1639—84). 

Mit    der    Entdeckung    Amerikas    wurde    man 

■)  Jahrg.  XIX,  Nr.  49  (5.  Dez.  1920J ;  auch  Sonderab- 
druck  mit  3  Tafeln.     Jena,  Fischer,   1920. 

')  Wie  schwierig  die  Einführung  dieser  Art,  namentlich 
die  Überstehung  der  Seereise  ist,  schildert  ein  Artikel  in  der 
„Ornithol.  Monatsschrift"    nach    Zool.  Garten    XXXIV  (1893), 

s.  254. 

^)  Nach  Baumgarten  a.  a.  O. 

*)  Wien,  Staatl.  Gemäldegalerie  Nr.   756. 

*]  Wien,  Lichtensteingalerie  Nr.  2024. 


auch  mit  neuen  Papageiarten  bekannt.  Ich  habe 
hier  *)  schon  einmal  vorgetragen,  wie  Kolumbus 
am  letzten  Tage  seiner  denkwürdigen  Fahrt 
(Donnerstag,  11.  Oktober  1492)  durch  das  Er- 
scheinen eines  „grünen  Vogels",  in  dem  wir  einen 
Papagei  vermuten  dürfen,'-)  in  seiner  Hoffnung, 
bald  Land  zu  sehen,  bestärkt  wurde  und  von  den 
Bewohnern  der  Insel  Guanahani  neben  anderen 
Geschenken  vor  allem  Papageien  eintauschte.  Ja, 
diese  waren  nach  seinem  Berichte  die  einzigen 
Tiere,  die  er  auf  der  Insel  beobachtete. 

Die  Spanier  sahen  dann  beim  weiteren  Vor- 
dringen gar  oft  gezähmte  Papageien  vor  den  Hütten 
der  Eingeborenen,  manchmal  so  häufig  wie  bei 
uns  die  Spatzen  und  von  allen  Sorten,  so  groß 
wie  Fasanen  und  so  klein  wie  Sperlinge.^)  Als 
die  Spanier  1 509  ein  an  der  Landenge  Darien  ge- 
legenes Karibendorf  überfallen  wollten,  wurden 
sie  von  den  wachsamen  Papageien  verraten  (nach 
Brehm  a.  a.  O.). 

Die  innige  Verbindung  der  Papageien  mit  dem 
Indianerleben  kommt  sehr  schön  zum  Ausdruck 
in  der  bekannten  Sage  von  dem  ausgerotteten 
Indianerstamm,  dessen  Idiom  durch  einen  Papagei 
sich  erhalten  haben  soll: 

„Kennt  ihr  die  Mär,  die  Humboldt  uns  berichtet? 
Ein  Indianerstamm  ward  ganz  vernichtet 
Und  seine  Sprache  sank  mit  ihm  ins  Grab ; 
Ein  Papagei  nur,  den  die  Sieger  schonten 
Sprach  nach  Jahrzehnten  noch  in  der  gewohnten 
Seltsamen  Sprache,  die  kein  Echo  gab."*) 

Die  ersten  Abbildungen  von  amerikanischen 
Papageien  erscheinen,  wie  ich  das  für  manch 
andere  Naturobjekte  schon  dargelegt  habe,  in  der 
Kunst.  Das  berühmte  in  Venedig  befindliche,  um 
1500  in  den  Niederlanden  entstandene  Breviarium 
Grimani,  führt  uns  neben  dem  gewöhnlichen  Hals- 
bandsittich ein  paarmal  auch  amerikanische  Arten 
vor.  So  sitzt  im  „  April"bild  nach  GiulioCoggi- 
ola'^)  auf  der  Hand  einer  Dame  ein  kurz-,  breit- 
schwänziger Papagei,  der  nur  eine  Amazone  sein 
kann :  die  Wangen  gelb,  Brust-  und  Rücken  grün, 
an  den  Schwingen  und  am  Schwänze  rot.  Ich 
halte  ihn  für  den  venezuelischen  Gelbkopf 
(Amazona  ochroptera  Gm.).  Weniger  gut  in 
Farben  ist  ein  zweiter  langschwänziger  Ameri- 
kaner dargestellt  (557^),  vielleicht  der  große 
Arapapagei.") 

Von  hohem  Interesse  ist  für  uns  das  Vorkom- 

')  Artikel  „Zugvögel  auf  hoher  See",  Jahrg.  VII  (1908), 
Nr.  13. 

'')  Nach  einem  Bericht  im  Zoolog.  Garten  XL  {1899), 
S.  58  wurden  vom  Kapitän  A.  Behnert  (Thalia,  Hamburg] 
am  1.  Juni  1895  —  also  im  südlichen  Winter  —  an  der  Süd- 
spitze Südameriitas  vier  grüne  Papageien  auf  hoher  See  be« 
obachtet. 

')  Näheres  bei  Petrus  Martyr,  De  rebus  oceanicis 
(Kölner  Ausgabe   1574)  an  verschiedenen  Stellen. 

■■jjoh.  Schürmann  in  „Fliegende  Blätter"  126.  Bd. 
(1907),  Nr.  3213. 

")  U  Breviario  Grimani.  Ricerche  storiche  e  artistiche  | 
appendice  al  capitolo  HI  (Leiden  SijthofT  igto),  pag.   34'. 

")  In  der  bezeichheten  Faksimileausgabe  sehe  ich  Papa« 
geien  auf  Blatt  „Paradies"  Nr.  286V  (llelbkopf)  ii.  Nr.  137I 
(ohne  Karbej. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  P.  XX.  Nr.  3cS 


men  einer  m.  E.  amerikanischen  Art  auf  dem  be- 
rühmten Aquarell  „Madonna  mit  den  vielen  Tieren" 
von  A.  D  ü  r  e  r.  ^)  Der  Vogel,  der  da  zur  linken 
Hand  auf  einem  Pfosten  aufbäumt,  zeigt  einen 
langen,  spitz  zulaufenden  Schweif,  gelbliches  Ge- 
fieder, hellgrüne  -)  (oder  bläuliche)  Flügel  und 
Kopf.  Ich  denke  an  einen  Ararauna  (Ära 
ararauna  L.),  der  nach  Brehm  von  Panama  bis 
Brasilien  verbreitet  ist.  Der  Papagei  bildet  mit 
der  Seespinne  (zur  rechten  Seite)  den  fremdländi- 
schen Einschlag  auf  dem  interessanten  Bilde,  in 
dem  Dürer  gar  mancherlei  Tiere  zur  Darstellung 
brachte.  Die  Zeit  der  Entstehung  wird  von 
Heiderich  auf  1501,  von  anderen  auf  die  Jahre 
1506 — 08,  die  (zweite)  venetianische  Reise  ange- 
geben. Es  scheint  mir,  daß  dieselbe  Art  auf  dem 
Kupferstich  „Adam  und  Eva"  von  1504  links  auf 
dem  Mehlbeerbaum  sitzend,  und  dann  nochmals 
auf  der  Zeichnung  „Madonna  in  der  Halle"  (Basel 
Mus.)  von   1 509  verewigt  ist.  ^) 

Auf  einem  anderen  herrlichen  Werke  deutscher 
Kunst,  dem  hier  *)  schon  einmal  besprochenen 
„Johannesaltar"  Burgkmairs  (München,  Alte 
Pinakothek  Nr.  222),  sehen  wir  eine  zweite  ameri- 
kanische Art  zum  erstenmal  im  Bilde  (vgl.  Abb  i). 
Es  sind  zwei  Kubaam  azonen  (Amazona  leuco- 
cephala  L.),  die  sich  am  Stamme  und  in  der 
Krone  des  beschriebenen  Drachenbaums  aufhalten. 
Die  Vögel  sind  in  der  Gesamtfärbung  grün  und 
zeigen  etwas  Rot,  der  eine  (am  Stamme)  an  den 
Flügeln,  der  andere  (im  Laubwerk)  auf  der  Unter- 
seite des  Schwanzes;  die  Wangen  und  auch  die 
Stirne  (bei  dem  letzteren  wenigstens)  sind  weiß 
gegeben.  Das  Bildwerk  stammt,  wie  ich  schon 
dargelegt  habe,  aus  dem  Jahre  15 18  und  aus 
Augsburg. 

Ebenfalls  beachtenswert  ist  das  frühe  Auftreten 
von  Kakadus  und  anderen  polynesischen  Arten 
auf  Bildern.  So  sehe  ich  auf  A.  Mantegnas 
„Madonna  della  Vittoria", '')  die  1495/96  gemalt 
wurde,  in  der  prächtigen  Laube  einen  beschopften 
(weißen)  Kakadu  sitzen;  ein  zweiter  Papagei 
daselbst  scheint  der  Halsbandsittich  zu  sein.  — 
Der  hochrote  Molukkenlori  (Eos  bornea  rothschildi 
Stresemann)  ist  sehr  gut  dargestellt  von  dem 
Venezianer  Vitt.  Carpaccio  (t  1526)  auf  dem 
1 5 1 1  entstandenen  Gemälde  „Petrus  und  Stefanus".") 


')  Wien,  ehem.  Sammig.  Albertina.  Lippmann,  Nach- 
bildg.  der  Handzeichnungen  A.  Dürers  Nr.  460. 

^)  Wenigstens  auf  der  Kopie  in  München  Kupferstichkb. ; 
auf  dem  Original  in  Wien  m.  Erinnerung  nach  mehr  blau. 

')  Wie  sehr  Dürer  auf  Papageien  erpicht  war,  bezeugt 
seine  Bemerkung,  daß  er  sich  auf  seiner  niederländischen 
Reise  1520/21  zwei  grüne  Papageien  aus  Malakka  erwarb  (bei 
Veth  und  jMuller,  II.  Bd.,  .S.  200). 

■*)  Vgl.  meinen  Artikel  „Die  ersten  Nachrichten  u.  Bilder 
von  der  Kokospalme  u.  vom  Drachenbaura"  Nalurw.  Wochen- 
schrift XIX  (1920),  Nr.  20  Bild  farbig  bei  Seemann, 
Galerien  Europas,  Verlags-Nr.   1134. 

=)  Paris  Louvre  Nr.  1:^74.  Vgl.  Klassiker  der  Kunst  XVI 
(Stuttgart  1910),  S.   16S. 

")  Berlin,  K.  Friedrich-Mus.  Nr.  23.  Der  Meister,  der 
auch  in  Konstantinopel  gewesen  sein  soll,  hat  nach  Cohn 
auf  dem  Wiener  Bilde  „Christus  und  die  Engel"  als  einer  der 


Von  dieser  schönen  Art  hatte  bereits  N.  de 
Conti  Nachricht  gebracht.  Sonst  sind  auf  ita- 
lienischen Bildwerken  meines  Wissens  Papageien 
eine  ziemlich  seltene  Erscheinung.  Im  „Triumph 
des  Todes"  (Pisa  Campo  Santo),  entstanden  um 
1350,  scheinen  mir  solche  verewigt  zu  sein  und 
dann  in  einem  (blinden)  Fenster  der  Raffaelschen 
Loggien,  aus  der  Zeit  um   1520  stammend. 


Abb.  :.     Kubaamazonen  auf  dem  Bilde  „Johannesallar" 

von  Joh.  Burgkmaier  (München,  alte  Pinak.  Nr.  222) 

gemalt   15 iS.     (Ausschnitt  nach  Seemann  Gal.  Eur.). 


Gesner  (1537)^)  bespricht  als  der  erste 
Wissenschaftler  neben  den  bekannten  zwei  alt- 
weltlichen Arten  auch  zwei  amerikanische,  den 
„rotgelben  und  rotblauen"  Sittich,  von  denen 
er  nur  einfache  Holzschnitte  gibt.  Aldrovandi, 
der  größte  Ornithologe  des  16.  Jahrhunderts, 
widmet  den  Papageien  ein  eigenes  Buch  in  seinem 


ersten  eine  gelbrote  Tulpe    gemalt;    vgl.    auch  Sol ms- Lau- 
bach, Weizen  und  Tulpe  S.  54. 

')    Vogelbuch,    übersetzt    von    Heußlin    (Zürich    1557)1 
fol.   CCXXf. 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Werke;*)  er  führt  gegen  14  Arten  in  13  Holz- 
schnitten vor,  darunter  einen  weißen  Kakadu 
(Taf.  IX,  Fig.  4)  und  eine  Art,  die  dem  Papste 
Gregor  XIII.  aus  Japan  (wo  es  aber  keine  Papa- 
geien gibt)  verehrt  wurde  (Taf.  X,  Fig.  6). 


Abb.  2.     Arapapageien  auf  dem  Bilde  ,, Paradies". 

Von  Jan  Brueghel  (Berlin  K.  Friedr.  Mus.  Nr.  742), 

entstanden  um  1600.     (Ausschnitt,  Phot.  Ges.  Berlin.) 


Abb.  3.     Arakanga  auf  dem  Bilde  „Vogclkonzert"   von 
Fr.  Snyders  (Petersburg,  Eremitage). 
i  (Ausschnitt  Phot.  Hanfstengel.) 


Clusius  (1605)*)  fügt  den  bisher  bekannten 
zwei  neue  Arten  bei;  den  „Psittacus  elegans",  den 
er  beim  Fürsten  von  Croy  sah,  das  ist  der  sog. 
Fächerpapagei  (Deroptyus  Clusü,  jetzt  acci- 
pitrinus)  und  einen  Zwergpapagei  „Ps.  mini- 
mus",  dessen  Heimat  er  in  „Äthiopien  und  Mani- 
congo"  vermutet  —  wahrscheinlich  der  (ameri- 
kanische) Sperlingspapagei  (Psittacula  passerina). 
Große  Liebhaber  dieser  Vögel  waren  damals  eine 
Frau  de  Brimeu,  der  genannte  Fürst  von  Croy 
und  Areschot. 

Vor  solchen  Schau-  und  Vogelsammlungen 
haben  wohl  die  bekannten  unübertrefflichen,  haupt- 
sächlich um  1600 — 1050  schaff'enden  Tiermaler 
Jan  Brueghel,  Rubens,  Fr.  Snyders,  Jan 
Fyt,  R.  Savery  und  andere  ihre  Studien  ge- 
macht. Auf  manchen  Bildern  dieser  Meister 
wimmelt  es  von  aufs  herrlichste  nachgebildeten 
exotischen  Prachtvögeln. 

So  erscheinen  brasilianische  Hyazinth-  und 
Blauaras  (Ära  spec.  [vgl.  Abb.  2])  auf  den  um  1596 
gemalten  sog.  „Vier  Elementen"  -')  und  den  um  16 14 
entstandenen  „Paradieslandschaften"  ^)  Brueghels; 
ein  paarmal  *)  finde  ich  bei  ihm  auch  den  austra- 
lischen Gelbhaubenkakadu  (Cacadua  galerita).  Das 
Rubens  sehe  Bild  „Geburt  der  Maria  Medici" ') 
ziert  ein  gelbgefiederter,  blauflügeliger  Ararauna, 
vielleicht  auch  von  der  Hand  Brueghels.  Auf 
dem  Vogelkonzert  Snyders'')  kreischt  mit  vielen 
anderen  Vögeln  der  große,  hauptsächlich  rot  ge- 
färbte Arakanga  (Ära  macao  L.  [vgl.  Abb.  3]);  den 
keilschwänzigen,  dickschnäbeligen  Karolinasittich 
(Conurus  carolinensis  L.)  sehe  ich  besonders  auf 
R.  Saverys  Bildern  „Landschaft  und  Vögel",') 
„Orpheus  besänftigt  die  Tiere",*)  die  ich  früher 
schon  wegen  der  Drontedarstellungen  besprochen 
habe. 

Bei  dem  in  der  2.  Hälfte  des  1 7.  Jahrhunderts 
schaffenden  M.  Hondecoeter')  erscheint  ein 
großer  gelber  Papagei  (Cacatua  galerita?).  In 
den  Bildern  von  Jan  Huysum*")  undT.  Stra- 
nover,*')  die  um  1700  lebten,  finde  ich  einen 
schön  blauflügeligen  goldfarbigen  Edelpapagei 
(Eclectus  spec),  den  Blauwangenlori  (Trichoglossus?) 
und  auf  einem  Stilleben  '-)  von  J.  Weenix  (f  17 19) 
einen  roten  Kakadu,  vielleicht  den  australischen 
Inkakakadu  (Lophocroa  ?). 

Es  würde  zu  weit  führen,  alle  Künstler  nam- 
haft zu  machen,  die  irgendeinen  Lieblingspapagei 


1605. 


Nr. 


Nr. 


')  Ornithologia  IIb.  XI.     Ausgabe  von  Krankfurt   1610. 


')  Auctarium  ad  exoticos  libros.     Antwerpen 
■■')  Florenz,  Uffizien  Nr.  884,  903. 
'■')  Berlin,  K.  Friedrich-Mus.  Nr.  742 ;    Haag,    Mauritshuis 
253 ;  Dresden,  Galerie  usw. 

*)    Madrid    Prado    „Das    Gehör";    München,    A.    Pinak. 
704  „Frucht-  und  Blumengehänge". 
•'')  Paris  Louvre  Nr.  20S8. 

")  Petersburg,  Eremitage  (Phot.  von  Hanfstacngl). 
•)  Wien,  Staatl.  Gemäldegalerie  Nr.  1219  (Phot.  v.  Löwy). 
*)  Haag,  Gemäldegalerie  Nr.   157  (Phot.  Bruckmann). 
")  Amsterdam,  Reichsmuseum  Nr.  1226. 
'")  Schwerin,    Gemäldegalerie  Nr.   c;35. 
")  Schwerin,  Nr.  982,  985. 
'*)  Sehleifiheim  (bei  München),  Galerie  Nr.  912. 


550 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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im  Bilde  verewigen  mußten.  ^)  Eine  von  Reich- 
tum und  Naturfreude  strotzende  Zeit  leuchtet  uns 
aus  den  alten  Bildwerken  entgegen;  wie  selten 
dient  dagegen  heute  ein  kostbares  exotisches  Tier 
noch  als  Vorlage  für  den  Pinsel. 

Was  die  wissenschaftliche  Behandlung  der  be- 
sprochenen Vögel  betrifft,  so  lag  sie  noch  lange 
im  argen.  Der  Schlesier  Jo.  Jonston  (1650)'') 
erhebt   sich  in  seinem  Vogelbuch  kaum  über  Al- 

')  Auch  in  Schlössern  auf  Wandgemälden  erscheinen  sie; 
so  auf  Schloß  Trausnitz  bei  Landshut,  Zimmer  der  Herzogin 
(Mitte  des   17.  Jahrhunderts). 

-)  Hist.  nat.  de  Avibus  Francofurli  1650  (Neudruck  von 
Heilbronn  1756,  fol.  28— 33). 


drovandi  und  weiß  auch  nichts  von  den  neuen 
Arten  des  Clusius.  Erst  das  von  Stresemann 
(a.  a.  O.)  hervorgehobene  Werk  des  Frangois 
Valentyn  über  die  Molukken  (1726  in  Dordrecht 
erschienen)  bringt  neue  Gesichtspunkte.  Eine 
gute  Zusammenstellung  der  damals  bekannten 
Papageien  bietet  die  „Sammlung  verschiedener  aus- 
ländischer und  seltener  Vögel"  von  J.  M.  S  e  e  1  i  g  - 
mann  besonders  im  V.  Teil  (Nürnberg  1759). 

Die  Geschichte  der  Papageien  ist  ein  Stück 
Kulturgeschichte  und  gibt  uns  Kunde  von  der 
Freude  und  Liebe  zur  fremden  Natur,  die  im  Zeit- 
alter der  Entdeckungen  besonders  bei  den  Deut- 
schen und  Niederländern  herrschte. 


Einzelberichte. 


Der  elektrische  Widerstand  der  Metalle  bei 
tiefen  Temperaturen. 

Seit  1906  wurde  namentlich  durch  Kamer- 
lingh  Onnes  der  Widerstand  von  Metallen  bei 
tiefen  Temperaturen  eingehend  untersucht.  Sehr 
überraschende  Ergebnisse  zeigten  sich,  als  diese 
Untersuchungen  mit  Hilfe  verflüssigten  Heliums 
bis  nahe  an  den  absoluten  Nullpunkt  ausgedehnt 
werden  konnten.  Es  bestätigte  sich  nämlich  die 
schon  1885  von  Wroblewski  bei  Untersuchung 
des  Kupfers  gefundene  Tatsache,  daß  die  Leit- 
fähigkeit bei  tiefen  Temperaturen  rascher  wächst, 
als  man  nach  dem  Verhalten  bei  höheren  Tem- 
peraturen vermuten  sollte,  und  in  der  Nähe  des 
absoluten  Nullpunkts  unendlich  wird.  Lord 
Kelvin  hatte  1902  das  Gegenteil  behauptet,  da 
er  meinte,  die  Elektronen  würden  bei  tiefsten 
Temperaturen  festfrieren  und  demnach  eine  ver- 
schwindende Leitfähigkeit  bedingen.  Onnes 
fand  bei  völlig  reinem  Quecksilber,  Blei  und  Zinn 
nahe  dem  absoluten  Nullpunkt  gewisse  kritische 
Temperaturen,  unterhalb  deren  der  Widerstand 
plötzlich  auf  Null  herabgeht,  das  Metall  geht  in 
den  „supraleitenden  Zustand"  über.  Man  kann  in 
diesem  Zustande  durch  einen  Draht  von  i  qmm 
Querschnitt  einen  Strom  von  1200  Ampere 
schicken,  da  die  entwickelte  Wärme  wegen  des 
fehlenden  Widerstandes  minimal  ist.  Ein  einmal 
in  Fluß  gebrachter  elektrischer  Strom  dauert  in 
einem  so  tief  abgekühlten,  in  sich  geschlossenen 
Draht  auch  geraume  Zeit  an,  da  die  Energie 
nicht  durch  Widerstand  in  Wärme  verwandelt 
wird.  In  einem  Bleidraht  nahm  die  Stromstärke 
in  der  Stunde  um  weniger  als  i  %  ab.  Man 
wird  hierbei  an  die  Amp ereschen  Molekular- 
ströme erinnert,  die  zur  Erklärung  des  Magnetis- 
mus angenommen  werden  und  ebenfalls  wattlos 
verlaufen  müssen,  da  der  Magnetismus  einen  ohne 
Energiezuführung   andauernden    Zustand   darstellt. 

Zur  Erklärung  des  supraleitenden  Zustandes 
sind  verschiedene  Theorien  aufgestellt  worden, 
jedoch    begegnet    eine    jede    derselben    gewissen 


Schwierigkeiten,  weshalb  wir  hier  auf  dieselben 
nicht  eingehen.  Nähere  Aufschlüsse  über  die 
Versuche  und  die  zu  ihrer  Erklärung  ersonnenen 
Theorien  findet  man  in  einem  zusammenfassenden 
Artikel  Crommelins  in  der  physikalischen  Zeit- 
schrift (Jahrg.  1920).  Kbr. 

Die  baltischen  Ölschiefer. 

Die  Aufmerksamkeit,  die  durch  Kriegsnöte 
veranlaßt  neuerdings  allen  Ablagerungen  höheren 
Bitumengehalts,  insbesondere  Öl-  und  Brand- 
schiefern nicht  allein  in  Europa  zugewendet  wor- 
den ist,  hat  infolge  der  Besetzung  des  Baltikums 
durch  deutsche  Truppen  auch  die  dortigen,  seit 
langem  bekannten  Vorkommnisse  neuen  Unter- 
suchungen unterziehen  lassen.  Es  ist  je  ein 
Schichtenstoß  an  der  Grenze  zwischen  Kambrium 
und  Silur,  bzw.  innerhalb  des  Silurs  von  Eshand 
und  Ingermanland  (Gouv.  Petersburg),  der  hier  in 
Betracht  kommt:  die  sog.  Dictyonema-Schiefer 
(nach  einem  Leitfossil  aus  der  Gruppe  der  Hydro- 
zoen)  und  die  Kuckerssche  Schicht  (nach  dem 
ältestbekannten  Auftreten  bei  dem  Gute  K  u  c  k  e  r  s). 
Für  eine  neue  fachmännische  Darstellung,  ^)  die 
wir  L.  von  zurMühlen  verdanken,  haben  sehr 
bedauerlicherweise  die  Ermittlungen  seitens  der 
deutschen  Heeresverwaltung  dem  Verf.  nicht  zur 
Verfügung  gestanden. 

Für  die  Dictyonema-Schiefer  lautet  das  Urteil 
recht  ungünstig:  Ein  Ölgehalt  von  höchstens 
4 — 5  "/ü  bei  schwierigen  bergbaulichen  Verhält- 
nissen und  nicht  sonderlich  glücklicher  Lage  stehen 
der  Hoffnung  auf  erfolgreicheren  Abbau  entgegen. 

Die  Kuckerssche  Schicht  ist  bereits  ver- 
schiedentlich, besonders  auch  von  russischer  Seite 
ausgebeutet  worden.  (Wurden  doch  selbst  Leucht- 
türme im  finnischen  Meerbusen  schon  mit  ein- 
heimischem Ol  gespeist!)     Dennoch  werden  auch 

')  L.  von  zur  Mühlen,  „Die  Ölschiefer  des  europäi- 
schen Rußlands".  Sammlung  „Quellen  und  Studien"  3.  Abt. 
(Bergbau  und  Hüttenkunde)  Heft  4,  herausg.  vom  Osteuropa- 
Institut  in  Breslau.     Teubner-Leipzig  1921.     21  S.     (6  M.) 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


SSI 


hier  die  bisherigen  Vorstellungen  als  zu  optimistisch 
angesehen.  Die  Zone  der  zugänglichen  Brand- 
schiefer wird  auf  nur  50  km  Länge  bei  einer 
Durchschnittsbreite  von  77,36  m  geschätzt.  Durch 
Grundwasser  und  sehr  geringe  Höhenlage  ent- 
stehen erhebliche  Beeinträchtigungen.  Bis  zu 
28  "/o  Rohteer,  im  Durchschnitt  nur  etwa  halb  so 
viel  können  gewonnen  werden. 

Nächst  dem  Öl  ist  auch  der  Gasgehalt  für  die 
Art  der  Gewinnung  von  Bedeutung. 

Zwei  getrennte  Brandschieferlagen  des  Kuk- 
kersschen  Horizontes  werden  durch  eine  Kalk- 
bank getrennt,  die  reichere  Fauna  und  größer- 
wüchsige  Typen  führt.  Der  Bitumengehalt  wird 
hauptsächlich  auf  Algen  zurückgeführt.  Die  marine 
Entstehung  ist  völlig  klar. 

Geologisch  wie  technisch  sind  die  nötigen 
Voruntersuchungen  noch  nicht  abgeschlossen,  um 
ein  endgültiges  Urteil  über  den  Wert  des  Vor- 
kommnisses zu  fallen.  Zementfabrikation  wird 
auch  hier  hinzutreten  müssen,  um  eine  volle 
Rentabilität  zu  gewährleisten.  Der  Heizwert 
trockenen  Schiefers  wird  zu  ca.  3650  Kalorien 
angegeben.  Selbst  dort  vermag  er  schon  das 
Holz  als  Hausbrand  zu  verdrängen  bzw.  zu  er- 
setzen I 

Anhangsweise  werden  noch  kurz  wesentlichere 
Daten  über  ähnliche  Vorkommnisse  im  übrigen 
Rußland  gebracht.  Edw.  Hennig. 

Eine  gewichtige  Stimme  gegen  die 
Rel  ati  vitätstheorie. 

Unter  der  Überschrift  „Zur  Frage  der  Licht- 
geschwindigkeit" hat  Lenard  in  Nr.  5107  der 
Astronomischen  Nachrichten  eine  Mitteilung  ge- 
macht, die  berechtigtes  Aufsehen  erregen  dürfte. 
L.  erklärt,  daß  es  ihm  gelungen  sei,  den  Wider- 
spruch zwischen  dem  IVI  i  c  h  e  1  s  o  n  sehen  Versuch, 
der  eine  Mitführung  des  Äthers  durch  die  Erde 
zu  beweisen  scheint,  und  der  Aberration,  die  das 
Gegenteil  verlangt,  auf  einfache  Weise  ohne  die 
Relativitätstheorie  zu  erklären.  Auch  alle  die 
Ergebnisse  der  Relativitätstheorie,  deren  Zutreffen 
man  bisher  als  Beweise  für  die  Theorie  auffaßte 
(die  Lichtgeschwindigkeit  als  Grenzgeschwindig- 
keit der  Kathodenstrahlen,  die  Masse  als  Funktion 
der  Geschwindigkeit,  die  Trägheit  der  Energie), 
sind  nach  Lenard  gar  keine  Ergebnisse  dieser 
Theorie  und  vermögen  sie  daher  auch  nicht  zu 
stützen.  Lenards  neue  Erklärungen  stützen  sich 
auf  die  Hypothese,  daß  man  zweierlei  Äther  zu 
unterscheiden  habe,  einen  ruhenden,  das  ganze 
Weltall  erfüllenden  Uräther,  und  einen  von  den 
Weltkörpern  nach  Art  der  Atmosphären  mitge- 
fiihrten  Äther.  Genaueres  hierüber  wird  in  einem 
„Über  Äther  und  Uräther"  betitelten  Aufsatz  in 
Starks  Jahrbuch  für  Radioaktivität  und  Elek- 
tronik, sowie  in  einer  demnächst  selbständig  im 
Buchhandel  erscheinenden  Abhandlung  Lenards 
mitgeteilt  werden.  Der  als  eine  der  ersten  Kapa- 
zitäten  auf  dem   Gebiete   der  Physik  anerkannte 


Forscher  glaubt  jedenfalls,  durch  seine  neue  Hypo- 
these der  Relativitätstheorie  die  physikalische 
Grundlage  entzogen  zu  haben,  so  daß  man  sie 
in  Zukunft  nicht  mehr  so  ernst  zu  nehmen  brau- 
chen wird  wie  bisher.  Kbr. 


Die   Radial geschwiudiglieiten    der   veriinder- 
licheu  Sterne. 

Die  veränderlichen  Sterne  vom  Typus  der  be- 
kannten Mira  Ceti  zeigen  in  bezug  auf  ihre  Ge- 
schwindigkeiten in  der  Gesichtslinie  gewisse  Ge- 
setzmäßigkeiten, über  die  Ludendorff  und 
Heiskanen  in  Nr.  5107  der  Astron.  Nachrichten 
berichten.  Diese  Sterne  zeigen  meist  sowohl  helle 
wie  dunkle  Spektrallinien  und  die  bereits  früher 
von  Merrill  gemessenen  Verschiebungen  der 
hellen  Emissionslinien  stimmen  mit  den  vermut- 
lich den  wahren  Geschwindigkeiten  der  Gestirne 
entsprechenden  Verschiebungen  der  dunklen  Linien 
nicht  überein,  vielmehr  sind  bei  13  Sternen  die 
dunklen  gegen  die  hellen  Linien  verschoben  um 
Beträge  J,  die  gut  dargestellt  werden  durch  die 
Formel  J=^-\-0,0%  km  (P — loo),  in  der  P  die 
Lichtwechselperiode  in  Tagen  bedeutet.  Im  Durch- 
schnitt sind  die  Radialgeschwindigkeiten  recht 
groß,  nämlich  32,2  km. 

L.  und  H.  fanden  nun  eine  interessante  Be- 
ziehung zwischen  den  Periodenlängen  und  den 
Radialgeschwindigkeiten.  Sie  teilten  die  Sterne 
des  Mira  Ceti-Typus  in  5  Gruppen  mit  wach- 
senden Periodenlängen  und  fanden  für  diese 
Gruppen  folgende  Durchschnittswerte: 

Periode  Radialgeschwindigkeit 

153  Tage  63  km 

266     „  38     „ 

323     ,,  33     » 

365      „  27     „ 

432      „  14     „ 

Die  absoluten  Geschwindigkeiten  (p)  werden 
also  mit  wachsender  Periodenlänge  (P)  kleiner, 
angenähert  nach  der  Formel 

Q  =0,17  (500  —  P). 
Trägt   man    alle   Einzelwerte    von   q    in    eine 
graphische  Darstellung    ein,   so    ergibt   sich   min- 
destens als  sicher,    daß  die  Streuung    der  Radial- 
geschwindigkeit   mit   zunehmender  Periodendauer 
abnimmt.     Auch  die  seitlichen  Eigenbewegungen 
dieser  Sterne  zeigen,  obgleich   sie    noch   erst    bei 
wenigen  ermittelt  sind,  für  kürzere  Perioden  größere 
Beträge.    Bildet  man  zwei  Gruppen,  so  ergibt  sich 
im  Mittel 
p    .    ,       jährliche  Eigenbewegung         Anzahl 
Periode  ^^  ^^^  Sphäre  der  Sterne 

264  Tage  0,102"  8 

410     „  0,042"  7 

Eine  ganz  ähnliche  Abhängigkeit  der  Radial- 
geschwindigkeit von  der  Periode  zeigen  nach 
S  h  a  p  1  e  y  ( Astrophys.  Journal,  1888,  p.  219)  die 
Veränderlichen  vom  dCephei-Typus.  Hier  haben 
die   Sterne,   deren   Perioden   kürzer   als   ein  Tag 


552 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3S 


sind,    weit    größere    Geschwindigkeiten,    als    die 
übrigen  Sterne  des  gleichen  Typus. 

Unter  den  Sternen  der  zweiten  und  dritten 
Spektralklasse  haben  allgemein  diejenigen  mit 
kleinerer  absoluter  Helligkeit  größere  Geschwin- 
digkeiten als  die  helleren.  Dieses  scheint  nun  bei 
den  (J  Cephei-Sternen  auch  zuzutreffen,  da  bei  ihnen 
die  Periodenlänge  mit  der  absoluten  Helligkeit  ab- 
nimmt. Auch  bei  den  Mira-Sternen  haben  die- 
jenigen mit  geringerer  Helligkeit  kürzere  Perioden. 
So  scheint  also  zwischen  den  Mira-Sternen  und 
denen  der  fi-Cephei-Gruppe  eine  Verwandtschaft 
gefunden  zu  sein.  Beide  Gruppen  von  Veränder- 
lichen dürften  auch  sog.  Riesensterne  sein,  aber 
wichtige  Unterschiede  zwischen  beiden  Gruppen 
sind  doch  vorhanden.  So  zeigen  die  dCephei- 
Sterne  im  Gegensatz  zu  den  Mira-Sternen  peri- 
odische Linienverschiebungen,  auch  sind  sie  nicht 
so  gleichmäßig  wie  letztere  über  alle  galaktischen 
Breiten  verteilt. 

Die  seinerzeit  von  Merrill  auf  Grund  der 
Messungen  an  den  hellen  Spektrallinien  ange- 
nommene Strombewegung  der  Mira-Sterne  nach 
dem  Antiapex  der  Sonnenbewegung  hin  ist  nach 
den  neuen  Untersuchungen  von  Ludendorff 
und  Heiskanen  nicht  bestätigt  worden. 

Kbr. 

Neues  vom  Algol. 

Der  veränderliche  Stern  Algol,  dessen  regel- 
mäßig alle  2,87  Tage  wiederkehrende  Verdunke- 
lung bekanntlich  auf  Bedeckung  durch  einen 
dunklen  Begleiter  zurückgeführt  wird,  ist  in  den 
Jahren  1910 — 1920  durch  Stebbins  mit  einem 
sehr  empfindlichen,  photoelektrischen  Photometer 
sorgfältig  beobachtet  worden,  wobei  unsere  Kennt- 
nis von  diesem  interessanten  System  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin  wesentlich  erweitert 
wurde    (siehe   Astrophysical  Journal,    März   1921). 

Während  die  Helligkeit  des  Algol  in  der  Zwischen- 
zeit zwischen  zwei  Minima  früher  für  konstant  galt, 
hat  die  photoelektrische  Messung  derselben  das 
schon  vordem  mit  einem  SelenPhotometer  ge- 
fundene Vorhandensein  eines  sekundären  Minimums 
bestätigt,  das  34,65  Stunden  nach  dem  Haupt- 
minimum stattfindet.  Auch  zeigte  sich  jetzt,  daß 
die  Helligkeit  vom  Ende  des  Hauptminimums  ab 
langsam  um  0,03  Größenklassen  ansteigt,  um  dann 
ebenso  allmählich  wieder  herabzugehen.  Das  Haupt- 
maximum wird  jedoch  durch  das  8  Stunden  in 
Anspruch  nehmende  sekundäre  Minimum  unter- 
brochen, währenddessen  die  Helligkeit  um  0,05 
Größen,  also  bis  etwas  unterhalb  der  Helligkeit 
vor  und  nach  dem  Hauptminimum,  sinkt.  Das 
Hauptminimum  nimmt  9,66  Stunden  in  Anspruch, 
die  Helligkeit  in  der  Mitte  dieser  Zeit  ist  um 
1,20  Größenklassen  geringer  als  vor-  und  nachher. 

Aus  dieser  nun  recht  genau  bekannten  Licht- 
kurve ergibt  sich,  daß  der  Radius  des  helleren 
Sterns  0,207,  '^^''  '^^^  dunkleren  dagegen  0,244 
des  Halbmessers  der  ziemlich  genau  kreisförmigen 


Bahn  beträgt.  Beim  Hauptminimum  bedeckt  das 
dunklere  Gestirn  0,7  der  Fläche  des  helleren, 
während  umgekehrt  das  sekundäre  Minimum  da- 
durch zustande  kommt,  daß  der  hellere  Stern 
den  dunkleren  verdeckt,  der  sonach  auch  nicht 
völlig  dunkel  sein  kann.  Von  der  Gesamthellig- 
keit des  Systems  entfallen  92  '/j  %  auf  die  hellere 
Komponente.  Das  langsame,  geringe  Ansteigen 
der  Helligkeit  des  Algol  in  der  Zeit  zwischen 
dem  Hauptminimum  und  dem  sekundären  deutet 
darauf  hin,  daß  die  dunklere  Komponente  wohl 
infolge  der  Bestrahlung  durch  die  hellere,  uns 
nach  Beendigung  der  Bedeckung  mehr  und  mehr 
von  ihrer  helleren  Seite  zukehrt,  so  daß  die  Algol- 
helligkeit  kurz  vor  dem  sekundären  Minimum  ihr 
Maximum  erreicht,  weil  dann  die  uns  zugewandte 
Seite  des  dunkleren  Sterns  fast  völlig  auch  von 
dem  helleren  Stern  bestrahlt  ist.  Während  daher 
die  hellere  Seite  des  dunkleren  Sterns  7,5  "/q  der 
maximalen  Totalhelligkeit  aufweist,  kommt  auf 
das  Eigenlicht  der  dunkleren  Seite  nur  4,5  "/„ 
derselben. 

Geringe  Abweichungen   der   Gestalt   von   der 
Kugelform    sind    durch  die  Lichtkurve    gleichfalls 
angedeutet.      Als    zurzeit    genaueste    Formel    für 
das  Hauptminimum  ergibt  sich: 
Minimum  =  lul.  Tag  2422321,5947  +  2,867301  E. 

Der  Eintritt  des  Minimums  ist  zur  Zeit  nur 
um  0,0003  Tage  unsicher.  Noch  genauere  Er- 
gebnisse über  das  Algolsystem  sind  erst  zu  er- 
warten, wenn  Näheres  über  den  dritten  dazu  ge- 
hörigen Stern  bekannt  sein  wird,  dessen  Vor- 
handensein sich  durch  eine  etwa  zweijährige  Periode 
der  Radialgeschwindigkeit  des  sichtbaren  Gestirns 
zu  erkennen  gibt  und  der  auch  geringe  Störungen 
in  der  Bewegung  der  beiden  Hauptsterne  hervor- 
rufen muß.  Kbr. 


Über  Kiefer-  uud  Zahnwachstum  uud  deu 
„liorizontaleu  Zahiiwechsel". 

Zu  diesem  Gegenstand  hat  O.  Aichel  eine 
größere  Abhandlung  veröffentlicht,  wozu  ihm 
Schädel-  und  Unterkieferaltersserien  von  Mensch 
und  indischem  Elefant,  daneben  Manatus  und 
Phacochoerus  zu  Gebote  standen.  Seine  von  der 
übhchen  Darstellung  teilweise  weit  abweichenden 
Anschauungen  sind  im  folgenden  kurz  behandelt. 

Zunächst  wird  der  Zahndurchbruch  be- 
handelt. Er  wird  bedingt  i.  durch  krönen wärts 
gerichtetes  Wachstum  der  Schmelzkappe,  2.  durch 
Resorption  der  Alveolarränder.  Mittelbar  beteiligt 
sind  3.  Wurzelwachstum  und  4.  Kieferwachstum. 
Diese  Vorgänge  werden  ebenso  wie  das  Wachs- 
tum des  Unterkiefers  an  Schemata  erläutert. 
Alveole nbildung.  Hier  interessiert,  daß  das 
Alveolarseptum  als  Bildung  des  Alveolarperiosts 
zu  betrachten  ist,  zur  Verkleinerung   der  Alveole, 


')  O.  Aichel,  Kausale  Studie  zum  ontogenetischen  und 
phylogenetischen  Geschehen  am  Kiefer.  Mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung von  Elepbas  und  Manatus.  Abb.  d.  preufi. 
Akad.  d.  Wiss.     Berlin  19 18. 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S53 


wenn  der  Zahn  fertig  gemacht  wird.  Auch  um- 
gibt das  Alveolarperiost  den  Zahnkeim  mit  einer 
Knochenhülle,  die  erst  mit  dem  Kieferknochen 
verschmilzt,  wenn  der  Keim  seine  definitive  Größe 
und  Lage  erreicht  hat. 

Seine  Meinung  über  die  funktionellen 
Unterschiede  im  Gebiß  hat  A.  schon  früher 
dargelegt  (Das  Problem  der  Entstehung  der  Zahn- 
form. Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol.  Suppl.  1915). 
Unter  Ablehnung  aller  bestehenden  Theorien 
kommt  er  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Zahnform 
nicht  auf  funktioneljer  Anpassung  beruht,  sondern 
auf  „Zellvariation  der  den  Zahnkeim  zusammen- 
setzenden Grundgewebe".  Die  Ursachen  dieser 
Variationen  sind  unbekannt.  „Nicht  die  Nahrung 
beeinflußt  die  Zahnform,  sondern  die  Zahnform 
die  Wahl  der  Nahrung."  Größenzunahme  der 
Zähne  beeinflußt  den  Kiefer  durch  stärkere  Be- 
anspruchung, Abänderung  der  Kieferform  kann 
die  Zahngröße  beeinflussen.  Niemals  aber  können 
äußere  Reize,  welche  die  fertige  Zahnkrone 
treffen,  vererbliche  Umprägungen  der  Zahnform 
verursachen,  denn  der  Schmelz  ist  ein  totes,  zell- 
loses Produkt,  das  auf  Reize  gar  nicht  reagieren 
kann!  —  Die  Funktionsdauer  eines  Zahnes 
ist  abhängig  von  der  Zahngröße,  Zahnform,  Zahn- 
struktur und  von  der  Qualität  der  Nahrung.  Bei 
Homo,  Elephas,  Manatus  und  Phacochoerus  ist 
„physiologischer  Zahnausfall"  beobachtet, 
d.  h.  auch  ein  gesunder,  nicht  gänzlich  abgenützter 
Zahn  fällt  zu  einer  annähernd  bestimmten  Zeit 
aus.  Dieser  Ausfall  wird  durch  Wurzelresorption 
eingeleitet.  Je  früher  eine  Wurzel  ihr  Wachstum 
beendet,  desto  eher  wird  sie  nach  einer  gewissen 
Frist  resorbiert.  —  Der  sog.  „horizontale 
Zahnwechsel"  —  damit  kommen  wir  zum 
Hauptgegenstand  der  Abhandlung  —  bei  Elephas 
und  Manatus  ist  ein  unbewiesener,  hypothetischer 
Vorgang.  Lediglich  die  einseitige  Beobachtung 
der  Lagebeziehungen  der  Molaren  zum  Kiefer- 
knochen täuscht  eine  Vorwärtsbewegung  der  Zahn- 
reihe vor.  Dieses  Vorschieben  sollte  unter  dem 
Druck  des  nachrückenden  Zahnes  auf  den  vor 
ihm  stehenden  derart  geschehen,  daß  vorn  an 
der  Alveolarwand  und  dem  Septum  interalveolare 
Knochen  angebaut,  hinten  an  diesen  Wänden  da- 
gegen abgebaut  wird.  In  Wirklichkeit  bewegen 
sich  nicht  die  Zähne  im  Kiefer  vorwärts,  sondern 
der  Kiefer  wächst  über  die  Zahnreihe  hinweg 
nach  hinten  und  wächst  gleichsam  die  in  der 
Tiefe  gebildeten  Zahnkeime  nacheinander  frei. 
Sein  Wachstum  ist  grundsätzlich  nicht  von  dem 
bei  allen  anderen  Säugetieren  verschieden ;  es 
unterliegt  denselben  Gesetzen :  Überall  wo  der 
Knochen  beansprucht  wird,  bildet  er  Knochen- 
substanz; wo  er  nicht  beansprucht,  bildet  sich 
der  Knochen  zurück.  „Beanspruchung  weckt  die 
Osteoblasten,  Entlastung  die  Osteoklasten.  Periost- 
reizung  durch  Zug  bedingt  Anbau,  Druck  auf 
das  Periost  veranlaßt  Abbau."  Das  scheinbare 
Sondergeschehen  im  Kieferwachstum  und  in  der 
„Zahnschiebung",  besser  gesagt  in    der    (passiven) 


Funktions  folge  der  Zähne  von  vorn 
nach  hinten  (mit  gleichzeitiger  Funktion  zweier 
jElephas]  oder  mehr  [Manatus]  Zähnen)  erklärt 
sich  aus  der  Tektonik  des  Schädels.  Diese 
ist  das  Ergebnis  der  Umformung  eines  langen 
und  niedrigen  Schädels  zu  einem  verkürzten,  hoch- 
aufgetürmten (Paläomastodon  -  Mastodon- Elephas), 
infolge  Entwicklung  schwerer  Stoßzähne  und  eines 
langen  Rüssels  vorn,  und  eines  starken  Nacken- 
bandes und  kräftiger  Nackenmuskulatur  hinten  an 
der  Schädelkapsel.  Die  Kieferverkürzung  reduziert 
das  Gebiß,  bei  Elephas  führt  sie  im  Unterkiefer 
zum  Verlust  des  gesamten  Antemolarengebisses. 
Der  Verlust  wird  durch  steigende  Längenzunahme 
der  Molaren  ausgeglichen,  die  Länge  der  Zahn- 
reihe wird  größer  als  die  Kieferlänge  und  die 
Zahnleiste  daher  spiralig  aufgebogen;  die  Molaren- 
keime überlagern  ihre  Vorgänger.  Die  Tektonik 
des  Kieferknochens,  die  im  Aufbau  neuer  Knochen- 
massen an  den  funktionell  beanspruchten  Stellen, 
in  Abbau  vorhandener  an  den  nicht  beanspruchten 
besteht,  also  der  Umbau  des  Kiefers  unter  Ver- 
größerung, bringt  die  fertigen  Zähne  unter 
Drehung  in  die  Gebrauchsstellung,  im  Unter- 
kiefer aus  dem  Kieferast  in  den  Kieferkörper. 
Die  Kinngegend  gerät  bei  den  Proboscidiern 
in  der  Phylogenese  wie  Ontogenese  zunehmend 
aus  dem  Bereich  der  Beanspruchung,  sie  wird 
(wie  der  Alveolarrand)  dauernd  entlastet  und  daher 
abgebaut.  Der  stärkste  Anbau  erfolgt  am  Kiefer- 
ast hinten  und  unten,  dort  wo  die  großen  Zahn- 
keime sich  bilden.  „Würde  der  Unterkiefer  ent- 
sprechend der  geltenden  Vorstellung  an  der  Kinn- 
gegend nichts  verlieren,  so  müßte  die  gesamte 
Zahnreihe  gleichzeitig  im  Kiefer  Platz  finden;  der 
Unterkiefer  müßte  also  so  lang  sein,  daß  er  den 
Vorderteil  des  Oberkiefers  durchwachsen  haben 
müßte,  oder  das  Maul  des  Tieres  wäre  gesperrt 
worden."  Durch  die  Resorption  vorn  am  Unter- 
kiefer und  den  Zuwachs  hinten  und  unten  er- 
fährt der  Kiefer  während  seines  Wachstums  eine 
bedeutende  Rückwärtsverlagerung,  welcher  der 
Oberkiefer  durch  Herabsenken  der  Stoßzähne  und 
Molaren  folgt.  Im  Oberkiefer  können  natürlich 
die  durch  den  Altersausfall  des  vordersten  Backen- 
zahnes freiwerdenden  Knochenteile  nicht  durch 
Resorption  verschwinden,  da  sie  ja  zwischen  den 
wachsenden  Stoßzähnen  (vorn)  und  ihren  Nach- 
folgern (hinten)  liegen;  sie  werden  umgebaut. 

Tatsächlich  liegt  in  der  außerordentlich  starken 
Resorption  am  Kiefervorderende,  wie  sie  nach 
A.s  Darstellung  vorhanden  ist,  doch  ein  Sonder- 
geschehen. Eine  Überprüfung  der  Aichelschen 
Theorie,  die  Ref.  an  Mastodonunterkiefern  vorge- 
nommen hat,  ergab  einen  der  Theorie  wenig 
günstigen  Befund.  Hierüber  wird  Ref.  an  anderer 
Stelle  berichten. 

Auch  bei  Manatus  ist  keine  Vorwärtsbe- 
wegung der  Zähne  bzw.  der  Zahnreihe  anzu- 
nehmen. Durch  Kieferwachstum  werden  am 
hinteren  Ende  der  Zahnreihe  die  Molaren  frei. 
Vorn    werden    einige  Molaren    durch   das  Wachs- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


tum  der  Hornplatten  des  Kiefers  entfernt.  Auch 
findet  vorn  am  Unterkiefer  Resorption  statt,  so- 
weit das  Kinn  nicht  in  den  Bereich  der  Bean- 
spruchung fallt. 

Bei  Phacochoerus  wird  der  Kieferkörper 
in  der  Nähe  des  Kieferastes  zugleich  mit  und  in- 
folge der  Vergrößerung  der  Molaren  mächtiger 
als  bei  anderen  im  Gebiß  weniger  spezialisierten 
Schweinen.  Mit  der  Zunahme  der  Masse  des 
Basalteils  des  Kieferkörpers  wird  der  Alveolarteil 
an  seinem  Oberrand  entlastet  (wie  bei  Mensch 
und  Elephas)  und  abgebaut.  Die  vorderen  sehr 
kleinen  Molaren  werden  dadurch  bis  zur  Wurzel 
freigelegt.  Ihre  Wurzeln  verfallen  der  Resorption. 
Beim  erwachsenen  Phacochoerus  funktioniert  nur 
noch  der  außerordentlich  langkronige  letzte  Molar. 
Eine  Kieferkürzung  kann  nicht  eintreten,  da  die 
mit  den  Hauern,  Schneidezähnen  und  Rüssel  ver- 
sehene Schnauze  stark  beansprucht  wird. 

Zum  Schluß  erörtert  A.  die  Frage,  warum 
bei  Elephas  die  Prä  molaren  fehlen.  Seine 
neue  Kieferwachstumstheorie  gibt  ihm  darauf  eine 
klare  Antwort :  Da  die  vorderen  Abschnitte  des 
Unterkiefers  im  Lauf  der  Ontogenese  zugrunde 
gehen,  müssen  auch  die  zwischen  den  Wurzeln 
der  Milchmolaren  sich  entwickelnden  Prämolaren 
umkommen.  Ihr  Bett  wird  zerstört.  —  Auch  in 
der  Stammesgeschichte  der  Elefantiden  vollzieht 
sich  dieser  Vorgang  und  A.  findet  an  den  fossilen 
Formen  seine  Theorie  bestätigt.  Wo  untere  Stoß- 
zähne dank  ihrer  Funktion  erhalten  sind,  können 
trotz  Kieferverkürzung  und  Größenzunahme  der 
Molaren  Prämolaren  vorhanden  sein.  „Fehlen  der 
unteren  Stoßzähne  bei  Anwesenheit  von  Prä- 
molaren würde  bedeuten,  daß  der  Abschnitt,  in 
dem  die  Prämolaren  sitzen,  durch  Kleinheit  der 
Molaren  oder  durch  schräge  Angrififsrichtung  der 
Muskulatur  noch  in  das  Beanspruchungsgebiet  des 
Kiefers  gefallen  ist." 

Die  bekannten  fossilen  Formen  fügen  sich  zwar  diesen 
Überlegungen,  aber  es  ist  doch  im  Auge  zu  behalten,  daß 
zwischen  dem  unteroligozänen  Paläomastodon  mit  geschlosse- 
ner Zahnreihe  von  6  gleichzeitig  funktionierenden  Backen- 
zähnen und  den  ältesten  bekannten  untermiozänen  Mastodonten, 
die  bereits  eine  Funktionsfolge  der  Zähne  zeigen,  eine  Lücke 
klafft,  aus  der  wir  keinen  einzigen  Elefantiden  kennen.  Ge- 
rade diese  Formen  brauchen  wir  aber,  um  die  zum  Verlust 
der  Prämolaren  führenden  Ursachen  erkennen  zu  können. 
Aichels  Ableitungen  erklären  den  Vorgang  nicht  restlos, 
denn  wir  sehen,  daß  in  der  Reihe  Mastodon  angustidens-lon- 
girostris-arvernensis,  die  Prämolaren  dahinschwinden,  obwohl 
bei  Mastodon  longirostris  und  seinen  Übergangsformen,  die 
unteren  Stoßzähne  sich  progressiv  verhalten,  die  Schädelkapsel 
niedrig  bleibt  und  die  Richtung  der  am  Kiefer  angreifenden 
Muskeln  sich  gegen  Elephas  angustidens  kaum  ändert.  Es 
scheint,  daß  bei  Mastodon  die  Stoßzähne  (Jj)  die  gleiche 
Rolle  spielen  wie  bei  Phacochoerus  die  Eckzähne :  sie  unter- 
minieren in  dem  niedrig  bleibenden  Kieferkörper  das  Bett 
der  Prämolaren  und  veranlassen  so  ihr  Schwinden. 

W.  O.  Dietrich,  Berlin. 

Die  Sangorgane  der  Mistel. 

(Mit  I   Abb.) 

Die  herrschende  Ansicht,  daß  die  Mistel  (Vis- 
cum  album)  ein  Halbschmarotzer  sei,  der  seinem 


Wirte  nur  die  im  Wasser  gelösten  Stoffe  ent- 
nehme, ist  mehrfach  angefochten  worden.  Für 
die  Entscheidung  der  Frage  muß  der  genauen 
Kenntnis  des  anatomischen  Baues  der  Saugorgane 
des  Parasiten  besondere  Wichtigkeit  beigemessen 
werden.  Obwohl  nun  schon  Malpighi  (1686) 
Untersuchungen  hierüber  ausgeführt  und  in  späterer 
Zeit  vorzugsweise  Unger  (1840),  Schacht  (1854), 
Pitra(i86i),  Harley(i863)  und  Solms-Lau- 
bach  (1868)  sich  damit  eingehender  beschäftigt 
haben,  sind  doch  in  den  letzten  50  Jahren  keine 
Arbeiten  über  den  feineren  Bau  der  Saugorgane 
erschienen,  soviel  die  Mistel  auch  sonst  be- 
handelt worden  ist.  Hierauf  weist  Hans  Mel- 
chior in  der  Einleitung  zu  einer  Abhandlung 
hin,  worin  er  die  Hauptergebnisse  seiner  von 
191 7 — 1919  im  Pflanzenphysiologischen  Institut 
der  Universität  Berlin  durchgeführten  Unter- 
suchungen über  den  Gegenstand  mitteilt  und  im 
wesentlichen  folgendes  darlegt  (Beiträge  zur  Allg. 
Botanik  Bd.  2,  S.  55 — 87.     Berlin   192 1). 

Die  Keimpflanze  der  Mistel  sendet,  wie  be- 
kannt, zuerst  in  den  Ast  oder  Stamm  ihres  Wirtes 
ein  Saugorgan,  den  „primären  Senker",  von  dem 
seitliche,  innerhalb  der  Rinde  hinwachsende  „Rin- 
densaugstränge"  —  gewöhnlich  „Rindenwurzeln" 
genannt  —  ausgehen,  die  ihrerseits  senkrecht  zu 
ihrer  Wachstumsrichtung  neue  (sekundäre)  Senker 
ausschicken.  Die  Rindensaugstränge  zeigen  dor- 
siventrale  Ausbildung  (s.  die  Abb.).    Sie  enthalten 


Querschnitt  eines  2,25  mm  breiten  Saugstranges.    R  =  Rinden- 

parenchym,    H  =  Hadrom,    C  =  Cambiale  Zone,  L  =  Leptom 

der  Gefäßbündelstreifen,  U  =  unverholzter,  V=  verholzter  Teil 

der  markstrahlartigen  Parenchymlamellen. 

innerhalb  eines  Mantels  von  Parenchymgewebe 
einen  „Zentralstrang"  von  Leitbündelgewebe,  der 
aus  einzelnen,  nach  der  Bauchseite  des  Rinden- 
saugstranges  (d.  h.  seiner  dem  Innern  des  Wirts- 
astes zugekehrten  Seite)  fächerförmig  zusammen- 
laufenden Streifen  besteht.  Der  größere  Teil 
jeder  dieser  Gefaßbündelstreifen  (der  Bauchseite 
genähert)  wird  von  Wasserleitungsgewebe  (Hadrom) 
gebildet,  während  der  als  Leptom  (eiweißleiten- 
des Gewebe)  aufzufassende  Abschnitt  reduziert 
ist  und  der  charakteristischen  Siebröhren  entbehrt. 
Die  Entwicklungsgeschichte  des  Zentralstranges 
spricht  dafür,  daß  er  ein  einziges  kollaterales  Ge- 
fäßbündel  darstellt;    doch    könnte    man  auch  an- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift, 


555 


nehmen,  daß  er  aus  einem  Gefäßbündelring  durch 
Rückbildung  der  auf  der  Bauchseite  des  Saug- 
stranges   gelegenen    Bündel    hervorgegangen    sei. 

Das  den  Zentralstrang  umkleidende  Rinden- 
parenchym  hat  da,  wo  es  an  die  Rindenzellen 
des  Wirtes  grenzt,  stärker  verdickte  Zellwände, 
die  (abweichend  von  den  anderen  Zellwänden 
des  Parenchyms)  keine  Tüpfel  zeigen.  Somit 
spricht  nichts  für  eine  Absorption  von  Nähr- 
stoffen durch  die  Oberfläche  des  Rindensaug- 
stranges.  Eigentümlich  ist  diesem  die  grüne 
Farbe,  die  auf  dem  Vorhandensein  von  Chloro- 
phyllkörnern im  Rindenparenchym  beruht,  das 
auch  große  Mengen  von  Stärke  enthält.  Eine 
weitere  Eigentümlichkeit  des  Rindensaugstranges 
ist  die  pinselartige,  weiße  Spitze,  die  einer  Wurzel- 
haube gleicht  und  noch  zuletzt  S  o  1  m  s  -  L  a  u  - 
bach  veranlaßt  hat,  das  ganze  Organ  für  eine 
echte  Wurzel  zu  erklären,  nachdem  schon  die 
früheren  Forscher  es  zumeist  so  aufgefaßt  hatten. 
Melchior  erkennt  zwar  an,  daß  die  Strangspitze 
in  funktioneller  Hinsicht  mit  einer  Wurzelhaube 
zu  vergleichen  ist,  weist  aber  auf  gewisse  anato- 
mische Besonderheiten  hin,  und  will  auch  den 
Besitz  eines  wurzelhaubenähnlichen  Organs,  da 
es  eine  Anpassungserscheinung  sei,  nicht  als  aus- 
schlaggebendes Merkmal  für  die  Wurzelnatur  des 
Rindensaugstranges  gelten  lassen.  Bau  und  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Leitbündelsystems  wie 
die  wahrscheinlich  exogene  Entstehung  des  Saug- 
stranges sprächen  vielmehr  für  dessen  Stengel- 
natur. Doch  könne  er  auch  mit  Eich  1er  als 
Organ  sui  generis  aufgefaßt  werden. 

Die  Senker  der  Mistel  dringen  nur  bis  zum 
Kambiumring  des  Wirtsbaumes  vor,  treten  nicht 
aktiv  in  dessen  Holz  ein,  werden  aber  bei  dem 
jährlichen  Dickenzuwachs  vom  Holz  umwallt  und 
in  dieses  eingesenkt,  während  sie  selbst  an  ihrem 
Grunde  fort  wachsen.  Sie  bestehen  aus  Paren- 
chymzellen  und  aus  zu  Bündeln  vereinigten  Ge- 
fäßen (Tracheen),  in  denen  die  Leitung  des  Wassers 
erfolgt.  Eigentliche  Leptomelemente  fehlen,  doch 
hält  Verf.  es  für  möglich,  daß  gewisse  schmale 
Parenchymzellen  in  der  Umgebung  der  Tracheen 
die  eiweißleitenden  Elemente  des  Senkers  dar- 
stellen. Die  übrigen,  mehr  peripher  gelegenen 
Parenchymzellen  sind  weitlumiger  und  weniger 
langgestreckt.  Ihre  Wände  sind  wie  auch  die  der 
anderen  unverholzt  und  reichlich  mit  Tüpfeln  ver- 
sehen; es  fand  sich  aber  keinerlei  Anzeichen  für 
einen  Stoffaustausch  zwischen  ihnen  und  dem  be- 
nachbarten Gewebe  des  Wirtes.  Doch  treten  bei 
alten  Senkern  in  gewissen  Bezirken  Parenchym- 
zellen mit  verholzten  Wänden  auf,  deren  Tüpfel 
besonders  im  Koniferenholz  häufig  mit  den  Hof- 
tüpfeln der  Fasertracheiden  korrespondieren  und 
möglicherweise  an  der  Wasserleitung  beteiligt 
sind.  Sonst  wird  diese  durch  die  Tracheenbündel 
besorgt,  die  im  unteren  Teil  des  Senkers  bogen- 
förmig nach  dessen  Peripherie  hin  verlaufen,  sich 
mit  ihren  Endgliedern  den  wasserleitenden  Ele- 
menten   des    Nährholzes     anlegen     und     sich    in 


diese  vorwölben.  Die  Wände  zwischen  den  beider- 
seitigen Leitungszellen  werden  ganz  oder  teilweise 
aufgelöst,  so  daß  sie  in  offene  Verbindung  mit- 
einander treten.  Bei  der  Kiefer  werden  meist 
die  Schließhäute  der  Fasertracheiden  —  und 
nur  diese  —  aufgelöst.  Bemerkenswert  ist,  daß 
bei  der  vom  Verf.  untersuchten  amerikanischen 
Balsamtanne  (Abies  balsamea),  wovon  er  ein  mit 
Mistel  besetztes  Stammstück  aus  den  Kulturen 
von  Prof.  Heinricher  erhalten  hatte,  die  Schließ- 
häute nicht  aufgelöst  werden.  Im  Hinblick  dar- 
auf, daß  Viscum  album  in  Amerika  nicht  vor- 
kommt, hält  Verf.  es  für  möglich,  daß  unsere 
Mistel  sich  der  Balsamtanne  noch  nicht  voll- 
ständig anpassen  konnte.  Eine  Kommunikation 
der  Tracheen  des  Senkers  mit  anderen  Zellen 
als  den  Wasserleitungsröhren  konnte  weder  bei 
Laub-  noch  bei  Nadelholz  festgestellt  werden. 

Hieraus  ergibt  sich  —  obwohl  Verf.  dies  nicht 
ausdrücklich  hervorhebt  —  die  Richtigkeit  der 
Annahme,  daß  die  Mistel  ein  Wasserparasit 
ist.  Damit  ist  freilich  noch  nicht  gesagt,  daß 
ihr  immer  und  ausschließlich  nur  anorganische 
Salze  zugute  kommen,  denn  in  den  Wasser- 
leitungsbahnen mancher  Holzarten  werden  zeit- 
weise auch  organische  Stoffe  befördert,  —  man 
denke  nur  an  den  zuckerhaltigen  Blutungssaft 
der  Birke  und  des  Ahorns,  die  beide  beliebte 
Mistelwirle  sind.  F.  Moewes. 

Für  und  wider  Darwiu. 

In  seinem  Buche  „Das  Werden  der  Organismen" 
hat  sich  Oscar  Hertwig  mit  großer  Schärfe 
gegen  Darwins  Selektionstheorie  gewandt. 
Study  hat  den  ablehnenden  Standpunkt  Hert- 
wigs  einer  eingehenden  Prüfung  unterzogen  und 
seine  Ergebnisse  in  einem  längeren  Aufsatz :  Eine 
Kritik  des  Darwinismus"  (Zeitschrift  für  induktive 
Abstammungslehre  1920)  niedergelegt.  Zur  Recht- 
fertigung der  Selektionstheorie  hat  Study  in  sehr 
scharfsinniger  Weise  24  Punkte  zusammengestellt, 
in  denen  er  Hertwigs  Irrtümer  aufzudecken 
sucht. 

Es  würde  natürlich  zu  weit  führen,  die  Aus- 
führungen S  t  u  d  y  s  hier  in  ihrem  ganzen  Umfange 
wiederzugeben.  Einige  Hauptpunkte  mögen  her- 
vorgehoben werden.  Vor  allem  wird  Hertwig 
völliger  Mangel  an  historischer  Treue  zum  Vor- 
wurf gemacht.  Seine  Auffassung  von  der  Selek- 
tionstheorie ist  überreich  an  Mißverständnissen 
der  Lehre  Darwins,  worauf  auch  Thiem  und 
Kammerer  hingewiesen  haben.  Hertwig 
konstruiert  eine  Karrikatur  der  Darwinschen 
Selektionstheorie,  um  dann  seinen  Lesern  die 
P^ehler  und  Schwächen  dieses  Zerrbildes  zu  ent- 
hüllen. Jedoch  „gerade  die  Angaben,  auf  die 
Hertwig  seine  abfälligsten  Urteile  gründet,  er- 
weisen sich  als  willkürliche  Unterstellungen,  stehen 
sogar  mit  Darwins  unzweideutigen  Worten  in 
diametralem  Widerspruch."  Den  Beweis  für  diesen 
schwerwiegenden  Vorwurf  tritt   Study   dadurch 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


an,  daß  er  den  Unterstellungen  Hertwigs  über 
den  angeblichen  Sinn  der  Selektionstheorie  Zitate 
aus  Darwins  Schriften  gegenüberstellt.  Andere 
Irrtümer  Hertwigs  beruhen  darauf,  daß  er 
Darwin  Ansichten  zuschreibt,  die  dieser  an- 
scheinend niemals  geäußert  hat.  Im  folgenden 
einige  Proben. 

Eine  „Kardinalfrage"  ist  für  Hertwig  die 
Frage,  ob  „durch  das  Zusammenwirken  von  Or- 
ganismen und  äußeren  Faktoren  bestimmt  ge- 
richtete oder  beliebige  unbestimmte  Variationen 
(Abänderungen)  entstehen."  Er  behauptet  dann, 
daß  „das  Darwinsche  Prinzip  von  beliebigen 
richtungslosen  Veränderungen  ausgeht,  und  diese 
allein  durch  Selektion  zur  Erzeugung  zweckmäßi- 
ger und  der  Umgebung  angepaßter  Naturprodukte 
gerichtet  und  geordnet  werden  läßt."  Und  an 
anderer  Stelle:  „Das  Variieren  erfolgt  hierbei  bald 
in  dieser,  bald  in  jener  Richtung;  es  ist  —  was 
zum  Verständnis  der  Selektionstheorie  wohl  zu 
beachten  ist  —  von  Natur  aus  richtungslos." 
Study  hat  nun  trotz  seines  eingehenden  Studiums 
von  Darwins  Werken  nirgends  solche  Behaup- 
tungen bei  ihm  entdecken  können:  „Hertwig 
kommt  immer  wieder  auf  diese  auch  von  anderen 
unzählige  Male  wiederholte  Behauptung  zurück. 
Wo  aber  bei  Darwin  die  Behauptung  einer  Regel- 
losigkeit des  Variierens  oder  gar  die  der  Möglich- 
keit , .beliebiger"  Änderungen  stehen  soll ,  ist  mir 
unbekannt.  Ich  fordere  hiermit  Herrn  Hertwig 
auf,  genau  die  Stellen  anzugeben,  auf  die  er  seine 
Behauptung  stützen  will ,  soweit  sie  sich  auf 
Darwins  eigene  Lehre  bezieht."  Da  Hertwig 
selbst  diese  Frage  als  eine  Kardinalfrage  bezeichnet 
hat,  von  der  die  Beurteilung  der  Selektionstheorie 
im  wesentlichen  abhängt,  so  wird  man  in  beiden 
Lagern,  bei  Darwins  Anhängern  sowohl  als 
seinen  Gegnern,  auf  seine  Antwort  gespannt  sein. 

Ein  fundamentaler  Irrtum  Hertwigs,  der  in 
den  verschiedensten  Formen  wiederkehrt,  besteht 
nach  Study  darin,  daß  er  Darwin  unterstellt, 
dieser  habe  der  Selektion  die  Kraft  zugeschrieben, 
eine  primäre  Veränderung  der  Organismen  herbei- 
führen zu  können.  Die  Selektion  soll  nach  dieser 
Auffassung  Hertwigs  also  als  primäre  Ursache 
der  Neubildungen  der  Organismen  gewertet  wor- 
den sein.  Diese  angebliche  Ansicht  Darwins 
wird  von  Hertwig  verschiedentlich  scharf  be- 
kämpft. Er  schreibt :  „Beim  heutigen  Stande  der 
Wissenschaften  kann  es  nicht  mehr  zweifelhaft 
sein,  daß  Mutationen  (erbliche  Neubildungen)  un- 
abhängig von  Selektion  entstehen."  Durch  „Nicht- 
beachtung dieses  Umstandes  sei  das  Problem  des 
Werdens  der  Organismen  verschleiert  worden." 

Study  weist  nun  daraufhin,  daß  Darwin 
niemals  das  erste  Entstehen ,  den  Ursprung  der 
erblichen  Abänderungen  der  Organismen ,  der 
Selektion  zugeschrieben  hat.  Er  hat  im  Gegenteil 
die  Begriffe  der  Variabilität  und  Selektion  scharf 
geschieden.  Er  unterschied  hinsichtlich  des  Zu- 
standekommens von  erblichen  Veränderungen  der 
Organismen    klar   zwischen    der   Frage    nach    den 


Ursachen  des  ersten  Auftretens  erblicher 
neuer  Eigenschaften  und  der  Frage  nach  den  Be- 
dingungen der  Erhaltung  und  Summierung 
der  bereits  entstandenen  Abänderungen.  Darwin 
hat  die  Ursache  der  Entstehung  der  Neubildungen 
nicht,  wie  Hertwig  behauptet,  in  der  Selektion 
gesehen,  sondern  im  Dunkel  gelassen.  Er  spricht 
ausdrücklich  von  einer  „gänzlichen  Unwissenheit 
der  Ursache  jeder  besonderen  Abweichung".  Seine 
Selektionstheorie  setzt  erst  mit  der  Erklärung  der 
Erhaltung  und  Summierung  bereits  vorhandener 
Abänderungen  ein.  Dafür  führt  Study  folgende 
Stellen  aus  Darwins  Schriften  an:  „Einige 
Schriftsteller  haben  .  .  .  gemeint,  natürliche  Zucht- 
wahl führe  zur  Veränderlichkeit,  während  sie 
doch  nur  die  Erhaltung  solcher  Abänderungen 
einschließt,  welche  dem  Organismus  in  seinen 
eigentümlichen  Lebensbedingungen  von  Nutzen 
sind.  Niemand  macht  dem  Landwirt  einen  Vor- 
wurf daraus,  daß  er  von  den  großen  Wirkungen 
der  Zuchtwahl  durch  den  Menschen  spricht,  und 
in  diesem  Falle  müssen  die  von  der  Natur  dar- 
gebotenen individuellen  Verschiedenheiten,  welche 
der  Mensch  in  bestimmter  Absicht  zur  Nachzucht 
wählt,  notwendigerweise  zuerst  über- 
haupt vorkommen."  Und  Study  behauptet, 
„Solche  Stellen  gibt  es  noch  mehrere."  Nament- 
lich hat  Darwin  ausdrücklich  gesagt,  „daß 
Zuchtwahl  durchaus  gar  keine  Beziehung 
zu  der  primären  Ursache  irgendeiner  besonderen 
Variation  haben  kann."  Selbst  für  einen  Sophisten 
muß  es  unmöglich  erscheinen,  Hertwigs  Vor- 
würfe mit  diesen  Feststellungen  Darwins,  die 
an  Klarheit  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen,  in 
Einklang  zu  bringen. 

Auf  einem  ähnlichen  Mißverständnis  scheint 
auch  Hertwigs  Kritik  der  künstlichen 
Zuchtwahl  zu  beruhen.  Hertwig  stellt  hier 
Darwins  Lehre  so  dar,  als  wenn  sie  den  An- 
spruch machte,  willkürlich  vorgeschriebene  Ände- 
rungen der  erblichen  Anlage  auf  dem  Wege  der 
Selektion  erzwingen  zu  können.  Er  sucht  „das 
Inkorrekte  in  D  a  r  w  i  n  s  oberflächlicher  Ausdrucks- 
weise" durch  „wissenschaftliche  Prüfung"  wie 
folgt  aufzudecken.  „Man  braucht  dem  Züchter 
nur  ein  aus  reinen  Linien  stammendes  Rappenpaar 
zu  geben  und  ihm  die  Aufgabe  zu  stellen,  von 
seiner  Kunst,  eine  Schimmelrasse  aus  ihm  hervor- 
zubringen, eine  beweiskräftige  Probe  abzulegen. 
Dann  freilich  wird  er  sich  nicht  ohne  Beschämung 
zu  dem  Eingeständnis  bequemen  müssen,  daß  es 
über  seine  Kraft  und  Kunst  gehe,  einen  Rappen 
in  einen  Schimmel  zu  verwandeln."  Study 
sagt  dazu:  „Ganz  so  hat  seinerzeit  v.  Hammer- 
stein .  .  .die  Forderung  gestellt,  man  solle  doch 
einige  Affen  aus  dem  Zoologischen  Garten  von 
Berlin  zu  Menschen  entwickeln."  Und  er  fügt 
hinzu:  „War  Darwin  unklar,  oberflächlich  und 
überhaupt  unwissenschaftlich,  wie  H.  es  behauptet, 
so  darf  das  nicht  nur  gesagt  werden,  sondern  es 
soll  auch  gesagt  werden,  damit  fernerhin  ein  jeder 
gleich  zur  rechten  Schmiede   kommen   und  nicht 


N.  F.  XX.  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


557 


erst  mit  beschwerlichen  Umwegen  seine  Zeit  ver- 
liere. Aber  wer  solche  Kritik  zu  üben 
unternimmt,  muß  unbedingt  Recht  be- 
halten. Es  darf  sich  nicht  herausstellen,  daß 
seine  Einwände  gegenstandslos  sind,  und  noch 
weniger,  daß  lediglich  eine  P'ahrlässigkeit  des 
Kritikers  vorliegt.  So  aber  steht  die  Sache  be- 
dauerlicherweise. Im  Ursprung  der  Arten  heißt 
es  bei  Darwin:  „Er  (der  IVlensch)  kann  weder 
Varietäten  (d.  h.  IVIutanten)  entstehen  machen, 
noch  ihre  Entstehung  hindern;  er  kann  nur  die 
vorkommenden  erhalten  und  häufen."  In  dem 
Abriß  der  Selektionstheorie,  den  Darwin  dem 
Variieren  der  Tiere  und  Pflanzen  vorausgeschickt 
hat,  stehen  nicht  weniger  als  drei  Stellen  ähn- 
lichen Inhalts.  . . .  „Übrigens",  sagt  Study,  „kennt 
man  keinen  Grund,  warum  aus  einer  reinen  Linie 
von  Rappen  nicht  auch  einmal  Schimmel  hervor- 
gehen können  sollte.  Unter  Wildpferden  hat 
man  meines  Wissens  weder  Rappen  noch  Schim- 
mel gefunden,  beide  sind  erst  in  der  menschlichen 
Kultur  entstanden." 

Noch  eine  kleinere  weitere  Probe  von  Study s 
Kritik  an  Hertwig  möge  hier  Platz  finden.  Bei 
Hertwig  heißt  es:  „Kleine  Organisationsunter- 
schiede besitzen,  auch  wenn  sie  vorteilhaft  sind, 
keinen  Selektionswert."  Study  sagt  dazu:  „Wie- 
der scheint  ähnliches  ein  ganzes  Heer  von  Autoren 
gesagt  zu  haben,  deren  H.  nicht  weniger  als  neun, 
Plate  sogar  elf  aufzählt.  Hertwig  ist  aber  da- 
bei ein  kleiner  Unfall  zugestoßen,  der  etwas  pein- 


lich sein  sollte  für  einen  Schriftsteller,  der  alle 
Augenblicke  Logik!  ruft.  Bei  erblichen  Unter- 
schieden, um  die  allein  es  sich  handelt,  ist  näm- 
lich Vorteilhaft-sein  und  Selektionswert-haben  genau 
dasselbe." 

Hertwig  stellt  im  Untertitel  seines  Buches 
in  Aussicht,  daß  Darwins  Zufallstheorie  durch 
„Das  Gesetz  in  der  Entwicklung"  seine  Wider- 
legung finden  soll.  Dieses  Gesetz  in  der  Ent- 
wicklung, welches  nach  Hertwig  des  Rätsels 
Lösung  bringen  soll,  aber  gehört  anscheinend  leider 
zu  den  Gesetzen,  die  noch  nicht  entdeckt  sind. 
Study  sagt :  Das  ,, Gesetz  in  der  Entwicklung" 
ist  reine  Zukunftsmusik  —  es  ist  zugestandener- 
maßen völlig  unbekannt.  Study  verweist  u.  a. 
auf  folgende  Stelle  bei  Hertwig,  „die  Verände- 
rung der  Formen  wird  von  einem  Gesetz  be- 
herrscht, welches  wir  nicht  kennen,  welches  aber 
zu  erforschen  jetzt  die  vornehmste  Aufgabe  für 
alle  denkend  betriebene  Biologie  sein  muß".  Das 
heißt  aber  nichts  anderes,  als  daß  die  Ursache 
der  Entstehung  von  Neubildungen,  die  bereits  von 
Darwin  als  in  Dunkel  gehüllt  erkannt  wurde, 
auch  heute  noch  im  Dunkel  liegt.  „Ohne  Frage, 
es  ist  im  höchsten  IVIaße  bedauerlich,  daß  dieses 
wichtige  Problem  heute  noch  so  hoffnungslos  aus- 
sieht wie  zu  Darwins  Zeiten.  Wenn  aber  einer 
ein  Problem  heute  nicht  zu  lösen  weiß  —  „wie 
kommt  er  dazu",  so  fragt  Study  „einem  anderen, 
der  es  vor  60  Jahren  nicht  lösen  konnte,  einen 
Vorwurf  daraus  zu  machen?"  Vaerting. 


Bücherbesprechungen. 


Die    Zwischenprodukte    der    Teerfarbenfabri- 
kation.    Ein  Tabellenwerk  für  den  praktischen 
Gebrauch.     Nach  der  Patentliteratur   bearbeitet 
von   Dr.  Otto  Lange.     Leipzig   1920,  Verlag 
von  Otto  Spamer. 
Wenngleich  sich  die  Chemie  als  Wissenschaft 
und    die    chemische    Industrie    in    ihren    Arbeiten 
vielfach  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  leiten 
lassen,  haben  die  Resultate   beider  immer  wieder 
befruchtend    aufeinander    eingewirkt.     Aus    nahe- 
liegenden Gründen  ist  aber  das  geistige  Gut,  das 
die  Industrie  zutage  gefördert  hat,  nicht  in  gleicher 
Weise  allgemein  zugänglich  wie  wissenschaftliche 
Arbeiten.     Zwar  findet  sich  in  der  Patentliteratur 
der  Großteil  des  Materials,  insoweit  es  überhaupt 
bekannt  gegeben    worden    ist,    niedergelegt,    aber 
hier  fehlt  die  ordnende  Hand,  die  den  Stoff  mit- 
teilbar  und  für  weitere  Arbeiten    nutzbar    macht. 
Die  Chemie  der  Teerfarbstoffe  ist  als   oft   an- 
geführtes schönstes  Beispiel  durch    ein   derartiges 
Ineinandergreifen  von  theoretischer  Forschung  und 
technischer    Auswertung     zu     bedeutender    Aus- 
dehnung und  Mannigfaltigkeit   angewachsen,    und 
auf  ihrem  Gebiete    nehmen   die    ersten  Umwand- 
lungsprodukte der  Teerbestandteile,  die  die  eigent- 
lichen   Bausteine'    der    Farbstofifsynthese    bilden, 


ein  allgemeines  Interesse  in  Anspruch,  das  nicht 
auf  diese  besondere  Verwendung  beschränkt 
bleibt.  P.  Friedlaender,  der  in  einem  in 
großen  Perioden  erscheinenden  Werke  die  Fort- 
schritte der  Teerfarbenfabrikation  an  Hand  der 
wörtlich  wiedergegebenen  Patente  beleuchtet,  faßt 
daher  diese  Zwischenprodukte  in  einer  eigenen 
Gruppe  zusammen.  Aber  es  liegt  im  Wesen  der 
Sache,  daß  diese  Abgrenzung  nicht  mit  aller 
Schärfe  durchgeführt  werden  kann.  Einmal  werden 
viele  dieser  Zwischenkörper  bereits  in  der  Fär- 
berei verwendet,  sind  also  gleichzeitig  Endpro- 
dukte, andererseits  ist  die  Darstellung  vieler  von 
ihnen  in  den  Patenten  der  Farbstoffe,  zu  denen 
sie  weiter  verarbeitet  werden,  beschrieben. 

Indem  nun  O.  Lange  dieses  wichtige  Ka- 
pitel herausgreift  und  für  sich  behandelt,  ist  es 
ihm  möglich,  —  bis  auf  einige  selbst  gemachte 
Einschränkungen  —  das  gesamte  aufgelaufene 
Material  zu  berücksichtigen  und  unter  einem  ein- 
heitlichen Gesichtspunkt  zusammenfassend  darzu- 
stellen. So  hat  er  ein  Nachschlagewerk  geschaffen, 
das  als  solches  für  den  praktischen  Gebrauch  be- 
stimmt ist  und  seinen  Zweck,  den  Farbstoff- 
chemiker rasch,  sicher  und  ausreichend  über  die 
Herstellung    eines    gesuchten  Körpers    zu    unter- 


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Maturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3S 


richten  und  ihm  gleichzeitig  einen  Überblick  über 
das  Gesamtgebiet  zu  geben,  sicher  vollkommen 
erreicht. 

Die  Schwierigkeit  lag  in  der  übersichtlichen 
Unterbringung  der  großen  Zahl  von  immerhin 
komplizierteren  Verbindungen,  die  in  dem  Werk 
aufgeführt  werden.  Denn  bei  solchen  Körpern 
kann  die  herkömmliche  Benennung  je  nach  der 
damit  verbundenen  Auffassung  über  ihre  Natur 
stark  wechseln,  so  daß  allein  das  Formelbild  für 
ihre  Einordnung  maßgebend  sein  konnte  und  auch 
hier  ein  praktisch  verwertbares  System  erst  aus- 
gearbeitet werden  mußte.  In  enger  Anlehnung 
an  die  gewohnte  Einteilung  der  aromatischen 
Verbindungen  in  die  Benzol-,  Naphthalin-,  An- 
thrazen-  und  Phenanthrenreihe  wird  die  Unter- 
teilung durch  die  Art  der  Verknüpfung  dieser 
Ringsysteme  mittels  Atomketten  und  schließlich 
durch  das  Auftreten  andersartiger  Ringsysteme 
bedingt.  Dadurch,  daß  die  weitere  Anordnung 
nach  den  Elementen,  aus  denen  die  eintretenden 
Gruppen  bestehen,  geschieht,  der  Kohlenstoff  aber 
in  einer  Reihe  mit  den  übrigen  Elementen  be- 
handelt wird,  treten  einige  Analogien  gegenüber 
den  sonst  gebräuchlichen  Systemen  stärker  her- 
vor, die  auf  den  Kohlenstoff  aufgebaut  sind  und 
so  diesem  eine  Vorzugstellung  einräumen. 

Eine  beigegebene  Tabelle  unterstützt  die  Orien- 
tierung und  ein  angeschlossenes  alphabetisches 
Register  ermöglicht  auch  die  Auffindung  einer 
Verbindung  nach  ihrer  Bezeichnung. 

Von  den  deutschen  Reichspatenten,  die  in 
dieser  Aufeinanderfolge  angeführt  sind,  wird  ein 
kurzer  Auszug  über  Darstellung  und  Eigenschaften 
der  entsprechenden  Verbindung  wiedergegeben. 
Vorangestellt  ist  deren  Name,  Konstitutions-  und 
Bruttoformel  sowie  Molekulargewicht.  Auf  aus- 
ländische Patente  und  einschlägige  Literatur  ist 
fallweise  verwiesen.  G.  Sachs. 


Heiberg,  J.  L.,  Naturwissenschaften,  Ma- 
thematik und  Medizin  im  klassischen 
Altertum    (2.   Aufl.);    Richert,   H.,    Philo- 
sophie,   ihr    Wesen,    ihre    Grundpro- 
bleme, ihre  Literatur  (3.  Aufl.);  Richter, 
R.,    Einführung     in     die    Philosophie 
(4.   Aufl.);    Sommer,    G.,    Leib    und    Seele 
in  ihrem  Verhältnis  zueinander;    Ver- 
weyen,  J.  M.,  Naturphilosophie  (2.  Aufl.); 
Verworn,  M.,  Die  Mechanik  des  Geistes- 
ie b  e  n  s  (4.  Aufl.).  —  Sämtlich  bei  B.  G.  Teubner, 
Leipzig-Berlin  1919  und  1920  in  der  Sammlung 
„Aus  Natur  und  Geisteswelt"  (Nr.  370,  186,  155, 
702,  491,  200). 
Diese  Darstellungen  dürfen,  wie  wohl  weitaus 
das  meiste  der  verdienstlichen  Sammlung,  in  ihrem 
Umkreise  mit  gutem  Gewissen  empfohlen  werden, 
besonders    auch    naturwissenschaftlichen    Kreisen, 
da  auch  in  den  drei    rein    philosophischen  Werk- 
lein   naturwissenschaftlichen    Gesichtspunkten    in 
weitem  Umkreise  Rechnung   getragen  wird.     Die 
beiden  letzten  sind  Neuauflagen    von  hier  bereits 


besprochenen  Schriften,  auf  die  nur  nochmals 
hingewiesen  werden  soll.  —  Die  Arbeit  Heibergs 
beschäftigt  sich  mit  einem  Thema,  zu  dem  ich 
ebenfalls  bereits  mehrfach  in  diesen  Blättern  das 
Wort  ergriffen  habe  und  zwar  in  demselben  Sinne : 
daß  die  entsprechenden  bedeutsamen  Leistungen 
der  Griechen  im  allgemeinen  immer  noch  zu 
wenig  gekannt  und  gewürdigt  werden  (vgl.  meine 
Besprechung  des  ebenfalls  bei  Teubner  erschie- 
nenen wertvollen  Werkes  „Vom  Altertum  zur 
Gegenwart"  in  Nr.  27  Jahrgang  1920  der  Naturw. 
Wochenschr.).  Sehr  nützlich  zu  einer  ersten  Ein- 
führung ist  Richerts  „Philosophie",  sie  enthält  viel 
Stoff  in  kleinem  Raum  und  leichtverständlicher, 
klarer  Behandlung.  Eine  wertvolle  Beigabe  ist 
ein  gutgewähltes  reichhaltiges  Literaturverzeich- 
nis. —  Subjektiver  und  in  diesem  Sinne  anregen- 
der, doch  naturgemäß  weniger  Einzelbelehrung 
enthaltend,  stellt  sich  R.  Richters  „Einführung" 
dar,  die  stark  von  Nietzsche  gefärbt  ist.  —  Die 
Arbeit  G.  Sommers  endlich  möchte  ich  jedem 
empfehlen,  dem  an  einer  eingehenden  Aufklärung 
über  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele,  vor 
allem  einer  ausführlichen  Erörterung  der  Paralle- 
lismus- und  der  Wechselwirkungstheorie  gelegen 
ist,  welche  Erörterung  den  größten  Teil  des 
Buches  einnimmt.  Das  Endergebnis  des  Ver- 
fassers geht  aus  der  Schlußangabe  hervor,  daß 
trotz  aller  Schwierigkeiten  der  Stand  der  Dinge 
heute  der  Annahme  günstig  sein  dürfe:  „daß  das 
Verhältnis  zwischen  Leib  und  Seele  als  ein  kau- 
sales im  Sinne  der  Wechselwirkungstheorie  zu 
bestimmen  sei".  Dies  gibt  zu  denken,  nachdem 
die  Parallelismustheorie  eine  Zeitlang  so  sehr  im 
Vordergrund  gestanden  hat.         v.  Wasielewski. 


Zwölf  länderkundliche  Studien.  Von  Schülern 
Alfred  Hettners  ihrem  Lehrer  zum  60.  Geburts- 
tag. 347  S.  Breslau  1921,  Hirt.  60  M. 
Schüler  des  verdienstvollen  Heidelberger  Geo- 
graphen haben  sich  zusammengetan,  um  ihm  zum 
60.  Geburtstag  eine  Sammlung  von  Aufsätzen  dar- 
zubringen, in  der  seine  Lehre  zum  Ausdruck  kommt, 
welche  die  Länderkunde  als  Wesen  und  Inhalt  der 
Geographie  begreift.  Die  Aufsätze  beschränken 
sich  auf  knappe  Darstellungen  länderkundlicher 
Einheiten.  Im  ersten  derselben  versucht  Ernst 
Wähle  ein  Bild  der  geographischen  Umwelt 
des  Menschen  in  Deutschland  zur  jüngeren  Stein- 
zeit zu  geben.  Drei  weitere  Beiträge  zu  dem 
Jubiläumsbuch  schildern  einzelne  deutsche  Land- 
schaften, nämlich  die  westpiälzische  Moorniederung 
(Daniel  Häberle),  das  badische  Bauland  (Fried- 
rich Metz)  und  Oberschlesien  (Bruno  Diet- 
rich). F"rüchte  geographischer  Forschung  während 
des  Weltkrieges  sind  die  Aufsätze  über  Litauen 
(Oscar  Schmieder)  sowie  Mazedonien  und 
Albanien  (Fritz  Klute).  Ein  lebhaftes  Bild  des 
Jordangrabens  gewährt  Valentin  Schwöbel 
und  einen  charakteristischen  Erdraum  Ostasiens, 
die  Landschaften  an  der  japanischen  Inlandssee, 
schildert  H.  Schmitthenne r.    Die  letzten  vier 


U.  F.  XX  Nr.  38 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


559 


Aufsätze  endlich  sind  Beiträge  zur  Landeskunde 
der  bisherigen  deutschen  Kolonien,  sie  führen  uns 
die  Inselberglandschaft  von  Nordtikar  in  Kamerun 
(von  F.  Thorbeke),  Ostafrika  (Carl  Uhlig), 
Deutsch-Südwestafrika  (Fr.  Jäger)  und  das  süd- 
liche Namaland  (Leo  Waibel).  Alle  Autoren 
haben  es  meisterhaft  verstanden,  die  wesentlichen 
Züge  der  Landschaftsbilder  in  kurzen  Strichen  zu 
zeichnen  und  die  gestaltenden  Kräfte  aufzuzeigen. 
Beigegeben  sind  48  Naturaufnahmen,  Pläne,  Profile 
und  Karten.  H.  Fehlinger. 

Hering,  Ewald,  Fünf  Reden.    140  S.    Leipzig 

1921,  W.  Engelmann. 

Diese  Sammlung  der  klassischen  Reden  Herings 
ist  auf  das  Wärmste  zu  begrüßen,  weil  sie  z.  T. 
bisher  nur  in  der  schwer  erhältlichen  Prager  Zeit- 
schrift Lotos  zu  finden  waren. 

Ganz  besonders  sei  auf  die  fundamentale 
„Theorie  der  Vorgänge  in  der  lebendigen  Sub- 
stanz" hingewiesen,  und  auf  die  berühmte  Rede 
über  das  Gedächtnis  als  eine  allgemeine  Funktion 
der  organisierten  Materie.  Die  klare  Darstellung 
und  ihre  Sprache  heben  diese  Reden  hoch  über 
das  Niveau  anderer  akademischer  Reden  oder  Vor- 
lesungen, und  auch  der  Laie  wird  sie,  fast  wie 
ein  Kunstwerk,  genießen  und  sich  der  Tiefe  der 
hier  entwickelten  Gedanken  erfreuen. 

Brücke  (Innsbruck). 


Fröhlich,  F.  W.,    Grundzüge    einer    Lehre 
vom  Licht-  und  Farbensinn.    Jena  1921, 
G.  Fischer. 
Die  hier  aufgestellte  Theorie  fußt  im  wesent- 
lichen   einerseits    auf  dem   vom  Verf.    erbrachten 
Nachweise,  daß  das  Licht  in  den  Augen  mancher 
Tiere  oszillatorische  Erregungen  auslöst,  anderer- 
seits   auf  der   von  Fröhlich,   Verworn    u.    a. 
verfochtenen    Theorie,    daß     die    Hemmungsvor- 
gänge  im  Zentralnervensystem    als  wechselseitige 
Störung    gleichzeitig    einwirkender    rhythmischer 
Erregungen  anzusehen  seien. 

In  ein  kurzes  Referat  läßt  sich  der  Inhalt  des 
Buches  nicht  zusammenfassen.  Der  Gedanke,  die 
Tatsachen  der  physiologischen  Optik  vom  Stand- 
punkte der  allgemeinen  Physiologie  des  Zentral- 
nervensystems aus  zu  betrachten,  kann  sicher 
fruchtbar  werden.  Deshalb  ist  das  vorliegende 
Buch  zu  begrüßen,  obwohl  es  nicht  ohne  Wider- 
spruch hingenommen  werden  kann. 

Brücke  (Innsbruck). 


Noetling,  Dr.  Fritz,  Die  kosmischen  Zahlen 
der  Cheopspy ramide   der  mathemati- 
sche Schlüssel  zu  den  Einheitsgesetzen 
im    Aufbau    des    Weltalls.      181    Seiten. 
Stuttgart  1921,    E.  Schweizerbart.     Geh.  23  IM. 
Trotz    des   Titels    hat   der    Inhalt   des   Buches 
mit  den  wahren  Zahlen   der  Cheopspyramide  gar 
nichts  zu  tun.     Verf.  entnimmt   dem  Roman  von 
IMax  Eyth,   „Der   Kampf   um    die    Cheopspyra- 
mide",   die    Ausmessungen    von   Piazzi  Smyth 


an  der  bekannten  Truhe,  die  die  Mumie  barg. 
Da  ihm  diese  Zahlen  für  seine  Theorie,  daß  näm- 
lich die  Pyramide  überall  in  Beziehung  zur  Zahl 
7T  stände,  nicht  recht  passen,  so  entstellt  er  sie 
willkürlich,  und  obwohl  die  Messungen  von 
Smyth  und  Flinders  Petrie  unter  sich  Ab- 
weichungen von  erheblichen  Bruchteilen  des  Zolles 
zeigen,  rechnet  Noetling  mit  10,  18  und  noch 
mehr  Dezimalen.  Jeder,  der  die  Literatur  über  die 
Pyramide  ein  wenig  kennt,  erkennt  in  diesem 
Buch  eine  bedauerliche  Entgleisung,  ein  gänzlich 
sinnloses  Machwerk.  Riem. 


Fischer,  Franz    und    Schrader,    Hans,    Ent- 
stehung  und   chemische  Struktur  der 
Kohle.     Essen  192 1,  Verlag  von  W.  Girardet. 
Ein    erweiterter    Abdruck    der    gleichnamigen 
Abhandlung  der  Verff. ,    deren    wichtige  Arbeiten 
wertvolle  Beiträge  zu  dem  alten  Problem  geliefert 
haben,    in    der    „Brennstoff- Chemie"    1921.      Auch 
Fernerstehende  können  eine  gute  Vorstellung  des 
bis   jetzt   Erreichten    in    diesem    Forschungsgebiet 
bekommen,  denn  die  Darstellung  ist  schlicht  und 
gut  lesbar.     Auf  den   sachlichen    Inhalt    der   Bro- 
schüre soll  anderweitig  eingegangen  werden. 
H.  H. 

Schneider,  Dr.  Ilse,  Das  Raum-Zeit-Pro- 
blem bei  Kant  und  Einstein.  Berlin 
1921,  Julius  Springer. 

Die  Arbeit  ist  aus  einer  Doktordissertation 
hervorgegangen  und  sucht  nachzuweisen ,  daß 
Kants  transzendentaler  Idealismus,  wenn  er 
richtig  gedeutet  wird,  zur  Einst  einschen  Hypo- 
these in  keinem  Widerspruche  steht.  Die  histo- 
rischen und  philosophischen  Betrachtungen  über 
Raum,  Zeit  und  Bewegung  bei  Newton,  Kant 
und  späteren  Forschern,  sowie  eine  kurze  Dar- 
stellung der  Relativitätstheorie  lassen  besonders 
neue  originelle  Gesichtspunkte  nicht  erkennen. 
Soweit  die  Betrachtungen  über  rein  philosophische 
Erörterungen  hinaus  auf  die  physikalischen  Tat- 
sachen hinübergreifen,  sind  sie  m.  E.  unhaltbar. 
Vom  Äther  scheint  die  Verf.  nur  die  Anschauung 
von  Lorentz  zu  kennen,  der  ihn  als  „absolut 
ruhend"  in  seine  Rechnungen  einführt.  Daß  man 
den  Äther  auch  als  substantiell  und  begabt  mit 
inneren  Bewegungen  und  Reibungswiderständen, 
die  alle  optischen  Erscheinungen  und  elektrischen 
Kraftfelder  erst  verständlich  machen,  auffassen 
kann,  erwähnt  die  Verf.  nicht.  F>icke. 


Dingler,  Prof.  Dr.  Hugo,    Kritische    Bemer- 
kungen zu  den  Grundlagen    der  Rela- 
tivitätstheorie.    Vortrag,  gehalten  auf  der 
86.  Versammlung  deutscher  Naturforscher    und 
Ärzte.  —  Leipzig  1921,  S.  Hirzel. 
Der    Nauheimer    Vortrag,    der    auch    in    der 
Physikalischen  Zeitschrift,  21.  Jahrg.,  S.  668 — 675 
abgedruckt  ist,  versucht  eine  systematische  Kritik 
der  Relativitätstheorie  auf  Grund   der  klassischen 
Mechanik  Newtons    zu  geben    und    kommt    durch 


?6ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  3Ö 


sehr  abstrakte,  mathematisch-philosophische  Über- 
legungen zu  dem  Ergebnis,  daß  beide  Theorien 
nichts  gegeneinander  ausrichten  können  und  keine 
als  empirisch  bewiesen  oder  widerlegt  gelten  kann, 
ehe  wir  nicht  Klarheit  über  die  Geltung  und  Aus- 
wahl der  dabei  benutzten  Prinzipien  erhalten  haben. 

Fricke. 

Schwinge,  Otto,  Eine  Lücke  in  der  Termi- 
nologie   der    Einsteinschen    Relativi- 


tätslehre.    Berlin-Steglitz   1921,  Holsteinsche 

Str.  26.  Otto  Ernst  Puhle. 
Der  Verfasser  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß 
„Zeit"  und  „Maß"  relative  Begriffe,  „Ewigkeit" 
und  „Raum"  aber  absolut  sind,  er  stellt  also  das 
relative  Endliche  dem  absoluten  Unendlichen 
gegenüber.  Die  kurzen  Ausführungen  sind  klar 
und  anschaulich  geschrieben,  betreffen  aber  mehr 
die  philosophische  Seite  und  gehen  auf  die  prak- 
tisch-physikalischen Streitfragen  nicht  ein. 

Fricke. 


Anregungen  und  Antworten. 


über  die  Bedeutung  des  Namens  Köppernickel  (Köpr- 
nickl)  für  Meum  athamanticum  (im  Erzgebirge).  —  Nachdem 
die  I.eser  dieser  Zeitsclirift  bereits  mit  zwei  Erklärungen  des 
Namens  Köppernickel  bekannt  geworden  sind  (vgl.  N.  F.  XX. 
[1921]  Nr.  12,  S.  191  und  Nr.  28,  S.  424),  sei  darauf  hinge- 
wiesen,   daß    noch    eine    dritte  Version    existiert.      In  Cela- 


kovskys  Prodromus  der  Flora  von  Böhmen  III  (1875)  S.  590 
liest  man  nämlich:  ,,Köprnickl.  —  Von  dem  böhmiscüen 
koprnik,  dieses  abgeleitet  von  kopr,  Dill,  wegen  der  Ähnlich- 
keit der  Blätter.  Die  Erhaltung  dieses  Wortes  in  dem  ganz 
deutschen  Erzgebirge  gibt  einen  botanisch-etymologischen  Be- 
weis ab  von  der  ehemals  slavischen  Einwohnerschaft  des  Erz- 
gebirges." A.   Thellung  (Zürich). 


Literatur. 

Auerbach,  Felix,  Moderne  Magnetik.  Leipzig '21,  Joh. 
Ambr.  Barth.     Brosch.  48  M.,  geb.   55   M. 

Henning,  Prof.  Dr.  R.,  Praktische  Wetterregeln.  Leip- 
zig  '21,   Franz  Deuticke.     48  M. 

Bauer,  Dr.  Erwin,  Entwicklungsmechanik  der  Organis- 
men.    Heft  -XXVl.     Berlin  '21,  Julius  Springer.     28  M. 

Groß  mann,  Prof.  Dr.  H.  und  Dr.  Marie  Wrechner, 
Die  anomale  Rotationsdispersion.  Stuttgart  '21,  Friedrich 
Enke.     5  M. 

v.  Bubnoff,  Dr.  Serge,  Die  Grundlagen  der  Decken- 
theorie in  den  Alpen.  Stuttgart '21,  E.  Schweizerbart.  Laden- 
preis 60  M. 

Do  1  Jan  und  Haempel,  Handbuch  der  modernen 
Fischereibetriebe.     Wien  '21,   Wilh.  Frick. 

Keilhack,  Geh.  Bergrat  Prof.  Dr.  Konrad,  Lehrbuch 
der  praktischen  Geologie.     Stuttgart  '21,   Friedrich  Enke. 

Zahn,  K.  H.,  Das  Pflanzenreich,  herausgegeben  von 
Engler.     Leipzig  '21,   Wilh.  Engelmann.     136  M. 

Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  1.  und  II.  Band 
übersetzt  von  C.  W.  Neumann.  Leipzig  '21,  Philipp  Reclam 
jun.     Zus.  geh.  22,50  M.,  geb.  30  M. 

Darwin,  Die  Entstehung  der  Arten,  übersetzt  von  C. 
W.  Neumann.  Leipzig  '21,  Ph.  Reclam  jun.  Geh.  15  M., 
Geb.  20  M. 

Lotsy,  Dr.  J.  P.,  Genetica  Nederlandsch.  Tijdschrift 
voor  Erfelijkheids  -  en  Afstammingsleer.  's  Gravenhage  '21, 
M.  Nijhoff. 

Ficker,  Prof.  Dr.  M.,  Ausführung  bakt.  Untersuchungen. 
Leipzig  '21,  C.  Kabitzsch.     g  M. 


Roth,  W.  A.,  Physikalisch-chemische  Übungen.     3.  Aufl.       ' 
Leipzig  '21,  Leopold  Voß.     Geb.  30  M. ' 

Born,  Dr.  A. ,  Allgemeine  Geologie  und  Stratigraphie. 
(Wissenschaftl.  Forschungsberichte.)  Dresden  '21,  Theodor 
Steinkopff.     Geh.  20.  M. 

Kafka,  Gustav,  Geschichte  der  Philosophie  in  Einzel- 
darstellungen. „Die  Vorsokratiker".  München  '21  ,  Ernst 
Reinhardt.     15   M. 

Ko  SS  in  na,  Gustaf,  Die  deutsche  Vorgeschichte,  eine 
hervorragende  nationale  Wissenschaft.  Leipzig  '21,  C.  Ka- 
bitzsch.    Geb.  58  M.,  geh.  50  M. 

Lundberg,  Dr.  Hermann,  Rassenbiologische  Über- 
sichten und  Perspektiven.  Jena  '21,  Gustav  Fischer.  Brosch. 
6  M. 

Kupan,  Alexander,  Grundzüge  der  Physischen  Erdkunde. 
Berlin  '21,  Vereinigung  wissenschaftl.  Verleger.      Geh.    52  M. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.  Leipzig- Berlin  '21,  1'..  G. 
Teubner. 

Nr.  379:  E.Lehmann,  Experimentelle  Abstammungs- 
und Vererbungslehre.     2.  Aufl. 
Nr.    678:     A.    Ehringhaus,    Das    Mikroskop,    seine 
wissenschaftlichen  Grundlagen  und  seine  Anwendung. 
Nr.  766:   A.  Zade,    Werdegang    und    Züchtungsgrund- 
lagen  der  landwirtschaftlichen   Kulturpflanzen. 

Kossei,  W.,  Valenzkräfte  nnd  Röntgenspektren.  Berlin 
'21,  Julius  Springer.     12  M. 

Thomas,  F.,  Zimmerkultur  der  Kakteen.  Neudamm  '21, 
J.  Neumann.      10  M. 

Obst,  Erich,  Die  Vernichtung  des  deutschen  Kolonial- 
reichs in  Afrika.  Berlin  '21,  Carl  Flemming  u.  C.  T.  Wiskott 
A.-G.      13  M. 


lubalt:  S.  Killermann,  Zur  Geschichte  der  Einführung  der  Papageien.  (3  Abb.)  S.  545.  —  Binzelbeiichte :  Crom- 
melin,  Der  elektrische  Widerstand  der  Metalle  bei  tiefen  Temperaturen.  S.  550.  L.  von  zur  Mühlen,  Die  balti- 
schen Ölschiefer.  S.  550.  Lenard,  Eine  gewichtige  Stimme  gegen  die  Relativitätstheorie.  S.  551.  Ludendorff 
und  Heiskanen,  Die  Radialgeschwindigkeiten  der  veränderlichen  Sterne.  S.  551.  Stebbins,  Neues  vom  Algol. 
S.  552.  O.Aichel,  Über  Kiefer-  und  Zahnwachstum  und  den  „horizontalen  Zahnwechsel".  S.  552.  Hans  Melchior, 
Die  Saugorgane  der  Mistel,  (i  Abb.)  S.  554.  Study,  Für  und  wider  Darwin.  S.  555.  —  Bücberbesprecbungen: 
O.  Lange,  Die  Zwischenprodukte  der  Teerfabrikation.  S.  557.  J.  L.  Heiberg,  Naturwissenschaften,  Mathematik 
und  Medizin  im  klassischen  Altertum.  H.  Kichert,  Philosophie,  ihr  Wesen,  ihre  Grundprobleme,  ihre  Literatur. 
R.  Richter,  Einführung  in  die  Philosophie.  G.  Sommer,  Leib  und  Seele  in  ihrem  Verhältnis  zueinander.  J.  M. 
Verweyen,  Naturphilosophie.  M.  Verworn,  Die  Mechanik  des  Geisteslebens.  S.  558.  Zwölf  länderkundliche 
Studien.  S.  558.  E.  Hering,  Fünf  Reden.  S.  559.  F.  W.  Fröhlich,  Grundzüge  einer  Lehre  vom  Licht-  und 
Farbensinn.  S.  559.  Fr.  Noetling,  Die  kosmischen  Zahlen  der  Cheopspyramide  der  mathematische  Schlüssel  zu  den 
Einheitsgesetzen  im  Aufbau  des  Weltalls.  S.  55g.  Fr.  Fischer  und  H.  Schrader,  Entstehung  und  chemische 
Struktur  der  Kohle.  S.  5S9.  Ilse  Schneider,  Das  Raum-Zeit-Problem  bei  Kant  und  Einstein.  S.  559.  II.  Dingler, 
Kritische  Bemerkungen  zu  den  Grundlagen  der  Relativitätstheorie.  S.  559.  O.  Schwinge,  Eine  Lücke  in  der  Ter- 
minologie der  Einsteinschen  Relativitätslehre.  S.  560.  —  Anregungen  und  Antworten:  Über  die  Bedeutung  des  Na- 
mens Köppernickel  (Köprnickl).  S.   560.  —  Literatur:  Liste.  S.  560. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  InvalidenslraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganieo  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  25.  September  1921. 


Nummer  39. 


Neues  über  Maränen. ') 


(Nachdruck  verboten.)  Von  Priv.-Doz.  Dr.  med.  et  phil 

Eine  pommersche  Sage  aus  dem  Kreise  Star- 
gard  erzählt,  daß  ein  Bauer  in  der  Nähe  des 
Madüesees  mit  dem  Teufel  einen  Kontrakt  ab- 
geschlossen habe,  wonach  er  demselben  seine 
Seele  verschreibe,  falls  er  ihm  vor  dem  Hahnen- 
schrei ein  Gericht  Maränen  aus  Afrika  verschaffe. 
Der  Teufel  begab  sich  nach  Afrika,  um  die  Fische 
zu  holen.  Gegen  Morgengrauen  aber  befiel  den 
Bauern,  der  die  so  schnelle  Herbeischaffung  der 
Maränen  für  unmöglich  gehalten  hatte,  die  Angst, 
der  Teufel  möge  doch  in  der  Lage  sein,  den 
Wunsch  zu  erfüllen.  Er  ging  daher  aus  seinem 
Hause  heraus,  klatschte  in  die  Hände  und  fing  an 
zu  krähen,  worauf  alle  Hähne  der  Umgegend  er- 
wachten und  ebenfalls  zu  krähen  anfingen.  Es 
war  aber  die  höchste  Zeit  gewesen,  der  Teufel 
befand  sich  nämlich  mit  den  Maränen  über  dem 
Madüesee.  Als  er  das  Krähen  hörte,  sah  er  ein, 
daß  er  zu  spät  kam.  Aus  Ärger  ließ  er  die 
Maränen  fallen,  die  in  den  See  fielen.  So  hat 
der  Madüesee,  als  einziger  See  in  Pommern,  die 
Maränen  erhalten  und  sie  werden  noch  heute 
dort  gefangen.  Es  sind  also  der  Sage  nach  nicht 
eigentlich  deutsche  Fische,  die  wir  in  den  Maränen 
vor  uns  haben,  sondern  sie  stammen  aus  dem 
fernen  Afrika. 

Es  handelt  sich  bei  der  Maräne  des  Madüe- 
sees um  die  sog.  große  Maräne  (Coregonus  ma- 
raena  L.),  die  nach  den  früheren  Anschauungen  nur  in 
den  drei  Seen:  Schaalsee  in  Mecklenburg,  Selenter- 
see  in  Holstein  und  Madüesee  in  Pommern  vor- 
kommt, aber  auch  in  anderen  größeren  Landseen 
der  baltischen  Provinzen  vorhanden  ist,  z.  B.  dem 
Peipussee  und  dem  Ladogasee.  Sie  ist  dann 
außerdem  noch  vielfach  in  Seen,  in  denen  sie 
ursprünglich  nicht  vorkommt,  eingesetzt. 

Aus  dieser  pommerschen  Sage  ersehen  wir 
aber,  daß  dem  Manne  aus  dem  Volke  die  Maräne 
als  etwas  Fremdartiges  erschienen  ist,  sie  stammt 
nach  der  Sage  aus  Afrika.  Es  wäre  interessant 
dem  Ursprung  dieser  Sage  nachzugehen,  besonders 
im  Hinblick  auf  die  angebliche  Heimat.  Es  kann 
sehr  wohl  sein,  daß  Afrika  hier  einfach  als  der 
Begriff  des  Südens  gemeint  ist.  Wissen  wir  doch, 
daß  die  nächsten  Verwandten  unserer  Maränen, 
die  Renkenarten  im  Süden  Deutschlands,  in  den 
subalpinen  Seen  und  den  größeren  Alpenseen  vor- 
kommen, während  zwischen  den  nordischen  Ge- 
wässern der  Maränen  und  diesen  Renkenseen  sich 
ein  Gebiet  erstreckt,  dem  verwandte  Formen 
völlig  fehlen.  Es  ist  daher  sehr  leicht  möglich, 
daß  die  Kunde  von  Maränen,  die  im  Süden  vor- 
kommen,   in   der  pommerschen  Bevölkerung,   die 


.  A.  Willer,  Königsberg  i.  Pr. 

ja  zum  großen  Teil  der  Fischerei  sehr  nahe  steht, 
verbreitet  gewesen  ist. 

Aber  auch  dem  Forscher  ist  die  Gattung  Core- 
gonus ein  merkwürdiges  und  interessantes  Studien- 
objekt gewesen  und  ist  es  noch  heute.  Auch  er 
sieht  in  den  Coregonen  Fremdlinge,  allerdings 
nicht  aus  dem  Süden,  sondern  eher  umgekehrt 
aus  dem  Norden.  Es  handelt  sich  bei  den  Core- 
gonen nach  neueren  Ansichten  um  sog.  Glazial- 
relikte, die  sich  beim  Rückgange  des  Eises  in 
die  Tiefen  der  alpinen  Seen  einerseits,  der  Seen 
des  baltischen  Höhenrückens  andererseits  zurück- 
gezogen haben. 

Die  Gattung  Coregonus,  die  also  die  Renken 
und  die  Maränen  umfaßt,  ist  deshalb  dem  Zoologen 
so  besonders  interessant,  weil  sich  gezeigt  hat, 
daß  sie  so  außerordentlich  verschiedene  Lokal- 
formen bilden  kann.  Nahe  beieinander  liegende 
Seen  Bayerns  z.  B.  besitzen  völlig  verschiedene 
Renkenarten,  die  auf  den  betreffenden  See  in 
ihrem  Vorkommen  beschränkt  sein  können.  Die 
einheitliche  Bearbeitung  der  Renken  ist  bisher 
mit  den  größten  Schwierigkeiten  verbunden  ge- 
wesen, weil  es  schwer  zu  entscheiden  war,  ob 
man  besondere  Arten  oder  nur  Rassen  vor  sich 
hatte.  Es  hat  sich  dann  weiterhin  gezeigt, 
daß  Coregonenarten,  die  aus  einem  Gewässer  in 
ein  chemisch-physikalisch  sehr  verschiedenes  ande- 
res Gewässer  versetzt  wurden,  im  Laufe  der  Zeit 
wieder  stark  abänderten.  In  dieser  Beziehung  ist 
vor  allem  eine  Arbeit  A.  Thienemanns  über 
den  Silberfelchen  des  Laacher  See  von  Bedeu- 
tung.-) Der  Laacher  See,  ein  Eifelmaar,  an  dessen 
Ufer  das  Kloster  Maria-Laach  gelegen  ist,  be- 
herbergt neben  anderen  Fischen  auch  eine  Renken- 
art, den  Laacher  Seefelchen.  Da  wir  aus  ande- 
ren Gewässern  Westdeutschlands  Coregonen  nicht 
kennen,  so  war  dies  Vorkommen  sehr  auffallend. 
Thienemann  stellte  nun  fest,  daß  in  den  Jahren 
1866  und  1872  von  den  Mönchen  des  Klosters 
Brut  der  Madüemaräne  und  Brut  des  Bodensee- 
felchens  C.  fera  eingesetzt  worden  ist,  während 
vorher  niemals  Felchen  in  dem  Laacher  See  ge- 
wesen waren.  Nun  zeigte  ein  Vergleich  der 
Laacher  Felchen  mit  dem  Bodenseefelchen  und 
der  Madüerftaräne,  daß  diese  charakteristisch  von 
diesen  abweichen.    Auf  Grund  der  Untersuchungen 


')  Vortrag  gehalten  in  der  Faunistiscben  Sektion  der 
Physikalisch-ökonomischen  Gesellschaft  zu  Königsberg  i.  Pr. 
am  21.  April   1921. 

'')  Thienemann,  A. ,  Der  Silberfelchen  des  Laacher 
Sees.  Zool.  Jahrb.  Abt.  System.  Geographie  u.  Biol.  Bd.  32, 
S,   173,   1912. 


502 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


der  Larven  konnte  Th.  zeigen,  daß  eine  Ab- 
stammung der  Laacher  Felchen  von  der  Madüe- 
maräne  nicht  in  Frage  kommt,  daß  also  nur  der 
Bodenseefelchen  als  Stammform  zu  betrachten 
ist,  während  die  iVIadüemaränenbrut  seinerzeit  aus- 
gestorben ist.  Die  Unterschiede  zwischen  der 
Stammform  und  der  Laacher  Seeform  sind  nun 
bedeutende.  Bereits  die  Larve  weist  beträchtliche 
Unterschiede  auf,  die  sich  auf  die  Färbung  und 
das  Verhältnis  der  Dottersackhöhe  zur  Schwanz- 
höhe beziehen.  Noch  wichtiger  sind  die  Ver- 
änderungen, die  sich  an  dem  erwachsenen  Tier 
zeigen  und  sich  in  den  charakteristischen  Unter- 
scheidungsmerkmalen der  Coregonen,  dem  Kiemen- 
reusenapparat  und  der  Schnauzenbildung  äußern. 
Auf  der  Innenseite  der  Kiemenbogen  stehen  bei 
den  Coregonen  sogenannte  Reusendornen  oder 
Reusenzähne,  die  man  als  Filterapparat  zum  Zu- 
rückhalten der  Nahrungsorganismen  und  von  Ver- 
unreinigungen ,  die  die  Kiemen  verschmutzen 
könnten,  aufgefaßt  hat.  Die  Zahl  dieser  Zähnchen 
und  das  Verhältnis  der  Länge  des  längsten  Mittel- 
zahnes zur  Länge  des  zahntragenden  Teiles  des 
Kiemenbogens  hat  sich  hier  als  ein  Merkmal  er- 
wiesen, das  in  den  bestimmten  Variationsgrenzen 
konstant  ist.  Ein  Vergleich  der  Merkmale  bei 
den  nächst  verwandten  Formen  hat  folgende 
Zahlen  ergeben: 

Zahl    der   Kiem 


in  7  Generationen  erfolgt  ist.  Die  vielen  ver- 
schiedenen Formen  der  einzelnen  süddeutschen 
Seen  weisen  ebenfalls  darauf  hin,  daß  die  Fähig- 
keit sich  zu  ändern,  die  Plastizität  der  süddeutschen 
Renken,  eine  große  sein  muß. 

Verhältnismäßig  viel  einfacher  als  bei  den  süddeut- 
schen Renken  liegt  die  Sache  bei  den  nordischen 
Maränenarten.  Hier  unterschied  man  bisher  vier 
Arten  in  Deutschland,  die  kleine  Maräne  (Core- 
gonus  albula  L.),  die  große  Maräne  (Coregonus 
maraena  L.),  den  Ostseeschnäpel  (Coregonus  lavare- 
tus  L.),  auch  als  eine  Ostseeform  der  Coregonus 
maraena  betrachtet,  und  den  Nordseeschnäpel 
(Coregonus  oxyrhynchus  L.).  Es  mag  erwähnt  wer- 
den, daß  man  die  süddeutsche  Bodenrenke,  auch 
Weißfelchen  genannt  (Coregonus  fera),  als  eine 
Standortvarietät  der  großen  Maräne  (Coregonus 
maraena)  bisher  betrachtet  hat,  eine  Anschauung, 
die  sich  auf  Grund  der  neueren  Untersuchungen 
über  die  nordischen  Coregonen  von  Thiene- 
m  a  n  n  wohl  halten  läßt,  da  die  Zahl  der  Reusen- 
zähne, sowie  die  relative  Zahnlänge  der  der  einen 
großen  Maränenart,  nämlich  der  neu  aufgestellten 
Art  C.  holsatus  gleicht,  wovon  noch  später  zu 
reden  sein  wird. 

Neben  diesen  vier  Formen,  die  sich  durch  die 
Bildung  einer  Schnauze,  Stellung  der  Mundöfifnung, 
Zahl     der    Kiemendornen    unterscheiden     lassen, 

enreusenzähne 


Bogen 

I 

Bogen 

II 

Variationsgre 

nzen 

Dl 

archschnitt 

Variationsgrenzen 

Durchschnitt 

Laacher  See-Felchen 

40—47 

44 

40—49 

46 

C.  macrophthalmus 

36—45 

41 

37—46 

42 

C.  wartmanni 

34-38 

35 

35-42 

39 

C.  maraena 

29—34 

30 

27—32 

29 

C.  fera 

21 — 26 

23 

22—28 

ä>S 

Rela 

tive 

Z 

ahnläng 

e   an 

Bogen 

I 

Bogen 

II 

Variationsgrenzen 

Dl 

jrcbschnitt 

Variationsgrenzen 

Durchschnitt 

Laacher  See-Felchen 

3.2—4.0 

3,7 

6,5-8,4 

7,3 

C.  macrophthalmus 

3,4—4,8 

4.2 

6—10 

7,8 

C.  wartmanni 

4.0—5.7 

4.6 

7,8-9,8 

8,8 

C.  maraena 

3.3-5.5 

4.5 

6,4 — 10,5 

8,6 

C.  fera 

5,0-6,8 

5,9 

8,0—12,6 

11,4 

Aus  diesen  Zahlen  ist  ersichtlich,  wie  sich  die 
Variationsbreiten  bei  C.  fera  und  dem  Laacher 
See-Felchen  überhaupt  nicht  mehr  decken.  Aus 
der  relativen  Zahnlänge  ersieht  man,  wie  stark 
die  Länge  der  Reusendornen  bei  diesem  gegen- 
über der  fera  zugenommen  hat.  Zurückgeführt 
wird  diese  Änderung  der  Form,  die  T  h  i  e  n  e  - 
mann  als  Artbildung  auffaßt,  auf  die  Änderung 
in  der  Ernährung.  Wie  aus  den  Untersuchungen 
des  Darminhaltes  sich  ergeben  hat,  ist  nämlich 
aus  der  Bodenseerenke  fera,  die  ein  Konsument 
der  Bodennahrung  ist,  im  Laacher  See  ein  Plank- 
tonfresser geworden.  Die  Planktonfresser  unter 
den  Coregonen  haben  aber  stets  die  längeren  und 
zahlreicheren  Kiemendornen.  Das  Beispiel  des 
Laacher  SeeFelchens  zeigt  uns,  daß  die  Abände- 
rungsfähigkeit des  Bodenseefelchens  eine  sehr 
große  sein  muß,    da   die  Bildung    der    neuen  Art 


wurde  dann  zunächst  noch  eine  neue  Art  aufge- 
funden, die  C.  generosus,  die  sog.  Edelmaräne, 
und  zwar  zuerst  nur  im  Pulssee  bei  Bernstein  in 
der  Neumark,  im  Gorzyner  See  und  Alt-Görziger 
See  im  Kreise  Birnbaum.  Später  wurde  die 
gleiche  Art  noch  im  Gr.  Tuczensee,  und  im 
Schrimmer  See  im  Kreise  Birnbaum  nachgewiesen. 
Thienemann  hat  nun  auf  Grund  der  be- 
obachteten großen  Plastizität  der  südlichen 
Coregonenformen  auch  die  norddeutschen  Formen 
in  den  Kreis  seiner  Untersuchungen  gezogen  und 
ist  da  zu  sehr  interessanten  Resultaten  gekom- 
men.*)    Er  benutzt  als  Unterscheidungsmerkmale 


')  Thienemann,  A.,  Bestimmungstabelle  für  die  nord- 
deutschen Koregonen.     Fisch.-Ztg.  Bd.  22,  Nr.   15,   1919. 

Thienemann,  A.,  titte  um  Zusendung  von  Maränen- 
köpfen.  Mitt.  Fisch.  -  Verein  f.  d.  Prov.  Brandenburg,  Ost- 
preuflen,  Pommern  Bd.  XII,  H.  4,   1920. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


563 


die  Form  der  Schnauze  sowie  den  Bau  des  Kiemen- 
filters, also  die  auch  bisher  angewandten  Unter- 
scheidungsmerkmale. Er  kommt  zur  Aufstellung 
von  4  Arten:  albula,  generosus,  lavaretus  und 
holsatus.  Von  diesen  zeigen  die  Arten  albula 
und  generosus  keine  große  Variabilität.  Holsatus, 
die  bisher  mit  der  Madüemaräne  zur  maraena-Form 
vereinigt  worden  ist,  spaltet  sich  wiederum  in 
drei  verschiedene  Formen,  die  Maräne  desSelenter- 
sees  (forma  typica),  die  des  Schaalsees  (forma 
scallensis)  und  die  des  Vättern  (forma  suecica). 
Auch  die  Art  lavaretus  lavaretus  weist  verschiedene 
Formten  auf,  zwei  stets  kurzschnauzige  Formen, 
die  morphologisch  nicht  auseinanderzuhalten  sind, 
die  Madiieseemaräne  Coregonus  lavaretus  forma 
maraena  und  diel"  Ostseewandermaräne  Coregonus 
lavaretus  forma  typica,  der  uns  bekannte  Ostsee- 
schnäpel,  der  in  den  Haffen  laicht.  Zwischen  der 
langschnäuzigen  Form,  dem  Nordseeschnäpel  Core- 
gonus lavaretus  var.  oxyrhynchus  und  diesen 
beiden  kurzschnäuzigen  Formen  steht  dann  eine 
Form,  die  in  der  Schlei  lebt,  die  C.  lavaretus 
forma  baltica,  der  Schleischnäpel.  Wir  kämen 
also  zu  der  Aufstellung  folgender  Arten: 


der  Vergleich  der  relativen  Zahnlängen  bei  beiden 
Stämmen.  Während  bei  der  Selenterseemaräne 
die  relative  Zahnlänge  zwischen  5  und  "],€)  schwankt, 
im  Durchschnitt  6,1,  beträgt  sie  bei  den  iVIaränen 
aus  dem  Gr.  Schobensee  zwischen  4,8  und  6,  im 
Durchschnitt  5,3,  sie  ähnelt  also  der  relativen 
Zahnzahl  der  Schaalseemaräne,  4,6  bis  6,(),  im 
Durchschnitt  5,6.  Es  ist  also  die  Zahnzahl  der 
eingesetzten  Selentermaräne  gleich  geblieben,  die 
Zahnlänge  hat  sich  aber  vergrößert.  Es  wird 
interessant  sein,  in  späteren  Jahren  die  weitere 
Entwicklung  dieses  Prozesses  zu  verfolgen.  Bis- 
her ist  diese  Veränderung  nur  gering,  es  ist  aber 
möglich,  daß  sich  auch  hier  mit  der  Zeit  größere 
Veränderungen  ergeben. 

Biologisch  ist  bemerkenswert,  daß  die  Maräne 
des  Gr.  Schobensees  besser  abwächst  als  die  Ur- 
sprungsform im  Seientersee,  während  diese  ein 
Gewicht  von  einem  Pfund  erst  etwa  im  4.  Lebens- 
jahr erreicht,  sind  die  dreijährigen  Maränen  im 
Gr.  Schobensee  schon  im  3.  Jahre  675  g  schwer 
gewesen. 

Zu  erwähnen  ist  noch,  daß  von  unseren  nunmehr 
4  Maränenarten   die  Arten   albula   und  generosus 


Unterkiefer   vorstehend 

Zahnzahl  I.  Kiemenbogen  36 — 46  durchschn.  41 

relat.  Zahnlänge  I.  Kbg.   2,9 — 3,8  durchschn.  3,2 

Cor.  albula 


Unterkiefer   nicht   vorstehend 

38 — 46  durchschn.  42  25^36  durchschn.  31         20 — 28  durchschn.  24 

3.5—5.3        ..  4.3       3.3—7  ..         5.6      4.6-7.6        „  5,9 

Cor.  generosus  Cor.  lavaretus  Cor.  holsatus 


Schnauze  nie  vorgezogen         Schnauze  im  Übergang         Schnauze  vorgezogen 
Zahnzahl  I.  Kbg. 

27 — 34  durchschn.  30  25 — 36  durchschn.  31 

relat.  Zahnlänge  I.  Kbg. 

3.3—6,9  dschn.  5,2      II.  Kbg.  9.8— 14  dschn.   12,2       7.5— «o.3  dschn.  8,5       1.  Kbg.  5—7,6  dschn.  6,1        4,6—6,6  dschn.  5,6 
lavaretus                                         I  j  1  1 

./     \  I  I  I  I 

f.  typica     f.  maraena  f.  baltica  var.  oxyrhynchus  f.  typica  f.  scallensis 

(f.  suecica) 


Th.  hat  sich  nun,  nachdem  er  diese  Arten- 
und  Formenreihe  aufgestellt  hatte,  auch  Material 
aus  den  verschiedensten  Seen  zur  Untersuchung 
kommen  lassen  und  ist  zu  dem  Ergebnis  ge- 
kommen, daß  bei  aller  Vielgestaltigkeit  in  bezug 
auf  die  Bezahnung  des  Kiemenfilters  sich  die 
Coregonen  der  verschiedenen  Seen  doch  durch 
feste,  konstante  Formmerkmale  unterscheiden 
lassen.  Ganz  interessant  ist  der  Vergleich  eines 
Maränenbestandes  aus  dem  Gr.  Schobensee  im 
Kreis  Orteisburg,  der  durch  Einsatz  im  Jahre  191 8 
und  1919  aus  dem  Seientersee  stammt,  mit  der 
Selenterseemaräne,  also  der  forma  typica  des 
C.  holsatus.^)  Ohne  über  die  Herkunft  der  Maräne 
des  Gr.  Schobensees  etwas  zu  wissen,  konnte  Th. 
an  der  Zahnzahl  feststellen,  daß  es  sich  um  eine 
Selenterseemaräne  handelt.     Interessant  war  aber 


')  Thienemann,  A.,  Die  Selenter  Maräne  im  Gr. 
Schobensee  im  Kreise  Orteisburg  i.  Ostpr.  Mitt.  Fisch.-Verein 
für  die  Prov.  Brandenburg,  Ostpreuflen,  Pommern  Bd.  XIII, 
H.  3,  1921. 


Planktonfresser  und  die  übrigen  Bodenfresser  sind. 
Während  sich  die  neueren  Forschungen  über 
die  früher  als  große  Maräne  zusammengefaßten 
Arten  somit  im  allgemeinen  auf  morphologisch- 
systematischem Gebiet  bewegen,  behandeln  einige 
Arbeiten  über  die  kleine  Maräne  C.  albula  (Argyro- 
soma)  mehr  biologische  Fragen.  Hier  sind  es  in 
den  letzten  Jahren  die  Finnen  gewesen,  die  die- 
sem Fische  ihr  ganz  besonderes  Interesse  zuge- 
wandt haben.  Es  hat  dies  —  ganz  abge- 
sehen von  dem  allgemeinen  Hochstande  der 
Fischereiwissenschaft  in  Finnland  —  seinen  Grund 
in  der  großen  Bedeutung,  die  die  kl.  Maräne  für 
die  Volkswirtschaft  Finnlands  hat.  Vor  allem 
Järvi  hat  sich  mit  diesem  Fisch  beschäftigt  und 
das  Resultat  seiner  langjährigen  Untersuchungen 
in  einem  sowohl  schwedisch  wie  auch  deutsch 
erschienenen  Werke,  Die  kleine  Maräne  Coregonus 
albula  im  Keitelesee,  zusammengefaßt.  ^) 

■)  Järvi,   Av.  T.  H.,  SiWlöjan  in  finska  sjöar.    I.  Keitele. 
Finlands  fiskerier  Bd.  5.   1919. 


564 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


Das  Vorkommen  der  kl.  Maräne  beschränkt 
sich  auf  die  Länder  um  die  Ostsee  herum,  Finn- 
land, Schweden,  das  Baltikum,  Ost-  und  West- 
preußen, Mecklenburg  und  Schleswig-Holstein  so- 
wie Dänemark  sind  die  Heimatländer  dieses 
Fisches,  im  Südosten  von  Norwegen  findet  sich 
dann  noch  ein  kleineres  Gebiet,  dessen  in  dieser 
Beziehung  wichtigster  See,  der  Mjösensee,  auch  in 
der  Biologie  der  Maräne  eine  besondere  Rolle 
spielt  insofern,  als,  wie  noch  erwähnt  werden 
wird,  hier  die  einzige  Stelle  ist,  von  der  uns  ein 
Laichen  der  Maräne  im  strömenden  Wasser  be- 
kannt geworden  ist.  Außer  in  Binnenseen  kommt 
die  kl.  Maräne  auch  in  den  salzärmsten  Teilen 
der  Ostsee  vor,  so  an  den  Küsten  des  Nordendes 
des  Bottnischen  Meerbusens,  hier  sind  von  Sand- 
mann und  Levander  1916  zwei  getrennte  Vor- 
kommen festgestellt  worden,  nach  älteren  Autoren 
kommt  die  kleine  Maräne  aber  auch  in  den  west- 
finnischen Schären  und  in  dem  finnischen  Meer- 
busen vor.  An  der  schwedischen  Küste  kommt  die 
kl.  Maräne  vor  allem  in  den  Schären  von  Söder- 
manland  vor.  Auch  in  der  Nähe  des  Kieler 
Hafens  hat  man  einige  Exemplare  gefangen. 
Järvi  ist  der  Ansicht,  daß  es  sich  mit  Ausnahme 
der  kl.  Maränen  im  Nordende  des  Bottnischen 
Meerbusens  im  Meere  regelmäßig  um  solche 
Fische  handelt,  die  entweder  bei  günstigem  Salz- 
gehalt selbständig  zeitweise  aus  den  Binnenseen 
ausgewandert  seien  oder  durch  Hochwasser  und 
andere  Strömungen  in  das  Meer  geführt  worden 
sind.  Tatsächlich  gehen  die  kl.  Maränen  auch, 
wenn  stärker  salzhaltiges  Wasser  auftritt,  zugrunde. 
Im  Binnenlande  ist  die  Maräne  auf  die  tieferen 
Seen  beschränkt,  in  der  Regel  aber  auch  auf  die 
größeren.  In  Finnland  tritt  sie  aber  auch  in 
kleineren  Seen  auf,  Vorbedingung  ist  dann  aber 
eine  gewisse  Tiefe,  die  von  mancher  Seite  auf 
mindestens  20  m  angenommen  wird.  Nach  Järvi 
hängt  diese  Beschränkung  auf  tiefere  Seen  damit 
zusammen,  daß  die  kleine  Maräne  nur  tiefere 
Temperaturen  verträgt,  sie  gedeiht  nur  dort,  wo 
die  tiefsten  Wasserschichten  15"  niemals  über- 
schreiten. Ich  vermute,  daß  die  Temperatur- 
bedingungen, die  die  kl.  Maräne  verlangt,  in  den 
Wasserschichten  der  Tiefe  noch  ihr  Maximum 
unter  10"  besitzen.  Die  Art  C.  albula  besitzt  in 
den  Nachbarländern  einige  nahe  Verwandte,  die 
sich  ebenfalls  durch  den  vorstehenden  Unterkiefer 
auszeichnen.  Es  sind  das  in  Schottland  die  C.  van- 
desius,  in  Irland  die  C.  pollan,  im  nördlichen 
Rußland  die  C.  sardinella  und  einige  sibirische 
Arten,  die  aber  schon  Übergänge  zum  Artenkreis 
der  großen  Maräne  zeigen,  indem  ihr  Unterkiefer 
gleich  lang  wie  der  Oberkiefer  ist.  Auch  Nord- 
amerika besitzt  eine  Anzahl  von  nahe  verwandten 
Arten.  Die  Unterschiede  zwischen  den  einzelnen 
nordeuropäischen  Formen  sind  so  gering,  daß 
Järvi  sie  nur  als  Varietäten  auffaßt,  nur  die  Art 
sardinella  läßt  er  als  eigene  Art  bestehen,  die  sich 
von  der  albula  durch  den  größeren  Abstand  des 
vorderenRandes  derRückenflosse  von  derSchnauzen- 
spitze  unterscheidet. 


Bei  seinen  Forschungen  fiel  es  Järvi  auf,  daß 
die  Angaben  sowohl  die  älteren  wie  die  jüngeren 
in  der  Literatur  wie  in  den  Fischereistatistiken 
von  sehr  unregelmäßigen  Fängen  und  sehr  un- 
gleichmäßigem Auftreten  der  kl.  Maräne  sprachen. 
Er  stellt  nun  fest,  daß  diese  Angaben  auf  Wahr- 
heit beruhen,  und  daß  tatsächlich  die  einzelnen 
Jahresklassen  in  verschiedener  Menge  in  dem 
Keitelesee  vertreten  sind,  die  Fänge  also  in  den 
einzelnen  Jahren  sehr  verschieden  sein  müssen. 
Diese  verschiedene  Individuenmenge  in  den  ein- 
zelnen Jahresklassen  ist  abhängig  von  den  Wind- 
verhältnissen der  einzelnen  Jahre  zur  Zeit  der 
Laiche  der  Maränen  im  Herbst  und  der  Entwick- 
lungsperiode der  Brut.  Vorbedingung  für  ein 
gutes  Aufkommen  der  Brut  ist  windstilles  Wetter, 
die  Hauptursache  für  Verheerungen  unter  der 
Brut  sind  die  zu  ungeeigneter  Zeit  von  der  See- 
seite her  wehenden  stürmischen  Winde  und  der 
dadurch  hervorgerufene  Wellenschlag.  Somit  ist 
die  Laichzeit  auch  für  den  Fischer  die  wichtigste 
Zeit,  da  von  ihr  die  Ergiebigkeit  der  späteren 
Fänge  abhängt. 

Unstinimigkeiten  finden  sich  in  der  Literatur 
über  die  Örtlichkeiten  der  Laichplätze  der  kleinen 
Maräne.  Die  finnischen  und  skandinavischen 
Autoren  geben  an,  daß  die  Maräne  sehr  tief  laicht, 
stets  unter  20  m,  ja  mitunter  in  60  bis  80  m 
Tiefe.  Der  Boden  soll  sandig  bis  steinig  sein. 
Die  deutschen  Autoren  geben  als  Laichplätze  die 
mit  Characeen  bedeckten,  auch  die  mit  Cerato- 
phyllum  und  Potamogeton  perfoliatus  bestandenen 
Stellen  der  Seen  an. ')  Die  Eier  sollen  sich  auf 
die  Pflanzenbestände  niedersenken  und  hier  durch 
eine  Spur  Klebstoff  festhaften.  Im  Mjösensee 
soll  die  kl.  Maräne,  wie  ich  schon  erwähnte,  nur 
einen  einzigen  Laichplatz  haben,  der  in  dem  ziem- 
lich reißenden  Zufluß  gelegen  ist.  Aber  nicht  nur 
über  die  Laichplätze  bestehen  Verschiedenheiten 
in  den  Angaben  aus  den  einzelnen  Gegenden, 
sondern  auch  in  bezug  auf  das  Alter,  in  dem  die 
kl.  Maräne  laichreif  wird.  In  der  Regel  werden 
unsere  Süßwasserfische  nicht  vor  dem  3.  Sommer 
laichreif,  d.  h.  wenn  sie  drei  Sommer  alt  werden. 
Dies  trifft  auch  für  die  kl.  Maräne  in  Skandinavien 
und  Deutschland  zu.  In  Finnland  dagegen  wird 
sie  bereits  nach  dem  2.  Sommer  laichreif.  Ein 
immerhin  sehr  auffallendes  Vorkommnis.  Den 
Laichplätzen  hat  nun  Järvi  sein  ganz  besonderes 
Augenmerk  zugewandt.  Bevor  ich  aber  hierauf 
näher  eingehe,  will  ich  noch  kurz  erwähnen,  daß 
auch  früher  noch  in  anderer  Hinsicht  die  An- 
schauungen der  Autoren  auseinandergingen,  näm- 
lich bezüglich  der  Frage  nach  der  Nahrung.  Die 
alten  Autoren  geben  nämlich  an ,  daß  die  kl. 
Maräne  ein  Verzehrer  von  Insektenlarven  und 
Mollusken  sei.  Schon  lange  jedoch  hat  man  er- 
kannt, daß  Funde  von  derartigen  Organismen  nur 
Zufälligkeitsbefunde   sind,    die    kl.  Maräne    ist  ein 


')  Selijo,  A.,  Hydrobiolog.  Untersuchungen.  IV.  Das 
Wachstum  der  kleinen  Maräne.  Mitt.  d.  Westpr.  Fischerei- 
Vereins  Bd.  XX.  1908. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


565 


echter  Planktonfresser.  Dies  hat  auch  Järvi 
neuerdings  wieder  bestätigt.  Nicht  mit  der  heute 
geltenden  Ansicht  stimmt  die  Ansicht  Järvis 
überein,  daß  die  kl.  IVIaräne  das  Plankton  mecha- 
nisch aufnehme,  nicht  eine  Auswahl  zwischen  den 
einzelnen  Organismen  treffe.  Järvi  nimmt  an, 
daß  es  die  Dichte  der  Siebvorrichtung  sei,  die 
die  Auswahl  der  Planktonten  bestimme,  die 
größeren  Organismen  blieben  zurück,  die  kleineren 
würden  durch  den  Wasserstrom  durch  die  Filter- 
vorrichtung hindurchgeführt.  Diese  Ansicht, 
welche  sich  leicht  beweisen  ließe,  wenn  gleich- 
zeitig mit  dem  Fang  der  IVIaränen,  die  zu  den 
Nahrungsuntersuchungen  benutzt  werden  sollen, 
auch  Planktonuntersuchungen  vorgenommen  wer- 
den, wird  aber,  wie  Järvi  selbst  zugibt,  auf  diese 
Weise  nicht  bewiesen.  Ich  möchte  daher  die 
Richtigkeit  dieser  Anschauung  anzweifeln.  Der 
zuweilen  recht  monoton  zusammengesetzte  Magen- 
inhalt der  kl.  iVIaräne  spricht  doch  eigentlich  mehr 
für  ein  Aussuchen  der  Organismen.  Da  die  kl. 
Maräne  stets  einen  vollen  Magen  im  Sommer  auf- 
weist, so  muß  sie  ein  besonders  starker  Fresser  sein. 
Dies  zwingt  sie  aber  dazu,  ständig  auf  der  Nah- 
rungssuche im  Wasser  umherzuschwimmen,  um 
Nahrung  zu  sammeln.  Sie  tritt  dabei  in  Schwär- 
men auf,  die  nun  einzelne  Strecken  abweiden, 
wobei  sie  im  Sommer  auch  in  die  seichteren 
Buchten  mit  ihrem  größeren  Planktongehalt  ge- 
langen. Bei  diesen  Wanderungen  zu  den  Weide- 
plätzen werden  auch  vertikale  Bewegungen  der 
Schwärme  beobachtet,  besonders  nachts  und 
abends  ziehen  die  Fische  an  die  Oberfläche  des 
Keitelesees  und  springen  hier  auch  aus  dem 
Wasser  heraus,  ähnlich  wie  man  es  auch  bei 
anderen  Fischschwärmen  beobachtet.  Es  liegt 
nahe,  anzunehmen,  daß  diese  Wanderung  an  die 
Oberfläche  zur  Nachtzeit  mit  der  Wanderung 
vieler  Planktonten  an  die  Oberfläche  während  der 
Nachtzeit  zusammenhängt.  Järvi  hat  diese  Ver- 
mutung auch  ausgesprochen  und  widerspricht  so- 
mit eigentlich  seiner  Ansicht,  daß  die  kl.  Maräne 
mechanisch  die  Nahrung  aussiebe.  Wissen  wir 
doch,  daß  nicht  sämtliche  Zooplanktonten  zu 
gleicher  Zeit  und  in  gleichem  Maße  die  nächtliche 
Wanderung  an  die  Oberfläche  antreten.  Am 
Tage  zieht  sich  unser  Fisch  dann  wieder  in  die 
Tiefen  zurück. 

Im  Herbst  zieht  sich  die  kl.  Maräne  im 
Keitelesee  in  gewisse  Standorte  zurück,  es  sind 
das  die  Vertiefungen,  die  mindestens  eine  Tiefe 
von  10  m  haben.  Diese  Tiefen  werden  erst 
wieder  im  Frühjahr  verlassen.  Im  Winter  zieht 
die  Maräne  also  nicht  umher.  Bevor  sie  aber  im 
Herbst  ihr  Winterquartier  aufsucht,  unternimmt 
sie  noch  eine  besondere  Reise,  die  aber  nur  kurze 
Zeit  andauert,  die  Wanderung  zu  ihren  Laich- 
plätzen. 

Die  Zeit  der  Laiche  hängt  nach  Järvis  Unter- 
suchungen durchaus  von  der  Wassertemperatur 
ab,  und  zwar  tritt  die  Laichzeit  der  kl.  Maräne 
ein,  sobald  die  Temperatur  des  Wassers  sich  auf 


7"  abgekühlt  hat.  Auch  die  Dauer  derselben 
hängt  von  dieser  ab  insofern  als  bei  langsamer 
weiterer  Abkühlung  oder  längerem  Verharren  bei 
dieser  Temperatur  die  Länge  der  Laichzeit  hinaus- 
gezogen wird.  Bei  schneller  weiterer  Abkühlung 
bricht  das  Laichgeschäft  bald  ab.  Diese  Bct 
obachtungen  Järvis  treffen  wohl  auch  auf  unsere 
Gewässer  zu,  jedenfalls  habe  ich  bei  Probefängen 
im  vergangenen  Herbst  laichreife  Maränen  eben- 
falls bei  einer  Temperatur  von  6,5"  zum  großen 
Teil  im  abgelaichten  Zustande  angetroffen. 

Die  Laichplätze  hängen  im  Keitelesee  von  der 
Bodenkonfiguration  in  erster  Linie  ab.  Die  kl. 
Maräne  laicht  dort  in  einer  Tiefe  von  2 — 10  m 
und  zwar  auf  festem  Ton,  Sand  oder  Kies,  nie- 
mals auf  von  Vegetation  bedeckten  Stellen.  Diese 
Plätze  liegen  aber  nicht  an  beliebigen  Stellen  des 
Sees,  sondern  an  den  Enden  der  von  den  Ver- 
tiefungen ausgehenden  unterseeischen  Fjorde. 
Hierher  zieht  die  Maräne  auf  einem  ganz  be- 
stimmten Wege  nämlich  immer  an  dem  Rande 
der  Fjorde  entlang  und  auch  wieder  auf  dem- 
selben Wege  zurück.  Am  Laichen  und  an  den 
Laichzügen  beteiligen  sich  sämtliche  Altersstadien 
bis  auf  die  einjährigen  Fische.  Nicht  alle  laich- 
reifen Fische  aber  laichen,  sondern  einige  erledigen 
das  Laichgeschäft  nicht.  Es  liegt  das  offenbar 
nach  Järvis  Ansicht  an  einem  Parasiten  der 
Körperhöhle,  einem  Nematoden,  der  zur  Gattung 
Spiroptera  gehört.  Ob  dieser  Parasit  es  allein 
ist,  der  das  Ablaichen  verhindert,  erscheint  mir 
allerdings  fraglich,  da  man  auch  bei  anderen 
Arten  oft  Tiere  findet,  die  nicht  abgelaicht  haben 
und  doch  keine  Parasiten  beherbergen.  Z.  B.  laicht 
der  Karpfen  durchaus  nicht  immer  ab,  sondern 
bildet  seine  reifen  Geschlechtsorgane  wieder 
zurück. 

Ein  weiteres  sehr  interessantes  Resultat  der 
Järvischen  Untersuchungen  ist,  daß  jede  der 
einzelnen  Vertiefungen  des  Keitelesees  ihren 
eigenen  Stamm  besitzt,  ein  Resultat,  das  auf  ähn- 
liche Weise  gefunden  worden  ist,  wie  die  be- 
kannten Ergebnisse  der  H ei nck eschen  Unter- 
suchungen über  die  Heringsrassen.  Es  gibt  also 
in  dem  Keitelesee  ebenso  viele  Maränenbestände 
wie  es  Vertiefungen,  die  voneinander  getrennt 
sind,  gibt. 

Weitere  Wanderungen  als  die  an  Ausdehnung 
geringen  Nahrungswanderungen  und  die  Züge 
nach  den  Laichplätzen  kommen  bei  der  kl.  Maräne 
nicht  vor,  jedenfalls  nicht  unter  normalen  Verhält- 
nissen, nur  beim  Auftreten  anormaler  Strömungen 
oder  geänderter  hydrographischer  Verhältnisse 
werden  noch  andere  Wanderungen  unternommen. 

Ein  besonderer  Abschnitt  wird  dann  noch  den 
Feinden  der  kl.  Maräne  zu  widmen  sein.  Dies 
sind  in  erster  Linie  der  Mensch  und  die  Seeforelle, 
die  dem  Fisch  direkt  nachstellen.  Als  Feinde 
der  Eier  erweisen  sich  die  jungen  Maränen  selbst, 
dann  aber  auch  vor  allem  der  Kaulbarsch,  der 
gewaltig  unter  den  Eiern  aufräumen  kann. 

Entoparasiten    sind     bei     der     Keitelemaräne 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


wenig  gefunden,  zunächst  der  erwähnte  Nematode  seinerzeit   von  Levander   und  Luther  bei   kl. 

Spiroptera,  dann  eine  Dibothriocephalusfinne,   die  Maränen    beschrieben    worden    sind,    wurden    im 

wahrscheinlich  dem  Dibothriocephalus  latus  ange-  Keitelesee   nicht   gefunden,    sehr   selten    war    ein 

hört.      Die    Henneguya  -  Anschwellungen,    welche  Argulus  vorhanden. 


Einzelberichte. 


Tersuch  einer  Trennung  der  Isotopen  des 
Chlors. 

Die  radioaktive  Forschung  schuf  den  Begriff 
der  Isotopen.  Als  solche  bezeichnet  man  Stoffe 
elementaren  Charakters,  die  im  Periodischen  Sy- 
stem der  Elemente  den  gleichen  Platz  einnehmen 
(daher  der  Name),  die  aber  verschiedene  Atom- 
gewichte aufweisen.  Bei  der  ungemeinen  Wich- 
tigkeit dieser  Verhältnisse  für  unsere  chemischen 
Grundvorstellungen  muß  es  erwünscht  sein,  derartige 
Stoffe  auch  auf  anderem  als  radioaktivem  Wege 
darzustellen  und  näher  zu  kennzeichnen.  Gelingt 
es,  aus  einem  beliebigen  Element,  das  uns  durch 
vielfachen  Gebrauch  vertraut  ist,  einen  Anteil 
herauszusondern,  der  zweifellos  das  gleiche  che- 
mische Gebilde  ist,  aber  ein  anderes  Atom- 
gewicht als  der  gewöhnliche  Stoff  besitzt,  so  er- 
hält die  Lehre  der  Isotopen  ohne  Frage  eine 
starke  Stütze,  und  die  allgemeinsten  Vorstellungen 
vom  Bau  der  Elemente  werden  auf  breitere  er- 
fahrungsmäßige Grundlage  gestellt.  Bisher  liegen 
nur  wenige  Arbeiten  zur  Trennung  von  Isotopen 
vor.  Will  man  sich  bei  dieser  Scheidung  rein 
chemischer  altvertrauter  Hilfsmittel  bedienen,  so 
muß  vor  allem  berücksichtigt  werden,  daß  der 
einzige  Unterschied  isotoper  Elementkompo- 
nenten in  der  Atommasse  liegt,  aber  dabei  von 
so  geringem  Effekt  ist,  daß  es  anscheinend  großer 
Mengen  von  Versuchsmaterial  bedarf,  um  diesen 
Effekt  derart  zu  steigern,  daß  er  in  den  Bereich 
unmittelbarer  Meßbarkeit  gelangt.  So  ist  es  ver- 
ständlich, wenn' Harkins,  der  als  erster  eine 
Trennung  der  Isotopen  des  Chlors  versuchte, 
tausende  von  Litern  dieses  Gases  seiner  Methode 
unterwarf  —   und    dennoch  nicht    zum  Ziel  kam. 

Über  einen  neuen  Versuch  in  dieser  Richtung 
berichtete  R.  Lorenz  in  einem  Vortrag  vor  der 
Münchener  Chemischen  Gesellschaft  am  26. Mai 
1921.  Die  Grundgedanken,  die  zu  der  im  nach- 
stehenden beschriebenen  Versuchsreihe  führten, 
sind  kurz  diese:  Besteht  das  Chlor,  wie  vermutet 
wird,  aus  zwei  Isotopen  verschiedenen  Atom- 
gewichts, so  müssen  beide  Anteile  eine  ihrer  ver- 
schiedenen Masse  entsprechend  verschiedene 
Diffusionsgeschwindigkeit  haben.  Aber 
auch  in  Verbindungen  des  Chlors ,  z.  B.  im 
Chlorwasserstoff,  muß  ein  Anteil  vorhanden  sein, 
der  das  niedrigere  Atomgewicht  aufweist,  also 
eine  andere,  höhere  Diffusionsgeschwindigkeit  be- 
sitzt. Nun  ist  der  Schulversuch  bekannt,  in  dem 
Wasserstoff  durch  eine  poröse  Tonzelle  infolge 
seiner   geringen  Masse   rasch  diffundiert,   so   daß 


man  diesen  Vorgang  am  Manometer  deutlich  ver- 
folgen kann.  Nach  kurzer  Zeit  jedoch  bemerkt 
man,  daß  der  Effekt  zurückgeht  und  daß  sich  ein 
stationärer  Zustand  ausbildet.  Dies  muß  offen- 
bar so  sein,  denn  dem  Gase  steht  so  wie  der 
Eintritt  in  die  Zelle  auch  der  Austritt  frei;  es 
wird  also  mangels  jeder  Gegenmaßnahme  ein 
Ausgleich  stattfinden.  Diesen  aber  kann  man 
verhindern.  Schickt  man  nämlich  dem  diffundie- 
renden Isotopengemisch  ein  indifferentes  Gas  ent- 
gegen, so  wirkt  dieses  auf  die  Diffusion  brem- 
send. Nun  kann  man  die  Geschwindigkeit  dieses 
Bremsgases  so  regeln,  daß  dieses  zwar  der  Diffu- 
sion des  schweren  Isotopen ,  das  langsamer 
diffundiert,  ein  Halt  gebietet,  daß  es  aber  dem 
leichteren,  also  schnelleren  Isotopen  die  Diffu- 
sion gestattet  1  Dies  ist  der  glückliche  Gedanke 
von  Lorenz.  Mit  Hilfe  der  von  Stern  und 
Volmer')  entwickelten  Theorie  war  es  dann 
möglich,  die  Versuche  rechnerisch  auszuwerten. 

Die  Versuchsanordnung  bestand  dem  eben 
Gesagten  entsprechend  im  wesentlichen  in  einer 
Diffusionstonzelle,  durch  die  reinstes  Chlorwasser- 
stoffgas diffundierte  und  gleichzeitig  durch  Kohlen- 
dioxyd „gebremst"  wurde.  Die  Zelle  ist  ein 
20  cm  hohes,  2  cm  Wandstärke  haltendes  Gefäß 
aus  der  Staatlichen  Porzellanmanufaktur.  Dank 
der  ungewöhnlich  feinen  porösen  Beschaffenheit 
dieser  (von  König  geschaffenen)  Zelle,  deren 
Zusammensetzung  einstweilen  geheim  gehalten 
wird,  gelang  es,  die  Versuche  auf  einen  bisher 
nicht  erreichten  Grad  von  Vollkommenheit  zu 
bringen.  Die  diffundierten  Gase  wurden  alsdann 
durch  Absorptionsgefaße  geschickt,  in  denen  zu- 
nächst das  Kohlendioxyd  beseitigt  wurde.  Der 
Chlorwasserstoff  lag  nun  in  zwei  Anteilen  vor, 
einem  diffundierten  und  dem  infolge  der  Bremsung 
nicht  diffundierten  Anteil.  Beide  Gase  wurden 
nun  getrennt,  aber  in  experimentell  völlig  über- 
einstimmender Weise  analisiert.  Sie  wurden 
in  Lösungen  von  Natriumkarbonat  geleitet,  so  daß 
Natriumchlorid  entstand.  Dieses  in  einem  Kölb- 
chen  eingedampfte  Salz  wurde  dann  mit  Silber- 
nitrat titriert.  Bei  dieser  Titration  hätte  nun  ein 
Natriumchlorid,  dessen  Chlor  ein  kleineres  Atom- 
gewicht besitzt  als  das  gewöhnliche,  mehr  als 
die  für  das  jetzt  gültige  Atomgewicht  des  Chlors 
berechnete  Silbermenge  binden  müssen.  Umge- 
kehrt   muß    ein    Natriumchlorid    mit    höherem 


')  Sitzungsber.  d.  Bayr.  Akademie  d.  Wissensch.  1921. 
Vgl.  auch  Chem.-Ztg.  1921  und  Zeitschr.  f.  angew.  Chemie  34, 
S.  315,   1921. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Molgewicht  (infolge  Gehaltes  eines  schwereren 
Chlorisotopen)  weniger  Silbernitrat  verbrauchen. 
Naturgemäß  können  die  zu  erwartenden  Unter- 
schiede nach  nur  einmaliger  Diffusion  nur  äußerst 
gering  sein.  Um  sie  dennoch  meßbar  zu  machen, 
wurde  von  Lorenz  eine  verfeinerte  Titrations- 
methode für  stärkste  Verdünnungen  ausgearbeitet. 
Zur  Beobachtung  der  spurenhaften  Trübung,  die 
bei  der  Bildung  der  letzten  Reste  von  Silber- 
chlorid entsteht,  wurde  ein  (gelber)  Lichtkegel 
durch  das  Fällungsgefäß  geschickt.  Solange  noch 
Fällung,  selbst  wenn  sie  mit  bloßem  Auge  längst 
nicht  mehr  sichtbar  war,  statthatte,  trat  das 
Tyndallphänomen  auf.  IVIittels  dieser  hoch- 
empfindlichen Methode  gelang  es  nun  zu  zeigen, 
daß  in  der  Tat  die  diffundierte  Salzsäure  einen 
Mehrverbrauch  an  Silbernitrat  bedingte,  der 
außerhalb  der  Fehlergrenzen  liegt. 

Die  diffundierte  Salzsäure  der  Lorenz  sehen 
Versuche  enthält  also  ein  Isotopes  des  Chlors, 
dessen  Atomgewicht  geringer  ist  als  das  des 
gewöhnlichen  Chlorgases.  Unter  Zugrundelegung 
des  heute  international  gültigen  Atomgewichtes 
des  Chlors,  das  Richards  zu  35,4579  bestimmte, 
ist  das  aus  dem  Natriumchloritwert  des  diffun- 
dierten Chlorwasserstoffs  sich  berechnende  Atom- 
gewicht des  leichteren  Isotopen  35,4553.  Hierbei 
ist  allerdings  zu  berücksichtigen,  daß  schon 
im  internationalen  Atomgewichtswert  die  Un- 
sicherheit in  der  zweiten  Dezimale  beginnt.  Dem 
neuen  Wert  kommt,  wie  den  gefundenen  Daten 
allen,  nur  ein  relativer  Wert  zu.  Dieser  aber 
ist  dem  Anschein  nach  eindeutig.  Es  würde,  wenn 
sich  die  Ergebnisse  Lorenz'  bestätigen,  damit 
die  erste  Trennung  der  Isotopen  des  Chlors 
durchgeführt  sein. 

Die  Versuche  werden  fortgesetzt.  Mit  immer 
weiterer  Anreicherung  des  leichteren  Isotopen 
muß  schließlich  ein  Molgewicht  des  Chlorwasser- 
stoffs erreicht  werden,  das  sich  auch  ohne  die 
besonderen  Mittel  der  beschriebenen  Methode  als 
von  dem  des  gewöhnlichen  Chlorwasserstoffs  ver- 
schieden erweisen  wird.  Die  bisherigen  Versuche 
lassen  noch  keinen  durchaus  sicheren  Schluß 
zu.  Insbesondere  machte  Hönigschmid  in 
der  Besprechung  des  Vortrags  auf  die  Fehler- 
quelle aufmerksam,  die  in  der  Trocknung  des 
Natriumchlorids  liegt.  Auf  Grund  der  Versuche 
von  Richards  ist  eine  völlige  Trocknung  nur 
durch  Glühen  des  Chlorides  im  Chlorwasserstoff- 
strom zu  erreichen.  An  diesem  Punkt  also  wird 
die  Fortsetzung  der  Versuche  die  gebührende 
Vorsicht  anzuwenden  haben.     Im  übrigen   ist  die 


Versuchsreihe  ein  Schulbeispiel  für  die  Überlegen- 
heit deutscher  Experimentierkunst,  die  ohne  die 
gewaltigen  Hilfsmittel  Amerikas  ein  dringliches 
Problem  erfolgreicher  Lösung  näher  brachte. 

H.  Heller. 


Das  Atomgewicht  des  Berylliums. 

Als  international  gültiger  Wert  des  BerylUum- 
Atomgewichts  diente  bisher  allgemein  die  Zahl 
9,1.  Auf  Grund  der  neuen  theoretischen  Vor- 
stellungen über  den  Elektronenbau  hat  bekannt- 
lich die  Proutsche  Hypothese  neue  Bedeutung 
erlangt,  nach  der  alle  Elemente  Agglomerate  von 
Wasserstoffatomen  seien;  mithin  müßten  die 
Atomgewichte  ganzzahlige  Vielfache  des  Wasser- 
stoff-Atomgewichts sein.  Die  sorgfaltigen  Bestim- 
mungen der  meisten  Atomgewichte  schließen  aber 
eine  größere  Unsicherheit  der  bekannten  Werte 
anscheinend  aus.  Die  Hypothese  kann  also  nicht 
anerkannt  werden.  Dagegen  kommt  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit,  insbesondere  durch  die  be- 
kannte Zerlegung  des  Stickstoffatoms  durch 
Rutherford,  dem  Helium  mit  dem  Atom- 
gewicht 4  im  Elementarbau  der  Elemente  mit 
paarer  Atomnummer  eine  eindeutige  Rolle  zu.  Es 
fällt  darum  auf,  daß  unter  den  ersten  27  Elementen 
mit  paarer  Atomnummer  das  Beryllium  das 
einzige  ist,  dessen  Atomgewicht  nicht  im  ganz- 
zahlig vielfachen  Verhältnis  zu  dem  des  Heliums 
steht. 

O.  Hönigschmid  und  L.  Birckenbach  \) 
haben  deshalb  eine  neue  Bestimmung  des  Atom- 
gewichts des  Berylliums  vorgenommen,  indem 
sie  das  wasserfreie  geschmolzene  Chlorid  analy- 
sierten. Das  Chlorid  wurde  aus  zuverlässig  ge- 
reinigtem Oxyd  in  Mischung  mit  reinem  Kohlen- 
stoff durch  Erhitzen  im  Chlorstrom  dargestellt 
und  nach  zweimaliger  Sublimation  im  Gefäß  aus 
Quarz  eingeschmolzen.  Mit  Hilfe  des  Nephelo- 
meters wurde  das  Verhältnis  BeCl^  :  2  Ag  :  2  AgCl 
bestimmt.  Die  verwendeten  Reagentien  waren 
sorgfaltigst  gereinigt,  und  die  Wägungen  wurden 
mit  allen  Vorsichtsmaßregeln  ausgeführt.  Als 
Mittel  der  bisher  ausgeführten  Analysen  ergab  sich 
der  Wert 

Be  =::  9,017  :  0,0013. 

Dieser  Wert  ist  um  i  v.  H.  niedriger  als  der 
bisher  angenommene.  Die  Untersuchungen  sind 
noch  nicht  völlig  abgeschlossen,  dürften  aber  an 
dem  abweichenden  Ergebnisse  nichts  mehr  ändern. 

H.  Heller. 


Bücherbesprechungen. 


Ochs,  Rudolf,  Einführung  in  die  Chemie. 
Ein  Lehr-  und  Experimentierbuch.  II.  ver- 
mehrte und  verbesserte  Auflage.  XII  und  522 
Seiten    in    8"   mit    244    Abbildungen    im   Text 


und  I  Spektraltafel.    Berlin  1921,  Julius  Springer. 
Geb.  48  M. 
In  dem  vorliegenden  Buch  gibt  der  Verf.  eine 
für    weitere    Kreise    bestimmte    recht    geschickte 


568 


Naturwissenschaftliche  Woch  enschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  39 


Übersicht  über  die  Experimentalchemie,  die  sich 
besonders  für  solche  Leser  eignet,  die  sich  in 
ihren  Mußestunden  ein  wenig  mit  praktischer 
Chemie  beschäftigen  wollen.  In  20  Vorträgen 
wird  das  Gebiet  in  klarer,  verständlicher  und 
korrekter  Darstellung  behandelt,  und  in  einem 
umfangreichen  „praktischen  Teil"  werden  die 
wichtigsten,  ohne  allzu  große  Hilfsmittel  durchführ- 
baren Versuche  so  beschrieben,  daß  sie  ein  Lieb- 
haber der  chemischen  Wissenschaft  in  einem 
kleinen  Laboratorium  zu  seiner  eigenen  Belehrung 
ausführen  kann.  Das  Buch  kann  Freunden  der 
Chemie,  die  an  eigener  experimenteller  Arbeit 
Freude  haben,  ohne  Einschränkung  empfohlen 
werden. 

Berlin- Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Le  Chatelier,  H.,  Kieselsäure  und  Silikate. 
Berechtigte  Übersetzung  von  Dr.  H.  Finkel- 
stein.  XII  und  458  Seiten  in  gr.  8"  mit  65  Ab- 
bildungen im  Text.  Leipzig  1920,  Akademische 
Verlagsgesellschaft  m.  b.  H. 
„In  den  herkömmlichen  Lehrbüchern  der  Che- 
mie wird  die  Kieselsäure,  so  beginnt  Le  Chatelier 
das  schöne  und  interessante  Werk,  die  Kieselsäure 
meist  nur  kurz  behandelt,  und  die  Silikate  bleiben 
fast  ganz  unberücksichtigt.  Man  muß  seine  Zu- 
flucht zu  mineralogischen  Werken  nehmen  (der 
Berichterstatter  macht  hier  besonders  auf  den 
I.  und  2.  Band  des  groß  angelegten  Handbuches 
der  Mineralchemie  von  Doelter  aufmerksam), 
um  nähere  Angaben  über  diese  Klasse  von  Ver- 
bindungen zu  finden,  die  doch  sowohl  vom  rein 
wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  wie  im  Hin- 
blick auf  ihre  praktischen  Anwendungen  so  außer- 
ordentlich interessant  ist.  Die  Zurückhaltung  der 
Chemiker  auf  diesem  Gebiet  läßt  sich  kaum  anders 
erklären  als  durch  ein  etwas  handwerksmäßiges 
Festhalten  an  einer  veralteten  Tradition.  Es  ist 
unbedingt  notwendig,  daß  diesem  Mißverhältnis 
ein  Ende  gemacht  und  der  Kieselsäure  und  den 
Silikaten  im  Chemieunterricht  ein  ihrer  tatsäch- 
lichen Bedeutung  angemessener  Platz  eingeräumt 
wird." 

In  der  Tat  besteht  die  Erdkruste  zu  58,2  '/q 
aus  Siliciumdioxyd,  und  die  wirtschaftliche  und 
technische  Bedeutung  der  Kieselsäure  und  der 
Silikate  wird  durch  die  Worte  Quarzglas,  Silikat- 
gläser, Tonindustrie,  Zement  und  Beton  zur  Ge- 
nüge belegt.  Unter  diesen  Umständen  erscheint 
die  Aufgabe,  ein  Gesamtbild  von  der  Chemie  der 
Kieselsäure  und  ihrer  Salze  und  sonstigen  Ver- 
bindungen zu  geben,  außerordentlich  reizvoll  und 
lohnend,  und  Henri  Le  Chatelier,  der  selbst 
auf  dem  fraglichen  Gebiete  eine  größere  Anzahl 
von  wertvollen  Originalarbeiten  geliefert  hat,  muß 


durch  seine  wissenschaftliche  Stellung  sowohl  als 
auch  durch  seine  literarische  Begabung  als  be- 
sonders geeignet  für  die  Durchführung  dieser  Auf- 
gabe bezeichnet  werden.  So  ist  denn  auch  ein 
Werk  entstanden,  das  die  Beachtung  nicht  nur 
des  Fachmannes,  sondern  auch  weiterer  Kreise 
des  naturwissenschaftlich  interessierten  Publikums 
verdient.  In  klarer,  auch  die  physikalische  und 
die  physikalisch  -  chemische  Seite  der  Probleme 
sorgfältig  berücksichtigender  Darstellung  werden 
nach  einer  allgemeinen  Einleitung  zunächst  die 
Sauerstoffverbindungen  des  Siliciums  im  allge- 
meinen besprochen.  Daran  schließt  sich  die 
Besprechung  der  wasserhaltigen  Kieselsäuren,  bei 
der  besonders  die  wertvollen  Untersuchungen 
vanBemmelens  als  Grundlage  dienen.  Nun 
folgen  sehr  ausführliche  Betrachtungen  über  die 
physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften  des 
Siliciumdioxyds,  und  im  Anschluß  daran  wird  das 
Glas  eingehend  behandelt.  Vom  Glas  führt  der 
Weg  zur  genaueren  Behandlung  der  einzelnen 
Silikate  und  von  diesen  über  die  Aluminium- 
silikate zu  den  keramischen  Produkten  und  den 
natürlichen  Gesteinen.  Zwei  Nachträge,  in  neuerer 
Zeit  erschienene  Abhandlungen  von  Le  Chate- 
lier, „über  den  Christobalit"  und  „über  die  Feuer- 
beständigkeit der  Silikate",  und  ein  Sach-  und 
Namenregister  schließen  das  Buch. 

Als  Redaktionsschluß  für  das  Werk  ist  das 
Jahr  1913  anzusehen,  denn  die  Übersetzung  schließt 
sich,  einem  Wunsche  des  Verf.  entsprechend, 
streng  an  den  Wortlaut  des  französischen  Originals 
an.  Die  nach  191 3  erschienene  Literatur  ist  nur 
durch  die  beiden  bereits  angeführten,  dem  Buche 
als  Nachträge  angefügten  Abhandlungen  von 
Le  Chatelier  vertreten,  eine  sachlich  nicht  ge- 
rechtfertigte Beschränkung,  an  der  der  große 
Krieg  wohl  seinen  Anteil  hat. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Stock,  Alfred,  Ultra-Strukturchemie.  Ein- 
leichtverständlicher Bericht.  81  Seiten  in  8** 
mit  17  Abbildungen  im  Text.  2.  durchgesehene 
Auflage.  Berlin  192 1,  Julius  Springer.  Geh. 
12  M. 

Unter  Hinweis  auf  die  Besprechung  der  ersten 
Auflage  des  vorliegenden  Büchleins  über  die 
Struktur  der  Atome  auf  Grund  der  neueren 
Forschungen  (Naturw.  Wochenschr.  1921,  Bd.  20, 
S.  16)  sei  hier  auf  das  Erscheinen  der  zweiten 
Auflage  als  auf  einen  Beweis  des  großen  Interesses 
aufmerksam  gemacht,  das  es  dank  seiner  klaren, 
leichtverständlichen  Darstellung  in  weiten  Kreisen 
gefunden  hat. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Inhalt:  A.  Will  er,  Neues  über  Maränen.  S.  561.  —  Einzelberichte:  R.  Lorenz,  Versuch  einer  Trennung  der  Isotopen 
des  Chlors.  S.  566.  O.  Hönigschmid  und  L.  Birkenbach,  Das  Atomgewicht  des  Berylliums.  S.  567.  —  Bücher- 
besprechungen: R.  Ochs,  Einführung  in  die  Chemie.  S.  567.  H.  Le  Chatelier,  Kieselsäure  und  Silikate.  S.  568. 
A.  Stock,  Ultra-Strukturchemie.  S.   568. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganien  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  2.  Oktober  1921. 


Nummer  40. 


Übersicht  der  organogenen  Sedimente  nach  biologischen 

Gesichtspunkten. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  H.  Garns,  München. 


k 


Die  Untersuchung  der  Schlammbildungen  er- 
scheint zunächst  weniger  anziehend  als  diejenige 
der  Lebewelt  des  offenen  Wassers  und  ist  tat- 
sächlich wesentlich  mühsamer.  Sie  wird  deshalb 
von  zahlreichen  Hydrobiologen  zugunsten  der 
Planktonforschung  arg  vernachlässigt.  Es  sind 
vor  allem  Geologen,  Paläontologen  und  Praktiker 
der  Fischerei  und  Brennstoffgewinnung  gewesen, 
die  sich  mit  der  Entstehung  der  organogenen 
Schlammbildungen  einläßlicher  befaßt  haben,  doch 
hat  sich  neuerdings,  namentlich  in  Skandinavien, 
auch  das  Interesse  der  Hydrobiologen  von  Fach 
in  erhöhtem  Maße  der  Schlammforschung  zuge- 
wandt. Von  den  Apparaten  zur  Entnahme  und 
Untersuchung  der  Schlammproben  soll  hier  nicht 
die  Rede  sein;  eine  gute  Übersicht  mit  Angabe 
der  wichtigsten  Arbeiten  bieten  G.  Steiners 
„Untersuchungsverfahren  und  Hilfsmittel  zur  Er- 
forschung der  Lebewelt  der  Gewässer".  Die 
mikrobiologische  Analyse  organogener  Schlamme 
ist  vor  allem  in  Schweden  ausgearbeitet  worden 
(H.  und  L.  von  Post,  G.  Andersson,  Lager- 
heim, Einar  Naumann  u.  a.).  Auch  die  Dia- 
genese der  Ablagerungen  soll  hauptsächlich  nur 
soweit  behandelt  werden,  als  hierbei  lebende  Or- 
ganismen beteiligt  sind,  es  wird  also  im  folgenden 
weniger  von  fertigen  Gesteinen,  als  von  nicht 
oder  nur  wenig  verfestigten  Absätzen  die  Rede 
sein,  bei  den  Schlammbildungen  also  mehr  von 
„Pelen"  als  von  „Peliten".  Eingehende  Darstellungen 
der  eigentlichen  Diagenese  bieten  abgesehen  von 
rein  petrographischen  Werken  die  Schriften  von 
Potonie,  Andree,  Walther  u.  a.  Unsere 
Aufgabe  ist  es  dagegen,  eine  von  biologischen 
Gesichtspunkten  geleitete  Übersicht  der  organo- 
genen Sedimente  zu  geben,  die  notwendig  von 
einer  geologischen  oder  petrographischen  Ein- 
teilung abweichen  muß.  Es  wird  sich  dabei  zeigen, 
daß  manche  gebräuchlichen  Benennungen  häufig 
in  unrichtigem  Sinne  angewandt  werden. 

Aus  Organismen  und  Teilen  solcher  gebildete 
Gesteine  bezeichnete  Ehrenberg  alsBiolithe 
(vom  griechischen  /?/og  Leben  und  lld^oq  Stein). 
Andere  nennen  sie  Organolithe.  Neuerdings 
werden  sie  nach  dem  Vorgang  Potonies  zu- 
meist eingeteilt  in  Akaustobiolithe,  d.  h. 
nicht  brennbare,  vorwiegend  aus  Mineralstoffen 
(Kalk,  Dolomit,  Kieselsäure,  Eisenerz  usw.)  be- 
stehende Ablagerungen,  und  in  Kaustobio- 
lithe,  d.  h.  vorwiegend  aus  Humusstoffen,  aber 
auch  aus  Kohlenwasserstoffen,  Schwefel  und  an- 
deren brennbaren  Stoffen   zusammengesetzte  Ab- 


lagerungen. So  wichtig  diese  Unterscheidung  für 
den  Praktiker  auch  ist,  kann  sie  doch  nicht  bio- 
logisch befriedigen,  da  sie  die  Entstehungsweise 
der  Ablagerungen  ganz  außer  acht  läßt  und  nur 
die  Zusammensetzung  der  Endprodukte  betrachtet. 
Scheinbar  so  einheitliche  Bildungen  wie  die  als 
Kalk,  Mergel,  Torf,  Kohle  bekannten,  können  auf 
ganz  verschiedene  Weise  entstehen  und  müssen 
daher  verschiedenen  Gruppen  zugewiesen  werden. 
Unter  Berücksichtigung  der  bei  ihrer  Entstehung  be- 
teiligten Lebensvorgänge  können  wir  die  organo- 
genen Sedimente  im  weitesten  Sinne  (d.  h.  auch 
solche  umfassend,  die  nicht  als  eigentliche  Ge- 
steine gelten  können)  in  folgender  Weise  ein- 
teilen: 

L  Durch  die  Tätigkeit  lebender  Organismen  ent- 
stehende Ablagerungen:  Biontogene  Sedi- 
mente. 

1.  Umwandlung  von  Zellulose  und  Holz  fort- 
wachsender Pflanzen:  Eigentlicher  Torf 
(„autochthoner"  oder  „ganzpflanziger  Torf"): 
Moostorf,  Sumpftorf,  Heidetorf,  Waldtorf). 

2.  Mineralausscheidung  durch  fortwachsende 
Organismen : 

a)  Ausscheidung  von  CaCOg  (und  MgCO^): 
Tuff-  und  Riffbildungen  (Quell-  und 
Kalkalgentuffe,  Lithothamnien-,  Korallen- 
und  Serpula- Riffe). 

b)  Ausscheidung  von  SiO.,  (organogene  Kiesel- 
sinter ?). 

c)  Ausscheidung  von  Fe  (OH.;):  organogene 
Limonite  (Sumpferz,  Seeerz). 

d)  Ausscheidung  von  S:  organogene 
Schwefellager. 

IL  Durch    passive    Anhäufung    toter    Organismen 
und  Organismenteile  entstehende  Ablagerungen : 
Nekrogene  Sedimente. 
I.  Anhäufung  auf  dem  Land  (schwedisch  „förna") : 

A.  Koprogen  umgewandelt:   Guano,  milder 
Humus. 

B.  Nicht   oder   wenig  koprogen  umgewandelt: 

a)  Durch  Verwesung  fett-  und  eiweißreicher 
Produkte : 

ö)  Anhäufung  harz-,  öl-  und  wachsreicher 
Pflanzenteile:  Liptobiolithe. 

ß)  Verwesung  von  Tierleichen :  gänzliche  Auf- 
lösung oder  Bildung  von  Knochen- 
b  r  e  c  c  i  e  n. 

b)  Umwandlung  von  Zellulose  und  Holz: 

«)  Zerfall  bei  reichlicher  Durchlüftung  unter 
der  Mitwirkung  höherer  Pflanzen  und  Tiere: 
Mull,  Schwarzerde  usw. 


S70 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


ß)  Vermoderung  bei  geheipmtem  Sauerstofif- 
zutritt:  Moder. 
2.  Anhäufung  im  Wasser  (organische  Schlamme, 
schwedisch  „ätja"): 

A.  Anhäufung  von  Skelettresten  mit  über  80  "/„ 
CaCOg :  Organogene  ßreccien  (Lu- 
machellen, Echinodermenbreccien ,  manche 
Seekreiden,  Charakalke  usw.). 

B.  Anhäufung  von  vorwiegend  organischer  Sub- 

stanz (Organopelite) : 

a)  Großenteils  koprogen  umgewandelt  („Sapro- 
kolle",  „Mudde"): 

«)  In  sauerstoffreichem,  humusarmem  Wasser, 
unter  stärkerer  Mitwirkung  der  Bodenfauna 
und  von  Bakterien:  Planktopelite 
(schwedisch  „gyttja"). 

ß)  In  sauerstoffarmem,  an  Humuskolloiden 
reichem  Wasser  unter  geringerer  Mit- 
wirkung der  Bodenfauna  und  von  Bakterien: 
Helopelite  (schwedisch  „dy"). 

b)  Wenig  oder  nicht  koprogen  umgewandelt: 
«)  Fäulnis    und    Bituminierung    unterworfen: 

eigentliche  Sapropelite   (Faulschlamm, 

Schlick). 
ß)  Periodischer  Austrocknung  und  Verwesung 

unterworfen:     Saprodil     (Meteorpapier, 

schwedisch  „flytäfja"). 
y)  Vertorfung     unterworfen :      Schwemm- 

torfe. 

I.    Die  biontogenen  Sedimente. 

Die  Ausgangsmaterialien  und  der  Verlauf  der 
Torfbildung  sind  so  oft  beschrieben  worden, 
besonders  eingehend  in  den  Werken  von  C.  A. 
Weber,  Früh  und  Schröter,  Potoniö  u.a., 
daß  wir  hier  nicht  näher  darauf  einzutreten 
brauchen.  Wesentlich  ist  aber,  daß  die  Torf- 
bildungen nach  ihrer  Entstehungsweise  in  ganz 
verschiedene  Abteilungen  gebracht  werden  müssen. 
Unter  die  biontogenen,  d.  h.  durch  Lebenstätig- 
keit selber  zustande  kommenden  Ablagerungen 
dürfen  wir  weder  die  aus  abgefallenen  Stämmen, 
Zweigen  und  Blättern  entstehenden  Waldmull- 
bildungen, noch  die  durch  Verschwemmung  sol- 
cher gebildeten  Schwemmtorfe  (allochthonen 
Torfe)  zählen,  und  unter  den  an  Ort  und  Stelle 
entstehenden  (autochthonen  Torfen)  wiederum  nicht 
die  aus  unter  Wasser  zerfallender  Pflanzensubstanz 
gebildeten  limnischen  oder  homogenen  Torfe, 
sondern  nur  die  von  C.  A.  Weber  so  genannten 
„ganzpflanzigen  Torfe",  die  aus  Moosen,  Wurzeln 
und  Stengelteilen  solcher  Arten  bestehen,  die  auf 
dem  Torflager  selber  weiterwachsen  und  gewisser- 
maßen als  ganzes,  d.  h.  soweit  ihre  Substanz 
überhaupt  bei  der  Humifikation  erhalten  bleiben 
kann,  in  den  Torf  übergehen.  Daß  nur  ein  ver- 
hältnismäßig kleiner  Teil  der  Torfe  und  der  aus 
ihnen  hervorgegangenen  Kohlen  hierher  gehört, 
hat  mit  besonderem  Nachdruck  H.  Potonie 
nachgewiesen. 

Unter  den  mit  Mineralausscheidung  verbunde- 
nen  Sedimenten   nehmen   die  Tuff-    und  Riff- 


bildungen die  erste  Stelle  ein.  Die  eigent- 
lichen Quelltuffe  (Inkrustation  von  Moosen  wie 
Eucladium  verticillatum ,  Hymenostylium  curvi- 
rostre,  Cratoneuron  commutatum  u.  a.)  wie  auch 
die  marinen  Riffbildungen  (Korallen-,  Serpula-, 
Lithothamnien-,  Diploporenriffe)  sind  so  oft  be- 
schrieben worden,  daß  sich  ein  Eingehen  hierauf 
erübrigt.  Die  Literatur  hierüber  ist  besonders  in 
den  zitierten  Werken  von  Andree  und  Wal- 
ther zusammengestellt,  diejenige  über  fossile 
Kalkalgen  in  der  soeben  erschienenen  Monographie 
von  Pia.  Weniger  allgemein  bekannt,  weil  von 
geringerer  geographischer  und  geologischer  Be- 
deutung, sind  die  zwischen  den  Quelltuffen  und 
marinen  Riffbildungen  eine  Mittelstellung  einneh- 
menden Kalkalgenablagerungen  des  Süßwassers. 
Die  Charakalke,  wozu  die  meisten  Süßwasserkalke 
gehören,  sind  kaum  hierherzustellen  (näheres  unter 
Seekreidebildungen  und  Planktopeliten),  wohl  aber 
die  „Furchensteine",  „Schnegglisande"  und  ver- 
wandten Bildungen  (näheres  hierüber  und  auch 
Angabe  der  Schriften  von  Forel,  Chodat, 
Kirchner,  Baumann  u.a.  in  den  angeführten 
Werken  von  Früh  und  Schröter,  Schmidle 
und  Wesenberg-Lund).  Im  Gegensatz  zu 
den  marinen  Kalkalgen  (hauptsächlich  Rhodo- 
phyceen  und  Siphoneen)  handelt  es  sich  im  Süß- 
wasser fast  ausschließlich  um  kalkzerfressende 
Chlorophyceen  (Gongrosira,  Gomontia,  Telamonia 
:=  F"oreIiella)  und  kalkabscheidende  Cyanophyceen 
(Schizothrix,  Rivularia,  Plectonema,  Tolypothrix, 
Scytonema  u.  a.).  Vertreter  aus  denselben  Fa- 
milien und  z.  T.  denselben  Gattungen  nehmen 
zusammen  mit  Chroococcaceen  (Gloeocapsa  u.  a.) 
und  ins  Gestein  eindringenden  P'lechten  (beson- 
ders Verrucariaceen)  auch  in  hervorragendem 
Maß  an  der  Verwitterung  von  Kalk-  und  Dolomit- 
felsen außerhalb  dem  Wasser  teil,  sowohl  in  den 
gemäßigten  Zonen  wie  namentlich  auch  in  den 
Tropen.  Die  Destruktion  überwiegt  hierbei  zu- 
meist die  Akkumulation,  weshalb  es  nicht  zu 
irgendwie  bedeutenden  Sedimentbildungen  kommt, 
sondern  höchstens  zur  Ausscheidung  dünner,  oft 
mit  eigentümlichen  Wülsten  und  stalaktitenförmi- 
gen  Auswüchsen  versehener  Sinterschichten. 
Übrigens  finden  sich  derartige  Blaualgen  auch 
sehr  häufig  in  den  gewöhnlichen  Quelltuffen;  sie 
scheinen  jedoch  bei  deren  Bildung  nie  dieselbe 
Bedeutung  zu  erlangen  wie  die  Tuffmoose. 

Eine  noch  offen  zu  lassende  Frage  ist  die,  ob 
es  biontogene  Kieselablagerungen  gibt. 
Ehrenberg  glaubte  solche  in  der  Kieselgur 
zu  erkennen,  doch  erwies  sich  seine  Annahme, 
daß  die  Bacillariaceen  auf  dem  von  ihnen  gebil- 
deten Sediment  direkt  weiterwüchsen,  als  irrtüm- 
lich (näheres  bei  den  Planktopeliten).  An  den 
meisten  Kieselsintern,  wie  sie  namentlich  an  heißen 
Quellen  gebildet  werden,  scheinen  Organismen 
nicht  beteiligt  zu  sein.  Wohl  aber  trifft  man 
Kieselalgen  gar  nicht  selten  auf  Kalktuff  lebend, 
besonders  in  Gallertschläuchen  lebende  Arten  der 
Gattung    Cymbella.       Einen    merkwürdigen    Fall 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


S7I 


dieser  Art  beobachtete  der  Verf.  in  dem  oberen 
See  von  Fully  im  Unterwallis.  Dieser  in  2129  m 
Höhe  gelegene  Alpensee  wurde  191 5  auf  2136m 
Höhe  gestaut.  Unterhalb  der  zementierten  Stau- 
mauer bildete  sich  nun  im  Ablauf  während  des 
darauffolgenden  Winters  ein  höchst  eigenartiger 
Sinter.  IVIakroskopisch  erschien  der  Steine  und 
Holz  überkleidende,  im  Frühling  i  bis  3  mm 
dicke  Überzug  wie  ein  stark  limonitischer  Tra- 
vertin,  der  stellenweise  aus  deutlich  erkennbaren 
Calcitrhomboedern  bestand.  Offenbar  war  an  dem 
Kalkabsatz  in  dem  vordem  ziemlich  weichen  Wasser 
der  Zement  der  Staumauer  schuld.  Die  braune  Fär- 
bung der  glänzenden  Kristalle  rührte  jedoch  nicht 
von  Ferrihydroxyd  her,  sondern  von  einer  in  Rein- 
kultur in  ihnen  enthaltenen  Kieselalge,  der  Cymbella 
parva  W.  Smith.  Diese  erwies  sich  noch  Mitte 
Juli  bei  einer  Wassertemperatur  von  9  bis  10" 
als  lebend,  bei  stärkerer  Erwärmung  starb  sie 
jedoch  ab,  die  Kruste  löste  sich  großenteils  ab 
und  es  entwickelten  sich  andere  Cymbella-Arten 
(C.  affinis,  helvetica,  cymbiformis). 

Von  den  organogenen  Eisenerzen  gehört  nur 
ein  Teil  zu  den  biontogenen  Sedimenten  und 
zwar  die  meisten  der  als  Sumpferz,  Sumpfocker, 
Raseheisenstein  und  Seeerz  bekannten  Limo- 
nite.  Am  häufigsten  bildet  das  Sumpferz  Ein- 
lagerungen in  Torf.  An  seiner  Bildung  sind 
hauptsächhch  Eisenbakterien  (Leptothrix  ochracea, 
Gallionella  u.  a.)  beteiligt.  Näheres  hierüber  bei 
Wesenberg-Lund  1901,  Naumann  1919  und 
den  daselbst  zitierten  Arbeiten  von  Senft,  van 
Bemmelen,  Molisch  u.  a.  Kolloidales 
Schwefeleisen  und  Pyrit  entsteht  hingegen  haupt- 
sächlich in  echtem  Faulschlamm  (Sapropel). 

Die  organogenen  Schwefellager,  gebildet 
von  Beggiatoa,  Thioploca  und  anderen  Schwefel- 
bakterien, sind  gleichfalls  nur  teilweise  den  bion- 
togenen Sedimenten  zuzuzählen,  die  meisten  stehen 
wohl  an  der  Grenze  zwischen  solchen  und  eigent- 
lichen Faulschlammbildungen  (Literatur  bei 
Potoniö,  Lauterborn,  Kolkwitz  und 
M  a  r  s  s  o  n). 

II.  Die  nekrogenen  Sedimente. 

Sie  entstehen  aus  bei  der  Ablagerung  bereits 
toten  Organismen  oder  Organismenteilen.  Ser- 
nander  schlägt  (1918)  vor,  derartige,  noch  un- 
verfestigte  Anhäufungen  auf  dem  Lande  mit  dem 
schon  von  H.  v.  Post  und  Hesselman  ge- 
brauchten schwedischen  Terminus  Förna,  solche 
in  Wasser  dagegen  als  Äfja  zu  bezeichnen.  Da 
es  wünschbar  ist,  diese  frischen  Anhäufungen  von 
den  fertigen  „Böden"  und  „Sedimenten"  zu  unter- 
scheiden, wollen  wir  uns  im  folgenden  dieser 
kurzen,  unzweideutigen  Namen  bedienen.  In  beiden 
Gruppen  ist  es  von  größter,  im  allgemeinen  viel 
zu  wenig  beachteter  Wichtigkeit,  festzustellen,  ob 
eine  derartige  Ablagerung  großenteils  durch  lebende 
Organismen  umgewandelt  wird  oder  nicht.  Einer- 
seits wirken  Bakterien,  Pilze  und  höhere  Pflanzen 
zersetzend  und  aufschließend  ein,  andererseits  aber 


namentlich  auch  die  niedere  und  höhere  Tierwelt. 
Erd-  und  Schlammbildungen,  die  sich  großenteils 
aus  Exkrementen  zusammensetzen,  also  eine  oder 
wiederholte  Darmpassagen  durchgemacht  haben, 
bezeichnen  wir  mit  Hampus  von  Post  (1862)  als 
koprogen. 

Rein  koprogene  Ablagerungen  auf  dem  Fest- 
land sind  selten,  hierher   gehören   in   erster  Linie 
die  Guano -Lager,  die  sowohl  von  Seevögeln  wie 
auch  von  Fledermäusen  (Höhlenguano)  herrühren 
können.     Allgemein  verbreitet  sind    dagegen    aus 
mineralischen    Verwitterungsprodukten     und    ko- 
progen   umgewandelten   Vegetabilien   bestehende 
Böden.   Der  größte  Teil  der  als  m  i  1  d  e  r  H  u  m  u  s , 
Dammerde,  Ackererde,   Braunerde   usw. 
bezeichneten  Böden  gehört  hierher.  Für  die  Einzel- 
heiten muß  auf  die  grundlegenden  Arbeiten    von 
Darwin,  P.  E.  Müller   und   die   neueren  Dar- 
stellungen von  Ramann  u.a.  verwiesen  werden. 
Unter   den   nicht   oder    nur    wenig    koprogen 
umgewandelten  Ablagerungen  auf  dem  Land  lassen 
sich  4  Hauptgruppen  unterscheiden,  je   nachdem 
die   Förna    vorwiegend    aus    leicht    oder    schwer 
zersetzlichen    Pflanzen-    oder  Tierprodukten    ent- 
steht.    Bei    leicht    zersetzlichem   JVIaterial,   sei    es 
nun  pflanzlichen  oder  tierischen  Ursprungs,  kann 
die  Zersetzung  durch  Verwesung  vollständig  sein, 
so  daß   sich    gar   keine    festen   Rückstände,    also 
keine  Sedimente  ergeben,  wie  es  ganz   besonders 
im    tropischen   Klima    der  Fall    ist.     Es    können 
sich  aber  auch  Sedimente   aus   durch  hohen  Ge- 
halt an   Harz   oder   Wachs    schwer    zersetzlichen 
Pflanzenteilen    oder  unter   besonderen  Umständen 
(z.  B.  in  Höhlen)  konservierten  tierischen  Skeletten 
bilden.     Im    ersten    Fall    entstehen    die    Lipto- 
biolithe    (z.   B.    Sporite,    Fimmenite,    Bernstein 
usw.),    im    zweiten    Knochenbreccien.      Aus 
zellulosereicher  Förna  entstehen  mannigfache,  von 
den  einzelnen  Autoren  recht  verschiedenartig  be- 
zeichnete Produkte.     Wenn   die  Zersetzung    nicht 
wie   z.  B.   im   tropischen   Regenwald    und   selbst 
schon    im    mediterranen    Europa    vollständig    ist, 
entstehen  unter  der  Mitwirkung  höherer  Pflanzen 
und   Pilze,    auch    verschiedener  Tiere,   kompakte 
oder  meist  pulverige  Trockentorfbildungen,  die  wir 
zur  Unterscheidung  der  eigentlichen    biontogenen 
Torfe  am  besten  als  Mull  bezeichnen.   H.  v.  Post 
nannte  nur  im  Wasser  biontogen  gebildete  Humus- 
formen Torf,    die    auf  dem   Land    dagegen   Mull 
(schwedisch  Mylla).     Er  unterscheidet  Nadelwald- 
mull   (Barrskogsmylla),    Laubwaldmull    (Löfskogs- 
mylla),  Feldmull  (Fältmylla),  Fels-  oder  Flechten- 
und    Moosmull    (Bergmylla),    Gartenmull    (Gärds- 
mylla),     Sumpfwiesenmull     (Kärrängsmylla)     und 
Meerstrandsmull  (Hafsstrandsmylla).    Wenn  somit 
auch  die  Ansicht  Kästners,   daß  alle  Trocken- 
torfe  ausschließlich    oder   fast   ausschließlich   nur 
aus    Laub-    und    Nadelförna    entstehen,    zu    weit 
gehen  dürfte  oder  doeh  nur  für  bestimmte,  nicht 
besonders  humide  Klimata  Geltung   hat,    wird  es 
doch  in  Zukunft  angebracht  sein,  diesen  besonders 
von    S.  P.   Müller    untersuchten    Bildungen    er- 


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höhte  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Werden  die 
Humuskolloide  von  „Feldmull"  durch  kapillar  auf- 
steigendes, salzreiches  Bodenwasser  abgesättigt, 
so  entsteht  Schwarzerde  (russisch  Tscher- 
nosem).  In  typischer  Ausbildung  ist  diese  an 
arides  Klima  gebunden,  aber  auch  im  humiden 
Klima  (z.  B.  im  Hochgebirge)-  vermag  kalk- 
reiches Bodenwasser  ähnliche  Wirkungen  hervor- 
zurufen („Alpenhumus").  Findet  die  Umwandlung 
der  Förna  vornehmlich  bei  Sauerstoffabschluß,  also 
weniger  unter  der  Mitwirkung  höherer  Pflanzen 
als  von  Pilzen  und  Bakterien  statt,  so  tritt  Ver- 
moderung ein.  In  oberflächlichen  Schichten 
führt  sie  zu  völligem  Zerfall,  in  tiefen  zur  Bil- 
dung kompakter  trockentorfartiger  Produkte. 

Alle  bisher  besprochenen  Ablagerungen  sind 
geologisch  von  viel  geringerer  Bedeutung  als  die 
folgenden,  nämlich  die  aus  abgestorbenen  Orga- 
nismen im  Wasser  gebildeten  Sedimente.  Je  nach 
der  Zusammensetzung  des  Ausgangsmaterials,  der 
„Äfja",  und  der  Umwandlungen,  die  diese  erfährt, 
müssen  auch  hier  ganz  verschiedenartige,  freilich 
durch  vielfache  Übergänge  verbundene  Bildungen 
unterschieden  werden.  Die  Abgrenzung  sowohl 
unter  sich  wie  gegenüber  den  biontogenen  Tuff- 
bildungen und  rein  minerogenen  Sedimenten  ist 
nicht  immer  leicht,  so  daß  es  nicht  verwundern 
kann,  wenn  von  Geologen  und  selbst  von  Bio- 
logen ganz  heterogene  Bildungen  mit  denselben 
Namen  belegt  werden  und  vielfache  Mißverständ- 
nisse obwalten.  So  werden  in  Oberbayern  all- 
gemein dolomitische  Bändertone,  also  rein  an- 
organische, terrigene  Schlemmabsätze  („Indsöler" 
der  schwedischen  Geologen)  als  „Seekreide"  oder 
„Tüncherkreide"  bezeichnet,  wogegen  die  lacustren, 
organogenen  Sedimente,  die  in  Nordeuropa  und 
in  der  Schweiz  als  Seekreide  gelten,  hier  (z.  B. 
von  Gümbel,  Ammon,  Aigner  u.  a.)  als 
„Tuffe"  bezeichnet  werden,  obgleich  sie  V9n  echten 
Quelltuffen  recht  verschieden  sind.  Den  Übergang 
zwischen  den  Tuffen  und  eigentlichen  organogenen 
Kreidebildungen  stellt  der  Alm  oder  die  „Weiß- 
erde" („Bleke"  mancher  schwedischer  Autoren) 
dar,  ein  Kalkabsatz  von  oft  krümeliger  Struktur, 
der  weniger  durch  Organismentätigkeit  zustande 
kommt,  als  vielmehr  dadurch,  daß  kalte  Grund- 
wasserquellen, die  bei  den  am  besten  bekannten 
Vorkommnissen  in  Oberbayern  fast  konstante 
Temperaturen  von  8  bis  1 1  "  aufweisen,  in  wär- 
meres (im  Winter  kälteres)  Oberfiächenwasser 
austreten,  wobei  natürlich  reichlich  Calciumcar- 
bonat abgeschieden  wird.  Die  in  diesen  Quellen 
oft  in  großer  Zahl  lebenden  Algen  (Cym- 
bella,  Chaetophora,  Draparnaldia,  Batrachospermum 
u.  a.)  und  Mollusken  (z.  B.  Bythinella)  scheinen 
hierbei  ohne  nennenswerten  Einfluß  zu  sein,  so 
daß  der  Alm  also  kein  eigentlich  organogenes 
Sediment  darstellt.  Sendtner,  der  1854  die 
Namen  „Alm"  und  „Weißerde"  in  die  Wissen- 
schaft eingeführt  hat,  gab  eine  vollkommen  rich- 
tige Schilderung  dieser  Bildungsweise,  wogegen 
Gümbel  den  Alm  für  identisch  mit  der  Schweizer 


Seekreide  hielt  und  Ramann  ihn  durch  Um- 
wandlung von  Molluskenschalen  enstanden  glaubte 
(1896,  S.  162),  ihn  also  für  eine  sekundäre  orga- 
nogene  Bildung  hielt. 

Anders  verhalten  sich  die  organogenen 
B  r  e  c  c  i  e  n.  Von  der  Schreibkreide,  die  gewöhn- 
lich in  diesem  Zusammenhang  behandelt  wird, 
wollen  wir  hier  zunächst  absehen  und  als  orga- 
nogene  Breccien  diejenigen  Sedimente  definieren, 
die  zur  Hauptsache  aus  zusammengeschwemmten 
Skeletteilen  bestehen  und  über  80%  Calcium- 
carbonat enthalten.  Die  Skeletteile  können  ent- 
weder pflanzlicher  Natur  sein  wie  bei  den  seit 
dem  älteren  Tertiär  in  Süß-  und  Brackwasser 
weit  verbreiteten  Charakalken  und  den  marinen 
Kalkalgenoolithen  (klastischenLithotham  nienkalken, 
Corallinensanden  usw.,  in  fossilem  Zustand  von 
rein  minerogenen  Oolithen  oft  schwer  zu  unter- 
scheiden), oder  aber  gemischter  bis  vorwiegend 
tierischer  Natur  wie  bei  den  eigentlichen  See- 
kreiden, den  Lumachellen  (Schalenbreccien)  und 
Spatkalken  (Echinodermenbreccien),  die  ja  be- 
kanntlich seit  dem  Paläozoikum  für  die  Litoral- 
fazies  aller  marinen  Formationen  so  charakte- 
ristisch sind.  Die  Bildung  der  Charakalke,  zu 
denen  die  große  Mehrzahl  der  Süßwasserkalke 
(Stinkkalk,  „Wetterkalk"  der  Nordschweiz)  gehört 
und  die  auch  im  fossilen  Zustand  an  dem  reich- 
lichen Vorkommen  von  Sporenkernen  und  Stengel- 
internodien  der  Armleuchteralgen  leicht  kenntlich 
sind,  reicht  in  den  nordeuropäischen  Seen  bis 
etwa  5  m  Tiefe,  in  nordamerikanischen  Seen 
bis  zu  7  m,  in  den  Seen  des  Schweizer  Jura 
und  der  oberbayerischen  Hochebene  bis  zu  13  m, 
im  Genfersee  bis  zu  25  m  und  im  Bodensee  so- 
gar bis  zu  30  m  Tiefe.  Der  Charakalk  des  Lake 
Michigan  ist  6  bis  7  m  mächtig,  wird  aber  doch 
noch  von  einzelnen  Vorkommnissen  des  Alpen- 
vorlandes übertroffen.  Der  Verf.  untersuchte  einen 
im  jungpostglazialen  Isarsee  am  Ellbach  in  Tölz 
abgelagerten  und  nach  den  Oosporen  zu  schließen 
hauptsächlich  von  Chara  foetida  gebildeten  Cljara- 
kalk,  der  eine  Mächtigkeit  von  mindestens  20  m 
aufweist.  (Die  nahe  davon  anstehende  und  seit 
langer  Zeit  technisch  verwertete  „Tölzer  Kreide" 
ist  ein  älterer,  rein  terrigener  Bänderton.)  In 
einer  interglazialen  Gyttja  von  Uznach  in  der 
Schweiz  fand  er  u.  a.  Tolypellopsis  stelligera. 
Durch  Zunahme  der  gewöhnlich  auch  im  Chara- 
kalk reichlich  vorhandenen  Mollusken  (Bythinia, 
Valvata,  Planorbis,  Limnaea,  Pisidium  u.  a.)  kommt 
-  es  sowohl  im  Süßwasser,  noch  mehr  aber  in  den 
entsprechenden  marinen  Bildungen  (mit  Cardium, 
Cyrena,  Cerithium,  Ostrea  usw.)  zur  Bildung  eigent- 
licher Schalenbänke  und  Lumachellen.  Ganz  ähn- 
lichen Ursprung  haben  auch  die  besonders  aus 
Crinoidengliedern  bestehenden  Echinodermenbrec- 
cien. Das  Calciumcarbonat  der  Seekreiden  ent- 
stammt aber  auch  aus  anderen  Quellen,  ganz  ab- 
gesehen von  der  Zufuhr  vom  Ufer  und  von 
Zuflüssen  her.  Dicke  Kalkkrusten  bilden  sich  an 
höheren  Wasserpflanzen,  besonders  Potamogeton- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Arten,  und  zur  Sommerzeit  fallen  auch  in  den 
oberflächlichen  Wasserschichten,  wie  z.  B.  Nip- 
kow  gezeigt  hat,  unter  der  Mitwirkung  von 
Planktonalgen  in  Menge  feine  Kalkkriställchen 
aus.  Die  Seekreide,  der  „Seeziger"  und  „Milch- 
lett"  der  Schweizer  und  Schwaben,  die  „Söblege" 
oder  „Sjöbleke"  der  Skandinavier,  variiert  daher 
stark  in  ihrer  Zusammensetzung  und  zeigt  die 
mannigfaltigsten  Übergänge  zu  Tuffen  (Kalkalgen- 
tuffe, vgl.  auch  den  Alm  oben),  terrigenen  Kalk- 
und  Mergellagern  und  nicht  zuletzt  auch  zu  den 
im  folgenden  zu  besprechenden  Schlammbildungen, 
insbesondere  zu  der  „Kalkgyttja". 

Wenn  die  Äfja  nur  wenig  oder  keine  Kalk- 
skelette enthält,  entstehen  die  eigentlichen  or- 
ganogenen  Schlamme  oder  Mudden.  H. 
Potonie  hat  seit  1904  für  die  daraus  entstehen- 
den Schlammgesteine  (Pelite)  die  Bezeichnung 
„Sapropelite"  gebraucht,  die  in  der  Literatur 
allgemein  Eingang  gefunden  hat.  Wie  wir  noch 
näher  ausführen  werden,  stellt  jedoch  der  eigent- 
liche Faulschlamm  oder  Sapropel  in  dem  Sinn,  in 
dem  Lauterborn  das  Wort  bereits  3  Jahre 
früher  mit  gutem  Recht  eingeführt  hat,  nur  einen 
sehr  kleinen  Teil  dieser  Bildungen  dar,  die  wir 
daher  in  ihrer  Gesamtheit  besser  als  Organo- 
pelite  bezeichnen  wollen.  Gemeinsam  ist  diesen 
Sedimenten,  daß  sie  frisch  stets  wasserreiche 
Kolloide,  also  gallertige  Massen  darstellen,  die 
beim  Eintrocknen  sehr  stark  schrumpfen  und  beim 
Fossilisationsprozeß  (Diagenese)  häufig  Schieferung 
annehmen.  Von  grundlegender,  immer  noch 
nicht  genügend  gewürdigter  Bedeutung  ist  hier 
von  Posts  Unterscheidung  in  koprogene 
und  nicht-koprogene  Bildungen. 

Die  koprogenen  Schlamme  sind  wenigstens 
im  Süßwasser  von  so  überwiegend  höherer  Be- 
deutung als  die  nicht-koprogenen  Schlamme,  zu 
welch  letzteren,  wie  wir  noch  sehen  werden,  u.  a. 
der  echte  Sapropel  gehört,  daß  z.  B.  in  den  für 
die  Schlammkunde  grundlegenden  Werken  von 
Früh  und  Schröter  (1904)  und  von  Naumann 
(1917)  überhaupt  nur  koprogene  Organopelite 
näher  behandelt  werden.  Unter  diesen  wollen 
wir  vorerst  nur  solche  behandeln,  die  sich  aus 
Abfallstoffen  der  Wasserfauna,  sowohl  der  nekti- 
schen  und  planktischen  wie  der  limicolen,  zusam- 
mensetzen. Die  durch  fließende  Gewässer  in 
Ströme,  Seen  und  Meere  geführten  Fäkalmassen 
von  Landtieren  und  Menschen,  die  ganz  andere 
Umwandlungen  durchmachen  und  echte  Faul- 
schlamme ergeben  können,  gehören  nicht  hierher, 
sind  übrigens  auch  kaum  irgendwo  von  geologi- 
scher Bedeutung.  Die  eigentlich  koprogenen 
Organopelite  zerfallen  in  2  Gruppen,  die  zuerst 
H.  von  Post,  dann  Früh,  Ramann,  Nau- 
mann u.  a.  auseinandergehalten  haben,  wogegen 
andere  Forscher  sie  bis  heute  vermengt  haben 
unter  Namen  wie  Schlamm  (Ramann,  Passarge), 
Mudde  (C.  A.  Weber),  Dy  (so  P.  E.  Müller 
1878),  Sapropel  (Potonie). 

Durch  Verminderung  des  Gehalts  an  Mineral- 


Substanz  entsteht  in  klaren  Gewässern,  besonders 
in  nicht   zu    kleinen  Seen,   aber  ebensogut    auch 
im   Meer   eine   besonders   aus  Abfällen    (Leichen, 
Exuvien    und   Fäkalien)    von    Planktonorganismen 
gebildete  Äfja,    die    man    daher    als  Plankton- 
Schlamm  oder  Planktopel  bezeichnen  könnte. 
(Es  gehören  freilich  nicht  alle  Planktonsedimente, 
und    auch    nicht    nur    solche    hierher).      Da    die 
grundlegenden   Arbeiten   hierüber  durchwegs  von 
skandinavischen  Forschern,  besonders  von  Schwe- 
den herrühren,  ist  es  nur  gerecht,  wenn  auch  der 
von  diesen  gebrauchte  Terminus  allgemeinen  Ein- 
gang findet:  Gyttja  (dänisch  Gytje,  gesprochen 
gyttje  oder  jüttje).     Die  in  typischer  Ausbildung 
nur  in  humusarmen,  sauerstoffreichen,  daher  nicht 
zu  warmen  Gewässern  abgelagerte  Gyttja  ist  eine 
homogene,  frisch  graugrüne,  sehr  weiche  Gallerte, 
die    beim    Trocknen    außerordentlich    schwindet, 
hell-  bis   dunkelbraun    oder    grau    und    hornartig 
spröde  wird.      H.  von  Post    gibt   in    wörtlicher 
Übersetztung  (a.  a.  0.  S.  7)   folgende   Definition: 
„Diese  Ablagerung   bildet   eine  hauptsächlich  aus 
zerteilten   Pflanzen   und  Kieselschalen  von  Diato- 
meen bestehende,  sowohl  in  feuchtem  wie  trocke- 
nem Zustand  graue,  in  feuchtem  elastische  Masse, 
die    sich    auf  dem  Boden    der   klaren   und  reinen 
Gewässer,   Quellen,   Bäche,   Seen  usw.   über  dem 
Sand  oder  Lehm  ablagert."  Die  darin  enthaltenen 
Pflanzen-  und  Tierreste  sind  größtenteils  koprogen 
umgewandelt.      Da    dies   bei    der  „Wiesen-    oder 
Papiergyttja"  (Ängsgyttja  eller  Pappersgyttja),  dem 
Wiesen-  oder  Meteorpapier  Ehrenbergs,  nicht 
zutrifft,    können    wir    sie    nicht   zur    eigentlichen 
Gyttja  zählen.     Bei  dieser  unterscheidet   v.  Post 
Quellgyttja  (Källgyttja),  Teichgyttja  (Dammgyttja), 
Flußgyttja  (Flodgyttja),  Seegyttja  (Sjögyttja)    und 
Strandgyttja,  spätere  schwedische  Geologen  auch 
eine  Meergyttja.   Zu  dieser  zählen  die  wichtigsten 
Planktonsedimente,  wie  der  Globigerinenschlamm, 
Radiolarienschlamm ,      Pteropodenschlamm      und 
höchst  wahrscheinlich  auch  die  Schreibkreide,  ob- 
gleich   bei    dieser    durch    völlige  Zerstörung    der 
organischen  Substanz  die  kolloidale  Beschaffenheit 
gänzlich    verloren    gegangen   ist.      Das   geschieht 
aber  auch   sehr  allgemein   bei  der  Diagenese  an- 
derer Gyttja-Arten,  weshalb  diese  im  fossilen  Zu- 
stand oft  als  scheinbar  anorganische  Tone,  Mergel, 
Schiefer,    Kalk-    und    Hornsteine   erscheinen   und 
auch  von  den  Geologen  allgemein  als  solche  be- 
zeichnet werden.     Sowohl  unter  der  marinen  wie 
unter  der  Süßwattergyttja  kommt  der  Diatomeen- 
gyttja  eine  besonders  große  praktische  Bedeutung 
zu.     Sie   ist  die   besonders   durch  Ehrenbergs 
Mikrogeologie    bekannt    gewordene    Kieselgur 
(Tripel,    Polierschiefer).     Für   die  dänischen  Seen 
unterscheidet    Wesenberg-Lund     neben     der 
Diatomeengyttja  auch  noch  eine  „Cyanophyceen- 
gyttja",     eine     „Chitingyttja"    (hauptsächlich    aus 
Crustaceenpanzern  gebildet)  und   eine  Kalkgyttja, 
die   zu    den    Kreidebildungen    überleitet    (ein  Teil 
der    Seekreiden    gehört    dazu),    wogegen    Cyano- 
phyceen-  und  Chitingyttja  schon  besser  den  eigent- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


liehen     Faulschlammbildungen     zuzuzählen    sind. 
Die  „Detritusgyttja",  die  reichlichere  Beimengun- 
gen von   Resten   höherer  Pflanzen    enthält,   leitet 
einerseits  zum   Dy,   andererseits   zum  Schwemm- 
torf über.     Eine  erst  neuerdings  durch  Naumann 
aus    kalten    Gewässern    Schwedens    beschriebene 
Gyttja  ist  die  Chrysamonadengyttja,  die  besonders 
reich  an  Skeletteilen  von  Mallomonas  und  Kiesel- 
Cysten  von  Dinobryon  und  anderen  Chrysomonaden 
ist.     Im  übrigen  sei  auf  die  zitierten  Arbeiten  von 
V.Post,  Andersson,  Wesenberg  und  Nau- 
mann verwiesen.     Am  wenigsten  scheint   bisher 
die  Quellgyttja  beachtet  worden  zu  sein,   die 
auch   von  Post    nur    ganz   kurz   anführt.     Zwei 
sehr  schöne  Vorkommnisse  hiervon  fand  der  Verf. 
südlich    von  München.     Das  eine   ist   ein   Absatz 
in  großen  Schotterquellen  bei  Mühltal   im  Isartal. 
In    den    dortigen    Quelltrichtern    wuchert    üppig 
Mentha  aquatica.     Ihre  Stengel    und  Blätter  wer- 
den so  stark  von  Kalk    inkrustiert,    daß    die    sich 
ablösenden    Krusten    eine    eigene,    tuffartige    Ab- 
lagerung bilden.     Daneben  findet  sich  aber  auch 
eine    echte    graugrüne   Gyttja,    die    nach    meinen 
Beobachtungen  wohl  größtenteils  oder  ausschließ- 
lich   aus  den  Exkrementen   von  Gammarus  pulex 
besteht.     Das  zweite  Vorkommnis    liegt    an    der 
Säge   von  Gaissach    bei  Tölz.     An    einem   Bach- 
einschnitt ist  folgendes  Profil  aufgeschlossen :  über 
2  m  Moostorf  30  bis  40  cm  Sand  und  Lehm  und 
darüber  etwa  i  V2  m  einer  graubraunen  Gyttja  mit 
kleineren  Einlagerungen  von  Holz  und  Torf.    Daß 
sich  diese  ungewöhnlich  mächtige  Gyttja  tatsäch- 
lich   in  früheren  Quellen    gebildet    hat,    beweisen 
die    darin    massenhaft    enthaltenen    Schalen    einer 
kleinen  Schnecke,  der  Bythinella  alta  Clessin,  die 
ausschließlich    in    Quellen    und    Quellbächen    mit 
gleichmäßig   niedriger   Temperatur    lebt    und    für 
solche    in    Oberbayern    sehr    charakteristisch    ist. 
Daneben    fand    ich    in    der  Gyttja,    die   wohl   zur 
Hauptsache  aus  den  Exkrementen  dieser  Art  be- 
stehen dürfte,  nur  noch  vereinzelte  Schalen  einer 
kleinen    Landschnecke    (Hyalinia   lenticula   Held.). 
An   der   Bildung    der    Seegyttja    scheinen    neben 
Mollusken    ganz    besonders    auch    Mückenlarven, 
Oligochäten,   Nematoden,   Rotatorien   und  Proto- 
zoen   beteiligt    zu    sein.      Neben  der  koprogenen 
Umwandlung  kommen  auch  bei  echter  Gyttja  in 
geringem    Umfang    Oxydations-    und   Reduktions- 
prozesse unter  der  Mitwirkung  von  Bakterien  vor. 
-  Sernander   fand   über    der   eigentlichen    Gyttja 
des  Säbysjö  in  Schweden  eine  Reduktionsschicht, 
in    der    die  Temperatur   um  2  *   höher  als  in  der 
Umgebung  war.     Sind  Fett,  Eiweiß   oder  Chitin 
in  solcher  Menge  vorhanden,  daß  Bodenfauna  und 
Bakterien   sie    nicht   völlig   lösen    und  den  Rück- 
stand mineralisieren  können,  so  daß  also  stärkere 
Fäulnis  eintritt,  kommt  es  zur  Bildung  des  später 
zu  behandelnden  Faulschlamms. 

Wenn  andererseits  die  mineralische  Substanz 
gegenüber  der  pflanzlichen  zurücktritt,  wie  es  be- 
sonders in  kalkarmen,  durch  Humuskolloide  braun 
gefärbten  Gewässern    der  Fall   ist,   entsteht    Dy- 


gyttja  und  bei  noch  stärkerem  Überwiegen  ver- 
torfenden     Materials     der    Dy    oder    eigentliche 
Lebertorf  (unter  letzterem  Namen  verstehen  man- 
che   Autoren    wie    G.   Andersson    freilich    die 
Gyttja,   andere   vor   allem   Dygyttja).     Vau  pell 
brauchte  dafür  „amorf  Törv",  Wollny  „Schlamm- 
torf",  Ramann   „Moor".     C.  A.  Weber  „Torf- 
mudde".  Früh  und  Schröter  „limnischer  Torf '. 
Um  den  Verwechslungen  mit  echtem  Faulschlamm 
oder  Sapropel  einerseits  und  mit  Dopplerit  anderer- 
seits   (noch    neuerdings    bei  Naumann  1)    vorzu- 
beugen, schlage  ich  die  Bezeichnung  Hei  Opel') 
vor,  für  den  verfestigten  Torfschlamm  oder  Leber- 
torf (=  Saprokoll  Potonies)  Helopelit.     Der 
in    Schweden    allgemein    gebräuchliche  Name  Dy 
verdient  seiner  Kürze  wegen  den  Vorzug  (Dänisch 
Dynd    ist    dagegen    nach    Wesen berg    echter 
Faulschlamm).    Dy  besteht  nach  H.  vonPost  aus 
pflanzlichem  Detritus  mit  Resten  von  Algen  und 
Wassertieren,   zur   Hauptsache    aus   braunem    bis 
schwarzbraunem,  feucht  stark  gequollenem  Humus. 
„Er    bildet     sich    am    Boden    der    braungefärbtes 
Wasser    führenden  Seen    (der    sog.   Dyseen)    und 
anderen  kleineren  Vertiefungen  der  Erdoberfläche" 
(von  Post).     Das   Aussehen   frischen   Dys   wird 
am    besten    durch    die  z.  ß.    in    der  Nordschweiz 
volkstümlichen  Bezeichnungen  Lebertorf  und  Torf- 
leber wiedergegeben.   Beim  Eintrocknen  schrumpft 
das  Volumen  auf  V?  bis  Vio  ""<^    ^i^  frisch  ganz 
amorph   scheinende  Gallerte   wird   oft  (besonders 
wenn  Frost    einwirkt)    schiefrig    bis    blättrig,    zu- 
weilen   auch    heller  graubraun.     Bei    der   Bildung 
des  Dy  scheinen  im  Gegensatz  zu  der  der  Gyttja 
höhere   Wassertiere   wie   Schnecken,   Krebse  und 
Insektenlarven  von  geringerer  Bedeutung  zu  sein. 
Wichtiger  sind  Rhizopoden,    Nematoden,    Gastro- 
trichen  usw. ;  man  findet  aber  auch  öfters  im  Dy 
nicht  oder  nur  wenig  koprogen  umgewandelte  Al- 
genreste, besonders  gallertige  Cyanophyceen,  Des- 
midiaceen  und  Diatomeen.     Besonders   sind  auch 
Sporen  und  Pollen  oft  sehr  gut  erhalten,  so  daß  in  den 
letzten  Jahren  in  Skandinavien  selbst  quantitative 
Pollenuntersuchungen  vorgenommen  werden  konn- 
ten (Lagerheim,  L.  v.  Post,  Jessen,  Erdt- 
man,   Holmsen   u.   a.).     Die   Hauptmasse   der 
meisten  Dybildungen  scheint  indessen  keine  Äfja, 
sondern  aus  kolloider  Lösung  ausgeflockte  Humus- 
substanz zu  sein.  Ausschließlich  aus  solcher  besteht 
der  zu  Unrecht  oft  mit  dem  Dy  verwechselte  Dop- 
plerit,   den    der   Schweizer  Torfstecher  treffend 
„Gestocktes  Blut"  nennt.     Er  ist  nicht  koprogen, 
sondern    entsteht   durch    Koagulation    im   Wasser 
(meist  in  pflanzlichen  Hohlräumen,  in  Höhlungen 
in    Torf  oder  Ton  usw.)  gelöster    Humuskolloide. 
Frisch    ist   er   im  Gegensatz    zum  Lebertorf  glän- 
zend  und    etwas  durchscheinend   und  behält  den 
muschligen  Bruch  auch  nach  dem  Trocknen,  das 
bei    ihm    mit    noch    stärkerer    Schrumpfung    ver- 
bunden ist,    bei.      Meist    findet    man    ihn    nester- 


')  Naumann    gebraucht    hierfür    in    seiner    neuesten  Pu- 
blikation Tyrfopel.  (Anm.  während  des  Druckes.) 


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weise  oder  aderweise  in  Moostorf,  Lebertorf  und 
in  Spalten  der  darunter  liegenden  Tone.  Näheres 
hierüber  bei  Früh  und  Schröter  und  den  da- 
selbst angeführten  älteren  Spezialarbeiten. 

Der  normale  Gang  der  Verlandung  sowohl 
von  postglazialen  wie  von  interglazialen  und 
präglazialen  Seen  ist  also  der,  daß  sich  über  an- 
organischem Gestein,  Kies,  Sand  oder  Lehm  zu- 
erst Gyttja,  dann  Dy,  Schwemmtorf  und  zuletzt 
eigentlicher  Torf  bildet. 

Wie  schon  gesagt,    rechnete  Potonie  Gyttja 
und  Dy   zu    den  Faulschlammbildungen   oder  Sa- 
propelen   und   die   daraus   entstehenden  Gesteine 
zu  den  Sapropeliten.     Fossiler  Dy   sind  z.  B.   die 
meisten  Gaskohlen.     Nun  haben  wir  aber   bisher 
noch  eine  Gruppe  von  Schlammbildungen  außeracht 
gelassen,  und  gerade  sie  ist  es,  für  die  Lauter- 
born    1901    die    Bezeichnung    Faulschlamm 
oder  Sapropel  eingeführt  und   deren  Lebewelt 
er  seither  ausführlich  beschrieben   hat.     Während 
Gyttja  und  Dy  meist  nahezu   geruchlos   sind,   ist 
echter  Faulschlamm  stets  eine  übelriechende,  meist 
dunkelbraun  bis  schwarz  oder  etwas  bläulich  ge- 
färbte   Masse,    die    nur    zum    kleinen    Teil    oder 
überhaupt    nicht   aus   Exkrementen,   sondern   zu- 
meist aus  pflanzlicher  und  (in  größerem  Maß  fast 
nur  im  Meer)  tierischer  Äfja,  also   abgestorbener, 
in  Fäulnis  übergehender  organischer  Substanz  be- 
steht.    Im  Süßwasser  treten    echte  Faulschlamm- 
bildungen derart  in  den  Hintergrund,   daß  solche 
z.    B.    in    den    zitierten    Werken    von    v.    Post, 
Früh  und  Schröter  und  Naumann  überhaupt 
nicht  erwähnt  werden.     Ramann   behandelt  sie 
kurz     als     „Schlick",     Wesenberg  -  Lund     als 
„Dynd".   Sie  bilden  sich  hauptsächlich  in  seichten, 
stillen  Gewässern,  in  denen  ein  üppiger  Pflanzen- 
wuchs   eine    lebhaftere    Zirkulation    und    Durch- 
lüftung   des  Wassers    und    eine    stärkere    Durch- 
leuchtung verhindert,  so  daß    die   in    dem   sauer- 
stoffarmen Grundwasser  nur  spärlich    entwickelte 
Bodenfauna   den    organischen    Detritus   nicht   be- 
wältigen kann    und    dieser   infolgedessen   in   stin- 
kende   Fäulnis    übergeht.     Es    handelt   sich    also 
zumeist   um   kleinere   Teiche,  Tümpel,   Altwässer 
und    Gräben,    andererseits    aber    auch    um    Seen 
und    Ströme,    denen    durch    Kanalisation    soviel 
fäulnisfähige  Abwässer  zugeführt  werden,  daß  die 
Grundfauna   ihrer   nicht  Herr   werden   kann    oder 
in  denen  diese  durch  Sauerstoffmangel   oder   gif- 
tige Fabrikabwässer  ganz  oder  zum  größten  Teil 
(mit  Ausnahme  weniger   polysaprober    und  „olig- 
oxybionter",    d.  h.  mit  wenig  Sauerstoff  auskom- 
mender Arten)  vernichtet  wird.   In  den  baltischen 
Seen    mit    ihrem  üppigen  Cyanophyceenplankton 
und  in  Teichen  mit  Lemna  und  Spirodela-Decken 
sind   Bildungen    von    Faulschlamm    relativ   häufig 
und  auch  schon  öfter  beschrieben  worden  (deutsch 
meist  als  Schlick,  dänisch  als  Dynd,    englisch  als 
Muck),  wogegen  sie  in  den  Alpen  und  im  Norden 
sehr  stark  zurücktreten  oder  erst  als  Folge  künst- 
licher Verunreinigung  entstehen.    Einen  derartigen 
Fall   beschreibt  z.  B.   Nipkow  (1920)   aus   dem 


Zürichsee.     Seit  1896  bildet  sich   in  dessen  Tiefe 
in    jedem   Winter    eine    schwarze    Faulschlamm- 
schicht (hauptsächlich  aus  Oscillatoria  rubescens), 
im  Sommer  dagegen  helle  Gyttja   (hauptsächlich 
aus  Diatomeen).    In  Teichen,  Altwässern    u.  dgl. 
kann  man  häufig  beobachten,  daß  sich  im  Winter 
Faulschlamm,    im  Sommer    dagegen    infolge    der 
intensiven  Organismentätigkeit  Dy  bildet.  Andere 
Verhältnisse   bieten  Brack-   und  Salzwasser.     Der 
an  den  meisten  Küsten  und  besonders  in  Buchten 
und    Binnenmeeren    so    weit    verbreitete    Blau- 
schlick  oder  blaue  Kontinentalschlamm   ist  ein 
echter  Sapropel.     Eine  gute  Übersicht  über   die 
brackischen  und  marinen  Sapropele  gibt  Andree 
(1916/17).    Ihre  hervorragende  Bedeutung  als  Aus- 
gangsmaterial  der  Bitumina   (gasförmige,   flüssige 
und   feste  Kohlenwasserstoffe   wie  Erdöl,  Asphalt 
usw.)    legten    Engler    und    Höfer,    Potonie 
(1908)     und    in    kurz    zusammenfassender    Form 
Blumer  (1920)  dar.   Es  ist  kein  Zufall,  daß  fast 
alle    primären    Erdöllagerstätten    in    Brackwasser 
und  an   Orten   mehrfacher  Wechsellagerung  von 
limnischen    und    marinen    Schichten     entstanden 
sind.    Durch  das  plötzliche  Eindringen  von  Meer- 
wasser  in   Süßwasser    und   umgekehrt    entstehen 
Massensterben,   bei    denen    namentlich    auch    der 
größte  Teil   der   Bodenfauna   vernichtet   wird,   so 
daß    die   koprogene  Umwandlung   des   toten  Ma- 
terials,   der   „Äfja"    fortfällt.      Statt    „biologischer 
Selbstreinigung"    wie    bei    der  Gyttja    und    beim 
Dy   tritt  Fäulnis    und    später    durch    komplizierte 
Umsetzungen    (Reduktionen,  Hydrolysen,  Polyme- 
risationen   usw.,    vgl.  C.  Engler),    Bituminierung 
ein.     Sowohl    im   Süßwasser    wie    im   Meer    ent- 
stehen   hierbei   sehr    regelmäßig  Schwefelwasser- 
stoff und  Schwefeleisen,  dieses  zuerst  als  schwarzes, 
amorphes  Kolloid  (FeS),  das  sich-  später  in  kristal- 
lisierten Pyrit  (FeSj)  umwandelt.     Durch    die   bei 
den  Fäulnisvorgängen  frei  werdenden  Säuren  (be- 
sonders   Kohlensäure,    aber    auch    Schwefelsäure) 
werden    nicht    nur    viele    Tiere    getötet,    sondern 
auch  ihre  Kalkskelette    und  Schalen    gelöst.     Da- 
her findet  man  in  echtem  Faulschlamm  so  selten 
Molluskenreste.     Schon    älteren    Beobachtern    fiel 
es  auf,  daß  die  Ölschiefer  des  süd-  und  ostalpinen 
Muschelkalkes  (z.  B.  am  Luganersee,  bei  Innsbruck 
und    in    Oberbayern)    zwar    z.    T.    reich    an    Ab- 
drücken  von   Ganoiden-    und    Reptilresten    sind, 
aber     ganz    frei    von    Mollusken,     wogegen     die 
zwischenlagernden,  nur  schwach  bituminösen  Do- 
lomitschichten   stellenweise    ganz    von    Ceratiten 
und  Daonellen  erfüllt  sind. 

Während  Pyrit  auch  auf  anorganischem  Wege 
(durch  Pneumatolyse  usw.)  entsteht,  scheinen 
Glaukonit  (Grünsand)  und  Phosphorit  ebenso  wie 
die  Bitumina  fast  ausschließlich  in  marinem  Faul- 
schlamm gebildet  zu  werden.  Erstere  finden  sich 
in  besonders  allgemeiner  Verbreitung  in  creta- 
cischen,  letztere  in  oligocänen  Sedimenten,  ohne 
jedoch  an  diese  gebunden  zu  sein.  Die  wich- 
tigsten Spezialarbeiten  über  Glaukonit-  und  Phos- 
phoritbildung sind  bei  J.  Walther  (1919,  S.  155 


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bis  157)  zusammengestellt.  Aus  diesen  kurzen  Andeu- 
tungen dürfte  zur  Genüge  hervorgehen,  wie  große 
praktische  Bedeutung  den  echten  Sapropelen  zu- 
kommt, so  daß  eine  scharfe  Unterscheidung  von 
Planktopel  und  Helopel  in  Zukunft  geboten  ist. 
Übergänge  zu  beiden  kommen  selbstverständlich  vor. 

Von  viel  geringerer  Bedeutung  sind  die  beiden 
anderen  Gruppen  nicht  koprogen  umgewandelter 
Schlammbildungen.  Durch  periodische  Austrock- 
nung von  größeren  Algenmassen  entsteht  der 
Saprodil  oder  das  Meteorpapier  (Wiesenleder, 
Oderhaut  usw.,  schwedisch  Flytäfja,  in  fossilem 
Zustand  Papierlehm,  Papierkohle,  Dysodil),  das  zu- 
erst von  Ehrenberg,  zuletzt  von  Sernander 
(1918)  ausführlicher  geschildert  worden  ist.  Aus 
süßem  Wasser  kenne  ich  als  Dysodilbildner  be- 
sonders die  Algengattungen  Hyphaeothrix ,  Dia- 
toma  (besonders  D.  hiemale  an  periodischen 
Grundwasserquellen),  Spirogyra  und  Cladophora, 
aus  Brack-  und  Meerwasser  Cladophora  und  En- 
teromorpha.  Gallertige  Blau-  und  Grünalgen  und 
Rotalgen  gehen  dagegen  auch  bei  verhältnismäßig 
rascher  Austrocknung  doch  meist  in  stinkende 
Fäulnis  über.  Umgekehrt  fand  ich  Froschlaich 
(von  Rana  temporaria)  wiederholt  zu  pergament- 
artigen Häuten  ausgedorrt.  Von  tierischen  Resten 
sind  für  limnische  Dysordilbildungen  neben  Fischen 
(Cypriniden)  und  Mollusken  (besonders  Succinea) 
ganz  besonders  Ostracoden  charakteristisch,  die 
ich  genau  wie  in  rezentem  vor  meinen  Augen 
aus  Spirogyra  Jürgensii  gebildetem  Meteorpapier 
auch  in  interglazialem  Papiermergel  und  eozäner 
Papierkohle  fand. 

Die  Schwemmtorfbildungen  oder 
allochthonen  Torfe  sind  bei  Potonie,  Früh  und 
Schröter  usw.  so  ausführlich  dargestellt  und 
bieten  gegenüber  anderen  Torfbildungen  so  wenig 
wesentlich  neues,  daß  dieser  Hinweis  genügen  mag. 

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N.  F.  XX.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


577 


Der  hypothetische  Weltäther. 


i 


[Nicbdruck  verboten. 1  Von  Studienrat  W. 

Zuerst  kommt  das  Wort  „Äther"  in  der 
griechischen  Mythologie  vor  und  bezeichnet  die 
über  der  von  den  Menschen  geatmeten  Erdluft- 
schicht sich  unendlich  ausdehnende  leuchtende 
feine  Himmelsluft.  Es  bedeutet  auch  ganz  allge- 
mein den  Himmelsraum,  in  dem  die  Götter 
wohnen,     Zeus  ist  der  Herr  des  Äthers. 

Einen  schwachen  Versuch,  mit  dem  Worte 
Äther  ein  für  die  Vorstellung  geeignetes  Bild  zu 
geben,  macht  die  aristotelische  Physik.  Für 
Aristoteles,  der  schon  den  Begriff  „Element" 
als  etwas  Unteilbares  gebraucht,  gibt  es  neben 
seinen  vier  irdischen  Grundstoffen :  Feuer,  Wasser, 
Luft  und  Erde,  aus  denen  sich  alle  irdischen 
Körper  aufbauen,  noch  ein  fünftes  Element,  das 
ist  die  quinta  essentia,  der  Äther,  aus  dem  der 
Himmel  besteht.  Auf  die  von  Aristoteles  ge- 
gebene Beschreibung  dieses  fünften  Elementes 
und  auf  dessen  Bedeutung  in  der  Welt  lohnt  es 
sich  nicht,  an  dieser  Stelle  näher  einzugehen. 
Diese  Erörterungen  tragen  zu  deutlich  den 
Charakter  willkürlicher  philosophischer  Speku- 
lationen und  enthalten  so  viele  Unrichtigkeiten, 
daß  der  Leser  dieser  Philosophie  sich  häufig  des 
Eindruckes  eines  rein  dialektischen  Wortkrams 
nicht  erwehren  kann. 

Fast  2000  Jahre  nach  Aristoteles  äußert 
sich  der  französische  Philosoph  Rene  Descartes 
(1596 — 1650)  über  das  Thema  Materie  und  Äther. 
Seine  Ansichten  darüber  sind  so  abenteuerlicher 
Natur,  daß  man  heute  erstaunen  muß,  auf  wie 
tiefem  Niveau  die  Naturerkenntnis  damals  noch 
stand,  und  wie  es  möglich  war,  daß  führende 
Geister  der  damaligen  Zeit  mit  einer  so  luftigen 
Theorie  ernsthaft  denkende  Anhänger  finden 
konnten. 

„Vor  der  Schöpfung  bestand  —  nach  Des- 
cartes —  die  Welt  aus  einem  Klumpen,  den 
Gott  zerschlug,  worauf  er  die  Teile  desselben  in 
Bewegung  setzte.  Durch  die  Reibung  der  be- 
wegten Teile  entstand  eine  Menge  kleiner  Kugeln, 
grobe,  eckige  Stücke  und  eine  ganz  feine  subtile 
Materie.  Aus  diesen  drei  Elementen  besteht  die 
Welt;  das  feinere,  subtile  Element  bildet  die 
Sonne  und  die  übrigen  Fixsterne,  das  aus  den 
kleinen  Kugeln  bestehende  Element  den  inter- 
mundanen  Stoff,  endlich  das  dritte  gröbste  Ele- 
ment bildet  die  Erde  und  die  Planeten  oder 
Kometen.  Die  Bestandteile  der  festen  und 
flüssigen  Körper  unterscheiden  sich  wieder  von- 
einander; erstere  sind  verästelt  und  verschlingen 
sich  mit  diesen  Verzweigungen,  so  daß  sie  sich 
nicht  frei  bewegen  können.  Die  Teilchen  des 
Wassers  hingegen  bilden  längliche,  glatte,  kleinen 
Aalen  ähnliche  Teilchen,  welche  leicht  trennbar 
aneinander  vorübergleiten.  Die  Zwischenräume 
der  Körper  sind  mit  der  feineren  Materie  erfüllt, 
welche  die  Fortpflanzung  des  Lichtes  vermittelt" 
(entnommen  aus  Heller:  Geschichte  der  Physik). 


Möller,  Neustettin. 

Das  zweitfeinste  Element  füllt  nach  Des- 
cartes den  weiten  Weltenraum,  ebenso  wie  die 
Zwischenräume  der  Körper.  Die  Lichtwirkung 
wird  durch  diese  kleinen  den  Himmelsraum  füllen- 
den Kugeln  dadurch  vermittelt,  daß  von  den 
leuchtenden  Körpern  ein  Druck  auf  sie  ausgeübt 
wird.  Dieser  Druck  pflanzt  sich  dann  von  einem 
Himmelskügelchen  auf  das  andere  fort,  bis  er 
durch  seine  Wirkung  auf  unser  Auge  dort  die 
Empfindung  des  Lichts  auslöst.  Descartes' 
Äther  ist  atomistisch  konstruiert. 

Solchen  unsicher  fundamentierten  naturphilo- 
sophischen Hypothesen  fehlt  die  Beweiskraft.  Be- 
weiskräftiger und  damit  vertrauenswürdiger  als 
diese  sind  jene  Theorien,  die  auf  dem  Boden  der 
Erfahrung  aufgebaut  sind,  und  die  in  ihren  weiteren 
Folgerungen  durch  Experimente  verifiziert  werden 
können.  Die  Erfahrung  zur  Grundlage  aller  Natur- 
erkenntnis zu  machen,  ist  das  Bestreben  der  Ex- 
perimentalphysik, die  sich  zu  Descartes'  Zeiten 
erst  allmählich  aus  der  wissenschaftlichen  Finster- 
nis des  Mittelalters  frei  machte. 

Vom  Standpunkte  des  Experimentalphysikers 
ist  der  Gedanke  an  eine  Mitwirkung  des  Zwischen- 
mediums bei  der  Lichtübertragung  auf  das  Auge, 
wie  es  sich  bei  Descartes  findet,  nicht  ganz 
von  der  Hand  zu  weisen. 

Als  einer  der  ersten,  der  von  seinen  optischen 
Experimentalarbeiten  auf  die  Notwendigkeit  der 
Annahme  eines  Zwischenmediums  geführt  wurde, 
ist  der  holländische  Gelehrte  Christian  Huy- 
gens  (1629  —  169s)  zu  nennen.  In  seiner  Ab- 
handlung „Tractatus  de  lumine",  Haag  1690,  tritt 
er  überzeugungskräftig  für  die  Undulationstheorie 
des  Lichtes  ein.  Da  er  das  Licht  für  eine  Wel- 
lenbewegung hält,  so  wird  für  ihn  auch  ein  Träger 
der  Lichtwellen  nötig.  Als  solchen  nimmt 
Huygens  ein  überaus  zartes  für  uns  nicht  wahr- 
nehmbares imponderables  Medium  an,  das  den 
großen  Raum  zwischen  den  Gestirnen  ebenso  wie 
die  kleinen  Lücken  zwischen  den  Molekeln  und 
Atomen  ausfüllt.  Er  nennt  dieses  hypothetische 
Medium  in  Anlehnung  an  Descartes  den  Äther. 

Auf  der  Basis  der  Vorstellungen,  daß  das 
Licht  durch  Wellenbewegungen  des  hypothetischen 
Äthers  zustandekäme,  konnte  Huygens  die  Er- 
scheinungen der  Reflektion,  der  Refraktion,  ja  so- 
gar die  schwierige  Frage  der  Doppelbrechung  im 
Kalkspat  erklären.  Die  optischen  Erscheinungen 
im  Kalkspat  waren  ein  Problem,  das  damals  alle 
Physiker  lebhaft  interessierte,  und  vor  dem  die 
damals  hoch  in  Ansehen  stehende  Emanations- 
hypothese Newtons  versagte. 

Trotz  dieser  Erfolge  konnte  Huygens  mit 
seiner  Theorie  der  Ätherwellen  nicht  durchdringen. 
Er  vermochte  nicht,  die  Erscheinungen  der 
Farbenzerstreuung  zu  erklären,  und  bis  nicht 
dieser   Mangel   behoben    war,    fehlte    es    in    dem 


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wissenschaftlichen  IVIeinungsstreit  H  u  y  g  e  n  s  - 
Newton  der  Ätherwellentheorie   an  Kampfkraft. 

Tätig  beteiligt  an  der  Fortsetzung  und  an  der 
Erweiterung  der  Huy  gen  sehen  Arbeiten  sind 
mehrere  Physiker.  Einer  der  nächsten  Verfechter 
war  der  meistens  nur  als  Mathematiker  bekannte 
Leonhard  Euler  (1707 — 1783). 

Die  Hauptstütze  für  die  Lichtwellentheorie 
baute  der  englische  Arzt  Thomas  Young 
(1773 — 1829)  in  seinem  Interferenzprinzip.  „Wenn 
zwei  aus  verschiedenen  Quellen  entsprungene 
Vibrationen  entweder  ganz  oder  nahezu  in  gleicher 
Richtung  sich  fortpflanzen,  so  ist  ihre  vereinigte 
Wirkung  eine  Kombination  ihrer  beiden  Be- 
wegungen." Nur  durch  die  Annahme  der  Inter- 
ferenz von  Wellen  konnte  eine  Erklärung  für  das 
beobachtete  Experiment  gefunden  werden,  in  dem 
Licht  zu  Licht  gefügt  unter  Umständen  Dunkel- 
heit ergab.  Young  gelang  es  auch,  die  Lücke 
der  Farbenerklärungen  in  der  Huygenschen 
Theorie  zu  schließen.  Die  verschiedenen  Farben 
werden  auf  die  Verschiedenheit  in  der  Länge  der 
Atherwellen  zurückgeführt,  und  die  Newton- 
schen  Farbenringe  werden  als  eine  Interferenz- 
erscheinung gedeutet. 

Young  kam  mit  seinen  neuen  Beweismitteln 
in  England,  dem  Vaterlande  Newtons,  nicht 
gegen  die  Emanationstheorie  auf.  Derjenige, 
welcher  der  Undulationstheorie  erst  die  allge- 
meine Anerkennung  verschaffte,  war  der  Franzose 
Augustin- Jean  Fresnel  (1788 — 1827). 

Die  bisher  genannten  Vertreter  der  Äther- 
schwingungstheorie dachten  sich  den  Äther  wie 
eine  Art  außerordentlich  leicht  bewegliche  Flüssig- 
keit, die  ähnlich  wie  die  Luft  nur  longitudinaler 
Schwingungen  fähig  sei.  In  seinem  optischen 
Verhalten  weicht  der  freie  Äther  des  Weltenraums 
von  dem  Äther  in  den  Molekel-  und  Atom- 
zwischenräumen der  Körper  ab.  Der  freie  Äther 
hat  die  größte  Elastizität,  und  er  büßt  von  dieser 
Eigenschaft  um  so  mehr  ein,  je  enger  die  Molekel- 
und  Atomlücken  des  betreffenden  Stoffes  sind. 
Von  dem  Elastizitätsgrad  des  Äthers  hängt  die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Lichtes  ab,  die 
um  so  kleiner  ist,  je  dichter  das  betreffende  Mittel 
ist.')  Vom  Standpunkt  dieser  Äthervorstellung 
aus  gelingt  es  leicht,  die  beobachteten  Erschei- 
nungen der  Spiegelung  und  Brechung  zu  erklären. 

Da  der  Äther  selbst  der  menschlichen  Wahr- 
nehmung bei  noch  so  verfeinerten  Beobachtungs- 
mitteln nicht  zugänglich  ist,  so  können  wir  eine 
Vorstellung  von  ihm  nur  aus  den  von  uns  be- 
obachtbaren Erscheinungen  an  den  Lichtstrahlen 
gewinnen.  Das  Bild  vom  Äther  schien  nach 
Huygens,  Euler  und  Young  bereits  in  greif- 
bare Nähe  gerückt  zu  sein,  als  dann  wieder  eine 
Erscheinung  entdeckt  wurde,  die  das  ganze  Ge- 
bäude der  Ätherwellentheorie  wieder  ins  Wanken 
brachte,  das  ist  die  von  Malus  (1775 — 1812)  ge- 


')  Das  Licht  pflanzt  sich  im  Wasser  1,33  mal,  in  Schwefel- 
kohlenstoff 1,77  mal  langsamer  als  in  Luft  fort. 


machte  Beobachtung  der  Polarisation.  Zwei  senk- 
recht zueinander  polarisierte  Lichtstrahlen  konnten 
unter  keiner  Bedingung  zur  Interferenz  gebracht 
werden.  Diese  Tatsache  war  mit  longitudinalen 
Ätherschwingungen  nicht  zu  verstehen.  Vom 
Standpunkt  der  Wellenlehre  war  sie  nur  dadurch 
zu  erklären,  daß  die  Ätherwellen  nicht  longitudi- 
naler sondern  transversaler  Natur  waren.  Young 
und  Fresnel  kamen  beide  zu  diesem  Resultat. 
Aber  mit  diesem  Ergebnis  stimmten  die  bisher 
dem  Äther  beigelegten  Eigenschaften  nicht  über- 
ein. Longitudinale  Schwingungen  sind  immer 
mit  Dichteänderungen  in  dem  betreffenden  Me- 
dium verbunden.  Da  aber  longitudinale  Bewegun- 
gen in  den  Lichtstrahlen  nicht  vorkommen,  trans- 
versale Wellen  aber  nach  den  Elastizitätsgesetzen 
nur  in  festen  Körpern  auftreten  können,  so  kann 
der  Äther  nicht  mehr  einer  äußerst  zarten  Flüssig- 
keit verglichen  werden,  sondern  er  muß  die  Eigen- 
schaften eines  festen  vollkommen  elastischen  aber 
inkompressiblen  Stoffes  haben. 

Die  aus  der  Transversalität  der  Lichtstrahlen 
folgende  Eigenschaft  des  Äthers  als  eines  festen, 
elastischen  aber  inkompressiblen  Körpers  bereitet 
der  Vorstellung  außerordentliche  Schwierigkeiten. 
Solange  der  Äther  von  der  Physik  als  ein  zartes 
Medium  gedacht  werden  konnte,  konnte  auch  die 
Astronomie  die  Auffassung  zu  ihrer  eigenen  machen 
und  noch  ergänzend  hinzufügen,  daß  der  Äther 
so  fein  sein  müsse,  daß  er  den  Himmelskörpern 
bei  ihren  großen  Geschwindigkeiten  keinen  Wider- 
stand bereitet  —  Erde  rast  durchschnittlich  mit 
30  km  Sekundengeschwindigkeit  durch  den  Welten- 
raum. —  Anzeichen,  daß  der  Äther  in  irgendeiner 
Weise  bremsend  oder  hemmend  auf  die  durch  ihn 
hindurchrasenden  Planeten  wirke,  sind  aus  dem 
reichen  Erfahrungsmaterial  der  Astronomie  nicht 
zu  erkennen.  War  schon  der  Gedanke  an  einen 
festen  Äther  für  den  Physiker  eine  fatale  Konse- 
quenz, so  war  er  für  den  Astronomen  vollends 
unmöglich. 

So  führte  in  ihren  Anwendungen  die  Äther- 
wellentheorie des  Lichtes  auf  ein  totes  Geleise. 
Die  Frage  nach  dem  Wesen  des  Äthers  vermochte 
sie  nicht  zu  lösen.  Neue  Hoffnungen  auf  die 
Lösungen  des  Ätherproblems  konnte  erst  die 
Maxwell  sehe  elektromagnetische  Lichttheorie 
bringen.  Doch  bevor  auf  diese  eingegangen  wird, 
sollen  zunächst  noch  einige  außerhalb  der  Optik 
liegende  Fragen  behandelt  werden,  durch  welche 
die  Physik  ebenfalls  auf  die  Notwendigkeit  der 
Annahme  eines  Äthers  geführt  wurde. 

Das  Coulombsche  Gesetz  ist  der  zahlen- 
mäßige Ausdruck  für  die  Kraftwirkungen  zweier 
magnetischer  bzw.  elektrischer  Mengen  aufeinander. 
Zunächst  hatte  man  bei  diesem  Gesetz  nur  die 
Größe  der  Kraft  in  den  Vordergrund  des  Inter- 
esses gestellt,  und  als  nebensächlich  galt  die  F"rage, 
wie  die  Kraftwirkung  zustande  kam.  Man  dachte 
an  eine  Fernwirkung  ebenso  wie  man  auch  bei 
dem  Newton  sehen  Gravitationsgesetz  an  eine 
reine  Fernwirkung  dachte,   ohne  dabei  irgendwie 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


579 


dem  zwischen  den  Massen  liegenden  Medium  eine 
Mitwirkung  bei  der  Kraftübertragung  zuzuschreiben. 
Erst  später  ward  auch  die  Frage  nach  dem  Wesen 
dieser  Kraftwirkung  bedeutungsvoll.  In  Deutsch- 
land neigte  man  im  Anschluß  an  W.  Weber 
zur  Ansicht  der  Fernkraftwirkung.  In  England 
dagegen  waren  unter  Faradays  Einfluß  andere 
Vorstellungen  maßgebend. 

Faraday  leugnete  jede  unvermittelte  Fern- 
wirkung und  sah  gerade  in  dem  Medium,  das 
zwischen  zwei  elektrisch  geladenen  Konduktoren 
bzw.  zwischen  zwei  Magnetpolen  lag,  den  not- 
wendigen Träger,  der  die  Kraftwirkung  über- 
mittelte. Faraday  nannte  diese  vermittelnden 
Medien  die  Dielektrika  und  da  nicht  nur  materielle 
Dielektrika  notwendig  waren,  vielmehr  auch  Kraft- 
wirkungen durch  das  Vakuum  beobachtet  wurden, 
so  nahm  er  daselbst  als  Träger  der  Kraftüber- 
mittlung den  Weltäther  an,  der  als  Universalstoff 
im  ganzen  Weltenraum  vorhanden  sein  sollte. 
Die  Art  der  Kraftvermittlung  geschieht  nach 
Faraday  in  der  Weise,  daß  sich  von  der 
Kraftquelle  aus  ein  gewisser  Zwangszustand  auf 
das  Dielektrikum  überträgt  und  in  diesem  sich 
von  Teilchen  zu  Teilchen  fortpflanzt.  Helm- 
holtz  nennt  den  unter  dem  Einfluß  elektrischer 
Kräfte  hervorgerufenen  Zwangszustand  die  dielek- 
trische Polarisation,  den  durch  magnetische  Kräfte 
erzeugten,  die  magnetische  Polarisation. 

Der  Ausbau  der  Faraday  sehen  Ansichten 
durch  Maxwell  u.  a.  gab  die  Möglichkeit,  auch 
da,  wo  materielle  Dielektrika  in  Frage  kamenj 
den  Äther  als  den  eigentlichen  Träger  zu  betrachten 
und  dann  die  Dielektrizitätskonstante  und  die 
magnetische  Permeabilität  nur  als  diejenigen 
Größen  anzusehen,  durch  die  der  Einfluß  der  in 
den  Äther  gebetteten  Materie  auf  dessen  Eigen- 
schaften berücksichtigt  wird.  ^)  Beide  Größen 
sind  dann  etwa  Maße  für  die  elastische  Nach- 
giebigkeit des  Äthers  in  dem  betreffenden  Stoff. 
Faradays  Arbeiten  führten  zu  der  Annahme, 
daß  der  Weltäther  die  Fähigkeit  hat,  zwei  ver- 
schiedene Zwangszustände  einzunehmen,  nämlich 
den  elektrischen  Zwangszustand  unter  dem  Ein- 
fluß elektrischer  Kräfte  und  den  magnetischen 
unter  dem  Einfluß  magnetischer  Kräfte. 

Das  Bild  vom  Äther  selbst  können  auch  diese 
Annahmen  nicht  entschleiern.  Auch  hat  die 
Faraday  sehe  Theorie  eines  Ätherzwangszustan- 
des  keine  Brücke  gefunden  zu  der  Erklärung  von 
dem  Wesen  der  Schwerkraft.  Newton  selbst 
hat  auch  einmal  an  den  Äther  als  den  Vermittler 
der  Massenanziehungskräfte  gedacht,  wie  aus  einer 
Stelle  aus  seinem  dritten  Brief  an  Bentley  her- 
vorgeht. 

Drei  ihrer  verschiedenen  Teilgebiete,  Optik, 
Magnetismus   und  Elektrizität,   hatten   die  Physik 

')  Die  Farbenzerstreuung  oder  Dispersion  bei  der  wäg- 
baren Materie  von  dcrem  molekularen  Gefüge  ab.  Die  von 
der  Art  des  Stoffes  abhängige  Gröl3c  der  molekularen  Zwischen- 
räume bedingt  eben,  daß  verschieden  lange  Wellen  verschieden 
beeinflußt  werden. 


zur  Annahme  eines  imponderablen  Weltäthers  ge- 
führt, ohne  aber  irgendwie  in  der  Frage  nach 
dem  Wesen  dieses  hypothetischen  Stoffes  Klar- 
heit zu  schaffen.  Vielmehr  war  diese  durch  den 
aus  der  Transversalität  der  Ätherlichtwellen  folgen- 
der Schluß  in  einen  unlösbaren  Widerspruch  ge- 
raten. 

Einen  Ausweg  aus  diesem  Dilemma  fand 
Maxwell.  Er  verwarf  die  Vorstellung,  daß  das 
Licht  eine  mechanische  Ätherwelle  ist,  und  stellte 
die  elektromagnetische  Lichttheorie  auf.  Nach  ihr 
eilen  in  jedem  Lichtstrahl  zwei  verschiedene 
Kraftfelder,  ein  elektrisches  und  senkrecht  dazu 
ein  magnetisches,  die  periodisch  ihre  Richtung 
wechseln,  mit  300000  km  Sekundengeschwindig- 
keit durch  den  Raum. 

Die  theoretischen  Arbeiten  Maxwells  fanden 
einen  ausgezeichneten  Experimentator  in  Hein- 
rich Hertz,  der  die  von  Maxwell  in  mathe- 
matischen Formeln  beschriebenen  Wellen  experi- 
mentell herstellte  und  nachwies,  daß  seine  „Strahlen 
elektrischer  Kraft",  seine  elektromagnetischen 
Wellen,  sich  von  den  Lichtwellen  nur  quantitativ 
durch  die  Wellenlänge,  nicht  aber  qualitativ  durch 
ihre  Art  unterschieden.  Durch  H.  Hertz  hat  die 
Maxwell  sehe  Theorie  die  experimentelle  Stütze 
gefunden,  die  für  ihre  allgemeine  Anerkennung 
notwendig  war. 

Nach  Maxwell  und  Hertz  wird  das  Licht 
als  ein  elektromagnetischer  Vorgang  im  Äther 
aufgefaßt.  Elektrische  und  magnetische  Kraftfelder 
wechseln  miteinander  ab. 

Wie  aber  sollen  wir  uns  solche  elektrischen 
und  magnetischen  Kraftfelder  im  Äther  vorstellen  ? 
Die  Antwort,  daß  sie  besondere  Zustände  im 
Äther  —  lokale  Spannungen  des  Äthers  —  sind, 
kann  nicht  befriedigen.  Wenn  uns  auch  die 
Maxwell  sehe  elektromagnetische  Lichttheorie 
vor  der  Notwendigkeit  schützt,  den  Äther  als 
zum  festen  Aggregatzustand  gehörig  anzunehmen, 
so  ist  sie  doch  andererseits  noch  nicht  in  der 
Lage,  in  der  Frage  nach  dem  Wesen  des  Äthers 
klärend  vorwärts  zu  führen.  Und  da  der  Äther 
selbst  unbekannt  ist,  so  bleiben  auch  seine  in  den 
elektromagnetischen  Feldern  angenommenen  Zu- 
stände unbekannt.  Ist  der  Äther  etwas  Stoffliches 
und  sind  die  Maxwel Ischen  Ätherzustände  dann 
etwas  Stoffliches  in  besonderer  Form? 

Eine  Reihe  von  Fragen  drängen  sich  beim 
Nachdenken  über  diese  Theorie  auf,  und  um  so 
brennender  wird  der  Wunsch,  nähere  Bekannt- 
schaft mit  dem  wunderbaren  Stoff  zu  machen. 

Versuche,  die  geeignet  erscheinen,  dem  Wesen 
des  Äthers  näher  zu  kommen,  sind  u.  a.  von 
Fizeau  und  Michelson-Morley  angestellt 
worden.  Diesen  Physikern  schwebte  die  Lösung 
der  Frage  vor,  ob  der  Äther  von  der  wägbaren 
Materie  mit  ihren  Bewegungen  mitgerissen  wird,  so 
etwa  wie  ein  durchs  Wasser  gezogener  Schwamm 
das  seine  Poren  füllende  Wasser  mitreißt.  Reißt  die 
mit  30  km  in  der  Sekunde  durch  den  Äther  rasende 
Erde    ihn    mit?      Die    von  Fizeau    nach   seiner 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Methode  und  von  Michelson  und  Morley 
nach  anderer  Methode  mit  größter  Sorgfalt  und 
unter  einwandfreien  Bedingungen  angestellten 
Versuche  führten  die  Physik  wiederum  vor  ein 
schweres  Rätsel.  Der  F  i  z  e  a  u  sehe  Versuch  ergab 
das  Resultat,  daß  der  Äther  ruht,  daß  die  Welt- 
körper sich  durch  ihn  hindurchbewegen,  ohne 
ihn  trotz  ihrer  kolossalen  Geschwindigkeiten  in 
seiner  unbedingten  Ruhe  beeinflussen  zu  können. 
Auf  der  Basis  des  im  Weltenraum  ruhenden  Äthers 
hat  Lorentz  eine  Theorie  aufgebaut,  mit  der 
alle  beobachteten  optischen  und  elektromagneti- 
schen Erscheinungen  im  vollen  Einklang  standen. 

Die  Annahme  des  unbeweglichen  Äthers  be- 
deutet für  die  sich  durch  das  Athermeer  bewegende 
Erde,  daß  ein  Ätherorkan  mit  30  km  Sekunden- 
geschwindigkeit durch  alle  ihre  Teile  hindurch- 
bläst. Es  ist  uns  danach  auf  der  Erde  gar  nicht 
möglich,  elektrische  und  magnetische  Beobachtun- 
gen in  einem  ruhenden  Äther  zu  machen,  denn 
der  Träger  unserer  elektrischen  und  magnetischen 
Kraftfelder  gleitet  uns  andauernd  außerordentlich 
rasch  unter  unseren  Händen  fort.  Dieser  Äther- 
orkan muß  demnach  auch  alle  unsere  elektro- 
magnetischen Versuche  stören.  Normale  Erschei- 
nungen, wie  sie  im  ruhenden  Äther  Zustande- 
kommen würden,  können  wir  auf  der  Erde  gar 
nicht  beobachten. 

Wird  die  Geschwindigkeit  der  Lichtfortpflan- 
zung in  der  Richtung  des  Äthersturms  gefördert 
und  gegen  die  Richtung  gehemmt.''  Das  ist  die 
dem  Michelson-Morley- Versuch  zugrunde- 
liegende Frage.  Die  Antwort  paßte  überraschender- 
weise in  den  Rahmen  der  F'izeau-Lorentz  sehen 
Annahme  der  Ätherruhe  absolut  nicht  hinein. 
Das  Michelson-Morley  sehe  Experiment 
führte  zu  der  Erkenntnis,  daß  der  Äther  von  der 
stofflichen  Materie  in  ihren  Bewegungen  mitge- 
führt wird.  Von  einem  durch  und  um  die  Erde 
tosenden  Ätherwind  ist  danach  nichts  zu  merken. 

Mit  diesen  Versuchen,  mit  denen  die  Physik 
den  unbekannten  Äther  erkennen  wollte,  stehen 
wir  bereits  am  Ende  der  heute  vorliegenden 
Äthererforschung.  Wenn  die  Physik  heute  den 
gesamten  Forschungsweg  verfolgt  und  nach  seinen 
Früchten  absucht,  so  ist  leider  der  Erfolg  nicht 
ermutigend.  Alle  Anstrengungen  und  Mühen  haben 
leider  nicht  dazu  führen  können,  irgendwelche 
Eigenschaften  des  hypothetischen  Mediums  sicher 
zu  erkennen. 

Zwar  fand  Lorentz  durch  seine  Kontraktions- 
hypothese *)  eine  Brücke  von  der  Ruhe  des  Äthers 
im  Weltenraum  und  von  dem  F  i  z  e  a  u  sehen  Ver- 
such zu  dem  Michelson- Morleyschen  Ver- 
such, und  auch  die  Ein  st  einsehe  Relativitäts- 
theorie konnte  den  Widerspruch  zwischen  beiden 
Experimenten  durch  die  Einführung  des  relativen 
Raum-    und   Zeitbegriffes   lösen,    aber    die   Frage 

^)  Fitzgerald  -  Lorentzsche  Verkürzungshypothese: 
Die  in  die  Richtung  der  Erdbewegung  fallenden  Dimensionen 
eines  Körpers  werden  in  bestimmtem  von  der  Stärke  des 
Äthersturras  abhängigem  Verhältnis  verkürzt. 


nach  der  Natur  des  Äthers  wurde  damit  nicht 
gefördert.  Diese  macht  nach  wie  vor  die  größten 
Schwierigkeiten,  so  daß  viele  der  neueren  theo- 
retischen Physiker  vom  Standpunkte  der  Rela- 
tivitätstheorie aus  zu  der  Ansicht  gekommen  sind, 
die  Existenz  des  Äthers  überhaupt  zu  leugnen, 
so  schwer  ihnen  auch  der  Entschluß  zu  dem  Ge- 
danken wurde,  daß  sich  elektromagnetische 
Schwingungen  ohne  ein  schwingendes  Medium 
fortpflanzen. 

Gegen  diese  Negation  aber  müssen  die  Ex- 
perimentalphysiker die  größten  Bedenken  äußern, 
denn  bei  ihnen  hat  die  Vorstellung  von  der  Not- 
wendigkeit eines  Mediums,  daß  die  verschiedenen 
Kraftwirkungen  übermittelt,  bereits  zu  tiefe  Wurzeln 
geschlagen.  F"ür  die  Mitwirkung  eines  Zwischen- 
mediums spricht  auch  die  Tatsache,  daß  eine  be- 
stimmte Zeit  erforderlich  ist,  bis  sich  elektro- 
magnetische Wirkungen  von  dem  einen  Körper 
zum  anderen  fortgepflanzt  haben. 

Irgendwelche  positiven  sicheren  Unterlagen, 
aus  denen  das  Wesen  des  Äthers  erschlossen 
werden  kann,  besitzen  wir  heute  leider  noch  nicht. 
Die  aus  der  Ätherforschung  vorliegenden  Ergeb- 
nisse lassen  sich  heute  noch  nicht  in  einen  Rahmen 
einordnen,  da  sie  mit  ihren  unlösbaren  Wider- 
sprüchen keine  einheitliche  Grundlage  bilden. 

Auf  der  einen  Seite  zwingt  der  Mangel  jeg- 
licher Dispersion,^)  die  gleiche  Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit für  die  großen  elektrischen  Wellen 
und  für  die  kleinen  Lichtwellen  ^)  zu  dem  Schluß, 
den  Äther  kontinuierlich  den  Raum  erfüllend  an- 
zunehmen. — 

Auf  der  anderen  Seite  müssen  wir  auf  Grund 
der  Erscheinungen  der  dielektrischen  Polarisation 
wieder  von  Ätherteilchen  sprechen.  Was  soll 
aber  bei  Annahme  der  atomistischen  Ätherstruktur 
in  den  Atomlücken  des  Äthers  enthalten  sein? 
H  a  e  c  k  e  1  spricht  einmal  in  diesem  Zusammen- 
hange von  einem  Interäther.  Wie  soll  aber  dieser 
hypothetische  Stoff  wieder  beschaffen  sein? 

Das  Studium  des  Fizeauschen  Versuches 
und  der  Lorentzschen  Theorie  führen  uns  ein- 
mal zur  Vorstellung  der  absoluten  Ätherruhe;  — 
ein  anderes  Mal  sprechen  wir  in  der  elektro- 
magnetischen Lichttheorie  von  dem  Licht  als 
einem  Vorgang  im  Äther  und  sprechen  von  be- 
sonderen Zuständen  des  Äthers  in  den  magnetischen 
und    elektrischen   Feldern.      Gegen    die    absolute 


')  Die  Farbenzerstreuung  oder  Dispersion  hängt  bei  der 
wägbaren  Materie  von  derem  molekularen  Gefüge  ab.  Die 
von  der  Art  des  Stoffes  abhängige  Größe  der  molekularen 
Zwischenräume  bedingt  eben,  daß  verschieden  lange  Wellen 
verschieden  beeinflußt  werden. 

")  Die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Lichts  in  einem 
ponderablen  Medium  hängt  u.  a.  auch  von  der  Wellenlänge, 
also  von  der  Farbe,  ab.  Michelson  fand,  daß  rote  Strahlen 
im  Wasser  eine  um  1,4%  größere  Geschwindigkeit  als  blaue 
haben.  Die  Ursache  hierfür  liegt  in  der  durch  das  Molekular- 
gefüge  bedingten  Inhomogenität.     Nur  im  freien  Äther  ist  für  / 

alle  verschieden  langen  Wellen  die  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit dieselbe. 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


5«i 


Ätherruhe  spricht  auch  das  aus  der  Elektronen- 
theorie folgende  Bild  des  Elektrons.  Ein  Elek- 
tron ist  das  Zentrum  seines  elektrischen  Feldes. 
Dieses  ist  aber  eine  Stelle,  wo  der  Äther  seinen 
Zustand   verändert   hat.      Mit    zunehmender   Ent- 


fernung vom  Mittelpunkte  geht  diese  Äthermodifi- 
kation allmählich  in  unveränderten  normalen 
Äther  über. 

Noch    fehlt    uns   der  Richtpunkt,    zu   dem  hin 
der  Weg   aus   diesen  Widersprüchen   herausführt. 


Einzelberichte. 


Röiitgenstrahlenanalyse  der  Kristallstruktur 
von  dreizehn  Metallen. 

Albert  W.  Hüll  berichtet  in  The  Physical 
Review  Bd.  XVII,  S.  571—588  (Mai  192 1)  über 
die  Ermittlung  der  Kristallstruktur  von  Chrom, 
Molybdän,  Tantal,  «-Kobalt,  Nickel, 
Rhodium,  Palladium,  Iridium,  Platin, 
/J-Kobalt,  Zink,  Cadmium,  Ruthenium 
und  Indium.  Die  Photogramme  wurden  von 
gepulvertem  Material  analog  der  vom  Verf.  be- 
reits bei  früheren  Untersuchungen  angewendeten 
Methode  (Physical  Review  X,  S.  661  [191 7])  auf- 
genommen. Diese  deckt  sich  im  Prinzip  voll- 
kommen mit  der  Debye-Scherre r-Methode 
(Naturw.  Wochenschr.  1917,  S.  521  ff.). ^)  Ab- 
weichend davon  ist  nur  die  bei  den  meisten 
ersten  Aufnahmen  erfolgende  Drehung  der  Glas- 
röhre mit  dem  zu  untersuchenden  feinen  Pulver 
während  der  ganzen  Expositionszeit. 

Die  Auswertung  der  erhaltenen  Photogramme 
geschah  gegenüber  früheren  Arbeiten  in  wesent- 
lich vereinfachter  Weise  durch  graphische  Lösung. 
Die  Grundlagen  hierzu  sind  in  einer  unmittelbar 
voraufgehenden  Arbeit  des  Verf.  in  Gemeinschaft 
mit  Wh.  P.  Davey  niedergelegt  worden.  („Gra- 
phische Bestimmung  hexagonaler  und  tetragonaler 
Kristallstrukturen  aus  Röntgenogrammen"  [The 
Physical  Review  XVII,  S.  549 — 570,  Mai  192 1].) 
Für  jede  Gitterart  werden  die  Logarithmen  der 
theoretischen  Netzebenenabstände  als  Funktionen 
der  Achsenverhältnisse  aufgetragen.  Sechs  der- 
artige Diagramme  sind  zur  Erläuterung  beige- 
geben. Indem  man  die  Logarithmen  der  aus  den 
Photogrammen  sich  ergebenden  Netzebenenab- 
stände am  Rande  eines  Papierstreifens  aufträgt 
und  durch  Probieren  auf  den  Diagrammen  damit 
übereinstimmende  Werte  aufsucht,  läßt  sich  das 
Achsenverhältnis  und  die  Gitterart  in  wenigen 
Minuten  finden. 


I 


')  Anm.  d.  Ref. :  A.  a.  O.  findet  sich  kein  Hinweis  auf  die  Ar- 
beiten von  Debye  und  Scherrer.  Anscheinend  hat  Hüll 
unabhängig  und  nahezu  gleichzeitig  denselben  Weg  einge- 
schlagen. Eine  kurze  Beschreibung  seines  Verfahrens  ist 
im  Oktober  1916  vor  der  Amerikan.  Physik.  Gesellsch. 
gegeben  und  im  Januar  191 7  in  der  Physical  Review  ver- 
öffentlicht worden.  Debye  und  Scherrer  (Nachr.  d.  k.  Ges. 
d.  Wissenschaften,  Göttingen,  Math.  phys.  Klasse  1916,  S.  i 
bis  26)  gebührt  also  auf  jeden  Fall  die  Priorität. 

«-Kobalt 
3-554A 
2,514! 
8,66 
8,71s 


Kantenlänge  des   Elemenlarwürfels 
Kürzester  Atomabstand 

berechnet 

beobachtet 


Dichte 


Die  verwendete  Röntgenapparatur  war  die 
folgende.  Homogenes  Röntgenlicht  der  Wellen- 
länge 0,712  A  wurde  von  einer  wassergekühlten 
Molybdän  -  Coolidgeröhre  bei  30  000  Volt  und 
30  Milliamperes  geliefert.  Die  Expositionszeit 
betrug  ungefähr  15  Stunden.  Ein  passendes  Filter 
mit  ZrOj  absorbierte  fast  alle  Wellenlängen  außer 
der  angegebenen.  Hinter  dem  Aufnahmefilm  war 
ein  Calciumwolframat-Schirm  zur  Verstärkung  an- 
gebracht, vor  dem  Film  ein  zweites,  schwächeres 
ZrOj-Filter  zur  Absorption  der  andernfalls  sehr 
störenden  sekundären  Fluoreszenzstrahlen  des  Pul- 
vers. Dieses  selbst  war  je  nach  Dichte  in  einem 
dünnwandigen  Glasröhrchen  von  V^ — 2  mm  Durch- 
messer im  Zentrum  eines  halbkreisförmigen  Messing- 
rahmens von  20  cm  Radius  angebracht.  Die  weiteren 
Einzelheiten  der  Auswertung  können  hier  nicht 
aufgeführt  werden. 

Für  die  einzelnen  Metalle  wurden  zur  Kon- 
trolle der  Richtigkeit  der  Strukturbestimmung 
außer  den  beobachteten  die  berechneten  Netz- 
ebenenabstände, außerdem  die  relativen  Inten- 
sitäten der  Linien  der  Photogramme  im  Vergleich 
mit  der  Anzahl  der  wirksamen  Ebenen  angegeben. 
Schließlich  dient  ferner  zur  Prüfung  der  Richtig- 
keit der  Vergleich  der  Werte  der  Dichten,  die 
sich  aus  den  Röntgendaten  durch  Division  der 
Masse  der  Atome  in  einem  Elementarparallel- 
epiped  durch  dessen  Volumen  berechnen  lassen, 
mit  den  besten  Werten  der  Dichten,  wie  sie  durch 
die  gebräuchlichen  Bestimmungen  beobachtet 
werden. 

Auf  diese  Weise  sind  ermittelt  worden: 

a)  als  zweifach  kubisches,  raumzentriertes  Würfel- 
gitter: 

Chrom  Molybdän  Tantal 
Kantenlänge  des  Elementarwürfels  2,895!  3,143!  3,272! 
Kürzester  Atomabstand  2,508!     2,720!     2,833! 

j  berechnet  7,07         10,16         17,09 

(^beobachtet  6,92         10,28         I4i49* 

*  Landolt-Börnstein  (Tabellen)  gibt  an:   16,64. 

Die  Abstände  beim  Molybdän  sind  nahezu 
identisch  mit  denen  des  Wolfram. 

b)  als  vierfach  kubisches,  flächenzentriertes 
Würfelgitter : 

Nickel  Rhodium  Palladium  Iridium  Platin 

3,540!  3.820!  3,950!  3.805!  3.<53o! 

2,505!  2,700!  2,795!  2,690!  2,780  A 

8,72  12,18  11,40  23,15  21,23 

8,6-8,93  12,1  11,4-11,9  22,42  19,96 


582 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


Bei  den  Photogrammen  von  Kobalt  zeigten 
sich  zwei  verschiedene  kristallisierte  Formen, 
einmal  von  vierfach  kubischem,  das  andere  Mal 
von  zweifach  hexagonalem  Gitter.  Ihre  gegen- 
seitigen Beziehungen  sind  noch  nicht  aufgeklärt. 
Bezüglich  des  Nickels  ist  zu  bemerken,  daß  in  der 
oben  erwähnten  früheren  Arbeit  des  Verf  (Physical 
Review  1917)  die  vorläufigen  Bestimmungen  eben- 
falls zwei  kristalline  Formen,  eine  mit  zweifach 
kubischem  und  eine  mit  vierfach  kubischem  Gitter 
zu  ergeben  schienen.  Die  sorgfältigeren  neueren 
Untersuchungen  bestätigen  jedoch  alle  nur  das 
vierfach  kubische  Gitter. 

c)  als  zweifach  hexagonales  Gitter  (entsprechend 
der  dichtesten  Kugelpackung,  d.  h.  das  zweite 
Gitter  mit  seinen  Punkten  steht  im  Zentrum  der 
einen  Art  von  dreiseitigen  Elementarprismen.  Das 
Achsenverhältnis,  Dreieckseite  zur  Höhe  des  Pris- 
mas, ist  von  Fall  zu  Fall  verschieden ;  bei  der 
Kugelpackung  ist  es  i  :  1,633) 

//-Kobalt       Zink*  Cadmium   Ruthenium 

Achsenverhältnis  I  :  1,633  '  ■  '.860      I  ;  1,89       1  :  1,59 

Dreieckseite  des 

Elementarprismas     2,5I4A  2,67oA       2,96oA     2,686Ä 

{berechnet        8,66  7,04  8,74  12,56 

beobachtet     8,718  7,142  8,642        12,26 

*  Für  Magnesium  wurde  schon  in  der  erwähnten  früheren 
Arbeit  das  gleiche  Gitter  ermittelt,  Dreieckseite  3,22  Ä,  Achsen- 
verhältnis  I  :  1,624.     (D.  Ref.) 

Für  Zink  wird  das  Achsenverhältnis  aus  kristallo- 
graphischen  Messungen  angegeben  zu  i  :  1,356, 
für  Cadmium  zu  i  :  1,335,  ^Iso  abweichend  von 
dem  röntgenographisch  gefundenen  Wert.  Die 
Strukturen  können  aufgefaßt  werden  als  dichte 
Packungen  von  Rotationsellipsioden  mit  einem 
Verhältnis  der  Rotationsachse  zum  Durchmesser 
bei  Zink  1,140:1,  bei  Cadmium  1,158:  i-und  bei 
Ruthenium  0,973  :  i. 

d)  Schließlich  wurde  noch  für  das  Indium 
ein  dem  vierfach  kubischen  sehr  ähnliches,  flächen- 
zentriertes tetragonales  Gitter  ermittelt,  mit  einem 
Achsenverhältnis  a  :  c  =  i :  1,06,  wo  a  =  4,58  A  die 
Quadratseite  des  Elementarprismas  ist.  Die  be- 
rechnete Dichte  ergibt  sich  zu  7,42  gegenüber 
einer  beobachteten  von  7,12.  Spbg. 


Die  Kristallstruktur  des  Eises. 

D.  M.  Dennison  veröffentlicht  in  The  Phy- 
sical Review  (Bd.  XVII  (192 1)  S.  20—22)  Ergeb- 
nisse von  Röntgenaufnahmen  nach  dem  der 
Debye-Scherrer-  Methode  analogen  Verfahren 
von  A.  W.  Hüll  (siehe  vorstehendes  Referat).  — 
Ein  wenig  destilliertes  Wasser  wurde  in  einer 
dünnwandigen  Kapillare  eingeschlossen  und  diese 
schnell  in  flüssige  Luft  getaucht.  Dadurch  ge- 
friert das  Wasser  so  schnell,  daß  nur  die  zum 
Verfahren  notwendigen  kleinen  Kristalle  gebildet 
werden.  Die  Kapillare  wurde  dann  bei  der  Tem- 
peratur der  flüssigen  Luft  gehalten  und  während 
der  zehnstündigen  Expositionszeit  dauernd  rotiert. 
Verwendet  wurde  zur  Aufnahme  eine  wasser- 
gekühlte Molybdän-Coolidge  Röhre,  bei  32000  Volt 
und  25  Milliamperes.  Der  photographische  Film 
war  halbkreisförmig  im  Radius  von  19,8  cm  um 
die  Kapillare  als  Achse  angebracht.  Es  ließ  sich 
ein  gutes  'Photogramm  mit  12  Linien  erhalten. 

Die  aus  den  Reflexionswinkeln  sich  ergeben- 
den Netzebenenabstände  stimmen  innerhalb  der 
experimentellen  Fehlergrenzen  gut  mit  denen  über- 
ein, die  sich  für  ein  zweifach  hexagonales  Gitter 
(siehe  vorstehendes  Referat)  ergeben.  Hüll  und 
Davey  ermittelten  in  der  im  vorstehenden  Re- 
ferat angedeuteten  Weise  die  Dimensionen  des 
Elementarprismas  zu  4,52  Ä.  Basisseitenlänge  und 
7,32  A  Höhe.  Daraus  ergibt  sich  als  Achsen- 
verhältnis a  :  c  =  I  :  1,62  in  guter  Übereinstim- 
mung mit  dem  kristallograpliisch  angegebenen 
Werte  a  :  c  =  i  :  1,617.  Ein  hexagonales  Gitter 
aus  dichtgepackten  Kugeln  hat  ein  Achsenver- 
hältnis a  :  c  :=  I  :  1,633. 

Unter  Annahme  der  Dichte  des  Eises  bei  der 
Temperatur  der  flüssigen  Luft  zu  ^  =  0,944  und 
unter  Verwendung  der  oben  angegebenen  Aus- 
maße ergibt  sich  die  Anzahl  der  Moleküle  HjO 
im  Elementarprisma  zu  2.  Die  angegebenen 
Daten  genügen  noch  nicht  um  über  die  Anord- 
nung von  H  und  O  im  Gitter  bestimmte  Aus- 
sagen zu  machen.  [Anm.  d.  Ref.:  Zur  gleichen 
Gitteranordnung  aber  mit  den  von  obigen  ver- 
schiedenen Ausmaßen  a  =  3,46  Ä  und  c  =  5,33  Ä 
gelangte  auch  schon  früher  R.  Groß  (Das  Laue- 
photogramm des  Eises,  Centralbl.  f.  Min.  19 19, 
S.  201 — 207)  auf  Grund  der  Laue-Methode.] 

Spbg. 


Bücherbesprechungen. 


Landau,  Prof.  Dr.  E.,  Naturwissenschaft 
und  Lebensauffassung.  Sozial  -  anthro- 
pologische Betrachtungen.  Bern  und  Leipzig 
1919,  Ernst  Bircher. 

Das  Büchlein  behandelt  in  106  Seiten  sozial- 
biologische Fragen,  die  sich  auf  Grundlage  einer 
naturwissenschaftlich  orientierten  Weltanschauung 
ergeben. 

I.  Wesen  und  Zweck   der   modernen  Anthro- 


pologie. Dieser  Abschnitt  bespricht  die  Stellung 
des  Menschen  im  zoologischem  System  und  er- 
örtert einige  Hauptziele  der  Methodik,  welche  die 
Anthropologie  als  modern  aufstrebende,  experi- 
mentelle biologische  Wissenschaft  verfolgt.  Verf. 
gedenkt  der  Zeiten  „wo  es  den  Anschein  hatte, 
als  wolle  die  Anthropologie  in  geistlosem  Messen 
in  Anhäufung  von  Zahlenreihen  und  Daten  ohne 
jeden    höheren     leitenden    Gedanken    aufgehen" 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


583 


Je  tiefer  wir  aber  in  das  Wesen  der  Vererbungs- 
lehre eindringen,  desto  mehr  erhöht  sich  der 
Nützlichkeitswert  anthropologischer  Forschungen. 
Ihre  Aufgaben  sind  es  die  deskriptive  Anatomie 
als  experimentelle  Tochterwissenschaft  zu  unter- 
stützen. Die  Hauptkapitel  des  anthropologischen 
Forschungsgebietes  sind  nach  Landau  folgende: 
Die  Hypothesen  von  der  Abstammung  des  JVlen- 
schen;  die  Lehre  vom  fossilen  IMenschen;  die  Er- 
forschung der  noch  lebenden  primitiven  Rassen; 
die  Klassifikation  der  ganzen  Menschheit;  anthro- 
pologische Untersuchungen  einzelner  Systeme  und 
Organe  des  menschlichen  Körpers;   die  Eugenik. 

2.  Der  Staat  als  biologisches  Problem.  In  das 
Arbeitsgebiet  der  Anthropologie  fällt  nicht  nur 
das  Studium  des  einzelnen  Menschen,  sondern 
das  ganzer  Rassen  und  Völker.  Eür  ein  gesundes 
Gedeihen  eines  Volkes  ist  ebenso  wie  für  das 
einer  Person  die  Harmonie  aller  Bestandteile 
Grundbedingung.  Jedermann,  der  sich  mit  gesell- 
schaftlichen Fragen  befaßt,  muß  mit  den  auf 
biologischen  Gesetzen  beruhenden  Problemen  der 
Sozialhygiene  und  mit  denen  der  Sozialpsychologie 
vertraut  sein.  Aus  dem  biologisch  richtigen  Ver- 
ständnis für  den  Sinn  und  den  Wert  des  mensch- 
lichen Daseins  ergeben  sich  die  Rechte  und 
Pflichten  des  Menschen  im  Staate.  Der  Mensch 
ist  das  einzige  Lebewesen,  das  aufbauend  auch 
Zukunftswerte  schafft. 

3.  Natur  und  Staat.  Obwohl  die  biologisch- 
politische Weltanschauung  sicherlich  kein  Heil- 
mittel gegen  alle  Übel  des  menschlichen  Lebens 
sein  kann,  so  muß  sie  doch  als  Grundlage  für 
den  künftigen  Aufbau  eines  gesünderen  Staats- 
wesens dienen.  Die  naturphilosophische  Staats- 
lehre wird  eine  radikale  Berücksichtigung  der  all- 
gemein menschlichen  Bedürfnisse  und  Rechte, 
ohne  Rücksicht  auf  Herkunft  und  gesellschaftliche 
Stellung  gewährleisten. 

4.  Der  Patriotismus.  Der  engbegrenzte  Lokal- 
patriotismus des  primitiven  Menschen  erhebt  sich 
beim  modernen  Kulturmenschen  zum  erhabenen 
Gefühl  eines  Ideenpatriotismus,  zur  Liebe  zum 
Vaterland.  —  Der  gute  Patriot  von  heute  liebt 
die  ganze  soziale  und  politische  Einheit,  deren 
Mitglied  er  ist.  Rassenfragen  und  konfessionelle 
Fragen  sind  dem  Patriotismus  unterzuordnen.  Für 
die  Ideen  seines  Landes  und  zur  Wahrung  der 
nationalen  Eigenart  seines  Volkes  muß  man  selbst 
sein  Leben  zum  Opfer  zu  bringen  jederzeit  be- 
reit sein. 

5.  Was  bezweckt  die  moderne  Rassenhygiene  ? 
Der  Mensch  unterliegt  denselben  Entwicklungs- 
und Vererbungsgesetzen  wie  die  ganze  Welt.  Auf- 
gabe der  Zukunft  rnuß  es  sein,  das  Menschen- 
geschlecht von  den  Übeln  (Krankheiten  usw.),  die 
das  moderne  soziale  Leben  mit  sich  bringt,  durch 
entsprechende  Maßnahmen  zu  befreien.  Die  vielen 
Krankheiten,  die  fortschreitende  Zunahme  der 
Geisteskranken  und  Verbrecher  beruht  darauf,  daß 
den  Menschen  das  „rasseveredelnde  Adelsprinzip 
im  naturwissenschaftlichen  Sinn"  fehlt. 


6.  Der  biologische  Wert  der  Liebe.  Liebe  ist 
auch  eine  der  vielen  Fähigkeiten,  die  uns  die 
Natur  eingepflanzt  hat.  Liebe  ist  aber  nur  eine 
Etappe  im  menschlichen  Leben,  die  Mann  und 
Weib  zwecks  Gründung  einer  Familie  zusammen- 
führt, die  uns  im  späteren  Leben  die  schwere 
Pflicht  auferlegt  für  die  Familie  und  die  Kinder, 
die  der  Liebe  ihre  Existenz  verdanken,  zu  sorgen 
und  zu  arbeiten.  Die  Sehnsucht  nach  dem  Kinde 
nimmt  beim  gegenwärtigem  Menschen  immer 
mehr  ab.  Um  der  Gefahr  eines  stetigen  Ge- 
burtenrückganges zu  begegnen,  verlangt  der 
französische  Arzt  Doicy  ein  Gesetz,  demnach 
Mutterschaft  zu  einer  Art  von  Nationaldienst  er- 
hoben werden  soll. 

7.  Die  kinderreiche  Familie.  In  diesem  Kapitel 
kommt  der  Verf.  nochmals  auf  die  Hebung  der 
Kindererzeugung  durch  zweckmäßige  Mittel  zu 
sprechen.  Geldprämien  verwirft  er;  der  Staat 
müßte  durch  soziale  Fürsorgeeinrichtungen  den 
Kindern  während  ihres  Wachstums  für  günstige 
Entwicklungsbedingungen  garantieren.  Bei  Ehe- 
schließung sind  heute  immer  mehr  soziale  Momente 
wie  z.  B.  Stellung,  Herkunft,  pekuniäre  Fragen, 
Religion  usw.  maßgebend  als  geistige  und  körper- 
liche Rüstigkeit.  Der  Ehekonsens  soll  in  Zukunft 
von  der  Beibringung  eines  Gesundheitsattestes 
abhängig  gemacht  werden. 

8.  Intelligenz  und  Geschlecht.  Mutter  und 
Vater  geben  ihren  Kindern  gleich  viel  Erbein- 
heiten mit  ins  Leben,  somit  haben  beide  Eltern 
gleichen  Anteil  an  ihren  Kindern.  Ferner  handelt 
dieser  Abschnitt  über  die  allgemeinen  Grundsätze 
der  Befruchtung,  Vererbung,  über  sekundäre,  über 
die  physischen  und  psychischen  Geschlechtsunter- 
schiede bei  Mann  und  Frau.  „Das  kindlichere 
des  Weibes  ist  sein  Typus,  sein  schöner,  sein 
herzgewinnender."  Der  Verf.  schließt  dieses 
Kapitel  mit  folgenden  Worten :  „Wir  wollen  hoffen, 
daß  schönere  Zeiten  eintreten  werden,  Zeiten,  in 
denen  auch  die  weibliche  Intelligenz  das  ihrige 
zur  Veredelung  der  Menschheit  beitragen  wird, 
ohne  dabei  auf  das  köstliche  Gut  der  Mutterschaft 
verzichten  zu  brauchen". 

9.  Der  Krieg  und  die  Eugenik.  Für  den  Bio- 
logen gibt  es  im  Krieg  nicht  Sieger  und  Besiegte, 
sondern  nur  „Geschädigte".  12 — 15  Millionen 
Tote  und  wohl  ebensoviele  Krüppel  hat  der  Welt 
der  letzte  Krieg  gekostet,  ganz  abgesehen  von 
all  den  sonstigen  gesundheitlichen  Schädigungen 
bei  Mann  und  Weib.  Während  des  Krieges  haben 
wir  einen  starken  Geburtenrückgang  zu  verzeichnen, 
die  Folgen  der  Unterernährung  sind  auch  nicht 
zu  unterschätzen.  Vor  allem  müssen  wir  im  In- 
teresse unserer  zukünftigen  Generationen  auf  Ver- 
hütung von  Krankheitsübertragung  unser  größtes 
Augenmerk  legen.  Es  ist  das  erste  Menschen- 
recht, das  Recht  des  Ungeborenen,  vom  Staate 
den  Schutz  zu  verlangen,  nicht  mit  einer  unheil- 
baren Krankheit  belastet  geboren  zu  werden. 

Auf  die  reichhaltige  Literaturübersicht  am 
Schlüsse  der  Arbeit  muß  besonders  hingewiesen 
werden.  Ernst  Frizzi  München. 


S84 


f^aturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


Albertus  Magnus,  de  animalibus  libri  XXVI. 
Nach  der  Kölner  Urschrift.  2.  Band.  Heraus- 
gegeben von  Herrn.  Stadler,  gr.  8",  XXIV  u. 
772  S.  (Beiträge  zur  Geschichte  der  Philos. 
des  Mittelalters,  herausgegeben  von  Cl.  Baeumker, 
Bd.  XVI.)  Münster,  Aschendorff.  loo  M. 
Der  Wunsch,  den  ich  hier  bei  der  Besprechung 
des  ersten  Bandes  ausgesprochen,  daß  sich  ihm 
in  Bälde  der  zweite  anschließen  möge,  ist  nun  wider 
Erwarten,  trotz  der  heutigen  bekannten  Schwierig- 
keiten, in  Erfüllung  gegangen.  Es  ist  ein  statt- 
liches Buch  von  beinahe  800  Druckseiten,  in  dem 
uns,  wie  gesagt,  der  Originaltext  der  zweiten 
Hälfte  (Buch  13  bis  26)  des  Tierbuches  des  Al- 
bertus Magnus  geboten  wird.  Was  den  In- 
halt im  einzelnen  betrifift,  so  handelt  er:  von  den 
inneren  Organen  (13.  Buch),  den  äußeren  Organen 
der  niederen  Tiere,  auch  der  Bedeutung  der  Hände 
und  Füße  (14.  Buch),  vom  Unterschied  der  Ge- 
schlechter (15.  u.  18.  Buch),  von  der  embryonalen 
Entwicklung,  auch  Beseelung  des  Embryos  (16. 
Buch),  von  den  Eiern  der  Vögel,  der  Entstehung 
der  niederen  Tiere,  besonders  der  Bienen  (17.  Buch), 
von  organischen  Veränderungen  (Augenfarbe, 
Mutieren  usw.)  (19.  Buch),  vom  chemischen  Auf- 
bau des  Tierkörpers  (20.  Buch),  vom  Seelenleben 
und  Instinkt  der  Tiere  (21.  Buch),  von  der  Stellung 
des  Menschen  in  der  Natur ;  darauf  folgt  eine  Be- 
sprechung der  Vierfüßler  1 1 3  Nummern  (22.  Buch), 
der  Vögel  114  Nummern  (23.  Buch),  der  Wasser- 
tiere 139  Nummern  (24.  Buch),  der  Schlangen 
61  Nummern  (25.  Buch)  und  der  niederen  Tiere 
49  Nummern  (26.  Buch). 

Es  ist  nun  die  Grundlage  für  weitere  For- 
schungen gegeben ;  freilich  wird  die  Aufgabe,  trotz 
des  guten  Textes,  keine  leichte  sein:  unter  dem 
Wüste  altertümlicher  Anschauungen  das  ewig 
bleibende  Lehrgut  zu  finden  und  auszumünzen, 
und  den  Fortschritt,  den  wir  Albertus  ver- 
danken, herauszuheben.  Der  verdienstvolle  Heraus- 
geber hat,  wie  schon  bemerkt,  die  Aufgabe  uns 
erleichtert,  indem  er  gleich  im  Text  Eigen-  und 
Lehngut  (aus  Avicenna)  trennte,  und  jetzt  eine 
Anzahl  Register  anfügte,  mit  Hilfe  deren  man  sich 
in  dem  unfangreichen  Texte  leichter  zurechtfinden 
kann. 

Das  erste  Register  führt  die  von  Albertus 
zitierten  Autoren  und  Werke  vor:  eine  große  An- 
zahl, so  daß  man  über  die  Belesenheit  und  Akribie 
dieses  Mannes  füglich  staunen  muß.  Das  zweite 
behandelt  die  verschiedenen  Eigennamen:  Land- 
schaften, Städte  usw.  Das  dritte  und  umfang- 
reichste ist  ein  Sachregister;  hier  werden  auch 
die  Tierarten  mit  den  modernen  Namen  belegt. 
Das  vierte    und    fünfte   betrifift  die  deutschen  und 


arabischen   Wörter,   welche   bei  Albertus  vor- 
kommen. 

Alles  in  allem  ist  hiermit  eine  bedeutende 
Leistung  zum  Abschluß  gebracht.  Nicht  bloß  der 
Naturphilosoph  und  Naturhistoriker,  auch  der  Ge- 
schichts-  und  Namenforscher  muß  zu  diesem  Werke 
greifen,  das  wie  ein  Grundstein  am  Anfang  des 
herrlichen  Baues  der  deutschen  Wissenschaft  liegt. 

S.  Killermann. 

Born,  Max,  Der  Aufbau  der  Materie.    Drei 
Aufsätze   über    moderne    Atomistik    und    Elek- 
tronentheorie.     VI    und    81    Seiten    in  8"    mit 
36  Abbildungen  im  Text.     Berlin  1920,    Julius 
Springer.     Geh.  8,60  M. 
Das  vorliegende  Büchlein,  dessen  Verf.  einen  sehr 
wesentlichen  Anteil  an  den  neueren  Forschungen 
über  den  Aufbau  der  Materie  hat,  bringt  drei  Auf- 
sätze :  „Das  Atom",  „Vom  mechanischen  Äther  zur 
elektrischen   Materie"    und    „Die  Brücke    zwischen 
Chemie  und  Physik",  die  im  Laufe  des  Jahres  1919 
in    der  Zeitschrift   „Die  Naturwissenschaften"  ver- 
öffentlicht   worden  sind,    in  Wiederabdruck.      Die 
Darstellung   wendet   sich   an   weitere   Kreise   des 
wissenschaftlich  gebildeten  Publikums  und  ist  ein- 
wandfrei und  klar.    Das  Büchlein  kann  daher  ohne 
Einschränkung  empfohlen  werden. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Literatur. 

Sammlung  Göschen.     Berlin  und  Leipzig  '21,  Vereinigung 
wissenschaftlicher  Verleger  Walter  de  Gruyter  &  Co.     4,20  M. 
H.  Deegener,  Chemisch-technische  Rechnungen. 
Hoernes,  Kultur  der  Urzeit. 

EmilHaselhoff,  Agrikulturchemische  Untersuchungs- 
methoden. 
Ernst  Frizzi,  Anthropologie. 
G.  Brion,  Luftsalpeter. 
F.  Heiderich,  Länderkunde  von  Europa. 

F.  Heiderich,     Länderkunde    der  außereuropäischen 
Erdteile. 

Gustav  Jäger,  Theoretische  Physik  II. 

G.  F.  Lipps,  Grundriß  der  Psychophysik. 
Wissenschaft  und  Bildung.     Leipzig  '21,  Quelle  &  Meyer. 

Richard  Lehmann,  Die  Einführung  in  die  erdkund- 
liche Wissenschaft.     Geb.  9  M. 
H.  Glafey,    Rohstoffe    des    Textilindustrie.      2.  Aufl. 
Geb.  10  M. 
Schnee,     Heinrich,     Braucht     Deutschland     Kolonien? 
Leipzig  '21,  Quelle  &  Meyer.     4  M. 

Wissenschaft    und  Hypothese.     Leipzig-Berlin  '21,    B.  G. 
Teubner. 

Bd.  XXII:  E.  Gehrcke,  Physik  und  Erkenntnistheorie. 
Broscb.  8  M.,  geb.   lo  M. 
Leuchs,    Kurt,    Geologischer  Führer    durch    die    Kalk- 
alpen vom  Bodensee  bis  Salzburg  und  ihr  Vorland.    München 
'21,  J.  Lindauersche  Univ.-Buchh.  (Schöpping).     Brosch.  12  M., 
geb.   14  M. 

Kettner,  Alfred,  Die  Oberflächenformen  des  Festlandes. 
Leipzig-Berlin  '21,  B.  G.  Teubner.     Brosch.  21  M.,  geb.  24  M. 


Inhalt:  H.  Gams,  Übersicht  der  organogenen  Sedimente  nach  biologischen  Gesichtspunkten.  S.  569.  W.  Möller,  Der 
hypothetische  Weltäther.  S.  577.  —  Kinzelberichte:  A.  W.  Hüll,  Röntgenstrahlenanalyse  der  Kristallstruktur  von 
dreizehn  Metallen.  S.  581.  D.  M.  Dennison,  Die  Kristallstruktur  des  Eises.  S.  582.  —  Bücherbesprechungen: 
E.  Landau,  Naturwissenschaft  und  Lebensauffassung.  S.  582.  Albertus  Magnus,  de  animalibus  libri  XXVI. 
S.   584.     M.  Born,    Der  Aufbau  der  Materie.  S.  584.  —  Literatur:   Liste.  S.  584. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  InvalidenstraSe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganxeo  Reibe  36.  Band. 


Sonntag,  den  9.  Oktober  1921. 


Nummer  41> 


Neuere  Erfolge  von  Maxwells  Theorie  der  Elektrizität. 

Von  Dr.  Karl  Kuhn. 


[Nachdruck  verboten,' 


Mit  6  Abbildungen. 


Faradays  Anschauungen  über  das  Wesen 
und  die  Einheit  der  elektrischen  und  magnetischen 
Kräfte  wurden  von  seinem  Landsmann,  dem 
großen  englischen  Physiker  Clerk  Maxwell 
(1831  — 1879)  mathematisch  formuliert  und  die 
weitestgehenden  Folgerungen  daraus  gezogen.  Seit- 
dem Heinrich  Hertz  (1857 — 1894)  die  von 
Maxwell  geforderte  Existenz  elektromagnetischer 
Wellen  verwirklicht  und  damit  das  weite  Gebiet 
der  Optik  zu  einem  Zweig  der  Elektrizitätslehre 
gemacht  hatte,  gelangte  die  Max  well  sehe 
Theorie  in  der  Physik  zur  vollen  Herrschaft  und 
auch  die  moderne  hochentwickelte  Elektrotechnik 
ist  vollständig  auf  den  Maxwellschen  An- 
schauungen aufgebaut.  Es  ist  nun  von  hohem 
Interesse,  daß  trotz  der  glänzenden  Leistungen 
von  Hertz  manche  Folgerungen  der  Maxwell- 
schen Theorie  erst  in  unserem  Jahrhundert  durch 
die  großen  Fortschritte  der  physikalischen  Ex- 
perimentierkunst bestätigt  werden  konnten. 

l. 

So  ist  es  für  die  Max  well  sehe  Theorie  von 
grundlegender  Bedeutung,  daß  auch  in  einer  un- 
geschlossenen Leitungsbahn  eine  völlig  stauungs- 
freie Elektrizitätsbewegung  stattfindet.  Wir  denken 
uns  diesen  Fall  in  folgender  Versuchsanordnung 
(Abb.  i)  verwirklicht:  die  Pole  einer  elektrischen 


K 


K 


*  — 

>  — 

>  — 

>  — 


Abb.  I. 

Stromquelle  S  sind  durch  2  Drähte  über  einen 
Stromschlüssel  mit  den  beiden  Platten  K  K  eines 
Kondensators  verbunden.  Zwischen  den  Metall- 
platten KK  befinde  sich  ein  Nichtleiter  oder  auch 


ein  Vakuum.  Schließt  man  den  Stromschlüssel, 
so  fließt  während  eines  sehr  kurzen  Zeitraums  in 
den  Drahtverbindungen  ein  elektrischer  Strom, 
der  die  Kondensatorplatten  auflädt.  Dabei  ent- 
steht zwischen  diesen  durch  die  Kraftlinien  E  ein 
elektrisches  Feld.  Vor  Maxwell  glaubte  man, 
hier  liege  in  dem  offenen  Stromkreis  während 
der  kurzen  Ladezeit  des  Kondensators  eine  unge- 
schlossene Strömung  vor.  Nach  Maxwell  er- 
folgt aber  während  des  Anwachsens  des  Feldes  E 
im  Isolator  zwischen  den  Platten  KK  eine  Ver- 
schiebung der  Elektrizität,  die  eine  stauungsfreie 
Elektrizitätsbewegung  ermöglicht  und  die  den 
Leiterstrom  zu  einer  geschlossenen  Strömung  er- 
gänzt. Der  „Verschiebungsstrom"  im  Isolator 
oder  Dielektrikum  befördert  dieselbe  Elektrizitäts- 
menge, wie  sie  durch  den  Querschnitt  des  Metall- 
drahts fließt.  Wenn  die  Kondensatorplatten  auf- 
geladen sind,  hören  beide  Ströme,  Leitungs-  und 
Verschiebungsstrom,  zu  fließen  auf.  Maxwells 
kurzdauernde  Verschiebungsströme  in  Nichtleitern 
sind  keine  eigentlichen  Ströme  im  gewöhnlichen 
Sinn;  es  werden  vielmehr  nur  die  Elementar- 
quanten der  positiven  und  negativen  Elektrizität, 
die  in  jedem  Molekül  des  Isolators  in  gleich  großer 
Zahl  und  zunächst  regellos  gerichtet  vorhanden 
sind,  durch  das  elektrische  Feld  auseinander  ge- 
zogen und  soweit  verschoben,  bis  die  Größe  der 
sie  in  ihre  Lage  stabilen  Gleichgewichts  zurück- 
ziehenden (quasi-elastischen)  Kraft  gleich  der  Größe 
der  wirkenden  Feldstärke  multipliziert  mit  der 
Ladung  geworden  ist.  Außer  den  Molekülen  ist 
aber  auch  noch  der  alles  durchdringende  Äther  ') 
vorhanden;  „auch  dieser  wird  polarisiert  (jedoch 
ist  uns  die  Art  der  Zustandsänderung,  die  er  da- 
bei erleidet,  unbekannt,  da  wir  im  Äther  keine 
ponderable  Materie  annehmen  können)  und  liefert 
einen  Beitrag  zu  der  dielektrischen  Strömung".*) 
Die  Ketten  der  polarisierten  Moleküle  oder  Di- 
pole (Abb.  2)  entsprechen  den  elektrischen  Kraft- 
linien Faradays.  Der  Sitz  der  elektrischen 
Energie  eines  geladenen  Kondensators  ist  also 
nach  der  Max  wel  Ischen  Theorie  vor  allem  der 
Isolator  oder  der  Raum  zwischen  den  Metall- 
platten KK. 

')  „Wir  verbinden  mit  dem  Worte  , Äther'  keineswegs 
die  Vorstellung  einer  hypothetischen  Substanz;  vielmehr 
gebrauchen  wir  dieses  historisch  überlieferte  Wort  heute  als 
Abkürzung,  wenn  wir  ohne  Weitschweifigkeiten  von  dem 
Räume  als  Träger  eines  elektromagnetischen  Feldes  sprechen." 
M.  Abraham,  Theorie  der  Elektrizität,  S.  107,  Bd.  i,  6.  Auf- 
lage.    Teubner,  Leipzig   1921. 

^)  Naturwissenschaften,  S.  741,  Bd.  4. 


S86 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  41 


Während  der  Ladung  des  Kondensators  ver- 
schiebt sich  durch  jeden  Querschnitt  des  Dielektri- 
kums eine  gewisse  Elektrizitätsmenge,  bis  die 
Trennung  bzw.  Richtung  der  Ladungen  in  den 
Molekülen  erfolgt  ist.  Für  die  Max  well  sehe 
Theorie  ist  es  nun  wesentlich,  daß  sich  um  jeden 
Verschiebungsstrom  im  Isolator  genau  wie  um 
den  elektrischen  Strom  im  Drahtkreis  ein  mag- 
netisches Feld  windet.  Daß  Verschiebungsströme, 
wie  Maxwell  vorhergesagt  hat,  nach  denselben 
Gesetzen  magnetisch  wirksam  sind  wie  Leitungs- 
ströme, beweisen  die  von  Heinrich  Hertz '^) 
verwirklichten  elektro-magneiischen  Wellen.  Un- 
mittelbar wurde  aber  erst  vor  10  Jahren  auf  An- 
regung von  F.  R i c h a r z  durch  Eduard  Koch^) 
„die  magnetische  Wirkung  dielektrischer  Ver- 
schiebungsströme in  ruhenden  Isolatoren"  sicher 
nachgewiesen.  Koch  bediente  sich  folgender 
Versuchsanordnung  (Abb.  3):  die  Enden  des 
zylindrischen  Dielektrikums  D  bilden  die  kreis- 
förmigen Elektrodenplatten  B  B.  Diese  stehen 
durch  die  Drähte  d  mit  den  Polen  einer  Wechsel- 


Q  Q  QQO> 

00000 

00000 

00000 

00000 

00000 

Abb.  2. 


Abb.  3. 

Stromquelle  in  Verbindung,  so  daß  durch  die  Ein- 
wirkung des  Wechselstroms  Verschiebungsströme 
von  wechselnder  Richtung  entstehen,  welche  um 
sich  ein  zeitlich  und  räumlich  veränderliches  Mag- 
netfeld von  kreisförmigen  Kraftlinien  erzeugen. 
Um  ein  elektrisches  Wechselfeld  von  möglichst 
hoher  Spannung  und  möglichst  großer  Wechsel- 
zahl zu  erregen,  benützte  Koch  als  Stromquelle 
einen  Teslatransformator.  Das  veränderliche 
Magnetfeld  der  Verschiebungsströme  bewirkt  in 
einer  das  Dielektrikum  D  umschlingenden  Draht- 
spirale S  das  Auftreten  von  Induktionsströmen, 
die  bei  qualitativen  Versuchen  mit  einem  Telephon 
nachgewiesen  wurden.    Die  Stärke  der  Induktions- 


')  Untersuchungen  über    die  Ausbreitung  der  elektrischen 
Kraft.     J.  A.  Barth,  Leipzig   1914. 
')  Dissertation.     Marburg  1910. 


Wirkung,  welche  das  Magnetfeld  der  Verschiebungs- 
ströme erzeugt,  muß  nach  der  Theorie  der 
Dielektrizitätskonstante  des  zwischen  die  Elek- 
troden B  B  gebrachten  Isolators  proportional  sein. 
Tatsächlich  ergaben  auch  die  Telephonversuche 
eine  Zunahme  der  Tonstärke  mit  wachsender 
Dielektrizitätskonstante. 


Verschiebungsströme 
in 


Dielektrizitäts- 
konstante 


Stärke  des  Tones 


Luft 

Paraffin 

Holz 

Methylalkohol 

VVasser 
Metall 


I 

1,9 
4,5 
33 
81 
00 


sehr  schwach 

schwach 
ziemlich  stark 

stark 

noch  stärker 

sehr  stark 


Bei  seinen  endgültigen  Versuchen  schickte 
Koch  die  in  S  induzierten  Wechselströme  durch 
eine  Glühkathodenröhre  als  Gleichrichter  und  maß 
sie  mit  einem  hochempfindlichen  Galvanometer. 
Bei  Paraffin  als  Isolator  D  ergab  sich  im  Verhält- 
nis zu  Luft  für  die  Dielektrizitätskonstante  der 
Wert  2,05,  welcher  mit  dem  sonst  gefundenen 
gut  übereinstimmt.  Damit  ist  wohl  sicher  er- 
wiesen ,  daß  Verschiebungsströme  gemäß  der 
Max  well  sehen  Theorie  dieselben  magnetischen 
Wirkungen  ausüben  wie  Leitungsströme. 

Es  ist  historisch  sehr  interessant,  daß  bereits 
im  Jahre  1879  die  Berliner  Akademie  (Helm- 
h  o  1 1  z) ')  eine  Preisaufgabe  stellte,  die  den  Nach- 
weis der  magnetischen  Wirkung  dielektrischer 
Verschiebungsströme  verlangte.  Die  Preisaufgabe 
lautete:  „Irgendeine  Beziehung  zwischen  elektro- 
dynamischen Kräften  und  der  dielektrischen  Polari- 
sation der  Isolatoren  experimentell  nachzuweisen, 
sei  es  nun  eine  elektrodynamische  Kraft  (=  Magnet- 
feld), welche  durch  Vorgänge  im  Nichtleiter  (=^ Ver- 
schiebungsstrom) erregt  würde,  sei  es  eine  Polari- 
sation der  Nichtleiter  durch  die  Kräfte  der  elektro- 
dynamischen Induktion." 

II. 
Der  zweite  Teil  der  Preisaufgabe  fand  auch 
erst  in  unserem  Jahrhundert  seine  Lösung;  er  ist 
eigentlich  nur  eine  Umkehrung  des  ersten  Effektes 
und  ist  ein  notwendiges  Postulat  des  Max  well - 
sehen  Prinzips  der  Einheit  aller  elektrischen  Kräfte. 
Wie  nämlich  ein  Verschiebungsstrom  in  einem 
Isolator  ein  kurzdauerndes  Magnetfeld  zur  Folge 
hat,  so  muß  auch  ein  veränderliches  Magnetfeld, 
das  in  einem  Isolator  erregt  wird,  einen  Verschie- 
bungsstrom bedingen,  d.  h.  also  eine  dielektrische 
Polarisation  oder  Ladung  eines  Kondensators. 
Dieser  von  der  Max  well  sehen  Theorie  geforderte 
Effekt  wurde  im  Jahre  1904  von  H.A.Wilson-) 
nachgewiesen.  Bei  seiner  Versuchsanordnung 
schnitten  aber  nicht  die  Kraftlinien  eines  ver- 
änderlichen  Magnetfelds  einen  ruhenden  Isolator, 


')  Physik  der  „Kultur  der  Gegenwart",  S.  302.  Teubner, 
Leipzig   iqi5- 

'•';  Procl  Roy.  Soc.  73,  S.  490—492  (1904).  —  Beiblätter 
z.  d.  Ann.  d.  Physik  Bd.  28,  S.  870— 871   (1904)- 


N.  F.  XX.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


587 


sondern  es  wurde  durch  Bewegung  eines  Isolators 
in  einem  ruhenden  Magnetfeld  ein  Schneiden 
magnetischer  Kraftlinien  erzielt.  Zu  diesem  Zweck 
ließ  Wilson  einen  Hohlzylinder  aus  Ebonit  mit 
200  Umdrehungen  in  der  Sekunde  in  einem  Mag- 
netfeld von  1500  Gauß  rotieren,  das  parallel  der 
Zylinderachse  gerichtet  war.  Die  dielektrische 
Verschiebung  wurde  elektrostatisch  gemessen. 
Zu  diesem  Zweck  wurde  die  innere  und  die  äußere 
Oberfläche  des  Ebonitzylinders  mit  je  einem  Metall- 
überzug versehen,  auf  denen  je  eine  Metallbürste 
schleifte.  Die  innere  Belegung  war  geerdet,  die 
äußere  in  Kontakt  mit  einem  Quadrantenpaar 
eines  empfindlichen  Elektrometers.  Es  ergab  sich, 
daß  die  Richtung  der  radialen  dielektrischen  Ver- 
schiebung im  Ebonitzylinder  dieselbe  ist  wie  in 
einem  Leiter.  Die  Größe  der  dielektrischen  Ver- 
schiebung war  proportional  der  Stärke  des  Magnet- 
felds und  der  Umdrehungszahl.  Der  Versuch  von 
H.  A.  W  i  1  s  o  n  bestätigte  also  glänzend  die  Gültig- 
keit der  von  Maxwell  theoretisch  abgeleiteten 
Folgerungen.  (Über  die  Bedeutung  des  Wilson- 
schen  Versuchs  für  die  Theorien  von  H.  A.  Lo- 
rentz  und  Einstein  siehe  Jahrbuch  der  Radio- 
aktivität und  Elektronik  Bd.  7,  S.  427  (1910).) 

Indirekt  hatte  schon  Farad ay  im  Jahre  183 1 
gezeigt,  daß  ein  zeitlich  veränderliches  Magnetfeld 
von  elektrischen  Kraftlinien  umgeben  ist.  Er  be- 
obachtete nämlich  in  einem  Metall,  das  von  sich 
ändernden  magnetischen  Kraftlinien  geschnitten 
wurde,  das  Auftreten  eines  Stromes  (Induktions- 
strom); es  fließt  aber  nur  dann  in  einem  Leiter 
ein  elektrischer  Strom,  wenn  ein  elektrisches  Feld 
vorhanden  ist,  das  die  Leitungselektronen  in  Be- 
wegung setzt. 

m. 

Schließlich  wurde  auch  auf  experimentellem 
Wege  das  Problem  gelöst,  die  elektrischen  Kraft- 
linien um  ein  veränderliches  Magnetfeld  durch 
ihre  elektrostatisch  •  ponderomotorische  Wirkung 
(=  Anziehung  oder  Abstoßung)  auf  leichte,  elek- 
trisch geladene  Körper  nachzuweisen.  Dies  gelang 
Karl  Henrich  1)  auf  Grund  folgender  Über- 
legung: entstehender  oder  verschwindender  Mag- 
netismus in  einem  Eisenstück  stellt  einen  „mag- 
netischen Verschiebungsstrom"  dar.  Denn  man 
kann  sich  ja  den  entstehenden  Magnetismus  so 
denken,  daß  sich  in  jedem  Eisenmolekül  die  ur- 
sprünglich als  zusammenfallend  anzunehmenden 
Nord-  und  Südpole  in  entgegengesetzten  Richtun- 
gen voneinander  entfernen,  parallel  der  Achse  des 
resultierenden  Gesamtmagnetismus.  Diese  Be- 
wegung ist  dann  ganz  analog  derjenigen  der  posi- 
tiven bzw.  negativen  Elektrizitäten  in  einem 
dielektrischen  Verschiebungsstrom.  Denken  wir 
uns  ein  magnetisches  Feld  H  (Abb.  4),  dessen 
Kraftlinienzahl  zeitliche  Änderungen  erleidet,  so 
wird  in  jedem  Molekül  eine  Verschiebung  der 
magnetischen    Mengen    stattfinden,   d.    h.   es   tritt 

')  Auf  Anregung  von  F.  Richarz,  Naturwissenschaften 
S.  4—7,  Bd.   1. 


ein  magnetischer  Verschiebungsstrom  auf.  Um 
diesen  müssen  sich  dann  elektrische  Kraftlinien 
von  der  Richtung  E  schlingen. 

Henrich^)  erzeugte  einen  magnetischen  Strom 
in  einem  Eisenring  (Abb.  5)  aus  feinstem  Trans- 
formatorblech von  I20  mm  äußerem  und  80  mm 
innerem  Durchmesser,  indem  er  den  Wechselstrom 
eines  rotierenden  Umformers  durch  Drahtwick- 
lungen um  den  Eisenkern  schickte.  Wenn  der 
Eisenkern  maximal  magnetisiert  ist,  dann  ist  der 
magnetische  Verschiebungsstrom  gleich  Null  ge- 
worden; im  nächsten  Augenblick  kommt  aber  in- 
folge der  Verwendung  von  Wechselstrom  ein 
Stromstoß  von  umgekehrter  Richtung;  es  erfolgt 
Ummagnetisierung  des  Eisenrings  und  es  fließt 
ein  magnetischer  Strom  entgegengesetzter  Rich- 
tung so  lange,  bis  die  maximale  Magnetisierung 
des  Eisenrings  im  anderen  Sinne  erreicht  ist.  Der 
magnetische  Wechselstrom  im  Eisenring  bedingt 
die  elektrischen  Kraftlinien  E,  die  im  Rhythmus 
des  magnetischen  Wechselstroms  ihre  Richtung 
ändern. 

H 


Abb.  4. 


Abb.  5. 


In  der  Mitte  des  Ringes  wurde  unter  einem 
Winkel  von  45 "  zu  den  elektrischen  Kraftlinien 
eine  Nadel  aus  Glas  von  6  mm  Länge  beweglich 
an  einem  Quarzfaden  aufgehängt,  der  dünner  wie 
I  fi  war.  Die  elektrischen  Kraftlinien  E  erregen 
durch  Influenz  an  den  Enden  des  Glasstäbchens 
Ladungen,  welche  dieses  in  die  Richtung  der 
Kraftlinien  hereinzudrehen  versuchen.  Die  Um- 
kehr des  magnetischen  Verschiebungsstroms  im 
Eisenring  ändert  zwar  die  Richtung  des  elektri- 
schen Feldes  E,  aber  es  kehrt  sich  damit  auch 
das  Vorzeichen  der  durch  Influenz  an  den  Enden 
des  Glasstäbchens  erregten  Ladungen  um,  so  daß 
dieses  trotz  des  Wechselstroms  fortgesetzt  in  der- 
selben Weise  in  die  Richtung  der  elektrischen 
Kraftlinien  hineingedreht  wird.  Die  Glasnadel 
bekam  pro  Sekunde  120  Stöße,  so  daß  die  un- 
meßbar kleine  Wirkung  eines  einzelnen  magneti- 
schen Stromstoßes  bis  zu  einer  quantitativ  gut 
meßbaren  Ablenkung  der  Nadel  gesteigert  wurde. 

Die  beschriebene  Versuchsanordnung  von 
Henrich  ist  einer  Tangentenbussole  ganz  analog : 

')  Nachweis  der  elektrostatisch  ponderomotorischen  Wir- 
kung der  Induktion.     Dissertation.     Marburg   1910. 


588 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  41 


wie  ein  elektrischer  Kreisstrom  durch  sein  Magnet- 
feld eine  kleine  Kompaßnadel  aus  ihrer  Nord- 
Südrichtung  ablenkt,  so  sucht  das  elektrische  Feld 
des  magnetischen  Verschiebungsstroms  die  Glas- 
nadel in  die  Richtung  der  Kraftlinien  E  zu  drehen. 

Das  elektrostatische  Feld  der  stromdurch- 
flossenen  Leitungsdrähte  konnte  durch  eine  be- 
sondere Bewicklungsart  des  Eisenrings  ^)  von  der 
Glasnadel  völlig  abgehalten  werden.  Der  Einfluß 
der  vom  elektrischen  Strom  schwach  erwärmten 
Drähte  wurde  durch  Verbringen  der  ganzen  Appa- 
ratur in  ein  Vakuum  beseitigt.  Durch  die  Ab- 
lenkungsgröße der  Glasnadel,  die  an  einem  Quarz- 
faden von  bekannter  Torsionskraft  hing,  konnte  die 
Max  well  sehe  Theorie  sogar  quantitativ  bestätigt 
werden.  Es  konnte  also  Henrich  den  lange 
gesuchten  experimentellen  Nachweis  erbringen, 
daß  ein  sich  um  magnetische  Ströme  ausbildendes 
elektrisches  Feld  ein  Stäbchen  aus  einem  Isolator 
in  die  Kraftlinienrichtung  hineindreht,  ganz  so,  als 
ob  ein  gewöhnliches  elektrostatisches  Feld  vor- 
handen wäre. 

IV. 

Durch  einen  geistreichen  Versuch  hat  neuer- 
dings Wilhelm  Wien  ^)  gezeigt,  daß  die  Max - 
well  sehen  Gleichungen  auch  für  manche  Vor- 
gänge bei  der  Ausstrahlung  des  Lichtes  durch 
Atome  gültig  sind.  In  ihrem  innersten  Wesen 
ist  Wiens  Versuchsanordnung  mit  der  H.  A. 
Wilsons  identisch.  Sie  sei  an  der  schematischen 
Abb.  6  erläutert.     Die  z-Achse  gibt  die  Richtung 


Abb.  6. 

der  magnetischen  Kraftlinien  etwa  eines  Hufeisen- 
magneten an;  es  werde  nun  ein  Isolator  durch 
das  Magnetfeld  in  der  x  Richtung  bewegt.  „Die 
beiden,  zur  y-Achse  senkrechten  Grenzflächen  der 
Scheibe  seien  mit  Metall  belegt;  die  Belegungen 
mögen  durch  Gleiikontakte  mit  einem  Elektro- 
meter G  in  Verbindung  stehen,  so  daß  man  die 
auf  ihnen  entstehende  Ladung  messen  kann."  ^) 
Wilson  zeigte  1904,  daß  tatsächlich  eine  Auf- 
ladung der  metallischen  Grenzflächen  durch  das 
elektrische  Feld  erfolgt,    welches    in  dem  Isolator 


')  und  vor  allem    durch  Verwendung   von  2  Eisenringen. 

^)  Sitzungsberichte  der  preußischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften, S.  70—74.     Berlin   1914. 

')  Max  Born ,  Die  Relativitätstheorie  Einsteins  und  ihre 
physikalischen   Grundlagen,  S.    142.     J.   Springer,  Berlin  1920. 


beim  Schneiden  der  magnetischen  Kraftlinien  er- 
regt wird. 

W.  Wien  schickte  durch  ein  magnetisches  Feld 
von  17000  Gauß  Stärke  leuchtende  WasserstofF- 
kanalstrahlen  von  520  bis  770  km  Geschwindig- 
keit in  der  Sekunde.  An  jedem  leuchtenden 
Wasserstoffatom,  welches  des  Magnetfeld  durcheilt, 
muß  dann  ein  elektrisches  Feld  als  Wilson - 
Effekt  erregt  werden.  Nun  hat  Johannes  Stark 
im  Jahre  1913  gefunden,  daß  in  elektrischen  Fel- 
dern die  Spektrallinien  leuchtender  Atome  auf- 
gespalten werden  und  daß  polarisierte  Kompo- 
nenten neben  den  ursprünglichen  Spektrallinien 
auftreten  (Stark-  Effekt).  „Wir  müssen  also  er- 
warten, daß  ein  kräftiges  Magnetfeld  auf  die  von 
Wasserstoffkanalstrahlen  ausgesandten  Spektral- 
linien eine  analoge  Wirkung  ausübt,  wie  ein  elek- 
trisches Feld."  Da  die  leuchtenden  Kanal- 
strahlen, die  das  Magnetfeld  durcheilen,  verschie- 
dene Geschwindigkeiten  haben,  so  ist  durch  das 
erregte  elektrische  Feld  nicht  das  Auftreten  neuer 
scharfer  Spektrallinien  zu  erwarten,  sondern  nur 
eine  Verbreiterung  der  normalen  Linien,  aber  mit 
polarisierten  Rändern.  Der  durch  das  Magnetfeld 
bedingte  Z  e  e  m  a  n  n  ■  Effekt  ist  von  so  geringer 
Größenordnung,  daß  er  in  erster  Näherung  ver- 
nachlässigt werden  kann. 

Tatsächlich  beobachtete  W.  Wien  an  den 
Spektrallinien  der  Wasserstoffkanalstrahlen  im 
Magnetfeld  einwandfrei  den  Starkeffekt,  womit 
—  genau  wie  in  Wilsons  Versuch  mit  dem 
Elektrometer  —  das  Auftreten  eines  elektrischen 
Feldes  in  Dielektrizis  bewiesen  ist,  die  magne- 
tische Kraftlinien  schneiden.  „Die  vorhandenen 
Hilfsmittel  reichten  aus,  um  das  Vorhandensein 
der  von  der  Theorie  verlangten  Wirkung  un- 
zweifelhaft festzustellen  und  zu  zeigen,  daß  auch 
die  Größenordnung  die  erwartete  ist."  Das  Ver- 
^  trauen  in  die  Gültigkeit  der  elektromagnetischen 
X  Gesetze  M  a  x  w  e  1 1  s  ist  dadurch  auch  für  den 
Vorgang  der  Lichtemission  in  einem  leuchtenden 
Atom  sehr  gestärkt. 

Seit  dem  Tode  von  Maxwell  und  Hertz 
ist  das  Gebäude  der  Elektrizitätslehre  durch  die 
Elektronentheorie  ungeheuer  erweitert  worden ; 
die  elektrodynamischen  Erscheinungen  in  be- 
wegten Körpern  sind  durch  die  Relativitästheorie 
in  ihrem  innersten  Wesen  geändert  worden;  aber 
die  unerschütterte  Grundlage  der  theoretischen 
Elektrizitätslehre  ist  noch  immer  „das  System 
der  Maxwellschen  Gleichungen",  wie  sich 
Heinrich  Hertz')  einmal  ausgedrückt  hat. 
„Schwerlich  wird  die  spätere  Entwicklung  sie  zu 
modifizieren  haben"  (H.  A.  Loren tz^j).  Max- 
wells  Theorie  der  Elektrizität  ist  für  alle  Zeiten 
eine  der  großartigsten  Leistungen  des  mensch- 
lichen Geistes.  Aber  auch  in  der  Technik  und 
im  praktischen  Leben  sind  Maxwells  Ansichten 
von  ausschlaggebender  Wichtigkeit:  was  in  unseren 


')  Hertz,  Ausbreitung  der  elektrischen  Kraft,  S.  23. 
')  Physik  der  „Kultur  der  Gegenwart",  S.  322. 


N.  F.  XX.  Nr.  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


589 


elektrischen  Maschinen  surrt,  was  von  den  An- 
tennen über  Ozeane  und  Kontinente  fortzuckt, 
legt    ebenso   ein  Zeugnis   für  die  Richtigkeit  von 


Maxwells  Theorie  ab  wie  etwa  die  unsicht- 
baren Strahlen  Röntgens,  die  das  Innere  unseres 
lebenden  Körpers  zu  enthüllen  vermögen. 


Täaschende  Ähnlichkeit  mit  Wespen  und  Bienen  (Sphekoidie). 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Franz  Heikertinger,  Wien. 


Die  (schützende)  Ähnlichkeit  mit  bestachelten 
Hautflüglern  (Wespen,  Bienen,  Hummeln)  wird 
als  Sphekoidie,  die  Ähnlichkeit  mit  Ameisen 
als  IVIyrmekoidie  bezeichnet.  Beide  Erschei- 
nungen bilden  Hauptpfeiler  der  Mimikryhypo- 
these und  sind  ungezählte  Male  besprochen  worden. 

Die  zeitgemäße  Experimentalforschung  wendet 
sich  nun  der  Erkenntnis  zu,  daß  theoretische  Er- 
örterungen über  diesen  Gegenstand  wenig  Wert 
haben,  insolange  nicht  der  —  bis  zur  Stunde 
noch  ausständige  —  exakte  Nachweis  des 
tatsächlichen  Erfülltseins  der  Grundforderungen 
erbracht  ist,  insolange  nichtdurch  Reihen 
von  Beo  bach  t  ungen  undVersuchen  ein- 
wandfrei nachgewiesen  ist,  daßBienen, 
Wespen  und  Ameisen  tatsächlich  „ge- 
schützt" sind,  d.  h.  Von  insektenfressern 
nicht  oder  nur  in  vereinzelten  Aus- 
nahmefällen gejagt  und  verzehrt  wer- 
den. Erweist  sich  diese  Grundforderung  als 
nicht  erfüllt,  dann  erübrigt  sich  jede  weitere  Er- 
örterung. 

Unter  Verarbeitung  eines  sehr  reichen  Materials 
aus  Literatur  und  eigener  Erfahrung  habe  ich  in 
einer  Anzahl  von  Arbeiten  (vgl.  das  angefügte 
Verzeichnis)  Tatsachen  zur  Klärung  der  Fragen 
vorgeführt.  Dieses  Tatsachenmaterial  erweist,  daß 
ein  Geschütztsein  bestachelter  Hautflügler  nicht 
feststellbar  ist,  daß  die  fundamentalen  Voraus- 
setzungen für  die  Sphekoidiehypothese  nicht  er- 
füllt sind.  Alle  jene  Insektenfresser,  in 
deren  Normalnahrungskreis  Insekten 
von  der  Größe,  Bewegungsart  usw.  der 
Wespen,  bzw.  Bienen  oder  Ameisen, 
fallen,  machen  keinen  Unterschied 
zwischen  wehrhaften  oder  wehrlosen 
Formen,  sondern  jagen,  bewältigen 
und  verzehren  beide. 

Außerstande,  jene  Tatsachenreihen  hier  vorzu- 
führen, muß  ich  den  Leser,  der  der  Angelegen- 
heit tieferes  Interesse  entgegenbringt,  bitten,  in 
meine  zitierten  Arbeiten  Einblick  zu  nehmen  und 
das  dort  Vorgeführte  vorurteilsfrei  zu  prüfen.  Hier 
soll  nur  kurz  einiges  Wesentliche  (hauptsächlich 
Punkte,  die  F.  Dahl  zum  Gegenstande  einer 
Kritik  nahm  ^))  besprochen  sein. 

In  meinen  Arbeiten  sind  die  kleineren  Bienen- 
arten unbesprochen  geblieben,  was  Dahl  be- 
mängelt. Die  Schuld  liegt  nicht  an  mir.  Ich 
besprach  das,   wovon   in  der  Mimikryliteratur  die 


')  In  dieser  Zeitschrift,   1921,    Heft  5,  S.   70 — 75.     Durch 
Zufall  entging    der  Aufsatz    seinerzeit  meiner  Aufmerksamkeit. 


Rede  ist,  in  erster  Linie  natürlich  die  bekannten 
Paradebeispiele.  Hätte  ich  anderes  getan,  hätte 
man  mir  mit  Recht  vorgeworfen,  ich  wiche  den 
berühmtesten,  also  wohl  bestfundierten  Beispielen 
aus.  So  behandelte  ich :  Schlammfliege  [Eristalis) 
und  Honigbiene  {Apis),  Hummelschwärmt-r  (He- 
maris  =  Haemorrha^iä)  und  Hummel  \Bombus), 
Hornissenschwärmer  (Trochümm.  =  Aegerta)  und 
Hornisse  ( Vespa  crabro),  Widderbockkäfer  ( Clytus) 
und  Wespe  (Vcspa  usw.),  Wespenbockkäfer  {Ne- 
cydalis)  und  Wegwespe  {Atiimop/iüa),  von  Exoten 
den  Kurzdeckbockkäfer  Coloborhombiis  und  die 
Pompilide  Mypmnia  usw.  usw.  Zu  jedem  dieser 
aller  Welt  geläufigen  Mimikrybeispielen  habe  ich 
einzeln  eingehend  die  Schwierigkeiten  und  zer- 
störenden Widersprüche  dargelegt,  zu  denen  die 
Annahme  einer  Mimikry  führt,  und  habe  mich 
gezwungen  gesehen,  diese  Annahme  abzulehnen. 
Meine  Nachweise  habe  ich  auf  zwei  Wegen 
geführt.  Den  ersten  möchte  ich  als  morpho- 
logisch-analytischen bezeichnen.  Auf  ihm 
läßt  sich  zeigen,  daß  Wespenähnlichkeit  durch 
das  Zusammentreffen  einer  kleinen  Anzahl  von 
Einzeleigenschaften  entsteht,  von  „Elementen", 
welche  sich  in  anderen  Kombinationen  bei  vielen 
anderen  Arten  finden,  ohne  eine  Wespenähnlich- 
keit zu  bewirken.  Es  sind:  i.  ungefähre  Größe 
von  Wespen,  2.  ungefähr  ähnliche  Gestalt  (die 
Ansprüche  hieran  sind  sehr  gering),  3.  querbindige 
Zeichnung,  4.  schwarz-gelbe  Färbung  (wenigstens 
bei  den  Paradebeispielen  aus  Europa  vorwiegend). 
Das  zufällige  Zusammenfallen  dieser  vier  einfachen, 
sehr  häufigen  Merkmale  erzeugt  Wespenähnlich- 
keit, das  Fehlen  eines  derselben  hebt  sie  auf. 
(Der  Begriff  „Ähnlichkeit"  ist  hier  natürlich  nicht 
in  geometrischem  Sinne  gebraucht,  sondern  be- 
deutet „täuschende  Ähnlichkeit",  Anlaß  zu  taf- 
sächlicher Verwechslung).  Die  „Zufälligkeit"  dieser 
Ähnlichkeit  beleuchtet  am  besten  ein  Beispiel. 
Ein  Kind,  mit  einem  Buchstabenlegespiel  be- 
schäftigt, hat  die  Einzelbuchstaben  E,  E,  P,  S,  W 
in  der  Hand  und  legt  Worte:  „Pesew",  „Sewep" 
usw.  Wer  wird  staunen,  wenn  das  Kind  mit 
diesen  Buchstaben  zufällig  einmal  auch  das  Wort 
„Wespe"  legt?  Wer  wird  im  Ernst  behaupten, 
das  Kind,  das  bei  „Pesew"  nichts  gedacht  hat, 
müsse  bei  „Wespe"  unbedingt  an  einen  bestachelten 
Hautflügler  gedacht  haben,  es  sei  gar  nicht  anders 
möglich?  Ebenso  „zufallig",  wie  die  Natur  auf 
ein  Insekt  das  Bild  eines  „y",  eines  Auges,  eines 
Nagels,  eines  Totenkopfes  usw.  malt,  kann  sie 
ihm  schwarzgelbe  Querstreifen  anmalen,  ohne  daß 
eine     zufällig     gleichfalls    schwarz  gelb     bemalte 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  41 


Wespe  hierbei  wirklich  ins  Spiel  zu  treten  brauchte. 

Auch  die  statistische  Überlegung  erweist  nichts 
anderes.  Auf  ungefähr  tausend  Käferarten  kommt 
eine  einzige  halbwegs  wespenähnliche.  Ist  nicht 
von  vornherein  zu  erwarten,  daß  jene  vier  ein- 
fachen Elemente  der  Wespenähnlichkeit  unter 
tausend  Fällen  wenigstens  einmal  zu  einer  Wespen- 
ähnlichkeit zusammentreffen  werden  }  Gerade  so, 
wie  das  Kind  unter  vielen  Fällen  wohl  einmal 
die  Buchstabenfolge  „Wespe"  legen  wird  ? 

Wenn  Wespenähnlichkeit  so  schützend  wert- 
voll ist,  warum  machen  nicht  mehr  Käfer  davon 
Gebrauch  ?  Und  wenn  999  Arten  ohne  Wespen- 
ähnlichkeit leben  und  hundertfach  zahlreicher  sind, 
warum  sollten  von  der  tausendsten  Art  nur  jene 
Individuen  erhaltungsfähig  gewesen  sein,  die  einer 
Wespe  ähnelten,  alle  anderen  aber  untergegangen  ? 
Und  sieht  denn  ein  Clytus,  ein  Syrphus  usw. 
wirklich  einer  Wespe  täuschend  ähnlich?  Er  er- 
innert wohl  entfernt  an  sie,  aber  der  erste  schärfere 
Blick  läßt  ihn  sofort  als  Nicht-Wespe  erkennen; 
eine  wirkliche  Täuschung  ist  ausgeschlossen.  Be- 
sonders gegenüber  insektenjagenden  Tieren,  die 
sich  —  wie  z.  B.  die  Vögel  —  alles  sehr  genau 
ansehen  und  versuchen,  ehe  sie  es  laufen  lassen. 
Nirgends  im  Naturleben  findet  der  unbefangene 
Forscher  begründeten  Anlaß,  ein  Insekt,  das  etwas 
an  eine  Wespe  erinnert,  a  priori  mit  wirklichen 
Wespen  in  eine  biologische  Beziehung  zu  bringen. 
Ein  solcher  Anlaß  wäre  berechtigterweise  nur 
durch  die  hundertfach  gemachte,  sichere,  empirisch 
ermittelte  Erfahrung  gegeben,  daß  Wespen  von 
Insektenfressern  tatsächlich  gemieden  würden.  Hier 
liegt  nun  der  zweite  Weg  des  tatsachengemäßen 
Nachweises,  der  biologische,  der  Weg  der 
tatsachengemäßen  Untersuchung  der  normalen 
Freilandnahrung  der  Insektenfresser.  Hierzu  bieten 
Magen-  und  Kropfinhalte  in  erster,  Ge- 
wölle und  Exkremente  der  Insektenfresser  in 
zweiter  Linie  reiches  und  sicheres  Material.  Denn 
was  ein  Vogel  (Vögel  sind  die  Hauptfeinde  der 
Insekten)  im  Magen  oder  Kropf  hat,  muß  er  ge- 
fressen haben,  und  was  er  gefressen  hat,  kann 
nicht  vor  ihm  geschützt  gewesen  sein.  Ist  es 
eine  Biene,  Wespe  oder  Ameise,  so  ist  damit  er- 
wiesen, daß  er  Bienen,  Wespen  und  Ameisen 
frißt,  diese  daher  keinen  Schutz  vor  ihm  genießen. 
Die  Bedenken,  die  man  gegen  die  Beweiskraft 
von  Mageninhaltsuntersuchungen  vorgebracht  hat, 
beziehen  sich  nicht  auf  unser  Problem,  sondern 
lediglich  auf  die  für  Land-  und  Forstwirtschaft  so 
hochwichtige  Abschätzung  der  quantitativen 
Zusammensetzung  der  Nahrung  jeder  Vogclart, 
da  hiervon  das  Urteil  „nützlich"  oder  „schädlich" 
abhängt.  Die  quantitative  Schätzung  allerdings 
hat  die  Härte  der  Chitinhülle  jeder  einzelnen  In- 
sektenart kritisch  in  Rechnung  zu  stellen.  Für 
unser  Problem  genügt  das  Vorhandensein  einer 
Biene  oder  Wespe  in  einem  Vogelmagen,  um  zu 
erweisen,  daß  diese  Vogelart  Bienen  oder  Wespen 
nicht  fürchtet  oder  verschmäht.  Nur  eins  erfordert 
die  Logik   in   unserem  Problem:    das   Urteil,    ein 


Vogel  fresse  keine  Bienen,  Wespen  oder  Ameisen, 
kann  erst  nach  Untersuchung  größerer  Serien 
von  Mageninhalten  einer  und  derselben  Vogelart 
abgegeben  werden.  '  Denn  da  in  einem  Magen- 
inhalte in  der  Regel  nur  die  Reste  von  wenigen 
(meist  nur  etwa  2  bis  6,  selten  mehr)  Tierarten 
soweit  erhalten  sind,  um  eine  sichere  Art-  oder 
Gattungsbestimmung  zu  ermöglichen ,  so  ist  es 
klar,  daß  die  10,  20  oder  30  Tierarten,  die  sich 
in  3,  5  oder  10  untersuchten  Individuen  einer 
Vogelart  vorfinden,  eine  reine  Zufallsauslese  dar- 
stellen und  zur  Abgabe  eines  negativen  Urteils  in 
keiner  Weise  berechtigten.  Auf  einem  solchen  in 
jeder  Hinsicht  unzureichenden  Material  fußen  nun 
Dahls  längere  Erörterungen  über  den  Insekten- 
fraß der  Vögel  auf  den  Bismarckinseln.^)  Er  hat 
167  Mägen  und  54  Insektenfresserarten  untersucht, 
mithin  kommen  auf  jede  Vogelart  durchschnitt- 
lich drei  (!)  untersuchte  Mägen.  Die  5,  10  oder 
selbst  20  Insekten  in  diesen  durchschnittlich  drei 
Mägen  sind  reine  Zu fa  11s funde,  die  gar  kein 
vergleichendes  Urteil  ermöglichen.  Ein  einziger 
positiver  Schluß  kann  hieraus  mit  Sicherheit  ge- 
zogen werden:  die  von  diesen  Vögeln  wirklich 
gefressenen  Bienen,  Wespen  und  Ameisen  sind  eben- 
soviele  Beweise,  daß  diese  Insekten  vor  der  be- 
treffenden Vogelart  nicht  „geschützt"  sind.  Das 
Nichtvorhandensein  von  Bienen  und  Wespen  in 
dem  Zufallsmaterial  von  drei  Mägen  aber  gestattet 
den  Schluß  nicht,  diese  Vogelarten  fürchteten 
oder  mieden  Wespen.  Wenn  ich  drei  Menschen 
töte  und  im  Magen  des  einen  Käse  finde,  darf 
ich  Käse  für  ein  menschliches  Nahrungsmittel 
halten.  Wollte  ich  aber  auf  Grund  des  zufälligen 
Nichtvorhandenseins  von  Käse  in  den  drei  Mägen 
die  Behauptung  aufstellen,  der  Käse  werde  seines 
üblen  Geruches  halber  von  den  Menschen  über- 
haupt verschmäht,  so  würde  ich  wohl  kaum  mehr 
als  ein  Lächeln  ernten. 

Die  zur  Grundlage  meiner  Untersuchungen 
dienenden  Materiale  zeigen  denn  auch  ganz  andere 
Ziffern,  Ziffern,  die  ein  vergleichendes  Urteil  ge- 
statten. So  kommen  in  Csikis  musterhaften  Unter- 
suchungen über  die  Insektennahrung  ungarischer 
Vögel  auf  eine  Vogelart  nicht  wie  bei  Dahl  im 
Durchschnitt  3,  sondern  42  Mageninhalte.  Dem- 
entsprechend ist  auch  das  Ergebnis  ein  anderes: 
von  den  von  Csiki  untersuchten  60  Vogelarten 
hatten  23,33  "/o  Wespen  und  85  "/o  Ameisen  ver- 
zehrt (und  zwar  laut  Mitteilung  des  Untersuchers 
fast  ausschließlich  f  lügeil  ose  Arbeiter,  darunter 
die  wehrhaftesten  Arten,  z.  B.  Formica  rufa,  in 
reicher  Zahl).  Und  —  um  aus  vielen  noch  ein 
zweites  Beispiel  zu  geben  —  F.  E.  L.  Beals 
Untersuchungen  über  die  Nahrung  nordamerika- 
nischer Fliegenfänger  umfassen  3398  Magen  von 
17  Vogelarten,  also  durchschnittlich  rund  200 
Magen  von  jeder  Art.  Auch  hier  das  Resultat: 
die  Bienen,  Wespen  und  Ameisen  bilden  im 
Durchschnitt  34,41  "/o    der  Gesamtnahrung  dieser 


')  Iq  der  zitierten  Arbeit   in   dieser  Zeitschr.,    S.  71 — 73. 


N.  F.  XX.  Nn  41 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


591 


Vögel.  Der  unbefangene  Leser  wird  den  Unter- 
schied zwischen  der  Dahlschen  und  meiner  Be- 
weisführung schon  aus  diesen  wenigen  Ziffern 
ersehen. 

Daß  Wespen  sogar  zur  Atzung  von  Nest- 
jungen Verwendung  finden,  erweist  die  Tat- 
sache, daß  Csiki  u.  a.  im  Magen  eines  einzigen 
Nestlings  des  Dorndrehers  [Laiiius  colhirio)  8  Stück 
Vespa  vulgaris  fand. 

Da  ich  die  Ameisenmimikry  gesondert  be- 
sprechen möchte,  will  ich  auch  auf  Dahls  unge- 
rechtfertigten Vorwurf,  ich  habe  seine  (im  übrigen 
unbrauchbaren)  Daten  „gefälscht"  (1)  usw.  erst 
dort  eingehen. 

Ich  habe  umfangreiche  Listen  bienen-  und 
wespenfressender  Säugetiere,  Vögel,  Reptilien, 
Amphibien  und  Arthropoden  gegeben  und  habe 
Versuche  und  Beobachtungen  in  reicher  Zahl  vor- 
geführt (vgl.  meine  Arbeilen  Nr.  i,  2,  3,  4,  6,  8,9). 
Angesichts  der  von  mir  vorgeführten  Fülle  sorg- 
fältig durchgearbeiteter  Tatsachen  kann  der  alte 
Glaube  an  ein  auch  nur  teilweises  Geschütztsein 
der  Bienen,  Wespen  und  Ameisen  nicht  mehr  auf- 
recht erhallen  werden.  Den  hieran  zweifelnden 
Leser  bitte  ich  um  unbefangen  prüfenden  Einblick 
in  meine  Arbeiten.  Der  knappe  Raum  gestattet 
mir  keine  Beweisführung  an  dieser  Stelle. 

Da  hl,  der  mir  den  Vorwurf  macht,  ich  lasse 
alles  fort,  was  gegen  meine  Theorie  (ich  habe 
übrigens  nie  eine  „Theorie"  vertreten)  spreche,  hat 
dieser  erdrückenden  Beweisfülle  mit  keinem  Worte 
Erwähnung  getan.  Dafür  hat  Da  hl  Arbeiten 
um  so  wärmer  empfohlen,  die  auch  nicht  eine 
einzige  tatsachengemäße  Untersuchung,  sondern 
ausschließlich  sterile  Wortpolemik  enthalten. 

Die  Wespenfresser  unter  den  Vögeln  umfassen 
nicht  etwa  nur  sog.  „Spezialisten",  wie  den  Wespen- 
bussard, sondern  rekrutieren  sich  aus  Angehörigen 
der  verschiedensten  Familien  (Tag-  und  Nacht- 
raubvögel, Sänger,  Meisen,  Drosseln,  Fliegenfänger, 
Würger,  Raben,  Stare,  Klettervögel,  Hühnervögel, 
Sumpfvögel).  Es  wäre  widersinnig,  anzunehmen, 
daß  der  Wespenfraß,  der  einer  Vogelart  gelingt, 
den  verwandten  Arten  derselben  Gruppe  nicht 
ebenso  leicht  gelingen  sollte.  Tatsächlich  brauchen 
die  geschickt  mit  ihrem  verhornten  Schnabel  und 
verhornten  Füßen  zu  Werke  gehenden  Vögel  den 
Wespenstachel  ja  nicht  zu  fürchten.  " 

Spinnen,  auf  welche  Da  hl  als  „staatlich  an- 
gestellter Spezialist"  so  viel  Gewicht  legt,  sind 
für  die  Herausbildung  einer  Bienen-  oder  Wespen- 
ähnlichkeit auf  dem  Wege  natürlicher  Auslese 
nahezu  völlig  bedeutungslos.  Fürs  erste  sind  die 
Aufenthaltsorte  der  Wespennachahmer  (Schweb- 
fliegen, Bockkäfer,  Schwärmer  usw.)  und  der 
größeren  Radspinnen  nur  in  sehr  beschränktem 
Ausmaße  die  gleichen.  Fürs  zweite  vermeiden 
die  Bienen  und  Wespen,  wie  mich  zahlreiche  Be- 
obachtungen und  Versuche  lehren,  geschickt  die 
Spinnennetze  und  reißen  sich,  wenn  ja  einmal 
daran  geraien,  regelmäßig  rasch  los.  Sie  sind  in 
dieser  Beziehung  ungleich  stärker  und  energischer 


als  Fliegen.   Zum  dritten  erweisen  Dahls  eigene 

Versuche,  daß  sich  Spinnen  im  großen  und  ganzen 
um  Färbungen  wenig  kümmern  dürften.  Die 
Hüpfspinne  Attits  arcitatus  z.  B.  nahm  bei  Dahl 
eine  Stubenfliege,  die  über  und  über  gleichmäßig 
mit  rotem  Karminstaub  überzogen  war  und  einer 
(von  der  Spinne  verschmähten  1)  roten  Milbe 
{Trontbidium)  sehr  ähnlich  sah,  ohne  jedes  Zögern 
an.  Überdies  dürfte  es  den  schwachsichtigen,  zu- 
meist in  gleicher  Ebene  mit  dem  Opfer  befind- 
lichen Spinnen  schwer  sein,  eine  für  den  Menschen 
(der  die  Objekte  von  oben  her  schauend  ver- 
gleichi)  vorhandene  Wespenähnlichkeit  zu  über- 
blicken und  festzustellen.  Zum  vierten  muß  ich 
nach  zahlreichen  neuerlichen  Versuchen  betonen, 
daß  sich  weder  Krabbenspinnen  noch  enisprechend 
große  Netzspinnen  vor  Bienen  oder  Wespen 
fürchten.  Den  Bienenfang  ersterer  schildert  selbst 
Dahl.  Und  wer,  wie  ich,  an  die  fünfzig  Male 
im  Freien  gesehen  hat,  wie  einheimische  größere 
Radspinnen  (Arancus  =  Epeira  diademata,  qua- 
drala,  marmorea  und  var.  pyramidata)  auf  frisch 
gefangene,  große,  in  Netz  gehängte  Bienen  mit 
einer  förmlichen  Freude  losfahren,  sie  in  wenigen 
Sekunden  eingewickelt  und  gebissen  haben,  ohne 
ein  Zeichen  von  Furcht,  ohne  besondere  Vorsicht, 
nur  mit  der  innen  von  Natur  aus  eigenen  raschen 
Geschicklichkeit,  dem  kann  durch  kein  Zitieren 
von  alten  Autoritäten  das  sichere  Wissen  um  die 
Bienenfurchtlosigkeit  der  heimischen  großen  Rad- 
spinnen genommen  werden.  Ich  habe  an  anderer 
Stelle  (Nr.  6)  die  Versuchstechnik  näher  beschrie- 
ben und  lade  jeden  Leser  ein,  sich  durch  eigene 
Versuche  zu  überzeugen.  Es  ist  dies  nicht 
schwierig. 

Ein  Weibchen  von  Araneus  quadratus  z.  B. 
hat  im  Freiland  gegen  6  Uhr  abends  nacheinander 
vier  frische  Bienen,  die  ich  ins  Netz  hängte,  mit 
Feuereifer  im  Nu  bewältigt.  Sie  hätte  das  Spiel 
sicher  noch  fortgesetzt,  wenn  ich  es  nicht  selbst 
abgebrochen  halte. 

Natürlich  muß  das  Größenverhältnis  zwischen 
Biene  und  Spinne  entsprechend  sein;  jedes  zu 
große  oder  zu  fahrige  Tier,  auch  ein  harmloser 
Grashüpfer  u.  dgl.,  wird  von  der  Spinne  (gegebe- 
nenfalls durch  Abbeißen  der  Fäden,  das  ich  öfter 
beobachtet  habe)  befreit  oder  resigniert  gewähren 
lassen. 

(Dahl  bemängelt,  daß  ich  die  Bienen  mit  der 
Pinzette  an  einem  Bein  oder  Flügel  so  lange  fest- 
hielt, bis  sie  sich  hinreichend  ins  Netz  verstrickt 
hatten  oder  die  Spinne  heranschoß.  Ich  weiß 
keinen  anderen  Weg  der  Versuchsmöglichkeit,  da 
eine  nicht  festgehaltene  Biene  sofort  abfliegt. 
Jedenfalls  ist  meine  Versuchstechnik  natürlicher 
als  Dahls  Versuch  mit  der  „ziemlich  stark  ge- 
drückten" Biene  Nomada  siiccinda) 

Wenn  sich  aber  eine  Spinne  einer  Wespe 
gegenüber  ja  einmal  anders  benehmen  sollte  als 
gegenüber  einer  Fliege,  so  ist  auch  solches  ohne 
Mimikryannahme  ohne  weiteres  leicht  verständlich. 
Die  Spinne  hat  eben  in  dem  einen  Falle  unmittel- 


S92 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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bar  vor  sich  das  für  sie  furchtbare  Gebiß  eines 
wuterfüllt  um  sich  beißenden,  wildfahrigen  Raub- 
tiers, im  anderen  Falle  den  unschuldigen  Saug- 
rüssel einer  angstvoll  zappelnden  Fliege.  Es  be- 
darf keiner  Mimikryhypothese,  um  zu  begreifen, 
daß  sich  ein  Mensch  verschieden  benimmt,  je 
nachdem  ein  wütend  zähnefletschender  Wolf  oder 
ein  friedsames  Lamm  vor  ihm  steht.  Ich  habe 
bei  den  zahlreichen  Akuleaten-  und  Spinnen- 
kämpfen, die  ich  veranlaßte,  beobachtet,  wie  eine 
Kreuzspinne  von  einer  Hummel  derart  ins  Bein 
gebissen  wurde,  daß  sie  sich  dauernd  zurückzog. 
Man  nehme  eine  Lupe  zur  Hand  und  sehe  sich 
ein  Wespengebiß  an. 

Soviel  über  Sphekoidie.  Die  Annahme  einer 
durch  natürliche  Auslese  erzeugten  Wespen-  oder 
Bienenähnlichkeit  findet  in  den  Erfahrungstatsachen 
nicht  nur  keine  Stütze,  sondern  wird  durch  sie 
klar  widerlegt.  Schon  die  Grundforderung  der 
Hypothese  erweist  sich  als  nicht  erfüllt,  und  da- 
mit entfällt  jede  weitere  Erörterung.  Daran  läßt 
sich  auch  mit  eifernden  Worten  nichts  ändern. 

Über  Myrmekoidie  möchte  ich  in  einem  zweiten 
Artikel  einige  Worte  bringen. 

Ich   mache   Dahls  Worte   zu    den  meinigen: 

„Ich  hoffe  durch  meine  hier  gegebenen  Aus- 
führungen dem  nicht  voreingenommenen  Leser 
klar  vor  Augen  geführt  zu  haben,  wie  verschieden 
der  Neodarwinismus  und  der  Neolamarckismus 
den  aus  den  Vogelmagenuntersuchungen  sich  er- 
gebenden Tatsachen  gegenüberstehen." 

Wobei  ich  einen  kleinen  Irrtum  Dahls,  der 
ihm  auch  andernorts  unterlaufen  ist,  richtigstellen 
möchte.  Ich  bin  nichts  w  eniger  als  ein  Vertreter 
des  Neolamarckismus,  ich  habe  ihn  sogar  —  was 


Dahl  nicht  zu  wissen  scheint  —  recht  unsanft 
angegriffen.  Ich  bin  unbescheiden  genug,  stolz 
darauf  zu  sein,  ohne  ein  durch  einen  „.  . .  ismus" 
abgestempeltes  Vorurteil  an  die  Naturtatsachen 
herangetreten  zu  sein,  unbefangen,  so  un- 
modern dies  auch  ist,  und  alle  jene  Hypothesen 
zurückgewiesen  zu  haben,  die  mit  Naturtatsachen 
in  Widerspruch  traten,  gleichgültig,  auf  wessen 
Fahne  sie  standen.  Sofern  Dahls  Satz  mir  gilt, 
muß  es  also  statt  „Neolamarckismus"  heißen: 
„vorurteilslose  Forschung". 

Schriftenverzeichnis. 

1.  F.  Heikertinger,  Die  Bienenmimikry  \on  Eristalis. 
Zeitschr.  f.  wissensch.  Insekteobiologie.  Bd.  14,  1918,  S.  I — 5, 
73—79- 

2.  —  — ,  Die  WespeDmimikry  der  Lepidopteren.  Ver- 
handl.  d.  Zool.-bot.  Gesellsch.  Wien.  Bd.  68,  1918,  S.  (164) 
— (194)- 

3.  —  — ,  Die  metöke  Myrmekoidie.  Biolog.  Zentralblatt. 
Bd.  39,  1919,  S.  65 — 102. 

4.  —  — ,  Versuche  und  Freilandforschungen  zur  Mimikry- 
hypothese. 1.  Akuleate  Hymenopteren  als  Spinnenbeute.  Biol. 
Zentralbl.  Bd.  39,   1919,  S.  35'— 363- 

5.  —  — ,  Die  morphologisch-analytische  Methode  in  der 
Kritik  der  Mimikryhypothese,  dargelegt  an  der  Wespenmimikry 
(Sphekoidie)  der  Bockkäfer.  Zoolog.  Jahrbücher.  (Im  Er- 
scüeinen.) 

6.  —  — ,  Die  Wespenmimikry  oder  Sphekoidie.  Verhdl. 
Zool.-bot.  Gesellsch.  Wien.     Bd.  70,   1921,  S.  316 — 385. 

7.  —  — ,  Exakte  Begriffsfassung  und  Terminologie  im 
Problem  der  Mimikry  und  verwandter  Erscheinungen.  Zeitschr. 
f.  wjss.  Ins.-Biol.  Bd.  :5,   1920,  S.  57 — 65,  162—174. 

8.  —  — ,  Die  Insektennabrung  des  Grauen  Fliegenfängers 
{Muscicapa  grisola)  im  Lichte  der  Schutzmittelhypolhese. 
Deutschest.  Monatsschr.  f.  naturw.  Fortbildung.   1919,  Heft  3/4. 

9.  —  — ,  Die  Nahrung  der  Würger  vom  Farbenschutz- 
Standpunkt.  Aus  der  Heimat.  Naturwiss.  Monatsschr.  des 
Deutsch.  Lehrer-Ver.   f.  Naturk.  Jahrg.  33,   1920,  S.  145 — 150. 


Einzelberichte. 


Wnndhornione  als  Erreger  von  Zellteilungen. 

G.  Haberlandt  hat  Anfang  dieses  Jahres 
der  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften 
seine  sechste  Mitteilung  „Zur  Physiologie  der 
Zellteilung"  vorgelegt  (Sitzungsberichte  VIII,  1921, 
S.  221 — 234)  und  sodann  den  dort  behandelten 
Gegenstand  ausführlicher  in  seiner  Zeitschrift 
„Beiträge  zur  Allgemeinen  Botanik",  Bd.  2,  H.  i, 
S.  1  —  53  (Berlin  1921)  dargestellt.  Über  Gang 
und  Entwicklung  der  früheren  Untersuchungen 
sind  die  Leser  durch  die  Berichte  in  der  „Naturw. 
Wochenschr."  (1913,  S.  443;  1915,  S.  189;  1919, 
S.  397,  755;  1920,  S.  508)  unterrichtet.  Doch  sei 
hier  noch  einmal  daran  erinnert,  daß  Haber- 
landt schon  1902  die  Vermutung  ausgesprochen 
hatte,  es  seien  beim  Zustandekommen  der  Zell- 
teilungen Enzyme  beteiligt,  und  daß  er  dann 
191 3  und  1914  an  Gewebestückchen  der  Kartoffel- 
knolle  usw.  die  Ausscheidung  eines  „Zellteilungs- 
stoffes"  aus  dem  Leptom  wahrscheinlich  machte, 
Ergebnisse,  die  durch  Untersuchungen  seines 
Schülers  Lamprecht  bestätigt  wurden  (Naturw. 


Wochenschr.  1919,  S.  214).  Dieser  Zellteilungs- 
stoff  würde  zu  jenen  vom  Organismus  selbst  ge- 
bildeten und  als  Vermittler  zwischen  dessen  ver- 
schiedenen Teilen  wirkenden  Reizstoffen  gehören, 
für  die  der  englische  Physiolog  H.  S  t  a  r  1  i  n  g  den 
Namen  Hormone  vorgeschlagen  und  durch 
seinen  Vortrag  auf  der  Stuttgarter  Naturforscher- 
versammlung 1906  auch  in  Deutschland  allge- 
meiner bekannt  gemacht  hat.  Es  ist  spätei 
zwischen  Reizstoffen  unterschieden  worden,  die  in 
bestimmten  Organen  in  spezifischer  Weise  ge- 
bildet werden,  und  solchen,  die  als  End-  und 
Nebenprodukte  des  Stoffwechsels  entstehen,  und 
man  wollte  nur  die  erste  als  Hormone  gelten 
lassen.  Diese  Unterscheidung  lehnt  Haberlandt 
mit  Biedl  ab;  er  spricht,  noch  weitergehend, 
auch  von  Wundhormonen,  wenn  es  sich  um 
Reizstoffe  handelt,  die  in  verletzten  oder  ab- 
sterbenden Zellen  entstehen  und  in  anderen  Zellen 
oder  auch  an  ihrer  Ursprungsstätte  physiologische 
Vorgänge,  wie  Zellteilungen,  Kallusbildungen  u.a.m., 
auslösen. 

Wenn  die  Zellteilungen,   die   im  Gefolge   von 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


593 


Verwundungen  auftreten,  wirklich  durch  solche 
Wundhormone  angeregt  werden,  so  müssen  sie 
—  das  war  Haberlandts  Voraussetzung  bei 
seinen  neuen  Versuchen  —  unterbleiben,  wenn 
die  Hormonbildung  durch  Entfernung  der  Plasma- 
reste der  verletzten  Zellen  verhindert  wird.  Um 
dies  zu  erreichen,  verfuhr  der  Verf.  in  verschiedener 
Weise.  Zunächst  schnitt  er  aus  Kohlrabi-  und 
Kartoffelknollen  je  drei  1^2  cm  hohe  Quer- 
scheiben heraus  und  spülte  von  jeder  Reihe  eine 
Scheibe  durch  einen  kräftigen  Wasserleitungsstrahl 
5 — 20  Minuten  lang  ab.  Eine  andere  Scheibe 
wurde  unverändert  gelassen,  um  die  normal  ein- 
tretenden Zellteilungen  festzustellen;  die  dritte 
wurde  wie  die  erste  abgespült  und  dann  mit 
einem  Gewebebrei  bedeckt,  der  aus  den  Rest- 
stücken der  Knolle  hergestellt  war.  Die  drei  zu- 
sammengehörigen Stücke  wurden  unter  gleichen 
Bedingungen  gehalten  und  spätestens  nach  2  bis 
3  Wochen  mikroskopisch  untersucht.  Die  mit 
der  Kohlrabiknolle  ausgeführten  Versuche  hatten 
ein  klares  Ergebnis.  Unter  den  abgespülten 
Wundflächen  traten  nämlich  die  Zellteilungen  be- 
deutend spärlicher  oder  wenigstens  in  einer  ge- 
ringeren Anzahl  von  Zellschichten  auf  als  unter 
den  nicht  abgespülten  und  unter  den  nach  der 
Abspülung  mit  Gewebebrei  bedeckten  Wund- 
flächen. Hieraus  geht  hervor,  daß  die  Teilungen 
durch  Stoffe  aus  den  getöteten  Zellen  —  Wund- 
hormone —  angeregt  werden.  Daß  unter  den 
abgespülten  Wundflächen  (ohne  Gewebebrei)  über- 
haupt noch  Zellteilungen  aufgetreten  sind,  erklärt 
Haberlandt  mit  der  Unmöglichkeit  völliger 
Entfernung  der  Plasmareste  durch  Abspülen. 
Auf  diese  Schwierigkeit  wäre  auch  das  Fehl- 
schlagen der  Versuche  mit  Kartoffelknollen  zurück- 
zuführen, auf  die  hier  nicht  eingegangen  wer- 
den soll. 

Die  Mängel  des  Abspülungsverfahrens  wurden 
bei  Versuchen  mit  Laubblättern  von  Crassulaceen, 
die  zu  den  Versuchen  wegen  der  Leichtigkeit,  mit 
der  sie  Wundkork  bilden,  besonders  geeignet  sind, 
dadurch  umgangen,  daß  zur  Herstellung  von 
Wundflächen  die  Blätter  vorsichtig  der  Länge 
nach  in  zwei  Hälften  auseinandergerissen  wurden. 
Die  Trennung  geht  ganz  glatt  längs  der  Inter- 
ze'lularspalten  und  in  den  Mittellamellen  der  Zell- 
wände vor  sich;  die  Zellen  selbst  (außer  den 
Epidermiszellen)  werden  dabei  nicht  verletzt.  Die 
eine  Blatthälfte  diente  ohne  weiteres  als  Versuchs- 
objekt; an  der  anderen  Hälfte  wurde  parallel  zur 
Rißfläche  mit  dem  Rasiermesser  eine  Schnittfläche 
hergestellt.  Beide  Hälften  wurden  nebeneinander 
in  der  Glasschale  auf  feuchtem  Sand  oder  Fil- 
trierpapier kultiviert.  Die  nachfolgende  Unter- 
suchung hatte  stets  dasselbe  Ergebnis:  Während 
unter  den  sich  bräunenden  Schnittflächen  jede 
Zelle  der  obersten  Zellschicht  sich  teilte  und 
typische  Wundkorkbildung  eintrat,  blieben  die 
Teilungen  unter  den  grün  bleibenden  Rißflächen 
fast  vollständig  aus;  nur  die  unmittelbar  an  die 
zerrissene  Epidermis    grenzenden    Mesophyllzellen 


teilten  sich  manchmal.  Hierdurch  wird  einwand- 
frei bewiesen,  daß  in  Crassulaceenblättern  zur  Aus- 
lösung der  Zellteilungen  unter  Wundflächen  Ab- 
bauprodukte der  getöteten  Protoplasten  als  Wund- 
hormone völlig  unentbehrlich  sind. 

Noch  eine  Erscheinung  mag  hier  erwähnt  sein, 
nämlich  das  häufig  beobachtete  blasenförmige 
Auswachen  der  unter  den  Rißflächen  gelegenen 
Zellen,  die  im  übrigen  ungeteilt  bleiben  (Kallus- 
blasen).  Das  Wachstum  der  Zellen  steht  also 
wenigstens  in  diesem  Falle  nicht  wie  die  Zell- 
teilung unter  dem  Einfluß  von  Wundhormonen. 
Klebs  hat  schon  darauf  hingewiesen,  daß  Volum- 
vergrößerung und  Teilung  auf  verschiedenen  Be- 
dingungen beruhende  Faktoren  sind. 

Wie  einige  weitere  Versuche  zeigten,  in  denen 
auf  die  Rißflächen  von  Crassulaceenblättern  Saft 
oder  Brei  aus  Blättern  anderer  Pflanzen  gebracht 
und  dann  das  Zellteilungsvermögen  geprüft  wurde, 
ergab  sich,  daß  die  Wundhormone  weder  art- 
noch  gattungseigen  sind,  daß  aber  manch- 
mal auch  der  Gewebesaft  einer  nahe  verwandten 
Gattung  versagt  und  daß  Säfte  aus  anderen  Fa- 
milien meist  überhaupt  nicht  wirksam  oder  gar 
schädlich  sind.  Ähnlich,  aber  etwas  enger  be- 
grenzt ist  die  Wirksamkeit  der  von  Lamprecht 
geprüften  Leptomhormone. 

Um  einzelne  Zellen  und  Zellgruppen  in  ihrem 
Verhalten  nach  mechanischen  Eingriffen  eingehend 
zu  studieren,  verwendete  Haberlandt  besonders 
mehrzellige  Haare  einzelner  sich  dazu  eignender 
Pflanzen.  Werden  Stengelhaare  von  Coleus 
Rehneltianus  mit  einer  Schere  durchgeschnitten, 
so  starb  häufig  außer  der  unmittelbar  vom  Schnitt 
betroffenen  Zelle  auch  die  darunter  befindliche 
Zelle  ab,  und  fast  nur  in  diesem  Falle  erfolgten 
Kern-  und  Zellteilungen  in  der  an  diese  an- 
grenzenden Haarzelle.  Die  Plasmareste  der  an- 
geschnittenen Zelle  trocknen  anscheinend  zu  rasch 
aus,  als  daß  sich  ihnen  Wundhormone  bilden 
könnten,  während  in  der  absterbenden  Zelle  mit 
unversehrten  Wänden  solche  vermutlich  durch 
Autolyse  entstehen  und  die  Nachbarzelle  zur 
Teilung  veranlassen.  Wenn  man  an  dem  behaarten 
Blattstiel  des  Usambaraveilchens  (Saintpaulia 
ionantha)  mit  Daumen  und  Zeigefinger  mehrmals 
auf-  und  abstreifte,  in  der  Absicht,  nur  eine  leichte 
Verletzung  der  Haare  herbeizuführen,  so  starben 
doch  meist  einzelne  Zellen  ab,  und  dann  teilten 
sich  die  darunter  liegenden  Zellen  sehr  häufig 
durch  eine  oder  mehrere  Querwände  (nach 
typischer  Kernteilung).  Bei  nur  einmaliger  Teilung 
trat  die  Querwand  im  oberen  Teile  der  Zelle  auf, 
also  der  getöteten  Zelle  genähert,  so  daß  der  An- 
stoß von  dieser  auszugehen  schien.  Doch  waren 
die  sich  teilenden  Zellen  meist  selbst  an  ihrem 
Grunde  geschädigt,  wie  das  Auftreten  von  Fälte- 
lungen zeigte,  und  es  entstand  die  Frage,  ob 
solche  Schädigung  ohne  Einfluß  einer  anderen, 
verletzten  Zelle  nicht  zur  Herbeiführung  von 
Teilungen  in  der  betroffenen  Zelle  selbst  aus- 
reicht.     Diese    Annahme    wurde    durch    die    Be- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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obachtung  bestätigt,  daß  in  Fällen,  wo  nur  die 
unterste  Zelle  eines  Haares  an  ihrem  Grunde  be- 
schädigt war,  alle  anderen  Zellen  sich  aber  unver- 
sehrt zeigten,  diese  verletzte  Zelle  sich  teilte,  wo- 
bei die  Scheidewand  im  unteren  Teile,  also  der 
geschädigten  Stelle  genähert,  auftrat.  „Es  liegt 
hier  demnach  zum  ersten  Male  der  Fall  vor,  daß 
eine  ausgewachsene  vegetative  Pflanzenzelle,  die 
nur  von  intakten  Zellen  umgeben  ist,  durch  eine 
lokale  mechanische  Verletzung  experimentell  zur 
Teilung  angeregt  wird." 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  auch  die  zahlreichen 
Beobachtungen  an  den  Haaren,  den  Epidermis- 
zellen  und  den  Spaltöffnungsschließzellen  der  Blüten- 
standachsen  von  Pelargonium  zonale,  die  die  früheren 
Ergebnisse  in  dem  einen  oder  dem  anderen  Sinne 
bestätigten,  aber  manche  Besonderheit  boten,  zu 
verfolgen.  Recht  eigentümliche  Vorgänge  traten 
an  jungen  Blattspreiten  auf,  die  mit  einer  Roß- 
haarbürste abgebürstet  worden  waren.  In  den 
basalen  Teilen  der  jüngeren,  meist  einzelligen 
Haare  dieser  Blätter  erfolgten  Einkapselungen  des 
Protoplasmas  mit  und  ohne  Zellteilungen.  Die 
angrenzenden  Epidermiszellen  nun  wuchsen  fast 
immer  mit  einem  Teil  ihrer  Außenwände  zu 
kurzen  Keulenhaaren  aus,  und  dieser  Vorgang  er- 
streckte sich  auch  auf  andere,  zwischen  den  Haaren 
belegene  Epidermiszellen,  so  daß  es  zur  Bildung 
dichter  Rasen  solcher  an  Kallus-  oder  gewisse 
Gallen-(Erineum-)Haare  erinnernden  Sprossungen 
kommt.  Sie  entstehen  nicht  an  den  Basen 
kräftigerer,  ungeschädigt  gebliebener  Haare  und 
lassen  sich  nur  durch  den  Übertritt  von  Wund- 
hormonen aus  den  verletzten  Zellen  erklären. 

Haberlandt  führt  näher  aus,  wie  der  Nach- 
weis von  Wundhormonen  (deren  chemische  Natur 
noch  unbekannt  ist)  auf  die  Teilung  alternder 
Pflanzenzellen,  auf  die  Gallenbildung  und  auf  die 
Entstehung  der  Thyllen  in  den  Gefäßen  Licht  zu 
werfen  vermag.  Besonders  anregend  und  auch 
für  die  Tierzelle  von  Geltung  sind  aber  seine  Aus- 
führungen über  die  Beziehungen  der  Wundhor- 
mone zur  künstlichen  und  natürlichen  Partheno- 
genese und  zur  Befruchtung.  Die  künst- 
liche Parthenogenese,  bei  der  Eizellen  nach  me- 
chanischer Beschädigung  in  Teilung  eintreten, 
wird  auf  Bildung  und  Wirkung  von  teilungsaus- 
lösenden  Wundhormonen  zurückgeführt.  Bei  der 
natürlichen  Parthenogenese  würden  die  Wund- 
hormone nicht  in  der  Eizelle  selbst  gebildet, 
sondern  ihr  aus  der  Umgebung  zugeführt  werden 
(bei  den  Angiospermen  etwa  aus  den  absterbenden 
Synergiden  usw.).  Für  die  normale  Befruchtung 
wird  angenommen,  daß  sich  die  Eizelle  deshalb 
teile,  weil  sie  beim  Eindringen  des  Spermatozoons 
oder  des  Spermakerns  mechanisch  verletzt  worden 
sei  und  teilungsauslösende  Wundhormone  gebildet 
habe.  Daß  diese  auch  die  weiterhin  erfolgenden 
Teilungen  herbeiführen,  wird  nicht  behauptet; 
nach  Einleitung  der  Entwicklung  können  die  sich 
teilenden  embryonalen  Zellen  selber  Teilungshor- 
mone   bilden.       Der    Einfluß     eines    chemischen 


Stoffes  aus  dem  Spermatozoon  auf  die  Ent- 
wicklungserregung der  Eizelle  ist  auch  sonst  (von 
Boveri,  Ziegler,  Loeb,  H.  Winkler  u.  a.) 
angenommen  worden.  F.  Moewes. 

Über  die  schlesische  Schwarzerde. 

Angeregt  durch  die  Arbeiten  russischer  Geo- 
logen (Glinka,  Kossowitsch  u.  a.)  haben 
neuerdings  auch  unsere  deutschen  Bodenforscher 
der  einheimischen  Schwarzerde  erhöhtes  Interesse 
entgegengebracht.  Eine  zusammenhängende  und 
erschöpfende  Darstellung  der  ostdeutschen  Schwarz- 
erde verdanken  wir  V.  Hohenstein.')  Es  kann 
nun  nach  Hohensteins  vergleichenden  Unter- 
suchungen kein  Zweifel  mehr  bestehen,  daß  auch 
unsere  ostdeutsche  Schwarzerde  eine  dem  russi- 
schen Tschernosem  gleichartige  Bildung  darstellt. 
Echte  Schwarzerde  (Tschernosem)  kommt  nach 
Hohenstein  in  Ostdeutschland  vor:  in  der 
Gegend  von  Pyritz  (Weizacker),  bei  Mewe  in 
Westpreußen,  in  der  Umgebung  von  Hohensalza 
(Kujawien)  und  im  mittelsten  Schlesien  (Silingien).*) 
Das  umfangreichste  der  ostdeutschen  Schwarzerd- 
gebiete ist  das  schlesische  oder  Silingische,  das 
einen  Flächenraum  von  lOOO — 1200  qkm  ein- 
nimmt und  schon  vor  50  Jahren  von  A.  Orth") 
eingehend  untersucht  worden  ist. 

Die  schlesische  oder  Silingische  Schwarzerde 
erstreckt  sich  von  Breslau  bis  an  den  Fuß  des 
Zobten  und  der  Strehlener  Berge.  Einige  kleinere 
Schwarzerdinseln  liegen  auch  noch  auf  der  rechten 
OJerseite.  Als  Mutterboden  kommt  hauptsäch- 
lich der  Löß  in  Betracht.  Die  humose  Rinde 
geht  im  allgemeinen  ganz  allmählich  in  den 
Untergrund  über.  Nur  stellenweise  deutet  eine 
schwach  ausgebildete  Lehmschicht  (B  Horizont  der 
russischen  Bodenforscher)  über  dem  unveränderten 
Muttergestein  (C  -  Horizont)  auf  eine  nachträg- 
liche Umänderung  der  echten  Schwarzerde  hin. 
Der  Humusgehalt  der  bis  I  m  mächtigen  Schwarz- 
erdrinde erreicht  bis  4"/o.  Die  Entstehung  der 
Silingischen  Schwarzerde  fällt  höchstwahrschein- 
lich in  einen  frühen  Abschnitt  der  Postglazialzeit 
mit  wärmerem  und  trockenerem  Klima.  Bei  einer 
gegenwärtigen  mittleren  Niederschlagsmenge  von 
550 — 600  mm  und  einer  mittleren  Jahrestempe- 
ratur von  8"  C  dürfte  sich  echte  Schwarzerde 
kaum  bilden  können.      Deshalb    ist    auch    unsere 


')  Vgl.  V.  Hobensiein,  Die  ostdeutsche  Schwarzerde, 
Internat.  Mitteilungen  f.  Bodenkunde  1919-  —  Hoffentlich  er- 
scheint auch  nun  bald  die  in  Aussicht  gestellte  Hauptarbeit 
über  die  gesamte  deutsche  Schwarzerde. 

*)  Nach  dem  germanischen  Volks'tamm  der  Silinger,  der 
im  mittelsten  Schlesien  seine  Hauptwohnsitze  hatte.  Aufler 
dem  Schwarzerdgebiet  gehört  zur  Silingischen  Landschaft 
auch  noch  das  mittelste  Odertnl  von  Ohlau  bis  zur  Weistritz- 
mündung  und  die  Hügellandschaft  an  der  oberen  Lohe.  Vgl. 
hierzu  meine  Arbeit  über  „Die  Beziehungen  zwischen  der 
Pflanzen  »lerbreitung  und  den  ältesten  raensclilichen  Siedelungs- 
stätten  im  mittelsten  Schlesien"  in  dem  nächsten  Bande  von 
Englers  bot.  Jahrbüchern, 

'j  Vgl.  A.  Orth,  Geognostische  Durchforschung  des 
schles.  Schwemmlandes.     Berlin  1872. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


?9S 


Schwarzerde  den  fossilen  oder  Reliktenböden  zu- 
zurechnen, deren  Entwicklung  in  der  Gegenwart 
längst  abgeschlossen  ist.')  Zur  Zeit  der  Schwarz- 
erdbildung besaß  das  Lößgebiet  des  mittelsten 
Schlesien  nahezu  Steppencharakter.  Reste  dieser 
einstigen  Steppenvegetation  haben  sich  noch  bis 
auf  den  heutigen  Tag  erhalten  können,  z.  B.  Salvia 
pratensis  L.,  Verbascum  phoeniceum  L.,  Lavatera 
thuringiaca  L.,  Astragalus  Cicer  L.,  A.  danicus 
Retz.,  Stachys  germanica  L.,  Ornithogalum  tenui- 
folium  Guss.,  Rosa  Jundzillii  Bess.  u.  a.  Diese 
einstige  Silingische  Schwarzerdsteppe  erwählten 
sich  die  aus  dem  Donaugebiet  zugewanderten 
Steinzeitmenschen  zu  ihrem  Hauptwohnsitz.-)  Auch 
in  der  Folgezeit,  als  das  Klima  feuchter  und  kühler 
wurde,  blieb  das  mittelste  Schlesien,  die  Silingische 
Landschaft,  dicht  besiedelt,  während  sich  das 
übrige  Schlesien  zum  größten  Teil  mit  Wald  be- 
deckte. So  konnten  sich  im  mittelsten  Schlesien 
zahlreiche  Pflanzen  lichter  und  sonniger  Örtlich- 
keiten  erhalten,  während  sie  sonst  weithin  aus- 
starben. Unser  Gebiet  war  somit  ein  bedeut- 
sames Refugium  für  während  der  Postglazialzeit 
eingewanderte  Wärmepflanzen  („Silingisches  Re- 
fugium"). So  kommt  es,  daß  die  Silingische 
Schwarzerde  auch  heute  noch  eine  ganz  eigene 
Pflanzendecke  trägt.  Schon  früher  habe  ich  die 
für  unsere  Schwarzerde  charakteristischen  Arten 
zur  schlesischen  Schwarzerdegenossenschaft  zu- 
sammen gefaßt.^)  Außer  den  vorhin  genannten 
Steppenpflanzen  gehören  auch  noch  etliche  Halo- 
phyten  (Lotus  siliquosus  L.,  L,  tenuifolius  L., 
IVIelilotus  dentatus  Pers.,  Glaux  maritima  L.  u.  a.), 
sowie  einige  Sumpf-  und  IVIoorpflanzen  (Carex 
aristata  R.  Br.,  C.  Hornschuchiana  Hoppe,  Orchis 
laxiflora  Lam.,  Gentiana  uliginosa  W. ,  Scirpus 
Tabernaemontani  Gm.  u.  a.)  dazu.  Daraus  könnte 
man  wohl  schließen,  daß  zuffiindest  während  der 
kühleren  und  feuchteren  Zeit  auch  Hygrophyten- 
vereine dem  Pflanzenbestande  der  Schwarzerde 
nicht  gefehlt  haben  können.  Einige  der  inter- 
essantesten Arten  sind  freilich  in  neuester  Zeit 
der  höchst  intensiven  Ackerbaukultur  zum  Opfer 
gefallen.  Besonders  charakteristische  Tierformen 
scheint  die  Schwarzerde  nicht  zu  beherbergen. 
Es  sei  denn,  daß  eine  gründliche  Durchmusterung 
der  niederen  Tiergruppen  einige  Belege  zutage 
fördern  sollte.  Auf  Einzelheiten  kann  hier  nicht 
weiter  eingegangen  werden.  Es  sollte  an  dieser 
Stelle  vielmehr  nur  der  allgemeine  Charakter  der 
Silingischen  Schwarzerde  in  kurzen  Strichen  ge- 
zeichnet werden.  Im  übrigen  muß  auf  die  ange- 
führte Literatur  verwiesen  werden,  besonders  auf 
Hohensteins   eingehende  Behandlung   der  ost- 

')  Ausführlicher  habe  ich  die  Entstehung  der  Silingischen 
Schwarzerde  in  einer  Arbeit  behandelt,  die  demnächst  in  den 
Beiheften  zum  botanischen  Zentralblatt  erscheinen  wird. 

'')  Vgl.  hierzu  besonders  die  Übersichtskarte  bei  E.  Wähle, 
Ostdeutschland  in  jungneolithischer  Zeit.  Mannusbibliothek 
Nr.  15,  Würzburg   1918. 

^)  Vgl.  E.  Schalow,  Mitteilungen  über  die  Pflanzen- 
decke der  schlesischen  Schwarzerde.  Verh.  Bot.  Ver.  Prov. 
Brandenburg  1915. 


deutschen  Schwarzerde,  die  auch  für  vergleichende 
Betrachtungen  der  einzelnen  ostdeutschen  Schwarz- 
erdgebiete die  nötige  Grundlage  bietet.  Eine 
übersichtliche  Behandlung  der  Pflanzendecke  auch 
der  übrigen  ostdeutschen  Schwarzerdbezirke  will 
ich  in  nächster  Zelt  an  anderer  Stelle  geben. 

E.  Schalow  (Breslau). 


Innertropische  Akklimatisation. 

In  den  Tropen,  die  etwa  -/g  der  gesamten  Erd- 
oberfläche umfassen,  stößt  nicht  nur  die  Anpassung 
von  Völkern  und  Einzelpersonen  aus  den  ge- 
mäßigten Zonen  auf  größere  oder  geringere  klima- 
tisch begründete  Schwierigkeiten,  sondern  häufig 
auch  der  Ortswechsel  tropenbewohnender  Men- 
schen selbst.  Diese  bisher  nur  wenig  beachtete 
Frage  der  innertropischen  Akklimatisation  be- 
handelt Prof.  K.  Sapper  (neben  anderen  Gegen- 
ständen) in  seiner  eben  erschienenen  Schrift  „Aus- 
wanderung und  Tropenakklimatisalion".  *)  Inner- 
halb der  Tropenzone  ist  zwar  die  Zufuhr  von 
Licht  und  Wärme  überall  erheblich  größer  als  bei 
uns,  aber  es  bestehen  doch  recht  bedeutende 
klimatische  Unterschiede,  die  durch  die  Höhenlage, 
die  Menge  und  jahreszeitliche  Verteilung  der 
Niederschläge,  den  Pflanzenwuchs  und  andere 
Umstände  bedingt  sind.  Auffallend  ist  der  Gegen- 
satz zwischen  feuchten  dumpfigen  Urwäldern  und 
trockenen  offenen  Graslandschaften.  Nur  ganz 
selten  erstreckt  sich  das  Wohngebiet  eines  Tropen- 
volkes über  eine  dieser  Landschaftsformen  hinaus, 
weitaus  die  meisten  sind  entweder  Urwald-  oder 
Graslandschaftsbewohner.  Im  allgemeinen  stellt  das 
offene  Land  die  gesündere  Umwelt  dar,  so  daß  der 
Urwaldbewohner  leichter  sich  ohne  Schaden  längere, 
Zeit  im  trockenen  Land  aufhalten  kann,  als  der 
Sabanenbewohner  umgekehrt  im  Waldgebiet ;  aber 
trotzdem  denkt  der  Urwaldbewohner  nicht  daran 
seine  Heimat  zu  verlassen,  an  die  er  gewöhnt  ist. 

Große  Sterblichkeit  unter  Tropeneingeborenen 
verursacht  das  vielfach  gebräuchliche  System  der 
Anwerbung  von  Arbeitern  für  klimatisch  anders 
geartete  Gebiete.  Auf  den  Neuhebriden  z.  B. 
kehren  nur  etwa  60  "/y  der  nach  auswärts  ange- 
worbenen Arbeiter  wieder  zurück.  Im  Jahre  191 3 
teilte  der  damalige  Gouverneur  von  Deutsch- 
Neuguinea  mit,  daß  nach  gemachten  Stichproben 
von  den  Angeworbenen  im  Verlauf  der  voraus- 
gegangenen 26  Jahre  ein  Viertel  im  Dienst  ge- 
storben war,  ja,  es  gab  Gebiete  mit  75  "/„  Ver- 
lusten. 

Noch  bedeutsamer  als  der  Akklimatisations- 
gegensatz zwischen  Feucht  und  Trocken  ist  in 
den  Tropen  der  thermische  zwischen  Hoch-  und 
Tiefland.  In  den  Höhenlagen  sind  die  Nächte 
hinreichend  kühl,  um  dem  Europäer  die  nötige 
Erfrischung  zu  bieten.  Sapper  bezeichnet  es 
als  unökonomisch,  weiße  Beamte  und  Kaufleute, 
die  nicht  unbedingt  ihrer  Beschäftigung  nach  im 


')  Würzburg  1921.     Kabitzsch  &  Mönnicb.   86  8.    7,50  M, 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Tiefland  wohnen  müssen,  dorten  festzusetzen,  weil 
sie  im  Hochland  sehr  viel  mehr  zu  leisten  und 
viel  länger  Dienst  zu  tun  vermöchten. 

Wie  groß  aber  der  Unterschied  der  Leistungs- 
fähigkeit der  Weißen  im  Hoch-  und  Tiefland  ist, 
wissen  am  besten  die  europäischen  Kaufleute 
lateinamerikanischer  Hochlandstädte,  die  Zweig- 
geschäfte im  Hafenplatz  besitzen  und  so  die 
Arbeitsleistungen  ihrer  Angestellten  im  Hochland 
mit  den  recht  minderwertigen  im  Tiefland  ver- 
gleichen können.  Im  Tiefland  verfällt  der  Euro- 
päer, der  sich  dort  anzupassen  vermochte,  schon 
nach  relativ  kurzer  Zeit  einer  so  wehgehenden 
Verweichlichung,  daß  er  den  Wechsel  in  kühlere 
Temperaturen  nur  schwer  verträgt.  Die  farbigen 
Tropeneingeborenen,  namentlich  jene  des  Tief- 
landes, können  keine  breite  thermische  Spannung 
ertragen,  sie  sind  an  eng  umgrenzte  Lebensbedin- 
gungen angepaßt.  Bei  den  mittelamerikanischen 
Indianervölkern  fand  Sapper,  daß  die  meisten 
von  ihnen  ganz  bestimmte  Wärmeansprüche  auf- 
weisen und  nur  schwer  außerhalb  der  von  alters- 
her  gewohnten  klimatischen  Bedingungen  festen 
Fuß  fassen  können.  Diese  Stenothermie  der 
Tropenbewohner  scheint  einer  der  Hauptgründe 
zu  sein  für  die  Erscheinung,  daß  tropische  Völker 
sich  so  schwer  in  anders  temperierten  Gegenden 
ansiedeln  lassen.  Die  Ursache  der  Stenothermie 
der  Tropenbewohner,  sagt  Sapper,  liegt  natür- 
lich in  der  außerordentlich  geringen  jährlichen 
Wärmeschwankung  —  namentlich  der  inneren 
Tropen  —  und  der  daraus  folgenden  Angewöh- 
nung an  eine  nur  enge  Skala  von  Wärmetönen. 
Was  darüber  hinausgeht,  wird  schwer  ertragen 
und  schädigt  unter  Umständen  die  Gesundheit. 
Die  Stenothermie  ist  am  stärksten  ausgesprochen 
in  den  feuchten  Tropenlandschaften  mit  ihren  be- 
sonders geringen  Wärmeschwankungen  und  ihrer 
schwachen  nächtlichen  Abkühlung;  innerhalb  der 
feuchten  Gebiete  sind  aber  wieder  die  tiefgelegenen 
besonders  dazu  angetan,  ihre  Bewohner  zu  ver- 
weichlichen, weil  hier  auch  die  tägliche  Wärme- 
schwankung verhältnismäßig  klein  ist.  Weniger 
ausgesprochen  ist  die  Stenothermie  in  trockenen 
Tropenlandschaften,  wo  die  Abkühlungen  während 
der  Nacht  und  die  stärkeren  Wärmeerhebungen 
am  Tage  schon  beträchtliche  Wärmeunterschiede 
veranlassen.  Neben  den  Wärmeverhältnissen 
spielen  bei  den  innertropischen  Akklimatisations- 
schwierigkeiten auch  sonstige  meteorologische 
Verhältnisse  und  andere  Umwelteinflüsse  mit, 
nicht  selten  geben  Krankheiten  den  Ausschlag. 

Die  Empfindlichkeit  gegen  Wärmeschwankun- 
gen ist  bei  den  Tieflandsbewohnern  größer  als 
bei  den  Hochlandsbewohnern;  aber  die  Gebirgs- 
anwohner  des  Tieflandes  sind  vielfach  nicht  mehr 
ganz  so  stenotherm  wie  die  Bewohner  ausgedehnter 
tropischer  Tiefebenen,  weil  von  den  Bergen  häufig 
kalte  Luftströmungen  niedergehen  und  Abkühlung 
bringen.  Die  Bewohner  von  Gebirgsorten  erlangen 
andererseits  ein  gewisses  Maß  von  Weitwärmig- 
keit  insofern,  als  jeder  größere  Marsch  sie  im  all- 


gemeinen in  verschiedene  Höhenlagen  und 
damit  auch  in  verschiedene  Wärmegebiete  führt, 
und  selbst  auf  hochgelegenen  Ebenen  durchläuft 
der  Bewohner  eine  verhältnismäßig  weite  Wärme- 
stufenleiter, weil  in  der  dünnen  Luft  die  nächt- 
liche Abkühlung  ebenso  wie  die  mittägliche  Er- 
hitzung beträchtlich  sind  und  an  manchen  Tagen 
eine  Wärmeleiter  von  25"  C  und  darüber  durch- 
laufen wird.  Die  relative  große  Wärmespannung 
des  Hochlandsbewohners  wird  noch  vergrößert, 
wenn  er  Märsche  unternehmen  muß,  die  ihn  etwa 
durch  die  Hunderte ,  unter  Umständen  ja  selbst 
Tausende  von  Metern  tiefen  Talschluchten  größerer 
Flüsse  und  Ströme  hindurchführt,  wo  in  der  Tiefe 
häufig  große  Hitze  herrscht,  während  oben  auf 
dem  Hochland  eisige  Winde  von  benachbarten 
Schneebergen  her  wehen  können.  Obgleich  daher 
in  solchen  Fällen  der  Gebirgsbewohner  ein  ge- 
wisses Maß  von  Gewöhnung  an  sehr  verschieden 
hohe  Temperaturen  erfährt,  also  eine  Art  indivi- 
dueller Eurythermie  (Weitwärmigkeit)  erwerben 
kann,  so  zeigt  doch  die  Erfahrung,  daß  auch  solche 
Hochlandsleute  bei  Übersiedlung  ins  Tiefland  ge- 
sundheitlichen Schädigungen  in  stärkstem  Maße 
ausgesetzt  sind.  Aber  freilich  wird  man  in  diesen 
Fällen  weniger  der  hohen  Wärme,  als  den  Tief- 
landskrankheiten, vor  allem  der  Malaria,  die  Schuld 
zuschreiben  müssen. 

Selbst  bei  gewissen  Agrikulturnomaden,  die 
während  einer  Jahreszeit  im  Hochland  und  wäh- 
rend der  anderen  (gewöhnlich  der  Trockenzeit) 
im  Tiefland  den  Boden  bebauen,  ist  die  Anpas- 
sung an  beide  Klimate  nicht  vollkommen.  So 
sagt  Sapper  von  den  KekchiTndianern  des  nörd- 
lichen Mittelamerika,  die  ein  Volk  von  Agrikultur- 
nomaden sind,  daß  sie  trotz  des  regelmäßigen 
Trockenzeitaufenthalts  im  Tiefland  bei  dauern- 
der Übersiedlung  in  dasselbe  leicht  Schaden 
leiden,  ja,  es  kommt  vor,  daß  binnen  kurzer  Zeit 
ganze  Familien  aussterben,  oder  daß  nach 
Jahr  und  Tag  dürftige  Reste  einzelner  Familien 
krank  und  geschwächt  ins  Hochland  zurückkehren, 
wo  sie  später  allmählich  wieder  zu  Kraft  und 
Gesundheit  kommen. 

Die  Klimaanpassung  beim  Wechsel  zwischen 
Tief-  und  Hochland  spielt  in  Amerika  und  Afrika 
die  größte  Rolle;  weniger  in  Betracht  kommt  sie 
im  tropischen  Asien,  Australien  und  Ozeanien, 
weil  dort  sowieso  die  Hauptmasse  der  Bevölke- 
rung im  Tiefland  wohnt  und  zudem  größere 
dichtbevölkerte  Hochländer  fehlen.  Trotzdem 
sind  auch  hier  die  vorhandenen  stärkeren  Er- 
hebungen wenigstens  für  den  Europäer  von  Wich- 
tigkeit, da  sie  besonders  zur  Anlage  von  Erholungs- 
stätten in  Betracht  kommen.  H.  Fehlinger. 

Die  Juau-Fernaiidez-(Robinson-)Inselii. 

Über  seine  Forschungen  in  diesem  Gebiet 
sprach  im  Naturwissenschaftlichen  Verein  in  Ham- 
burg Prof.  Dr.  C.  Skottsberg  aus  Göteborg 
(Schweden),  der  früher  Mitglied  der  Nordenskjöld- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sehen  Südpolar-Expedition  gewesen  und  dann 
1507  bis  1909  Reisen  im  südlichen  Palagonien 
und  Feuerland  gemacht  hat. 

Durch  einige  Entdeckungen  bei  seinem  kurzen 
Besuch  im  Jahre  1908  auf  den  westlich  von  Chile 
gelegenen  JuanFernandez-Inseln,  von  welchen  die 
näher  am  Lande  gelegene  Mas-a-tierra  dadurch 
eine  viel  größere  Berühmtheit  erlangte  als  alle 
anderen  dieser  kleinen  Eilande  im  weiten  Ozean, 
weil  auf  ihr  bekanntlich  die  Geschichte  des  Ein- 
siedlers Selkirk  fußt,  die  Defoe  als  Unterlage 
zu  seiner  unsterblichen  Robinson-Erzählung  diente, 
wurde  Skottsberg  dazu  veranlaßt,  eine  neue 
Expedition  zur  genaueren  Erforschung  dieses  Ge- 
biets vorzunehmen,  und  zwar  während  des  Süd- 
sommers 191 6  auf  191 7.  Dabei  wurde  er  von 
seiner  Frau  begleitet.  Nach  einem  Beschluß  der 
chilenischen  Regierung  sollten  die  Inseln  zu  einem 
Naturschutzdenkmal  erklärt  werden,  wozu  sie  sich 
besonders  eignen,  weil  sie  eine  außerordentlich 
interessante  Flora  und  Fauna  besitzen.  Für 
Deutschland  im  besonderen  ist  die  Insel  das  Denk- 
mal einer  Heldentat  seiner  Flotte  aus  dem  letzten 
Kriege,  und  großen  Dank  wußten  die  Hörer  dem 
Vortragenden  für  die  Demonstration  des  kleinen 
Heldenfriedhofs. 

IVIas-a-tierra,  360  Seemeilen  von  der  Küste, 
mißt  88  Quadratkilometer.  Sie  wird  aus  unzäh- 
ligen Basalt-  und  Agglomeratbänken  aufgebaut: 
im  östlichen  Teil  fallen  diese  gegen  Norden,  im 
westlichen  dagegen  nach  Süden  ab,  außerdem 
senkt  sich  der  schmale  Höhenkamm,  der  im  Osten 
500—800  m  mißt  und  in  dem  930  m  hohen  Berg 
El  Yunque  kulminiert,  allmählich  nach  Westen, 
so  daß  die  Insel  am  Westende  nur  75 — 100  m 
hoch  ist.  Das  Klima  wird  durch  diese  Ungleich- 
förmigkeit  stark  beeinflußt:  es  ist  ein  warmtem- 
periertes, mit  einer  durchschnittlichen  Lufttempe- 
ratur von  1 5  V2 "  j  f^^r  wärmste  IVIonat  ist  der 
Februar,  der  kälteste  der  August,  Frost  ist  nie  be- 
obachtet worden.  Da  die  Inseln  am  Ostrande 
der  südpazifischen  Antizyklonen  liegt,  so  wehen 
die  Winde  meist  aus  Süden,  und  dadurch  erhalten 
die  höheren  Teile  der  Insel  viele  Niederschläge, 
so  daß  ihre  Abhänge  fast  täglich  in  Nebel  gehüllt 
sind.  Die  Westhälfle  der  Insel  nebst  der  kleinen 
St.-Clara,  die  früher  sicher  mit  Mas-a-tierra  zu- 
sammenliing,  ist  trocken  und  waldlos,  während 
die  mittleren  höheren  und  die  östlich  gelegenen 
Teile  einen  reichen  immergrünen  Waldgürtel  mit 
Baumfarnen  und  Palmen  tragen.  Längs  des 
steilen,  ungemein  schmalen  Basaltrückens,  der  die 
Insel  durchzieht,  läuft  ein  enger  Saum,  in  dem 
die  größten  Merkwürdigkeiten  der  Flora  versam- 
melt sind.  Die  Höhen  der  Nebelregion,  in  der 
alles  von  Nässe  trieft,  zeigen  dicht  mit  Hänge- 
moosen bewachsene  Bäume.  Leider  wird  der 
Urwald  durch  eingeführte  Arten  jetzt  arg  bedroht. 

Während  auf  Mas-a-tierra  eine  kleine  Ansied- 
lung  von  etwa  200  namentlich  den  Langustenfang 
betreibenden  Fischern  vorhanden  ist,  ist  die  zweite 
Hauptinsel  der  Gruppe,  das  92  Seemeilen  weiter 


westwärts  gelegene  Mas-a-fuera,  unbewohnt. 
Ein  Hafen  fehlt.  Die  Küste  fällt  so  steil  zum 
Meer  ab,  daß  das  Landen  außerordentlich  gefähr- 
lich, um  nicht  zu  sagen  unmöglich  ist.  Früher 
war  hier  eine  chilenische  Strafkolonie  angelegt, 
die  sich  aber  nicht  halten  konnte.  Die  Insel 
stellt  einen  soliden  Block  dar,  aus  nach  Osten 
abfallenden  Schichten  gebildet,  die  hier  durch- 
schnittlich härter  sind,  so  daß  die  Täler  eine  aus- 
geprägte Canonform  erhalten  haben  mit  erstaun- 
lich enger  Talsohle  und  sehr  hohen  Steilwänden. 
Die  Westseite,  wo  der  F'elsrücken  1 500  m  erreicht, 
fällt  fast  senkrecht  in  das  Meer  ab.  Diese  Topo- 
graphie macht  die  Erforschung  der  Insel  recht 
anstrengend,  was  aber  auch  von  Mas-a-tierra  ge- 
sagt werden  kann.  Die  basale  Region  ähnelt  dem 
trockenen  Gebiet  von  Mas-a-tierra,  dann  folgt  eine 
Waldregion  und  schließlich  subalpine  Wiesen  mit 
Baumfarnen,  die  sich  am  Gipfel  zu  einem  erstaun- 
lich dichten  Farnwald  zusammenschließen.  Ober- 
halb von  1 100  m  ist  eine  alpine  Heideregion  aus- 
gebildet, wo  eine  Reihe  von  magellhanischen 
Typen  einen  weit  nach  Norden  vorgeschobenen 
Standort  haben.  Die  Blütenpflanzen  sind  zu  Zwei- 
drittel endemisch,  mit  mehreren  merkwürdigen 
endemischen  Gattungen.  Der  Wald  beider  Inseln 
ist  dem  südchilenischen  Wald  ziemlich  ähnlich, 
enthält  aber  auch  viele  Arten,  die  mit  chilenischen 
und  öfters  auch  mit  amerikanischen  überhaupt 
gar  nicht  verwandt  sind ,  sondern  deutlich  nach 
Westen  zeigende,  also  transpazifische  Beziehungen 
haben.  Dies  gilt  auch  von  der  an  der  oberen 
Waldgrenze  anzutreffenden  Flora  von  sog.  Schopf- 
oder Federbuschbäumen.  Die  eigenartigen 
Typen  sind  Thyrsopteris  (Farn),  die  baumförmigen 
Chenopodien ,  Lactoris  (eigene  Ranales  -  Familie), 
Selkirkia  (Borag.),  Cuminia  (Labiat.),  die  baum- 
förmigen Eryngien  nebst  Plantago  fernandezia, 
endlich  Centaurodendron,  Dendroseris,  Robinsonia 
und  Rhetinodendron  (Compos.).  —  Die  Tierwelt 
ist  nicht  so  zahlreich.  Am  häufigsten  kommt  die 
verwilderte  Ziege  vor,  deren  Fleisch  auch  der 
Skottsbergschen  Expedition  während  ihres 
fünfwöchigen  Aufenthalts  auf  Mas-a  fuera  zur 
Hauptsache  als  Nahrung  dienen  mußte. 

Die  Hauptergebnisse  dieser  ersten  Durch- 
forschung der  Robinsoninseln  liegen  auf  biologi- 
schem Gebiet.  Die  meisten  Arten,  von  denen 
sehr  viele  bisher  ganz  unbekannt  waren,  sind  auf 
diese  Inseln  allein  beschränkt.  Nach  Skotts- 
berg ist  die  Flora  älter  als  die  jetzigen  Inseln, 
welche  Jungtertiär  sind.  Er  glaubt,  daß  vor  der 
Auffaltung  der  Kordilleren  die  Küste  des  Fest- 
landes einen  anderen  Verlauf  hatte,  und  daß  viel- 
leicht „Groß- Juan- Fernandez"  mit  Südchile  und 
dadurch  auch  mit  Antarktis  und  Neuseeland  in 
Verbindung  stand.  Mit  der  Hebung  der  Kordilleren 
waren  Störungen  des  Meeresbodens  in  einiger 
Entfernung  verbunden,  wobei  Groß-Juan-Fernandez 
verschwand,  während  die  jetzt  vorhandenen  Insel- 
chen aufgebaut  wurden,  die  von  dem  sinkenden 
Lande    besiedelt    wurden.       Eine    direkte    Irans- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ozeanische  Verbreitung  der  Arten  glaubt  Skotts- 
berg  ablehnen  zu  müssen,  weil  dadurch  viele 
Verhältnisse  keine  befriedigende  Erklärung  finden ; 
auch  spricht  dagegen,  daß  nicht  einmal  zwischen 
den  beiden  Inseln  ein  Austausch  stattgefunden 
hat,  da  ja  nur  ein  kleiner  Teil  der  Arten  gemein- 
sam ist.  Auch  lehnt  er  bestimmt  die  Annahme 
eines  großen  pazifischen  Kontinents  wie  der  trans- 
pazifischen Landbrücken  ab.  Nach  beendigter 
Bearbeitung  des  IVIaterials  (K.  Bäcksträm  war 
als  zoologischer  Sammler  tätig)  wird  er  auf  diese 
Frage  näher  eingehen  können.  Petersen. 

Ein  Fund  eiszeitlicher  Mensclienknocheu 
in  Nordamerika. 

In  den  eiszeitlichen  Ablagerungen  Amerikas 
wurden  bisher  menschliche  Skeletreste  nicht  sicher 
festgestellt.  F.  C.  Baker  (Kurator  des  naturhisto- 
rischen Museums  der  Universität  Illinois)  schreibt 
diesbezüglich  in  einem  jüngst  erschienenen  Werke 
folgendes.')  In  der  Literatur  finden  sich  zwar  ver- 
schiedentlich Hinweise  auf  Menschenknochen  in 
glazialen  Bildungen  Amerikas,  aber  die  Nach- 
forschungen haben  fast  immer  ergeben,  daß  es 
sich  um  neuere  Bestattungen  in  älteren  geolo- 
gischen Schichten  handelt.  Vor  etwa  zwei  Jahr- 
zehnten wurden  zu  Lansing  in  Kansas  Teile  eines 
menschlichen  Skelets  in  Ablagerungen  gefunden, 
die  man  für  Löß  aus  der  letzten  Zwischeneiszeit 
hielt  (Upham,  Amer.  Geol.,  Bd.  30,  S.  135 — 150 


')  The  Life  of  the  Pleistocene  or  Glacial  Period.  Urbana, 
1930,  Uoiversity  of  Illinois. 


und  Bd.  32,  S.  185  —  187).  Spätere  Forschungen 
jedoch  lieferten  den  Beweis,  daß  jene  Skeletteile 
jüngeren  Alters  waren  als  der  Boden,  der  sie 
enthielt  (Calvin,  Chamberlain  und  Salis- 
bury   in  Journ.    of.  Geol.,    Bd.   10,    S.  745 — 779). 

In  jüngster  Zeit  wurden  wieder  im  Staat 
Florida  menschliche  Knochen  in  früh-  oder  mittel- 
pleistocänen  Schichten  gefunden,  und  zwar  bei 
Vero  an  der  atlantischen  Küste,  hauptsächlich  in 
einem  alten  Bachbette,  das  bei  Herstellung  eines 
Entwässerungskanales  freigelegt  wurde.  Vor 
diesen  Kanalbauten  waren  die  betreffenden  Ab- 
lagerungen ungestört  und  man  nimmt  an,  daß 
sowohl  die  Menschenknochen  wie  die  Wirbeltier- 
knochen derselben  Lagerstätte,  dem  mittleren  Eis- 
zeitalter zugehören  (E.  H.  Seilard s,  Humain 
Remains  and  Associated  Fossils  from  the  Plei- 
stocene of  Florida;  Annual  Report  of  the  Geol. 
Survey  of  Florida,  1916;  ebenda  1918).  Mehr 
als  die  Hälfte  der  Wirbeltiere,  deren  Reste  mit 
den  menschlichen  zusammen  zu  Vero  gefunden 
wurden,  gehören  jetzt  ausgestorbenen  eiszeitlichen 
Arten  an.  Die  Auffassung,  daß  die  Knochen- 
funde von  Vero  in  Florida  der  frühen  oder 
mittleren  Eiszeit  entstammen,  wird  auch  von  dem 
bekannten  Geologen  Dr.  Hay  geteilt  (Ann.  Re- 
port. Geol.  Surv.  of  Florida,  191 7).  Überdies 
haben  sich  R.  T.  Chamberlain,  A.  Hrdlicka, 
G.  G.  MacCurdy  und  T.  W.  Vaughan  mit 
den  neuen  Funden  befaßt  und  ihre  Ergebnisse  in 
Bd.  25  des  Journal  of  Geology  veröffentlicht. 

Die  fraglichen  Ablagerungen  liegen  weit  von 
dem  südlichsten  Rande  der  eiszeitlichen  Gletscher- 
decke entfernt.  H.  Fehlinger. 


Bücherbesprechungen. 


Meyer-Steineg,  Th.,  und  Sudhoff,  Karl,  Ge- 
schichte der  Medizin  im  Überblick 
mit  Abbildungen.  Jena  192 1,  G.  Fischer. 
Ungeb.  105  M.,  geb.  120  M. 
In  der  Reihe  der  Lehrbücher  und  Handbücher 
der  Medizingeschichte,  die  in  Bibliotheken  und  im 
Buchladen  zu  Gebote  stehen,  fehlt  seit  längerer 
Zeit  eines,  das  den  wißbegierigen  Nichtarzt  be- 
lehren und  insbesondere  auch  den  jungen  Medi- 
ziner von  der  Ersprießlichkeit  des  Geschichts- 
studiums für  seine  zukünftige  Kunst  überzeugen 
oder  ihm  einen  Vorgeschmack  der  Anregung  und 
Freude,  die  später  eine  gründliche  Beschäftigung 
mit  der  Medizingeschichte  zu  gewähren  pflegt, 
geben  könnte.  Unsere  Großväter  studierten  nach 
Vollendung  der  Universität  die  schweren  Werke 
von  Leclerc  und  Frei nd  und  Johann  Hein- 
rich Schulze  und  vertieften  sich  in  Albrecht 
von  Hallers  Annalen.  Unsere  Väter  lasen 
Wunderlichs  Vorlesungen;  lieber  noch  die 
ausführlichen  Werke  von  Curt  Sprengel  oder 
Heinrich  Haeser,  Band  für  Band.  Wir  selbst 
waren  dankbar   für  die  Grundrisse  von  Haeser, 


Hermann  Baas,  O.  v.  Boltenstern;  be- 
grüßten auch  das  biographische  Lexikon  von 
August  Hirsch  und  Buschmanns  Handbuch, 
wurden  besonders  erfreut  durch  Max  Neu- 
burgers  tiefes  Geschichtswerk,  das  sogar  ein 
paar  Bände  stärker  werden  dürfte,  wenn  es  nur 
endlich  weiter  ginge.  Keine  der  drei  Generationen 
fühlte  sich  indessen  je  verpflichtet,  ein  geschätztes 
Buch  von  Anfang  bis  zu  Ende  zu  lesen;  man 
genoß  es  schrittweise  oder  auch  stellenweise, 
nach  Zeit  und  Laune.  Die  heutige  Jugend  ist 
gründlicher  und,  bedient  durch  treffliche  Kom- 
pendien auf  allen  Gebieten,  anspruchsvoller  ge- 
worden. Sie  verlangt  einen  zusammenhängenden 
gedrängten  Vortrag  über  die  ganze  Materie,  mit 
der  sie  sich  beschäftigen  will.  Werke,  die  selber 
schon  historisch  geworden  sind,  lehnt  sie  ab. 
Bücher,  die  mehr  zum  Nachschlagen  eingerichtet 
oder  zur  Auffrischung  des  Gedächtnisses  bestimmt 
sind,  machen  ihr  keine  Freude.  Von  Paul 
Diepgens  zusammengefaßter  Geschichte  der 
Medizin  bemerkt  sie,  daß,  wer  einmal  aus  dem 
Munde    des  Verfassers    den    Gegenstand    in    fein 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


599 


abgewogener  Rede  und  edler  Klarheit  lebendig 
übernommen  habe,  sich  das  Gedruckte  gerne  zur 
Erinnerung  aufs  Bücherbrett  stelle,  sobald  auch 
das  letzte  Bändchen  vorliege.  An  Pageis  Ein- 
führung in  fünfundzwanzig  akademischen  Vor- 
lesungen, die  sie  trotz  einiger  Weitläufigkeit  ge- 
eignet für  ihren  Zweck  findet,  besonders  in  der 
durch  Sudhoff  neu  gearbeiteten  und  fortge- 
führten Ausgabe,  sieht  sie  die  äußere  Form  der 
Rede,  vermißt  aber  das  eindringliche  Wort,  das 
in  den  toten  Lettern  erstarrte.  Sie  verlangt  ein 
kurzes  Buch,  das  gedruckt  und  lebendig  zu- 
gleich ist. 

Karl  Sudhoff  in  Leipzig  und  Meyer- 
Steineg  in  Jena  haben  sich  vereinigt,  jene  Forde- 
rung zu  befriedigen  dadurch,  daß  sie  Schrift  und 
Bild  zugleich  auf  den  Leser  wirken  lassen.  Sie 
teilten  sich  in  die  Arbeit  entsprechend  der  Vor- 
liebe, womit  ein  jeder  besondere  Zeiten  der 
Medizingeschichte  erforscht  und  förderlich  durch- 
drungen hat.  Meyer  übernahm  Altertum  und 
Neuzeit,  Sudhoff  das  Mittelalter.  So  ist  ein 
Band  von  444  Seiten  in  schönem  Druck  mit  208 
trefflichen  Bildern  zustande  gekommen,  schwer 
wie  ein  Foliant;  dem  geistigen  Gewichte  nach, 
aber  auch  im  leiblichen;  er  wiegt  I150  Gramm, 
ein  Denkmal  aus  steinerner  Zeit. 

Wer  das  Buch  in  einem  Zuge  an  Wort  und 
Bild  durchwandert,  der  gewinnt  die  eindringliche 
Vorstellung  des  wechselvollen  Werdeganges  einer 
Kunst,  die,  in  ihrem  inneren  Wesen  die  einheit- 
lichste und  schlichteste  aller  Künste,  in  ihrem 
Äußern  bunt  und  vielgestaltig  wird,  wie  kaum 
eine  der  bildenden  oder  der  tönenden  Künste. 
Er  sieht  ihre  Erfindung  notwendig  hervorgehen 
aus  den  unertragbaren  Leiden  und  unheilbaren 
Schäden,  denen  das  Lebendige  von  Urbeginn  her 
schon  in  den  ersten  Spuren  ausgesetzt  ist  und 
denen  der  hoch  sich  entwickelnde  Mensch  unter- 
liegen mußte,  wenn  nicht  besondere  Hilfe  kam. 
Diese  Hilfe  übernimmt  die  große  Lehrmeisterin 
Erfahrung,  die  in  dem  Tier  und  in  der  kindlichen 
Menschheit  eine  unbewußte  und  unterbewußte 
Selbsthilfe  erregt  hatte ;  den  wachsenden  Menschen 
aber  mehr  und  mehr  zu  bewußter  Abwehr,  Ver- 
hütung und  Ausgleichung  treibt  und  dem  über 
sich  selber  nachdenkenden  Menschen  endlich  eine 
vollbewußte  Heilkunst  schenkt  mit  dem  sicheren 
Grunde  des  Gesetzes  von  Ursache  und  Folge  und 
mit  dem  übersichtlichen  Wege  des  Versuchs.  Durch 
diese  Kunst  unterscheidet  sich  der  höhere  Mensch, 
der  aus  dem  Dunklen  ins  Helle  strebt,  von  den 
Dämmervölkern,  die  im  Halbschlummer  träumend 
leiden,  den  Unbilden  der  Elemente  und  eigener 
feindseliger  Unvernunft  preisgegeben.  —  In  unbe- 
dingte Klarheit  tritt  die  Kunst  während  der  großen 
Zeit  der  Griechen  durch  den  erstaunlichen  Geist 
des  Lehrerarztes  Hippokrates.  In  seinem 
Namen  wandert  sie  von  Kos  und  Griechenland 
aus,  folgend  dem  hin-  und  wiederflutenden  Völker- 
schicksal, auf  kürzeren  und  ferneren  Wegen  zu 
neuen    und    oft    wechselnden   Pflanzstätten,    nach 


Alexandria,  Rom,  Antiochia,  Nisibis,  Edessa, 
Gundisapora,  Damaskus,  Byzanz,  Salerno,  Bagdad, 
Montpellier,  Toledo,  Paris,  Bologna,  Padua.  Mit 
dem  Ausgang  des  Mittelalters,  wo  das  wandernde 
und  kämpfende  Gedränge  der  westlichen  Menschen- 
massen sich  einigermaßen  zu  einer  ortständigen 
Entwicklung  beruhigt,  fängt  die  wissenschaftliche 
Heilkunst  überall  an  einheimisch  zu  werden.  Ihre 
Hochschulen  entstehen  in  großer  Zahl;  sie  bildet 
einen  starken  Einschlag  aller  europäischen  Kultur. 
Zwar  gehen  immer  wieder  von  einzelnen  Orten 
mit  der  Erweckung  schöpferischer  und  drängender 
Geister  neue  große  Anregungen  aus,  von  Ein- 
siedeln, London,  Paris,  Leyden,  Wien,  Tübingen, 
München ;  aber  die  Academia  hippocratica  ist  all- 
überall ;  zu  ihren  Grundsätzen,  Zielen  und  Wegen 
bekennen  sich  die  denkenden  Ärzte,  ob  sie  in 
Deutschland  oder  England,  Italien  oder  Frankreich, 
Spanien  oder  Holland,  Skandinavien  oder  Griechen- 
land, Ägypten  oder  Indien,  Rußland  oder  Amerika 
geboren  und  gebildet  werden;  europafremde  Kul- 
turen wie  die  japanische  und  die  chinesische 
werden  europäisch  durch  das  Eindringen  der  ziel- 
bewußten wissenschaftlichen  Heilkunst.  Der 
hippokratische  Geist  wird  Weltbürger  und  siegt 
überall  in  dem  heiligen  Kampf  um  das  Licht  der 
naturwissenschaftlich  gegründeten  Lebenssicherung 
über  die  Irrlichter  glückversprechender  Systeme 
und  über  die  verhüllenden  Nebel  des  Okultismus. 
Merkwürdig  ist,  wie  die  Vertreter  der  ärztlichen 
Kunst  selber  in  der  Geschichte  ruhmlos  zurück- 
treten. Sie  haben  das  Ehrendenkmal  ihres  geistigen 
Führers  im  Anfang  ihrer  Geschichte  aufgestellt; 
sie  errichten  weiterhin  noch  einzelne  Bildnisse 
mit  den  strahlenden  Namen  Celsus,  Galenos, 
Avicenna,Hohenheim,Sydenham,Boer- 
haave,  Bretonneau,  Griesinger,  Lister, 
Pettenkofer.  Aber  dazwischen  stellen  sie  weit 
öfter  in  freudiger  Anerkennung  der  Förderungen, 
welche  ihre  Kunst  von  den  Hilfswissenschaften, 
Anatomie,  Physiologie,  Pathologie,  Zoologie, 
Botanik,  Physik,  Chemie  für  und  für  erfährt,  als 
Marksteine  von  Entwicklungsepochen  Namen 
großer  Naturdenker  und  Naturforscher  auf,  Ari- 
stoteles, Theophrastus,  Albert  von  Boll- 
städt,  RogerBacon,  Lionardo  daVinci, 
Vesal,  Harvey,  Francis  Bacon  usw.  — 
Mit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  gibt  man  diesen 
Helfern  des  ärztlichen  Wissens  und  Könnens  so- 
gar schlechtweg  den  Ehrennamen  Ärzte,  auch 
dann,  wenn  sie  die  ärztliche  Kunst  nie  oder  kaum 
je  geübt  haben.  Morgagni,  Linne,  Bichat, 
Johannes  Müller,  Pasteur,  Röntgen  wer- 
den die  Heroen  des  Arztes. 

Im  großen  und  ganzen  besteht  unter  den  Ge- 
schichtsschreibern der  Medizin  eine  begründete 
Übereinstimmung  über  die  Auswahl  solcher  Vor- 
bilder; daß  der  einzelne  gelegentlich  seine  be- 
sondere Wertschätzung  übt,  ist  begreiflich,  be- 
sonders dann,  wenn  es  sich  um  jüngere  Zeiten 
handelt.  Die  Vergangenheit  sehen  wir  scharf 
und    abgeklärt;     im     unruhigen    Gewimmel    der 


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Gegenwart  scheint  uns  manche  Gestalt  über  die 
Menge  zu  ragen,  die  nachher  rasch  wieder  ein- 
schrumpft. Das  vorliegende  Buch  regt  in  seinem 
letzten  Teil  diese  Bemerkung  hier  und  da  an. 
Ein  Beispiel.  Wir  können  und  müssen  neben 
P  a  s  t  e  u  r  auch  K  och  gelten  lassen ;  aber  H  e  n  1  e 
und  Koch  als  Überschrift  der  Bakteriologie  geben, 
heißt  Phantasie  und  Wirklichkeit  ebenmäßig 
schätzen  und  dem  bedeutenden  und  bescheidenen 
Anatomen  Henle  Unrecht  tun.  In  Behrings 
Serumtherapie  eine  Fortsetzung  des  Jenn ersehen 
Gedankens  zu  sehen  und  in  der  Syphilisblutprobe 
die  Höhe  der  Serumforschung  zu  feiern,  lehnt 
die  Geschichte  gleichfalls  ab.  Sie  lächelt  aber 
über  unsere  kleinen  Liebhabereien  und  zählt  sie 
ebensowenig  wie  einige  Druckfehler  bei  der  Wert- 
schätzung eines  Buches,  das  als  Ganzes  ihren  Bei- 
fall hat. 

Das  Buch  klingt  aus  in  das  Geständnis,  daß 
unsere  Zeit  keine  Höhe  der  Heilkunst  bedeute, 
mit  der  Besorgnis,  daß  der  Medizin  völlige  Auf- 
lösung drohe,  wenn  zwei  üble  Erscheinungen  sich 
weiter  herausbilden.  Die  eine  Erscheinung  ist 
der  Versuch  ministerieller  und  staatlicher  An- 
strengungen, die  ärztliche  Kunst  in  ihren  Ver- 
tretern zu  bevormunden  und  zu  uniformieren. 
Diese  Gefahr  dürfte  nicht  groß  sein;  sie  ist  eine 
gesunde  Kraftprobe.  Die  andere  Erscheinung 
sieht  bedenklicher  aus;  sie  besteht  in  dem  wilden 
Wuchern  überflüssigen  Wissens  und  Redens  auf 
einigen  Kathedern  und  in  einer  tollen  Vielge- 
schäftigkeit zahlreicher  Praktiker.  Die  Kranken 
sind  zu  bedauern  und  die  irrenden  Ärzte,  aber 
nicht  die  Kunst.  Ihre  Geschichte  verzeichnet 
solche  Verirrungen  zur  Warnung.  Sie  selber  ist 
unverweslich  und  unsterblich.  Unsterblich  wie  sie 
ist  die  Reihe  der  großen  Lehrerärzte,  die  ihr 
reines  Bild  durch  die  Jahrhunderte  weitergeben; 
unsterblich  auch  die  fort  und  fort  sich  erneuernde 
Schar  ihrer  namenlosen  Diener,  der  stillen  Be- 
rufsärzte. G.  Sticker- Würzburg. 


Lang,  R.,  Experimentalphysik.    II.  Wellen- 
lehre und  Akustik.   Zweite  Auflage.   96  S. 
mit  69  Figuren  im  Text.     Sammlung  Göschen 
Nr.  612.     Berlin  und  Leipzig  1920,  Vereinigung 
wissenschaftlicher  Verleger   Walter   de  Gruyter 
u.  Co.     Kart.  4,20  M. 
Mit  dem   Hinweis   auf  die  vorliegende  gegen 
früher   im   wesentlichen    unveränderte  Neuauflage 
verbinden  wir  gern  die  beste   Empfehlung    dieser 
ansprechenden,    in  Form    und  Inhalt  gleich  sorg- 


fältigen kurzen  Darstellung  der  Experimentalphysik 
aus  der  Sammlung  Göschen.  Nicht  nur  derjenige, 
der  aus  allgemeinem  Interesse  für  physikalische 
Fragen  einen  ersten  Einblick  gewinnen  will,  son- 
dern auch  der  geschultere  Leser  wird  aus  Wort 
und  Bild  mit  voller  Befriedigung  Nutzen  ziehen 
können.  Besonders  anzuerkennen  ist  die  reiche 
Ausstattung  mit  klaren  schematischen  Zeichnungen, 
die  vielfach  einen  guten  Ersatz  für  das  Experiment 
bieten.  A.  Becker. 

Rohleder,    Hermann,   Monographien    über 
die   Zeugung    beim   Menschen.     Bd.  V: 
Die  Zeugung  bei  Hermaphroditen,  Kryptorchen, 
Mikrorchen  und  Kastraten.    143  Seiten.    26,60  M. 
Bd.  VII  (Ergänzungsband):  Die  künstliche  Zeu- 
gung (Befruchtung)    im  Tierreich.      128  Seiten. 
21   M.     Gr.  b".     Leipzig  192 1,    Georg  Thieme. 
Der  Verf.,    Sexualarzt    in    Leipzig,    spricht    in 
Band  V  wie  in  I  bis  VI    (I:  Normale,  pathologi- 
sche und  künstliche  Zeugung  beim  Menschen,  II: 
Zeugung    unter  Blutsverwandten ,    III :    Funktions- 
störungen beim  Manne,  IV:  Libidinöse  Funktions- 
störungen beim  Weibe,   VI:  Künstliche   Zeugung 
und    Anthropogenie,    Bastardierung    Affe  -  Mensch) 
durchaus    aus   seinem  Fache   und  offenbar  haupt- 
sächlich zu  Ärzten,  obwohl  auch  mancher  Nicht- 
arzt   den   behandelten  Gegenständen   und  Fragen 
Interesse    abgewinnen  mag,    in  Band  VII  aber  zu 
Tierzüchtern.      Alles   ist,   nach   den  vorliegenden 
2  Heften,    sehr    ausführlich    behandelt,    manches 
darin  bleibt  sicher   problematisch,    manches   „vor 
der  Hand  noch  theoretisch",  siehe  Titel  zu  Band  VI, 
so    auch    in   Band  VII,    der    trotz    solcher    Weit- 
schweifigkeiten dem  praktischen  Fisch-  und  Säuge- 
tierzüchter empfohlen  werden  kann. 

V.  Franz,  Jena. 


Literatur. 

Muckermann,  Hermann,  Neues  Leben  I.  Freiburg 
i.  Br.  '21,   Herder  &  Co. 

Nelson,  Leonhard,  Spuk,  Einweihung  in  das  Geheimnis 
der  Wahrsagerkunst  Oswald  Spenglers  und  sonnenklarer  Be- 
weis der  Unwiderleglichkeit  seiner  Weissagungen  nebst  Bei- 
trägen zur  Physiognomik  des  Zeitgeistes.  Leipzig  '21,  Verlag 
der  neue  Geist,  Dr.  Peter  Reinhold.  Brosch.  6  M.,  geb. 
25  M. 

Lehmann,  W. ,  Energie  und  Entropie.  Berlin  '21, 
Julius  Springer.     5,40  M. 


Druckfehlerberichtigung. 

In  Nr.   37,    S.  529,    Sp.   I,    Z.   12    v.    o.    mufl    es    heißen: 
,, kosmischen"  statt  „komischen". 


Inbalt:  K.  Kuhn,  Neuere  Erfolge  von  Maxwells  Theorie  der  Elektrizität.  (6  Abb.)  S.  585.  Franz  Heikertinger, 
Täuschende  Ähnlichkeit  mit  Wespen  und  Bienen  (Sphekoidie).  S.  589.  —  Einzelberlchte:  G.  Haberlandt,  Wund- 
hormone  als  Erreger  von  Zellteilungen.  S.  592.  V.  Hohenstein,  Über  die  schlesische  Schwarzerde.  S.  594.  K. 
Sapper,  Innertropische  Akklimatisation.  S.  595.  C.  Skottsberg,  Die  Juan-Fernandez-(Robinson-)Inseln.  S.  596. 
F.  C.  Baker,  Ein  Fund  eiszeitlicher  Menschenknochen  in  Nordamerika.  S.  598.  —  Bücberbesprechungen :  Th. 
Meyer-Steineg  und  Karl  Sudhoff,  Geschichte  der  Medizin  im  Überblick  mit  Abbildungen.  S.  598.  R.  Lang, 
Experimentalphysik.  II.  Wellenlehre  und  Akustik.  S.  600.  H.  Rohleder,  Monographien  über  die  Zeugung  beim 
Menschen.  S.  600.  —  Literatur:  Liste.  S.  600    —  Druckfehlerberichtigung.  S.  600. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  rn.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  gaofen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  i6.  Oktober  1921. 


Nummer  43. 


Die  Haut  der  Schnecken  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Lebensweise. 

(Vortrag,  gehalten  am  12.  Juli  1920  in  der  Niederrheinischen  Gesellschaft   für  Natur-  und 

Heilkunde  zu  Bonn.) 

Von  Dr.  A.  Herfs. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit  5  Abbildungen. 


Will  man  die  mannigfaltige  Ausbildung  der 
Drüsenhaut  bei  den  verschiedenen  Schnecken  ver- 
stehen, so  muß  man  sich  zwei  Dinge  klar  vor 
Augen  halten,  einmal  daß  der  Organismus  ein 
historisch  gewordenes  Gebilde  darstellt,  das  viel- 
fach unter  ganz  anderen  Bedingungen  entstanden 
ist,  wie  es  heute  lebt,  und  dann  daß  der  Orga- 
nismus in  enger  Korrelation  mit  seiner  Umwelt 
steht,  und  jede  Veränderung  der  Umwelt  in  der 
Organisation  der  Lebewesen  zum  Ausdruck  ge- 
bracht wird. 

Die  Urheimat  der  Schnecken,  wie  überhaupt 
aller  Lebewesen,  ist  das  Wasser,  das  IWeer.  „Im 
Feuchten  ist  Lebendiges  entstanden",  sagt  Goethe 
im  IL  Teil  des  Faust,  und  ebenda  in  der  Klassi- 
schen Walpurgisnacht  preist  Thales-Goethe 
den  Ozean  als  das  ewig  lebenspendende  und 
lebenerhaltende  Prinzip.  Schon  die  jonischen 
Naturphilosophen  Thaies  und  Anaximandros 
von  Milet  haben  diese  Lehre  vertreten. 

Im  Laufe  der  Erdperioden  haben  dann  eine 
Reihe  von  tierischen  Meeresbewohnern  in  lang- 
samer, steter  Umwandlung  und  Anpassung  sich 
zu  Landtieren  umgebildet.  Das  war  aber  nur 
bei  solchen  Tieren  möglich,  die  noch  umwandel- 
bare, plastische  Anlagen  besaßen,  die  einer  neuen, 
teils  sehr  weitgehenden  Anpassung  fähig  waren. 
Tiere,  die  wie  die  Zölenteraten  und  Echinodermen 
sich  bereits  zu  weitgehend  und  einseitig  an  das 
Meer  angepaßt  hatten  mit  ihrer  vielfach  fest- 
sitzenden, strudelnden  Lebensweise  und  dem  durch 
die  Lebensweise  bedingten  radiären  Bau,  waren 
zu  Anpassungen  an  das  Landleben  nicht  mehr 
geeignet  und  sind  so  ausschließlich  Wasserbe- 
wohner geblieben. 

Drei  große  Tiergruppen  haben,  jedoch  jede  für 
sich,  durch  besondere  in  ihrer  Organisation  be- 
gründete Anpassungen  das  Land  als  neues  Lebens- 
gebiet erobert.  Zuerst  nenne  ich  als  typische 
Landeroberer  die  Insekten  und  Spinnen.  Die 
Cuticula  ist  hier  auf  der  ganzen  Körperoberfläche 
zu  einem  festen  Chitinpanzer,  der  ein  vortreff- 
licher Schutz  der  inneren  Organe  gegen  Aus- 
trocknung ist,  umgebildet.  Das  feste  Chitinske- 
let  ermöglicht  erst  die  Entwicklung  von  Hebel- 
gliedmaßen und  bietet  ferner  durch  die  ins  Körper- 
innere vorspringende  Leisten  und  Skulpturen  des 
Chitinskelets  die  nötigen  Ansatzstellen  für  eine 
stark  ausgebildete  Bewegungsmuskulatur.  Alle 
diese  Baueigentümlichkeiten   der  Arthropoden  er- 


möglichen ihrerseits  wieder  eine  schnelle  Fort- 
bewegung auf  dem  Lande  bzw.  in  der  Luft.  Dies 
alles  macht  neben  den  Anpassungen,  die  auch 
das  Atemsystem  durch  völlige  Verlagerung  in 
das  Körperinnere  besonders  für  das  Trockenluft- 
leben umgestalteten,  die  Insekten  und  Spinnen 
unter  den  Arthropoden  zu  typischen  Landbe- 
wohnern. Von  diesem  Gesichtspunkte  wird  es 
uns  verständlich,  daß  mehr  als  *j^  aller  rezenten 
Landtiere  Insekten  sind. 

Unter  den  Wirbeltieren  sind  Reptilien,  Vögel 
und  Säuger  echte  Landtiere  geworden.  Einmal 
wird  die  Körperoberfläche  durch  eine  dicke  Haut 
bzw.  durch  ein  Feder-  oder  Haarkleid  vor  dem 
Austrocknen  geschützt.  Dann  ist  auch  hier  — 
wenn  auch  in  anderer  Weise  wie  bei  den  Arthro- 
poden —  das  Atemsystem  völlig  in  das  Körper- 
innere verlegt.  Vor  allem  aber  ist  es  die  Er- 
werbung des  „Doppelten  Blutkreislaufes"  und  da- 
durch bedingt  das  Auftreten  der  Warmblütigkeit, 
die  die  Warmblüter,  oder  besser  gesagt  die 
Homoiothermen,  die  Vögel  und  Säuger,  von  den 
äußeren  Lebensbedingungen  des  Klimas  völlig 
unabhängig  machen  und  sie  alle  Landgebiete  vom 
eisigen  Pol  bis  zu  den  heißen  Wüsten  der  Äquator- 
länder erobern  lassen.  Die  Warmblüter  haben 
eigentlich  nie  ihr  Medium,  das  Wasser,  verlassen. 
Sie  leben  noch  immer  und  überall,  in  den  arktischen 
wie  auch  in  den  tropischen  Ländern,  im  warmen 
Tropenmeere,  das  in  Form  des  warmen  Blutes 
den  ganzen  Körper  durchströmt. 

Als  dritte  landerobernde  Gruppe  nenne  ich 
die  Gastropoden,  die  Schnecken.  Hier  sind  es 
wieder  ganz  andere  Eigenschaften,  die  beim  Über- 
gang zum  Landleben  besonders  ausgebildet  oder 
umgestaltet  werden.  Aber  die  Anpassungen  der 
Schnecken  sind  wieder  ganz  anderer  Art  wie  bei 
den  Insekten  und  den  Wirbeltieren.  Die  Kiemen 
schwinden,  und  an  ihre  Stelle  tritt  die  gefäßreiche 
Mantelhöhle  als  Atemorgan,  als  Lunge  auf.  Eine 
starke  Cuticula  aber,  die  etwa  zu  einem  Haut- 
panzer erstarrte,  wird  hier  nicht  gebildet.  An 
Stelle  des  Hautpanzers  tritt  die  Schale,  die  von 
bestimmten  Hautstellen  ausgeschieden  wird.  Doch 
bedeckt  die  Schale  beim  kriechenden  Tier  nur 
den  Eingeweidesack.  Der  übrige  Körper  bleibt 
ungeschützt.  Infolge  des  Mangels  eines  Haut- 
skelets  fehlen  auch  die  Ansatzstellen  für  eine 
stark  entwickelte  Bewegungsmuskulatur.  Eben- 
sowenig    können    Hebelghedmaßen     ausgebildet 


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werden.  Damit  ist  eine  schnelle  Bewegung  auf 
dem  Lande  für  die  Schnecken  völlig  ausge- 
schlossen. Die  Schnecke  ist  durch  ihre  ganze 
Organisation  zur  Langsamkeit  verurteilt.  Schnelle 
Flucht  kann  ein  Tier  am  sichersten  feindlichen 
Nachstellungen  wie  auch  den  austrocknenden 
Strahlen  der  Sonne  entziehen.  Für  die  langsame 
Schnecke  müßten  aber  die  heißen  Sonnenstrahlen 
und  feindliche  Absichten  anderer  Tiere  unbedingt 
in  jedem  Falle  verhängnisvoll  werden,  wenn  nicht 
andere  Anpassungen  schützend  aufträten.  Ein- 
mal ist  es  die  Schale,  in  die  sich  das  Tier  bei 
Austrocknungsgefahr  und  bei  räuberischen  Nach- 
stellungen sogleich  zurückziehen  kann,  dann  sind 
es  besondere  Anpassungen  des  Drüseninteguments 
der  Schnecken.  Die  Haut  ist  weich,  ihr  Epithel 
einschichtig.  Es  besitzt  meist  nur  eine  zarte 
Cuticula.  Dafür  aber  sind  die  Hautdrüsen  um  so 
stärker  und  besser  ausgebildet.  Das  Sekret  dieser 
Hautdrüsen  ist  stark  hydrogel,  d.  h.  es  besitzt 
ein  großes  Bindungsvermögen  für  Wasser.  Das 
Hautdrüsensekret  hält  die  Haut  stets  feucht  und 
verhindert  so  das  Austrocknen.  Ich  muß  aller- 
dings hier  betonen,  daß  nur  das  Sekret  einer 
Hautdrüsenform  die  Schutzfunktion  gegen  Aus- 
trocknung besitzt.  Die  anderen  Hautdrüsenformen 
scheinen  eine  andere  Funktion  zu  besitzen.  Doch 
davon  später. 

Auch  die  Schnecke  verläßt  also  nie  ihr  Medium, 
das  Wasser.  Sie  trägt  es  stets  in  kleinen  Brunnen, 
in  Form  ihrer  Hautdrüsen,  mit  sich  herum.  Wir 
sehen  also,  in  drei  großen  Tiergruppen  vollzieht 
sich  der  Übergang  zum  Landleben  unabhängig 
voneinander  durch  besondere  in  der  Organisation 
der  Lebewesen  bedingten  Anpassungen.  Wenn 
man  auch  zugeben  muß,  daß  die  Schnecken  sich 
sicher  nicht  so  weitgehend  an  das  Landleben  an- 
gepaßt haben  wie  die  Insekten  und  die  Warm- 
blüter unter  den  Wirbeltieren,  so  muß  man  anderer- 
seits immerhin  berücksichtigen,  daß  sie  selbst  bis 
in  die  Wüste  vorgedrungen  sind;  so  lebt  Helix 
lactea  in  der  Sahara  (bei  einer  Mittagstemperatur 
von  1 10"  F,  61,1"  C).  Aucapitaine  sammelte 
in  einer  Kalkgrube  der  Sahara  bei  einer  Tempe- 
ratur von  67,7"  C  Helix  lactea,  wo  es  5  Jahre 
nicht  mehr  geregnet  hatte.  Nachdem  sie  3^/0  Jahre 
noch  in  einer  Schachtel  gelegen  hatte,  lebte  sie 
nach  Befeuchtung  wieder  auf.  Allerdings  darf 
man  nicht  vergessen,  daß  in  den  Wüstengegenden 
häufig  starker  Nachttau  eintritt,  der  den  Tieren 
das  nötige  Wasser  bietet.  Auch  darf  man  durch- 
aus nicht  denken,  daß  die  Schnecken  jener  heißen 
Gegenden  etwa  Kümmerformen  seien,  die  im 
Kampf  ums  Dasein  mit  stärkeren  Formen  in  die 
Wüste  gedrängt,  hier  ein  notdürftiges  Leben 
fristen.  Die  klimatischen  Verhältnisse  jener 
Gegenden  müssen  wohl  für  diese  Formen  recht 
günstig  sein;  denn  sonst  könnte  man  sich  nicht 
erklären,  daß  z.  B.  Helix  pisana  der  Sahara 
größer  und  kräftiger  wird  wie  die  gewöhnliche 
europäische  Form.  Doch  muß  man  sich  immer 
die  Tatsache  vor  Augen  halten,  daß  die  Schnecken 


nur  im  Feuchten  eine  aktives  Leben  führen  können. 
Solange  die  Sonne  brennt,  halten  sie  sich  im  Ge- 
häuse zurückgezogen.  Erst  Regen  oder  Tau 
lockt  sie  aus  ihrem  Hause  heraus.  Die  Schnecken 
sind  so  im  eigentlichen  Sinne  Jünger  des  Thal  es, 
Verehrer  des  feuchten  Prinzips,  wie  umgekehrt 
die  Reptilien  dem  Feuer  Heraklits  als  leben- 
spendendem Prinzip  huldigen.  Bei  kühleren 
Temperaturen  liegen  sie  träge,  scheinbar  ohne 
Leben,  erst  die  glühenden  Sonnenstrahlen  schaffen 
in  ihnen  wieder  ihre  alte  Heimat,  das  zum  Leben 
nötige  Tropenmeer,  und  dies  weckt  alle  ihre 
Lebensgeister,  so  daß  sie  äußerst  regsame  und 
behende  Gesellen  werden,  wie  jeder  Besucher  der 
Mittelmeerländer  bestätigen  kann. 

Nun  will  ich  bei  den  Schnecken  kurz  einmal 
den  Versuch  wagen  zu  zeigen,  wie  die  verschiedenen 
Lebensbedingungen,  besonders  der  Wechsel  dieser 
Bedingungen  beim  Obergang  vom  Wasser-  zum 
Landleben,  Drüsenhaut  und  Schale  beeinflussen, 
und  wie  Drüsenhaut  und  Schale  in  engerer  Kor- 
relation stehen. 

Zunächst  muß  ich  hier  eine  kurze  Übersicht 
über  die  Hautdrüsen  der  Schnecken  bringen.  Da 
ist  vor  allem  stark  zu  betonen,  daß  es  sich  bei 
den  Drüsen  der  Schnecken,  wie  bei  allen  Wirbel- 
losen stets  um  einzellige  Drüsen  handelt,  d.  h. 
die  Drüse  wird  stets  nur  von  einer  einzigen  Zelle 
gebildet.  Vielzellige  Drüsen,  vielzellige  Haut- 
drüsen, wie  wir  sie  z.  B.  bei  den  Amphibien 
finden,  haben  wir  bei  den  Mollusken  keineswegs. 
Früher  hielt  man  allerdings  die  subepithelialen 
Hautdrüsen  der  Schnecken  für  vielzellige  Gebilde. 
So  beschreibt  Semper  1850  die  Hautdrüsen  der 
Schnecken  als  vielzellig,  indem  er  die  Schleim- 
granula für  Kerne  ansah.  Der  wirkliche  Kern 
ist  im  reifen  Zustande  der  Drüsen  vielfach  schwer 
zu  sehen,  weil  er  als  ganz  flaches  sichelförmiges 
Gebilde  der  basalen  Zellwand  eng  anliegt.  Die 
Drüsezelle  hielt  Semper  so  für  eine  vielzellige 
Drüse,  etwa  vergleichbar  mit  einer  Hautdrüse  vom 
Frosch.  Dieser  Irrtum  war  aber  nur  auf  die  noch 
mangelhafte  mikroskopische  Technik  —  die  Färbe- 
methoden fehlten  ja  damals  noch  gänzlich  —  zu- 
rückzuführen. Während  man  nun  bald  die  ein- 
zellige Natur  der  Hautdrüsen  leicht  erkannte,  ist 
das  für  Drüsegebilde  wie  die  sog.  Fußdrüse  der 
Landschnecken  schwieriger.  Die  „Fußdrüse"  ist 
aber  auch  nichts  weiter  wie  eine  schlauchartige 
Einstülpung  der  äußeren  Körperhaut  über  der 
Sohle,  deren  Zellelemente  sich  hier  vielfach  zu 
subepithelialen  Drüsen  umwandeln,  die  infolge  der 
Einstülpung  dieser  Hautstelle  anstatt  auf  die 
Körperoberfläche,  in  das  entstandene  Rohrlumen 
einmünden,  das  vorn  auf  dem  vorderen  Fußrande 
ausmündet.  Um  kurz  die  Funktion  dieser  Fuß- 
drüse zu  erwähnen,  will  ich  bemerken,  daß  sie 
den  Hauptteil  des  Kriechschleimes  liefert.  Also 
alle  Drüsen,  insbesondere  alle  Hautdrüsen  der 
Schnecken  sind  einzellige  Gebilde. 

Wir  unterscheiden  in  der  Schneckenhaut: 
I.  epitheliale  und  2.  subepitheliale  Drüsen.     Epi- 


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thelial  nennen  wir  sie  dann,  wenn  die  Drüsen- 
zellen noch  völlig  im  Epithelverbande  liegen 
(Abb.  I  u.  2).  Sie  haben  meist  eine  rundliche 
ovale  Form  und  unterscheiden  sich  einmal  dadurch 
von  den  gewöhnlichen  Epithelzellen,  dann  natür- 
lich durch  ihr  meist  intensiv  gefärbtes  Sekret  und 
die  stets  basale  Lage  des  Kerns  in  den  Drüsen. 
Zweifellos  aber  sind  diese  Drüsen  nichts  anderes 
wie  sekretorisch-umgewandelte  Epithelzellen. 


Abb.   I.      Epitheliale 
Drüsen  von  Paludina. 

b  =  basophile, 

a  =  acidophile  Drüse, 

k  =  Drüsenkern, 

f  =  fadenförmiger 

Fortsatz. 


Abb.  2.     Epitheliale  Drüsen  von 

Cyclostoma. 

b  =  basophile,  a  =  acidophile  Drüse. 

k  =  Kern,    c  =  Cuticula, 

o  =  Drüsenöffnung. 


Die  subepithelialen  Drüsen 
sind  meist  größere  Zellgebilde, 
die  sich  tief  ins  Bindegewebe 
einsenken  und  nur  mit  einem 
mehr  oder  minder  schmalen 
Ausführgang  durch  das  Epi- 
thel auf  die  Hautoberfläche 
ausmünden.  Der  Kern  liegt 
meist  in  dem  basalen  bauchi- 
gen Teil  der  Zelle.  Vielfach 
ist  die  Gestalt  bauchig,  sack- 
artig oder  mehr  flaschenför- 
mig.  Diese  subepithelialen 
Drüsen  (Abb.  3 — 5)  haben 
wir  uns  ebenfalls  aus  Epithelzellen  entstanden 
zu  denken.  Infolge  ihrer  bedeutenden  Größen- 
entwicklung sind  sie  nicht  auf  dem  Stadium 
epithelialer  Drüsen  stehen  geblieben,  sondern  sind 
aus  dem  Epithelverbande  herausgetreten  und  tief 
ins  subepitheliale  Gewebe  eingesunken. 

Sowohl  bei  den  epithelialen  wie  bei  den  sub- 
epithelialen Drüsen  müssen  wir  zwei  besondere 
Gruppen  unterscheiden :  i.  basophile  Drüsen,  deren 
Sekret  sich  mit  basischen  Farbstoffen  wie  Häma- 
toxylin  Delaf.,  Thionin,  Toluidin  usw.  meist  in- 
tensiv färben,  und  2.  acidophile  Drüsen,  die  sich 
mit  sauren  Farbstoffen  wie  Eosin,  Lichtgrün  usw. 
färben. 

Sehen  wir  nun  zu,  welche  Verhältnisse  im 
Drüsenintegument  wir  bei  den  verschiedenen 
Schneckengruppen  vorfinden.  Interessant  ist  es, 
daß  die  unstreitig  primitiven  Chitonen  nur 
epitheliale  Hautdrüsen  besitzen,  und  zwar  sowohl 
in  der  Sohle  wie  in  der  Haut  der  Körperseiten 
kommen  nur  epitheliale  Drüsen  vor.  Man  könnte 
wohl  bei  diesen  im  ganzen  anatomischen  Bau  noch 
sehr  primitiven  Formen  auch  ursprüngliche  Verhält- 
nisse im  Bau  der  Drüsenhaut  erwarten,  und  somit 
die  epithelialen  Drüsen  als  den  Ausdruck  allge- 
mein  noch  primitiver   morphologischen  Differen- 


zierung ansehen.  Doch  muß  man  sehr  vorsichtig 
sein,  dann  den  Schluß  zu  ziehen:  Weil  Chiton 
eine  primitive  Form  ist,  sind  hier  noch  keine  sub- 
epithelialen Drüsen  aufgetreten.  Treten  doch  sub- 
epitheliale, basophile  Drüsen  schon  bei  den  Ne- 
mertinen,  den  Schnurwürmern  des  IVIeeres  auf. 
Man  muß  hier  vor  allem  die  Lebensweise  der 
Chitonen  berücksichtigen.  Meist  sitzen  die  Chi- 
tonen in  der  Brandungszone  dem  Felsen  fest  an- 
gesaugt völlig  ruhig  und  ganz  bedeckt  von  der 
schildförmigen  Schale.  So  ist  der  Weichkörper 
der  Außenwelt  wenig  ausgesetzt,  und  deshalb  wird 
wohl  wenig  Schleim  benötigt,  der  hier  irgendeine 
Schutzfunktion  haben  könnte.  Auch  scheinen  die 
Chitonen  sehr  wenig  zu  kriechen.  Sie  bedürfen 
dann  auch  keiner  großen  und  vielen  subepithelialen 
Drüsen  und  kommen  selbst  auf  der  Sohle  mit 
epithelialen  Drüsen  aus. 

Unter  den  Conchifera  sind  wohl  nach  ihrer 
ganzen  Organisation  die  Prosobranchier  die 
primitivsten.  Als  Meeresform  nenne  ich  Patella. 
Das  Sohlenepithel  ist  reich  an  epithelialen  Drüsen. 
Subepitheliale  Drüsen  treten  nur  im  vorderen 
Sohlenteil  einigermaßen  zahlreich  auf.  Zum  Hinter- 
ende hin  nehmen  sie  an  Zahl  stark  ab.  Vereinzelt 
kommen  auch  auf  der  übrigen  Haut  subepitheliale 
Drüsen  vor.  Die  Lebensweise  von  Patella 
ähnelt  sehr  der  von  Chiton.  Auch  Patella 
sitzt  meist  träge  und  unbeweglich  an  den  Felsen 
der  Brandungszone  festgesaugt,  und  sie  scheint 
nur  sehr  wenig  umherzukriechen.  Als  Süßwasser- 
form habe  ich  Paludina  vivipara  genauer 
untersucht.  Bei  Paludina  kommen  in  der  gan- 
zen Haut  mit  Ausnahme  der  Sohle  nur  epitheliale 
Drüsen  vor  und  zwar  basophile  wie  acidophile 
Drüsen.  Die  basophilen  Drüsen  sind  aber  ent- 
schieden in  der  Überzahl.  Wie  erklärt  sich  nun 
das  Fehlen  der  subepithelialen  Drüsen  bei  Palu- 
dina? Paludina  gehört  zu  den  operculaten 
Prosobranchiern,  d.  h.  sie  trägt  auf  dem  Schwanz 
einen  Deckel  aus  Conchiolinsubstanz.  Mit  diesem 
Deckel  verschließt  das  Tier,  wenn  es  sich  ins 
Gehäuse  zurückzieht,  dieses  fest  und  sicher.  Auf 
diese  Weise  kann  Paludina  sich  völlig  von  der 
Außenwelt  abschließen  und  sich  allen  Gefahren 
und  Unbilden,  besonders  bei  ungünstigen  Lebens- 
bedingungen, wie  sie  vor  allem  beim  Austrocknen 
des  Gewässers  entstehen  können,  schnell  entziehen. 
So  reichen  hier  wieder  die  basophilen,  epithelialen 
Drüsen  völlig  aus,  um  die  Haut  stets  mit  einer 
gallertigen  Schicht  zu  überziehen,  die  die  direkte 
Berührung  des  Wassers  mit  der  Körperhaut  ver- 
hindern soll  und  eine  osmotisch  wirksame  Schutz- 
hülle bildet.  Daß  die  acidophilen  Drüsen,  denen 
ich,  wie  später  noch  ausgeführt  werden  soll,  eine 
Wehrfunktion  gegen  feindliche  Angriffe  zuschrei- 
ben möchte,  so  selten  sind,  erklärt  sich  sicher 
aus  dem  Umstände,  daß  die  Schnecken  allen 
Nachstellungen  durch  Flucht  ins  Gehäuse 
und  Schließen  desselben  mit  dem  Deckel  leicht 
aus  dem  Wege  gehen  können.  Während  Palu- 
dina   als    eine    Schnecke,    die    stets  Wasserform 


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war  und  geblieben  ist,  so  keineswegs  eines  stark 
ausgeprägten  Trockenschutzes  bedurfte,  den  der 
reichliche  Schleim  großer  subepithelialen  Drüsen 
gewähren  kann,  mußten  die  Hautdrüsen  an  solchen 
Stellen,  wo  besonders  viel  Schleim  benötigt  wird, 
dem  Prinzip  der  Raumökonomie  folgend,  in  die 
Tiefe  des  Gewebes  einsinken.  So  entstehen  dann, 
wie  beispielsweise  auf  der  Sohle,  die  den  Kriech- 
schleim liefert,  der  die  Reibung  zwischen  Tier 
und  Unterlage  herabsetzen  muß,  subepitheliale 
Drüsen. 

Zum  Vergleich  bringe  ich  noch  einen  land- 
bewohnenden Prosobranchier,  Cyclostoma 
e  1  e  g  a  n  s ,  eine  einheimische  wärmeliebende  Form, 
die  hier  bei  Rolandseck  die  nördlichste  Ver- 
breitung hat.  Bei  Cyclostoma  finden  wir 
überhaupt  keine  subepiihelialen  Hautdrüsen,  auch 
in  der  Sohle  nicht.  Letztere  Tatsache  erklärt 
sich  wonl  aus  der  eigenartigen  von  allen  übrigen 


bei  Paludina  und  Cyclostoma.  Bei  Palu- 
d  i  n  a  sind  die  basophilen  Drüsen  stets  sehr  stark 
basophil  und  färben  sich  intensiv  blauschwarz  mit 
Hämatoxylin  (Del.).  Anders  bei  Cyclostoma 
elegans.  Hier  scheinen  die  basophilen  Drüsen 
stets  nur  sehr  schwach  basophil.  Sie  zeigen  meist 
ein  durchsichtiges,  nur  blaßblau  gefärbtes  Sekret 
von  schaumig  -  wabiger  Struktur.  Interessant  ist 
ferner  die  eigenartige  Anpassung  der  epithelialen 
Drüsen  bei  Paludina  an  die  verschieden  hohen 
Epithelstellen.  In  niederem  Epithel  haben  wir 
rundlich  ovale  epitheliale  Becherzellen  (Abb.  I  b). 
In  mittelhohem  Epithel,  wie  z.  B.  in  der  Sohle, 
nimmt  die  epitheliale  Drüse  die  Form  einer  um- 
gekehrten Flasche  an  (Abb.  i).  An  den  sekret- 
haltigen  Drüsenbauch,  der  stets  in  den  distalen 
oberen  Epithelbezirken  liegt,  setzt  sich  basal  ein 
halsartiger  Fortsatz  an,  der  ebenfalls  noch  Sekret 
enthält.     Im  basalen,   unteren   Teil   dieses  Halses 

liegt  stets  der  Kern, 
der  in  diesem  Teile 
dann  den  Hals  völlig 
ausfüllt,  und  so  nicht 
von  Sekret  überdeckt 
wird.  Der  Kern  ist 
darum  meist  sehr  gut 
zu  sehen.  Er  sitzt 
dem  Halsteil  auf  wie 
der  Pfropfen,  einer 
Flasche. 

In  ganz  hohen  Epi- 
thelsteilen wie  im 
Rüsselepithel  liegt  die 
so  gebildete,  flaschen- 
förmige  epitheliale 

Drüsenzelle  stets  nur 
in  dem  oberen  Epithel- 
bezirk. Basal  am  Kern, 
der  meist  etwa  auf 
halber  Epithelhöhe 
liegt,  setzt  sich  ein 
feiner,  fadenförmiger 
Fortsatz  an,  der  die 
Drüsenzelle  in  der 
Epithelbasis  verankert 
(Abb.  if).  Bei  Cy- 
clostoma (Abb.  2) 
Schnecken  verschiedenen  schrittweisen  Fortbe-  ist  dies  nie  der  Fall.  Hier  reicht  die  Sekretzelle 
wegung  von  Cyclostoma.  Wir  haben  also  bei  mit  dem  Sekretbauch  stets  bis  zur  Epithelbasis. 
Cyclostoma  in  der  ganzen  Haut  nur  epitheliale      Es    bildet   sich  in  keinem  Falle   ein  basaler  Hals- 


Abb.   3.     Kalkschleimdrüse.  Abb.  4.   Echte  Schleimdrüse.       Abb.  5.     Acidophile  Drüse. 

Abb.  3 — 5.      Subepitheliale  Drüsen  der  Pulmonaten, 
s  =  Drüsensekret,  k  =  Drüsenkern,  p  =  Protoplasmarest, 
e  =  Epithel,  a  =  Ausführgang,  o  =  Drüsenöffnung. 


Drüsen,  zahlreiche  basophile  und  nur  wenige  aci 
dophile.  Die  Erklärung  für  die  oberflächliche 
Lage  der  Hautdrüsen  bei  einer  Landschnecke,  und 
besonders  noch  bei  einer  wärmebildenden  Form 
wie  Cyclostoma  liegt  wohl  wiederum  in  dem 
Vorhandensein  eines  Deckels.  Dieser  Deckel  ist 
übrigens  bei  Cyclostoma  relativ  viel  dicker  wie 
bei  Paludina.  Er  besteht  auch  nicht  wie  bei 
Paludina  nur  aus  einer  Conchiolinschicht,  son- 
dern über  .dem  Conchiolin  liegt  noch  eine  Kalk- 
schicht.     Übrigens    bestehen     einige    interessante 


teil  oder  gar  ein  Fadenfortsatz.  Die  epitheliale 
Drüse  bei  Cyclostoma  gleicht  in  den  höheren 
Epithelpartien  vielmehr  stark  in  ihrer  Form  den 
subepithelialen  Drüsen  der  Pulmonaten. 

Bei  den  Pros obranchiern  spielen  also  die 
epithelialen  Hautdrüsen  die  Hauptrolle,  die  sub- 
epithelialen Drüsen  treten  noch  völlig  in  den 
Hintergrund. 

Es  fragt  sich  nun,  welche  Hautdrüsenverhält- 
nisse wir  bei  der  II.  Ordnung  der  Gastropoden, 
bei  den   Pulmonaten,    vorfinden.      Gerade   bei 


Unterschiede    zwischen     den    epithelialen    Drüsen      den  Pulmonaten  ist  der  Übergang  zum  Land- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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leben   auf  breitester  Linie   vollzogen.     Die  Pul- 
monaten   sind    die    eigentlichen   Landbewohner 
unter  den  Schnecken.      Daneben  finden  wir  aber 
eine  ganze  Gruppe  von  Süßwasserformen,  die  so 
ziemlich  die  gleiche  Lebensweise  wie  Paludina 
besitzen  und  darum  schon  zum  Vergleich  geradezu 
herausfordern.    Obwohl  man  zunächst  die  gleichen 
oder    doch    ähnliche    Verhältnisse    im    Bau    des 
Drüseninteguments  erwarten  sollte  wie  bei  Palu- 
dina,   liegen   bei    den    Süßwasserpulmonaten  die 
Dinge  doch  ganz  anders.     Als  Vertreter  der  Süß- 
wasserpulmonaten,    der    Basommatophoren, 
untersuchte    ich    Limnaea    stagnalis,     Pla- 
norbis  corneus  und  Amphipeplea   gluti- 
nosa.      Auffällig    ist,    daß    hier    die    epithelialen 
Hautdrüsen    völlig    fehlen,    dafür    aber   zahlreiche 
subepitheliale   Drüsen   auftreten.     Diese  zunächst 
sonderbar   erscheinende  Tatsache   erklärt  sich  je- 
doch   leicht    aus    dem  Umstände,    daß    die    Süß- 
wasserpulmonaten gar  keine  ursprünglichen  Wasser- 
bewohner  sondern  Landbewohner  sind,   die   wie 
die  Landpulmonaten  durch  Lungen  atmosphärische 
Luft  atmen.    Das  allgemeine  Auftreten  der  Lungen 
in  dieser  Gastropodenordnung  hat  ja  auch  zu  der 
Benennung:     Lungenschnecken     oder    Pul- 
mo n  a  t  e  n  geführt.    Die  Anpassung  an  das  Leben 
im  Süßwasser  ist  deshalb  bei  den  Lungenschnecken 
stets   als   eine   sekundäre  Erscheinung  anzusehen. 
In    der    Periode    des   Landlebens   sind    wohl    die 
epithelialen    Hautdrüsen    verschwunden,    weil    sie 
durch   ihre   oberflächliche  Lage    der  Verdunstung 
zu  stark  ausgesetzt  wären.     An  ihre  Stelle  traten 
dann   subepitheliale    Hautdrüsen,    die   durch  Ver- 
lagerung in  die  Tiefe  des  subepidermalen  Gewebes 
vor  Austrocknung  besser  geschützt  sind  und  durch 
ihre  bedeutendere  Größe  mehr  Schleim  zu  liefern 
imstande    sind.      Eine    reichere    Schleimsekretion 
wird  so  auch  gerade  dadurch  erreicht,  daß  durch 
Verlagerung    der    Drüsen     in    das    subepidermale 
Gewebe    nach    dem   Prinzip    der    Raumökonomie 
erst  das  Auftreten  einer  größeren  Anzahl  Drüsen 
ermöglicht  wird,  wie  das  der  Fall  wäre,  wenn  die 
Drüsen  lediglich  im  Epithelverbande  lägen.     Epi- 
theliale Drüsen  sind  überhaupt  nur  charakteristisch 
für  echte  Wasserformen,  die  nie  ihr  Lebenselement, 
das  Wasser,  verlassen  haben.     Darum  findet  man 
sie  wohl  gerade  so  häufig  bei  Meeresformen.    Um 
wenigstens      zwei      Opistobranchier       oder 
Hinterkiemer,    die    fast    ausschließlich    Meer- 
bewohner sind,  anzuführen,  erwähne  ich,  daß  epi- 
theliale   Drüsen    bei    Doris    als    ausschließliche 
Hautdrüsen,    bei    Aeolis    neben    subepithelialen 
Drüsen  vorkommen.     Sobald  aber  die  Schnecken 
vom  Wasser-  zum  Landleben  übergehen,  wie  das 
die  Lungenschnecken,    die  Pulmonaten,   getan 
haben,  schwinden  die  epithelialen  Drüsen,  die  bei 
den  echten  Wasserformen  die  Hauptrolle  spielten. 
Dafür   treten   aber   die   subepithelialen  Drüsen  in 
stärkerer  Entwicklung  auf.    Daß  epitheliale  Drüsen 
trotzdem  bei  der  landbewohnenden  Cyclostoma 
vorkommen,   ist   ein  besonders  interessanter  Aus- 
nahmefall,  für  den   ich  schon  eine  Erklärung  zu 
geben  versucht  habe. 


Nun  wollen  wir  uns  kurz  eine  Übersicht  über 
die  subepithelialen  Drüsen,  die  also  die 
einzigen  Hautdrüsen  der  Lungen- 
schnecken sind,  verschaffen.  Dann  will  ich 
darzulegen  versuchen,  welche  Funktion  wir 
den  einzelnen  Drüsentypen  vielleicht  zuschreiben 
dürfen. 

Ich  unterscheide: 
L  Basophile  Kalkschleimdrüsen. 
|II.  Basophile  „echte  Schleimdrüsen". 
III.  Acidophile  Drüsen. 

Die  Kalkschleimdrüsen  (Abb.  3)  sind 
große,  bei  Limax  maximus  und  bei  Eulota 
fruticum  bis  über  i  mm  tief  ins  Gewebe  sich 
erstreckende  Drüsen  von  meist  bauchig  sackartiger 
Form.  Basal  im  Drüsenbauch  liegt  der  meist 
kleine  Kern,  der  häufig  bei  reifen  sekretgefüllten 
Drüsen  als  ein  äußerst  schmales,  sichelförmiges 
Gebilde  der  basalen  Zellwand  fest  angepreßt  liegt, 
so  daß  er  leicht  übersehen  werden  kann.  Der 
Zellbauch  verjüngt  sich  meist  allmählich  zu  einem 
Ausführgang,  der  durch  das  Epithel  nach  außen 
mündet.  In  den  reifen  Drüsenzellen  ist  das  Proto- 
plasma übrigens  bis  auf  einen  kaum  wahrnehm- 
baren Rest  um  den  Kern  völlig  verschwunden. 
Früher  hielt  man  ganz  allgemein  diese  Drüsen 
für  reine  Schleimdrüsen  und  bezeichnete  umge- 
kehrt die  Drüsen,  die  ich  als  „echte  Schleim- 
drüsen" bezeichne,  als  Kalkdrüsen.  Man  kam 
wohl  zu  dieser  Verwechslung  hauptsächlich  da- 
durch: Die  Granula  der  „echten  Schleimdrüsen" 
sind  besonders  widerstandsfähig  gegen  Verquellung 
und  als  Körnchen  leicht  wahrzunehmen,  während 
das  Sekret  der  Kalkschleimdrüsen  äußerst  leicht 
verquillt  und  dann  ein  schaumig  wabiges  Aus- 
sehen hat.  Ich  konnte  aber  zeigen,  daß  man  hier 
ganz  allgemein  eine  Verwechslung  begangen  hat, 
daß  z.B.  die  Schleimdrüsen  (Leydigs  und 
Sempers)  in  Wirklichkeit  den  Kalkschleim 
liefern,  die  Kalkdrüsen  aber  reinen  Schleim.  Zu- 
nächst ist  die  Feststellung  von  Bedeutung,  daß 
die  Kalkschleimdrüsen  gerade  dort  am  häufigsten 
vorkommen,  wo  wie  auf  dem  Mantelwulst,  den 
unteren  Seitenteilen  des  Fußes  und  auf  dem 
Schwanzrücken  besonders  reichlich  Kalkschleim 
abgeschieden  wird.  An  diesen  Stellen  überwiegen 
die  Kalkschleimdrüsen  die  anderen  basophilen 
Drüsen  stark,  die  hier  ziemlich  in  den  Hinter- 
grund treten.  Andererseits  fehlen  die  Kalk- 
schleimdrüsen völlig,  wo  wie  auf  der  Sohle  nur 
reiner  Schleim  abgeschieden  wird.  Hier  kommen 
hingegen  die  „echten  Schleimdrüsen"  um  so  zahl- 
reicher vor.  Ja  sie  sind  bei  den  Landlungen- 
schnecken fast  die  einzigen  Drüsen  der  Sohle. 
Bei  den  „echten  Schleimdrüsen"  setzt  sich 
der  Ausführgang  meist  schärfer  vom  Drüsenbauch 
ab,  in  dem  der  meist  zentralgelegene  Kern  ruht 
(Abb.  4).  Wie  schon  gesagt,  sind  die  Schleim- 
granula ziemlich  wiederstandsfähig  gegen  Ver- 
quellen  in  Wasser  und  liegen  meist  dicht  als 
dunkelgefärbte  rundliche  Körnchen  in  den  Drüsen. 
Diese  Drüsen  reichen  häufig  sehr  tief  ins  Binde- 
gewebe hinein   und  münden  vielfach  durch  einen 


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äußerst  feinen  langen  Ausführgang  nach  außen, 
der  häufig  meist  nur  bei  stärkster  Optik  nachge- 
wiesen und  weiter  verfolgt  werden  kann.  Die 
Schleimdrüsen  liegen  hauptsächlich  in  der  Sohle 
und  bilden  hier  die  Sohlendrüsen.  Sonst  kom- 
men sie  nur  ziemlich  zerstreut  in  der  Haut  vor. 
Zunächst  vermutete  ich,  daß  die  beiden  baso- 
philen Drüsentypen  verschiedene  Entwicklungs- 
stadien einer  und  derselben  Drüse  seien,  daß  etwa 
die  Schleimdrüsen  jüngere  Stadien  der  Kalkschleim- 
drüsen seien.  Dagegen  spricht  aber  schon  das 
lokal  getrennte  Vorkommen  beider  Drüsenformen, 
die  Tatsache,  daß  z.  B.  in  der  Sohle  der  Land- 
lungenschnecken überhaupt  keine  Kalkschleim- 
drüsen in  der  Regel  vorkommen  mit  Ausnahme 
von  Buliminus  detritus,  wo  aber  wieder 
nur  Kalkschleimdrüsen  vorzukommen  scheinen. 
Dann  auch  das  färberisch  verschiedene  Verhalten 
beider  Drüsen.  Färbt  man  die  Schnitte  mit 
Hämatoxylin/Del.  und  Bismarckbraun,  so  färben 
sich  die  Kalkschleimdrüsen  stets  mit  Bismarck- 
braun, die  echten  Schleimdrüsen  dagegen  nie.  Sie 
färben  sich  in  dem  Falle  stets  intensiv  mit  Häma- 
toxylin. 

Als  dritter  Drüsentyp  kommen  ganz  allgemein 
acidophile  Drüsen  vor,  die  sich  mit  Eosin 
intensiv  rot  färben.  Nach  Form  und  Vorkommen 
gleichen  sie  in  etwa  den  Kalkschleimdrüsen.  Sie 
haben  eine  fast  sackartige  Gestalt  (Abb.  5).  Basal 
im  Drüsenbauch  Hegt  der  Kern,  der  genau  wie 
bei  den  Kalkschleimdrüsen  in  den  sekretgefüllten 
Zellen  als  sichelförmiges  Gebilde  der  Zellwand 
enge  anliegt.  Ebenso  scheint  das  Protoplasma 
bis  auf  einen  ganz  geringen  Rest  um  den  Kern 
herum  zu  schwinden.  Die  Sekretgranula  ver- 
quellen  aber  nicht  wie  bei  den  Kalkschleimdrüsen 
zu  einer  schaumig-wabigen,  sondern  zu  einer  völlig 
homogenen  Masse.  Wie  die  Kalkschleimdrüsen 
fehlen  die  acidophilen  Drüsen  in  der  Sohle  zu- 
meist völlig.  Häufig  ist  übrigens  das  Sekret  der 
acidophilen  Drüsen  gefärbt.  Besonders  auffallig 
ist  das  vor  allem  bei  der  roten  Wegschnecke, 
Arion  empiricorum  Fer. ,  wo  die  rote 
Färbung  des  Tieres  lediglich  durch  das  rote  Farb- 
sekret in  den  acidophilen  Drüsen  hervorgerufen 
wird.  Auch  die  Gehäuseschnecke  Levantina 
mardinensis  Kob.  von  den  Kalkfelsen  bei 
Mardin  in  Kleinasien  besitzt  ein  auffällig  grün- 
gefärbtes Sekret,  das  aus  den  acidophilen  Farb- 
drüsen stammt. 

Versuchen  wir  nun  einmal  uns  die  Frage  nach 
der  Funktion  bzw.  der  ökologischen  Be- 
deutung der  verschiedenen  Drüsen  typen  vor- 
zulegen und  die  verschieden  starke  Ausbildung 
der  Hautdrüsen  bei  den  einzelnen  Formen  als  An- 
passung an  die  jeweiligen  Lebensbedingungen  zu 
verstehen.  Wir  sahen  schon,  daß  der  Schleim  in 
einigen  Fällen  sicher  ein  Schutzmittel  gegen 
Austrocknung  darstellt.  Solche  Fälle  sind 
übrigens  nicht  allein  im  Tierreiche,  sondern  auch 
bei  Pflanzen  ziemlich  weit  verbreitet.  Ich  er- 
innere nur  an  die  Schleimhüllen  der  Nostocalgen 


und    anderen    Cyanophyceen    und    an    den    Zell- 
schleim  vieler  xerophilen  Pflanzen   (nach  Radl- 
kofer  z.  B.  bei  Triapsis  squarrosa).    Der  Schleim 
hat,   wie   gesagt,   ein   großes  Wasserbindungsver- 
mögen.    Bei   den  Schnecken   scheint   gerade  das 
Sekret  der  Kalkschleimdrüsen  diese  Funktion 
zu   besitzen.      Sie    liegen    gerade    in    den   expor- 
niertesten   Stellen   der  Haut,   die   beim   Kriechen 
nicht  durch   die  Schale   geschützt  sind.     Auf  der 
Sohle,  die  ja  stets  der  Unterlage  fest  aufliegt,  und 
die    so    der    Verdunstung    ziemlich    entzogen    ist, 
fehlen     sie     vollständig.       Aus     dieser    Funktion 
heraus  erklärt   sich  ja  auch  ihr  starkes  Auftreten 
bei   den  Landschnecken.      Um    das   noch   einmal 
stark  zu  betonen:    Die  weichhäutigen  Schnecken 
konnten  ihre  Urheimat,  das  Wasser  nur  verlassen 
und    ans    Land    steigen,   indem    sie   das    feuchte 
Medium,   dem  sie  entstiegen,  geradezu  selbst  mit 
aufs  Land  nahmen.     Das    konnte  wiederum    nur 
geschehen    durch    starke    Ausbildung    der    Haut- 
drüsen, deren  hydrogeles  Sekret  Wasser  aufsaugt 
und    festhält.       Subepitheliale    Drüsen     kommen 
aber  nur  in  Betracht,    weil   sie  das  Auftreten  der 
erforderlichen    Anzahl    Drüsen    erst    ermöglichen, 
dann   auch  durch   ihre  Verlagerung   in   die  Tiefe 
vor  starker  Austrocknung  geschützt  sind.    Gerade 
sehr     wasserliebende    Formen     wie     Succinea 
putris  oder  die  sehr  dünnschalige  Laubschnecke, 
Eulota    fruticum   besitzen    die    stärkste    Aus- 
bildung   der     subepithehalen    Kalkschleimdrüsen, 
ebenso    die    schalenlosen,     feuchtigkeitsliebenden 
Nacktschnecken.    Bei  allen  diesen  Formen  ist  die 
schützende    Schale    mehr    oder    minder    schwach 
ausgebildet.      Sie   ist    dünnschalig    oder    gar    bei 
den  Nacktschnecken   rudimentär   geworden.     Die 
Kalkschleimdrüsen  sind  dagegen   bei  allen  diesen 
Schnecken  seht  gut  entwickelt.    Formen  dagegen 
wie  die  Laubschnecken,  Arianta  arbustorum 
und  Tachea  nemoralis  besonders,   die   selbst 
die  Sonne  nicht  sehr  scheut,  besitzen  viel  geringer 
entwickelte  Kalkschleimdrüsen.     Hier   würde   bei 
Tachea  zu  großer  Drüsenreichtum  eine  zu  starke 
Verdunstung    bewirken.      Als    Ausgleich    für    die 
weniger   drüsenreiche  Haut    ist    hier    eine  festere 
Schale  ausgebildet.     Wir  haben  also:   eine  dünne 
Schale   und   großen  Drüsenreichtum  bei  Eulota 
einerseits,    eine    dicke    Schale    und    ein    weniger 
reiches  Drüsenintegument    bei  Tachea   anderer- 
seits.    Bei   diesen  beiden  Formen   ist  die  Korre- 
lation zwischen  Schale  und  Drüsenhaut  besonders 
schön  und  einleuchtend  ausgeprägt. 

Bei  den  xerophilen  Schnecken,  den  trocken- 
heitliebenden Formen  ist  dies  in  noch  stärkerem 
Maße  der  Fall.  Wir  beobachten  hier  ein  weit- 
gehendes Zurücktreten  der  Kalkschleimdrüsen  und 
ein  Dickerwerden  der  Schale,  die  meist  ein 
porzellanartiges  weißes  Aussehen  gewinnt.  So 
bei  Buliminus  detritus  schon  und  bei  He- 
1  i X  o b v i a.  Wo  aber  wie  beiXerophila  eri- 
c  e  t  o  r  u  m  die  Schale  nicht  besonders  fest  und 
dick  wird,  da  scheinen  die  Kalkschleimdrüsen  in 
stärkerer  Entwicklung  aufzutreten,    während  z.  B. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


607 


die  dickschalige  Levantina   aus  Kleinasien 
mit  Xerophila   ericetorum    verglichen    sehr 
drüsenarm  ist.    Ja  es  scheint  geradezu  eine  Regel, 
die  ganz  allgemein  im  Tierreiche  Geltung  hat,  zu 
sein,   daß   bei  extrem    trockenheitlieben- 
den Formen  die  Hautdrüsen  (natürlich  nur 
soweit    sie   dem    Trockenheitsschutz    dienen)    im 
Vergleich    zu    den   feuchtigkeitliebenden   Formen 
zurücktreten,    und    daß   als  Ausgleich  andere 
Anpassungen   an    die  Trockenheit  auftreten.      Bei 
den  Schnecken  war  es  die  Schale,   die   bei  xero- 
philen Formen  dicker  wurde.      Unter  den  Verte- 
braten   sind    die    Sauropsiden,    Reptilien    und 
Vögel,    die   eigentlichen    Trockenlufttiere.      Ihnen 
fehlen  die  Hautdrüsen  völlig    (mit  Ausnahme  der 
Bürzeldrüse  der  Vögel,  die  zum  Einfetten  des  Ge- 
fieders dient).    Dafür  haben  wir  als  Trockenschutz 
bei  den  R  e  p  t  i  1  i  e  n  die  feste,  lederartige  Schuppen- 
haut,   bei    den   Vögeln    das  dichte   Federkleid. 
Die  Amphibien    und    auch    die  Säuger  mit 
ihrer   ursprünglich    nächtlichen  Lebensweise  sind 
die   Feuchtlufttiere    unter    den  Vertebraten.      Sie 
besitzen    so  beide  Hautdrüsen.      Um    noch    einen 
Fall    für    das    Zurücktreten    der    Hautdrüsen    bei 
Trockenheitsformen  im  Vergleich  zu  den  feuchtig- 
keitliebenden   Arten    anzuführen,    weise    ich   auf 
die   Landisopoden   hin,    die   wir   in   mancher 
Hinsicht   mit  den  Schnecken  vergleichen  können. 
Da    ich   auf  diesen  Vergleich    zum  Schluß    noch 
eingehen  will,  soll    hier   dieser  Hinweis  genügen. 
Sogar  bei  den  Pflanzen  finden  wir    eine  inter- 
essante  Bestätigung   für    die    Regel    vom  Zurück- 
treten der  Hautdrüsen  bei  extrem  xerophilen  For- 
men.     So    schreibt    Ruhland    (19 15)    über    die 
Hautdrüsen  der  Plumbaginaceen:  „Besonders 
bemerkenswert  scheint  mir  hier,    daß    sich    unter 
solchen  Verhältnissen  (er  meint  das  Leben  in  den 
salzreichen  trockenen  Wüstengegenden)  die  Drüsen 
gleichsam    als    zweischneidiges  Schwert    erweisen, 
insofern    ihre   an    sich    der  Pflanze   nützliche  Salz- 
ausscheidung   doch    die    bedenkliche    Seite    eines 
hohen    Wasserverbrauches    in    sich    schließt    (vgl. 
S.  467).     So    sehen   wir  denn,   daß   bei  manchen 
Arten  (z.  B.  Statice   rhodia)    die  Drüsen  ähn- 
lich   wie   die   Spaltöffnungen    mehr   oder  weniger 
tief  unter   das  Niveau   der  Epidermis   eingesenkt 
werden  und  endlich,  wie  bei  denwestafrika- 
nischen    Arten    überhaupt,    ihrer     Zahl 
nach  stark  vermindert  werden." 

Beachtenswert  ist  auch  das  Einsinken  der 
Hautdrüsen  bei  diesen  Wüstenpflanzen  „tief  unter 
das  Niveau  der  Epidermis".  Eine  gans  analoge 
Erscheinung  haben  wir  in  dem  Einsinken  der 
subepithelialen  Drüsen  der  Pulmonaten  vor  uns. 
Hier  wie  dort  bewirkt  dieser  Vorgang  eine  Her- 
absetzung der  Transpiration,  wie  ich  es  für  die 
Landschnecken  oben  schon  ausgeführt  habe. 

Ich  glaube,  daß  nach  alledem  man  nicht  ganz 
fehl  geht,  wenn  man  die  Kalkschleimdrüsen  der 
Schnecken  als  Schutzdrüsen  gegen  Austrocknung 
betrachtet.  Vielleicht  trägt  gerade  der  Kalkgehalt 
des  Sekretes  zur  Erhöhung  des  Trockenschutzes 


bei,  wie  ja  die  ungeschützten  Nacktschnecken  und 
die  xerophilen  Formen  einen  besonders  kalkreichen 
Schleim  besitzen. 

Die  „echten  Schleimdrüsen"  scheinen 
Schmierdrüsen  zu  sein,  bestimmt,  die 
Reibung  zwischen  der  Haut  und  einem  harten 
Körper  herabzusetzen.  Vor  allem  dienen  sie 
dazu,  die  Reibung  zwischen  Sohle  und  Unterlage 
zu  verkleinern.  Durch  den  Kriechschleim  der 
Sohle  wird  so  die  direkte  Berührung  der  Körper- 
haut mit  der  Unterlage  verhindert.  Die  Schnecke 
kriecht  eigentlich  gar  nicht  über  steinigen  Boden 
oder  haarige  Pflanzenteile,  sondern  über  einen 
weichen  Teppich,  den  sie  in  Form  eines  Schleim- 
bandes vor  sich  ausbreitet.  So  kommen  an  Stellen, 
wo  eine  größere  Reibung  herrscht,  wie  auf  der 
Sohle  fast  ausschließlich  echte  Schleimdrüsen  und 
keine  anderen  Drüsen  vor.  Auch  Körperstellen, 
die  mit  der  Schale  sich  scheuern  wie  der  Kopf- 
rücken und  die  Übergangsstellen  von  Fuß  und 
Eingeweidesack,  sind  darum  reich  an  Schleim- 
drüsen, dagegen  arm  an  anderen  Hautdrüsen.  Um 
aber  für  die  Landschnecken  den  hinreichenden 
Kriechschleim  zu  liefern  scheinen  die  gewöhnlichen 
in  der  Sohle  gelegenen  Schleimdrüsen,  die  sog. 
„Sohlendrüsen"  nicht  auszureichen,  die  im  feuchten 
Element  für  die  Wasserschnecken  hinreichend 
Schleim  sezernieren.  Es  bildet  sich  durch  Ein- 
stülpung der  äußeren  Haut  ein  schlauchartiges 
Organ,  die  „F  u  ß  d  r  ü  s  e",  von  welcher  schon  die 
Rede  war.  Ihre  Schleimdrüsen  liefern  vielleicht 
den  Hauptteil  des  Kriechschleims.  Ihr  gegenüber 
treten  gerade  bei  den  schnellkriechenden  L  im  a c  e  s 
unter  den  Nacktschnecken  die  Sohlendrüsen  ziem- 
lich stark  in  den  Hintergrund.  Bei  Paludina 
wie  bei  den  Süßwasserpulmonaten  (Limnaea, 
Planorbis,  Amphipeplea)  fehlt  eine  Fuß- 
drüse. Bei  den  Lungenschnecken  des  Süßwassers 
scheint  sie  nachträglich  bei  der  Rückwanderung 
ins  Wasser  rudimentär  geworden  zu  sein. 

Den  acidophilen  Drüsen  endlich  glaube 
ich  die  Funktion  von  Wehrdrüsen  zuschreiben 
zu  müssen.  Bei  den  deckeltragenden  Proso- 
branchiern  treten  sie,  wie  wir  schon  sahen, 
gegenüber  den  basophilen  Drüsen  völlig  zurück. 
Diese  Schnecken  können  sich  den  feindlichen 
Nachstellungen  ja  durch  Flucht  ins  Gehäuse,  das 
vom  Deckel  fest  verschlossen  wird,  schnell  ent- 
ziehen. Bei  ungeschützten  Formen  nehmen  sie 
aber  an  Entwicklung  stark  zu.  So  sind  schon  bei 
den  Nemertinen,  jenen  nackten  Schnurwürmern 
des  Meeres,  die  acidophilen  epithelialen  Drüsen 
häufig  stärker  entwickelt  wie  die  subepithelialen 
basophilen  Drüsen.  Unter  den  Schnecken  sind 
besonders  die  Nacktschnecken,  die  schalenlos  und 
völlig  ungeschützt  sind,  am  reichsten  mit  acido- 
philen Drüsen  ausgestattet.  Bei  Arion  empiri- 
c  o  r  u  m  erwähnte  ich  bereits,  sind  die  acidophilen 
Farbdrüsen  so  zahlreich,  daß  sie  allein  die  rote 
Färbung  des  Tieres  bewirken.  Der  Schleim  von 
Arion  empiricorum  ist  aber  für  gewöhnlich 
nicht  oder  nur  schwach  gelbrot  gefärbt.    Nur  bei 


6o8 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


heftigen  Reizen,  Betupfen  mit  ätzenden  Stoffen, 
wie  Säuren,  oder  auch  beim  Abtöten  in  Formol 
wird  ein  intensiv  rotgelbes  Sekret  ausgestoßen. 
Die  Tatsache  scheint  mir  sehr  geeignet  zu  sein 
die  Wehrfunktion  der  acidophilen  Farbdrüsen 
wahrscheinlich  zu  machen.  Die  Auffassung  der 
acidophilen  Drüsen  als  Wehrdrüsen  wird  auch 
noch  durch  die  Beobachtung  gestützt,  daß  das 
Auftreten  der  acidophilen  Drüsen  vom  Feuchtig- 
keitsbedürfnis der  Schnecke  unabhängig  zu  sein 
scheint.  So  haben  wir  eine  reiche  Entwicklung 
acidophiler  Drüsen  einesteils  bei  der  sehr  dünn- 
schaligen, ziemlich  feuchtigkeitliebenden  Eulota 
und  andererseits  bei  der  trockenheitliebenden 
Schnecke  Buliminus  detritus.  Die  acido- 
philen Drüsen  liegen  auch  am  häufigsten  an  stark 
exponierten  Hautstellen,  an  geschützten  Stellen 
vermissen  wir  sie  dafür  fast  völlig.  So  fehlen  sie 
ja  in  der  Sohle  der  Landpulmonaten  (mit  Aus- 
nahme von  A  r  i  o  n  e  m  p  i  r.)  ganz.  Übrigens  hat 
gerade  der  rote  Farbschleim  von  A  r  i  o  n  eine 
stark  ekelerregende  Wirkung,  wie  Simroth 
durch  Fütterungsversuche  im  Leipziger  Zoologi- 
schen Garten  nachweisen  konnte.  Einmal  durch 
Erfahrung  gewitzigt,  verschmähten  selbst  ausge- 
sprochene Schneckenfresser  wie  Hühner  und  Peli- 
kane diesen  ekelerregenden  Bissen.  Die  Sohle 
allein,  die  arm  an  Farbdrüsen  ist,  wirkte  weniger 
stark  ekelerregend. 

Zum  Schluß  möchte  ich  darauf  hinweisen,  daß 
wir  bei  den  Landisopoden  ein  ähnliches 
Verhalten  der  Hautdrüsen  in  ihrer  Be- 
ziehung zur  Lebensweise  vorfinden  wie  bei  den 
Schnecken.  Bei  den  Isopoden  scheinen  die 
sog.  Weberschen  Drüsen  ähnlich  wie  die 
Kalkscnleimdrüsen  der  Schnecken  als  Schutz  gegen 
Trocknis  zu  dienen,  und  zwar  sollen  sie  vorzüg- 
lich die  Kiemenorgane  vor  Austrocknen  schützen. 
Sie  fehlen  den  Wasserasseln  ganz,  kommen  aber 
bei  sehr  feuchtigkeitliebenden  Landformen  wie  Tri - 
choniscus  sp.  sehr  zahlreich  vor,  ebenso  bei 
den  feuchtigkeitliebenden  Oniscus  murarius 
Cuv.  Sie  nehmen  aber  bei  Formen,  die  trocken 
leben ,  wie  Porcellio  scaber  Lutr.  und 
Armadillidium  nasutum  B.  L.  entschieden 
an  Zahl  ab.  Auch  wenn  wir  das  Zahlenverhältnis 
der  sog.  Epimerendrüsen,  über  deren  Funk- 
tion man  sich  übrigens  noch  nicht  recht  klar  ist, 
betrachten,  ergibt  sich  ein  interessantes  Resultat. 
Bei  den  ausgesprochen  feuchtlebenden  Formen, 
Ligia  oceanica  L.  und  Oniscus  murarius 


sind  die  Epimerendrüsen  wenig  zahlreich.  Bei  der 
trockenlebenden  Form  Porcellia  scaber  sind  die 
Epimerendrüsen  sehr  stark  entwickelt:  i07Thoracal- 
drüsen,  14  Abdominaldrüsen,  Gesamtzahl  121.  Bei 
extrem  trockenlebenden  Formen  wie  Armadilli- 
dium nasutum  B.  L.  haben  wir  dagegen  nur  48 
Thoracaldrüsen  und  18  Abdominaldrüsen,  Gesamt- 
zahl 66.  So  sind  auch  bei  dem  sehr  trocken- 
lebenden Porcellio  pictus  Brdt.  die  Epi- 
merendrüsen am  schwächsten  entwickelt.  Also 
auch  hier  haben  wir  wieder  die  gleichen  Verhält- 
nisse wie  bei  den  Schnecken,  nämlich  das  Ab- 
nehmen der  Drüsen  bei  extremen  Trockenformen. 
Am  meisten  interessiert  aber  wohl  das  Verhalten 
der  sog.  Urostyldrüsen  der  Isopoden.  Diese 
Drüsen  scheinen  nach  dem  übereinstimmenden 
Urteil  von  Verhoeff,  Wasmann  und  Herold 
Wehrfunktion  zu  besitzen.  Sie  treten  in  gleich 
guter  Entwicklung  bei  feuchtigkeitliebenden  wie 
extrem  trockenlebenden  Formen  auf;  sowohl  bei 
den  sehr  feuchtlebenden  Trichoniscus,  dem 
feuchtlebenden  Oniscus  murarius,  dem  trocken- 
lebenden Porcellio  scaber,  dem  extrem 
trockenlebenden  Armadillidium  nasutum 
sind  die  Urostyldrüsen  in  reichster  Entwicklung 
ausgebildet.  Sie  sind  also  völlig  unabhängig  von 
dem  verschiedenen  Feuchtigkeitsbedürfnis  der 
einzelnen  Arten,  was  ja  auch  bei  ihrer  Funktion 
als  Wehrdrüsen  verständlich  ist.  Dieselbe  Unab- 
hängigkeit vom  Feuchtigkeitsbedürfnis  der  ver- 
schiedenen Arten  konnte  ich  bei  den  Schnecken 
ja  auch  für  die  acidophilen  Drüsen  feststellen. 
Und  diese  Tatsache  war  zugleich  ein  wesentlicher 
Grund  für  mich  an  die  Wehrfunktion  der  acido- 
philen Schneckendrüsen  zu  glauben. 

Alle  diese  mannigfaltigen  Anpassungen  an  die 
verschiedensten  Lebensbedingungen  bei  Schnecken 
wie  bei  Landisopoden  zeigen  aufs  einleuchtendste, 
daß  der  Organismus  ein  im  höchsten  Grade  plasti- 
sches Gebilde  ist,  das  erst  durch  die  Bedingungen 
der  lebenden  und  leblosen  Umwelt  zur  jeweiligen 
Erscheinungsform  gestaltet  wird,  die,  der  alten 
Proteusgottheit  vergleichbar,  unter  neuen  Lebens- 
lagen stets  andere  Gestalt  gewinnt. 

Eine  ausführlichere  Arbeit  des  Verfassers  über 
die  Hautdrüsen  der  Schnecken  wird  demnächst 
unter  dem  Titel :  „Studien  an  den  Hautdrüsen  der 
Land-  und  Süßwassergastropoden"  im  Archiv  für 
mikroskopische  Anatomie  erscheinen.  Daselbst 
findet  sich  auch  eine  eingehendere  Literaturangabe. 


Einzelberichte. 


Die  Anoi'dunng  der  Atome  in  Kristallen. 

Im  folgenden  sei  so  kurz  als  möglich  be- 
richtet über  allgemein  interessierende  Unter- 
suchungen, die  W.  L.  Bragg  im  Philosophical 
Magazine   and  Journal  of  Science,   Bd.  40   (1920), 


S.  169 — 189  veröffentlicht  hat.  —  Bei  manchen 
einfachen  Kristallstrukturen  (wie  beim  Diamant 
und  bei  den  Alkalihalogeniden)  nehmen  die  Atome 
ganz  bestimmte  durch  die  Symmetrie  bedingte 
Punktlagen  ein.  Bei  anderen  dagegen  sind  ge- 
wisse   Atomlagen    nicht    derartig    eindeutig    be- 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


609 


stimmt,  wie  z.  B.  beim  Pyrit,  FeSg,  die  Lage  der 
Schwefelatome  oder  beim  Calcit,  CaCOg  die  Lage 
der  Sauerstoffatome.  In  solchen  Fällen  muß  ihre 
Lage  durch  eine  quantitative  Bearbeitung  von 
Lauephotogrammen  der  betreffenden  Kristallstruk- 
tur errechnet  werden.  Wenn,  wie  beim  Korund, 
AI2O3,  zwei,  oder  wie  beim  Quarz,  SiO,,  sogar 
vier  derartige  Parameter  unbekannt  sind,  dann 
wird  die  Schwierigkeit  der  Lösung  dieser  Aufgabe 
derartig  vergrößert,  daß  aus  diesem  Grunde  bis- 
her nur  solche  Fälle  ausgewertet  worden  sind,  bei 
denen  die  Anzahl  der  der  Symmetrie  nach  noch 
unbestimmten  Punktlagen  gering  ist. 

Im  ersten  Teil  der  Braggschen  Unter- 
suchungen werden  nun  empirisch  zu  findende 
Beziehungen  der  Entfernungen  der  einzelnen  Atome 
von  ihren  nächsten  Nachbarn  in  den  einfacheren 
Kristallstrukturen  aufgestellt,  die  bei  der  Analyse 
komplizierterer  Strukturen  von  Nutzen  sein  können. 
Besonders  wichtig  erscheinen  aber  vor  allem  die 
sich  ergebenden  Gesetzmäßigkeiten  mit  Beziehung 
auf  das  periodische  System  der  Elemente. 

Die  erwähnten  Beziehungen  ergeben  sich,  wenn 
man  die  Atome  im  Kristall  als  eine  dichte  Packung 
von  Kugeln  auffaßt,  wo  die  Kugelmittelpunkte 
mit  denen  der  Atome  zusammenfallen  sollen.  Der 
Ort  und  die  Größe  jeder  Kugel  ist  dadurch  be- 
stimmt, daß  sie  von  mehreren,  sie  berührenden 
Nachbarn  getragen  werden  muß.  Wenn  man  da- 
her die  Entfernung  zwischen  zwei  Nachbaratomen 
als  die  Summe  zweier  Konstanten  auffaßt,  die 
den  Radien  der  den  betreffenden  Atomen  zuge- 
ordneten Kugeln  entsprechen,  so  zeigt  sich,  daß 
innerhalb  gewisser  Fehlergrenzen  es  in  der  Tat 
möglich  ist,  für  jedes  Atom  einen  für  das 
betreff  ende  Element  charakteristischen 
konstantenRadius  zuberechnen.  Daraus 
folgt,  daß  die  offenbaren  verschiedenen  Werte, 
die  sich  als  Anteil  eines  und  desselben  Elementes 
aus  dem  Molekularvolumen  von  verschiedenen 
Verbindungen  dieses  Elementes  ergeben,  im  wesent- 
lichen durch  die  Unterschiede  in  der  Kristall- 
struktur und  nicht  durch  Unterschiede  in  der 
Raumerfüllung  des  Atoms  selbst  bedingt  sind. 
Dieses  additive  Gesetz  soll  aber  nur  als  eine  erste 
Annäherung  betrachtet  werden  und  bei  der  Ana- 
lyse komplizierterer  Kristallstrukturen  die  Größe 
der  zu  ermittelnden  Parameter  beschränken. 

Im  folgenden  wird  der  Durchmesser  der  Kugel, 
die  in  der  gedachten  Weise  das  Atom  vorstellen 
soll,  kurz  als  „Durchmesser"  des  Atoms  bezeichnet 
und  in  Ängströmeinheiten  (i  Ä^^lXiO'^cm) 
gemessen.  Einige  Beispiele  mögen  erläutern,  in 
welcher  Weise  Bragg  verfährt,  um  diese  Werte 
zu  berechnen.  Die  Kristaltstruktur  von  metal- 
lischem Eisen  wurde  von  Hu  11  (vgl.  Naturw. 
Wochenschr.  1921,  Nr.  40)  als  zweifach  kubisches, 
raumzentriertes  Würfel  gitter  bestimmt,  wobei  die 
Würfelkante  zu  2,86  A  und  der  Abstand  zwischen 
zwei  benachbarten  Fe- Atomen,  d.  h.  also  in  erster 
Annäherung   der  Durchmesser   des  Fe-Atoms,    zu 


2,47  Ä  gefunden  wurde.  Setzt  man  diese  Größe 
fiir  die  Eisenatome  in  der  Pyritstruktur  ein,  so 
errechnet  sich  für  die  Schwefelatome  ein  mög- 
licher Durchmesser  von  2,05  Ä,  und  die  auf  diese 
Weise  gleichzeitig  mögliche  Angabe  über  den 
Ort  der  S-Atome  im  Raumgitter  weicht  sehr 
wenig  von  der  durch  Ewald  auf  Grund  von 
Lauephotogrammen  von  Pyrit  bestimmten  ab. 
Aus  dem  Feinbau  der  Zinkblende,  ZnS,  ergibt 
sich  nun  unter  Verwendung  des  eben  errechneten 
Durchmessers  der  S-Atome  ein  Durchmesser  von 
2,65  Ä  für  das  Zinkatom.  Aus  der  von  Bragg 
kürzlich  erst  ermittelten  Struktur  des  Zinkoxyds 
(Philosophical  Magazine,  Bd.  39  (1920),  S.  647) 
ergibt  sich  danach  für  das  Sauerstoffatom  ein 
Durchmesser  von  1,30  Ä.  In  der  gleichen  Weise 
fortgesetzt  erhält  man  weitere  Atomdurchmesser 
aus  den  bereits  bekannten  Strukturen  von  MgO, 
CaO,  SrO,  BaO  und  MgS,  CaS,  SrS,  BaS,  ferner 
aus  dem  NaCl-Typus  der  Alkalihalogenide,  dem 
CaCOg-Typus  der  Karbonate  von  Ca,  Mg,  Fe  und 
Zn,  usw. 

Die  auf  solche  Art   erhaltenen  Daten   sind  in 
der  folgenden  Tabelle  zusammengestellt: 


Atom- 

Element 

Durchmesser 
in  k 

Nummer 

3 

1 
Lithium 

3.00 

4 

Beryllium 

2,30 

6 

Kohlenstoff 

1,54 

7 

Stickstoff 

1,30 

8 

Sauerstoff 

1,30 

9 

Fluor 

1.35 

II 

Natrium 

3.55 

12 

Magnesium 

2.85 

13 

Aluminium 

2,70 

14 

Silizium 

2,35 

16 

Schwefel 

2,05 

17 

Chlor 

2,10 

19 

Kalmm 

4,15 

20 

Calcium 

3.40 

22 

Titan 

2,S0 

24 

Chrom 

2,80 

Chrom  elektronegativ 

2,35 

25 

Mangan 

2,95 

Mangan  elektronegativ 

2.35 

26 

Eisen 

2,80 

27 

Kobalt 

2,75 

28 

Nickel 

2,70 

29 

Kupfer 

2.75 

30 

Zink 

2,65 

33 

Arsen 

2,52 

34 

Selen 

2,35 

35 

Brom 

2,38 

37 

Rubidium 

4.50 

38 

Strontium 

3.90 

47 

Silber 

3.55 

48 

Cadmium 

3.20 

50 

Zinn 

2,80 

51 

Antimon 

2,80 

52 

Tellur 

2,65 

53 

Jod 

2,80 

55 

Cäsium 

4.75 

56 

Barium 

4,20 

81 

Thallium 

4,50 

S2 

Blei 

3.80 

83 

Wismuth 

2,96 

6io 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Dieses  Ergebnis  ist  in  der  Arbeit  außerdem 
graphisch  dargestellt,  indem  die  Atomnummern 
als  Abszisse,  der  Atomdurchmesser  als  Ordinate 
aufgetragen  wurden.  Dabei  zeigt  sich  deutlich, 
daß  die  letzteren  auf  einer  Kurve  liegen,  die  der- 
jenigen ähnelt,  die  schon  seit  langem  von  Lothar 
Meyer  für  die  Atomvolumina  angegeben  wurde 
(vgl.  z.  B.  Nernst,  Theoretische  Chemie).  Für 
jede  Periode  haben  die  Alkalimetalle,  danach  die 
alkalischen  Erden  den  größten  Durchmesser,  der 
seinen  kleinsten  Wert  jedesmal  für  die  am  Ende 
der  betreffenden  Periode  stehenden  elektronegativen 
Elemente  erreicht.  Wenn  man  die  tatsächlich 
beobachteten  Abstände  von  2  Atomen  in  einer 
Anzahl  von  Kristallen  mit  denen  vergleicht,  die 
durch  Addition  der  beiden  berechneten  Halb- 
messer dieser  Atome  erhalten  werden ,  so  ergibt 
sich  meist  kein  beträchtlicher  Unterschied;  er  be- 
trägt durchschnittlich  0,06  Ä  und  ist  am  größten 
bei  den  elektropositiven  Metallen,  am  geringsten 
bei  den  elektronegativen  Elementen.  Mit  Kugeln 
vom  gegenseitigen  Größenverhältnis  der  angegebe- 
nen Atomdurchmesser  hat  Bragg  auch  Struktur- 
modelle, z.  B.  von  NaCI,  Zinkblende  und  Calcit 
konstruiert  und  ihre  Abbildungen  auf  einer  be- 
sonderen Tafel  beigegeben. 

Im  zweiten  Teile  der  Arbeit  wird  nun  die 
physikalische  Bedeutung  dieser  Abstände,  be- 
sonders mit  Beziehung  auf  die  von  Lewis  ^)  und 
Langmuir^)  vorgeschlagene  Theorie  des  Atom- 
baues besprochen.  Man  kann  zunächst  zwei 
Typen  chemischer  Bindung  unterscheiden.  Die 
eine  erfolgt  durch  Angleichung  der  Zahl  der 
Elektronen  zweier  Elemente  an  die  Zahl  des 
nächsten  stabilen  Edelgastypus,  z.  B.  gibt  bei  KCl 
das  Kalium  von  19  Elektronen  eins  ab,  wird 
positiv  einwertig,  und  das  Chlor  erhält  zu  seinen 
17  Elektronen  eines  dazu,  wird  negativ  einwertig; 
beide  Ionen  haben  dann  18  Elektronen,  die  in 
Zahl  und  wohl  auch  in  Anordnung  dem  stabilen 
Argonatom  gleichkommen,  ihre  entgegengesetzte 
Ladung  ist  der  Grund  zur  Bindung.  Andererseits 
unterscheidet  sich  hiervon  das  Zustandekommen 
einer  Verbindung  von  zwei  elektronegativen  Ele- 
menten, wie  z.  B.  SO2  oder  CO3.  Da  in  diesem 
Falle  beide  Elemente  weniger  Elektronen  haben 
als  dem  nächsten  Edelgastypus  zukommt,  suchen 
sie  die  zur  Erreichung  von  dessen  Anzahl  und 
Stabililätsform  noch  notwendigen  Elektronen  da- 
durch zu  erhalten,  daß  sie  eine  entsprechende 
Zahl  von  Elektronen  als  gemeinsame  miteinander 
teilen.  Die  Tatsache,  daß  die  errechneten  Atom- 
durchmesser    der     einwertig-positiven     Elemente 

')  Journal  American  Chemical  Society  38  (1916)  S.  762 
und  41  (1919)  S.  S68.  [Diese  Tlieorie  deckt  sicli  im  wesent- 
lichen mit  den  von  W.  Kossei  (1916,  Ann.  d.  Physik  49, 
S.  229)  ausgesprochenen  Ansichten  über  die  chemischen  Ver- 
bindungen heteropolarer  Natur,  wobei  sich  z.  B.  von  den 
zwei  zu  einer  Verbindung  zusammentretenden  Elementen  das 
eine  durch  Aufnahme ,  das  andere  durch  Abgabe  von  Elek- 
tronen dem  jeweils  nächstliegenden  Edelgastypus  aus  beson- 
deren Stabilitätsgründen  in  der  Zahl  der  Elektronen  anpaßt. 
D.  Ref.] 


größer  erscheinen  als  die  der  zweiwertigen  und 
dreiwertigen  ist  dann  so  zu  deuten,  daß  infolge 
der  Abgabe  von  2  bzw.  3  Elektronen  an  die  sich 
damit  verbindenden  negativen  Elemente  die 
resultierenden  Anziehungskräfte  sich  vergrößern 
und  die  Wirkungssphäre  der  positiven  Atome  da- 
durch verkleinern.  Die  zweite  Wahrnehmung, 
daß  die  kleinsten  Durchmesser  jeder  Periode  stets 
die  elektronegativen  Elemente  haben,  erklärt  sich 
dann  offenbar  als  Ausdruck  des  Effektes,  der 
durch  den  gemeinsamen  Besitz  von  gewissen 
Elektronen  benachbarter  Atome  zustande  kommt. 
Dagegen  sind  positive  Elemente  stets  bereits  von 
einer  stabilen  Elektronenhülle  des  Edelgastypus 
umgeben.  Die  abstoßenden  Kräfte  zwischen  dieser 
und  der  Elektronenanordnung  analoger  benach- 
barter Atome  halten  sie  in  größerem  Abstände 
voneinander  als  es  bei  den  elektronegativen  Ele- 
menten infolge  der  Gemeinsamkeit  bestimmter 
Elektronen  der  Fall  sein  kann. 

Schließlich  läßt  sich  aus  der  Tatsache,  daß 
die  Durchmesser  der  elektronegativen  Atome  jeder 
Periode  stets  einem  unteren  Grenzwert  zustreben, 
vermuten,  daß  dieser  Wert  derjenige  ist,  der  dem 
Durchmesser  der  äußeren  Elektronenhülle  der 
Edelgase  zuzuschreiben  wäre.  So  erhält  Bragg 
als  Durchmesser  für  Neon  1,30  A,  für  Argon 
2,05  Ä,  für  Krypton  2,35  Ä  und  für  Xenon  2,70  Ä. 

Endlich  läßt  sich  aus  den  gleichen  Gesichts- 
punkten heraus  auch  jene  Beobachtung  deuten, 
daß  die  empirische  Beziehung  der  Atomdurch- 
messer am  schlechtesten  stimmt  für  die  elektro- 
positiven Elemente,  wenn  sie  als  Elemente 
kristallisieren.  Langmuir  stellt  sich  einen  der- 
artigen Kristall  vor  als  aufgebaut  aus  positiv  ge- 
ladenen Ionen,  die  von  freibeweglichen  Elektronen 
zusammengehalten  werden.  Es  besteht  in  diesem 
Falle  also  keinerlei  Elektronenbindung  zwischen 
den  einzelnen  Atomen  und  ihre  Anordnung  wird 
daher  gern  die  Form  einer  Kugelpackung  an- 
nehmen. Tatsächlich  kann  die  Kristallstruktur 
vieler  dieser  meistens  regulär  oder  hexagonal 
kristallisierenden  Elemente  als  Kugelpackung  auf- 
gefaßt werden  (vgl.  Natur w.  Wochenschr.,  1921, 
Nr.  40).  Hingegen  ist  es  nicht  weiter  verwunder- 
lich, wenn  die  elektronegativen  Elemente,  wo  ge- 
meinsame Elektronen  eine  ganz  bestimmte  Bin- 
dung verursachen,  im  kristallisierten  Zustande 
eine  kompliziertere  Struktur  annehmen,  wie  es 
z.  B.  für  Schwefel,  Selen,  Tellur,  Jod,  Arsen,  Anti- 
mon und  Wismuth  bekannt  ist.  Spbg. 

Ethnologie  der  Balier. 

Große  Fruchtbarkeit  des  Bodens  ist  der  indo- 
nesischen Insel  Bali  ebenso  eigen  wie  dem  be- 
nachbarten Java,  mit  dem  sie  erst  in  verhältnis- 
mäßig später  geologischer  Periode  den  Zusammen- 
hang verlor.  In  der  westhchen  Inselhälfte  gibt  es 
noch  bis  ans  Meer  reichende  Urwälder,  denen  je- 
doch die  Schwüle  und  Düsterkeit  fehlt,  die  solche 
Wälder  gewöhnlich  auszeichnen.    Im  Osten  haben 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


611 


die  Menschen  die  Urwaldhänge  in  weiter  Er- 
streckung zu  einem  ununterbrochenen  Gefälle  von 
Terrassenfeldern  gemacht,  die  dem  Anbau  von 
Reis  dienen  und  auch  die  Ebene  an  der  Küste 
ist  ein  ungeheures  Schachbrett  mit  spiegelnden 
Feldern.  Landesnatur  und  Bevölkerung  Balis  ver- 
anschaulicht Dr.  Gregor  Krause  in  Bd.  2  u.  3 
der  Schriftenreihe  „Kunst  und  Leben  Asiens".  *) 
Von  den  Baliern  sagt  uns  K.,  daß  sie  in  körper- 
licher und  kultureller  Beziehung  stark  durch  die 
Einwanderung  von  Indo-Javanen  beeinflußt  wurden. 
Während  der  Blütezeit  des  Hinduismus  auf  Java 
(ungefähr  von  700  bis  1158  n.  Chr.)  war  Bali 
eine  javanische  Kolonie.  Nach  dem  Fall  des 
letzten  Hindureiches  auf  Ostjava  flüchteten  zu  Be- 
ginn des  16.  Jahrhunderts  große  Scharen  von 
Siwaiten  und  Buddhisten  vor  dem  Ansturm  des 
Islam  nach  Bali,  wo  noch  heute  in  der  Ober- 
schicht der  Bevölkerung  indoarische  Körper-  und 
Gesichtsformen  häufig  zu  sehen  sind.  Ein  Teil 
der  malayischen  Ureinwohner,  der  von  dem  Hindu- 
ismus nichts  wissen  wollte,  zog  sich  in  die  Berge 
zurück,  wo  eines  ihrer  unabhängigen  Staatswesen 
noch  vor  etwa  100  Jahren  bestand.  Die  übrigen 
Balier  übernahmen  die  hinduistische  Kultur  in  be- 
schränktem Umfange.  Das  Kastenwesen,  das 
einer  ihrer  wichtigsten  Bestandteile  ist,  konnte 
sich,  dank  dem  Volkscharakter,  nicht  zu  dem 
starren  System  ausbilden  und  nicht  so  fortschritt- 
hemmend wirken,  wie  in  Vorderindien.  Die  kasten- 
angehörigen  Oberschichten  bilden  nur  etwa  5  "/q 
der  Einwohnerschaft;  die  Masse  des  Volkes  ist 
kastenlos.  Die  Volkssprache  gehört  zu  der  großen 
Gruppe  austronesischer  Sprachen,  die  von  Mada- 
gaskar bis  Formosa  und  dem  Osten  Australiens 
gesprochen  werden,  die  Oberschicht  gebraucht 
eine  durch  Sanskriteinflüsse  veränderte  und  be- 
reicherte Abart  davon.  In  den  Dorfgenossen- 
schaften, den  Trägern  der  Wirtschaft,  deren  Wesen 
K.  ausführlich  schildert,  sowie  in  anderen  Ver- 
einigungen, hat  jeder  dieselben  Pflichten  und 
Rechte,  doch  sind  die  Kastenangehörigen  von  ge- 
wissen öffentlichen  Dienstleistungen  enthoben  und 
bei  gewissen  Vergehen  werden  sie  milder  bestraft 
als  andere.  Für  Eheschließungen  gilt  die  Regel 
der  Hypergamie;  Frauen  dürfen  in  eine  höhere 
soziale  Schicht  hinaufheiraten,  aber  nicht  unter 
ihren  Stand  herabgehen.  Diese  Regel  gilt  auch 
im  hinduistischen  Vorderindien  allgemein.  Die 
Frauen  erfreuen  sich  einer  durchaus  geachteten 
Stellung  und  großen  Einflusses.  In  der  Öffent- 
lichkeit ist  aber  strenge  Trennung  der  Geschlechter 
die  Regel,  eine  Folge  hinduistischer  Auffassung 
der  Geschlechtsbeziehungen.  Nur  gelegentlich  der 
Reisernte  kommen  Jünglinge  und  Mädchen  zu- 
sammen und  es  ist  Gelegenheit  zur  Gattenwahl. 
Die  Eheschließung  erfolgt  durch  eine  Scheinent- 
führung, der  Hochzeitsmahl  und  Tempelfestlich- 
keiten folgen. 

')  Krause,  Bali,  Bd.  l:  Land  und  Volk,  Bd.  2:  Tänze, 
Tempel,  Feste.  Mit  zahlreichen  photographischen  Wieder- 
gaben.    Hagen  i.  W.  1920,  Folkwang  Verlag. 


Der  Grad  der  sexuellen  Differenzierung  der 
Geschlechter  ist  gering,  was  K's.  Bilder  deutlich 
beweisen.  Davon  abgesehen  ist  die  Körperform 
der  Balier  eine  sehr  schöne.  Der  weiblichen 
Körperschönheit  sehr  förderlich  ist  das  allgemein 
übliche  Tragen  der  Lasten  auf  dem  Kopfe,  wo- 
durch der  Schultergürtel  und  seine  Muskulatur 
voll  entwickelt  werden,  so  daß  sich  auch  eine 
günstige  Unterlage  für  die  Brüste  ergibt.  Die 
Schultern  sind  von  nahezu  gleicher  Breite  wie  die 
Hüften ;  die  Beine  sind  schlank  und  doch  von  fast 
männlicher  Stärke.  Die  sozialen,  rechtlichen  und 
wirtschaftlichen  Zustände  der  Balier,  wie  sie  K. 
darstellt,  zeigen  durchweg  mehr  oder  minder  das 
Ergebnis  des  Kontakts  indo-arischer  und  ma- 
layischer  Psyche.        -  H.  Fehlinger. 

Die  lichtelektrische  Wirliung  unterteilter 
Lichtquauteu. 

(Mit  I  Abbildung.) 

Trifft  ein  Strahl  natürlichen  Lichts  auf  einen 
Kalkspatkristall,  so  wird  er  in  zwei  senkrecht  zu- 
einander schwingende  Strahlen  von  untereinander 
gleicher  Energie  zerlegt.  Nach  der  klassischen 
Auffassung  vom  Wesen  des  Lichts  wird  hierbei 
jede  einzelne  auf  den  Kalkspat  auffallende  Licht- 
welle in  zwei  Anteile  gespalten,  die  den  beiden 
im  Kalkspat  allein  möglichen  Schwingungsebenen 
entsprechen.  Bei  der  Annahme  von  Lichtquanten 
in  einem  Strahl  könnte  dies  aber  anders  sein. 
Wenn  es  wirklich  Lichtquanten  gibt,  so  hat  man 
sich  diese  wohl  als  zusammenhängende  (kohärente) 
Wellenzüge  von  geringem  Querschnitt  in  einem 
Lichtstrahl  vorzustellen.  Der  Vorgang  der  Doppel- 
brechung im  Kalkspat  könnte  daher  so  sein,  daß 
jedes  einzelne  Lichtquant  als  Ganzes  erhalten 
bleibt,  indem  es  sich  derjenigen  der  beiden 
Schwingungsebenen  im  Kalkspat  anpaßt,  mit  der 
seine  eigene  Schwingungsebene  den  kleinsten 
Winkel  bildet. 

Nun  soll  einer  der  beiden  im  Kalkspat  ent- 
standenen Lichtstrahlen  auf  einen  zweiten  ent- 
sprechend orientierten  Kalkspat  fallen.  Es  erfolgt 
wiederum  Doppelbrechung.  Das  ist  aber  bei  der 
Annahme  von  Lichtquanten  nur  möglich,  wenn 
diese  unterteilt  werden.  Denn  die  auf  den  zweiten 
Kalkspat  auffallenden  Lichtquanten  haben  alle  ein 
und  dieselbe  Schwingungsrichtung.  Bei  der  phy- 
sikalischen Gleichartigkeit  der  Quanten  oder  kohä- 
renten Wellenzüge  können  diese  als  Ganzes  nicht 
beliebig  der  einen  oder  der  anderen  im  Kalkspat 
möglichen  Schwingungsrichtung  folgen ;  die  er- 
fahrungsgemäß im  zweiten  Kalkspat  erfolgende 
Teilung  des  Lichtstrahls  in  die  zwei  möglichen 
Schwingungsrichtungen  des  Kristalls,  ist  nur  durch 
wirkliche  Teilung  der  einzelnen  Lichtquanten  mög- 
lich. „Benützt  man  also  schließlich  nur  den  einen 
der  beiden  durch  den  zweiten  Kalkspat  gelangten 
Strahlen,  so  stellt  dieser  jedenfalls  ein  Bündel 
unterteilter  Lichtquanten  dar." 

Von   hohem  Interesse  ist  die  lichtelektrische 


6l2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Wirkung  eines  solchen  Strahles,  der  möglicher- 
weise unterteilte  Lichtquanten  enthält.  Der  licht- 
elektrische Effekt  besteht  bekanntlich  darin,  daß 
aus  Stoffen  unter  dem  Einfluß  einer  Wellenstrah- 
lung freie  Elektronen  abgespalten  werden.  Die 
Menge  der  freiwerdenden  Elektronen  ist  durch 
die  Intensität  der  ankommenden  Strahlung,  die 
Geschwindigkeit  der  Elektronen  durch  die  Fre- 
quenz der  Strahlung  bestimmt.  Die  Energie  eines 
Lichtquants  wird  beim  lichtelektrischen  Effekt  zum 
Ablösen  eines  Elektrons  aus  dem  Verband  eines 
Atoms  und  zur  Bescheunigung  des  Elektrons  ver- 
braucht. Enthält  nun  ein  Lichtstrahl  bestimmter 
Frequenz  halbierte  Lichtquanten,  so  müßte  sich 
dies  an  der  Geschwindigkeitsverteilung  der  Elek- 
tronen und  an  der  abgespaltenen  Gesamtelektronen- 
menge  auf  das  deutlichste  zeigen.  Da  ein  halbes 
Lichtquant  nur  die  halbe  Energie  besitzt,  so  müßte 
die  Geschwindigkeitsverteilung  der  Elektronen  die 
gleiche  wie  bei  Verdopplung  der  Wellenlänge 
sein;  die  Elektronenmenge  müßte  außerordentlich 
stark  abnehmen. 

C.  Ramsauer')  untersuchte  experimentell 
die  Abhängigkeit  der  Geschwindigkeitsverteilung 
der  Elektronen  von  der  Unterteilung  der  Licht- 
quanten. Zu  diesem  Zweck  wurde  das  Licht 
einer  Quecksilberquarzlampe  auf  die  Außenfläche 
eines  Quarzprismas  als  Polarisationsspiegel  geleitet 
und  zwar  unter  einem  Einfallswinkel  von  58 ", 
einer  Wellenlänge  von  250/<,(i  entsprechend.  Das 
polarisierte  Licht  ging  dann  durch  ein  natürliches 
Kalkspatstück   und   der   ordentliche   Strahl  o   fiel 


durch  die  Quarzplatte  Q  auf  den  Zinkstreifen  Z. 
Die  hier  ausgelösten  Elektronen  bestimmter  Ge- 
schwindigkeit werden  durch  das  bestimmte  IMagnet- 
feld  eines  hier  nicht  gezeichneten  Spulensystems 
auf  der  durch  Blenden  festgelegten  Kreisbahn  k 
in  den  Auffangekäfig  A  geleitet,  welcher  mit  einem 
Elektrometer  in  Verbindung  stand.  Die  gezeich- 
nete lichtelektrische  Anordnung  befand  sich  in 
einem  Hochvakuum  röhr,  das  durch  eine  Diffusions- 
pumpe und  flüssige  Kohlensäurekühlung  evakuiert 
wurde. 

Es  ergab  sich,  daß  die  Geschwindigkeitsvertei- 


')  Ann.   d.  Phys.  Bd.  64,  S.   750— 75S  (1921). 


lung  der  Elektronen  auch  bei  Unterteilung  der 
Lichtquanten  auf  V2  und  '/i  genau  die  gleiche 
bleibt.  Die  absoluten  Mengen  der  maximal  ver- 
tretenen Geschwindigkeiten  und  damit  die  ihnen 
proportionalen  absoluten  Mengen  aller  senkrecht 
zu  Z  ausgesandten  Elektronen  entsprechen  der 
Lichtstärke. 

Um  schließlich  auch  bei  weitgehendster  Unter- 
teilung der  Lichtquanten  die  Abhängigkeit  der 
Elektronenmengen  zu  prüfen,  wurde  bei  etwas 
geänderter  Versuchsanordnung  an  Stelle  des  Zink- 
streifens Z  eine  Kaliumnatriumzelle  verwendet. 
Auch  mit  dem  schwächsten  kontinuierlichen  weißen 
Licht  einer  Glühfadenlampe  wurden  Versuche  an- 
gestellt. Die  Unterteilung  der  Lichtquanten  ge- 
schah bis  auf  rund  '/so  bis  Viooo-  Aber  selbst 
bei  weitgehendster  Unterteilung  der  Lichtquanten 
waren  die  lichtelektrisch  ausgelösten  Elektronen- 
mengen einfach  der  Gesamtenergie  des  Licht- 
strahls proportional.  Ramsauer  zieht  daher  die 
Folgerung:  „Das  Atom  summiert  die  Energien  der 
in  seinen  Wirkungsbereich  kommenden  Lichtwellen 
bis  zu  dem  Betrage  des  der  Schwingungszahl  ent- 
sprechenden Quants,  einerlei,  ob  das  aus  dem 
emittierenden  Atom  stammende  Lichtquant  als 
Ganzes  ankommt  oder  ob  nacheinander  eine  ent- 
sprechende Anzahl  kleinster  Quantenbruchteile 
eintreffen."  Es  scheint  also  nicht  die  ankommende 
Lichtenergie  quantenhaft  gegliedert  zu  sein,  son- 
dern es  scheint  beim  lichtelektrischen  Effekt  nur 
der  das  Licht  aufnehmende  Atommechanismus 
quantenhaft  zu  arbeiten. 

Sieht  man  von  allen  hypothetischen  Vorstel- 
lungen ab,  so  hat  Ramsau  er  durch  seine  wich- 
tige Arbeit  den  experimentellen  Nachweis  erbracht, 
daß  der  lichtelektrische  Effekt  eines  Strahles  durch 
die  zweimalige  Passierung  eines  Polarisators  nicht 
geändert  wird.  Karl  Kuhn. 

Yoni  Elefanten  des  Kaokofeldes. 

Der  eigentliche  Bewohner  des  Kaokofeld- 
Geländes  in  Deutsch  Südwest- Afrika,  der  Ele- 
fant, zeigt,  wie  Hauptmann  Steinhardt,  der 
Verfasser  des  eine  wertvolle  Anreicherung  der 
wissenschaftlichen  biologischen  nnd  Fortpflanzungs- 
literatur bildende,  im  letzten  Winter  im  Alster- 
Verlag  in  Hamburg  erschienene  Werk :  „Vom  wehr- 
haften Riesen",  im  Naturwissenschaftlichen  Verein 
in  Hamburg  ausführte,  körperlich  wesentliche  Ab- 
weichungen von  den  bisher  bekannten  Elefanten  In- 
diens, des  Kaplandes  und  des  übrigen  Afrikas,  so  daß 
er  als  besondere  Art  angesprochen  werden 
muß.  Besonders  auffallend  ist  die  riesige  Größe, 
4V2  m  Schulterhöhe  durchschnittlich,  und  die 
Form  des  Ohrs.  Es  fehlt  dem  Ohr  der  untere 
spitze  Ausläufer,  wenigstens  ist  diese  Spitze  so 
wenig  ausgebildet,  daß  das  Ohr  als  Ganzes  „kreis- 
rund" erscheint.  Bemerkenswert  ist  ferner  die 
Elastizität  der  Fußsohle.  Sie  wirft  sich  in  den- 
selben Schwielen  und  platzt,  wenn  man  so  sagen 
darf,  im  selben  Muster  auf  wie   die  Fußhaut  des 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


613 


Kaoi<oeingebornen.     Wenn  man   also,   durch   das 
Gelände    bedingt,    nur    einen    kleinen    Ausschnitt 
eines    Fußabdruckes    findet,    dann    ist    der    Jäger 
nicht   in    der  Lage,    mit  Sicherheit  zu  behaupten, 
ob   dieser  Abdruck   von    dem  Fuße    eines  Einge- 
bornen  oder  von  der  Säule  eines  gewaltigen  Ele- 
fanten stammt.     Durch  die   herrschenden  Lebens- 
verhältnisse  bedingte    Übereinstimmung    mag    es 
weiter   sein,    wenn    die    nach    verdauter  Mahlzeit 
erschlaffende  Bauchhaut  des  Buschmannes  sich  im 
selben  Muster    faltet    wie    die  Bauchhaut  eines  in 
seinem  Futterzustande  aus  irgendwelchen  Gründen 
zurückgegangenen     Elefanten.       Das    Zusammen- 
leben   der  Elefanten    in  Herden    und    Rudeln    ist 
lockerer  zur  Regenzeit,  enger  während  der  Trocken- 
periode  und   bietet   keine  Veranlassung   zu  einer 
Inzucht,   wie    dies    vom    indischen    Elefanten    be- 
hauptet   wird.      Sonst    würde    der    Elefant    des 
Kaokofeldes  wohl  längst  ausgestorben  sein.    Wer- 
fung   und  Aufzucht    des    Kalbes    findet    von    der 
Kuh  zunächst  abgesondert    von    der  Herde    statt; 
nur    ganz    ausnahmsweise   trifft    man    einmal    auf 
eine  Familie,  bestehend  aus  Kuh,  Bullen  und  bis 
zu  3  Kälbern,  deren  Größenunterschiede  es  wahr- 
scheinlich machen,  daß  sie  von   derselben  Mutter 
stammen.    Vortragender  selbst  hatte  in  mehr  denn 
7jährigem   Beobachterleben   solche   Familien   nur 
drei    oder    viermal    gesehen,     davon    eine    durch 
5  Jahre  in  derselben  Gegend  immer  wieder  ange- 
troffen.    Unverträglich  ist  das  Verhältnis  des  Ele- 
fanten zum  Löwen  und  scheu  meidet  letzterer  die 
Standreviere  des  Elefanten,  deren  inselartige  Ver- 
teilung  über   das   Feld    ohne  ersichtlichen  Grund 
eigenartig  sind.     Jahraus,  jahrein  sind  die  Dick- 
häuter   an    einer    Wasserstelle    regelmäßig   anzu- 
treffen, an  einer  aber  nur  30  km  davon  entfernten 
doch  niemals,  obwohl  Äsungsverhältnisse  und  der 
ganze  Landschaftscharakter  an  beiden  Wasserstellen 
die  durchaus  gleichen  sind.     Fremd    ist  das  Ver- 
hältnis des  Elefanten  zum  Nashorn,  das  wohl  die 
Standreviere,   doch   nur   ganz  ausnahmsweise  die 
Wasserstellen  des  Elefanten  teilt.    Elefant,  Nashorn 
und    Zebra    sind    im    Kaokofeld    reine    Bergtiere, 
deren  Wechsel   zu   begehen   oft  Schwindelfreiheit 
voraussetzt.     Gelegenheit  zu  besonders   eingehen- 
der Beobachtung   gestattet   die  Eigenart   des  Ge- 
ländes   mit    den  Wasserstellen,    wo  Vortragender 
sich  in  oft  buchstäblich  handgreiflicher  Nähe  von 
Herden    sämtlicher    Wildarten    aufhalten    konnte, 
ausgenommen  derjenigen  Wildart,    die,    wie  z.  B. 
die  Giraffe,  vom  Wasser  absolut  unabhängig  sind. 
Hier  wurde  gesehen,  daß  die  Waffe  des  Elefanten 
nur  der   Rüssel,    nicht    aber  der   Zahn   ist.     Der 
Stoßzahn  dient  einzig  und  allein  zum  Graben  nach 
Wurzelwerk  und  zwar  scheint  es,  daß  abwechselnd 
der  eine  Zahn  vermehrt  als  Arbeitszahn  gebraucht 
und  bei   dessen    erheblicher  Abnutzung    erst    mit 
dem  anderen  Zahn  gewechselt  wird.  —  Die  Nah- 
rung besteht  in  der  Hauptsache  aus  Baumblättern, 
Baumrinden    und  Wurzelwerk,    Gräser   und  Schilf 
werden    nur    ganz   gelegentlich    aufgenommen.  — 
Ist  im  Verhalten  der  Tiere  Gutmütigkeit   im  all- 


gemeinen auch  zu  vermerken,  so  sind  sie  nichts- 
destoweniger im  gereizten  Zustande  gefährlich, 
ihrer  Stärke  sich  anscheinend  bewußt.  Der  Ge- 
sichtssinn ist  nicht  besonders  ausgebildet,  desto 
ausgeprägter  ist  der  Elefant  ein  Nasentier.  Er 
muß  bei  Witterung  als  sehr  vorsichtiges  Wild 
angesprochen  werden,  wenn  auch  vertraut  eine 
Elefantenherde  auf  der  Wanderung  einen  recht 
erheblichen  Lärm  macht.  —  Die  Ausführungen 
waren  durch  gute  Lichtbilder  vorteilhaft  unter- 
stützt. Seitens  der  Engländer  war  der  Vortragende 
des  reichen,  vorzüglichen  und  in  langjähriger 
mühevoller  Arbeit  in  den  Tropen  erworbenen 
Materials  fast  ganz  beraubt  worden  und,  wie  er 
zu  konstatieren  vor  kurzem  Gelegenheit  hatte, 
bringen  englische  wissenschaftliche  Werke  jetzt 
schamlos  dieses  Material  unter  Verschweigung  des 
deutschen  F'orschernamens  und  des  Umstandes, 
der  sie  in  den  Besitz  dieses  Materials  gelangen 
ließ,  mit  der  Bezeichnung  eines  Engländers  als 
Autor.  Petersen. 

Pliiriglandnläi'e  Yerjüngung. 

Daß  als  Ursache  des  Alterns  nicht  nur  die 
Atrophie  der  Pubertätsdrüse,  sondern  auch  die 
Veränderung  anderer  Blutdrüsen  in  Frage  kommt, 
sucht  E.  Leschke  in  seinem  Vortrag  über  „die 
Wechselwirkungen  der  Blutdrüsen  bei  der  Base- 
dow sehen  Krankheit,  dem  Diabetes  mellitus  und 
dem  Verjüngungsproblem"  ^)  zu  erweisen.  Er 
erinnert  an  die  Wechselbeziehungen  zwischen 
Nebennieren  und  Keimdrüsen  und  weist  vor  allem 
auf  das  vorzeitige  Altern,  das  durch  Hypoplasie 
der  Nebennierenrinde  hervorgerufen  wird,  hin. 
Auch  das  frühzeitige  Altern  bei  Atrophie  des 
Hypophysenvorderlappens  spricht  gegen  eine 
Überschätzung  der  Beziehungen  zwischen  Puber- 
tätsdrüse und  Alterserscheinungen.  Dem  ent- 
sprechend versucht  Leschke  bei  der  Altersbe- 
kämpfung nicht  nur  die  Inkretion  des  Interstitiums 
der  Keimdrüsen,  sondern  auch  die  der  Hypophyse 
und  der  Nebennieren  anzuregen.  Er  wendet  da- 
bei neben  der  Vasektomie  der  Hoden  eine  Reiz- 
bestrahlung der  genannten  Blutdrüsen,  wenn  mög- 
lich Organtransplantation  an.  Von  einer  solchen 
„pluriglandulären  Verjüngung"  (besser  Altersbe- 
kämpfung) sind  jedenfalls  weitreichendere  Erfolge 
zu  erhoffen,  als  sie  bei  einfacher  „Neubelebung 
der  alternden  Pubertätsdrüse"  möglich  sein  wer- 
den. Übrigens  zweifelt  auch  Leschke  nicht  an 
der  inkretorischen  Bedeutung  der  Zwischenzellen 
der  Keimdrüsen,  steht  also  auf  dem  Boden  der 
St  ei  nach  sehen  Pubertätsdrüsenlehre.  Er  betont 
aber  die  ausschlaggebende  Rolle  der  Korrelationen 
zwischen  den  Blutdrüsen,  unter  denen  die  Keim- 
drüsen nach  seiner  Ansicht  beim  Menschen  keine 
beherrschende  Stelle  einzunehmen  brauchen, 
während  sie  z.  B.  bei  Ratten,  an  denen  Steinach 
experimentiert,  eine  solche  einzunehmen  scheinen. 

Gustav  Zeuner. 

')    Wiener    Medizinische    Wochenschrift,     71.    Jahrgang, 
Nr.   I,   1921. 


6i4 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Bücherbesprechungen. 


(Strasburger),    Lehrbuch    der  Botanik   für 
Hochschulen.     15.  Aufl.,   bearbeitet   von  H. 
Fitting,  L.  Jost,  H.Schenck,  G.Karsten. 
8".    701  S.  mit  849  z.  T.  farbigen  Abbildungen. 
Jena  192 1,  G.  Fischer.    Brosch.  44  M.,  geb.  55  M. 
Küster,    E.,     Lehrbuch    der    Botanik    für 
Mediziner.     8".     420  S.  mit   280  schwarzen 
und  farbigen  Abbildungen.     Leipzig  1920,  F.  C. 
W.  Vogel.     Brosch.  85  M. 
Giesenhagen,    K.,    Lehrbuch    der    Botanik. 
8.    Aufl.     8".     447    S.    mit    560    Abbildungen. 
Leipzig  1920,  B.  G.  Teubner.     Brosch.  39,60  M., 
geb.  44  IVI. 
Miehe,    H.,     Taschenbuch     der    Botanik. 
2.   Aufl.,    2  Teile   (Dr.  W.  Klinkhardts  Kolleg- 
hefte 3    und   4).     8".     167    und  76  S.    mit  298 
und  114  Abbildungen.    Leipzig  1919/20,  Werner 
Klinkhardt.      Kart.    8  M.    für   Teil  I    und   9  M. 
für  Teil  IL 
Trunkel,  H.,   Repetitorium  der  Pflanzen- 
kunde.   5.  Aufl.    Kl.  8".    116  S.    Leipzig,  Joh. 
Ambros.  Barth.     Brosch.  15  M.,   geb.  17,50  M. 
Gerke,  O.,  Kurzes  Lehrbuch  der  Pflanzen- 
kunde.   8°.    230  S.  mit  40  Abbildungen.    Han- 
nover 1920,  M.  u.  H.  Schaper.     Brosch.  23,80  M. 
Wiesner,  J.,    Anatomie   und    Physiologie 
der    Pflanzen    (Elemente    der    wissenschaft- 
lichen   Botanik  I).      6.  Aufl.   bearbeitet    von  K. 
Linsbauer.    8".   412  S.  mit  303  Abbildungen. 
Wien  und  Leipzig  1920,  Alfr.  Holder.     Brosch. 
24  M. 
Je  höher  die  Preise  auch  der  gangbaren  Lehr- 
bücher heute  werden,  um  so  ernsthafter  wird  der 
Studierende,  der  Lehrer  oder  Naturfreund  sich  be- 
mühen, gerade  das  für  seine  Absichten  und  Vor- 
bildung geeignete  Lehrbuch    zu  erwerben;    daher 
dürfte    ein    Vergleich    einer    Reihe    von    neu    er- 
schienenen Lehrbüchern  der  Botanik  willkommen 
sein.     Sind   auch    nur  wenige  von  vornherein  auf 
einen    bestimmten    Kreis    in    Umfang    und    Aus- 
führung zugeschnitten,   so  tragen  doch  die  länger 
bekannten  ein  gewisses  Gepräge,  das  immer  selbst- 
verständlicher beachtet  sein  will.    Das  von  Stras- 
burger  und    seinen    drei  Mitarbeitern    1894   be- 
gründete Bonner  Viermännerbuch    hat  unter 
dem    neuen  Herausgeberkreis,   in    dem    nur    noch 
H.   Schenck    seit    Anfang   wirkt,    nunmehr    die 
hohe  Ziffer  der  15.  Aufl.  erreicht.    Wenn  die  Zu- 
nahme   des    wichtig    erscheinenden  StoiTes   längst 
den  Umfang   des  Anfangs    erheblich    vergrößerte, 
so  ist  doch   durch   das   gelegentliche  Umarbeiten 
auch  ab  und  an  eine  Kürzung  möglich  geworden. 
Die    wenig    sichtbare,    aber    schwere    Arbeit    des 
Streichens  verhältnismäßig    weniger   wichtig  Ge- 
wordenen kennzeichnet    oft   am  besten  den  Fort- 
schritt des  Buches,  das  heute  für  den  Studierenden, 
wie   den  Lehrer   aller  Anstalten    das   erste    Nach- 
schlagebuch   ist    und  bleibt.     Trotz   des  Umfangs 
hat    das  Werk   auch    zum    ersten  Studium    seine 
Eignung  behalten,  da  es  vermittels  verschiedenen 


Druckes  Hauptsachen  abschnittweise  heraushebt 
und  das  für  den  Fortgeschrittenen  Bestimmte 
zurückschiebt.  Daneben  bietet  es  aber  als  einziges 
der  gebräuchlicheren  Lehrbücher  auch  einen  An- 
hang mit  der  grundlegenden  und  der  neuesten 
Sonderliteratur,  deren  Kenntnis  leider  durch  die 
steigende  Zahl  und  Güte  der  Lehrbücher  sonst 
Studierenden  nicht  so  nahe  gelegt  wird,  wie  es 
sein  sollte.  Die  Schreibweise  ist  in  allen  vier 
Teilen  des  Buches  erstaunlich  ausgeglichen  und 
ungeachtet  der  Menge  der  Einzelheiten  nicht  er- 
müdend zusammengedrängt.  Lange  pädagogische 
Erfahrung  vermag  allein  dies  Ergebnis  zu  zeitigen. 
Zur  näheren  Übersicht  sei  bemerkt,  daß  der 
Morphologie  (von  H.  Fitting)  eine  die  Gebiete 
und  Begriffe  bestimmende  Einleitung  mit  der 
Aussprache  über  „Tier  und  Pflanze"  vorangeht; 
dieser  Teil  schHeßt  auch  die  Anatomie  ein.  In 
der  Zellenlehre  sind  manche  Veränderungen  durch 
schärfere  Fassung,  wie  sie  die  Fortschritte  des 
Gebietes  mit  sich  bringen,  Zusätze  physiologisch- 
chemischer Art  u.  a.  als  Kennzeichen  der  neuen 
Auflage  zu  nennen.  - —  Die  Physiologie  (von  L.Jost) 
enthält  auch  die  Vererbungslehre;  die  Abschnitte 
Stoffwechsel,  Entwicklung  und  Bewegungen  wer- 
den sehr  glücklich  durch  den  Schluß  „Rückblick 
auf  die  Reizerscheinungen"  ergänzt,  der  in  seiner 
Wissenschaftlichkeit  doch  geeignet  sein  wird,  vor 
Irrwegen  journalistischer  Literatur  zu  warnen,  wie 
das  heutzutage  in  den  beschreibenden  Natur- 
wissenschaften nottut.  —  Im  systematischen  Teil 
(etwa  der  Hälfte  des  Buches)  werden  von 
H.  Schenck  die  Thallophyten,  Bryophyten  und 
Pteridophyten,  von  G.  Karsten  die  Spermato- 
phyten  behandelt.  Auch  hier  ist  immer  noch 
Neues  vorteilhaft  nachgetragen,  von  jeher  ja  darin 
viel  Allgemeines  enthalten  gewesen.  (Hier  erhebt 
sich  die  Frage,  wie  weit  der  Wunsch  nach  Be- 
schneidung bzw.  Verbilligung  des  Werkes  wenig- 
stens bei  den  eigentlich  systematischen  Angaben 
auf  vollständige  Sätze  zu  verzichten  gestattete?) 
Für  den  Gebrauch  das  Buches  ist  natürlich  zu 
bemerken,  daß  jeder  werdende  oder  fertige 
Lehrer,  der  sich  seiner  bedient,  daneben  eine 
„Flora"  nicht  entbehren  kann!  Aber  eben  des- 
halb lassen  sich  vielleicht  manche  Stellen,  auch 
über  einheimische  Blütenpflanzen  kürzen.  —  Uns 
darf  heute  besonders  freuen,  daß  das  deutsche 
Viermännerbuch  auch  in  anderen  Ländern 
seinesgleichen,  an  Zweckmäßigkeit  für  sehr  ver- 
schiedene Kreise  und  Stufen  zugleich,  nicht 
hatl  — 

An  Umfang  kommt  dem  vorhergehenden  das 
Küster  sehe  Lehrbuch  von  den  oben  genannten 
am  nächsten,  unterscheidet  sich  aber  zunächst 
durch  seine  besondere  Bestimmung  für  Mediziner. 
Der  Verf.  greift  damit  die  in  jüngster  Zeit  viel 
behandelte  Frage  auf,  ob  der  Mediziner  von  der 
Botanik  oder  wenigstens  einem  wesentlichen  Teil 
davon  entlastet  und  ihm  als  Ersatz  vielleicht  nur 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


615 


eine  allgemeine  Biologie  geboten  werden  soll.    Er 
spricht   durch   sein  Buch    sich    für   den    von    den 
meisten    Botanikern    wohl    geteilten    entgegenge- 
setzten Standpunkt  aus,  greift  aber  zugleich  tätig 
in  den  Kampf  für  Erhaltung  des  Faches  in  richtiger 
Bewertung  ein,    indem  er  den  Gegenstand,   mehr 
als    bisher  geschehen,    den  IVIedizinern    mit    ihrer 
besonderen    Einstellung    gegenüber     den    Fragen 
darzustellen  bemüht  ist.     Man  darf  sagen,  daß  er 
sich    damit    ein    großes    Verdienst    erworben,    zu- 
gleich    aber    auch    neue    Gedankenverbindungen 
und  Tatsachenfolgen   aus    dem  Gebiet    der  allge- 
meinen   Botanik    einem    größeren    Kreis    so    an- 
ziehend   und    förderlich    vorgeführt  hat,    daß  ihm 
auch  die  engeren  Fachgenossen  für  Anregung  und 
Belehrung  dankbar  sein  können.    Eine  kurze  Über- 
sicht zeigt   am  besten,   daß   die  bekanntermaßen 
dem  Mediziner  liegenden  Teilgebiete  und  Fragen 
getroffen    sein    dürften:    In    der    Einleitung    über 
„Tier   und  Pflanze"    ist    mehr    als    sonst   auf  das 
Tier  hingewiesen,   wie   im  Buch  auch  anderwärts 
der    Vergleich    natürlich     stark    hervortritt;     eine 
Darlegung     des    Begriffs     „angewandte    Botanik" 
wendet  sich  offen  an  den  zu  gewinnenden  Leser. 
(Es  ist  interessant,  daß  auf  dem  Vergleichsmoment 
„Protoplasma"  für  Tier   und  Pflanze  hier  weniger 
Wert  liegt  1)    Die  Morphologie  trennt  überraschend 
Thallophyten    und  Kormophyten  scharf:    dadurch 
wird  ein  Grundstein  der  Systematik  vielleicht  ab- 
sichtlich  schon  vor   dem    speziellen  Teil   gelegt, 
der  pädagogisch    mehr  Schwierigkeit    als  anderes 
bietet.    Die  Anatomie  kann  ziemlich  kurz  ausfallen 
(24  S.).  Dann  aber  folgen  statt  des  sonst  wohl  „Physio- 
logie" genannten  Stoffes  drei  Kapitel :  Physiologie 
(Bewegung  des  Wassers  usw.  in  der  Zelle,  Baustoff- 
wechsel, Leitung,  Betriebsstoffwechsel,  Wachstum, 
Bewegung,  Vermehrung  undVererbung)  auf  50  Seiten,' 
Pflanzenchemie  mit  30  Seiten,    Pathologie  mit  35 
Seiten.      Die   letzteren    beiden  Abschnitte  dürften 
zum    erstenmal    lehrbuchhaft    dargestellt    worden 
sein.   Daß  sie  für  den  Mediziner  das,  was  er  darin 
sucht,  besser  als  in  anderen  Teilen  höchstens  ein- 
gestreuten Notizen  bieten,  ist  klar.      Es   lag  doch 
gerade  für  diese  inhaltsreichen  Gebiete  soviel  ganz 
allgemein  in  die  Lehrbücher  noch   nicht  so  recht 
eingegangenen  Stoffes  vor  (so  für  die  Pathologie 
das  weit  mehr  als  Daten,  vielmehr  originelle  Ge- 
dankengänge bietende  Buch  Küsters  selbst),  daß 
init    diesem    Schritt    geradezu    unter    den  Medi- 
zinern   der  Boden   auch   für  eigene  Beobachtung, 
für  Vergleich    und    Kritik   der  botanischen  Daten 
erstmalig  bereitet  sein  wird.     Der  pflanzenchemi- 
sche Teil  dient  im  Vergleich  hiermit    mehr  auch 
Niederschlagszwecken.    (Bei  diesen  beiden  für  den 
engeren  Benutzerkreis  so  wesentlichen  Abschnitten 
ist  vielleicht  der  Verzicht  auf  Literatur,  wenigstens 
Handbücher   oder  neueste  Angaben    bedauerlich.) 
Wie  der  systematische  Teil  (160  Seiten  1)  erkennen 
laßt,    hält   der  Verf.   auch    an   diesem    Gebiet  für 
den  Mediziner  noch  fest,  das  andere  Fachgenossen 
sonst  eher  preiszugeben  geneigt  sind.     Er  hat  es 
indessen  auch  hier  vermocht,  durch  sehr  geschickte 


und  keineswegs  trockne  Hervorhebung  nicht  allein 
der  Arzneipflanzen,  sondern  auch  der  für  das 
„Lebensmittelgewerbe"  und  die  Technik  wertvollen 
Gegenstände  zum  mindesten  das  Nachschlagen, 
wenn  nicht  gründliches  Durchstudieren  anregend 
und  nutzbringend  zu  gestalten.  —  So  ist  das 
ganze  Buch  eine  interessante  Erscheinung,  an  der 
die  Diskussion  betreffs  der  Änderung  im  Studium 
der  Mediziner  nicht  vorübergehen  kann.  Übrigens 
sind  auch  von  den  meist  gut  gelungenen  Abbil- 
dungen viele  sehr  originell  und  erfrischend;  es 
bleibe  dahingestellt,  ob  die  Ausführung  eines 
Teiles  in  Farben  unentbehrlich  war  und  nicht 
vielleicht  nur  den  Preis  bedauerlich  erhöhte. 

Es  darf  angenommen  werden,  daß  das  in  der 
8.  Auflage  vorliegende  knappere  Lehrbuch  von 
Giesenhagen  gleichfalls  am  meisten  von  Me- 
dizinern und  Pharmazeuten  benutzt  wird.  Es  hält 
sich  wie  früher  im  Rahmen  des  Viermännerbuches, 
hinter  dem  es  aber  an  Menge  des  Stoffes  natur- 
gemäß zurücksteht.  Seine  Darstellung  ist  allge- 
mein etwas  breiter,  eine  Trennung  des  wesent- 
lichsten Stoffes  vom  spezielleren  auch  hier  noch 
durch  Druckunterschied  versucht.  Morphologie 
und  Anatomie  treten  mit  ihrem  Umfang  gegen- 
über der  Physiologie  verhältnismäßig  hervor  (die 
beiden  ersten  140,  die  Physiologie  iio  Seiten), 
der  speziellen  Botanik  gelten  170  Seiten.  Die 
leicht  faßliche,  auf  wissenschaftliche  Hinweise  und 
AJDschweifungen  verzichtende  Art  des  Lehrbuches 
hält  ihm  wohl  seinen  ausgesprochenen  Kreis. 

Zugleich  liegt  von  dem  pädagogisch  abweichen- 
den und    in   besonderer  Hinsicht  zu  beachtenden 
Mi  eh  eschen   Taschenbuch   eine    zweite  Auflage 
vor.     Die  Aufmachung  des   Buches,   die   das   Er- 
gänzen durch  Notizen   aus   den   zwei   botanischen 
Hauptvorlesungen   ermöglichen    soll    und    die   das 
Kollegheft  in  gewissem  Grade  auszuschalten  strebt, 
macht  —  als  bekanntermaßen  wertvolle  Gedächtnis- 
hilfe —  die  Eintragung  von  Zusätzen  nach  eigenem 
Hören,   Sehen   und  Geschmack  möglich.     Außer- 
dem dient  das  Buch  auch  für  das  Praktikum,  bei 
dem  ohne  sehr  sorgfältige  Anleitung  vielfach  sonst 
kein  einwandfreier  in  der  Tasche  heimzutragender 
Besitz   zu  entstehen  pflegt,   eine  Gefahr,   die  das 
Taschenbuch   überwinden    hilft.      Der  Knappheit 
des  Ganzen  entsprechend  ist  der  Text  hier  kürzer 
im  Ausdruck,  paragraphenweise,  auch  mit  Ergän- 
zung   durch    die    Abbildungsnoten,    gefaßt.      So 
bietet  er  sicher  ein  gutes  Hilfsmittel  zur  Examens- 
vorbereitung.    Ihn  zu  mehr  zumachen,  ist  eben 
die    Aufgabe    des    Benutzers!      In    diesem    Sinne 
wird  das  Buch,  besonders  auch  der  spezielle  (und 
natürlich    zunächst    trocknere)    Teil    den   Lehrern 
bei  den  Übungen,  den  Medizinern,  Pharmazeuten, 
Landwirten  usw.  als  Repetitorium   weiter  dienen. 
Das  der  Br ei tenst einschen  Sammlung  von 
Repetitorien    angehörige  Büchlein    von  Trunkel 
scheint,  wie  das  Erscheinen  der  5.  Auflage  zeigt, 
seinen  Weg  zu  finden.    Die  akademischen  Lehrer 
werden    dieser  Tatsache    (besonders    auch    ange- 
sichts des  hohen  Preises!)   kopfschüttelnd   gegen- 


6i6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  42 


überstehen.  Wer  imstande  ist,  diese  bescheidene 
Datenmenge  in  ihrer  nicht  einmal  sich  einhäm- 
mernden Fassung  ohne  Abbildungen  zu  anderem 
Zweck  als  dem  einer  Examensstunde  sich  gerade 
hieraus  anzueignen,  besitzt  wohl  meist  auch  ein 
brauchbares  Kollegheft  oder  wäre  mit  größerem 
Nutzen  imstande,  ein  anderes  wirkliches  Lehrbuch 
durchzuarbeiten. 

Das  kurze  Lehrbuch  von  Gerke,  wie  der 
Verf.  sich  äußert  für  Realschüler  bestimmt  und 
daher  mit  deutschen  Fachausdrücken  arbeitend, 
ist  in  der  Auswahl  des  Stoffes  weniger  unge- 
schickt als  in  der  Darstellung,  die  oft  das  Ver- 
ständnis erschwert.  Die  Entfernung  entbehrlicher 
Fremdworte  (oder  ihre  ausdrückliche  Erklärung) 
wäre  so  übel  nicht  und  gewissen  Kreisen  Studie- 
render (Tierärzte)  angepaßt,  aber  mit  der  Ein- 
führung des  Gebrauchs  von  Worten  wie  „Ver- 
ähnlichen" und  „Verähnlichung"  (=  Assimilation) 
ist  der  deutschen  Sprache  kein  Gefallen  getan. 

Ein  abgeschlossenes  Teilgebiet  der  Botanik 
behandelt  endlich  die  von  K.  Linsbauer  über- 
nommene 6.  Auflage  der  Wiesn ersehen  Ana- 
tomie und  Physiologie  der  Pflanzen.  Das  Buch 
hat  in  vielen  Einzelheiten  besondere  Art  und  ist 
mehr  als  die  reichsdeutschen  Lehrbücher  als  fort- 
laufender Lesestoff  für  den  Studierenden  zu  be- 
zeichnen. Wiesners  gewandte  Art  zu  schreiben 
ist  dem  Werk  erhalten,  manche  ursprüngliche 
Gruppierung  des  Stoffes  ist  (z.  B.  in  der  Physio- 
logie) stets  anziehend;  es  ist  ein  Buch  wie  ein 
(guter)  Vortrag,  aus  einem  Guß.  Die  Nach- 
tragungen sind  vielfach  (schon  durch  die  sonst 
nicht  übliche)  Namenangabe  der  Forscher  wohl 
als  solche  zu  erraten,  auf  die  Dauer  wird  es  nicht 
leicht  sein,  den  einheitlichen  Charakter  des  Buches 
zu  erhalten.  Pädagogisch  ist  es  sehr  zu  beachten 
und  ein  Vergleich  mit  anderen  wird  stets  inter- 
essieren. Bei  der  Umgrenzung  des  Stoffes  darf 
nicht  vergessen  werden,  daß  neben  diesem  Band 
aus  Wiesners  Feder  eine  besondere  „Biologie 
der  Pflanzen"  besteht.  Literaturangaben  sind  ähn- 
lich wie  im  Viermännerbuch  angeschlossen. 

Fr.  Tobler. 

Bütschli,  Otto,  Vorlesungen  über  Ver- 
gleichende Anatomie.  3.  Lief.:  Sinnes- 
organe und  Leuchtorgane.  8".  XIV  u.  302  S., 
321  Textabbildungen.  Berlin  192 1,  Julius 
Springer.  48  IVI. 
Allen  Freunden  der  Bütschlischen  „Ver- 
gleichenden Anatomie"  —   und  welcher  Zoologe 


oder  vergleichende  Anatom  würde  zu  denen  nicht 
gehören  —  wird  es  eine  große  Freude  sein,  daß 
dieses  Werk  kein  Torso  bleibt.  Ja  aus  dem  Vor- 
wort der  vorliegenden  neuen  Lieferung  erfahren 
wir,  daß  Bütschli  selber  die  Handschrift  aller 
noch  fehlenden  Abschnitte,  ausgenommen  Ex- 
kretions-  und  Fortpflanzungsorgane,  hinterlassen 
hat  und  unter  dem  langsamen  Fortschreiten  des 
Druckes  schwer  litt.  Nach  seinem  Tode  leiten 
F.  Blochmann  und  Clara  Hamburger  die 
weitere  Herausgabe  des  Werkes,  dessen  erster 
Band  nunmehr  vollendet  ist.  Der  zweite  und 
letzte  mit  dem  in  Aussicht  gestellten  ausführ- 
lichen Sachregister  wird  mit  nicht  geringerer 
Freude  begrüßt  werden.  Soll  in  dieser  Anzeige 
auf  den  Inhalt  der  neuen  Lieferung  eingegangen 
werden?  IVIan  wird  von  vornherein  gewiß  sein, 
daß  eine  so  ausführliche  und  gleichmäßige  sorg- 
fältige Bearbeitung  des  Gebiets  vorliegt,  wie  wir 
sie  bisher  noch  nicht  hatten.  Das  ist,  was  die 
Leuchtorgane  betrifft,  vielleicht  schon  insofern  fast 
selbstverständlich,  als  diese  in  neuerer  Zeit  mehr 
als  früher  untersuchten  Organe  bisher  in  fast 
allen  einschlägigen  Lehr-  und  Handbüchern  zu 
kurz  kamen;  aber  auch  für  die  Sinnesorgane  gilt 
Obiges. 

Die  Worte  „inverse"  und  „konverse  Augen" 
statt  „invertierte"  und  „vertierte"  dürften  allgemein 
angenommen  werden. 

Dem  ausgezeichneten  Text  entsprechen  an 
Güte  wie  früher  die  zahlreichen,  mit  gleicher 
Sorgfalt  meist  neu  gezeichneten,  sehr  anschaulich 
gehaltenen  Abbildungen. 

Nun  werden  also  noch  viele  Generationen  nicht 
nur  von  Forschern,  sondern  auch  von  Studierenden 
den  Hauch  von  Bütschlis  scharfem  Geist  ver- 
spüren und  die  beste  Schule  der  eindringenden 
wissenschaftlichen  Vertiefung  genießen,  die  ein 
zoologisches  Lehrbuch  zu  bieten  vermag. 

V.  Franz,  Jena. 


Literatur. 

Sammlung  Vieweg.     Tagesfragen    aus    den  Gebieten    der 
Naturwissenschaften  und  der  Technik. 

Heft    58:    Walther    Gerlach,    Die    experimentellen 

Grundlagen  der  Quantentheorie.     Braunschweig  '21. 

12  M. 

Vorzeit.      Nachweise    und    Zusammenfassungen    aus    dem 

Arbeitsgebiete     der     Vorgeschichtsforschung.      Bd.    I.      Jörg 

Lechler,  Vom  Hakenkreuz.     Leipzig  '21,   Verlag  Curt  Ka- 

bitzsch.     Brosch.   14  M,,  geb.  20  M. 

Küster,  Ernst,  Kultur  der  Mikroorganismen.    Leipzig- 
Berlin  '21,  B.   G.  Teubner.     Brosch.  21   M,  geb.  24  M. 


Inhalt:  A.  Herfs,  Die  Haut  der  Schnecken  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Lebensweise.  (5  Abb.)  S.  601.  —  Einzel- 
berichte: W.  L.  Bragg,  Die  Anordnung  der  Atome  in  Kristallen.  S.  60S.  Gregor  Krause,  Ethnologie  der  Balier. 
S.  610.  C.  Ramsauer,  Die  lichteleklrische  Wirkung  unterteilter  Lichtquanten,  (i  Abb.)  S.  611.  Steinhardt, 
Vom  Elefanten  des  Kaokofeldes.  S.  612.  E.  Leschke,  Pluriglanduläre  Verjüngung.  S.  613.  —  Bücherbesprechungen: 
(Strasburger),  Lehrbuch  der  Botanik  für  Hochschulen.  E.  Küster,  Lehrbuch  der  Botanik  für  Mediziner.  K.  Giesen- 
hagen,  Lehrbuch  der  Botanik.  H.  Mi  ehe,  Taschenbuch  der  Botanik.  H.  Trunkel,  Repetitorium  der  Pflanzen- 
kunde. O.  Gerke,  Kurzes  Lehrbuch  der  Pflanzenkunde.  J.  Wiesner,  Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen. 
S.  614.     O.  Bütschli,  Vorlesungen  über  Vergleichende  Anatomie.  S.  616.  —  Literatur:  Liste.  S.  616. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Guitav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reibe  36.  Band. 


Sonntag,  den  23.  Oktober  1921. 


Nummer  43> 


Eine  neue  Untersuchung  über  die  fremddienliche  Zweckmäßigkeit/) 


[Nachdruck  verboten.] 

Erich  Becher  hat  den  Begriff  der  fremd- 
dienlichen Zweckmäßigkeit  in  die  Wissenschaft 
eingeführt.  ^)  Er  unterscheidet  selbstdienliche 
Zweckmäßigkeit,  die  im  Dienste  des  Organismus 
steht,  der  sie  aufweist;  artdienliche  Zweckmäßig- 
keit, die  nicht  dem  sie  aufweisenden  Individuum, 
sondern  seiner  Art  zugute  kommt,  und  fremddien- 
liche Zweckmäßigkeit,  die  nur  einem  fremden 
Organismus  zugute  kommt  und  geradezu  für  ihn 
eingerichtet  und  bestimmt  zu  sein  scheint.  Daß 
solche  fremddienliche  Zweckmäßigkeit  in  der  Na- 
tur besteht,    weist  er  an  den  Pflanzengallen  nach. 

Wenn  E.  Becher  den  bestimmt  formulierten 
Begriff  der  fremddienlichen  Zweckmäßigkeit  auch 
erst  aufgestellt  hat,  so  hat  doch  schon  Darwin 
das  Problem  scharf  ins  Auge  gefaßt.  Er  erklärte, 
daß  er,  sobald  ihm  eine  einzige  Tatsache  vor- 
gelegt werde,  die  beweise,  „daß  eine  adaptive 
Einrichtung  der  einen  Art  zum  ausschließlichen 
Nutzen  für  eine  andere  Art  diene",  bereit  sei, 
unter  ihrem  Gewicht  seine  ganze  Theorie  aufzu- 
geben (Darwin,  Origin  6.  ed.  p.  253).  In  den 
Pflanzengallen  erblickte  er  aber  eine  solche  Tat- 
sache nicht.  Er  erwähnt  sie  unter  den  bestimmten 
Variationen  (der  definite  variability),  ohne  auf  die 
Schwierigkeiten,  welche  sich  aus  dieser  Erschei- 
nung für  seine  Theorie  ergeben,  näher  einzugehen 
(Darwin,  Origin  p.  9).  Nach  ihm  sind  die 
Pflanzengallen  ein  Produkt  eines  von  dem  mütter- 
lichen Organismus  ausgeschiedenen  chemischen 
Stoffes.  Auf  darwinistischer  Seite  wurde  diese  Auf- 
fassung im  allgemeinen  beibehalten.  Die  außer- 
ordentlich zweckmäßige  Form  der  Pflanzengallen 
erklärte  man  durch  die  Annahme,  daß  die  Natur- 
züchtung immer  die  Insekten  zu  erhalten  bestrebt 
gewesen  sei,  deren  Ausscheidung  besonders  ge- 
eignet war,  die  Formen  von  Pflanzengallen  zu  er- 
zeugen, welche  der  Ernährung  und  dem  Schutz 
der  Insektenlarven  am  förderlichsten  war.  Übrigens 
erkannte  man  bald,  daß  nicht  die  Ausscheidungen 
des  Muttertieres,  sondern  der  Insektenlarven  es 
seien,  die  in  der  Regel  als  die  Ursache  der  Bil- 
dung von  Pflanzengallen  angesehen  werden  müßten, 
da  diese  aufhört,  wenn  die  Larve  abstirbt. 

Wichtiger  war  eine  andere  Tatsache,  auf  die 
jetzt  E.  Becher  in  der  genannten  Schrift  be- 
sonders hingewiesen  hat.  Die  chemischen  Aus- 
scheidungen der  Larven  können  doch  nur  als 
Auslösungen  von  Entwicklungsrichtungen  wirken, 
die  im  Protoplasma  der  Pflanzen  vorhanden  sind. 
Nun  kommen  aber  in  den  Gallen  Bildungen  zu- 
stande, welche  den  betreffenden  Pflanzen  sonst 
fremd  sind  und  auch    nicht  durch  ein  „Durchein- 


Von  Hermann  Kranichfeld. 


anderschütteln"  der  verschiedenen  in  der  Pflanze 
vorhandenen  Anlagen  entstehen  können.  Es  gibt 
Gallen,  die  in  ihrem  Aufbau  von  allem,  was  der 
normale  Formenschatz  der  Wirtspflanze  birgt,  ab- 
weichen. Dahin  gehören  z.  B.  die  kunstreichen 
Vorrichtungen  zum  Öffnen  der  Gallen  bei  den 
Deckelgallen. 

Es  muß  hier  eine  besondere  Anlage  im 
Protoplasma  vorhanden  sein,  welche  ausgelöst 
wird.  Nach  Miehe  (Naturw.  Wochenschr.,  191 7, 
S.  350 ff.)  gehört  diese  Anlage  jedoch  ursprüng- 
lich nicht  dem  Erbplasma  der  Pflanze  an,  sondern 
dem  Erbplasma  des  Insektes  und  wird  dem  Erb- 
plasma der  Pflanze  erst  sekundär  durch  die  In- 
sektenlarven in  deren  Ausscheidungen  zugeführt. 
Indem  dieses  Erbplasma  des  Insektes  sich  in  das 
Erbplasma  der  Pflanze  „einbaut",  wirkt  es  mit 
ihm  organisch  fort,  die  weiteren  Entwicklungs- 
vorgänge der  Pflanze  im  Dienste  des  Insektes  mit 
bestimmend  und  leitend.  Es  kann  dann  in  thesi 
das  Selektionsprinzip  auf  die  Entwicklung  dieses 
Protoplasmas,  das  dem  Insekt  angehört,  ange- 
wandt werden.  Denkunmöglich  ist  eine  solche 
Annahme  nicht.  Ich  glaube,  daß  man  sie  sogar 
durch  Analogien  stützen  könnte.  Eine  entfernte 
Analogie  wäre  vielleicht  schon  in  der  Kreuzung 
von  zwei  verschiedenen  Arten  oder  Varietäten  zu 
finden,  bei  der  zwei  verschiedene  Protoplasma- 
arten sich  so  vereinigen,  daß  aus  dieser  Verbindung 
eine  neue  zweckmäßige  Form  entsteht.  Näher 
liegt  die  Analogie  mit  der  Symbiose  der  Flechten. 
Die  Algenzellen  zwingen  hier  die  Pilzfäden  Formen 
anzunehmen,  die  denen  der  chlorophyllhaltigen 
höheren  Pflanzen  entsprechen.  Es  wird  damit 
eine  von  der  Gestalt  der  betreffenden  Askomy- 
zeten  wie  der  Algen  durchaus  abweichende  Form 
erzeugt.  Hier  treten  nun  nicht  die  Keimplasmen 
verschiedener  Arten  miteinander  in  Verbindung, 
sondern  die  somatischen  Protoplasmen.  Auch 
eine  eigentliche  Verschmelzung  der  somatischen 
Protoplasmen  findet  nicht  statt,  sondern  nur  eine 
gegenseitige  Beeinflussung,  wie  wir  sie  wohl  in 
gleicher  Weise  auch  bei  den  Insekten  und  den 
gallenbildenden  Pflanzen  annehmen  müßten.  Schließ- 
lich ist  auch  die  Wirkung  bei  der  Symbiose  der 
Flechten  und  bei  der  Gallenbildung  —  abgesehen 
davon,  daß  es  sich  bei  den  Flechten  nicht  um 
fremddienliche    Zweckmäßigkeit    handelt    —    die 


')  E.  Was  mann,  S.  J.,  Die  Gastpflege  der  Ameisen, 
ihre  biologischen  und  philosophischen  Probleme.  1920.  XVII 
und   176  Seiten  mit  2  Tafeln.     20  M. 

-)  Erich  Becher,  Die  fremddienliche  Zweckmäßigkeit 
der  Pflanzengallen.     Leipzig   1917. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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gleiche.  Die  Zellen  des  Pilzes  bilden  Gewebe, 
welche  durch  ihre  Form  die  Ernährung  und 
Assimilation  der  in  diese  Gewebe  eingeschlossenen 
Algenzellen  ermöglichen  und  ihnen  zugleich  Schutz 
gegen  die  Unbilden  der  Umgebung,  in  welcher 
die  meisten  Flechten  leben,  gewähren. 

Obgleich  so  verschiedene  Momente  für  die 
Annahme Miehes  geltend  gemacht  werden  können, 
bleibt  sie,  wie  er  selbst  hervorhebt,  eine  Hypo- 
these. Ein  Nachweis,  daß  es  sich  so  verhält,  ist 
nicht  zu  führen. 

Zur  Erklärung  solcher  Erscheinungen,  die,  wie 
die  Pflanzengallen,  mit  der  bisherigen  Auffassung 
des  ganzen  Erscheinungskreises  in  Widerspruch 
stehen,  kann  man  einen  doppelten  Weg  ein- 
schlagen. Entweder  sieht  man  die  hergebrachte 
Auffassung .  als  maßgebend  an  und  sucht  die  in 
der  besonderen  Erscheinung  vorhandenen  Wider- 
sprüche mit  ihr  durch  Hinzunahme  von  Hilfshypo- 
thesen zu  beseitigen  oder  man  rückt  die  be- 
sondere Erscheinung  in  den  Vordergrund,  sucht 
sie  in  ihrer  Eigentümlichkeit  zu  erfassen  und  mißt 
an  der  so  gewonnenen  neuen  Erkenntnis  alle  ähn- 
lichen schon  bekannten  Erscheinungen. 

Der  zweite  Weg  bietet  den  Vorteil,  daß  man 
eventuell  für  die  Beurteilung  der  besonderen  Er- 
scheinung nachträglieh  eine  breitere  Basis  ge- 
winnt, und  im  günstigen  Fall  auch  zu  neuen  Ge- 
sichtspunkten für  den  ganzen  Erscheinungskreis 
gelangen  kann.  Geht  man  auf  ihm  hinsichtlich 
der  Becher  sehen  fremddienlichen  Zweckmäßig- 
keit bei  den  Pflanzengallen  vor,  so  ergibt  sich 
schon  bei  einem  flüchtigen  Überblick  über  die  in 
Betracht  kommenden  Tatsachen,  daß  wahrschein- 
lich die  fremddienliche  Zweckmäßigkeit  durchaus 
nicht  so  isoliert  dasteht,  wie  Becher  selbst  an- 
nimmt. 

Eine  fremddienliche  Zweckmäßigkeit  dürfte 
z.  B.  nach  den  Ergebnissen  der  neueren  Unter- 
suchungen auch  bei  der  Symbiose  von  Ameisen 
und  Ameisenpflanzen  vorliegen.  Die  Pflanzen  be- 
dürfen nach  von  Ihering  der  Ameisen  sowenig 
„wie  ein  Hund  der  Flöhe".  Zu  demselben  nega- 
tiven Resultat  kamen  Kronfeld  undNieuwen- 
huis.  Nach  letzterem  „wächst  mit  der  Menge 
des  produzierten  Zuckers  und  der  dadurch  erhöhten 
Anziehungskraft  der  Pflanzen  auf  allerhand  Tiere 
im  allgemeinen  auch  der  Schaden,  den  die  Pflanze 
von  den  Besuchern  erleidet". 

Fraglich  kann  es  ferner  sein,  ob  sich  die  gegen- 
seitige Anpassung  der  Insekten  und  Blüten  stets 
im  Dienst  und  zum  Vorteil  beider  Komponenten 
entwickelt  hat,  wie  man  bisher  annahm.  Man 
kann  bei  den  Pflanzen  verschiedene  Gruppen 
unterscheiden  je  nach  dem  Grade,  in  welchem 
ihre  Nektarien  den  sie  besuchenden  Insekten  zu- 
gänglich sind.  Während  bei  den  Doldenpflanzen 
die  Nektarien  ganz  ofien  liegen,  so  daß  zu  ihrer 
Ausnutzung  keine  speziellen  Anpassungen  erforder- 
lich sind  und  infolgedessen  sich  auf  ihnen  In- 
sekten aller  Art  wie  Blattwanzen,  Netzflügler, 
Ohrwürmchen   usw.   tummeln,   sind    bei   anderen 


Pflanzen  die  Nektarien  mehr  oder  weniger  ver- 
steckt. Die  Ausnützung  derselben  ist  von  der 
Ausbildung  eines  Saugrüssels  von  entsprechender 
Länge,  von  einer  gewissen  Schärfe  der  Sinnes- 
werkzeuge und  von  bestimmten  Instinkten  ab- 
hängig. Schon  vom  Besuch  der  Blüten  der  Weiden- 
kätzcken,  der  Birn-  und  Apfelbäume,  der  Berbe- 
ritze usw.  sind  manche  Insekten  ausgeschlossen, 
da  die  Nektarien  hier  durch  Schuppen  oder  Haare 
verdeckt  sind.  Für  einen  noch  weiteren  Kreis 
von  Insekten  gilt  dies  bei  einer  dritten  Gruppe 
von  Blüten,  bei  welcher  die  Nektarien  vollständig 
verborgen  und  in  die  Tiefe  des  Kelches  versenkt 
sind,  wie  bei  Storchschnabel,  Weidenröschen, 
Weiderich  usw.  Es  sind  'dies  die  eigentlichen 
Immenblüten.  Endlich  gibt  es  Blüten,  die  nur 
von  ganz  bestimmten  Insekten  mit  besonders 
langen  Saugrüsseln  ausgenützt  werden  können 
(vgl.  Hesse-Do  fl  ein,  Bau  und  Leben  der  Tiere, 
2.  Band). 

Dient  hier  wirklich  die  sich  von  Stufe  zu  Stufe 
steigernde    Anpassung    von    Blüten    und    Insekten 
dem  Nutzen   beider  Teile?     Die   angepaßten   In- 
sekten haben  zwar  einen  Vorteil  davon,    daß   die 
große  Anzahl    der  nicht  angepaßten  Formen  von 
dem  Genuß  des  Nektars  der  betrefiienden  Blüten  aus- 
geschlossen ist.      Aber   was   gewinnen  die  Blüten 
von  diesem  Ausschluß?     Es  soll  die  Möglichkeit, 
daß  der  Pollen  fremder  Arten  auf  die  Blüten  über- 
tragen   wird ,     verringert    werden.       Eine    solche 
negative  Wirkung   kann  jedoch    die   gegenseitige 
Anpassung  im  allgemeinen  nicht  haben.    Die  An- 
zahl  der  Spezies,    welche   zu   jeder  Gruppe   ge- 
hören, ist  viel  zu  groß,    als  daß  jene  Möglichkeit 
durch  sie  wesentlich  herabgesetzt  werden  würde, 
selbst  wenn  die  den  höheren  Gruppen  angepaßten 
Insekten  sich  auf  den  Besuch  dieser  beschränkten. 
Die  Bienen  und  Hummeln  suchen  aber  den  Nektar 
der    Doldenpflanzen,    der   Weidenkätzchen,    Obst- 
baumblüten  usw.   wie    den   der   eigentlichen   Im- 
menblüten   auf    (vgl.    H.    Kranich feld.    Zum 
Farbensinn   der   Bienen.      Beobachtungen   in    der 
freien    Natur.      Biol.    Zentralblatt,    1915).      Doch 
könnte  man  immerhin  wenigstens  für  die  Immen- 
blüten   einen   Vorteil    aus   der   Beschränkung   der 
Insektenbesuche    konstruieren.      Der   Besuch    der 
Bienen  ist  für  die  Blüten  wegen  der  sog.  Konstanz 
der  Bienen  von  besonderer  Bedeutung.   Indem  zahl- 
reiche andere  Insekten  von  dem  Besuche  der  Immen- 
blüten ausgeschlossen  sind,  bleiben  die  Nektarien 
derselben   nektarreicher    und    bilden   stärkere  An- 
ziehungspunkte  für  die  Bienen.      Aber   worin  be- 
steht   dann    der  Nutzen    für    die  Pflanzen    bei  der 
höheren  Stufe   der  Anpassung,   welche    auch    die 
Bienen  vom  Besuche  der  Blüten  ausschließt?    Hier 
ist   offenbar   die   Anpassung    für   die    angepaßten 
Blüten    nicht  von    günstiger,   sondern   von    nach- 
teiliger   Wirkung,    da   sie    nicht    nur   den    Besuch 
der    Insekten    einschränkt,     sondern    gerade    die 
wichtigsten  Blütenbestäuber  ausschließt,  ohne  daß 
ein     ausgleichender    Vorteil    nachzuweisen    wäre. 
Denn  die  zugelassenen  Insekten   zeigen  durchaus 


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keine  Konstanz.  Eine  Erklärung  der  Erscheinung 
würde  auch  hier  in  der  Annahme  einer  fremd- 
dienlichen  Zweckmäßigkeit  liegen. 

Ähnlich  ist  der  Sachverhalt  bei  3en  Früchten, 
welche  wie  die  des  Seidelbastes,  der  Tollkirsche, 
des  Nachtschattens  Giftstoffe  enthalten  und  da- 
durch vor  dem  Verzehren  durch  die  meisten  Tiere 
geschützt  sind.  Die  auffallenden  lockenden  Farben 
dieser  Früchte  weisen  darauf  hin,  daß  ihre  Be- 
stimmung ist,  verzehrt  zu  werden.  Tatsächlich 
fressen  auch  die  Grasmücken  und  Bachstelzen  die 
giftigen  Früchte  des  Seidelbastes,  die  Drosseln 
die  Tollkirschen  und  die  Beeren  des  Nachtschattens. 
Sie  sind  gegen  die  Giftwirkung  gefeit  und  haben 
den  Vorteil,  daß  ihnen  der  Genuß  der  Früchte 
nicht  durch  die  Konkurrenz  anderer  Vögel  beein- 
trächtigt wird,  während  auch  hier  für  die  Pflanzen 
der  Nachteil  entsteht,  daß  der  Besuch  der  Vögel 
eingeschränkt  ist.  In  diesem  Falle  kann  freilich 
das  Vorhandensein  einer  fremddienlichen  Zweck- 
mäßigkeit doch  zweifelhaft  sein,  da  durch  die 
Giftstoffe  auch  ein  Schutz  gegen  die  Vögel,  welche 
die  Samen  beim  Fressen  vernichten,  hergestellt 
werden  könnte. 

Es  ist  überhaupt  in  den  von  mir  hier  ange- 
führten Fällen  die  Frage,  ob  wir  es  bei  ihnen 
wirklich  mit  fremddienlicher  Zweckmäßigkeit  zu 
tun  haben,  noch  näher  zu  untersuchen.  Es  han- 
delt sich  da  zunächst  nur  um  Vermutungen,  nicht 
um  sichere  Feststellungen. 

Aus  diesem  Grunde  ist  die  neuerdings  als 
4.  Heft  der  Abhandlungen  zur  theoretischen  Bio- 
logie von  Julius  Schaxel  erschienene  Arbeit 
von  E.  Wasmann  von  besonderem  Interesse. 
Der  Verf.,  der  sich  seit  35  Jahren  speziell  der 
Erforschung  der  Gastpflege  der  Ameisen  gewidmet 
hat  —  die  genannte  Schrift  ist  der  234.  Beitrag 
zur  Kenntnis  der  Myrmekophilie  und  der  Termito- 
philie  —  untersucht  diese  eingehend  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  Becherschen  fremddienlichen 
Zweckmäßigkeit.  Es  liegt  ihm  das  um  so  näher, 
als  er  verschiedene  Erscheinungen  der  Gastpflege 
der  Ameisen  schon  früher  von  dem  gleichen 
Standpunkt  aus  beurteilt  hat,  wenn  er  auch  da- 
mals nicht  die  gleiche  Bezeichnung  für  das  be- 
treffende Gastverhältnis  gebrauchte. 

Seit  dem  Auftreten  der  Ameisen-  und  Termiten- 
kolonien im  Eozän  haben  sich  einige  Tausend 
neuer  Arten  von  Insekten  und  anderen  Arthropoden 
dadurch  gebildet,  daß  sie  sich  dem  Zusammen- 
leben mit  den  Kolonien  von  Ameisen  und  Ter- 
miten anpaßten.  Die  Formen  des  Zusammen- 
lebens und  der  Anpassung  sind  sehr  verschieden. 
Hier  handelt  es  sich  ausschließlich  um  die  von 
Wasmann  als  Symphilie  bezeichnete  Gastpflege 
der  Ameisen,  bei  welcher  die  Gäste  von  ihren 
Wirten  gastlich  gepflegt  werden  und  das  Kostgeld 
für  die  Pflege  in  einem  Exsudat  zahlen,  das  von 
den  Ameisen  leidenschaftlich  begehrt  wird.  Was- 
mann erblickt  in  diesem  Gastverhältnis  eine 
fremddienliche  Zweckmäßigkeit,  weil  nur  die 
Gäste  von  ihm  einen  das  Leben  fördernden  Nutzen 


haben,  während  die  Wirte  sich  mit  dem  Exsudat 
begnügen  müssen,  das  nach  ihm  nichts  als  ein 
angenehmes  Reizmittel  (kein  Nahrungsmittel)  ist. 
Im  Mittelpunkt  der  Wasmann  sehen  Erörterun- 
gen steht  die  Symphilie  von  Formica  sanguinea 
und  Lomechusa  strumosa,  einem  zur  Kurzflügler- 
gruppe  gehörigen  Käfer,  weil  sie  die  hier  in 
Frage  stehenden  Eigentümlichkeiten  des  Gast- 
verhältnisses am  deutlichsten  zeigt,  indem  bei  ihr 
nicht  nur  die  Gäste  gepflegt  werden,  sondern  von 
den  Ameisen  auch  die  Pflege  der  Larven  der 
Gäste  auf  Kosten  der  Pflege  der  eigenen  Brut 
übernommen  wird. 

Wasmann  muß  jedoch,  wenn  er  den  Begriff 
der  fremddienlichen  Zweckmäßigkeit  auf  dies  Ver- 
hältnis der  Symphilie  anwenden  will,  vor  allem 
zwei  Punkte  gegenüber  Einwänden,  die  früher  von 
Escherich  u.  a.,  in  neuester  Zeit  wieder  von 
W  h  e  e  1  e  r  ')  erhoben  werden  sind,  feststellen,  daß 
nämlich  erstens  der  Formica  sanguinea  tatsächlich 
kein  das  Leben  fördernder  Nutzen  aus  dem  Ver- 
hältnis der  Symphilie  erwächst,  und  das  zweitens 
bei  ihr  selbst  eine  erbliche  Anpassung  an  dasselbe 
stattgefunden  hat. 

Beides  wird  von  Wheeler   bestritten.     Nach 
Wheeler    findet    ein    eigentlicher   Nahrungsaus- 
tausch (Trophallaxis)  auch  bei  der  Symphilie  statt. 
Demgegenüber  weist  Wasmann  mit  Recht  dar- 
auf hin,  daß  das  Exsudat,  welches  die  Lomechusa 
Str.    der    Formica   sanguinea    als   Entgelt   für   die 
Pflege  gewährt,  nicht  als  Nahrungsmittel  angesehen 
werden    kann.     Wenn    auch    die    chemische   Zu- 
sammensetzung desselben  noch  nicht  feststeht,  so 
ist  doch,   soweit    sich  seine  Beschaffenheit  bisher 
beurteilen   läßt,    wahrscheinlich,    daß   es    nur   ein 
einem  ätherischen  Öl  entsprechender  Stoff  ist,  der 
durch  die  Poren  der  Exsudatorgane  austretend  sich 
auf  der   Oberfläche   derselben  ausbreitet   und  da- 
selbst verdunstet.  Eine  tropfenweise  Absonderung 
hat  bisher,  wie  Wasmann  hervorhebt,  auch  unter 
der  Lupe  nicht  festgestellt  werden  können.    Nach 
den  beobachteten  Wirkungen  übt  das  Exsudat  auf 
den  Geschmacksinn  einen  narkotischen  Reiz,  ähn- 
lich wie  der  Genuß  des  Tabaks,  des  Opiums  oder 
des  Alkohols  bei  uns  Menschen  aus.   Das  spricht 
dafür,  daß  es  sich  bei  dem  Exudat  um  ein  Genuß-, 
nicht  um    ein  Nahrungsmittel    handelt.     Übrigens 
scheint  mir  dieser  Punkt  gar  nicht  die  Bedeutung 
zu   haben,   die   ihm  Wheeler   und   Wasmann 
beimessen,  da  selbst  dann,  wenn  man  dem  Exsudat 
einen  gewissen   das  Leben    fördernden  Nahrungs- 
wert zuschreiben  wollte,   dieser  Nutzen   doch   bei 
der  Symphilie  von  sanguinea  und  Lomechusa  str. 
weit  durch  den  Schaden  übertroffen  werden  würde, 
welchen    der  Gast  der  Brut   seines  Wirtes  zufügt. 
Den  zweiten  Punkt,  die  Erblichkeit  des  Sym- 
philieinstinktes,   hat  Wasmann   schon  19 10    im 
Biologischen   Zentralblatt  S.  97  ff.  eingehend  be- 


')  W.  M.  Wheeler,  A  study  of  some  anl  larvae ,  with 
a  consideralion  on  the  origin  and  meaning  of  the  social  habit 
among  Insects.  1918. 


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handelt  und  gegenüber  den  Einwänden  von 
Escherich  u.  a.  vertreten.  Wheeler  nimmt 
die  Diskussion  wieder  auf. 

Daß  die  Gäste  zahlreiche,  tiefeinschneidende 
erbliche  Anpassungen  zeigen,  wird  von  keiner 
Seite  bestritten.  Doch  kommt  diese  Tatsache 
ebenso  wie  die  Frage,  auf  welche  Weise  die  be- 
treffenden Anpassungen  entstanden  sind,  und  ob 
die  von  Wasmann  angenommene  Amikalselek- 
tion  dabei  beteiligt  war,  hier  nicht  in  Betracht. 
Wir  können  darum  auch  auf  sie  nicht  eingehen. 
Für  uns  handelt  es  sich  nur  darum,  ob  auch  die 
Wirte  eine  erbliche  Anpassung  erfahren  haben. 
Denn  nur  dann  kann  von  einer  fremddienlichen 
Zweckmäßigkeit  gesprochen  werden.  Morpho- 
logische Anpassungen  zeigen  nun  die  Wirte  nicht, 
wohl  aber  besitzen  sie  ganz  bestimmte  Instinkte, 
die  als  Anpassungen  an  das  Gastverhältnis  aufge- 
faßt werden  müssen.  Der  besondere  Instinkt  der 
Formica  sanguinea  besteht  darin,  daß  sie  die 
Lomechusa  strumosa  füttert  und  sie  bei  einer 
Störung  des  Nestes  vor  den  eigenen  Larven  in 
Sicherheit  zu  bringen  sucht,  daß  sie  ferner  die 
Larven  der  Lomechusa  str.  pflegt,  füttert  und 
einbettet.  Das  letztere  geschieht  auf  Kosten  der 
eigenen  Larven  der  Formica  sanguinea,  die  je 
länger  das  Gastverhältnis  dauert,  um  so  mehr 
vernachlässigt  werden,  was  schließlich  zur  Dege- 
neration der  ganzen  Kolonie  führt.  Es  werden 
nämlich  statt  der  Weibchen  und  Arbeiterinnen 
in  den  späteren  Perioden  des  Gastverhältnisses 
sog.  Pseudogynen  erzogen,  krüppelhafte  IVIisch- 
formen  von  Weibchen  und  Arbeiterinnen,  die 
weder  die  Funktionen  der  Weibchen  noch  die  der 
Arbeiterinnen  erfüllen  können.  Den  größten 
Schaden  fügen  die  Lomechusalarven  ihrem  Wirte 
überdies  durch  massenhaftes  Auffressen  der  Eier 
und  jungen  Larven  desselben  zu. 

Instinkte  und  morphologische  Bildungen  können 
an  sich  als  äquivalent  angesehen  werden.  Beide 
gehen  ineinander  über  und  ersetzen  sich  gegen- 
seitig. So  folgt  dem  Instinkt  des  verfolgten  Tieres, 
sich  ruhig  zu  verhalten,  um  sich  nicht  von  der 
Umgebung  abzuheben,  die  Schutzfärbung  und 
dieser  Färbung  wieder  der  Instinkt,  den  Ort,  wel- 
chem die  Schutzfärbung  entspricht,  aufzusuchen. 
Bei  den  Dreieckskrabben  der  Gattungen  Hyas, 
Mala,  Pisa  usw.  wird  das  Schutzkleid  durch  den 
Instinkt  ersetzt,  mit  ihren  Scherenfüßen  abgerissene 
Stückchen  von  Algen  und  Hydroidpolypen  auf 
dem  Rücken  zu  befestigen.  Wodurch  sich  aber 
der  Instinkt  wesentlich  von  den  morphologischen 
Anpassungen  unterscheidet,  ist  die  viel  größere 
Schwingungsbreite  der  individuellen  Modifikationen. 

Wheeler  sieht  nun  ebenso ,  wie  es  schon 
früher  Escherich  tat,  die  besondere  Ausbildung 
des  Pflegeinstinktes  bei  Formica  sanguinea  gegen- 
über der  Lomechusa  str.  nur  für  eine  individuelle 
Modifikation  des  allgemeinen  Pflege-  und  Adop- 
tionsinstinktes an.  Sie  soll,  durch  eine  krankhafte 
Steigerung  der  Naschhaftigkeit  der  Ameisen  ver- 
anlaßt,  pathologischer  Natur  sein   und   zwar,  da 


sie  bei  allen  Gliedern  einer  Kolonie  hervortritt, 
die  Bedeutung  einer  sozialen  Krankheit  der 
Ameisenstaaten  haben.  So  lassen  sich,  wie  es 
scheint,  in  einfachster  Weise  die  Besonder- 
heiten des  Symphilieverhältnisses  erklären.  Ähn- 
liche pathologische  Erscheinungen  haben  wir  ja 
z.  B.  in  der  Opiumsucht  der  Chinesen  oder  der 
Trunksucht  der  Graubündner.  Doch  spricht  nach 
Wasmann  gegen  die  W  h  e  e  1  e  r  sehe  Auffassung 
besonders  ein  Moment,  das  auch  mir  ausschlag- 
gebend zu  sein  scheint.  Der  Symphilieinstinkt 
ist  nämlich  hinsichtlich  des  Gegenstandes  scharf 
spezialisiert.  Die  Lomechusini  umfassen  die  Gat- 
tungen Lomechusa  und  Atemeies  in  Eurasien  und 
die  Gattung  Xenodusa  in  Nordamerika.  Die  zahl- 
reichen Arten  dieser  Gattungen  lassen  alle  ihre 
Larven  bei  Arten  der  Gattung  Formica  erziehen. 
Die  Larvenwirte  sind  also  stets  Formica.  Nach 
der  interessanten  Tabelle,  welche  Wasmann 
S.  47  ff.  gibt,  sind  es  aber,  soweit  die  Verhältnisse 
bis  jetzt  festgestellt  sind,  in  der  Regel  für  jede 
Art  der  Lomechusini  auch  wieder  ganz  bestimmte 
Arten  und  Rassen  der  Formica.  So  gehört  z.  B. 
die  Neigung  zur  Pflege  und  Zucht  der  Larven 
der  Atemeies  paradoxus  zum  instinktiven  Spezies- 
charakter der  Formica  rufibarbis,  die  Pflege  und 
Zucht  der  Larven  der  Atemeies  emarginatus  zum 
instinktiven  Speziescharakter  der  Formica  fusca. 
Nur  bei  Formica  sanguinea  treffen  wir  ferner  den 
erblichen  Instinkt  zur  Pflege  der  Lomechusa  stru- 
mosa und  ihrer  Larven  an.  Bei  F.  pratensis  und 
F.  truncicola  werden  wohl  noch  die  Käfer  der 
Lomechusa  strumosa  gepflegt,  die  Larven  dagegen 
aufgefressen.  Andere  Arten  der  Formica  verhalten 
sich  aber  auch  den  Käfern  der  Lomechusa  stru- 
mosa gegenüber  feindselig.  Dagegen  nimmt  eine 
Kolonie  der  Formica  sanguinea,  auch  wenn  die 
Arbeiterinnen  derselben  sicher  noch  nie  die  indi- 
viduelle Bekanntschaft  mit  einer  Lomechusa  ge- 
macht haben  —  wie  die,  welche  von  Wasmann 
aus  frisch  aus  dem  Kokon  gezogenen  Arbeiterinnen 
einer  lomechusafreien  Kolonie  gebildet  worden 
war  — ,  die  Lomechusa  strumosa  von  vornherein 
freundUch  auf,  während  sie  die  anderen  Lomechusini- 
arten  feindselig  abweist.  Diese  spezifisch  einge- 
schränkte Ausübung  der  Gastpflege  gilt,  soviel 
wir  bis  jetzt  wissen,  für  alle  Formicaarten  in  dem 
weiten  sich  über  ganz  Eurasien  erstreckenden  Ge- 
biete ihrer  Ausbreitung  und  sie  reicht  wahrschein- 
lich, wie  Wasmann  zeigt,  in  die  geologische 
Vorzeit  zurück. 

Danach  kann  es  sich  bei  der  spezifischen  Aus- 
bildung des  Pflegeinstinktes  der  Wirte  der  Lomechu- 
sini nicht  wohl  um  eine  individuelle  Modifikation 
des  allgemeinen  Pflege-  und  Adoptionsinstinktes, 
sondern  nur  um  einen  besonderen  erblichen  In- 
stinkt handeln.  Nach  der  jetzt  herrschenden  Auf- 
fassung, wie  sie  besonders  von  W.  Johannsen 
begründet  wurde,  sind  die  Modifikationen  der 
erblichen  Anlagen  (die  Phänotypen)  stets  das 
Produkt  von  Anlage  und  äußeren  Faktoren.  Ist 
es  aber  so,  dann  müssen  sie  sich  notwendig   mit 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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dem  Wechsel  der  äußeren  Faktoren  auch  ändern. 
Ein  unter  allem  Wechsel  der  äußeren  Umstände 
und  im  Verlauf  langer  Zeiträume  gleichbleibender 
Instinkt  kann  daher  keine  individuelle  Modifikation 
einer  erblichen  Anlage  sein,  sondern  ist  selbst 
erbliche  Anlage. 

Würde  ein  Chinese  und  ein  Graubündner, 
die  Familien  angehörten,  deren  Angehörige  seit 
vielen  Generationen  in  Gegenden  gelebt  hätten, 
wo  man  von  Opium  und  Spirituosen  nichts  weiß, 
wenn  ihnen  Opium  und  Spirituosen  einmal  ange- 
boten würden,  sofort  der  eine  nach  dem  Opium, 
der  andere  nach  den  Spirituosen  greifen,  und  ge- 
schähe dies  nicht  nur  zufallig  einmal  bei  einem 
einzelnen  Individuum,  sondern  in  zahlreichen 
Fällen  und  bei  allen  Chinesen  und  Graubündnern 
immer  in  der  gleichen  Weise,  so  könnte  man  bei 
ihnen  auch  nicht  mehr  von  einer  nur  pathologischen 
Neigung  sprechen.  Man  müßte  in  solchem  Falle 
vielmehr  einen  besonderen  nationalen  erblichen 
Instinkt  voraussetzen.  Tatsächlich  verhält  es  sich 
jedoch  nicht  so.  Es  ist  darum  der  Vergleich  des 
Symphilieverhältnisses  mit  den  Erscheinungen  der 
Trunksucht,  der  Opiumsucht  usw.  nicht  zutreffend. 

Das  ergibt  sich  übrigens  auch  bei  einer  anderen 
Betrachtungsweise.  Nach  W  h  e  e  1  e  r  ist  die 
Naschhaftigkeit  der  Ameisen  die  Ursache  des 
Symphilieinstinktes,  wie  das  Verlangen  nach  der 
Anregung  durch  Spirituosen  die  Ursache  des 
Lasters  der  Trunksucht  ist.  Das  Laster  der  Trunk- 
sucht besteht  nun  darin,  daß  das  Verlangen  nach 
der  Anregung  durch  die  Spirituosen  bei  einzelnen 
Individuen  so  groß  wird,  daß  sie  ihm  nicht  mehr 
widerstehen  können.  Zur  Pflege  der  Larven  im 
Symphilieverhältnis  kann  es  dagegen  nur  dann 
kommen,  wenn  im  Individuum  neben  der  Nasch- 
haftigkeit sich  noch  ein  anderer  Trieb  geltend 
macht,  der  die  Naschhaftigkeit  in  Zaum  hält,  denn 
sonst  würden  die  Larven  nicht  aufgezogen,  sondern 
aufgefressen  werden.  Dieser  Trieb  ist  der  Sym- 
philiepflegeinstinkt.  Das  Verlangen  nach  Spiri- 
tuosen ist  daher  tatsächlich  die  Ursache  des  Lasters 
der  Trunksucht.  Mit  diesem  haben  wir  es  da  zu 
tun,  wo  jenes  Verlangen  übergroß  geworden  ist. 
Anders  verhält  es  sich  aber  mit  der  Naschhaftig- 
keit. Sie  ist  nicht  die  Ursache,  sondern  nur  die 
Auslösung  eines  schon  vorhandenen  Instinktes, 
des  Symphiliepflegeinstinktes,  der  selbst  stärker 
ist  als  die  Naschhaftigkeit. 

Bei  der  Auslösung  des  Symphilieinstinktes 
handelt  es  sich  übrigens  nach  Wasmann  nicht 
nur  um  den  einfachen  Geschmacksreiz,  sondern 
um  einen  „psychischen  Komplex".  Die  ganze 
sinnliche  Erscheinung  des  Gastes  macht  nach  ihm 
auf  die  Ameise  „den  Eindruck  des  erblich  be- 
kannten Angenehmen,  schon  bevor  sie  ihn 
beleckt  hat".  Es  steht  eine  solche  Annahme  zwar 
im  Widerspruch  mit  der  Auffassung  von  D  r  i  e  s  c  h, 
der  nur  „einfache"  Reize  als  Instinktloser  gelten 
lassen  will,  doch  scheinen  mir  für  sie  nicht  nur 
die  beim  Symphilieverhältnis  beobachteten  Tat- 
sachen,   sondern  auch  die  Goltz  sehen  Versuche 


mit  den  enthirnten  Fröschen  zu  sprechen.  Letztere 
lassen  den  Unterschied  zwischen  Kettenreflex  und 
Instinkthandlung  besonders  scharf  hervortreten  und 
zeigen  deutlich,  daß  diese  durch  ein  Gemeinge- 
fühl ausgelöst  wird.  So  funktionierte  bei  den  des 
Großgehirns  beraubten  Fröschen  der  Schlingreflex 
noch  tadellos,  wenn  dem  Frosch  die  Fliege  ins 
Maul  gesteckt  wurde,  dagegen  haschte  er  nicht 
mehr  nach  der  Beute,  auch  wenn  die  Fliege  ihm 
übers  Auge  weglief,  weil  die  Auslösung  des  ent- 
sprechenden Instinktes  durch  das  dem  enthirnten 
Frosch  fehlende  Hungergefühl  nicht  mehr  erfolgte. 
Gegen  die  Tatsache  des  Symphilieinstinktes  kann 
auch  die  Schwierigkeit  einer  Erklärung  der  Ent- 
stehung desselben  nicht  geltend  gemacht  werden. 
Die  gleiche  Schwierigkeit  besteht  hinsichtlich  der 
Instinkte  der  Bienenarbeiterinnen,  und  doch  wird 
niemand  die  Geltung  des  Grundsatzes:  Contra 
factum  non  valet  illatio  bei  diesen  bestreiten. 

So  kommt  man  mit  Wasmann  zu  dem 
Resultat,  daß  das  Vorhandensein  einer  fremddien- 
lichen Zweckmäßigkeit  auch  für  das  Symphilie- 
verhältnis von  Formica  sanguinea  und  Lomechusa 
strumosa  angenommen  werden  muß. 

Man  hat  es  nun  aber  hier  nicht  nur  mit  einem 
zweiten  Beispiel  der  fremddienlichen  Zweckmäßig- 
keit zu  tun,  das  bloß  das  bestätigte,  was  uns  die 
Beziehungen  zwischen  den  gallenerzeugenden 
Pflanzen  und  den  sie  bewohnenden  Insektenlarven 
bereits  gezeigt  haben.  Das  Symphilieverhältnis 
von  Lomechusa  strumosa  und  Formica  sanguinea 
läßt  uns  vielmehr  den  Charakter  der  fremddien- 
lichen Zweckmäßigkeit  in  wesentlich  schärferer 
Beleuchtung  als  bei  dem  Gastverhältnis  von  gallen- 
erzeugender Pflanze  und  Insekt  erkennen.  Die 
Einrichtungen  des  letzteren  ließen  sich  noch  in 
thesi  auf  die  natürliche  Zuchtwahl  zurückführen. 
Bei  der  Symphilie  ist  das  nicht  mehr  der  Fall. 
Bei  den  Pflanzengallen  ist  zwar  für  den  Wirt  kein 
Vorteil,  aber  auch  kein  ins  Gewicht  fallender 
Nachteil  ersichtlich.  Ganz  anders  bei  dem  Sym- 
philieverhältnis von  L.  Str.  und  F.  sanguinea. 
Hier  wird  die  Wirtskolonie  zweifellos  durch  die 
Gäste  auf  die  Dauer  schwer  geschädigt.  Der 
Schaden  ist  ein  direkter,  indem  die  Gäste  die 
Eier  und  Larven  ihrer  Wirte  auffressen.  Noch 
größer  ist  jedoch  der  indirekte  Schaden.  Denn 
der  allmählich  degenerierende  ßrutpflegeinstinkt 
der  Ameisenarbeiterinnen  führt  regelmäßig,  wenn 
das  Gastverhältnis  längere  Zeit  dauert,  zum  Unter- 
gang der  betreff'enden  Ameisenkolonie.  So  „züchten 
die  Ameisen  in  den  Lomechusini  tatsächlich  ihre 
schlimmsten  Feinde  selbst  heran"  (S.  94).  Die 
natürliche  Zuchtwahl  hätte  daher  die  Neigung  zur 
Gastpflege  der  Lomechusini  bei  den  Ameisen  aus- 
schalten müssen.  Jedenfalls  kann  sie  bei  der  Ent- 
stehung des  Brutpflegeinstinktes  nicht  mit  im 
Spiele  gewesen  sein. 

Hinzu  kommt,  wie  ich  den  Ausführungen  von 
Wasmann  hinzufügen  möchte,  daß  aus  dem 
Symphilieverhältnis  —  anders  wie  bei  den  Pflanzen- 
gallen —  nicht  einmal  den  Gästen  ein  dauernder 


622 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  43 


Vorteil  erwächst.  Das  die  Pflanzengalle  be- 
wohnende Insekt  zieht  aus  dem  Gastverhältnis 
zweifellos  den  größten  Nutzen.  Da  die  Brut  in 
den  Gallen  sichere  Unterkunft  und  reichliche 
Nahrung  findet,  steht  die  Einrichtung  sowohl  im 
Dienste  der  Individuen  wie  der  Erhaltung  der 
Arten.  Bei  dem  Symphilieverhältnis  von  Lome- 
chusa  Str.  und  Formia  s.  ist  auch  das  nicht  der 
Fall.  Wenn  infolge  der  Vernichtung  der  Ameisen- 
eier und  -larven  und  der  Pseudogynenaufzucht 
die  Ameisenkolonien  zugrunde  gehen ,  verlieren 
auch  die  Lomechusini,  die  auf  die  speziellen 
Ameisenarten  angewiesen  sind,  den  Boden  unter 
den  Füßen.  Die  einzelnen  Individuen  wandern 
zwar  vorher  aus  den  geschwächten  Kolonien  aus 
und  suchen  frische  Kolonien  auf.  Doch  wird  da- 
durch die  Infektion  nur  von  einer  Kolonie  zur 
anderen  getragen.  Das  Endresultat  ist  das  Aus- 
sterben ganzer  Sanguineabezirke.  Es  ist  das  von 
Schmitz  bei  Tüddern  (Rheinprovinz)  und  von 
W  a  s  m  a  n  n  bei  Exaten  (Holland)  beobachtet 
worden.  Da  nun  aber  die  Sanguineabezirke  oft 
weit  voneinander  entfernt  liegen,  ist  dann  für  die 
meisten  Lomechusaindividuen  die  Möglichkeit  einer 
Larvenerziehung  überhaupt  abgeschnitten.  Die 
Einschränkung  der  Vermehrung  gilt  daher  sowohl 
für  den  Gast  wie  für  den  Wirt.  Sie  führt  nicht 
zur  Vernichtung,  aber  sie  hemmt  die  schranken- 
lose Ausbreitung  beider  Arten. 

Es  erinnert  so  das  Symphilieverhältnis  der 
Lomechusini  und  der  Formicaarten  nicht  nur  an 
das  Gastverhältnis  bei  den  Pflanzengallen,  sondern 
mehr  noch  an  das  Verhältnis,  in  welchem  die  in 
der  Land-  und  Forstwirtschaft  als  Schädlinge  und 
Nützlinge  bezeichneten  Insekten  zueinander  stehen. 

Die  besondere  Eigentümlichkeit  desselben  be- 
steht, wie  Ref.  früher  ausgeführt  hat,')  darin,  daß 
I.  jeder  Nutzung  für  seine  Ernährung  oder  für 
die  Pflege  seiner  Brut  oder  für  beides  ausschließ- 
lich auf  Individuen  einer  bestimmten  Schädlings- 
art angewiesen  ist  und  dieselben  dabei  vernichtet ; 
daß  2.  beim  Auftreten  des  Nützlings  die  Ver- 
mehrung des  Schädlings  in  schneller  Progression 
zurückgeht,  damit  aber  zugleich  auch  die  Ver- 
mehrung des  Nützlings,  dessen  Existenz  von  der 
Existenz  des  Schädlings  abhängt,  eingeschränkt 
wird  und  daß  3.  eine  zweite  Regulation  besteht, 
durch  welche  die  völlige  Vernichtung  von  Schäd- 
ling und  Nützling  verhindert  wird. 

Wir  haben  daher  bei  den  Schädlingen  und 
Nutzungen  eine  primäre  und  eine  sekundäre  Re- 
gulation zu  unterscheiden.  Der  Zweck  der  sekun- 
dären Regulation  ist  die  Erhaltung  der  Schädlings- 
und Nützlingsart,  sie  kann  in  thesi  auf  die  natür- 
liche Zuchtwahl  zurückgeführt  werden ;  der  Zweck 
der  primären  Regulation  muß  ein  anderer  sein, 
da  bei  ihm,  wenn  nicht  die  sekundäre  Regulation 
eingriffe,  die  Art  des  Schädlings  und  des  Nützlings 
notwendig  zugrunde   gehen   müßten.     Ihr  Zweck 


*)  Naturw.  Wochenschr.  192 1,  S.  517  ff. 


liegt  außerhalb  der  beiden  Arten  in  der  Erhaltung 
des  Gleichgewichts  der  Biozönosen.  Die  Zweck- 
mäßigkeit ist  daher  eine  fremddienliche  oder  ge- 
nauer gesagt:  eine  gemeinschaftdienliche. 

Genau  die  gleichen  Beziehungen  treten  uns 
nun  in  dem  Symphilieverhältnis  von  Lomechusa  str. 
und  Formica  s.  entgegen.  Auch  hier  ist  die 
Lomechusa  str.  für  ihre  Ernährung  und  die  Pflege 
ihrer  Brut  ausschließlich  auf  eine  bestimmte  Art, 
die  Formica  s.  angewiesen,  ebenso  tritt  infolge 
desSymphilieverhältnisses  eine  schwere  Schädigung 
beider  Arten  ein.  Die  sekundäre  Regulation  be- 
steht hier  darin,  daß  in  einer  von  der  Lomechusa- 
seuche  ergriffenen  Ameisenkolonie  die  vernichtende 
Wirkung  dieser  Infektion  nicht  sofort  Platz  greift 
und  die  Kolonie  vorher  noch  gesunde  Tochter- 
kolonien in  die  Ferne  aussenden  kann,  wo  sie 
zunächst  vor  Infektion  geschützt  sind  und  sich 
wieder  zu  neuen  Ameisenbezirken  entwickeln 
können. 

Wie  aber  das  Symphilieverhältnis  von  Lome- 
chusa Str.  und  Formica  s.  nicht  nur  ein  zweites 
Beispiel  für  das  Vorhandensein  einer  fremddien- 
lichen Zweckmäßigkeit  bot,  sondern  den  Begriff 
derselben,  wie  ihn  Erich  Becher  aus  den  bei 
den  Pflanzengallen  gemachten  Beobachtungen  ab- 
geleitet hatte,  näher  bestimmte,  so  führt  es  auch 
über  den  Begriff  der  fremddienlichen  Zweckmäßig- 
keit, der  sich  uns  aus  dem  Verhältnis  der  Schäd- 
linge und  Nützlinge  ergibt,  hinaus. 

Die  Spezialisierung  der  Nützlinge  kann  nicht, 
wie  wir  sahen,  allmählich  auf  dem .  Wege  der 
natürlichen  Zuchtwahl  herangezüchtet  worden  sein, 
wohl  aber  köimte  sie  vielleicht  plötzlich  durch 
Zufall  entstanden  sein.  Es  wäre  dann  zwar  selt- 
sam, daß  die  natürliche  Zuchtwahl  sie  nicht  wie- 
der ausgeschaltet  hat;  aber  daß  auch  zweckwidrige 
Einrichtungen  sich  lange  erhalten  können,  wie 
z.  B.  die  unpraktische  Panzerdecke  des  Scelido- 
saurus,  lehrt  die  Geologie.  Bei  dem  Symphilie- 
verhältnis läßt  sich  nun  aber  auch  eine  solche 
zufällige  Entstehung  der  Spezialisierung  nicht  an- 
nehmen, da  bei  ihm  nicht  nur  der  Gast  an  den 
Wirt,  sondern  auch  der  Wirt  an  den  Gast  durch 
erblichen  Instinkt  gekettet  ist.  Eine  solche  dop- 
pelte gegenseitige  Spezialisierung  läßt  sich  nicht 
aus  dem  Zufall  erklären.  Die  offenbar  auf  ein 
teleologisches  Prinzip  zurückzuführende  Erscheinung 
wirft  nun  auch  ein  Licht  auf  das  Verhältnis  von 
Nützling  und  Schädling  und  läßt  auch  seine 
Entstehung  durch  Zufall  unwahrscheinlich  er- 
scheinen. 

Erich  Becher  glaubte  schon  für  die  Erklä- 
rung fremddienlicher  Zweckmäßigkeit  der  Pflanzen- 
gallen auf  eine  überindividuelle  Ursache  zurück- 
gehen zu  müssen.  Bei  der  fremddienlichen  oder 
gemeinschaftdienlichen  Zweckmäßigkeit  des  Sym- 
philieverhältnisses  drängt  sich  uns  die  Annahme 
mit  doppelter  Gewalt  auf.  Und  wenn  E.Becher 
wegen  der  Dysteleologie  noch  zweifelte,  ob  dieser 
überindividuellen     Ursache     der    Charakter    der 


N.  F.  XX.  Nr.  43 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


623 


Intelligenz  zuzuerkennen  sei,  so  fallen  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  „gemeinschaftdienlichen"  Zweck- 
mäßigkeit diese  Bedenken  hinweg. ') 

Die  Annahme  einer  überindividuellen,  intelli- 
genten Ursache,  einer  metaphysischen  Finalität, 
die  hinter  der  Kausalität  (nicht  neben  derselben) 
ihren  Platz  hat  und  die  kausalen  Naturgesetze  so 
geordnet  hat,  daß  sie  in  ihrem  Ablauf  zu  der 
zweckmäßigen  Naturordnung  führen,  machen  da- 
her auch  manche  mechanistische  Forscher.  Mit 
ihnen  stimmt  Wasmann  insofern  überein,  als 
auch  er  das  Naturgeschehen  nur  durch  natürliche 
Ursachen  erklären  will,  „die  von  Anfang  an  durch 
Gottes  Weisheit   gesetzmäßig   geordnet   wurden". 

')  Naturw.  Wochenschr.  1921,  S,  519  ff.  Herr  Geh.  Rat 
E.  Becher  hat  übrigens,  worauf  er  mich  brieflich  aufmerk- 
sam macht,  dem  Überindividuellen  die  Intelligenz  nicht  über- 
haupt abgesprochen;  er  neigt  nur  dazu  anzunehmen,  „daß 
diese  Intelligenz  wie  die  menschliche,  Erfahrungen  macht  und 
verwertet". 


„Die  natürliche  Betätigung  der  Weltdinge  erfolgt", 
wie  er  sagt,  „nach  den  von  Anfang  an  in  sie  ge- 
legten Gesetzen  als  wirkliches  Naturge- 
schehen, nicht  als  willkürliches  Eingreifen 
Gottes  in  die  Tätigkeit  der  Geschöpfe".  Zu  dieser 
Weltanschauung  des  Deismus  kommt  der  Natur- 
foscher,  wenn  er  nur  das  im  Auge  behält,  was 
seine  spezielle  Wissenschaft  ihm  sagt.  Dem 
Metaphysiker  genügt  sie  freilich  nicht,  wie  schon 
Goethe  in  seinem  bekannten  Wort :  Was  war' 
ein  Gott,  der  nur  von  außen  stieße  usw.  aussprach. 
Wasmann  selbst  gelangt,  indem  er  vom  Gottes- 
begriff ausgeht,  über  sie  hinaus  zum  Theismus. 
Er  führt  das  im  letzten  Kapitel  seiner  Arbeit  aus. 
Es  kann  jedoch  hier  auf  diese  Darlegungen,  die 
rein  metaphysischer  Natur  sind,  nicht  eingegangen 
werden.  Wer  sich  für  sie  interessiert,  muß  sie 
an  der  betreffenden  Stelle  (S.  125—136)  nach- 
lesen. Meine  eigene  Auffassung  habe  ich  am 
Schluß  des  oben  zitierten  Aufsatzes  angedeutet. 


Deutsche  Südpolar-Expedition  1901— 1903,  im 
Auftrage  des  Reichsministeriums  des  Innern 
herausgegeben  von  E.  v.  D  r  y  g  a  1  s  k  i.  Bd.  XVI 
(Zoologie  Bd.  VIII)  Heft  IV.  4».  XVII  u.  308  S. 
44  Tafeln.  Berlin  und  Leipzig  1921,  Walter  de 
Gruyter.  376  M. 
Auch  das  Forterscheinen  der  „Deutschen 
Südpolar-Expedition"  darf  den  deutschen  wissen- 
schaftlichen Buchhandel  mit  Stolz  erfüllen.  Das 
umfangreiche  Schlußheft  des  vierten  Bandes  bringt 
ein  Vorwort  von  R.  Hartmeyer,  einen  Nachruf 
auf  Ernst  Vanhöffen  aus  der  Feder  des  Her- 
ausgebers, ferner  folgende  Arbeiten:  Brinkmann, 
Die  pelagischen  Nemertinen;  Broman,  Embryo- 
nalentwicklung der  Pinnipedier  V;  Extremitäten- 
skelett, nebst  Bemerkungen  über  die  Entstehung 
der  Hypo-  und  Hyperphalangie  bei  den  Säuge- 
tieren im  allgemeinen;  es  ist  das  die  erste  bis- 
herige Untersuchung  über  die  Embryologie  der 
Robbenflossen.  „Die  nächste  Ursache  der  physio- 
logischen Hypophalangie  des  Daumens  und  der 
Großzehe  bei  Säugetieren  ist  im  allgemeinen 
darin  zu  suchen,  daß  die  Knochen  des  ersten 
Hand-  bzw.  Fußstrahls  als  Vorknorpelkerne  zu- 
letzt angelegt  werden,  und  daß  die  3.  Phalange 
daher  hier  nie  gebildet  wird."  W.  Fischer  be- 
handelt Gephyreen  und  am  Schluß  die  Frage  der 
Ursachen  der  deutlichen  Bipolarität.  Entgegen 
der  Pfeffer-Murrayschen  Hypothese,  die  Bi- 
polarität vieler  Tiergruppen  und  überhaupt  des 
marinen  Faunencharakters  beruhe  auf  dem  seit 
der  Pliozänzeit  bestehenden  Reliktcharakter  der- 
selben, während  die  in  Frage  kommenden  Arten 
einst  über  alle  Zonen  verbreitet  waren,  entschließt 
sich  Fischer  für  seinen  Fall  für  die  Roß- Ort- 
mann-v.  Ihering  sehe  Migrationshypothese,  die 
Tiere  seien  durch  die  kalte  Tiefsee  von  Pol  zu 
Pol  gewandert,  da  es  unter  den  Gephyreen  in 
beiden      Polgebieten       identische      litorale 


Bücherbesprechungen. 


Arten  gibt,  die  in  den  gewaltigen  Zwischen- 
gebieten vereinzelt  in  den  lichtlosen  Tiefen  der 
Ozeane  vorkommen.  J.  Thiele  behandelt  die 
Zephalopoden ,  Fuhrmann  die  Zestoden  mit 
dem  Ergebnis,  daß  die  Antarktis  im  Gegensatz 
zur  Arktis  sehr  wenige  kosmopolitische  Arten 
dieser  Plattwürmergruppe  enthält ;  keine  Bipolarität 
außer  daß  wie  im  Norden  auch  im  Süden  die 
Tetrabothriiden  —  gegen  Zschokke  —  und 
Bothriozephaliden  vorwiegend  vertreten  sind. 
Hanns  Lengebach  behandelt  die  Stelzmeduse 
Eleutheria  vallentini  Browne  und  ihre  Ammen- 
generation, Popofsky  die  Sphärozoen. 

V.  Franz,  Jena. 

Bezold,  Dr.  Wilh.  von  und  Seitz,  Prof.  Dr.  W., 
Die   Farbenlehre    im    Hinblick    auf   Kunst 
und  Kunstgewerbe.    2.  Auflage,  vollständig  neu 
bearbeitet.     Mit  60  Fig.  und   12  zum    Teil    far- 
bigen  Tafeln.      Braunschweig    192 1,    Friedrich 
Vieweg  und  Sohn.     35  M. 
Vor  45  Jahren  erschien  die  erste  Auflage  dieses 
feinsinnigen    Büchleins.     Daß    der    Neubearbeiter 
ganze  Kapitel  unverändert  wiederbringen  konnte, 
spricht  für  die  ganz  ungewöhnliche  Abgeklärtheit 
und  Reife,  mit  der  farbentheoretische  wissenschaft- 
liche Erläuterungen  und  künstlerische  Anwendun- 
gen der  so  gewonnenen  Erkenntnis  von  v.  B  e  z  o  1  d 
gegeben  worden  sind.     Der  Bearbeiter  hatte  also 
nur    die    durch    die    Namen   Hering   und  Ost- 
wald bezeichneten,  allerdings  beträchtlichen  Fort- 
schritte   in    der  Entwicklung    der  Farbenlehre    in 
die  Darstellung  einzuarbeiten.     Mit   seltenem  Ge- 
schick ist  ihm  das  gelungen  1      Man  hat  nirgends 
den  Eindruck  der  Inhomogenität. 

Das  Buch  zerfällt  in  fünf  große  Abschnitte. 
Die  drei  ersten  bringen  eine  an  Klarheit  und 
Schlichtheit  des  Stils  kaum  zu  übertreffende  und 
immer     allgemeinverständliche     Darstellung     der 


624 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  43 


physikalischen  Grundlage  der  Farbenlehre,  der 
Spektralerscheinungen,  der  Körperfarben,  der 
Farbenmischung  und  des  Farbsystems.  Das  vierte, 
ganz  neu  geschriebene  Kapitel  behandelt  die 
künstlerisch  und  psychologisch  so  wichtige  „Lehre 
vom  Kontrast",  und  das  Schlußkapitel  bietet  die 
Anwendung  der  gefundenen  Erkenntnisse  auf 
Kunst  und  Kunstgewerbe  in  einer  so  taktvollen 
und  anziehenden  Weise,  daß  auch  der  Kunst 
Fernstehende  ihre  Freude  daran  haben  müssen. 
So  stellt  das  Buch  in  Wahrheit  eine  Verbindung 
der  so  wesensfremd  scheinenden  Gebiete  der 
Kunst  und  der  Wissenschaft  dar.  Die  ganz  vor- 
zügliche bildliche  Ausstattung  erhöht  den  Wert 
des  schönen  Buches,  dem  auf  das  lebhafteste 
weite  Verbreitung  gewünscht  seil  — 

Ganz  nebenher  die  Bemerkung,  daß  Bericht- 
erstatter die  Einwände  gegen  gewisse  Farbbezeich- 
nungen durch  Ostwald  nicht  teilen  kann.  Ein 
deutsches  Wort,  das  den  Sinn  trifft,  ist  ohne 
weiteres  gut  und  also  anzuwenden.  —  S.  55 
letzter  Absatz  findet  sich  ein  belustigender  Druck- 
fehler :  „landwirtschaftlicher"  statt  „landschaftlicher" 
Studien.  H.  Heller. 

Taschenberg,  O.,  Bibliotheca  zoologica  II. 
Verzeichnis  der  Schriften  über  Zoologie,  welche 
in  den  periodischen  Werken  enthalten  und  vom 
Jahre  1861  — 1880   selbständig   erschienen  sind, 
mit     Einschluß     der     allgemein- naturgeschicht- 
lichen,    periodischen     und     paläontologischen 
Schriften.     21. — 23.  Lieferung.    (S.  6073 — 6312.) 
Leipzig  192 1,  W.  Engelmann.     ii6  M. 
Mit    diesen    drei    Lieferungen    ist    Band  VII, 
2.  Hälfte  des  bekannten  Werkes,  enthaltend  Nach- 
träge   zu    Signatur    745 — "]"]■],   beendet.     Es    be- 
rücksichtigt   sehr    ausführlich    alle    Sprachen    der 
westlichen    Welt,    also    auch    die    russische,    und 
außer  den   rein   wissenschaftlichen   auch  aufs  ge- 
naueste  die    populärwissenschaftlichen   Veröffent- 
lichungen.    Dadurch   schwillt  natürlich  sein  Um- 
fang  gewaltig  an.     Gleichwohl   wird   es  zur  ge- 
legentlichen   Nachsuche    bekanntlich   mit    Vorteil 
benutzt.     Dem  Wunsche   und   der   Hoffnung  des 
Verlegers,  daß  dieser  Band  der  Wiedererstarkung 
unseres    Vaterlandes    und    der    Förderung    inter- 
nationaler  Kulturarbeit   helfen   möge,    muß    man 
sich  anschließen,  zumal  die  „Bibliotheca  zoologica" 
vermutlich  auch  im  Ausland  viel  benutzt  wird. 

V.  Franz,  Jena. 


Hartmann,  M.,  Praktikum  derProtozoo- 
logie.  Vierte,  wesentlich  erweiterte  Auflage 
(Zweiter  Teil  von  Kißkalt  und  Hartmann,  Prakti- 
kum der  Bakteriologie  und  Protozoologie).  Mit 
128  teils  farbigen  Abbildungen  im  Text.    146  S. 


Jena    1921,   G.   Fischer.      Brosch.    30   M.,    geb. 

36  M. 

Die  rasche  Entwicklung  der  Protozoenkunde 
und  ihre  praktische  Bedeutung  für  den  Mediziner 
haben  es  bedingt,  daß  das  Hartmannsche 
Praktikum  schon  in  4.  Auflage  vor  uns  liegt. 
Wir  erblicken  darin  gleichzeitig  den  besten  Be- 
weis für  die  treffliche  Brauchbarkeit  des  Buches, 
das  übrigens  nicht  allein  dem  Mediziner,  sondern 
jedem  Biologen,  der  sich  mit  dem  Gebiet  der 
Protozoenkunde  besonders  von  praktischen  Ge- 
sichtspunkten aus  vertraut  machen  will,  angelegent- 
lich empfohlen  werden  kann.  Die  bewährte 
Grundlage  des  Buches  ist  auch  in  der  neuen  Auf- 
lage beibehalten  worden.  In  knapper  klarer  Dar- 
stellung bringt  es  in  erster  Linie  alles,  was  für 
die  Untersuchungen  pathogener  Protozoen  in  Be- 
tracht kommt.  Der  Leser  wird  daher  ebenso 
über  die  erforderlichen  Instrumente  und  Chemi- 
kalien, über  die  Technik  der  Untersuchung,  Art 
der  Materialbeschaffung,  wie  über  das  Vorkommen, 
die  Bauart  und  namentlich  über  die  Fortpflanzungs- 
erscheinungen der  einzelnen  Formen  unterrichtet. 
Eine  Erweiterung  bringt  die  vorliegende  Auflage 
insofern,  als  nicht  allein  die  Parasiten  berücksichtigt 
sind,  sondern  nunmehr  auch  von  den  meisten 
Hauptgruppen  freilebender  Protozoen  Vertreter 
Aufnahme  gefunden  haben,  was  sicherlich  im 
Interesse  der  weiteren  Verwendbarkeit  des  Buches 
nur  zu  begrüßen  ist.  Sehr  willkommen  werden 
endlich  vielen  auch  die  Hinweise  und  Winke  sein 
über  die  Art  und  Weise,  wie  gewisse  Protozoen 
am  besten  in  Kulturen  gezüchtet  werden  können. 

R.  Heymons. 

Literatur. 

Meisenheimer,  Johannes,  Ernst  Stahl,  Nekrolog.  Ab- 
druck aus  den  Berichten  der  mathematisch-physischen  Klasse 
der  sächsischen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Leipzig. 
LX.\II.  Band. 

Westphal,  Carl,  Wirbelkristall  und  elektromagnetischer 
Mechanismus.  Braunschweig  '21,  Friedr.  Vieweg  &  Sohn 
4  M. 

American  Museum  of  natural  history.  Fifty-second  annua 
report  for  the  year  1920.     New-York  '21. 

Enke's  Bibliothek  für  Chemie  und  Technik  unter  Be 
rücksichtigung  der  Volkswirtschaft.  Herausgegeben  von  Prof. 
Dr.  ,L.  Vanino.     Stuttgart  '21,   Ferdinand  Knke. 

Bd.  II:  Hans  Schnegg,  Das  mikroskopische  Prakti 

kum  des  Brauers.      I.  Teil :  Morphologie  und  Ana 

tomie  der  Brauerei  Roh-  und  Hilfsstoffe. 

Mach,    Ernst,    Die  Prinzipien  der  physikalischen  Optik 

Leipzig  '21,  Johann  Ambrosius  Barth.     Brosch.  48,  geb.  60  M 

Kays  er,    Emanuel ,    Lehrbuch    der    Geologie.      Sechste 

vermehrte  Auflage.     Stuttgart  '21,  Ferdinand  Enke. 

Bd.  I:  Allgemeine  Geologie  I.    Physiographische  Geo- 
logie und   äußere  Dynamik. 
Bd.  11 :  Allgemeine  Geologie  II.     Innere  Dynamik. 
Schmitt,  Waldo  L.,    The  marine  decapod  crustacea  of 
California,  Berkeley,  Calif.  '21,  University  of  California  Press. 


Inhalt:  H.  Kranich  feld,  Eine  neue  Untersuchung  über  die  fremddienliche  Zweckmäßigkeit.  S.  617.  —  Bücher- 
besprechungen: Deutsche  Südpolar-Expedition  1901 — 1903.  S.  623.  W.  Bezold  und  W.  v.  Seitz,  Die  Farben- 
lehre. S.  623.  O.  Taschenberg,  Bibliotheca  zoologica  11.  S.  624.  M.  Hartmann,  Praktikum  der  Zoologie. 
S.  624.  —  Literatur:  Liste.  S.  624. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'scben  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folffe  20.  Band; 
der  ganten  Reihe   36,  Band. 


Sonntag,  den  30.  Oktober  1921. 


Nummer  44. 


Homöopathie  und  moderne  Biologie. 


[Nachdruck  verboten.] 

Den  gewaltigen  Umwälzungen,  die  sich  in 
politischer  und  wirtschaftlicher  Beziehung  augen- 
blicklich vollziehen,  gehen  andere,  geistige  zur 
Seite,  die  minder  geräuschvoll  und  offensichtlich 
verlaufen  aber  nicht  weniger  einschneidend  sind. 
Die  mechanistische  Flut  ebbt  ab  und  vitalistische 
Gedankengänge  wagen  sich  immer  mehr  ans 
Tageslicht.  Da  kann  es  denn  nicht  verwundern, 
daß  auch  andere  lange  verpönte  Anschauungen 
wieder  ihr  Haupt  erheben  wie  die  Homöopathie, 
die  in  ausgesprochenem  Gegensatz  zur  mecha- 
nistischen Medizin  der  vergangenen  Jahrzehnte  steht. 

Wenn  aber  auch  die  Zeitstimmung  der  nicht 
mechanistisch  denkenden  Homöopathie  entgegen- 
kommt, so  kann  sie  doch  nur  hoffen  als  vollbe- 
rechtigtes Glied  in  die  Gesamtmedizin  aufge- 
nommen zu  werden,  wenn  es  ihr  gelingt  aus  ihrer 
IsoHertheit  herauszukommen  und  nachzuweisen, 
daß  ihre  Ansichten  sich  unseren  sonstigen  biolo- 
gischen Erkenntnissen  unterordnen,  aus  ihnen  ver- 
ständlich sind,  ja  sich  aus  ihnen  herleiten  lassen. 
Bis  dahin  wird  sie  als  unwissenschaftlich  in  Acht 
und  Bann  getan  und  als  „mystisch"  aus  dem 
Kreise  der  Wissenschaften  hinaus  gewiesen. 

Eine  kurze  Bemerkung  über  das  so  beliebte 
Schlagwort  „mystisch",  das  ebenso  häufig  ge- 
braucht wird  als  es  vieldeutig  und  mißverständ- 
lich ist.  Wenn  man  untersucht,  was  allem  dem 
gemeinsam  ist,  was  vom  modernen  Naturwissen- 
schaftler als  mystisch  in  Acht  und  Bann  getan 
wird,  so  kommt  man  zu  dem  Ergebnis,  daß  er 
gern  alles  das,  was  er  von  seinem  Standpunkt 
aus  nicht  verstehen  kann,  so  nennt.  Solch  eine 
Namengebung  ist  aber  zum  mindesten  unpraktisch, 
denn  es  hängt  dann  nur  vom  Standpunkt  des 
einzelnen  ab,  ob  man  etwas  als  mystisch  bezeichnet 
oder  nicht.  Ich  meine  man  sollte  den  Sinn  des 
Wortes  erheblich  einschränken  und  nur  das 
„mystisch"  nennen,  was  sich  nicht  nur  unserem 
augenblicklichen  Verständnis  entzieht,  sondern  was 
prinzipiell  nicht  rationalistisch  auflösbar  ist,  oder 
wenn  man  das  Wort  nicht  von  Dingen,  sondern 
von  geistigen  Richtungen  gebraucht,  so  sollte 
man  es  auf  die  geistige  Einstellung  anwenden, 
die  nicht  mit  dem  Verstand,  sondern  mit  dem 
Gefühl,  der  „Intuition"  usw.  einer  Sache  nahe 
kommen  will.  In  diesem  Sinne  verstanden  ist 
nun  die  Homöopathie  nicht  mystisch,  wenn  auch 
gewiß  manches  im  Rahmen  unserer  jetzigen 
Kenntnisse  noch  nicht  seine  Erklärung  findet; 
vom  wesentlichen  der  Homöopathie  aber 
darf  gesagt  werden,  daß  es  sich  durchaus  in  unser 
sonstiges  Wissen  einordnen  läßt. 


Von  Dr.  med.  R.  Tischner. 


Viele  Laien  und  manche  Mediziner  wissen  von 
der  Homöopathie  nicht  mehr,  als  daß  sie  eine 
medizinische  Richtung  ist,  die  die  Medikamente 
in  wesentlich  kleinerer  Dosis  zu  geben  pflegt  als 
die  andere  Hauptrichtung,  die  man  weniger 
richtig  als  kurz  als  „Allopathie"  zu  bezeichnen 
pflegt.  Jedoch  trifft  diese  Ansicht  nicht  das 
Wesentliche  der  Sache,  der  Angelpunkt  der  Homöo- 
pathie liegt  in  den  schlagwortartigen  Satz  „Simi- 
lia  similibus  curantur",  ein  Satz,  der  in  kurzer 
Umschreibung  besagen  will,  daß  die  Homöopathie 
das  Mittel  (in  kleiner  Dosis)  zu  geben  pflegt,  das 
(in  größerer  Dosis)  dieselben  Erscheinungen  her- 
vorzurufen imstande  ist. 

Gewiß  klingt  der  Satz  recht  paradox  und  man 
fragt  sich  im  ersten  Augenblick,  wie  man  diese 
Absurdität  beweisen  oder  auch  nur  auf  Grund 
unserer  sonstigen  Kenntnisse  plausibel  machen 
will.  Steht  er  aber  wirklich  so  ganz  isoliert  da, 
gibt  es  keine  Erfahrungen,  die  eine  Einordnung 
in  unser  anderes  Wissen  ermöglichen  könnten? 
Natürlich  ist  uns  nicht  damit  gedient,  wenn  ein 
Anhänger  auf  die  Erfolge  hinweisen  wollte,  wir 
wollen  nicht  die  ärztliche  Erfahrung  —  von  je- 
her ein  heikles  Gebiet  — ,  sondern  die  theoretischen 
Grundlagen  kennen  lernen,  auf  denen  ein  Ver- 
ständnis möglich  ist. 

Um  ein  etwas  günstigeres  Vorurteil  die  Homöo- 
pathie zu  erwecken,  könnte  da  ihr  Anhänger  auf 
erlauchte  Ahnen  hinweisen,  denn  die  Größten  in 
der  Medizin  wie  Hippokrates  und  Paracelsus 
haben  den  Grundsatz  der  Homöopathie  anerkannt 
und  danach  gehandelt.  Dann  könnte  er  noch 
einen  angesehenen  modernen  Kliniker,  Strümpell, 
anführen,  der  einmal  sagt,  darin  daß  eine  Krank- 
heit durch  ein  Mittel  geheilt  werden  könne,  das 
diese  Krankheit  auch  hervorzurufen  imstande  ist, 
liege  kein  Widerspruch.  Mit  dieser  Anerkennung 
des  homöopathischen  Grundprinzips  sind  wir  also 
wenigstens  davor  geschützt,  vom  modernen  Stand- 
punkt das  Ganze  für  eine  Absurdität  ansehen  zu 
müssen. 

Wir  wollen  aber  zusehen,  ob  es  uns  nicht  ge- 
lingt, diesen  Satz  unter  den  Schutz  eines  Gesetzes 
zu  stellen.  Das  ist  nun  allerdings  meiner  Meinung 
nach  möglich.  Das  „biologische  Grundgesetz" 
von  Arndt-Schulz  eröffnet  uns  die  Möglich- 
keit im  Rahmen  der  modernen  Biologie  zum  Ver- 
ständnis der  Homöopathie  zu  kommen.  Das 
biologische  Grundgesetz  ist  in  den  achtziger 
Jahren  von  dem  Greifswalder  Psychiater  Arndt 
aufgestellt  und  dann  von  dem  dortigen  Pharma- 
kologenHugo  Schulz  umfassend  experimentell 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


geprüft  worden.  Arndt  formulierte  das  Gesetz 
so:  Kleine  Reize  fachen  die  Lebenstätigkeit  an, 
mittelstarke  fördern  sie,  starke  hemmen  sie  und 
stärkste  heben  sie  auf.  Ausdrücklich  hebt  Arndt 
hervor,  daß  es  ganz  individuell  sei,  was  als  starker 
und  schwacher  Reiz  gelten  müsse,  ein  Umstand, 
der  natürlich  bei  einem  kranken  Organismus  mit 
seiner  viel  tieferen  Reizschwelle  beachtet  sein  will. 
Die  geschichtliche  Gerechtigkeit  verlangt  übrigens 
zu  bemerken,  daß  Virchow  1858  schon  auf  die 
verschiedene  Wirkung  verschieden  starker  Reize 
hingewiesen  hat  und  besondere  muß  bemerkt 
werden,  daß  der  Dozent  der  Homöopathie  an  der 
Prager  Hochschule,  A 1 1  s  c  h  u  1 ,  schon  im  Jahre 
1852  (in  „Das  therapeutische  Polaritätsgesetz  der 
Arzneidosen  als  prinzipielle  Grundlage  zur  physio- 
logischen Pharmakodynamik",  Prag  1852)  die  er- 
regende Wirkung  kleiner  und  die  lähmende 
großer  Dosen  zur  Grundlage  der  Therapie  macht. 
Um  so  verwunderlicher  ist  es,  daß  die  moderne 
Pharmakologie  kaum  Notiz  davon  nimmt,  und 
daß  in  den  Arbeiten  die  umgekehrte  Wirkung 
kleiner  und  großer  Dosen  meist  kaum  beachtet 
wird  und  wo  es  geschieht,  dann  vielfach  in  der 
Form,  daß  man  schreibt:  während  kleine  Dosen 
so  und  so  wirken,  wirken  große  dagegen 
anders,  anstatt  diesen  Gegensatz  als  aus  einem 
Gesetze  folgend  mit  einem  „infolgedessen"  her- 
vorzuheben. 

Was  liegt  nun  an  Tatsachen  vor?  Während 
Arndt  hauptsächlich  biologisches  Beobachtungs- 
material brachte  (Biologische  Studien,  1892),  stellte 
Schulz  ausdrücklich  zum  Studium  des  Gesetzes 
Versuche  an,  besonders  untersuchte  er  die  Wir- 
kung der  Antiseptika  auf  Kleinlebewesen,  z.  B. 
Hefe.  Während  z.  B.  Sublimat  Hefe  in  starker 
Konzentration  (i  :  looo)  schnell  abtötet,  wirken 
verdünntere  Lösungen  weniger  schnell  tödlich, 
noch  schwächere  hemmen  nur  die  Lebentätigkeit, 
die  sich  ja  bei  der  Hefe  an  der  Kohlensäure- 
produktion leicht  quantitativ  nachweisen  läßt,  und 
starke  Verdünnungen  von  etwa  i  :  100  000  sind 
indifferent,  in  diesen  Lösungen  wachsen  die  Hefe- 
zellen so  gut  wie  in  der  normalen  Vergleichs- 
lösung. Ohne  Kenntnis  des  biologischen  Grund- 
gesetzes würde  man  sich  nun  beruhigen  und  hat 
sich  vielfach  dabei  beruhigt,  indem  man  sagte: 
in  schwächeren  Lösungen  ist  Sublimat  unwirksam. 
An  der  Hand  des  biologischen  Grundgesetzes  ging 
Schulz  jedoch  weiter  und  er  fand,  daß  Sublimat 
in  einer  Verdünnung  von  etwa  i  :  700 000  stark 
anregend  auf  die  Lebenstätigkeit  einwirkte.  Ana- 
loge Untersuchungen  an  anderen  Organismen  und 
mit  anderen  Chemikalien  zeigte  die  durchgängige 
Wirksamkeit  des  Gesetzes. 

Auch  andere  Forscher  waren  —  z.  T.  unab- 
hängig von  Schulz  —  ähnliche  Wege  gegangen, 
wie  Bokorny,  der  die  Einwirkung  von  Giften 
auf  das  Pflanzenwachstum  studierte  und  zu  dem 
Ergebnis  kommt:  Ich  zweifle  kaum  mehr  daran, 
daß  es  bei  den  meisten  Giften  Verdünnungen 
gibt,    in    denen    sie  fördernd   auf  das  Wachstum 


einwirken.  —  Biernacki  berichtet  dasselbe  bei 
seinen  Untersuchungen  über  die  Einwirkung  von 
Antiseptizis  auf  die  Alkoholgärung.  Jennings, 
der  berühmte  Zoologe,  sagt:  „So  kann  derselbe 
Stoff  in  schwächerer  Lösung  eine  positive  und  in 
stärkerer  eine  negative  Reaktion  hervorrufen  und 
alle  Substanzen,  in  denen  schwächere  Lösungen 
die  Spirillen  sich  ansammeln,  werden  in  stärkeren 
Konzentrationen  vermieden.  Es  ist  in  der  Tat 
eine  für  die  Bakterien  allgemeingültige  Regel." 
Mo  lisch  sagt  über  den  Einfluß  der  Radium- 
emanation auf  Pflanzen:  „Die  Emanation  muß 
nicht  hemmend  oder  störend  auf  die  Pflanzen 
wirken,  sie  kann  auch,  wenn  sie  in  geringen 
Mengen  geboten  wird,  eine  Förderung  der  Ent- 
wicklung hervorrufen."  So  könnte  man  einen 
großen  Teil  unserer  biologischen  Kenntnisse  an- 
führen, um  die  Richtigkeit  des  Gesetzes  darzutun. 
In  der  Naturwissenschaft  ist  es  denn  auch  all- 
mählich bekannter  geworden,  aber  in  der  Medizin 
hat  man  ihm  bis  zum  heutigen  Tage  nicht  die  Be- 
achtung geschenkt,  die  ihm  gebühren  würde.  Das 
hat  wohl  verschiedene  Gründe,  erstens  fürchtete 
man  in  unangenehme  Berührung  mit  der  verach- 
teten Homöopathie  zu  kommen  und  außerdem 
liegen  beim  Organismus  die  Verhältnisse  nicht  so 
einfach.  Der  Organismus  besteht  aus  verschiede- 
nen Organen  und  jedes  einzelne  Organ  wiederum 
aus  mehreren  Systemen  mit  verschiedener  Reiz- 
schwelle; bei  einer  Drüse  z.  B.  kommen  neben 
den  Drüsenzellen  noch  die  sekretorischen  Nerven 
und  das  Blutgefäßsystem  in  Betracht,  wobei  letz- 
teres wiederum  gefäß verengernde  und  gefäß- 
erweiternde Nerven  hat,  alle  diese  Unter- 
systeme haben  verschieden  hohe  Reizschwellen. 
Durch  diese  Verschränkung  verschiedener  Systeme 
werden  die  Verhältnisse  undurchsichtiger,  ohne 
daß  jedoch  das  biologische  Grundgesetz  dadurch 
aufgehoben  würde,  im  Gegenteil,  gerade  durch 
diesen  Gesichtspunkt  ist  es  vielfach  möglich, 
Klarheit  in  die  verwickelten  Versuchsergebnisse 
zu  bringen.  Zumal  sollten  endlich  die  pharma- 
kologischen Arbeiten  etwas  mehr  zu  sagen  wissen, 
als  daß  der  und  der  Körper  erregend  auf  ein 
Organ  wirke.  —  Eine  Arbeit,  die  in  musterhafter 
Weise  die  verschiedenen  Konzentrationen  auf  ein 
Organ  untersucht  und  infolgedessen  auch  —  un- 
abhängig vom  B.  G.  —  zu  einem  Stufengesetz 
kommt,  das  man  als  eine  Spezifikation  des  B.  G. 
auffassen  kann,  ist  die  Veröffentlichtung  von 
Ricker  und  Regendanz,  „Beiträge  zur  Kennt- 
nis der  örtlichen  Kreislaufstörungen",  Virchows 
Archiv,  1921,  ich  empfehle  sie  angelegentlich  dem 
Studium  eines  jeden  Biologen.  Besonderes  Inter- 
esse darf  die  Feststellung  beanspruchen,  daß 
Adrenalin,  das  exquisit  gefäß  verengernde 
Mittel  in  starker  Konzentration,  infolge  Lähmung 
der  Konstriktoren  erweiternd  wirkt,  ein  ohne 
Kenntnis  des  B.  G.  höchst  auffallender  Befund, 
während  er  bei  seiner  Kenntnis  zu  erwarten  und 
vorauszusagen  ist. 

Es  ist  klar,   daß  das  B.  G.  ein  Verständnis  für 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


627 


das  „Similia  similibus"  eröffnet.  Wenn  große 
Dosen  erfahrungsgemäß  gewisse  Erscheinungen 
hervorrufen,  dann  ist  nach  dem  B.  G.  zu  erwarten, 
daß  kleine  umgekehrt  wirken.  Es  ist  also  ein 
heuristisches  Prinzip  von  großer  Bedeutung,  und 
nach  der  tausendfältigen  Erfahrung  der  Homöo- 
pathen bewährt  es  sich.  Auch  in  der  „Allopathie" 
sind  eine  Anzahl  von  therapeutischen  Maßnahmen 
üblich,  die  unzweifelhaft  auf  dem  Prinzip  beruhen, 
ohne  daß  das  aber  erkannt  und  zugestanden  wird. 
Ich  nenne  nur  die  Anwendung  von  Rhabarber  bei 
gewissen  Formen  von  Darmkatarrhen,  „obwohl" 
oder  vielmehr  weil  Rhabarber  Darmkatarrhe  er- 
zeugen kann,  Arsen  bei  Blutkrankheiten,  „obwohl" 
es  ein  Blutgift  ist.  —  Aconit  macht  Neuralgien 
und  wird  dagegen  angewendet,  Drosera  erzeugt 
einen  Husten  und  ist  eins  der  besten  Keuchhusten- 
mittel, das  in  Gestalt  des  Droserins  auch  seinen 
Einzug  in  den  allopathischen  Heilschatz  gehalten 
hat ;  neuerdings  wurde  es  auch  von  einem  Phar- 
makologen  geprüft,  er  mußte  bestätigen,  daß  es 
Husten  erzeugen  kann  und  dagegen  wirksam  ist. 
So  gibt  es  noch  manche  Therapie  in  der  Allo- 
pathie, die  Beziehung  zu  dem  Similia  similibus 
hat,  aber  ohne  daß  letzteres  als  therapeutisch- 
heuristisches Prinzip  angewendet  würde. 

Wie  bei  jeder  Bewegung  Übertreibungen  be- 
stehen, so  auch  hier,  und  so  soll  durchaus  nicht 
die  Homöopathie  in  Bausch  und  Bogen  anerkannt 
werden,  man  sollte  aber  ihr  gegenüber  noch  etwas 
anderes  kennen,  als  Totschweigen  und  Lächerlich- 
machen. Ich  verkenne  auch  die  Berechtigung 
gewisser  Bedenken  nicht,  die  gegen  die  Unter- 
stellung der  Homöopathie  unter  das  B.  G.  von 
beiden  Seiten  aus  geltend  gemacht  worden  sind. 
Insbesondere  sehe  ich  auch,  daß  es  gewisse  ge- 
dankliche Schwierigkeiten  macht,  daß  ein  Mittel 
in  kleiner  Dosis  bei  Erscheinungen  angewendet 
wird,  die  es  selbst  erzeugen  kann,  man  sollte 
meinen,  daß  dadurch  die  Erkrankung  noch  schlim- 
mer werden  sollte.  Aber  abgesehen  davon,  daß 
das  Vorhandensein  allgemein  angewendeter  The- 
rapien dagegen  spricht,  daß  dem  Bedenken  eine 
durchschlagende  Kraft  zukommt,  ist  es  doch  wohl 
denkbar,  daß  diese  kleinsten  Reize  irgendwie,  so- 
lange der  pathologische  Prozeß  nicht  zu  weit  fort- 
geschritten und  noch  umkehrbar  ist,  die  Anregung 
geben  können,  daß  das  Pendel  wieder  in  Gang 
kommt  und  nach  der  entgegengesetzten  Seite 
ausschlägt.  Es  wäre  in  der  Wirkung  also  ähnlich 
zu  denken  wie  bei  Anwendung  von  Adstringen- 
tien  wie  Höllenstein,  die,  obwohl  sie  einen  Reiz 
darstellen,  bei  Blutüberfülle  von  Schleimhäuten 
angewendet  als  Endeffekt  eine  Blutleere  erzeugen. 
Genaueres  läßt  sich  vorerst  nicht  sagen,  es  muß 
genügen,  gezeigt  zu  haben,  daß  diese  umgekehrte 
Wirkung  eines  Reizes  möglich  ist. 

Neuerdings  macht  die  sog.  parenterale  Eiweiß- 
therapie viel  von  sich  reden,  bei  der  man  irgend- 
einen Eiweißkörper  (Milch  od.  dgl.)  bei  Entzün- 
dungen injiziert  und  oft  überraschende  Heilerfolge 
hat.      Diese    Methode     erzeugt    gleichfalls    einen 


mehr  oder  weniger  starken  Reizzustand  des  Kör- 
pers und  besonders  des  erkrankten  Organs,  in 
dessen  Verlauf  dann  der  Rückgang  der  patholo- 
gischen Erscheinungen  zu  erfolgen  pflegt.  Leider 
nimmt  man  nach  dem  Grundsatz  „Viel  hilft  viel" 
oft  zu  starke  Dosen,  so  daß  der  Reiz  zu  stark 
ausfällt,  anstatt  daß  man  an  Hand  des  biologi- 
schen Grundgesetzes  den  Reiz  entsprechend  ab- 
stuft. Gerade  bei  dieser  parenteralen  Eiweiß- 
therapie hat  übrigens  der  bekannte  Berliner  Chirurg 
Bier  und  seine  Schule  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, daß  das  biologische  Grundgesetz  eine 
Handhabe  zum  Verständnis  und  der  zweckmäßigen 
Anwendung  dieser  Therapie  gibt. 

Noch  eine  andere  Therapie,  die  zudem  als 
ein  Glanzpunkt  der  modernen  Medizin  gilt,  ist 
unverkennbar  homöopathisch,  es  ist  die  Vakzine- 
therapie wie  sie  bei  derTuberkulose,Eiterungenusw. 
angewendet  wird.  Sie  beruht  darauf,  daß  man 
den  Kranken  mit  denselben  oder  ähnlichen  Stoffen 
behandelt,  die  an  der  Krankheit  Schuld  tragen. 
Die  Homöopathie  kennt  auch  diese  Art  der  Be- 
handlung im  Prinzip  schon  lange,  sie  erntete  aber 
dafür  früher  nichts  weiter  als  Spott  und  Hohn, 
bis  man  in  der  modernen  Bakteriologie  und 
Serumforschung  auf  anderem  Wege  zu  demselben 
Punkt  kam.  Nur  wenige  Forscher  wie  Hüppe 
und  Much  haben  auf  diese  Verwandtschaft  mit 
der  Homöopathie  hingewiesen,  letzterer  erkennt 
ihr  auch  sonst  Berechtigung  zu. 

Wenn  wir  sonach  gesehen  haben,  daß  das 
Grundgesetz  der  Homöopathie  in  keinem  Wider- 
spruch mit  unseren  biologischen  Einsichten  steht, 
ja  aus  unseren  sonstigen  Anschauungen  abgeleitet 
werden  kann,  wollen  wir  nun  sehen,  ob  das  auch 
bei  den  anderen  Eigenheiten  der  Homöopathie 
möglich  ist.  Wie  steht  es  da  nun  mit  der  Ver- 
wendung kleiner  Dosen?  Man  pflegt  viel- 
fach von  den  homöopathischen  „Nichtsen"  zu 
sprechen,  in  der  Meinung,  daß  die  hohen  Ver- 
dünnungen nicht  wirken  könnten,  ich  glaube  aber 
auch  hier  zeigt  sich  auf  Grund  unserer  jetzigen 
biologischen  Kenntnisse,  daß  die  Verwendung 
kleiner  Dosen  doch  nicht  so  absurd  ist.  Aller- 
dings bemerke  ich  gleich,  daß  ich  natürlich  nicht 
beabsichtige,  eine  Lanze  für  die  unendlich  kleinen 
Verdünnungen  einzulegen;  sie  sind  selbst  ein 
Streitpunkt  in  der  Homöopathie,  und  es  kann 
sich  natürlich  nur  darum  handeln,  das  der  Homöo- 
pathie als  Ganzem  zugrunde  Liegende  hier  zu 
erörtern.  Was  weiß  nun  die  moderne  Forschung 
von  der  Wirkung  kleiner  Stoffmengen  zu  be- 
richten? Nach  Bokorny  töten  die  Schwer- 
metallsalze Mikroorganismen  noch  in  einer  Ver- 
dünnung von  1 :  1000  MilHonen,  das  ist  die  neunte 
homöopathische  Verdünnung.  In  Mineralquellen 
sind  die  wirksamen  Stoffe  vielfach  in  der  5 — 7 
Verdünnung  vorhanden.  Heufieberkranke  rea- 
gieren noch  auf  V^ooooooo  g  Pollentoxin,  für  nicht 
Disponierte  ist  der  Körper  ganz  indifferent. 

Derartige  Tatsachen,  die  leicht  noch  zu  ver- 
mehren   wären,    zeigen,    daß    jedenfalls    an    sich 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nichts  gegen  diese  Wirksamkeit  kleiner  Dosen 
spricht,  worauf  wir  gleich  noch  einmal  zurück- 
kommen. 

Abgesehen  davon,  daß  man  also  die  Wirksam- 
keit von  kleinen  Dosen  auf  Grund  dieser  Tat- 
sachen anerkennen  muß,  sei  noch  kurz  darauf 
hingewiesen,  daß  die  moderne  lonentheorie,  die 
starke  Oberflächenvergrößerung  fein  verteilter 
Stoffe  und  die  biologische  Erscheinung  der  „Sum- 
mantionswirkung"  auch  ein  theoretisches  Ver- 
ständnis ermöglichen. 

Nun  kommen  wir  zum  letzten  Hauptpunkt, 
der  Arzneiprüfung  am  gesunden  Men- 
schen; man  muß  sich  wundern,  daß  nicht  ge- 
rade dieser  Punkt  schneller  allgemein  zur  Aner- 
kennung gekommen  ist;  ich  sollte  denken,  daß 
es  jedem  einleuchten  müsse,  daß  das  eine  sehr 
wichtige  erfahrungsgemäße  Grundlage  der  Heil- 
kunde ist,  wenn  es  auch  genug  der  Fehlerquellen 
gibt,  die  gewiß  auch  —  in  früherer  Zeit  besonders 
—  von  den  Homöopathen  nicht  immer  vermieden 
sind,  das  kann  aber  dem  Prinzip  keinen  Abbruch 
tun.  Die  moderne  Serumforschung  hat  gezeigt, 
daß  jede  Tierart  spezifisches  Eiweiß  und  Fett 
hat,  es  leuchtet  also  ein,  daß  bei  dieser  art- 
spezifischen Beschaffenheit  des  Fettes  und  des 
Eiweißes,  auch  die  Reaktion  auf  einen  Reiz  ins- 
besondere auf  einen  Arzneireiz  eine  spezifische 
sein  wird.  Es  ist  demnach  zu  erwarten,  daß  man 
erst  mit  den  Prüfungen  am  Menschen  die  feineren 
Beziehungen  und  Reaktionen  zwischen  Organis- 
mus und  Arzneikörper  erfahren  wird.  Am  g  e  ■ 
Sunden  Menschen  aber  muß  man  die  Prüfungen 
vornehmen,  da  man  nur  so  eine  reine  Erfahrung 
erhalten  wird,  nicht  gestört  durch  abnorme  Re- 
aktionen des  kranken  Organismus.  Ganz  sche- 
matisch gesagt  geht  also  der  Homöopath  so  vor, 
daß  er  bei  den  verschiedensten  Mitteln  Prüfungen 
am  Gesunden  macht  und  die  dabei  gefundenen 
objektiven  und  subjektiven  Erscheinungen  dann 
im  einzelnen  Krankheitsfall  mit  den  bei  diesem 
vorhandenen  Erscheinungen  vergleicht  und  dann 
das  oder  die  Mittel  nimmt,  die  ihm  am  meisten 
zu  entsprechen  scheinen.  Auch  gegen  die  be- 
sondere Berücksichtigung  der  subjektiven 
Symptome  ist  kaum  etwas  Prinzipielles  einzu- 
wenden, es  scheint  vom  modernen  biologischen 
Standpunkt  aus  ganz  plausibel,  daß  je  nach  den 
subjektiven  Symptomen  auch  der  pathologische 
Prozeß  etwas  verschieden  geartet  sein  wird,  wir 
haben  darin  also  ein  außerordentlich    feines  Rea- 


gens   um    die    Arzneimittelwahl    dem    einzelnen 
Fall  anzupassen,  und  das  „simile"  zu  finden. 

Wir  sahen  oben,  daß  das  Pollentoxin  bei  dem 
darauf  „abgestimmten"  Organismus  in  minimalen 
Dosen  wirkt;  in  Analogie  dazu  steht  die  An- 
schauung der  Homöopathie,  daß  bei  einem  darauf 
abgestimmten  Organismus  auch  andere  Stoffe  in 
sehr  geringen  Mengen  wirken,  und  zwar  ist  sie 
der  Ansicht,  daß  eben  die  Symptome  des  Kranken 
im  Vergleich  mit  denen  der  Arzneiprüfungen  uns 
verraten  auf  welchen  Stoff  der  betreffende  Orga- 
nismus „abgestimmt"  ist.  Man  ersieht  daraus,  wie 
fein  der  Homöopath  individualisieren  kann,  diese 
Art  der  „Arzneimitteldiagnose"  ist  eine  der  Homöo- 
pathie eigentümliche  Art  des  Vorgehens,  für  das 
der  „Allopath"  ohne  ein  tiefes  Hineindenken  kein 
Verständnis  haben  kann,  auf  seinem  eigenen  Ge- 
biete fehlt  ihm  trotz  alles  Predigens  des  Indi- 
vidualisierens  die  rechte  Handhabe  dafür. 

Ich  glaube,  damit  ist  gezeigt,  daß  die  Homöo- 
pathie es  doch  verdienen  würde  beim  biologisch 
Denkenden  mehr  Beachtung  zu  finden,  mag  auch 
manches  an  ihr  noch  befremdend  oder  auch 
falsch  und  unerwiesen  sein,  das  Wesentliche 
an  ihr  scheint  mir  nicht  so  undiskutabel  zu  sein, 
als  man  gemeinhin  annimmt.  (Näheres  siehe 
meine  Schrift:  „Das  biologische  Grundgesetz  in 
der  Medizin";  Verlag  Gmelin,  München  1 9 1 4).  Aller- 
dings muß  betont  werden,  daß  der  streng  chemisch- 
physikalisch Denkende  ihr  kaum  wird  gerecht 
werden  können,  nur  auf  dem  Boden  des  Vitalis- 
mus wird  sich  einem  das  Verständnis  erschließen. 
Es  ist  gewiß  kein  Zufall,  daß  gerade  jetzt  sich 
das  Interesse  ihr  wieder  mehr  zuwendet  und  daß 
auch  —  soweit  man  gegnerisch  gesinnt  —  ist, 
diese  Gegnerschaft  vieles  von  ihrer  früheren 
Schärfe  eingebüßt  hat.  Es  erübrigt  sich  hier,  wo 
es  sich  nur  um  das  Wesentliche  handelt,  gewisse 
Schwierigkeiten  zu  erörtern,  die  die  Homöopathie 
dem  modernen  Denken  noch  bereitet,  auch  muß  be- 
tont werden,  daß  man  vielfach  in  der  Homöopathie 
von  manchen  Einseitigkeiten  zurückgekommen 
ist  und  daß  sie  insbesondere  auch  die  kausale 
Therapie  im  Sinne  der  modernen  Medizin  kennt. 
—  Es  ist  zu  hoffen,  daß  bei  dieser  Sachlage  ihre 
relative  Berechtigung  anerkannt  wird,  und  daß 
man  ihr  im  Rahmen  der  Gesamtmedizin  die  ihr 
gebührende  Stellung  als  eine  Methode  oder  als 
besondere  Disziplin  einräumt,  wenn  man  auch 
gewiß  sich  jahrzehntelang  auseinandergestritten 
hat  und  dadurch  die  Verständigung  erschwert  ist. 


[Nachdruck  verboten,] 


Chelifer  als  Schmarotzer. 

Von  G.  Grimpe,  Leipzig. 


Der  Zweck  dieser  Zeilen  ist,  die  Aufmerksam- 
keit auf  ein  Tier  zu  richten,  das  in  diesem  Jahre 
als  Schmarotzer  unserer  Stubenfliegen  in  und  bei 
Leipzig  in  so  großer  Menge  auftritt,  daß  man 
beinahe    von    einer  Seuche    zu   sprechen   geneigt 


ist.  Und  zwar  handelt  es  sich  um  den  Bücher- 
skorpion,  Chelifer  cancroides  L.  Früher  ist 
bereits  beobachtet  worden,  daß  dieser  Pseudo- 
skorpionide  gelegentlich  auch  an  Fliegen  geht 
(vgl.  hierzu  Heymons,  in:  Brehms  Tierleben, 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


629 


4.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  649);  von  einem  eigentlichen 
Parasitismus  dieses  Tieres  ist  aber,  soweit  ich  die 
Literatur  überblicke,  nirgends  die  Rede. 

Es  ist  bekannt,  daß  sich  Chelifer  vorwiegend 
von  kleinsten  Kerbtieren,  Bücherläusen,  Psociden 
und  ähnlichem  Ungeziefer,  nährt.  Es  ist  also  ur- 
sprünglich ein  Raubtier,  und  macht  sich  durch 
Vertilgung  dieser  Schädlinge  in  Bibliotheken, 
Insektensammlungen  usw.  recht  nützlich.  Daß  er 
zuweilen  jedoch  auch  an  größeren  Kerbtieren 
schmarotzt,  ist  dagegen  meines  Wissens  neu. 
Als  Wirtstiere  benutzt  er,  wie  schon  gesagt, 
Stubenfliegen.  Er  heftet  sich  an  deren  Beine  an 
und  zwar  nicht  nur  mit  den  zu  Beißzangen  um- 
gewandelten Pedipalpen,  sondern  auch  mit  den 
Cheliceren,  die  er  um  die  Fliegenbeine,  mutmaß- 
lich sogar  in  sie  schlägt.  Auf  jeden  Fall  sitzt  ein 
solcher  Bücherskorpion  sehr  fest  an  seinem  Opfer, 
so  daß  es  im  allgemeinen  nicht  imstande  ist,  sich 
seiner  durch  Abstreifen  mit  einem  anderen  Bein 
zu  entledigen.  Es  machte  zunächst  den  Anschein, 
als  ob  hier  lediglich  ein  „Raumparasitismus"  vor- 
läge, etwa  in  dem  Sinne,  daß  die  leichtbeschwingte 
Fliege  dem  langsamen,  unbeholfenen  Chelifer  als 
Verbreitungsmittel  dient.  Auch  wurde  daran  ge- 
dacht, daß  es  sich  um  eine  Art  Symbiose  handeln 
möchte,  der  Bücherskorpion  sich  also  nur  der 
Milben  wegen,  die  auf  Fliegen  schmarotzen,  an 
diesen  aufhält.  Beides  trifft,  wie  wir  sehen  wer- 
den, entschieden  nicht  zu;  denn  erstens  wurden 
auch  viele  mit  Chelifer  behaftete,  milbenlose 
Fliegen  angetroffen.  Zweitens  deshalb  nicht,  weil 
sich  die  Fliegen  unermüdlich,  wenn  auch  vergeb- 
lich, der  Bücherskorpione  zu  erwehren,  sie  abzu- 
streifen suchen,  und  drittens  endlich,  weil  die 
Fliege  das  Bein,  an  dem  ein  oder  mehrere  Che- 
lifer eine  Zeitlang  gesessen  haben,  wie  gelähmt 
nachschleift.  Das  letztere  kann  man  besonders 
dann  gut  beobachten,  wenn  ein  solcher  Schma- 
rotzer einmal  zufällig  von  seinem  Opfer  abläßt 
oder  künstlich  dazu  gezwungen  wird.  Diese 
Lähmungserscheinungen  werden  wahrscheinlich 
durch  das  Gift  verursacht,  das  aus  den  Drüsen 
der   Cheliceren    in    die    von    ihnen    geschlagenen 


I. 

1   Musca 

mit        9  Bücher 

IL 

1 

7 

III./IV. 

2       „ 

„je     5 

V. 

I 

4 

VI./VII. 

2       „ 

„  je     3 

VIII./XI. 

4       „ 

„    „      2 

XII./XV. 

4 

„    „      I 

XVI./XVII. 

2  Homalomyia 

.,   „      I 

Mai  bis  September  gemacht,  gleichzeitig  auch  in 
dem  etwa  25  km  südöstlich  von  Leipzig  gelegenen 
Flecken  Großsteinberg.  Ob  auch  sonst  die  Er- 
scheinung auftrat,  konnte  bis  jetzt  nicht  ermittelt 
werden.  (Für  sachdienliche  Mitteilungen  wäre 
der  Verf.  [Adr.:  Leipzig,  Zool.  Institut  der  Univ.] 
deshalb  sehr  dankbar.)  Daß  diese  Erscheinung 
aber  einer  gewissen  örtlichen  Beschränkung  unter- 
worfen ist,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  im 
Westen  und  Norden  Leipzigs  (tiefer  gelegen  und 
feuchter  I)  keine  mit  Chelifer  behaftete  Stuben- 
fliege trotz  eifrigen  Suchens  gefunden  wurde. 
Welchen  Grund  das  im  einzelnen  haben  mag,  ent- 
zieht sich  zunächst  noch  völlig  unserer  Kenntnis. 

—  Tatsache  ist,  daß  ich  die  ersten  befallenen 
Fliegen  Ende  Mai  in  meiner  Wohnung  beobach- 
tete. In  der  zweiten  Hälfte  des  Juni  ging  ihre 
Zahl  —  vermutlich   wegen   der  kalten  Witterung 

—  stark  zurück,  um  aber  im  (heißen)  Juli  rasch 
wieder  anzusteigen.  Es  war  vorwiegend  die  Ge- 
meine Stubenfliege,  Musca  domestica  L.,  die  sich 
als  mit  Chelifer  behaftet  erwies ;  dazu  kamen  einige 
Hundstagsfliegen,  Homalomyia  canicularis  L.,  wäh- 
rend die  untersuchten Calliphora  (Schmeißfliege)  und 
Sarcophaga  (graue  Fleischfliege)  davon  frei  waren 
(Ursache:  stärkere  Behaarung?).  Da  es  zuweit 
führen  würde,  hier  bis  ins  einzelne  meine  Be- 
obachtungen wiederzugeben,  mögen  einige  kurze 
Angaben  genügen. 

Von  29  mit  einem  kleinen  Schmetterlingsnetze 
wahllos  gefangenen  Fliegen  waren  13,  also  fast 
50  "/o,  mit  Chelifer  infiziert;  von  diesen  gehörten 
12  zu  Musca,  I  zu  Homalomyia;  li  Musca  und 
5  Homalomyia  waren  davon  frei.  Alle  29  kamen 
darauf  in  ein  kleines  Glas.  Als  kaum  eine  Stunde 
später  von  neuem  der  Fang  untersucht  wurde, 
ergab  sich,  daß  nun  an  17  Fliegen  (15  Musca, 
2  Homalomyia)  Bücherskorpione  saßen.  Einige 
hatten  sich  also  von  ihrem  ursprünglichen  Wirte 
gelöst  und  an  eine  neue  Fliege  geheftet.  Es 
wurden  nun  diese  17  befallenen  Tiere  einzeln  vor- 
genommen und  die  Zahl  der  an  ihnen  sitzenden 
Parasiten  festgestellt.  Die  Auszählung  ergab  fol- 
gendes Bild: 


(7)- 
(10), 

(4), 
(6), 
(8), 
(4). 
(2), 


Zusammen:     17  Fliegen  (15  M.,  2  H.)  mit      50  Bücherskorpionen. 


Wunden  fließt;  daß  es  sich  nur  um  eine  rein 
mechanische  (Kneif-)verletzung  durch  die  Pedi- 
palpen handeln  könnte,  trifft  dagegen,  soweit  ich 
bisher  festzustellen  vermochte,  nicht  zu. 

Hier  zunächst  einige  statistische  Angaben.  Die 
Beobachtungen  wurden  an  verschiedenen  Punkten 
in    den    südöstlichen  Stadtteilen    von  Leipzig  von 


Die  Schmarotzer  sitzen  mit  Vorliebe  an  den 
Hinterbeinen  der  F"liegen,  meist  am  Femur.  Nur 
im  Falle  einer  stärkeren  Invasion  findet  man  sie 
auch  an  den  Oberschenkeln  der  Mittelbeine  und 
selten  (einige  Male  beobachtet)  an  einem  Vorder- 
bein. Von  Interesse  dürfte  die  folgende  tabellari- 
sche  Übersicht   sein,   welche   die  Verteilung   der 


630 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Parasiten  in  dem  herangezogenen  Beispiel  zeigt. 
Bei  gleichen  Untersuchungen  an  anderen  Fängen 
ergab  sich  ein  ganz  ähnliches  Bild.  (In  dieser 
Tabelle  korrespondieren  die  römischen  Zahlen 
mit  denen  der  voranstehenden ;  v  bedeutet  Vorder- 
bein, m  Mittelbein,  h  Hinterbein,  1  links,  r  rechts.) 

I.:  2  ml,  2  mr,  2  hl,  3  hr; 
IL:    I   vi,   I   ml,  2  mr,   i   hl,  2  hr; 
III.:   I   ml,   I   mr,  l  hl,  2  hr; 
IV.:  I  mr,  i  hl,  3  hr  (i  mal  Tibia); 
V.:  2  hl,  2  hr; 
VI.:  I  hl  (Tibia),  2  hr; 
VII.:   I   mr,  2  hr; 
VIII./IX.:  2  hr; 

X.:  I  hl,  1  hr; 

XL:  2  hl; 

XIL/XIV.:  I  hr; 

XV.:   I   hl; 

XVL:  I  hr; 

XVIL:  I  hl 

Aus  der  Tabelle  geht  deutlich  hervor,  daß 
namentlich  die  Beine  der  rechten  Seite  heimge- 
sucht werden.  Ein  Grund  dafür  ist  nicht  bekannt; 
doch  glaube  ich  kaum,  daß  diese  Erscheinung 
rein  zufällig  ist,  da  sie  immer  wiederkehrt.  Inter- 
essant ist  besonders,  daß  trotz  der  ungleichen 
Belastung  beider  Seiten  der  Flug  der  Fliege  kaum 
beeinträchtigt  oder  gar  gestört  wird.  Nur  wenn 
die  Zahl  der  Parasiten  sehr  groß  ist  (5  Stück  und 
mehr),  wird  der  Flug  schwerfäUiger  und  weniger 
ausdauernd.  Immerhin  vermochte  selbst  eine 
9  Chelifer  tragende  Musca  (Nr.  I)  beim  Fang 
mehrmals  dem  Netze  geschickt  zu  entwischen. 

Sitzt  eine  befallene  Fliege,  so  ist  sie  dauernd 
bemüht,  sich  der  Peiniger  zu  entledigen.  Vor 
allem  suchen  die  Hinterbeine  sie  sich  gegenseitig 
abzustreifen;  zuweilen  werden  auch  die  Mittel- 
beine und  die  Flügel  dazu  herangezogen,  aber, 
soweit  ich  gesehen  habe,  stets  ohne  Erfolg.  Sonst 
lassen  sich  die  Fliegen  in  ihren  üblichen  Gewohn- 
heiten durch  die  Gegenwart  der  Schmarotzer  nicht 
stören;  sie  kriechen,  fressen  und  kopulieren  sogar. 
Dennoch  ist  die  Schädigung,  die  sie  durch  den 
Parasitismus  von  Chelifer  erleiden,  nicht  gering. 
Neben  den  schon  erwähnten  Lähmungserschei- 
nungen tritt  bei  stärkerer  Invasion  eine  Art  Er- 
schöpfung ein.  Die  Fliege  fällt  z.  B.  gelegentlich 
auf  den  Rücken  und  muß  erst  eine  Zeitlang  kräftig 
strampeln,  ehe  sie  wieder  richtig  auf  die  Füße 
kommt.  Ferner  konnte  eine  deutliche  Abneigung 
gegen  das  Klettern  an  senkrechten  und  über- 
hängenden Wänden  beobachtet  werden.  Auch 
ein  erhöhtes  Flüssigkeitsbedürfnis  scheint  bei  in- 
fizierten Tieren  vorhanden  zu  sein.  Vor  allem 
spricht  aber  für  einen  wirklich  schädigenden  Para- 
sitismus von  Chelifer  die  Tatsache,  daß  befallene 
Fliegen  viel  kurzlebiger  sind  als  gesunde,  die 
unter  gleichen  Bedingungen  gehalten  wurden. 
Eine  große  Anzahl  der  infizierten  Tiere  starb 
übrigens  an  Empusa,  so  daß  wohl  auch  damit 
zu  rechnen   ist,   die   Gegenwart   von  Chelifer  be- 


günstige die  Infektionsgefahr  mit  diesem  patho- 
genen  Pilz.  Somit  erscheint  mir  bewiesen,  daß 
der  Bücherskorpion  hier  in  der  Tat  als  gefahr- 
licher Schädling  und  damit  als  Parasit  auftritt. 
Diese  Ansicht  wird  noch  bestärkt  durch  die  Be- 
obachtung, daß  ein  CheUfer  tagelang  an  einer  für 
sich  eingesperrten  Fliege  sitzen  blieb,  ohne  selbst 
den  Platz  zu  wechseln.  Wenn  er  nicht  Nahrung 
an  der  Fliege  gefunden  hätte,  würde  er  sie  wäh- 
rend dieser  Zeit  sicher  verlassen  haben;  der 
Hunger  hätte  ihn  dann  vertreiben  müssen.  Es 
muß  angenommen  werden,  daß  die  Nahrungs- 
aufnahme beim  schmarotzenden  Bücherskorpion  in 
derselben  Weise  stattfindet  wie  beim  freilebenden, 
bzw.  bei  der  Mehrzahl  der  Cheliceraten  überhaupt, 
also  durch  Aufsaugen  der  außerkörperlich  ver- 
dauten Stoffe.  —  Tötet  man  ferner  die  Fliege 
durch  mechanische  Zerquetschung  von  Kopf  und 
Brust,  so  läßt  Chelifer  sehr  bald  von  seinem  Wirte 
ab  und  sucht  an  einen  neuen  zu  kommen.  Dahin- 
gegen saugt  er  ruhig  weiter,  wenn  man  dem  In- 
sekt die  Flügel  und  die  nicht  befallenen  Beine,  so 
daß  es  sich  nicht  mehr  fortbewegen  kann,  ab- 
schneidet. 

Zum  Schlüsse  wäre  nur  noch  kurz  darauf  hin- 
zuweisen, wie  die  Infektion  der  Fliegen  mit  Che- 
lifer stattfindet.  Man  sollte  meinen,  daß  so  ge- 
wandte Tiere  wie  unsere  Stubenfliegen  vor  den 
Nachstellungen  des  „schwerfälligen"  Schmarotzers 
sicher  sein  müßten.  Diese  Schwerfälligkeit  ist 
aber  nur  scheinbar  vorhanden;  denn  wenn  man 
erst  einmal  gesehen  hat,  mit  welch  blitzartiger 
Schnelligkeit  ein  Bücherskorpion  eine  über  ihn 
hinwegkriechende  Fliege  anfällt,  ändert  man  bald 
seine  Meinung  über  die  „Trägheit"  und  „Unbe- 
holfenheit" dieser  Pseudoskorpione.  Auch  bezüg- 
lich seiner  psychischen  Fähigkeiten  steht  Chelifer 
kaum  hinter  den  anderen  Spinnentieren  zurück. 
—  Die  Fliege  wird  mit  den  Pedipalpen  so  rasch 
an  einem  Bein  gepackt,  daß  man  die  einzelnen 
Bewegungen,  die  der  Parasit  dabei  ausführt,  nicht 
scharf  unterstheiden  kann.  Es  sieht  so  aus,  als 
ob  er  mit  einem  kleinen,  gewaltsamen  Ruck  das 
Insekt  von  unten  anspringt;  nur  selten  mißlingt 
ein  solcher  Angriff. 

Wann  und  unter  welchen  Umständen  die  erste 
Infektion  stattgefunden  hat,  entzieht  sich  natürlich 
unserer  Kenntnis ;  auch  die  Ursache  des  in  diesem 
Jahre  auffallend  häufigen  Auftretens  von  Chelifer 
überhaupt  ist  mir  unbekannt.  Feststellen  konnte 
ich  aber,  daß  die  Afterskorpione  sehr  gierig  hinter 
den  Fliegen  her  sind.  Solche,  die  man  zwangs- 
weise von  ihrem  Wirte  trennt,  benutzen  die  nächste 
Gelegenheit,  um  eine  vorbeilaufende  Fliege  anzu- 
fallen. So  wurde  beobachtet,  daß  bereits  ^2  Stunde, 
nachdem  in  eine  flache,  mit  Glas  überdeckte  Schale 
zu  20  Bücherskorpionen  10  frisch  gefangene,  ge- 
sunde Fliegen  gesetzt  worden  waren,  16  Parasiten 
festsaßen  und  nur  eine  einzige  Fliege  noch  unbe- 
fallen  herumlief.  Von  den  übrigen  9  befanden 
sich  an  einer  4,  an  einer  3,  an  zweien  je  2  und 
an    fünfen  je    i    Bücherskorpion.     Wenn    in    der 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


631 


Freiheit  die  Verhältnisse   auch   wesentlich  anders  versuch,    daß    Chelifer    cancroides   durchaus   kein 

liegen,  insbesondere  ein  so  enges  Zusammentreffen  harmloser  Geselle,  sondern  ein   recht  gefahrlicher 

zwischen   Afterskorpionen   und  Fliegen   nie  statt-  Schmarotzer     für     unsere     zweiflügligen    Stuben- 

finden  wird,  so  lehrt  doch  dieser  Gefangenschafts-  genossen  sein  kann. 


Einzelberichte. 


Die  Erforschung  der  menschlichen  Hörgrenze. 

Mit  3  Abbildungen. 

Im  mündlichen  Verkehr,  bei  so  manchen  Be- 
rufen und  Krankheiten  sowie  bei  der  wissen- 
schaftlichen Beurteilung  vieler  Fragen  und  Er- 
scheinungen ist  es  wichtig,  von  vornherein  zu 
wissen,  welche  tiefsten  und  höchsten  Töne  der 
Mensch  mit  normalem  Gehör  noch  vernimmt,  zu 
welcher  Tages-,  Jahres-  und  Lebenszeit  dies  mehr 
oder  weniger  deutlich  geschieht,  ob  dann  besser 
mit  dem  rechten  oder  linken  Ohr,  durch  Luft- 
oder Knochenleitung  usw.  Die  Erforschung  aller 
dieser  Fragen  war  und  ist  zum  Teil  auch  noch 
erschwert  und  begrenzt  durch  den  Stand  der 
Leistungsfähigkeit  unserer  technischen  Hilfsmittel. 
Niemand  kann  z.  B.  sagen,  ob  wir  heute  schon 
Instrumente  besitzen,  die  ein-  für  allemal  die  zu- 
gleich stärksten  und  lautesten  sowie  tiefsten  oder 
höchsten  für  unser  Ohr  wahrnehmbaren  Töne 
hervorbringen.  Ebensowenig  weiß  man,  wie 
unser  Trommelfell  und  die  saitenartigen  Resona- 
toren unseres  inneren  Ohres,  des  sog.  Cor  ti- 
schen Organes,  auf  etwaige  Steigerungen  der 
Stärke  und  Höhe  jener  Töne  antworten  würden. 
Außerdem  stehen  Stärke  und  Höhe  jener  zuein- 
ander in  Wechselwirkung:  durch  Steigerung  der 
Stärke  kann  man  die  nächst  höheren  Resonatoren 
zum  teilweisen  Mittönen  bringen,  wodurch  der 
Klangcharakter  erhöht  wird ;  und  durch  Steigerung 
der  Tonhöhe  werden  aus  demselben  Grunde  die 
mit  gereizten  Nebentöne  in  ihrer  Hörbarkeit  ver- 
stärkt. ^)  Ob  sich  auf  diese  Weise  der  Eigenton 
des  höchsten  Resonators  beliebig  steigern  läßt, 
oder  ob  das  eine  bestimmte  Grenze  hat,  weiß 
man  noch  nicht.  Mit  bloßen  Berechnungen  ist 
es  da  nicht  getan;  das  zeigte  die  vor  wenigen 
Jahren  von  Prof  M.  W  i  e  n  gemachte  Entdeckung.^) 
Er  fand  nämlich  die  Empfindlichkeit  des  Ohres 
für  mittlere  Tonhöhen  von  lOOO  bis  3000  Schwin- 
gungen in  der  Sekunde  sehr  viel  größer  als  für 
die  unter  lOOO  und  besonders  für  die  der  unteren 
Hörgrenze  ganz  naheliegenden  Töne.  Nach  den 
Resonanzgesetzen  müßten  nämlich,  wenn  z.  B. 
ein  tiefer  Ton  von  50  Schwingungen  so  schwach 
erklingt,  daß  wir  ihn  noch  nicht  hören,  die  Reso- 
natoren für  den  Tonbereich  von  1000  bis  3000 
Schwingungen  eigentlich  mitschwingen,  unser  Ohr 
zeigt  jedoch  dafür  absolut  keine  Empfindung. 

Unter     Berücksichtigung      der     angegebenen 


')  Helm  hol  tz,    Die  Lehre    von  den  Tonempfindungen. 
5.  Aufl.     Braunschweig   1896. 

'^)  Pflügers  Archiv  Bd.  97,   1903,  S.    i  fi. 


Schwierigkeiten  muß  man  den  durch  die  neuen 
Forschungen  zur  Ermittlung  der  oberen  mensch- 
lichen Hörgrenze  von  Prof  Martin  Gilde- 
meister ^)  erzielten  Fortschritt  hoch  einschätzen. 
Die  früheren  Untersuchungen  schwankten  in  ihren 
Angaben  zwischen  15  000  und  50 000  Schwingun- 
gen in  der  Sekunde.  Das  lag,  wie  Gildemeister 
jetzt  nachgewiesen  hat,  an  den  mangelhaften 
Untersuchungsmethoden  und  zwar  besonders  an 
der  meist  dazu  verwendeten  und  für  diesen  Zweck 
schlecht  geeigneten  Gal  ton  pfeife.  Bei  dieser 
mittels  Wasserdruck  angeblasenen  Pfeife  erklingen 
nicht  nur  mit  dem  Hauptton  tiefere  Nebentöne, 
durch  die  die  Versuchsperson  sich  leicht  täuschen 
läßt,  sondern  bei  dem  stoßweisen  Anblasen  schwankt 
tatsächlich  die  Tonhöhe  ganz  bedeutend.  Bei 
einem  Prüfungs vergleich  stellte  Gildemeister 
mittels  besonderen  Apparates  u.  a.  fest,  daß  eine 
3,45  cm  lange  und  mit  einer  Mundweite  von 
0,65  cm  versehene  Pfeife  bei  einem  Wasserdruck 
von  13  cm  statt  der  angeblichen  17180  Schwin- 
gungen nur  I S  720 ,  bei  einem  Wasserdruck  von 
26  cm  16390  Schwingungen  in  der  Sekunde  her- 
vorbrachte. Ein  wesentlicher  Übelstand  des  Ar- 
beiiens  mit  Pfeifen  und  anderen  Untersuchungs- 
apparaten, wie  z.  B.  dem  Monochord,  einem 
Saiteninstrument  mit  verschiebbaren  Stegen,  be- 
steht ferner  darin,  daß  die  Tonstärke  sich  sehr 
schwer  und  ungenau  abstufen  läßt.  Prof.  Glide- 
rn e  i  s  t  e  r  baute  sich  daher  einen  neuen  Apparat, 
bei  dem  er  die  Lichtbogenmethode  der  draht- 
losen Telegraphie  zu  Hilfe  nahm.  Er  verband 
einen  elektrischen  Kondensator  von  bestimmter 
Fassungskraft  mit  einer  Spule  von  einer  be- 
stimmten elektrischen  Selbstüberleitung.  Erteilte 
er  nun  dem  Kondensator  des  so  entstandenen 
elektrischen  Systems  eine  Ladung,  so  pendelte  die 
elektrische  Kraft  hin  und  her  und  kam  erst  all- 
mählich zur  Ruhe.  Diese  Pendelschläge  oder  ge- 
dämpften Schwingungen  mußten  nun,  da  sie  zu 
rasch  verklangen,  in  ungedämpfte  umgewandelt 
werden;  und  zwar  geschah  dies,  indem  er  Kon- 
densator und  Spule  mit  den  beiden  Elektroden 
einer  nach  der  Poulsenmethode  von  Wasser- 
stoff umgebenen,  pfeifenden  Bogenlampe  verband. 
Durch  Einschaltung  bestimmter  Kondensatoren 
und  Spulen  des  mit  220  Volt  Gleichstrom  ge- 
speisten Apparates  ließ  sich  leicht  und  schnell 
jede  gewünschte  Tonhöhe  zwischen  8000  und 
25000  Schwingungen   in   der  Sekunde   erreichen, 


')  Zeilschr.  f.  Psychologie  u.  Physiologie  d.  Sinnesorgane, 
Abt.  II,  Bd.  50,  1919,  S,  161  —  191  u.  253—272. 


632 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


verändern  und  unterbrechen.  Um  unerwünschte 
Zischgeräusche  auszuschließen,  fügte  Gilde- 
meister noch  einen  besonderen  Telephonkreis 
mit  verstellbarer  Koppelung  zur  Verstärkung  bzw. 
Abschwächung  des  Prüftons  hinzu.  Neben  dem 
Fernsprecher  und  mit  ihm  durch   eine  Spule  ver- 


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Abb.   I.     Apparat  Prof,  M.  Gildemeisters  zur  Bestimmung 

der  oberen  Hörgrenze. 
(Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane. 

Abt.  II,  Bd.  50,  1919.) 
+  —  Gleichstromzuleitungen,  W  Widerstand,  Dr  Sp  Drossel- 
spule, PL  Poulsenlampe,  Cj  Cj  Cj  C4  Kondensatoren,  S  Schall- 
vorrichtung, um  C3  oder  C,  oder  Q  und  Q  kurzzuschließen, 
AB  veränderliche  Selbstinduktion,  bestehend  aus  2  ineinander- 
zuschiebenden .Spulen,  D  Koppelspule,  F  pendelnde  Spule, 
Schi    Schlüssel,     T  Telephon,    X  Stelle    z.    ev.    Einschaltung 

einer    Selbstinduktion. 


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Abb.  2.     Apparat  zur  Bestimmung  der  Tonhöhe. 
1  aa  Zuleitung  des  Wechselstroms,  Seh  Schieber  des  MeSdrahtes,  W  Wider- 
sland   ohne    Kapazität  und  Selbstinduktion ,    C  Kondensator  ,    L  veränderl. 
Selbstinduktion,    T    Telephon.       II    Seh    Schieber,    Cj    kleiner,    C^    großer 
Kondensator,  Z  Metallwalze  mit  daran  schleifenden  Drähtchen,  T  Telephon. 


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Abb.  3. 


SS  ^.0  45 

Die  obere  Hörgrenze,  abhängig  vom  Lebensalter. 
Nach  Prof.  Gildemeister,    Berlin. 
Die  Zahlen  links  bedeuten  die  Tonhöhe,  ausgedrückt  in  elektrischen,    in  Schall    um- 
gesetzten   Schwingungen    einer    Bogenlampe,    die  unteren  Zahlen  das  Lebensalter  der 

Versuchspersonen. 


bunden  schwebte  und  schwang  ein  schweres  eisen- 
freies Pendel  mit  58  Schwingungen  in  der  Minute. 
Jedesmal  wenn  das  Pendel  über  einer  kleinen, 
unten  angebrachten  Flachspule  vorüberstrich, 
„blitzte"  der  Ton  auf.  Diese  Einrichtung  be- 
wahrte einerseits  die  Versuchsperson  vor  Ton- 
ermüdung,  andererseits   ermöglichte   sie   es   dem 


Professor,  die  Gehörsangaben  zu  prüfen.  Jeder 
mußte  sich  nämlich  mit  dem  Fernsprechhörer  am 
Ohr  so  aufstellen,  daß  er  das  Pendel  nicht  sah. 
Statt  dessen  mußte  er  mit  der  einen  Hand  den 
Takt  des  schwingenden  Tonpendels  schlagen. 
Währenddessen  wurde  dessen  Ton  vom  Prüfenden 
durch  Verschieben  zweier  Spulen  immer  höher 
gemacht.  Sobald  nun  die  Hörgrenze  überschritten 
war,  äußerte  sich  das  durch  falsches,  zu  schnelles 
oder  zu  langsames  Taktieren,  und  wurde  erst 
wieder  richtig,  wenn  Gildemeister  den  Prüfton 
entsprechend  erniedrigte.  Zur  weiteren  Sicherung 
und  Überwachung  der  Angaben,  die  übrigens 
stets  sehr  bestimmt  und  bei  mehrfachen  Ver- 
suchen miteinander  übereinstimmend  gemacht 
wurden,  dienten  noch  bestimmte  Schaltvorrich- 
tungen, ferner  ein  Schlüssel,  der  den  Ton  auf 
Wunsch  sofort  zum  Verschwinden  brachte.  Um 
die  von  den  Versuchspersonen  angegebenen  Hör- 
grenzen hinsichtlich  der  erreichten  Tonhöhe  zahlen- 
mäßig nach  der  Eichtabelle  zu  bestimmen,  baute 
sich  Gildemeister  dann  noch  einen  besonderen 
Fernsprechapparat  mit  einer Wheatston eschen 
Brückenanlage  und  einem  zur  Bestimmung  der 
bei  den  höchsten  Tönen  von  dem  Prüfenden 
selbst  nicht  erreichten  Hörgrenze  die- 
nenden, sog.  Schleifer  oder  Tikker  der 
drahtlosen  Telegraphie.  *)  Das  ist  ein 
zwischen  zwei  Kondensatoren  ange- 
brachter, sich  drehender  Messingzylinder 
mit  einem  daran  schleifenden  feinen 
Kupferdrähtchen.  Solange  der  Prüfende 
nicht  haarscharf  auf  das  Minimum  der 
gefundenen  Hörgrenze  eingestellt  hat, 
meldet  sich  dieser  vortreffliche  kleine 
Wächter  durch  ein  eigentümliches 
Kratzen  und  Rauschen  im  Fernsprecher, 
das  erst  im  Augenblick  der  richtigen 
Einstellung  sich  beruhigt. 

Wir  kommen  nun  zu  den  Ergeb- 
nissen, die  aus  den  Angaben 
von  51  Versuchspersonen, 
Schülern,  Studenten,  zwei  Mäd- 
chen, Lehrern,  Beamten,  Kauf- 
leuten, Landwirten  und  Ar- 
beitern verschiedener  Hand- 
werke erzielt  wurden.  Alle 
diese  Personen  im  Alter  von 
6  bis  47  Jahren  besaßen  ein 
durch  sorgfältige  Vorunter- 
suchung festgestelltes  Normal- 
gehör. Fast  bei  allen  wurden 
rechtes  und  linkes  Ohr  beson- 
ders geprüft  und  zwar  zuerst 
durch  das  locker  vor  das  be- 
treffende Ohr  gehaltene  Siemens  und  Halske- 
telephon  mit  verstellbarem  Stahlmagnet,  dann 
mittels  eines  Dosentelephons  von  600  Ohm 
Widerstand,    wobei    beide    Ohren    durch    feuchte 


')  J.  Zenneck,    Lehrbuch    der    drahtlosen    Telegraphie. 
z.  Aufl.     Stuttgart  1913. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


633 


Watte  verstopft  waren  und  der  Hörer  mit  der 
metallenen  Rückseite  stark  gegen  den  Warzen- 
fortsatz des  äußeren  Ohres  gepreßt  wurde,  so  daß 
die  Schallwellen  durch  die  Knochen  geleitet 
wurden.  Die  obere  Hörgrenze  des  jüngsten, 
6jährigen  Schülers  lag  für  Luft-  und  Knochenleitung 
des  rechten  Ohres  bei  19800,  die  des  linken  für 
Luftleitung  bei  18700,  für  Knochenleitung  bei 
19800  Tonschwingungen  in  der  Sekunde.  Bei 
einem  9jährigen  Schüler  endete  das  Hören  rechts 
für  Luftleitung  mit  20400,  für  Knochenleitung 
mit  19200,  links  mit  20100  bzw.  20  000;  bei 
einem  12jährigen  rechts  mit  20400  bzw.  19500, 
links  mit  20400  bzw.  21000;  bei  einem  18- 
jährigen,  dem  besten  aller  geprüften  Hörer,  rechts 
mit  20800  bzw.  18800,  links  mit  20  400  bzw. 
19100;  bei  einem  20jährigen  Studenten  rechts 
mit  17900  bzw.  17  100,  links  mit  14900  bzw. 
16300;  bei  einem  22  jährigen  Techniker  rechts 
mit  17900  bzw.  17500,  links  mit  18  600  bzw. 
17800;  bei  einem  24jährigen  Bergmann  rechts 
mit  14200  bzw.  15800,  links  mit  14  900;  bei 
einem  33  jährigen  Lehrer  rechts  mit  17900  bzw. 
17500,  links  mit  17900  bzw.  17700;  bei  einem 
34jährigen  Maurer  rechts  mit  10400  bzw.  10  100, 
links  mit  I0  200  bzw.  9300;  bei  einem  44  jährigen 
Kaufmann  rechts  mit  12700  bzw.  10  300,  links 
mit  12900  bzw.  7400 ;  bei  einem  45  jährigen 
Landwirt  rechts  mit  14200,  links  mit  14400  bzw. 
14600.  Bei  drei  älteren  Personen,  die  nur  unvoll- 
ständig untersucht  wurden,  fand  Gildemeister 
schließlich  noch  folgende  Hörgrenzen:  ein  56- 
jähriger  Beamter  hörte  mit  Luftleitung  rechts  bis 
zu  9300,  links  bis  zu  9600,  ein  59jähriger  Arzt 
rechts  bis  zu  12  100,  links  bis  zu  11  200  und  end- 
lich ein  77jähriger  Landwirt  rechts  durch  Luft- 
leitung bis  zu  8600,  durch  Knochenleitung  bis  zu 
9000  Schwingungen  in  der  Sekunde. 

Aus  den  von  Prof.  Gildemeister  zu  einer 
langen  Tabelle  zusammengestellten  Hörproben 
geht  folgendes  hervor.  Es  ist  verhältnismäßig 
selten,  daß  jemand  mit  dem  rechten  und  linken 
Ohr  gleich  gut  hört.  Der  Hörunterschied  zwischen 
beiden  Ohren  war  oft  groß  und  blieb  genau  so 
groß  auch  nach  vielen  am  gleichen  oder  beliebig 
späterem  Tage  vorgenommenen  Prüfungen,  so  daß 
von  Versuchsfehlern  oder  Selbsttäuschungen  nicht 
die  Rede  sein  kann.  Eine  Bevorzugung  des 
rechten  oder  linken  Ohres  jedoch  ist  durchaus 
nicht  nachzuweisen.  Dagegen  spielt  das  Lebens- 
alter eine  große  Rolle.  Kinder  und  junge  Leute 
bis  zu  20  Jahren  hören  die  hohen  Töne  am  besten. 
Doch  findet  selbst  hier  schon  eine  langsame  all- 
mähliche Abnahme  statt.  Von  zwanzig  bis  Mitte 
der  dreißiger  Jahren  sinkt  der  Durchschnittswert 
bedeutend,  hält  sich  dann  bis  Mitte  der  Vierzig 
auf  annähernd  gleicher  Höhe,  um  von  hier  bis 
zum  Greisenalter  wieder  sehr  beträchtlich  zu 
sinken.  Die  Abnahme  beträgt  vom  6.  bis  47.  Jahre 
durchschnittlich  7000  Schwingungen,  d.  h.  von 
20000,  die  dem  musikalischen  Ton  dis  in  der 
siebenten  Oktave  entsprechen,  bis  1 3  000,  dem  gis 


in  der  sechsten  Oktave ;  das  ist  eine  volle  Quint. 
Während  man  ferner  bisher  annahm,  daß  das 
Hören  durch  Knochenleitung  schärfer  und  besser 
sei  als  durch  Luftleitung,  fand  Gildemeister 
das  Umgekehrte:  von  90  Fällen  erwies  sich  in 
52  das  Hören  der  höchsten  Töne  bei  Luftleitung 
besser,  in  11  Fällen  ebensogut  und  nur  in  27 
Fällen  schlechter  als  bei  Knochenleitung.  Daß 
es  für  das  Hören  endlich  nicht  gleichgültig  sein 
kann,  ob  ein  und  derselbe  hohe  Ton  schwach, 
mittel  oder  stark  erzeugt  wird,  war  von  vorn- 
herein anzunehmen,  aber  daß  die  Steigerung  der 
Stärke  die  obere  Hörgrenze  selbst  um  durch- 
schnittlich 1100  Schwingungen,  d.  h.  um  einen 
halben  Ton,  bei  20  Versuchspersonen  verschiedenen 
Alters  tatsächlich  in  die  Höhe  trieb,  war  doch 
überraschend.  Auf  das  Ergebnis  der  für  später 
in  Aussicht  genommenen  Fortsetzung  der  Ver- 
suche mit  allerstärksten  Tönen  ist  man  daher 
recht  gespannt. 

Inwiefern  besondere  Umstände  das  Hören 
hoher  Töne  beeinflussen,  hat  Prof.  Gildemeister 
auch  an  sich  selber  beobachtet.  Trotz  seiner 
langen  Beschäftigung  mit  diesen  Versuchen,  bei 
denen  man  durch  die  fortwährende  Übung  eine 
Erweiterung  der  oberen  Grenze  erwarten  sollte, 
war  dies  nicht  der  Fall,  im  Gegenteil  sie  sank 
binnen  4  Jahren  um  200  Schwingungen.  Anderer- 
seits steht  es  fest,  daß  Leute,  die  viel  telephoniert 
hatten,  oft  stark  über  dem  Durchschnitt  liegende 
obere  Hörgrenzen  zeigten,  während  letztere  bei 
Bergleuten  durch  Sprengarbeiten,  bei  Schmieden 
durch  ihr  Handwerksgeräusch  oft  stark  herabge- 
drückt war.  Die  durch  das  körperliche  Befinden 
verursachten  Schwankungen  von  einem  Tag  zum 
anderen  betrugen  bei  Prof  Gildemeister  nie 
über  200  Schwingungen,  dagegen  trat  eine  Er- 
müdung gegen  hohes  Tongeräusch  sehr  schnell 
ein  und  erniedrigte  die  obere  Grenze  dann  sofort 
um  mehrere  hundert  Schwingungen,  wenn  man 
nicht,  wie  gezeigt,  einen  besonderen  Rhythmus 
durch  Pendelschlag  erzeugte,  der  die  hohe  Ton- 
einsamkeit in  bestimmten  Abständen  durchblitzte 
und  zerlegte. 

Was  schließlich  die  Hörschärfe  zu  den  ver- 
schiedenen Tageszeiten  betrifft,  so  hat  Prof.  B  a  c  h  - 
rach^)  unlängst  durch  viele  Versuche  nachge- 
wiesen, daß  die  beste  Zeit  zum  guten  Hören  der 
Spätnachmittag  und  nicht  etwa  der  Abend  oder 
die  Nacht  ist,  die  sich  nur  durch  das  Fehlen 
starker  Tagesgeräusche,  aber  nicht  durch  bessere 
Schalleitung   der  Luft   oder  Knochen  auszeichnet. 

Hermann  Radestock, 


Neue  Mineralien. 

Pyrobelonit  nennt  G.  Flink  (Medd.  frän 
Stockh.  Högsk.  Mineral.  Inst.  Stockholm  192 1, 
Nr.  16)  ein  neues  Blei-Mangan- Vanadat  von  Läng- 

')  Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiologie  d.  Sinnesorgane, 
Abt.  II,  Bd.  49,  1916. 


634 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


banshyttan.  Der  Name  ist  aus  715(1=  Feuer  und 
ßeXovrj  =  ]>iadel  gebildet,  weil  die  nadeiförmigen 
Kristalle  meistens  mit  feuerroter  Farbe  durch- 
scheinend sind.  So  weit  mit  Sicherheit  bekannt 
ist,  kommt  der  Pyrobelonit  nur  in  Form  von  gut 
ausgebildeten  Kristallen  vor,  die  an  Länge  kaum 
ein  paar  mm  überschreiten  und  deren  Querschnitt 
selten  Vio  ^^^  Länge  erreicht.  Sie  gehören  der 
prismatischen  Klasse  des  rhombischen  Systems 
an.  Das  Achsenverhältnis  ist  a:b: 0  =  0,80402:  i : 
0,65091.  Die  Kristalle  treten  in  drei  Ausbildungs- 
typen auf,  von  denen  eine  pyramidale,  die  beiden 
anderen  domatische  Endbegrenzungen  zeigen.  Nach 
Farbe  und  Glanz  ist  das  Mineral  am  ehesten  mit 
Rotgültigerz  zu  vergleichen.  Die  optische  Achsen- 
ebene fallt  mit  der  Basis  zusammen.  Die  Brechungs- 
indices  des  Minerals  liegen  so  hoch,  daß  sie  in 
keiner  der  gewöhnlichen  Einbettungsflüssigkeiten 
haben  bestimmt  werden  können.  Die  Härte  ist 
gering,  H  =  3,5.  Das  Mineral  ist  ziemlich  spröde. 
Spaltbarkeit  konnte  nicht  festgestellt  werden.  Der 
Bruch  ist  muschelig,  die  Strichfarbe  orangegelb 
oder  rötlich.     Das  spez.  Gewicht  ist  5,377. 

Die  chemische  Analyse  ergab  folgende  Zu- 
sammensetzung : 

I  II  III 

V2O5  20,03  20,03  20,20 

P2O5  0,05 

PbO  48,82  48,82  49,33 

FeO  0,47 

MnO  25,01  27,53  27,48 

MgO  0,60 

CaO  0,79 

HjO  3.02  3,02  2,99 

SiOj  0,21 

100,00 

Aus   der   Analyse   wird    folgende   Formel   ge- 
deutet : 
2PbO-2RO.V205  +  3[2Pb0.4RO-2H20.V2  0J. 

I.  Mittel  aus  zwei  Analysen,  II.  gefundene, 
III.  berechnete  (nach  obiger  Formel)  Werte  nach 
Umrechnung  von  Fe,  Mg  und  Ca  in  Mn. 

Von  den  bekannten  Mineralien  dürfte  der 
Descloizit   dem  Pyrobelonit   am  nächsten  stehen. 

Von  der  Verbindung  Mn(0H)2  war  bis  jetzt 
nur  eine  rhomboedrische  Modifikation  bekannt, 
der  Pyrochroit.  Eine  neue  rhombische  Modifi- 
kation beschreibt  G.  Am  in  off  (Ebenda,  Nr.  12) 
und  nennt  sie  Bäckstr ömit.  Das  neue  Mineral 
kommt  zusammen  mit  Pyrochroit  in  den  sog. 
Kalkspatspalten  in  den  Längbansgruben  vor,  in 
bis  zu  30  mm  langen  Kristallen.  Das  Achsen- 
verhältnis ist  a: b:c  =  0,7393  : 1:0,6918.  Die 
Kristalle  treten  in  viererlei  Typen  auf,  von  denen 
zwei  keine  Spaltbarkeit,  die  beiden  anderen  eine 
solche  oder  eine  Absonderung  parallel  der  seit- 
lichen Endfläche  zeigen.  Diese  Unregelmäßig- 
keiten in  bezug  auf  die  Kohäsion  können  einer- 
seits mit  der  Oxydation  zu  manganitartiger  Sub- 
stanz zusammenhängen,  andererseits  können  sie 
möglicherweise     mit     der    Modifikationsänderung 


Bäckströmit  ->  Pyrochroit  in  Zusammenhang  ge- 
bracht werden.  Die  Kristalle  des  einen  Typus 
sind  oft  in  orientierter  Verwachsung  mit  Pyro- 
chroitkristallen  überwachsen,  wobei  die  Basis  des 
Pyrochroits  parallel  ist  der  seitlichen  Endfläche 
des  Bäckströmits.  Auch  lamellare  Verwachsungen 
beider  Mineralien  kommen  vor.  Röntgenogramme 
auf  [oio]  von  solchen  Kristallen,  die  eine  deut- 
liche Spaltbarkeit  (Absonderung?)  nach  der  seit- 
lichen Endfläche  zeigen,  ergeben  überraschender- 
weise in  allen  Einzelheiten  das  Basisröntgeno- 
gramm  des  Pyrochroits.  Der  Verf.  zieht  daraus 
den  Schluß,  daß  die  Struktur  des  Bäckströmits 
nicht  mehr  rhombisch,  sondern  rhomboedrisch 
und  der  des  Pyrochroits  identisch  ist.  Man  darf 
also  annehmen,  daß  die  rhombische  Modifikation 
von  Mn(0H)2  beim  Fortschreiten  des  Kristalli- 
sationsprozesses aufhört  stabil  zu  sein  und  in  die 
rhomboedrische  Modifikation  umgewandelt  wird. 
Das  in  der  Lösung  zurückgebliebene  Mn(OH)., 
wird  später  in  der  Form  von  Pyrochroit  ausge- 
schieden, wobei  die  Pyrochroitkristalle  teilweise 
in  gesetzmäßiger  Verwachsung  auf  den  Bäckströ- 
mitkristallen  kristallisieren.  Da  die  jetzt  vor- 
liegenden Bäckströmitkristalle  z.  T.  in  eine  manga- 
nitartige  Substanz  durch  Oxidation  an  der  Luft 
umgewandelt  sind,  wären  sie  als  doppelte  Pseudo- 
morphosen  zu  betrachten  (Bäckströmit  -^  Pyro- 
chroit ~>  manganitartige  Substanz).  Da  frisches 
Material  für  die  Analyse  nicht  zur  Verfügung 
stand,  wurden  oxydierte  Kristalle  dazu  verwendet, 
deren  Zusammensetzung  sich  der  des  Manganits 
nähert.  Da  gleicherweise  oxydierte  Pyrochroit- 
kristalle eine  ganz  ähnliche  Zusammensetzung 
zeigten,  nimmt  der  Verf.  an,  daß  beide  Mineralien 
im  frischen  Zustand  die  gleiche  Zusammensetzung 
hatten. 

Der  Nachweis  einer  rhombischen  Modifikation 
der  Verbindung  Mn(OH)2  enthält  nichts  Uner- 
wartetes. Zn(0H)2  ist  rhombisch  und  von  Ca(0H)2 
kennt  man  sowohl  eine  hexagonale  wie  auch  eine 
rhombische  Modifikation.  Mangels  sicherer  Daten 
für  die  rhombischen  Modifikationen  von  Zn(OH)o 
und  Ca(OH).,  konnte  die  Frage  der  geometrischen 
Relation  zwischen  den  drei  Stoffen  nicht  mit 
Sicherheit  gelöst  werden. 

Ebenfalls  von  Längbanshyttan  stammt  ein 
neues  Arsenit,  das  G.  Amin  off  und  R.  Man- 
zelius  (ebenda,  Nr.  15)  beschreiben  und  Ar- 
mangit  benennen,  nach  den  Anfangssilben  seiner 
beiden  hauptsächlichsten  chemischen  Komponenten 
Arsen  und  Mangan.  Das  Mineral  kommt  zusam- 
men mit  Calcit,  Schwerspat,  Fluorit,  Hämatit  und 
zwei  noch  unbekannten  Mineralien  in  den  erwähn- 
ten Kalkspatspalten  vor,  meist  kristallinisch,  selten 
in  Kristallen.  Es  ist  von  schwarzer  Farbe  und 
gibt  braunen  Strich.  Mikroskopische  Splitter  sind 
braun  bis  gelb.  Es  kristallisiert  rhombocdrisch- 
hemiedrisch.  Die  Härte  ist  etwa  4 ;  die  Spaltbar- 
keit, nicht  sehr  ausgesprochen,  geht  parallel  der 
Basis.  Optisch  ist  das  Mineral  einachsig  und 
negativ.     Die   Brechungsindizes    sind   sehr   hoch. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


635 


höher  als  der  einer  Lösung  von  Schwefel  in 
Methylenjodid  (~  1,79),  aber  niedriger  als  amor- 
pher Schwefel  (=  i,93)-  Die  Doppelbrechung 
ist  schwach.  Pleochroismus  ist  nicht  wahrnehm- 
bar.   Das  spezifische  Gewicht  ist  4,23. 

Die  chemische  Analyse  ergab  folgende  Zu- 
sammensetzung: As203=  42,92;  SboOg  =  0,40; 
PbO  =  o,32;  FeO  =  2,i9;  MnO^  45,06;  CaO 
=  2,83;  MgO  =  o,49;  H20  =  0,7i;  CO.^  =  5,08; 
Unlösl.  ^=  0,20;  Summe  ^  100,20.  Der  hohe 
Betrag  an  Kohlensäure  rührt  von  beigemengtem 
Mn-,  Ca-  und  MgKarbonat  her.  Aus  diesem 
Analysenbefund  berechnen  die  Verff.  die  Formel 
Mn8(As03)3  für  das  neue  Mineral. 

Schließlich  beschreibt  G.  F 1  i  n  k  (ebenda  Nr.  1 8) 
noch  zwei  weitere  neue  Mineralien,  die  1919  in 
einer  Tiefe  von  150  m  in  den  Gruben  von  Läng- 
banshyttan  gefunden  wurden,  den  T  r  i  g  o  n  i  t  und 
den  D  ixen  it. 

Der  Trigonit,  der  Name  ist  von  xQ^uovog, 
Dreieck,  abgeleitet,  kommt  in  Klüften  im  Dolo- 
mit vor  zusammen  mit  Blei  und  mehreren  anderen 
noch  nicht  untersuchten  Mineralien  in  Kristallen 
bis  Va  cm  Länge.  Er  gehört  dem  monoklinen 
System  an.     Das  Achsenwinkelverhältnis  ist 

a:b:c=  1,03395=  i  :  1.65897;  /5  =  9i''3i'- 
Die  Farbe  des  Minerals  ist  hell  schwefelgelb  bis 
bräunlich,  es  ist  durchscheinend  mit  Glas-  bis 
Diamantglaz  und  zeigt  keinen  Pleochroismus.  Die 
Brechungsexponenten  sind  a  =  2,o8,  7^=2,16. 
Die  Achsenebene  geht  parallel  der  Symmetrie- 
ebene.  Die  Härte  ist  2 — 3,  die  Spaltbarkeit  sehr 
vollkommen  nach  der  Symmetrieebene,  weniger 
gut  nach  einem  Hemidoma.  Die  chemische  Ana- 
lyse ergab:   As^Og  =  28,83;  PbO  =  63,40;   CaO 

0,23;  FeO  =  o,i5;  MnO  =  6,79;  MgO  — o,ii; 
0,81 ;  Unlösl.  =  0, 1 3 ;  Summe  100,45.  Der 
Verf.  berechnete  daraus  die  Formel :  Pb3MnH(As08)3, 
die  28,4  AS2O3;  64,0  PbO;  6,7  MnO;  0,9  HjO 
erfordern  würde. 

Der  Dixenit  kommt  in  dünnen,  blättrigen 
oder  rundlichen  Aggregaten,  nicht  in  Kristallen, 
in  schmalen  Adern  im  Roteisenerz,  Serpentin  oder 
Dolomit  vor,  zusammen  mit  einem  noch  unbe- 
kannten glasigen  Mineral.  Im  durchfallenden 
Licht  zeigt  er  eine  rote  Farbe.  Er  ist  optisch 
einachsig  und  positiv.  Nach  dem  Lauephotogramm 
ist  das  Mineral  rhomboedrisch  oder  hexagonal. 
Die  Härte  ist  3 — 4,  die  Spaltbarkeit  geht  parallel 
der  Basalebene.  Der  mittlere  Brechungsexponent 
ist  1,96,  das  spezifische  Gewicht  ;=  4,20.  Die 
Analyse  ergab:  ASjOg  =  30,55;  P2O5  =  0,09; 
Si02  =  8,66;  CuO  =  3,38;  FeO  =  4,54;  MnO 
=  48,94;  MgO  =  0,50;  CaO  =  0,28;  H20  =  3,38; 
Summe  ;=  100,32.  Der  Verf.  berechnete  daraus 
die  Formel:  (HOMn)2Mn3Si03(As03)2.        F.  H. 

Die  Konstitution  der  Mischkristalle  und  die 
Raumerfüllung  der  Atome. 

In  Fortsetzung  der  Untersuchungen  über  den 
Feinbau    der    Mischkristalle,    die    zusammen    mit 


H,0 


H.  Schjelderup  schon  191 7  veröffentlicht  wur- 
den (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1920,  S.  749,  An- 
merkung) teilt  L.  Vegard  in  der  Zeitschrift  für 
Physik  V.  Band,  S.  17 — 26  (1921)  seine  neuesten 
Untersuchungsergebnisse  mit.  —  In  der  erwähnten 
früheren  Arbeit  wurde  die  Braggsche  lonisations- 
methode  angewandt  und  mit  ziemlicher  Bestimmt- 
heit erkannt,  daß  ein  Mischkristall  nicht  durch 
Aufeinanderlagerung  homogener  Schichten  gebildet 
wird.  Bei  den  neueren  Untersuchungen  wurde 
nach  der  Debye-Scherr er- Methode  Kristall- 
pulver der  röntgenographischen  Untersuchung 
unterworfen.  Als  Strahlungsquelle  diente  eine 
eigens  konstruierte  Röntgenröhre  mit  Kupfer- 
antikathode, die  unter  kontinuierlichem  Durch- 
strömen von  Luft  und  kontinuierlichem  Auspum- 
pen betrieben  wurde.  Expositionszeit  war  in  der 
Regel  3 — 4  Stunden,  in  einigen  Fällen,  wo  mög- 
licherweise vorhandene  schwache  Linien  entdeckt 
werden  sollten,  wurde  10  Stunden  bestrahlt.  Es 
wurden  die  regulären  Mischkristalle  von  KCl — KBr, 
von  KCl — NH4CI,  außerdem  die  rhombischen  von 
K2SO4  und  (NH^),S04  untersucht. 

Die  Aufnahmen  von  den  Mischkristallen  und 
ihren  reinen  Komponenten  wurden  unter  völlig 
gleichen  Verhältnissen  gemacht.  Aus  den  in  der 
Arbeit  wiedergegebenen  Originalphotogrammen 
ergibt  sich  folgendes:  Die  Mischkristalle  geben 
ebenso  scharfe  Linien  wie  die  reinen  Komponenten, 
neue  für  die  ersteren  etwa  charakteristische  Maxima 
sind  auf  den  Filmen  nicht  zu  beobachten.  Eine 
Aufnahme  von  einer  mechanischen  Mischung  von 
KCl  und  KBr  zeigt  im  Gegensatz  hierzu  für 
größere  Ablenkungswinkel  eine  Vermischung  der 
Linien  der  reinen  Komponenten.  Die  Misch- 
kristalle ergaben  in  den  untersuchten  Beispielen 
auch  stets  Linien,  deren  Abstände  gerade  zwischen 
denen  der  entsprechenden  reinen  Komponenten 
lagen.  Daraus  leitet  Vegard  die  Bestätigung 
der  auf  Grund  der  lonisationsmethode  noch  un- 
sicher gebliebenen  Anschauung  ab,  daß  die 
Mischkristalle  charakterisiert  sind 
durch  einen  unregelmäßigen  Ersatz 
der  sich  gegenseitig  vertretenden 
Atome. 

Die  Volumenänderungen,  welche  diese  un- 
regelmäßige Atomsubstitution  begleiten,  kenn- 
zeichnen sich  bei  Ersatz  von  Br  durch  Cl  als 
eine  Zusammenziehung,  beim  Ersatz  von  K  durch 
NH^  aber  als  Ausdehnung.  Dies  erscheint  zu- 
nächst auffallig,  da  NH^Cl  ein  kleineres  Molekular- 
volumen besitzt  als  KCl.  Es  erklärt  sich  aber 
dies  Verhalten  daraus,  daß  im  Mischkristall  die 
NH4- Gruppe  in  einem  ganz  anderen  Raumgitter 
vorliegt  als  im  reinen  NHjCI.  Während  daher 
für  das  System  KBr — KCl  die  gefundene  Seiten- 
länge des  Elementarwürfels  mit  großer  Genauig- 
keit das  bekannte  Additivitätsgesetz  erfüllt,  läßt 
sich  für  das  System  KCl — NH4CI  diese  Additivität 
nur  dann  finden,  wenn  man  für  das  NH^Cl  in 
reinem  Zustand  ebenfalls  ein  flächenzentriertes 
Gitter   (wie  für  KCl)   zugrunde   legt.     Für  dieses 


636 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


1 


läßt  sich  diese  Kantenlänge  aus  den  Mischkristallen 
berechnen.     Aus  diesem  Additivitätsgesetz  würde 
aber  folgen,  daß  jede  Atomart  einen  für   das  be- 
treffende  Element   charakteristischen    Raum   ver- 
langt.     Schreibt   man    in    erster  Annäherung   mit 
Bragg   (vgl.  Naturw.  Wochenschr.  1921,  S.  608) 
den  Atomen  Kugelgestalt  zu,   so  kann  man  nach 
Vegard     folgende     Extremfälle     unterscheiden: 
I.    Die    einander    ersetzenden    Atome    haben    im 
IVIischkristall   denselben  Atomdurchmesser  wie  in 
der  reinen  Substanz.     2.  Die  einander  ersetzenden 
Atome   besitzen   im   Mischkristall   beide   ein   und 
denselben    Atomdurchmesser.       Letzterer    müßte 
dann  innerhalb  größerer  Grenzen   änderungsfähig 
sein.     Aus  der  Schärfe  der  Linien  in  den  für  die 
Mischkristalle  erhaltenen  Röntgenogrammen  folgert 
Vegard  nun,  daß  keine  „Mikrozerstörung",   wie 
sie  nach  seiner  Ansicht  im  ersten  Falle  eintreten 
müßte,   vorliegen   kann,   sondern  daß   der  zweite 
Fall   eintritt,    d.  h.  daß  die   einander   ersetzenden 
Atome  sich  im  Mischkristall   auf  annähernd  den- 
selben   Durchmesser   einstellen.      In    der    in   Aus- 
sicht gestellten  vollständigeren    Abhandlung  (Vid. 
Selsk.   Skr.   Kristiania)    wird    eine    ausführlichere 
Behandlung   dieses  Problems   in  Aussicht  gestellt. 
Wie  oben  erwähnt,  wurde  das  Raumgitter  des 
reinen   NH^Cl   und   NH^Br   als  vom  NaCl- Typus 
(flächenzentrierte  Würfelgitter)  abweichend  gefun- 
den.    Dies  geht  schon  bei  flüchtiger  Betrachtung 
der    recht    verschieden    aussehenden    Diagramme 
hervor.     Die  untersuchten  Mischkristalle  mit  20  % 
NH4CI  und  80  "Ig  KCl  schließen  sich  dagegen  be- 
reits dem  reinen  KCl,  also  dem  NaCl-Typus,  voll- 
kommen an.    Vegard  findet  für  das  reine  NH^Cl 
folgende   Anordnung:   „Ein  einfach  kubisches  Cl- 
Gitter   ist  durch   ein  ähnliches  N-Gitter  zentriert. 
Aus  Symmetriegründen  müssen  die  H-Atome  auf 
den   Würfeldiagonalen    liegen."      Die    Richtigkeit 
dieser  Anordnung   ergibt  sich  aus  dem  Vergleich 
der    beobachteten    Lagen    und    Intensitäten    der 
Maxima    mit    den    für    diese  Bauart    berechneten 
Werten.     Es   wurden   auch  NH^Br- Kristalle  ver- 
schiedener Entstehungsart  untersucht  und  für  diese 
in   allen   Fällen   die   gleiche  Atomanordnung  wie 
für  NH4CI  gefunden.      Dagegen   wurde   von  V  e  - 
gard  selbst  für  NHjJ  ein  flächenzentriertes  Gitter 
des  NaCl-Typus  angegeben.   Dichtebestimmungen 
deuten  darauf  hin,  daß  NH^Br,  entsprechend  seiner 
Stellung  zwischen  NH4CI  und  NHJ,  je  nach  den 
Entstehungsbedingungen  bei   gewöhnlicher   Tem- 
peratur in  beiden  Gitterformen  existieren  kann. 

Im  letzten  Teil  der  Arbeit  werden  in  der 
Braggschen  Weise  die  Durchmesser  der  NH^- 
Gruppen  und  des  Wasserstoffatoms  errechnet; 
beide  zeigen  im  NHjClTypus  eine  größere  Raum- 
erfüllung als  im  NaCl-Typus.  Zum  Schluß  wird 
erwähnt,  daß  Bragg  (vgl.  Naturw.  Wochenschr. 
192 1,  S.  609)  für  die  Elemente  innerhalb  einer 
Gruppe  des  periodischen  Systems  annähernd  die- 
selbe typische  Variation  der  aus  dem  kristallisierten 
Zustande  errechneten  Atomradien  findet,  wie  sie 
Vegard  selbst  von  theoretischen  Gesichtspunkten 


aus  für  die  Radien  der  äußeren  Atomringe  abge- 
leitet hat.  [Philosophical  Magazine,  Bd.  37,  S.  278 
(191 9).]  Spbg. 


Bekänipfuug    vou    Fflanzeuschädliugeii    mit 
kolloidalem  Schwefel. 

Der  Schwefel  findet  als  Mittel  gegen  Insekten 
und  Schwammbildung  seit  langer  Zeit  Verwendung. 
Der  echte  Mehltau  wird  sogar  beinahe  ausschUeß- 
lich  damit  bekämpft.  Nun  wirkt  der  Schwefel 
um  so  nachdrücklicher,  je  feiner  seine  Verteilung 
ist.  Einmal  ist  seine  Haftfestigkeit  größer,  zum 
anderen  ist  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  ihm  bei 
genügend  feiner  Verteilung  die  diesem  Zustand 
aller  Stoffe  eigene  erhöhte  chemische  Wirksam- 
keit zukommt.  Der  Gedanke  ist  darum  nahe- 
liegend, die  Verteilung  des  Schwefels  von  vorn- 
herein so  weit  zu  treiben,  daß  seine  Teilchen  in 
kolloidale  Größenordnung  und  damit  in  er- 
fahrungsgemäß wirksamstes  Gebiet  gelangen. 

Von  der  Firma  de  Haen,  Seelze,  kommt 
seit  einiger  Zeit  ein  Präparat  mit  den  zuletzt  an- 
gedeuteten Eigenschaften  unter  dem  Namen 
„kolloidal  löslichen"  Schwefels  in  den  Handel. 
Über  Erfahrungen  mit  diesem  Mittel,  die  auch 
theoretisch  recht  belangreich  sind,  berichtet 
Hugo  Kühl.i)  Was  zunächst  die  Haftfestigkeit 
des  Präparates  betrifft,  so  ist  sie  infolge  der  feinen 
Dispersion  so  gut,  daß  auf  einer  Glasplatte  ver- 
teilte Schwefelmilch  nach  dem  Eintrocknen  einen 
Überzug  bildete,  der  sich  weder  in  fließendem 
noch  in  tropfendem  Wasser  zusammenballte.  In 
einem  praktischen  Versuch  hielt  eine  geschwefelte 
Pflanzung  einen  I4tägigen  Dauerregen  aus,  ohne 
Nachteile  zu  erleiden. 

Die  feine  Verteilung  des  kolloidalen  Schwefels 
legt  natürlich  die  Befürchtung  nahe,  daß  infolge 
der  gesteigerten  Oxydationsmöglichkeit  Blatt- 
verbrennungen statthaben  möchten.  Der 
Versuch  ergab  jedoch,  daß  solche  bei  z.  B.  Wein- 
stock, Stachelbeere,  Kirsche  und  Hollunder  nicht 
vorkommen.  Im  zerstreuten  Tageslicht  litt  darunter 
ein  wenig  lediglich  die  Hundsrose,  die  im  grellen 
Sonnenlicht  sogar  bedeutende  Schädigungen  auf- 
wies. Doch  lassen  sich  derartige  Fälle  bei  ge- 
eigneter Handhabung  leicht  vermeiden.  Immer- 
hin mögen  sie  als  Beispiel  für  die  sehr  beträcht- 
lichere Oxydationsfähigkeit  kolloidalen  Schwefels 
dienen.  Dieser  verhält  sich  dem  Luftsauerstoff 
gegenüber  ebenso  wie  pyrophores  Eisen,  das  sich 
bekanntlich  sogar  selbst  entzündet. 

Beiden  Umständen,  großer  Haftfestigkeit  und 
vermehrter  chemischer  Wirksamkeit,  ist  es  nun 
auch  zuzuschreiben,  daß  die  biologische  Wirkung 
des  kolloidalen  Schwefels  so  ungewöhnlich  gut 
und  den  bisher  benutzten  Präparaten  überlegen 
ist.  Beide  Umstände  müssen  zusammen 
wirksam  sein,  denn  keine  der  vorhandenen  Theo- 
rien, die  sich  einseitig  festlegten,  kann  die  Wirk- 


')  Chemiker-Zeitung  45,  S.  479,  1921- 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


637 


samkeit  des  Schwefels  befriedigend  erklären.  Zwar 
spricht  für  die  rein  mechanische  Erklärung,  nach 
der  das  Mycel  infolge  Luftabschlusses  absterbe, 
die  Beobachtung  Chretiens  von  1856,  die  er 
seinerzeit  der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Paris  demonstrierte  und  die  im  wesentlichen  mit 
spanischen  Beobachtungen  zusammenfällt.  Nach 
diesen  blieben  Stöcke  einer  von  Mehltau  befallenen 
Pflanzung,  die  an  der  Straße  standen,  trotz  Fehlens 
irgendwelcher  Behandlung  von  Mehltau  fr  e  i.  Der 
in  dicker  Schicht  den  Blättern  aufliegende  Staub 
der  Straße  hatte  zweifellos  das  Wachstum  des 
Mycels  unterbunden.  Andererseits  sprechen  ge- 
wisse Tatsachen  für  die  chemische  Erklärung. 
So  ist  die  Wirksamkeit  des  Schwefels  in  der  Wärme 
stärker,  was  nur  durch  Erhöhung  einer  chemischen 
Umsetzungsgeschwindigkeit  gedeutet  werden  kann. 
Auch  ist  die  Bildung  von  Schwefeldioxyd  nach- 
gewiesen worden.  Auch  dies  kann  in  hinreichen- 
der Konzentration  sehr  wohl  tötend  wirken.  Wie 
dem  nun  in  Wahrheit  sei :  die  kolloide  Verteilung 
des  Schwefels  begünstigt  beide  Möglichkeiten, 
und  so  ist  seine  Wirksamkeit  zweifellos  einer  Er- 
höhung sowohl  der  chemischen  Reaktionsfähigkeit 
wie  des  intensiveren  mechanischen  Abschlusses 
des  Mycels  anzurechnen :  ein  gutes  Beispiel  für 
die  biologische,  in  diesem  Fall  auch  praktische 
Bedeutung  der  kolloidalen  Verteilungsform  der 
Materie.  H.  Heller. 

Über  den  Äther  im  Weltbild  der  Physik 

findet  sich  eine  vielseitige,  geistvolle  Darstellung 
vonWiechert  in  den  Nachrichten  der  Göttinger 
Akademie,  1921,  Heft  i.  Am  bemerkenswertesten 
ist  darin  der  scharfe  Gegensatz  zur  Relativitäts- 
theorie. Während  nach  Einstein  die  Verteilung 
der  Materie  einen  Einfluß  auf  die  Maßverhältnisse 
im  Raum  hat,  die  durch  10  Größen  gekennzeichnet 
werden,  die  die  Struktur  des  Raumes  kennzeichnen 
sollen,  betont  W  i  e  c  h  e  r  t  die  Gefährlichkeit  dieser 
zwar  mathematisch  interessanten  Ausdrucksweise 
für  die  Physik.  Mit  der  Deutung  jener  10  Größen 
beginne  erst  das  eigentliche  physikalische  Leben. 
Der  Ausdruck  Äther  ist  schon  deshalb  zu  ge- 
brauchen, um  der  Physik  eins  ihrer  wichtigsten 
Probleme  klar  zu  zeigen.  Dem  Einsteinschen 
Grundgedanken,  daß  im  vierdimensionalen  Raum 
die  imaginär  gemachte  Zeitkoordinate  den  Raum- 
koordinaten völlig  gleich  zu  stellen  sei,  ist  für 
Wiechert  eine  zwar  mathematisch  interessante, 
aber  durch  die  Tatsachen  in  keiner  Weise  gebotene 
Hypothese,  da  ja  Raum  und  Zeit  sich  für  die 
Physik  fundamental  unterscheiden ,  was  auch  in 
der  Theorie  durch  den  Ausdruck  — i  klar  zum 
Ausdruck  kommt.  Es  wird  darauf  hingewiesen, 
daß  Mach  mit  Recht  1912  Einstein  nicht 
unter  die  Relativisten  zählen  konnte,  da  ja 
dessen  erste  Theorie  trotz  ihres  Namens  eine 
Absoluttheorie  war,  während  die  von  diesem 
zurückgewiesene  L  o  r  e  n  t  z  sehe  Äthertheorie  eine 
echte    Relativitätstheorie    war.      Läßt    man    sich 


durch  den  Gedanken  der  Körperrelativität  leiten, 
so  muß  man  im  Weltuntergrund  etwas  Körper- 
liches als  wirkend  annehmen,  und  dann  wird  die 
Einst  einsehe  Theorie  zur  Äthertheorie.  Es  er- 
scheint überhaupt  die  molekulare  Materie  mit 
ihrem  ganzen  physikalischen  Sein  der  Herrschaft 
des  Äthers  unterworfen ,  während  sie  sich  ihrer- 
seits mit  einem  sehr  geringen  Einfluß  begnügen 
muß.  Der  Äther  erscheint  als  Träger  aller  Kräfte 
der  Welt,  als  das,  was  dieser  die  Körperlichkeit 
gibt.  Die  Atome  der  molekularen  Materie  sind 
offenbar  Stellen  ausgezeichneter  Beschaffenheit  des 
Äthers.  Wir  erkennen  aber  nur  die  molekulare 
Materie,  da  wir  selber  aus  ihr  bestehen,  aber  hinter 
der  Welt,  die  wir  schauen,  liegt  eine  andere,  deren 
Wirkung  wir  wohl  empfinden,  für  deren  Erkennt- 
nis wir  aber  nur  sehr  unvollkommen  ausgerüstet 
sind.  Die  molekulare  Materie  ist  nicht  die  Grund- 
lage für  den  Bau  der  Welt,  vielleicht  aber  dürfen 
wir  in  den  Atomen  Höhepunkte  für  das  Welt- 
geschehen erblicken.  Riem. 

Die  Messimg  des  Durchmessers  eines 
Fixsterns 

(siehe  Nr.  30  dieses  Jahrganges),  und  die  dabei 
erhaltene  ungeheuere  Ausmessung  des  Sternes 
Beteigeuze  oder  alpha  Orion  geben  Picke  ring 
Veranlassung  zu  folgender  Überlegung.  Wir 
wissen,  daß  die  Sterne  an  Masse  ungefähr  gleicher 
Ordnung  sind,  daß  also  unsere  Sonne  nicht  um 
das  unermeßliche  an  Masse  übertroffen  wird. 
Nehmen  wir  also  an,  daß  Beteigeuze  unsere  Sonne 
um  das  100  fache  an  Masse  übertreffe,  was  sehr 
viel  ist,  dann  würde  bei  einem  Querschnitt  von 
der  Größe  der  Marsbahn  die  Dichtigkeit  =  V2100ÜÜ 
unserer  Sonne  sein  oder  ^ibo  einer  Atmosphäre. 
Dem  entspräche  eine  Schwere  von  '/^  der  auf 
dem  Monde,  der  trotz  seiner  Kälte  keine  Atmo- 
sphäre zu  halten  vermag.  Wieviel  weniger  jener 
heiße  Stern,  der  müßte  sich,  wenn  eine  Gasmasse, 
von  selbst  in  den  Raum  verflüchtigen,  auch  ohne 
den  Strahlungsdruck  zu  berücksichtigen.  Infolge- 
dessen müsse  man  die  Meteoriten-  oder  Plane- 
tesimalhypothese  zu  Hilfe  nehmen.  Etliche  100 
Millionen  Körperchen  von  Mondgröße  und  kleiner, 
sollen  in  zwei  kugelförmigen  Haufen  von  je  etwa 
Neptunsbahndurchmesser  umeinander  laufen,  sie 
werden  sich  zum  Teil  berühren,  durchdringen,  zu- 
sammenstoßen und  teilweise  in  Glut  geraten,  und 
uns  so  den  leuchtenden  Stern  zeigen.  Dieser 
wird  sich  als  unregelmäßig  veränderlich  erweisen, 
und  die  Helligkeit  wird  durch  zunehmende  Zu- 
sammenstöße für  eine  gewisse  Zeit  zunehmen. 
Wir  erhalten  eine  stetige  Entwicklung  von  den 
zahllosen  unterschiedenen  kleinen  Körperchen  zu 
einer  leuchtenden  Gasmasse,  von  der  gewisse 
Teile  mit  verschiedenen  Geschwindigkeiten  um- 
laufen. Es  ist  abzuwarten,  was  andere  Messungen 
an  anderen  hellen  Sternen  anderer  Spektralklassen 
und  an  Nebelsternen  für  Durchmesser  ergeben 
werden.     An   der  Richtigkeit  der  Messung  selbst 


638 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


aus  Interferenzen  ist  nicht  zu  zweifeln,  nachdem 
eine  Kontrollmessung  an  einem  sehr  engen  Doppel- 
stern das  gewünschte  übereinstimmende  Ergebnis 
gezeitigt  hatte.  ""' 


Riem. 


Weltauschaiiung  von  Naturvölkern. 

Als  maßgebend  für  die  Bestimmung  und  Ab- 
grenzung der  Kulturen  der  Naturvölker  betrachtet 
Günter  Teßmann^)  die  Gesamtheit  der  An- 
schauungen im  Gebiete  der  Religion,  des  Zauber- 
glaubens und  des  Glaubens  an  verschiedene  Kräfte 
in  Stoffen  und  daneben  auch  noch  die  gesell- 
schaftlichen Erscheinungsformen.  Alles  andere, 
meint  T.,  „hat  für  die  Festlegung  einer  Kultur 
nur  sehr  geringen,  meist  gar  keinen  Wert.  .  .  . 
Waffen  und  Musikinstrumente,  Kleidung  und 
Schmuck,  werden  im  Handumdrehen  angenommen 
oder  aufgegeben,  Wirtschaftsformen,  Technik  und 
Hausbau  mehr  oder  weniger  schnell,  die  Welt- 
anschauung aber  zuletzt  oder  niemals".  Als  Bei- 
spiele zieht  T.  die  Weltanschauungen  der  Stämme 
Kameruns  heran,  bei  welchen  er  drei  Urkulturen, 
die  auf  bestimmten  Weltanschauungen  beruhen, 
gefunden  hat,  nämlich  die  Zauberkultur,  Ver- 
wandlungskultur und  Seelenkultur.  Diese  Ur- 
kulturen sind  jedoch  durchaus  nicht  etwa  auf 
Kamerun  oder  auf  Afrika  beschränkt,  sondern  sie 
sind  überall  in  der  alten  Welt  die  Grundlagen 
der  Kulturentwicklung.  Dasselbe  wird  in  bezug 
auf  Amerika  angenommen,  doch  bleibt  erst  fest- 
zustellen, ob  sie  dort  in  relativ  reiner  Form  wie 
in  der  alten  Welt  vorkommen  und  welche  Ent- 
wicklung sie  genommen  haben. 

Die  älteste  der  drei  Urkulturen  ist  die  Zauber- 
kultur. Sie  ist  in  Australien  am  weitesten  aus- 
gebreitet und  wird  deshalb  auch  Australkultur 
genannt.  In  Afrika  gehören  zu  ihren  Trägern 
einige  kleine  Stämme  in  Nordkamerun,  doch  sind 
von  ihr  auch  viele,  vielleicht  die  meisten  anderen 
Stämme  dieses  Festlandes  mehr  oder  weniger  be- 
einflußt. Die  Grundlage  der  Weltanschauung 
dieser  Stämme  ist  (im  Gegensatz  zu  allen  anderen 
Kulturen)  das  Nichtbestehen  eines  Gottes  im 
Sinne  einer  unsterblichen  übersinnlichen  Persön- 
lichkeit, zu  der  die  Menschen  —  oder  ein  Teil 
von  ihnen  —  nach  dem  Tode  wieder  hinstreben. 
Der  Stammvater  der  Menschen  ist  durchaus 
menschlich  gedacht,  aber  doch  als  mit  außerge- 
wöhnlichen Kräften,  nämlich  Zauberkräften,  aus- 
gestattet. Daneben  besteht  ein  Urgedanke  der 
Zeugung.  Für  die  Stämme  mit  reiner  Zauber- 
kultur ist  der  Tod  zugleich  der  Beginn  eines 
neuen  Lebens  auf  der  Erde  in  derselben  Form, 
insofern  der  Verstorbene  in  einem  Kinde  aufs 
neue  geboren  wird.  Die  Kameruner  Zauber- 
stämme haben,  wahrscheinlich  infolge  Beein- 
flussung durch  die  Bantu,  den  Glauben  an  eine 
Wiedergeburt  aufgegeben,  der  in  Australien  noch 


')  Zeitschrift  für  Ethnologie,    51.  Jahrgang,  S.    132  —  162. 


allgemein  besteht.  Der  Zauberglaube  der  Kame- 
runer unterscheidet  sich  von  dem  anderer  Völker 
dadurch,  daß  bei  ihm  der  gute  Zauber  allein 
herrschend  ist;  das  Böse  steht  in  einem  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zu  ihm.  Ihren  stärksten 
Ausdruck  findet  die  Zauberkultur  in  den  geheimen 
Veranstaltungen. 

Die  Kultur  der  afrikanischen  Pygmäen  (Rassen- 
zwerge) nennt  Teßmann  Ver wandln ngs - 
kultur  oder  nigritische  Kultur.  Ihre  Grundlage 
ist  ein  Monotheismus  in  ziemlich  ursprünglicher 
Gestalt.  Das  wichtigste  Merkzeichen  ist  der  Ge- 
danke, daß  sich  die  Menschen  nach  dem  Tode 
verwandeln,  und  zwar  in  Tiere.  Teilweise  ist 
schon  eine  Trennung  in  gute  und  böse  Menschen 
entstanden,  von  denen  die  ersteren  nach  dem 
Tode  in  unsichtbarer  Gestalt  zu  Gott  zurück- 
kehren, während  sich  die  bösen  in  Tiere  wandeln. 
Kulte  gibt  es  im  Bereich  der  Verwandlungskultur 
nicht.  Ebenso  wie  die  Zauberkultur  alles  mit 
dem  Verzauberungsgedanken  erklärt,  geht  bei  der 
Verwandlungskultur  alles  auf  Verwandlung  zurück. 
Dualismus  von  Leib  und  Seele  gibt  es  in  keiner 
Form. 

Vertreter  der  Seelenkultur  oder  Südsee- 
kultur sind  in  ganz  Afrika  nur  die  Bubi  auf  Fer- 
nando Poo.  Die  Einwirkungen  dieser  Kultur 
zeigen  sich  jedoch  im  größten  Teile  Afrikas  mehr 
oder  weniger  stark.  Die  reinste  Ausprägung  hat 
sie  in  Mikronesien,  aber  auch  in  der  polynesischen 
Kultur  ist  sie  das  Grundelement.  Bei  der  Seelen- 
kultur hat  der  Gottesbegriff  die  stärkste  Kraft 
und  größte  Ausdehnung  erlangt.  Gott  wird  als 
König  in  unserem  Sinne  gedacht  und  er  herrscht 
in  einer  prächtig  himmlischen  Stadt.  Bei  ihm 
sind  alle  abgeschiedenen  guten  Menschen  ver- 
sammelt, die,  welche  seinen  Willen  befolgt  haben. 
Der  Tod  wird  durch  Eingriffe  böser  Seelen  ver- 
storbener Menschen  erklärt,  die  sich  besonders 
im  Wasser  festsetzen  und  von  dort  aus  auf  die 
Lebenden  Angriffe  unternehmen.  Sie  sind  die 
Verursacher  aller  Übel,  Krankheiten  und  zuletzt 
des  Todes.  Die  guten  Seelen  wirken  den  bösen 
entgegen  und  sie  sind  auch  Vermittler  zwischen 
Gott  und  den  Menschen.  Einen  Zauberglauben 
kennt  diese  Kultur  gar  nicht. 

Aus  den  drei  Urkulturen  haben  sich  nach 
Teßmanns  Auffassung  die  höheren  Kulturen 
entwickelt,  und  zwar  durch  gegenseitige  Beein- 
flussung. Als  Hauptkennzeichen  auch  aller  höheren 
Kulturen  gilt  die  Auffassung  vom  Tode.  Eine 
derselben  ist  die  Auferstehungskultur,  die 
wohl  mit  hamitischen  Hirtenvölkern  aus  Asien 
nach  Afrika  kam.  Sie  ist  auf  dem  Boden  der 
Verwandlungskultur  erwachsen  und  von  der  Seelen- 
kultur beeinflußt.  Der  Gottesgedanke  und  die 
Abhängigkeit  der  Menschen  von  dem  übersinn- 
lichen Gott  steht  stark  im  Vordergrund,  während 
er  bei  den  Völkern  der  ethischen  Kultur 
wieder  mehr  zurücktritt. 

H.  Fehlinger. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


639 


Eiufluß  des  Uiitergruudes  auf  das  Gedeiheu 
des  Rehes.  ^) 

„Jura,  Muschelkalk  und  Diluvium  erzeugen 
stärkeren  Körperbau  und  bessere  Geweihe"  sagt 
Forstmeister  Lanz  vom  Rot-  und  Rehwild  in 
Wüttemberg.  Ähnlich  v.  Gagern  bezüglich  des 
krainisch  •  kroatischen  Uskokengebirges.  Rose 
wies  die  Bedeutung  harten  Trinkwassers  für  die 
Güte  der  menschlichen  Zähne  nach. 

Die  Größe  von  Rot-  und  Rehwild  ist  aber 
nicht  bloß  von  der  chemischen  Beschaffenheit  des 
Untergrundes  abhängig.  Eine  wichtige  Rolle 
spielt  auch  das  Klima.  Seit  Bergmann,  1848, 
weiß  man  durch  Feststellungen  bis  in  die  neueste 
Zeit,  daß  kühleres  Klima,  in  offenbarer  Regulation 
des  Wärmehaushalts  der  Tiere,  größere  Rassen 
erzeugt.  Hirsch  und  Reh  nehmen  in  Eurasien  im 
allgemeinen  in  Richtung  der  Zunahme  des  Tem- 
peraturminimums an  Größe  zu.  —  Eine  andere 
Fehlerquelle  wäre  die  Abhängigkeit  des  Gewichts 
von  der  Jahreszeit.  Hesse  schaltet  sie  dadurch 
aus,  daß  er,  wo  nicht  genügend  verteilte  Einzel- 
angaben zur  Berechnung  des  wirklichen  Durch- 
schnittsgewichts D  vorliegen,  aus  den  zehn  höch- 
sten vorliegenden  Gewichtsangaben  deren  Durch- 
schnittszahl „Max.  D."  berechnet.  Anderweitige, 
nicht  gerade  grundsätzlich  vermeidbare,  aber  doch 
in  Betracht  gezogene  Fehlerquellen  sind:  Hand- 
habung des  Abschusses,  da  der  Heger  zunächst 
in  erster  Linie  das  Kümmerwild  abschießt,  später 
umgekehrt  um  so  besseren  Wildstand  hat;  die 
Pflege  des  Wildes  durch  Fütterung;  Einwirkung 
des  Äsens  auf  gedüngten  Feldern;  endlich  Ent- 
artung bei  inselartig  abgeschlossenen  Wildbestän- 
den und  künstliche  Blutauffrischung.  —  „Gewicht 
und  Geweihbildung  gehen  durchaus  nicht  parallel, 
die  stärksten  Hirschstangen  werden  oft  bei  Stücken 
getroffen,  die  das  Höchstgewicht  nicht  erreichen". 
Teilweise  durch  Milberücksichtigung  der  Geweih- 
und  Gehirnbildung,  meint  Hesse,  kamv.  Dom- 
browski  zu  keinem  abschließenden  Ergebnis 
über  die  Abhängigkeit  des  Rehwilds  vom  Unter- 
grund. Die  von  Hesse  verwendeten  Gewichts- 
angaben, zum  Teil  aus  Jagdzeitungen,  sind  die  des 
Gewichts  ohne  Aufbruch  und  Krone,  somit  auch 
unabhängig  vom  Füllungszustand  von  Darm  und 
Blase. 

Nach  solchen  Angaben  wird  nun  zunächst  auch 
innerhalb  Europas  die  Zunahme  der  Durchschnitts- 
größe nach  Osten  hin  für  Hirsch  und  Reh  be- 
stätigt und  in  Übereinstimmung  mit  der  in  Jäger- 
kreisen geäußerten  Auffassung  als  Klimawirkung 
gedeutet.  —  Württemberg  liefert  sodann  beson- 
ders günstiges  Material  für  die  Vergleichung  von 
Rehgewichten  aus  benachbarten  Gebieten  von 
verschiedenem  Untergrund :  Schwarzwald  kalkarm, 
Schwäbische  Alb  aus  Jurakalk;  im  Hügelland 
wechseln  Muschelkalk,  Keuper  und  Diluvium.  Das 
Oberland  südlich  der  Donau  liegt  auf  kalkreichen 

')  Zoologische  Jahrbücher,  Abt.  f.  allgem.  Zool.,  Bd.  38, 
Heft  2,   1921. 


alpinen  Schottern.  Klima  „nahezu  einheitlich". 
Zahlenmaterial  von  der  Forstdirektion  zu  Stutt- 
gart, nur  auf  die  vom  Staate  selbst  verwalteten 
Jagden  bezüglich. 

Der  Gesamtdurchschnitt  des  Rehgewichts 
1910—1914  betrug  dort  13,8  kg  nach  15  339  Einzel- 
feststellungen :  .,D  ( 1 5  3  39)  =  13,8  kg."  Die  Durch- 
schnittszahlen D  für  einzelne  Forstbezirke  schwan- 
ken zwischen  16,2  und  11,4  kg.  Über  dem 
Gesamtdurchschnitt  liegen  36  Bezirke,  vor  allem 
die  meisten  Bezirke  mit  Jurakalk,  Muschelkalk, 
Anhydrit  und  diluvialem  Löß  und  Lehm.  Nahe 
dem  Durchschnitt  (13,7  bis  13,9  kg)  liegen  12  Be- 
zirke, unter  dem  Durchschnitt  51  Bezirke,  dar- 
unter alle  Schwarzwaldbezirke;  die  zwölf  mit  den 
niedersten  Zahlen  liegen  alle  bis  auf  einen  im 
Schwarzwald,  wo  übrigens  auch  kein  gedüngter 
Untergrund  vorkommt.  —  Für  Ausnahmereviere, 
die  auch  vorhanden  sind,  dürften  die  oben  er- 
wähnten unvermeidbaren  Fehlerquellen  meist  die 
genügende  Erklärung  enthalten.  Meist  ist  dann 
das  Rehgewicht  niedriger  als,  besonders  auf  Jura- 
boden, erwartet. 

Eine  ebensolche  Tabelle  wie  für  Württemberg 
gibt  Hesse  für  den  Regierungsbezirk  Hildesheim ; 
hier  sind  die  Durchschnittsgewichte  durchschnitt- 
lich etwas  höher,  wofür  eine  bestimmte  Erklärung 
nicht  gegeben  werden  kann,  ihre  Unterschiede 
geringer,  16,3 — 13,1;  wohl  weil  die  Waldungen, 
meist  auf  kalkarmem  Boden,  gleichartigen  Unter- 
grund haben.  —  Bei  Oberförsterei  liefeld  am 
Südharz  wiegen  die  Rehe  im  Schutzbezirk  Ilefeld 
D  (58)  =  16,2  kg,  Max.  D.  (10)  =  18,5  kg,  die 
aus  dem  Schutzbezirk  Birkenmoor  nur  D  (25)  = 
15.3  kg.  Max.  D.  (10)  =  16,5  kg;  dort  Porphyrit, 
hier  dagegen  sehr  kalkarmer  Grauwacke- Verwitte- 
rungsboden, bei  gleicher  Hege  und  Pflege  und 
gleichem  Klima.  —  Noch  eine  Anzahl  ähnlicher 
Beispiele  bieten  ähnliche  Belege.  —  Die  Hirsche 
liefern  nur  wenige  Beiträge,  da  die  sorgsamere 
Obhut  des  Menschen  die  Abhängigkeit  vom  Boden 
sehr  verschleiert.  Im  württembergischen  Schwarz- 
wald D(i5)=  96,6  kg,  Höchstgewicht  iio  kg, 
bei  Leonberg  auf  Muschelkalk  wurden  dagegen 
Hirsche  mit  Gewichten  von  180  und  210  kg  ge- 
schossen ,  usf.  Die  schottischen  und  norwegischen 
Hirsche,  auf  Urgestein,  bleiben  wesentlich  kleiner 
als  die  schwedischen  Hirsche  in  Süd-Schonen. 

Welcher  Art  ist  nun  der  Zusammenhang 
zwischen  dem  Kalkgehalt  des  Bodens  und  der 
offenbar  günstigen  Entwicklung  des  Wildes  auf 
kalkreichem  Boden  ?  „Für  den  Pflanzenfresser  gilt, 
wie  für  die  Pflanze,  das  Li ebigsche  Gesetz  vom 
Minimum:  die  Verwertungsmöglichkeit  der  Nah- 
rung hängt  ab  von  der  Menge  desjenigen  Stoffes, 
der  am  wenigsten  vorhanden  ist,  und  kann  nur 
im  entsprechenden  Verhältnis  zur  Menge  des 
Minimumbestandteils  im  Körper  verarbeitet  wer- 
den. Raubtiere  finden  dagegen  die  Stoffe,  deren 
sie  bedürfen,  schon  gesammelt  vor. .  ."  Die  Auf- 
nahme der  Bodensalze  seitens  des  Wildes  geschieht 
in  den  seltensten  Fällen  an  natürlichen  Salzlecken, 


640 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  44 


meist  in  der  Pflanzennahrung;  diese  enthält  Ka- 
lium, Natrium,  Eisen  in  genügenden  Mengen, 
Kalk  in  sehr  wechselnden,  auch  innerhalb 
einer  Pflanzenart  stark  vom  Kalkgehalt  des  Bodens 
abhängigen  Mengen,  Phosphorsäure  in  ge- 
ringen, ziemlich  gleichmäßigen,  aber  manchmal 
auch  vom  Kalkgehalt  abhängigen :  kalkarmer  Bo- 
den trägt  „ungesundes"'  Heu  mit  knapp  halb- 
normalem Kalk-  und  Phosphorsäuregehalt;  dieses 
erzeugt  Knochenbrüchigkeit  der  Rinder.  Wahr- 
scheinlich werden  Kalk-  und  Phosphorsäuregehalt 
der  Nahrung  auch  vom  pflanzenfressenden  Tier 
nicht  gleichmäßig  ausgenutzt,  da  durch  Kellner 
1906  nachgewiesen  ist,  daß  Kalkzusatz  die  Aus- 
nutzung der  Phosphorsäure  aus  verfüttertem  Di- 
kalziumphosphat  erhöht.  Reichlicher  Kalkgehalt 
ist  also,  außer  an  sich,  auch  durch  Begünstigung 
der  Ausnutzung  der  Phosphorsäure  nützlich.  Zeit- 
weilig kalkarme  Nahrung  läßt  in  Südafrika  die 
Ochsen  stundenlang  Knochen  käuen.  Tharandter 
Waldheu  mit  normalem  Phosphor-  und  abnorm 
niedrigem  Kalkgehalt  benachteiligte  das  damit 
gefütterte  Wild,  so  daß  es  kränkelte,  schwach 
wurde ,  spät  aufsetzte  und  viel  Fallwild  vorkam, 
welche  t'belstände  man  durch  Verabreichung  von 


kalkreicherem  Eichenlaub  beseitigte.  Nicht  die 
Menge  des  Futters,  sondern  dessen  Beschaffenheit 
ist  bedingend;  sonst  müßten  in  wildarmen  Harz- 
bezirken bei  besonders  reichlicher  Äsung  die  Rehe 
besonders  groß  werden,  was  nicht  der  Fall  ist ; 
und  kalkarme,  sonst  gesunde  Pflanzen  genügen 
auch  in  Menge  nicht.  Die  natürliche  An- 
passung an  geringeren  Kalkgehalt  ist 
auf  dem  Wege  denkbar,  daß  größere  Tiere 
einer  Art  mehr  kränkeln  und  schneller  im  Kampf 
ums  Dasein  zugrunde  gehen  als  kleinere,  die 
somit  überleben;  denn  an  Hunden  fand  E.  Voit 
in  Fütterungsversuchen,  daß  die  kleinrassigen, 
langsamer  wachsenden  Tiere  durch  Kalkmangel 
viel  weniger  geschädigt  werden  als  großrassige.  — 
Die  Kalkarmut  der  meisten  unserer  Mittel- 
gebirge wirkt  dem  Gebirgsklima,  das  mit  dem 
starken  Herabsinken  der  Temperatur  im  Winter 
die  Wichtigkeit  des  Wildes  fördern  sollte,  ent- 
gegen; daher  wird  herkömmlich  vom  Gebirgsbock 
und  Gebirgshirsch  als  kleineren  Formen  gesprochen. 
Kalkgebirge  sind  dagegen,  da  der  chemische  und 
der  Klimaeinfluß  zusammenkommen,  besonders 
günstig.  V.  Franz. 


Bücherbesprechungen. 


Born,     A.,      Allgemeine     Geologie      und 
Stratigraphie;    II.    Band    der    naturwissen- 
schaftlichen Reihe  der  „Wissenschaftlichen  For- 
schungsberichte".    Dresden   und   Leipzig  192 1, 
Verlag  von  Th.  Steinkopf 
Der    vorliegende   Band    gibt    einen  Überblick 
über  die  wesentlichsten  Fortschritte,   die  in  Geo- 
logie und  Stratigraphie   während    der  Kriegsjahre 
zu  verzeichnen  sind,  im  Sinne  eines  kurzen  Weg- 
weisers für  alle  die,  die  während  dieser  Jahre  die 
wissenschaftliche  Literatur  nicht  verfolgen  konnten. 
Es  sind  ausführliche  Literaturlisten  zusammen- 
gestellt,  in   denen   kaum   wichtigere  Arbeiten  zu 
vermissen    sind.      An     diese    schließt    sich     eine 
referierende   Besprechung    einzelner   Arbeiten   an. 
Als  Rückgrat    der   Gliederung   dienen  die  großen 
Gebiete    der    Allgemeinen   Geologie,    der    Strati- 
graphie und  der  Regionalen  Geologie.     Innerhalb 
dieser  ist  die  Literatur  für  einzelne  wichtige  Unter- 
kapitel alphabetisch  geordnet  aufgeführt. 

Dem  Verf.  werden  viele  Dank  für  diese  ge- 
schickte Zusammenfassung  wissen,  die  mit  der 
Schwierigkeit  zu  kämpfen  haben,  sich  über  große 


Wissenszweige   rasch  orientieren    zu  müssen.     Sie 
erfüllt  ihren  Zweck  in  vollem  Maße.     Krenkel. 


Broili,  F.,  P  a  1  ä  o  z  o  o  1  o  g  i  e.  Sammlung  Göschen, 
Heft  836;  mit  118  Abb.  1921. 
Einer  der  besten  deutschen  Paläontologen  gibt 
in  der  vorliegenden  Paläozoologie ,  dem  notwen- 
digen Seitenstück  zu  der  in  der  gleichen  Samm- 
lung erschienenen  „Allgemeinen  Paläontologie" 
von  Abel,  einen  Überblick  über  die  systematische 
Paläontologie.  Trotz  der  durch  den  knappen 
Raum  bedingten  Kürze  der  Darstellung  sind  die 
wichtigsten  Diagnosen  bis  zu  den  Unterklassen 
und  Ordnungen  gegeben;  in  der  Aufzählung  und 
Beschreibung  von  Gattungen  ist  dagegen  richtiger- 
weise eine  starke  Beschränkung  geübt  worden. 
Alle  Angaben  sind  knapp,  aber  stets  zuverlässig. 
Als  Einführung  in  den  ungeheuer  vielgestaltigen 
Stoff  ist  die  Paläozoologie  Broilis  warm  zu 
empfehlen.  Hervorzuheben  ist  die  geschickte 
Auswahl,  Fülle  und  Güte  der  Abbildungen,  die 
die  Darstellung  wesentlich  unterstützen. 

Krenkel. 


Inlialt:  R.  Tischner,  Homöopathie  und  moderne  Biologie.  S.  625.  G.  Grimpe,  Chelifer  als  Schmarotzer.  S.  628.  ■ — 
Einzelbericbte :  Gildemeister,  Die  Erforschung  der  menschlichen  Hörgrenze.  S.  631.  G.  Flink,  G.  Aminoff, 
R.  Manzelius,  Neue  Mineralien.  S.  633.  L.  Vegard,  Die  Konstitution  der  Mischkristalle  und  die  Raumerfüllung 
der  Atome.  S.  635.  Hugo  Kühl,  Bekämpfung  von  Pflanzenschädlingen  mit  kolloidalem  Schwefel.  S.  636.  Wiechert, 
Über  den  Äther  im  Weltbild  der  Physik.  S.  637.  Pickering,  Die  Messung  des  Durchmessers  eines  Fixsterns.  S.  637' 
G.  Teßmann,  Weltanschauung  von  Naturvölkern.  S.  638.  Hesse,  Einfluß  des  Untergrundes  auf  das  Gedeihen  des 
Rehes.  S.  639.  —  Bücherbesprecbungen;  A.  Born,  Allgemeine  Geologie  und  Stratigraphie.  S.  640.  F.  Broili, 
Paläozoologie.  S.  640. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Fätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d,  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  ^6.  Band. 


Sonntag,  den  6.  November  1921. 


Nummer  45« 


Über  den  Segelflug  der  Vögel  und  das  Fliegen  der  Fische. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Gustav  Lilienthal,    Lichterfcldc. 
Mit  6  Te.xtabbildungen. 


Der  von  Herrn  Dr.  Frölich  in  Nr.  13  ver- 
faßte Artikel  über  den  Segelflug  und  verwandte 
Bewegungen  in  der  Luft  und  dem  Wasser  ent- 
hält in  mehreren  Punkten  Widersprüche  mit  den 
wirklichen  Erscheinungen  und  den  physikalischen 
Gesetzen  der  Bewegung  der  Gase.  Was  z.  B. 
über  das  Schwimmen  der  fliegenden  Fische  ge- 
sagt ist  bezüglich  der  Verwendung  der  Schwimm- 
blase und  der  Flugflossen,  stimmt  mit  meinen 
eingehenden  Beobachtungen  nicht  überein.  Die 
Fische  benutzen  im  Wasser  ihre  großen  Brust- 
flossen überhaupt  nicht.  Diese  sind  vielmehr 
eng  an  den  Leib  angelegt.  Sie  treiben  sich  nur 
durch  die  Schwanzflosse  vorwärts  und  breiten  die 
Flugflossen  nur  in  der  Luft  aus.  Die  große 
Schwimmblase  wird  ihnen  ein  verhältnismäßig 
schnelles  Auftauchen  im  Wasser  ermöglichen  und 
das  dadurch  erhaltene  Bewegungsmoment  das 
Herausschnellen  aus  dem  Wasser  erleichtern.  Die 
bedeutend  nach  unten  verlängerte  Schwanzflosse 
gestattet  noch  den  Vortrieb,  wenn  der  Fisch  schon 
zum  großen  Teil  aus  dem  Wasser  heraus  ist, 
also  dann  keinen  Wasserwiderstand  mehr  zu  über- 
winden hat.  Hierdurch  nimmt  seine  Vorwärts- 
geschwindigkeit dann  beträchtlich  zu.  Er  bedarf 
der  großen  Vorwärtsgeschwindigkeit  aber,  um 
für  seine  Flossen  den  hebenden  Luftwiderstand 
zu  erzeugen.  Der  Stirnwiderstand  des  Fisches 
gegen  den  Wind  verzehrt  nach  und  nach  die 
Eigengeschwindigkeit.  Der  Fisch  sinkt  dann  zum 
Wasser  zurück.  Unter  günstigen  Windverhält- 
nissen kann  sich  der  Fisch  bis  5  m  hoch  und 
100  m  weit  in  der  Luft  halten  (Abb.   i). 

Daß  die  Luft  der  Schwimmblase  sich  einseitig 
nach  der  Richtung,  wo  der  Wasserdruck  ver- 
mindert ist,  ausdehnt,  widerspricht  dem  Verhalten 
der  Gase,  welche  immer  auf  alle  Teile  des  ein- 
schließenden Gefäßes  gleichmäßig  drücken. 

Sehr  richtig  bemerkt  Herr  Dr.  Frölich,  daß 
das  Gefieder  des  Vogels  teilweise  beträchtlich 
dicker  ist  als  es  für  die  Wärmehaltung  nötig  wäre. 
Er  nimmt  an,  daß  der  bewegungslose  Segelflug 
durch  eine  Luftverdünnung  innerhalb  der  Feder- 
lagen infolge  des  Vorbeiströmen  des  Windes  zu- 
stande kommt.  Würde  eine  solche  Luftverdünnung 
eintreten  unter  den  Flügeln,  so  würde  diese  den 
Vogel  nicht  heben,  sondern  herniederziehen.  Schon 
aus  diesem  Grunde  ist  die  Annahme  hinfällig, 
aber  eine  solche  Luftverdünnung  kann  auch  inner- 
halb des  Federbelages  gar  nicht  eintreten,  weil 
er  eine  viel  zu  lockere  ungeschlossene  Masse 
bildet. 


Für  die  Wasservögel  dagegen  bilden  die  reich' 
lieh  dicken  Federbälge,  welche  gewissenhaft  von 
den  Vögeln  durch  eine  Absonderung  der  Bürzel- 
drüse eingefettet  und  dadurch  wasserabweisend 
gemacht  werden,   einen  vorzüglichen  Schwimmer. 


Abb.   I.     Fliegender  Fiscli. 

Die  große  untere  Schwanzilosse  gibt  dem  Kisch  noch  Vortrieb, 

während  sich  der  Rumpf  schon  aus  dem  Wasser  gehoben  hat 

und  die   l'Iügelflossen  ausgebreitet  sind. 


Abb.  2.     Möwen,  dem  Schiff  folgend. 

Hinlersteven  des  Schiffes. 

Die  Vögel  folgen  dem  Schiff  mit  .Seitenwind. 


642 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  45 


Ein  weiterer  Nutzen  einer  starken  Befiederung 
wird  am  Schluß  noch  hervorgehoben  werden. 

Der  mit  ruhig  ausgebreiteten  Flügeln  wage- 
recht  oder  aufsteigend  fliegende  Vogel  (Abb.  2)  kann 
dies  nur  durch  Überwindung  seines  Gewichtes  und 
Aufhebung  seines  Stirnwiderstandes  gegen  den 
anstehenden  Wind  erreichen.  Die  hierzu  erforder- 
liche mechanische  Arbeit  liefert  dem  Vogel  der 
Wind,  denn  ohne  Wind  ist  kein  Segeln  möglich 
und  findet  auch  nicht  statt. 


1  uf/'S/-ra/77.^^ . 


lofMro. 


l 


C\ 


jLuf/s/^rom 


Zcfffsfrojr? 


Auffs/rom 


Abb.  3.     Versuchsfläche  senkrecht   am  Rundlaufaim  befestigt,    die  Stromlinien  zeigend. 
Die  Scheibe  auf  dem  Draht  bewegt    sich    durch    die    Strömung   nach    vorn    und    oben. 


Abb.  4.     Vogelmodell. 

Oben  Vorderansicht,  unten   ünteransicht. 

Angesteckte  Fähnchen   zeigen   die  Richtung   des   Luftstromes. 


Ein  horizontal  wehender  Luftstrom  könnte  dem 
Vogel  diese  Arbeit  nicht  leisten,  da  sich  hieraus 
keine  gegen  den  Wind  selbst  gerichtete  Kraft  ohne 


Höhenverlust  ableiten  läßt.  Auch  Pulsationen  des 
Windes,  d.  h.  Schwankungen  in  der  Windstärke, 
wie  Langley  und  Lanchester  irrtümlich  an- 
nehmen, helfen  über  diese  Klippe  nicht  hinweg. 
Stärkere  Geschwindigkeitsänderungen,  wie  sie  nur 
ganz  ausnahmsweise  eintreten,  würden  nur  ganz 
geringe  hebende  Wirkung  theoretisch  errechnen 
lassen;  aber  selbst  hierdurch  könnte  der  Vogel 
eine  Vorwärtsgeschwindigkeit  nicht  aufrecht  er- 
halten, er  müßte  denn  Höhe  aufgeben,  also  Gleit- 
flüge einlegen.  Eine  solch 
wellenartige  Bewegung  findet 
aber  nicht  statt,  worüber  ich 
mich  durch  umfangreiche  Be- 
obachtungen überzeugt  habe. 
Der  Vogel  geht  zum  Segelfluge 
auch  bei  sonst  genügenden 
Wind  erst  über,  nachdem  er 
durch  Flügelschläge  zu  solcher 
Höhe  gelangt  ist,  wo  der  Wind 
stätig  ist.  Nur  über  dem  Meer 
segelt  der  Vogel  in  niedrigen 
Lagen,  weil  hier  der  Wind 
ungehemmt  gleichmäßig  weht. 
Was  Herr  Dr.  F  r  ö  1  i  c  h 
über  den  wellenartigen  Flug 
kleinerer  Vögel  bemerkt,  hat 
mit  dem  Segelflug  nichts  zu 
tun.  Es  sind  die  Flüge  der 
Finkenarten  gemeint,  die  durch 
energische  Flügelschläge  sich 
staik  vor-  und  aufwärtstreiben 
zu  einer  Wurfparabel  und  dann 
mit  angelegten  Flügeln  ihre 
Bewegungsenergie  ausnützen, 
bis  sie  dann  zu  neuen  Flügel- 
schlägen ausholen. 

Zur  Erklärung  des  Segel- 
flugs ist  zuerst  derNachweis  einer  Kraft- 
quelle zu  erbringen,  und  dann  die  Aus- 
nützung dieser  Kraft  zu  Auftrieb  und  Vor- 
trieb nachzuweisen.  Beides  soll  nach- 
stehend erfüllt  werden.  Wie  in  dem  Buch 
„Der  Vogelflug" ')  bereits  1886  veröffent- 
licht wurde,  erfahren  alle  bei  Wind  in 
der  Luft  schwebende  Körper  einen  Auf- 
trieb von  4".  Veranlaßt  wird  diese  auf- 
steigende Wirkung  durch  die  Reibung  des 
Windes  an  der  Erdoberfläche.  Durch 
meine  Untersuchungen  wurde  ferner  fest- 
gestellt, daß  dicke  Flächen  einen  stärkeren 
Auftrieb  erhalten  als  dünne  Profile.  Zu 
dieser  Annahme  führten  die  Beobachtun- 
gen ,  welche  ich  an  Gegenständen  in 
schnellfließenden  Wasserläufen  anstellte. 
Experimente  mit  verschieden  geformten 
Flächen  im  Wind  bestätigten  die  gleiche 
Erscheinung  in  der  Luft. 

Vergleichende  Messungen   der  Flügel- 

')  Der  Vogelflug  von  Otto  Lilienthal.  R.  Olden- 
burgs Verlag,  München.  II.  Auflage  von  Gustav  Lilien- 
thal. 


ZofZ-j/rorrT 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


643 


profile  von  Seglern  und  Nichtseglern  zeigten  die 
Verdickung  der  Seglerflügel  und  auch  die  größere 
Länge  der  dicken  Ober-  und  Unterarmglieder. 

Durch  diese  Erkenntnis  ergab  sich  die  größere 
Tragewirkung  des  Windes  auf  die  Flügel  der 
Segler  gegenüber  denen  der  Nichtsegler.  Dies 
ist  aber  noch  keine  Erklärung  für  den  Vortrieb 
des  Vogels  gegen  den  Wind  bzw.  eine  Erhaltung 
der  Geschwindigkeit,  welche  er  sich  vorher  durch 
Flügelschläge  gegeben  hatte.  Selbst  wenn  der 
Vogel  durch  den  Wind  nicht  zurück-  sondern  nur 
aufwärtsgetrieben  würde,  müßte  er  durch  zeit- 
weises Aufgeben  von  Höhe  einen  wellenartigen 
Flug  ausüben.  Durch  eingehende  Beobachtungen 
habe  ich  jedoch  festgestellt,  daß  der  Segler  nie- 
mals einen  solchen  Flug  ausführt.     Mit   der   Uhr 


Seite  bildet  sich  ein  rücklaufender  Wirbel  in  dem 
Sinne,  daß  die  Luft  die  Flügelvorderkante  über- 
schießt und  dann  in  der  Nähe  des  F'lügelhinter- 
randes  umwendet  und  von  hinten  nach  vorn 
strömt.  Die  Spiralen  des  Wirbels  werden  dabei 
seitlich  ausgezogen,  ähnlich  wie  sich  die  Hörner 
des  Widders  winden.  Dieser  seitliche  Abfluß  ist 
für  den  Vogel  von  der  allergrößten  Bedeutung. 
Vom  Unterarmgliede  nach  dem  Rumpf  zu  und 
nach  der  Flügelspitze  hat  der  Vorderflügel  eine 
schrägabwärts  gerichtete  Neigung.  Es  entsteht 
daher  durch  die  seitliche  Strömung  der  Luft  Auf- 
trieb wie  unter  einem  Drachen  oder  auch  wie 
bei  den  üblichen  Flugzeugen.  Dabei  besteht  aber 
ein  prinzipieller  Unterschied.  Der  Drachen  wie 
das  Flugzeug  erhalten  neben   dem  Auftrieb   auch 


Abb.  5.     Apparat  zum  Messen  von  Vor-  und  Auftrieb. 

Die  Versuchsfläche  wird  angehoben  und  gegen  den  Wind  vorgetrieben. 

Oben  links  Windfahne. 


Abb.  6.     Versuchsfläche. 

Im  Winde  hängend  und  vorgetrieben. 

Versuchsturm  20  m  hoch. 


in  der  Hand  habe  ich  einmal  meine  Mitreisenden, 
am  Hinterteil  des  Schiffes  stehend,  auf  eine  Möwe 
aufmerksam  gemacht,  welche  45  Minuten  lang 
flügelschlaglos  dem  Schiff  folgte,  ohne  dabei  ihren 
Standpunkt  in  der  Luft  mehr  als  einen  Meter  zu 
ändern. 

Jedenfalls  erhält  der  Vogel  bei  entsprechender 
Windstärke  einen  Überschuß  an  Auftrieb  gegen- 
über seinem  Gewicht.  Wie  dieser  Überschuß  in 
Vortrieb  umgelenkt  wird,  habe  ich  zum  Gegen- 
stand weiterer  Studien  gemacht. 

Versuchsflächen  von  Profil  des  Fregatvogel- 
flügels  am  Unterarm  zunächst  gegen  ruhende 
Luft  bewegt  und  mit  kleinen  Fähnchen  besteckt, 
ließen  den  Stromlinienverlauf  deutlich  erkennen 
(Abb.  3  u.  4).  An  der  Oberseite  folgt  die  Luft  der 
konvex  geformten  Oberfläche,  aber  an  der  Unter- 


erheblichen Rückwärtsdruck.  Beim  Drachen  nimmt 
die  Schnur  diesen  Druck  auf,  und  beim  Flugzeug 
wird  die  gesamte  Motorleistung  zur  Überwindung 
desselben  verbraucht. 

Da  beim  Vogel  die  Wirkung  des  Luftwider- 
standes um  90"  seitlich  gedreht  ist,  liegt  die 
wagerechte  Komponente  desselben  in  der  Längs- 
richtung des  Flügels.  Es  kann  daher  keine  Hem- 
mung der  Vorwärtsbewegung  mehr  eintreten. 
Die  seitlichen  Kräfte,  welche  auf  beide  Flügel 
wirken,  heben  sich  gegenseitig  auf. 

Es  bliebe  nur  noch  der  Nachweis  zu  erbringen 
über  die  Aufhebung  des  Stirnwiderstandes.  Hierzu 
steht  die  vortreibende  Wirkung  der  Wirbelluft 
auf  den  Unterarm  und  unter  dem  Vogelschwanz 
zur  Verfügung.  Versuche  mit  solchen  Versuchs- 
flächen und  ganzen  Vogelmodellen,  die  im  freien 


044 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  45 


Wind  aufgehängt  wurden ,  haben  bewiesen ,  daß 
bei  starkem  Auftrieb  ein  den  Stirnwiderstand  über- 
windender Vortrieb  vorhanden  war. 

Durch  eingehende  Messungen  beider  Kräfte 
ergab  sich  die  resultierende  Kraftrichtung  von  4" 
vor  die  Senkrechte  (Abb.  5   u.  6). 

Man  kann  wohl  annehmen,  daß  der  segelnde 
Vogel  mindestens  über  diese  Kraftwirkung  des 
Windes  verfügt  und  so  das  Rätsel  des  Segelflugs 
restlos  gelöst  ist. 

Die  außerordentlich  starke  Befiederung  der 
Armglieder  und  des  hinteren  Rumpfes  wie  auch 
die  Federhosen  der  Raubvögel  dienen  zur  Ver- 
dickung des  Profils,  und  es  sind  diese  kleinen 
Federn  vorzüglich  geeignet,  die  Bewegungsenergie 
der  Luft  aufzunehmen.  Auch  die  Richtung  der 
Lamellen  der  Federfahne  an    der  Flügelunterseite 


ist  immer  quer  zur  Richtung  der  Stromlinien,  so 
daß  möglichst  große  Flächenreibung  entsteht, 
während  an  der  Oberseite  der  Flügel  möglichst 
glatt  ist,  denn  hier  sind  die  Lamellen  der  Fahnen 
dicht  miteinander  verfilzt. 

Sache  der  Flugzeugindustrie  wäre  es  nun,  von 
dieser  Erkenntnis  Gebrauch  zu  mächen  und  un- 
sere zerstörten  und  genommenen  Flugzeuge  in 
verbesserter  Form  neu  zu  bauen. 

Selbst  bei  schwachen  Winden ,  welche  ein 
motorloses  Segeln  noch  nicht  gestattet,  gewährt 
das  Vogelflügelprofil  eine  erhöhte  Tragwirkung 
und  weniger  Widerstand  gegen  die  Vorwärts- 
bewegung. 

Durch  einen  Aufbau  unserer  Flugzeugindustrie 
in  diesem  Sinne  würden  wir  bald  die  Ausplünde- 
rung durch  den  Friedensvertrag  verschmerzen. 


Einzelberichte. 


Schlesiens  Stellaug  iu  tiergeographischer 
Hinsicht. 

Dem  rühmlichst  bekannten  Werke  „Schlesiens 
Pflanzenwelt"  seines  Vaters  hat  jetzt  F".  Fax: 
„Die  Tierwelt  Schlesiens"  zur  Seite  ge- 
stellt, ein  Werk,  dessen  Erscheinen  durch  den 
Krieg  lange  hinausgeschoben,  jetzt  aber  Dank 
der  finanziellen  Unterstützung  wohlhabender 
Gönner  der  Wissenschaft  und  dem  Entgegen- 
kommen der  Verlagsfirma  Gustav  Fischer,  Jena 
ermöglicht  worden  ist. 

Diesem  Werke  sei  der  Hauptsache  nach  das 
folgende  entnommen. 

Der  Lage  Schlesiens  im  Binnenlande  ent- 
sprechend gehört  seine  Tierwelt  zur  mitteleuro- 
päischen Fauna,  die  noch  jenseits  des  Bug  herrscht. 
Schlesien  nimmt  insofern  eine  Grenz-  oder  Mittel- 
stellung ein,  als  vielfach  östliche  Formen  in  ihm 
ihre  Westgrenze,  westliche  ihre  Ostgrenze  er- 
reichen. So  kommt  die  Steindrossel  in  Deutsch- 
land nur  in  Oberschlesien,  die  Faltereule  Flusia 
cheiranthi  nur  in  Bohrau  bei  Breslau  vor.  Mehr- 
fach begegnen  sich  stellvertretende  Formen  auf 
unserem  Gebiete,  so  nistet  die  westliche  Raben- 
krähe (Corvus  corone)  neben  der  östlichen  Nebel- 
krähe (Corvus  cornis)  in  der  niederschlesischen 
Heide,  so  die  Nachtigall  neben  dem  Sprosser  in 
Oberschlesien. 

Auch  von  Süden  her  dringen  fremde  Elemente 
besonders  durch  die  mährische  Pforte  vor,  die  in 
Schlesien  die  Nordgrenze  ihrer  Verbreitung  finden, 
so  geht  der  Bockkäfer  Dorcadium  fulvum  bis 
Ratibor,  die  Schnecke  Helix  austriaca  bis  Gogolin. 

Infolge  der  weiten  Entfernung  von  der  Küste 
sind  Vertreter  des  atlantischen  Faunenelementes 
sehr  spärlich  vorhanden,  ebenso  bedingt  die  ge- 
ringe Verbreitung  des  Kalkes  und  das  damit  ver- 
bundene Fehlen  größerer  Höhlen  eine  gewisse 
Armut  unserer  F'auna  an  kalkliebenden  und  Höhlen- 


tieren und  wegen  des  Mangels  an  Salzlagern  und 
Salinen  fehleti  auch  die  Charaktertiere  den  letzteren. 

Die  Zusammensetzung  der  Fauna  ist  natürlich 
nicht  nur  von  der  geographischen  Lage  des  Ge- 
bietes, sondern  auch  von  dessen  Meereshöhe  ab- 
hängig. Fax  unterscheidet  in  dieser  Hinsicht 
3  Zonen,  die  Ebene  bis  200  m,  das  Hügelland 
von  2CO — 500  m,  das  Bergland  von  500 — 1600  m 
und  darin  die  montane  Region  von  500 — 1250  m 
und  die  subalpine  von   1250 — 160O  m. 

Die  Ebene.  Die  schlesische  Acker- 
ebene hat  als  Kultursteppe  die  in  ganz  Mittel- 
europa dieser  Formation  zugehörige  Tierwelt; 
hervorzuheben  sind  in  ihr  der  Kunitzer  See  mit 
seiner  Möweninsel  (Bachmöwe)  und  das  Vogel- 
paradies im  Gebiete  des  künftigen  Staubeckens 
bei  Ottmachau.  —  Das  Odertal,  das  als  wichtige 
Zugstraße  vieler  Vögel  und  als  Einwanderungs- 
straße von  Nord  und  Süd  her  Bedeutung  hat, 
zerfällt  seiner  Natur  nach  in  2  Teile,  den  Ober- 
lauf bis  zur  Mündung  der  Malapane  und  den 
mittelschlesischen  Teil.  In  ersterem  ist  das  Tal 
schmal,  der  Fluß  reißender,  im  zweiten  erweitert 
sich  das  Tal,  tote  Arme,  parallel  laufende,  lang- 
sam fließende  Nebenflüsse  begleiten  den  Strom, 
Auwälder  zieren  seine  Ufer.  Alles  das  bedingt 
ein  reicheres  und  z.  T.  eigentümliches  Tierleben, 
das  sich  den  häufigen  Hochwassern  anpassen 
mußte.  Tiergeographisch  wichtig  ist  der  Kott- 
witzer  Wald  als  südlichste  Brutstätte  des  Säge- 
tauchers (Mergus  merganser).  —  Hohen  Genuß 
gewährt  dem  Naturforscher,  besonders  dem  Orni- 
thologen  ein  Besuch  der  Bartschniederung 
mit  ihren  zahlreichen  Wasserfäden  und  Teichen, 
in  der  er  die  Graugans  in  größeren  Mengen  be- 
obachten, günstigenfalls  auch  das  Horst  des 
Schreiadlers  sehen  kann.  —  Tiergeographisch 
wichtig  ist  die  niederschlesische  Heide  mit 
dem  Kohlfurter  Moor,  das  sich  als  eine  Zufluchts- 
stätte   von  Glazialrelikten    mannigfacher  Art    und 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


64  s 


von  Kulturflüchtern  erweist.  Auch  das  verlorene 
Wasser  bei  Fanten  und  der  Wasserwald  (Kreis 
Lüben)  enthalten    seltene  Käfer    als  Kiszeitrelikte. 

Das  Hügelland  Oberschlesiens  weist  trotz 
seiner  geringen  durchschnittlichen  Höhe  von 
200 — 300  m  doch  eine  Tierwelt  auf,  die  sonst 
höhere  Lagen  bevorzugt  (Falter)  und  zeigt  nahe 
Beziehungen  zum  polnischen  Jura(Heckenbraunelle, 
Gebirgsbachstelze),  auch  östliche  Formen  treten 
auf,  so  der  Baumschläfer  (Dryomys  dryas),  der  in 
Deutschland  nur  hier  vorkommt,  und  südliche 
Einwanderer  (Schlangenadler,  die  südeuropäische 
Ephippigera  vitium).  Im  Industriegebiet  treten 
die  Falter  vielfach  in  melanistischen  Formen  auf, 
die  Fax  dem  durch  die  rauchige  Luft  hervorge- 
rufenen Nebelreichtum  und  der  geringen  Sonnen- 
scheindauer zuzuschreiben  geneigt  ist.  —  Unter 
den  Vorbergen  der  Sudeten  mit  ihrer  sub- 
montanen Tierwelt  (Feuersalamander,  Schling- 
natter), beansprucht  das  Zobtengebirge  das  Haupt- 
interesse des  Zoologen ;  nicht  nur  sein  geologischer 
Aufbau,  die  Verschiedenartigkeit  der  Bewaldung, 
sondern  auch  seine  bedeutendere  Erhebung  be- 
wirken eine  größere  Differenzierung  der  Tierwelt. 
Die  Felsen  des  Zobtengipfels  beherbergen  die 
nordisch  alpine  Schnecke  Pupa  alpestris  und  die 
Schnecke  Patula  solaria  als  Relikt  der  Eiszeit. 
Die  sumpfigen  Silsterwitzcr  Wiesen  haben  den 
Sammlern  bis  in  die  neueste  Zeit  wertvolle  Funde 
von  Kleinfaltern  geliefert. 

Das  Bergland.  Wasserstar,  Alpenamsel 
und  Tannenhäher,  zahlreiche  Käfer  und  Falter, 
unter  diesen  der  im  vorigen  Jahrhundert  ausge- 
storbene schlesische  Apollo,  viele  Schnecken,  der 
Strudelwurm  Planaria  alpina  usw.  sind  entweder 
nur  in  den  Sudeten  oder  hauptsächlich  in  ihnen 
und  zwar  in  allen  ihren  Teilen  verbreitet  und 
geben  so  der  Fauna  einen  im  wesentlichen  einheit- 
lichen Charakter.  Im  subalpinen  Teil  des  Ge- 
birges finden  sich  außerdem  Tiere,  die  den 
niedrigeren  Teilen  fehlen,  z.  B.  der  Wasserpieper 
(Anthus  spinoletta).  Neben  diesen  gemeinsamen 
Zügen  zeigen  sich  aber  auch  sehr  auffallende 
Unterschiede  zwischen  den  beiden  Hauptteilen 
der  Sudeten.  Die  F"auna  des  Altvatergebirges  ist 
durch  die  Nähe  der  Karpathen  beeinflußt  und 
daher  weit  reichhaltiger  als  die  des  Riesengebirges. 
Das  Neißetal  bildet  eine  starke,  tiergeographische 
Scheidelinie,  die  von  mehr  als  100  Arten  nicht 
überschritten  wird.  Andererseits  ist  wieder  das 
Riesengebirge  im  Besitze  einer  Anzahl  Arten,  die 
den  Ostsudeten  fehlen,  teils  weil  dort  anstehende 
F'elsen  und  Schutthalden  weit  schwächer  ent- 
wickelt sind,  teils  weil  es  sich  um  nordische  Ein- 
wanderer handelt,  die  nicht  weiter  nach  Süden 
vordringen  konnten. 

Die  Fauna  der  Ostsudeten  entwickelt  sich 
weniger  auf  den  eintönigen  Grasmatten  des  Kam- 
mes, als  an  den  mit  üppiger  Vegetation  bedeckten 
Abhängen  der  Gebirgstäler,  besonders  des  Teß- 
tales.      Auf    dem    Schneeberge     erreichen     viele 


Karpathentiere    ihren    nördlichsten  Punkt,   so   die 
schön   kobaltblaue  Wegschnecke  Limax  schwabi. 

Weit  einförmiger  ist  die  Fauna  der  Westsu- 
deten; im  Eulengebirge  erreicht  der  F'alter  Lime- 
nitis  sibilla  seinen  westlichsten  Standpunkt.  Bad 
Reinerz  mit  seiner  reizenden  Umgebung  bietet 
dem  Vogelkenner  wie  dem  Entomologen  reiche 
Gelegenheit  zur  Beobachtung,  und  die  Seefelder 
am  Fuße  der  hohen  Mense  enthalten  auf  ihrem 
jetzt  als  Naturdenkmal  geschätzten  Moorgebiete 
viele  Seltenheiten.  —  Im  Boberkatzbachgebirge  er- 
wähnen wir  die  Schnecke  Patula  rupestris  als 
Eiszeitrelikt  (Kitzelberg  bei  Kauffung). 

Die  Waldregion  mit  ihrer  einförmigen  Be- 
forstung  bietet  wenig  Interessantes.  Weit  er- 
giebiger sind  die  subalpinen  Regionen  für  den 
Zoologen ;  besonders  die  iVIoorwiesen  des  Kammes 
(weiße  und  Eibwiese)  enthielten  früher  —  als  noch 
nicht  so  viele  Wege  sie  durchquerten  und  Ent- 
wässerung herbeiführten  —  eine  Fülle  nordischer 
Käferarten,  die  Sammler  von  weit  und  breit  her- 
beiführten. Aber  auch  Falter  zeigen  sich,  be- 
sonders Kleinfalter,  Hautflügler  treten  öfters  in 
größerer  Zahl  auf.  Fliegen  begleiten  den  Kamm- 
wanderer oft  in  sehr  unangenehmer  Weise,  und 
so  darf  man  sich  nicht  wundern,  daß  eine  starke 
Kolonie  der  Hausschwalbe  jahraus  jahrein  an 
der  Peterbaude  nistet.  Als  Eiszeitrelikt  tritt  am 
Basalt  der  kleinen  Schneegrube  die  Schnecke 
Pupa  arctica   auf  (einziger  deutscher  Standpunkt). 

Für  den  Erforscher  der  niederen  Tierwelt  sind 
die  größeren  Wasseransammlungen  (der  große 
und  kleine,  sowie  der  Kochelteich)  besonders 
wichtig.  Durch  ihre  tiefe  Temperatur  und  die 
langandauernde  Eisbedeckung  erinnern  sie  an 
manche  Alpenseen  und  beherbergen  unter  ihren 
71  Tierarten  mehr  als  50,  die  auch  in  den  Alpen- 
seen auftreten.  Teils  sind  es  Kosmopoliten,  teils 
nordische  Relikte,  die  in  dem  kalten  Wasser  dieser 
Seen  Zuflucht  vor  dem  immer  wärmer  werdenden 
Klima  fanden. 

Beim  Lesen  des  Buches  entrollt  sich  von  der 
mannigfaltigen  Zusammensetzung,  der  Verteilung 
und  Verbreitung  der  schlesischen  Fauna  ein 
fesselndes  Bild,  von  dem  hier  nur  ein  schwacher 
Abglanz  gegeben  werden  konnte.  Fügen  wir 
hinzu,  daß  auch  die  Vorgeschichte  der  schlesischen 
Fauna,  ihre  Wandlungen  im  Laufe  der  Zeit,  be- 
sonders auch  unter  dem  Einflüsse  des  Menschen, 
die  Nutztiere  und  Schädlinge  eingehend  besprochen 
werden,  daß  ferner  die  Ausstattung  des  Buches, 
was  Papier,  Druck,  die  zahlreichen  Abbildungen 
und  Karten  (meist  Originale)  von  der  Verlags- 
handlung in  mustergültiger  FViedensweise  herge- 
stellt worden  sind,  so  können  wir  uns  freuen  und 
stolz  darauf  sein,  daß  unsere  heimische  Literatur 
mit  diesem  Werke  bereichert  worden  ist,  das  dem 
Naturforscher  wie  dem  Laien  Anregungen  in  Fülle 
bietet.  R.  Dittrich. 


646 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Nene  Beobachtungen  über  Peptisatiou. 

(Mit  I  Abb.) 

Aluminiumhydroxyd  Al(OH)g  löst  sich,  wie 
jedem  Chemiker  aus  der  Analyse  bekannt  ist,  in 
Alkalihydroxydlösungen  auf.  Das  gleiche  findet 
bei  einer  Reihe  anderer  verwandter  Schwermetall- 
hydroxyde  statt.  Die  Natur  der  entstehenden 
Lösungen  ist  bis  heute,  trotz  zahlreicher  darauf 
gerichteter  Untersuchungen,  noch  nicht  ganz  auf- 
geklärt. Während  von  einer  Seite  der  Beweis 
einer  chemischen  Verbindung,  eines  Aluminates, 
erbracht  wird,  glauben  die  Kolloidchemiker 
andererseits,  daß  es  sich  dabei  lediglich  um  eine 
Peptisation,  d.h.  Lösung  infolge  Verringerung 
der  Teilchengröße  handelt. 

N.  R.  Dhar  und  G.  Chatterj  i ')  (Allahabad) 
haben  die  Angelegenheit  erneut  untersucht.  Wenn 
wirklich,  wie  die  ältere  Schule  annimmt,  bei 
jener  Auflösung  eine  chemische  Verbindung,  etwa 
Al(ONa)ij  oder  ein  Derivat  davon  gebildet  wird, 
so  tritt  eine  Verschiebung  im  Gleichgewicht  der 
Ionen  des  vorhandenen  Systems  ein.  Die  Leit- 
fähigkeit muß  sich  also  ändern.  Früher  be- 
reits-) hat  Dhar  gefunden,  daß  die  ammoniaka- 
lischen  Lösungen  von  Kupfer-,  Zink-  und  Cadmium- 
hydroxyd  in  Ammoniak  eine  stark  erhöhte  Zu- 
nahme der  Leitfähigkeit  gegenüber  dem  System 
vor  der  Lösung  aufweisen.  Nunmehr  ergab  sich, 
daß  zwar  auch  eine  Lösung  von  Zinkhydroxyd 
in  Alkalien  deutlich  stärker  leitet  als  die  reine 
Alkalilösung.  Dagegen  wird  die  Leitfähigkeit 
fast  gar  nicht  geändert  nach  Zusatz  von 
Chrom-,  Aluminium-,  Blei-  und  Queck- 
silberhydroxyd.  Im  Falle  dieser  Metalle  ist 
also  bestimmt  zum  mindesten  der  Hauptanteil 
ihrer  alkalischen  Hydroxydlösungen  kolloider 
Art,  und  der  Vorgang  der  Auflösung  ist  eine 
echte  Peptisation.  Beim  Zink  dagegen  handelt 
es  sich  vorwiegend  um  Bildung  chemischer  Ver- 
bindungen, während  die  Peptisation  eine  unter- 
geordnete Rolle  spielt.  Für  die  Auflösung  der 
betreffenden  frisch  gefällten  Hydroxyde  in  ver- 
dünnter Essigsäure  gilt  dasselbe.  Diesen  Schluß 
zogen  schon  Bentley  und  Rose.  ^)  Die  oben 
genannten  Forscher  bestätigten  ihn  durch  den 
Befund,  daß  die  Leitfähigkeit  verdünnter  Essig- 
säure so  gut  wie  gar  nicht  geändert  wird  durch 
Auflösung  von  Aluminiumhydroxyd  darin,  wohl 
aber  von  Zinkhydroxyd.  Nur  bei  diesem  also 
bildet  sich,  der  erhöhten  Leitfähigkeit  zufolge,  ein 
stark  dissoziiertes  Azetat.  Dies  ist  durchaus  ver- 
ständlich, denn  Zinkhydroxyd  ist  eine  stärkere 
Base  als  die  andern  vorgenannten  Metalle. 

Diesen  Befunden  möchte  Berichterstatter  Unter- 
suchungen gegenüberstellen,  die  F.  G  o  u  d  r  i  a  a  n  *) 
machte  und  die  den  indischen  Forschern  anschei- 
nend   unbekannt    geblieben    sind.      Goudriaan 


weist  zuerst  nachdrücklich  auf  die  ungewöhnlich 
große  Unklarheit  hin,  die  hinsichtlich  der  eben 
genannten  Vorgänge  im  allgemeinen,  über  die 
Löslichkeitsverhältnisse  des  Z  i  n  k  hydroxyds  im 
besonderen  besteht.  Insbesondere  hält  er  den 
Chemikern,  die  an  der  Bildung  von  Zinkaten,  also 
von  wohldefinierten  Verbindungen  festhalten,  vor 
Augen,  daß  ein  auch  nur  entfernt  exakter  Be- 
weis für  diese  Ansicht  schon  deshalb  nicht  vor- 
liegt, weil  infolge  der  Schwierigkeit  der  Reindar- 
stellung sämtliche  gefundenen  Zinkate  unbe- 
stimmte Zusammensetzung  aufweisen.  In  keiner 
der  früheren  Arbeiten  ist  auf  konstante  und  ganz 
bestimmte  Konzentrationsverhältnisse  Wert  gelegt 
worden.  Infolgedessen  blieben  die  Stabilitäts- 
bedingungen der  vielen  isolierten  Verbindungen 
unbekannt.  Nach  der  Restmethode  von  Schreine- 
rn akers  ermittelte  Goudriaan  die  Gleich- 
gewichtsverhältnisse der  sog.  Zinkatlösungen,  die 
er  als  tertiäres  System  aus  Na.jO,  Zn  und  HjO 
betrachtet.  Bei  gleichbleibender  Temperatur 
wurde   das   Diagramm   dieses  Systems  bestimmt. 


ZnO 


H,0 


—  Na  OHHoO  — 


Na,0 


i)  Kolloid-Zeitschr.  28,  S.  235,   192 1   (Faraday-Heft). 
*)  Proc.  Akad.  v.  Wetenskap.     Amsterdam   1920. 
ä)  Journ.  of  the  Americ.  Chem.  Soc.  35,    S.   1490.    '913- 
*)   Recueil  des  Trav.  Chim.  des  Pays-Bas  39,  S.  505,    1920. 


Gleichgewicht  einer  alkalischen  Lösung  von  Zinkbydroxyd 
bei  30O. 

Das  Ergebnis  der  Messungen  erhellt  aus  der 
Abbildung.  Es  geht  daraus  in  Kürze  folgendes 
hervor:  das  Ansteigen  von  AB  zeigt,  daß  die 
Löslichkeit  des  Zinkoxyds  mit  der  Konzentration 
des  Natriumhydroxyds  rasch  zunimmt,  daß  dann 
im  Bereich  von  BC  ein  kristallisiertes  Zinkat  der 
Formel  ZnO-4H20  sich  bildet,  während  CD  die 
Gleichgewichtslösungen  des  Monohydrats  NaOH 
•  H2O,  des  einzigen  bei  30"  beständigen  derartigen 
Hydrates,*)  darstellt.  Also:  bei  30"  (dies  war 
die  Versuchstemperatur)    gibt   es   nur  ein    ein- 

1)  Nach  Pickering,  Journ.  of  the  Chem.  Soc.  63, 
S.  890,  1893. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ziges  Zinkat.  Alle  anderen  beschriebenen  sind 
entweder  instabil  oder  bestehen  überhaupt  nicht. 
Dieser  Befund  stimmt  mit  den  mehr  qualitativen 
Messungen  Dhars  überein,  denn  nach  diesem 
handelt  es  sich  zwar  um  die  Bildung  „chemischer 
Verbindungen",  aber  mit  der  Einschränkung  „vor- 
wiegend". Das  Diagramm  Goudriaans  zeigt 
aufs  deutlichste,  daß  die  Unbestimmtheit  dieser 
Ausdrucksweise  ihren  Grund  in  den  besonderen 
Bedingungen  dieses  Systems  findet.  Der  Bericht- 
erstatter möchte  ihnen  den  folgenden  Ausdruck 
geben : 

Die  Alkalilösungen  der  meisten 
Schwermetallhydroxyde  sind  Grenz- 
gebiete zwischen  echten  Lösungen  de- 
finierter chemischer  Verbindungen 
und  kolloiden  Lösungen  von  moleku- 
laren Assoziationen.  Wir  haben  in  diesen 
Systemen  einen  Wettbewerb  zwischen  atomaren 
Affinitäten,  die  infolge  der  „amphoteren"  Natur 
der  markantesten  der  Hydroxyde  jedoch  nicht 
zum  Durchbruch  kommen,  d.  h.  nicht  zur  Ab- 
sättigung  in  chemischen  Verbindungen  führen. 
Vielmehr  treten  sie  zurück  gegen  die  molekularen 
Gesamtkräfte;  deren  Feldwirkung  zu  Assoziationen 
unbestimmter  Zusammensetzung  und  wechselnder 
Teilchengröße  führt,  so  daß  im  allgemeinen 
Peptisation  eintritt.  Im  Falle  des  Zinks  über- 
wiegen jedoch  die  atomistischen  Kräfte,  so  daß 
vorwiegend  stöchiometrische  Verhältnisse, 
allerdings  völlig  labialer  Art  vorwalten.  Beim 
Kupfer  und  Cadmium  liegen  die  Verhältnisse 
ähnlich.  Bei  Aluminium  usw.  aber  haben  wir 
den  ersten  F"all  reiner  Peptisation. 

Die  Auffassung  H  a  n  t  z  s  c  h  s  ^)  über  die  Natur 
der  alkalischen  Zinklösungen  sind  sowohl  nach 
Goudriaan  wie  nach  Dhar  in  ihrer  Ausschließ- 
lichkeit nicht  haltbar.  Es  handelt  sich  nicht 
um  kolloide  Lösungen,  sondern  um  Bildung  von 
Systemen,  deren  Habitus  dem  kolloider  Lösungen 
lediglich  sehr  nahe  steht  bzw.  teilweise  in  diesen 
übergeht.  Grotesk  mutet  es  an,  wenn  Zocher-) 
in  einer  umfangreichen  Arbeit  den  „Nachweis" 
einer  Unzahl  von  definierten  Zinkaten  und  Zinkaten 
ähnlichen  Gebilden  dadurch  führt,  daß  er  solche 
unter  den  mannigfaltigsten  Bedingungen  „isoliert" 
zu  haben  meint.  Die  Anwendung  des  Gibbs- 
schen  Dreiecks  ist  Zocher  anscheinend  unbe- 
kannt. ^) 

Berichterstatter  gedenkt  den  oben  erstmalig 
entwickelten  Auffassungen  in  einer  ausführlichen 
Arbeit  an  anderer  Stelle  bestimmtere  Fassung  zu 
geben.  H.  Heller. 

Nenentdeckte  Bestandteile  des  Kolophoniums. 

Vor  einigen  Jahren  gelang  es  dem  finnländi- 
schen  Forscher  Ö.  A  s  c  h  a  n ,  aus  den  rohen  Harz- 


')  Zeitschr.   f.  anorg.  Chem.  30,  S.  2S9,   1902. 
-)  Zeitschr.  f.  anorg.  Cbem.   112,  S.   I,   1920. 
^)  Zeitschr.  f.  anorg.  Chem.  30,  S.  342 :  hier  ein  Gegen- 
beispiel für  ähnliche  Verhältnisse  beim  Wismutnitrat. 


seifen,  die  bei  der  Sulfat-Zellulosefabrikation  an- 
fallen, eine  Säure  zu  isolieren,  die  Pinabietin- 
säure  genannt  wurde.  In  einer  neuen  Mitteilung  ^) 
zu  diesen  Untersuchungen  wird  nun  über  weitere 
saure  Bestandteile  in  diesem  Rohmaterial  berichtet, 
die  dadurch  bemerkenswert  sind ,  daß  sie  in  ver- 
schiedenen finnländischen  und  amerikanischen 
Handelssorten  des  Kolophoniums  vorkommen. 
Die  neuentdeckten  Säuren  besitzen  die  allgemeine 
Formel  C„H2„_ii,0,i.  Daneben  finden  sich  andere 
saure  Bestandteile  ähnlicher  Bruttozusammen- 
setzung. 

Die  Isolierung  der  Säuren  und  ihre  Trennung 
untereinander  war  nicht  einfach,  was  bei  den 
harzigen  Begleitstoffen  ohne  weiteres  verständlich 
ist.  Es  sei  nicht  darauf  eingegangen,  sondern 
alsbald  die  allgemeine  Kennzeichnung  der  Säuren 
gegeben.  Es  sind  einbasische,  stark  unge- 
sättigte Säuren,  die  wahrscheinlich  eine  Hydroxyl- 
gruppe enthalten  und  ketoiden  Charakter  haben. 
Sie  stellen  fast  farblose  oder  doch  nur  schwach 
gelbliche  Körner  oder  Pulver  dar.  Es  ist  darum 
bemerkenswert,  daß  die  Lösungen  ihrer  Al- 
k a  1  i s a  1  z e  dunkelgelb  bis  bräunlichgelb  sind, 
ja  die  konzentrierten  Lösungen  sind  fast  kaffee- 
braun gefärbt.  Das  Molekül  der  Kolophen- 
säuren  ist  also  ein  Chromogen.  Auf  diese 
braune  Färbung  der  Alkalisalzlösungen  gehen  nun 
höchstwahrscheinlich  eine  Anzahl  bekannter  Fär- 
bungen zurück,  die  man  bisher  nicht  einwandfrei 
zu  deuten  vermochte.  So  beruht  vor  allem  die 
gelbe  bis  braune  Farbe  eines  jeden  Kolophoniums 
auf  dem  Vorhandensein  der  Kolophensäuren,  die 
im  Kolophonium  in  fester  Lösung  sich  befinden. 
Ferner  tritt  die  Färbung  auf  in  der  Papierfabri- 
kation. Der  hier  gebildete  „Harzleim"  scheidet 
beim  Stehen  eine  dunkelbraune  Flüssigkeit,  die 
sog.  Leimgalle  aus,  die  man  fortfließen  läßt.  Deren 
P'arbe  beruht  ebenfalls  auf  gelösten  Kolophenaten, 
wie  Asch  an  durch  Isolierung  einer  Kolophen- 
säure  aus  der  Leimgalle  beweisen  konnte.  Man 
darf  annehmen,  daß  alle  die  Stoffe,  die  der  Lei- 
mung des  Papiers  einen  gelblichen  Stich  erteilen, 
diese  unerwünschte  Eigenschaft  den  darin  vor- 
handenen Kolophensäuren  verdanken.  Möglicher- 
weise ergibt  sich  aus  dieser  Erkenntnis  ein  künf- 
tiger Weg,  auch  die  sehr  dunkeln  und  zur  Papier- 
leimung  jetzt  noch  ungeeigneten  Handelssorten 
des  Kolophoniums  mittels  Reinigung  verwendbar 
zu  machen. 

Die  Kolophensäuren  haben  praktische  Bedeu- 
tung auch  durch  ihre  Eigenschaft,  die  glasige 
Konsistenz  des  Kolophoniums  zu  bewahren,  wo- 
durch wiederum  die  Luftoxydation  des  Kolopho- 
niums unterbunden  ist.  Dies  beruht  darauf,  daß 
die  Kolophensäure  amorph  und  niedrigschmelzend 
sind.  Endlich  ist  das  Vorkommen  der  Kolophen- 
säuren im  Bier  anzunehmen.  Sie  lösen  sich 
etwas  in  Wasser.  So  kann  es  kommen,  daß  aus 
der    dunklen  Harzschicht   der   Bierlagergefaße  ein 


')  Ber.  d.  D.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.  867,  Mai  1921. 


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wenig  der  Säuren  in  das  Bier  geht.  Sie  machen 
sich  hierin  durch  einen  eigenartigen  bitteren 
Geschmack  bemerkbar,  denselben,  den  man  am 
Kolophonium  wahrnehmen  kann  und  der  hier 
dieselbe  Ursache  hat,  denn  die  Harzsäuren  des 
Kol9phoniums  sind  völlig  geschmacklos. 

Über  die  Konstitution  der  Kolophensäuren  ist 
noch  wenig  zu  ermitteln  gewesen.  Auf  Grund 
gewisser  Reaktionen  scheint  es,  als  besitzen  sie 
eine  dem  Cholesterin  ähnliche  Struktur,  was 
übrigens  auch  für  die  Harzsäuren  gilt.  Jedenfalls 
gehören  sie  nach  ihrem  ganzen  Verhalten  einer 
bisher  nicht  oder  wenig  bekannten  Klasse  orga- 
nischer Verbindungen  an.  Ihre  Untersuchung  ist 
erschwert  durch  ihr  hohes  Molekulargewicht,  wo- 
durch ein  Umkristallisieren  unmöglich  ist,  sowie 
durch  ihre  Schwerverbrennlichkeit.  Immerhin  ist 
ein  erster  Schritt  auf  dem  Wege  zu  ihrer  Kon- 
stitutionsermittlung die  Tatsache,  daß  es  A  s  c  h  a  n 
gelang,  aus  der  bereits  bekannten  Pinabietinsäure 
durch  Oxydation  eine  Kolophensäure  der  Formel 
CnjHjoO^  künstlich  darzustellen. 

Neben  dieser  Säure  sind  die  nächst  höheren 
Homologen  mit  17,  18  und  20  Kohlenstofifatomen 
gewonnen  und  gekennzeichnet  worden.  Bei  der 
Unerforschtheit  des  gesamten  Gebietes  der  Harz- 
chemie sind  die  mitgeteilten  Funde  verheißungs- 
volle Anfänge  zur  Klärung  desselben. 

H.  Heller. 

Die  Rückbildiiug  der  Augen  durch  Mutation 
bei  Drosophila. 

(iVIit  3  Abbildungen.) 

Unter  den  etwa  300  Mutationen,  die  bisher 
bei  Drosophila  melanogaster,  der  Tau-  oder 
Fruchtfliege,  beobachtet  wurden,  ist  eine,  genannt 
bandäugig,  deren  wesentlichstes  Merkmal  in  einer 
Verminderung  der  Fazettenzahl  besteht.  Während 
das  normale  Fazettenauge  sich  aus  durchschnitt- 
lich 830  Fazetten  zusammensetzt  (die  Männchen 
haben  etwa  40  Fazetten  mehr  als  die  Weibchen), 
haben  die  bandäugigen  Fliegen  durchschnittlich 
75  Fazetten,  die  in  der  Form  eines  vertikalen, 
unregelmäßig  begrenzten  Bandes  angeordnet  sind 
(vgl.  Abb.  I  u.  2).  Allerdings  ist  die  Fazetten- 
zahl der  Mutanten  stark  abhängig  von  den  Außen- 
bedingungen. So  hat  vor  allem  die  Temperatur 
einen  sehr  weitgehenden  Kinfluß.  Je  höher  die 
Temperatur  ist,  in  der  sich  die  Fliegen  entwickeln, 
desto  geringer  ist  ihre  Fazettenzahl,  und  zwar 
haben  ausgedehnte  Untersuchungen  zu  dem  Er- 
gebnis geführt,  daß  der  Temperaturkoeffizient  dem 
bei  chemischen  Reaktionen  beobachteten  entspricht. 
Nach  dem  van 'tHoffschen  Gesetz  erhöht  sich 
die  chemische  Reaktionsgeschwindigkeit  bei  einer 
Temperatursteigerung  von  10"  auf  das  Doppelte 
bis  Dreifache.  Bei  den  BandaugenMutanten  nimmt 
die  Fazettenzahl  bei  der  gleichen  Temperatur- 
steigerung um  das  2 — 3  fache  ab.  Auch  der  Zeit- 
punkt, auf  dem  die  Einwirkung  der  Temperatur 
erfolgt,    konnte   genau  bestimmt  werden.     Bringt 


man  die  Eier  zunächst  in  hohe  Temperatur  (27") 
und  nach  bestimmter  Zeit  in  niedrigere  (15''),  so 
entsteht  die  für  die  hohe  Temperatur  charakte- 
ristische Fazettenzahl,  wenn  der  vierte  Entwick- 
lungstag in  dieser  Temperatur  zugebracht  wird. 
Die  wirksame  Periode  ist  nur  von  sehr  kurzer 
Dauer,  im  Maximum  beträgt  sie  18  Stunden.  In 
ähnlicher  Weise  wurde  auch  die  Umstimmungs- 
periode  für  15"  ermittelt.  Hier  liegt  sie  einige 
Tage  und  ist  von  längerer  Dauer  (etwa  72  Stun- 
den).    Dies  ist  darauf  zurückzuführen,  daß  in  der 


Abb.   I.     Kopf  von   Drosophila  melanogaster. 
Nornp.ales  Fazeltenauge  mit  ca.  830  Fazetten.     (Aus  Zeleny.) 


Abb.  2.     Kopf  des  bandäugigen  Mutanten. 
Auge  aus  ca.  75  Fazetten  bestehend.     (Aus  Zeleny.) 


niederen  Temperatur  die  Entwicklung  wesentlich 
langsamer  vor  sich  geht.  Eine  Berechnung  ergibt, 
daß  das  Stadium,  welches  der  Einwirkung  zugäng- 
lich ist,  in  beiden  Fällen  das  gleiche  ist.  Außer 
der  Temperatur  wirken  auch  die  chemische  Be- 
schaffenheit der  Nahrung  und  der  Feuchtigkeits- 
grad, wenn  auch  in  schwächerem  Maße,  modifi- 
zierend auf  die  Fazettenzahl  ein.  Natürlich  sind 
alle  diese  durch  das  Milieu  hervorgerufenen  Modi- 
fikationen nicht  erblich. 

Bandäugigkeit    ist    eine    geschlechtsgebundene 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Kigenschaft,  das  mutierte  Gen  ist  mit  anderen 
Worten  im  Geschlechtschromosom  lokalisiert.  Es 
wird  als  dominant  über  sein  normales  Allelomorph 
bezeichnet,  doch  ist  die  Dominanz  sehr  unvoll- 
ständig. Bei  Kreuzung  eines  bandäugigen  Weib- 
chens mit  einem  normaläugigen  Männchen  sind 
die  Fl -Weibchen  größtenteils  normaläugig,  nur 
etwa  23  "'„  sind  bandäugig.  Die  Fj-Männchen 
sind  alle  bandäugig,  da  sie  ihr  einziges  X-Chro- 
mosom von  der  Mutter  erben. 

Seit  dem  Auftreten  des  "STsten  bandäugigen 
Mutanten  im  Februar  191 3  ist  die  bandäugige 
Rasse  viel  gezüchtet  worden.  Nicht  nur  in  Ame- 
rika ist  sie  in  den  zoologischen  Instituten  eine  der 
am  meisten  gehaltenen  Mutantenrassen,  auch  nach 
Europa  ist  sie  gesandt  worden  und  wird  hier 
weitergezüchtet.  Die  Rasse  ist  konstant  geblieben, 
von  sehr  seltenen  Rückmutationen,  die  hin  und 
wieder  eintreten,  abgesehen.  Besonderes  Interesse 
aber    verdient    eine    von   Zeleny')    beobachtete 


Abb.  3.     Kopf  des  ultra-bandäugigen  MuUintCD. 
Auge  aus  nur  ca.  22  FazeUen  bestehend.     (Aus  Zelcny.) 


Mutation  des  Erbfaktors  für  bandäugig  In  einem 
Stamm  von  Bandaugen-Fliegen,  die  einen  Schritt 
vorwärts  in  der  durch  die  erste  Mutation  einge- 
schlagenen Richtung  bedeutet.  Es  ist  dies  wohl 
das  erste  Mal,  daß  ein  derartiger  zweiter  Mutations- 
schritt zur  Beobachtung  gekommen  ist.  Der  neue 
Mutant,  ein  Männchen,  genannt  Ultra-Bandauge 
(Abb.  3),  trat  im  Oktober  191 7  auf.  Das  Männ- 
chen hatte  nur  19  Fazetten.  Es  wurde  mit  einer 
seiner  Schwestern  mit  44  Fazetten  gekreuzt,  und 
so  wurde  in  F..  eine  reine  Rasse  ultrabandäugiger 
Fliegen  erhalten,  die  über  20  Monate  beobachtet 
wurde  und  konstant  blieb  bis  auf  4  Rückmuta- 
tionen, einmal  zum  Bandauge  und  dreimal  zum 
normalen  Auge.  Im  letzteren  Falle  wurden  also 
zwei  Mutationsschritte  vorwärts  in  einem  Schritte 
rückwärts  zurückgelegt.  Die  mittlere  Fazettenzahl 
der  Weibchen  der  neuen  Rasse  ist  21,96,  der 
Männchen  23,04.  Gegenüber  der  Bandaugen-Rasse 
unterscheidet  sie  sich  noch  insofern,   als   die  Do- 


')Zeleny,Ch. ,  A  change  in  Ihe  bar  gene  of  Droso- 
phila  melanogaster  involving  further  decrease  in  facet  number 
and  increase  in  dominancc.  Journ.  of  exper.  Zool.,  Vol.  30, 
1920. 


minanz  zugenommen  hat.  Die  Dominanz  von 
ultra-bandäugig  über  normaläugig  beträgt  84,8, 
von  ultra-bandäugig  über  bandäugig  82,6  "/„. 

Ein  Vergleich  der  drei  Abbildungen  zeigt,  daß 
durch  die  zwei  Mutationsschritte  die  Fazettenaugen 
nahezu  vollständig  verloren  gegangen  sind.  Es 
ist  aus  der  normaläugigen  Fruchtfliege  ein  fast 
blindes  Tier  geworden.  Während  bei  sehr  vielen 
„Defekt"  -  Mutationen  von  Drosophila  die  Lebens- 
fähigkeit stark  herabgesetzt  ist  und  die  Mutanten 
schon  aus  diesem  Grunde  wenig  Aussicht  haben 
erhalten  zu  bleiben  im  Wettstreit  mit  der  Stamm- 
form, steht  die  Lebensfähigkeit  der  bandäugigen 
und  der  ultra-bandäugigen  Hiegen  nicht  im  ge- 
ringsten hinter  der  normaler  Fliegen  zurück. 
Trotzdem  und  trotz  der  Dominanz  über  die  Stamm- 
form hätten  die  Mutantenrassen  unter  normalen 
Verhältnissen  in  der  freien  Natur  kaum  Aussicht, 
erhalten  zu  bleiben.  Sie  sind  infolge  des  stark 
herabgesetzten  Sehvermögens  gegenüber  der 
Stammform  so  sehr  im  Nachteil,  daß  sie  im 
Kampfe  ums  Dasein  bald  erliegen  müßten.  Wie 
aber,  wenn  die  Fliegen  im  Dunkeln  leben  würden  ? 
Das  Auge  hätte  für  sie  dann  keinen  Selektions- 
wert mehr,  und  die  in  dem  ursprünglichen  Milieu 
unzweckmäßigen  Mutationen  würden  unter  den 
neuen  Lebensbedingungen  durch  die  Selektion 
nicht  mehr  eliminiert,  sie  würden  infolge  der 
Dominanzverhältnisse  (wenigstens  gilt  das  für  die 
ultra-bandäugige  Rasse)  die  Stammrasse  bald  ver- 
drängen. Das  Resultat  wäre  das  Verschwinden 
der  Augen  bei  den  im  Dunkeln  lebenden  Tieren 
innerhalb  verhältnismäßig  kurzer  Zeit. 

Es  ist  ja  eine  bekannte  Tatsache,  daß  Höhlen- 
tiere und  überhaupt  unter  völligem  oder  teil- 
weisem Lichtabschluß  lebende  Tiere  mehr  oder 
weniger  rückgebildete  Augen  haben.  Auch  hier 
finden  wir  bisweilen  verschiedene  Übergänge  von 
nahezu  normalen  Augen  bis  zu  gänzlichem  Fehlen. 
So  ist  ein  sehr  naher  Verwandter  unseres  in 
Müssen  und  Bächen,  Seen  und  Sümpfen  lebenden 
gemeinen  Flohkrebses  der  in  Höhlen,  Brunnen, 
Bergwerksschächten  und  in  der  Tiefe  der  Seen 
vorkommende  Brunnenkrebs,  Niphargus.  Der 
wichtigste  Unterschied  zwischen  gemeinem  Hoh- 
krebs  und  Brunnenkrebs  besteht  in  der  Rück- 
bildung der  Augen  bei  letzterem.  Aber  auch 
hier  können  wir  verschiedene  Typen  unterscheiden, 
bei  denen  die  Rückbildung  verschieden  weit  ge- 
gangen ist,  verschiedene  Mutationsstufen,  wie  wir 
vom  Standpunkte  des  Vererbungswissenschaftlers 
aus  sagen  könnten.  So  besitzt  Niphargus  pute- 
anus  nach  Lampe rt  noch  ein  gelbes,  nicht 
funktionsfähiges  Auge,  während  es  bei  Niphargus 
virei  völlig  fehlt  oder  durch  unregelmäßige,  gelb- 
liche, in  Spiritus  schwindende  Flecken  angedeutet 
ist.  An  Stelle  des  Sehorganes  sind  bei  den 
Dunkeltieren  in  der  Regel  die  Tast-  und  Riech- 
organe stärker  entwickelt.  Wie  die  Rückbildung 
der  Augen  so  läßt  sich  auch  die  Überentwicklung 
anderer  Sinnesorgane  sehr  wohl  durch  Mutation 
und    nachfolgende    Selektion    erklären,    ja    es    ist 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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sehr  wohl  denkbar,  daß  die  Rückbildung  eines 
und  die  Fortentwicklung  eines  anderen  Organes 
innerhalb  eines  einzigen  Mutationsschrittes  vor 
sich  geht.  Wie  wir  wissen,  sind  die  Wirkungen 
eines  Erbfaktors  häufig  sehr  mannigfaltiger  Art, 
und  so  hat  auch  eine  mutative  Veränderung  eines 
Faktors  vielfach  sehr  verschiedene  Wirkungen  an 
den  verschiedensten  Organen  im  Gefolge.  Eine 
gleichzeitige  mutative  Veränderung  der  Augen  in 
negativer,  der  Antennen  in  positiver  Richtung 
muß  nach  den  bisherigen  Beobachtungen  durch- 
aus als  im  Bereich  der  Möglichkeit  liegend  be- 
trachtet werden.  Ein  solcher  Mutant  wäre  in  der 
Dunkelheit  der  Stammform  gegenüber  natürlich 
gleich  stark  im  Vorteil,  und  seine  Erhaltung  und 
Ausbreitung  wäre  wahrscheinlich,  auch  wenn  er 
nicht  über  die  Stammform  dominant  wäre. 

Die  augenlosen  Höhlentiere  waren  bisher 
immer  eines  der  Lieblingsbeispiele  des  Lamarckis- 
mus.  Unter  dem  direkten  Einfluß  der  Dunkelheit 
soll  eine  Rückbildung  der  Augen  vor  sich  ge- 
gangen sein,  wobei  eine  Vererbbarkeit  der  indi- 
viduellen Erwerbungen  vorausgesetzt  wird.  Zwar 
geben  selbst  Lamarckianer  zu,  daß  ein  zwingender 
Beweis  für  die  Existenz  einer  solchen  Vererbung 
bisher  nicht  erbracht  ist,  aber  die  Tatsachen,  so 
sagen  sie,  sollen  sich  auf  andere  Weise  kaum  oder 
nur  sehr  gezwungen  erklären  lassen. 

Der  hier  skizzierte  Standpunkt  hat  mit 
lamarckistischen  Vorstellungen  nichts  gemein.  Die 
Mutationen  treten  richtungslos  auf.  Sie 
können  zweckmäßig  sein,  brauchen  es  aber 
nicht  zu  sein,  ja  sie  sind  sicher  in  der  großen 
Mehrzahl  der  Fälle  sehr  unzweckmäßig,  die 
Mutanten  verschwinden  in  der  freien  Natur  in- 
folgedessen rasch  wieder.  Wie  sehr  aber  die 
Zweck-  bzw.  Unzweckmäßigkeit  einer  Mutation 
von  dem  Milieu  abhängig  sein  kann,  das  zeigt  das 
obige  Beispiel.  In  dem  einen  Milieu  vernichtet 
die  Selektion  die  Mutanten,  im  anderen  bleiben  sie 
erhalten.  Mutation  und  Selektion  geben  uns  eine 
durch  die  Tatsachen  besser  begründete  Vorstellung 
über  die  Entstehung  der  Höhlentiere  als  die  dem 
Laien  zwar  sehr  einleuchtende,  eines  wissenschaft- 
lichen Beweises  aber,  wie  gesagt,  entbehrende 
Lamarcksche  Theorie.  Nachtsheim. 


Skelettkult  und  verwandte  Yorstelluugeu. 

Über  die  Verbreitung  und  völkerpsychologische 
Bedeutung  des  Skelettkults  und  verwandter  Vor- 
stellungen hat  Prof.  Rudolf  Martin  in  den 
Mitteilungen  der  geographisch  -  ethnographischen 
Gesellschaft  in  Zürich  eine  gehaltvolle  Studie 
veröffentlicht.  Die  hierzu  gehörigen  Gebräuche 
hängen  zweifellos  mit  dem  Totenkult  zusammen, 
dessen  psychologische  Basis  der  gewaltige  Ein- 
druck ist,  den  der  Tod  auf  die  Phantasietätigkeit 
des  Menschen  macht.  Auf  dieser  beruhen  die 
mannigfachen  Vorstellungen  von  der  Seele,  vom 
Weiterleben  nach  dem  Tode,  von  Seelenwanderung 
und    Wiedergeburt.       Zum    Erinnerungsbild    des 


Verstorbenen,  der  „Bildseele",  tritt  der  Mensch  in 
ein  lebendiges,  emotionelles  Verhältnis.  „Wie  er 
alle  Dinge  um  sich  herum  beseelt,  d.  h.  mit 
seinen  Gefühlen,  Fähigkeiten  und  Kräften  aus- 
stattet und  sich  dann  von  ihnen  beherrscht  fühlt, 
so  erkennt  er  auch  in  dem  Toten  eine  Macht, 
mit  der  er  sich  auseinandersetzen  muß.  Da  er 
einerseits  selbst  in  vielen  Dingen  die  Hilfe  seiner 
Stammesgenossen  braucht,  andererseits  aber  auch 
die  menschliche  Neigung,  dem  Nächsten  zu  schaden 
kennt,  so  entstehen  Vorstellungen  und  Totenge- 
bräuche doppelter  Art",  nämlich  hilfesuchende 
und  abwehrende.  Der  Glaube  an  das  Wirken 
des  Toten  kann  so  weit  gehen,  daß  der  Lebende 
nicht  sich,  sondern  jenem  allen  Erfolg  und  Miß- 
erfolg zuschreibt.  „Dieses  Wirken  des  Toten  ist 
furchtbarer  als  die  Zauberkraft  des  Lebenden, 
denn  es  handelt  sich  um  eine  Fähigkeit,  die  der 
Lebende  nicht  besitzt,  die  einer  unsichtbaren  Welt 
angehört.  Ahnliche  Vorstellungen  finden  sich 
übrigens  auch  bei  Kulturvölkern;  besonders  im 
Ahnenkultus  der  Chinesen  sind  sie  nachzuweisen." 

Vornehmlich  aus  der  Furcht  vor  den  Toten 
haben  sich  verschiedene  Bestattungsgebräuche 
ausgebildet,  die  M.  kennzeichnet.  Eingehend  be- 
faßt er  sich  mit  der  Hockerbestattung,  die 
schon  für  das  europäische  Paläolitikum  nachge- 
wiesen ist  und  von  manchen  Völkern  noch  heute 
gepflegt  wird.  Die  ganz  ausschließliche  Be- 
stattungsform ist  sie  aber  nirgendwo  und  zu  keiner 
Zeit  gewesen.  Die  Hockerbestattung  wurde  von 
Prähistorikern  und  Ethnologen  auf  verschiedene 
Weise  gedeutet.  Am  meisten  verbreitet  ist 
heute  wohl  die  Meinung,  daß  diese  Bestattung 
zumeist,  namentlich  wo  sie  mit  Umschnürung 
verbunden  ist,  aus  Furcht  vor  der  Wiederkehr 
des  Toten  ausgeführt  wurde.  Doch  vermag  M. 
ihr  nicht  beizupflichten.  Er  sagt,  die  Leiche  würde 
deshalb  zusammengebunden  und  verschnürt,  „um 
dem  Menschen  auch  im  Jenseits  diejenige  Körper- 
haltung zu  geben,  die  für  ihn  während  des  Lebens 
die  natürlichste  war.  Denn  daß  das  Hocken  bei 
den  für  diese  Sitte  in  Betracht  kommenden 
Völkern  die  gebräuchlichste  Ruhestellung  ist,  in 
die  sie  immer  wieder  zurückkehren,  bedarf  keines 
besonderen  Nachweises.  Wie  man  dem  Toten 
alles  ins  Grab  mitgibt,  was  er  im  Leben  liebte 
und  brauchte,  damit  er  es  im  Jenseits  nicht  ent- 
behre, so  brachte  man  ihn  auch  in  die  ihm  ge- 
wohnte Ruhelage,  die  er  nach  dem  Tode  einzu- 
nehmen selbst  nicht  mehr  imstande  war.  Dies 
war  und  ist  aber  schon  wegen  der  sicher  ge- 
fürchteten Totenstarre  nur  durch  ein  Zusammen- 
pressen der  Extremitäten  und  durch  eine  Um- 
wicklung oder  Umschnürung  des  Körpers  zu  er- 
reichen," die  mit  „Fesselung"  nichts    zu    tun    hat. 

Als  ein  Zeichen  von  Skelettkult  gedeutet  wird 
auch  die  häufig  angetroffene  Rotfärbung 
von  Menschenknochen  bei  rezenten  und  vorge- 
schichtlichen Völkern.  Man  nahm  an,  die  Weich- 
teile seien  durch  künstliche  Mittel  und  Eingriffe 
zerstört  und  die  übrigbleibenden  Teile  des  Skelettes 


N.  F.  XX.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


651 


dann  mit  einem  Farbstoff  bestrichen  und  von 
neuem  beigesetzt  worden.  Ein  solches  Vorgehen 
ist  für  eine  Reihe  von  Völkern,  so  z.  B.  für  die 
Maori,  für  brasilianische  Indianer,  für  viele  Stämme 
Westafrikas  bezeugt,  aber  für  die  europäische 
prähistorische  Bevölkerung  ist  ein  schlüssiger  Be- 
weis noch  nicht  erbracht.  Es  ~  ist  die  Möglich- 
keit gegeben,  daß  Leichen  mit  Farbstoffen  be- 
streut oder  bemalt  oder  daß  ihnen  Farbstoffe  ins 
Grab  mitgegeben  wurden.  „In  allen  diesen  Fällen 
hat  sich  der  Farbstoff  nach  der  Dekomposition 
der  Weichteile  auf  die  Knochen  niedergeschlagen 
und  ist  teilweise  tief  in  die  Knochensubstanz  ein- 
gedrungen. Eine  absichtliche  und  von  Menschen- 
hand ausgeführte  Färbung  der  Skelette  liegt  also 
nicht  vor."  Ob  zwischen  der  Rotfärbung  der 
Leiche  und  dem  Blutopfer  ein  Zusammenhang 
besteht,  wobei  der  Ocker  gleichsam  als  Symbol 
für  das  Blut  eintritt,  wagt  M.  nicht  zu  entscheiden. 

Die  Teilbestattung  von  Köpfen  hat  gleich- 
falls die  Aufmerksamkeit  der  Forschung  erregt. 
M.  führt  aus  der  Literatur  zahlreiche  diesbezüg- 
liche Beispiele  an.  Die  Veranlassungen  zur  Teil- 
bestattung von  Köpfen  sind  wohl  nicht  stets  die 
gleichen,  aber  immer  liegt  ihr  der  Gedanke  zu- 
grunde, daß  der  Kopf  der  wichtigste  Teil  des 
Menschen  ist.  Der  Kopf  des  Toten  und  sein 
Schädel  ist  ein  Fetisch,  dem  teils  aus  Liebe,  teils 
aus  Furcht  die  größte  Verehrung  gezollt  wird. 
Besonderen  Kult  treibt  man  mit  den  Schädeln  der 
Häuptlinge  und  anderer  hervorragender  Menschen, 
weil  sie  eben  auch  schon  im  Leben  durch  irgend- 
welche Qualitäten  realer  oder  eingebildeter  Art 
ihren  Mitmenschen  überlegen  waren ,  dann  aber 
auch  ganz  allgemein  mit  den  Schädeln  der  Ahnen." 
Im  Schädelkult  erkennt  M.  auch  die  Wurzel  der 
weitverbreiteten  Kopfjägerei,  über  die  viel  Tat- 
sachenmaterial beigebracht  wird.  Die  Beweg- 
>  gründe  der  Kopfjagd  und  die  daran  schließenden 
Zeremonien  sind  so  wechselnd,  um  den  Schluß 
nahezulegen,  „daß  die  ursprünglichen  Motive  viel- 
fach Weiterungen,  Wandlungen  und  Umdeutungen 
erfahren  haben,  die  das  Bild  verändern  und  das 
Verständnis  im  einzelnen  Falle  sehr  erschweren 
können.  Man  wird  daher  besonders  vorsichtig 
mit  Deutungen  sein  müssen  und  nie  vergessen 
dürfen,  daß  äußerlich  noch  so  ähnliche  Sitten 
doch  ganz  verschiedenen  Ideen  entspringen  können. 
—  Vorherrschend  aber  ist  die  Grundvorstellung, 
daß  der  in  dem  Kopf  des  Getöteten  wohnende 
Geist  eine  Macht,  d.  h.  bestimmte  magische  Kräfte 
und  Eigenschaften  besitzt,  die  man  sich  nutzbar 
machen  will".  Die  Weiterbehandlung  mazerierter 
Schädel  ist  vielfach  Brauch  ;  sie  scheint  teils  ledig- 
lich dem  Schmuckbedürfnis  zu  entspringen ,  teils 
jedoch  tiefer  liegenden  Motiven.  Bemerkenswert 
sind  die  mannigfachen,  zum  Teil  sehr  kunstvollen 
und  erfolgreichen  Versuche,  dem  mazerierten 
Schädel  das  Aussehen  des  lebenden  Kopfes 
wiederzugeben. 

Den  Gedanken  einer  Mumifizierung  der 
Leichen  dürften  natürliche  Ursachen  verschiedenen 


Völkern  unabhängig  voneinander  nahegelegt 
haben.  Gebräuchlich  war  diese  Bestattungsweise 
bei  den  alten  Kulturvölkern  Ägyptens  und  Perus, 
und  in  moderner  Zeit  bei  den  Aleuten  im  äußer- 
sten Nordwesten  Nordamerikas,  bei  südamerikani- 
schen Indianern  und  Südseevölkern. 

Mit  dem  Ahnenkultus  und  mit  der  Vorstellung 
der  Übertragbarkeit  der  Eigenschaften  eines  Ver- 
storbenen (sogar  eines  Tieres)  auf  den  Lebenden, 
durch  Teile  seines  Körpers,  hängt  ferner  noch 
eine  Reihe  von  Gebräuchen  zusammen,  von  denen 
M.  die  Verwendung  des  Schädels  als  Eß-  und 
Trinkgefäß  und  das  Mitsichherumtragen  von 
Skelettstücken  als  in  Beziehung  zum  Skelettkult 
stehend  in  Betracht  zieht. 

H.  Fehlinger. 

Cordylophora  lacustris  Allm.  Eiue  interessante 

Biozönose  in  der  Woltersdorfer  Schleuse  bei 

Berlin. 

Der  Keulenpolyp,  Cordylophora  lacustris  Allm., 
der  wegen  seines  Vorkommens  in  Brack-  und  Süß- 
wasser und  als  einziger  koloniebildender  Hydroid- 
polyp  in  letzterem  von  jeher  besondere  Beachtung 
gefunden  hat,  ist  1919  (von  Remane)  wieder 
an  einer  alten,  von  1878  (Riehm)  und  1892 
(Weltner)  her  bekannten  Berliner  Fundstelle,  der 
Woltersdorfer  Schleuse,  festgestellt  worden.  Ob 
sich  die  Art  hier  und  in  den  benachbarten  Ge- 
wässern, in  denen  sie  früher  gefunden  wurde 
(Rüdersdorf,  Müggelsee)  dauernd  eingebürgert  hat 
und  an  geeigneten  Stellen  stets  zu  finden  gewesen 
wäre,  wenn  auch  vielleicht  in  ungünstigen  Jahren 
nur  kümmerlich  entwickelt,  ist  schwer  zu  sagen. 
Jedenfalls  muß  man  vorläufig  mit  der  Möglichkeit 
rechnen ,  daß  der  Polyp  nach  jeweiliger  Ein- 
schleppung durch  den  regen  Schiffsverkehr  (viel- 
leicht auch  durch  Wasservögel)  sich  nur  bei  Kon- 
kurrenz besonders  günstiger  Bedingungen  ansiedelt 
und  nach  einer  Periode  mehr  oder  weniger  üppiger 
Entwicklung  wieder  gänzlich  verschwindet.  In 
der  Woltersdorfer  Schleuse  ließ  sich  1920  und 
1921  mit  Leichtigkeit  reichliches  Untersuchungs- 
material gewinnen.  Über  die  Verhältnisse  im 
Jahre  1920  berichtet  P.  Schulze  in  seiner  Ar- 
beit ')  „Die  Hydroiden  der  Umgebung  Berlins 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Binnenland- 
formen von  Cordylophora"  u.  a.  folgendes:  „Die 
Tiere  saßen  in  ungeheuren  Mengen  in  dichten 
Rasen  an  den  Wänden  der  Schleuse  gegen  den 
Flakensee  (=  tiefgelegener  See,  Ref)  zu,  gingen 
aber  über  diese  nicht  hinaus,  nicht  einmal  auf  die 
sich  direkt  anschließenden  rechtwinklig  dazu 
stehenden  Außenmauern  des  Schleuseneinganges 
gegen  diesen  See  zu. . . .  Diejenigen  Kolonien,  die 
in  der  Schleuse  an  etwas  vorspringenden  Eisen- 
teilen saßen,  waren  meist  etwas  höher  als  die  an 
den  Wänden  sitzenden.  . . .  Von  großem  Einfluß 
auf    die    Tiere    scheint    der   Sauerstoffgehalt    des 


')  Biolog.  Zentralblau,  Bd.  41,  1921. 


652 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


,N.  F.  XX.  Nr.  45 


Wassers  zu  sein.  Am  besten  gedeihen  sie  an 
einer  Stelle,  dicht  am  Schleusentor,  wo  von  oben 
ein  Wasserrinnsal  in  der  Schleuse  und  auf  sie 
herabfloß." 

,,Die  Cordylophorastöcke  waren,  neben  einer 
reichen  Diatomeenflora,  mit  Peritrichen  (Cothurnia, 
Vorticella  und  besonders  Epistylis,  Carchesium 
und  Stentor  polymorphus  Ehrenb.)  und  ungewöhn- 
lich zahlreichen  Suktorien  besetzt. . . .  Den  Cordy- 
lophorastämmchen  dicht  angeschmiegt  wuchs 
überall  Paludicella  articulata  Ehrenb.,  die  schon 
Kraepelin  als  Begleiter  der  C.  für  Hamburg 
angibt;  und  weniger  zahlreich  Plumatella  fructicosa 
AUm.  und  vereinzelt  Lophopus  crystallinus  Pall. 
Recht  kümmerliche  Exemplare  von  Hydra  atte- 
nuata  Pallas  saßen  häufig  auf  ihnen.  Scharen  des 
aus  dem  Kaspisee  eingewanderten  Amphipoden 
Corophium  curvispinum  devium  Wundsch.  —  in 
England  fand  man  unter  gleichen  Umständen  das 
Corophium  crassicorne  Bruc.  —  bewohnten  neben 
großen  roten  Chironomuslarven  und  vielen  Cliaeto- 
gaster  diaphanus  Gruith.  den  Polypenrasen ,  der 
nuß-  bis  faustgroße  Stücke  von  Ephydatia  fluvia- 
tilis  L.  und  Spongilla  fragilis  Leidy  fast  überwuchs, 
während  sich  schlanke  verzweigte  Stücke  von 
Euspongilla  lacustris  L.  daraus  hervorschoben.  An 
den  Kolonien  saßen  ferner  junge  Dreissensien  und 
vereinzelt  kroch  auf  ihnen  Lymnaea  ovata  Drap, 
und  Cristatella  mucedo  Cuv.  herum.  .  .  ."  Von 
ganz  besonderem  Interesse  ist  die  Feststellung 
eines  zweifellosen  Polypenindividuums  von  Micro- 
hydra ryderi  Potts.,  das  in  dem  Detritus  zwischen 
den  C.-Stöcken  gefunden  wurde,  bisher  leider  nur 
in  konserviertem  Material.  Dieser  kleine  tentakel- 
lose und  von  einer  Gallerthülle  umgebene  Polyp 
wurde  erstmalig  von  Amerika  beschrieben,  später 
von  Goette  auch  bei  Straßburg  i.  E.  gefunden; 
die  zugehörige  Meduse  fing  Schorn  191 1  im 
Finowkanal  bei  Eberswalde.  Es  muß  vorläufig 
dahingestellt  bleiben,  ob  die  Art  durch  Schiffs- 
verkehr u.  dgl.  zu  uns  gekommen  ist ,  oder  ob 
ihr,  wie  das  wahrscheinlich  für  einige  Hydraarten 
zutrifft,  eine  ursprünglich  mehr  oder  weniger  kos- 
mopolitische Verbreitung  zukommt,  und  sie  in 
Europa  wegen  ihrer  Unscheinbarkeit  bisher  mei- 
stens übersehen  wurde.  Potts  fand  seine  Exem- 
plare zwischen  Bryozoenkolonien  und  glaubt,  daß 
die  wegen  ihrer  geringen  Beweglichkeit  und 
Tentakellosigkeit  zur  Ergreifung  von  Nahrungs- 
tieren wenig  geschickten  Polypen  auf  das  Zusam- 
menleben mit  den  lebhaft  herbeistrudelnden  Moos- 
tierchen   angewiesen    seien.      P.    Schulze:    „In 


unserem  Fall  wurden  die  Bryozoen  durch  die 
Cordylophorarasen  mit  ihrer  reichen  Biozönose 
ersetzt." 

Auf  Grund  morphologischer  Vergleichung  der 
in  Binnengewässern  festgestellten  verschiedenen 
Wuchsformen  von  Cordylophora  und  der  Brack- 
wasserform kommt  P.  S  c  h  u  1  z  e  zu  der  bedeut- 
samen Schlußfolgerung,  daß  die  Süßwasserformen 
gewissermaßen  fixierte  ontogenetische  Entwick- 
lungsstadien der  als  Typus  anzusprechenden  voll- 
entwickelten Form  im  Brackwasser,  wie  sie  F.  E. 
Schulze  beschrieb,  repräsentieren.  Sie  sind 
gegenüber  der  letzteren  also  nicht  Kolonien,  „die 
infolge  ungünstiger  Lebensumstände  als  Ganzes 
eine  Hemmung  erfahren  haben,  sondern  vielmehr 
Gebilde,  welche  über  eine  mehr  oder  weniger 
vorgeschrittene  Entwicklung  auf  die  Brackwasser- 
form zu  nicht  hinausgekommen  sind".  Folgende 
Formen  werden  unterschieden :  a)  forma  white- 
leggei  Lendenfeld.  Aus  einer  lang  hinkriechenden 
Hydrorhiza  erheben  sich  kleine  unverzweigte 
Einzelpolypen  (Hauptpolypen).  b)  f.  albicola 
Kirchenpaur.  Am  Hydrokaulus  des  Hauptpolypen 
treten  Seitenpolypen  i.  Ordnung  auf.  c)  f.  tran- 
siens  n.  f.  Außer  den  Seitenpolypen  i.  Ordnung 
treten  solche  2.  Ordnung  auf,  die  zu  sich  wieder 
gabelnden  Seitenästchen  auswachsen  können.  Das 
Material  von  Woltersdorf  1920/21  ist  der 
letzteren  Form  zuzurechnen. 

Als  Urheimat  der  Art  ist  nach  P.  Schulze 
mit  Wahrscheinlichkeit  die  westliche  Ostsee  an- 
zunehmen ,  von  wo  sie  in  das  Brackwasser  der 
Flußmündungen  und  in  die  östliche  Ostsee  vor- 
gedrungen ist.  Die  weitere  Verschleppung,  z.  T. 
indirekt  auf  an  Schiffen  sitzenden  Muscheln,  findet 
hauptsächlich  durch  den  in  der  Hydrorhiza  ein- 
gekapselten Weichkörper  (Menonten)  statt.  Für 
Ansiedlung  und  Gedeihen  scheinen  Sauerstoff- 
reichtum und  Dunkelheit  (in  Woltersdorf 
Abbiendung  durch  die  Schleusenwände!),  vielleicht 
auch  ein  gewisser  Gehalt  des  Wassers  an  Mineral- 
salzen bestimmend  zu  sein. 

Die  oben  beschriebene  Biozönose  auf  den 
Schleusentoren  war,  bis  auf  Mikrohydra,  Anfang 
und  Mitte  Juni  d.  J.  wieder  zu  voller  Entwicklung 
gelangt.  Während  im  Vorjahre  nach  Schul zes 
Bericht  nur  (J  Sporosaks  bei  der  Cordylophora  zu 
finden  gewesen  waren,  konnte  Ref.  diesmal  eine 
üppige  Entwicklung  von  $  Gonophoren  (bei  viel- 
fach schon  retrahiertem  Gonostyl  mit  7 — ii  Eiern 
bzw.  Embryonen  gefüllt)  feststellen. 

E.  Boecker-Treptow. 


Bücherbesprechungen. 


Schmidt,  Prof.  Dr.  Julius,  Kurzes  Lehrbuch 
der     organischen     Chemie.       2.,    neube- 
arbeitete   Auflage.      Stuttgart    1920,    Ferdinand 
Enke.     150  M. 
Der  Nachteil  der  vorhandenen  Lehrbücher  der 


organischen  Chemie  ist  entweder  der  Mangel  jeg" 
lieber  Literaturangaben,  wodurch  der  Studierende 
nur  zu  leicht  verleitet  wird,  sich  mit  dem  im  Lehr- 
buch Gebotenen  zu  begnügen.  Dies  gilt  vor  allem 
von    dem    Buche    von    Holleman.      Oder    der 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


653 


Nachteil  liegt  in  dem  Zuviel  an  Stoft'  und  Lite- 
raturhinweisen, wodurch  die  Lesbarkeit  unmöglich 
und  ein  aphoristischer  Bei  Ist  ein  geschaffen  ist. 
Typ  hierfür :  der  „Richte  r". 

Das  vorliegende  Lehrbuch  vermeidet  beide 
Übertreibungen.  In  zumeist  sehr  glücklicher 
Weise  ist  in  ihm  tatsächlich  der  wissenschaftliche 
Apparat  dem  pädagogisch  notwendigen  ausführ- 
licheren Stil  der  Darstellung  einverleibt.  So  ist 
ein  lesbares  Buch  entstanden,  dessen  zahlreiche, 
die  wichtigste  Literatur  nennenden  Fußnoten 
gleichzeitig  zu  den  Quellen  unmittelbar  hinführen. 
Ja,  der  Verf.  hat  noch  einem  weiteren  fruchtbaren 
Gedanken  Genüge  zu  tun  wenigstens  versucht: 
das  Allgemeine,  gewissermaßen  Physikalisch- 
Chemische  der  organischen  Verbindungen  von 
dem  schier  unübersehbaren  Zufälligen  der  stoff- 
lichen Individuen  zu  trennen.  So  scheidet  er 
einen  Allgemeinen  Teil  von  So  Seiten  vom 
Speziellen  Teil,  dem  allerdings  dann  über  700 
Seiten  zukommen.  Schon  aus  dieser  Raumbe- 
messung erhellt,  daß  der  erste  Teil  über  eine 
Aufzählung  der  Methoden,  der  Isomeriearten  und 
einiger  allgemeiner  physikalischen  Eigenschaften 
nicht  hinauskommen  kann.  Dieser  Teil  ist  darum 
nicht  befriedigend.  So  fehlt  im  Abschnitt  „Op- 
tisches Verhalten"  die  wichtige  Methode  der  Ab- 
sorptionsspektralanalyse, der  doch  eine  weit  höhere 
Bedeutung  zukommt  als  beispielsweise  der  Mole- 
kularrotation. Auch  über  Methoden  zur  Ortsbe- 
stimmung, zumal  der  Benzolderivate,  fehlt  näheres. 
Sodann  ist  der  durch  Hantzsch  so  geförderte 
Begriff  der  „Pseudosäuren"  nur  unzulänglich  er- 
wähnt. • — ■ 

Schön  angeordnet  und  höchst  erfreulich  dar- 
geboten ist  dagegen  der  Spezielle  Teil,  der  die 
drei  Hauptbücher  über  Fettverbindungen,  karbo- 
zyklische  und  heterozyklische  Verbindungen  um- 
faßt. In  vielem  von  der  Behandlungsweise  anderer 
Autoren  abweichend,  hat  der  Verf.  zweifellos  d  a  s 
Maß  an  Stoffen  und  Umsetzungen  gebracht,  das 
zum  Studium  unerläßliche  Grundlage  ist.  Manches 
sonst  stiefmütterlich  Behandelte  tritt  erst  in  diesem 
Buche  in  das  rechte  Licht.  Freilich  geht  Verf. 
auch  seinerseits  zuweilen  zu  weit.  Das  Kapitel 
über  Alkaloide,  an  sich  meisterlich  dargestellt,  ist 
bei  seinem  sehr  besonderen  und  schwierigen 
Charakter  entschieden  zu  breit  geraten. 

Der  Verf.  bringt  auch  neuste  Arbeiten.  Da 
ist  es  um  so  weniger  zu  verstehen,  wie  die 
wichtige  Methode  der  Bromtitration  zur  Bestim- 
mung von  Enolen  durch  K.  H.  Meyer  (S.  257) 
fehlen  konnte  1  Auch  die  optische  Analyse  fehlt. 
—  Auch  die  Ausführungen  über  Anilinschwarz 
(S.  754)  sind  ungenügend.  (Die  daselbst  stehende 
Fußnote  gehört  nach  S.  755!)  Und  die  Enzyme 
in  eine  F"ußnote  (S.  126)  zu  verweisen,  Will- 
stätter  und  Euler  dabei  nicht  einmal  zu  nennen, 
ist  ebenfalls  anfechtbar.  —  Erstaunen  muß  so- 
dann, daß  nicht  ein  Wort  über  die  organischen 
Siliziumverbindungen  gesagt  ist  und  auch  die  An- 
organoalkyl  Verbindungen     fast     ganz     fehlen.    — 


S.  636  bleibt  die  Formel  des  Dimethylpyrons 
unentschieden,  aber  die  vonBaeyer  stammende 
wahrscheinlichste  Formulierung  ist  nicht 
erwähnt.  —  Die  Formulierung  des  Phthalylchlorids 
S.  436  ist  gänzlich  veraltet.  Die  Arbeiten  von 
Ott  u.  a.  sind  dem  Verf.  anscheinend  entgangen. 
—  Dies  trifft  zu  auch  für  die  schönen  Unter- 
suchungen Böesekens  über  den  Einfluß  der 
Borsäure  auf  die  Leitfähigkeit  der  Phenole,  die 
gleichfalls  genannt  werden  mußten.  —  Schi  ff  sehe 
Basen  sind  kaum  angedeutet.  Und  auch  der  von 
W  i  e  1  a  n  d  geklärte  Mechanismus  der  Aldehyd- 
oxydation muß  künftig  eingehender  dargestellt 
werden.  —  Diesen  schwerer  wiegenden  Lücken 
treten  ein  paar  geringfügige  zur  Seite.  So  S.  404, 
wo  die  Umwandlung  von  Phenol  in  Anilin  fehlt, 
S.  652,  wo  der  Verlauf  der  Chinolinsynthese 
nach  S  k  r  a  u  p  wohl  falsch  dargestellt  ist,  wie  aus 
der  Chinaldinsynthese  hervorgeht.  Auch  sonst 
wird  dem  Kenner  mancherlei  auffallen.  Bericht- 
erstatter möchte  wünschen,  daß  eine  Neuauflage, 
die  hoffentlich  bald  nötig  wird,  die  angemerkten 
Schönheitsfehler  des  trefflichen  Buches  tilgt! 
Dann  hätten  wir  im  „Schmidt"  wirklich  ein  mo- 
dernes Lehrbuch  der  Art,  wie  die  heutige  Chemie 
es  benötigt. 

Das  Buch  ist  vorzüglich  gedruckt,  aber  wohl 
zu  rasch  korrigiert  worden.  Trotz  einer  Zusam- 
menstellung vieler  Iirrata  findet  sich  noch  eine 
große  Anzahl  davon. 

Absichtlich  sind  dem  Werk  besonders  strenge 
Maßstäbe  der  Beurteilung  angelegt  worden.  Es 
ist  zu  gut  als  daß  die  gemachten  Anstellungen 
schaden  könnten.  So  mag  es  nochmals  als  ein 
im  ganzen  treffliches  Lehrbuch  angelegentlich 
empfohlen  sein !  Der  leider  hohe  Preis  von  fast 
200  M.  ist  hoffentlich  kein  Abschreckungsmerk- 
mal. Hans  Heller. 

Dingler,  H.,   Physik  und  Hypothese.     Ver- 
such einer  induktiven  Wissenschaftslehre   nebst 
einer   kritischen    Analyse   der   Fundamente   der 
Relativitätstheorie.      XI,    200   S.      Berlin    und 
Leipzig     1921,    Vereinigung    wissenschaftlicher 
Verleger  Walter  de  Gruyter  &  Co. 
In    einer  Zeit,    in    der    auf   dem    Gebiete    der 
Physik  Anschauungen  auftreten,   die  in  so  grund- 
legender Weise  mit  den   bisher  gültigen  brechen, 
wie  es  die  Relativitätstheorie  tut,  liegt  die  Frage 
nahe,  ob  die  Grundlagen    dieser  Wissenschaft  auf 
so  unsicherem    Boden    stehen,   daß    wir   auch  für 
die    Zukunft    vor     derartigen    Umwälzungen    nie 
sicher    sein    können.      Es    sei    deshalb    gestattet, 
heute  auf  ein  Buch  hinzuweisen,    das  diese  Frage 
bis    in    ihre    letzten    Tiefen    hinein    zu    verfolgen 
sucht.      Ich    meine    die    Schrift    des    Münchener 
Mathematikers    Hugo    Dingler:     Physik     und 
Hypothese. 

Von  der  praktischen  Arbeit  des  Experimental- 
physikers ausgehend,  sucht  der  Verf.  den  Pro- 
blemen nahezukommen.  Der  Physiker  findet 
irgendwelche  Abhängigkeiten   in  den  Erscheinun- 


654 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  45 


gen  vor,  etwa  die,  daß  der  Aggregatzustand  des 
Wassers  abhängig  ist  von  der  Temperatur,  und 
sucht  nun,  diese  Abhängigkeit  genau  zahlenmäßig 
zu  bestimmen,  d.  h.  eine  Messung  vorzunehmen. 
Alles  Messen  ist  aber  ein  Vergleichen,  ein  Be- 
ziehen des  zu  Messenden  auf  einen  Maßstab.  Die 
Messung  kann  dabei  naturgemäß  niemals  die  Ge- 
nauigkeit des  Maßstabes  übertreffen.  Woher  hat 
der  Physiker  nun  seinen  Maßstab,  oder,  allge- 
meiner gesprochen,  den  starren  Körper,  der  zur 
Herstellung  physikalischer  Apparate  verwendet 
wird  ?  Zunächst  ist  zu  sagen ,  daß  die  in  der 
Praxis  verwandten  Apparate  durch  noch  genauere 
geeicht  werden,  diese  vielleicht  durch  noch  feinere 
Apparate.  Natürlich  kann  dieser  Prozeß  kein  un- 
endlicher sein,  sondern  wir  sehen  uns  zu  der 
Frage  geführt:  wie  wird  der  jeweils  genaueste 
vorhandene  starre  Körper,  der  „autogene"  starre 
Körper  geeicht?  Stellen  wir  uns,  wie  es  hierfür 
natürlich  notwendig  ist,  auf  den  Standpunkt,  daß 
wir  noch  keinerlei  physikalische  Kenntnisse  haben, 
so  ist  zu  fragen :  Wie  sollen  wir  experimentell 
feststellen,  welcher  Körper  geeignet  ist,  unsere 
Messungsbasis  zu  werden  ?  Wir  könnten  etwa 
zwei  Körper  von  verschiedenem  Material  mitein- 
ander vergleichen;  sie  mögen  die  gleiche  Länge 
zeigen.  Ein  Vergleich  am  nächsten  Tage  lehrt 
uns,  daß  die  Länge  der  beiden  Körper  sich  gegen- 
einander verschoben  hat;  woher  sollen  wir  nun 
wissen,  welcher  Körper  sich  verändert  hat,  und 
welcher  konstant  geblieben  ist,  oder  ob  nicht  viel- 
mehr beide  eine  Veränderung  erlitten  haben? 
Kommen  wir  also  mit  diesem  Kriterium  nicht 
durch,  so  wäre  daran  zu  denken,  einen  solchen 
Körper  als  starr  zu  wählen,  der  sich  dem  Druck 
unserer  Hand  als  besonders  widerstandsfähig  er- 
weist! Wir  haben  aber  keinerlei  Kriterium  dafür, 
daß  dieser  Körper  auch  gegenüber  andern  Ein- 
wirkungen die  gleiche  Widerstandsfähigkeit  zeigen 
wird  und  somit  für  unsere  Zwecke  geeignet  ist. 
Verzichten  wir  darauf,  die  sonstigen  Möglich- 
keiten, den  starren  Körper  experimentell  zu  fin- 
den, durchzugehen  (es  würde  sich  zeigen,  daß  sie 
alle  auf  ähnliche  Schwierigkeiten  stoßen),  so  bleibt 
nur  noch  ein  Kriterium  übrig;  es  ist  das,  welches 
tatsächlich  die  Konstrukteure  in  den  Fabriken  der 
feinmechanischen  und  optischen  Präzisionsindustrie 
anwenden,  nämlich  die  geometrischen  Beziehun- 
gen! Ein  Körper  wird  dann  als  starr 
betrachtet,  wenn  er  bei  jedesmaliger 
Nachprüfung  den  Gesetzen  der  euklidi- 
schen Geometrie  gehorcht. 

Diese  Definition  des  starren  Körpers  ist  aber 
nicht  das  Ergebnis  eines  Experimentes,  sondern 
einer  Festsetzung  unsererseits!  Sie  ist  eine  Kon- 
vention, zu  der  uns  die  Natur  in  keiner  Weise 
zwingt.  In  dieser  Definition  ist  nun  implizite 
die  Geometrie  unsres  Raumes  festgelegt,  denn 
alle  Abweichungen  von  den  Gesetzen 
der  euklidischen  Geometrie  bedürfen 
nunmehr  einer  besonderen  Erklärung 
und    können    nicht    auf    die    Natur    des 


Raumes  zurückgeführt  werden.  Ohne 
eine  derartige  Festsetzung  aber  kann  der  Natur- 
forscher keinen  Schritt  tun,  denn  angenommen, 
etwa  der  Geodät  mache  eine  Dreiecksmessung, 
bei  der  die  Winkelsumme  nicht  2  R  ist,  so  wäre 
dieses  Ergebnis  so  lange  vieldeutig,  als  er  noch 
keine  Festsetzung  über  die  Natur  unseres  Raumes 
getroffen  hat.  Er  könnte  etwa  sagen,  an  dieser 
Stelle  sei  unser  Raum  nicht  euklidisch;  tatsächlich 
aber  sagt  er:  hier  liegt  ein  Messungsfehler  vor, 
der  sich  durch  eine  Ungenauigkeit  der  verwandten 
Apparate  erklärt,  und  in  dieser  Interpretation 
steckt  eben  die  vom  Verf.  behauptete  Tatsache 
darin ,  daß  die  euklidische  Geometrie 
des  Raumes  nicht  durch  das  Experi- 
ment gefunden,  sondern  bei  diesem 
vorausgesetzt  wird. 

Ist  nunmehr  die  Messungsbasis  hergestellt,  so 
kann  der  Physiker  rein  experimentell  seine  IVIes- 
sungen  vornehmen;  freilich  hat  es  bei  den  bloßen 
Messungen  nicht  sein  Bewenden.  Der  Physiker 
beobachtet  nicht  nur  die  Vorgänge,  sondern  er 
sucht  sie  auch  zu  „erklären"!  Dieses  Erklären 
besteht  darin,  daß  ein  Vorgang  auf  lauter  be- 
kannte Einzelvorgänge  zurückgeführt  wird.  So 
wird  die  ungeheure  Fülle  der  beobachteten  Einzel- 
vorgänge zurückgeführt  auf  einige  Typen  von 
Grundvorgängen.  Das  Erklären  hat  also  letztlich 
seine  Wurzel  in  dem  Ordnungswillen  des  Physi- 
kers. [Dieser  Wille,  in  das  Chaos  der  Erschei- 
nungen Ordnung  zu  bringen,  ist  es  letztlich,  der 
überhaupt  die  Überwindung  des  vorwissenschaft- 
lichen Stadiums  notwendig  macht  und  am  An- 
fange aller  Wissenschaft  steht]  Nun  werden,  der 
Natur  des  Erklärens  entsprechend,  solche  Vor- 
gänge zum  Erklären  herangezogen  werden  müssen, 
die  uns  besonders  geläufig  sind ;  das  werden  aber 
solche  anschaulicher  Natur  sein.  Da  die  einzige 
Art,  in  der  es  dem  Menschen  möglich  ist,  auf 
seine  Umgebung  einzuwirken,  die  durch  Be- 
wegungen ist,  da  ferner  alles  Messen  auf  einer 
Feststellung  von  Bewegungen  j^nämlich  der  Skala 
unseres  Apparates]  beruht,  so  liegt  es  nahe,  in 
erster  Linie  die  Erscheinungen  auf  Bewegungen 
von  Körpern  zurückzuführen.  Solche  Erklärungen 
sind  gewissermaßen  anschauliche  Unter- 
bauungen des  wirklich  Beobachteten. 
Sie  enthalten  also  notwendig  nicht  faktisch  be- 
obachtete Elemente;  und  eben  deshalb  ist  es 
möglich,  einen  Vorgang  auf  verschiedene  Weisen 
zu  erklären,  bzw.  verschiedene  „Hypothesen"  auf- 
zustellen. 

Gelingt  es  nun  durch  die  Hypothesenbildung, 
zwei  Erscheinungsgebiete,  die  zunächst  zusammen- 
hanglos nebeneinanderstehen,  auf  eine  gemein- 
same Wurzel  zurückzuführen,  so  liegt  es  in  der 
Konsequenz  dieses  Verfahrens,  auch  zwei  Hypo- 
thesen wieder  durch  eine  gemeinsame  zu  um- 
spannen und  so  fort,  d.  h.  an  Stelle  der  Grund- 
typen von  Vorgängen,  von  denen  wir  vorhin 
sprachen,  letztlich  eine  einzige  Art  von  Vorgängen 
zu  setzen,   aus   der   alle   anderen   erklärt   werden. 


N.  F.  XX.  Nr.  45 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


655 


Zur  Aufstellung  einer  solchen  „Universalhypothese" 
zwingt  uns  auch  die  Überlegung,  daß  diejenigen 
Vorgänge,  die  zur  Erklärung  der  anderen  benutzt 
werden,  notwendig  selbst  unerklärt  blei- 
ben müssen;  also  werden  wir  versuchen  müssen, 
mit  einer  einzigen  Art  von  solchen  Vorgängen 
auszukommen. 

Zwingt  uns  nun,  wie  der  Verf.  zeigte,  die 
Natur  nicht  zu  der  Wahl  einer  bestimmten  „Ele- 
mentarkausalität", denn  es  können  ja  ganz  ver- 
schiedene Hypothesen  einer  und  derselben  Er- 
scheinung gerecht  werden,  so  müssen  wir  für 
diese  Wahl  ein  anderes  Kriterium  gebrauchen;  es 
ist  dasselbe,  das  uns  zur  Wahl  der  euklidischen 
Geometrie  veranlaßte,  das  wir  freilich  an  jener 
Stelle  noch  nicht  besonders  hervorhoben,  näm- 
lich das  Kriterium  der  logischen  Ein- 
fachstheitl  Wie  nämlich  die  Gerade  eine  ein- 
fachere Kurve  ist  als  der  Kreis,  weil  sie  nur  zwei 
willkürlich  bestimmbare  Konstanten,  der  Kreis 
aber  drei  hat,  so  läßt  sich  auch  zeigen,  daß  die 
euklidische  Geometrie  einfacher  ist  als  jede  nicht 
euklidische,  und  daß  der  einfachste  mögliche  Vor- 
gang der  Wirkung  von  Körpern  aufeinander  der 
des  Newtonschen  Gravitationsgesetzes  istl 
Dieses  selbst  muß  dann  natürlich  dauernd  uner- 
klärt bleiben  I 

Verf.  zeigt  so  in  dem  ersten  Teil  seines  Buches, 
daß  die  Physik  keine  reine  Erfahrungswissenschaft 
ist,  sondern  zwei  Punkte  enthält,  wo  „apriorische" 
Momente  in  ihr  stecken.  Wie  der  Physiker  bei 
jeder  Messung  O-Punkt  und  Maßeinheit  seines 
Apparates  festsetzen  muß  und  diese  nie  experi- 
mentell bestimmen  kann,  so  ist  gewissermaßen 
auch  die  Wahl  der  euklidischen  Geometrie  eine 
Nullpunktsetzung  und  die  Wahl  der  Elementar- 
kausalität nach  dem  Newtonschen  Gesetz  die 
Festsetzung  der  Maßeinheit. 

Verf.  beleuchtet  nun  in  einem  zweiten  Teil 
den  Zusammenhang  seiner  Gedankengänge  mit 
der  modernen  Philosophie,  insbesondere  der  Er- 
kenntnistheorie und  Logik.  Es  sei  nur  kurz  an- 
gedeutet, daß  hier  gezeigt  wird,  wie  sich  gewisse 
Prinzipien,  die  jeder  Wissenschaft,  nicht  nur  der 
Physik,  zugrunde  liegen,  insbesondere  das  Prinzip 
der  Eindeutigkeit,  letztlich  als  Konventionen  er- 
weisen, und  wie  sich  hieraus  wieder  die  logischen 
Axiome  ableiten  lassen. 

Schließlich  behandelt  der  Verf.,  wie  die  Kon- 
sequenz seiner  Ausführungen  zu  einer  Kritik  der 
Relativitätstheorie  führt.  Auf  diesen  letzten  Punkt 
sei  wenigstens  noch  in  einigen  Andeutungen  ein- 
gegangen. 

Prinzipiell  zwingt  uns,  das  ist  ja  die  Grund- 
these des  Verf.,  die  Natur  nicht  zu  der  Wahl 
einer  bestimmten  Geometrie  oder  einer  bestimmten 
Elementarkausalität.  Es  wäre  also  auch  eine 
prinzipiell  andere  Physik  und  eine  andere  Me- 
chanik möglich  wie  die  Newton  sehe.  Es  ließe 
sich  also  auch  die  Relativitätstheorie  zu  einem  in 
sich  konsequenten  System  der  Physik  ausbauen. 
[Zur  Zeit  ist  sie  dies  allerdings  nach  der  Meinung 


des  Verf.s  nicht,  denn  die  Einst  einsehe  Defi- 
nition der  Gleichzeitigkeit  hat  eine  andere  Defi- 
nition des  starren  Körpers  zur  Folge,  als  die  in 
der  bisherigen  Physik  übliche,  was  bislang  über- 
sehen ist.]  Aber  selbst,  wenn  diese  Inkonsequenzen 
ausgemerzt  würden,  glaubt  Verf.  sein  System  „der 
reinen  Synthese"  [wie  er  seine  Ableitung  der 
Grundlagen  der  Physik  und  das  daraus  resultierende 
System  der  Physik  nennt]  der  Relativitäts- 
theorie gegenüber  den  Vorzug  geben  zu  dürfen. 
Warum  ?  Die  Relativitätstheorie  wählt  die  Grund- 
lagen der  Physik  nicht  nach  dem  Kriterium  der 
logischen  Einfachstheit,  sondern  nach  dem  je- 
weiligen Stande  der  physikalischen  Wissenschaft. 
[Die  Tatsache,  daß  kein  Zwang  zu  einer  solchen 
Neuwahl  vorliegt,  ist  von  manchen  Anhängern 
der  Relativitätstheorie,  z.  B.  von  M.  Schlick 
(Raum  und  Zeit  in  der  gegenwärtigen  Physik, 
Berlin,  Julius  Springer,  2.  Aufi.  1919,  S.  83  fif.) 
prinzipiell  zugegeben  worden.]  Dieser  empiristische 
Gesichtspunkt,  der  in  der  Relativitätstheorie  die 
Bestimmung  der  Grundlagen  der  Physik  leitet, 
hat  aber  zur  P"olge,  daß  wir  in  Zukunft  jedesmal, 
wenn  sich  irgendwelche  experimentellen  Befunde 
der  Physik  (wie  dieses  Mal  die  bekannten  Er- 
scheinungen des  Lichts  im  F  i  z  e  a  u  -  und  Michel- 
son  versuch)  absolut  nicht  widerspruchsfrei  wollen 
erklären  lassen,  uns  veranlaßt  sehen  könnten,  diese 
Tatsachen  zum  Ausgangspunkt  einer  neuen  Physik 
zu  machen,  das  in  Frage  stehende  Problem  schei- 
bar  so  zu  lösen  auf  Kosten  der  ganzen  bisherigen 
Wissenschaft. 

Verf.  zeigt  hingegen,  wie  mit  viel  größerem 
Recht  die  Grundlagen  der  Physik  nach  von  der 
Erfahrung  unabhängigen  logischen  Prinzipien  be- 
stimmt werden,  und  wie  sich  so  ein  Weg  ergibt, 
zu  einem  System  der  Physik  zu  kommen,  das 
vor  derartigen  Umwälzungen,  wie  sie  die  Rela- 
tivitätstheorie bringt,  ein  für  allemal  gesichert  ist. 

Ein  Mißverständnis  wäre  es  zu  glauben,  daß 
der  Verf.  zeigen  wollte,  wie  die  physikalische 
Wissenschaft  tatsächlich  zustande  gekommen 
ist;  das  mag  allein  der  Historiker  der  exakten 
Wissenschaften  entscheiden.  Hier  handelt  es  sich 
vielmehr  um  die  erkenntnistheoretisch  -  logische 
Frage  nach  der  Sicherstellung  der  letzten  Grund- 
lagen der  Physik.  Es  ist  also  eine  Problemstellung, 
die,  wie  dem  philosophisch  gerichteten  Leser 
schon  deutlich  geworden  sein  wird,  der  Frage- 
stellung Kants  in  seiner  Vernunftkritik  nahe 
verwandt  ist,  so  verschieden  auch  die  Lösung  der 
Probleme  ausgefallen  ist. 

Rezensent  muß  es  sich  versagen,  den  Ge- 
dankengängen des  Verfs.  bis  ins  einzelne  zu  folgen, 
wobei  hier  und  da  auch  eine  kritische  Stellung- 
nahme notwendig  werden  würde.  Es  konnte  sich 
hier  nur  um  die  Herausarbeitung  der  Grundge- 
danken von  Dinglers  scharfsinnigen  und  geist- 
vollen Ausführungen  handeln. 

Walter  Scholz,  Hannover. 


656 


Maturwissenschaftliclie  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  45 


Schmaltz,  R.,  Das  Geschlechtsleben  der 
Haussäugetiere.  Dritte,  neubearbeitete 
Auflage  mit  67  Abb.  529  S.  Berlin  1921, 
Verlag  von  R.  Schoetz.  Geb.  75  M. 
Das  bekannte  Buch  von  Schmaltz,  früher 
ein  besonderer  Band  der  von  Harms  heraus- 
gegebenen „Geburtshilfe  bei  Haustieren"  erscheint 
in  der  vorliegenden  dritten  Auflage  zum  ersten 
Male  als  eigenes  selbständiges  Werk.  Es  ist  keines 
der  alltäglichen  Lehrbücher,  die  sich  mit  einer 
mehr  oder  minder  vollständigen  Registrierung  der 
vielen  Einzeltatsachen  begnügen,  sondern  ein  ge- 
radezu klassisches  Buch,  das  den  Leser  bei  der 
Lektüre  unwillkürlich  mit  sich  fortreißt  und  in 
überaus  anschaulicher  Form  das  weite  Gebiet  des 
Geschlechtslebens  unserer  wichtigsten  Haussäuger 
behandelt.  Knapp  und  klar  finden  sich  die  ana- 
tomischen Grundlagen  und  embryologischen  Vor- 
gänge gekennzeichnet,  soweit  sie  zur  Einführung 
in  den  Gegenstand  notwendig  sind,  doch  treten 
diese  Beschreibungen  überall  zurück  im  Vergleich  zu 
der  eingehenden  und  verständnisvollen  Würdigung, 
welche  die  biologischen  Vorgänge  im  Geschlechts- 
leben gefunden  haben.  Hier  zeigt  sich  Verf  als 
wahrer  IVleister  des  Stoffs  und  macht  den  Leser 
in  ungezwungener  sozusagen  selbstverständlicher 
Form  mit  den  mannigfachen  Fragen  und  Pro- 
blemen der  Fortpflanzungsgeschichte  vertraut. 
Eine  Fülle  von  bemerkenswerten  Belegen  und 
Beispielen,  die  in  der  h^achliteratur  vergraben  sind, 
findet  sich  hier  verzeichnet.  Oft  kann  der  Autor 
aus  dem  Schatze  seiner  reichen  Erfahrungen 
schöpfen  und  führt  eigene  Beobachtungen  an  den 
in  Rede  stehenden  Säugern  an.  Alle  einschlägigen 
Dinge  werden  beliandelt.  Die  so  vielfach  in  das 
Geschlechtsleben  hineinspielenden  psychologischen 
Momente,  die  in  dem  verschiedenartigen  Benehmen 
der  Tiere  zum  Ausdruck  kommen,  finden  sich 
ebenso  berücksichtigt  wie  die  vielen  anderen  Er- 
scheinungen, die  bei  der  Begattung,  der  Be- 
fruchtung, Fruchtbarkeit,  der  Trächtigkeitsperiode, 
der  Geburt  usw.  zu  beobachten  sind.  Auch  fehlt 
es  dabei  nicht  an  Vergleichen  und  Hinweisen  auf 
entsprechende  Vorgänge  beim  Menschen  oder 
bei  heimischen  Wildarten,  die  nicht  unter  dem 
Einfluß  der  Domestikation  stehen.  So  wird  das 
Buch  von  Schmaltz,  das  in  erster  Linie  für 
die  Kreise  der  Tierärzte,  Tierzüchter  und  Land- 
wirte bestimmt  ist ,  auch  jedem  Biologen  und 
Mediziner,  der  für  die  betreffenden  Gebiete  Inter- 
esse besitzt,  sehr  viel  Beachtenswertes  und  Lehr- 
reiches   bieten.      Auszusetzen    ist    wenig.      S.  264 


hätte  auf  die  Möglichkeit  von  Gattungsbastarden 
aufmerksam  gemacht  werden  können  (Edelfasan 
X  Haushuhn).  Die  S.  145  genannten  Wildrinder 
sind  keine  „Auerochsen",  sondern  Wisente.  Auch 
hatte  Iwan  off  nicht  zweifelhaft  gelassen,  was  er 
unter  Bison  versteht  und  damit  teils  den  russischen 
Wisent,  teils  Bison  amerlcanus  gemeint.  Da  bei 
der  Fülle  des  Stoffes  und  dem  Umfang  des  ganzen 
Gebietes  wohl  nicht  jeder  Leser  in  der  Lage  sein 
wird,  gleich  das  ganze  Werk  Seite  für  Seite  durch- 
zustudieren, so  ist  im  Interesse  des  raschen  Zurecht- 
findens  eine  Einrichtung  getroffen,  die  für  Bücher  von 
ähnlichem  Charakter  nachahmenswert  sein  dürfte: 
Zahlreiche  in  den  Text  eingefügte  Seitenzahlen 
setzen  jeden  in  den  Stand,  sobald  er  erst  einmal 
im  Register  nach  einem  Stichwort  die  einschlägige 
Stelle  gefunden  hat,  auch  weiter  sofort  alle  die- 
jenigen Stellen  im  Buch  aufzufinden,  an  denen  er 
über  die  betreffende  Frage  oder  über  verwandte 
Dinge  noch  weiteren  Aufschluß  bekommen  kann. 

R.  Heymons. 


Schmid,  Bastian,  Von  den  Aufgaben  der 
Tierpsychologie.  Mit  11  Abbildungen  im 
Text.  43  S.  In  Abhandlungen  zur  theoreti- 
schen Biologie  herausgegeben  von  J.  Schaxel. 
Heft  8.  Berlin  1921,  Gebr.  Bornträger.  12  M. 
Die  Tierpsychologie  stellt  einen  lange  ver- 
nachlässigten Zweig  der  Wissenschaft  dar.  Sie 
bildet  ein  Grenzgebiet,  auf  dem  sich  Philosophie 
und  Naturwissenschaft,  beide  von  verschiedenen 
Voraussetzungen  ausgehend,  eng  berühren,  ohne 
daß  bisher  weder  die  eine  noch  die  andere  Dis- 
ziplin es  fertig  gebracht  hat,  das  hier  zum  großen 
Teil  noch  brach  liegende  Feld  gründlich  zu  be- 
arbeiten. Als  Zweck  seiner  Schrift  bezeichnet 
Verf.  „unter  grundsätzlicher  Anerkennung  und  Be- 
tonung der  Realität  des  Psychischen  in  erster 
Linie  auf  vergessene  und  vernachlässigte  Kapitel 
der  Tierpsychologie  zu  verweisen".  Die  Aufmerk- 
samkeit will  er  namentlich  auf  die  mannigfachen 
Ausdrucksformen  bei  höheren  Tieren  lenken,  an 
denen  Psychisches  und  Physisches  in  Erscheinung 
tritt.  An  der  Hand  einwandfreier  zeichnerischer 
Darstellungen  und  photographischer  Aufnahmen 
werden  beispielsweise  die  Tanzformen  von  Kra- 
nichen, die  Spiele,  verschiedene  Affektzustände 
von  Säugetieren  und  Vögeln  besprochen,  ebenso 
wie  die  sog.  rechnenden  Pferde  und  Hunde  sowie 
die  Sprache  der  Tiere  in  den  Kreis  der  Betrach- 
tungen gezogen  sind.  R.  Heymons. 


Inball:  G.  Lilienthal,  Über  den  Segelflug  der  Vögel  und  das  Fliegen  der  Fische.  (6  Abb.)  S.  641.  • —  Einzelberichte: 
F.  Pax,  Schlesiens  Stellung  in  tiergeographischer  Hinsicht.  S.  644.  N.  R.  Dhar  und  G.  Chatterji,  Neue  Be- 
obachtungen über  Peptisation.  (l  Abb.)  S.  646.  O.  As  eh  an,  Neuentdeckte  Bestandteile  des  Kolophoniums.  S.  647. 
Zcleny,  Die  Rückbildung  der  Augen  durch  Mutation  bei  Drosophila.  (3  Abb.)  S.  648.  R.  Martin,  Skelettkult  und 
verwandte  Vorstellungen.  S.  650.  P.  Schulze,  Cordylophora  lacustris  Allm.  Eine  interessante  Biozönose  in  der 
Woltersdorfer  Schleuse  bei  Berlin.  S.  651.  —  Bücherbesprechungen:  J.  Schmidt,  Kurzes  Lehrbuch  der  organi- 
schen Chemie.  S.  652.  H.  Dingler,  Physik  und  Hypothese.  S.  653.  R.  Schmaltz,  Das  Geschlechtsleben  der 
Ilaussäugetiere.    S.    656.       Bastian  Schmid,  Von  den  Aufgaben  der  Tierpsychologie.  S.  656. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafle  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der   G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.   G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band ; 
der  ganieo  Reibe   36.  Buid. 


Sonntag,  den  13.  November  1921. 


Nummer  46. 


Die  Reizwirkung  der  Röntgen-  und  Radiumstrahlen. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  med.  et  phil.  Alois  Czepa. 


Am  Hause  des  physikalischen  Instituts  der 
Universität  in  Würzburg  ist  eine  Gedenktafel,  die 
die  Inschrift  trägt:  „In  diesem  Hause  entdeckte 
C.  W.  Röntgen  im  Jahre  1895  die  nach  ihm  be- 
nannten Strahlen".  Kurz  und  schlicht  sind  die 
Worte,  aber  von  inhaltsschwerer  Bedeutung. 

Die  Entdeckung  dieser  Strahlenart  ist  für  die 
Wissenschaft  und  für  die  ganze  Menschheit  von 
ungeheuerer  Bedeutung  gewesen.  Wir  haben  durch 
die  Kenntnis  dieser  Strahlenart  und  mit  ihrer  Hilfe 
einen  großen  Schritt  in  der  Ergründung  des  Atom- 
baues weiter  getan,  haben  umlernen  müssen  auf 
dem  großen  Gebiet  der  Physik  und  Chemie  und 
haben  in  den  Strahlen  ein  Hilfsmittel  für  den 
Arzt  gefunden,  das  noch  lange  nicht  vollständig 
ausgenützt  ist. 

Da  gerade  ein  Vierteljahrhundert  seit  der  Ent- 
deckung der  Strahlen  verflossen  ist,  verlohnt  es 
sich  eine  Rundschau  zu  halten,  über  die  Ent- 
wicklung unserer  Erkenntnis  und  über  den  Stand 
ihrer  Anwendung  vor  allem  auf  dem  Gebiete  der 
Medizin  und  es  ist  mehr  als  ein  Akt  der  Pietät 
dabei  des  großen  Mannes  zu  gedenken,  der  uns 
diese  wichtige  Entdeckung  geschenkt  hat.  Denn, 
wenn  auch  alle  Forscher,  die  seiner  Zeit  mit 
Kathodenstrahlen  arbeiteten,  sicher  Röntgen- 
strahlen unter  den  Händen  hatten,  so  gebührt 
doch  unstreitig  Röntgen  allein  das  Verdienst, 
diese  Strahlen  erkannt  zu  haben,  ihnen  nachge- 
gangen zu  sein  und  der  Welt  die  Entdeckung 
fertig  übergeben  zu  haben. 

Als  Ende  1895  die  erste  Mitteilung  Rönt- 
gens  „über  eine  neue  Art  von  Strahlen"  erschien, 
erwartete  man  in  der  physikalisch  medizinischen 
Gesellschaft  in  Würzburg  voll  Spannung  den  Abend 
des  23.  Januar  1896,  für  den  der  Entdecker  einen 
Vortrag  über  das  gleiche  Thema  angekündigt 
hatte.  Eine  große  Zuhörerschaft  begrüßte  ihn 
und  brachte  ihm  nach  Beendigung  seines  Vor- 
trages die  stürmischsten  Ovationen.  Kölliker 
erklärte,  daß  er  in  den  48  Jahren  seiner  Zuge- 
hörigkeit zur  physikalischen  Gesellschaft  noch  nie 
eine  so  bedeutende  Sitzung  mitgemacht  habe 
und  schlug  vor,  daß  man  diese  Strahlen  ihrem 
Entdecker  nach  Röntgensche  Strahlen  nennen 
soll.  In  dieser  Sitzung  wurde  die  Hand  K  ö  1 1  i  k  e  r  s 
auf  die  Platte  gezaubert  und  als  Kölliker 
Röntgen  fragte,  wie  er  sich  die  Verwendung 
der  Röntgenstrahlen  für  die  Medizin  vorstelle, 
antwortete  ihm  Röntgen,  daß  er  das  ganz  den 
Ärzten  überlassen  muß,  da  ihm  zur  Fortseztung 
der  Versuche  nach  dieser  Richtung  hin,  die  Zeit 
fehle.      Und   Röntgen    ist    damit   den   rechten 


Weg  gegangen.  Die  Ärzte  haben  sich  mit  Feuer- 
eifer auf  die  neue  Entdeckung  geworfen  und 
haben  mit  ungeheuerer  Mühe  und  mit  Hintan- 
setzung der  eigenen  persönlichen  Sicherheit  aus  den 
Strahlen  soviel  herausgeholt,  daß  heute  die  Rönt- 
genstrahlen für  die  Medizin  einfach  unentbehrlich 
geworden  sind. 

Heute  sind  wir  nicht  nur  in  der  Lage  durch 
Photographien  die  Knochen  des  lebenden  Menschen 
uns  sichtbar  zu  machen  und  aus  ihrem  Aussehen 
auf  ihren  Zustand  zu  schließen,  sondern  haben 
auch  mit  Hilfe  des  im  Röntgenlichte  aufleuchten- 
den Ba-Cyanürschirmes  und  seiner  Ersatzprodukte 
in  das  Innere  des  Menschen  hineinsehen  und  die 
sich  uns  darbietenden  Schattengebiide  deuten  ge- 
lernt. Was  das  für  das  Erkennen  von  krankhaften 
Prozessen  bedeutet,  mag  man  daraus  erkennen, 
daß  man  früher  über  die  Funktion  verschiedener 
Organe  im  lebenden  Organismus  fast  gar  nicht, 
und  wie  es  sich  durch  die  Röntgenuntersuchungen 
ergab,  oft  falsch  unterrichtet  war.  So  kannte 
man  den  menschlichen  Magen  nur  aus  den  Leichen 
oder  den  auf  dem  Operationstisch  liegenden 
Patienten.  Im  Röntgenbilde  aber  sah  man  den 
Magen  arbeiten  und  gewann  erst  nach  und  nach 
die  richtigen  Vorstellungen  über  sein  normales 
Aussehen  und  Arbeiten  allerdings  erst  nach  Be- 
kämpfung des  heftigsten  Widerspruches  von  selten 
der  Anatomen  und  Chirurgen.  War  z.  B.  früher 
die  Diagnose  Magengeschwür  sehen  gestellt,  so 
ist  sie  heute  nach  der  allgemein  üblichen  Röntgen- 
untersuchung sehr  häufig  und  die  früher  so  oft 
konstatierten  nervösen  Magenbeschwerden  haben 
sich  zum  größten  Teil  als  Magen-  und  Zwölf- 
fingerdarmgeschwüre entpuppt. 

Die  Röntgenuntersuchung  ist  heute  ein  wichtiges 
Glied  in  dem  normalen  Untersuchungsgang  eines 
Patienten  geworden,  und  wir  könnten  sie  heute 
nicht  mehr  missen. 

Die  Röntgenstrahlen  sind  aber  auch  noch  in 
anderer  Beziehung  für  die  Medizin  von  der  größten 
Bedeutung,  weil  sie  sich  als  ein  ganz  hervorragen- 
des Heilmittel  für  die  verschiedensten  Krankheiten 
erwiesen  haben.  Daß  die  Strahlen  überhaupt  auf 
den  Organismus  wirken,  war  natürlich  von  vorn- 
herein nicht  zu  erwarten,  zeigte  sich  aber  sehr 
bald,  da  sich  bei  den  mit  den  Strahlen  arbeitenden 
Physikern  sehr  bald  an  den  Hautstellen,  die  den 
Strahlen  am  meisten  ausgesetzt  waren,  Entzün- 
dungen einstellten,  die  oft  zu  tiefen,  nur  langsam 
abheilenden  Geschwürsbildungen  führten.  Die 
Ärzte  wandten  sich  deshalb  mit  großem  Interesse 
dem  Studium  der  biologischen  Wirkung  der  Röntgen- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  46 


strahlen  zu,  indem  sie  von  dem  richtigen  Ge- 
danken ausgingen,  daß  die  in  großen  Mengen 
schädlichen  Strahlen  in  gewissen  geringeren 
Mengen  wahrscheinlich  eine  heilende  Wirkung 
haben  werden. 

Man  hat  die  Strahlen  bei  den  verschiedensten 
Krankheiten  auf  ihre  Wirksamkeit  probiert  und 
hat  erkennen  müssen,  daß  die  Verwendungs- 
möglichkeit der  Strahlen  als  Heilmittel  eine  schier 
unbegrenzte  ist.  In  allen  Zweigen  der  Medizin 
gibt  es  Krankheiten,  für  die  die  Strahlen  das 
geeignetste  Heilmittel  sind.  Sogar  die  Chirurgie 
hat  einen  Teil  ihrer  Herrschaft  an  die  Strahlen- 
heilmethode abtreten  müssen.  Alle  diese  Krank- 
heiten hier  aufzuzählen,  die  unter  der  Strahlen- 
behandlung zur  Heilung  kommen,  ist  unmöglich. 
Ich  will  nur  erwähnen,  daß  wir  in  den  Strahlen 
auch  ein  sehr  wirksames  Mittel  gegen  eine  der 
Behandlung  am  hartnäckigsten  trotzenden  Krank- 
heit haben,  gegen  die  bösartigen  Geschwülste, 
den  Krebs  und  das  Sarkom. 

Während  aber  in  der  ersten  Zeit  nach  der 
Entdeckung  der  Röntgenstrahlen  die  Wirkung  der 
neuen  Strahlen  auf  den  Organismus  überhaupt 
studiert  wurden,  hat  man  diesen  Weg,  nachdem 
er  einmal  bekannt  schien,  ganz  verlassen  und  hat 
sich  nur  mehr  der  Behandlung  der  Krankheiten 
gewidmet  und  dabei  eine  Wirkung  der  Röntgen- 
strahlen fast  ganz  vergessen  lassen ,  die  vielleicht 
noch  in  späterer  Zeit  zu  besonderer  Wichtigkeit 
emporsteigen  wird,  das  ist  die  Reizwirkung,  die 
die  Strahlen  auf  das  organische  Gewebe  ausüben. 

Wir  müssen  zwei  verschiedene  Wirkungen  der 
Strahlen  unterscheiden,  die  einen,  die  zu  einer 
Degeneration  der  bestrahlten  Zellen  führt  und 
eine  zweite,  die  eine  rein  stimulierende  Wirkung 
auf  die  Zelle  ausübt,  die  nicht  von  Degeneration 
der  Zelle  gefolgt  ist  und  die  sich  in  einem  be- 
schleunigten Wachstum  oder  in  einer  gesteigerten 
Zellfunktion  äußert.  Wie  zu  erwarten  ist,  ist 
diese  verschiedene  Wirkung  der  Strahlen  abhängig 
von  der  im  Gewebe  absorbierten  Menge  von 
Strahlen.  Geringe  Strahlenmengen  setzen  einen 
Reiz,  größere  führen  zur  Degeneration. 

Da  nun  die  verschiedenen  Zellen  des  Organis- 
mus eine  verschiedene  Empfindlichkeit  für  die 
Strahlen  haben  und  bei  der  Behandlung  vieler 
Krankheiten  eine  Degeneration  bestimmter  Zellen 
erwünscht  ist,  so  wird  heute  bei  der  Röntgen- 
behandlung von  der  zerstörenden  Wirkung  der 
Strahlen  viel  Gebrauch  gemacht.  Die  stimulie- 
rende Wirkung  der  Strahlen  wird  heute  noch  sehr 
wenig  benutzt,  vor  allem  deshalb,  weil  man  ihre 
Reichweite  und  ihre  Anwendungsmöglichkeit  fast 
noch  gar  nicht  kennt. 

Im  folgenden  will  ich  nun  versuchen,  unsere 
bisherigen  Kenntnisse  über  diese  Reizwirkung  der 
Röntgenstrahlen  kurz  zusammenzustellen,  werde 
mich  also  dabei  nicht  bloß  auf  die  Röntgen- 
strahlen allein  beschränken,  sondern  die  ganz 
gleich  wirkenden  Strahlen  der  radioaktiven  Sub- 
stanzen, also  des  Radiums,  Thoriums,  Mesothoriums 


mit  einbeziehen.  Denn  sowohl  die  Röntgenstrahlen, 
sowie  die  y- Strahlen  des  Radiums  sind  Schwin- 
gungen des  hypothetischen  Weltäthers  und  unter- 
scheiden sich  voneinander  nur  durch  die  Schwin- 
gungszahl und  damit  durch  ihr  Vermögen  in  die 
Tiefe  zu  dringen.  Radiumstrahlen  sind  penetrie- 
render als  die  Röntgenstrahlen,  sind  aber  in  ihrer 
biologischen  Wirkung  gleich. 

Um  in  die  folgende  Darstellung  der  bis  heute 
bekannten  Einzelheiten  ein  System  zu  bringen, 
will  ich  die  Reizwirkungen  der  Strahlen 
nach  ihren  am  meisten  in  die  Augen  fallenden 
Endeffekte  einteilen,  in  die  Neigung  des  Wachs- 
tums und  in  die  Erhöhung  der  Zellfunktion,  wo- 
mit ich  natürlich  nicht  sagen  will,  daß  sich 
im  einzelnen  Falle  ein  solcher  strenger  Unter- 
schied finden  wird.  In  ein  und  demselben.  Orga- 
nismus werden  gewiß  durch  die  Strahlen  die  ver- 
schiedenen Zellen  verschieden  gereizt  und  wir 
werden  Förderung  der  Wachstumsfähigkeit  und 
Steigerung  der  Zellfunktion  nebeneinander  finden. 
Diese  Einteilung,  die  ich  hier  aus  rein  technischen 
Gründen  anwende,  um  die  einzelnen  Ergebnisse 
nicht  ganz  willkürlich  aneinanderzureihen ,  soll 
nicht  eine  fixe  Behauptung  vorwegnehmen  und 
eine  zweifache  Wirkung  der  Reizstrahlen  als  ab- 
solut sicher  feststehend  bezeichnen;  sie  ist  ledig- 
lich nach  dem  sinnfälligen  Eindruck  bei  der  Be- 
sprechung der  Gesamtwirkung  getroffen.  Irgend- 
eine Erklärung  der  Strahlenwirkung,  auf  die  ich 
zum  Schlüsse  eingehen  will,  soll  sie  nicht  bein- 
halten. 

Als  bestes  Versuchsobjekt  haben  sich  die 
Pflanzen  erwiesen,  weil  ihre  Zellen  viel  unempfind- 
licher gegen  die  Röntgenstrahlen  sind  als  die  des 
tierischen  Organismus.  Der  tierische  Organismus 
wird  schon  durch  Strahlenmengen  geschädigt,  die 
den  pflanzlichen  Organismus  noch  fast  unbeeinflußt 
lassen. 

Die  ■  Versuche,  die  eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen ausführten,  bewegten  sich  in  der  Rich- 
tung, daß  von  einer  großen  Anzahl  von  einer 
Pflanze  gewonnener  Samen  gleich  große  Mengen 
verschieden  stark  bestrahlt  und  dann  alle  gleich- 
zeitig mit  unbestrahlten  Samen  aus  derselben 
Zucht  ausgesät  wurden.  Es  zeigte  sich  dann 
regelmäßig,  daß  die  ganz  wenig  bestrahlten  Samen 
so  wie  die  Kontrollen  wuchsen,  also  scheinbar 
unbeeinflußt  waren,  daß  die  am  stärksten  be- 
strahlten gegenüber  den  Kontrollen  stark  im  Wachs- 
tum zurückblieben  und  oft  Anomalien  in  der 
Form  und  Farbe  der  Blätter  aufwiesen,  daß  aber 
die  mit  mittleren  Dosen  bestrahlten  Samen  den 
Kontrollen  im  Wachstum  voraneilten,  kräftiger  im 
Wuchs  waren  und  sattere  Farben  der  Blätter 
aufwiesen. 

So  zeigte  Cattley  von  der  Iris,  Narzisse, 
Gladiole,  Hyazinthe,  daß  eine  Bestrahlung  von 
S — 30  Minuten  Dauer  eine  Beschleunigung  des 
Wachstums  hervorruft,  daß  bei  30  Minuten  Be- 
strahlungsdauer die  wachstumfördernde  Wirkung 
ihr  Maximum  erreicht  hat  und   daß   bei  weiterer 


r» 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Erhöhung  der  Bestrahlungsdauer  und  Intensität 
die  Wirkung  in  das  Gegenteil  umschlägt  und  die 
Pflanzen  in    ihrem    Wachstum    gehemmt    werden. 

So  sind  auch  die  Versuche  von  Schmidt, 
E.  Schwarz,  Erler,  Guillemont,  Maldi- 
ney  und  Thouvenin,  Wolfenden  und 
Forbes-Roß.  Sie  experimentierten  mit  Bohnen, 
Zuckererbsen,  Kresse,  Hirse,  Levkojen. 

Alle  fanden,  daß  der  trockene  Samen  weniger 
empfindlich  ist,  als  der  keimende  und  daß  die 
halbwüchsige  oder  erwachsene  Pflanze  sich  für 
Wachstumsreize  ganz  unempfindlich  erweist. 

Interessant  ist  nun,  daß  Molisch  an  den 
Knospen  von  Flieder  und  der  Roßkastanie  zeigen 
konnte,  daß  auch  die  erwachsene  Pflanze  für 
Wachstumsreize  empfänglich  ist,  wenn  man  ihre 
Knospen  im  Stadium  der  Ruhe  bestrahlte.  Er 
verwendete  zu  seinen  Versuchen  Radium  und 
fand,  daß  die  bestrahlten  Knospen  viel  früher 
ausschlugen,  als  die  unbestrahlten,  daß  man  aber 
den  richtigen  Zeitpunkt,  nämlich  den  des  Ruhe- 
stadiums, zur  Bestrahlung  wählen  müsse.  Bestrahlt 
man  früher,  so  tritt  keine  Wachstumsänderung 
ein,  bestrahlt  man  später,  so  erfolgt  eine  Wachs- 
tumshemmung. 

Stoklasa  konnte  zeigen,  daß  bei  Verwendung 
von  geringen  Mengen  von  Radiumemanation  die 
Assimilationspotenz  des  elementaren  Stickstoffs 
bei  den  Bakterien,  die  wie  Azotobakter  den  ele- 
mentaren Stickstoff"  assimilieren  oder  die  stickstoff- 
haltige Substanzen  zersetzen,  und  bei  den  Deni- 
trifikationsbakterien, ungemein,  bis  über  70%, 
steigt.  Allerdings  sind  es  gerade  die  «Strahlen, 
die  eine  so  günstige  Wirkung  ausüben,  während 
die  ß-  und  y  Strahlen  des  Radiums  immer  eine 
Wachstumsverzögerung  zur  Folge  haben.  Die 
«-Strahlen  sind  positiv  geladene  Heliumatome,  die 
infolge  ihrer  verhältnismäßigen  Größe  von  den 
Pflanzengewebe  stark  absorbiert  werden,  während 
wir  die  ß  Strahlen  als  Kathodenstrahlen,  also  Elek- 
tronen, und  die  y  Strahlen  als  reine  Lichtstrahlen, 
Ätherschwingungen,  auffassen.  Stoklasa  konnte 
ferner  zeigen,  daß  bei  den  höheren  Pflanzen,  unter 
Einwirkung  geringer  Radiumemanationsmengen 
(150—160  Mach- Einheiten  pro  Liter  Luft)  die 
Kohlensäureausscheidung  und  die  Sauerstoffauf- 
nahme im  Tageslichte  bedeutend  erhöht  ist,  daß 
aber  größere  Mengen  den  Atmungsprozeß  ent- 
schieden beeinträchtigen. 

Stoklasa  bestimmte  ferner  die  Trockensub- 
stanz an  Pflanzen,  die  unter  gleichen  Bedingungen 
gehalten,  von  denen  aber  ein  Teil  mit  radioaktivem 
Wasser,  ein  Teil  mit  nicht  radioaktivem  Wasser 
begossen  wurde  und  fand  Unterschiede  von  68  bis 
158  "/q  im  Gewichte  zugunsten  der  mit  radio- 
aktivem Wasser  begossenen  Pflanzen.  Auch  der 
Ertrag  der  Samen  ließ  sich  durch  radioaktives 
Wasser  bis  um  1 1 7  "/q  erhöhen ;  es  fand  ein 
schnellerer  Blütenansatz  und  eine  raschere  Be- 
fruchtung statt. 

Alle  diese  Versuche,  die  derzeit  nur  erst  ein 
rein    theoretisches   Interesse   haben,    lassen    doch 


einen  Ausblick  in  die  Zukunft  und  in  die  Praxis 
offen.  Vielleicht  ergibt  sich  doch  in  absehbarer 
Zeit  eine  Möglichkeit  von  diesen  Kräften,  die  den 
Ertrag  unserer  Landwirtschaft  erhöhen  könnten, 
ausgiebigen  Gebrauch  zu  machen. 

Erwähnen  möchte  ich  hier  noch  die  Experi- 
mente Albers-Schönbergs,  der  Gartenerde 
mit  Röntgenlicht  bestrahlte,  dann  die  Gefäße 
mit  Samen  von  Bohnen,  Erbsen  und  Kresse  be- 
pflanzte und  nun  beobachten  konnte,  daß  die 
Samen  in  den  bestrahlten  Töpfen  in  mehreren 
Fällen  i — 2  Tage  früher  an  die  Oberfläche  kamen 
als  die  Kontrollpflanzen,  daß  im  bestrahlten  Erd- 
reich mehr  Keime  aufgingen  als  im  unbestrahlten 
und  daß  die  in  den  bestrahlten  Töpfen  wachsen- 
den Pflanzen  stärker  im  Längen-  und  Dickenwachs- 
tum der  Wurzel,  und  in  der  Zahl  und  Größe  der 
Blätter  waren. 

Ich  möchte  hier  auf  eine  Erklärung  dieser 
merkwürdigen  Ergebnisse  Albers-Schönbergs, 
die  später  von  Ruediger  allerdings  wenig  glück- 
lich nachgeprüft  und  als  richtig  befunden  wurden, 
verzichten,  weil  sie,  wenn  man  nicht  annimmt, 
daß  eventuell  die  Stickstoffbakterien  des  Bodens 
zu  rascherem  Wachstum  und  stärkerer  Assimi- 
lation angeregt  würden,  doch  nur  auf  dem 
schwankenden  Boden  vager  Hypothesen  stehen 
könnte. 

Diesen  Versuchen  mit  Pflanzen  lassen  sich  nur 
wenige  Versuche  an  Tieren  anschließen. 

Lazarus-Barlow  und  B o n n e y  zeigten 
an  Eiern  von  Ascaris  megalocephala,  die  sie  mit 
Röntgenstrahlen,  Radium,  Uranium  und  Thorium 
behandelten,  daß  man  mit  allen  diesen  Strahlen 
eine  Beschleunigung  der  Zellteilung  erzielen  kann, 
wenn  man  ganz  kleine  Dosen  wählt,  daß  aber 
die  Anwendung  größerer  Strahlenmengen  eine 
deutliche  Verzögerung  der  Zellteilung,  häufig  auch 
das    Entstehen   von  Mißbildungen   zur  Folge   hat. 

Die  gleichen  Resultate  hatte  auch  E.  Schwarz 
am  gleichen  Objekt;  auch  er  fand,  daß  die  nur 
ganz  gering  bestrahlten  Eier  schon  deutliche 
Würmchen  erkennen  ließen,  während  die  unbe- 
strahlten noch  plumpe  unbewegliche  Formen  ent- 
hielten. Allerdings  glich  sich  bei  seinen  Ver- 
suchen dieser  Unterschied  im  weiteren  Verlaufe 
der  Entwicklung  wieder  aus,  indem  die  be- 
strahlten Eier  in  der  Entwicklung  zurückblieben 
und  von  den  unbestrahlten  eingeholt  wurden. 

Viel  deutlichere  Ergebnisse  hatten  Hast  in  gs, 
B  e  c  t  o  n  und  W  e  d  d,  die  mit  Seidenraupen  experi- 
mentierten. Sie  untersuchten  in  einem  Zeitraum 
von  3  Jahren  die  Reizwirkung  der  Röntgen-  und 
Radiumstrahlen  auf  alle  Entwicklungsformen  des 
Insektes  und  kamen  zu  folgenden  Resultaten. 

Während  das  Stadium  der  Verpuppung  bei 
59  Kontrollen  im  Durchschnitt  23,55  Tage,  im 
Maximum  24,  im  Minimum  23  Tage  dauerte, 
dauerte  es  bei  38  bestrahlten  Raupen  im  Durch- 
schnitt nur  19,6  Tage. 

In  jedem  Falle  von  13  verschiedenen  Serien 
von  Eiern  (im  ganzen  wurden  ca.  40000  Eier  be- 


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obachtet)  konnte  eine  deutliche  Beschleunigung 
des  Auskriechens  der  bestrahlten  Eier  festgestellt 
werden.  Diese  Beschleunigung  hielt  auch  bei  den 
Nachkommen  dieser  bestrahlten  Eier  an. 

Auch  das  Durchschnittsgewicht  der  Kokons 
ist  bei  den  bestrahlten  Raupen  größer  als  bei  den 
unbestrahlten. 

Man  sieht  schon  aus  diesen  wenigen  Versuchen, 
um  wie  viel  feiner  die  Unterschiede  in  den  Er- 
gebnissen bei  den  Tieren  als  bei  den  Pflanzen 
sind  und  wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn  wir 
ihre  Ursache  in  dem  verwickeiteren  Körperbau 
des  Tieres  suchen,  bei  dem  die  einzelnen  Organe 
verschieden  empfindlich  sind  und  bei  denen  ge- 
wiß selbst  bei  schwacher  Bestrahlung  schon  einzelne 
Organe  geschädigt ,  während  andere  noch  voll- 
ständig unbeeinflußt  sind. 

Deutliche,  augenfällige  Beweise  für  die  Förde- 
rung des  Wachstums  der  Tiere  durch  Reizstrahlen 
haben  wir,  wenn  wir  von  den  vorher  erwähnten 
Ergebnissen  bei  den  Seidenraupen  absehen,  nicht; 
die  Resultate,  die  man  an  Tieren  gewonnen  hat, 
lassen  sich  nur  als  eine  Erhöhung  des  Funktions- 
reizes gewisser  Organe  und  Zellgruppen  des 
tierischen  Organismus  auffassen.  Ob  das  mit 
einer  Zellverm.ehrung  der  betreffenden  Organe  oder 
nur  mit  einer  Beschleunigung  des  Stoffwechsels 
zusammenhängt,  läßt  sich  natürlich  nicht  so  ohne 
weiteres  entscheiden  und  erst  die  spätere  Zeit 
wird  darüber  Aufschluß  geben  können. 

Ich  erwähne  hier  gleich  die  Versuche  Hal- 
bans  an  Triton  vulgaris;  dieser  Molch  trägt  be- 
kanntlich nur  zur  Laichzeit  einen  Rückenkamm. 
Halban  hielt  die  Molche  im  Frühjahr  in  Gläsern, 
deren  Wasser  16000,  32000,  64000  und  128000 
Mach-Einheiten  von  Radiumemanation  enthielt 
und  konnte  sehen,  daß  bei  den  Tieren,  die  sich 
in  den  am  stärksten  emanationshaltigen  Wasser 
befanden,  bereits  nach  48  Stunden  ein  deutlicher, 
oft  schon  ein  maximaler  Kamm  entwickelt  war, 
während  die  in  den  schwächeren  Gläsern  erst 
einige  Tage  später  den  Kamm  ausbildeten  und 
die  Kontrolltiere  ganz  langsam  in  der  Kamment- 
wicklung vorwärts  kamen.  Umgekehrt  ging  die 
Rückbildung  des  Kammes  vor  sich.  Die  Kon- 
trolltiere verloren  ihn  zuerst,  die  Molche  in  den 
stärksten  Gläsern  zuletzt.  Halban  fand  auch, 
daß  die  der  Emanation  ausgesetzten  Tiere  sich 
rascher    und  stärker  häuteten    als   die  Kontrollen. 

Halban  versuchte  dann,  auch  außerhalb  der 
Laichzeit  bei  Triton  vulgaris  einen  Kamm  zu  er- 
zielen. Das  einzige  Tier,  das  er  im  August  auf- 
treiben konnte,  bildete  im  Wasser  von  32000 
Mach  Einheiten  innerhalb  von  24  Stunden  einen 
deutlichen  2  mm  hohen  Kamm,  der  sich  aber  so- 
fort wieder  zurückbildete  und  nach  48  Stunden 
wieder  vollkommen  verschwunden  war. 

Ähnlich  im  Ergebnis  sind  die  Versuche  von 
Fellner  und  Neumann  an  Kaninchen.  Die 
Untersucher  gaben  jungen  3  Monate  alten  Tieren 
emanationshaltiges  Wasser  teils  zu  trinken,  teils 
injizierten   sie    es   ihnen   intravenös.     Die   Unter- 


suchung der  Tiere  ergab  bei  diesen  Tieren  im 
Gegensatz  zu  den  normalen  Kontrollen  eine  früh- 
reife der  Ovarien  und  des  Uterus. 

In  beiden  Versuchen  sehen  wir  die  Genital- 
organe zu  regerer  Funktion  angeregt;  im  ersten 
Fall  ist  es  das  Auftreten  eines  sekundären  Ge- 
schlechtsmerkmals, dessen  Entstehen  ja  auf  die 
von  den  Genitalorganen  ausgehenden  Hormone 
zurückgeführt  werden  muß,  im  zweiten  Falle  ist 
es  die  frühzeitige  Entwicklung  der  Genitalorgane 
selbst.  Daß  die  Keimdrüsen  den  Strahlen  gegen- 
über besonders  empfindlich  sind,  ist  seit  langem 
bekannt  und  alle  die,  die  in  den  ersten  Jahren 
der  Röntgenära  längere  Zeit  ohne  Schutz  mit  den 
Röntgenstrahlen  experimentierten ,  haben  am 
eigenen  Leibe  diese  verderbliche  Wirkung  der 
Strahlen  erfahren  müssen,  die  sie  für  längere  Zeit 
oder  gar  für  dauernd  sterilisierten.  Heute  wird 
von  dieser  Empfindlichkeit  der  Keimdrüsen  viel 
Gebrauch  gemacht.  Während  man  früher  die 
Myome,  gutartige  Geschwülste  der  Muskularis  des 
Uterus  bei  Frauen,  operierte,  falls  sie  den  Frauen 
durch  Verlängerung  und  Verstärkung  der  Menstru- 
ation Beschwerden  machten,  ist  heute  für  diese 
Erkrankung  die  Bestrahlung  das  fast  allein 
herrschende  Heilmittel.  Man  bestrahlt  die  Ovarien, 
da  mit  deren  Verödung  die  Menstruation  und  da- 
mit die  unangenehmen  Blutungen  des  Myoms  auf- 
hören. Allerdings  trifft  man  mit  der  Bestrahlung 
auch  die  zwischen  den  Follikeln  im  Ovarium  be- 
findliche Substanz,  die  sog.  Puberlätsdrüse,  die 
die  Erzeugerin  der  Hormone  sein  soll,  die  die 
sekundären  Geschlechtscharaktere  im  Organismus 
bedingen.  Wenn  man  diese  Drüse  schädigt, 
schädigt  man  die  Hormonerzeugung,  der  Körper 
wird  rasch  alt,  regt  man  sie  zu  stärkerem  Wachs- 
tum an,  so  wird  die  Hormonerzeugung  vermehrt, 
der  Körper  bekommt  wieder  einen  Teil  der 
jugendlichen  Frische  und  Kraft.  Diese  Ideen 
Steinachs  sind  heute  fast  Gemeingut  des  Volkes 
geworden  und  die  Verjüngung  ist  ebensoviel  be- 
staunt als  belacht  worden.  Die  Versuche,  die 
Steinach  an  Ratten  und  Meerschweinchen  aus- 
geführt, lassen  sich  begreiflicherweise  nicht  ohne 
weiteres  auf  den  Menschen  übertragen.  Die  Exi- 
stenz einer  Pubertätsdrüse  wird  heute  noch  von 
vielen  Autoritäten  angezweifelt  und  die  Möglich- 
keit einer  Verjüngung  des  Menschen  durch  Rönt- 
genstrahlen ist  zumindestens  heute  praktisch  noch 
unmöglich.  Die  vereinzelten  Fälle,  die  man  als 
einen  Beweis  für  die  Möglichkeit  dieses  Unter- 
nehmens ins  Feld  führen  könnte,  sind  bis  jetzt  nur 
zufällige  Ergebnisse  und  nicht  bewußt  erzeugt.  Eine 
Dosierung  der  Strahlen,  die  so  beschaffen  sein  muß, 
daß  sie  den  Follikelapparat  vernichtet,  die  inter- 
stitielle Drüse  aber  reizt,  ist  bei  dem  geringen 
Unterschied  in  der  Empfindlichkeit  beider  Gewebe 
den  Strahlen  gegenüber,  heute  und  wahrscheinlich 
überhaupt  unerreichbar,  da  die  individuellen  Unter- 
schiede viel  zu  groß  und  zu  kompliziert  sind.  Und 
ob  das  Aufblühen  mancher  Frauen  nach  einer 
Myombestrahlung  auf  eine  infolge  erfolgter  Funk- 


N.  F.  XX.  Nr.  46 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


661 


tionssteigerung  der  Pubertätsdrüse  eingetretene 
Verjüngung  zurückgeführt  werden  muß,  und  ob 
da  nicht  das  Aufhören  der  konstanten  Beschwer- 
den, das  Sistieren  des  chronischen  Blutverlustes 
und  die  Befreiung  von  der  seelischen  Depression 
Grund  genug  für  eine  derartige  Erscheinung  sind, 
wollen  wir  hier  unerörtert  lassen. 

Vorläufig  ist  gerade  dieses  Gebiet  der  Reiz- 
wirkung  der  Röntgen-  und  Radiumstrahlen  noch 
so  unsicher,  daß  man  es  mit  großer  Reserve  be- 
handeln muß  und  daß  von  einer  bewußten  An- 
wendung auf  den  Menschen  heute  noch  keine 
Rede  sein  kann. 

Dafür  haben  wir  andere  Wege,  auf  denen  sich 
die  Reizstrahlen  in  der  Heilkunde  hoffentlich  ein- 
mal noch  ein  großes  Gebiet  erobern  werden,  wenn 
auch  die  Untersuchungen,  die  bis  heute  darüber 
vorliegen,  noch  recht  spärlich  sind. 

Nach  den  Untersuchungen  Frank  eis  heilen 
schwere  Knochenbrüche  nach  einer  schwachen 
Röntgenbestrahlung  geradezu  rätselhaft  schnell, 
granulierende  Wunden  zeigen  nach  den  Berichten 
von  E.  Schwarz  schon  nach  kurzer  Zeit  Reini- 
gung und  Überhäutung,  während  unbestrahlte 
Partien  (mit  Blei  abgedeckt)  derselben  Wunde 
eine  derartige  Heilung  vermissen  lassen.  Die 
Brustdrüse  der  Frauen  ist  gegen  Röntgenstrahlen 
ziemlich  unempfindlich;  ist  sie  aber  entzündet,  so 
ist  sie  stark  radiosensibel.  Und  das  gleiche  ist 
der  Fall  bei  den  Drüsen  frisch  entbundener  Frauen, 
bei  denen  sich,  wie  Fränkel  zeigen  konnte,  die 
Milchsekretion  durch  Einwirkung  von  Röntgen- 
reizdosen  ganz  erheblich  steigern  ließ.  Die  Chlo- 
rose, die  Bleichsucht  junger  Mädchen,  ist  nach 
wenigen  Reizbestrahlungen  der  Ovarien  so  zu 
bessern,  daß  der  Hämoglobingehalt  des  Blutes 
binnen  kurzem  auf  das  Doppelte  ansteigt,  während 
man  gewöhnlich  diese  Krankheit  langsam  und 
mühselig  mit  Gaben  von  Eisen  usw.  bekämpfen 
muß. 

Strauß  bestrahlte  Kranke  mit  akuter  Nieren- 
entzündung in  dem  Stadium,  in  dem  es  zu  einem 
fast  vollständigen  Versiegen  der  Harrabsonderung 
gekommen  war,  und  in  dem  zur  Erhaltung  des 
Lebens  nur  der  operative  Eingriff  und  die  Aus- 
schälung einer  Niere  aus  ihrer  Kapsel  zur  Ermög- 
lichung einer  besseren  Durchblutung  in  Frage 
kam,  und  er  konnte  zu  seiner  Genugtuung  sehen, 
daß  wenige  Stunden  nach  der  Bestrahlung  die 
Nieren  in  ausgiebigem  Maße  ihre  Funktion  wieder 
aufnehmen.  Er  bestrahlte  die  Bauchspeicheldrüse 
Zuckerkranker  und  konnte  auch  hier  in  einem 
Teil  der  Fälle  eine  auffällige  Besserung  der 
Krankheitssymptome  konstatieren. 

Wenn  die  Ärzte  sich  erst  einmal  bewußt  der 
Verwendung    der    Reizdosen    zuwenden    werden, 


werden   diese   bald   ein  unentbehrliches  Rüstzeug 
in  der  Heilkunde  werden. 

In  den  letzten  Jahren  hat  das  Wort  Reizdosis 
in  der  Röntgentherapie  einen  etwas  unangenehmen 
Klang  bekommen,  als  man  entdeckt  zu  haben 
glaubte,  daß  bösartige  Tumoren,  wenn  sie  nicht 
kräftig  genug  bestrahlt  wurden,  stark  zerstört,  zu 
rascherem  \X^achstum  angeregt  wurden,  allent- 
halben ist  die  ernste  Warnung  zu  lesen  und  zu 
hören,  bei  der  Bestrahlung  dieser  Geschwülste  ja 
nicht  zu  wenig  zu  bestrahlen,  da  man  sonst  die 
Geschwülste  zum  Wachsen  reize.  In  der  Heil- 
kunde ist  man  nur  zu  sehr  geneigt,  das  post  hoc 
mit  dem  propter  hoc  zu  verwechseln  und  hat  da- 
her das  Wachsen  der  Geschwülste,  das  durch  die 
Bestrahlung  nicht  aufgehalten  wurde,  weil  es  eben 
genug  Geschwülste  gibt,  die  sich  durch  die  Strahlen 
nicht  beeinflussen  lassen ,  als  eine  Folge  einer 
ungenügenden  Bestrahlung  aufgefaßt.  Es  ist  bis 
heute  noch  nicht  bewiesen,  daß  ein  Krebs  durch 
eine  zu  schwache  Bestrahlung  zu  energischem 
Wachstum  gereizt  wird.  Es  bricht  sich  im  Gegen- 
teil immer  mehr  die  Anschauung  Bahn,  daß  der 
Krebs  direkt  durch  die  Röntgen-  und  Radium- 
strahlen nicht  vernichtet  werden  kann,  daß  er 
vielmehr  nur  so  zu  heilen  ist,  daß  das  Binde- 
gewebe des  Körpers  zu  stärkerem  Wachstum  an- 
geregt wird  und  den  Krebs  zerstört.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  verliert  die  Reizdosis  ihren 
Schrecken  und  kommt  sogar  hoch  zu  Ehren,  weil 
man  durch  sie  dem  Bindegewebe  jenen  Ansporn 
geben  kann ,  sich  zu  vermehren  und  den  Kampf 
gegen  den  Krebs  aufzunehmen. 

Wir  wollen  uns  hier  nicht  weiter  in  dieses 
uferlose  Gebiet  der  Krebsheilung  einlassen.  Un- 
sere Aufgabe  war,  Umschau  zu  halten,  inwieweit 
den  Röntgen-  und  Radiumstrahlen  die  Fähigkeit 
innewohnt,  auf  das  organische  Gewebe  fördernd 
einzuwirken,  und  die  haben  wir  erfüllt. 

Es  erübrigte  sich  nur  noch  die  Frage  zu  be- 
antworten, wie  die  Strahlen  überhaupt  auf  die 
Zelle  zu  wirken  und  in  ihr  die  genannten  Reak- 
tionen auslösen,  also  die  Frage  nach  dem  Mecha- 
nismus der  Wirkung.  Diese  Frage,  auch  nur  bei- 
läufig, zu  beantworten,  ist  heute  noch  unmöglich. 
Wir  wissen,  daß  die  Strahlenwirkung  vor  allem 
am  Zellkern  angreift,  wie  sie  aber  angreift,  ist 
uns  noch  absolut  dunkel.  Wir  sind  heute  noch 
nicht  einmal  imstande,  alle  bei  der  Analyse  der 
Strahlenrcaktionen  der  lebenden  Zelle  gefundenen 
Tatsachen,  die  sich  vielfach  zu  widersprechen 
scheinen,  auf  eine  gemeinsame  Formel  zu  bringen, 
noch  viel  weniger  eine  Erklärung  oder  was  einer 
solchen  ähnlich  sähe,  abzugeben.  Wir  müssen 
uns  vorläufig  mit  der  Tatsache  der  Wirkung  be- 
scheiden und  weiter  arbeiten.  Es  wird  auch  hier 
die  Zeit  der  Dämmerung  kommen. 


663 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  46 


Bücherbesprechungen. 


Müller -Freienfels,  R.,  Philosophie  der  Indi- 
vidualität. XI  und  272  Seiten.  Leipzig 
1921,  Felix  Meiner  Verlag. 

Der  durch  eine  Reihe  ausgezeichneter  Schriften 
allgemein  bekannte  Psycholog  R.  Müller-Freien- 
fels vertritt  in  seinem  neuesten  Werke  die  An- 
sicht, daß  rationale  Wissenschaft  nur  beschränkte 
Erkenntnis  liefert,  da  sie  von  einem  beträchtlichen 
Reste,  der  der  logischen  Verarbeitung  widerstrebt, 
absehen  muß;  daß  sie  vielmehr  durch  ein  Denk- 
mittel zu  ergänzen  ist,  mit  dem  man  auch  der 
irrationalen  Wirklichkeit  beizukommen  vermag. 
Im  Probleme  des  Ich,  sofern  hierbei  weniger  an 
das  Generelle  oder  Typische  der  Individuen  als 
gerade  an  die  Unterschiedenheit  des  Einzelnen 
von  allem  anderen  in  der  Welt  gedacht  wird,  tritt 
das  Irrationale  am  ausgesprochensten  zutage.  Und 
gerade  in  ihm  hofft  Müller-Freien fels  das 
Problem  der  Welt  zu  erfassen. 

Die  Individualität  ist  ein  unendlich  mannig- 
faltiger, sich  wandelnder  und  spaltender  Strom 
von  Geschehnissen,  der  sich  jedem  begrifflichen 
Abgrenzungsversuche  entzieht,  der  in  seinem  Ver- 
laufe keine  Identität  erkennen  läßt,  der  einer  be- 
grifflichen Zusammenordnung  mit  anderem  wider- 
strebt. Bei  all  dem  ist  das  Ich  weder  ein  Chaos 
noch  ein  Phantom.  Trotz  seiner  Irrationalität  ist 
das  Werden  des  Ich  vom  Drang  nach  Rationali- 
sierung wie  von  einem  Grundtriebe  beherrscht, 
und  diesem  Triebe  verdankt  die  Menschheit  einen 
gewaltigen  Teil  der  wirtschaftlichen  und  geistigen 
Kultur.  Aber  so  sehr  der  Mensch  auf  rationalem 
Wege  strenge  Wertungen  versucht,  so  sehr  er 
sich  um  eine  allgemeingültige  Wertskala  bemüht, 
großenteils  ruhen  die  herrschenden  Werte  doch 
auf  irrationaler  Grundlage,  entsprechend  der  Irra- 
tionalität des  wertenden  Subjektes. 

Eine  solche  Erkenntnis  bestimmt  nun  unseren 
Philosophen,  hinter  den  verschiedenen  Formen  der 
Individualität  eine  besondere,  und  zwar  irrationale 
Wesenheit  anzunehmen,  die  weder  Substanz  noch 
Kraft  noch  Form  ist  und  als  eine  Erfahrung  be- 
gründende Kategorie  zu  denken  ist.  So  gelangt 
denn  der  Verf.  zu  einer  neovitalistischen  Lehre, 
die  nicht  nur  dem  Problem  des  Lebens,  sondern 
auch  dem  des  mechanistischen  Weltgeschehens, 
sowie  schließlich  den  Forderungen  des  praktischen 
Lebens  genügen  soll. 

Wenn  wir  auch  die  erkenntnistheoretischen 
Folgerungen  des  Verf.  entschieden  ablehnen,  so 
müssen  wir  dessen  ungemein  anregendes  Werk 
doch  angelegentlich  allen  Gebildeten,  nament- 
lich den  naturphilosophisch  interessierten,  emp- 
fehlen. Die  drei  ersten  Teile  des  Buches,  die 
von  der  Irrationalität  der  Individualität,  der  Ratio- 
nalisierung der  Individualität  und  dem  Individuum 
und  den  Werten  handeln,  werden,  da  sie  durchweg 
beschreibend  sind  und  eine  Fülle  wertvoller  Ge- 
danken in  ungemein  klarer  Form  bringen,  allge- 
meinen Beifalls  sicher  sein;  der  vierte   Teil   aber 


wird  wenigstens  von  denjenigen,  die  einer  in  den 
letzten  Jahrzehnten  sich  immer  weiter  ausbreiten- 
den Weltauffassung  huldigen,  wie  sie  z.  B.  von 
Bergson  vertreten  wird,  begrüßt  werden! 

Angersbach. 

Klein,  Ludwig,  Unsere  Sumpf- und  Wasser- 
pflanzen, loi  Druckseiten  in  kl.  8"  und  96 
farbige  Tafeln.  Verlag  von  C.  Winter  in 
Heidelberg. 
Der  Verf.  hat  in  diesem  Bändchen,  welches 
der  „Sammlung  der  Naturwissenschaftlichen 
Taschenbücher"  angehört,  eine  Auswahl  von 
unseren  einheimischen  Sumpf-  und  Wasserpflanzen 
getroffen.  Einer  jeden  abgebildeten  Art  ist  un- 
gefähr je  I  Seite  Text  beigegeben.  Die  künstle- 
rische Darstellung  der  Farbendrucktafeln  ist  eine 
vorzügliche;  desgleichen  ist  auch  der  Text  voll- 
kommen ausreichend,  damit  auch  jeder  Nicht- 
botaniker  sich  leicht  und  rasch  orientieren  kann. 
Auf  die  unendliche  Fülle  von  Standortsformen 
unter  verschiedenartigen  Standortsbedingungen  ist 
der  Verf.  freilich  nur  da  und  dort  mit  kurzen 
Notizen  eingegangen;  doch  ist  das  bei  einer  sol- 
chen Darstellung  auch  kaum  möglich;  zahlreiche 
dieser  Formen  bleiben  stets  steril  und  sind  dann 
ohne  spezielle  Formenkenntnis  nicht  so  ohne 
weiteres  bestimmbar;  außerdem  aber  wird  jeder, 
der  ein  etwas  geschultes  Auge  hat,  solche  sterile 
Standortsformen  schon  selbst  erkennen,  wenn  er 
die  Umgebung  und  die  ganzen  Begleitpflanzen 
solcher  Formen  näher  prüft.  Und  so  darf  ich 
wohl  den  Wunsch  aussprechen,  es  möge  das 
Büchlein  von  L.  Klein  dazu  beitragen,  den  An- 
fänger in  der  Pflanzenkunde  vertraut  zu  machen 
mit  dem  Reiz  und  mit  der  Schönheit,  welche  die 
Natur  dem  Leben  der  Gewässer  verliehen  hat. 

H.  Glück,  Heidelberg. 


von  Bubnoff,  Serge,  Die  Grundlagen  der 
Deckentheorie  in  den  Alpen.  Stuttgart 
1921,  Schweizerbartsche  Verlagsbuchhandlung. 
Es  fehlte  bisher  an  einer  Darstellung,  die  es 
unternahm,  die  für  Entstehung  und  Aufbau 
der  Alpen  vor  allem  aufgestellte  und  in  den 
verschiedensten  Formulierungen  vorgebrachte 
„Deckentheorie"  in  übersichtlicher  und  dem,  ihren 
großzügigen  Gedankengängen  Fernerstehenden 
verständlicher  Fassung  zu  erläutern.  Es  ist  anzu- 
erkennen, daß  von  Bubnoff  mit  seiner  Dar- 
stellung der  keineswegs  unschwierige  Versuch 
einer  objektiven  Würdigung  der  umfassenden, 
noch  heute  im  vollen  Fluß  der  Entwicklung  und 
Erörterung  stehenden  Probleme  wohl  gelungen 
ist.  Denn  was  bisher  über  den  alpinen  Decken- 
bau geschrieben  wurde,  befaßte  sich  meist  nur 
mit  einzelnen  Seiten  dieses  komplizierten  und 
weit  ausgreifenden  Lehrgebäudes,  und  ließ  oft  das 
Bestreben  vermissen,  auch  die  Anschauungen  der 


N.  F.  XX.  Nr.  4Ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


663 


Gegner  zu  würdigen  und  in  das  Verständnis  seiner 
Ansichten  einzudringen. 

Vor  allem  ist  es  zu  begrüßen,  daß  auch  die 
in  den  Ostalpen  geleistete  geologische  Aufnahme- 
arbeit gewürdigt  wird,  die  vielen  Geologen  fast 
unbekannt  zu  sein  scheint  oder  nur  soweit  be- 
kannt ist,  als  sie  von  phantasievollen  Theoretikern 
zur  Stütze  ihrer  Hypothesen  herangezogen  wurde. 

Daß  in  dem  Kapitel  „das  Wurzelproblem  und 
die  alpindinarische  Grenze"  die  wichtigste  neuere 
Arbeit  über  diesen  Gegenstand,  diejenige  von 
Koßmat,  weder  genannt  noch  in  ihren  sehr 
beachtenswerten  Schlußfolgerungen  erörtert  wird, 
scheint  verwunderlich. 

Ebenso  wichtig  wie  die  über  den  Bau  der 
Alpen  selbst  handelnden  Abschnitte  sind  als  Ein- 
führung in  neuzeitliche  Ansichten  über  Gebirgs- 
bau  die  Kapitel  „Geophysikalische  Kritik"  und 
„Synthetische  Betrachtungen".  In  den  letzteren 
werden  die  Synthesen  von  Argand,  Rollier 
und  He  ritsch  und  deren  verschiedene  Stellung- 
nahme zur  Deckenlehre  besprochen. 

Die  Arbeit  enthält  viele  beherzigenswerte 
kritische  Gedanken  zur  Deckentheorie.  Selbst- 
verständlich sieht  auch  von  Bubnoff  die  Kon- 
traktion der  Erde  als  Erklärung  der  Gebirgsbil- 
dung  für  unzulänglich  an,  ganz  im  Gegensatze  zu 
A.  Heim,  der  sie  noch  vor  kurzem  als  die  allein 
mögliche  Ursache  gebirgsbildender  Prozesse  be- 
zeichnete. 

Vielleicht  wäre  ein  kurzer  historischer  Über- 
blick über  das  Werden  der  Deckentheorie  nicht 
nur  von  Interesse,  sondern  auch  zu  ihrem  Ver- 
ständnis recht  wünschenswert  gewesen. 

Krenkel. 


Schnippenkötter,  Dr.  Josef,   Der  entropolo- 
gische   Gottesbeweis.     Die  physikalische 
Entwicklung  des  Entropieprinzipes,  seine  philo- 
sophische und  apologetische  Bedeutung.    109  S. 
Bonn   1920.  —  Preis  15  M. 
Der   entropologische   Gottesbeweis    geht    von 
dem  von  C 1  a  u  s  i  u  s  und  Thomson  aufgestellten 
Entropiesatz  aus,  der  in  der  Fassung  von  Clau- 
sius  lautet:  „Die  Energie  der  Welt  ist  konstant, 
die  Entropie    der    Welt    strebt    einem    Maximum 
zu"  (zweiter  Hauptsatz  der  mechanischen  Wärme- 
theorie).    Man   glaubte   aus   ihm  einen  zeitlichen 
Anfang  der   Welt   folgern   zu   können.     Denn  es 
wäre  ein  Widerspruch,  wenn  der  Prozeß,  der  „zu 
einer  bestimmten    Zeit    zu  einem  bestimmten  Er- 
gebnis führt,    von    Ewigkeit  her  in  Bewegung  zu 
diesem  Ziele  begriffen  sein  sollte"  (v.  H  e  r  1 1  i  n  g). 
Aus  dem  zeitlichen  Anfang  der  Welt  schloß  man 
dann    weiter    auf  eine  Weltschöpfung    und    einen 
Weltschöpfer. 

Ein  naturwissenschaftliches  Interesse  hat  nur 
der  erste  Teil  des  Beweises.  Der  zweite  Teil  des- 
selben mündet  in  den  kosmologischen  Gottes- 
beweis, der  ganz  dem  Gebiete  der  Philosophie 
angehört.     Er   schließt   von    dem   Bedingten   auf 


das  Unbedingte.  Die  Naturwissenschaft  hat  mit 
ihm  nichts  zu  schaffen. 

Die  Schrift  von  Schnippenkötter  ist  nach 
dem  Vorwort  nur  ein  Auszug  aus  einem  größeren, 
noch  ungedruckten  Werke  des  Verf,  welches  das 
Problem  abschließend  nach  der  physikalischen 
und  philosophischen  Seite  behandeln  sollte;  doch 
ist  auch  dieser  Auszug  von  Interesse,  da  man  an 
der  Hand  desselben  den  ganzen  Verlauf  der  seit 
etwa  drei  Jahrzehnten  mit  großem  Eifer  über  das 
betreffende  Problem  geführten  Diskussion  ver- 
folgen kann.  Das  ausführliche  320  Nummern 
umfassende  Verzeichnis  der  auf  die  Frage  bezüg- 
lichen Literatur  ermöglichte  dabei  eine  genauere 
Orientierung  auch  über  die  Punkte,  die  in  der 
Seh nipperkötter sehen  Schrift  nur  kurz  und 
andeutungsweise  berührt  werden  konnten. 

Die  erste  Frage  war,  ob  der  Entropiesatz  in 
der  Welt  des  Physikers  eine  allgemeine  Geltung 
besitzt.  In  der  Fachliteratur  fehlt  noch  eine  Mono- 
graphie des  Gegenstandes.  Schnippenkötter 
gibt  zum  erstenmal  eine  allerdings  nur  summari- 
sche Darstellung  der  verschiedenen  Auffassungen 
des  Entropiesatzes.  Das  Resultat  derselben  ist, 
daß  er  nach  dem  Stand  der  Wissenschaft  als  zu 
Recht  bestehend  anerkannt  werden  muß,  aber, 
wie  besonders  Boltzmann  geltend  gemacht 
hat,  nur  als  ein  „Durchschnittsgesetz".  Die  Mehr- 
zahl der  Vorgänge  bewegt  sich  in  der  Richtung 
der  Entropie,  dabei  kommen  aber  auch  beständig 
Vorgänge  in  entgegengesetzter  Richtung  vor.  Zu 
letzteren  gehören  sicher  die  sog.  Brownschen 
Bewegungen,  aber  vielleicht  auch  die  biologischen 
und  manche  anderen  Prozesse. 

Wenn  die  Schlüsse,  die  bei  dem  entropologi- 
schen  Gottesbeweise  aus  dem  Entropiesatz  ge- 
zogen werden,  zwingend  sein  sollen,  muß  vorher 
weiter  entschieden  sein,  ob  erstens  der  Satz  nicht 
nur  für  die  Welt  des  Physikers,  sondern  für  das 
ganze  Universum  Geltung  hat  und  ob  aus  ihm 
zweitens  mit  Notwendigkeit  das  Ende  des  Welt- 
geschehens folgt. 

Die  Antwort  auf  beide  Fragen  ist  ein  non 
liquet.  Alle  Voraussetzungen,  welche  wir  machen 
müssen,  um  aus  dem  Entropiegesetz  eine  Stütze 
für  den  kosmologischen  Gottesbeweis  zu  kon- 
struieren, sind  unsicher.  Es  ist  dies  das  End- 
ergebnis der  ganzen  Diskussion.  Die  hervor- 
ragendsten Vertreter  des  entropologischen  Gottes- 
beweises haben  ihn  daher  gegenüber  den  Ein- 
wänden von  Isenkrahe,  Aloys  Müller, 
Bavink  u.  a.  ausdrücklich  aufgegeben.  So  der 
Physiker  Dressel  S.  J.,  Sawicki  u.  a. 

Es  waren  fast  nur  katholische  Theologen, 
Philosophen,  Mathematiker  und  Naturforscher,  die 
für  den  entropologischen  Gottesbeweis  eintraten. 
In  der  protestantischen  theologischen  Literatur 
fand  die  ganze  Diskussion  keinen  Widerhall,  wird 
der  Name  des  entropologischen  Gottesbeweises 
kaum  genannt.  Es  hängt  dies  damit  zusammen, 
daß  die  evangelische  Theologie  unter  dem  Ein- 
flüsse    der     Kant  sehen     Philosophie     den     sog. 


664- 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX;  Nr.  46 


ljrotte?De~yei,seo  UDZ~'i.?-'>Jp':  ^insn  gröSe^e":  theo- 
retischen Wert  nicht  beimißt  und  außerdem  bei 
der  Disiiussion  des  entropoiogischen  Beweises  im 
besonderen  sich  mit  Recht  glaubte  zurückhalten 
zu  müssen,  solange  nicht  die  naturwissenschaft- 
lichen Vorfragen  eine  fachmäßige  Erledigung  ge- 
funden hatten.  Kranichfeld. 

Groth,  Paul,  Elementederphysikalischen 
und  chemischen  Kristallographie.  Mit 
4  Tafeln,   962  Textfiguren   und  25  Stereoskop- 
bildern.   363  Seiten.    IVIünchen  und  Berlin  1921, 
R.  Oldenbourg.     Geb.  90  M. 
Nachdem   erst   vor  kurzer  Zeit   der  Verf.  sein 
sehr      wertvolles     fünfbändiges     Handbuch     der 
„chemischen      Kristallographie"      abge- 
schlossen hat,   ist   er   mit   unermüdlicher  Arbeits- 
freude an  die  Ausarbeitung  des  vorliegenden  Lehr- 
buches der  gesamten  Kristallkunde  herangetreten. 
Es    soll    den    Studierenden    der   Mineralogie    und 
Physik,   vor   allen    aber    auch  denen    der  Chemie, 
für   die   die   Kristallographie    eine   immer    unent- 
behrlichere Hilfswissenschaft   geworden  ist,   einen 
Überblick   bieten   über  alles   das,    was   der   Verf. 
an  Lehrstoff  bereits   in   den  vier  Auflagen  seiner 
bekannten   „Physikalischen   Kristallogra- 
phie" und   in   der  „Einleitung   in   die  che- 
mische Kristallographie"  niedergelegt  hatte. 
Die  Einteilung   des   Buches   ist  dementsprechend 
die    folgende:    a)    Physikalische    Kristallographie. 
Allgemeiner  Teil,  b)  Physikalische  Kristallographie. 
Spezieller    Teil,     c)    Chemische    Kristallographie, 
dj  Anhang.    Anleitung  zur  Kristallbestimmung.  — 
Fast    unverändert    und    nur    entsprechend    ge- 
kürzt verarbeitet   ist  der  Inhalt   des  ersten  Teiles 
aus  der  „physikalischen  Kristallographie"  des  Verfs. 
übernommen    worden.     Ein    Abschnitt    über    die 
„Experimentelle  Bestimmung  der  Kristallstruktur" 
schließt  unmittelbar  an  die  früheren  theoretischen 
Anschauungen    des  Verfs.    an,    die  ja  bekannilich 
durch    die    Röntgenstrahlenanalyse    der    Kristalle 
völlig    bestätigt    worden    sind.      Der    Erläuterung 
und  Veranschaulichung  dieses  Abschnittes  dienen 
auch   22    der   beigegebenen   Stereoskopbilder.  — 
Ein  Hauptziel  des  Verfs.  war  es,   eine  Ergänzung 
der  Lehrbücher  der  Chemie    zu  bieten,    in    denen 
die  wesentlichen  kristallographischen  Eigenschaften, 
die  doch  zur  Identifizierung  so  wichtig  sind,  meist 
zu  kurz  behandelt  werden.    Im  zweiten  speziellen 
Teile  des  Buches   sind   daher  die  entsprechenden 
Daten  von  beinahe  700  verschiedenen  anorganisch 
und    organisch    chemischen    Stoffen    niedergelegt 
worden. 

Es  ist  schade,  daß  dabei  die  optischen  Daten, 
die    zur  Identifizierung    unter   dem    Mikroskop   so 


n.ctvv'enc'i.g;  ";-.a,  T/eniger  a'iS  trüber  berücksich'Qg;: 
vV'order;  s'nd.  Mit  aufgenommen  worden  sind  da- 
gegen die  Daten  der  Kristallstrukturforschung, 
falls  solche  für  die  betreffenden  Substanzen  vor- 
gelegen haben.  —  Die  letzten  Teile  des  Buches  i 
sind  wieder  im  wesentlichen  aus  früheren  Werken 
des  Verfs.  übernommen ;  dabei  ist  im  dritten  Teil 
alles,  was  sich  aus  dem  Handbuch  der  chemischen 
Kristallographie  an  Beispielen  für  Morphotropie, 
Isomorphie  und  Polymorphie  ergeben  hat,  in  über- 
sichtlicher Weise  zusammengestellt  worden. 

Ein  reiches  Tatsachenmaterial,  zum  großen 
Teil  unter  den  Augen  des  Verfs.  verarbeitet,  wird 
somit  in  diesem  Lehrbuche  dem  Studierenden  in 
die  Hand  gegeben.  Das  Buch  wird  daher  allen, 
die  sich  mit  den  gesetzmäßigen  Beziehungen  von 
chemischem  und  physikalischem  Aufbau  einer 
Substanz  und  ihren  sonstigen  kristallographischen 
Eigenschaften  zu  beschäftigen  haben,  ein  will- 
kommenes Nachschlagewerk  sein. 

Spangenberg. 

Hamel,  G.,  Mechanik  I:  Grundbegriffe 
der  Mechanik.  Aus  Natur  und  Geisteswelt 
Nr.  684.  132  S.  mit  38  Fig.  im  Text.  Leipzig 
und  Beriin  1921,  B.  G.  Teubner.  —  Kart.  2,80  M. 
und  100  ''/o  Teuerungszuschlag. 
Es  ist  dies  das  erste  einer  auf  3  Bändchen 
veranschlagten  Darstellung  der  theoretischen  Me- 
chanik in  elementarer  Form.  Es  wendet  sich 
besonders  an  solche  Leser,  die  sich  aus  allge- 
meinem Interesse  oder  zur  Einführung  in  ihren 
späteren  Beruf  mit  Mechanik  beschäftigen  wollen. 
Verf.  popularisiert  aber  nicht  etwa  auf  Kosten 
der  Wissenschafilichkeit,  sondern  er  bietet  einen 
so  vorzüglichen,  sachlich  gründlichen  Überblick 
über  die  Mechanik,  daß  die  Bändchen  jedenfalls 
auch  den  Studierenden  an  Universitäten  und 
Technischen  Hochschulen  sehr  zu  empfehlen  sind. 
An  die  Betrachtung  der  historischen  Entwicklung 
des  Energieprinzios  in  der  Mechanik  und  seiner 
Bedeutung  beim  Gravitationsproblem  wird  die 
Newtonsche  Kraftdefinition  und  die  auf  ihr 
ruhende  allgemeine  Mechanik  angeschlossen.  Von 
den  Massenkräften  geht  Verf.  dann  zu  einigen 
Beispielen  von  Flächenkräften,  der  Reibung,  dem 
Luftwiderstand  und  dem  Stoß,  über.  Von  be- 
sonderem Interesse  ist  der  letzte  Abschnitt,  der 
sich  mit  den  Möglichkeiten  befaßt,  die  Mechanik 
in  quasigeometrischer  Form  darzustellen,  und  hier- 
bei in  klarer  Weise  das  Eindringen  der  Einstein- 
schen  Relativitätstheorie  in  die  prinzipiellen  Fragen 
der  Mechanik  beleuchtet.  Den  abschließenden 
Bändchen  sehen  wir  mit  freudiger  Erwartung 
entgegen.  A.  Becker. 


Inhalt:  Alois  Czepa,  Die  Reizwirlcung  der  Röntgen-  und  Radiumsirahlen.  S.  657.  —  Bücberbesprecbungen :  R. 
Müll  er- Freienfels,  Philosophie  der  Individualität.  S.  662.  L.  Klein,  Unsere  Sumpf-  und  Wasserpflanzen.  S.  662. 
Serge  v,  Bubnoff,  Die  Grundlagen  der  Deckentheorie  in  den  Alpen.  S.  662.  J.  Schnippenkö t t?r,  Der  entro- 
pologische  Goitesbeweis.  S.  663.  P.  Groth,  Elemente  der  physilcalischen  und  chemischen  Kristaljiw^raphie.  S.  664. 
G.  Hamel,  Mechanik  I:   Grundbegriffe  der  Mechanik.  S.  664. 

Manuikripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.   Dr.  H.  M  i  e  b  e ,  Berlin  N  4,  loTalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Dnick  der  G.  Pätz'schen  Bachdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


M 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  20.  November  1921. 


Nummer  4:'7* 


[Nachdruck  verboten.] 


Elektromikroskopie. 

Von  Rudolf  Keller. 

Mit  3  Abbildungen. 


Verfahren  zum  mikroskopischen  Nachweis  von 
Elektrizität  sind  seit  langem  im  Gebrauch.  Schon 
im  vorigen  Jahrhundert  hat  der  Physiker  K  u  n  d  t 
ein  Bestäubungsverfahren  ausgearbeitet,  um  durch 
eine  Mischung  von  Mennige  ( — )  und  Schwefel- 
blumen (+)  die  Ladungen  auf  erwärmten  oder 
abgekühlten  Kristallen,  die  Pyroelektrizität,  nach- 
zuweisen. Für  die  nichtisolierenden  tierischen  und 
pflanzlichen  Gewebe  ist  es  schwieriger,  elektrische 
Pole  aufzufinden,  der  amerikanische  Physiologe 
McClendon  und  der  englische  Physiologe 
Hardy  haben  Versuche  gemacht,  durch  Be- 
trachtung mikroskopischer  Gewebe  im  elektrosta- 
tischen Feld  einen  Überblick  über  ihre  Positivität 
oder  Negativität  zu  gewinnen,  haben  diese  Ar- 
beiten jedoch  nicht  fortgesetzt,  wahrscheinlich 
deshalb,  weil  man  auf  diese  Weise  nur  ganz  grobe 
Partikelchen  und  auch  diese  nur  dann  sich  be- 
wegen sieht,  wenn  zufällige  Kontinuitätsunter- 
unterbrechungen eine  Ortsverschiebung  einzelner 
Zellteile  ermöglichen.  McClendon')  hat  je- 
doch schon  erkannt,  daß  die  Indikatorfarbe  säure- 
empfindlicher oder  basenempfindlicher  Farbstoffe 
die  Elektropolarität  anzeigt.  Die  ersten  Unter- 
sucher, die  tatsächlich  mikroskopische  Elektrizitäts- 
pole auffanden,  waren  Deutsche.  Der  Bakterio- 
loge Reichert,-)  der  1910  negativ  geladene 
Bakterien  beschrieb,  und  der  Histologe  Schule- 
mann,*) der  191 7  die  ersten  Anoden  feststellte. 
Schulemann  hat  im  Verlaufe  ausgedehnter  In- 
jektionsversuche in  den  Jahren  191 2  bis  191 7 
etwa  500  verschiedene  Farbstoffe  Versuchstieren 
injiziert,  um  den  vermeintlichen  Zusammenhang 
zwischen  chemisch  •  konstitutiven  Besonderheiten 
der  Farbstoffe  und  den  tierischen  Zellgranula 
herauszuarbeiten.  Die  Tatsachen  führten  ihn  je- 
doch nach  einigem  Schwanken  zu  dem  entgegen- 
gesetzten Resultat  seiner  Ausgangsideen.  Er 
mußte  erkennen,  daß  der  Chemismus  der  Farb- 
stoffe keinen  erkennbaren  Einfluß  auf  die  Bindung 
an  die  Zellgranula  hat,  sondern  daß  die  chemisch 
heterogensten  Substanzen  von  den  Granula  ange- 
zogen wurden,  nicht  bloß  die  chemisch  hetero- 
gensten F"arbstoffe,  sondern  auch  Bakterien,  Stärke, 
Kohlesuspension ,  Metallkolloide ,  aber  immer 
nur  Stoffe,  die  zur  Anode  wandern.  So 
wurde  Schulemann,  der  keineswegs  sich  dieses 

•)  McClendon,  Int.  Zeitschr.  f.  physik.-chem.  Biol.,  1, 
159,   1914.     Hardy  (zu  Anfang  des  Jahrhunderts;  veraltet). 

*)  Reichert.Centralbl.  f.  Bakteriol.,  Abt.  51,  H.  I,  1911. 

^)  Schulemann,  Arch.  f.  mikr.  Anat.,  79,  1912;  Biocb. 
Zeitschr.,  80,   191 7. 


Ziel  gesteckt  hatte,  der  erste  Entdecker  der  posi- 
tiven Pole  der  Tiere. 

Wenn    man    planmäßig    die    Elektrizitätspole 
lebender  Gewebe  aufsucht,    so  liegt  zunächst  der 
Gedanke  nahe,  die  Kathoden  der  Zellen  dazu  aus- 
zunützen,   beispielsweise    aus  Edelmetallsalzen  die 
Metalle    gleichsam     galvanoplastisch     abzubilden. 
Derartige  Verauche   geben  jedoch   recht   unreine 
Bilder,    weil   die  Reduktionsstoffe   und  Schutzkol- 
loide der  Zellen   mit  solchen   Lösungen   kolloide 
Metallsuspensionen    erzeugen,    die    wie    bekannt, 
sich  nicht  an    den  Kathoden  abscheiden,    sondern 
einen  Wanderungssinn  zur  Anode  erhalten.     Man 
erhält    schärfere    und    richtigere    Kathoden    mit 
Eisensalzen,     Kobaltsalzen     u.     dgl.,     die     durch 
Schwefelammonium  oder  Ferrocyankaliumsalzsäure 
gut  sichtbar  gemacht  werden  müssen.    Wenn  man 
darauf  Bedacht  nimmt,  durch  Eröffnung  aller  Zellen 
mittels   Schnitten    gleichmäßige    Permeabilitätsbe- 
dingungen   für   alle  Lösungen  zu  schaffen,    so  ge- 
winnt   man     mit    diesen    Verfahren    zuverlässige 
Kathoden,    die  mit  den  Reduktionsbildern  der 
Histologen    (erzeugt    durch  Osmiumsäure    u.  dgl.) 
identisch  zu  sein  pflegen.     Eine  schwere  Unstim- 
migkeit   ergab    sich    lange  Zeit    daraus,    daß    die 
„basischen"  Farbstoffe,  von  denen  man  doch  eben- 
falls die  Ausfärbung  der  Kathoden  erwarten  mußte, 
zumeist    entgegengesetzte   Bilder    lieferten.      Wie 
sich   jedoch    ergab,    waren    die    betreffenden    An- 
gaben in  den  physikalisch-chemischen  Handbüchern 
ungenau    und    ebenso    verhielt    es    sich    mit    der 
kapillaranalytischen  Regel  der  Teerfarbstoffe.    In- 
dem   sonach    die    für   biologische    Objekte   ausge- 
arbeitete Mikroanalyse,    die  ungemein  bequem  ist 
und    verschwindend    kleine    Materialmengen    ver- 
braucht,   diese    eingewurzelten    kolloidchemischen 
und  physikalisch-chemischen  Irrtümer  aufdeckte,') 
und  unabhängig  davon  bald  Bestätigung  fand,  in- 
dem ferner  nahezu  gleichzeitig  Traube^)  bewies, 
daß   auch    ungefärbte   kolloide    Basen    wie  Anilin, 
Toluidin,  Xylidin  ebenso  zur  Anode  wandern  wie 
die  gefärbten  „basischen"  Kolloide,  hat  die  elektro- 
histologische    Methodik    ihre    Zuverlässigkeit    und 
Verwendbarkeit    auf   einem    leicht    nachprüfbaren 
Gebiete  gezeigt.  Wer  sich  mit  der  mikroskopischen 
Elektroanalyse  befaßt,  die  sich  in  zahlreiche  von- 
einander    unabhängige    Methoden    unterteilt,     in 
Salzelektrolyse,    in    Kataphorese    kolloider    Emul- 
sionen,   in  Oxydations-,    in    Reduktionsmethoden, 


')  Keller ,  Zeitschr.  f.  physik.  Chemie,  98.  Bd.,  338,  1921. 
')  Traube,  Bloch.  Zeitschr.,  120,   117,  1921. 


666 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


in  die  Säurefarbung  oder  Basenfärbung  der  Indi- 
katoren, in  makroskopische  Nachprüfungen,  in  ver- 
schiedenen anderen  physiologischen  Sicherungen, 
beispielsweise  in  der  Beachtung  der  Wanderungs- 
richtung der  elektrisch  geladenen  Enzyme  in 
Drüsen,  der  gewinnt  bald  die  volle  Sicherheit, 
daß  die  Methodik  auf  festem  Boden  steht.  Frei- 
lich ist  sie,  namentlich  bei  zarten,  kleinen  proto- 
plasmatischen Objekten,  gerade  bei  den  lebens- 
wichtigsten, mit  großen  UnvoUkommenheiten  be- 
haftet, da  man  auf  diese  kaum  eine  einzige  der 
geschilderten  Kontrollen  anwenden  kann.  Ferner 
antworten  diese  Zellteile,  wie  längst  aus  der 
Elektrophysiologie  bekannt,  auf  chemische  Be- 
handlungen mit  elektrischen  Ladungsänderungen. 
Sie  sind  reizempfindlich.  Der  Pflanzenphysiologe 
F.  Weber  (Graz) ')  hat  bei  Besprechung  dieses 
Gegenstandes  darauf  hingewiesen,  daß  die  Vitalität 
der  behandelten  Schnitte  ein  zweifelhafter  Faktor 
ist.  Diese  Kritik  trifft  den  schwächsten  Punkt 
der  Elektrohistologie.  Tatsächlich  ist  ein  Zell- 
kern, der  sich  anfängt  zu  färben,  entweder  als  tot 
zu  betrachten,  oder  zumindest  doch  so  schwer 
geschädigt  oder  verändert,  daß  seine  Elektrizitäts- 
ladungen nicht  mehr  als  intakt  oder  normal  an- 
zusehen sind. 

Indessen  kann  man  doch  mit  Hilfe  verschieden- 
artiger Annäherungsmethoden  auch  einige  Anhalts- 
punkte gewinnen  über  die  Elektrizitätsladungen 
der  Kerne  und  ihrer  Teile.  Das  wichtigste  und 
allgemeinste  Resultat  derartiger  Studien  ist  die 
allgemeine  Erkenntnis,  daß  die  elektrostatische 
Energie  praktisch  gesondert  von  der  elektro- 
galvanischen  Energie  untersucht  werden  muß 
und  daß  das  Coulombsche  Gesetz  der 
elektrostatischen  Anziehung  und  Abstoßung  nach 
dem  umgekehrten  Quadrat  der  Entfer- 
nung einen  Hau  ptfaktor  der  Protoplasma- 
bewegungen bildet.  Man  hat  lange  geglaubt, 
daß  das  Coulombsche  Gesetz  in  nahen  Ent- 
fernungen nicht  streng  gültig  ist.  Die  genaue  Er- 
forschung des  Atominnern  ist  aber  erst  dadurch 
möglich  geworden,  daß  Bohr  die  Gültigkeit  dieses 
Gesetzes  bis  in  das  Innere  des  Atoms  bewies  und 
zeigte,  daß  die  Kräfte  in  jenen  Dimensionen  in 
erster  Reihe  elektrostatischer  Natur  sind.  In  den 
Dimensionen  des  Mikroskops  geschieht  nichts, 
was  gegen  das  Coulomb  sehe  Gesetz  wäre. 
Niemals  sieht  man  freibewegliche  Organismen 
mit  gleichnamigen  Körperteilen  aneinanderstoßen; 
wann  immer  Infusorien  oder  Bakterien  sich  an- 
einanderlegen,  geschieht  es  mit  Gegenpolen  ihrer 
Körperchen.  Keine  Kraft  ist  stark  genug,  um 
der  Abstoßung  genau  gleich  negativ  geladener 
Körper  in  jenen  Dimensionen  entgegenzuarbeiten. 
Wenn  wir  beispielsweise  beobachten ,  daß  eine 
Eizelle  ein  Spermatozoon  anzieht,  so  können  wir 
im  Vorhinein  noch  ohne  jede  Elektroanalyse  mit 
Sicherheit   voraussagen,    daß    die    sich 


berührenden   Zellteile   differente  elek- 
trische Ladungen  besitzen  müssen. 

Untersucht  man  die  Befruchtung  der  tierischen 
Eizelle  durch  das  Samenkörperchen  elektroanaly- 
tisch,  so  erwartet  man  zunächst,  daß  das  eine 
positiv,  das  andere  negativ  elektrisch  ist,  wenig- 
stens im  Augenblick  der  Befruchtung,  da  sie  nach 
dem  Coulomb  sehen  Gesetz  sonst  heftig  von- 
einander abgestoßen  werden  müßten.  Das  ist  je- 
doch durchaus  nicht  der  Fall.  Jede  dieser  Zellen 
—  und  dies  ist  eine  Fundamentaleigenschaft 
aller  lebenden  Zellen  —  unterteilt  sich  in  eine 
Vielheit  von  einander  isolierter  differenter  Elek- 
trizitätsladungen. Von  den  Spermatozoen  ist 
längst  aus  der  histologischen  Literatur  bekannt, 
daß  der  Vorderteil  des  Kopfes  sich  mit  Vitalfarb- 
stoffen (die  fast  ausschließlich  Anodenfarbstoffe 
nach  Art  der  Schulemann  sehen  darstellen) 
nicht  färbt,  Hinterkopf  und  Schwanz  jedoch  ziem- 
lich stark.  Das  Eizellenplasma  färbt  sich  mit 
Neutralrot  stark  himbeerrot,  ist  also  entschieden 
anodisch,  da  bei  Neutralrot  die  Himbeerfarbe  die 
Säurefarbe  ist,  die  Orangefarbe  die  Basenfarbe. 
Sonach  stellt  sich  die  Verteilung  der  Ladungen 
im  Augenblick  der  Befruchtung  schematisch  etwa 
nach  Abb.  i  dar,  wobei  aber  in  Betracht  zu 
ziehen  ist,  daß  beide  Zellarten  zahlreichere  feinere 
Elektrizitätspole  haben,  die  viel  differenzierter  sind 
als  die  Sichtbarkeitsgrenze  unserer  Mikroskope. 


+     -l■■^^■■^■^■l.^.■l■J.4■4■ 


')  Naturw.  Wochenschr.,  20.  Bd.,  Nr.   17,   1921 


Abb.   1. 

Der  erste  Blick  auf  vital  gefärbte  Spermien 
enttäuscht  die  Erwartungen  vom  elektroanalyti- 
schen  Gesichtspunkt.  Bei  schwacher  Vergröße- 
rung erblickt  man  ein  Gewimmel  direkt  anodisch 
—  also  ebenso  wie  die  Eizelle  — ,  gefärbter 
Samenfäden.  Erst  bei  schärferer  Vergrößerung 
wird  die  kathodische  (also  ungefärbte)  vordere 
Kopfhälfte  sichtbar,  bei  Meerschweinchenspermien 
eine  ganz  schmale  Zuschärfung  des  Kopfes  (von 
Waldeyer  als  Perforatorium  bezeichnet,  an- 
knüpfend an  die  Vorstellung,  daß  diese  Schneide 
die  EihüUe  mechanisch  perforiert).  Bei  näherer 
Überlegung  wird  es  klar,  daß  nur  diese  Ladungs- 
verteilung, mit  anodischen  Oberflächen  am  Hinter- 
teil und  am  Schwanz,  dem  Gesetz  von  Cou- 
lomb entspricht,   das  in  diesen  Dimensionen  so 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


667 


stark  wirkt.  Sonst  müßte  sich  der  Samenfaden 
mit  seiner  ganzen  Länge  an  die  bei  der  ersten 
Berührung  sich  mit  einer  Membran  überziehenden 
Eioberfläche  anlegen  und  könnte  schwerlich  ein- 
dringen. Erst  die  Abstoßung  des  Schwanzteils 
durch  das  gleichnamige  elektrostatische  Feld 
der  Eioberfläche  schafft  jene  rechtwinklige  Ein- 
stellung des  Spermiums  zur  Oberfläche,  die  den 
Beobachtern  des  Vorgangs  vertraut  ist  und  die 
sein  Eindringen  in  das  Ei  erleichtert  und  dessen 
Oberfläcbenplasmaladung  entlädt,  worauf  die 
Plasmakolloide  wie  alle  entladenen  Kolloide  aus- 
flocken, die  IMembran  bilden  und  keine  Spermato- 
zoen  mehr  anziehen,  ebenfalls  im  Einklang  mit 
Coulombs  Gesetz.^)  Im  Innern  des  Hinterkopfs 
befinden  sich  negative  Elemente,  die  in  Gefrier- 
schnitten sichtbar  gemacht  werden  können.  In 
lebenden  unverletzten  Zellen  lassen  sich  kaum 
kathodische  Zellteile  demonstrieren,  da  die  anodi- 
sche Oberflächenladung  fast  aller  lebenden  Zellen 
das  Eindringen  kationisch  wandernder  Korpuskeln 
behindert.  Soweit  liegen  die  Dinge  ziemlich  ein- 
fach. Nach  dem  Eindringen  in  die  Eizelle  und 
nach  Vereinigung  mit  dem  Keimfleck  (Kern)  des 
Eies,  welcher  letzterer  unleugbar  auch  kathodische 
Elemente  enthält,  wird  jedoch  der  Vorgang  auch 
elektrostatisch  undurchsichtig  und  unerklärlich. 
Hier  müssen  noch  andere  unbekannte  Faktoren 
stark  mitwirken. 

Auch  bei  der  Pflanze  -)  ist  nur  der  erste  Akt 
des  Befruchtungsvorgangs,  die  Berührung  des 
negativen  Pollens  mit  der  weiblichen  (stark  posi- 
tiven) Narbe  leicht  elektroanalytisch  nachzuweisen. 
Der  männliche  Blütenstaub  trägt  eine  stark  nega- 
tive Gesamtladung  nach  außen,  die  mit  Galvano- 
meter und  statischem  Elektrometer  auch  makro- 
skopisch nachgewiesen  werden  kann,  besteht  je- 
doch aus  zahlreichen  elektrisch  differenten  Be- 
standteilen, einer  positiven  Oberhaut  (Exine),  einer 
negativen  Innenhaut  (Intine)  und  den  elektrisch 
sehr  fein  differenzierten  Kernen.  Die  schemati- 
sche Gesamtladung  sei  an  zwei  Übersichtsbildern 
der  weißen  Lilie  demonstriert.  Diese  Pollen- 
körner haften  nicht,  wie  in  der  Literatur  gelegent- 
lich angegeben  wird,  durch  Klebstoff  an  der 
Narbe,  sondern  die  als  Ganzes  negativen  Pollen- 
körner werden  elektrostatisch  an  der  stark  elektro- 
positiven  Papille  festgehalten.  Die  Papillen  färben 
sich  unbefruchtet  in  allen  Medien  auffällig  stark 
positiv  (anodisch).  Nur  die  Zellkerne  erscheinen 
hell  ausgespart  auf  der  himbeerfarbenen  Grund- 
masse der  Abb.  2  (Neutralrotfärbung).  Die  Him- 
beernuance ist,  wie  erwähnt,  die  Säurefarbe  des 
Neutralrots,  das  alkalisch  gelbrot  ist,  so   wie  die 

')  Bei  der  Untersuchung  von  Hodenkanälchen  sieht  man 
—  anfangs  mit  Befremden  —  die  Spermien  verkehrt  in 
ihren  Bildungszellen  liegen  und  ausnahmslos  mit  dem  Hinterteil 
voraus  in  das  Lumen  der  Kanälchen  abwandern.  Nach  dem 
Vorgesagten  wird  es  klar,  daß  anders  als  mit  dem  positiven 
Schwanz  voraus  die  Spermien  nicht  von  den  negativen  Tes- 
tikelzellen  loskommen  könnten. 

^)  Keller,  Eleklrohistologische  Untersuchungen.  Prag- 
Smichov,  Verlag  Roland.     1921. 


Farbe  der  in  den  Keimschläuchen  in  die  weib- 
liche Blüte  eindringenden  Kerne,  von  denen  sich 
einer  während  der  Wanderung  zu  teilen  pflegt. 
Die  hellen  Kerne  im  Papillengewebe  der  Abb.  2 
sind  schematisch,  sie  heben  sich  an  dieser  Pflanze 
nicht  so  scharf  ab.  Scharf  helle  Zellkerne  mit 
Neutralrot  erhält  man  an  einer  verwandten  weib- 
lichen Blüte,  der  Narzisse,  oder  an  Iris  florentina 
(Schwertlilie). 


Abb.  2. 

Der  Lilienpollen  enthält  zwei  Zellkerne.  Wenn 
er  ganz  ausgekeimt  ist,  seine  Zellkerne  also  tief 
in  die  Narbe  eingedrungen  sind,  so  bleibt  nur  die 
leere  Exine  zurück,  die  sich  dann  auffällig  positiv 
färbt,  während  ungekeimter  Pollen  deutlich  nega- 
tiv ist. 


Abb.  3  (Eisenschwefelammonium)  zeigt  ein 
kathodisches  Gegenbild.  Die  keulenförmigen  Pa- 
pillen sind  ganz  ungefärbt  bis  auf  die  dunklen 
(überwiegend  negativen)  Zellkerne,  die  Keim- 
schläuche sind  grau  mit  schwarzen  Zellkernen,  die 
in  ihnen  wandern.  Auf  den  beiden  Schwarz- 
Weißbildern  tritt  nicht  hervor,  daß  die  oberste 
Zellschicht  des  Narbengewebes  unterhalb  der  Pa- 
pillen entschieden  negativ  ist.  Der  Kontrast  des 
überwiegend  negativen  männlichen  Spermakerns 
und    der  überwiegend  positiven  Eizelle   läßt   sich 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


bis  zum  Embryosack  der  LiHen  verfolgen.  Am 
schärfsten  tritt  der  elektropolare  Gegensatz  von 
Pollenapparat  und  Eiapparat  bei  5  mm  großen 
Blüten  der  Cyclame  hervor,  und  zwar  mit  Dela- 
fields  Hämatoxylin  als  Kathonreagens  und  einem 
beliebigen  der  vielen    scharfen  Anodenreagentien. 

In  Übereinstimmung  mit  dem  elektrohistolo- 
gischen  Kontrast  steht  die  Tatsache,  daß  vor 
einigen  Jahren  der  Schwede  Fähreus  in  Hoe- 
bers  Laboratorium  in  Kiel  die  Blutkörperchen 
des  IVIannes  stärker  geladen  fand  als  die  der 
Frauen,  eine  Beobachtung,  die  seither  von  mehreren 
anderen  Forschern  u.  a.  Litzenmaier  bestätigt 
worden  ist.  Da  alle  Blutkörperchen  negativ  ge- 
laden sind,  so  hat  also  auch  Fähreus')  eine 
relativ  stärkere  Elektron  egati  vi  tat  beim  iVIanne 
aufgefunden.  So  wie  es  in  Gestalt,  Farbe,  Ge- 
wicht, Hautdecke  sekundäre  Geschlechtsmerk- 
male gibt,  so  deckt  die  elektroanalytische  Unter- 
suchung auch  elektrostatisch  sekundäre  Geschlechts- 
eigenschaften auf,  auch  an  der  Eizelle  der  Nar- 
zissen und  Lilien,  die  eine  auffällig  positive  Epi- 
dermis erkennen  lassen. 

Mittels  der  Elektromikroskopie  lassen  sich  auch 
Fragen  angehen,  die  die  makroskopische  Elektro- 
physiologie  mit  ihren  gröberen  Apparaten  nicht 
untersuchen  kann,  beispielsweise  die  Fragen  der  elek- 
trischen Isolierung  der  Organteile.  In  Übereinstim- 
mung mit  der  kürzlich  hier  erwähnten  bahnbrechen- 
den Untersuchung  von  B  e  u  t  n  e  r  ergibt  sich  aus 
den  Färbungen,  daß  die  Cuticula  der  Apfelhaut,  jene 
oberste  dünne  Schicht,  eine  Isolatorschicht  ist, 
ebenso  die  unverletzte  Oberfläche  des  tierischen 
Nerven,  die  bei  Beutner  ^)  gleich  reagieren  wie 
ein  saures  Ol.  Daß  diese  dünnen  Schichten 
anodisch  (d.  h.  sauer)  reagieren,  ist  elektroanaiy- 
tisch  unabhängig  von  der  Entdeckung  Beutners 
zutage  getreten  und  beschrieben  worden,  bestätigt 
also  die  Ergebnisse  dieses  ausgezeichneten  For- 
schers mit  ganz  anderer  Methodik.  Um  dieselbe 
Zeit,  in  der  Beutner  in  New- York  arbeitete, 
hat  F.  Waiden*)  in  Riga  den  Zusammenhang 
zwischen  Dissoziationskonstante  (elektrolytischer 
Leitfähigkeit)  und  Dielektrizitätskonstante  genau 
erforscht.  Substanzen  mit  der  Dielektrizitätskon- 
stante von  nur  15  wie  Beut  ners  Ölphasen  lassen 
die  stärksten  Elektrolyten  nicht  dissoziieren,  wirken 
also  praktisch  als  Isolatoren.  Während  Waiden 
aus  bekannten  Dielektrizitätskonstanten  auf  Dis- 
soziation (elektr. Leitfähigkeit)  schloß,  hat  Beutner 
umgekehrt  die  Nichtdissoziation  der  starken  Elek- 
trolyte  an  der  Apfelcuticula  und  Nervenoberfläche 
bestimmt,  woraus  nunmehr  nach  Waiden  auf 
die  niedrige  Dielektrizitätskonstante  dieser  Ober- 
flächenschichte geschlossen  werden  kann,  also  auf 
ihre  Isolatoreigenschaft  trotz  ihres  Gehaltes  an 
sonst  gutleitenden  Salzen,  die  eben  im  nichtdis- 
soziierten    Zustande    schlechte    Leiter    sind.      So 


wird  aus  scheinbar  nebensächlichen  Resultaten  der 
verschiedensten  Untersucher  hie  und  da  ein  Zu- 
sammenhang gewonnen,  der  ein  Licht  auf  Er- 
scheinungen wirft,  die  gar  nicht  den  Gegenstand 
der  betreffenden  Untersuchung  gebildet  haben. 
Beutner  hat  zu  dem  vielen  anderen,  daß  er 
entdeckt  hat,  die  ersten  Behelfe  geliefert,  zu 
mikroskopischen  Untersuchungen  der  Dielektrizi- 
tätskonstante von  organischen  Membranen. 

Das  Hauptresultat  der  bisherigen  Elektrohisto- 
logie,  die  Erkenntnis,  daß  Frotoplasmabewegungen 
nicht  chemisch-konstitutiv  zu  deuten  sind,  sondern 
daß  die  elektrostatische  Oberflächen- 
ladung der  Korpuskeln  die  entscheidenden 
Wirkungen  hervorbringt,  ist  in  den  letzten  Jahren 
ganz  unabhängig  davon  auf  einem  ganz  anderen 
Gebiete  der  Physiologie  hervorgetreten,  in  der 
Wirkung  gewisser  Salzlösungen  auf  die  Automatic 
des  aus  dem  Organismus  herausgenommenen  frei- 
schlagenden Herzens.  In  einer  Reihe  glänzender 
Untersuchungen  hat  der  holländische  Physiologe 
Zwaardemaker')  zusammen  mit  seiner  Schule 
festgestellt,  daß  die  Arbeit  des  Herzens  von  den 
chemisch  heterogensten  Ionen  entscheidend  be- 
einflußt wird,  daß  aber  immer/?  Strahler,  das  heißt, 
negative  Elektronen  aussendende  Stoffe  nur  durch 
/5  Strahler  ersetzt  werden  können ,  und  ebenso 
ß-Strahler  nur  wieder  durch  «Strahler  (Aussender 
positiv  geladener  Heliumatome).  Mischungen  von 
a-  und  /S  Strahlern  in  gewissen  quantitativen  Ver- 
hältnissen kompensieren  sich  gegenseitig  und 
bringen  das  Herz  sofort  zum  Stillstand.  In  der 
Pflanzenphysiologie  hat  gleichzeitig  der  tschechische 
Forscher  Stoklasa")  gezeigt,  daß  das  Kalium 
(/?- Strahler)  durch  andere  /^-Strahler  ersetzt  wer- 
den kann  und  daß  radioaktive  Strahlen  für  die 
Pflanzen  unentbehrlich  sind.  Ebenso  zeigen  die 
Resultate  schwedischer  und  holländischer  Autoren 
bei  der  Nervendurchschneidung  und  Nervenregene- 
ration (Ingvar")  und  Arien- Kappe rs^)),  daß 
der  elektrostatische  Faktor  bei  mikroskopischen 
Untersuchungen  nicht  länger  vernachlässigt  wer- 
den darf,  wenn  man  nicht  auf  das  Studium  der 
in  den  mikroskopischen  Distanzen  stärksten 
Energieart  verzichten  will.  Bis  man  erst  einmal 
erfaßt  haben  wird,  wie  vergleichsweise  einfach  und 
dabei  zuverlässig  und  aufechlußreich  die  Unter- 
suchung der  mikroskopischen  Elektrizitätserschei- 
nungen ist  und  wieviel  fertiges  Material  in  der 
älteren  Literatur  der  Vitalfärbung  der  bloßen 
Übertragung  in  die  elektrohistologische  Analyse 
harrt,  wird  die  elektrische  Zellphysik  einen  ähn- 
lichen Aufschwung  nehmen,  wie  ihn-  die  Atom- 
physik durch  die  verfeinerte  ultraatomare  Elektro- 
statik genommen  hat. 


')  Fähreus,  Biochem.  Zeitschr.  89,  1918,  s.  a.  Litzen- 
maier, Pflügers  Arch.   1921. 

")  Beutner,  Die  Entstehung  elektrischer  Ströme.  Stutt- 
gart, Enke,   1920. 

')  Waiden,  Zeitschr.  f.  physik.  Chemie,  94,  263,  1920. 


')  Zwaardemaker,  Ergebn.  d.  Physiol.,  21,  321,  Wies- 
baden 1921. 

'^)  Stoklasa,  Influence  de  la  radioactivite  Compte  Ren- 
dus  Tome,  155,  1912  und  zahlreiche  spätere  Arbeiten  in 
tschechischen  Publikationen    und  in  der  „Biochem.  Zeitschr.". 

^)  Ingvar,  Reaction  of  Cells  to  the  Galv.  Currenl.  Proc. 
See.   Exp.  Biol.,  17,   198,   191920. 

*)  Ariens-Kappers,  On  Structural  Laws  in  Nervous 
System.     Brain  (London),  Bd.  44,  125,  1921. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Was  ist  die  Zeit? 

Von  A.  Radovanovitcb. 


Wenn  wir  auch  keinen  besonderen  Raumsinn 
haben,  so  erfahren  wir  doch  die  Rauminhahe,  die 
Körper  und  ihre  Bewegungen  durch  die  sich  er- 
gänzenden Empfindungen  unserer  Sinne.  Von 
der  Zeit  erfahren  wir  nichts.  Unsere  Sinne 
melden  uns  auch  indirekt  nichts  von  ihr,  und 
wenn  wir  meinen,  eine  Zeitempfindung  zu  erleben, 
so  ertappen  wir  uns  immer  bei  einer  Raum-  bzw. 
Bewegungsempfindung. 

Dennoch  glauben  wir,  die  Zeit  messen  zu 
können.  Die  Zeitsekunde,  die  kleinste  konven- 
tionelle Zeiteinheit,  ist  der  86400ste  Teil  eines 
mittleren  Sonnentages.  Diesem  entspricht  ein 
scheinbarer  Gang  der  mittleren  Sonne  um  die 
Erde,  oder  eine  Umdrehung  der  Erde  um  ihre 
Achse,  und  somit  entspricht  der  Zeitsekunde  ein 
Weg  von  rund  464  m  am  Äquator,  oder  eine 
Achsendrehung   der  Erde  um   15  Bogensekunden. 

Wir  messen  also  nicht  die  Zeit  mit  einem 
Raummaßstab  —  dann  wäre  sie  eben  der  Raum 
—  sondern  wir  nehmen  an,  daß  der  konven- 
tionellen Zeiteinheit  eine  Wegeinheit 
eines  gleichförmig  bewegten  Bezugskörpers  ent- 
spricht. Mit  anderen  Worten :  Analog  der  Ein- 
teilung des  Raumes  (Äquator),  teilen  wir  die  Zeit 
(Tag)  ein.  Und  da  außer  dem  Raum  nur  noch 
die  Zahl  teilbar  ist,  so  kann  die  Zeit  nur  als 
Zahl  aufgefaßt  werden.  —  Unsere  Uhren  —  wir 
haben  im  kleinen  den  halben  Äquator  in  der 
Tasche  —  messen  nicht  die  Zeit,  sie  zeigen  nur 
die  verkürzten  Wege  des  Bezugskörpers,  und  bei 
Zeitangaben  haben  wir  nur  vom  Stand  und  Weg 
der  Uhrzeiger,  bzw.  der  Sonne  eine  Vorstellung, 
nicht  aber  von  einer  Zeit. 

Eine  Bewegung  ist  durch  die  Geschwindigkeit 
und  die  Richtung  gekennzeichnet.  Die  Ge- 
schwindigkeit V  ist  der  Weg,  den  ein  Körper  zu- 
rücklegt, wenn  eine  Zeiteinheit  verflossen  ist. 
Dieser  entspricht  aber  eine  Wegeinheit  des  Be- 
zugskörpers. Somit  können  wir  die  Zeiteinheit 
eliminieren:  Dem  Weg  vm  entspricht  ein  Weg 
von  464  m  am  Äquator,  und  die  Geschwindigkeit 
ist  der  Weg,  den  ein  Körper  zurücklegt,  wenn 
der  Bezugskörper  eine  Wegeinheit  (464  m  am 
Äquator)  durchlaufen  hat.  Zur  Bestimmung  der 
Geschwindigkeit  benötigen  wir  demnach  nur  zwei 
konkrete  Wegmaße,  v  m  und  464  m,  aber 
keine  abstrakte  Zeit. 

In    den    Grundgleichungen    der   Bewegung    ist 

die  Zeit  t=— ,   Weg  durch  Geschwindigkeit  und 

W  -r» 

t=T-,   Endgeschwindigkeit  durch  Beschleunigung 

(w  und  k  sind  wie  v  durch  464  m  am  Äquator  be- 
stimmt). In  beiden  Gleichungen  ist  die  Zeit 
eine  Verhältniszahl.*)     Sie   zeigt   das  Ver- 


-;  t  und  I  sind  Zahlen,  s,  v,  w  und  k  Wege. 


hältnis  an  zwischen  zurückgelegtem  Weg  s  und 
dem  Weg  v  in  der  Zeiteinheit  (s.  o.),  bzw.  zwischen 
der  erreichten  Endgeschwindigkeit  w  und  der  Ge- 
schwindigkeitszunahme k  in  der  Zeiteinheit.  Oder: 
Die  Zeit  gibt  die  Zahl  t  der  vom  Bezugskörper 
zurückgelegten  Wegeinheiten  an ,  wenn  ein  mit 
der  Geschwindigkeit  v  bewegter  Körper  den  Weg  s 
gemacht  hat  (s^vt),  bzw.  wenn  ein  Körper  bei 
einer  Beschleunigung  k  die  Endgeschwindigkeit  w 
erreicht  hat  (w  =  kt). 

Die  unseren  Zufallsinnen  zugängliche  Welt  ist 
im  großen  wie  im  kleinen  ein  unaufhörliches, 
verschieden  schnelles  Durcheinanderwogen  be- 
eigenschafteter  Rauminhalte.  Daraus  nehmen  wir 
eine  Bewegung,  die  Drehung  der  Erde  um  ihre 
Achse,  als  Maßstab  an,  und  die  Zahl,  die  das 
Verhältnis  dieser  Bewegung  zu  allen 
anderen  anzeigt,  nennen  wir  die  Zeit.  Diese 
ist  es,  die  wir  bei  der  Beschreibung  unseres  Welt- 
bildes, beim  Messen  und  Vergleichen  der  Be- 
wegungen und  Wirkungen  (Kräfte)  der  Raumin- 
halte zugrunde  legen.  —  Als  Zahl  ist  sie  in  der 
Natur  nicht  zu  finden,  sie  ist  menschliches  Denk- 
produkt und  nach  Mauthner  erst  durch  die 
Sprache  entstanden.*) 

Mit  der  Deutung  der  Zeit  als  Zahl  wird  ihre 
formale  Behandlung  in  der  Sprache  und  Mathe- 
matik nicht  geändert.  Wir  können  die  eingelebten 
Sprachformen,  die  sich  auf  den  überlieferten  Zeit- 
begrifif  beziehen,  nicht  aufgeben,  nur  müssen  wir 
ihrer  Bedeutung  stets  bewußt  bleiben.")  Wir 
reden  von  der  Dauer  eines  Geschehens,  von  not- 
wendiger Zeit,  aber  Dauer  und  Zeit  drücken 
nur  auf  Umwegen  die  Drehung  der  Erde  aus. 
Wir  konstatieren,  daß  ein  Kraftwagen  einen  Kilo- 
meter in  vierzig  Sekunden  zurücklegt  und  glauben 
dabei  eine  Ortsveränderung  und  einen  Zeit- 
ablauf gemessen  zu  haben.  In  der  Tat  haben 
wir  nur  zwei  Ortsveränderungen  miteinander  ver- 
glichen, die  des  Wagens  und  die  der  Spitze  des 
Sekundenzeigers  (indirekt  die  eines  Äquator- 
punktes). Von  einer  besonderen  „Zeit"  haben  wir 
dabei  nichts  erfahren  1  Ebensowenig,  wenn  wir 
uns  einbilden  ruhend  die  „Zeit"  an  uns  vorbei- 
streichen zu  lassen. 

Wir  wissen  ja  gar  nicht,  in  welcher 
„Zeit"  sich  die  Erde  einmal  um  ihre 
Achse  dreht.  Wir  antworten  rasch,  in  24 
Stunden,  besinnen  uns  aber  nicht,  daß  wir  dabei 
einen  angenommenen  Maßstab  mit  ihm  selbst  ge- 
messen haben:  Die  Erde  dreht  sich  einmal  um 
ihre  Achse,   wenn    sich   die  Erde  einmal  um  ihre 

')  Fritz  Mauthner,  Kritik  der  Sprache.  3  Bände. 
1906—13,  Cotta. 

-)  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  der  Rhythmus  von 
Tag  und  Nacht  auch  zur  Erfindung  der  Zahl  und  dann  der 
Zeit  beigetragen  hat ,  und  es  ist  fraglich,  ob  sich  unsere 
Sprache  ebenso  entwickelt  hätte,  wenn  unsere  Urahnen,  statt 
auf  einem  gegen  die  Sonne  rotierenden,  auf  einem  gegen  sie 
stets  gleichgerichteten  Planeten  zu  Menschen  geworden  wären. 


670 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


Achse  gedreht   hat  (Münchhausens  Zopfl).     Mehr 
wissen  wir  nicht. 

Jahr  und  Monat  spielen  auf  der  als  Zififerblatt 
gedachten  Schraubenbahn  der  Erde  die  Rolle  der 
Stunden  und  Minuten,  und  die  eilende  Erde  ist 
der  Zeiger.  Die  Erdbahn  ist  eine  Kilometer- 
Zahlenreihe,  mit  der  eine  Jahres-Zahlen- 
reihe  mit  gleichem  Nullpunkt  (Christi  Geburt) 
übereinstimmt.  Zeitangaben  sind  also  Ortsbe- 
stimmungen der  Erde  auf  ihrer  Bahn.  Kolum- 
bus wurde  im  Jahre  1446  geboren  bedeutet: 
Als  die  Erde  auf  einem  bestimmten  Punkte  ihrer 
Bahn  war,  wurde  Kolumbus  geboren.  Eine 
Sonnenfinsternis  wird  auf  einem  anderen  berech- 
neten Punkte  der  Erdbahn  stattfinden. 

Die  mittlere  Geschwindigkeit  der  Erde  bei 
ihrem  schiefen  Schraubenflug  mit  der  Sonne  im 
Weltraum  beträgt  ungefähr  30  km.  Bei  einer 
Umdrehung  um  ihre  Achse,  an  einem  Tag,  legt 
sie  einen  mittleren  Weg  von  86400X30=2  592000 
km  zurück  (in  einem  Jahr  fast  eine  Milliarde). 
Schon  die  Gegenüberstellung  von  einem  Tag 
und  2  592  000  km  zeigt,  daß  ein  Ereignis  für  uns 
geläufiger  und  übersichtlicher  durch  Jahr  und 
Tag,  als  durch  Kilometer  bestimmt  werden  kann. 
Aber  wir  dürfen  nie  vergessen,  Jahr  und  Tag 
sind  nur  umschriebene  Erdenwege. 

Unser  Empfinden  der  Körpereigenschaften, 
des  sog.  Nebeneinander  im  Raum,  ist  unsere 
Gegenwart,  die  dimensionslose,  mit  uns  auf 
der  Erdbahn  wandernde  Grenze  zwischen  unserer 
Erinnerung,  der  Vergangenheit  und  unserer 
Erwartung,  der  Zukunft.  Es  ist  auch  unsere 
sog.  Gleichzeitigkeit.  Optisch  objektiv  zeigt 
die  photographische  Augenblicksaufnahme  vom 
Standort  des  Apparates  das  der  Kamera  zugäng- 
liche Nebeneinander  und  die  Gleich- 
zeitigkeit für  einen  bestimmten  Punkt  der 
Erdbahn.  Jede  Platte  ist  wie  jeder  Empfindende 
einzig,  jedes  hat  sein  eigenes  Nebeneinander  und 
seine  eigene  Gleichzeitigkeit,  denn  in  einem  Punkte 
ist  nur  ein  Beobachter,  eine  Platte  möglich.-') 

Unsere  Erinneru  ng  an  Reihen  empfundener 
Nebeneinander  ist  das  sog.  Nacheinander,  das 
wir  in  der  „Zeit"  unterzubringen  vermeinen,  wäh- 
rend wir  es  tatsächlich,  wenn  auch  unbewußt,  auf 
den  vom  Bezugskörper  zurückgelegten  Weg  pro- 
jizieren. 

Verlassen  wir  unsere  sinnlich  wahrnehmbare 
Welt  der  bewegten  Rauminhalte,  in  der  die  Zeit 
als  Zahl  ein  reeller  Faktor  ist,  fragen  wir 
nach  der  sog.  metaphysischen  Zeit,  die  das 
Erleben  begleiten  und  dabei  fließen,  vergehen, 
eilen  usw.  soll,  ohne  daß  wir  wissen,  was  sie  ist, 
wo  und  wohin  sie  fließt  usw.,  dann  geraten  wir 
unversehens  auf  den  weiten  Tummelplatz  der  ver- 


')  Nach  der  Relativitätstheorie  haben  gegeneinander  be- 
wegte Systeme  verschiedene  Zeiten,  d.  h.  verschiedene  Ver- 
hältniszahlen  und  verschiedene  Nebeneinander,  wobei  jedoch 
die  Frage  offen  bleibt,  ob  Beobachter  und  photographische 
Platten  im  ruhenden  und  bewegten  System  dieselben  Eigen- 
schaften beibehalten. 


antwortungslosen  Sprache.  Die  metaphysische 
Zeit  steckt  nur  in  Gedanken,  sie  ist  ein  Spuk,  der 
im  Zwielicht  der  Sprache  jedem  so  erscheint,  wie 
er  ihn  zu  sehen  wünscht.  Alle  ihre  Definitionen 
sind  mehr  oder  weniger  verständliche  und  ver- 
fängliche Versetzspiele  mit  Worten.  Die  Mühle 
nur  mit  Worten  beschickt,  kann  nur  Worte  wieder- 
klappern. Und  mehr  als  Worte  haben  wir  nicht 
für  die  „Zeit". 

Alle  Bilder,  die  eine  Zeitvorstellung  oder  -emp- 
findung  erwecken  sollen,  sind  letzten  Endes  Raum- 
oder Bewegungsbilder.  —  Aus  der  Unvorstellbar- 
keit eines  Nichts  hinter  den  Grenzen  der  vorstell- 
baren Rauminhalte,  schließen  wir  auf  die  Unend- 
lichkeit des  Raumes.  Analog  reden  wir  auch 
von  einer  unendlichen  Zeit,  der  Ewigkeit,  trotz- 
dem wir  uns  nicht  einmal  eine  begrenzte  Zeit 
vorstellen  können.  Wir  lassen  uns  nur  zu  leicht 
durch  überlieferte  Redensarten  irre- 
führen und  Zeitvorstellungen,  oder  gar  Zeit- 
empfindungen suggerieren.  —  Befreien  wir  uns 
vom  Wortaberglauben,  zwingen  wir  nicht  das 
Wort  Zeit  mehr  zu  sein  als  eine  Zahl,  dann  ver- 
schwindet der  Spuk  und  wir  haben  vor  uns  nur 
Bewegungen  der  Rauminhalte  und  als 
Maßstab  der  Bewegungen  die  Drehung 
der  Erde  um  ihre  Achse,  die  wir  durch 
Zahlen  miteinander  verknüpfen. 

Die  Bewegung  des  Bezugskörpers  wurde  als 
gleichförmig  bezeichnet.  Gibt  es  überhaupt  eine 
gleichförmige  Bewegung?  Die  Drehung  der  Erde 
urh  ihre  Achse  erscheint  nur  uns  innerhalb  der 
Genauigkeitsgrenzen  unserer  Messungen  kon- 
stant. Nach  unserer  heutigen  Weltvorstellung 
kam  die  Erde  aus  einem  Nebel  und  wird  in  einem 
Nebel  verschwinden.  Die  Veränderungen  ihres 
Zustandes  und  ihrer  Bewegungen  —  vom  Chaos 
zur  Schraubenbahn  und  wieder  zum  Chaos  — 
auf  dem  ungeheueren  Wege  zwischen  den  Nebeln 
verlaufen  für  uns  so  langsam,  daß  zu  ihrem  Nachweis 
unsere  Beobachtungen  auf  dem  uns  verfügbaren, 
verschwindend  kleinen  Erdenwege  nicht  ausreichen. 
—  Undwiesteht  es  mit  den  Bewegungs- 
maßstäben vor,  in  und  nach  den  Nebeln? 
Wer  stellt  sie  auf?    Wer  gebraucht  sie? 

Die  Wegeinheit  unseres  Bezugskörpers  ist  also 
nicht  konstant.  Die  Zeit  als  Verhältniszahl,  ge- 
bunden an  das  Dasein  des  Menschen,  wird  davon 
nicht  berührt.  —  Aber  die  metaphysische,  ewige 
Zeit?  —  Aus  dampfgesättigter  Luft  ballt  sich  ein 
Tropfen,  fliegt  vom  Winde  getrieben  einige  hun- 
dert Meter  und  verdunstet  dann  in  einer  wärme- 
ren Luftschicht.  Auf  ihm  entstehen  und  ver- 
gehen Wesen,  die  unterwegs  von  Zeit  und  Ewig- 
keit reden. 

Die  unseren  Sinnen  zugängliche  Welt  ist  ein 
unaufhörlicher  Wechsel  im  Nebeneinander  der 
Rauminhalte,  unaufhörliche  Bewegung,  die  wir 
mit  einer  angenommenen  Grundbewegung  ver- 
gleichen. Die  Zeit  ist  dabei  die  Maß-  oder 
Verhältniszahl.  Sie  ist  erst  nach  der  Zahl 
durch  die  Sprache  entstanden. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


671 


Einzelberichte. 


Die  Kiistallstruktur  des  Calciums. 

Wegen  ihrer  besonderen  Anschauungen  hin- 
sichtlich der  Stellung  der  Valenzelektronen  sei 
hier  über  Untersuchungen  berichtet,  die  A.  W.  H  u  1 1 
in  The  physical  Review,  Bd.  XVII  (1921),  S.  42 
bis  44  veröffentlicht.  —  Calcium  ist  allgemein  für 
hexagonal  gehalten  worden,  vielleicht  schon  wegen 
der  Analogie  mit  Magnesium  und  Zink.  M  o  i  s  s  a  n 
beobachtete  (Comptes  rendus  127,  S.  585  (1898)), 
daß  es  hexagonale  Plättchen  oder  Rhomboeder 
bildete  und  hexagonale  Wachstumsformen  zeigte. 
Dagegen  ermittelt  die  folgende  Röntgenanalyse 
ein  kubisches,  flächenzentriertes  Raumgitter. 

Die  Aufnahmen  wurden  in  der  bereits  früher 
beschriebenen  Weise  (vgl.  Naturw.  Wochenschr. 
1921,  Nr.  40)  analog  der  Deby e-Scherrer- 
Methode  hergestellt.  Reines  elektrolytischesCalcium 
wurde  in  einer  Kugelmühle  zu  sehr  feinem  Pulver 
vermählen  und  danach  in  einem  Glasröhrchen 
von  ca.  3  mm  Durchmesser  monochromatischem 
Röntgenlicht  einer  Molybdänröhre  ausgesetzt.  Die 
Reflexionsbanden  auf  dem  Film  waren  nahezu 
5  mm  breit  und  einige  ziemlich  schwach.  Trotz- 
dem stimmen  die  unabhängigen  Messungen  rechts 
und  links  vom  zentralen  Strahl  auf  Va  %  überein, 
und  die  aus  ihrem  Mittelwert  berechneten  Netz- 
ebenenabstände  ergeben  mit  den  theoretisch  zu 
errechnenden  nur  Abweichungen  von  Va  "/o-  ^^^ 
Ausnahme  von  zwei  Fällen,  wo  die  Abweichung 
I  %  beträgt. 

Da  sich  Ca  in  Luft  schnell  oxydiert,  schien 
es  nicht  unmöglich,  daß  das  sehr  feine  verwendete 
Pulver  überhaupt  gänzlich  oxydiert  war,  und  daß 
die  gefundenen  Werte  daher  dem  CaO  ange- 
hörten. Deshalb  wurde  eine  zweite  Aufnahnie 
vorgenommen,  wobei  das  Ca  aus  groben  Feil- 
spänen einer  gegossenen  Stange  von  elektro- 
lytischem Metall  bestand,  die  während  der  Auf- 
nahme dauernd  in  Umdrehung  erhalten  wurden. 
Dieser  Versuch  ergab  jedoch  nur  Linien,  die  mit 
denen  der  ersten  Art  der  Aufnahme  überein- 
stimmten. 

Zur  endgültigen  Entscheidung  wurde  ein 
Röhrchen  in  der  unteren  Hälfte  mit  Ca- Pulver, 
in  der  oberen  Hälfte  mit  trockenem  CaO  gefüllt. 
Eine  Zwischenwand  von  dünnem  Messing  ver- 
hinderte ein  Übergreifen  der  abgebeugten  Strahlen 
von  der  einen  zur  anderen  Hälfte.  Das  auf  diese 
Weise  erhaltene  Photogramm  ist  in  der  Arbeit 
wiedergegeben.  Es  zeigt,  daß  die  Gitter  von  Ca 
und  CaO  zwar  ähnlich  sind,  aber  sehr  verschiedene 
Ausmaße  besitzen.  Die  stärkste  CaO-Linie  ist 
auch  auf  dem  Ca-Photogramm,  aber  nur  sehr 
schwach,  sichtbar,  entsprechend  etwa  2  7o  beige- 
mengtem CaO. 

Als  Kantenlänge  des  Elementarwürfels  für  Ca 

wurde  gefunden  5,56  Ä.  Bei  einer  Dichte  =  1,56 
beträgt  die  Zahl  der  Atome  im  Elementarwürfel 
vier,   d.   h.   es  liegt  ein  flächenzentriertes  Würfel- 


gitter zugrunde.  Aus  dem  unmittelbaren  Ver- 
gleich der  Photogramme  von  CaO  und  Ca  ergibt 
sich,  daß  die  Ca-Atome  im  CaO  ebenfalls  ein 
fiächenzentriertes  Würfelgitter  bilden;  die  Dimen- 
sionen dieses  Würfels  sind  aber  kleiner.  Daraus 
folgt:  Die  Sauerstoffatome  beanspruchen  nicht 
nur  keinen  weiteren  Raum,  sondern  zwingen  so- 
gar die  Ca-Atome  im  CaO  um  m"/«  näher  zu- 
einander als  im  Ca-Metall,  ohne  dabei  die  An- 
ordnung der  Atome  zu  verändern. 

Da  das  Ca  im  CaO  ein  Ca++Ion  ist,  mit 
wahrscheinlich  derselben  Anzahl  und  Anordnung 
der  Elektronen  wie  im  Argon-Atom,  vermutet 
Hu  11,  daß  die  Ca-Atome  im  metallischen  Ca 
ebenfalls  Ca  Ionen  sind.  Nach  seiner  Ansic  ht 
stehen  die  beiden  Valenzelektronen  als 
freie  Elektronen  an  der  gleichen  Stelle, 
w  o  i  m  CaFa-  Gitter  (Flußspat)dieF-Ionen 
stehen.  Dies  sei  nahe  gelegt  durch  die  Tat- 
sache, daß  die  Entfernung  zwischen  CaAtomen 
im  CaFg  (wo  sie  sich  ebenfalls  im  flächenzen- 
trierten Würfelgitter  finden)  nur  um  2  "/o  von  der 
des  metallischen  Ca  abweicht.  [Im  CaF.,  ist  die 
Seite  des  Elementarwürfels  5,43  Ä.]  Die  F-Ionen 
treten  also  wie  die  O  Ionen  im  CaO  in  das  Raum- 
gitter des  metallischen  Ca  ein,  ohne  seine  Dimen- 
sionen zu  vergrößern.  Ihre  Volumina  erscheinen 
also  jedenfalls  kleiner  als  die  Hohlräume,  die  im 
Ca-Gitter  durch  die  Anordnung  von  Ca-Atomen 
gelassen  werden.  Spbg. 

Zur  Anatomie  der  Tardigraden 

oder  Bärtierchen  bringt  H.  Baumann  einige  Bei- 
träge nach  Untersuchungen  an  Macrobiotus  hufe- 
landii.')  Es  war  nicht  seine  Absicht,  auf  die 
systematisch-phylogenetische  Stellung  der  Tardi- 
graden einzugehen,  doch  mußte  diese  Frage  mehr- 
mals gestreift  werden.  —  Die  Stellung  der  Tardi- 
graden ist  für  Eingeweihte  immer  noch  ebenso 
umstritten  wie  je.  Die  gebräuchlichsten  Lehr- 
bücher führen  diese  Tiergruppe  seit  Otto  Fried- 
rich Müller  1785  immer  noch  bei  den  Arachnoi- 
deen  in  der  Nähe  der  Milben  wegen  der  Acht- 
zahl der  Beine  —  ein  sehr  wenig  stichhaltiger 
Grund,  da  die  Spinnenkerfe  vom  Skorpion  ab  zwar 
in  der  Regel  gleichfalls  vier  Paar  Schreitbeine 
haben,  aber  nicht  vier  Paar  Extremitäten,  sondern 
sechs  mit  Einrechnung  der  Mundgliedmaßen,  die 
den  Tardigraden  fehlen.  Ehrenberg  und  Max 
Schultze  stellten  die  Bärtierchen  zu  den  Krebsen, 
was  eine  heute  völlig  aufgegebene  Ansicht  ist, 
Spätere  zu  den  Rädertierchen  oder  in  deren  Nähe 
—  so  Handlirsch  —  oder  zu  den  Würmern 
oder  zwischen  Würmer  und  Arthropoden  — 
F.  Richters.  Rauther  nimmt  sie  1909  gar 
für  rückgebildete  Dipterenlarven.  L.  Plate  sieht 
1889    in    ihnen    die    nächsten    Verwandten    von 

>)  Zeilschr.  f.  wiss.  Zool.,  Bd.   118,   1921,  H.  4. 


672 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4; 


,Peripatus,  der  noch  sehr  wurmähnlichen,  bis  zu 
gewissem  Grade  annelidenähnlichen  ungefähren 
Ausgangsform  der  zum  Tausendfuß  und  Insekt 
führenden  Formenreihe  —  was  Peripatus  doch 
vermutlich  ist,  obwohl  auch  dies  neuerdings  be- 
stritten wird. 

Nematodenartig  ist  zwar  nach  Baumann  die 
terminale  Lage  des  Mundes  von  Macrobiotus 
hufelandii  und,  mit  v.  Erlanger  und  Richters, 
der  Schlundkopf,  doch  könne  letztere  Überein- 
stimmung auf  gleichartiger  saugender  Nahrungs- 
aufnahme beruhen,  und  die  terminale  Mundlage 
werde  nicht  die  ursprüngliche  sein,  da  bei  einer 
zweiten  Art,  Macrobiotus  oberhäuseri,  der  Mund 
ventral  liegt  und  das  Vorhandensein  eines  Ober- 
schlundganglions mit  Mundring  bei  beiden  in 
Analogie  mit  den  Anneliden  und  Arthropoden 
auf  einen  ursprünglich  dorsal  hervorragenden 
Kopflappen  schließen  lasse.  Viel  auffallender 
erinnere  an  die  Nematoden  die  ventrale  Lage  des 
Afters  in  einiger  Entfernung  vom  Hinterende, 
nämlich  vor  dem  letzten  Beinpaar;  bei  Anneliden 
und  Arthropoden,  denen  die  Bärtierchen  zwar  durch 
ihr  Nervensystem  —  segmentale  Bauchganglien- 
kette I  —  näher  stehen,  liegt  er  terminal  oder 
doch  —  Arthropoden,  insbesondere  auch  Milben 
—  nie  vor  dem  letzten  Beinpaar.  Wie  bei 
Macrobiotus  liegt  der  After  zwar  auch  bei  den 
Rotatorien,  hier  aber  hängt  dies  „wohl  mit  der 
ursprünglich  festsitzenden  Lebensweise  zusam- 
men".!) 

Neben  der  Extremitätenzahl  sind  die  Krallen 
an  den  Extremitäten  meist  Anlaß,  die  Tardigraden 
zu  den  Arthropoden  zu  rechnen.  Ihr  Bau, 
vor  allem  ihr  Bewegungsapparat  ist  aber  nach 
Bau  mann  ein  ganz  anderer:  die  Chitinhülle  des 
Beins  umhüllt  die  Krallen  von  oben  her  schwimm- 
hautartig zum  größten  Teil,  nämlich  bis  zu  deren 
Umbiegung  nach  unten;  ein  Muskel  zieht  die 
Kralle  mittels  einer  in  der  „Schwimmhaut"  ge- 
legenen Sehne  nach  oben  ein  wie  die  Kralle  einer 
Katzenpfote.  Die  Arthropodenkralle  dagegen  ist 
frei  und  durch  einen  ventral  angreifenden  Muskel 
aktiv  einschlagbar,  so  bei  Insekten,  während  bei 
Spinnen  außerdem  ein  dorsaler  Streckmuskel  vor- 
handen ist,  der  aber,  anders  als  bei  den  Tardi- 
graden, gleich  dem  ventralen  ganz  hinten  an  der 
Kralle  ansetzt.  —  Somit  ergab  sich  auch  für  die 
Arthropodennatur  der  Tardigraden  keine  neue 
Stütze. 

Mehr  in  biologischer  Hinsicht  verdienen 
besonders  folgende  Feststellungen  Beachtung:  Das 
letzte  Beinpaar  ist  nicht  seitwärts  bewegbar, 
sondern  dient  zum  Nachschieben  des  Körpers  wie 
die  Afterfüße  einer  Raupe.  Unter  alternierenden 
Bewegungen  der  übrigen  Beine  laufen  die  winzigen 
Tiere  ziemlich  schnell,  nämlich  i  mm  in  etwa 
^/j  Minute.  —  Macrobiotus  hufelandii  und  ober- 
häuseri haben  eine  hauptsächlich  querstreifige, 
bei  letzterer  Art  bräunliche,  bei  jener  durch  farb- 


lose Körnchen  in  der  Hypodermis  gebildete,  etwas 
variable  Zeichnung.  Bei  der  Eintrocknung  des 
Tiers  zum  latenten  Leben  kommen  diese  Bänder 
nach  außen  zu  liegen;  die  von  Körnchen  oder 
Pigment-  oder  —  bei  Echiniseus  —  von  Skulp- 
turplatten freien  Zonen  entsprechen  den  Ein- 
schnürungen des  Rumpfes  und  werden  nach  innen 
gezogen.  —  Die  Haut  besteht,  wie  schon  be- 
kannt, aus  einer  dünnen,  derben,  sich  leicht 
fältelnden  „Hülle"  nebst  dickerer,  geschmeidiger, 
quellbarer  Kutikula  und  zelliger  Hypodermis. 
Letztere  beiden  berühren  sich  aber  bei  beweg- 
lichen Tieren  nur  an  den  Anheftungsstellen  der 
Muskeln.  Erstere  beiden  unterliegen  der  Häutung. 
—  Der  dem  dorsal  liegenden  Ovar  des  weiblichen 
Tieres  entspringende  Ovidukt  zieht  am  Enddarm 
rechts  vorbei,  um  in  diesen  zu  münden.  An 
gleicher  Stelle  mündet  von  links  symmetrisch  zum 
Oviduktende  ein  winters  mit  Spermien  gefülltes 
Receptaculum  seminis,  wohl  ein  Rest  des  ehe- 
maligen linken  Genitalapparats,  der  im  übrigen 
wegen  der  Kleinheit  der  Tiere  und  der  Größe 
ihrer  Eier  schwand.  Ein  solches  Organ  erscheint 
notwendig  wegen  der  großen  Minderzahl  der 
Männchen :  auf  50  Weibchen  kommt  schätzungs- 
weise nur  I  Männchen.  V.  Franz. 


Eine  neue  Methode  zur  Bestimmung  allelo- 
troper  Gleichgewichte. 

Zur  Ermittlung  der  Lage  allelotroper  Gleich- 
gewichte kamen  bisher  vorwiegend  drei  Methoden 
in  Betracht.  Zwei  physikalische,  die  von  dem 
unterschiedlichen  Verhalten  der  Keto-  und  Enol- 
form  in  optischer  Beziehung  Gebrauch  machten, 
die  Absorptionsspektralanalyse  und  die  Bestim- 
mung des  Brechungsexponenten.  Beiden  an  Ein- 
fachheit und  Genauigkeit  überlegen  ist  die  che- 
mische Methode  K.  H.  Meyers.*)  Sie  geht  da- 
von aus,  daß  in  der  Enol  form  stets  eine  Doppel- 
bindung auftritt.  Eine  solche  lagert  bekanntlich 
leicht  Brom  an.  Man  kann  also  aus  der  Menge 
verbrauchten  Broms,  das  man  zu  einer  Lösung 
des  allelotropen  Gemenges  hinzugibt,  den  Anteil 
an  Enol  ohne  weiteres  und  den  Anteil  des  Ke- 
tons  durch  einfache  Berechnung  messen.  Mit 
dieser  Methode  sind  die  meisten  bekannten  Be- 
ziehungen zwischen  Temperatur,  Lösungsmittel  usw. 
einerseits  und  Lage  des  Gleichgewichts  anderer- 
seits aufgefunden  worden.  Dennoch  ist  ihr  Wert 
begrenzt.  Der  bei  der  Bromierung  gebildete  Brom- 
wasserstofif  wirkt  umlagernd  auf  den  ketoiden  An- 
teil, verschiebt  also  das  Gleichgewicht.  In  anderen 
Fällen  kommt  es  auf  peinlich  genaue  Einhaltung 
der  Versuchsbedingungen  an,  um  einigermaßen 
genaue  Ergebnisse  zu  erzielen.  Diese  Umstände, 
verbunden  mit  dem  nicht  eben  angenehmen  Ar- 
beiten mit  Brom,  lassen  darum  eine  neue  Be- 
stimmungsmethode als  einen  bemerkenswerten 
Fortschritt  erscheinen. 


')  Ist  diese  sicher?     F. 


')  Annalen  d.  Chemie,  380,  191 1. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


673 


Ihr  Entdecker,  Walter  Hieber/)  nimmt 
nicht  die  Doppelbindung,  sondern  die  in  jedem 
Enol  vorhandene  Hydroxylgruppe  zum  An- 
griffspunkt. 

R-CO— CH3— CO-R 

Keton 

R— C(OH)=CH-CO-R 

Enolform 

Der  Wasserstoff  dieser  Gruppe  ist  durch  Me- 
talle ersetzbar,  worauf  beispielsweise  die  Eisen- 
chloridreaktion der  Enole  (und  Phenole)  beruht. 
Die  so  entstehenden  Salze  sind  nun  typische 
innere  Komplexsalze,  d.  h.  ihr  Metall  ist 
nicht  einsinnig  an  den  Hydroxylsauersloff  gebunden, 
sondern  steht  durch  abgesplitterte  Valenzbeträge 
mit  dem  zweiten  Sauerstoffatom  in  Verbindung. 
Diese  Bindungsverhähnisse  machen  sich  insbe- 
sondere optisch  in  deutlicher  Weise  bemerkbar, 
sodann  aber  auch  darin,  daß  jene  Innerkomplex- 
salze abnorme  Löslichkeiten  aufweisen.  So 
ist  das  Kupfersalz  aller  Enole  fast  oder  völlig 
unlöslich  in  Wasser,  leicht  löslich  dagegen  in  den 
gebräuchlichen  organischen  Mitteln,  wie  Äther, 
Benzol  und  Chloroform.  Der  Weg  einer  Enol- 
bestimmung  ist  damit  gegeben. 

Das  betreffende  Enol  oder  das  allelotrope  Ge- 
menge wird  rasch  in  Alkohol  oder  in  einem 
anderen  Lösungsmittel  gelöst.  Hierauf  setzt  man 
eine  alkoholisch-chloroformische  Lösung  von 
Kupferazetat  hinzu  und  schüttelt  um.  Momentan 
setzt  sich  das  System  um,  und  nach  Zusatz  von 
Wasser  findet  sich  infolge  der  Unlöslichkeit  des 
Kupferkomplexes  darin  dieser  quantitativ  in  der 
Chloroformschicht.  Man  kann  in  dieser  den  Kom- 
plex zerstören  und  nach  Entfernung  des  Chloro- 
forms das  Kupfer  (am  einfachsten  maßanalytisch) 
bestimmen. 

Die  auf  Grund  dieser  Methode  gewonnenen 
Ergebnisse  stimmen  sehr  gut  überein  mit  den 
Zahlen,  die  nach  anderen  Methoden,  insbesondere 
nach  der  Meyer  sehen  gefunden  wurden.  Die 
Kupfersalzmethode  hat  des  weiteren  den  Vorteil, 
daß  sie  auch  in  Fällen  anwendbar  ist,  in  denen 
erfahrungsgemäß  die  Bromtitration  infolge  unüber- 
sehbarer Verwicklungen  versagt.  Ist  somit  die 
Überlegenheit  der  neuen  Methode  außer  Zweifel, 
so  bietet  sie  eine  weitere  Möglichkeit,  die  theore- 
tisch von  hohem  Belang  ist. 

Wie  ein  Blick  auf  die  allgemeine  Formel  des 
Enols  lehrt,  ist  bei  ihnen  geometrische  Iso- 
mer ie  möglich.  Infolge  der  Doppelbindung  ist 
die  Möglichkeit  vorhanden,  daß  die  Enole  in  cis- 
und  trans- Modifikationen  auftreten.  Diese  zuerst 
von  A.  Hantzsch'-)  diskutierte  Annahme  hat 
sich  experimentell  bisher  nicht  bestätigen  lassen, 
da  optische  Verschiedenheiten  zwischen  den 
geometrischen  Isomeren  nicht  vorhanden  sind  und 
die  Bromtitration  sowohl  die  eis-  wie  die  trans- 
Form in   gleicher  Weise   angreift.     Es   wird  also 


immer  die  gesamte  Menge  des  Enols  gefunden. 
Das  oben  beschriebene  und  der  neuen  Methode 
zugrunde  liegende  Kupferkompiexsalz  aber  kann 
sich  nach  unseren  heutigen  Vorstellungen  nur 
von  der  cis-Form  des  betreffenden  Enols  ab- 
leiten, würde  also  die  folgende  allgemeine  Formel 
haben  müssen 


R 


CH  Cu 


R 


.0=C. 


\ 
CH 

\c=o-'    "^O— C^ 
R  R 

Sollte  sich  herausstellen,  daß  durch  das  Kupfer- 
azetat nicht  augenblicklich  eine  Umlagerung  der 
trans-  in  die  cis-Form  stattfindet,  so  hätte  man 
ein  Mittel  gefunden,  den  wahren  Gehalt  des 
Systems  an  cis-Form  kennen  zu  lernen.  Der 
Entdecker  der  neuen  Methode  beabsichtigt  weitere 
Untersuchungen  in  dieser  Richtung,  denen  mit 
Spannung  entgegengesehen  werden  darf. 

H.  Heller. 


Abessinien. 

Über  Geographie,  Flora,  Fauna,  Anthropologie  und 
Ethnographie  Abessiniens  berichtet  G.  K.  Rein*) 
in  einem  jüngst  erschienenen  Buche,  das  wohl  als 
das  reichhaltigste  gelten  kann,  das  über  dieses 
Gebiet  vorhanden  ist.  Als  nördlicher  Teil  des 
ostafrikanischen  Hochlands  erhebt  sich  das  ge- 
birgige Abessinien  aus  dem  flachen  Vorgelände 
wie  eine  aus  dem  Meere  aufsteigende  Insel.  Das 
Bergland  hat  die  Form  eines  mit  dem  Grund- 
flächen zusammenstoßenden  Doppelkegels  mit 
unregelmäßigen  Seiten,  dessen  Spitzen  im  Norden 
und  Süden  liegen.  In  der  Nordsüdausdehnung 
erstreckt  es  sich  über  13V.2  Breitengrade,  von 
West  nach  Ost  über  6  V2  Längengrade.  Im  Westen 
schließen  die  Wälder  und  Steppen  Nubiens  an, 
im  Norden  die  wasser-  und  pflanzenlosen  Berge 
Suakims,  im  Osten  der  wüste  Küstenrand  des 
Roten  Meeres,  im  Süden  die  Salzsteppen  zwischen 
Jubafluß  und  Rudolfsee.  Die  politischen  Grenzen 
Abessiniens  reichen  jedoch  weit  über  das  abessi- 
nische  Hochland  hinaus  in  Teile  der  Sudansteppen, 
der  Afarwüste  und  der  Somalhochebene.  Das 
Hochland  selbst  ist  von  zahlreichen  tiefeinge- 
senkten Grabenbrüchen  durchzogen,  die  meist 
meridional  verlaufen  und  Flächen  von  verschiedener 
Größe  abteilen.  Das  Hochland  ist  vulkanischen 
Ursprungs,  doch  sind  die  Vulkane  erloschen, 
während  im  Übergangsgebiete  der  Afar  die  vul- 
kanische Tätigkeit  noch  fortdauert. 

In  gewaltigen  Spalten,  die  früher  vielleicht 
2000  m  tief  waren  und  auch  heute  noch  mit- 
unter 800  m  Tiefe  und  nur  loo  m  Breite  besitzen, 
zeigt  sich  die  gleichmäßige  geologische  Formation 


')  Ber.  d.  d.  Chem.  Gesellsch.,  54,  S.  902,   1921. 
')  Ber.  d.  d.  Chem.  Gesellsch.,  43,  S.  3052,  1910. 


')  Abessinien,  eine  Landeskunde  nach  Reisen  und  Studien. 
Bd.  3.     Berlin   1920,   D.  Reimer.     60  M. 


674 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


des  ganzen  Hochland  -  Abessiniens ;  oben  Trachyt 
auf  Tonschiefer  lagernd,  darunter  Granit,  zwischen 
Tonschiefer  und  Granit  oft  eingesprengter  Sand- 
stein, im  Granit  Absonderungen  von  Porphyr  und 
Syenit.  Reiche  Mineralschätze  liegen  in  allen  diesen 
Formationen  zutage. 

Die  Ströme  Abessiniens  haben  ihre  Betten 
sowohl  im  Gebirge  wie  in  dem  Afargelände  der 
Ebenen  tief  eingeschnitten.  Als  echte  Gebirgs- 
wässer  sind  sie  nicht  schiffbar,  sie  besitzen  Kata- 
rakte, Wasserfälle  und  Untiefen.  Der  bedeutendste 
Strom  ist  der  Abbai,  der  obere  Lauf  des  Blauen 
Nils,  dann  der  Atbara  mit  dem  Takazze,  später 
Setit  und  dem  Mareb,  später  Khor  el  Gash  ge- 
nannt. Zum  Weißen  Abiad-Nil  fließt  ferner  ab 
der  Baro,  der  Quellfluß  des  Sobat.  Nach  Süden 
zum  Rudolfsee  strömt  der  Omo,  nach  Südosten 
gehen  die  Quellflüsse  des  Juba  und  des  Webbi 
Schebeli.  Der  Hawasch  entspringt  im  Gurage- 
birge,  um  schließlich  in  dem  salzigen  Abdebad- 
see  zu  versickern.  Im  Norden  entspringt  noch 
nahe  der  Marebquelle  der  Anseba,  der  dem  Khor 
Barka  zufließt.  Mit  starkem  Gefälle  und  häufig 
von  Katarakten  unterbrochen  führen  diese  Flüsse 
zur  Trockenzeit  wenig  Wasser,  überfluten  aber  in 
der  Regenzeit  oft  ihr  Flachland  auf  große  Strecken. 
Gering  ist  die  Anzahl  der  Stromgebiete,  die  nur 
Abessinien  selbst  angehören. 

Die  Anordnung  der  Flußgebiete  des  abes- 
sinischen  Hochlandes  ist  sehr  unregelmäßig.  Die 
Ostseite  ist  weniger  wasserreich  als  die  Westseite. 
Die  Wasserscheide,  welche  die  zum  Roten  Meer 
strebenden  von  den  dem  Nil  zueilenden  Flüssen 
scheidet,  erstreckt  sich  in  großer  Länge  auf  den 
östlichen  Rand  der  Tafel. 

Von  den  zahlreichen  Seen  ist  im  Westen  der 
bedeutendste  der  Tanasee,  der  Quellsee  des  Blauen 
Nils.  Im  Norden,  in  der  Afar-  oder  Danakil- 
wüste,  liegen  größere  Salzseen,  Assale  genannt, 
teils  tief  unter  dem  Meeresspiegel.  Im  Süden 
reicht  das  abessinische  Gebiet  bis  an  den  Rudolf- 
see, der  ca.  9000  qkm  umfaßt  und  ca.  440  Meter 
über  dem  Meeresspiegel  liegt.  An  seinen  Ufern 
scheidet  sich  Natron  aus,  das  umgebende  Land 
ist  wüst  und  vegetationsarm,  und  nur  im  äußersten 
Norden  finden  wir  zahlreiche  Schilfdickichte  und 
dahinter  starke  Waldbildungen.  Abgestorbene 
Wälder  erstrecken  sich  hier  kilometerweit  in  den 
See  hinein;  die  längste  Strecke  dieser  abge- 
storbenen, überfluteten  Wälder  beträgt  35  km, 
eine  auffallende  Erscheinung,  die  sich  nur  durch 
die  neuerliche  Niveauerhöhung  des  Seespiegels  er- 
klären läßt.  Die  meisten  der  in  den  See  ein- 
mündenden Flüsse  liegen  den  größten  Teil  des 
Jahres  trocken,  und  nur  im  April,  in  der  Regen- 
zeit, erhält  der  See  von  ihnen  Wasserzuschüsse. 
Nach  außen  abgedachte  Plateauränder  verhindern, 
daß  der  Rudolfsee  als  tiefstgelegenes  Becken  der 
ostafrikanischen  Grabensenke  seine  Umgebung 
entwässert.  Der  Osten,  Süden  und  Westen  des 
Sees  leiden  besonders  unter  der  Trockenheit, 
während   der   tektonische  Aufbau  im  N  und  SW 


den  Flüssen  gestattet,  daß  sie  aus  einer  größeren 
Entfernung  Wasser  zum  See  bringen. 

Die  Wasserläufe  des  Ostens  verlieren  sich  zu- 
meist im  Wüstensande,  bevor  sie  das  Meer  er- 
reichen. Nur  im  äußersten  Norden  am  Golf  von 
Zeila  bis  zum  Einfluß  des  Barka  münden  alle 
Wasseransammlungen  des  ganzen  Hochgebirges 
ins  Rote  Meer,  also  etwa  von  15"  nördl.  Breite 
ab.  In  diesen  nördlichsten  Teil  des  Hochlandes 
fehlen  Sammelbecken  vollständig.  Erst  vom  14." 
nördlicher  Breite  südwärts  treten  abflußlose  Becken 
auf,  deren  nördlichstes,  der  Alel- Badsee,  das 
größte  im  Gebiete  der  Danakil  wüste  oder  Afar 
ist.  Der  bedeutendste  Fluß  des  Ostabhangs,  der 
die  Gewässer  des  südöstlichen  Schoa  fortführt, 
der  Hawasch,  versickert  ebenfalls  im  Sande  der 
Danaikilwüste.  Er  fließt  auf  der  Sohle  des  das 
abessinische  Tafelland  von  der  Somalihochfläche 
trennenden  Grabens.  In  der  Dankalia  finden  wir 
mehrere  abflußlose  Becken  und  Depressionen, 
darunter  den  Assalzsee.  Zahlreiche  kleinere  und 
größere  Seen  im  Südosten  sind  Wasseransamm- 
lungen mit  geringem  Zufluß. 

Das  Klima  Abessiniens  weist  trotz  seiner  Lage 
nahe  dem  Äquator  große  Gegensätze  auf.  In 
den  tiefgelegenen  Gegenden  herrscht  tropische 
Hitze  bis  zu  40"  C  im  Schatten  und  geringe  Ab- 
kühlung in  der  Nacht,  wogegen  in  den  hochge- 
legenen Landschaften,  wie  z.  B.  in  Semier,  zeit- 
weise die  Kälte  recht  empfindlich  ist.  Das  Klima 
verändert  sich  so,  daß  man  auf  einer  kurzen  Reise 
aus  Palmenlandschaften  in  eisige  vegetationslose 
Gegenden  gelangt.  Am  Roten  Meer  fallen  Regen 
nur  im  Winter,  im  Hochland  nur  im  Sommer. 
Dazwischen  schiebt  sich  eine  Zone  mit  typischen 
Zenitairegen,  mit  zwei  Regenzeiten  zur  Zeit  der 
höchsten  Sonnenstände.  In  manchen  Landschaften 
schaffen  die  Regengüsse  große  abflußlose  Seen, 
einen  Umstand,  der  es  erleichtern  sollte,  die  künst- 
liche Bewässerung  des  Landes  vorzunehmen.  Die 
Luft  in  den  Bergen,  sagt  R.,  ist  von  wunderbarer 
Klarheit,  so  daß  das  Auge  in  unmeßbare  Fernen 
dringt. 

Moskitos  gibt  es  nur  da,  wo  stehendes  Wasser 
oder  absterbende  Flora  sich  befinden.  Deshalb 
bauen  die  Abessinier  ihre  Hütten  nie  im  Tal.  Sie 
umgeben  ihre  Felder  mit  Hecken,  um  nicht  ge- 
nötigt zu  sein,  dieselben  nachts  zu  bewachen. 
Selbst  in  der  Erntezeit  verlassen  die  Einheimischen 
ihre  Hütten  am  Morgen  nicht  eher,  als  bis  die 
Nebel  im  Tal  verzogen  sind,  und  sie  kehren  heim, 
bevor  am  Abend  die  Moskitos  schwärmen  könnten. 

Die  tropischen  Täler  in  Abessinien  finden  sich 
vorzugsweise  im  Süden  und  Südwesten,  dann  ent- 
lang dem  Takazze,  dem  Blauen  Nil  und  ihren  Zu- 
flüssen. Luftdruck-  und  Windverhältnisse  sind 
kompliziert,  und  die  klimatischen  Verhältnisse 
können  mit  dem  sonstigen  Afrika  nicht  ver- 
glichen werden. 

Das  abessinische  Hochland  mit  seinen 
grünen  Wiesenflächen  erinnert  an  die  Alpen, 
doch    ist    dort   beständig   Frühling.      Es    herrscht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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hier  ein  gleichmäßiges  Klima,  die  Temperatur  im 
Sommer  ist  europäisch.  In  den  tiefer  einge- 
schnittenen Tälern  schwankt  die  Temperatur 
zwischen  14**  und  25"  C.  Die  Temperatur- 
schwankungen des  Hochlandes  richten  sich  natür- 
lich nach  den  Breiten-  und  Längengraden  und 
nach  den  verschiedenen  Höhenlagen.  Heißer 
Sommer  und  Tag,  mäßiger  Winter  und  kühle 
oder  kalte  Nacht  herrschen  in  den  mittleren 
Höhenlagen  der  Woina  Deka,  der  hochgelegenen 
Regionen.  Auch  die  Jahreszeiten  haben  in  Hoch- 
abessinien  einen  ungewöhnlichen  Einfluß  auf  die 
Wärmeverteilung.  Die  starken  Regen  des  Sommers 
vermindern  die  Wärme,  und  das  trockene  Früh- 
jahr, ebenso  der  Herbst  und  der  Winter,  erscheinen 
wärmer.  Das  der  Woina-Deka  angehörende 
Gondar  hat  im  Frühling  21,9"  C,  im  Sommer  nur 
16,700,  im  Herbst  18,30  c  und  im  Winter  19,3»  C, 
und  eine  Durchschnittstemperatur  von  etwa  19"  C. 
Die  Stadt  Ankober  in  Schoa,  die  freilich  2800  m 
hoch  liegt,  hat  aber  nur  eine  Durchschnittsjahres- 
wärme von   13"  C. 

Im  Bereich  des  abessinischen  Hochlands  unter- 
scheidet Rein,  den  klimatischen  Verhältnissen 
und  den  Höhenlagen  entsprechend,  drei  Vegetations- 
zonen. In  der  tropischen  Zone,  die  von  den 
Niederungen  bis  zu  Höhen  von  1 500  m  aufsteigt, 
gedeihen  Tamarinden,  Sykomoren  und  Affenbrot- 
bäume von  gewaltigem  Umfange.  Stachelpalme, 
Aloe,  Mimose,  Schirmakazie  und  andere  Akazien 
bilden  die  Charakteristik  der  Landschaften.  Die 
Fruchtbarkeit  der  Flußniederungen  ist  groß,  grüne 
Matten  in  und  nach  der  Regenzeit  ziehen  sich 
über  große  Flächen  hin,  viele  Blumen  blühen  in 
buntfarbiger  Mannigfaltigkeit,  besonders  auffallend 
vielfarbige  Liliaceen  und  Zwiebelgewächse,  erd- 
ständig mit  einfachem  Blütenstande,  aber  auch  als 
Lianen  am  Strauchwerk  emporkletternd. 

Die  zweite  Vegetationszone  reicht  von  1500 
bis  2500  m.  Sie  umfaßt  die  subtropischen  Hoch- 
flächen mit  ausgedehnten  Wiesen  und  auch  Wäl- 
dern. Stellenweise  bilden  noch  Hochholz,  Busch- 
wald und  Schlingpflanzen  undurchdringliche 
Dickichte.  Die  Bäume  verlieren  meist  ihren 
Blätterschmuck  in  der  Trockenzeit.  In  der  Nähe 
der  Städte  ist  durch  künstliche  Einführung  außer 
dem  australischen  Eucalyptus  auch  die  Carica 
Papaya  für  die  Gegend  charakteristisch  geworden, 
während  in  unberührten  jungfräulichen  Gegenden 
Christusdorn  (Zisyphus)  säulen-  und  kakteen- 
artige Euphorbien  und  Sansevieren,  schon  von 
weitem  ekelhaft  riechende  Aaspflanzen  mit  präch- 
tigen Blumen,  Kigelia,  Phönixarten  und  wilde 
Baumwolle,  Kaffee,  Ölbäume,  Orangen,  Bananen, 
Pfirsiche,  Aprikosen  und  Asparageen  wild  wachsen. 
Am  Mareb  und  Takezze  wachsen  Adansonia-, 
Dahlbergia-,  Sterculia-  und  Ficusgewächse ;  Kaffa 
speziell  besitzt  als  Urheimat  des  Kaffeebaumes 
große  wilde  Bestände  davon.  Bambus  bedeckt 
oft  meilenweit  die  Gehänge. 

Über  2000  m  hinauf  erscheinen  bereits  Ery- 
thrinen,   Cordia,    Gardenien,    Cassien,    der   riesige 


Kolqual  (Euphorbia  abessinica),  die  Kandelaber- 
Euphorbie  und  der  abessinische  Woira  Ölbaum. 
In  den  nördlichen  Gegenden  entzücken  das  Auge 
Korallenbäume  (Erythrina  tomentosa),  deren  ko- 
rollenrote  dichte  Blütenstände  mit  den  silber- 
grauhaarigen Blättern  wundervoll  zwischen  den 
anderen  Waldbäumen  hervortreten.  Milettia  fer- 
ruginea  mit  oben  blaugrünen,  unten  rostbraunen 
Blättern  und.  lilaroten  Blüten  wächst  eben- 
daselbst. 

In  der  kühlen  Zone,  zwischen  2500  und  4000  m, 
ist  u.  a.  der  Djibarabaum  (Rhychopetalum  mon- 
talum)  usw.  an  humusreichen,  windfreien  Plätzen 
zu  finden.  Aus  seinen  dracaenenartigen  Blätter- 
büscheln steigen  fußdicke,  2 — 3  m  hohe  Blüten- 
kerzen empor.  Ferner  gedeiht  höher  hinauf  der 
als  Bandwurmmittellieferant  dem  Abessinier  äußerst 
wichtige  und  unentbehrliche  schöne  Kussobaum 
(Hagenia  abessynica)  und  der  schwarzbraunes, 
festes  und  schweres  Holz  liefernde  Eisenholzbaum. 
Baumartige,  holzige  Kugelkopfdisteln  (Echinops) 
mit  mächtigen,  knorrigen  Stämmen  und  kopf- 
großen, roten  Blütenballen  beleben  in  diesen  ge- 
mäßigten Gegenden  trockene  Hänge  und  Fels- 
gründe. Der  Dedwacholder,  der  sehr  hoch,  einer 
Tanne  ähnlich  wächst,  Celastrusarten,  gegen  Ma- 
laria gebraucht,  Kolqualeuphorbien  überall ;  dagegen 
gibt  es  wenig  Bambus  und  Rotang  hier.  Grüne 
saftige  Wiesen  und  Matten  sind  hier  fast  immer, 
das  ganze  Jahr  hindurch  anzutreffen. 

Geringe  alpine  Vegetation  fängt  über  4000  m 
an.  Sie  ähnelt  sehr  der  europäischen  Alpenflora. 
Cordia,  Croton,  Syzigium,  Erythrina  und  Akazien 
überragen  Jasminsträucher,  Carissa,  Hypericum, 
Cassia,  Rumex,  Clematis,  Rhamnus,  Capparis, 
Rhododendron  und  Pterolabium.  Die  Baumstämme 
sind  oft  von  Lorantheen  überwuchert,  die  mit 
ihren  lederglänzenden  Blättern  und  langen  Röhren- 
blüten auffallen;  epiphytische  Angrecumorchi- 
deen  mit  eigenartig  geformten  Blütenrispen  er- 
füllen ihre  Umgebung  mit  starkem  Duft. 

Völlig  abweichend  ist  der  Pflanzenwuchs  in 
den  an  das  Hochland  im  Nordosten  und  Osten 
anschließenden  Trockensteppen  und  Wüsten.  Dort 
sind  Holzgewächse  eine  seltene  Erscheinung  und 
nur  an  den  einen  Teil  des  Jahres  trockenen  Fluß- 
läufen ist  die  Pflanzenwelt  eine  üppigere.  Die 
Sandstellen  jedoch  haben  meist  Grundwasser  in 
geringerer  Tiefe  und  daher  reichere  Vegetation; 
Oasen  entstehen  hier  und  da,  die  allerdings  dann 
weniger  vom  Grundwasser,  sondern  von  Regen- 
güssen abhängen,  wenn  nicht  gerade  wasserreiche 
Bäche  und  Flüsse,  von  Gebirgen  herabkommend, 
sie  durchströmen.  Nach  erfolgten  Güssen  kann 
man  in  solchen  Sandoasen  in  wenigen  Tagen 
völlig  grüne  Wiesen  aus  nichts  entstehen  sehen, 
die  aber  sehr  bald  wieder  verdorren,  da  die  Wur- 
zeln der  Regenpflanzen  nur  in  gleiche  Tiefe  wie 
der  Regen  eindringen  und  mit  der  Feuchtigkeit 
auch  ihre  Nahrung  wieder  verlieren.  Einige  Succu- 
lenten  halten  das  Wasser  zurück  und  überstehen 
die  Trockenzeit  bis  zum  nächsten  Regenfall,  xero- 


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phile  Eigenschaften  fehlen  diesen  Pflanzen  meisten- 
teils. 

Anthropoide  Affen  gibt  es  in  Abessinien  nicht, 
dagegen  ist  die  Familie  der  Hundsafifen  mit  einigen 
Arten  vertreten.  Von  Raubtieren  ist  vor  allem 
der  Löwe  zu  nennen,  ferner  der  Leopard,  Gepard, 
die  Wildkatze,  Hyäne,  der  „gemalte  Hund"  (Lycaon 
pictus),  das  Schakal,  der  Erdwolf,  der  wilde  Wolfs- 
hund, die  Otter,  der  Honigdachs  (ein  Verwandter 
des  Vielfraß).  Die  Ordnung  der  Insektenfresser 
ist  nur  durch  wenige  Arten  vertreten.  Von  Nage- 
tieren sind  Mäuse  und  Ratten  fast  überall  zahl- 
reich. Überdies  nennt  Rein  mehrere  Arten  von 
Hasen  und  auch  unser  Eichhörnchen  hat  Vettern 
in  Abessinien.  Charakteristische  Bewohner  felsiger 
Gebiete  sind  die  Klippschliefer.  Ziemlich  zahl- 
reich sind  die  Wühltiere.  Das  Flußpferd  ist  im 
Blauen  Nil  noch  häufig,  ebenso  im  Mareb,  Takazze 
und  im  Tanasee,  dagegen  ist  es  in  den  Flüssen 
des  Ostens  bereits  ausgestorben.  Antilopen  be- 
völkern auch  in  Abessinien  die  Steppen.  Die 
Giraffe  wurde  östlich  vom  Blauen  Nil,  in  den 
Niederungen  im  Westen  der  Provinz  Wolkait,  be- 
obachtet und  soll  auch  am  Ostrande  im  Danakil- 
land,  im  Hawaschtal  und  südwärts  bis  zum 
Arussigebiet  vorkommen.  An  den  zuletzt  ge- 
nannten Stellen  trifft  man  auch  das  Zebra.  Zur 
nächsten  Verwandtschaft  des  Pferdes  gehören 
auch  die  nubischen  Wildesel  (Equus  asi- 
nus),  die  besonders  im  Somaliland  in  einer 
oder  mehreren  Rassen  vorkommen  und  im 
allgemeinen  sich  wohl  mit  den  Zebras  in  der 
geographischen  Verbreitung  weniger  decken  als 
ergänzen.  —  Das  Vorkommen  des  Rhinozeros  ist 
auf  Gegenden  bis  zu  1500  m  Meereshöhe  be- 
schränkt; es  ist  in  manchen  Landesteilen  noch 
recht  zahlreich,  nimmt  aber  wohl  ebenso  bestän- 
dig ab,  wie  der  Elefant.  Dieser  ist  im  Norden 
in  der  Landschaft  Wolkait  und  im  Danakiliand 
noch  verhältnismäßig  häufig,  ebenso  in  Kaffa  im 
Südwesten,  und  während  der  Regenzeit  erscheint 
er  zuweilen  in  ziemlich  bedeutender  Zahl  an  den 
östlichen  Berghängen  vom  Aschangifluß,  der  beim 
Aschangisee,  2400  m,  entspringt,  bis  zum  Hawasch- 
tal und  im  Arussi  Galla  Bezirk  nach  Südosten  zu. 
—  Von  Haustieren  sind  zu  erwähnen  die  Ziege, 
das  Fettschwanzschaf,  der  Zebu  oder  Buchelochse, 
das  Pferd  und  das  Kamel,  das  auf  die  trockenen 
Gegenden  des  Nordostens  beschränkt  ist.  Die 
Hochlandsbewohner  züchten  keine  Kamele. 

Der  Überblick  der  Vogelwelt  Abessiniens,  den 
R.  gibt,  zeigt  deren  große  Reichhaltigkeit.  Unter 
den  Vögeln  dieses  Landes  befinden  sich  manche, 
prachtvoll  gefärbte ,  eigenartig  gestaltete  und  in 
ihrer  Lebensweise  merkwürdige  Geschöpfe.  Ge- 
rade auf  dem  Gebiete  der  Ornithologie  Abessiniens 
ist  von  R ü p p e  1 ,  von  Heuglin,  Brehm  usw. 
Vorzügliches  geleistet  worden,  so  daß  man  wohl 
behaupten  darf,  besser  als  das  Pflanzenreich  und 
die  übrigen  Klassen  des  Tierreichs  sei  die  Vogel- 
faune der  „afrikanischen  Schweiz"  durchforscht. 


Unter  den  Reptilien  sind  nur  Schildkröten  und 
Krokodile  reichlich  vorhanden. 

Fische  sind  im  Hochland  Abessiniens  nicht 
sehr  häufig  und  können  hier  daher  kaum  als 
Fastenspeise  für  die  Befolger  der  religiösen  Vor- 
schriften ausreichen.  Neben  dem  fischreichen 
Tanasee  und  seinem  Ausfluß,  dem  Blauen  Nil 
(Abai,  Bahr  el  Asrak),  sowie  vielleicht  noch  dem 
oberen  Hawasch,  kommt  für  die  Fischerei  im 
wesentlichen  nur  das  Flußgebiet  des  Takazza-Selit 
in  Betracht.  H.  Fehlinger. 

Tom  Zentralnervensystem  der  Weinberg- 
schnecke. 

In  der  Naturw.  Wochenschr.  1919,  S.  566  habe 
ich  auf  eine  Arbeit  von  Kretzschmar  über  das 
Nervensystem  der  tropischen  Landschnecke  Cyclo- 
phorus  hingewiesen.  Es  ergab  sich  dort,  daß  die 
Angaben  B.  Hallers  („die  Intelligenzsphären  des 
Molluskengehirns"  191 3)  nicht  bestätigt  werden 
konnten.  Weder  konnte  Kretzschmar  eine 
„Intelligenzsphäre"  nach  Art  der  pilzförmigen 
Körper  der  Insekten  finden,  noch  die  Behauptung 
Hallers  von  einem  innigen  synzytialen  Verbände 
der  zentralen  Nervenzellen  bestätigen.  Diese  Un- 
zuverlässigkeit  der  Hall  ersehen  Befunde  tritt 
auch  in  der  Arbeit  von  Helene  Kunze,  Zur 
Topographie  und  Histologie  des  Zentralnerven- 
systems von  Helix  pomatia  (Zeitschr.  f.  wiss.  Zool. 
Bd.  118)  zutage.  Die  Zellen  des  Protocerebrums 
z.  B.  ergaben  sich  stets  als  unipolar.  „Niemals 
sind  Plasmabrücken  vorhanden,  die  von  einer  Zelle 
zur  anderen  hinüberführen,  sondern  stets  ist  jede 
Zelle  für  sich  scharf  begrenzt."  Auch  im  Meso- 
cerebrum  und  im  Metacerebrum,  den  beiden  rest- 
lichen Abschnitten  des  Präösophagealganglions, 
findet  sie  nur  selten  bipolare,  meist  aber  unipolare 
Zellen.  Multipolare  Zellen  hat  sie  an  den  von 
Haller  bezeichneten  Stellen  „niemals  gefunden, 
ebensowenig  das  von  ihm  beschriebene  perizel- 
luläre Netz".  Die  histologischen  Befunde  Hall  er  s 
haben  sich  somit  auch  hier  wie  in  zahlreichen 
anderen  Fällen  als  unrichtig  erwiesen.  Dagegen 
wird  seine  Hypothese,  daß  der  vordere  Gehirn- 
abschnitt der  Mollusken,  das  Protocerebrum 
Kunzes,  eine  Intelligenzsphäre  darstelle ,  von 
Kunze  bis  zu  einem  gewissen  Grade  bestätigt. 
Keiner  der  ins  Protocerebrum  eintretenden  Nerven 
endigt  nämlich  in  demselben,  alle  wurzeln  im 
Metacerebrum.  Das  Protocerebrum  ist  daher  kein 
direktes  Sinneszentrum  oder  motorisches  Zentrum. 
Das  Hauptsinneszentrum  ist  vielmehr  in  der  Faser- 
masse (Punktsubstanz)  des  Metacerebrums  zu 
suchen,  in  der  sämtliche  9  Cerebralnerven  endigen. 
Die  metacerebrale  Punktsubstanz  ist  mit  allen 
anderen  Teilen  des  Zentralnervensystems  gut  ver- 
bunden, sehr  gut  auch  mit  dem  Protocerebrum. 
Die  Tatsache,  daß  letzteres  mithin  nur  auf  in- 
direktem Wege  mit  peripheren  Nerven  in  Be- 
ziehung treten  kann,  spricht  dafür,  ihm  eine  ana- 
loge Bedeutung  wie  den  pilzförmigen  Körper  der 


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Insekten  beizulegen.  Der  unklare  Ausdruck  „In- 
telligenzsphäre" wäre  dann  etwa  als  Sitz  der  In- 
stinkte und  eines  vielleicht  noch  zu  erweisenden 
Gedächtnisses  näher  zu  umschreiben.  Auch  der 
histologische  Befund  des  paarigen  Protocerebrums 
zeigt  auffallende  Ähnlichkeiten  mit  den  ent- 
sprechenden Teilen  des  Anneliden-  und  Arthro- 
podengehirns:  Lateral  liegen  dicht  gedrängte 
Haufen  stark  farbbarer  Zellen  von  besonderer 
Kleinheit  (6 — 7  /t  Durchmesser),  aber  verhältnis- 
mäßig sehr  großen  Kern.  Sie  sind  unipolar;  ihre 
Fortsätze  sammeln  sich  meist  in  Bündeln,  die 
gegen  die  mediale  IVlarkmasse  zusammenlaufen. 
So  entstehen  meist  mehrere  „Stiele  der  Zellrinde" 
(zuweilen  auch  nur  ein  einziger).  Die  IVlarkmasse, 
in  der  sie  enden,  ist  ein  dichtes,  fast  homogenes 
Netzwerk.  Es  fehlen  daher  wesentliche  Kenn- 
zeichen der  pilzförmigen  Körper  der  Insekten, 
nämlich  die  eigenartige  Form  und  Abgrenzung 
der  Pilzstiele  (deren  einer  meist  rückläufig  wird) 
und  besonders  die  Abgrenzung  der  Becher  mit 
ihrer  charakteristischen  Glomerulenstruktur,  die 
sich  auch  bei  niederen  Insekten  wiederfindet,  wo 
die  Becherform  noch  nicht  ausgeprägt  ist.')  Von 
einer  „Gleichstellung"  oder  Homologisierung  dieser 
Teile  muß  daher  jedenfalls  vorläufig  abgesehen 
werden.  Dagegen  finde  ich  es  gerechtfertigt,  die 
auffallende  Ähnlichkeit  in  Zellenbau  und  Anord- 
nung, in  den  stielartigen  Einströmungen  in  die 
IVlarkmasse  sowie  das  Fehlen  direkter  Beziehungen 
zu  peripheren  Nerven  durch  den  gemeinsamen 
Ausdruck  Globulus  für  diese  Assoziationszentren 
zum    Ausdruck    zu    bringen.       Die    pilzförmigen 


')  Vgl.  meine  Aufsätze  in  der  Naturw.  Wochenschr.  1913, 
S.  154—156;  1915,  S.  17—24;   1918,  S.  665—674. 


Körper  wären  dann  Globuli  in  einer  den  Insekten 
eigenartigen  Höchstdifferenzierung. 

Ist  so  das  Protocerebrum  nicht  nur  anatomisch 
durch  Abgrenzung  und  eigenartige  Struktur, 
sondern  auch  physiologisch  als  sekundäres  Zen- 
trum charakterisiert,  so  scheint  mir  die  Trennung 
des  Mesocerebrums  vom  Metacerebrum  ziemlich 
willkürlich  und  nur  auf  äußerliche  Kennzeichen 
gestützt.  Das  Mesocerebrum  enthält  nach  der 
Abgrenzung  Kunzes  nur  Zellen  und  gar  keine 
Punktsubstanz,  kann  daher  nicht  wohl  eine  physio- 
logische Einheit  darstellen.  Ich  betrachte  es  als 
einen  Schaden  für  die  fleißige  Arbeit  Kunzes, 
daß  sie  physiologische  Gesichtspunkte  kaum,  ver- 
gleichend-anatomische, entwicklungsgeschichtliche 
und  ökologische  gar  nicht  herbeizieht.  Dies  hat 
eine  Armut  an  allgemeinen  Ergebnissen  zur  Folge. 
Eine  so  weitgehende  Arbeitsteilung,  wie  sie  hier 
gehandhabt  wurde,  hat  ihre  Nachteile.  Schmalz 
(Zur  Morphologie  des  Nervensystems  von  Helix 
pomatia,  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.  Bd.  in)  hat  nur 
die  äußere  „makroskopische"  Topographie  be- 
arbeitet und  nun  ergibt  die  Schnittmethode 
Kunzes  nicht  wenige  Fehler  in  seinen  Befunden, 
so  daß  sofort  eine  Nachuntersuchung  (Bang,  Zur 
IVIorphologie  des  Nervensystems  von  Helix  po- 
matia, Zool.  Anzeiger  Bd.  48)  nötig  ist.  Es  zeigt 
sich  hierbei  wieder,  daß  eine  äußerliche  Betrachtung 
ohne  Schnittmeihode  die  Natur  eines  nervenähn- 
lichen  Stranges  nicht  sicher  feststellen  kann,  wie 
es  bei  den  Insekten  auch  lange  gedauert  hat,  bis 
sich  ein  Teil  des  Eingeweidenervensystems  als 
drüsiger  Natur  entpuppte.  Den  zweiten  Teil  ihrer 
Arbeit  widmet  Kunze  einer  ausführlichen  Cyto- 
logie der  Ganglienzellen. 

Dr.  Fr.  Bretschneider. 


Bücherbesprechungen. 


Broili,  F.,  Zittels  Grundzüge  der  Palä- 
ontologie, I.  Abt.:  Invertebrata.  S.Auf- 
lage. 710  Seiten  mit  1457  Abb.  Oldenbourg, 
IVIünchen  und  Berlin  192 1.  Geh.  100  M„  geb. 
HO  JVI. 

Von  unserem  führenden  paläontologischen 
Lehrbuche  abermals  eine  Neuauflage  1  Diesmal 
betrifft  sie  den  ersten  Teil  (Wirbellose),  das  in 
dieser  Beziehung  voraneilt  (4.  Auflage  1915,  vom 
II.  Teil  [Wirbeltiere]  erfolgte  die  zweite  Auflage 
191 1,  die  dritte  und  bislang  letzte  1918).  IMag 
auch  Mancher  und  manche  Bücherei  ob  der 
steigenden  Anschaffungskosten  seufzen,  es  kann 
nicht  zweifelhaft  sein,  daß  ein  Lehrbuch  dauernd 
mit  den  Neuerfahrungen  mitgehen  muß,  wenn  es 
nicht  schnell  veralten  will.  Und  erfreulich  muß 
man  vor  allem  vom  wirtschaftlichen  Standpunkte 
die  Möglichkeit  solcher  Neuauflagen  auch  unter 
jetzigen  Verhältnissen  nennen.  Wesentliche  Ab- 
änderungen oder  Erweiterungen  sind  diesmal  frei- 
lich   nicht    zu  verzeichnen.     Leider   kann   ja    die 


große  auswärtige  Literatur  nach  der  langen  Sperre 
heute  ihr  Echo  in  der  unserigen  nur  erst  z.  T. 
finden.  Doch  ist  die  Berücksichtigung  des  Er- 
reichbaren ersichtlich  und  mancher  neue  Hinweis 
sehr  dankenswert. 

In  den  Abschnitt  über  Crinoiden  wurden  Ar- 
beiten und  Abbildungen  von  Wanner  und 
Ja  ekel  hineingearbeitet,  ohne  daß  dadurch 
stärkere  Abweichungen  im  System  erforderlich 
gewesen  wären.  Richthofenia  findet  Neudar- 
stellung nach  Di  Stefano.  Bei  großen  Ab- 
teilungen, so  z.  B.  Muscheln  und  Schnecken  ist 
mit  Ausnahme  einiger  Literaturergänzungen  so 
gut  wie  nichts  geändert. 

Auch  bei  den  Cephalopoden  ist  die  neuere 
Literatur  aufs  peinlichste  verzeichnet,  ein  Einfluß 
auf  die  Darstellung  ihr  aber  nicht  immer  in  er- 
wartetem Maße  gewährt  (Lobenlinie) ,  während 
das  System  hier  einige  Anpassungen  aufweist. 
Die  alten  Schätzungen  bezüglich  der  Zahl  der 
Arten  und  Gattungen   dürften  bei  der  Fruchtbar- 


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keit  der  gesamten  einschlägigen  Literatur  wohl 
eine  Erneuerung  vertragen  oder  besser  fortfallen. 
Am  weitestgehenden  ist  wohl  der  Abschnitt  über 
Dibranchiaten  umgearbeitet,  und  zwar  z.  T.  unter 
Mithilfe  von  Naef  Die  Spirulidae  wurden  bei 
den  Sepioidea  eingereiht,  die  Teuthoidea  als  neue 
Unterordnung  übernommen.  Bei  den  Trilobiten 
hat  die  biologische  Einleitung  gewisse  Abände- 
rungen erfahren. 

Die  Ausstattung  ist  die  gewohnte  gute.  Ein 
Teil  der  Abbildungen  (Seeigel)  erscheint  sogar 
klarer  als  in  der  letzten  Auflage.  Da  aber  große 
Teile  des  Buches  von  der  Neuerung  völlig  unbe- 
rührt blieben  und  der  Satz  noch  stand,  ist  doch 
wohl  die  Frage  am  Platze,  ob  unter  solchen  Um- 
ständen ein  Preis  erforderlich  war,  wie  er  bei 
Neuerscheinungen  heutzutage  ja  leider  üblich  und 
unvermeidlich  geworden  ist.  Wer  dürfte  denn 
Studierenden  zu  all  ihrer  Not  heut  noch  solche 
Aufwendungen  empfehlen  oder  zumuten? 

Edw.  Hennig. 

Grimsehl,  E.,  Lehrbuch  der  Physik.  Zum 
Gebrauche  beim  Unterricht,  bei  akademischen 
Vorlesungen  und  zum  Selbststudium.  Heraus- 
gegeben von  W.  H  i  1 1  e  r  s  unter  Mitarbeit  von 
H.  Starke. 
L  Band :  Mechanik,  Wärmelehre,  Aku- 
stik und  Optik.  Fünfte,  vermehrte  und  ver- 
besserte Auflage.  1029  S.  mit  1049  Fig-  i"^ 
Text,  10  Fig.  auf  2  farbigen  Tafeln  und  I  Titel- 
bild. Leipzig  und  Berlin  192 1,  B.  G.  leubner. 
—  Geh.  32  M.  und  120%  Teuerungszuschlag 
des  Verlags. 

IL  Band:  Magnetismus  und  Elektrizität. 
Vierte,     vermehrte     und    verbesserte    Auflage. 
634  S.    mit    548  Fig.    im    Text.     Leipzig   und 
Berlin    1920,    B.  G.  Teubner.    —    Geh.    22  M. 
und  120  "jf,  Teuerungszuschlag. 
Auf  das  Grimsehlsche  Lehrbuch  haben  wir 
bereits     mehrfach    empfehlend    hingewiesen    (vgl. 
diese  Zeitschr.  Bd.  16,   S.  279,   1917  und  Bd.  19, 
S.  399)  1920).     Mehr   noch   als  jede  Empfehlung 
spricht    für    dasselbe    die    fast    beispiellos   rasche 
Aufeinanderfolge  von  Neuauflagen,    aus    der    her- 
vorgeht,   daß    das  Werk   dank  seiner  besonderen 
Vorzüge    unter    den   gebräuchlichen    Lehrbüchern 
der    Experimentalphysik    zurzeit     mit    an    erster 
Stelle  steht.     Es  ist  anzuerkennen,   daß   der  Her- 
ausgeber in  jeder  Auflage  mit  Eifer  die  Gelegen- 
heit wahrnimmt,  durch  möglichste  Vervollkomm- 
nung von  Form  und  Inhalt  dem  Buche  diese  be- 
vorzugte Stellung  zu  festigen.   Die  nachstehenden 
Verbesserungshinweise     des     Ref     mögen     dem 
gleichen  Zweck  dienen. 

Der  erste  Band  hat  gegen  früher  im  wesent- 
lichen nur  geringe  Änderungen  erfahren.  Sie 
betreffen  meist  kleine  Ergänzungen  und  kurze 
mathematische  Zusätze.  Ref.  möchte  zu  späterer 
Berücksichtigung  noch  folgenden  Änderungswün- 
schen Ausdruck  geben:  In  der  Mechanik  wäre  es 
wichtig,  den  Unterschied  zwischen  den  gerichteten 


und  ungerichteten  Größen  (Vektoren  und  Skalaren) 
auch  in  der  Schreibweise  deutlicher  hervortreten 
zu  lassen;  durch  die  Bezeichnung  der  Arbeit  mit 
einem  deutschen  Buchstaben  beispielsweise  könnte 
der  Leser  leicht  irregeführt  werden.  Die  Defini- 
tion der  potentiellen  Energie  auf  S.  95  erscheint 
nicht  völlig  befriedigend.  Der  kurze  Abschnitt 
über  Phosphoreszenz  auf  S.  950  entspricht  auf- 
fallend wenig  dem  heutigen  Stand  unserer  Kennt- 
nis dieser  Erscheinung;  er  sollte  eine  vollständige 
Neubearbeitung  erfahren. 

Wesentlichere  Änderungen  hat  der  zweite 
Band  aufzuweisen.  Sein  Umfang  ist  um  nahe 
100  Seiten,  die  Zahl  der  Figuren  um  etwa  30  ge- 
wachsen. Der  Herausgeber  war  hier  bestrebt,  die 
Faraday-Maxwell sehen  Nahewirkungsvorstel- 
lungen  mehr  als  bisher  zur  Veranschaulichung 
der  elektrodynamischen  Vorgänge  heranzuziehen, 
was  der  Darstellung  sehr  zum  Vorteil  gereichte. 
Eine  weitgehende  Ergänzung  hat  namentlich  der 
9.  Abschnitt  über  elektrische  Entladungen  erfahren. 
Es  werden  in  ihm  im  Anschluß  an  die  Betrach- 
tung der  verschiedenen  Entladungsformen  die 
einzelnen  Strahlungen,  die  Radioaktivität  und  das 
Bohr  sehe  Atommodell  besprochen.  Als  nicht 
ganz  korrekt  ist  dem  Ref.  hier  nur  die  ungerecht- 
fertigte Unterscheidung  zwischen  Kathoden-  und 
(f  Strahlen  aufgefallen,  und  als  kleiner  Mangel  kann 
es  empfunden  werden,  daß  die  Natur  der  a  Strahlen 
auf  S.  488  nicht  erschöpfend  angegeben  wird. 
Eine  erhebliche  Änderung  zeigt  auch  der  11.  Ab- 
schnitt über  elektrische  Schwingungen,  deren 
praktische  Anwendung  in  neuester  Zeit  wesent- 
lich durch  die  Einführung  der  Glühelektronen- 
röhren beeinflußt  worden  ist. 

Zum  Schluß  noch  einen  Wunsch  an  den  Ver- 
lag. Bei  der  höchst  anerkennenswerten,  sorg- 
fältigen Ausstattung  des  Werks  durch  Figuren 
und  Druck  muß  es  der  Leser  besonders  bedauern, 
daß  die  Benutzbarkeit  der  gehefteten  Exemplare 
durch  den  geringen  Zusammenhalt  der  Blätter 
erheblich  beeinträchtigt  wird.  Wäre  es  in  diesem 
Fall  nicht  ratsam,  nur  gebundene  Exemplare  in 
den  Handel  zu  bringen,  zumal  der  Preisunterschied 
sich  dabei  heute  wesentlich  niedriger  gestaltet,  als 
wenn  ein  nachträgliches  Binden  des  Werks  er- 
forderlich wirdi  A.  Becker. 

Die  Entstehung  der  Arten  durch  natürliche 
Zuchtwahl.  Übersetzt  und  herausgegeben  von 
Carl  W.  Neumann.  Nr. 3071  — 76a— d.  [694 S.] 
Leipzig,  Reclams  Universalbibliothek.  Auf 
Dünndruckpapier  geh.  1 5  M.,  in  Bibliothekband 
20  M. 

Die  Abstammung  des  Menschen  und  die  ge- 
schlechtliche Zuchtwahl.  Übersetzt  und  her- 
ausgegeben von  Carl  W.  Neumann.  2  Bde. 
Nr.  3216 — 20a — c  und  3221 — 25a — b.  [532  u, 
468  S.]  Ebenda.  Auf  Dünndruckpapier  geh. 
22,50  M.  Beide  Bände  zusammen  in  Bibliothek- 
band 30  M. 
Nicht  bei  jeder  Stichprobe  fand  ich  diese  neue 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


679 


Darwinübersetzung  ganz  genau.  So  lautet  die 
Überschrift  eines  Unterkapitels  von  Kapitel  I  der 
„Entstehung  der  Arten"  im  Original  „Character 
of  Domestic  Varieties".  Warum  „Character"  mit 
„Merkmale"  übersetzt  wird  statt  einfach  mit 
„Charakter",  ist  nicht  ersichtlich,  denn  die  folgen- 
den Ausführungen  handeln  nicht  von  den  einzelnen 
Merkmalen,  sondern  vom  Gesamtcharakter  der 
Haustiere,  wie  denn  auch  nach  wenigen  Zeilen 
dasselbe  Wort  richtiger  übersetzt  wird:  „Gezähmte 
Ratten  haben  auch  etwas  monströsen  Charakter". ') 
Wenige  Zeilen  später  eine  ähnliche  Ungenauigkeit 
der  Übersetzung:  „der  Unterschied"  statt  „die 
Unterschiede".  Bald  darauf  findet  man  „mere 
varieties"  übersetzt  mit  „Varietäten" ;  weshalb  fehlt 
das  Beiwort  „bloße"?  Weshalb  fehlt  im  sechsten 
Kapitel  in  „Species  with  habits  widely  different 
from  those  of  their  allies"  in  der  Übersetzung 
das  ,, widely"  ?  —  Im  vierten  Kapitel  liest  man 
im  Orignal,  daß  „each  creature  tends  to  become 
more  and  more  improved  .  . .";  die  Übersetzung 
des  „improved"  mit  „vorteilhafterer  Abänderung" 
und  des  gleich  darauf  folgenden  „This  improve- 
ment"  mit  „Diese  Veränderung"  gibt  den  Sinn 
nicht  so  genau  wieder,  wie  es  wünschenswert  und 
durch  das  einfachere  Wort  „Verbesserung", 
meinelhalben  „Vervollkommnung"  möglich  ge- 
wesen wäre.  Dagegen  wäre  „the  completeness 
of  the  division  of  physiological  labour"  nicht  „die 
Vollkommenheit  .  .  ." ,  sondern  nur  die  Voll- 
ständigkeit der  physiologischen  Arbeitsteilung. 
Ich  gebe  zu,  daß  ich  im  letzteren  Falle  ganz  be- 
sonders peinlich  bin,  weil  ich  gerade  diese  Be- 
griffe unlängst  genauer  bearbeitet  habe.  Man 
wäge  also  die  Ausstellungen,  die  immerhin  bei 
einer  Neuauflage  berücksichtigt  werden  sollten, 
nicht  zu  schwer  für  die  Frage  nach  der  Brauch- 
barkeit dieser  Darwinübersetzung.  In  vielen 
anderen  Stichproben  fand  ich  zu  Ausstellungen 
keinen  Anlaß. 

Zu  loben  ist  das  richtige  Maß  in  der  Verwen- 
dung von  Fremdwörtern,  da  ja  nicht  jedes  Fremd- 
wort sich  ohne  Nachteil  vermeiden  läßt,  manches 
aber,  wie  „generisch",  heute  dem  weniger  Einge- 
weihten fast  unverständlich  ist.  So  ist  also 
„characters  of  generic  value"  durchaus  richtig  mit 
„Gattungsmerkmale"  übersetzt,  und  in  den  „parent 
species"  sind  sehr  richtig  die  „Stammarten",  nicht 
die  „Elternarten",  wie  andere  Übersetzer  sagen, 
erkannt. 

Die  von  Darwin  beigegebenen  Abbildungen 
sind  zwar  zum  Teil  verkleinert,  aber  sämtlich 
gut  wiedergegeben. 

Selbstverständlich  ist  das  Erscheinen  einer 
Darwinübersetzung,  zumal  einer  verhältnismäßig 
wohlfeilen  und  handlichen,  stets  zu  begrüßen,  und 
diesen    Reclam- Bändchen,     welche     die     beiden 


Hauptwerke     Darwins     bringen,    müssen     wir 
weiteste  Verbreitung  wünschen. 

V.  Franz,  Jena. 


^)  Ebenso  wird  in  der  „Abstammung  des  Menschen" 
„character"  übersetzt  mit  „Charaktere"  statt  mit  „Charakter". 
Darwin  gebraucht  dort  bald  den  Plural,  bald  den  Singular, 
sicher  mit  gutem  Grund.  Die  Übersetzung  sollte  das  wieder- 
geben. 


Deane,  W.,  Fijian  Society,  or  the  Sociology 
and  Psychology  of  the  Fijians.  16  u.  255  S. 
London  1921,  Macmillan. 
Auf  den  Viti-Inseln  begegneten  sich  die  beiden 
Menschenrassen,  welche  die  weite  Inselflur  des 
Stillen  Ozeans  bevölkern,  nämlich  Melanesier  und 
Polynesien  Doch  überwiegt  in  physisch  •  anthro- 
pologischer Beziehung  der  polynesische  Typus 
und  auch  die  Kultur  der  Vitianer  gehört  in  der 
Hauptsache  dem  polynesischen  Kreise  zu.  Eine 
gute  Schilderung  dieses  Inselvolkes  gibt  Dr. 
Deane  in  dem  vorliegenden  Buch,  das  vorwiegend 
Ergebnisse  eigener  Beobachtungen  enthält  und 
viel  Tatsachenmaterial  bringt,  das  zur  Klärung 
der  völkerpsychologischen  Probleme  des  Stillen 
Ozeans  dienlich  ist.  Eingehend  befaßt  sich  D. 
u.  a.  mit  den  beiden  Formen  der  Abstammungs- 
folge. Die  für  den  melanesischen  Kulturkreis 
bezeichnende  Abstammungsfolge  in  weiblicher 
Linie  besteht  auf  Vanua  Levu,  der  zweitgrößten 
Insel  der  Gruppe,  deren  Bevölkerung  auch  keine 
Überlieferung  einer  Zuwanderung  von  auswärts 
besitzt.  Die  psychische  Artung  der  Viti-Insulaner 
ist  durch  eine  weitgehende  Selbstbeherrschungs- 
fahigkeit  ausgezeichnet,  wie  man  sie  sonst  bei 
Naturvölkern  recht  selten  antrifft.  Man  kann  sich 
kaum  ein  Volk  denken,  sagt  D. ,  das  besser  im- 
stande wäre,  seine  Gefühle  zu  verbergen,  wenn 
es  die  Lage  erfordert.  Nur  die  Furchtsamkeit 
tritt  stärker  hervor,  wohl  deshalb,  weil  die  Men- 
schen von  Viti  stets  in  Angst  vor  feindlichen 
Überfällen  und  selbst  Verrätereien  befreundeter 
Nachbarn  lebten  und  auch  weil  sie  von  den 
eigenen  Häuptlingen  immer  grausam  behandelt 
wurden.  In  den  Vorstellungen  einer  übersinn- 
lichen Welt  ist  ebenfalls  die  Furcht,  und  zwar  die 
Furcht  vor  bösen  Geistern,  allbeherrschend.  Alle 
entlegenen  Orte  denkt  man  sich  von  ihnen  be- 
völkert und  stets  ist  man  bereit,  sie  durch  irgend- 
ein Opfer  versöhnen  zu  wollen.  Von  religiöser 
Verehrung  der  Gestirne,  ebenso  wie  von  Totemis- 
mus,  ist  keine  Spur  vorhanden.  Auch  ein  richtiger 
Geister kult  hat  sich  nur  in  wenigen  Landschaften 
ausgebildet.  Die  übernatürlichen  Wesen  werden  teils 
als  Geister  Verstorbener  aufgefaßt,  teils  aber  als  be- 
seelte Naturobjekte;  der  Glaube  an  letztere  (Ani- 
mismus)  scheint  von  der  Insel  Vanua  Levu  aus- 
gegangen und  melanesischen  Ursprungs  zu  sein, 
während  der  Glaube  an  Ahnengeister  polynesisches 
Kulturgut  ist.  In  der  sozialen  Organisation  fällt 
die  überragende  Macht  der  Häuptlinge  auf.  Die 
Häuptlingschaft  ist  erblich.  Die  Persönlichkeit 
des  Einzelnen  tritt  bei  dem  Rest  des  Volkes 
völlig  zurück,  der  einzelne  kommt  nur  als  Glied 
der  Masse  zur  Geltung  und  diese  Unselbständig- 
keit ist  auch  im  geistigen  Leben  deutlich  ausge- 
prägt. In  so  manchen  Lebenslagen  —  z.  B.  auf 
Seefahrten    —    kann    der  Mangel    an   Persönlich- 


68o 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  47 


keitsempfinden  leicht  einer  ganzen  Gruppe  ver- 
hängnisvoll werden.  Auffällig  ist  die  Seltenheit 
schwerer  Vergehen  gegen  Person  und  Eigentum. 
Auch  in  dieser  Hinsicht  bestehen  hier  eigenartige 
Verhältnisse,  wie  sie  bei  geringem  Kulturbesitz 
nicht  die  Regel  sind.  Die  einstmals  bestandene 
Anthropophagie  ist  unterdrückt  vorden. 

H.  Fehlinger. 

Rinne,  Friedrich,  Gesteinskunde.     Für  Stu- 
dierende der  Naturwissenschaft,  Forstkunde  und 
Landwirtschaft,  Bauingenieure,  Architekten  und 
Bergingenieure.     Sechste  und  siebente  (Doppel-) 
Auflage.      Mit    einem   Titelbild   und    509  Text- 
figuren.    365  Seiten.      Leipzig    1921,    Dr.  JVIax 
Jänecke.     Preis  geb.  71,60  M. 
Wenn    der    fünften    Auflage    im    Jahre     1920 
heute  bereits  die  vorliegende  sechste  und  siebente 
gefolgt  ist,  so  zeigt  sich  darin  deutlich,    wie    be- 
liebt   das   Buch    geworden  ist.      Die  anschauliche 
Form,  in  der  das   vom  Verf.    erstrebte    „abgerun- 
dete naturwissenschaftliche  Bild  der  Gesteinskunde" 
hier    geboten    wird,    unterstützt    durch    zahlreiche 
Abbildungen    und    Zeichnungen    und    durch    eine 
ausgiebige    elementare    Verwendung    der    in    Be- 
tracht   kommenden    Lehren     der    physikalischen 
Chemie,  hat  es  vermocht,  dem  Werke  immer  neue 
Freunde    zu    erringen.      Es    erübrigt    sich    daher 
völlig,  an  dieser  Stelle  die  einzelnen  Vorzüge  des 
Buches  in  Erinnerung  zu  bringen. 

Die  Neuauflage  ist,  das  sei  jedoch  erwähnt, 
an  zahlreichen  Stellen  im  Sinne  voranschreitender 
Forschungsergebnisse  ergänzt  worden.  So  sind 
einige  weitere  Diagramme  in  der  „Allgemeinen 
Übersicht  der  Erstarrung  von  Eruptivgesteins- 
schmelzflüssen" neu  aufgenommen  worden.  Auch 
ein  Abschnitt  über  Krisiallvorformen  im  Magma, 
gegründet  auf  Anschauungen  von  P.  Niggli, 
ist  neu  eingefügt.  Besonders  sind  auch  die  Ab- 
schnitte über  Entstehung  und  Dislokationen  der 
Salzlagerstätten  den  Fortschritten  auf  diesem  dem 
Verfasser  bekanntlich  besonders  vertrauten  Ge- 
biete entsprechend  angepaßt  worden.  Während 
die  Abschnitte  IX  und  X,  Übersicht  über  Eruptiv- 
bzw. Sedimentgesteine,  ausführlich  behandelt  wer- 
den, sind,  wie  in  den  früheren  Auflagen,  die 
Verhältnisse  der  kristallinen  Schiefergesteine  kürzer 
dargestellt  worden.  Zwar  ist  zu  speziellerem 
Studium  insbesondere  auf  das  Werk  H.  Gruben- 
manns,  „Die  kristallinen  Schiefer"  verwiesen, 
vielleicht    läßt    es    sich    aber    auch    bei   weiteren 


Auflagen  ermöglichen,  noch  etwas  ausführlicher 
als  bisher  auf  die  Gesetzmäßigkeiten  und  physi- 
kalisch-chemischen Verhältnisse  der  allgemeinen 
Metamorphose  einzugehen.  Zweifellos  würde  diese 
Erweiterung  von  allen  Freunden  des  Buches  dank- 
bar begrüßt  werden.  Spangenberg. 


Lichtenbergs  Briefe  an  Johann  Friedrich 
Blumenbach.  Herausgegeben  und  erläutert 
von  Prof.  Albert  Leitzmann.  136  S.  Leipzig  1921, 
Dieterichsche  Verlagsbuchhandlung. 
Kurz  nachdem  Blumenbach  als  23  jähriger 
seine  Doktorschrift  „De  generis  humani  varietate 
nativa"  veröffentlicht  hatte,  lernte  er  Lichten- 
berg kennen  und  enge  freundschaftliche  und  wis- 
senschaftliche Beziehungen  verbanden  beide  bald 
und  dauernd.  Beide  Männer  hatten  die  Natur  bis 
hinauf  zum  Menschen  zum  Gegenstand  ihrer 
Forschungen  gemacht,  sie  stimmten  aber  auch 
überein  in  ihrer  Lebens-  und  Weltauffassung.  Die 
Briefe,  die  Lichtenberg  an  Blumen  bach  im 
Laufe  von  mehr  als  zwei  Jahrzehnten  schrieb,  hat 
nun  Albert  Leitzmann  herausgegeben  und 
mit  Erläuterungen  versehen.  Die  Sammlung  wird 
nicht  bloß  dem  engeren  Kreis  der  Freunde  des 
großen  Aphoristikers  und  Satirikers  willkommen 
sein,  sondern  auch  die  Naturwissenschafter  werden 
in  ihr  manches  Lesenswerte  finden.  H.  F. 


Literatur. 

Berichte  über  die  Verhandlungen  der  sächsischen  Aka- 
demie der  Wissenschaften  zu  Leipzig.  Mathematisch-physische 
Klasse.     73.  Band.     Leipzig   '21,  B.   G.  Teubner.     7,20  IVI. 

Beiträge  zur  Metallurgie  und  andere  Arbeiten  auf  che- 
mischem Gebiet.  Festgabe  zum  60.  Geburlstag  für  Professor 
Dr.  Dr.Ing.  E.  H.  Hans  Goldschmidt.  Herausgegeben  von 
Oscar  Neuß.  Dresden  u.  Leipzig  '21,  Theodor  Steinkopf. 
15  M. 

Nernst,  Walther,  Theoretische  Chemie.  8. — 10.  Aufl. 
Stuttgart  '21,  Ferdinand  Enke.     Brosch.   141   M. 

V.  Zittel,  Karl  A.,  Grundzüge  der  Paläontologie  (Paläo- 
zoologie),  neubearbeitet  von  Dr.  Ferdinand  Broili.  l.  Ab- 
teilung: Invertebrata.  5.  verbesserte  und  vermehrte  Auflage. 
München  u.  Berlin  '21,  R.  Oldenbourg.  Brosch.  loo,  geb. 
HO  M. 

Fritz  Müller  Werke,  Briefe  und  Leben,  gesammelt  und 
herausgegeben  von  Dr.  Alfred  Möller.  Zweiter  Band:  Briefe 
und  noch  nicht  veröffentlichte  Abhandlungen  aus  dem  Nach- 
laß  1854 — 1S97.     Jena  '21,   Gustav  Fischer.      150  M. 

Sechs  farbige  Naturaufnahmen  von  Arzneipflanzen.  Aus- 
gabe A.  Folge  14  u.  15.  Nach  OrigiDalaulnahmen  von  Josef 
Ostermaier.  Herausgegeben  von  Gehe  u,  Co.,  A.-G.,  Dresden-N. 


Inbalt:  R.  Keller,  Elektromikroskopie.  (3  Abb.)  S.  665.  A.  Radovanovitch,  Was  ist  die  Zeit?  S.  669.  —  Einzel- 
berichte: A.  W.  Bull,  Die  Kristallsiruktur  des  Calciums.  S.  671.  H.  Bau  mann,  Zur  Anatomie  der  Tardigraden. 
S.  671.  W.  Hieber,  Eine  neue  Methode  zur  Bestimmung  allelotroper  Gleichgewichte.  S.  672.  G.  K.  Rein, 
Abessinien.  S.  673.  H.  Kunze,  Vom  Zentralnervensystem  der  Weinbergschnecke.  S.  676.  —  Bücberbesprecbun- 
gen:  F.  Broili,  Zittels  Grundzüge  der  Paläontologie,  1.  Abt.:  Invertebrata.  S.  677.  E.  Grimsehl,  Lehrbuch  der 
Physik.  I.  Bd.:  Mechanik,  Wärmelehre,  Akustik  und  Optik.  11.  Bd.:  Magnetismus  und  Elektrizität.  S.  678.  Die  Ent- 
stehung der  Arten  durch  natürliche  Zuchtwahl.  Die  Abstammung  des  Menschen  und  die  geschlechtliche  Zuchtwahl. 
S.  678.  Deane,  Fijian  Society.  S.  679.  Fr.  Rinne,  Gesteinskunde.  S.  680.  Lichtenbergs  Briefe  an  Johann  Frie- 
drich Blumenbach.  S.  6S0.  —  Literatur :  Liste.  S.  680. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Fätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m,  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Heue  Folge  20.  Band; 
der  gansen  Reibe   36.  Band. 


Sonntag,  den  27.  November  1921. 


Nummer  48. 


Neue  Ansichten  vom  Entstehen  des  Erdbildes. 

Von  Prof.  Dr.  Edw.  Hennig. 


[Nachdruck  verboten.] 


Mit  5  Abbildungen. 


Hypothesen  sind  die  F"ühlhörner  der  Erkennt- 
nis. Von  jedem  der  Wissenschaft  gewonnenen 
Felde  werden  sie  alsbald  wieder  fragend  vorge- 
streckt ins  Nebelhafte,  ins  Dunkle.  Ungerecht  ist 
es,  sie  mit  der  Erkenntnis  selber  vergleichen, 
ihnen  demgegenüber  eine  niedere  Rangordnung 
zuweisen  zu  wollen.  Ihre  Funktion  ist  völlig 
verschieden.  Sie  sind  die  Pioniere,  können  sein 
das  eigentlich  Schöpferische  der  Wissenschaft,  in- 
dem sie  intuitiv  den  Weg  erhellen,  damit  jene 
ihn  beschreiten,  den  Besitz  sichern  kann.  Auch 
ist  es  den  Hypothesen  nicht  zur  Last  zu  legen, 
wenn  das  Bild,  das  sie  erstmals  skizzierten,  wesent- 
lich abgeändert  werden  muß,  ehe  es  in  den 
eisernen  Bestand  der  Wissenschaft  übergeht.  Das 
ist  natürlich  kein  Freibrief  für  das  Ersinnen  von 
Hypothesen.  Leichtsinn  ist  wahrlich  nicht  am 
Platze,  wo  es  gilt  der  Erkenntnis  neue  Bahnen  zu 
eröffnen. 

Wert  und  Unwert  einer  Hypothese  kann  viel- 
leicht nicht  klarer  erfaßt  werden,  als  wenn  eine 
zweite  gleichzeitig  in  ganz  anderer  Richtung  vor- 
zudringen sucht.  Alsdann  ist  gegenseitige  Ab- 
wägung und  Kontrolle  der  vorgebrachten  Beweis- 
gründe möglich,  ist  die  Gefahr  einseitiger  sug- 
gestiver Beeinflussung  durch  Darstellungskunst 
und  anderes  entsprechend  gemindert. 

In  dieser  Lage  befindet  sich  zurzeit  die  Geo- 
logie oder  auch  die  Erdkunde  im  weiteren  Sinne. 
Ihr  Tatsachenbestand,  das  Oberflächenbild  des 
Erdplaneten  ist  seit  langen  Zeiten  ein  heiß  um- 
strittenes Problem.  Die  Geologie  hat  die  Daten 
zusammengetragen,  die  von  der  Entstehungsge- 
schichte zeugen.  Aber  wie  große  Gebiete  harren 
noch  tieferer  Durchforschung,  wie  gewaltige  Teile 
sind  uns  völlig  unzugänglich  1  Meereswasser,  Eis 
und  Schnee,  wie  auch  Vegetation  verdecken  das 
weitaus  Meiste  vollkommen.  So  fußen  wir  bei 
aller  fleißigen  Arbeit  von  Generationen  noch  im- 
mer auf  Stichproben.  Je  geringer  aber  das  tat- 
sächliche Wissen,  um  so  freier  das  Feld  für  die 
such  ende  Tastarbeit  der  Hypothesen ,  je  dring- 
licher fast  das  Bedürfnis,  das  Bekannte  zu  einem 
einheitlichen  Vorstellungsbilde  wenn  auch  von  be- 
wußt vorläufiger  Natur  zusammen  zu  ordnen. 

Eigenartig  und  auffallend  ist  die  Zusammen- 
drängung der  Festländer  auf  der  Nordhalbkugel. 
Schon  rein  theoretisch  „des  Gleichgewichts  wegen" 
wurde  daraus  frühzeitig  das  Vorhandensein  eines 
großen  Südkontinents  gefordert,  als  noch  die 
Schiffahrt  in  die  antarktischen  Regionen  vorzu- 
dringen  nicht   in   der  Lage  war;   Cooks   zweite 


Weltumseglungsfahrt  stellte  sich  seine  Auffindung 
zur  Aufgabe  und  ergab,  daß  er  mindestens  im 
gedachten  Umfange  nicht  bestand.  Hinzu  kommt 
die  Zuspitzung  der  Erdteile  gegen  Süden.  Die 
geistvolle  Tetraedertheo»ie  Lowthar  Greens 
l<nüpft  hier  an:  danach  wären  Antarktis,  Nord- 
amerika, Asien,  Europa  die  4  Ecken  eines  Tetraeders, 
dessen  Kanten  nach  Süden  hin  unter  dem  Meeres- 
wasser sich  ausspitzend  verschwinden  ebenso  wie 
die  Flächen  des  Tetraeders  unter  der  kugeligen 
Wasserhülle  verborgen  lägen.  Die  Erde  habe  da- 
mit große  Oberfläche  bei  kleinem  Rauminhalt. 
Zu  denken  ist  ferner  an  die  längstbekannte 
weitgehende  Parallelität  der  Küsten  im  Westen 
Afrikas  und  im  Osten  Südamerikas.  Die  Schwere- 
messungen in  Gebirgen  und  Niederungen,  auf 
Kontinenten  und  Ozeanen  ergaben  unerwartete 
Gesetzmäßigkeiten.  Die  große  Narbe  im  Antlitz 
der  Erde,  die  syrischostafrikanische  Grabenbruch- 
zone, sowie  der  Verlauf  und  das  Vorhandensein 
der  beiden  großen  geophysikalisch  eigenartigen 
Zonen  rings  um  den  Pazifik  und  quer  durchs 
südliche  Asien-Europa  mit  ihren  Abweichungen 
in  Geschichte  und  Zustand,  in  Sedimentation, 
Mächtigkeit  und  Fazies,  in  Gebirgsbewegung, 
Vulkanismus  und  Erdbeben  verlangen  gebieterisch 
eine  Deutung  ihres  Wesens.  Die  Tiefseeforschung 
und  Ozeanographie  hat  weitere  Rätsel  aufgegeben. 
Der  Zustand  der  Wissenschaft  näherte  sich  in 
alledem  mit  fortschreitender  Kenntnis  des  Tat- 
sachenbestandes geradezu  der  Ratlosigkeit,  wie 
es  ja  zu  ihren  vornehmsten  Aufgaben  zu  zählen 
ist  neue  Problemstellungen  aufzudecken. 

Hier  mußten  die  Versuche  einsetzen,  eine  einst- 
weilen befriedigende  Lösung  zu  finden.  Es  ist 
höchst  bemerkenswert  zu  beobachten,  mit  welcher 
Gier  gradezu  die  Wissenschaft  sich  darauf  stürzte. 
Schon  ein  Strohhalm  konnte  als  Rettung  aus 
selbstgeschaffener  Not  empfunden  werden. 

Zwei  Wege  wurden  seit  langem  vorsichtig 
abgetastet  und  erkundet:  Steht  das  Antlitz,  das 
uns  die  Erde  zeigt,  in  seinen  Haupt-  und  Grund- 
zügen seit  langem,  vielleicht  seit  Anfang  fest  und 
hat  es  nur  weniger  wesentliche  Variationen  im  Laufe 
der  Zeiten  erfahren  ?  Oder  sind  Land  und  Wasser 
in  ruhelosem,  ja  kaum  gesetzmäßigem  Wandel 
begriffen  und  in  ihrer  heutigen  Begrenzung  nur 
ein  flüchtiges,  nie  vordem  so  gewesenes  und  nie 
wiederkehrendes  Bild  ?  Welches  sind  im  letzteren 
Falle  die  unabsehbaren  Wandlungen,  die  zum 
Heute  geführt  haben  und  unfehlbar  darüber  hinaus 
führen  müssen  ? 


682 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


Die  übliche  Fassung  der  Frage  lautet:  Sind 
Erdteile  und  Ozeane  konstant  oder  nicht?  Eine 
Fülle  von  Beiträgen  zu  ihrer  Beantwortung  ist 
von  beiden  Seiten  herangeschleppt  worden.  Kein 
noch  so  sicher  aufretendes  Ergebnis  war  eindeutig. 
Das  Fragezeichen  steht  noch  immer  1 

Nun  sind  auf  deutschem  Boden  zwei  neue 
Antworten  erwachsen.  Wieder  bewegen  sie  sich 
in  den  beiden  entgegengesetzten  Richtungen.  So 
sind  sie  also  miteinander  unvereinbar,  ergänzen 
aber  einander,  indem  die  Argumente  jedes  Ver- 
suchs zugleich  die  Einwände  gegen  den  anderen 
liefern. 

Im  Kriegsjahre  191 5  legte  Wegener^)  erst- 
malig seine  Ansichten  über  das  Werden  des  der- 
zeitigen Erdbildes  aus  ganz  andersartigen  früheren 
Zuständen  dar.  Er  fand  Widerspruch,  aber  auch 
viel  Zustimmung,  allerseits  jedenfalls  auffällig 
starke  Beachtung.  1920  erschien  eine  neue  Auf- 
lage -)  der  Theorie.  Die  gemachten  Einwände 
sind  dabei  berücksichtigt,  neue  Stützpfeiler  aufge- 
führt. Die  Sicherheit  des  Auftretens,  die  Sieges- 
gewißheit erscheinen  noch  gesteigert. 

Fast  zugleich  aber  erfolgt  nun  der  Vorstoß 
der  Gegenseite:  Vom  Studium  des  Alpenkörpers 
ausgehend,  gelangt  Kob er  ^j  wie  dereinst  Eduard 
Sueß  zu  erdumspannenden  Folgerungen.  Hier 
erscheinen  die  Kerne  der  heutigen  Erdteile  und 
ihre  Lagebeziehungen  als  uraltes  Erbteil  der  Erd- 
oberfläche. Sie  sind  der  ruhende  Pol  in  der  Er- 
scheinungen Flucht. 

Schon-  in  den  Titeln  kommt  die  voneinander 
völlig  abweichende  Grundstimmung  beider  Ar- 
beiten —  dort  gestaltend,  hier  vorwaltend  kon- 
servativ —  zur  vollen  Geltung. 

Seltsam,  höchst  seltsam,  wie  der  Stand  unserer 
Kenntnisse  so  grundverschiedene  Ansichten  neben- 
einander aufkommen  und  bestehen  lassen  kann, 
die  einander  gegenseitig  geradezu  aufzuheben 
drohen  1  *) 

Der  Grundgedanke  Kobers  ist,  daß  die 
Schrumpfung  des  Erdballs  in  erster  Linie  die 
Meeresteile  betroffen  habe,  so  daß  alte  Fest- 
landsmassen    allmählich     einander    näher 


')  Alfred  Wegener,  Die  Entstehung  der  Kontinente 
und  der  Ozeaue.  Nr.  23  der  Sammlung  „Die  Wissenschaft". 
Vieweg,  Braunschweig    IQIS' 

-)  Dgl.  völlig  umgearbeitete  und  wesentlich  vermehrte 
zweite  Auflage.  Ebenda  Bd.  66,  1920.  (X35  S.,  33  Abb.). 
12  M. 

ä)  Leopold  Kober,  Der  Bau  der  Erde.  Born  träger 
Berlin  1921.     (324  S.,  46  Abb.,   I   Tafel.)     96  M. 

*)  Eine  eigenartige  und  höchst  interessante  Mittelstellung 
nimmt  Kol3mat  (Die  mediterranen  Kettengebirge  in  ihrer 
Beziehung  zum  Gleichgewichtszustande  der  Erdrinde.  Abh. 
math.-phys.  Kl.  sächs.  Ak.  Wissensch.  Bd.  38,  Nr.  II,  S  I — 62, 
1921)  ein.  Die  Gleitbewegungen  der  Erdkruste  und  den 
Widerspruch  gegen  die  Kontraktionslehre  übernimmt  er  von 
Wegen  er,  dessen  Ansichten  über  die  frühere  Lage  der 
Kontinente  und  die  Fortsetzung  des  amerikanischen  Gebirgs- 
stumpfs  im  westlichen  Europa  (s.  die  sehr  instruktive  Karten- 
skizze auf  S.  30)  er  mit  ausgezeichneten  Gründen  ablehnt. 
Die  Anschauungen  über  das  Herauswachsen  der  Kettengebirge 
aus  den  Geosynklinalen  führen  ihn  dagegen  stark  an  Kobers 
Seite. 


gerückt  wären  und  die  Zwischenzonen  gleich- 
sam ausgepreßt  hätten.  Dabei  wären  die  großen 
Faltenketten  der  Erde  nach  beiden  Seiten  aus 
den  Senkungströgen  herausgequollen  und  auf  die 
sie  unterschiebenden  Festländer  gewissermaßen 
hinaufgekrochen.  Nicht  alle  derartigen  Auf- 
pressungszonen seien  z.  Z.  über  dem  JVIeeres- 
spiegel  erhaben.  Beispielsweise  stelle  der  bekannte 
südatlantische  Längsrücken  eine  submarine  Er- 
scheinung dieser  Art  dar.  Afrika  und  Südamerika 
sollen  in  diesem  Falle  die  Pressung  ausüben. 

Bei  Wegener  aber  sind  diese  beiden  Land- 
massen Teile  einer  einst  einheitlichen  und  hätten 
sich  nach  Zerreißung  durch  Auseinander- 
bewegung voneinander  getrennt.  Einig 
sind  somit  beide  Autoren  nur  in  der  Ablehnung 
einstiger  verbindender  Ländermassen,  die  nach 
landläufiger  Vor-  oder  wenigstens  Darstellung 
heut  im  Atlantik  versunken  wären.  In  allem 
anderen  aber  sind  die  Gegensätzlichkeiten  völlig 
unvereinbar. 

Für  das  psychologische  Verständnis  beider 
Versuche  ist  es  von  großer  Bedeutung,  zu  sehen, 
wie  eine  anders  geartete  Einstellung  wissenschaft- 
licher Betrachtungsweise  und  verschiedene  Aus- 
gangspunkte zwei  so  völlig  voneinander  ab- 
weichende Suchrichtungen  hervorrufen  konnten. 
Kober  als  Geologe  wurzelt  in  Anschauungen, 
die  ihm  die  Erforschung  des  inneren  Baus  des 
Alpenkörpers  (besonders  der  Ostalpen)  vermittelt 
hat.  Ihm  widmet  er  längere  einführende  Betrach- 
tungen, um  von  gesicherterer  Basis  auszugehen. 
Dort  gefundenen  Gesetzmäßigkeiten  folgt  er  dann 
über  die  ganze  Erde  hin. 

Wegener,  der  Geograph,  ist  durch  morpho- 
logische Züge  des  Erdantlitzes  zu  seinen  Unter- 
suchungen veranlaßt  worden:  Die  eigenartigen 
Beziehungen  zwischen  der  Westküste  Afrikas  und 
der  Ostküste  Südamerikas  ließen  intuitiv  den  Ge- 
danken aufkommen,  sie  hätten  einst  aneinander 
gelegen,  die  Erdkruste  sei  nicht  durch  eine  ver- 
sunkene Atlantis  unterbrochen,  sondern  einfach 
zerrissen  (S.  1 2).  Auch  hierfür  werden  nun  Parallel- 
beispiele gesucht  und  —  gefunden.  IVlit  großem 
Eifer  und  vielseitiger  Umschau  wird  eine  wahre 
Fülle  von  Stützargumenten  aus  Geophysik,  histo- 
rischer Geologie,  physischer  und  Biogeographie 
herbeigebracht. 

Wie  an  ein  Kristallzentrum  gliedern  sich 
wesensverwandte  Erfahrungen  und  Anschauungen 
fast  spielend  von  allen  Seiten  an.  Was  aber  nicht 
hineinpaßt,  wird  abgelehnt,  wenn  nicht  übersehen. 
Wenn  Wegener  die  Kontraktionstheorie  als 
längst  überwunden  behandelt,  so  sieht  sich  Ko- 
ber wieder  ganz  und  gar  auf  deren  Bahn  ge- 
drängt. Man  wählt  gewissermaßen  die  Stellung- 
nahme zu  Einzelproblemen,  statt  sachlich  dazu 
gezwungen  zu  werden. 

Die  Form  der  Erfahrung  wird  bei  beiden 
Autoren  gleichsam  von  Haus  aus  mitgebracht, 
ergibt  sich  keineswegs  erst  aus  denuGesamtinhalt. 
Mehr  oder  weniger  wurzelt  ja  letzten  Endes  jede 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


Naturwisaenschaftüche  Wochenschrift. 


685 


wissenschaftliche  Einstellung  in  der  Persönlichkeit 
und,  was  damit  zusammenhängt,  in  der  Zeit- 
strömung. Wo  aber  der  Spielraum  so  entgegen- 
gesetzte Bewegungen  zuläßt,  ist  die  Bindung  durch 
wissenschaftlichen  Tatsachenbestand  offenbar  noch 
bedrohlich  gering  und  entsprechende  Vorsicht 
angebracht. 

Wegener  läßt  (es  gibt  keinen  treffenderen, 
das  Subjektive  widerspiegelnden  Ausdruck!),  um 
eine  Verschiebung  der  Kontinentalmassen  über 
gewaltige  Strecken  der  Erdoberfläche  hin  über- 
haupt begreiflich  zu  machen,  die  „Festländer" 
auf  einer  plastischeren  Unterlage  schwimmen. 
Der  Sueßsche  Unterschied  zwischen  den  leich- 
teren obersten  „Sial"  ')  Massen  (mit  vorwiegendem 
Silicium  und  Aluminium)  und  dem  schwereren 
„Sima"  (Hauplkomponenten  Silicium  und  Magne- 
sium) des  äußeren  Gesteinsmantels  (Lithosphäre) 
des  Erdkörpers  muß  ihm  dazu  die  Voraussetzung 
liefern.  Nur  wird  dabei  wieder  einmal  eine  prak- 
tisch-begriffliche  Grenzführung  in  die  Natur  hin- 
einprojiziert.  Während  man  im  allgemeinen  wohl 
gewöhnt  ist  den  Übergang  in  Zusammensetzung, 
Dichte  und  damit  spezifischem  Gewicht  aus  einer 
Zone  in  die  andere  ganz  allmählich  vorzustellen, 
werden  bei  Wegener  scharf  getrennte  Massen 
daraus.  Die  Kontinentalschollen  aus  Sial  „schwim- 
men", gleiten,  bewegen  sich  auf  bzw.  in  dem 
simischen  Untergrunde  wie  ein  Eisberg  im  Wasser. 
Demnach  bestünde  auch  der  tiefere  Meeresboden 
der  Ozeane  bereits  aus  Simamaterial,  ^)  die  Sial- 
decke  wäre  also  keineswegs  allgemein.  Recht 
großzügig  und  treffend  ist  die  Auffassung  der 
gesamten,  im  Durchschnitt  etwa  2,4  km  starken 
Sedimenthülle  als  „oberflächliche  Verwitterungs- 
schicht" der  ca.  100  km  tief  hinabreichenden 
Kontinentalblöcke. 

Tams^)  hat  neuerdings  den  Anregungen 
Wegeners  folgend  die  Geschwindigkeit  solcher 
Erdbebenwellen,  deren  Bahn  vorwiegend  der 
Meeresboden  abgegeben  hat,  daraufhin  geprüft, 
ob  sie  der  vermuteten  höheren  Dichte  entsprechend 
größer  ist  als  innerhalb  der  Kontinente.  Sein 
Ergebnis,  wenn  auch  noch  nicht  eindeutig  und 
endgültig,  fiel  im  ganzen  im  Sinne  der  Wegener- 
sehen  Voraussetzung  aus.  Wegener  selbst 
glaubt  aus  vielen  anderen  Tatsachen  und  Lehr- 
meinungen weiteren  Nutzen  für  seine  Behauptung 
zu  gewinnen.  Ohne  hier  näher  darauf  einzugehen, 
muß  nun  doch  aber  wohl  die  Frage  aller  Fragen 
an  ihn  gestellt  werden:  wie  geht  das  Aufreißen 
und  Auseinandertreiben  der  Kontinentalschollen 
vor  sich,  wie  und  unter  welchen  Vorbedingungen 
kommt  es  dazu? 


')  So  Wegener  nach  Pfeffers  Vorgang  mit  vollem 
Recht  an  Stelle  des  Sueßschen  leicht  mißzuverstehenden 
terminus  ,,Sal". 

*)  Das  Sima  ist  bei  Sue8  die  tiefere  Zone  der  Litho- 
sphäre oder  Gesteinshülle  der  Erde.  Erst  unter  ihm  beginnt 
der  Kern  oder  die  Barysphäre.  Die  Zuteilung  des  Sima  zur 
letzteren  bei  Wegener  ist  irrig. 

')  Zentralbl.  f.  Min.,  Geol.,  Paläontol.  1921  ,  S.  44  —  52, 
75-83- 


In  dieser  Beziehung  aber  geht  der  Leser  bei- 
nahe völlig  leer  aus.  Nur  ganz  nebenbei  wird 
auf  kaum  2  Seiten  gegen  den  Schluß  hin  auch 
von  den  Ursachen  der  angenommenen  Bewegungen 
gesprochen,  nachdem  wir  auf  S.  58  kurz  und 
bündig  „durch  irgendwelche  Kräfte"  bei  den 
ersten  Aufspaltungen  der  Erdkruste  abgespeist 
wurden  1  Die  Rotation  der  Erde  soll  ganz  ähn- 
lich, wie  es  die  Meeresströmungen  zeigen,  eine 
westliche  Richtung  der  Schollenverschiebungen, 
also  ein  Zurückbleiben  hinter  der  Kugelfläche 
selbst  bedingen,  sei  es,  daß  eine  äquatorwärts 
gerichtete  Bewegung,  eine  „Polflucht",  in  solche 
Westrichtung  abgelenkt  wird,  sei  es,  daß  Sonne 
und  Mond  in  ihrer  nachgewiesenen  Einwirkung 
auch  auf  die  „feste"  Erde  eine  Gezeitenwelle 
hervorrufen,  deren  Reibung  die  schwimmenden 
Sialmassen  unmittelbar  zurückhält. 

Solche  Anschauungen  erscheinen  doch  reich- 
lich primitiv,  völlig  unannehmbar,  vor  allem  aber 
mit  den  sonstigen  Vorstellungen  des  Verf.s  gänz- 
lich unvereinbar.  Denn  die  Westwärtsbewegung 
der  Kontinente  wird  verantwortlich  gemacht  für 
die  Gebirgsaufstauungen  an  ihrer  Stirn,  also  z.  B. 
die   westamerikanischen   Anden   und   Kordilleren. 


Abb.  I.      Das   nordatlantische    Gebiet  zur   großen 

Eiszeit   (nach   A.    Wegener   „Die   Wissenschaft"   Bd.   66, 

S.   loi,   Fig.  31). 

Das  heißt  doch  aber,  daß  in  diesen  Kettengebirgen 
geradezu  unfaßbare  Widerstände  überwunden 
wurden.  Wer  sich  je  die  Mühe  gegeben  hat,  sich 
die  bei  der  Gebirgsfaltung  wirksamen  Riesen- 
kräfte vor  Augen  zu  führen,  wird  den  Gedanken, 
sie  in  einer  Rotationsströmung  zu  suchen ,  nicht 
einen  Augenblick  auch  nur  diskutieren  können. 
Und  ferner:  unsere  jungen  Kettengebirge  sind 
tertiären  Alters.  Sind  etwa  all  die  Kräfte,  von 
denen  die  Rede  ist,  in  den  unsagbar  langen  Zeiten 
vor  dem  Tertiär  nicht  vorhanden  oder  wirksam 
gewesen  ?  Warum  in  aller  Welt  hat  sich  Süd- 
amerika von  Afrika  erst  im  Tertiär,  Nordamerika 
von  Europa  gar  erst  im  Verlaufe  oder  am  Ende 
des    Diluviums   losgelöst    und   seine   Wanderung 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  4ii 


begonnen,  also  geologisch  gesprochen  nahezu 
erst  in  der  Gegenwart?  Und  hat  denn  die  Fal- 
tung der  nordamerikanischen  Gebirgsketten  nicht 
ebenfalls  schon  im  Tertiär  eingesetzt,  dann  also 
schon  vor  der  Losreißung  und  ohne  Zusammen- 
hang mit  der  vermeintlichen  Ursache  ?  In  alledem 
wird  schmerzlich  geologische  Durcharbeitung  ver- 
mißt. 

Die  bekannte  geologische  Fortsetzung  des 
westamerikanischen  Gebirgszuges  sind  auf  der 
anderen  Seite  des  Pazifik  die  ostasiatischen  Insel- 
girlanden. Bei  Wegen  er  sind  sie  ganz  anderen 
Ursprungs,  da  ja  jene  „Erklärung"  hier  füglich 
versagen  muß.  Vom  Übergang  aus  einem  Typ 
in  den  anderen  erfahren  wir  freilich  nichts.  Sie 
sollen  ähnlich  wie  das  ganz  anders  geartete  Mada- 
gaskar im  „Rücken"  Afrikas  an  der  Ostküste  des 
wandernden  asiatischen  Blocks  „im  Sima  stecken" 
bleiben,  über  das  die  großen  Landkomplexe  so 
ungeheuer  leicht  hinweggleiten  sollten.  Also 
kommen  zu  dem  vorhingenannten  Widerstände 
innerhalb  der  Sialkruste  doch  nicht  ganz  unbe- 
trächtliche im  Untergrunde  immerhin  noch  hinzu  1 
Ein  „Offenbar"  kann  solche  Gedankengänge  kaum 
schmackhafter  machen.  Auch  tut  es  anscheinend 
nicht  viel  zur  Sache,  daß  bestimmte  Inseln  und 
Halbinseln  dem  relativ  zu  ihrer  Masse  stärkeren 
Widerstand  des  Sima  nicht  zu  begegnen  wissen, 
während  andere  wie  „die  Azoren,  Kanaren  und 
Kapverden  vergleichbar  mit  Kalbeisstücken  vor 
einem  schwimmenden  Eisberge"  fröhlich  voran- 
eilen; denn  nicht  von  Südamerika  sondern  von 
Eurafrika  sollen  sie  „getrennt"  worden  sein. 

Weiter:  neben  der  Umrandung  des  Pazifik 
wurde  ja  im  Tertiär  auch  die  zweite  große  Falten- 
gebirgszone,  das  südliche  Eurasien,  in  vorwiegend 
ostwestlicher  Erstreckung  aufgetürmt.  Abermals 
muß  eine  neue  Erklärung  dienstbar  sein.  Denn 
nun  brauchen  wir  eine  meridionale  Schubkraft. 
Daß  das  höchste  Gebirge,  der  Himalaya,  mit  der 
größten  Festlandsmasse  Asien  in  Verbindung 
steht,  wird  mit  Genugtuung  festgestellt.  Schließ- 
lich aber  ist  es  gar  nicht  der  nördliche  vorge- 
lagerte Komplex,  sondern  das  von  Süden  heran- 
gerückte Indien,  das  den  Zusammenschub  be- 
wirkt haben  solll  Ja  „wahrscheinlich  nahm  das 
ganze  östliche  Asien  über  Tibet  und  die  Mongo- 
lei hinweg  bis  zum  Baikalsee  und  vielleicht  so- 
gar bis  zur  Beringstraße  an  diesem  Zusammen- 
schub teil",  war  also  nicht  Subjekt,  sondern  Objekt 
bei  dem  ungeheuren  Prozeß.  Dessen  Kraftquelle 
wird  dadurch  nicht  eben  einleuchtender,  ja  der 
Vorgang  selbst  stünde  den  mit  Amerika  ge- 
machten vermeintlichen  Erfahrungen  verbindungs- 
los gegenüber. 

Das  Ganze  ist  eine  der  mannigfachen  ge- 
schickten Anpassungen  der  Hypothese  an  ge- 
wisse geologische  Forderungen,  in  diesem  Falle 
an  das  Problem  einstiger  Zusammenhänge  zwischen 
Afrika  und  Indien  über  Madagaskar.  Die  innere 
Kraft  der  Hypothese  gewinnt  durch  den  proteus- 
artigen   Wandel    indessen    gewiß    nicht.      Woher 


aber  die  Süd-Nord-Bewegung  im  vorliegenden 
Falle  ?  Eine  Polflucht,  die  über  den  Äquator  hin- 
weg zum  Gegenpol  mit  so  ungestümer  Gewalt 
drängte?  Nein,  es  ist  „nur"  nötig  den  tertiären 
Äquator  eben  entsprechend  in  den  Faltengürtel 
selbst  zu  verlegen  und  in  der  Gegenwart  dem 
asiatischen  Block  die  stärkere  Polfluchttendenz 
zuzuschreiben  als  Indien  1 

Der  alpine  Faltenzug  Südeuropas  wird  hier 
nicht  eingehender  behandelt.  Und  doch  kann 
gerade  dieser  eingehender  studierte  Faltengürtel 
uns  darüber  belehren,  einmal  daß  die  Faltung 
selbst  zwar  im  Tertiär  ihr  Maximum  erfuhr,  in 
embryonalen  Anfangen  aber  bis  in  den  Ausgang 
des  Paläozoikums  zurückzuverfolgen  ist,  wo  sie 
die  nördlichere  Faltung  des  Karbons  ablöst,  bzw. 
aus  ihr  hervorwächst;  zweitens  aber,  daß  die 
Faltung  und  spätere  Hebung  keineswegs  die 
Eigenart  der  Zone  erschöpfen:  vielmehr  haben 
wir  es  mit  einem  besonders  labilen  Teile  der  Erd- 
oberfläche zu  tun,  der  sich  in  Mächtigkeit,  Ge- 
steinsausbildung, Faunenführung  der  Schichten 
und  vielen  anderen  durch  lange  Zeiten  hin  aus- 
zeichnet und  geologisch  vor  allem  Senkungs- 
trog nicht  Hebungszone  ist!  Das  alles  dürfte 
sich  schwerlich  aus  W  e  g  e  n  e  r  sehen  Anschauungen 
heraus  erklären,  ja  kaum  mit  ihnen  in  Einklang 
bringen  lassen.  Für  das  mitteleuropäische  Karbon- 
gebirge und  seine  Fortsetzung  in  den  Appalachen 
Nordamerikas  wird  entsprechend  abermals  Lage 
im  damaligen  Äquatorialgebiete  vorausgesetzt.  Die 
Polflucht  ist  also  anscheinend  ganz  wesentlich 
früher  wirksam  als  die  Ost- West-Bewegungen  ? 

Pol-  und  damit  Äquatorverlagerungen  in  geo- 
logischer Vorzeit  gehören  seit  langem  zum  Rüst- 
zeug geologischer,  insbesondere  paläoklimatischer 
Vorstellungen  und  drängen  sich  als  Arbeitshypo- 
thesen in  der  Tat  immer  wieder  auf,  sollen  auch 
in  ihrer  theoretischen  Möglichkeit  unbestritten 
bleiben.  Für  die  spielende  Leichtigkeit  aber,  mit 
der  W  e  g  e  n  e  r  sich  dieser  Denkrichtung  bedient, 
ist  die  Behandlung  der  Trias  und  des  Perms 
(S.  113)  ein  bedenkliches  Beispiel.  Deutschland 
weist  wüstenhaftes  Klima  auf.  Das  genügt  schon 
fast,  um  den  Äquator  aufzufinden.  Es  verschlägt 
nichts,  daß  die  gleichen  roten  Sandsteine  in  fast 
allen  heutigen  Kontinenten  damals  und  meist  für 
bedeutend  längere  Perioden  bekannt  sind.  Texas 
und  Ural  haben  sehr  gleichartige  permotriassische 
Landfaunen,  „die  es  wahrscheinlich  machen,  daß 
diese  beiden  Gegenden  —  heute  in  25  "  Breiten- 
unterschied gelegen  1  —  damals  in  gleicher  Breite 
lagen".  Südafrika  als  Dritter  im  Bunde  bleibt 
außer  Betracht  I  „Wir  brauchen  also  nach  Heran- 
schieben von  Amerika  nur  die  Mittelsenkrechte 
auf  der  Verbindungslinie  Ural — Texas  zu  errichten 
und  haben  damit  auch  die  Richtung  des  Nord- 
pols." Bastal  Das  permokarbone  Glazial  Süd- 
afrikas wird  mit  den  ganz  anders  gelagerten 
Klimaverhältnissen  bei  Ausgang  des  Perms  zu 
einem  einheitlichen  Bild  verschmolzen. 

Wenn  übrigens   die  Hauptverschiebungen  und 


N.  F.  XX-  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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Zerreißungen  erst  im  Tertiär  stattfanden,  so  er- 
hält man  für  den  unendlich  überwiegenden  Zeit- 
anteil der  Erdgeschichte  ein  merkwürdig  zusam- 
mengeballtes Einheitsland  aus  allen  heutigen 
Kontinenten,  dem  im  übrigen  ein  einziger  Riesen- 
ozean gegenübergestanden  haben  müßte.  Die 
sehr  interessanten  kartographischen  Rekonstruk- 
tionen Wegeners  (die  übrigens  in  den  ver- 
schiedenen Fassungen  auch  eine  erstaunliche 
Bildsamkeit  verraten,  vgl.  Abb.  2  u.  3),  zeigen 
das  ja  in  folgerichtigster  Weise.  Ein  Ausgleich 
findet  allerdings  durch  Ausplätten  der  in  Gebirgs- 
faltungen  sich  kundtuenden  Schrumpfungen  der 
verschiedenen  Perioden  statt.  Nur  werden  damit 
die  bekannten  geologischen  Transgressionen  fast 
noch  unbegreiflicher.  Darüber  hinaus  muß  aber 
die  Gesamtheit  der  Erdkruste  auf  ein  gutes  Drittel 
der  heutigen  Mächtigkeit  (30  km  statt  100)  aus- 
gewalzt werden,  um  der  Schwierigkeit  zu  ent- 
gehen, daß  das  Sial  nur  sehr  beschränkte  ursprüng- 
liche Verbreitung  auf  der  Erdoberfläche  gehabt 
hätte.  Es  heißt  ganz  kategorisch  und  sehr  ein- 
fach sogar:  „Zu  irgendeiner  Zeit  hat  die  litho- 
sphärische*)  Haut  den  ganzen  Erdball  bedeckt"! 
Die  nötigen  Zeugen  sind  in  der  Literatur  schnell 
zur  Hand.  Selbst  dann  bleibt  aber  für  die  Kar- 
bonzeit ein  Erdbild  übrig,  das  bei  solchem  Aus- 
gangspunkt in  der  Landzusammenballung  fast  als 
Endstadium  erscheint  (Abb.  4).  Die  späteren 
Zerreißungen  bedeuten  danach  unstreitig  eine 
Lockerung,  die  mit  den  bis  dahin  anzunehmenden 
Veränderungen  der  Tendenz  nach  im  Widerstreit 
steht.  '^) 

Es  war  hier  nicht  beabsichtigt,  den  Inhalt  des 
sehr    vielseitigen     und     interessanten     Büchleins 


wiederzugeben.  Auch  soll  keineswegs  verschwiegen 
oder  geleugnet  werden,  daß  der  Verf  auf  viele 
wunde     Stellen     geologisch  -  geographischer     An- 


')  Gemeint  ist  wieder  nicht  die  ganze  Lithosphäre  ein- 
schliefllich  des  Sima,  sondern  nur  das  Sial. 

^)  Während  der  Drucklegung  ging  der  Scbriftleitung  zu 
eine  Schrift  von  Dr.  N.  Wing  Easton:  On  some  extensions 
of  Wegeners  Hypotheses  and  their  bearing  upon  the  me- 
aning  of  the  terms  Geosynclines  and  Isostasy  (Verhandel. 
geolog.  mijnbomokund.  genootschap  voor  Nederland  en  Ko- 
lonien. Geol.  ser.  Teil  V,  S.  113—133-  s'Gravenhage  1921). 
Verf.  wäre  „überrascht,  wenn  irgend  jemand  leugnen 
könnte,  daß  die  geologischen  Züge  einfacher  und  vor  allem 
rationaler  zu  erklären  wären,  wenn  das  Festland  nicht  als 
an  seinem  heutigen  Platze  gebildet  vorgestellt  würde,  sondern 
als  zusammengesetzt  aus  einem  Mosaik  kleiner  und 
großer  Teilstücke,  die  zu  verschiedenen  Zeiten  hinzu- 
getrieben kamen".  Das  ist  ungefähr  das  Gegenteil  der 
Wegn ersehen  Auflockerung,  aber  auf  der  gleichen  Grund- 
lage treibender  oder  gedrängter  schwimmender  Sial-SchoUen. 
Die  Ableitung  des  geologischen  Baus  aus  der  Karte  und 
Morphologie  ist  hier  bis  zur  Verzerrung  getrieben  (das  Ober- 
rheintal als  „noch  sichtbare"  Narbe  derart  verschmolzener 
Einzelschollen !  I) 

Die  zweite  Hauptthese  behauptet,  daß  alle  Sial-Schollen 
von  der  Umgebung  des  Südpols  nach  der  Nordhalbkugel  ge- 
schwommen seien.  Die  südlichen  sind  auf  diesem  Wege  zu- 
rückgeblieben, haben  infolgedessen  nicht  alle  die  gleichen 
Klimazonen  gequert.  Die  biologischen  und  paläoklimatischen 
Verhältnisse  der  Erde  werden  unter  diesen  neuen  Gesichts- 
punkten beleuchtet  und  „geklärt". 

Man  sieht,  auch  das  Papier  unserer  Landkarten  muß  zu- 
weilen Geduld  beweisen.  Auf  den  Inhalt  der  immerhin  inter- 
essanten Schrift  kann  in  diesem  Zusammenhange  nicht  einge- 
gangen werden. 


Abb.  3.     Der  voratlantische  Kontinentalblock, 
ältere  Darstellung   (nach  A.  Wegcner  1915). 


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Abb.  3,      Das   atlantische   Gebiet   im  Eozän   (ohne  Rücksicht 

auf  Wasserbedeckung)  neue  Darstellung 
(nach  A.  Wegener  „Die  Wissenschaft"  Bd.  66,  S.  67,  Fig.  24). 


686 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


schauungen  der  Gegenwart  den  Finger  legt, 
manches  Problem  erst  in  seiner  vollen  Schärfe 
herausarbeitet,  überraschende  Gesetzmäßigkeiten 
aufzeigt.  Alles  das  erforderte  weit  größeren  Raum. 
Worum  es  mir  einzig  zu  tun  war,  ist  der  Hinweis, 
daß  aus  dem  Dilemma  durch  die  Hypothesen 
Wegeners  nicht  herausgeholfen  wird,  daß  sie 
uns  vielmehr  um  eine  schier  unerträgliche  Fülle 
von  Unbegreiflichkeiten  bereichern,  daß  vor  allem 
die  Methode  der  Darstellung  der  ungeheueren 
Schwere  aller  der  Probleme  nicht  gerecht  wird. 
So  unendlich  viel  zu  allen  weiteren  Ausführungen 
des  Verfs.  zu  sagen  wäre,  über  die  hier  heraus- 
gegrififenen  Schwierigkeiten  vermag  ich  nicht  hin- 
weg zu  weiterer  Diskussion  zu  gelangen.  Auch 
die  neue,  ausführlicher  begründete  P'assung  der 
eigenartigen  Lehre  verhilft  mir  persönlich  nicht 
zum  Verständnis  des  unleugbar  tiefen  Eindrucks, 
den  sie  in  der  wissenschaftlichen  Literatur  zu  ver- 
zeichnen gehabt  hat.  Ich  erblicke  in  der  so 
starken  Beachtung  vielmehr  einen  Beweis  von 
ungewöhnlicher  Hilf-  und  Ratlosigkeit  gegenüber 
den  Sphinxrätseln,  die  uns  die  Erde  in  ver- 
schwenderischer Fülle  stellt. 


Abb.  4.     Lagebeziehung  der  Erdteile  im  Karbon 
Wasserbedeckung)   (nach  A.  Wegener  „Die  Wissenschaft' 

Da  kann  es  einem  gesunden  Gleichgewicht  nur 
dienlich  sein,  wenn  ein  gleich  starker  Impuls  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  gleichzeitig  wirkt.  Schon 
von  Anbeginn  an  spricht  Kober  gleichsam  eine 
andere  Sprache  als  Wegener,  die  eine  Verstän- 
digung auszuschließen  scheint:  „Wir  haben  gar 
keinen  Grund,  für  die  Böden  der  Ozeane  eine  andere 
Zusammensetzung  anzunehmen.  Die  Erdrinde  ist 
einheitlich  aufgebaut.  Wo  immer  Ozeane  empor- 
gewölbt wurden ,  finden  wir  die  Gesteine  des 
Sal."  (S.  14/15).  Ja  eine  geradezu  entgegenge- 
setzte Meinung  findet  sich  angedeutet:  Die  sog. 
Archäiden  als  Kern  der  Festlandsmassen  „sind 
zweifellos  dichter,  fester,  starrer  gebaut,  bestehen 
aus  schwereren  Gesteinen  als  die  orogenetischen 
Zonen,  besonders  die  jungen,  die  lockerer  gebaut 
sind."  Orogene  aber  sind  die  vielfach,  ja  meist 
vom  Ozean  bedeckten,  die  Kontinentalschollen 
umlaufenden  und  voneinander  trennenden  Gürtel, 


die  man  sonst  etwa  Geosynklinalen  nennt.  In 
ihnen  „ist  eine  mächtige  Schweresynklinale  ent- 
standen und  die  auf  das  Pendel  wirkende  simatische 
Zone  liegt  vom  Pendel  weiter  entfernt  als  unter 
den  starren  Massen"  (S.  277). 

Ich  unterstreiche  gleich  die  weiteren  Haupt- 
gegensätze :  „Die  Konstanz  der  Ozeane  ist  zweifel- 
los eine  große  und  es  kann  für  alle  Ozeane  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  angenommen  werden, 
daß  die  heutigen  Ozeane  eben  wieder  Geosyn- 
klinalen sind  auf  dem  Boden  der  älteren,  die  aber 
ausgepreßt  wurden.  .  .  .  Sie  sind  als  Geosynkli- 
nalen permanent,  nicht  direkt  als  Ozeane"  (S.  298). 
„Wie  zur  Zeit  die  Deszendenzlehre  keine  Hypo- 
these ,  keine  Theorie ,  sondern  eben  eine  Lehre 
ist,  da  alle  Tatsachen  für  sie  überzeugend  sprechen, 
so  ist  auch  die  Kontraktionslehre  keine  Hypo- 
these, keine  Theorie  mehr,  sondern  eine  auf  festen 
Tatsachen  aufgebaute  Lehre"  (S.  9.  Das  trifft 
doch  nur  für  die  in  den  Gebirgsfaltungen  offen- 
sichtliche Schrumpfung  zu,  nicht  für  die  von  Sueß 
aufgestellte  Kontraktionslehre !). 

Wer  ein  großes  Ziel  verfolgt,  kann  nicht  im- 
mer rechts  und  links  blicken,  jedem  Einwand  zu 
begegnen  oder  gar  alle  ein- 
schlägige Literatur  zu  berück- 
sichtigen versuchen,  muß  viel- 
mehr unter  Umständen  zu- 
nächst die  Hindernisse  durch- 
stoßen, um  sie  nachträglich, 
vom  gewonnenen  Standpunkte 
aus,  für  die  Nachkommenden 
zu  beseitigen.  Mir  liegen  also 
auch  bei  Kober  kleinliche 
Einwürfe  fern.  Bewunderns- 
würdig erscheint  vielmehr  die 
klare,  ungemein  knappe  und 
wuchtige  Sprache,  die  Groß- 
zügigkeit des  ganzen  Entwurfs 
in  hohem  Maße  anerkennens- 
wert die  Aufdeckung  einiger 
sehr  wichtiger  Gesetzmäßig- 
keiten. Dennoch  kann  ich  mich 
auch  in  diesem  Falle  dem  Eindruck  nicht  ver- 
schließen, daß  der  Urheber  der  neuen  Lehre  sich 
die  Gedankengänge  vielfach  zu  leicht  gemacht  hat. 
Man  kann  über  die  biogeographischen  Zu- 
sammenhänge zwischen  heut  getrennten  Erdteilen, 
derentwegen  so  viele  Kontinentalbrücken  versuchs- 
weise rekonstruiert  worden  sind,  nicht  einfach 
achtlos  vorbeigehen  und  den  Paläontologen  zu- 
rufen: „Da  sehet  Ihr  zu!''  Alles  was  Wegener 
an  Beweismitteln  für  seine  Synthese  gesammelt 
hat,  bedarf  der  Widerlegung,  mindestens  der  Er- 
wägung bei  einer  so  völlig  anderen  Form  zu 
sehen. 

Auch  dürfen  bekannte  geologische  Tatsachen 
nicht  einfach  außer  Betracht  bleiben,  wenn  sie 
unmittelbar  widersprechen,  bisherige  Vorstellungen 
nicht  der  Theorie  zuliebe  ohne  alle  Diskussion 
geradeswegs  in  ihr  Gegenteil  umgewandelt  werden. 
Das  allgemeine  Gesetz  des  Erdbaus  lautet  bei 


(ohne  Rücksicht  auf 
"  Bd.  66,  Fig.  23). 


N.  F,  XX.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


687 


Kober  (S.  248):  „Es  zeigt  sich  die  Erscheinung, 
daß  die  Kontinentalmassen  von  großen  allge- 
meinen Störungszonen  ringförmig  umgeben  wer- 
den. Die  innersten  Teile  der  Kontinentalmassen 
haben  relativ  ruhigen  Bau.  Gegen  den  orogenen 
Ring  zu  werden  die  Bewegungen  allgemeiner  und 
heftiger."  (Dabei  braucht  heute  nicht  mehr  be- 
tont zu  werden,  daß  Europa  geologisch  unmög- 
lich als  eigener  Kontinent  bewertet  werden  kann, 
sondern  natürlich  zur  Randzone  des  größeren 
asiatisch  russischen  gehört.) 

Nun  scheint  aber  geologisch  -  historisch  die 
Gliederung  doch  nicht  ganz  so  eindeutig:  Das 
Mittelmeer  als  einen  Restteil  des  heute  durch  die 
Alpenhebung  großenteils  trockenliegenden  größeren 
Geosynklinalgebiets  der  Tethys  anzusehen,  haben 
wir  uns  längst  gewöhnt.  Diese  trennt  Europa  und 
Afrika.  Aber  seit  Anbeginn  ?  Im  Perm  und  Bunt- 
sandstein schließen  sich  die  Küstenregionen  des 
heutigen  westlichen  Mittelmeeres  mit  bunten,  vor- 
wiegend roten  Konglomeraten  und  Sandsteinen 
durchaus  der  kontinentalen  Fazies  an.  Freilich 
zeigen  auch  Teile  des  Alpenkörpers  selbst  damals 
entsprechende  Züge,  während  im  übrigen  hier 
eine  marine  Vertretung  bekannt  ist,  das  Sedi- 
ment der  sich  bildenden  Geosynklinale.  Scharf 
ist  die  Grenze  im  Muschelkalk:  Durch  Sardinien 
und  Korsika  läuft  die  TrennungsUnie  in  NS- 
Richtung  (Tornquist):  östlich  davon  herrscht  al- 
pine, westlich  zwar  auch  marine,  aber  germanische 
Binnenmeerfazies.  Erst  im  Keuper  bricht  die 
Geosynklinale  hier  nach  Westen  zum  Antiantik 
durch,  um  seither  zum  herrschenden  Zug  und  zur 
Schranke  zwischen  Europa  und  Afrika  zu  werden, 
aus  der  der  vorwiegend  tertiäre  Faltenzug  der 
Alpiden  hervorwuchs.  Zum  mindesten  ist  also 
das  Bild,  das  Kober  entwirft,  seinerseits  erst 
allmählich  und  zwar  keineswegs  besonders  früh 
entstanden. 

In  einem  Versuch,  die  wechselnden  Umgren- 
zungen des  afrikanischen  Landblocks  in  den  ver- 
schiedenen Formationen  zu  rekonstruieren,  ^)  ge- 
langte ich  dazu,  die  Verbindung  eines  eigenartigen 
triassischen  Vorläufers  des  diluvial-rezenten  Kongo- 
beckens mit  dem  Außenmeere  entgegen  den 
heutigen  hydrographischen  Verhältnissen  über 
Abessynien  nach  Osten  zu  suchen.  Kober 
ändert  meinen  Kartenentwurf  in  dieser  Beziehung 
entscheidend  um  (S.  260)  und  zeichnet  ein  breites 
Tor  im  Westen  —  aus  keinem  anderen  Grunde, 
als  weil  sich  das  Bild  so  seinen  Voraussetzungen 
besser  anpaßt  I     Das  ist  unzulässig  zu  nennen. 

Auch  stimmt  das  Kartenbild  schlechterdings 
nicht  zu  der  es  einrahmenden  Behauptung:  „Je 
weiter  wir  in  die  Vergangenheit  zurückgehen, 
d.  h.  je  weiter  wir  von  der  orogenen  Phase  in 
die  geosynklinale  Phase  des  orogenen  Rings  zu- 
rückgehen, desto  geringer  wird  im  allgemeinen 
die  Reichweite  der  Transgression".     In   Ostafrika 


')  E,  Hennig,  Zur  Entwicklungsgeschichte  des  afrikani- 
schen Kontinents.     Petermanns  Milt.     Perthes-Gotha  1917. 


verhält  es  sich  ziemlich  genau  umgekehrt.  Ein- 
seitigkeit ist  dem  Pionier  erlaubt,  blind  darf  sie 
auch  ihn  nicht  machen!  Eine  „konzentrische  An- 
ordnung der  großen  tektonischen  und  morpho- 
logischen Züge"  des  afrikanischen  Kontinents,  die 
Kober  so  augenfällig  erscheint,  vermag  ich  auch 
bei  inniger  Versenkung  in  solche  Gedankengänge 
weder  aus  dem  geographischen  noch  geologischen 
Kartenbilde  herauszulesen. 

Andererseits  unterstreicht  Kober  durchaus 
meine  Bedenken  gegen  eine  allzu  hemmungslose 
Verbindung  Afrikas  und  Südamerikas  über  den 
atlantischen  Ozean  hin  für  beliebig  gewählte  For- 
mationen oder  gar  die  ganze  geologische  Ver- 
gangenheit. Diese  Bedenken  gelten  noch  verstärkt 
gegen  die  Art,  wie  Wegen  er  sich  jenen  Zu- 
sammenhang bis  ins  Tertiär  hinein  denkt.  Ledig- 
lich für  das  Senon  oder  Teile  desselben  und  aus- 
schließlich für  die  Nordwestecke  Afrikas  könnte 
ich  noch  den  Vorbehalt  einer  vorübergehenden 
Verbindung  gelten  lassen  und  damit  wäre  für  die 
zoogeographischen  Fragen  so  gut  wie  gar  nichts 
gewonnen.  Sind  doch  schon  für  das  Perm  neuer- 
dings nicht  nur  in  Deutsch-Südwestafrika,  sondern 
auch  für  Südamerika  Beweise  einer  trennenden 
Meeresschranke  im  südlichen  Atlantik  gefunden 
worden.  Von  Norden  her  macht  sich  das  Jura- 
meer bis  zu  den  Kapverden  bemerkbar,  Möglich- 
keiten, wenn  auch  einstweilen  sehr  vage ,  liegen 
selbst  für  Innerkamerun  vor.  Von  Süden  läßt 
sich  seit  Beginn  der  Mittelkreide  die  heutige 
Küstenlinie  bis  in  die  Guineabucht  hinein,  schon 
im  Turon  die  volle  Verbindung  quer  durch  die 
Sahara  nach  Nordafrika,  also  eine  unbe- 
schränkte Abtrennung  gegen  Westen 
nachweisen.  Im  Alttertiär  ist  der  mauretanische 
Block  im  Nordwesten  in  ungefähr  heutiger  Um- 
randung angeschweißt,  Afrika,  wie  wir  es  kennen, 
in  den  Hauptlinien  fertig.  Für  das  Wegener- 
sche  Weltbild  ist  da  noch  weniger  Raum  als  für 
dasjenige  Kobers.  Doch  das  nur  als  europanahe 
gelegene  Beispiele.  Die  Fülle  der  regionalen 
Einzelfragen  ist  unabsehbar,  die  durch  die  beiden 
Arbeiten  angeregt  worden  sind. 

An  Kontinentalkernen  unterscheidet  man  auf 
der  Kober  sehen  Karte  Eurasien,  Nordamerika 
mit  Grönland,  Südamerika,  Arabo- Afrika,  Indo- 
Australien, die  Antarktis  und  endlich  zwei  hypo- 
thetische im  nördlichen  und  südlichen  Pazifik 
völlig  versunkene  Schollen,  insgesamt  8,  zwischen 
denen  nun  in  ziemlich  gleicher  Breite  die  Geo- 
synklinal-  oder  Tropenzonen  sich  hinziehen.  Letz- 
tere entsprechen  bei  früher  größerem  Erdumfange 
breiteren  Meeresräumen.  Indem  die  Kontinente 
beim  Schrumpfungsprozeß  näher  zusammenrücken, 
wird  aus  jenen  Zonen  gelegentlich  ein  Gebirge 
über  den  Meeresspiegel  emporgepreßt  und  kann 
so  vorübergehend  zwei  benachbarte  Erdteile 
(„Kratogene")  miteinander  verschweißen.  Das 
wäre  z.  Z.  der  Fall  zwischen  Afrika  und  Europa, 
zwischen  Indien  und  Asien.  Da  selbstredend  bei 
solchen   Bewegungen   auch    die  Kontinente  nicht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


unberührt  bleiben  und  die  Wassermassen  hin-  und 
hergedrängt  werden,  gehen,  wie  das  schon  Haug 
in  seiner  Geosynklinaltheorie  (Abb.  5)  postuliert 
hatte,  mit  dem  Emportauchen  in  den  Zwischen- 
zonen Transgressionen  auf  den  Kontinenten,  zumal 
in  ihren  Randzonen  einher.  So  ist  der  größere 
Teil  Indoaustraliens  z.  Z.  vom  Indischen  Ozean 
bedeckt,  die  beiden  auch  schon  von  anderen  (wenig- 
stens als  einheitliche  Masse)  vorausgesetzten  pazi- 
fischen Schollen  machen  sich  gegenwärtig  im  Ober- 
flächenbilde überhaupt  nicht  bemerkbar. 

Wie  in  diesen  letzten  Fällen,  werden  auch 
sonst  recht  bemerkenswerte  Abwandlungen  an 
früheren  Hypothesen  vorgenommen.  Für  sehr 
glücklich  möchte  ich  beispielsweise  die  Verlegung 
der  den  Ostrand  Afrikas  begleitenden  Geosynkli- 
nale  aus  der  Straße  von  Mozambique  weiter  öst- 
lich in  die  Fortsetzung  des  Omangebirges  über 
die  Inselgruppen  des  Indischen  Ozean  hinweg 
halten. 


Abb.  j_     Geosynklinalen  des  Mesozoikums  (nach  Ha 


Ungleich  bedeutsamer  aber  sind  Nachweise 
von  Gesetzmäßigkeiten  in  den  uns  zugänglichen 
und  bekannten  Regionen  der  Erdoberfläche.  Allem 
voran  der  Hinweis  darauf,  daß  die  Bewegungs- 
richtung der  Falten-  und  Überschiebungsmassen 
in  den  Kettengebirgen  jeweils  aus  den  Geosyn- 
klinalen fort  nach  beiden  Seiten  auf  die  ein- 
zwängenden Kontinentalmassen  hinauf  zielt.  Was 
in  den  Alpen  als  Dinariden  infolge  der  abweichen- 
den Südrichtung  seit  langem  ein  ungelöster  „Rest 
zu  tragen  peinlich",  eine  nicht  befriedigend  ver- 
standene Ausnahme  war,  wird  in  dieser  Dar- 
stellung zur  Norm.  Nur  daß  die  beiden  nach 
außen  gekehrten  Bewegungsmassen  nicht  immer 
so  innig  verschmolzen  sind,  sondern  häufig  weniger 
intensiv  gefaltete  Zentralregionen  zwischen  sich 
einschließen.  Somit  wäre  der  Himalaya  nicht  die 
den  Alpen,  sondern  den  Dinariden  entsprechende 
Fortsetzung.      Die   K  o  b  e  r  sehe   Karte   gibt   hier 


wahrhaft  überraschende  Aufklärungen  und  An- 
regungen, die  seiner  Gesamtdarstellung  in  der  Tat 
ein  festeres  Postament  liefern. 

Ähnliches  wird  nämlich  auch  für  die  fossilen 
Kettengebirge  aufgewiesen,  die  sich  also  dem  Ge- 
samtbilde viel  besser  einfügen  als  das  bei  Wegen  er 
der  Fall  war.  Der  Gneißuntergrund  erscheint  ja 
auf  der  ganzen  Erde  gefaltet.  K  o  b  e  r  spricht 
von  Archäiden,  die  präkambrisch  gefaltet,  dann 
aber  während  der  ganzen  späteren  Erdgeschichte 
starr  geblieben  sind,  also  die  Urkerne  der  Kon- 
tinentalschollen geliefert  haben.  Alle  jüngeren 
Überdeckungen  haben  in  flacher  ungestörter  Lage- 
rung verharrt,  allen  späteren  Bewegungen  der 
Erdkruste  widerstanden. 

Vielmehr  haben  sich  nunmehr  die  jüngeren 
Gebirgsfalten  in  der  besprochenen  Weise  auf  sie 
zu  bewegt,  sind  gleichsam  randlich  von  allen 
Seiten  hinaufgequollen.  Das  gilt  für  die  devo- 
nischen „Kaledoniden"  im  äußersten  Nordwesten 
Europas  für  das  varistische,  „zentral- 
europäische" Karbongebirge,  den  Ural 
u.  a.  m.  Alle  diese  paläozoischen 
Systeme  werden  trotz  der  im  einzelnen 
nicht  unbedeutenden  Altersunterschiede 
nicht  mit  Unrecht  zu  einer  Einheit,  den 
„Paläoiden"  zusammengefaßt.  Zwi- 
schen Archäiden  und  Paläoiden  ver- 
mitteln noch  die  sog.  Proteroiden,  wie 
sie  beispielsweise  in  Finnland  und 
Sibirien  sich  im  jüngeren  Präkambrium 
noch  abtrennen  lassen. 

Die  Wirkung  war,  daß  aus  ersten 
erstarrten  Kernen  durch  Anschweißung 
immer  neuer,  randlicher  Gebirgsmassen 
jene  Kontinentalmassen  erwuchsen,  die 
nun  ihrerseits  ersichtlich  auf  ein  Zu- 
sammenwachsen hinstreben.  Ein  groß- 
zügig ■  einheitliches  Bild  vom  Bau  und 
Werdegang  des  Erdganzen,  das  Be- 
achtung verlangt.  Aber  in  fast  allem 
das  diametrale  Gegenteil  des  Wegen  er- 
sehen Weltbildes  I 
Will  man  aus  des  letzteren  Vorstellungskreis 
ein  Hauptargument  gegen  die  Grundanschauungen 
K  o  b  e  r  s  herauswählen,  so  wird  es  zunächst  in  dem 
Einwand  zu  suchen  sein,  der  gegen  die  Kontraktions- 
theorie überhaupt  sich  immer  stärker  geltend  ge- 
macht hat:  Die  „Erdhaut"  (Ampferer),  das 
schrumpfende  Kugelgewölbe  wäre  theoretisch  viel 
zu  schwach,  um  den  vermeintlichen  Kontraktions- 
druck auch  nur  in  Einzelteilen,  alten  Tafelmassen 
Widerstand  leisten  zu  können.  Stellen  wir  aber 
dennoch  solche  Widerstandsfähigkeit  gegen  seit- 
liche Pressung  für  größere  Erdteile  fest  —  und 
Cloos  ist  anscheinend  auf  dem  besten  Wege  uns 
die  Einzelheiten  des  Verfestigungsprozesses  empi- 
risch zu  enthüllen!  —  so  wird  sichwie  vor  allem 
an  Ampferers  Gegenlehre  zur  Kontraktions- 
theorie von  Sueß  auch  noch  manches  recht 
durchgreifend  ändern  müssen. 

Daß     grundlegende     Neuerungen     nicht     im 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


689 


ersten  Entwurf  in  allen  Einzelheiten  das  Richtige 
treffen  können,  ist  nur  selbstverständlich  und 
nimmt  ihnen  nichts  von  ihrem  Verdienst  um  den 
Ausbau  unseres  Wissens  und  Denkens.  Es  ist 
nicht  dem  Schöpfer  der  Hypothesen  zur  Last  zu 
legen,   wenn   ihre  Meinungen  fälschHch  und  vor- 


eilig als  fester  Ankergrund  der  Wissenschaft  an- 
gesehen werden.  Zu  zeigen,  wie  sehr  wir  in 
all  den  hier  berührten  Fragen  im  Zustande  des 
Tastens,  eines  freilich  erfreulich  intensiven  Suchens 
stecken,  war  der  Zweck  der  Ausführungen. 


Einzelberichte. 


Zur  Bedeutung  und  Technik  der  Reinkultur 
für  die  Systematik  und  Floristik  der  Algen 

liefert  F.  v.  Wettstein  in  der  österr.  Botan. 
Zeitschr.  70,  1921,  S.  23 — 29  einen  kurzen  Beitrag. 
Bisher  vorwiegend  für  ernährungsphysiologische 
Versuche  benutzt,  wurde  die  Reinkultur  erst  durch 
Chodat  und  seine  Schüler  für  die  Systematik 
schwieriger  Algengruppen  eingeführt.  Die  Me- 
thoden der  Reinkultur  sind  besonders  für  die  Be- 
obachtung der  Variationsweite  und  Entwicklungs- 
geschichte einer  Art  usw.  von  großer  Wichtigkeit. 
Eine  genügende  Methodik  muß  nach  Wettstein 
folgenden  drei  Anforderungen  entsprechen :  „Sie 
muß  erstens  durch  Anreicherung  gerade  jener 
selteneren  oder  leicht  übersehbaren  Arten  uns  auf 
diese  aufmerksam  machen,  und  zweitens  muß  sie 
jene  Entwicklungsstadien,  die  nicht  ohne  weiteres 
klassifizierbar  sind,  kontrollierbar  in  solche  über- 
führen ,  die  eine  Klassifizierung  ermöglichen. 
Drittens  muß  die  Methode  so  ausgearbeitet  wer- 
den, daß  mit  ihr  unter  Umgehung  der  Fixierung 
direkt  am  Standort  gearbeitet  werden  kann  und 
daß  doch  relativ  viele  Formen  beobachtet  werden 
können  ohne  die  Apparatur  ins  Ungemessene  zu 
vergrößern."  Für  eine  ganze  Anzahl  von  Süß- 
wasseralgen ist  die  Zuchtmöglichkeit  bereits  er- 
wiesen. Am  besten  wurden  die  Schizophyceen, 
Diatomeen,  Desmidiaceen  und  Protococcaceen  be- 
arbeitet, während  die  Flagellaten  und  Chlamy- 
domonadaceen  nur  ganz  wenig  oder  gar  nicht  in 
dieser  Hinsicht  untersucht  wurden.  Immerhin 
wurden  schon  von  Cryptomonas  ovata  schöne  Rein- 
kulturen —  wenn  auch  noch  nicht  ganz  von  Bak- 
terien frei  —  erhalten,  auch  Uroglena  volvox. 
Synura  uvella  u.  a.  konnten  schon  gut  kultiviert 
werden.  Von  Euglenen  gedeihen  Phacus  und 
Euglenaarten ,  besonders  Euglena  gracilis  Klebs 
am  besten.  Alle  diese  Formen  lassen  sich  gut 
auf  Torfagar  züchten.  Chlamydomonaden  ge- 
deihen am  besten  in  der  sog.  Ben  ecke -Lösung, 
welche  zu  Agar  verarbeitet,  auch  gut  für  die 
Volvocales  verwendet  werden  kann.  Ebenso  ge- 
deihen auch  Euastrum,  Micrasterias  u.  a.  Desmi- 
diaceen gut  auf  Torfagar.  Der  B  e  n  e  c  k  e  -  Agar 
ist  nach  v.  Wettstein  ein  ausgezeichneter  Nähr- 
boden zur  Anreicherung  von  Schizophyten,  Proto- 
coccales  und  Tetrasporales.  Große  Diatomeen  wie 
Pinnularia  u.  a.  wachsen  auf  dem  Torfagar  sehr 
üppig.  Die  Kulturen  werden  in  folgender  Weise 
hergestellt.     Die   Algen    werden    in    sehr   dünner 


Schicht  auf  eine  dünne  Agarplatte  gegossen,  von 
welcher  nach  ca.  10 — 15  Tagen  entwickelte  Kolo- 
nien in  Reagenzröhrchen  mit  demselben  Agar 
abgeimpft  werden  können.  Ergibt  sich  selbst  bei 
dünner  Aussaat  keine  genügende  Reinheit,  so  ist 
das  Impfverfahren  wie  üblich  zu  wiederholen. 
Diese  Reinkulturen  enthalten  fast  stets  noch  Bak- 
terien, genügen  jedoch  dem  Systematiker,  der  oft 
schon  die  erste  Plattenkultur  wird  verwenden 
können.  Bei  Chlorella,  Chlamydomonas,  Scenedes- 
mus  u.  a.  führt  nur  diese  Kulturmethode  zu  be- 
friedigenden Resultaten.  Die  einzelnen  Arten  usw. 
sind  oft  schon  durch  die  Anordnung  der  Kolonien 
in  den  Kulturen  zu  unterscheiden,  solange  diese 
nicht  zu  schnell  und  üppig  zugleich  wachsen. 

Für     die    Nährlösungen     resp.    Agarbereitung 
werden  folgende  Vorschriften  angegeben : 


;ke-Lösung:      NH^NOg 

0,2  g 

CaCI., 

0,1 

KjHPO, 

0,1 

MgSO, 

0,1 

I  "/o  Lösung  von  Fe„C)g 

I  Tropfen 

H3O  dest. 

1000  g 

Summe  der  mineral.  Bestandteile:  0,5  g  od.  0,05  "/„ 

Diese  Lösung  kann  nach  Zusatz  von  10  g  sehr 
gut  ausgewaschenem  Agar  zum  Gießen  von  Platten 
verwendet  werden.     Als 


2.  Lösung  wird  empfohlen: 

A.:  (NH,)3P04 

0,2  g 

MgSO, 

0,05 

CaSO, 

0,05 

K.HPO, 

0,05 

I  "/o  Lösung  von  FeaCI« 

I   Tropfen 

H^O  dest. 

1000  g 

Summe  der  mineral.  Substanz:  0,4  g  oder  0,04  "/o 

B. :  250  g  Torf  werden  mehrere  Stunden  aus- 
gekocht in  1000  g  dest.  Wasser,  die  dunkelbraune 
Flüssigkeit  filtriert  und  verdünnt  bis  eine  hell- 
braune Färbung  erreicht  ist.  Darauf  werden  A 
und  B  vermischt  und  ein  i  proz.  Agar  hergestellt. 
Für  größere  Algen  wie  Micrasterias,  Pinnularia 
u.  a.  sind  —  obgleich  die  Gallerte  kaum  noch 
erstarrt  —  Konzentrationen  von  0,2 — 0,5  %  ^"^ 
geeignetsten.  Die  Kulturen  sind  gutem  Licht, 
aber  nicht  direktem  Sonnenlicht  auszusetzen.  Da 
die  Nährböden  leicht  transportabel  sind,  können 
die  Plattenaufgüsse  bei  Exkursionen  gleich  am 
Standort  vorgenommen  werden,  ein  Verfahren, 
das   besonders    für    zarte    Formen,    welche   selbst 


690 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


bei  sorgfältiger  Fixierung  +  leiden,  zu  empfehlen 
ist.  Schließlich  erwähnt  der  Verf.,  daß  es  ihm 
gelang,  selbst  von  schon  in  Fäulnis  übergegange- 
nem Material  noch  gute  Kulturen  zu  erhalten  und 
verspricht  weitere  Mitteilungen  über  den  Torfagar 
und  die  mit  ihm  gesammelten  Erfahrungen  folgen 
zu  lassen.  O.  C.  S. 

Znr  Kenntnis  der  Höhlenfanna. 

Komarek^)  berichtet  über  seine  Studien  an 
^on  dem  verstorbenen  Dr.  A  b  s  o  1  o  n  gesammelten 
Karsthöhlen  Trikladen.  Genau  beschreibt  er  das 
Äußere  und  die  Anatomie  einer  neuen  Art  und 
Gattung,  Geopaludicola  absoloni,  aus  Zentral- 
dalmatien,  die  landbewohnend,  aber  fast  ganz  von 
der  Organisation  einer  Süßwassertriklade  ist,  wes- 
halb er  sie  als  missing  link  bezeichnet :  Paludi- 
kolen  ->  Geopaludicola  ->  Rhynchodesmus  -> 
Geoplana.  Fundort:  Höhle  Golubinka  in  1200  m 
Höhe,  unter  Steinen.  Ferner  drei  neue  und  meh- 
rere schon  bekannte  Süßwasserplanarien :  Dendro- 
coelum  subterraneum  nov.  spec,  blind  und  milch- 
weiß, Sorocelopsis  decemoculata  nov.  gen.  nov. 
spec,  milchweiß  und  zehnäugig,  und  Planaria  illy- 
rica  nov.  spec.  Letztere  ist  ein  in  Gesellschaft 
subterraner  Formen  gefundenes  Oberflächentier. 
PI.  montenegrina  Mrazek,  sonst  Oberflächentier,  ist 
in  der  tiefen  Höhle  Golubnjaca  in  Zentral- 
dalmatien  bereits  milchweiß  und  mit  fast  degene- 
rierten Augen,  PI.  anophthalma  Mrazek  gleich- 
falls weiß  und  blind,  also  wohl  schon  seit  längerer 
Zeit  höhlenbewohnend.  Letztere  beiden  sind 
polypharyngische  Rassen  der  Planaria  alpina  und 
konnten,  da  diese  und  ihre  südeuropäischen  Rassen 
als  Glazialrelikt  gelten,  „erst  nach  dem  Diluvium 
die  Karsthöhlen  besiedeln"  oder  —  einige  Zeilen 
später  —  „frühestens  im  Diluvium".  -)  Viel 
später  kann  auch  die  höhlenangepaßte  monte- 
negrina nicht  eingedrungen  sein,  da  die  Höhle 
sehr  tief,  ohne  Wasserkommunikation  mit  der 
Oberfläche,  und  dieselbe  Art  an  der  Oberfläche 
dort  nicht  vorkommt.  Mit  anderen  Worten :  Die 
seit  der  Eiszeit  verstrichene  Zeit  genügt  zum 
Augenverlust,  etwas  kürzere  Zeit  hat  dafür  nicht 
hingereicht.  —  Das  subterrane  Leben  hat  bei  den 
Tieren  allgemein  auf  die  innere  Körperorganisation 
konservierende  Wirkung  und  verursacht  bloß 
Adaptations-  und  Degenerationsänderungen,  wie 
Verlust  der  Flügel,  des  Pigments,  der  Augen, 
Verlängerung  der  Antennen,  der  Beine. 

Sorgfältige  Kleinarbeit,  wie  diese,  mit  immer- 
hin verhältnismäßig  ansprechenden  Ergebnissen, 
ist  die  Höhlenfaunistik  meist.  Im  folgenden  aber 
können  noch  Ergebnisse  eines  Schweizer  Höhlen- 
forschers mitgeteilt  werden,  die  nicht  wenig  Über- 
raschendes an  sich  haben. 


Th.  Delachaux')  beschreibt  eine  neue. Art 
aus  der  bisher  lebend  nur  aus  Australien,  Tas- 
manien, Prag  (1880)  und  Basel  (191 3)  bekannten, 
sonst  paläozoischen  Krebsgruppe  der  Syncarida 
oder  Anomostraca,  die  zwischen  Ringel-  und 
eigentlichen  Krebsen  vermitteln  durch  den  arthro- 
strakenähnlich  geringelten  Körper  mit  7  oder  gar 
8  freien  Brustsegmenten  ohne  Schale,  doch  thora- 
kostrakenartige  spaltfüßige  Brustbeine,  einen 
Schwanzfächer  (Telson),  Stielaugen  und  in  der 
Basis  der  i.  Antenne  liegende  Statozysten.  Das 
von  Chappuis  und  dem  Verf.  in  der  Grotte  de 
Ver  zwischen  Boudry  und  Champ  -  du-Moulin  bei 
Neuchätel  gefundene  I  mm  lange  Tierchen  gehört 
zu  der  europäischen  Gattung  Bathynella,  erwies 
sich  aber  als  eine  andere  Art  als  die  von  Chap- 
puis bei  Basel  —  wo  der  Fundort,  ein  Brunnen, 
jetzt  leider  zerstört  ist  —  gefundene  Bathynella 
natans;  sie  wurde  Bathynella  chappuisi  benannt 
und,  wie  ein  Nachwort  besagt,  inzwischen  von 
Kuenzi  auch  15  km  entfernt  von  Bern  ge- 
funden, in  einem  planktonreichen  Tagesgewässer 
in  einem  einzigen,  dorthin  wohl  aus  unterirdischen 
Höhlen  verirrten  Stück.  Demnach  trennt  der 
Schweizer  Jura  die  beiden  Arten,  über  deren 
Unterschiede  eine  Tabelle  am  Schluß  der  genauen 
äußeren  und  anatomischen  Beschreibung  Auf- 
schluß gibt.  Bathynella  chappuisi  hat  von  beiden, 
wie  Verf.  meint,  die  primitiveren  Charaktere;  sie 
hat  gestreckteren  Körper  und  Kopf,  längere  Beine, 
Antennen,  Borsten-  und  Kiemenanhänge,  zahl- 
reichere Borsten,  gleichmäßigere  Telsonborsten, 
länglicheres  Herz,  weniger  rückgebildetes  Nerven- 
system; weniger  stark  umgestaltet  ist  der  als 
Kopulationsorgan  dienende  achte  Thorakelfuß. 

An  demselben  Fundort  fand  der  Verf.  191 9 
ein  noch  merkwürdigeres  Tier,  -)  einen  kleinen, 
0,5  mm  langen  blaßgelben  Polychäten.  Bisher 
sind  ja  die  Polychäten  oder  vielborstigen  Ringel- 
würmer ganz  marin,  außer  ganz  vereinzelten  Süß- 
wasserarten, wie  ein  Protodrilus,  also  ein  sog. 
Urannelide,  noch  nicht  eigentlicher  Borstenwurm, 
vielmehr  mit  Larvencharakteren,  auf  Madeira,  und 
Halicryptus,  ein  Priapulide,  also  eigentlich  nicht 
mehr  Ringelwurm,  in  der  stark  ausgesüßten  russi- 
schen Ostsee.  Das  neue  Würmchen,  Troglo- 
chaetus  beranecki,  blind,  mit  riesigem  Keulen- 
fühler, hat  nach  der  Abbildung  offenbar  die  für 
alle  höheren  Polychäten  kennzeichnende  Ver- 
wachsung des  Metastomiums  mit  dem  ersten 
Rumpfsegment,  ebenso  nach  Abbildung  und  Be- 
schreibung deren  borstenbesetzte  zweiästige  Para- 
podien  (Beine),  doch  nur  7  Paar.  Kiemen  fehlen, 
Nervensystem  —  außer  dem  durch  den  verkürzten 
Körper  ziemlich  groß  erscheinenden  Gehirngang- 
lion —  anscheinend   noch   ganz  in  der  Oberhaut 


')  Komarek,  Über  höhlenbewohnende  Trikladen  der 
balkanischen  Rarste.  Archiv  für  Hydrobiologie  Band  XII, 
1920,  S.  822—828. 

*)  Aber  wer  weiß  denn  genau ,  wo  Planaria  alpina  vor 
der  Eiszeit  lebte?     F. 


')Th.  Delachaux,  Bathynella  chappuisi  nov.  spec, 
une  nouvelle  espece  de  crustace  cavernicole.  Bull,  de  la  Soc. 
neuchät.  des  scienc.  natur.  Bd.  44,   1919,  S.  237 — 258. 

")  Th.  Delachaux,  Un  Polychete  d'eau  douce  caver- 
nicole, Troglochaetum  beranecki  nov.  gen.  nov.  spec.  Bull, 
de  la  Soc.  neuchät.  des  scienc.  Bd.  45,  1921,  7  S. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


691 


gelegen,  Darmkanal  mit  ventral  liegendem  Mund 
beginnend,  gestreckt,  innen  überall  bewimpert; 
Nephridien  waren  zunächst  nicht  auffindbar,  doch 
schreibt  mir  der  Verf.,  daß  er  solche  und  zwar 
ein  Hauptpaar  zwischen  dem  1.  und  2.  Para- 
podienpaar  seither  hat  finden  können,  ebenso  im 
Kopf  ein  Paar  Statozysten.  Auf  der  unteren 
Oberfläche  ist  auch  der  Kopf  vom  Vorderende 
bis  zum  Mund  und  eine  Stelle  am  ersten  Bein- 
paar bewimpert,  und  es  erstreckt  sich  vom  Mund 
die  ganze  Bauchseite  entlang  eine  bewimperte 
Rinne.  Das  Würmchen  mag  am  ehesten  mit 
Euniziden  und  Nereidiformes  verwandt  sein,  er- 
scheint aber  —  was  bei  Höhlentieren  selten  — 
stark  vereinfacht  und  mehr  oder  weniger  larven- 
artig, letzteres  ist  wohl  nicht  zum  wenigsten  auch 
auf  die  äußere  Bewimperung  zu  beziehen,  die  an 
Larven  und  Protodrilus  entfernt  erinnert,  während 
sonst  erwachsenen  Anneliden  Wimpern  fehlen. 
Phylogenetisch  betrachtet,  mag  Troglochaetus  eine 
teils  altertümliche,  teils  rückgebildete  Form  sein. 
Schon  Bathynella  erscheint  durch  das  hohe 
Alter  ihrer  Familie  und  seine  Zartheit,  die  kaum 
eine  Ansiedlung  in  erst  später  Zeit  anzunehmen 
gestattet,  als  ein  dortiger  bereits  präglazialer 
Höhlenbewohner,  und  Troglochaetus  bestätigt 
gleichfalls  die  Annahme  der  Existenz  einer  solchen 
„präglazialen  Höhlenfauna". 

V.  Franz,  Jena. 

Ein  Botanischer  Garten  mit  Naturscliutz- 
gebiet. 

Eine  ganz  neue  Art  von  botanischen  Gärten 
ist  kürzlich  in  Schweden  entstanden.  In  Stora 
Anggärden  bei  Göteborg  ist  nämlich  unter  Leitung 
von  Prof.  Carl  Skottsberg  ein  Garten  ange- 
legt worden,  der  mit  einem  Naturschutzge- 
biet verbunden  wurde.  Da  diese  Kombination 
in  Europa  die  einzige  ihrer  Art  ist,  dürften  einige 
Angaben  darüber  erwünscht  sein.  (Vgl.  C.  S  k  0 1 1  s - 
berg:  En  ny  botanisk  trädgärd.  Finsk  Tidskrift. 
Helsingfors  1920.  —  Ders. :  Stora  Änggärdens 
naturpark  i  Göteborg.  Sveriges  Natur.  Stock- 
holm   1920.) 

Schon  1912  wurde  in  Göteborg  die  Schaffung 
eines  botanischen  Gartens  angeregt,  und  im 
folgenden  Jahre  wurden  die  nötigen  Mittel  hier- 
zu bewilligt.  Auf  Ansuchen  der  Stadt  wählte 
Prof.  R.  Sernander  aus  Uppsala  ein  für  die 
Anlage  geeignetes  Gelände  bei  Stora  Änggarden 
in  der  südwestlichen  Ecke  der  Stadt  aus,  und  als 
tatkräftiger  Vertreter  des  Naturschutzes  in  Schweden 
benutzte  er  die  Gelegenheit,  dort  gleichzeitig  die 
ursprüngliche  Natur  zu  retten,  indem  er  die  Stadt 
veranlagte,  in  Verbindung  mit  dem  botanischen 
Garten  ein  Naturschutzgebiet  unter  wissenschaft- 
licher Aufsicht  einzurichten. 

Der  botanische  Garten  umfaßt  insgesamt  37  ha 
und  ist  von  einer  2,3  m  hohen  Einfriedigung  um- 
geben. Das  Gebiet  ist  landschaftlich  schön  und 
abwechslungsreich;    es    hat    Berge,    Wälder    und 


Täler,  und  ein  kleiner  Bach  windet  sich  hindurch. 
Es  ist  ein  Stück  unberührter  Natur,  wo  man,  wie 
Skottsberg  sagt,  nicht  nur  glaubt,  in  der 
Wildnis  zu  sein,  sondern  wo  man  tatsächlich  in 
der  Wildnis  ist.  Leider  reicht  der  Garten  nicht 
bis  zum  Meer,  weshalb  die  für  die  Westküste 
Schwedens  so  bezeichnende  Strandflora  ausge- 
schlossen ist.  Diesem  Mangel  könnte  aber  abge- 
holfen werden,  wenn  ein  Teil  der  Insel  Särö,  der 
schon  früher  als  Naturschutzgebiet  vorgeschlagen 
wurde,  tatsächlich  geschützt  würde.  Im  übrigen 
ist  das  Gelände  des  Gartens  so  mannigfaltig,  daß 
eine  große  Anzahl  verschiedener  Pflanzengemein- 
schaften dort  Platz  findet. 

Das  Naturschutzgebiet  soll  ein  treues  Natur- 
und  Landschaftsbild  der  Umgegend  Göteborgs 
bewahren,  so  wie  sie  früher  war.  Vor  seiner  Er- 
öffnung war  das  Gebiet  drei  Jahre  lang  einge- 
hegt und  jedeTn  der  Zutritt  verboten,  was  einen 
günstigen  Einfluß  auf  die  Vegetation  ausgeübt 
hat.  Dennoch  ist  die  Natur  leider  nicht  ganz 
ursprünglich,  da  ja  Menschen  früher  hier  tätig 
gewesen  sind  und  sie  beeinflußt  haben. 

Am  2.  Mai  1919  öffnete  dieser  „Naturpark" 
seine  Pforten  für  das  Publikum.  Er  ist  geschützt 
nach  denselben  Regeln  wie  andere  Naturschutz- 
gebiete Schwedens.  Es  ist  der  Bevölkerung  der 
Stadt  erlaubt,  dort  zu  wandern,  aber  nicht  nach 
Belieben,  da  sonst  seine  Eigenart  dadurch  beein- 
trächtigt werden  würde.  Man  hat  deshalb  ein 
anderes  System  gewählt.  Der  Park  ist  von  einer 
großen  Anzahl  nur  i  bis  2  m  breiter  Wege  durch- 
kreuzt, die  für  das  Publikum  bestimmt  sind.  Man 
hat  sie  mit  Absicht  ziemlich  zahlreich  angelegt, 
damit  sich  den  Besuchern  Gelegenheit  bietet,  so 
viele  verschiedene  Seiten  wie  möglich  von  der 
Natur  kennen  zu  lernen. 

In  der  südöstlichen  Ecke  des  Gartens  wird 
der  eigentliche,  künstlich  geschaffene  botanische 
Garten  seinen  Platz  finden.  Da  dieser  Teil  noch 
nicht  fertig  ist,  läßt  sich  nicht  viel  darüber  sagen. 
Man  hat  die  Absicht,  in  diesem  Teil  nicht  so 
sehr  die  Pflanzensystematik  herrschen  zu  lassen, 
als  vielmehr  geographische  und  biologische  Prin- 
zipien zur  Geltung  zu  bringen.  Hierfür  sind 
natürlich  Gewächshäuser  notwendig,  und  es  ist 
auch  das  Bestreben  des  energischen  Leiters  des 
Gartens,  in  Zukunft  dafür  Sorge  zu  tragen. 

Welches  ist  nun  der  Zweck  der  Angliederung 
eines  Naturschutzgebietes  an  einen  botanischen 
Garten?  Zuerst  und  vor  allem,  sagt  Skotts- 
berg, soll  das  Reservat  eine  geschützte  Wildnis 
der  Großstadt  sein,  einjPlatz,  wo  die  Bevölkerung 
hingehen  kann,  um  in  der  freien  Natur  Ruhe  und 
Frieden  zu  genießen.  Weiter  ist  es  von  groi3er 
Bedeutung  für  die  Schulen,  indem  die  Pflanzen- 
besfände  in  der  Natur  vorgeführt  werden  können. 
Schließlich  hat  der  Naturpark  eine  große  wissen- 
schaftliche Bedeutung.  Die  Pflanzenbestände  wer- 
den aufgenommen,  und  durch  Beobachtungen  und 
Untersuchungen  in  bestimmten  Zwischenräumen 
wird  die  Entwicklung  verfolgt.    Sobald  ein  Labora- 


6g^2 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


torium  eingerichtet  ist,  hat  man  die  Kombination : 
Wissenschaftliches  Institut  —  Naturpark  fertig, 
und  dann  eröffnen  sich  große  Möglichkeiten.  In 
demselben  Sinne  hat  sich  schon  i9i4Prof.  L.  Diels, 
der  jetzige  Direktor  des  Botanischen  Gartens  in 
Berlin,  in  seinem  Aufsatze  über  „Naturdenkmal- 
pflege und  wissenschaftliche  Botanik"  (Naturdenk- 
mäler. Vorträge  und  Aufsätze,  Bd.  I,  H.  6,  Ber- 
lin 1914,  Gebrüder  Borntraeger)  geäußert,  indem 
er  sagte :  „In  der  Tat  wird  die  botanische  Wissen- 
schaft auf  die  Dauer  ohne  derartige  Einrichtungen 
[d.  h.  Naturschutzgebiete]  nicht  auskommen.  Zu 
dem  Herbarium,  dem  Garten  und  dem  Labora- 
torium muß  das  Naturschutzgebiet  zugefügt  wer- 
den, als  notwendiges  Element  des  modernen  bio- 
logischen Forschungsapparates,  als  charakteristi- 
sches Bedürfnis  der  jüngsten  Periode  in  der  bio- 
logischen Forschung." 

In  Europa  hat  Schweden  jetzt  mit  dem  Garten 
den  Anfang  gemacht.  Er  wäre  schön,  wenn 
Deutschland  ihm  folgen  könnte  I 

Greta  Conwentz. 


Die  Bedeutnug  der  farbigen  Ölkugeln 
im  Sauropsideuange. 

Heß  hatte  gefunden,  daß  Schildkröten  von 
der  Welt  der  Farben  ungefähr  so  viel  sehen  wie 
wir  durch  eine  gelbrote  Brille;  Tagvögel  sehen 
wie  durch  hell  orangefarbenes,  Nachtvögel  wie 
durch  viel  heller  gelbliches  Glas,  Eidechsen  so 
wie  wir.  Im  Dunkelraum  sehen  also  Hühner  Reis- 
körner im  blauen  und  violetten  Teil  des  Spek- 
trums nicht.  Hahn  hat  den  Einwand  erhoben, 
sie  hätten  lediglich  eine  Abneiung  gegen  die 
blauen  und  violetten  Körner:  nach  Gewöhnung 
an  blaue  Körner  pickten  sie  solche  nach  Dunkel- 
adaptation auch  aus  dem  blauen  Teil  des  Spek- 
trums. Hiergegen  erwähnt  Henning,^)  daß 
bei  Dunkeladaptation  Farben  überhaupt  nicht  mehr 
als  solche,  sondern  nur  als  Helligkeitsabstufungen 
gesehen  werden.  Dies  und  die  Zunahme  der 
Lichtempfindlichkeit  bei  Dunkeladaptation  nebst 
dem  Purkinj  eschen  Phänomen  der  relativen 
Helligkeitszunahme  des  kurzwelligen  Spektrum- 
teils beim  Dämmerungssehen  erkläre  das  Ver- 
halten ganz  im  Sinne  von  Heß.  Auch  die  Fest- 
stellung Hahns,  die  Hühner  unterschieden  bei 
Tageslicht  graue  von  blauen  Körnern,  beweise 
nicht,  daß  die  letzteren  als  blau,  sondern  sie  seien 
als  grau  von  den  dem  Vogel  gelblich  erscheinen- 
den grauen  unterschieden  worden.  In  allen  diesen 
und  weiteren  Differenzpunkten  steht  also  Hen- 
ning ganz  bei  Heß.  Damit  erleidet  auch  die 
Lehre  von  den  Schmuckfarben  einen  argen  Schlag : 
wohl  dürfe  man  noch  von  Schmuckfarben  reden, 
und  manche  Arten  von  Vögeln  gewinnen  durch 
rötlichgelbe  Filter  hindurch  an  Farbenpracht ,  an- 


dere aber  verlieren  ungeheuer  viel  durch  Ver- 
sinken von  Violett  und  Blau  in  Grau. 

Die  Bedeutung  der  farbigen  Ölkugeln 
in  denZapfen  derNetzhaut  von  Vögeln 
und  Reptilien  vermochte  Heß  nicht  restlos 
zu  ergründen.  Zweifellos  sind  es  diese  Ölkugeln, 
welche  jene  Abweichungen  des  Farbenbereichs 
gegenüber  dem  menschlichen  bewirken,  aber  die 
Erklärung,  warum  dies :  daß  nämlich  „die  Zapfen- 
außenglieder durch  die  vorgelagerten  Kugeln  mög- 
lichst von  der  Wirkung  kurzwelligen  Lichtes  ge- 
schützt werden  sollten",  schien  Heß  selber  nicht 
für  alle  Fälle  ausreichend :  nur  ein  Teil  der  Zapfen 
hat  Ölkugeln;  die  vorwiegend  nächtlichen  Schild- 
kröten haben  ihrer  mehr  als  die  Tagvögel,  die 
sommerlichen  Eidechsen  weniger  als  die  Nacht- 
vögel. 

Henning  weist  nun  darauf  hin,  daß  die 
langwelligen  Strahlen  besser  als  andere  .durch 
neblige  oder  dunstige  Atmosphäre  dringen:  eine 
Landschaft  im  Nebel,  in  der  unser  Blick  nur 
300  m  weit  vordringt,  wird  für  uns  auf  etwa 
2000  m  weiter  erkennbar,  wenn  wir  rotes  oder 
rotgelbes  Glas  vor  unser  Auge  halten;  dunstige 
Landschaften  photographiert  man  mit  Gelbfiltern. 
Personen  mit  getrübten  Augenmedien  können 
am  besten  im  roten  Licht  lesen;  morgens  und 
abends  ist  die  beste  Fernsicht  trotz  stärkeren 
Bodennebels;  und  so  fort. 

„Diesem  farbigen  Ölfilter  verdanken  die  Zug- 
vögel es,  daß  sie  von  Italien  selbst  bei  dunstigem 
Wetter  die  afrikanische  Küste  sehen,  mit  dieser 
Hilfe  vollführt  die  Brieftaube  jene  weiten  Flüge. 
Ja  die  rotgelben  Ölkugeln  ermöglichen 
es  allen  Tagvögeln  überhaupt  erst,  sich  in  der  Luft 
zu  orientieren  und  sich  in  dunstiger  Atmo- 
sphäre zurechtzufinden.  Es  bleibt  kein  Rätsel 
mehr,  daß  der  Bussard  aus  höchster  Höhe  die 
Maus  am  Boden  laufen  sieht."  —  Versuche  mit 
Vögeln  verschiedener  Art  belehrten  den  Verf,  daß 
diese  stets  auch  dann  unruhig  und  aufgeregt 
wurden,  wenn  ihre  Feinde  — ■  Jagdfalke,  Katze  — 
oder  ihre  Beutetiere  —  Mäuse  —  oder  ihre  Küken 
ihnen  in  irgendeiner  farbigen  Beleuchtung  gezeigt 
wurden, ')  aber  nicht,  wenn  diese  Objekte  nur 
blau  oder  violett  beleuchtet  —  also  unbeleuchtet 
für  den  Prüfling  waren,  den  ein  Gitter  oder  eine 
Glasscheibe  davon  trennte,  während  sein  Käfig 
sonst  dunkel  umschlossen  war,  mit  kleiner  Öffnung 
zur  unbemerkten  Beobachtung.  Ferner:  einge- 
schobener „künstlicher  Nebel",  wie  verdünnte  Milch 
oder  ähnliche  Flüssigkeiten  oder  Staub,  bewirkt, 
daß  die  Vögel  auch  dann  noch  auf  die  Schreck- 
oder Locktiere  reagieren,  wenn  der  Nebel  so 
dicht  war,  daß  er  für  den  Menschen  als  undurch- 
sichtig gelten  konnte.  —  In  einem  dunklen,  mit 
Schnüren  durchzogenen  Keller  genügten  geringe 
rotgelbe  oder  orangefarbene  Lichter,  daß  die 
fliegenden  Vögel  nicht  anstießen ;  bei  grüner  oder 


')  Hans  Henning,  Optische  Versuche  an  Vögeln  und 
Schildkröten  über  die  Bedeutung  der  roten  Ölkugeln  im  .\ugc. 
Pflügers  Archiv  f.  d.  ges.  Physiol.,  Bd.  178,  S.  91 — 123,   1920, 


')    Geruchswirkungen ,    Geräusche     und    Erschütterungen 
wurden  vermieden. 


U.  F.  XX.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschriit. 


693 


grünblauer  Belichtung  waren  ganz  enorme  Licht- 
stärken  nötig,   Blau    und  Violett  versagten  ganz. 

Die  Fernsicht  der  Alpenkrähe  (Pyrrhocorax 
graculus)  und  Alpendohle  (P.  alpinus),  sagt 
Hennig  weiter,  im  Nebel  ist  bekannt.  Vier  bis 
fünf  Beobachter  bildeten  eine  Postenkette  auf 
naheliegenden  Felsen  eines  Berggipfels  im  Nebel, 
einer  warf  ein  Stück  Nahrung  3  bis  5  ni  von 
sich,  wo  er  sie  eben  noch  liegen  sah,  und  sogleich 
konnte  der  nächste  und  dritte  Beobachter  das 
Nahen  der  Alpendohle  melden,  welche  den  Bissen 
schon  aus  15  m  Entfernung,  also  aus  doppelter 
bis  dreifacher  wie  der  Mensch ,  gesehen  hatte. 
Brannte  gleichzeitig  rotes  bengalisches  Licht,  so 
sahen  der  Mensch  und  um  so  mehr  der  Vogel 
viel  weiter,  nicht  so  bei  grünem.  Ähnliche  Ver- 
suche an  Brieftauben  mit  farbigen  Masken. 

Anders  als  die  Vögel,  Krokodile,  Schlangen 
und  Eidechsen  sind  Schildkröten  auf  eine  Fern- 
sicht angewiesen.  Die  lebenswichtigen  Funktionen 
aller  Arten  erfolgen  im  Licht  der  sich  neigenden 
Sonne,  deren  rotgelbes  Licht  durch  ihre  mit  roten 
Ölkugeln  versehenen  Augen  am  besten  ausgenutzt 
wird.  Aus  demselben  Grunde  sehen  sie  im 
Wasser  und  in  der  Luft  gleichgut.  Verschiedene 
den  vorigen  ähnliche  Versuchsreihen  mit  mehreren 
Schildkrötenarten,  wie  Sehprüfungen  im  Terrarium 
mit  Wasserdampf,  lehrten  dementsprechend,  daß 
die  Schildkröte  ^)  gleichfalls  den  Menschen  an  Seh- 
schärfe in  Dunst  und  trüben  Medien  übertrifft. 

Über  den  mutmaßlichenEntstehungs- 
grund  der  Ölkugeln  stellt  Hennig  schließ- 
lich folgende  Betrachtungen  an.  Zur  Saurierzeit 
herrschte  dunstige  und  feuchte  Treibhausluft  mit 
starkem  Wasser-  und  Kohlensäuregehalt.  Hier 
mußte  das  Sauropsidenauge  tiefrote  Ölkugeln  be- 
sitzen. Nach  der  Eiszeit  kam  es  zu  deren  Ent- 
färbung —  so  bei  Amphibien  und  Fischen  — 
oder  zur  Umfärbung  in  Gelbrot  und  zum  Auf- 
treten von  Stäbchen  mit  Sehpurpur  für  das  Däm- 
merungssehen —  Krokodile,  Schlangen,  Eidechsen, 
Mensch,  in  geringem  Ausmaß  Tagvögel  —  oder 
die  reine  Zapfennetzhaut  der  Schild- 
kröten wurde  durch  Zusatz  gelber  Ölkugeln  zu 
einem  orangefarbenen  Filter.  „Schildkröten,  die 
auch  sonst  die  alte  Art  am  ehesten  bewahren, 
besitzen  eine  Netzhaut,  welche  als  ganze  dem 
gelben  Fleck  im  menschlichen  Auge  gleicht;  der 
gelbe  Fleck  im  menschlichen  Auge  dient  derselben 
Funktion  wie  die  roten  und  gelben  Ölkugeln  im 
Sauropsidenauge."  -)  V.  Franz. 

')  Es  werden  6  Arten  genannt,  der  Bericht  ist  aber  leider 
nicht  auf  diese  spezialisiert. 

')  Nach  dieser  Hypothese  sollen  wohl  die  Stäbchen  — 
oder  nur  der  Sehpurpur?  —  erst  ein  neuerer  Erwerb  bei  den 
Wirbeltieren  sein,  was  jedenfalls  eine  völlig  neue  Hypothese, 
aber  im  Hinblick  auf  das  verbreitete  Vorkommen  von  Stäb- 
chen bei  Fischen  einschließlich  Haien  und  Tiefseefischcn  (bei 
diesen  beiden  ganz  besonders  I,  Haie  auch  mit  Sehpurpur) 
kaum  zuzugeben  sein  wird.  Auch  der  Parallelismus  zwischen 
Akkomraodationsart  und  Farbensehen  bei  Reptilien  (Henning 
S.  121/122)  scheint  noch  nicht  streng  bewiesen;  der  Hinweis 
auf  den  Sklerotikalring  von  Archaeopteryx  kann  in  diesem 
Zusammenhange  wohl  gar  nichts  besagen,  da  ein  solcher  den 
Ichthyosauriern  und  Vögeln    allgemein   zukommt.     F. 


Cheniotherapentische  Leistung. 

Beschäftigt  sich  die  Chemotherapie  mit  der 
Bekämpfung  von  Krankheitsursachen,  speziell  von 
pathogenen  Mikroorganismen,  durch  chemisch 
wohldefinierte  Körper,  so  ist  ein  bekanntes  Cha- 
rakteristikum eben  dieser  Körper  ihre  Spezifität, 
d.  h.  ihre  elektive  Wirkung  auf  eine  bestimmte 
Spezies  oder  doch  eine  engumschriebene  Gruppe 
von  Krankheitserregern.  Sie  treten  dadurch  in 
einen  prinzipiellen  Gegensatz  zu  den  allgemeinen 
Desinfizientien  und  Antisepticis,  welche  in  der 
Regel  allgemeine  Protoplasmagifte  darstellen  (Subli- 
mat, Alkohol,  Kresole  usw.).  Als  Beispiele  spezi- 
fisch wirkender  Substanzen  seien  hingegen  Chinin 
auf  Malariaplasmodien,  Salvarsankörper  auf  Try- 
panosomen und  Spirochäten,  die  Morgenrot h- 
schen  Chininderivate  (Optochin,  Eucupin,  Vucin) 
auf  gewisse  pathogene  Kokken  genannt.  Ganz 
analog  verhalten  sich  Angehörige  gewisser  Anilin- 
farbstoffgruppen (Benzidine,  Safranine,  Acridinium- 
farbstoffe). 

Diese  Tatsache  einer  „Klassenspezifität"  che- 
mischer Körper  kann  nur  dahin  gedeutet  werden, 
daß  die  dieser  Klasse  gemeinsame  und  dieselbe 
chemisch  charakterisierende  Atomgruppierung,  der 
„Kern",  über  die  chemotherapeutische  Wirksam- 
keit entscheidet,  und  zwar  dadurch,  daß  ein  Stoff, 
einmal  in  eine  Mikroorganismenzelle  aufgenommen, 
infolge  des  in  ihm  enthaltenen  Kernes  den  che- 
misch physikalischen  Ablauf  der  Lebensvorgänge 
der  Zelle  zu  stören  oder  unmöglich  zu  machen 
imstande  ist.  Hat  man  nun  eine  in  bezug  auf 
einen  bestimmten  Mikroorganismus  wirksame 
Klasse  chemischer  Körper  ermittelt  und  unter- 
sucht die  verschiedensten  chemischen  Individuen 
dieser  Klasse,  die  sich  alle  untereinander  durch 
Art  und  Stellung  der  an  den  Kern  gebundenen 
Seitenketten  unterscheiden,  so  ergibt  sich  eine 
erhebliche  Verschiedenheit  in  der  Wirkung  bei 
selbst  kleinsten  Verschiedenheiten  in  der  Kon- 
stitution. Wollen  wir  diese  Unterschiede  wiederum 
als  Spezifität  der  einzelnen  Stoffe  bezeichnen,  so 
würden  wir  ihr  wohl  den  Namen  „Seitenketten- 
spezifität"  geben.  Über  das  Zustandekommen 
der  letzteren  gibt  nun  Langer  (Deutsch,  med. 
Wochenschr.  1920,  S.  1015)  auf  Grund  kolloid- 
chemischer Untersuchungen  an  Acridiniumfarb- 
stoffen  Aufschluß.  Ordnet  man  nämlich  diese 
Farbstoffe  ohne  Rücksicht  auf  die  Art  ihrer 
Seitenketten  lediglich  nach  dem  Gesichtspunkte 
ihrer  Diffusionsfähigkeit  in  eine  Reihe,  so  ergibt 
sich  die  überraschende  Tatsache,  daß  ihre  Wukung 
steigt  mit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ab- 
nehmender Dispersität.  Die  wirksamsten  Re- 
präsentanten stellen  Semikolloide  dar.  Langer 
interpretiert  dies  Ergebnis  wie  folgt:  Damit  ein 
Farbstoff  chemotherapeutisch  wirken  kann,  ist 
seine  auf  osmotischem  Wege  erfolgende  Aufnahme 
in  die  Bakterienzelle  offenbar  Grundbedingung. 
Der  Stoff  muß  also  diffundibel  sein.  Anderer- 
seits muß  er  aber  in  der  Zelle  eine  Konzentrations- 
schwelle   überschreiten,    damit    er    zur    Wirkung 


694 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


kommt,  d.  h.  er  muß  in  der  Zelle  gespeichert 
werden.  Je  mehr  er  sich  der  kolloidalen  Natur 
nähert,  um  so  speicherungsfähiger  ist  er  aber, 
um  so  geringer  ist  seine  Rückdiffusion  aus  der 
Zelle.  Der  Dispersitätsgrad  eines  Stoffes  wird 
nun  durch  Anwesenheit  eines  kolloidalen  Mediums 
vermindert;  in  unserem  Falle  verliert  also  der 
Farbstoff  im  Zellplasma  an  Dispersität,  er  nähert 
sich  mehr  dem  kolloiden  Zustande  und  er  erreicht 
diesen  (und  damit  eine  hohe  Speicherungsfähig- 
keit) um  so  rascher,  je  geringere  Dispersität  er 
bereits  als  Kristalloid  hatte.  In  einer  Klasse  wirk- 
samer Körper  werden  also  diejenigen  das  Maxi- 
mum von  Wirkung  entfalten,  welche  ein  Optimum 
der  beiden  geforderten  Eigenschaften,  der  Dif- 
fusionsfähigkeit und  des  Speicherungsvermögens, 
besitzen,  d.  h.  welche  Semikolloide  sind. 

Wir  betrachteten  bisher  den  Fall  des  Über- 
gangs eines  Stoffes  aus  wässeriger  Lösung  in  die 
Bakterienzelle,  den  Fall  der  „chemotherapeutischen 
Antisepsis"  (Morgen rot h).  Es  ist  aber  weiter- 
hin besonders  interessant,  daß  durch  Langer 
nunmehr  auch  längst  bekannte  Beobachtungen 
einer  Erklärung  zugeführt  werden,  die  sich  bei 
Anwendung  chemotherapeutischer  Stoffe  zu  „innerer 
Desinfektion",  d.  h.  zur  Abtötung  von  Mikro- 
organismen im  lebenden  Wirtstier  unter  Vermitt- 
lung des  Blutes,  ergaben.  Oder  im  Reagenzglas- 
versuch bei  Verwendung  des  Stoffes  gelöst  in 
Blutplasma.  Drei  Klassen  chemotherapeutisch 
wirksamer  Agentien  lassen  sich  hierbei  unter- 
scheiden : 

I.  Ein  Stoff  A  wirkt  nicht  oder  nur  wenig  in 
wässeriger  Lösung,  gelöst  in  Blutplasma  steigt 
seine  Wirkung. 

Erklärung :  Es  handelt  sich  um  ein  Kristalloid, 
das  in  wässeriger  Lösung  zu  dispers  ist,  als  daß 
es  nach  der  Verdichtung  in  der  Bakterienzelle 
schon  gespeichert  werden  könnte  („Verdichtung" 
hier  nicht  mechanisch,  sondern  einfach  als  Ver- 
minderung  der  Diffusionsfähigkeit  zu   verstehen). 


In  Blutplasma  erfährt  es  dagegen  eine  Dispersitäts- 
verminderung bis  zum  optimalen  Dispersitätsgrade 
eines  Semikolloides  (Beispiel :  Trypaflavin  =  3,6  Di- 
amino- lomeihylacridiniumchlorid).  Diese  Stoffe 
eigen  sich  somit  sehr  für  innere  Desinfektion. 

2.  Ein  Stoff  B  wirkt  in  wässeriger  Lösung  an- 
nähernd gleich  stark  wie  im  Blutplasma. 

Erklärung:  Der  Dispersitätsgrad  des  Stoffes 
liegt  bereits  nahe  dem  Optimum.  Blutplasma 
wird  diesen  zwar  etwas  in  gutem  oder  schon  in 
schlechtem  Sinne  verändern,  er  bleibt  aber  immer- 
hin dem  Optimum  nahe  (da  letzteres  praktisch  ja 
Dispersitätsgrade  von  gewisser  Breite  umfaßt). 
Beispiel:  Salvarsan,  Optochin).  Diese  Körper 
eignen  sich  sowohl  für  innere  Desinfektion  als 
auch  für  chemotherapeutische  Antisepsis. 

3.  Ein  Stoff  C  wirkt  noch  in  wässeriger  Lösung, 
nicht  mehr  in  Blutplasma. 

Erklärung:  Der  Dispersitätsgrad  von  C  lag 
schon  jenseits  des  Optimums  nach  der  Seite  der 
Kolloide  zu.  Im  Blutplasma  wird  er  weiter  ver- 
ringert, so  daß  er  in  die  Bakterienzelle  nicht  mehr 
diffundieren  kann. 

Hierher  gehören  die  meisten  im  Reagenzglas 
(in  Wasser)  wirksamen  Stoffe  und  sie  eignen  sich 
vielleicht  eben  noch  für  chemotherapeutische  Anti- 
sepsis. 

Als  wesentlich  fassen  wir  somit  zusammen: 
Innerhalb  einer  Klasse  von  Stoffen  entscheiden 
die  Seitenkeiten  nicht  durch  ihre  chemische  Natur, 
sondern  dadurch,  daß  sie  einen  gewissen  Disper- 
sitätsgrad bestimmen  oder  zum  mindesten  mitbe- 
stimmen über  die  Möglichkeit,  ob  bei  einem 
chemischen  Individuum  der  Kern  überhaupt  in 
der  notwendigen  Konzentration  an  den  Ort  seiner 
Wirkungsmöglichkeit  gelangen  kann.  Es  liegt 
nahe,  daß  das  für  einen  chemotherapeutischen 
Stoff  von  Ehrlich  geforderte  Maximum  von 
Parasitotropie  bei  einem  Minimum  von  Organo- 
tropie durch   analoge  Faktoren   bestimmt  wird. 

B.  de  Rudder. 


Bücherbesprechungen. 


Müller,   Fritz,    Werke,   Briefe    und   Leben. 
Gesammelt  und  herausgegeben   von  Dr.  Alfred 
Möller.     Band  II.     Briefe    und    noch    nicht  ver- 
öffentlichte   Abhandlungen     aus    dem    Nachlaß 
1834 — 1897.      667    Seiten    Lex. -Format.      Mit 
239  Abbildungen  im  Text  und  4  Tafeln.     Jena 
1921,  G.  Fischer.     Geb.  150  M. 
Schneller,  als  man  zu  hoffen  gewagt,    ist  nun- 
mehr dem  dritten  Bande  als  fünfte  Lieferung  auch 
der     zweite    Band    der    Fritz     Müller  sehen 
Gesammelten    Werke    gefolgt    und   damit   dieses 
Prachtwerk,    welches    es    durch    seinen    Inhalt   ist, 
zum  Abschluß  gekommen.    Der  Dank  der  Wissen- 
schaft  gebührt    ebensowohl    der    vierundzwanzig- 
jährigen   mühsamen   und   pietätvollen   Arbeit  des 
Herausgebers  wie  allen  denen,  die  die  Herausgabe 


des  Werkes  materiell  unterstützten.  Solche  Hilfe 
kam  zuletzt  vornehmlich  aus  Schweden  von  Herrn 
Gösta  Fraenkel  in  Göteborg  in  Gestalt  einer 
sehr  bedeutenden,  die  gesamten  früheren  Beihilfen 
für  das  ganze  Werk  übersteigenden  Summe,  ferner 
von  Prof.  Dr.  R.  Fries  und  dem  preußischen  Land- 
wirtschaftsministerium. Der  Band  enthält  außer 
einigen  Nachlaßschriften  Briefe  Fritz  Müllers 
an  seinen  Bruder  Hermann  Müller,  an  Max 
Schultze,  Oscar  Schmidt,  Alexander 
Agassiz,  Darwin,  Keferstein,  Haeckel, 
Claus,  Weismann,  Ernst  Krause,  v.  Jhe- 
ring,  Ludwig,  Gerstaecker,  Schenk, 
Stahl,  Ernst  Uhle  und  einige  andere  nebst 
einer  kleineren  Anzahl  von  Briefen  der  Genannten 
an   ihn.     Der  Zauber,    der    gewöhnlich  von   den 


a.  F.  XX.  Nr.  48 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


69s 


Briefen  bedeutender  Männer  ausgeht,  wohnt  auch 
den  Müll  er  sehen  Briefen  für  den  zoologischen 
Leser  —  der  Botaniker  würde  sicher  mit  gleichem 
Rechte  sagen,  auch  für  ihn  —  inne.  Heute  ge- 
klärte wissenschaftliche  Probleme  treten  uns  in 
kurzen  Ausschnitten  aus  ihrer  Geschichte  und  Ent- 
wicklung lebendig  vor  Augen.  In  allgemeinen 
wie  in  speziellen  Fragen  erfreut  immer  wieder 
die  auf  vielseitige  Erfahrungen  gestützte  Be- 
stimmtheit des  Urteils  von  Fritz  Müller,  das 
in  so  zahlreichen  Fällen  Recht  behalten  hat  mit 
seinem  überzeugten  Eintreten  für  Darwin.  Zu- 
dem erfährt  man  in  der  anregendsten  Weise  viel 
Tatsächliches  aus  dem  Pflanzen-  und  Tierleben 
seines  brasilischen  Beobachtungsgebietes.  Die 
zahlreichen  Abbildungen  sind  meist  getreue  Wie- 
dergaben der  bald  skizzenartigen,  bald  genaueren 
Zeichnungen  aus  den  Briefen,  dazu  einige  Photos 
aus  Brasilien  vom  Herausgeber. 

Es  ist  zu  verstehen,  daß  Fritz  Müller,  fern 
von  der  deutschen  Heimat  und  in  loserem  Zu- 
sammenhang mit  dem  deutschen  Bücherwesen  als 
wir,  sich  zu  nicht  ganz  geringem  Teile  in  seinen 
Briefen  wissenschaftlich  auslebte,  und  somit  durfte 
diese  Briefsammlung  in  seinen  gesammelten  Wer- 
ken uns  nicht  fehlen.  Vielleicht  noch  mehr  als 
die  von  ihm  selbst  veröffentlichten  Schriften 
wird  sie  durch  ihren  persönlicheren  Inhalt  an- 
spornen zum  Nacheifern,  zur  Beobachtung,  zum 
Lesen  in  der  Natur.  V.  Franz,  Jena. 


Cohen,  Ernst  und  Schul,  W. ,  Piezochemie 
kondensierter  Systeme.  IX  und  449  S. 
in  gr.  8"  mit  183  Tabellen  und  52  Abbildungen 
im  Text.  Leipzig  1919,  Akademische  Verlags- 
gesellschaft m.  b.  H. 
Piezochemie  ist  der  Zweig  der  physikalischen 
Chemie,  der  sich  mit  dem  Einflüsse  des  Drucks  auf 
die  Eigenschaften  der  Stoffe  und  ihre  Reaktionen, 
insbesondere  in  kondensierten  Systemen,  d.  h. 
solchen  Systemen  befaßt,  die  keine  Gasphase  ent- 
halten. Demgemäß  beschäftigt  sich  denn  auch 
das  vorliegende  Werk,  dessen  Verf.  durch  eine 
größere  Anzahl  von  selbständigen  Untersuchun- 
gen auf  dem  Gebiete  der  Piezochemie  hervor- 
getreten ist,  ausschließlich  mit  kondensierten 
Systemen.  Da  nun  ein  merkbarer  Einfluß  auf 
den  Zustand  eines  kondensierten  Systems  nur 
durch  verhältnismäßig  hohe  Drucke  ausgeübt 
wird,  spielt  die  Frage  der  Erzeugung  und  der 
Messung  hoher  Drucke  in  der  experimentellen 
Piezochemie  eine  besonders  wichtige  Rolle,  und 
demgemäß  wird  sie  in  dem  ersten  Kapitel  des 
Buches  eingehend  besprochen.  In  den  folgenden 
Kapiteln  wird  die  Kompressibilität  und  der  Ein- 
fluß des  Druckes  auf  den  Ausdehnungskoeffizienten, 
auf  die  Oberflächenspannung  von  Flüssigkeiten, 
auf  die  Lage  des  Dichtemaximums  des  Wassers 
und  wässeriger  Lösungen,  auf  Schmelz-  und  Um- 
wandelungspunkt,  auf  das  „Fließen"  fester  Stoffe, 
auf  die  Viskosität  von  Flüssigkeiten,  auf  das  elek- 
trische Leitvermögen  und  damit  zusammenhängende 


Größen,  auf  die  Löslichkeit,  auf  die  Geschwindig- 
keit chemischer  Reaktionen,  auf  die  Diffusion  und 
schließlich  auf  die  optischen  Eigenschaften  der 
Stoffe  behandelt.  Ergänzungen,  die  der  lange, 
zwischen  der  Niederschrift  des  Buches  (1914)  und 
seiner  Veröffentlichung  (1919)  liegende,  wenn 
auch  nicht  sehr  produktive  Zeitraum  erforderlich 
machte,  und  ein  Namen-  und  ein  Sachregister 
schließen  das  umfangreiche  Buch.  Die  einzelnen 
Kapitel,  die  natürlich  alle  erforderlichen  Literatur- 
nachweise enthalten,  bringen  stets  die  theoreti- 
schen Grundlagen  der  in  ihnen  erörterten  Frage 
und  die  sämtlichen  bisher  gewonnenen  experimen- 
tellen Ergebnisse.  Das  Werk  ist  daher,  wie  die 
Verff.  im  Vorwort  auch  zum  Ausdruck  bringen, 
weniger  ein  Lehrbuch,  „es  ist  vielmehr  als  ein 
Hand-  und  Nachschlagebuch  für  den  Forscher  zu 
betrachten,  der  sich  mit  Untersuchungen  auf  die- 
sem Gebiete  zu  befassen  beabsichtigt". 

Die  Darstellung  ist  vollkommen  einwandfrei, 
klar  und  verständlich.  Das  Werk  steht  in  jeder 
Hinsicht  auf  der  Höhe.  Auch  die  Ausstattung 
ist  gut. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Hörnes,   Moritz,   Kultur  der  Urzeit.   LDie 
Steinzeit  (Die  vormetallischen  Zeiten. 
Die  Steinzeit  Europas.      Gleichartige 
Kulturen  in  anderen  Erdteilen.)   Neue 
Bearbeitung  besorgt  durch  Friedrich 
Behn.     Sammlung   Göschen  Nr.  564.     138  S. 
Berlin    und    Leipzig    1921,    Vereinigung    wiss. 
Verleger. 
Von     Moritz     Hörnes'     Darstellung      der 
Kultur    der  Urzeit    hat   jetzt  neuerdings  Prof.  Dr. 
Friedrich   Behn   das   erste  Bändchen   neu  be- 
arbeitet.    B.  hat  gewiß   mit  Recht  den  Text  von 
einigen   Kürzungen   oder  Zusammenfassungen  ab- 
gesehen   im    wesentlichen    unverändert    gelassen. 
Nur  an  einer  Stelle   hat   er  stärker   eingegriffen, 
indem   er    das    ethnologische   Vergleichsmaterial, 
das    in    den    von    Hörnes    besorgten    Auflagen 
durch  mehrere  Abschnitte  verstreut  war,  zu  einem 
einheitlichen    Abschnitt    mit    dem    Titel   „Gleich- 
artige Kulturen  in  anderen  Erdteilen"  zusammen- 
gefaßt   hat.      Hierdurch    hat   das   Bändchen    ent- 
schieden  gewonnen.     Zu   der  bildlichen  Ausstat- 
tung sind  ein  paar  neue  Abbildungen  hinzugefügt. 
Für  eine  neue  Auflage  möchte  ich  einige  Wünsche 
aussprechen :    Zunächst   einmal    wäre   dem  Abbil- 
dungsmaterial    wohl     noch     eine    gute    Ansicht 
eines  neoliihischen  Megalithgrabes  sowie  die  einer 
Hockerbestattung    hinzuzufügen,    die    beide    ent- 
schieden   wichtiger    sind    als    die   Tafel    mit    der 
Darstellung  neolithischer  Häuser,    und  dann  wäre 
auch  die  Literaturliste  neu  zu  bearbeiten.    Warum 
ist  in  dieser  Liste  z.  B.  das  äußerst  wichtige  Werk 
von  Oberrnaier   nicht  genannt,    mit  dem  doch 
Hörnes    Buch    über    den    diluvialen    Menschen 
sich    auch    nicht    einmal    annähernd    vergleichen 
läßt,    warum    fehlt    auch    Birkners    instruktives 
Büchlein    wie   D^chelettes   Manuel?     Warum 


6g6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  48 


wird  ferner  in  dem  Abschnitt  Neolithikum  unge- 
fähr nur  Schumacher  genannt ,  hätte  nicht 
z.  B.  Götze  oder  Reinecke  auch  mit  ge- 
nannt werden  müssen  ?  Auch  ein  paar  andere 
kleine  Ausstellungen  mögen  hier  noch  Platz  finden. 
Wenn  B.  bei  der  Übersicht  über  die  Verbindung 
der  geologischen  Eiszeitgliederung  mit  der  prä- 
historischen eine  Tabelle  der  Aufstellungen  von 
R.  R.  Schmidt,  Penck,  Boule  und  Bayer 
gibt,  hätte  er  auch  an  Wiegers  nicht  vorüber- 
gehen dürfen,  dessen  System  m.  E.  nach  in  vielen 
Punkten  weit  sicherer  fundiert  ist  als  das  der 
vier  von  B.  genannten  Forscher.  Ebenso  wäre 
schließlich  auch  die  Erwähnung  der  Funde  von 
Fußabdrücken  aus  tertiären  Gerollen  von  Ant- 
werpen besser  unterblieben,  da  die  Fachkreise 
bereits  zur  Genüge  wissen,  was  sie  von  diesen 
Funden  zu  halten  haben. 

Berlin.  Hugo  Mötefindt. 


Sewerzow,  Nikolai  (f).  Über  die  zoologi- 
schen (hauptsächlich  ornithologischen) 
Gebiete  der  außerhalb  der  Tropen 
gelegenen  Teile  unseres  Kontinents, 
übersetzt  und  eingeleitet  von  Hermann  Grote. 
Mit  einem  Bildnis  Sewerzows.  32  S.  München 
192 1,  Dultz  &  Co. 

Die  vorliegende  Arbeit  des  russischen  Zoologen 
und  Tiergeographen  Nikolai  Alexejewitsch  Se- 
werzow (t  1885)  stellt  einen  am  26.  Januar 
1877  (russ.  St.)  in  den  vereinigten  Sektionen  für 
physische  und  mathematische  Geographie  der 
Kaiserlichen  Russischen  Geographischen  Gesell- 
schaft gehaltenen  Vortrag  dar  und  erschien  dann 
in  den  Mitteilungen  (Iswestija)  der  genannten  Ge- 
sellschaft (Jg.  XIII,  Bd.  XIII,  Lfg.  III,  S.  125—153) 
auch  im  Druck,  ist  aber  trotz  der  großen  Be- 
deutung, die  ihr  zweifellos  zukommt,  in  West- 
europa gänzlich  unbekannt  geblieben  und  wird 
nirgends  zitiert.  Sie  ist  heute  natürlich  von  den 
Anschauungen  überholt  und  daher  in  erster  Linie 
von  historischem  Interesse,  doch  wird  sie,  wie 
der  Herausgeber,  der  neben  einem  Bildnisse  Se- 
werzows ihr  auch  eine  Anzahl  willkommener 
biographischer  Daten  über  den  Genannten  beige- 
fügt hat,  mit  vollem  Recht  betont,  auch  der  Tier- 
geograph unserer  Tage  „nicht  ohne  wärmstes  In- 
teresse und  aufrichtige  Bewunderung  für  den 
genialen  Scharfblick  des  Autors  lesen  und  zu  der 
Überzeugung  kommen,  daß  Sewerzow  in  seinen 
zoogeographischen  Anschauungen  seiner  Zeit 
voraus  war."  Rud.  Zimmermann. 


Moser,  Ludwig,   Die  Reindarstellung  von 
Gasen.     Ein   Hilfsbuch   für   das   Arbeiten  im 
Laboratorium.    XII  -f-  173  Seiten  in  gr.  8"  mit 
70    Abbildungen    im    Text.      Stuttgart    1920, 
Ferdinand  Enke. 
In  dem  vorliegenden  Buche,    dessen    in  Fach- 
kreisen wohl  bekannter  Verf.  als  Professor  an  der 
Technischen    Hochschule   in  Wien  wirkt,   werden 
die  Verfahren  zur  Erzeugung  und  Reinigung  aller 
wichtigeren   und   einer  großen   Anzahl   seltenerer 
Gase    eingehend    behandelt:   H3,    Fj,    H3F2'    Clj, 
HCl,   CI2O,  C10„,  HBr,  HI,    O^,    O3,*   H^S,   SO^,, 
SFg.   SOF2,    HijSe,   HgTe,*   N^,    NH„   N^O,   NO, 
2m,^N,0„  N3CI,*  NOCl,  PH„  PF«,  PF„  POF„ 
AsHg,   SbHg,*   BiHg,*   CO,    CO^,    CgO^,  COCl^, 
COS,    HCNS,    CH4,    CHg,    C3Hg,    CjH^,    CgH^, 
CH,C1,  CHjjBr,  C^N^,  HCN,  SiH^  und  Homologe, 
SiF„    GeH„*    BjH«,   B,Hi„,    BF.,,   He    und   Ar. 
Die  Verfahren   sind   mit   großer  Sorgfalt  aus  der 
Literatur  zusammengestellt,  beruhen  aber  vielfach 
auch   auf  eigenen  Erfahrungen   des  Verfs.     Dem 
praktisch    arbeitenden  Chemiker    wird    das    Buch 
recht  nützlich  sein. 

Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


*  Dieses    Gas   hat    sich    bisher    nicht   in   „reiner"  Form, 
d.  h.  frei  von  anderen  Gasen  gewinnen  lassen. 


Literatur. 

Salpeter,  J.,  Einführung  in  die  höhere  Mathematik  für 
Naturforscher  und  Ärzte.  2.  verbesserte  und  vermehrte  Auf- 
lage.    Jena  '21,  Gustav  Fischer.     Brosch.  70,  geb.  80  M. 

Molisch,  Hans,  Pflanzenphysiologie  als  Theorie  der 
Gärtnerei.  Vierte,  neubearbeitete  Auflage.  Jena  '21,  Gustav 
Fischer.     Brosch.  40,  geb.  48  M. 

Meyer,  Arthur,  Morphologische  und  physiologische 
Analyse  der  Zelle  der  Pflanzen  und  Tiere.  11.  Teil,  I.  Liefe- 
rung.    Jena  '21,  Gustav  Fischer.     Brosch.  25  M.* 

Geographische  Abhandlungen.  Herausgegeben  von  Prof. 
Dr.  Albrecht  Penck  in  Berlin.  Band  X,  Heft  3:  Otto  MauU, 
Beiträge  zur  Morphologie  des  Peleponnes  und  des  südlichen 
Mittelgriechenlands.  Leipzig  u.  Berlin  '21,  B.  G.  Teubner. 
14  M. 

D roste,  R.,  Gott,  Materie,  Unendlichkeit,  Zeit,  Raum, 
Bewegung,  Kraft,  Macht,  Arbeit,  Recht,  Eigentum.  Natur- 
philosophische Bruchstücke  aus  meiner  Entwicklungstheorie. 
Leipzig,  Xenienverlag.     5  M. 

Mörl,  Dr.  A. ,  Das  Wesen  der  Strahlung.  Versuch 
einer  mechanischen  Erklärung  der  Strahlungserscheinungen. 
Innsbruck  '21,  Wagner. 

Baur,  Prof.  Dr.  Erwin,  Die  wissenschaftlichen  Grund- 
lagen der  Pflanzenzüchtung.  Ein  Lehrbuch  für  Landwirte, 
Gärtner  und  Forstleute.     Berlin  '21,  Gebr.  Bornträger. 

So  er  gel,  Dr.  W.,  Die  Ursachen  der  diluvialen  Auf- 
schotterung und  Erosion.     Berlin '21,  Gebr.  Bornträger.   18  M. 


Inllfilt:  Edw.  Hennig,  Neue  Ansichten  vom  Entstehen  des  Erdbildes.  (5  Abb.)  S.  681.  —  Einzelberichte:  F.  v.  Wett- 
slein, Zur  Bedeutung  und  Technik  der  Reinkultur  für  die  Systematik  und  Floristik  der  Algen.  S.  6S9.  Komarek, 
Zur  Kenntnis  der  Höhlenfauna.  S.  690.  C.  Skottsberg,  Ein  Botanischer  Garten  mit  Naturschutzgebiet.  S.  691. 
H.  Henning,  Die  Bedeutung  der  farbigen  Ölkugeln  im  Sauropsidenauge.  S.  692.  Langer,  Chemotherapeutische 
Leistung.  S.  693.  —  BUcherbesprecbungen:  Fr.  Müller,  Werke,  Briefe  und  Leben.  S.  694.  E.  Cohen  und 
W.  Schut,  Piezochemie  kondensierter  Systeme.  S.  695.  M.  Hörnes,  Kultur  der  Urzeit.  S.  695.  N.  Sewerzow(f), 
Über  die  zoologischen  (hauptsächlich  ornithologischen)  Gebiete  der  außerhalb  der  Tropen  gelegenen  Teile  unseres 
Kontinents.  S.  696.     L.  Moser,  Die  Reindarstellung  von  Gasen.  S.  696.  —  Literatur:  Liste.  S.  696. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  PStz'scben  Bucbdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Fol^e  20.  Band; 
der  ganzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  4.  Dezember  1921. 


Nummer  49. 


Über  Stridulationsorgane  bei  dekapoden  Crustaceen. 

Eine  zusammenfassende  Übersicht. 


[Nachdruck  verboten.] 


Von  Dr.  Heinrich  Balss,  München. 
Mit   14  Abbildungen. 


Es  ist  eine,  auch  bei  Zoologen  wenig  bekannte 
Tatsache,  daß  es  bei  den  höheren  Crustaceen,  den 
Zehnfüßern,  eine  Menge  von  Formen  auf  dem  Lande 
wie  im  Wasser  gibt,  welche,  ähnlich  wie  unsere 
Grillen  und  Heuschrecken,  Einrichtungen  besitzen, 
mit  denen  sie  Stridulationsgeräusche  hervorrufen 
können.  So  spricht  Hesse  (1910,  S.  487)  nur 
von  Landkrebsen  mit  Stimmapparaten  und  Weiß 
(1914)  übergeht  in  seiner  zusammenfassenden 
Übersicht  über  die  Produktion  von  Tönen  und 
Geräuschen  bei  Arthropoden  die  Crustaceen  über- 
haupt. Ich  will  daher  versuchen,  im  folgenden 
eine  Übersicht  über  die  bisher  bekannten  Formen 
nebst  deren  Einrichtungen  zur  Schallerzeugung  zu 
geben.  Es  wird  sich  dabei  zeigen,  daß  wir  in 
fast  allen  größeren  Gruppen  der  Dekapoden 
solche  Arten  kennen  und  daß  sie  in  sämtlichen 
in  Betracht  kommenden  Fazies,  auf  dem  Lande, 
im  Süßwasser,  in  dem  Litoral  wie  der  Tiefsee 
vorkommen. 

Nahe  Verwandte  des  bekannten  Palmendiebes 
Birgus  latro  L.,  der  auf  Kokospalmen  klettert,  um 
die  Nüsse  herunterzuholen ,  sind  die  ebenfalls  in 
den  Tropen,  besonders  auf  den  Inseln  des  Indo- 
pazifik  lebenden  Arten  der  Gattung  Coenobita 
Latr.  Es  sind  Paguriden,  Einsiedlerkrebse,  welche 
sich  nicht  im  Wasser,  sondern  am  Lande  auf- 
halten, wo  sie  ihre  hauptsächlich  aus  Früchten 
von  Pandanus,  jedoch  auch  aus  tierischen  Sub- 
stanzen bestehende  Nahrung  suchen  und  zu  diesem 
Zwecke  auch  Bäume  ersteigen  (Borradaile 
1902).     Zum  Schutze  ihres  Hinterleibes  bedienen 


Abb.    I.      Coenobita    rugosus    M.    E.      Außenseite    der    linken 
Schere  mit  Körnerreihe.     Nach   Hilgendorf. 

sie  sich  wie  die  anderen  Einsiedlerkrebse  leerer 
Schneckenschalen  oder  ausnahmsweise  anderer 
passenderer  Objekte  wie  leerer  Kokosschalen.  Es 
gibt  nun  2  Arten  dieser  Gattung,  C.  rugosus  M.  E. 
und  C.  perlatus  M.  E. ,  welche  ein  Stidulations- 
organ  besitzen.  Auf  der  Außenseite  der  großen 
Schere  (Abb.  1)  befindet  sich  eine  Reihe  von 
größeren  perlenartig  aneinandergereihten  Körnern ; 
an   ihnen   reibt   der  Dactylus   des   zweiten  linken 


Schreitfußes,  welcher  eine  scharfe  Leiste  auf  seiner 
Unterseite  trägt.  Wie  der  Violinbogen  auf  der 
Saite,  so  streicht  diese  Leiste  an  den  Körnern 
entlang  und  erzeugt  so  ein  Geräusch,  welches 
von  Borradaile,  der  es  hörte,  als  ein  lautes 
Zirpen  beschrieben  wird  (1902,  S.  92). 

Von  der  das  Süßwasser  bewohnenden  Familie 
der  Potamonidae,  denen  die  unter  dem  Namen 
Telephusa  fluviatilis  bekannte  Süßwasserkrabbe 
Italiens  angehört,  hat  Calman  (1908)  bei  4  afri- 
kanischen Arten  der  Gattung  Potamonautes  einen 
Apparat  zur  Tonerzeugung  beschrieben.  Es  ist 
bei  ihnen  das  erste  Glied  der  Schreitfüße,  die 
sog.  Coxa  mit  einer  Reihe  von  Dornen  bewehrt, 
welche  gegen  die  Seitenränder  des  Carapax  reiben 
und  so  ein  Geräusch  erzeugen  sollen;  doch  ist 
dieses  bisher  am  lebenden  Tiere  noch  nicht  ge- 
hört worden. 

Leichter  zu  beobachten  sind  die  Krabben  der 
Küste  und  hier  ist  denn  auch  von  mehreren 
Forschern  der  Ton  vernommen  worden.  Ober- 
und  unterhalb  der  Flutgrenze  lebt  die  Gattung 
Ocypoda  Fabr.,  deren  Angehörige  in  den  Tropen 
aller  Kontinente  vorkommen.  Sie  graben  sich 
Löcher  von  der  Größe  ihres  Körpers  oder  tiefer, 
welche  sie  einzeln  bewohnen.  Alle  Arten  außer 
einer   einzigen   haben   einen   Stridulationsapparat, 


Abb.  2.     Ocypdode  ceratophthalnoa  Pal).     Innenseite  des 
Scherenfufles.     L  =  I^eisten.     C  =  Crista.     Nach   Ort  mann. 


der  zwar  bei  allen  nach  demselben  Schema  ge- 
baut ist,  aber  je  nach  den  Arten  variiert  und  so 
zur  sicheren  Bestimmung  benutzt  werden  kann. 
Auf  der  Innenseite  der  großen  Schere  befindet 
sich  eine  Reihe  von  Querleisten  oder  Punkten, 
welche  einer  glatten  Längsleiste  am  Ischium  des- 
selben Scherenfußes  entlang  fährt  (Abb.  2).  Ort- 
mann  (1894)  hörte  den  Ton  in  Ostafrika  bei  O. 
ceratophtalma  Pall.  und  beschreibt  ihn  als  tief, 
wie  von  einer  Baßgeige  herrührend;  er  wird  von 
der  Krabbe  erzeugt,  wenn  sie  in  ihrem  Loche 
sitzt;   dabei   wirkt   das  Loch   als   unten  gedeckte 


698 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  40 


Pfeife  und  verstärkt  den  Ton.  Anderson  (i 894) 
beschreibt  den  Ton,  den  er  an  einem  warmen 
Novembermorgen  einmal  hörte,  als  dem  eines 
Froschquakens  ähnlich. 

Am  Ebbestrand  bauen  sich  auch  die  Krabben 
der  Gattungen  Dotilla,  Myctiris,  und  Uca  ihre 
Löcher;  bei  Flut  sind  dieselben  mit  Wasser  be- 
deckt und  die  Tiere  sitzen  im  geschlossenen 
Innern,  während  bei  Ebbe  die  Löcher  frei  werden 
und  die  Tiere  in  Massen  herauskommen.  Auri- 
villius  (1893)  beschreibt  bei  Dotilla  ein  knir- 
schendes Geräusch,  das  bei  der  Bewegung,  nicht 
durch  das  Auftreten  der  Füße  selbst,  sondern 
durch  das  Anreiben  der  oben  scharfen  Femoral- 
glieder    der    Beine    gegen    den    Körper    entsteht. 


Abb.  3.     Uca  musica  Rathbun.     ^  Unterseite  der  großen 

Schere  mit  Leisten  und  erster  Sclireitfuß  mit  Crista. 

Nach   Rathbun. 


es  von  den  ersten  Schreitfüßen  hervorgebracht, 
die  gegen  Dornen  auf  der  Seite  des  Carapax 
reiben;  doch  wurde  die  Tätigkeit  im  Leben  nicht 
beobachtet. 

Bisher  hatten  wir  Krebse  besptochen,  deren 
Leben  sich  mehr  oder  weniger  auf  dem  Lande 
abspielt.  Es  ist  nun  interessant,  daß  auch  im 
Meere  selbst  sich  Formen  finden ,  die  ein  Zirpen 
ertönen  lassen,  und  zwar  kommen  solche  im 
Lltoral  wie  in  der  Tiefsee  vor.  Eine  Analogie 
findet  diese  Tatsache  bei  der  heimischen  Wanze 
Corixa,  deren  Männchen  ebenfalls  unter  Wasser 
ein  lautes  Zirpen  ertönen  läßt  (Weis  1914,5.270). 
Bei  den  Krebsen  sind  Stridulationsorgane  haupt- 
sächlich bei  solchen  Formen  bekannt,  welche  auf 
schlammigem  Grunde  leben.  Das  Geräusch  selbst 
ist  allerdings  bisher  nur  bei  einzelnen  Arten  ver- 
nommen worden  und  es  läßt  oft  nur  der  Bau  der 
Organe  auf  ihre  Funktion  schließen. 

Wenn  wir  vorerst  die  Litoralformen  behandeln, 
so  beginne  ich  mit  3  Penaeopsisarten  des  warmen 
Indopazifik,  P.  stridulans  Wood  Mason,  P.  acclivis 
Rathbun  und  P.  akayebi  Rathbun.  Bei  ihnen  be- 
findet sich  (Abb.  4)  bei  beiden  Geschlechtern  auf 
der   Hinterseite  des  Carapax   eine   Reihe   von  12 


Abb.  4.     Penaeopsis  stridulans  W.  M.     L  =  Leisten.     Nach   Alcock. 


Bei  der  Gattung  Uca,  der  bekannten  Winkerkrabbe, 
deren  Männchen  eine  große,  buntgefärbte  Schere 
haben,  mit  der  sie  sich  den  Weibchen  bemerkbar 
machen,  existiert  eine  Art,  Uca  musica  Rathbun, 
in  Kalifornien,  bei  der  auf  der  großen  Schere  des 
Männchens  sich  eine  Stridulationsleiste  befindet, 
die  gegen  eine  Leiste  auf  der  Vorderseite  des 
ersten  Schreitfußes  reibt  (Abb.  3). 

In  Mangrovesümpfen  des  Indopazifik  lebt  Tha- 
lassina anomala  (Hbst.),  eine  mit  der  bekannten 
Gebia  des  Mittelmeeres  und  der  Nordsee  ver- 
wandte Form,  welche  sich  wie  diese  Löcher  (bis 
75  cm  Tiefe)  gräbt.  Pearse  (1911)  erzählt,  daß 
er  bei  der  Philippinenform  ein  Geräusch  hörte, 
ähnlich  dem  eines  Korkstopfens,  der  aus  einer 
Flasche  herausgezogen  wird.    Wahrscheinlich  wird 


bis  18  Körnern,  welche  gegen  die  scharfe  Vorder- 
kante des  ersten  Hinterleibsegmentes  reiben.  Aus 
der  Familie  der  Thalassiniden  besitzt  Gebia 
issaeffi  Balss  (1914)  von  Wladiwostok  auf  dem 
Dactylus  des  ersten  Schreitfußes  2  Leistenreihen, 
die  eine  auf  der  Oberseite,  die  andere  auf  der 
Innenseite;  hier  wird  wohl  durch  Aneinander- 
reihen der  beiden  Füße  das  Geräusch  erzeugt 
(Abb.  5). 

Die  mit  der  bekannten  Schamkrabbe  des 
Mittelmeeres,  Calappa,  verwandte  Gattung  Matuta 
(zu  den  Oxystomen  gehörig)  aus  dem  Indopazifik 
und  Westafrika  besitzt  in  beiden  Geschlechtern 
auf  der  Innenseite  der  Schere  2  erhöhte  Feldchen, 
die  fein  gerieft  sind.  Auf  der  Unterfläche  des 
Körpers,  der  Pterygostomialregion,  findet  sich  nun 


N.  F.  XX.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


699 


eine  Gruppe  von  Körnern  und  Leistchen,  die 
von  vorn  und  außen  nach  hinten  und  innen  ge- 
richtet sind.  Ort  mann  beobachtete  nun  bei 
Matuta  victor  Fabr.,  daß  die  Tiere  abwechselnd 
erst  die  eine,  dann  die  andere  Schere  gegen  die 
Pterygostomialgegend  rieben  und  einen  Ton  her- 
vorbrachten, der  sich  mit  dem  raschen  Hin-  und 
Herreiben  eines  Nagels  auf  einer  Feile  vergleichen 
läßt.  Alcock  (1902,  S.  67)  hat  das  Geräusch 
bei  Matuta  miersii  von  der  Orissaküste  gehört 
und  vergleicht  es  dem  Zirpen  einer  Grille ;  ebenso 
hörte  er  es  bei  Matuta  lunaris  (1896,  S.  161) 
(Abb.  6). 


Abb.   5.     Gebia  issaeffi   Balss. 

Erster  Pereiopod. 

Nach  Bals  s. 


beim  Männchen  vorhanden.  Dagegen  hat  Ova- 
lipes  ocellatus  Herbst,  welche  Art  in  Nord- 
amerika an  der  Ostküste  vorkommt,  wieder  Leisten 
auf  der  Carapaxunterseite ,  welche  sich  gegen 
eine  Crista  auf  dem  Merus  der  Chelipeden  be- 
wegt; hier  ist  der  Apparat  in  beiden  Geschlechtern 
vorhanden  (Hansen  1921).  Ovalipes  lebt  bald 
schwimmend  an  der  Oberfläche,  bald  in  der  Tiefe 
im  Sand  vergraben,  so  daß  nur  die  Augen  her- 
vorschauen. 


Abb.  7. 


Metaplax  longipes  St.  o^     Unterseite. 
Nach  Kölbel. 


:  l'erleu. 


Abb.  8. 


Heiice  tridens  D.  H. 
C  =  Crista. 


</  Scherentufl   von  der  Seite. 
Original. 


.\bb.  6.     Matuta  victor  (Fabr.)  von  unten. 
Nach  Hilgendorf. 


Abb.  9.     V'erlenreibe  von  Heiice  tridens   D.  H.    ^  u.  9- 
Original. 


Im  Prinzip  ähnlich  gebaute  Apparate  finden 
sich  bei  der  Xanthide  Pseudozius  bouvieri  M.  E. 
von  der  Westküste  Afrikas  und  bei  Trizocarcinus 
dentatus  Rathbun  vom  Golf  von  Kalifornien;  bei 
ihnen  ist  eine  Reihe  von  Leisten  auf  der  Ptery- 
gostomialregion  vorhanden,  gegen  die  der  Merus 
resp.  Carpus  des  Scherenfußes  reibt.  Bei  der 
Neptunide  Oi/alipes  trimaculatus  D.  H.  einer  in 
Japan,  Südafrika,  Südaustralien  und  Südamerika 
bis  100  m  Tiefe  vorkommenden  Art,  trägt  die 
untere  Fläche  der  großen  Schere  eine  Menge 
quergestellter  Leisten,  welche  gegen  eine  starke 
Crista  am  Dactylus  des  ersten  Schreitfußes  reibt; 
diese  Crista  ist  nach  meinen  Untersuchungen  nur 


Die  größte  Mannigfaltigkeil  dieser  Apparate, 
die  aber  alle  nach  demselben  Prinzip  gebaut  sind, 
findet  sich  jedoch  bei  den  Viereckskrabben  der 
meist  indopazifischen  Gattungen  Macrophthalmus 
Latr. ,  Brachynotus  D.  H.,  Heiice  D.  H.,  Chas- 
magnathus  D.  H.,  Acmaeopleura  Stimps.,  Gaetice  G. 
und  Metaplax  M.  E.  Bei  ihnen  ist  auf  der  Unter- 
seite des  Körpers,  unterhalb  der  Augen,  beider- 
seits eine  gebogene  Reihe  von  Perlen  vorhanden 
(Abb.  7),  der  sich  eine  hornige  Leiste  auf  dem 
Merus  des  Scherenfußes  entlang  bewegt  (Abb.  8). 
Die  Abb.  9—14  geben  ein  Bild  von  der  Mannig- 
faltigkeit der  Anordnung  dieser  Perlen,  welche 
je  nachdem,    ob   sie    näher   oder   entfernter   von- 


700 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  49 


einander  stehen,  kleiner  oder  größer  sind,  einen 
höheren  oder  tieferen  Ton  geben  müssen.  Inter- 
essant ist  es  nun,  daß  meist  nur  die  Männchen 
den  Apparat  haben,  während  er  den  Weibchen 
fehlt,  so  z  B.  bei  den  Gattungen  Macrophthalmus, 
Metaplax,  Gaetice,  Acmaeopleura;  die  Abbildungen 
zeigen  deutlich  wie  bei  Gaetice  depressa  D.  H., 
Brachynotus  penicillatus  D.  H.,  Acmaeopleura 
parvula  St.,  Heiice  tridens  D.  H.  und  Brachynotus 
nudus  Dana  die  Männchen  viel  stärkere  Perlen 
tragen,  als  die  Weibchen,  diese  besitzen  auch 
nicht  die  hornige  Merusleiste,  so  daß  ihnen  die 
Fähigkeit  der  Tonerzeugung  mit  Sicherheit  ab- 
gesprochen werden  kann.  Manche  dieser  Formen, 
wie  Brachynotus  penicillatus  D.  H.  und  Acmaeo- 
pleura parvula  St.  besitzen  dazu  eine  besondere 
Einrichtung  zum  Reinhalten  des  Stridulations- 
apparates.  Wenigstens  deute  ich  als  solche  einen 
großen  Pinsel  langer  Haare  an  der  Innenseite  der 
Dactylen  der  Scherenfüße,  welcher  wohl  dazu 
dient,  den  Schmutz  auf  der  Körnerleiste  zu  be- 
seitigen; der  Pinsel  kommt  ebenfalls  nur  bei 
Männchen  vor. 


Abb.    10. 


Abb.   II. 


Perlenreibe    von  Brachynotus  nudus  Dana.   ^  u.  9- 
Original. 


_*  -  a 

'     ^   $ 

Perlenreihe  von  Acmaeopleura  parvula  St.    a'  u.  9- 
Original. 


Ich  Übergehe  hier  die  Langusten  (Palinu- 
riden),  die  Bewohner  der  felsigen  Regionen  des 
Meeres,  und  die  Alphaeiden,  deren  knarrendes 
und  knipsendes  Geräusch  schon  länger  bekannt 
ist  und  auch  in  Aquarien  leicht  beobachtet  wer- 
den kann,  und  wende  mich  den  Bewohnern  der 
Tiefsee  zu,  bei  denen  echte  Stridulationsorgane 
gefunden  worden  sind.  Hier  sind  nur  2  Krabben- 
gattungen zu  erwähnen. 

Die  oxystome  Gattung  Acanthocarpus  Stimp- 
son,  in  2  Arten  aus  150 — 350  m  Tiefe  aus  West- 
indien bekannt,  besitzt  nach  Hansen  (1921)  auf 
der  Innenseite  der  Scheren  eine  feine,  senkrechte 
Leiste  quergestellter  Linien,  welche  gegen  einen 
Kiel  auf  der  Unterseite  des  Carapax  reibend  einen 
hohen  Ton  (beim  toten  Tier)  erzeugt. 

Bei  Psopheticus  stridulans  W.  M.,  welche  im 
Indic  in  300 — 785  m  Tiefe  vorkommt,  findet  sich 
nach  Alcock  (1902,  S.  224)  bei  beiden  Ge- 
schlechtern auf  dem  Merus  des  Scherenfußes  ein 
Dorn,  der  gegen  einen  Knopf  unter  dem  Auge 
auf  dem  Carapax  reibt.    Ob  hierbei  wirklich  eine 


Tonerzeugung  stattfindet,  müßte  wohl  erst  durch 
Beobachtungen  am  lebenden  Tiere  sicher  gestellt 
werden. 

Soweit  die  Decapoden.  Als  Ergänzung  möchte 
ich  noch  einige  Stomatopoden ,  Heuschrecken- 
krebse, anführen,  bei  denen  ebenfalls  Töne  fest- 
gestellt wurden.  Die  Squilliden  leben  ähnlich  wie 
die  Gebilden  im  Ufersand  in  geringen  Tiefen,  wo 
sie  sich  Gänge  bauen.  Giesbrecht  (1910), 
Brooks  u.  a.  beobachteten  nun,  daß  Lysiosquilla 
excavatrix  Brooks,  Squilla  empusa  Say  aus 
Nordamerika  und  Squilla  mantis  L.  vom  Mittel- 
meere, wenn  man  sie  packt,  durch  Reiben  der 
Uropoden  an  der  Unterfläche  des  Telsons  einen 
Ton  erzeugen.  Und  Gonodactylus  chiragra  L. 
ruft  nach  Alcock  (1902,  S.  106)  einen  scharfen 
Knall  durch  plötzliches  öffnen  seiner  Schere 
hervor. 


Abb.   12.     Perlenreihe    von  Gaetice  depressa  D.  H. 
Original. 


</  u.  9. 


Abb.   13. 


Perlenreihe  von  Metaplax  crenulata  Gersl.    </>. 
Original. 


Abb.    14.     Perlenreihe  von  Metaplax   dentipes  Heller,    o^. 
Original. 


Es  erhebt  sich  nun  die  Frage  nach  der  bio- 
logischen Bedeutung,  die  der  Schallerzeugung  zu- 
kommt. Sie  wird  bei  den  verschiedenen  Arten 
eine  verschiedene  sein;  die  Frage  hat  nicht  nur 
eine  Lösung.  Bei  den  auf  dem  Lande  lebenden 
Formen,  welche  alle  gesellig,  in  großen  Mengen 
zusammen  vorkommen,  dient  der  Schall  wohl 
zum  gegenseitigen  Zusammenhalten  der  einzelnen 
Arten  (Coenobita,  Ocypode).  Bei  anderen  kommt 
Schreckwirkung  in  Betracht,  so  bei  den  Squilliden. 
Alcock  (1902,  S.214)  hörte  bei  Ocypode  macro- 
cera  das  Geräusch  einmal,  als  ein  Tier  in  die 
Höhle  eines  fremden  Genossen  eindringen  wollte. 
Hier  scheint  es  also  dazu  zu  dienen,  um  Artge- 
nossen oder  anderen  Tieren  anzudeuten,  daß  die 
Höhle  schon  besetzt  ist.  Bei  den  Arten,  bei 
denen  nur  das  Männchen  mit  dem  Stridulations- 
organ  ausgestattet  ist,    das  Weibchen  nicht,  dient 


N.  F.  XX  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


701 


dasselbe  zweifellos  sexuellen  Zwecken  bei  der 
Werbung. 

Natürlich  setzen  diese  Hypothesen  voraus,  daß 
die  Tiere  überhaupt  auf  Schallreize  empfänglich 
sind,  eine  Frage  die  experimentell  schwierig  zu 
prüfen  ist,  da  Reaktionen  auf  akustische  und 
mechanische  Reize  oft  schwer  auseinander  zu  halten 
sind.  Mangold,  der  Bearbeiter  des  Kapitels 
über  den  Gehörsinn  in  Wintersteins  Handbuch 
der  vergleichenden  Physiologie  kommt  auf  Grund 
der  bisher  vorliegenden  Experimente  zu  dem 
Schluß,  daß  sie  für  die  Existenz  eines  Gehör- 
sinnes bei  Arthropoden  nichts  bewiesen.  Meiner 
Ansicht  nach  geht  dieser  Schluß  zu  weit,  da  ja 
die  Mannigfaltigkeit  der  Organe  zur  Tonerzeugung, 
die  wir  bei  Arthropoden  finden,  dann  ganz  zweck- 
los wäre.  Um  bloß  mechanische  Erschütterungen 
des  Wassers  oder  Bodens  hervorzurufen,  wäre  die 
Existenz  so  fein  gebauter  Apparate  nicht  nötig; 
dazu  würde  bei  Krebsen  z.  B.  ein  Schlag  mit  der 
großen  Schere  genügen.  Um  die  Tatsache,  daß 
die  Stridulationsorgane  bei  vielen  Formen  nur  dem 
männlichen  Geschlechte  zukommen,  setzt  eben- 
falls eine  Hörfähigkeit  des  Weibchens  voraus. 
Auch  Demoll  (19 17,  S.  66)  erachtet  die  Hör- 
fähigkeit der  Insekten  gerade  aus  Versuchen  über 
die   Werbung    der    männlichen   Grillen   erwiesen. 

So  müssen  wohl  auch  die  Decapoden  eine 
gewisse  Hörfähigkeit  besitzen,  wenn  auch  die  Or- 
gane   für    dieselbe    bisher   weder    morphologisch 


noch    physiologisch     mit    Sicherheit    aufgedeckt 
sind. 


Literaturverzeichnis. 

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the  Asiatic  Soc.  of  Bengal.     CalcuUa  Vol.  65,   1896. 

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the  ocypod  crab  O.  ceratopbtbalma  Fall.  Journal,  asiatic  Soc. 
Bengal  Vol.  63.     Calcutta  1894. 

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des  Golfes  von  Neapel  Vol.  33,   1910. 

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Ortmann,  A.  E.,  Decapoden,  in:  Bronns  Klassen  und 
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Pearse,  A.  S,  On  the  habits  of  Tbalassina  anomala. 
Philippine  Journal  of  science  Vol.  6,   1911,  Manila. 

^A'eiß,  O.,  Die  Erzeugung  von  Tönen  und  Geräuschen, 
in ;  Handbuch  der  vergleichenden  Physiologie,  herausgegeben 
von  Winterstein  Bd.  3,  1914,  Jena. 


Einzelberichte. 


Der  Mechanismus  tiefvulkanischer  Vorgänge. 

Auf  den  Mechanismus  tiefvulkanischer  Vor- 
gänge lenkt  H.  Cloos  in  einer  inhaltreichen 
Schrift  unsere  Aufmerksamkeit.^)  Die  der  Erd- 
oberfläche aufgesetzten  Vulkane  leiten  durch  enge 
Schlote  und  Gänge  zu  ihrem  in  der  Tiefe  liegen- 
den, weit  verzweigten  Unterbau,  den  Massiven. 
Diese  sind  mit  erstarrten  Schmelzmassen  (z.  B. 
Granit)  ausgefüllt  und  können  z.  T.  als  Herde  er- 
loschener Vulkane  gelten.  Dafür,  wie  für  solche 
gewaltige,  neu  aufdringende  Schmelzen  Platz  in 
der  Kruste  geschaffen  wird,  ist  noch  keine  in 
jeder  Richtung  befriedigende  Erklärung  gefunden. 
Eine  Hypothese,  zuerst  von  französischen  Forschern 
aufgestellt,  sucht  diesen  Vorgang  dadurch  zu  er- 
klären, daß  heiße  Gase  und  Schmelzflüsse  aus  der 
Tiefe  die  Kruste,  in  der  sie  emporstiegen,  ein- 
geschmolzen und  damit  den  Raum  und 
wenigstens  einen  Teil  des  Stoffes  für  das  Massiv 
geschaffen  haben.  Eine  andere,  die  Platztausch- 
hypothese, besonders  von  Daly  vertreten, 
nimmt  an,  daß  wesentlich  mechanische  Durch- 
dringung im  Spiele  ist.  Der  Granit  dringt  noch 
flüssig    in   das   umgebende  Gestein   ein    und   löst 


')  Der  Mechanismus   tiefvulkanischer  Vorgänge.     Samm- 
lung Viehweg,  Heft  57,  1921. 


aus  ihm  Bruchstücke  vom  kleinsten  Fetzen  bis  zu 
großen  Schollen  los,  die  in  den  Granit  übertreten. 

Cloos  nimmt  nun  für  das  Aufdringen  des 
Magmas,  indem  er  dessen  Aktivismus  im  ganzen 
leugnet,  fremde,  nicht  vulkanische  Kräfte  in  An- 
spruch. Diese  Kräfte  sind  in  der  Gebirgs- 
b  i  1  d  u  n  g  in  Gestalt  gerichteten  seitlichen  Druckes 
zur  Verfügung  gestellt. 

Vorhandensein  und  Wirkung  gebirgsbildender 
Kräfte  auf  vulkanische  Vorgänge  werden  von 
Cloos  nun  auch  wirklich  dort  nachgewiesen,  wo 
man  ihnen  bisher  am  wenigsten  Beachtung  schenkte, 
wenn  sie  auch  keineswegs  unbemerkt  geblieben 
sind:  in  den  großen  Granitarealen  Deutschlands, 
vor  allem  Schlesiens.  Es  ließ  sich  durch  sorg- 
fältige Untersuchungen  zeigen,  daß  dem  Gefüge 
des  „richtungslos-körnigen"  Granites  sehr  häufig 
eine  ganz  bestimmte,  wenn  auch  oft  ver- 
borgene Richtung  innewohnt,  die  nur  durch 
Gebirgsdruck  hervorgebracht  sein  kann.  Diese 
Richtung  verrät  sich  meist  an  einer,  nach  ver- 
schiedenen Seiten  ungleichen  Zusammensetzung 
der  Teilchen  des  Gesteins.  Jeder  Granit  spaltet 
sich  leicht  nach  bestimmten  Richtungen,  während 
in  anderen  nur  rauhe  Trennungsflächen  entstehen. 
Meist  unterscheidet  man  a)  eine  steilstehende 
Fläche  bester  Spaltbarkeit  (entsprechend  der 


702 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  49 


Schieferungsebene  in  kristallinen  Schiefern)  =  S, 
sie  fühlt  sich  glatt  an,  und  sieht  hell  aus;  — 
b)  eine  flachliegende  Fläche  guter  Spaltbar- 
keit =  L;  —  c)  eine  auf  a)  senkrecht  stehende 
steile  Fläche  schlechtester  Spaltbar- 
keit =  K,  die  sich  rauh  anfühlt  und  die  ge- 
wöhnliche Granilfarbe  zeigt.  F"läche  S  liegt  in 
der  Streckungsrichtung  des  Granits  und  senkrecht 
zum  Seitendruck;  Fläche  L  liegt  in  der  Streckung 
und  senkrecht  zum  Belastungsdruck;  K  steht  da- 
gegen senkrecht  zur  Streckung  und  in  der  Seiten- 
druckrichtung. 

Die  Teilbarkeit  des  Granits  ist  der  mechanische 
Ausdruck  einer  leichten  Streckung  des  Gesteins: 
sie  wurde  erzeugt  durch  eine  während  ihrer 
Erstarrung  auf  die  Schmelze  wirkenden  gerichteten 
Druckes,  vor  dem  die  Teilchen  senkrecht  aus- 
wichen. 

Weiter  wird  gezeigt,  wie  die  den  Graniten 
nie  fehlende  K 1  ü  f t  u  n  g  mit  der  Teilbarkeit  und 
dem  während  der  Erstarrung  wirkenden  Seiten- 
druck in  Beziehung  steht  und  durch  ihn  geleitet 
wird.  Sie  gestattet  wiederum,  die  Richtung  des 
Druckes  festzustellen. 

Klüfte  und  Spalten  sind  oft  mit  granitischem 
Material  zu  Gängen  aufgefüllt.  Soweit  diese  Auf- 
füllung mit  der  Granitintrusion  ansetzt,  bevor- 
zugen die  Gänge  die  in  der  Druckrichtung  liegen- 
den Hauptklüfte.  Denn  sie  allein  werden  vom 
Seitendruck  nicht  zugepreßt.  Man  kann  diese 
dainit  als  Zugklüfte  von  den  senkrecht  zum 
Druck  liegenden  Druckklüften  unterscheiden, 
und  so  auch  aus  den  Gängen  die  Richtung  des 
Gebirgsdruckes  ablesen. 

Die  Messung  der  Richtung  an  Spaltflächen, 
Klüften  und  Gängen  brachte  zwei  Ergebnisse: 
erstens  das  Vorhandensein  eines  unverkennbar 
gerichteten  Seitendruckes  bis  in  den  tiefsten  Kern 
eines  Massivs  hinein,  und  zweitens  eine  Druck- 
richtung, die  von  der  (aus  anderen  Gründen)  an- 
genommenen oft  vollkommen  abweicht. 

Aus  dieser,  von  C 1  o  o  s  ausführlich  formulierten 
und  durch  Beispiele  gestützten  „granittek- 
tonischen"  Methode  ergeben  sich  eine  Reihe 
neuer  Gesichtspunkte  für  das  Verständnis  von 
Eruptivgesteins-  und  Massivbildung  selbst  und  für 
die  Erkenntnis  vom  Bau  der  diese  Massive  um- 
rahmenden ,  nicht  vulkanischen  Gebirge.  Im 
zweiten,  mehr  theoretischen  Teile  des  Werkes 
(„Der  Aufstieg  des  Magmas")  werden  einzelne 
dieser  Gesichtspunkte  erläutert,  so  Intrusion  und 
Faltung,  Intrusion  im  Anschluß  an  Bruchbildung, 
Vulkane  und  Spalten.  Als  neue  Intrusionsform 
wird  von  der  Grenze  von  Ost-  und  Westsudeten 
das  Massiv  mit  sichelförmigem  Grundriß  be- 
schrieben. Krenkel. 

Inwieweit  ist  der  Wurmfortsatz  am  mensch- 
lichen Blinddarm  ein  rudimentäres  Gebilde? ') 

Der    Blinddarm     der    Halbaffen     wurde    von 
von  Eggeling  länger  oder  ebenso  lang  als  der 


Blinddarm  mit  Wurmfortsatz  bei  Affe  und  Mensch 
gefunden,  so  daß  im  Halbaffen-Affenstamm  wahr- 
scheinlich einst  ein  langer  Blinddarm  vorhanden 
war,  der  ähnlich  wie  beim  Pferd  bei  der  Verdauung 
mitwirkte.  Die  Sonderung  in  Anfangsteil  und  Wurm- 
fortsatz, die  auch  bei  menschlichen  Embryonen  noch 
nicht  ausgebildet  ist,  ist  innerhalb  der  Gattungen 
Chiromys  und  Stenops  bemerkbar,  wo  sie  bei 
Stenops  gracilis  (Abb.  i)  hohen  Grad  erreicht  hat. 
Sehr  groß  und  noch  überall  von  gleicher  Weite 
ist  der  Blinddarm  der  plattnasigen  oder  Neuwelts- 


affen;  sein  Innenrelief  weicht  von  dem  der  Alt- 
weltaffen ab,  die  Unterschiede  sind  aber  nicht  so 
erheblich,  daß  sie  die  Annahme  eines  gemeinsamen 
Ausgangspunktes  ausschlössen.  Kürzer,  aber  immer 
noch  überall  gleich  weit,  also  ohne  Wurmfortsatz, 
ist  der  Blinddarm  bei  den  meisten  Neuweltsaffen. 
Die  Verhältnisse  bei  den  Anthropoiden  —  Gibbon, 
Orang,  Schimpanse  wurden  untersucht  zur  Er- 
gänzung der  früheren,  auch  auf  den  Gorilla  be- 
züglichen Angaben  —  entsprechen  hinsichtlich 
der  Form  —  Blinddarm  mit  Wurmfortsatz  —  im 
allgemeinen  denen  des  Menschen,  doch  sind  beide 
Teile,  außer  bei  Hylobates,  immer  noch  größer 
als  bei  Homo.  Gleichzeitig  wird  jetzt  der  \Vurm- 
fortsatz  zu  einem  an  Lymphzellen  —  die  unbe- 
kannter oder  doch  umstrittener  Funktion  sind  — 
und  Lymphfollikeln  reichen  Organ,  was  beim 
Menschen  in  noch  höherem  Grade  der  Fall  ist. 
Letzterer  Umstand  war  öfter  Anlaß,  den  Blind- 
darm und  Wurmfortsatz  nicht  als  rudimentäres 
Gebilde  zu  betrachten.  Beim  menschlichen  Kinde 
ist  der  Wurmfortsatz  noch  nicht  so  sehr  verkleinert 
wie  beim  Erwachsenen,  und  beide  Teile  gehen 
noch  allmählich  ineinander  über,  welcher  Zustand 
beim  Gibbon  persistiert.  Verf.  faßt  sein  Ergebnis 
dahin  zusammen,  daß  der  Wurmfortsatz  des 
Menschen  vergleichend  -  anatomisch  als  rudimen- 
täres Gebilde  erscheine,  da  er  aus  der  Rückbildung 
eines  viel  umfangreicheren  Blinddarms  bei  Vor- 
fahrenformen hervorging.  Dabei  hat  sich  ein 
Funktionswechsel  vollzogen  unter  starker  Aus- 
bildung des  lymphoiden  Gewebes.  Worin  heute 
seine  Leistung  und  die  Aufgabe  dieses  Gewebes 
besteht,  bedarf  noch  weiterer  Klärung. 

V.  Franz,  Jena. 

'J    H.    V.   Eggeling    unter    obiger    Überschrift   im    Ana- 
tomischen Anzeiger,  Bd.   53,   1917,  Nr.   17,  S.  401—428. 


N.  F.  XX.  Nr.  49 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


703 


Zur  Frage  der  Atomsjinmetrie. 

In  der  Festschrift  aus  Anlaß  des  70.  Geburts- 
tages   von    Cornelio    Doelter    (Dresden    und 
Leipzig,    Theodor    Steinkopfi",    1920)    befaßt    sich 
H.    Tertsch    in    einem    Abschnitt    seiner    „An- 
merkungen zur  röntgenographischen  Erschließung 
der  Kristallstruktur"  mit  der  heute  besonders  dis- 
kutierten   Frage    der   Atomsymmetrie.      Soll    die 
Kristallsymmetrie    ihre    restlose  Erklärung  finden, 
so  genügen  in    mehr  als  einem  Fall,    wo  die    zu- 
grunde liegende  Strukturart  durch  Röntgenstrahlen- 
analyse   erschlossen   worden   ist,    die   Symmetrie- 
verhältnisse des  ermittelten  Gitterbaues  allein  noch 
nicht,  man  wird  vielmehr  noch  zur  Heranziehung 
und  Überprüfung    der  Symmetrie  der  Atome  ge- 
zwungen.   Wir  können  mit  Sicherheit  annehmen, 
daß  rein   elektrische  Kräfte   diese  Symmetrie  be- 
herrschen,   und    es   läßt   sich  zeigen,    daß  die  zu- 
nächst so   einfach    erscheinende  Vorstellung  einer 
Kugelsymmetrie    der   Atome   verfehlt   ist.      Auch 
das  Bohr  sehe  Atommodell  und  seine  Wirtelnatur 
kann    zum    mindesten     nicht     der    Symmetriebe- 
dingung   für    alle    Elemente    entsprechen.      Dafür 
liegt  z.  B.  ein  schlagender  Beweis  in  der  Tatsache, 
daß    bei    der    röntgenographisch    einwandfrei    er- 
schlossenen Diamantstruktur  zwei  fiächenzentrierte 
\yürfelgitter  so  ineinander  gestellt  sind,    daß  sich 
einzetne  C-Atome  innerhalb  des  Gitters  genau  im 
Schnittpunkte    mehrerer   dreizähliger   Deckachsen 
befinden,    demnach    nicht    einfach  wirtelig  gebaut 
sein  können.    Außerdem  haben  bereits  B o rn  und 
Lande  festgestellt,  daß  die  Anordnung  der  Elek- 
tronenbahnen   in    gleichen    Bahnebenen,    also 
Wirtelbau,  z.  B.  in  bezug  auf  die  Kompressibilität 
unter  Zugrundelegung  elektrischer  Kraftwirkungen 
zu  den  Tatsachen  widersprechenden  Werten  führt, 
daß  dagegen  für  das  Atom  mindestens  die  Würfel- 
symmetrie  gelten   müsse.      Sie   denken   sich   die 
Elektronen   in   den  Ebenen   eines  Oktaeders  zen- 
trisch  symmetrisch   kreisen,    so    daß  ein   in   den 
Ecken  mit   Elektronen   besetzter  Würfel   bei   der 
Bewegung  der  Elektronen  in  ihren  Bahnen  rhyth- 
misch nach    einer    der  drei  Hauptachsen  gedehnt 
bzw.  verkürzt  erscheint      Gegenüber   der    einfach 
flächenhaften  haben  wir  hier  also  eine  räum- 
liche  Bahnverteilung    der   Elektronen,    die    man 
sich    am    einfachsten    auf    einer    Kugeloberfläche 
denken  kann.      Zu    diesen   sich  widersprechenden 
beiden  Vorstellungen  bemerkt  nun  Tertsch,  daß 
zwischen   dem   rein    flächigen  Bohrschen  Atom- 
modell und   dem  räumlich    isotropen  Bornschen 
Modell   noch    die  Möglichkeit   eines  zwar  räum- 
lichen,   aber    nicht    isotropen    Atombaues 
wenigstens  für  jene  Elemente,  denen  die  tesscrale 
Symmetrie   auf   alle    Fälle    abgesprochen    werden 
muß,  angenommen  werden  kann.    Natürlich  muß 
dann  für  jedes  Element   gesondert  die  Atomsym- 
metrie   und    die    räumliche  Anordnung    der  Elek- 
tronenbahnen bestimmt  werden.    Unter  Zugrunde- 
legung    der     bekannten     K ossel sehen  *)     Vor- 

')  Ann.  d.  Physik  49,  229  (1916). 


Stellungen  von  der  Bedeutung  des  „Edelgastypus" 
für  die  chemischen  Perloden  und  für  das  Zustande- 
kommen der  „heteropolaren  Verbindungen",  kommt 
Tertsch  zur  Formulierung  der  folgenden  Fragen, 
die  das  Problem  der  Atomsymmetrie  umschließt.*) 
1.  Wie  kommt  der  Edelgastypus  zustande  und 
woher  stammt  seine  physikalische  und  chemische 
Sonderstellung  ?  2.  Was  läßt  sich  über  die  Atom- 
Symmetrie  der  übrigen  Elemente  aussagen? 

Bei  Betrachtung  der  chemischen  Perioden  von 
zweimal   je    8  Elementen,    darauf   zweimal   je  18 
Elementen,    die   sich    an    das  Helium    anschließen 
und  denen  die  „Periode    der  seltenen  Erden"  mit 
32  Elementen  und  schließlich  noch  weitere  6  Ele- 
mente   folgen,    kommt    Tertsch    zu    einer    auf 
Grund  der  räumlichen  Verteilung  der  Elektronen- 
bahnen   sehr     plausiblen    Erklärung    für    die    ge- 
nannten Zahlenverhältnisse   (8,   8,    i8,    18,  32,  6). 
Da  infolge  des  Kräftegleichgewichtes  zwischen  je 
zwei  Elektronen    bzw.   einem   Elektron    und   dem 
positiven  Kerne  eine  Annäherung  nur  bis  zu  einer 
ganz    bestimmten   Entfernung   möglich    ist,   kann 
man  sich  roh  bildlich  jedes  Elektron  als  Zentrum 
eines  mehr    oder  weniger  kugeligen  Abstoßungs- 
bereiches denken,  innerhalb  dessen  auch  die  Bahn 
des  Elektrons  liegen    muß.      Auf  diese  kugeligen 
Wirkungsbereiche    der  Elektronen   sind    nun    ein- 
fach   die    Gesetze   der    dichtesten    Kugelpackung 
anzuwenden,   um    ein  Bild   von    ihrer  wahrschein- 
lichsten räumlichen  Verteilung  zu  gewinnen.    Eine 
bestimmte  Anzahl  von  Abstoßungssphären  werden 
rund  um  den  Atomkern  als  Mittelpunkt  mit  ihren 
Zentren    auf   konzentrischen    Kugelschalen    ange- 
ordnet sein.     Im  Mittelpunkt  des  Atomes  ist  der 
positive    Kern    gemeinsam    mit    den    beiden  He- 
Elektronen  als  isotrope  Masse  anzunehmen.  Dieser 
Typus  des  Heliums  bildet  den  Ausgangspunkt  für 
den  weiteren  Aufbau  der  folgenden  Atome.    Das 
um  8  Elektronen  reichere  Neon  erhält  man,    wie 
dies  Born  und  Lande  taten,    durch  Anordnung 
von  8  Elektronenbereichen  auf  einer  gemeinsamen 
Kugelschale     in    den    Normalenrichtungen    eines 
regulären  Oktaeders.      Alle  Kräfte    sind    hier  so 
genau  ins  Gleichgewicht  gesetzt,  daß  eine  wesent- 
liche Außenwirkung   dieses  Atombaues   kaum    zu 
erwarten  ist,  wie  es  in  der  Tat  der  völligen  che- 
mischen und  physikalischen  Indifferenz  des  Edel- 
gastypus entspricht.  —  Bei  dem  nächsten  Typus 
des  Argons  muß  der  obige  Gedankengang  zunächst 
wiederholt  werden,  man  gelangt  bei  etwas  größerem 
Durchmesser  der  Abstoßungsbereiche  zu  weiteren 
8  „Elektronenkugeln",  die  mit   ihren  Zentren  ge- 
nau wie  die  der  inneren  Achterschale  in  den  Ok- 
taedernormalen    angeordnet    sind.     —     Bei    dem 
nächsten    Typus    in    der    dritten   kugeligen  Elek- 
tronenschale    werden    die    nochmals    etwas    ver- 
größerten Abstoßungsbereiche  ihre  Gleichgewichts- 
lagen gegenüber   den   beiden  inneren  Hüllen  und 

')  Die  gleichen  Fragen  sind  von  Tertsch  behandelt  in 
der  Arbeit:  „Rristallographische  Bemcikungen  zum  Atombau". 
Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Akademie.  Math,  naturw.  Kl.  1,  129,  91 
(1920). 


704 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  49 


dem  anziehenden  Kern  bei  dichtester  Packung  am 
leichtesten  dort  finden,  wo  sozusagen  „Lücken" 
oder  Einbuchtungen  in  der .  Ausgestaltung  der 
vorhergehenden  Elektronenschale  bestehen.  Dies 
trifft  für  die  Richtungen  der  Würfel-  und  Rhom- 
bendodekaedernormalen  zu,  hierdurch  werden 
6+12=18  neue  Elektronen  untergebracht,  was 
mit  dem  Zuwachs  an  Elektronen  beim  Krypton 
tatsächlich  übereinstimmt.  —  Beim  nächsten  Typus, 
beim  Xenon,  brauchen  sich  nur  wie  bei  der 
zweiten  Hülle  auch  hier  die  Gruppierungen  der 
dritten  Schale  in  einer  vierten  nochmals  zu  wieder- 
holen, um  die  Elektronenzahl  2-f8-f8+i8-l-i8 
dieses  Edelgases  zu  liefern.  —  Geht  man  zur 
fünften  Kugelschale  über,  so  sieht  man  an  der 
Hand  eines  räumlichen  Modells  der  bisherigen 
vier  Elektronenschalen  leicht,  daß  nunmehr  sich 
in  den  „Lücken"  über  den  Oktaeder-  und  Tetra- 
kishexaedernormalen  eine  größere  Annäherungs- 
möglichkeit an  den  Kern  ergibt.  Diese  8 -|- 24=  32 
Elektronenbahnen  stimmen  wieder  mit  den  32 
Elektronen  zusammen,  die  vom  Xenon  zum 
nächsten  Edelgastypus  des  Emmaniums  führen.  — 
Die  weiteren  6  Elektronen,  die  ans  Ende  der 
letzten  chemischen  Periode  führen,  entsprechen 
offenbar  wieder  den  Würfelnormalen  als  den 
Richtungen,  die  nunmehr  zu  größter  Annäherung 
an  den  Kern  führen. 

Über  die  Atomsymmetrie  der  übrigen  zwischen 
diesen  Edelgastypen  liegenden  Elemente  versucht 
Tertsch  durch  möglichst  ungezwungene  An- 
ordnung der  Elektronen  in  der  äußersten,  gegen- 
über dem  voraufgehenden  Edelgas  hinzutretenden, 
aber  noch  unvollständigen  Elektronenschale  Auf- 
schluß zu  erhalten.  Er  findet  auf  diese  Weise  in 
der  Tat  von  den  43  ihrer  Kristallgestalt  nach 
bekannten  Elementen  für  23  Anordnungen  ihrer 
Elektronenbahnen  in  der  äußersten  Schale,  die 
mit  der  tatsächlichen  Symmetrie  übereinstimmen, 
während  bei  4  zweifelhaften  Fällen  die  übrigen 
16  Elemente  sich  nur  gezwungen  oder  gar  nicht 
hinsichtlich  ihres  Atombaues  mit  ihrer  Kristall- 
symmetrie in  Einklang  bringen  lassen.  Immer- 
hin haben  diese  Darlegungen  gezeigt,  wie  hier 
eine  Möglichkeit  vorliegt,  dem  Problem  der  Atom- 
symmetrie auf  neuen  Wegen  näher  zu  kommen. 
[Anm.  des  Ref.:  Es  sei  darauf  hingewiesen,  daß 
neuerdings  P.  Niggl  i  in  2  Arbeiten  über  Kristall- 
struktur und  Atombau  in  der  Zeitschr.  f.  Kristallogr. 
56.  Band  (1921),  S.  12  u.  S.  167,  insbesondere 
S.  167 — 174,  überzeugend  dargetan  hat,  wie 
wichtig  für  die  räumliche  Anordnung  der  Elek- 
tronen im  Atom  die  Zahlen  2,  6,  8,  12  und  24 
ganz  zweifellos  sein  müssen.]  Spbg. 


Die  Übertragung  der   Pferderäude   auf  den 
Menschen. 

Beim  Pferde  unterscheidet  man  als  anzeige- 
pflichtige Räudeformen  die  Sarkoptes-  und  Der- 
matokoptesräude.  Die  Dermatophagus-  oder  Fuß- 
räude ist  veterinärpolizeilich  ohne  Bedeutung,  da 
sie  nur  lokalisiert  auftritt  und  auch  ohne  Behand- 
lung von  selbst  heilt.  Nur  die  Sarkoptesräude 
ist  auf  den  Menschen  übertragbar;  wenn  auch 
nicht  alle  Personen  gleich  empfänglich  für  die 
Pferderäude  sind,  so  sind  doch  während  dem 
Kriege  und  seit  dem  Kriege  Übertragungen  der- 
selben auf  den  Menschen  überaus  häufig  be- 
obachtet worden.  In  der  „Deutschen  Tierärztl. 
Wochenschr."  Nr.  43  von  1920  wird  die  Ver- 
schiedenheit der  Empfänglichkeit  der  einzelnen 
Individuen  hauptsächlich  von  der  Behaarung  und 
Feinheit  der  Haut  abhängig  gemacht.  Viele  Per- 
sonen scheinen  daher  gegen  eine  Infektion  immun 
zu  sein.  Die  Inkubationszeit  ist  kurz  und  dauert 
im  Durchschnitt  18  Stunden  bis  zu  drei  Tagen. 
Die  gewöhnlichen  Prädilektionsstellen  der  Krätze, 
Hand,  Karpealgelenk  und  Schulterfalten  bleiben 
bei  der  Räude  frei.  Die  Erkrankung  beginnt  erst 
von  der  Mitte  des  Unterarmes  an.  Kopf  und 
Gesicht  werden,  wenn  auch  äußerst  selten,  doch 
im  Gegensatz  zur  Krätze,  die  bei  Erwachsenen 
gar  nicht  auf  den  Kopf  übergeht,  auch  wohl  von 
der  Räude  ergriffen.  Milbengänge  sind  beim 
Menschen  auch  sehr  selten  und  dann  auch  nur 
andeutungsweise  nachzuweisen.  Der  Milbennach- 
weis  ist  sehr  schwierig.  Im  allgemeinen  ist  der 
Prozeß  gutartig,  die  übertragene  Räude  heilt  in 
den  meisten  Fällen  in  2 — 8  Wochen  von  selbst 
ab.  Jedoch  kommen  auch  schwere  Fälle,  Kompli- 
kationen vor,  die  nur  medikamentöser  Behandlung 
weichen  und  zu  Nachkrankheiten  Veranlassung 
geben.  Eine  Übertragung  vom  Menschen  zum 
Menschen  gehört  zu  den  größten  Seltenheiten. 

Reuter. 


Literatur. 

Kühn,  Prof.  Dr.  A.,  Morphologie  der  Tiere  in  Bildern. 
I.Heft:  Protozoen.  I.Teil:  Flagellalen.  Berlin  '21,  Gebr. 
Bomträger. 

Wächter,  Dr.  W.,  Vademecum  für  Sammler  von  Arznei- 
und  Gewürzpflanzen.     Cölleda,  Verlag  der  ,,Vegeta". 

Baur,  Prof.  Dr.  E.,  Fischer,  Prof  Dr.  E.  und  Lenz, 
Dr.  F.,  Menschliche  Erblichkeitslehre.  Mit  65  Textfiguren. 
München  '21,  Lehmann.     5°  ^• 

Haeckel,  Ernst,  Entwicklungsgeschichte  einer  Jugend. 
Briefe  an  die  Eltern.  1852—1855.  Leipzig  '21,  K.F.Köhler. 
40  M. 

Zander,  Prof  Dr.  E.,  Das  Leben  der  Biene.  Mit  138 
Abbildungen.     2.  erweiterte  Aufl.     Stuttgart,  E.  Ulmer.    20  M. 


Inbalt:  H.  Balss,  Über  Stridulationsorgane  bei  dekapoden  Crustaceen.  (14  Abb.)  S.  697.  —  Einzelberichte:  H.  Cloos, 
Der  Mechanismus  tiefvulkanischer  Vorgänge.  S.  701.  v.  Eggeling,  Inwieweit  ist  der  Wurmfortsatz  am  menschlichen 
Blinddarm  ein  rudimentäres  Gebilde?  (I   Abb.)  S.  702.       H.  Tertsch,    Zur  Frage  der  Atomsymmetrie.  S.   703.       Die 

.    ;         Übertragung  der  Pferderäude  auf  den  Menschen.  S.   704.  —  Literatur:  Liste.  S.   704 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Miehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstrafie  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  ganxen  Reihe   36.  Band. 


Sonntag,  den  ii.  Dezember  1921. 


Nummer  50. 


Das  Kontinuitätsprinzip  in  der  Chemie. 

Von  Dr.  Eduard  Färber,  Mannheim. 


[Nachdruck  verboten.  1 

1.  Die  folgende  Betrachtung  bedarf  an  dieser 
Stelle  mehr  für  den  ersten  als  den  zweiten  Teil 
des  Titels  eines  erläuternden  Vorwortes;  seine  Auf- 
gabe soll  es  sein,  den  Begriff  Stetigkeit  in  dem- 
jenigen Teil  zu  erklären,  der  dann  auf  einige  an 
sich  wohlbekannte  und  nur  neu  zusammengefaßte 
Tatsachen  angewendet  werden  soll.  Dabei  wird 
es  im  ganzen  wohl  so  gehen,  wie  immer  bei  der 
Entwicklung  einer  allgemeineren  Theorie:  Die 
wird  auch  zuerst  nur  dem  Vorhandenen,  Bekannten 
entnommen  und  scheint  insoweit  gar  nichts  an- 
deres als  dies,  daher  bloß  unfruchtbare  Wieder- 
holung zu  sein.  Aber  aus  der  Theorie  folgt  dann 
die  Neuordnung  des  Bekannten  unter  größeren 
Gesichtspunkten  und  die  systematisch  begründete 
Voraussage  manches  noch  Unbekannten. 

2.  Gräbt  man  ganz  „tief"  auf  den  Grund 
unserer  Erkenntnis,  so  fördert  man  im  besten 
Falle  etwas  zutage,  was  auch  ohne  diese  müh- 
selige Arbeit  als  selbstverständlich  jeder  schon  zu 
besitzen  meint.  Man  verwechselt  dann  nämlich 
das  rein  gedanklich  gewonnene  Ergebnis  mit  dem 
experimentellen.  Es  geht  einem  damit  ungefähr 
so,  wie  der  neueren  Physik  mit  der  Atomtheorie ; 
nach  gewaltiger  Arbeit  wurde  auch  hier  ihr  Er- 
gebnis als  schon  lange  vorher  fertiges  entgegen- 
gehalten. Wo  immer  solch  allgemeine  oder  gar 
allgemeinste  Ergebnisse  als  experimentell  erwiesen 
ausgegeben  werden,  kann  man  sich  auf  dasselbe 
Schauspiel  gefaßt  machen.  Man  stritt  ja  auch 
lange  darum,  ob  das  Erhaltungsgesetz  induktiv 
aus  Beobachtungen  gewonnen  oder  a  priori  aufge- 
stellt wurde.  Bei  objektivem  Urteilen  mußte  dies 
unentschieden,  vielmehr  unentscheidbar  bleiben, 
solange  nicht  genauer  erklärt  wurde,  was  gemeint 
sei:  Einerseits  ist  es  klar,  daß  ein  Erhaltungs- 
gesetz als  philosophisches  schon  bei  manchen 
alten  griechischen  Denkern  sich  findet,  während 
doch  andererseits  die  Bestimmung  dessen,  was 
denn  erhalten  bleibt,  so  viel  Kampf  und  Mühe 
kostete  und  wirklich  erst  sehr  spät  gelang.  Ich 
sage  nur  allgemein :  Erhaltungsgesetz;  man  findet 
seine  Anwendung  auf  die  Materie  schon  lange 
vor  Lavoisier  in  der  Chemie,  aber  man  findet 
es  auch  bei  und  nach  Lavoisier  gelegentlich 
ganz  falsch,  eben  weil  die  Glieder  der  konstant- 
bleibenden Summe  falsch  bestimmt  wurden.  Das 
Erhaltungsgesetz  für  die  Energie  läßt  ganz  ähn- 
liche und  wohl  nicht  weniger  oft  verwirklichte 
falsche  Schlüsse  zu  —  wobei  nie  das  Gesetz  falsch 
war,  aber  falsche  Bestimmungsstücke  eingesetzt 
wurden. 

Noch    weniger   als   hier,   kann   für  das  Stetig- 


keitsgesetz der  rein  gedankliche  Anteil  achtlos 
übergangen  werden;  ja  er  scheint  hier  so  stark 
vorzuwiegen,  daß  man  kaum  von  einer  Entdeckung 
des  Stetigkeitsgesetzes  auch  nur  in  dem  Sinne 
reden  kann,  wie  von  der  Entdeckung  des  Erhal- 
tungsgesetzes. Zwischen  zwei  verschiedenartigen, 
auseinander  hervorgehenden  Zuständen  müssen 
stetige,  nämlich  allerkleinste,  wirklich  differenzielle 
Übergänge  gelegen  haben  —  das  ist  einfach  ganz 
klar  und  braucht  nicht  erst  entdeckt  zu  werden, 
da  der  „gesunde  Menschenverstand"  es  nicht  an- 
ders sagen  oder  denken  könne.  Wäre  etwas 
anderes  als  Stetiges,  so  geschähe  das  Wunder. 
Das  Stetigkeitsgesetz  ist  so  trivial  von  Anfang  an, 
wie  nach  seiner  langen  Geschichte  der  Inhalt  des 
Erhaltungsgesetzes. 

Diesem  hohen  Grade  von  Selbstverständlich- 
keit steht  aber  das  häufige  Vorkommen  scheinbar 
ebenso  selbstverständlicher  Unstetigkeiten  gegen- 
über. Die  Chemie  scheint  so  ungefähr  die 
Wissenschaft  vom  Unstetigen  zu  sein :  Da  gilt  es 
ja,  reine  Stoffe  streng  von  allem  anderen,  dem 
„Fremden",  zu  trennen  und  als  eigenartig  zu  er- 
kennen; dabei  stellen  sich  Sprunggesetze  ver- 
schiedener und  grundlegender  Art  heraus,  für 
Verbindungsgewichte  und  Valenzen;  Atome,  Elek- 
tronen, auch  Quanten  werden  von  der  Physik  her 
übernommen.  Die  Physik  ihrerseits  war  früher 
reichlicher  mit  Stetigkeitsbetrachtungen  versehen 
gewesen,  und  gewiß  hat  die  Chemie  auch  von 
diesen  Gebrauch  gemacht.  Nun  aber  haben  sich 
beide  Wissenschaften  im  Gebiete  der  Unstetig- 
keiten getroffen. 

Nachdem  wir  also  die  Stetigkeit  im  Geschehen 
als  eigentlich  nicht  einmal  erwähnenswerte  feste 
Grundlage  annehmen  sollten,  tritt  nun  das  Gegen- 
teil mit  demselben  Geltungsanspruche  hervor. 
Der  Widerspruch  entsteht  nicht  etwa  zwischen 
der  rein  gedanklichen  Forderung  und  dem  tat- 
sächlich Beobachteten;  der  Gedanke  selbst,  daß 
eine  Veränderung  stetig  verlaufen  soll,  läßt  sich 
in  zwei  solche  einander  widerstreitende  Extreme 
zerlegen.  Wir  befinden  uns  in  der  merkwürdigen, 
aber  recht  häufigen  Situation,  wo  Entgegengesetztes 
als  gleich  —  oder  gleich  wenig  —  einleuchtend 
erscheint.  Das  bedeutet  aber  in  jedem  dieser 
Fälle,  daß  man  zu  sehr  auf  einen  bloßen  Gedan- 
ken acht  hatte,  und  zu  wenig  darauf,  wie  man 
die  Tatsachen  dabei  verwertete.  Was  hier  not 
tut,  um  den  Widerspruch  nicht  zum  Widersinn 
werden  zu  lassen,  ist :  eindringliche  Untersuchung 
des  Erfahrungsmaterials,  sachlicher  statt  rein  ge- 
danklicher  Grund   für  die  Inhaltsbestimmung  des 


7o6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Begriffs.  Das  sollte  man  Naturwissenschaftlern 
wohl  weniger  zu  sagen  brauchen  als  den  Philo- 
sophen; aber  wenn  man  sich  gewisser  diesbezüg- 
licher Äußerungen  erinnert,  so  wird  man  solche 
Hinweise  auch  an  dieser  Stelle  nicht  für  ganz 
unnütz  halten. 

3.  Wohl  aber  mag  nun  ein  Sprung  zur  all- 
gemeinen sachlichen  Erklärung  des  Begriffes 
Stetigkeit  erlaubt  sein:  Rein  gedanklich  heißt 
Stetigkeit  nur  eine  Denkmöglichkeit;  auf  Erfah- 
rungsbildung angewendet,  würde  daraus  eine 
ideale  Forderung:  eben  das  Stetigkeitsideal  zu 
erreichen.  Aber  was  damit  gefordert  wird,  läßt 
sich  zunächst  nur  ganz  allgemein  sagen :  nämlich 
die  Gewinnung  von  Begriffsinhalten,  die  den  er- 
wähnten Widerspruch  „aufheben".  Jenem  Ideale 
steht  selbst  die  mathematische  Stetigkeit  nur  be- 
sonders nahe,  sie  erfüllt  es  nicht.  Man  erkennt 
das,  wenn  man  einem  reinen  Denker  das  Diffe- 
renzial  im  mathematischen  Sinne  zu  erklären  hat; 
denn  denkmöglich  sind  noch  viel  kleinere  und 
näher  aneinanderliegende  Teilchen,  als  die  dx 
und  dt.  Wie  weit  naturwissenschaftliche  Diszi- 
plinen sich  dem  Ideale  genähert  haben,  dafür 
bilden  die  kleinsten  Einheiten  derselben  ein  un- 
gefähres Eikennungsmerkmal.  Eine  solche  Ein- 
heit war  bis  vor  wenigen  Jahrzehnten  in  der 
Physik  das  Atom,  wie  in  der  Chemie  die  damalige 
Valenzeinheit.  Das  Atom  ist  freilich  kein  mathe- 
matischer Punkt;  wieder  mußte  man  auf  den  be- 
sonderen Sinn  achten,  um  in  der  Konstruktion 
eines  ausgedehnten  und  doch  unteilbaren  Körper- 
chens nicht  ein  gedankliches  Unding  zu  ver- 
urteilen, wie  man  es  ja  bei  alten  Philosophen  — 
hoffentlich  nur  diesen  —  nachlesen  kann.  Als 
man  das  Atom  zerlegen  lernte,  da  glaubten 
manche,  den  Triumph  ihrer  durch  reines  Denken 
gewonnenen  Voraussagen  über  das  experimentelle 
Untersuchen  feiern  zu  können;  während  wir  doch 
nur  eine  Veränderung  des  sachlichen  Inhaltes, 
nämlich  einer  physikalischen  Bestimmung  von 
Stetigkeit  erlebten.  Wären  die  chemischen  Grund- 
begriffe so  bekannt  wie  die  physikalischen,  so 
wäre  ganz  ähnliches  geschehen,  als  man  die 
Valenzeinheit  in  Teile  zerlegte.  Man  erinnert 
sich,  daß  auch  die  „kleinsten"  Teilchen,  die  in 
der  Biologie  gefunden  wurden,  derartige  Entwick- 
lungen durchmachten:  Zerlegung  in  Organe,  Zer- 
spaltung  in  Zellen,  Erkennung  von  Zellstrukturen 
und  Aufbau  von  deren  Elementen  aus  noch 
kleineren  Einheiten  sind  darin  einige  Phasen  ge- 
wesen. 

Das  sind  einige  von  den  diskreten  Größen, 
aus  denen  man  die  jeweiligen  Gegenstände  zu- 
sammenzusetzen vermochte,  Objektivierungen 
dessen,  was  wir  gerade  noch  unterscheiden  können, 
und  was  doch  so  eng  beieinander  ist,  daß  bei 
der  darauffolgenden  Zusammensetzung  keine  Lük- 
ken  oder  Unebenheiten  bleiben.  Wenn  man  also 
sagen  wollte,  was  Stetigkeit  denn  „wirklich"  ist, 
so  müßte  man  aus  allen  Wissenschaften  diejenigen 
Erfahrungsbegriffe    untersuchen,     die    auf    ihrem 


Spezialgebiete  kleinste  Sprünge  darstellen.  Elek- 
tronen, Partialvalenzen,  heute  letzte  Zelleinheiten 
sind  die  Differentiale  der  Naturwissenschaften. 
Sie  alle  enthalten  eben  jenen  Widerspruch,  der 
nur  zu  einer  genaueren  sachlichen  Ergründung 
veranlassen  kann. 

Für  die  Biologie  ist  ein  derartiger  Bestim- 
mungsversuch veröffentlicht  worden;  *)  daß  er 
recht  unzureichend  ausgefallen  ist,  liegt  wohl  auch 
daran,  daß  für  die  Hilfswissenschaften  der  Biologie 
noch  so  wenig  in  dieser  Richtung   geschehen  ist. 

4.  Die  Diskontinuität  —  wie  man  vom  Stand- 
orte des  rein  gedanklichen  Betrachtens  sagen 
könnte  — ,  die  Art  der  Stetigkeitserfüllung  —  wie 
es  sachlich  heißt  — ,  die  in  der  Chemie  verwirk- 
licht wird,  läßt  sich  nicht  etwa  durch  die  92  Ele- 
mente kennzeichnen.  Dazwischen  besteht  ja  die 
gewaltige  Fülle  der  Verbindungen  dieser  Elemente 
untereinander.  Von  dieser  Seite  her  hat  die 
Aufgabe :  Sietigkeitserfüllung  einen  Sinn,  wie  etwa 
für  das  Verhältnis  von  Atom  ur.d  Elektron  zum 
wahren,  greifbaren  Gegenstande.  Dann  sollen 
die  chemisch  reinen  Stoffe  Zerlegungseinheiten 
sein,  die  eine  Chemie  des  höchsten  natürlichen 
Komplexes  dieser  Stoffe,  des  „Lebens"  selbst  zu- 
sammen zusetzen  gestatten. 

In  gewisser  Hinsicht  kann  die  neuerdings  ver- 
stärkte biochemische  Forschung  als  ein  Zeichen 
dafür  gelten,  daß  die  Chemie  auch  als  Wissen- 
schaft schon  alt  geworden  ist  und  sich,  im  Sinne 
jenes  Wortes  von  Goethe,  dem  Leben  nach 
einem  Umwege  wieder  nähert.  Doch  vergesse 
man  nicht,  daß  schon  vor  einem  Jahrhundert 
eifrig  biochemisch  gearbeitet  wurde,  und  daß  es 
eigentlich  seit  jeher  geschah.  Der  Unterschied 
zwischen  einst  und  jetzt  liegt  anderswo.  Früher 
versuchte  man  —  unter  anderem  —  eine  Zettei- 
lung  des  lebendigen  Organismus  in  wenige  Stücke; 
statt  eigentlich  reiner  Stoffe  erhielt  man  also  Ge- 
mische, denen  von  ihrem  Ursprünge  noch  man- 
cherlei mit  anhaftete.  Selbst  die  Pottasche  war 
ja  verschieden  je  nach  den  zum  Ausgangsmateriale 
genommenen  Pflanzenteilen. 

Es  gelang  nicht,  mit  diesen  von  ihrem  Ur- 
sprünge noch  wesentlich  beeinflußten  wenigen 
Teilen  das  organische  Ganze  zusammenzusetzen. 
Das  läßt  sich  vielleicht  logisch  sehr  schwer  ver- 
stehen, man  muß  diese  Unmöglichkeit  als  eine 
experimentelle  und  historische  Tatsache  hin- 
nehmen. Vielleicht  konnte  man  eine  Zeitlang 
glauben,  das  Ziel  doch  mit  den  damaligen  Zer- 
legungseinheiten gewonnen  zu  haben.  Es  be- 
durfte eben  einer  verfeinerten  Beobachtung,  um 
den  Unterschied  zwischen  dem  Erreichten  und 
dem  Geforderten  auch  zu  erkennen;  so  daß  ein 
Fortschritt  nicht  allein  in  der  Zahl  der  Zerlegungs- 
einheiten zu  bestehen  braucht,  sondern  auch  da 
zutage   tritt,    wenn    die    Unzulänglichkeit    der  ge- 


')  „Das  Kontinuitätsprinzip  und  seine  Anwendung  in  der 
Biologie"  von  J.  Dembowski.  Berlin  1920,  Verlag  von 
Julius  Springer. 


N.  F.  XX.  Nr.  SO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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fundenen  Teile  im  Vergleiche  zur  Einheit  des 
Ganzen  bewiesen  werden  kann.  Sehr  oft  —  darf 
man  sagen:  regelmäßig?  —  vollzog  sich  die  Ent- 
wicklung in  der  Chemie  so,  daß  beide  Arten  von 
Fortschreiten  miteinander  abwechselten.  So  ist 
man  zwar  an  gewissen  Stellen  wieder  dahin  zu- 
rückgekehrt, statt  chemisch  definierler  Verbin- 
dungen „natürlichere"  Gemische  als  Medikamente 
zu  benutzen;  aber  man  darf  wohl  voraussehen, 
daß  hierauf  die  Isolierung  derjenigen  Bestandteile 
folgen  wird,  in  denen  eigentlich  der  bedeutsame 
Unterschied  der  Wirkung  konzentriert  ist.  Dafür 
hat  man  ja  auch  ein  Beispiel  mit  einer  längeren 
Geschichte  und  der  Darbietung  auch  dieser  späten 
Phase:  Liebig,  wie  andere  gelegentlich  zu 
rationalistische  Chemiker,  wollte  das  Mineral- 
wasser durch  die  Zusammensetzung  aus  seinen 
chemisch  isolierten  Bestandteilen  ganz  identisch 
nachkonstruieren.  Doch  der  Unterschied  zwischen 
der  Wirkung  des  natürlichen  und  der  des  künst- 
lichen Mineralwassers  wurde  in  einigen  Fällen 
tatsächlich  erkannt,  erklärt  freilich  erst  nach  dem 
Eindringen  in  die  radioaktiven  Vorgänge.  Man 
wird  sich  hüten,  zu  rasch  abfällig  über  die  dabei 
begangenen  früheren  Irrtümer  zu  urteilen,  wenn 
man  die  Schwierigkeiten  mancher  ähnlichen 
Gegenwartsaufgaben  erfahren  hat:  etwa  der 
Forschung  auf  dem  Gebiete  der  Ergänzungs- 
nährstoffe (Vitamine). 

Nicht  das  also  ist  das  Wesentliche  oder  gar 
Einzige,  daß  die  Einheit  des  Organismus  in  dis- 
krete Teile  zerlegt  wird;  und  auch  die  Ansicht 
ist  falsch,  als  geschähe  die  Zerlegung  nun  will- 
kürlich durch  die  Eigenart  —  weniger  objektiv 
ausgedrückt:  Unvollkommenheit  —  unserer  Be- 
obachtungsweise. Die  Aufgabe  heißt  vielmehr, 
mit  den  rein  isolierten  Stoffen  eine  Reihe  stetiger 
Übergänge  zu  bilden,  so  daß  deren  Summe  das 
Ganze  ergibt.  Die  für  sich  diskreten  Teile  sind 
doch  kontinuierlich  in  bezug  auf  das  Ganze. 

5.  Die  Beispiele  aus  der  Biochemie  sind  viel- 
leicht nicht  die  einfachsten,  die  zur  Erläuterung 
des  chemischen  Inhalts  von  Stetigkeit  angeführt 
werden  können.  Aber  Biochemie  erscheint  vor 
allem  dadurch  schwierig,  daß  hier  die  letzte  Auf- 
gabe stets  besonders  deutlich  gegenwärtig  ist :  die 
Addition,  vielmehr  Integration,  der  chemischen 
Individuen  zum  lebendigen  Ganzen.  Dagegen 
läßt  sich  das  Aufgabengebiet  der  Chemie  der 
einzelnen  Verbindungen  für  sich  abgrenzen:  Die 
Verbindungen  gilt  es  dann  auf  die  kleinste  Zahl 
gemeinsamer  Nenner  zu  bringen.  Auch  hier  muß 
darum  zerlegt  und  scharf  abgegrenzt  werden. 
Außerdem  fordert  der  Widerspruch,  der  im  Be- 
griffe der  Grenze  als  Scheidendem  und  zugleich 
Verbindendem  liegt,  in  eigener  Weise  seine  ex- 
perimentelle Lösung. 

Der  Stoff  als  eine  Verbindung  wird  in  Teile 
zerlegt;  ein  Überblick  über  die  historische  Ent- 
wicklung dieses  Zerlegens  würde  wohl  am  besten 
eben  an  ihrem  Gange  die  Relativität  des  che- 
mischen Stetigkeitsinhaltes   kennzeichnen  können. 


Nur  an  die  allgemeinste  Linie  solcher  Entwicklung 
kann  hier  erinnert  werden:^)  In  der  organischen 
Chemie  hatte  man  etwa  in  der  Zeit  Lavoisiers 
und  kurz  darnach  neben  die  Abscheidung  einer 
Verbindung  nur  ihre  Elementaranalyse  zu  setzen, 
und  nichts  Vermittelndes  dazwischen.  Daß  hier 
überhaupt  noch  Zwischenraum  vorhanden  war, 
war  noch  nicht  experimentelle  Tatsache  geworden. 
Es  mußte  sich  erst  zeigen,  daß  man  bei  der  Ver- 
brennung der  organischen  Substanz  noch  nicht 
zu  deren  „nächsten"  Bestandteilen  gelangt.  Die 
offenbaren  sich  nur  viel  feineren  Einwirkungen. 
G.  J.  Mulder,  besonders  aus  seinem  Streit  mit 
Liebig  bekannt,  schrieb  1843:  „Brüler  les  sub- 
stances  organiques  avec  l'oxyde  de  cuivre,  n'est 
pas  les  etudier."  Damals  vermochte  man  aller- 
dings schon  ganz  andere  Aufschlüsse  beizubringen. 
Man  trennte  nicht  alle  chemischen  Bindungen 
voneinander,  sondern  behielt  einen  Teil  davon 
im  Radikale  beisammen  (Äthyl-,  Benzoyl-Ra- 
dikal).  Viel  Streit  entstand  über  die  sinngemäße 
Erklärung  dieses  Beieinander  (Berzelius,  Lie- 
big). So  tief  versenkte  man  sich  darein,  daß  im 
Nebel  der  Radikale  die  Atome  dem  Blicke  entschwan- 
den (nach  Kekule).  Tatsächlich  mußte  man  erst 
eigentlich  lernen,  die  Atome  auch  chemisch, 
nämlich  experimentell,  präparativ,  zu  fassen,  wie 
es  etwa  allmählich  bei  den  Substitutionen  einzelner 
Atome  einer  Verbindung  durch  andere  gelang. 
Die  Größe  der  Zerlegungseinheit  war  damit  ver- 
ringert, der  Sprung  zwischen  diesen  Einheiten 
näherte  sich  dem  zwischen  mathematischen 
Differentialen.  Nun  hören  wir  in  den  letzten 
Tagen  die  Klage  mancher  Chemiker,  daß  man 
doch  chemisch  nur  so  grob  mit  der  Materie  um- 
gehen könnte  und  nicht  immer  bis  zu  den  letzten 
Teilchen  der  Physik,  den  Elektronen,  auch  che- 
misch gelangte. 

In  den  allgemeinen  Richtungen  gilt  dieser 
Entwicklungsgang  auch  für  die  anorganische  Che- 
mie. Berzelius  setzt  in  seinem  „Lehrbuch" 
auseinander,  wie  relativ  es  gemeint  sein  muß, 
wenn  man  in  Kupfersulfat  CuO-j-SOg  oder 
Cu  +  SO4  als  „eigentliche"  Konstituenten  an- 
nimmt. Früher  einmal  war  „Salz"  überhaupt  ein 
einheitlich  kennzeichnender  Begriff  für  ein  Un- 
trennbares gewesen,  jetzt  mußten  nicht  nur  die 
Elemente  bestimmt  werden,  sondern  auch  ge- 
nauer die  Gruppen  ihres  Zusammenhaltens.  Die 
experimentelle  Auflösung  in  die  Atome  und  das 
Vordringen  bis  zu  den  Elektronen  folgt  spät. 
Außerdem  gab  es  noch  eine  andere  Entwicklungs- 
linie :  Verbindungen  zwischen  eigentlich  gesättigten 
Bestandteilen  wurden  zwar  schon  vor  vielen  Jahr- 
zehnten untersucht;  aber  erst  gegen  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts,  vor  allem  seit  Alfred 
Werners  systematischer  Abhandlung  aus  dem 
Jahre  1893,  gewannen  diese  komplexen  Ver- 
bindungen eigene  Bedeutung.  Der  große  Zwischen- 


')  Vgl.  dazu:    E.  Färber,   Die   geschichtliche   Entwick- 
lung der  Chemie.     Berlin   1921,    Verlag    von  Julius  Springer. 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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räum  zwischen  den  einfachen  Verbindungen  wurde 
dadurch  an  vielen  Stellen  ausgefüllt,  und  physiko- 
chemische Methoden  lehrten  die  hier  möglichen 
Übergänge  erkennen.  Die  Lehre  von  der  Valenz, 
als  Ausdruck  der  gefundenen  Verbindungsmög- 
lichkeiten, wurde  entsprechend  zu  größerer 
Stetigkeitserfüllung  erweitert :  Die  alte  starre 
Valenzeinheit  wurde  geteilt,  und  in  einer  um- 
fassenden Theorie  ein  kontinuierliches  Valenz- 
feld als  Grundlage  gewählt. 

6.  Damit  ist  freilich  durchaus  nicht  das  Ge- 
setz der  konstanten  und  multiplen  Proportionen 
beseitigt ;  aber  wie  es  verändert  wurde,  das  zeigt 
etwa  eine  prinzipielle  Äußerung  aus  der  neuesten 
Zeit :  ,,Die  neue  Auffassung  ist  hier  also  liberaler 
als  die  alte  und  fordert  konstante,  einfache  Zu- 
sammensetzung nicht  da,  wo  sie  in  Wahrheit  nicht 
anzutreffen  ist,  wie  z.  B.  bei  den  vielen  amorphen 
basischen  Salzen^  Silikaten  usw.;  wie  sie  hier 
überhaupt  nicht  mehr  die  scharfe  Grenze  zwischen 
physikalischer  und  chemischer  Einwirkung  zieht, 
welche  der  Natur  fremd  ist  .  .  ."  ^) 

Man  würde  daraus  schließen,  daß  die  neuere 
Entwicklung  der  Chemie  zu  ganz  besonderer  Aus- 
bildung des  Stetigkeitsgedankens  geführt  hätte. 
Es  gäbe  ja  auch  zahlreiche  andere  Beispiele  da- 
für. Die  Kolloidchemie  bietet  in  der  Beziehung 
viel  interessante  Einzelheiten,  und  sie  selbst  ist 
ja  ein  Mittelglied  zwischen  früher  übergangslos 
getrennten  Gebieten.  Aber  man  findet  doch  zu- 
gleich auch  Grundlagen  für  die  gerade  entgegen- 
gesetzte Ansicht.  Da  zeigt  sich  eben  auch  beim 
spezielleren  Eindringen  der  Widerspruch,  wie  im 
Gebiete  des  allgemeinen  daran.  In  der  Physik 
trat  an  die  Stelle  einer  als  selbstverständlich  an- 
genommenen Behauptung  von  stetiger  Energie- 
aussendung die  Quantentheorie.  Sie  wurde  auch 
chemisch  bedeutsam.  Das  periodische  System 
halte  zuerst  die  definitionsgemäß  durchaus  eigen- 
artigen Elemente  in  Ähnlichkeitsreihen  gebracht: 
Übergänge  fanden  zwar  nicht  zwischen  den  Ele- 
menten, aber  doch  zwischen  ihren  Eigenschaften 
statt.  Daraus  ließ  sich  logisch  die  Forderung  ab- 
leiten, daß  nun  auch  die  materiellen  Träger  der 
qualitativen  Ähnlichkeiten  erschlossen  würden. 
Anfangs  tat  man  zwar  so,  als  müßte  eine  solche 
Forderung  mit  dem  Prädikate :  zu  spekulativ  aus 
der  Chemie  verwiesen  werden ;  in  Wirklichkeit 
hatte  die  P  r  o  u  t  sehe  Hypothese  nie  aufgehört 
lebendig  iu  sein.  Umwandlungen  eines  Elementes 
in  andere  wurden  tatsächlich  gefaßt;  nun  ist  man 
eifrig  dabei,  dies  aus  der  Konstitution  der  Materie, 
aus  der  Zurückführung  aller  Elemente  auf  ein 
Urelement,  zu  erklären.  Wären  also  selbst  die 
Elemente  durch  stetige  Übergänge  verbunden? 
Man  könnte  darauf  mit  Nein  antworten;  früher 
wußte  man  wenigstens  nicht  von  den  Übergängen, 
jetzt  wären  sie  jedoch  als  unstetige  erkannt,  denn 
zwischen  den  Elementen  lägen  ja  immer  Sprünge 
um  Wassetstoffkerne.     Selbst  wenn  wir  manches. 


')  F.  Arndt,  Zeitschr.  f.  Elektrochemie  26,    312  (1920). 


was  bisher  nur  Aufgabe  und  Problem  ist,  als  ge- 
löst betrachten  dürfen,  gelangten  wir  doch  höchstens 
zu  jenen  bisher  kleinsten  Unstetigkeitsgebilden, 
den  Elektronen.  Ist  dann  nicht  erneut  bewiesen, 
daß  UnStetigkeit  und  nicht  ihr  Gegenteil  in  der 
Natur  herrscht? 

Bleiben  wir  solchen  Behauptungen  gegenüber 
kritisch :  untersuchen  wir  ihren  sachlichen  Sinn. 
Das  Chlor  mit  seinem  Atomgewicht  35,46,  nach 
manchem  älteren  Streite  als  Element  anerkannt, 
wurde  neuerdings  in  Isotope  aufgelöst  (Aston). 
Wo  früher  nur  Einheitlichkeit  angenommen  wurde, 
erkennt  man  jetzt  Bestandteile.  Die  sind  nach 
ihrer  zahlenmäßigen  Bestimmung  freilich  weit 
voneinander  entfernt:  35  und  37  wären  z.  B. 
Atomgewichte  der  Chlorarten.  Aber  die  Unter- 
scheidung zwischen  ihnen  wurde  ja  erst  an  der 
äußersten  Grenze  der  experimentellen  Kunst  — 
nicht  unserer  Zeit,  sondern  eines  hervorragenden 
Einzelnen  —  ermöglicht.  Wenn  der  Stetigkeits- 
gedanke auf  solche  experimentelle  Ergebnisse  be- 
zogen werden  soll,  dann  muß  er  diese  auch  mit 
ihrer  experimentellen  Bedeutung  aufnehmen.  Dann 
bedeuten  die  Sprünge  nur  wieder  so  viel,  wie  die 
Differentiale  in  der  Mathematik;  und  das  Maß 
der  Sprungweite  ist  nicht  von  einer  reinen  Zahlen- 
lehre, sondern  von  der  Eigenart  der  Sache  herzu- 
nehmen. Jetzt  nennen  wir  verschiedene  Elemente, 
was  nur  in  der  einen,  und  gewiß  sehr  schwer 
feststellbaren  Eigenschaft,  nämlich  in  radioaktiver 
Beziehung  quantitativ  verschieden  ist.  Das  sind 
also  Stoffe,  die  noch  mit  allen  anderen  ihrer 
Eigenschaften  gar  nicht  aus  dem  Zusammenhange 
mit  gewissen  anderen  Stoffen  abgetrennt  wurden. 
Wir  erleben  stets  neue  Fortschritte  in  der  Rich- 
tung, für  diese  Fälle  auch  andere  Eigenschaften 
als  eigenartig  zu  bestimmen  und  dadurch  die 
Absonderung  weiter  auszudehnen.  Dabei  werden 
die  Zusammenhänge  nicht  vernichtet,  sondern 
gemessen,  da  ja  auch  dann  das  eine  am  anderen 
erkannt  wird.  So  war  denn  nicht  vorher  Stetig- 
keit, und  nun  das  Gegenteil:  sondern  wo  vorher 
Unbestimmtheit  war,  hat  man  nun  sachlichen 
Inhalt  gewonnen. 

7.  An  diesen  wenigen  und  nur  angedeuteten 
Beispielen  erkennt  man,  was  Stetigkeit  in  der 
Chemie  heißen  kann.  Für  zusammenfassende  ge- 
schichtliche Betrachtungen  wird  man  wohl  kaum 
einen  besseren  Leitfaden  gewinnen  können,  als 
die  Entwicklung  von  Stetigkeitserfüllung  darin 
hervorzuheben.  Wenn  man  darnach  von  einer 
nützlichen  Fiktion  sprechen  wollte,  so  könnte  man 
damit  nur  meinen,  daß  noch  weitere  Bestätigungen 
als  diese  nötig  sind,  um  vom  Stetigkeitsgedanken 
eine  „realere"  Geltung  behaupten  zu  dürfen. 

Ein  solches  Verlangen  könnte  sich  zunächst 
darauf  beziehen,  daß  hier,  wie  mit  einer  spezielle- 
ren Theorie  auch,  die  Voraussage  auf  noch  Un- 
bekanntes geleistet  würde.  Das  Kontinuitäts- 
prinzip läßt  sich  freilich  nur  nach  gewissen  Voraus- 
setzungen als  Theorie  bezeichnen.  Dennoch  kann 
so    etwas    wie    eine    Voraussage    damit   gemacht 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


709 


werden,  eine  sehr  allgemeine  allerdings,  wie  es 
der  Allgemeinheit  des  Prinzips  entspricht;  es 
handelt  sich  um  eine  Folgerung,  die  allerdings 
bei  falscher  Auffassung  als  das  Gegenteil  des 
Prinzips  selbst  erscheinen  müßte  I  Die  Annahme 
ununterscheidbarer  und  grundsätzlich  unzerlegbarer 
Gebilde  oder  Vorgänge  wird  stets  nur  eine  vor- 
läufige Annahme  sein;  sie  geht  nämlich  dem 
eigentlichen  Erkennen  voraus,  sie  bildet  eine 
Krücke  dort,  wo  wir  noch  nicht  bestimmte  Mes- 
sungen anstellen  können.  Schwingungszustände 
zwischen  chemisch  ausdrückbaren  Formen  müssen 
immer  zerlegt  werden  in  die  Individuen,  die  zwi- 
schen den  Anfangs-  und  den  Endzustand  gelegt 
werden  können ,  sei  es  auch  erst  nach  der  Er- 
weiterung früherer  Annahmen.  Die  Übergänge 
eines  Elementes  in  andere  werden  erst  durch  die 
Stufen  dabei  genau  gekennzeichnet.  Das  undifife- 
renzierte  Valenzfeld  bedarf  der  Bestimmung  durch 
diskrete  Teile  darin. 

Doch  dann  ist  es  die  weitere  Aufgabe,  die 
gefundenen  bestimmten  Teile  recht  nahe  anein- 
ander zu  rücken.  Wohl  muß  man  sie  unter- 
scheiden können  —  das  ist  fast  selbstverständlich ; 
aber  die  Unterschiedsgröße  hat  einen  Wert,  der 
sich  nur  differentiell  über  denjenigen  des  unter- 
schiedslosen Überganges  erhebt.  Das  reine  Den- 
ken kann  zwar  noch  weiter  zu  führen  vermeinen; 
aber  dann  geschieht  es  eben  ohne  sachliche  Be- 
deutung und  ohne  experimentellen  Sinn.  Wir 
können  noch  viel  kleinere  Zahlen  aufschreiben, 
als  die  für  Elektronen  und  Quanten  gefundenen; 
wenn  das  aber  heißt,  daß  man  weitere  Zerteilun- 
gen  noch  suchen  kann,  so  bedeutet  es  durchaus 
nicht,  daß  sie  schon  gefunden  wären,  also  auch 
nicht,  daß  es  vollkommenere  Ausdrücke  für  Stetig- 
keit in  diesen  Gebieten  gäbe,  als  eben  diese  dis- 
kreten Gebilde. 

8.  Das  alles  ist  von  der  Selbstverständlichkeit 
durchtränkt,  die  allen  gründlich  allgemeinen  Be- 
hauptungen gemeinsam  ist.    Auch  das  Erhaltungs- 


prinzip ist  selbstverständlich  in  diesem  Sinne  und 
doch  so  außerordentlich  fruchtbar  für  die  For- 
schung. Aber  darf  man  beide  Prinzipien  auch 
wirklich  tiefgehend  vergleichen  ?  Aus  dem  Er- 
haltungsprinzip sind  viele  spezielle  Gesetze  ab- 
geleitet worden,  und  man  konnte  es  dann  in 
mathematische  Formen  kleiden.  Ist  es  mit  dem 
Kontinuitätsprinzipe  ähnlich  ?  Sein  eigentlicher 
allgemeiner  Ausdruck  ist  die  Mathematik  der 
Differenziale ;  damit  wird  es  bekanntlich  fast  überall 
in  den  Naturwissenschaften  angewendet. 

Doch  in  der  Chemie  gibt  es  viele  Teile,  die 
sich  der  völligen  mathematischen  Fassung  ent- 
ziehen. Zwar  sind  die  Forderungen  alt,  daß  die 
Qualitäten  durch  Zahlen  auszudrücken  sein  sollten; 
aber  das  ist  weitgehend  noch  bloß  Forderung 
geblieben.  Wir  sind  jetzt  auf  dem  Wege  zu 
ihrer  Erfüllung;  aber  wir  sind  es  ja  immer  schon 
gewesen.  Nur  verlangt  doch  die  allgemeine 
Richtung  neuerer  chemischer  Forschungen  nach 
ihrer  prinzipiellen,  bewußten  Fassung.  Einst 
konnte  das  Erhaltungsprinzip  die  Grundlage  für 
viele  neue  Erkenntnisse  bilden :  Man  erinnert  sich 
etwa,  außer  der  Erledigung  der  Phlogistontheorie, 
auch  der  Beweise  für  die  Natur  der  Erde,  die 
scheinbar  aus  dem  reinen  Wasser  gebildet  wurde, 
oder  der  Chemie  der  Kieselfluorwasserstofifsäure 
und  vieler  ähnlicher  wichtiger  Entscheidungen. 
Heute  kann  in  demselben  Sinne  das  Stetigkeits- 
prinzip fruchtbar  werden :  wie  wir  es  schon  in 
manchen  Forschungen  über  Katalyse  erlebt  haben, 
wie  es  überall  da  kenntlich  wird,  wo  man  engere 
und  feinere  Zwischenstufen  bei  chemischen  Um- 
wandlungen sucht,  und  wie  es  so  oft  bei  Dis- 
kussionen über  die  Beweiskraft  eines  Versuchser- 
gebnisses für  einen  davon  ein  wenig  abweichen- 
den Vorgang  auftritt.  Ein  solches  Forschungs- 
prinzip ist  aber  stets  auch  als  Erkenntnisprinzip 
wichtig:  als  die  Grundlage,  um  den  Umfang  und 
den  Wert  unserer  wissenschaftlichen  Behauptungen 
zu  deuten. 


[Nachdruck  verboten.] 


Täuschende  Ähnlichkeit  mit  Ameisen  (Myrmekoidie). 

Von  Franz  Heikertinger,  Wien. 


Die  Ameisen  gelten  vielfach  als  von  Insekten- 
fressern gemieden  und  es  wird  angenommen,  daß 
eine  Ähnlichkeit  mit  ihnen  anderen  Insekten 
lebenerhaltenden  Schutz  gewähre. 

Voraussetzung  für  die  Richtigkeit  dieser  An- 
nahme ist  der  wissenschaftliche  Nachweis 
eines  wirklichen  Geschütztseins  der  Ameisen  selbst. 
Diese  Forderung  steht  einer  objektiven  Unter- 
suchung ofifen. 

Als  Feinde  ameisengroßer  Insekten  kommen 
in  Betracht:  Halbparasitische  Insekten  (Raub- 
wespen, Schlupfwespen,  Schmarotzerfliegen  usw.), 
räuberische  Insekten  (Raubfliegen,  Libellen  usw.) 
und  Spinnen,  ferner  Amphibien,  Reptilien,  Vögel 
und  Säugetiere. 


Hiervon  wurden  die  Insekten  und  Spinnen 
kaum  je  als  die  Urheber  einer  natürlichen  Aus- 
lese der  Ameisenähnlichkeit  bezeichnet.  Ameisen 
werden  von  Raubinsekten  und  Spinnen  nicht  ge- 
mieden. Daß  sie  im  allgemeinen  nicht  gesucht 
sind,  erklärt  sich  zwanglos  aus  ihren  wenig  ver- 
lockenden Eigenschaften,  ihrer  Kleinheit,  Fleisch- 
losigkeit  usw. 

Nach  Wasmanns  Zusammenstellung  z.  B. 
macht  die  Grabwespe  Crossocenis  (Fertoniiis) 
luteicolUs  (Tracheliodcs  quinquenotatus)  Jagd  auf 
die  wehrhafte  Ameise  Tapvioma  erraticmn ;  Crabro 
(Brachymerus)  curvüarsis  raubt  Arbeiterinnen  der 
sehr  kriegerischen  und  angrififslustigen  Ameise 
Liometopum  micrüceplialuDi ;  schon  D  e  g  e  e  r  be- 


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richtet  über  den  Raub  der  giftstachelbewehrten 
Myrviica  rubra  durch  Wespen  usw.  Unter  den 
Schlupfwespen  sind  zahlreiche  Arten  der  Braco- 
niden,  Chalcididen  und  Proctotrupiden  als  Ameisen- 
parasiten bekannt  geworden.  Von  den  Fliegen 
sind  manche  Phoriden,  z.  B.  der  sog.  Ameisen- 
köpfer  (Apocephalus  gandei),  Ameisenparasiten. 
Der  Ameisenlöwe  hat  den  Namen  von  seinem 
Beutetier  erhalten  und  von  den  Spiimen  sind  die 
Theridmm- hntn  u.  a.  als  Ameisenjäger  bekannt. 
Amphibien  verschmähen  Ameisen  so  wenig 
wie  sie  Bienen  und  Wespen  verschmähen.  Der 
bekannte  Forscher  J.  H.  Fabre  teilt  mit,  daß 
Kotwürstchen  von  Erdkröten  fast  ausschließlich 
aus  Hunderten  von  Ameisenköpfen  bestanden.  In 
den  Tropen  sind  die  Engystomiden,  die  nord- 
amerikanische Krötenechse,  ferner  Zonuriden, 
Amphisbaenen,  Geckonen  usw.  Ameisenfresser. 

Hauptfeinde  sind  die  Vögel.  Warum  ein 
Vogel  eine  Ameise  fürchten  sollte,  wäre  auch 
kaum  verständlich.  Die  Vögel  sind  flink,  ihre 
Beine  sind  hornig  bekleidet,  ihr  horniger  Schnabel 
gestattet  ihnen,  die  kleinen  Ameisen  sicher  zu 
fassen  und  sofort  zu  töten.  Zu  alldem  ist  Mund- 
höhle und  Verdauungsweg  sehr  fest  ausgekleidet. 
Die  Vögel  sind  sehr  unempfindlich  und  ge- 
schmacksstumpf; Futter,  das  in  10%  Ameisen- 
säure eingeweicht  war  oder  Trinkwasser  mit  5  % 
Ameisensäure  (beides  nach  menschlichen  Begriffen 
entsetzlich  schmeckend)  wird  nach  Liebmanns 
Versuchen  ohne  weiteres  angenommen.  Was 
könnte  die  kleine  Ameise  dem  Vogel  anhaben? 
Und  den  Angriffen  einer  Ameisen  schar  sich  zu 
entziehen  ist  sicher  jeder  Vogel  geschickt  genug. 
Die  wissenschaftlichen  Untersuchungen  be- 
stehen in  Fütterungsexperimenten  mit  gefangenen 
Vögeln  und  in  der  Prüfung  der  Mageninhalte  im 
Freileben  erlegter  Vögel. 

Von  Fütterungsversuchen  erwähne  ich  als  Bei- 
spiel nur  den  von  R.  I.  Pocock,*)  der  die  sehr 
wehrhalte  rote  Waldameise,  Formica  rufa,  drei- 
zehn Arten  gefangener  Vögel  vorlegte  und  zu 
seinem  Erstaunen  fand,  daß  alle  zu  den  Ver- 
suchen herangezogenen  Vögel  davon  begierig 
fraßen,  soviel  sie  erhielten.  Er  zieht  den  „unver- 
meidlichen Schluß,  daß  diese  Insekten  schmack- 
haft seien"  und  meint,  Ameisenmimikry  würde 
mehr  gegen  räuberische  Hautflügler  (Pompiliden) 
wirksam  sein.  Nun  sind  aber  die  Hautflügler 
strenge  Spezialisten,  jede  Art  nur  bestimmte  In- 
sekten jagend,  und  entwickeln  beim  Aufsuchen 
und  Erkennen  ihrer  Beute  so  eigenartige,  dem 
Menschen  unverständliche  Sinnesqualitäten,  daß 
für  die  Annahme  eines  Schutzes  durch  eine  vage 
äußere  Ähnlichkeit  mit  Ameisen  jede  wissenschaft- 
liche Berechtigung  selbst  dann  fehlen  würde,  wenn 
irgend  eine  Art  Geschütztseins  der  Ameisen  er- 
wiesen wäre. 

Von     Mageninhaltsuntersuchungen     an     euro- 

')  Proceed.  Zool.  Soc,  London   1911,  p.  849. 


päischen  Vögeln  sind  die  von  E.  Csiki^)  wohl 
die  umfangreichsten  und  genauesten.  Sie  um- 
fassen etwa  2520  Mageninhalte  von  60  mittel- 
europäischen insektenfressenden  Vogelarten;  es 
kommen  also  im  Durchschnitt  42  Magen  auf  eine 
Vogelart,  ein  Materialumfang,  der  brauchbare 
Schlüsse  zuläßt.  In  51  von  diesen  öoVogel- 
arten  fanden  sich  Ameisen,  also  in  85  "/o 
der  Vogelarten.  Diese  Vögel  gehören  den 
verschiedensten  Familien  an.  Zur  Sicherheit  über 
den  Punkt,  ob  es  sich  bei  diesen  Ameisen  um 
geflügelte  Geschlechtstiere  oder  um  Arbeiter 
handelt,  habe  ich  mich  brieflich  an  Herrn  Kustos 
Csiki  gewendet  und  die  Mitteilung  erhalten,  daß 
fast  ausschließlich  Arbeiter  in  Betracht 
kämen. 

Ähnliche  Ergebnisse  zeigen  Untersuchungen 
von  E.  Rey  und  A.  Reichert,  W.  Baer, 
G.  Rörig,  K.  Loos,  W.  Schuster  u.  a.,  bei 
denen  indes  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  daß  die 
Zahl  der  untersuchten  Magen  eine  relativ  meist 
viel  kleinere  ist,  daß  Raubvögel,  Wasser-  und 
Strandvögel,  im  Fluge  jagende  Vögel  usw.  aus- 
zuschalten sind,  da  sie  den  Ameisenarbeitern 
kaum  je  begegnen  werden,  bzw.  letztere  viel  zu 
klein  für  sie  sind  usw. 

Unter  den  als  Ameisenfressern  nachgewiesenen 
Vögeln  ist  die  Mehrzahl  unserer  kleineren  In- 
sektenfresser (die  ja  hier  in  erster  Linie  maß- 
gebend sind),  ferner  Spechte,  Hühnervögel  (wie 
Haselhuhn,  Birkhuhn,  Auerhuhn,  Rebhuhn, 
Wachtel)  usw. 

Die  Gesamtheit  der  vorhandenen  Angaben,  zu 
deren  Vorführung  hier  der  Raum  mangelt,  er- 
weist: Ameisen  werden  von  fast  allen 
insektenfressenden  Vögeln  der  Heimat 
gerne  und  in  großer  Anzahl  verzehrt. 
Von  einem  wirksamen  Geschütztsein  auch  in 
kleinem  Umfange  kann  nicht  die  Rede  sein;  sie 
sind  vielmehr  ein  Hauptbestandteil  nor- 
maler Vogelnahrung.  Da  die  Ameisen  selbst 
ungeschützt  sind,  so  kann  auch  eine  mehr  minder 
große  Ähnlichkeit  mit  ihnen  einem  anderen  In- 
sekt keinen  Schutz  gewähren. 

Übereinstimmende  Verhältnisse  finden  wir 
nach  den  schönen  Arbeiten  von  F.  E.  L.  Beal, 
W.  L.  Mac  Atee,  S.  D.  Judd  u.  a.  in  Nord- 
amerika. Die  Spechtuntersuchungen  Beals  z.  B. 
ruhen  auf  3453  Mageninhalten  von  16  Specht- 
arten; mithin  kommen  im  Durchschnitt  auf  eine 
Art  215  Mageninhalte.  In  allen  Arten  fanden 
sich  Ameisen  ;  bei  manchen  Arten  bildeten  Ameisen 
85.94  "/o>  56,75  "/'o  usw.  der  Nahrung.  Beal  sagt: 
„Ameisen  bilden  den  größten  Teil  der 
animalischen  Nahrung." 

Eingehende  Untersuchungen  über  die  Nahrung 
indischer  Vögel  verdanken  wir  C.  W.  Mason 
und  H.  Maxwell- Lefroy.  Nach  ihnen  bilden 
Ameisen    „einen    sehr    großen    Anteil    an 


')  Positive    Daten   über    die  Nahrung    unserer 
Vögel.     Aquila,  Budapest  1904 — 1914. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


711 


der  Insektennahrung  der  indischen 
Vögel.  Sie  sind  wohl  die  Lieblingsnahrung  der 
Spechte,  Wendehälse,  Roller  {Coracias)  und  einiger 
Fasanen.  Die  meisten  Vögel,  welche 
überhaupt  Insekten  fressen,  verzehren 
auch  Ameisen  dieser  oder  jener  Ar t". 

Desgleichen  erweisen  die  Arbeiten  G.  L. Bates' 
und  G.  A.  K.  Marshalls  für  Afrika,  die  Arbeit 
I.  B.  Clelands  für  Australien  u.  a.,  die  Gültig- 
keit dieser  Regel  für  die  übrige  Welt. 

Ich  habe  andernorts  auch  eine  Arbeit  F.  Dahls 
über  die  Vögel  der  Bismarckinseln  herangezogen, 
was  diesen  Forscher  zu  einer  Antwort  in  dieser 
Zeitschrift  veranlaßte.  Ich  schrieb :  ^)  „Eine  Ar- 
beit F.  Dahls  gewährt  uns  einigen  Einblick  in 
die  Nahrung  der  Vögel  der  Bismarckinseln.  Von 
63  zumeist  insektivoren  Vogelarten  fanden  sich 
in  28  Ameisen  vor  und  zwar  ebensowohl  ge- 
flügelte wie  ungeflügelte."  Dahl  ersetzt  diese 
Ziffern  durch  andere,  was  mich  zu  einer  sach- 
lichen Richtigstellung  zwingt. 

Ich  habe  in  28  von  63  „zumeist  insektivoren" 
Vogelarten  Ameisen  gezählt,  das  gibt  den  Prozent- 
satz von  44-44"/„  Ameisenfressern.  Dahl  stellt 
fest,  daß  in  27  von  54  insektenfressenden  Vogel- 
arten Ameisen  waren,  und  das  gibt  den  Prozent- 
satz von  50 "/(,  Ameisenfressern.  Diese  einfache 
Rechnung  zeigte,  daß  Dahls  Ziffern  weit 
günstiger  für  meine  Anschauung 
sprechen  als  meine  eigenen  es  tun.  Und 
da  wohl  niemand  zu  seinem  eigenen  Nachteile 
„fälscht",  ist  Dahls  Wort  von  der  „Fälschung" 
verfehlt  und  ich  weise  es  zurück.  Was  aber  die 
Verschiedenheit  meiner  und  der  D  ah  Ischen  Be- 
rechnung anbelangt,  so  ist  sie  objektiv  leicht  auf- 
geklärt. 

Dahls  Arbeit,  so  schön  sie  ansonsten  ist,  ist 
hinsichtlich  der  Angabe  über  Insektennahrung 
außerordentlich  unübersichtlich ;  die  Angaben  sind 
bei  jeder  Vogelart  einzeln  und  zwar  in  Textform, 
nicht  an  gleicher  Stelle  gegeben;  eine  Zusammen- 
stellung fehlt,  so  daß  es  überaus  schwierig  und 
zeitraubend  ist,  Bestimmtes  herauszusuchen.  Ich 
habe  mir  die  Mühe  gegeben  und  herausgefunden, 
daß  63  Vogelarten ,  in  denen  sich  Insektenreste 
fanden,  in  Betracht  kommen  dürften.  Da  Dahl 
aber  alle  jene  Arten  ausschaltet,  in  denen  er  nur 
eine  sehr  geringe  Zahl  von  Insekten  fand,  so  erhält 
er  die  restringierte  Zahl  von  54  ausgesprochenen 
Insektenfressern.  Ob  bei  der  viel  zu  geringen 
Zahl  der  untersuchten  Magen  (es  kommen  im 
Durchschnitt  nur  etwa  3  auf  jede  Vogelart)  eine 
solche  Scheidung  zweckmäßig  ist,  lasse  ich  un- 
erörtert.  Jedenfalls  ist  meine  Auffassung  sachlich 
ebenso  gerechtfertigt  wie  die  Dah Ische; 
günstiger  für  mich  aber  ist  seine,  denn  sie  erhöht 
den  Prozentsatz  der  Ameisenfresser. 

Ich  zählte  28  Ameisenfresser,  Dahl  zählte  27. 
Ich  habe  daraufhin  Dahls  Arbeit  nochmals  vor- 
genommen  und   etliche   Stunden   der   mühsamen 


')  Biolog.  Zentralblau  Bd.  39,   1919,  S.  98. 


zweimaligen  Zählung  geopfert  und  —  finde  nur 
26 1  Es  ist  möglich,  daß  ich  eine  Angabe  über- 
sah; aber  die  muß  wohl  an  einer  Stelle  stehen, 
an  der  sie  auch  einem  sorgfältig  Zählenden  ent- 
gehen muß.  Dahl  dürfte  sich  indes  ebenso  wie 
ich  bei  der  ersten  Zählung  der  zersplitterten 
Daten  in  seiner  eigenen  Arbeit  geirrt  haben  und 
hat  dann  wohl  keinen  Grund,  über  den  gleichen 
Irrtum  eines  anderen  in  solcher  Form  abzuurteilen. 
Mein  Irrtum  ist  so  wenig  eine  „Fälschung"  wie 
seiner;  Forscher  sollten  ihre  Worte  objektiv 
wählen. ') 

Meine  Angabe,  daß  sich  in  den  Magen  „eben- 
sowohl geflügelte  wie  ungeflügelte  Ameisen  fan- 
den", ist  richtig.  Daß  sich  in  allen  28  (27,  recte 
26)  ungeflügelte  befanden,  habe  ich  nicht  be- 
hauptet. 

Es  ist  zu  beachten,  daß  manche  der  54  Insekten- 
fresser ihrer  Lebensweise  (Jagd  auf  fliegende  In- 
sekten) nach  mit  Ameisenarbeitern  kaum  je  zu- 
sammentreffen werden,  also  bei  der  Beurteilung 
der  Frage  auszuschalten  wären.  Dies  gilt  zumin- 
dest von  den  zwei  Seeschwalben  {Sterna),  dem 
Bienenfresser  Merops,  den  Seglern  Alacropteryx 
und  2  Arten  Collocaüa,  den  Schwalben  Petroche- 
lidon  und  Hiru7ido  und  den  Fliegenfängern  RJii- 
pidura  (3  Arten).  Es  scheiden  also  1 1  Arten  aus 
und  bleiben  43.  Dahl  meint,  daß  es  für  19  Arten 
möglich,  aber  nur  für  etwa  1 2  Arten  wahrschein- 
lich sei,  daß  die  Reste  in  ihren  Magen  von 
Ameisenarbeitern  (also  den  eigentlichen  Mimikry- 
modellen) herrühren.  Nehmen  wir  nur  12  unter 
43,  so  ergibt  das  einen  Prozentsatz  von  27,90  "/q. 
Wenn  aber  bei  einer  Untersuchung,  die  nur  die 
ganz  ungenügende  Zufallsauslese  aus 
durchschnittlich  je  3  Mageninhalten 
einer  Vogelart  verarbeitet,  schon  in  27,90% 
der  Arten  ungeflügelte  Ameisen  nachgewiesen 
werden  können,  so  erweist  dies  für  den  Kenner, 
daß  die  Ameisenarbeiter  einen  außerordentlich 
hohen  Prozentsatz  der  Nahrung  der  hierfür 
in  Betracht  kommenden  Vögel  auch  auf  den 
Bismarckinseln  ausmachen  und  keinen  Schutz 
genießen. 

Ob  der  Reichtum  an  sonstigen  verlockenderen 
Insekten,  ob  die  Jagdweise,  der  Spezialgeschmack 
jeder  Vogelart   usw.   einen   Vogel  veranlaßt,   viel 


')  Ich  sehe  mich  veranlaßt ,  zwei  Fehler  Dahls  richtig- 
zustellen. In  der  Zeitschrift  „Aus  der  Heimat"  (1920,  H.  6/7, 
S.  91)  behauptet  Dahl,  Csiki  habe  in  136  Magen  von 
Würgern  „keine  einzige  Coccinella"  gefunden.  Dies  ist  nicht 
richtig.  Die  Anisostuta  ic^-pimclata,  die  Csiki  im  Magen 
eines  Dorndrehers  fand,  ist  eine  Coccinella.  Dahl  dürfte 
dies  nicht  wissen.  In  meiner  von  Dahl  zitierten  Arbeit  habe 
ich  überdies  mitgeteilt,  daß  L6sy  Marienkäfer  im  Großen 
Würger  fand. 

Weilers  behauptet  Dahl,  für  die  kleinen  Falken  der 
Untergattung  Ctrchntis  gelte  das  gleiche  und  wirlt  mir  vor, 
ich  hätte  dies  dem  Leser  „verschwiegen".  In  meiner  Arbeit 
ist  indes  ausdrücklich  erwähnt,  daß  „Petenyi  im  Turm- 
falken (=  Cerchneis  tinnunculus !)  und  im  Star"  Marien- 
käfer fand. 

Sollte  man  nicht  Arbeiten,  die  man  kritisiert,  vorerst 
lesen  ? 


712 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


oder  wenig  von  den  armseligen  Ameisen  zu  fressen, 
ist  hier  nicht  von  Belang;  ein  Vogel,  der  auch 
nur  einige  wenige  Ameisenarbeiter  fraß,  hat  hier- 
durch hinreichend  erwiesen,  daß  er  sie  weder 
verschmäht  noch  fürchtet.  Und  dies  allein  ist 
der  springende  Punkt  bei  der  Ausbildung  der 
mimetischen  Ähnlichkeit.  Die  Ameisen  müßten 
gefürchtet,  nicht  ihrer  Kleinheit  und  Armselig- 
keit wegen  unbeachtet  sein. 

Es  bleibt,  nachdem  der  Ameisenfraß  der  Vögel 
nachgewiesen  ist,  die  Frage  zur  Entscheidung: 
unterscheiden  die  Vögel  „wehrhafte" 
und  „harmlose"  Ameisen,  lassen  sie 
erstere  laufen  und  fressen  sie  nur  letz- 
tere?    Letzteres  nimmt  Dahl  an. 

Was  sollte  aber  ein  Vogel  an  einer  noch  so 
„wehrhaften"  Ameise  fürchten?  Er  pickt  sie  auf, 
der  Schnabeldruck  tötet  sie,  gegebenenfalls  wird 
sie  lebend  verschluckt.  Die  hornig  ausgekleidete 
Mundhöhle  kann  weder  von  den  schwachen 
Mandibeln  einer  noch  so  wehrhaften  Art  verletzt 
werden  und  ihre  Säure  beachtet  der  Vogel  gar 
nicht;  er  nimmt  bereitwillig  ganz  andere  Quanti- 
täten Ameisensäure  zu  sich.  Auch  das  eisen- 
fresserische Gebahren  angriffslustiger  Arten  wird 
wenig  Eindruck  auf  ihn  machen.  Die  Unter- 
scheidung „wehrhaft"  und  ,, harmlos"  ist  anthro- 
podoxisch;  aber  selbst  der  Mensch  könnte  unge- 
straft Waldameisen  essen,  so  viel  er  wollte.  Es 
fehlen  die  physiologischen  Bedingungen  für  die 
Annahme,  unsere  Waldameise,  die  Dahl  als  Bei- 
spiel einer  wehrhaften  Art  vorführt,  vermöchte 
einen  Vogel  irgendwie  abzuwehren,  ihn  an  unbe- 
grenztem Fraß  zu  hindern. 

Versuche  und  Mageninhaltsuntersuchungen  er- 
weisen dies  auch.  Ich  erinnere  an  das  oben  über 
Pococks  Versuche  mit  eben  dieser  selben,  von 
Dahl  als  geschützt  hingestellten  Waldameise 
Mitgeteilte:  alle  Vögel,  denen  Pocock  sie 
vorlegte,  fraßen  sie  gierig  in  nicht  be- 
grenzter Anzahl.  Wie  stimmt  dies  zu  Dahl s 
Annahme? 

Und  was  ihr  Vorkommen  in  den  Vogelmagen 
anlangt,  so  ist  sie  in  diesen  nachweislich  nicht 
schlechter  vertreten  als  irgendeine  andere  Ameisen- 
art. Es  ist  aller  Welt  bekannt,  daß  sie  Winter 
und  Sommer  eine  Lieblingsnahrung  der  Erdspechte 
(Grünspecht,  Grauspecht)  bildet.  Csiki  fand 
Formica  rufa  in  24  von  60  Vogelarten,  also  in 
40  "/fl.  Das  ist  eine  sehr  hohe  Zahl,  wenn  be- 
dacht wird,  daß  nicht  jeder  Vogel  gerade  dieser 
bodennistenden  Ameise  begegnen  mußte.  Am 
bezeichnendsten  aber  ist  es,  daß  sich  diese  Ameise 
in  den  Magen  der  zartesten  Vogelarten,  z.  B.  im 
Zaunkönig  und  im  Goldhähnchen  fand. 
Wenn  diese  die  wehrhafte  Ameise  bewältigen, 
dann  ist  die  Annahme,  andere,  robustere  Vogel- 
arten könnten  dies  nicht,  wohl  hinfällig. 

Dahl  meint,  unsere  Waldameise  könne  un- 
möglich viele  Feinde  haben,  sonst  müßte  sie 
schon  längst  ausgerottet  sein.  Ein  solches  Schluß- 
verfahren müßte  dahin  führen,  die  noch  häufigeren 


Ameisen  der  Gattung  Lasius  z.  B.  als  längst  aus- 
gerottet zu  erklären,  denn  sie  finden  sich  oft  zu 
vielen  hunderten,  ja  tausenden  in  den  Vogelmagen 
und  haben  fast  die  ganze  Vogelwelt  gegen  sich. 
Der  Schluß  von  reicher  Entfaltung  auf  Feindlosig- 
keit  ist  unzulässig;  wenige  Insekten  werden  von 
fast  allen  Insektenfressern  gieriger  gefressen  als 
die  Heuschrecken,  die  Maikäfer  und  die  Stuben- 
fliegen, und  doch  füllen  sie  Wiese,  Wald  und 
Wohnung  an.  Mit  so  einfachen  Formeln  ergrün- 
den wir  das  Naturleben  noch  nicht. 

Dahl  führt  als  Beweis  des  Geschütztseins  der 
Waldameisen  den  Wendehals  an,  der  „während 
des  Sommers"  fast  nie  Waldameisen  fresse.  Diese 
Behauptung  stellt  Dahl  nach  Csikis  Unter- 
suchungen auf.  Nun  aber  stammen  Csikis  18 
Wendehalsmagen  aus  folgenden  Monaten:  10  aus 
dem  April,  4  aus  dem  Mai,  i  aus  dem  Juni,  i  aus 
dem  August,  i  aus  dem  September,  i  unbekannter 
Zeit.  Wie  kann  man  nach  solchen  Daten,  in  denen 
der  Sommer  so  gut  wie  gar  nicht  vertreten  ist, 
behaupten ,  der  Wendehals  fresse  „im  Sommer" 
keine  Waldameisen  ?  Daß  ein  Wendehals  am 
24.  April,  also  zu  einer  Zeit,  da  in  Ungarn  das 
Insektenleben  des  Frühlings  bereits  entfaltet  ist, 
noch  20  Formica  rufa  im  Magen  hatte,  daß  die 
wehrhafte  For7nica  rufa  in  21  Exemplaren,  hin- 
gegen die  gewiß  sehr  harmlose,  feige  Ameise 
Camponotus  sylvaticus  nur  insgesamt  in  einem 
einzigen  Exemplar  in  den  Magen  vertreten  war 
(nach  Dahls  Schlußverfahren  also  noch  viel 
geschützter  sein  müßte  als  die  Formica),  sei 
nur  nebenbei  erwähnt. 

Einige  Ziffern  mögen  den  Sommerfraß  be- 
legen. Csiki  fand  in  einem  am  17.  Mai  (in 
Ungarn)  erlegten  großen  Buntspecht  60  Stück 
Formica  rufa,  in  einem  am  25.  Juli  erlegten 
mittleren  Buntspecht  10  Stück  der  ebenso  wehr- 
haften F.  rufibarbis,  in  einem  im  April  (in  Un- 
garn) erlegten  Grünspecht  500  F.  rufa  (aus  dem 
Sommer  lag  Csiki  kein  Material  vor). 

Wenn  D  a  h  1  (A.  d.  H.,  S.  92)  behauptet,  „kein 
einheimischer  Vogel  füttere  seine  Jungen  mit 
Waldameisen",  so  darf  man  wohl  fragen,  wo  die 
Belege  für  diese  apodiktische  Behauptung  sind. 
Mit  sicherlich  noch  wehrhafteren  Wespen  werden 
nachweislich  Nestlinge  gefüttert.  Aber  auch  wenn 
jene  Belege  vorgewiesen  würden,  wäre  damit 
keine  Wehrhaftigkeit  der  Waldameisen  erwiesen. 
Nur  die  selbstverständliche  Tatsache  wäre  belegt, 
daß  die  Vögel  für  ihre  Brut  eben  im  allgemeinen 
die  nahrhaftesten,  weichsten,  saftigsten  Insekten 
auswählen  und  daß  ein  Ameisenarbeiter  derartigen 
Ansprüchen  in  gar  keiner  Weise  genügt.  Auch 
der  Mensch  ernährt  seine  Jüngsten  mit  Milchbrei 
u.  dgl.,  nicht  aber  mit  Nüssen  oder  harter  Dörr- 
wurst, obgleich  der  Erwachsene  oft  wohl  lieber 
Nüsse  und  Wurst  als  Milchbrei  genießt.  Dahl 
unterscheidet  nicht  kritisch  zwischen  „Nichtnehmen- 
wollen"  und  „Nichtnehmen können",  zwischen 
von  vornherein  unterbleibendem  Angriff  und  ab- 
gewehrtem Angriff. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


713 


Dahls  Unterscheidung  wehrhafter  und  wehr- 
loser Ameisen  ist  für  Vögel  nicht  anwendbar.  Es 
gibt  für  diese  keine  „wehrhaften"  Ameisen. 

Den  ausführlichen,  reichlich  mit  Tatsachen  be- 
legten Nachweis  hierfür  erbringe  ich  an  anderer 
Stelle,  da  ich  den  breiten  Raum  hierfür  hier  nicht 
beanspruchen  darf.') 

Auf  Dahls  weitere  Darlegungen  einzugehen 
entfällt  für  mich  der  Anlaß,  da  durch  den  Nach- 
weis des  Ungeschütztseins  der  Ameisen  die  Frage 
objektiv  erledigt  ist.  Mein  Zweck  ist,  biologische 
Irrtümer  vorurteilslos  aufzudecken,  nicht  aber 
andere  Forscher  zur  Änderung  jener  Naturan- 
schauung, in  der  sie  sich  wohl  fühlen,  zu  überreden. 

Ein  Wort  noch  zum  Begriff  „Zufall".  Wer 
unbefangen  EinbHck  in  die  ungeheure  Gestalten- 
fülle der  Insektenwelt  genommen  und  die  hunderte 
und  tausende  von  oft  seltsamen,  überraschenden, 
dennoch  aber  offenkundig  zufälligen  —  d.  h.  auf 
unbekannte,  nicht  in  unserer  Problemstellung  ge- 


')  Ich  verweise  auf  meine  Arbeiten:  Die  metöke 
Myrmekoidie.  Tatsachenmaterial  zur  Lösung  des  Mirai- 
kryproblems  (Biolog.  Zentralblatt,  Bd.  39,  S.  65—102,  1919), 
und:  Noch  ein  Wort  zur  metöken  Myrmekoidie 
(Zeitschr.  f.  wissensch.  Insektenbiol.,  im  Druck). 


legene  Ursachen  zurückzuführenden  —  Ähnlich- 
keiten gesehen  hat,  dem  erscheint  es  als  das 
Natürlichste,  Nächstliegende,  daß  unter  Hundert- 
tausenden durcheinanderwogender  Formen  eine 
oder  die  andere  ganz  zufällig  mehr  oder  minder 
entfernt  an  eine  Wespe  oder  Ameise  erinnert. 
Es  wäre  verwunderlich,  wenn  dies  nicht  so  wäre. 
Es  gibt  ja  nicht  bloß  Tiere,  die  an  Steinchen, 
Erdklümpchen,  Früchte,  Samen,  Knospen,  Blätter, 
Ästchen  usw.,  sondern  auch  solche,  die  an  Knöpf- 
chen, Bindfadenstückchen  u.  dgl.  oder  (der  Ge- 
stalt nach)  an  mannigfache  menschliche  Gerät- 
schaften, z.  B.  Hammer,  Zange,  Schere,  Keule, 
IMorgenstern ,  Pfeil,  Anker,  Glocke,  Rad,  Teller, 
Napf,  Hufeisen  usw.  usw.  erinnern,  offenkundig  zu- 
fällig, ohne  jede  Beziehung  zu  diesen  Dingen. 

IVIit  wessen  Naturanschauung  aber  dieser  Be- 
griff des  Zufalls  unvereinbar  sein  sollte,  der  mag 
ihn  durch  eine  geistvolle  Hypothese  ersetzen.  Nur 
muß  er  darauf  gefaßt  sein,  daß  andere  Forscher 
an  den  Tatsachen  überprüfen,  ob  die  Voraus- 
setzungen für  diese  Hypothese  im  Naturleben  er- 
füllt sind,  und  daß  sie  die  Hypothese  ablehnen 
werden  und  müssen,  sobald  dies  —  wie  hier  — 
offenkundig  nicht  der  Fall  ist. 


Einzelberichte. 


Die  Ursache  der  physiologischen  Wirksamkeit 
des  Kaliums. 

Kalium  ist  ein  für  das  Leben  von  Pflanzen 
und  Tieren  unentbehrliches  Element.  Kaum  eine 
tierische  Zelle,  die  frei  von  Kalium  wäre,  oder 
deren  Umgebungsflüssigkeit  nicht  einen  Anteil  an 
Kaliumsalzen  gelöst  enthielte.  So  enthält  der 
Muskel  0,3  7o  ^  als  fixiertes,  an  Eiweiß  gebundenes 
Element,  während  das  Blut  o,oi — 0,03  "/o  KCl 
aufweist,  das  Kalium  als  diffundierbares  Ion  ge- 
löst mit  sich  führend.  Das  Verhältnis  der  Kalium- 
salze zu  anderen  Salzen  ist  nicht  gleich  in  allen 
Organen.  So  enthält  der  Muskel  neben  der  an- 
gegebenen Kaliummenge  nur  0,03  %  Natrium,  das 
Blut  hingegen  neben  ca.  0,02  °/o  Kaliumchlorid 
annähernd  die  gleiche  Menge  an  Calciumchlorid. 
Hieraus  erhellt  die  Sonderstellung  des  Kaliums 
unter  den  anorganischen  Bestandteilen  des  Orga- 
nismus, deren  hohe  Bedeutung  heut  kaum  einem 
Zweifel  mehr  unterliegt,  bis  zu  einem  gewissen 
Grade.  Fraglich  ist  nur,  welches  die  Ursache 
der  besonderen  physiologischen  Wirkung,  der 
Mechanismus  der  Kaliumwirkung  im  Organismus 
sei.  Zwaardemaker  hat  vor  einigen  Jahren 
hierüber  eine  Theorie  entwickelt,')  die  zunächst 
durch  ihre  Eigenart  überraschte.  Nach  ihm  soll 
die  radioaktive  Strahlung  des  Kaliums 
dessen  physiologische  Wirksamkeit  bedingen.  In 
eigenen    Versuchen    und    mannigfachen    Arbeiten 


seiner  Schüler  hat  Zwaardemaker  seine  Auf- 
fassung zu  stützen  gesucht. 

Kalium  ist,  das  hat  Campbell  sicher  ge- 
macht, wirklich  radioaktiv;  aber  nur  außerordent- 
lich schwach.  Seine  Aktivität  beträgt  Viooo 
der  /i  Strahlung  des  Urans  (im  Gleichgewicht  mit 
Uran  X),  das  seinerseits  nur  '/looooo  der /?  Aktivi- 
tät des  Radiums  aufweist.  Da  Kalium  nur  ß-  und 
y  Strahlen  aussendet,  so  ist  seine  ß  Strahlung,  die 
nach  Zwaardemaker  allein  wirksam  sein  soll, 
nur  ganz  ungewöhnlich  klein.  Dennoch  soll  sie 
großer  Wirkung  fähig  sein,  wie  die  Versuche 
am  isolierten  Froschherzen  scheinbar  be- 
wiesen. 

Die  Reaktionen  des  Froschherzens  sind  durch 
eine  Reihe  ausführlicher  Arbeiten,  z.  B.  von  Böhm 
u.  a.,  sehr  gut  bekannt.  Kohn  und  Pick') 
wiesen  nach,  daß  das  Herz  sehr  empfindlich  sei. 
Wenn  sie  als  Nähr-  und  Spülflüssigkeit  Ringersche 
Lösung  mit  0,01  %  KCl  neben  0,01 — 0,02  "/o  CaCl., 
verwendeten,  so  trat  sofort  diastolischer  Stillstand 
ein,  wenn  der  Kaliumgehalt  auch  nur  um  weniges 
erhöht  wurde.  Durch  Zusatz  von  Radiumema- 
nation zur  Flüssigkeit,  deren  Strahlung  ja  auch 
einen  Effekt  haben  müßte,  tritt  aber  keinerlei  Beein- 
flussung der  Herzfunktion  ein.  Diesen  Wider- 
spruch erklärte  Zwaardemaker  durch  seine 
Unterscheidung  von  a-  und/:?  Strahlern.  «Strahler 
sind  beispielsweise:  Uran,  Thorium,  Radium, 
Niton;   /J- Strah  1er   dagegen  Kalium,    Rubidium 


•)  Pflügers  Archiv  f.  d.  ges.  Physiologie  173,  S.  28,  1918, 


')  Ebenda  185,  S.  235,  1920. 


714 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  so 


und  Caesium.  Beide  Strahlungsarten  sollen  nun 
biologische  Antagonisten  sein,  d.  h.  in  ihrer 
Wirkung  einander  aufheben.  Das  ist  an  sich 
möglich,  denn  die  «Strahlen  sind  positiv  geladene 
Heliumkerne,  die  ß  Strahlen  aber  negative  Elek- 
tronen. Jede  Strahlung  für  sich  allein  soll  auf 
das  Herz  wirken,  treffen  aber  beide  gleichzeitig 
darauf,  so  ist  infolge  elektrischer  Neutralisation 
natürlich  keine  Wirkung  zu  erwarten,  d.  h.  die 
Automatic  des  Herzens  bleibt  bestehen.  Schon 
hier  sei  zu  dieser  Theorie  bemerkt,  daß  eine 
Radioaktivität  des  Caesiums  physikalisch 
bisher  nicht  nachgewiesen  werden  konnte.  Da 
aber  Kalium  durch  Caesium  ersetzt  werden  kann, 
wie  Zwaardemaker  fand,  und  die  Wirksam- 
keit des  Kaliums,  wie  gesagt,  auf  seiner  Radio- 
aktivität beruhen  soll,  so  nennt  Zwaardemaker 
dns  Caesium  „biologisch  radioaktiv"  ...  In  I  1 
Ringerscher  Lösung  sind  lOO  mg  Kaliumchlorid 
enthalten.  Nach  Zwaardemaker  sind  diese 
ersetzbar  durch  150  mg  Rubidium-  oder  Cae- 
si  um  Chlorid.  Dieser  Menge  soll  die  gleiche 
physiologisch  wirksame  Strahlungsenergie  inne- 
wohnen, die  Mengen  sind  „äquiradioaktiv".  Ihnen 
kommen  an  Wirkung  gleich  25  mg  Uranylnitrat, 
50  mg  Thoriumnitrat,  0,000005    mg   Radiumsalz. 

In  einer  methodisch  vortrefflich  zu  bezeichnen- 
den Arbeit  hat  S.  G.  Zondek  (Berlin)  die  Theo- 
rie Zwaardemakers  soeben  einer  Prüfung 
unterzogen,  die  denn  freilich  zu  einer  glatten  und 
restlosen  Ablehnung  der  radioaktiven  Erklärung 
führt. ^)  Zondek  prüfte  zunächst  den  Einfluß 
beliebiger  Mengen  von  Radiumemanation  auf  das 
isolierte  Froschherz.  Aber  ob  diese  nun  lOO, 
200,  400  oder  bis  1 5  000  Macheeinheiten  strahlte 
—  es  war  nicht  der  geringste  Effekt  nachweisbar! 
Für  Uranylnitrat  gilt  genau  dasselbe,  wenn  man 
nicht  zu  hohe  Konzentrationen  nahm,  die  die 
Wirkung  des  Uranyl  Ions  zur  Wirkung  gebracht 
hätten.  Die  «-Strahlenwirkung  der  Emanation 
kann  durch  diejenige  des  im  Herzen  anwesenden 
Kaliums  (ß  Strahler)  offenbar  nicht  aufgehoben 
werden,  die  beiderseitigen  Strahlungen  stehen  der 
Menge  nach  in  gar  keinem,  auch  nur  angenähert 
äquivalenten  Verhältnis.  Nur  „äquiradioakiive" 
Mengen  der  Strahlung  aber  sollen  ja  einander 
aufheben.  Für  das  Herz  andererseits  soll  das 
Ladungsvorzeichen  der  Strahlung  ganz  gleich- 
gültig sein.  Es  hätte  also,  bei  dem  von  Zondek 
verwendeten  Überschuß  an  «Strahlung,  ganz  ge- 
wiß zum  mindesten  zu  einem  diastolischen  Still- 
stand des  Herzens  kommen  müssen.  Diesen  ebenso 
einfachen  wie  beweiskräftigen  Versuch  hat  Zwaar- 
demaker überhaupt  nicht  gemacht,  sondern  sich 
umständlicher  und  mißverständlicher  Versuchsan- 
ordnungen bedient.  Wir  gehen  hier  nicht  darauf 
ein,  sondern  teilen  statt  dessen  einige  andere  be- 
weiskräftige Versuche  Z  o  n  d  e  k  s  mit. 

Unter     völlig    gleichen    Bedingungen    wurden 
zwei  Herzen  durchspült:    einmal   mit  kaliumfreier 


Ringerlösung,  wobei  alsbald  diastolischer  Still- 
stand des  Herzens  eintrat;  das  zweite  Mal  mit 
ebenfalls  kaliumfreier  Rin  gerlösung,  der  jeweils 
10,  20  usw.  bis  200  mg  Uranylnitrat  bzw.  Radium- 
emanation von  50,  100,  200,  500  bis  zu  15000 
Macheeinheiten  zugefügt  war.  Der  durch  die 
Entziehung  des  Kaliums  bewirkte  diastolische 
Herzstillstand  war  durch  diese  Zufuhr  ganz  ver- 
schieden stark  radioaktiver  Stoffe  in  keiner 
Weise  zu  beeinflussen!  Vielmehr  ging  in  den 
meisten  Fällen  (infolge  Tonuszunahme  des  Ven- 
trikels) der  diastolische  in  den  systolischen  Still- 
stand über.  Ferner  wurde  kaliumfreie  Ringer- 
sche  Lösung,  die  von  Anfang  an  mit  verschieden 
konzentrierten  radioaktiven  Stoffen  versetzt  war, 
durch  das  Herz  gespült.  Wiederum  trat  nach 
diastolischem  Stillstand  schließlich  Systole  ein, 
ohne  daß  der  geringste  Unterschied  zum  Verlauf 
ohne  die  aktiven  Stoffe  zu  erkennen  war.  Nicht 
einmal  zeitlich  wurde  der  Eintritt  der  Reaktion 
beeinflußt. 

Endlich:  wenn  der  Kaliumgehalt  der  Ringe r- 
schen  Lösung  von  0,01  auf  0,08  "/o  erhöht  wird, 
so  tritt  im  Augenblick  Diastole  ein.  Nun  ist 
Kalium  ein  /5-Strahler.  Seine  Wirkung  sollte  sich 
also  durch  einen  « Strahler,  der  ja  entgegenge- 
setzt wirken  soll,  abschwächen  lassen.  Zondek 
gab  der  höher  kaliumkonzentrierten  Ringer- 
lösung die  verschiedensten  Mengen  «  strahlender 
Emanation  von  vornherein  zu :  nicht  die  An- 
deutung einer  Wirkungshemmung  trat  ein. 

Zondek  kommt  zu  den  folgenden  Schlüssen : 

1 .  Die  Versuchsergebnisse  Zwaardemakers 
haben  sich  in  keinem  Falle  bestätigen  lassen. 

2.  Andere,  viel  einfachere  Versuche  ergaben 
keinen  Anhalt  für  die  Richtigkeit  der  Theorie. 

Dieser  bemerkenswerte  Schluß,  der  eine  ganze 
Reihe  von  Arbeiten  Zwaardemakers  hin- 
fällig macht,  erhält  eine  Stütze  dadurch,  daß  auch 
R.  Loeb  in  Versuchen  an  Arabacieneiern  zu  einer 
glatten  Ablehnung  der  Z  w  aar  dem  ak  ersehen 
Theorie  kommt.*)  Die  Methodik  Zondeks  ist 
so  einfach  und  logisch  zwingend,  daß  man  kaum 
widersprechen  kann,  wenn  die  Arbeit  Zwaarde- 
makers als  eine  beträchtliche  Selbsttäuschung 
bezeichnet  wird.  Die  richtige  Fragestellung  ist 
nach  wie  vor  alles.  Zwaardemaker  muß  auch 
einen  Befund  von  Böhm  (19 14)  übersehen  haben, 
wonach  diastolischer  Herzstillstand  nie  von  Dauer 
ist,  sondern  mit  automatischer  Wiederkehr  ab- 
wechselt. Damit  erklärt  sich  manches  seiner  Er- 
gebnisse. Man  wird  nunmehr  auch  die  „biolo- 
gische Radioaktivität"  des  Caesiums  streichen 
dürfen  und  muß  umgekehrt  schließen :  da  das 
inaktive  Caesium  das  radioaktive  Kalium  ersetzen 
kann,  so  hat  die  physiologische  Wirksamkeit  des 
Kaliums  mit  Radioaktivität  nichts  zu  tun. 

Berichterstatter  möchte  hinzufügen,  daß  die 
von  Zondek  gemachten  Befunde  auch  eine 
weitere     Theorie     Zwaardemakers,     nämlich 


')  Biochem.  Zeitschr.    121,  S.   76,   1921. 


')  Journ.    de  physiol.    et   de  path.  gen.  3,    S.  229,    1920. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


715 


über  den  Zusammenhang  zwischen  Geruch  und 
elektrischen  Ladungserscheinungen,  verdächtig  er- 
erscheinen  lassen.  H.  Heller. 


Eine  neue  Form  der  Phasenregel. 

Die   von   W.  Gibbs  in  mathematische  Form 
gebrachte  Phasenregel  gestattet  eine  Orientierung 
über    die    in    ein-    oder    mehrphasigen    Systemen 
vorhandenen  Variationsmöglichkeiten.     Durch  die 
Gleichung  P  +  F  =  B  +  2  ist  die  Zahl  der  Rich- 
tungen, in  denen  ich  auf  das  System  wirken  kann, 
der  Freiheitsgrad  F,  eindeutig  festgelegt,  wenn  die 
Anzahl   der  Phasen  P   und  der  (chemischen)  Be- 
standteile B  gegeben  ist.     Denn  es  ist 
F  =  B  +  2  —  P. 
Es  leuchtet    ein,    daß   für  eine   ganze    Anzahl 
von  Systemen  diese  Form  des  Phasengesetzes  zu 
eng  ist.     Wenn    im  Verlauf   einer  Umsetzung  re- 
versible Reaktionen  vorkommen,  tritt  eine  Schwie- 
rigkeit   auf   hinsichtlich    des   Bestandteilsindex  B. 
Im    Verlauf   der    Umsetzung    können    neue    Ver- 
änderliche   verfügbar    werden,    so    daß    F    seinen 
eindeutigen  Charakter  verliert.    Endlich  beschränkt 
die    Ziffer  2    die    bei    der  Auswertung  zu  berück- 
sichtigenden   Energien    auf   nur    zwei    (im    allge- 
meinen Druck   und   Temperatur).     Auch  hier  ist 
eine   elastischere   Formulierung    erwünscht.     Eine 
solche    gibt    Henry    le    Chatelieri)    ;„    der 

Gleichung 

V-fv  =  m  —  q  +  p  —  r. 
Die  Anzahl  der  verfügbaren  Freiheitsgrade  F 
(hier  V  =  variance  total)  bedeutet  hier  die  im 
Verlauf  der  Umsetzung  auftretenden  Veränder- 
lichen. Zu  ihnen  tritt  v,  die  Veränderlichen,  die 
durch  die  Versuchsbedingungen  von  vornherein 
festgelegt  sind.  Dementsprechend  tritt  auf  der 
rechten  Seite  der  Gleichung  das  Glied  q  auf. 
Es  bedeutet  die  umkehrbaren  Reaktionen,  r  ist 
die  Anzahl  der  Phasen  (P),  m  bedeutet  die  reellen 
Bestandteile  (B).  p  endlich  sind  die  Eiiergie- 
spannungen,  die  Gibbs  auf  2  beschränkt  hatte. 
Wenn  man  (beispielsweise  bei  Konzentrations- 
kettenversuchen, Ref.)  elektrische  Erscheinungen 
berücksichtigt,  so  wird  p  um  eine  Einheit  erhöht 
und  so  fort  fiif  jede  weitere  Energieart. 

In  den  Lehrbüchern  von  W.  Ostwald,  die 
von  der  Phasenregel  den  ausgedehntesten  und 
fruchtbarsten  Gebrauch  machen,  ist  sie  in  der 
eingangs  gegebenen  Form  geschrieben.  Bericht- 
erstatter möchte  sich  den  Vorschlag  erlauben,  die 
Abänderung  von  le  Chatelier  jener  Form  an- 
zugleichen und  für  Deutschland  dementsprechend 

die  Formel 

F+f=B+n— P— r 

zu  benutzen.  Hierin  ist  n  (numerus)  =  p  bei 
le  Chatelier,  es  drückt  lediglich  eine  zahlen- 
mäßige Größe  von  konstantem  Wert  aus.  r  ent- 
spricht q,  ist  also  mit  dem  r  von  le  Chatelier 
nicht  identisch.  r  =  reversible  Reaktion. 
Alles  andere  hat  den  üblichen  Sinn.       H.  Heller. 

'Y^ömptes  rendus  d.  l'Acad.  Kran«.   171,  S.   1033.   1920. 


Der  Zerfall  des  Hydroperoxyds  durch  Basen. 

Hydroperoxyd  (Wasserstoffsuperoxyd)  ist  gegen 
Säuren  beständig.  Gewöhnliche  Präparate  ent- 
halten sogar  etwas  freie  Säure,  um  den  Stoff  vor 
der  zersetzenden  Wirkung  des  alkalisch  reagieren- 
den Glases  zu  schützen.  Denn  Alkalien  be- 
schleunigen den  Zerfall  des  Hydroperoxyds  be- 
trächtlich. 

Tammann.i)  jer  zuerst  Beobachtungen  hier- 
über   anstellte,    glaubte    schließen    zu    sollen,    daß 
die    Beschleunigung    des    Zerfalls    unabhängig 
von  Natur   und   Menge   der  Base    sei,    «laß 
aber  Spuren   von  Salzen    von  hohem  Einfluß    aut 
die  Zerfallsgeschwindigkeit  seien.     Da  eine  wich- 
tige und  vielfach   angewendete  Titrationsmethode 
des  F  o  r  m  a  1  d  e  h  y  d  s  auf  dessen  Oxydation  durch 
Hydroperoxyd    in   alkalischer   Lösung    beruht,   so 
war  eine  genauere  Kenntnis  der  Reaktionskinetik 
des  Zerfalls  wichtig.    Fr.  Bürki  und  F.  Schaaf  ) 
liefern  hierzu  einen  interessanten  Beitrag. 

Zu  ihren  Versuchen  verwendeten  sie  eine  der 
üblichen    3proz.    Lösungen    der   Hydroperoxyds. 
Innerhalb    der   Versuchszeiten    erwiesen    sich    die 
Glaswände     der    Gefäße    nicht    als    katalytisch 
wirksam.      Ihr    Einfluß    konnte    mithin    vernach- 
lässigt und   aus   der  Menge   freigemachten  Sauer- 
stoffs ohne  weiteres  die  Reaktionsgeschwindigkeit 
berechnet    werden.      Sie    ergab    sich    als    streng 
monomolekularer   Umsetzung    entsprechend, 
unter    der    Annahme,     daß     Formaldehyd     nach 
Euler ")  als  schwache  Säure  betrachtet  wird,  die 
sich    in    großen  Überschuß    von  Lauge    befindet. 
Die  Verff.  finden  nun,    daß  die  aui  monomoleku- 
lare    Umsetzung     berechneten    Werte     der    Ge- 
schwindigkeit   keineswegs    unabhängig    von    der 
Konzentration  des  Alkali  sind,  wie  man  dies  nach 
Tammann   bisher    annahm.      Wenn   sie   jeweils 
20  cm'*  Hydroperoxydlösung  mit  80  cm-*  Natron- 
lauge bei  40"  zersetzten,  so  waren  die  K- Werte  für 
0  2  normale  Lauge  0.00149 

0,002     „  „  0,000315, 

d.  h.  mit  steigender  Alkalikonzentration  wachst 
die  Zerfallsgeschwindigkeit,  und  zwar  um  einen 
Bruchteil,  der  (verhältnismäßig)  kleiner  ist  als  der- 
jenige der  Konzentration.  Ferner  nimmt  die  Zer- 
fallsgeschwindigkeit stark  zu.  mit  steigender  Tempe- 
ratur. Auch  die  Art  der  zugesetzten  Base  be- 
einflußt die  Reaktionsgeschwindigkeit;  immerhin 
scheint  es,  als  sei  nur  der  Dissoziationsgrad  hier- 
für verantwortlich  zu  machen. 

Bestätigt  wird  der  Befund,  daß  Alkohol, 
lOproz.  Gelatine-  und  loproz.  Harnstoff lö^ung 
noch  bei  40"  stabilisierend  wirken,  den  Zerfall 
also  unterbinden.  "•  "• 


Ein  neues  Eisensalz. 

Vom  dreiwertigen  Eisen  ist  sowohl  das  Sulfat 
Fe^SoJa-    wie    auch    das  Chlorid  FeCl-,    wohlbe- 

')  Zeitschr.  f.  physikal.  Chemie  4,  S.  441,  1889. 

2)  Helvetica  Cbimica  Acta  4,  S.  418,   igJI. 

»)  Berichte  d.  Deutsch.  Chera.  Gesellsch.  38,  8.2551,1905. 


j\6 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  so 


kannt.  Noch  nicht  isoliert  war  merkwürdiger- 
weise das  gemischte  Sulfatchlorid  FeSO^Cl  von 
III   ,C1 


der  Stuktur 


Fe 


^ 


Man  sollte  denken,  daß  es 


So  4 


durch  einfache  Anlagerung  von  Chlor  Cl  an 
Eisen-(2)-sulfat  FeS04  entstehe.  In  der  Tat  haben 
Jackson  und  seine  Mitarbeiter  eine  Verbindung 
obiger  Formel  in  einer  mittels  Chlor  oxydierten 
Eisen(2)-sulfatlösung  vermutet,  aber  nicht  isoliert. 
Dies  ist  nunmehr  C.  Röhm  (Darmstadt)  ge- 
lungen.') 

Den  Anstoß  zu  dieser  Isolierung  gab  die  Knapp- 
heit an  Gerbstoffen  während  des  Krieges,  der 
seinerseits  eine  große  Nachfrage  nach  Leder 
zeitigte.  Neben  die  schon  lange  erfolgreich  an- 
gewendete Gerbung  mit  Chromsalzen  trat  die- 
jenige mit  Eisenverbindungen.  Als  einfachstes 
Gerbmittel  bietet  sich  hier  das  Eisenchlorid 
FeClg-öHoO  an.  Es  ist  billig  und  jederzeit  zu 
erlangen.  Aber  seine  Empfindlichkeit  gegen 
Feuchtigkeit,  die  bei  der  Hydrolyse  entstehende 
starke  Salzsäure  machen  es  zu  einem  für  den 
Handel  wenig  einladenden  Stoff.  Das  beständige 
Sulfat  andererseits  ist  wegen  seiner  Schwerlöslich- 
keit  ungeeignet. 

Das  neue  Eisensalz  FeSO^Cl-öHgO  vereint  die 
Vorzüge  der  genannten  Salze  ohne  ihre  Nachteile 
zu  besitzen.  loo  Teile  Wasser  lösen  bei  20" 
209  Teile.  Dennoch  ist  es  nicht  hygroskopisch, 
also  lagerbeständig.  Seine  gerberischen  Eigen- 
schaften übertreffen,  wie  zu  erwarten  die  des 
Eisenchlorids. 

Zur  Herstellung  geht  man  am  einfachsten  aus 
von  einer  konzentrierten  Lösung  von  Eisen-2-sulfat 
(Ferrosulfat,  Eisenvitriol),  die  man  mit  Chlor  sättigt 
und  dann  an  der  Luft  stehen  läßt.  Beim  Ver- 
dunsten scheiden  sich  warzige  Kristallmassen  aus, 
die  in  wenigen  Minuten  zu  einem  Kristallkuchen 
zusammenschießen. 

2 FeSO^ -f  Cl,  +  12 H20»->2 FeSO^Cl-öHoO. 

Für  die  angegebene  Formulierung  ist  die  Be- 
ständigkeit gegen  Luftfeuchtigkeit  ein  Hinweis. 
Gestützt  wird  sie  ferner  dadurch,  daß  Alkohol 
beim  Ausschütteln  keine  auswählende  Löslichkeit 
zeigt.  Das  Salz  ist  einerseits  löslich  in  Alkohol, 
wie  Ferrichlorid  und  im  Gegensatz  zu  Ferrisulfat, 
andererseits  unlöslich  in  Äther,  worin  Ferrichlorid 
sich  löst.  H.  Heller. 

Zur  Bedeutuug  der  Laugerhansschen  Inseln. 

Während  die  meisten  Drüsen  entweder  ex- 
kretorisch  oder  inkretorisch  tätig  sind,  vereinigen 
sowohl  die  Keimdrüsen  als  auch  die  Bauch- 
speicheldrüse innere  und  äußere  Sekretion.  So 
sondert  die  Bauchspeicheldrüse  einerseits  Stoffe 
nach  außen  in  den  Darm  ab,  andererseits  nach 
innen  an  das  Blut.  Wie  über  den  Ausgangspunkt 
der  inneren  Sekretion  der  Keimdrüsen  verschiedene 


Ansichten  bestehen,  so  ist  um  den  Ort  der  In- 
kretion des  Pankreas  ein  ähnlicher  Meinungsstreit 
entstanden.  Eine  Reihe  von  Forschern  meint, 
das  Pankreashormon  würde  allein  von  den  sog. 
Langer hansschen  Inseln  erzeugt,  die  als  selb- 
ständige Gebilde  in  dem  eigentlichen  Drüsen- 
parenchym  lagern.  Die  Gegner  der  „Inseltheorie" 
lehnen  die  Selbständigkeit  der  Langerhans- 
schen  Inseln  ab  und  halten  das  Parenchym  allein 
oder  mit  Einschluß  der  Inseln  für  den  Ort  der 
inneren  Sekretion. 

Neuerdings  hat  sich  zu  den  vielen  Literatur- 
erscheinungen, die  diese  Frage  behandeln,  eine 
weitere  umfangreiche  Arbeit  gesellt,  die  deswegen 
von  besonderem  Wert  ist,  weil  die  darin  ver- 
öffentlichten Ansichten  die  Folgerungen  genauester 
Untersuchungen  und  Beobachtungen  sind.  In 
seinen  „Neuen  Beiträgen  zur  Kenntnis  der  Lauger- 
hansschen Inseln  im  menschlichen  Pankreas  und 
ihrer  Beziehung  zum  Diabetes  mellitus" ')  legt 
C.  Seyfarth  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchun- 
gen dar.  Er  mißt  der  Entstehung  der 
Langerhansschen-  Inseln  vor  allem  große  Be- 
deutung bei,  um  auf  diese  Weise  auf  die  Funk- 
tion derselben  schließen  zu  können.  Deshalb 
untersuchte  er  die  Bauchspeicheldrüsen  von  Em- 
bryonen in  den  verschiedensten  Entwicklungs- 
stadien. Dabei  machte  er  die  Beobachtung,  daß 
sich  die  Langerhansschen  Inseln  aus  den  pri- 
mären Pankreasgängen  entwickeln.  Die  Gang- 
epithelien  beginnen  zu  wuchern,  zeigen  zunächst 
starkes  Längenwachstum  und  rollen  sich  schließ- 
lich spiralig  auf.  Die  Knäuel,  die  dabei  entstehen, 
stellen  die  Langerhansschen  Inseln  dar.  Be- 
merkenswert ist,  daß  Seyfarth  noch  in  der  10. 
und  II.  Schwangerschaftswoche  eine  Verbindung 
der  Langerhansschen  Inseln  mit  den  Gängen 
durch  stielförmige  Fortsätze  beobachten  konnte. 
Überhaupt  besteht  eine  Einkapselung  oder  Ab- 
grenzung der  Langerhansschen  Inseln  nach 
Seyfarth  nie,  demnach  auch  kein  Hindernis  für 
Umwandlungsmöglichkeiten.  In  der  17.  Woche 
stellte  er  dann  Umwandlungen  der  Langer- 
h  a  n  s  sehen  Inseln  in  Acini  fest,  die  von  dieser  Zeit 
an  immer  wieder  zu  beobachten  sind.  Zugleich  fin- 
den fortwährend  Neubildungen  vonLangerhans- 
schen  Inseln  statt  und  zwar  —  wie  Seyfarth  sagt 
—  „je  nach  Bedarf.  Neben  gesunden  Embryonen 
untersuchte  übrigens  Seyfarth  kongenital  syphili- 
tische Föten  und  Kinder,  deren  Pankreas  für  die 
Beobachtung  der  Entwicklung  Langerhans  scher 
Inseln  sehr  geeignet  sein  soll. 

Vor  allem  auf  Grund  der  Tatsache ,  daß  aus 
den  Langerhansschen  Inseln  Drüsenacini  ent- 
stehen und  sich  Acini  wieder  in  Inseln  umwan- 
deln können,  lehnt  Seyfarth  die  Selbständigkeit 
der  Langerhansschen  Inseln  ab  und  kommt 
zu  dem  Schluß,  daß  sowohl  Acini  als  auch 
Langerhanssche     Inseln    —    die    letzteren 


')  CoUegium  Nr.  614,  4.  Juni   1921. 


')  Mit  einem  Vorwort   von   Geh.  Rat  Prof.  Dr.  F.  Mar- 
chand.    Jena  1920,  Gustav  Fischer. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


717 


allerdings   in   erster  Linie  —    an   der   inneren 
Sekretion  beteiligt  seien. 

Dresden.  Gustav  Zeuner. 


Das  Ende  des  Wisents. 

Nachdem  der  Wisentbestand  im  Waldgebiet 
von  Bialowies,  wie  ich  bereits  früher  schon  an 
dieser  Stelle  mitgeteilt  habe  —  Naturw.  Wochenschr. 
XX,  107/108  — ,  ein  Opfer  der  Nachkriegszeit  ge- 
worden ist  —  der  letzte  Wisent  endete  hier  nach 
einer  mir  inzwischen  von  Herrn  Baron  Loudon 
zugegangenen  Mitteilung  im  Herbst  1919  unter 
der  Kugel  eines  Wilderers  —  und  auch  derjenige 
im  Kaukasus  menschlichem  Ermessen  nach  eben- 
falls den  Folgen  des  Krieges  erlegen  sein  dürfte, 
ist  nun  auch  der  PI eß sehe  Bestand  in  Ober- 
schlesien fast  restlos  vernichtet  worden.  Im 
Herbst  1918  noch  74  Stück  zählend  und  in  jähr- 
lich 14 — 18  Wildkälbern  auch  einen  durchaus  zu- 
friedenstellenden Nachwuchs  erreichend,  wurde  er 
infolge  großzügiger  Wilddiebereien  —  die  auch 
von  mir  wiedergegebene,  Prof.  Pax  auf  der 
9.  Jahreskonferenz  für  Naturdenkmalpflege  in  Berlin 
zu  Unrecht  in  den  Mund  gelegte  Angabe,  daß 
der  deutsche  Grenzschutz  das  Wild  zusammen- 
geschossen habe,  hat  sich  erfreulicherweise  als 
eine  irrtümliche  herausgestellt  und  ist  von  ihm 
auch  dahin  richtig  gestellt  worden ,  daß  nicht 
der  Grenzschutz,  sondern  Wildererbanden  das 
Wild  vernichtet  haben  —  aufs  schwerste  ge- 
schädigt, so  daß  im  November  1920  nur  noch 
22  Wisente  vorhanden  waren.  Dieser  letzte  kleine 
Bestand  'ist  nun,  wie  mir  der  Vorsitzende  des 
Landschaftskomitees  für  Naturdenkmalpflege  in 
Oberschlesien,  Herr  Prof.  Eisenreich  in  Katto- 
witz  mitteilt,  während  des  letzten  Polenaufstandes 
bis  auf  nur  noch  vier  Stück  zusammengeschrumpft: 
einen  Stier,  zwei  Alttiere  und  ein  Kalb.  Die 
Hoffnung,  wenigstens  diese  paar  letzten  Tiere  noch 
zu  erhalten,  ist  eine  geringe,  und  wir  werden  uns 
daher  mit  der  Tatsache  abfinden  müssen,  daß 
damit  Europas  letztes  Wildrind  für  immer  dahin 
ist.  .  Rud.  Zimmermann. 


Künstliche  Belenclitnug  der  Hühnerställe  znr 
Erzeugung  größerer  Legetätigkeit  der  Hühner. 

In  Nr.  7  der  „Deutsch,  landw.  Geflügelzeitung" 
von    1921    berichtet  C.  v.  Mackensen,    daß  in 


den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  sowie 
in  Kanada  intensiv  und  erfolgreich  mit  künstlicher 
Beleuchtung  zur  Erzielung  einer  höheren  Eier- 
produktion in  den  Hühnerställen  gearbeitet  werde. 
Im  Staate  New  York  wurden  während  der  letzten 
Jahre  auf  etwa  lOO  Geflügelfarmen  Versuche  mit 
künstlicher  Beleuchtung  angestellt  und  die  Resul- 
tate genau  aufgezeichnet.  Alle  berichten  von 
besten  Erfolgen;  namentlich  jene  der  landwirt- 
schaftlichen Universität  New  York,  veranstaltet 
von  Cornele,  beweisen  zweifellos,  daß  der  Eier- 
ertrag durch  die  Beleuchtung  wesentlich  erhöht 
wird.  So  wurden  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen 
1 00  Hennen  der  weißen  Leghornrasse  mit  künstlichem 
Licht  und  lOO  Hennen  ohne  Beleuchtung  gehalten. 
Während  einer  Beobachtungsdauer  von  48  Wochen 
wurde  ein  Nettogewinn  von  135,37  Dutzend  Eiern 
in  den  Ställen  mit  künstlicher  Beleuchtung  gegen- 
über jenen  ohne  dieselbe  erzielt.  Die  Beleuchtung 
geschah  vom  Einsetzen  der  Dunkelheit  bis  9  Uhr 
abends.  Der  Gewinn  in  der  Eierproduktion 
dauerte  vom  28.  November  den  ganzen  Winter 
hindurch  bis  zum  19.  März.  Vom  21.  März  bis 
6.  August  ließ  die  Legetätigkeit  nach  und  war 
geringer  als  in  den  Ställen  ohne  Licht;  vom 
August  bis  November  war  sie  aber  wieder  höher. 
Der  Gesamtgewinn  der  Hennen,  die  mit  künst- 
licher Beleuchtung  gehalten  wurden,  betrug  während 
der  Dauer  ihrer  höheren  Legetätigkeit  212,90 
Dutzend  Eier.  Vom  März  bis  August  blieben  sie 
dann  um  77,53  Dutzend  hinter  den  anderen  zu- 
rück, so  daß  der  Reingewinn,  wie  bereits  erwähnt, 
135,57  Dutzend  betrug.  Zur  Beleuchtung  diente 
hierbei  elektrisches  Licht ;  doch  können  auch  Gas, 
Petroleum,  Spiritus  usw.  gebraucht  werden.  Der 
günstige  Einfluß  auf  die  Eierprodukiion  besteht  darin, 
daß  für  die  Hennen  die  Dauer  der  Nacht  durch  die 
Beleuchtung  abgekürzt  wird  und  daß  sie  infolge- 
dessen mehr  Gelegenheit  zur  Nahrungsaufnahme 
haben,  die  dann  der  Eierbildung  zugute  kommt. 
Gesundheitliche  Nachteile  sind  nicht  zu  befürchten. 
Dadurch,  daß  sich  die  Legetätigkeit  mehr  gleich- 
mäßig auf  das  ganze  Jahr  verteilt,  ist  im  Gegen- 
teil sogar  eine  günstige  Beeinflussung  zu  erwarten. 
Nur  wenn  es  sich  um  Hennen  handelt,  die  zur 
Zucht  verwendet  werden  sollen,  muß  die  künst- 
liche Beleuchtung  unterbleiben,  da  man  von  diesen 
Tieren  im  Frühjahr,  wenn  das  Brutgeschäft  in 
vollem  Gange  ist,  die  stärkste  Eierproduktion  er- 
zielen will.  Reuter. 


Bücherbesprechungen. 


Wächter,  Dr.  W.,  Vademecum  für  Samm- 
ler   von  Arznei-    und  Gewürzpflanzen. 
CöUeda,  Verlag  der  „Vegeta". 
Der    Handel    mit    einheimischen    Drogen    hat 
begünstigt  durch  die  Zeitverhältnisse  einen  großen 
Aufschwung  genommen.     Durchblättert    man    die 
hier  dargebotene  Tabelle  der  Arznei-  und  Gewürz- 


pflanzen, so  ist  man  überrascht  von  der  großen 
Zahl  von  Drogen,  die  heute  vom  Handel  verlangt 
werden.  In  dieser  sehr  zweckmäßig  und  über- 
sichtlich angeordneten  Tabelle,  die  den  Hauptteil 
des  Büchleins  bildet,  sind  die  Pflanzen  in  alpha- 
betischer Reihenfolge  nach  ihrem  deutschen  Na- 
men aufgeführt,  daneben  ist  immer  der  botaniscV'2 


718 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Name  angegeben,  sowie  weiterhin,  welche  Teile 
und  zu  welcher  Zeit  sie  zu  sammeln  sind,  wie 
ihr  pharmazeutischer  bzw.  ihr  Handelsname  lautet, 
und  wie  sich  ungefähr  das  Frisch-  zum  Trocken- 
gewicht verhält.  Außerdem  sind  noch  gelegent- 
lich besondere  praktische  Hinweise  für  den 
Sammler  in  einer  letzten  Rubrik  angefügt.  Vor- 
ausgeschickt wird  eine  Zusammenstellung  von 
präzis  gefaßten  Regeln,  die  der  Sammler  zu  be- 
achten hat  und  die  sich  auf  Gesetze  und  Verord- 
nungen, das  Einsammeln  der  Pflanzen,  das  Trocknen, 
Aufbewahren  und  Versenden  beziehen.  Auch  ein 
Sammelkalender  findet  sich,  der  für  die  einzelnen 
Monate  die  zu  sammelnden  Pflanzen  alphabetisch 
aufzählt.  Den  Schluß  bildet  em  Index  der  phar- 
mazeutischen Drogenbezeichnungen.  Das  prakti- 
sche Heft  wird  nicht  nur  dem  Drogensammler 
nützliche  Dienste  leisten,  sondern  auch  dem  Bo- 
taniker, namentlich  dem  Lehrer  zur  ersten  raschen 
und  bequemen  Orientierung  über  den  Gebrauchs- 
wert unserer  einheimischen  Pflanzen  sehr  will- 
kommen sein.  Miehe. 

Küster,  Prof.  Dr.  E.,  Anleitung  zur  Kultur 
der  Mikroorganismen.  3.  vermehrte  und 
verbesserte  Auflage.  Mit  28  Textabbildungen. 
Leipzig  und  Berlin  192 1,  B.  G.  Teubner.  21  M. 
Das  nunmehr  in  dritter  Auflage  vorliegende 
Buch  von  Küster  stellt  ein  gutes  Nachschlage- 
werk dar,  das  jedem,  der  mit  Mikroorganismen 
zu  arbeiten  hat,  sehr  nützlich  ist,  namentlich  dann, 
wenn  es  gilt,  sich  rasch  bei  irgendeiner  Kultur- 
aufgabe über  die  verschiedenen  methodischen 
Möglichkeiten  zu  unterrichten.  Der  Verf.  hat 
nämlich  mit  großem  Fleiß  die  weit  zerstreute 
Literatur  über  Mikroorganismen  mit  Rücksicht  auf 
die  Methodik  durchgearbeitet  und  in  seinem  Buche 
zusammengetragen.  Ein  allgemeiner  Teil  be- 
handelt die  Nährböden,  die  Geräte,  die  Isolierungs- 
methoden,  die  Sterilisierung  usw.,  während  der 
zweite  in  systematischer  Anordnung  die  be- 
sonderen Methoden  darstellt,  die  zur  Kultur  der 
verschiedenen  Typen  von  Mikroorganismen  (Algen, 
Pilze,  Flagellaten,  Bakterien  usw.)  angewandt  wer- 
den können.  Für  Botaniker,  Zoologen,  Landwirte. 
Mediziner,  Gärungstechniker  wird  das  Buch  weiter 
ein  wertvolles  Hilfsmittel  bleiben.  Miehe. 


Hamilton,  Louis,    Ursprung    der  französi- 
schen  Bevölkerung   Canadas.      Ein  Bei- 
trag   zur  Siedelungsgeschichte    Nord- Amerikas. 
Berlin   1920,  Neufeld  u.  Henius. 
Aus     dem    Grundstock     von    3  5  000    Bauern, 
welche  im  Verlauf  von   1 50  Jahren  aus  Frankreich 
nach    Kanada   auswanderten,    hat    sich    im    Laufe 
der  Zeit   ohne    Nachschub    eine  Bevölkerung   von 
2  Millionen  Seelen  entwickelt,    die  sich  nicht  nur 
in  Sprache,    Glauben    und  Sitten    gegenüber   dem 
dreimal  so  starken  angelsächsischen  Volksbestand- 
teil   behauptete,    sondern    auch    trotz    aller    Be- 
drückungen   eine    starke    nunmehr    auch    offiziell 
anerkannte  Stellung    im  Lande  sich  errungen  hat. 


Louis  Hamilton  vom  orientalischen  Seminar 
der  Berliner  Universität  untersucht  in  der  vor- 
liegenden interessanten  Studie,  aus  welchen 
französischen  Provinzen  diese  Franko-Kanadier 
und  FrankoAkadier  stammen,  die  sich  in  auf- 
fallender Weise  von  den  Franzosen  Frankreichs 
unterscheiden.  Er  benutzt  dazu  in  erster  Linie 
die  Familiennamen,  indem  er  sich  mit  kritischer 
Vorsicht  eines  umfangreichen  von  D  i  o  n  n  e  im 
Jahre  1914  veröffentlichten,  aber  von  ihm  un- 
kritisch verwerteten  Namensverzeichnisses  bedient. 
Er  stellt  auf  diese  Weise  fest,  daß  die  Auswanderer 
ganz  überwiegend  aus  den  Küstenprovinzen  stam- 
men und  daß  unter  diesen  wiederum  die  Nor- 
mandie  den  höchsten  prozentischen  Anteil  auf- 
weist. Namentlich  gilt  dies  für  die  entscheidende 
früheste  Einwanderung. 

Dieser  Feststellung  entspricht  nun  die  sprach- 
liche und  ethnographische  Eigentümlichkeit  der 
franko-kanadischen  Bevölkerung  aufs  beste.  Die 
Bauweise  der  Häuser,  vielfach  auch  die  Tracht 
der  Schiffer,  die  häufige  Blondhaarigkeit  und  Blau- 
äugigkeit, die  Reinlichkeit,  sowie  namentlich  viele 
spezifisch  germanische  Sitten,  wie  sie  in  Frank- 
reich nie,  in  der  Normandie  nicht  mehr  so  häufig 
wie  früher  angetroffen  werden  (wie  z.  B.  der 
Richtekranz  auf  Neubauten),  die  Liebe  zur  Musik, 
die  Freude  an  Pferden,  ihre  im  Gegensatz  zu  den 
Franzosen  hohe  Fruchtbarkeit  (Familien  von  12  bis 
18  Kindern  sind  häufig)  weisen  auf  die  germa- 
nische Normandie  hin.  Vor  allem  aber  die 
Sprache,  der,  wie  der  Verf.  im  einzelnen  ausführt, 
zahlreiche  normannische  Züge  ihr  Hauptgepräge 
verleihen.  In  Akadien  (d.  h.  in  Neu-Schottland, 
Neu-Braunschweig  und  Prinz- Edward  Insel)  über- 
wiegt das  bretonische  Element  etwas  das  nächst- 
stärkste normannische,  im  ganzen  ist  auch  hier 
die  nord-westliche  Küstenbevölkerung  (neben  der 
des  Hinterlandes  von  Bordeaux),  die  die  meisten 
Auswanderer  gestellt  hat.  Die  mit  zahlreichen 
Tabellen  versehene  Schrift  schließt  mit  einem  An- 
hang, der  den  Einfluß  des  Englischen  auf  die 
Sprache  der  Franko-Kanadier  darstellt.  Interessant 
ist,  wie  auch  durch  diese  Studie  die  ganz 
ungeheuer  erfolgreiche  Siedelungstätigkeit  der 
germanischen  Küstenbevölkerung  bestätigt  wird, 
der  sich  nur  die  gewaltige,  aber  binnenländisch 
gerichtete  Kolonisation  der  Russen  und  in  weiterm 
Abstände  diejenige  der  Bewohner  der  iberischen 
Halbinsel  an  die  Seite  setzen  läßt,  während  die 
eigentlichen  Franzosen  als  Siedler  ganz  zurück- 
treten. Miehe. 

Ficker,  Prof.  Dr.  M. ,    Einfache  Hilfsmittel 
zur      Ausführung       bakteriologischer 
Untersuchungen.       3.    umgearbeitete    Aufl. 
Leipzig   1921,  C.  Kabitzsch.     9  M. 
Diese    kleine  Schrift    gibt  eine  ausgezeichnete 
Anleitung,  wie  man  auch  unter  schwierigen  Ver- 
hältnissen   und    mit    einfachen  Hilfsmitteln  zuver- 
lässige bakteriologische  Arbeiten    ausführen  kann. 
Sie  ist  in  erster  Linie  für  den  Arzt  bestimmt,  wird 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


719 


aber  in  ihren  allgemeinen  methodischen  Teilen 
auch  dem  Apotheker  und  Botaniker  willkommen 
sein,  denen  ein  vollständig  ausgestattetes  Labo- 
ratorium nicht  zur  Verfügung  steht,  ja  sie  ist 
schließlich  unter  den  gegenwärtigen  schwierigen 
Verhältnissen  auch  solchen  eine  wertvolle  und 
zeitgemäße  Hilfe,  die  noch  unter  verhältnismäßig 
günstigen  Bedingungen  arbeiten  können.  Die 
bakteriologische  Technik  ist  als  bekannt  voraus- 
gesetzt, doch  werden  einige  wichtige  Unter- 
suchungsmethoden (Nachweis  von  Tuberkel-, 
Diphtheriebazillen,  Gonokokken,  Syphilisspiro- 
chäten) besonders  dargestellt.  Daß  alle  Winke 
und  Ratschläge  aus  reichster  eigener  Erfahrung 
entspringen,  braucht  kaum  besonders  hervorge- 
hoben zu  werden.  Möge  das  Büchlein  nament- 
lich dem  praktischen  Arzte  Lust  machen,  seine 
häusliche  Untersuchungstätigkeit  auch  auf  das 
ebenso  wichtige  wie  anregende  und  reizvolle 
bakteriologische  Gebiet  auszudehnen.        Miehe. 


Frizzi,    Ernst,    Anthropologie.      Sammlung 
Göschen.     133  S.  mit  41   Textabb.    Berlin  und 
Leipzig    1921,    Vereinigung   wissenschaftl.    Ver- 
leger.     2,10   M.    zuzügl.    100  "/o   Teuerungszu- 
schlag. 
Das    vorliegende    Buch    unternimmt    den  Ver- 
such, weitere  Kreise  in  leichtverständlicher  Form 
über   Wesen,   Aufgabe,    Ziele    und  Methoden   der 
anthropologischen  Wissenschalt   aufzuklären.      Zu 
diesem    Zweck    werden    zunächst    einmal    Begriff 
und  Umfang  der  Anthropologie  klargestellt.    Daran 
reiht  sich  dann  eine  Übersicht  über  die  Entwick- 
lung der  Anthropologie    und    ein  Umriß  der  Ab- 
stammungs-  und  Vererbungsprobleme,  sowie  auch 
der    Fragen   der   Rassebildung,    Entwicklung    und 
Alter  des  Menschengeschlechts  an  (27  S.).     Dann 
werden     sehr    eingehend    die    anthropologischen 
Methoden   dargestellt  (38  S.).     Drei   weitere  Ab- 
schnitte  behandeln   die   Somatologie,   Kraniologie 
und    Geschlechtsunterschiede    (62    S.),    und    zwei 
Schlußabschnitte  (in    der  denkbar  größten  Kürze) 
die  Kriminalanthropologie  (2  '/^  S.)  und  die  Sozial- 
anthropologie (i  '/^  S.). 

Wir  erkennen  gern  an,  daß  der  Verf.  sein 
möglichstes  getan'  hat,  um  der  schwierigen  Auf- 
gabe der  Darstellung  der  Anthropologie  auf  solch 
knappem  Räume  gerecht  zu  werden,  und  wir 
freuen  uns  besonders  auch  darüber,  daß  die  be- 
kannte Sammlung  Göschen  dieses  Bändchen  in 
ihre  Serie  aufgenommen  hat.  Wir  glauben  je- 
doch, daß  dem  Eindruck  auf  den  Leser  die  Stoff- 
einteilung Abbruch  tut,  da  die  Darstellung  der 
Methoden  zu  sehr  im  Vordergrunde  steht  und  die 
Ergebnisse  der  Forschung  zu  kurz  kommen.  Ge- 
nau dasselbe  ist  freilich  in  dem  großen  Lehrbuch 
der  Anthropologie  von  Martin  der  P'all. 

Hugo  Mötefindt. 


580  Seiten  mit  56  Abbildungen  im  Text.  Stutt- 
gart 1920,  Ferdinand  Enke. 
Das  bekannte  „Handbuch  der  analytischen 
Chemie"  von  Alexander  Classen  hat  sich  so- 
wohl in  seinem  vor  einigen  Monaten  in  dieser 
Zeitschrift  besprochenen  qualitativen  als  auch  in 
seinem,  jetzt  auch  in  neuer  Auflage  vorliegenden 
quantitativen  Teil  als  Lehr-  und  Nachschlagebuch 
ausgezeichnet  bewährt.  Der  hier  zur  Besprechung 
stehende  quantitative  Teil  führt  in  einer  großen 
Anzahl  von  anfangs  einfacheren,  später  immer 
komplizierteren,  stets  gut  gewählten  und  meist  auch 
praktisch  wichtigen  Beispielen  in  die  wichtigsten 
Verfahren  der  quantitativen  (Gewichts-  und  Maß-) 
Analyse  ein.  Die  Darstellung  ist  klar  und  ver- 
ständlich und  sachlich  einwandfrei.  Umfangreiche 
Tabellen  und  ein  recht  brauchbares  alphabetisches 
Sachregister  schließen  das  in  erster  Linie  für 
Studierende  bestimmte,  aber  auch  für  Lehrer  und 
sonstige  Freunde  der  experimentellen  Chemie 
nützliche  Werk. 

Die  Ausstattung  des  Buches  ist  recht  gut. 
Berlin-Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Classen,  Alexander,  Handbuch  der  ana- 
lytischen Chemie.  II.  Teil:  Quantitative 
Analyse.    Siebente  vermehrte  Auflage.    VIII  und 


V.  Schwarz,  M. ,  Legierungen.  Sonderab- 
druck aus  der  „Chemischen  Technologie  der 
Neuzeit"  Bd.  II,  99  Seiten  in  gr.  8"  mit  45  Ab- 
bildungen im  Text.  Stuttgart  1920,  Ferdinand 
Enke. 
Die  vorliegende  Monographie,  zu  der  auch  der 
frühere  Herausgeber  der  Chemischen  Technologie 
der  Neuzeit,  Dr.  O.  Dammer,  eine  Reihe  von 
Beiträgen  geliefert  hat,  gibt  einen  kurzen,  in  erster 
Linie  die  technischen  Gesichtspunkte  berück- 
sichtigenden Überblick  über  Wesen,  Gewinnung 
und  Eigenschaften  der  Legierungen  im  allge- 
meinen und  dann  eine  kurze  Besprechung  der 
wichtigsten  Gruppen  von  Legierungen  (Bronzen, 
Kupfer -Zink -Legierungen,  Nickel-  und  Kobalt- 
Legierungen,  Mangan -Legierungen,  Weißmetalle, 
Silber-,  Gold-  und  Platin-Legierungen).  Der  Haupt- 
wert des  Buches  aber  liegt  in  der  etwa  die 
Hälfte  seines  Umfanges  ausmachenden  „alpha- 
betischen Übersicht  über  die  wichtigsten  Legie- 
rungen", in  der  alle  bekannten  Legierungen  — 
auch  nach  ihren  Trivialnamen,  wie  Platinit,  Mo- 
nellmetall  usw.  —  aufgeführt  und  ihre  wichtigsten 
Eigenschaften  und  ihre  Verwendungszwecke  an- 
gegeben sind.  Bei  einer  Stichprobe  hat  der  Be- 
richterstatter „Cereisen"  vermißt,  es  aber  schließ- 
lich unter  „pyrophore  Legierungen"  gefunden. 

Das  Buch  wird  allen  denen  gute  Dienste  leisten, 
die  sich  eine  allgemeine  Übersicht  über  die  Le- 
gierungen von  technischem  Gesichtspunkte  aus 
verschaffen  oder  über  eine  gegebene  Legierung 
oder  Legierungsart  (Invar,  Tombak,  Weißmetall) 
kurz  unterrichten  wollen.  Es  ist  ein  wirklich 
nützliches  Buch. 

Berlin- Dahlem.  Werner  Mecklenburg. 


Leuchs,   K.,   Geologischer  Führer   durch 
dieKalkalpen  vomBodensee  bisSalz- 


720 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  50 


bürg  und  ihr  Vorland.  Überblick  über 
Entstehungsgeschichte  und  Bau  des  Gebietes. 
60  Abbildungen,  144  S.  München  1921,  Lin- 
dauersche  Universitätsbuchandlung.  Brosch.  12, 
geb.  14  M. 
Ein  glücklicher  Griff!  Kein  Gebirge  kann  so 
nachdrücklich  zur  Lösung  der  in  ihm  verborgenen 
Rätsel  auffordern  wie  das  Hochgebirge  mit  seinen 
Riesengewalten,  keins  aber  ist  selbst  für  den  mit 
der  Sprache  der  Natur  Vertrauten  so  schwer  zu- 
gänglich wie  die  Alpen,  geschweige  denn  für  den 
Laien.  Aus  der  ungeheuer  verzweigten  wider- 
spruchsvollen Literatur  sich  das  für  den  Einzel- 
zweck Erforderliche  und  Brauchbare  herauszu- 
suchen ist  leider  ohne  fachmännische  Leitung  so 
gut  wie  unmöglich.  Da  ist  es  denn  aufs  höchste 
zu  begrüßen,  wenn  hier  ein  Kenner  die  Führer- 
rolle in  ansprechender  Weise  auf  sich  nimmt. 
Eine  Fülle  von  einfach  gezeichneten  Profilen,  den 
verschiedensten  Werken  und  Autoren  mit  sicherer 
Hand  entnommen,  suchen  das  geschriebene  Wort 
zu  veranschaulichen  und  somit  dem  Verständnis 
des  Lesers  möglichst  weit  entgegen  zu  kommen. 
Eine  kurzgehaltene  Einleitung  führt  in  den 
Stoff  und  seine  Anordnung  vorläufig  ein.  Dann 
werden  die  Einzellandschaften  von  West  nach  Ost 
der  Reihe  nach  in  ihren  Hauptzügen  verständlich 
geschildert.  Die  die  Wissenschaft  noch  emsig 
beschäftigende  Problematik  des  Gesamtkalkalpen- 
zuges  bleibt  dabei  mit  Recht  außer  Betracht. 
Einiges  an  gemeinsamen,  verbindenden  Grund- 
linien wäre  indes  manchem  Leser  vielleicht  will- 
kommen gewesen.  Edw.  Hennig. 


die  einzelnen  Entwicklungsstufen,  welche  zu  dem 
gegenwärtigen  stolzen  Gebäude  dieses  Wissens- 
gebiets geführt  haben.  Lobend  hervorzuheben 
ist  hier  wieder  die  absichtliche  Beschränkung  der 
mathematischen  Entwicklungen  auf  anschauliche, 
physikalisch  bzw.  physikalisch-  chemisch  bedeutungs- 
volle Fälle.  Die  Theorie  der  Wärmeleitung,  der 
das  I.  Kapitel  gewidmet  ist,  erfährt  in  diesem 
Sinne  eine  mustergültige  Darstellung.  Die  darauf 
folgende  Betrachtung  der  Thermodynamik  schließt 
sich  vorteilhaft  eng  an  die  bekannten  Werke  von 
Planck  undNernst  an.  Besonders  wertvoll  ist 
die  Wiedergabe  des  gegenwärtigen  Standes  der 
molekular  kinetischen  Seite  der  Theorie.  Sie  be- 
ginnt mit  der  elementaren  kinetischen  Theorie 
der  Gase,  zeigt  dann  den  Zusammenhang  zwischen 
Entropie  und  Wahrscheinlichkeit  und  geht  dann 
auf  die  allgemeinen  Methoden  der  statistischen 
Mechanik  ein.  Ein  letztes  Kapitel  behandelt 
schließlich  das  Eingreifen  der  Quantentheorie. 
Dem  Lehrenden  und  Lernenden  wird  hier  eine  mit 
außerordentlicher  Sorgfalt  und  seltenem  päda- 
gogischen Geschick  durchgeführte  Bearbeitung  der 
Wärmetheorie  geboten,  die  sich  dem  ersten  Band 
des  Werkes  gleichwertig  anschließt  und  mit  ihm 
weiteste  Verbreitung  verdient.  Als  nicht  ganz 
einwandfrei  ist  dem  Ref.  nur  die  Tabelle  auf 
S.  114  und  der  Absatz  38  über  den  Nutzeffekt 
thermodynamischer  Maschinen  aufgefallen,  und  im 
Absatz  45  wäre  vielleicht  die  physikalische  Seite 
des  Thomson-Joule  sehen  Versuchs  etwas 
deutlicher  hervorzuheben.  A.  Becker. 


Schaefer,  Cl.,   Einführung   in   die   theore- 
tische Physik.    Zweiten  Bandes  erster  Teil: 
Theorie    der  Wärme,    Molekularkine- 
tische Theorie  der  Materie.    562  S.  mit 
71    Fig.    im    Text.      Berlin    1921,    Vereinigung 
wissenschaftlicher  Verleger. 
Die    zweifellos    zahlreichen    Freunde    des    im 
Jahre  191 4  erschienenen  ersten  Bandes  (vgl.  diese 
Zeitschr.    13.   Bd.,    S.  683,    19 14)    haben    auf   die 
Fortsetzung   des  Werks  infolge    des  Kriegs   lange 
warten  müssen.      Jetzt   liegt    der   stattliche   erste 
Teil    des    zweiten   Bandes    vor.      Er    enthält    die 
Theorie    der  Wärme    in    weitestem  Umfang    und 
gibt    damit    einen    vollständigen    Überblick    über 


Jäger,  G.,  Theoretische  Physik.    IL  Licht 
und    Wärme.      (Sammlung  Göschen  Nr.  "]"]) 
Fünfte    Auflage.      155    S.    mit    47  Fig.     Berlin 
und    Leipzig    192 1,    Vereinigung    wissenschaft- 
licher Verleger.   —    Preis   brosch.    2,10  M.  und 
100  Proz.  Teuerungszuschlag  des  Verlags. 
Diese  Bändchen  sind  seit  langem   so  bekannt 
und  geschätzt,    daß  es  ihrer  besonderen  Empfeh- 
lung   heute    nicht    mehr   bedarf.     Die  vorliegende 
Neuauflage    unterscheidet    sich    von    der    vorher- 
gehenden   nur    unwesentlich;    hinzugekommen   ist 
nur  in  der  Darstellung  der  kinetischen  Gastheorie 
eine  kurze  Betrachtung  der  Diffusion  der  Gase. 

A.  Becker. 


Intialt:  Ed.  Färber,  Das  Kominuitätsprinzip  in  der  Chemie.  S.  705.  Fr.  Heiker  tin  ge  r,  Täuschende  Ähnlichkeit  mit 
Ameisen  (Myrmekoidie).  S.  709.  —  Einzelberichte:  S.  G.  Zondek,  Die  Ursache  der  physiologischen  Wirksamkeit  des 
Kaliums.  S.  713.  H.  le  Chatelier,  Eine  neue  Form  der  Phasenregel.  S.  715.  Fr.  Bürki  und  F.  Schaaf,  Der 
Zerfall  des  Hydroperoxyds  durch  Basen.  S.  715.  C.  Röhm,  Ein  neues  Eisensah.  S  7:5.  C.  Seyfarth,  Zur  Bedeu- 
tung der  Langerhansschen  Inseln.  S.  716.  Das  Ende  des  Wisents.  S.  717.  C.  v.  Mackensen,  Künstliche  Beleuchtung 
der  Hühnerställe  zur  Erzeugung  größerer  Legetätigkeit  der  Hühner.  S.  717.  —  Bücberbesprecbungen:  W.Wächter, 
Vademecum  für  Sammlef  von  Arznei-  und  Gewürzpflanzen.  S.  717.  E.  Küster,  Anleitung  zur  Kultur  der  Mikroorga- 
nismen. S.  718.  L.  Hamilton,  Ursprung  der  französischen  Bevölkerung  Canadas.  S.  718.  M.  Ficker,  Einfache 
Hillsmittel  zur  Ausführung  bakteriologischer  Untersuchungen.  S.  718.  E.  Frizzi,  Anthropologie.  S.  yiq.  A.  Classen, 
Handbuch  der  analytischen  Chemie.  S.  719.  M.  v.  Schwarz,  Legierungen.  S.  719.  K.  Leuchs,  Geologischer 
Führer  durch  die  Kalkalpen  vom  Bodensee  bis  Salzburg  und  ihr  Vorland.  S.  719.  Cl.  Schaefer,  Einführung  in 
die  theoretische  Physik.  S.   720.     G.  Jäger,  Theoretische  Physik.  S.  720. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  M  i  e  h  e ,  Berlin  N  4,  Invalidenstraöe  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.  Pätz'scben  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.  m.  b.  H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  glänzen  Reihe  36.  Band. 


Sonntag,  den  i8.  Dezember  1921. 


Nummer  51. 


Über  die  Funktion  des  Schwanzes  der  Wirbeltiere. 


[Nachdiuck  verboten,] 


Von  Dr.  Rob.  Mertens,  Frankfurt  a.  M. 


Ebenso  mannigfaltig  wie  die  Gestalt  des 
Wirbeltierschwanzes  ist  auch  seine  Funktion.  Ur- 
sprünglich dürfte  bei  den  niedersten  Wirbeltieren 
der  hinterste  Körperabschnitt  als  ein  Lokomo- 
tionsorgan  gedient  haben.  Als  ein  mächtiges, 
durch  die  erste  Wirbelsäuleanlage,  die  Chorda 
dorsalis,  gestütztes  Ruderorgan  tritt  der 
Schwanz  schon  bei  den  Tunikaten  auf,  bei  denen 
er  entweder  zeitlebens  (Appendikularien)  oder  nur 
während  des  Larvenstadiums  (Aszidien)  erhalten 
bleibt. 

Bei  den  meisten  Fischen  ist  der  Schwanz  ohne 
Frage  das  wichtigste  Bewegungsorgan.  Die  Loko- 
motion  der  Fische  erfolgt  durch  schlängelnde  Be- 
wegung entweder  des  ganzen  Körpers,  oder  — 
und  zwar  weit  häufiger  —  nur  des  Hinterendes. 
Durch  die  Ausbildung  einer  Schwanzflosse 
wird  die  Wirkung  der  schlängelnden  Bewegung 
bedeutend  vergrößert.  Bekannt  sind  die  ver- 
schiedenen Formen  der  Schwanzflossen  der  Fische. 
Hier  sei  insbesondere  auf  die  Funktion  der  sog. 
heterozerken  Flosse  hingewiesen.  Sie  besteht 
aus  zwei  ungleichen  Teilen:  einem  größeren, 
widerstandsfähigeren,  weil  durch  die  Wirbelsäule 
gestützten,  und  einem  kürzeren,  nachgiebigeren. 
Erstreckt  sich  das  Hinterende  der  Wirbelsäule 
in  den  oberen  Teil  der  Schwanzflosse  (so  bei 
Haifischen  und  Stören),  so  wird  während  der 
schlängelnden  Bewegung  der  untere  F'lossenteil 
nachgeschleppt  und  aus  der  vertikalen  in  eine 
mehr  oder  weniger  horizontale  Lage  gebracht. 
Infolge  seiner  Elastizität  richtet  er  sich  aber  wie- 
der vertikal  auf  und  übt  dabei  auf  die  unterliegende 
Wassermasse  einen  Druck  aus.  Dadurch  wird 
der  kaudale  Teil  des  Fisches  emporgetrieben,  das 
Vorderende  dagegen  gesenkt  —  also  das  Schwim- 
men nach  dem  Boden  erleichtert.  Bei  den  Ich- 
thyosauriern lief  die  Wirbelsäule  dagegen  in  den 
unteren  stärkeren  Flossenteil  aus:  der  Schwanz- 
ausschlag bedingte  hier  umgekehrt  das  Senken 
des  Hinterendes  und  das  Heben  des  Kopfendes, 
was  leichteres  Schwimmen  nach  der  Wasserober- 
fläche ermöglichte.  Eine  ähnliche  aufsteigende 
Bewegungsrichtung  wird  durch  die  homozerke 
Schwanzflosse  der  fliegenden  Fische  {Exocoetiis) 
erzielt.  Auch  hier  ist  der  untere  Teil  der  Schwanz- 
flosse größer,  als  der  obere. 

Im  allgemeinen  erfährt  der  Ruderschwanz  eine 
erhebliche  seitliche  Kompression,  wie  es  die 
meisten  Fische  zeigen.  Seitlich  zusammengedrückte 
Schwänze  haben  ferner  viele  Amphibien:  so  die 
Larven  von  Fröschen  und  Molchen;  bei  den  letz- 
teren   kann    der  Schwanz    auch    nach    der   Meta- 


morphose als  Ruderorgan  fungieren.  Bekannte 
Beispiele  hierzu  sind  die  Molche  der  Gattung 
Triton ,  namentlich  männliche  Individuen ,  die  in 
der  Fortpflanzungsperiode  —  also  während  des 
Aufenthaltes  im  Wasser  —  auf  den  Ruderschwänzen 
häufig  stark  entwickelte  Hautsäume,  bisweilen  in 
Gestalt  von  gezackten  Kämmen,  wie  z.  B.  beim 
prachtvollen  westasiatischen  Triton  vittatus,  be- 
kommen. Unter  den  Reptilien  haben  die  Kroko- 
dile und  die  Seeschlangen  seitlich  zusammen- 
gedrückte Ruderschwänze,  ferner  eine  Anzahl 
wasseraufsuchender  Eidechsen,  unter  denen  einige 
Tejiden  {Dracae?ia  gutanensis,  Crocodilurus  lacer- 
tifius)  und  vor  allem  die  Warane  (wie  Varanus 
nüotims,  indicus,  varius  usw.)  zu  nennen  wären. 
Auch  die  namentlich  durch  Darwins  Schilderung 
bekannt  gewordene  Meerechse  (Amblyrhymchus 
cristatus)  schwimmt  mit  Hilfe  ihres  seitlich  zu- 
sammengedrückten Schwanzes.  Derartig  gebaute 
Schwänze,  die  als  Ruder  funktionieren,  sind  bei 
den  Säugetieren  seltener;  als  Beispiele  seien  von 
den  Insektivoren  die  Otterspitzmäuse  {Potamogale 
velox,  allmannt)  und  die  madagassische  Gattung 
Limnogale,  von  den  Nagern  die  Bisamratte  [Fiber 
zibethictcs)  angeführt. 

Als  Lokomotionsorgan  ist  der  Schwanz  auch 
für  zwei  ausschließlich  im  Wasser  lebende  Säuge- 
tiergruppen von  großer  Bedeutung:  für  die  Wale 
und  für  die  Seekühe.  Auch  hier,  wie  bei  Fischen, 
läuft  der  Schwanz  in  eine  besondere  Flosse  aus, 
die  aber  morphologisch  mit  der  Schwanzflosse 
der  Fische  deswegen  nichts  zu  tun  hat,  weil  sie 
nicht  durch  Skeleitelemente  gestützt  wird.  Im 
Gegensatz  zu  den  Fischen  hat  die  Schwanzflosse 
der  Säuger  eine  horizontale  Lage.  Die  Be- 
wegung erfolgt  hier  nach  dem  Prinzip  des 
Schlängeins  in  der  Vertikal  ebene. 

Zur  Fortbewegung  kann  der  Schwanz  auch 
bei  manchen  auf  dem  Lande  lebenden  Tieren,  so 
bei  mehreren  fußlosen  Formen,  dienen.  Er  kann 
nämlich  als  „Stemmorgan"  benutzt  werden,  in- 
dem seine  Spitze  gegen  den  Boden  gedrückt  und 
der  Körper  vorwärts  geschoben  wird.  Solche 
Stemmschwänze,  die  bei  manchen,  teilweise 
unterirdisch  lebenden  Schlangen,  wie  Wurm- 
schlangen [Typhlopidae),  Schildschwänzen  [Uropel- 
tidae)  und  Rollschlangen  [Ilysiidae),  nicht  selten 
vorkommen,  sind  sehr  kurz,  dick  und  steif;  bis- 
weilen gleicht  das  Schwanzende  ganz  verblüfi'end 
dem  Kopfende.  Häufig  sind  diese  Stemmschwänze 
mit  besonderen  gekielten  Schuppen  oder  Schild- 
chen [Uropelfidae] ,  kleinen  Dörnchen  {Uropelfis 
grandis)   oder  mit   einem  Stachel   am   Schwanz- 


722 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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ende  (Typhlops)  besetzt ;  durch  diese  Vorrichtungen 
wird  das  Anstemmen  erheblich  erleichtert.  Es 
ist  möglich,  daß  der  kurze  Schwanz  bei  manchen, 
ähnlich  lebenden  Eidechsen,  so  bei  den  Amphis- 
baeniden,  eine  gleiche  Rolle  spielt.  Ebenfalls  als 
Stemmorgan  dürfte  der  steife  Schwanz  des  Beutel- 
maulwurfes {Notorydes  typhlops)  dienen. 

Bei  vielen  Formen,  die  Sprünge  machen,  wie 
nicht  wenige  schnellaufende  Eidechsen,  dient  der 
Schwanz  zum  besseren  Abstoßen  vom  Boden. 
Der  bekannte  Schlammspringer  (Periophthahnus), 
ein  Fisch,  der  auch  auf  dem  Lande  sich  aufhält, 
hüpft,  indem  er  sich  in  erster  Linie  auf  den 
Schwanz  stützt.  Auch  der  Salamander  {Autodax 
tecaniis  Cope)  vermag  vermittels  seines  Schwanzes 
Sprünge  auszuführen. 

Es  ist  bemerkenswert,  daß  eine  Anzahl  springen- 
der Tiere,  die  im  Besitz  eines  kräftig  entwickelten 
Schwanzes  sind,  diesen  bei  ihren  Sprüngen  nicht 
etwa  zum  Abstoßen  vom  Erdboden  gebrauchen. 
So  hebt  z.  B.  Semon  ausdrücklich  hervor,  daß 
die  Känguruhs  sich  nur  mit  Hilfe  ihrer  Hinter- 
beine abschnellen,  während  dabei  der  Schwanz 
den  Boden  kaum  berührt.  Hingegen  kommt  der 
kräftige  Schwanz  dem  Känguruh  —  wenn  es  auf 
den  Hinterbeinen  sitzt  —  als  Stütze  sehr  zu- 
statten, weil  dann  der  Körper  an  drei  Funkten 
gestützt  wird.  Bei  Springhasen  {Pedetes  caifer) 
und  Springmäusen  {Äladaga,  Jaculus),  aber  auch 
bei  vielen  anderen  weniger  oder  kaum  springen- 
den Nagetieren,  wie  unseren  Mäusen,  dürfte  der 
Schwanz  ein  ähnliches  Stützorgan  abgeben. 

Als  Stützorgan  wichtig  ist  ferner  der  Schwanz 
für  die  Anomaluriden  oder  Dornschwanzhörnchen : 
bei  diesen  Tieren  ist  er  auf  der  Unterseite  seiner 
Wurzel  mit  großen,  dachziegelartig  angeordneten 
Schuppen  besetzt,  die  das  Tier  beim  Klettern 
wesentlich  unterstützen  und  das  Rückwärtsgleiten 
verhindern.  Auch  bei  den  Flugeidechsen  der 
Gattung  Draco  sind  an  der  Unterseite  der 
Schwanzwurzel  besonders  stark  gekielte  Schuppen 
vorhanden.  Unter  den  Vögeln  sind  es  die  Spechte 
und  Baumläufer,  deren  Schwanzfedern  beim  Klettern 
als  Stützwerkzeuge  mitwirken. 

Nicht  bei  sehr  vielen  Wirbeltieren  dürfte  da- 
gegen der  Schwanz  als  ein  Steuerorgan  eine 
wesentliche  Rolle  spielen.  Bei  den  Vögeln  erfolgt 
das  Steuern  wahrscheinlich  nicht  durch  den 
Schwanz,  wie  es  meist  angenommen  wird,  sondern 
es  wird  nach  Milla  mit  Hilfe  der  Flügel  ge- 
steuert. Nur  bei  manchen  aquatilen  Geschöpfen 
(wie  Biber,  Fischotter)  dürfte  der  Schwanz  als 
Steuer  dienen,  während  er  bei  Eichhörnchen,  Alt- 
weltsaffen  und  vielen  anderen  springenden  Tieren 
während  des  Sprunges  als  „Balancierstange" 
funktioniert,  insofern  er  dabei  das  Gleichgewicht 
zu  erhalten  sucht.  So  auch  bei  den  Vögeln  beim 
Ausführen  plötzlicher  Wendungen. 

Als  Balancierstange  war  der  Schwanz  auch 
für  die  Iguanodonten  von  Bedeutung;  er  ist  es 
noch  für  solche  rezente  Eidechsen,  die,  wie  die 
Kragenechse   {Chlamydosaurtis   kingi),   die  Bart- 


agame  {Avtphibolurus  bar  latus),  die  Wasseragame 
(Physignathiis  lesueuri),  ein  kleiner  Leguan  Crofa- 
phyfus  coUans  und  die  Basilisken  {Bastliscus),  bis- 
weilen auf  den  Hinterbeinen  laufen.  —  In  diesem 
Zusammenhange  mag  auch  die  Annahme  Tor- 
niers  erwähnt  sein,  daß  der  Schwanz  unserer 
Eidechsen  durch  seinen  Zug  den  durch  Schlängel- 
bewegung gekrümmten  Körper  wieder  gerade 
streckt. 

Bei  PtycJwzoon  Jwmalocephalum,  einem  sprung- 
gewandten Baumgecko,  erstreckt  sich  zu  beiden 
Seiten  des  Körpers  und  des  Schwanzes  ein  Haut- 
saum; der  Schwanz  ist  bei  dieser  Eidechse  am 
Zustandekommen  eines  Fallschirms  beteiligt.  Ähn- 
lich verhält  es  sich  beim  Flattermaki  (Galeopüheais 
volaiis)  und  manchen  Fledermäusen;  bei  den 
letzteren  stützt  der  Schwanz  die  Flughaut,  das 
sog.  Uropatagium.  Vielleicht  hat  der  zweiseitig 
befiederte  Schwanz  des  Arthaeopteryx  als  ein 
Fallschirm  gedient.  Zweifellos  sind  aber  die 
Schwanzfedern  für  die  Vögel  als  Vergrößerung 
der  Tragflächen  von  Wichtigkeit. 

Eine  gänzlich  andere  Bedeutung  hat  der 
Schwanz  für  nicht  wenige  kletternde  Tiere,  bei 
denen  er  häufig  die  Fähigkeit  hat  sich  in  der 
Vertikalebene  mehr  oder  weniger  spiralförmig 
einzurollen.  Bei  diesen  Geschöpfen  hat  er  die 
Funktion  eines  Greifwe  rkzeugs.  So  ist  der 
Schwanz  unter  den  Fischen  bei  den  Seepferdchen 
(Hippocampus)  und  den  Seenadeln  {Nerophis)  ein 
Greiforgan.  Auch  bei  den  absonderlichen,  mit 
diesen  Formen  verwandten  Fetzenfischen  der 
Gattung  Phyllopteryx  dürfte  der  Schwanz  als 
Greifwerkzeug  funktionieren.  Einige  Salamander 
—  wie  z.  B.  der  nordamerikanische  Autodax 
iecanus  —  haben  ebenfalls  Greifschwänze.  Unter 
den  Reptilien  benutzen  den  Schwanz  als  ein 
Greifwerkzeug  die  weitaus  größte  Zahl  der  Chamä- 
leons, viele  Riesenschlangen  und  Baumottern ;  von 
den  eigentlichen  Eidechsen  sind  es  nur  einige 
wenige  baumbewohnende  Formen,  wie  z.  B. 
Cophotts,  der  anolisähnliche  Xipliocerciis  u.  a.  Die 
Säugetiere  weisen  eine  Anzahl  von  Formen  auf, 
die  charakteristische  Wickelschwänze  haben ;  merk- 
würdigerweise kommen  die  meisten  von  diesen 
greifschwänzigen  Säugern  in  Amerika  vor.  Unter 
den  Beuteltieren  sind  es  die  amerikanischen  Beutel- 
ratten der  Gattung  Didelphys  und  die  australischen 
Kusus  der  Gattungen  Plialaugcr  und  Pseudo- 
chirus.  Von  den  Xenarthren  sind  der  zweizehige 
Ameisenfresser  {Cydopcs  dtdadylus)  und  die  Ta- 
mandua  [Taniajidua  tctradadyla) ,  beide  in  Süd- 
amerika vorkommend,  im  Besitze  eines  Greif- 
schwanzes. Ebenso  auch  —  unter  den  Raub- 
tieren —  der  amerikanische  Wickelbär  {Potos 
flavus)  und  der[südostasiatische  Binturong  {Ardidis 
binturong).  Während  die  Schwänze  der  Halb- 
affen und  der  Altweltsaffen  sich  niemals  zu  Greif- 
organen umbilden,  haben  nicht  wenige  Affen- 
arten Amerikas  wohlausgebildete  Greifschwänze, 
die  zum  Teil  vielleicht  auch  noch  als  Tastorgane 
fungieren;    mit    ihren    Schwänzen    können   z.    B. 


N.  F.  XX.  Nr.  si 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


723 


manche  Arten  sogar  ihre  Nahrung  ergreifen.  Unter 
diesen  Formen  hat  die  Gattung  Saimiri  einen 
einrollbaren  Schwanz,  der  aber  zum  Greifen  noch 
kaum  benutzt  wird;  dagegen  haben  die  Kapu- 
zineraffen [Cebus],  die  Wollaffen  {Lagothrix),  die 
Klammeraffen  {Ateles)  und  die  Brüllaffen  {Alouaftd) 
richtige  Greifschwänze.  Während  bei  Cebus  der 
Schwanz  noch  allseitig  behaart  ist,  fehlt  die  Be- 
haarung —  als  funktionelle  Anpassung  —  auf  der 
Unterseite  des  Schwanzendes  bei  den  3  anderen 
Gattungen. ')  Am  Schwanzende  befindet  sich  also 
bei  diesen  Formen  eine  nackte,  sehr  nervenreiche 
Stelle,  die  dem  Schwänze  ohne  Frage  noch  eine 
zweite  Funktion  verleiht,  nämlich  die  eines  Tast- 
organs. 

Bisher  haben  wir  nur  solche  Greifschwänze 
erwähnt,  die  nach  unten  einrollbar  waren;  die 
Greiffläche  befand  sich  bei  diesen  Formen  stets 
auf  der  Unterseite  des  Schwanzes.  Nun  gibt  es 
unter  den  Nagetieren  Formen,  die  zwar  auch 
einen  Greifschwanz  haben,  der  aber  nach  oben 
eingerollt  wird :  seine  Greiffläche  befindet  sich 
also  auf  der  Oberseite.  Das  sehen  wir  bei  dem 
amerikanischen  Greifstachler  {Coendu  •vülosus)  und 
bei  den  australischen  Mäusen  der  Gattung  Chirti- 
romys.  Auch  bei  diesen  Formen  dürfte  der 
Greifschwanz  als  ein  Tastorgan  fungieren,  denn 
seine  Oberseite  —  also  die  Greiffläche  —  ist  meist 
nackt.  —  Die  zierliche  Zwergmaus  {Micromys 
■mimdus)  unserer  Heimat  benutzt  ihren  Schwanz 
auch  als  ein  Greifwerkzeug,  das  korkzieherförmig 
um  Grashalme  geringelt  wird. 

Namentlich  insofern  erleichtern  die  Greif- 
schwänze den  Tieren  das  Klettern,  als  sie  die 
Tätigkeit  der  Extremitäten  entlasten.  Eine  ähn- 
liche Wirkung  wird  aber  auch  durch  Haftlamellen 
an  der  Schwanzspitze  eines  Geckos  Lygodactylus 
piduratus  erzielt,  den  Werner  „Hemmschwanz- 
gecko" genannt  hat.  Diese  zuerst  von  Tornier 
nachgewiesenen  Haftlamellen  auf  der  Spitze  des 
—  also  hier  kaum  einrollbaren  —  Schwanzes, 
wirken  genau  so,  wie  die  bekannten  Haftscheiben 
an  den  Fingern  und  Zehen  der  Geckonen.  Eine 
ähnliche  Vorrichtung  hat  Lorenz  Müller  auf 
dem  Schwänze  auch  bei  westafrikanischen  Diplo- 
dadylus-hxten  festgestellt. 

Wie  erwähnt,  kann  der  Greifschwanz  als  ein 
Tastorgan  fungieren.  Nun  gibt  es  bei  manchen 
Tieren  nicht  einrollbare  Schwänze,  denen 
aber  von  einigen  Forschern  doch  die  Tastfunktion 
zugesprochen  wird.  So  wird  z.  B.  bei  dem  wunder- 
hübschen Spitzhörnchen  der  Gattung  Ptüoccrcus 
der  schöne,  lange  Schwanz  von  Schneider  als 
ein  Tastorgan  gedeutet,  was  mir  aber  nicht  recht 
verständlich  ist.  Wahrscheinlicher  scheint  es  mir 
schon,  daß  der  fleischige,  nackte  Schwanz  der 
unterirdisch  lebenden  Taschenratten  [Geomys)  als 
ein  Tastorgan  eine  Bedeutung  haben  kann.  Bei 
gewissen  Verwandten  unserer  Mauereidechse,  den 


•)  Ebenso  wie  beim  greifschwänzigen  Schuppentier  (Manis 
javanica).     D.  Verf. 


sog.  Archaeolacerten,  hat  der  bekannte  ungarische 
Zoologe  M^hely  auf  den  Schwanzschuppen  je 
eine  kleine  Sinnesknospe  entdeckt  —  der  Schwanz 
dürfte  also  für  diese  Tiere  als  ein  Sinnesorgan 
eine  Rolle  spielen. 

Einige  bodenbewohnende  Tiere  können  ihren 
Schwanz  ein-  und  ausrollen,  ohne  daß  er  aber 
dabei  ein  Greiforgan  ist.  In  den  meisten 
Fällen  dürften  diese  merkwürdigen  Schwanzbe- 
wegungen nur  Begleiterscheinungen  von  Er- 
regungszuständen sein.  So  hat  man  be- 
obachtet, daß  wüsten-  und  steppenbewohnende 
Eidechsen  der  Gattung  Phrynocephalus,  wie  Phry- 
nocephalus  caudivolvulus,  den  Schwanz,  nament- 
lich bei  Erregung  einrollen.  Auch  von  einem 
Gecko  Stenodactylus  petriei  ist  das  gleiche  be- 
kannt, ebenso  wie  von  einigen  nordamerikanischen 
Urodelen. 

Schwanzbewegungen  bei  Erregung 
sind  ja  recht  weit  verbreitet ;  Kaimanfische  {Lept- 
dosteus)  teilen  während  ihres  Fortpflanzungsge- 
schäfts mächtige  Schwanzschläge  aus;  bei  starkem 
Hunger  soll  der  Fuchshai  [Älopecias  vulpes)  mit 
Hilfe  von  peitschenden  Schwanzschlägen  kleine 
Fischschwärme  zusammentreiben.  Allgemein  be- 
kannt ist  das  Wedeln  des  Schwanzes  bei  unseren 
Hunden ;  wedelnde  Schwanzbewegungen  sind  auch 
bei  Giraffen  beobachtet  worden,  wenn  diese  Tiere 
die  Flucht  ergreifen  wollen  usw. 

Manche  Schlangen  bewegen  bei  Erregung 
ihren  Schwanz  überaus  lebhaft  hin  und  her,  so 
Spilotcs  pullatus,  Coluber  longissimus  und  CorO' 
nella  ^etula,  den  Beobachtungen  des  bekannten 
Herpetologen  F.  Werner  zufolge.  Von  den 
Giftschlangen  ist  die  gleiche  Erscheinung  von 
Elaps  fulvius,  Ancistrodon  contortrix^  ptscivorus, 
himalayanus ,  blo7nhoffi  und  Lachesis  allernatus 
bekannt.  Manchmal  erfolgen  diese  Bewegungen 
unter  hörbarem  Geräusch,  ähnHch  den  schwanz- 
rasselnden Klapperschlangen.  Auch  diese  letzteren 
Schlangen  (Sistrurus  und  Croialus)  muß  man  in 
diesem  Zusammenhange  nennen:  denn  die  Schwanz- 
bewegung und  das  durch  die  bekannte  Rassel  er- 
zeugte Geräusch  zeigen  stets  eine  besondere  Er- 
regung dieser  Tiere  an.  Es  ist  wohl  nicht  aus- 
geschlossen, daß  die  Rassel  der  Klapperschlangen, 
deren  Entstehung  auf  unvollständiger  Häutung 
beruht,  auch  im  Dienste  des  Geschlechtslebens 
(Verständigung,  bzw.  Anlockung  der  Geschlechter) 
steht. 

Rasselndes  Geräusch  vermögen  auch  die 
Stachelschweine  {Hysfn'x)  durch  das  Schütteln 
ihres,  mit  besonders  modifizierten  Stacheln  be- 
setzten, Schwanzes  hervorzubringen.  Fast  immer 
geschieht  das  im  Zustande  der  Erregung. 

Mit  Hilfe  ihres  Schwanzes  können  aber  noch 
andere  Geschöpfe  Laute  erzeugen.  Ein  Gecko 
aus  Zentralasien  {Tcratoscinctis)  ist  befähigt  durch 
Reiben  von  großen,  dachziegelförmig  angeordneten 
Schuppen,  die  seinen  Schwanz  bedecken,  laut  zu 
zirpen.  Welche  biologische  Bedeutung  diese  Zirp- 
töne haben,  ist  aber  nicht  einzusehen.    Vielleicht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.   51 


dienen  sie  —  ebenso  wie  bei  den  Klapperschlangen 
—  zur  Anlockung  der  Geschlechter.  Strauch  — 
ein  russischer  Herpetologe  —  war  der  Ansicht, 
daß  der  Teratoscincus  mit  seinem  Zirpen  Heu- 
schrecken, also  seine  Futtertiere,  anlockt.  Von 
den  Kolibris  ist  es  auch  bekannt,  daß  sie  während 
ihrer  Liebesspiele  durch  Bewegungen  der  Schwanz- 
federn ein  Geräusch  produzieren. 

Schlagende  und  schleudernde  Schwanzbe- 
wegungen können  für  die  Tiere  andererseits  eine 
sehr  wirksame  Wafife  abgeben.  So  benutzen  be- 
kanntlich die  verschiedensten  Huftiere  ihre  Schwänze 
als  Fliegenwedel.  Mächtige  Schläge  —  selbst 
für  den  Menschen  nicht  ungefährlich  —  können 
Krokodile  und  Warane  austeilen.  Aber  auch  die 
großen  Leguane  [Iguaiia  tuberailata,  Metopoceros 
coj'iintns)  haben  die  gleiche  Fähigkeit.  Bei  anderen 
Formen  wird  die  Wirkung  der  Schwanzschläge 
dadurch  ganz  erheblich  vergrößert,  daß  auf  dem 
Schwänze  Stacheln  zur  Entwicklung  gelangen.  Die 
Stachelrochen  {Trygoiu'dac)  haben  solche  Schwänze 
mit  einem  oder  mehreren  Stacheln ;  ähnlich  ist  es 
bei  den  Myliobatiden,  Acanthuriden  und  anderen 
Fischen.  Unter  den  Eidechsen  sind  Stachel- 
schwänze recht  verbreitet.  Zum  Teil  sogar  sehr 
mächtig  entwickelte  Stacheln,  die  hier  modifizierte 
Schuppen  sind,  finden  sich  z.  B.  auf  den  Schwänzen 
von  Uromasfix,  Zonurus,  Cfeiiosaura,  Cachryx ; 
einen  Waran  {Varainis  acanfhnrus  aus  Australien), 
eine  Eidechse  im  engeren  Sinne  {Laccrfa  ecliinata 
aus  dem  tropischen  Westafrika)  und  sogar  Glatt- 
echsen (z.  B.  Egcrnia  dcprcssa  aus  Australien) 
gibt  es,  die  ebenfalls  stachlige  Schwänze  haben. 
Auch  der  Urson  {Erefkizo)i),  der  zu  den  Baum- 
stachelschweinen gehört,  schlägt  mit  seinem 
stachHgen  Schwänze:  die  Stacheln  sitzen  bei 
diesem  Tiere  so  lose  in  der  Haut,  daß  sie  bei 
der  geringsten  Berührung  am  Körper  des  An- 
greifers haften  bleiben.  Wenn  das  Schuppentier 
{Mams)  beunruhigt  wird,  so  schlägt  es  seinen, 
mit  großen  spitzen  Schuppen  bedeckten  Schwanz 
unter  die  empfindlichere  Bauchseite  und  ist  auf 
diese  Weise  von  allen  Seiten  durch  sein  Schuppen- 
hemd geschützt. 

So  mag  der  Schwanz  für  manche  Tiere  als 
Decke  auch  von  Bedeutung  sein,  und  zwar  ent- 
weder als  Afterklappe  (z.  B.  Mammut)  oder  als 
Schutzdecke  für  den  ganzen  Körper.  Verschie- 
dene Eichhörnchen,  so  das  zierliche  Flughörnchen 
Glancomys  volaiis,  decken  sich  beim  Schlafen  mit 
ihrem  buschigen  Schwänze  zu.  Der  Schwanz  des 
großen  Ameisenbären  {Alynnccophaga  fridacfyla) 
ist  sehr  lang  und  mit  bis  40  cm  langen  Haaren 
bedeckt.  Wenn  sich  dieses  merkwürdige  Geschöpf 
hinlegen  will,  hebt  es  seinen  mächtigen  Fahnen- 
schwanz über  seinen  Körper,  so  daß  dieser  voll- 
kommen von  den  langen  Schwanzhaaren  einge- 
hüllt wird.  So  dürfte  der  Schwanz  für  den 
Ameisenbären  als  eine  Decke  von  Bedeutung  sein, 
zumal  Alyrviecopliaga  ein  nomadisierendes  Leben 
führt,  worauf  zuerst  Sokolowsky  hingewiesen 
hat. 


Befinden  sich  auf  dem  Schwänze  besondere 
Drüsen,  die  ein  giftiges  oder  übelriechendes 
Sekret  ausscheiden,  so  kann  der  Schwanz  ein 
weiteres  Schutzmittel  abgeben.  So  sind  die 
Giftdrüsen  auf  der  Schwanzoberseite  des  PlefJiodoii, 
oregonensis,  eines  nordamerikanischen  Salamanders, 
sehr  stark  ausgebildet,  was  ein  immerhin  wichti- 
ges Schutzmittel  gegen  Schlangenangrifife  sein 
kann.  Auf  der  Unterseite  des  Schwanzes  vom 
Wychuchol  {Myo^ale  vioschatd)  befinden  sich 
Moschusdrüsen,  die  vielleicht  eine  ähnliche  Funk- 
tion —  als  Verteidigungswaffe  —  haben  usw. 

Bei  den  Mormyriden,  die  häufig  wenig  zu- 
treffend als  Nilhechte  bezeichnet  werden,  liegen 
beiderseits  des  Schwanzes  zylinderförmige,  ge- 
fächerte elektrische  Organe,  die  ebenfalls 
als  ein  —  allerdings  kaum  sehr  wirksames  — 
Schutzmittel  dienen  mögen,  indem  sie  schwache 
elektrische  Schläge  auszuteilen  imstande  sind. 
Auch  bei  einigen  Rochen  befinden  sich  schwache 
elektrische  Organe  im  Schwänze. 

Von  weiteren  Schutzmitteln  sei  der  bekannten 
Autotomie  („Selbstverstümmelung")  des  Schwan- 
zes gedacht.  Die  Fähigkeit  den  Schwanz  abzu- 
werfen gestattet  manchen  Tieren  verschiedensten 
Gefahren  zu  entrinnen,  etwa  wenn  sie  vom  Ver- 
folger am  Schwänze  festgehalten  werden.  Der 
Bruch  erfolgt  an  besonderen  „präformierten" 
Stellen,  die  bei  den  Eidechsen  bekannt- 
lich innerhalb  eines  Wirbels,  bei  den  Uro- 
delen  hingegen  zwischen  zwei  Wirbeln  liegen. 
Der  abgebrochene  Teil  des  Schwanzes  hat  fast 
immer  die  Fähigkeit  sich  noch  lange  hin  und  her 
zu  bewegen,  und  während  der  Verfolger  sich  mit 
diesem  Schwanzstück  beschäftigt,  hat  der  Ver- 
folgte meist  genug  Zeit,  um  sich  aus  dem  Staube 
zu  machen.  Unter  den  Schwanzlurchen  brechen 
die  Schwänze  ab  bei  den  nordamerikanischen 
Spclcrpes  und  Bafraciwseps,  ferner  bei  dem  zier- 
lichen portugiesischen  Goldstreifensalamander 
Chioglossa  lusitanica  und  bei  der  Salama7jdra 
caucasica.  Bei  Eidechsen  ist  die  gleiche  Erschei- 
nung viel  verbreiteter;  Werner  hebt  aber  aus- 
drücklich hervor,  daß  die  Schwänze  nur  dann 
autotomieren ,  wenn  sie  nicht  als  Wafife  oder  als 
Greifwerkzeug  funktionieren.  Je  leichter  der 
Schwanz  bei  den  Eidechsen  abbricht,  desto 
schneller  pflegt  seine  Regeneration  zu  erfolgen. 
Wie  Boulenger  zuerst  hervorgehoben  hat, 
zeichnen  sich  regenerierte  Schwänze  dadurch  aus, 
daß  sie  in  der  Regel  eine  andere  —  und  zwar 
ursprünglichere  —  Beschuppung  bekommen. 
Schwanzautotomie  und  Regeneration  sind  von 
Schlangen  nicht  bekannt;  zwar  sind  bei  manchen 
Formen  (so  z.  B.  bei  Psanimophis)  die  Schwänze 
auffallend  leicht  abreißbar,  doch  niemals  regene- 
rationsfähig. 

Unter  den  Säugetieren  haben  die  Igelratten 
{Proechimys)  die  Fähigkeit  den  Schwanz  abzu- 
werfen. Der  Bruch  erfolgt  an  einer  präformierten 
Stelle,  an  der  die  Schwanzwirbel  verkümmert  und 
die  Haut   nur   sehr   dünn  ist;   von  einer  Regene- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


72s 


ration  des  einmal  abgebrochenen  Schwanzes  ist 
aber  bei  diesen  Tieren  nichts  bekannt.  Andere 
Nagetiere,  wie  die  Waldmaus  {Afodemus  sylvatiais), 
die  Brandmaus  {Micromys  agrarms),  die  Wüsten- 
springmaus {Jaciiliis  jaciilus)  und  die  Bilche 
{Myoxidae)  können  ihren  Schwanz  zwar  ohne 
weiteres  nicht  abbrechen,  dafür  aber  die  Schwanz- 
haut abstreifen:  wird  ein  solches  Tierchen  etwa 
am  Schwänze  festgehalten,  so  reißt  die  Haut  — 
wenigstens  bei  den  ersten  drei  Arten  —  an  einer 
präformierten  Stelle  und  streift  sich  vom  Schwanz  ab. 

Zur  Ernährung  eines  Tieres  kann  der 
Schwanz  insofern  in  Beziehung  stehen,  als  im 
kaudalen  Körperabschnitt  bei  den  verschiedensten 
Wirbeltieren  Fett-  und  andere  Nährstoffvorräte 
abgelagert  werden.  Schon  der  Schwanz  der 
Froschlarve  stellt  einen  Aufspeicherungsraum  für 
Nährstofife  vor.  Bekannt  ist  die  Beobachtung  von 
Pflüger,  daß  die  Larve  der  Geburtshelferkröte 
{Alyies  obstetricans),  von  etwa  8  cm  Größe,  die 
Nahrungsaufnahme  einstellt  und  nun  fünf  Wochen 
lang  auf  Kosten  ihres  mächtigen  Schwanzes  lebt : 
während  dieser  Zeit  erfolgt  die  Ausbildung  der 
Extremitäten.  Durch  die  Tätigkeit  der  Leuko- 
zyten wird  der  Schwanz  aufgezehrt,  wie  es  aus 
den  Untersuchungen  von  Metschnikoff,  van 
Rees,  Barfuth,  Loos  u.  a.  hervorgeht. 

Auch  manche  Eidechsen  haben  eine  wichtige 
Nahrungsniederlage  im  Schwänze.  Es  sind  wohl 
meist  Formen,  die  dürre,  steppenartige  Gegenden 
bewohnen,  wie  z.  B.  Lygosoma  monotropis  und 
fasciolatuni  —  australische  Glattechsen,  die  einen 
auffallend  dicken  Schwanz  haben.  Vielleicht  sind 
auch  die  dicken  rübenförmigen  Schwänze  von 
manchen  Geckonen,  so  z.  B.  vom  „Nierenschwanz- 
gecko"  Ncphruriis  (asper  und  laevis)  und  von 
Gymnodactylus  müicsii  in  dieser  Weise  zu  deuten. 
Ferner  kommen  Fettanhäufungen  im  Schwänze 
von  Dromicia  nana,  einem  kleinen  Beuteltier,  vor; 
sehr  auffallend  sind  dann  die  Fettablagerungen  — 
die  wohl  auch  die  Bedeutung  eines  Zehrvorrats 
haben  —  bei  den  Dickschwanzmäusen  aus  der 
Gattung  Pachyiiromys.  Man  kennt  sie  aber  auch 
von  mehreren  madagassischen  Halbaffen  aus  den 
Gattungen  AUüüemur,  Cheirogalcus  und  Micro- 
cebus.  Nach  Grandidier  (laut  Brehms  Tier- 
leben, 4.  Aufl.,  Bd.  XIII)  halten  diese  Fettschwanz- 
makis  während  der  Trockenzeit  einen  Sommer- 
schlaf ab;  wenn  die  Tiere  erwachen,  ist  die  mäch- 
tige Schwanzanschwellung,  die  durch  eine  Fett- 
ansammlung bedingt  wird,  vollkommen  ver- 
schwunden. Auch  das  bekannte  Karakul-  oder 
Fettschwanzschaf,  dessen  Fettschwanz  bis  10  kg 
schwer  werden  soll,  muß  in  diesem  Zusammen- 
hange genannt  werden. 

Daß  der  Schwanz  auch  —  allerdings  nur  im 
Embryonalstadium  —  als  Atmungsorgan 
funktionieren  kann,  geht  aus  den  Untersuchungen 
von  Peters  an  Keimlingen  vom  bekannten  An- 
tillenfrosch {Hylodes  viarfinicensis)  hervor.  Auch 
bei  den  Wabenkrötenembryonen,  die  sich  in  den 
wabenförmigen  Vertiefungen  des  IVIuttertieres  ent- 


wickeln ,    dürfte   der   Schwanz   als  ein   Atmungs- 
organ dienen. 

Endlich  hat  der  Schwanz  auch  bisweilen  eine 
Bedeutung  für  das  Geschlechtsleben  der 
Wirbeltiere.  Nicht  selten  sind  sekundäre  Ge- 
schlechtsmerkmale gerade  am  kaudalen  Körper- 
abschnitt besonders  stark  ausgebildet  (z.  B.  ab- 
weichende Schwanzflossenbildung  bei  Xiplwpiwrus- 
Männchen,  Schwanzkämme  bei  männlichen  Uro- 
delen  und  Eidechsen,  Höcker  auf  der  Oberseite 
der  Schwanzwurzel  bei  den  Männchen  von  Sala- 
mandra  caucasica  und  luschani,  mächtig  en wickelte 
Schwanzfedern  bei  männlichen  Hühner-  und 
Paradiesvögeln  usw.).  Auf  die  Vermutung,  daß 
der  Schwanz  der  Klapperschlangen  durch  rasseln- 
des Geräusch,  oder  beim  Tcratoscincus  durch 
zirpende  Töne  der  Schwanzschuppen  für  gegen- 
seitige Verständigung  und  Anlockung  der  Ge- 
schlechter eine  Bedeutung  haben  mag,  wurde 
schon  hingewiesen.  Die  auffallend  schwarz  und 
weiß  gefärbte  Schwanzquaste  der  Wüstenspring- 
maus {Jacidtis  jacidiis)  ist  nach  Schmidtlein 
zum  gegenseitigen  Auffinden  von  Vorteil ,  zumal 
diese  Tierchen  dämmerungsliebend  sind;  das 
Weibchen  soll  seine  Jungen  gerade  mit  Hilfe  die- 
ser auffallenden  Schwanzquaste  führen. 

Der  schwertförmig  ausgezogene  untere  Teil 
der  Schwanzflosse  vom  bekannten  bunten  Schwert- 
kärpfling  {Xiphophoriis)  dient  während  der  Liebes- 
spiele als  Reizorgan;  man  kann  im  Aquarium 
bisweilen  beobachten,  wie  das  Männchen  plötzlich 
rückwärts  schwimmt  und  dabei  das  Weibchen 
mit  seinem  Schwertfortsatz  zu  berühren  sucht, 
wahrscheinlich  um  es  zu  erregen.  Auch  das 
Männchen  von  der  griechischen  Landschildkröte 
(Testudo  graccd)  stößt  während  der  Paarungsspiele 
mit  dem  Dorn  seines  Schwanzendes  an  die  After- 
öffnung des  Weibchens.  Dagegen  werden  die 
Molchweibchen  von  den  heftigen  Schwanzbe- 
wegungen der  Männchen,  die  sie  während  ihrer 
Liebesspiele  ausführen,  in  der  Regel  nicht  berührt. 

Während  der  Begattung  kann  der  Schwanz 
als  ein  Greifwerkzeug  benutzt  werden:  manche 
Molche  (Eiiprocfus)  und  Schlangen  halten  sich 
während  der  Begattung  mit  ihren  Schwänzen  fest, 
wie  man  es  z.  B.  bei  der  Zornnatter  (Zavienis 
gemonensis)  beobachten  kann. 

Um  ein  Loch  für  die  Eiablage  zu  graben  wird 
von  der  europäischen  Sumpfschildkröte  (Emys 
orbicularis),  laut  Beobachtungen  von  M  i  r  a  m,  der 
Schwanz  benutzt,  indem  er  mit  seiner  Spitze 
gegen  den  Boden  gestemmt  wird;  dann  werden 
mit  dem  vorderen  Schwanzteil  kreisförmige  Be- 
wegungen ausgeführt,  wodurch  im  Boden  ein 
kegelförmiges  Loch  entsteht.  Weiter  wird  das 
Loch  mit  Hilfe  der  Hinterextremitäten  gegraben. 
Die  chinesische  Dreikielschildkröte  (Gedclcmys 
reevesi)  verfährt  dabei  —  wie  ich  kürzlich  be- 
obachten konnte  —  anders:  das  Weibchen  hat 
mit  kräftigen  Schwanzbewegungen  in  horizontaler 
Ebene  in  ziemlich  kurzer  Zeit  so  viel  Land  weg- 
geschaufelt, daß  eine  große  Grube  entstand,  in  die 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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die  Eiablage  erfolgte.  Einige  Fische,  so  z.  B.  die 
Lachse,  höhlen  auch  vermittels  ihres  Schwanzes 
Gruben  aus,  die  zur  Aufnahme  des  Laiches  be- 
stimmt sind.  Daß  die  australischen  Opossumratten 
{Bettongia  penicillatd)  mit  Hilfe  ihrer  greiffähigen  (?) 
Schwänze  Baumaterial  für  ihre  Nester  herbei- 
schaffen sollen  (vgl.  Brehms  Tierleben,  4.  Auf- 
lage, Bd.  X,  S.  190),  erscheint  mir  recht  unwahr- 
scheinlich. 

Der  Schwanz  kann  schließlich  noch  viel  engere 
Beziehungen  zur  Brutpflege  haben:  manche 
Fische  halten  sich  bei  ihrem  Laich  auf  und  ver- 
setzen durch  sanfte  Schwanzschläge  das  Wasser 
in  Bewegung,  um  den  Keimlingen  sauerstoff- 
reicheres Wasser  zuzuführen.  Der  Salamander 
Plethodan  oregotiensts  hält  seine  Eier  in  der 
Schwanzschlinge   fest   und   soll   sie  so  von  einem 


Ort  zum  anderen  transportieren.  Vielleicht  noch 
merkwürdiger  ist  die  Brutpflegegewohnheit  bei 
einem  kleinen  Fischchen,  dem  Spritzsalmler 
{Copeina  arnoldi):  das  Weibchen  legt  seinen 
Laich  außerhalb  des  Wassers  ab  —  im  Aquarium 
an  die  Glasscheibe  über  dem  Wasserspiegel  — ; 
das  Männchen  übernimmt  nun  die  Brutpflege,  in- 
dem es  durch  schlagende  Bewegung  der  Schwanz- 
flosse die  Eier  ständig  mit  Wasser  bespritzt. 
Eine  ähnliche  Beobachtung  am  Wels  {Silurus 
glanis)  hat  der  rumänische  Ichthyologe  A  n  t  i  p  a 
gemacht:  im  Überschwemmungsgebiet  der  unteren 
Donau  pflegt  der  Wels  seine  Eier  auf  die  Blätter 
von  überschwemmten  Landpflanzen  abzulegen. 
Sinkt  dann  das  Wasser,  so  bespritzt  der  Wels 
durch  heftige  Schwanzschläge  den  Laich,  der  der 
Luft  ausgesetzt  ist. 


[Nachdruck  verboten.] 


Vom  Leiben  zum  Tode. 

Eine  naturwissenschaftliche  Betrachtung 

von  Dr.  Emil  Lenk. 


Die  Lebewesen   sind   aus  kolloidalem  Material 
aufgebaut    und    jeder    Wechsel    im    funktionellen 
Verhalten    der  Zelle   geht  mit  einer  Veränderung 
der   Zellkolloide    parallel.      Zum    großen    Gebiet 
der  koUidalen  Substanzen  gehören   die  Fermente, 
chemische  Stoffe,   die   in  geringster  Menge  ange- 
wendet, Umsetzungen   relativ  ungeheurer  Mengen 
chemischer  Substanzen  vollbringen  können.      Ein 
Gramm    eines    Labpräparates    aus    einem    Kalbs- 
magen genommen,  ist  imstande  die  400  000  fache 
Menge  Milch  zum  Gerinnen  zu  bringen.     So  gibt 
es    Fermente   im    Organismus,    welche    die    ver- 
schiedensten chemischen  Substanzen,  wie  Nahrungs- 
mittel abbauen  und  wieder  zu  komplizierten  Ge- 
bilden verketten  können,  in  jeder  Zelle,  in  jedem 
Gewebstück.    Alle  im  Organismus  sich  abspielen- 
den Vorgänge  werden  auf  fermentative  zurückge- 
führt.   In  der  lebenden  Zelle  arbeiten  die  Fermente 
an  einem  Werke,  dem  der  Erhaltung  des  Lebens. 
In  einem  abgestorbenen  Gewebe   sind  die  Zellen 
zwar    tot,    die    Fermente     aber    noch    wirksam. 
Während  die  Lebenseigenschaft  der  Zelle  für  eine 
harmonische   gemeinsame   Arbeit   aller   Fermente 
sorgte,  hat  sie  nach  dem  Tode  diese  Möglichkeit 
völlig  verloren.     Der  Tod  der  Zelle  beseitigt  das 
regulatorisch  wirkende,    die   zweckmäßige   Arbeit 
der    Fermente    bedingende    Prinzip.      Das   Rätsel 
des  Lebens   ist    dadurch   noch    lange    nicht   „er- 
klärt".   Die  lebende  Zelle  produziert  und  reguliert 
die  Fermente.      Sie  schafft  nur  solche,   deren   sie 
unbedingt  bedarf,  und   vernichtet  die,   welche  sie 
nicht  verwenden  kann.   In  toten  Zellen  setzt  jedes 
Ferment  seine   Tätigkeit   fort,    es   kümmert  sich 
nicht  um  die  anderen   und  erzeugt  Produkte,  die 
vollkommen  unnötig  sind.    Auf  dem  harmonischen 
Zusammenwirken  der  Fermente  beruht  das  Leben, 
auf  einer  regellosen  Fermentarbeit  der  Tod. 

Während    die    lebende    Zelle    eine    sorgsame 


Auswahl  unter  den  ein-  und  austretenden  Stoffen 
traf  und  nicht  wahllos  Substanzen  passieren  ließ, 
besitzt  die  tote  Zelle  ihr  regulatorisches  Prinzip 
nicht  mehr;  Substanzen  aller  Art  haben  jetzt 
freien  Eintritt  in  die  Zelle  und  es  hindert  auch 
die  im  Zellsaftraum  gelagerten  Substanzen  nichts 
daran,  aus  der  Zelle  auszutreten. 

Mit  dem  Leben  der  Zelle  geht  ihre  Irritabili- 
tät, die  Reaktion  auf  Reize  Hand  in  Hand.  Die 
meisten  Beobachtungen  werden  an  jener  Form 
des  organisierten  Protoplasmas  angestellt,  welche 
ihrer  Menge  nach  den  Hauptanteil  des  lebenden 
Körpers  ausmacht:  dem  Muskelgewebe.  Mit  dem 
Eintritt  des  Todes  verändert  sich  der  Muskel  in 
eigentümlicher  Weise.  Ist  der  Muskel  tot,  so  ist 
er  unerregbar.  Während  er  im  Leben  weich  war, 
und  die  Gelenke  gebogen  werden  konnten,  wird 
er  jetzt  hart  und  fest,  die  Gelenke  sind  nicht  mehr 
biegsam.  Es  tritt  die  Totenstarre  ein.  Nach 
2  bis  3  Tagen  beginnt  sie  sich  wieder  zu  lösen, 
der  Muskel  wird  wieder  weich,  die  Gelenke 
können  wieder  gebogen  werden.  Dies  entspricht 
der  Lösung  der  Totenstarre.  Die  Frage 
nach  dem  Wesen  der  Totenstarre  und  ihrer  Lösung 
gehört  zu  den  ältesten  Problemen  der  Physiologie. 
Hat  doch  diese,  auch  für  den  Laien  so  auffällige 
und  geheimnisvolle  Erscheinung  die  Wißbegierde 
der  Menschen  erregt,  seitdem  sie  überhaupt  be- 
gonnen hatten,  den  Rätseln  des  Lebens  und  des 
Sterbens  nachzugrübeln.  Da  der  Muskel  meistens 
aus  Eiweißstoffen  besteht,  diese  gerinnbar  sind 
und  dadurch  fest  werden  (wie  im  Ei),  folgten  die 
meisten  Physiologen  der  Ansicht  Kühnes,  der- 
zufolge  die  Totenstarre  durch  eine  Gerinnung  der 
Eiweißkörper  bedingt  sein  sollte.  Gegen  diese 
Gerinnungstheorie  sind  nur  spärlich  Stimmen  laut 
geworden,  welche  die  Totenstarre  als  eine  Art 
Muskelkontraktion  bezeichneten,  nachdem Ny st en 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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am  Beginne  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Toten- 
starre vom  vitalistischen  Standpunkte  aus,  als 
letzte  Anstrengung  des  sterbenden  Muskels  ge- 
deutet hatte.  V.  Fürth  und  Lenk')  haben 
das  Problem  der  Totenstarre  und  ihrer  Lö- 
sung nochmals  aufgerollt,  um  vom  physikalisch- 
chemischen Standpunkt,  die  sich  beim  Ab- 
sterben der  Gewebe  abspielenden  Vorgänge  zu 
betrachten.  Ihr  Augenmerk  lenkten  sie  vor  allem 
auf  das  Problem  der  Lösung  der  Totenstarre,  das 
ganz  und  gar  nicht  geklärt  war,  und  die  angeb- 
lichen Gründe  zur  Lösung  der  Totenstarre,  wie 
Selbstverdauung,  P'äulnis,  Auflösung  des  geron- 
nenen Eiweißes  durch  Milchsäure  nicht  stichhaltig 
waren.  Wenn  es  uns  nun  geglückt  sein  sollte, 
diese  Naturrätsel  zu  lösen,  so  verdanken  wir  dies 
dem  früher  genannten  Zweige  der  biologischen 
Wissenschaften,  der  Kolloidchemie.  Ein  wichtiges 
Merkmal  einer  großen  Gruppe  kolloidaler  Stoffe, 
zu  welchen  die  Eiweißkörper  gerechnet  werden, 
die  ja  die  Hauptmenge  des  Muskels  ausmachen, 
ist  ihre  Quellbarkeit.  Legt  man  einen  Gelatine- 
würfel ins  Wasser,  so  nimmt  er  dieses  in  sich  auf, 
ohne  daß  es  durch  Abpressen  gelingt,  ihn  vom 
geketteten  Wasser  zu  befreien,  also  ganz  anders, 
als  bei  einem  vollgesaugten  Schwämme.  Bei  der 
Anwesenheit  einer  nur  minimalen  Säuremenge 
wird  die  Wasseraufnahme  bedeutend  beschleunigt. 
Untersucht  man  nun  die  zeitliche  Wasseraufnahme, 
indem  man  zugleich  einen  Gelatinewürfel  und 
einen  Fleischwürfel  ins  Wasser  legt  und  von  Zeit 
zu  Zeit  zur  Wägung  bringt,  so  bemerkt  man,  daß 
die  Wasseraufnahme  bei  den  beiden  Objekten  ganz 
anders  erfolgt.  Die  Leimplatte  nimmt  stets  Wasser 
auf.  Ein  Fleischwürfel,  der  einem  eben  getöteten 
Tiere  entnomrrien  wird,  nimmt  bis  zur  ca.  30. 
Stunde  Wasser  vom  Außenmedium  auf,  um  nach 
dieser  Zeit  nicht  nur  sein  aufgenommenes  Wasser 
abzugeben,  sondern  auch  einen  Teil  des  an  und 
für  sich  enthaltenen  Wassers.  Wird  aber  ein 
Fleischstück  von  einem  Tiere  untersucht,  bei  dem 
sich  die  Totenstarre  bereits  gelöst  hat,  so  ist  der 
Muskel  nicht  mehr  imstande  Wasser  aufzunehmen, 
sondern  gibt  sein  eigenes  Wasser  ab.  Während 
der  lebende  Muskel  strenge  seine  Neutralität  wahrt 
und  jede  Säure  bzw.  Laugenbildung  durch  Neu- 
tralisation sofort  beseitigt,  reagiert  Fleisch  nach 
dem  Tode  sauer  durch  die  sich  im  Muskel 
bildende  Milchsäure,  die  sich  allmählich  bis  zu 
einer  einprozentigen  Säurelösung  konzentriert. 

Auf  zahlreiche  Versuche  gestützt,  sind  v.  F  ü  r  t  h 
und  Lenk  zur  Überzeugung  gelangt,  daß  es  sich 
bei  der  Todenstarre  nicht  um  einen  Gerinnungs-, 
sondern  um  einen  Quellungsvorgang  handelt.  Der 
Muskel,  der  willkürlich  beeinflußt  wird,  besteht 
aus  zahlreichen  Muskelfasern,  deren  Breite  nur 
10—100  ,u  (1  /'  =  Viooü  "i'n)  beträgt  und  von 
denen  jede  einzelne  aus  dem  Sarkoplasma,  einer 
kontraktilen  (willkürlich  zusammenziehbaren)  Ei- 
weißmasse  zusammengesetzt  ist,   die   nach  außen 

')  Otto  V.  Fürth  und  E.  Lenk:  Bloch.  Zeitschr.,  33, 
356  (191 1). 


hin  von  einer  etwas  dichteren  Schicht  abgegrenzt 
ist.  In  diesem  Sarkoplasma  liegen  nun  von  einem 
Ende  der  Faser  bis  zum  anderen  sich  hinziehend 
die  Fibrillen,  welche  aus  abwechselnd  hellen  und 
dunklen  Partien  bestehen,  die  verschiedene  Licht- 
brechung besitzen;  so  entstehen  dunkle  und  helle 
Querstreifen  (quergestreifte  Muskel).  Es  besteht 
also  der  Muskel  aus  zwei  verschiedenen  kolloidalen 
Eiweißsubstanzen,  dem  Sarkoplasma  und  den 
Fibrillen.  Die  nach  dem  Aufhören  der  normalen 
Blutzirkulation,  also  nach  Eintritt  des  Todes  ein- 
setzende Milchsäurebildung  bringt  die  Fibrillen 
auf  Kosten  der  Sarkoplasmaflüssigkeit  zum  Quellen 
und  bewirkt  so  eine  Verkürzung  des  ganzen 
Muskels.  Diese  äußert  sich  in  einem  Starrezu- 
stand (Totenstarre).  Durch  eine  weitere  Säure- 
anhäufung kommt  es  zu  einer  allmählichen  Ge- 
rinnung, einer  Ausflockung  der  Muskeleiweißstofife ; 
diese  geht  mit  einem  verminderten  Wasserver- 
bindungsvermögen des  kolloidalen  Systems,  mit 
einer  Wasserabgabe,  einem  Entquellungsvorgang 
einher,  als  dessen  physiologischer  Ausdruck  die 
Lösung  der  Totenstarre  zu  betrachten  ist. 

Wir  wissen,  daß  Wärme  die  Gerinnung  der 
Eiweißkörper  sehr  beschleunigt.  Wenn  die  Toten- 
starre einem  Gerinnungsprozesse  entspräche,  so 
müßte  sich,  wenn  man  ein  eben  getötetes  Tier 
einer  Temperatur  von  z.  B.  40  Grad  aussetzte,  eine 
desto  deutlichere  Totenstarre  ausbilden.  Es  tritt 
aber,  wie  es  ja  nach  unserer  Theorie  selbstver- 
ständlich ist,  gerade  das  Umgekehrte  ein:  die 
Starre  wird  aufgehoben.  Es  war  aber  doch  schon 
den  alten  Physiologen  bekannt,  daß  sich  die 
Totenstarre  im  Sommer  früher  löst  als  im  Winter. 
Ferner  weiß  man,  daß  hochgradige  Muskelan- 
strengungen, wie  Hetzjagden,  lange  Märsche, 
Krämpfe  u.  dergl.  den  Eintritt  der  Totenstarre 
erheblich  beschleunigen.  Auf  den  Schlachtfeldern 
fand  man  oft  Soldaten  kniend  mit  angelegtem 
Gewehr  in  derselben  Stellung,  wie  vor  dem  Tode, 
erstarrt.  Da  im  Sinne  unserer  Quellungstheorie 
die  Milchsäure  die  causa  movens  der  Totenstarre 
ist,  so  ist  dies  leicht  verständlich.  Ebenso  kann 
der  Sauerstoff  den  Eintritt  der  Totenstarre  ver- 
zögern, weil  er  die  Milchsäure  zerstört.  Wenn 
Kuli  ab  ko  das  Herz  eines  bereits  20  Stunden 
toten  Kindes  neu  zu  beleben  vermag,  wenn 
C  a  r  e  1 1  ganze  Gewebe,  wie  Nieren  außerhalb  des 
Tierkörpers  lange  Zeit  am  Leben  erhält,  so  kann 
man  sich  dies  einfach  dadurch  erklären,  daß  die 
Blutlauge,  die  in  den  Geweben  sich  bildende 
Milchsäure  neutralisiert.  Auch  bei  pflanzlichen 
Geweben  ist  es  Lenk  ')  gelungen  durch  Quellungs- 
vorgänge den  genauen  Eintritt  des  Zelltodes  zu 
bestimmen.  Weitere  Untersuchungen  von  v.  F  ü  r  t  h 
und  Lenk'')  gingen  dahin,  das  Alter  einer  Fleisch- 


•)  E.  Lenk:  Bloch.  Zeitschr.,  73,   15—106  (1916). 

2)  O.  V.  Fürth  und  E.  Lenk:  Zeitschr.  f.  Unters,  d. 
Nahrungs-  u.  Genufimlttel,  24,  189  (1912). 

S.  auch  O.  V.  Fürth:  „Die  Kolloidchemie  des  Muskeli 
und  ihre  Beziehungen  zu  den  Problemen  der  Kontraktion  und 
der  Starre"  (Ergebn.  d.  Physiologie,  XVU,   1919). 


728 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


probe  dadurch  genau  herauszufinden ,  daß  man 
sie  in  verschieden  konzentrierte  Kochsalzlösungen 
einlegte,  und  die  Konzentration  bestimmte,  in  der 
das  betreffende  Fleischstück  an  Gewicht  weder 
zu-  noch  abnahm.  Je  älter  das  Fleisch,  desto 
höher  die  Salzkonzentration.  Man  kann  so  z.  B. 
zwischen  frischem  und  durch  Eisaufbewahrung 
frischscheinendem  Fleisch  genau  unterscheiden 
und  die  Methode  auch  für  die  gerichtliche  Medizin 
dann  mit  Vorteil  verwenden,  wenn  man  das  Alter 
einer  Leiche  feststellen  will. 


Die  harmonische  Fermentarbeit  und  das  Gleich- 
gewicht zwischen  Quellung  und  Entquellung  sind 
wichtige  Kennzeichen  des  Lebens;  eine  regellose 
Fermenttätigkeit  und  die  Störung  des  Quellungs- 
gleichgewichtes kennzeichnen  den  Tod.  Der 
Worte  Goethes  müssen  wir  hier  gedenken :  „Nach 
dem  Tode  arbeiten  sich  die  Kräfte,  die  vergebens 
nach  ihren  alten  Bestimmungen  zu  wirken  suchen, 
ab  an  der  Zerstörung  der  Teile,  die  sie  sonst  be- 
lebten". 


Einzelberichte. 


DieZerleguug  YonElementen  durch  «-Strahlen. 

Wasserstoffstrahlen  aus  Stickstoff. 
Vor  2  Jahren   gelang  es  Rutherford  durch 
rasche  a-Strahlen*)  aus  dem  Stickstoffatom  Wasser- 
stoffteilchen  abzusplittern.      Die   Ablenkung    der 
aus  dem  elementaren  Stickstoff  herausgeschossenen 
Teilchen  im  elektrischen   und   magnetischen  Feld 
ergab  aber   nicht   mit  genügender  Sicherheit  den 
Wert  I  für  die  Masse  der  neugebildeten  Strahlen- 
teilchen.     Deshalb    hat    Ruther ford^)   neuer- 
dings  die  Natur  der  in  Stickstoffgas   durch  «Be- 
strahlung entstehenden  Strahlen  von  großer  Reich- 
weite    eingehend     untersucht.       Als     wirksame 
Strahlungsquelle    wurde    ein   starkes    Radium   C- 
Präparat  verwendet.    Der  Spalt  für  die  Begrenzung 
des    a-Strahlenbündels    war    sehr    weit,    um    die 
Leuchtkraft    des  Zinksulfidschirms    zu   verstärken. 
Die   durch   die  Strahlenteilchen   auf  dem  Leucht- 
schirm    hervorgerufenen    Szintillationen     wurden 
durch   ein  lichtstarkes  Mikroskop   mit  Objektiven 
großer  Apertur  beobachtet  und  ihre  Zählung  auf 
diese  Weise  erleichtert.  Die  Ablenkung  im  Magnet- 
feld  der   im  Stickstoff  erzeugten  Strahlen  großer 
Reichweite   zeigte   völlige   Übereinstimmung    mit 
dem  Verhalten  der  Wasserstoffstrahlen,   die  beim 
Durchgang    von   «-Strahlen    im   Wasserstoff  ent- 
stehen. 

Damit  ist  der  Beweis  geliefert  „daß  einige 
von  den  Stickstoffatomen  durch  ihren  Zusammen- 
stoß mit  raschen  «-Teilchen  zertrümmert  und  daß 
rasche  Atome  von  positiv  geladenem  Wasserstoff 
herausgestoßen  werden.  Daraus  kann  gefolgert 
werden,  daß  das  geladene  Wasserstoffatom  einen 
der  Bestandteile  bildet,  aus  denen  der  Stickstoff- 
kern aufgebaut  ist.  —  Die  Tatsache,  daß  der 
Heliumkern  (des  «Strahls),  von  dem  vorausge- 
setzt sein  möge,  daß  er  aus  4  H-Atomen  und 
2  Elektronen  bestehe,  den  Zusammenstoß  zu  über- 
leben scheint,  ist  ein  Zeichen,  daß  er  von  sehr 
stabilem  Bau  sein  muß.  —  Es  ist  zu  bemerken, 
daß  die  Anzahl  der  im  Stickstoff  zertrümmerten 
Teilchen   ausnehmend   klein  ist,   weil  wahrschein- 


')  a-Strablen  =  rasch  bewegte,  elektrisch  geladene  Kerne 
Ton  Heliumatomen  He-f-f. 

')  Baker-Vorlesung,  Proc.  Roy.  Soc.  A.,  97 ;  deutsch  von 
E.  Norst.     Verlag  S.  Hirzel,  Leipzig  1921. 


lieh  im  Mittel  nur  ein  «-Teilchen  unter  etwa 
300000  fähig  ist,  dem  Stickstoffkern  genügend 
nahe  zu  kommen,  um  das  Wasserstoffatom  mit 
hinreichender  Energie  zu  befreien,  so  daß  es 
durch  die  Szintillationsmethode  gefunden  werden 
kann."  Der  Durchmesser  des  Stickstoffkerns  be- 
trägt wahrscheinlich  nur  5  X  io~'^  cm,  so  daß 
sich  hieraus  die  Seltenheit  des  zentralen  Zusam- 
menstoßes eines  «Teilchens  mit  einem  Stickstoff- 
kern erklärt.  Beim  Durchgang  von  «-Strahlen 
durch  Wasserstoffgas  werden  12  mal  mehr  Teil- 
chen von  großer  Reichweite  wie  im  Stickstoff 
erzeugt. 

Trifft    ein    «Teilchen    von    der  Masse    4   mit 
2    positiven   Elementarladungen   auf  ein   Wasser- 
stoffatom  von   der  Masse  i,    so    muß    dieses  als 
Wasserstoffion   H+  die    16  fache   Geschwindigkeit 
und  damit  die  4  fache  Reichweite   der   stoßenden 
«-Strahlen  erlangen.     Tatsächlich  vermögen  auch 
die  raschen  Wasserstoffteilchen  noch  in  28 — 29  cm 
Entfernung  den  Leuchtschirm  zu  erregen,  während 
die    sie    erzeugenden    «-Strahlen   des   Radium    C 
schon    durch  eine  7  cm   dicke  Luftschicht   völlig 
aufgehalten    werden.       Vor    kurzem    bestimmten 
Rutherford  und  Chadwick    mit    großer  Ge- 
nauigkeit,    daß     Wasserstoffstrahlen,     die     durch 
«-Strahlen  von  7  cm  Reichweite   aus  Wasserstoff 
oder  Wasserstoffverbindungen   entstanden   waren, 
eine  maximale  Reichweite    von   29   cm   in   Luft 
haben;     die    Wasserstoffstrahlen     des    Stickstoffs 
haben  jedoch  eine  Reichweite  von  40  cm,  so  daß 
ein  Teil    ihrer  Energie    aus    dem   explodierenden 
Stickstoffatom    stammen    muß.      „Dies    Ergebnis 
zeigt,    daß    diese  Teilchen   nicht    von   irgendeiner 
Wasserstoffverunreinigung  herrühren  können."^) 

Da  die  Befreiung  der  Wasserstoffteilchen  aus 
Stickstoff  ein  reiner  Atomvorgang  ist,  war  zu  er- 
warten, daß  ähnliche  Teilchen  auch  aus  Stick- 
stoffverbindungen befreit  werden  und  zwar  in 
einer  dem  Stickstoffgehalt  proportionalen  Anzahl. 
Zu  diesem  Zweck  schickte  Rutherford-)  im 
Vakuum  die  «-Strahlen  von  Radium  C  durch  ganz 
dünne  Schichten  von  Bornitrid,  Natriumnitrid, 
Titannitrid  und  Paracyan,  die  als  feine  Pulver  auf 


')  Nature  S.  41,  Vol.   107,  Nr.  2680.     10  III.   1921. 
-j  Baker-Vorlesung. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


729 


dünnen  Aluminiumplatten  ausgebreitet  waren.  Die 
Aluminiumplatten  und  Stickstofifverbindungen 
waren  weitgehend  entgast,  um  die  Anwesenheit 
von  Wasserstoff  in  jeder  Form  auszuschließen. 
Aus  allen  untersuchten  Stickstoffverbindungen  ent- 
standen Wasserstoffstrahlen  von  großer  Reichweite. 
Die  Szintillationen  des  Leuchtschirms  durch  die 
Wasserstoffstrahlen  aus  Bornitrid  und  Paracyan 
waren  zahlreicher  als  theoretisch  zu  erwarten  war; 
dies  rührt  wahrscheinlich  von  verunreinigendem 
Wasserstoff  her,  der  anscheinend  trotz  aller  Vor- 
sicht nicht  zu  beseitigen  war.  Kontrollversuche 
mit  reinem  Graphit  und  mit  Kieselsäure  waren 
sehr  befriedigend,  weil  sie  zeigten,  daß  Wasser- 
stoffatome in  einem  Material,  das  keinen  Stickstoff 
enthielt  nicht  vorhanden  waren.  Nebenbei  zeigten 
sie,  daß  H-Atome  aus  Kohlenstoff,  Silicium  oder 
Sauerstoff  nicht   in   merklicher  Anzahl  entstehen. 

Das  Atom  X3. 
„Außer  den  H-Atomen  mit  großer  Reichweite, 
die  aus  Sauerstoff  befreit  werden,  gibt  der  Durch- 
gang von  a-Teilchen  durch  Sauerstoff  ebensogut 
wie  durch  Stickstoff  Anlaß  zu  viel  zahlreicheren 
raschen  Atomen,  die  in  Luft  eine  Reichweite  von 
ungefähr  9  cm  haben,  entsprechend  einer  Reich- 
weite von  7,0  cm  der  stoßenden  «-Teilchen".") 
Zunächst  nahm  Rutherford  an,  daß  die  in 
Stickstoff  und  Sauerstoff  entstehenden  neuen 
Strahlen  von  9  cm  Reichweite  Atome  von  Stick- 
stoff und  Sauerstoff  seien,  die  eine  einzelne  Ladung 
führen  und  durch  einen  innigen  Zusammenstoß 
mit  a-Teilchen  in  rasche  Bewegung  gesetzt  sind. 
Aber  die  weitere  Untersuchung  und  besonders 
das  Verhalten  der  neuen  Strahlen  im  Magnetfeld 
zeigte,  daß  sie  wahrscheinlich  rasch  bewegte 
Atome  von  der  Masse  3  mit  einer  doppelten 
positiven  Elementarladung  sind ;  Rutherford 
nennt  das  neue  Atom  X3.  Die  Energie  eines 
Xg-Strahles  ist  um  S^/o  größer  wie  die  Gesamt- 
energie des  auffallenden  a-Teilchens  und  stammt 
aus  dem  Energievorrat  des  zertrümmerten  O-  und 
N- Atoms.  „Man  kann  sich  dem  Schlüsse  nicht 
entziehen,  daß  diese  Atome  der  Masse  3  als  Er- 
gebnis eines  heftigen  Zusammenstoßes  mit  einem 
«-Partikel  aus  den  Atomen  von  Sauerstoff  oder 
Stickstoff  in  Freiheit  gesetzt  werden.  Daher  ist 
es  vernünftig,  anzunehmen,  daß  Atome  von  der 
Masse  3  sowohl  am  Bau  des  Atomkerns  von 
Sauerstoff  als  auch  von  Stickstoff  beteiligt  sind. 
Wir  haben  früher  in  der  Arbeit  gezeigt,  daß 
Wasserstoff  auch  einer  der  Bausteine  des  Stick- 
stoffkerns ist.  So  ist  es  klar,  daß  der  Stickstoff- 
kern auf  zwei  Weisen  zertrümmert  werden  kann : 
einmal  durch  die  Ausstoßung  eines  H-Atoms,  das 
andere  Mal  durch  die  Ausstoßung  des  Atoms  von 
der  Masse  3,  das  zwei  Ladungen  führt.  Da  nun 
diese  Atome  von  der  Masse  3  fünf-  bis  zehnmal 
so  zahlreich  sind  wie  die  H-Atome,  scheint  es, 
daß  diese  2  Formen  von  Zertrümmerung  unab- 
hängig und  nicht  gleichzeitig  sind.  Wegen  der 
Seltenheit   der    Zusammenstöße    ist    es    sehr    un- 


wahrscheinlich,   daß    ein    einzelnes    Atom    beide 
Arten  von  Zertrümmerung  erleidet."  'j 

Das  durch  «-Strahlen  sowohl  aus  N  wie  aus 
O  befreite  Element  vom  Atomgewicht  3  ist  der 
Chemie  bisher  unbekannt.  Das  neue  Element 
muß  dem  Helium  vom  Atomgewicht  4  chemisch 
und  physikalisch  weitgehend  gleichen.  „Wir 
können  voraussehen,  daß  das  Spektrum  des 
Heliums  und  dieses  Isotops  nahe  gleich  sein  dürfte, 
aber  mit  Rücksicht  auf  die  merkliche  Verschieden- 
heit der  relativen  Massen  der  Kerne  dürfte  die 
Verschiebung  der  Spektrallinien  viel  größer  sein 
als  im  Falle  der  Isotopen  der  schweren  Elemente 
wie  Blei."  *)  S  m  e  k  a  1  -)  hat  auf  Grund  des  B  o  h  r- 
schen  Atommodells  die  Spektrallinien  des  neuen 
Elements  berechnet  und  gibt  folgende  Wellen- 
längentabelle in  lO""^  cm: 


X3 

He 

6560,4 

6560,1 

541 1.9 

5411,6 

4859.5 

4859.3 

4561,8 

4561,6 

4338,9 

4338.7 

4200,1 

4199.9 

4100,2 

4100,0 

Spektrographisch  kann  man  noch  den  10.  Teil 
der  Wellenlängendifferenzen  zwischen  den  X3- 
und  Heliumlinien  mit  Sicherheit  messen. 

Wenn  die  ganze  «Strahlung  von  i  g  Radium 
in  Sauerstoffgas  absorbiert  würde,  so  hätte  das 
Volumen  aller  herausgeschossenen  Xg -Atome  erst 
in  2,5-10*  Jahren  1  cmm  erreicht.  Man  kann 
also  auf  diesem  Wege  X3  nicht  in  spektrographisch 
nachweisbarer  Menge  darstellen.  Rutherford 
vermutet,  daß  das  in  dem  nicht  radioaktiven 
Mineral  Beryll  vorkommende  „Helium"  vielleicht 
das  Isotope  X3  ist;  dessen  genaue  spektrogra- 
phische  Untersuchung  oder  Atomgewichtsbestim- 
mung wäre  also  von  hohem  Interesse. 

Wie  im  Aufbau  des  N  und  O  könnten  die 
Xj-Teilchen  auch  in  den  Atomkernen  der  schweren, 
insbesondere  der  radioaktiven  Elemente  vorkom- 
men. Nach  St.  Meyer  und  S m e k a L')  ist  es 
möglich,  daß  die  «Strahlen  von  Uran  II  und 
Radioactinium  nicht  nur  aus  He+I  -  sondern  auch 
aus  Xg^+Kernen  bestehen.  Radioaktinium  z.  B. 
sendet  gleichzeitig  «Strahlen  von  4,2  und  4,61  cm 
Reichweite  aus;  letztere  könnten  X3  Strahlen  sein. 
Genaue  Messungen  über  die  Ablenkung  der  a- 
Strahlen  von  Uran  II  und  Radioaktinium  im  elek- 
trischen und  magnetischen  Feld  werden  den 
Nachweis  von  X,{  ermöglichen.  Aus  den  Spek- 
trallinien der  Nebelflecken  haben  Bourget, 
Fabry  und  Buisson*)  auf  ein  Element  („Ne- 
bulium")  von  der  Atommasse  2,7 — 3  geschlossen. 
Es  ist  aber  kaum  einzusehen,  wie  die  Nebulium- 
linien  von  einem  Bohrschen  Atommodell  der 
Masse  3  emittiert  werden  können. 


')  Baker- Vorlesung. 
*)  Nw.  9,  96,  1921. 
')  Nw.  9,  36,  1921. 
*)  Naturw.  Wochensclir.  1917, 'S.  383. 


730 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Von  J.  J.Thomson,  Ramsay  und  anderen 
liegen  bereits  seit  längerer  Zeit  Beobachtungen 
über  das  Auftreten  von  Helium  und  den  übrigen 
Edelgasen  in  Vakuumröhren  nach  der  Kathoden- 
bestrahlung von  Elementen  vor.  Aber  es  ist  bis- 
her unentschieden  gewesen,  ob  die  geringen 
spektralanalytisch  nachgewiesenen  Spuren  der  neu 
auftretenden  Edelgase  nicht  bloß  Verunreinigungen 
aus  der  Glaswand  oder  aus  den  Elektroden  sind. 
Nun  ist  aber  in  den  letzten  Jahren  durch  die 
praktische  Verwendung  der  Glühkathodenröhren 
in  der  drahtlosen  Telegraphie  die  Hochvakuum- 
technik sehr  weit  ausgebildet  worden  und  es.  ist 
jetzt  möglich  durch  starkes  Erhitzen  die  Glas- 
wände der  Vakuumröhren  und  durch  andauerndes 
Glühen  die  Elektroden  völlig  zu  entgasen.  Es 
wird  sich  also  jetzt  mit  Sicherheit  entscheiden 
lassen,  ob  eine  Neubildung  von  He  oder  Xg  aus 
Elementen  durch  Kathodenbestrahlung  stattfindet. 
Versuche  hierüber  sind  von  Rutherford  und 
I  s  h  i  d  a  ^)  im  Gange. 

Zerlegung  von  weiteren  Elementen. 
Neuerdings  berichten  Rutherford  und 
Chadwick^)  über  weitere  erfolgreiche  Versuche 
zur  Zertrümmerung  von  Elementen  durch  die  a- 
Strahlen  von  Radium  C.  Die  Stoffe  wurden  in 
Gasform  und  als  dünne  Schichten  der  Elemente 
oder  Oxyde  mit  a-Teilchen  durchstrahlt.  Dem 
Leuchtschirm  war  noch  eine  Glimmerplatte  vor- 
geschaltet, welche  in  ihrem  Bremsvermögen  einer 
32  cm  dicken  Luftschicht  gleichwertig  war.  So 
waren  von  vornherein  alle  Wasserstoffstrahlen 
von  Verunreinigungen  des  Materials  ausgeschlossen, 
da  diese  nur  eine  29  cm  dicke  Luftschicht  zu 
durchdringen  vermögen.  Es  ergab  sich  nun,  daß 
beim  Durchgang  von  «Strahlen  durch  Bor,  Fluor, 
Natrium,  Aluminium  und  Phosphor  Teilchen  mit 
einer  Reichweite  von  40  cm  und  darüber  erzeugt 
werden.  Eine  überraschend  große  Reichweite 
haben  die  in  Aluminium  ausgelösten  Strahlen, 
nämlich  80  cm  in  Luft  von  Atmosphärendruck. 
Wenn  es  sich  hier  um  Wasserstoffteilchen  handelt, 
so  ist  ihre  Energie  um  25  %  größer  wie  die  der 
einfallenden  a  Strahlen.  Mit  Sicherheit  konnten 
bei  Li,  Be,  C,  O,  Mg,  Si,  S,  Cl,  K,  Ca,  Ti,  Mn, 
Fe,  Cu,  Zn  und  Au  keine  Strahlen  von  großer 
Reichweite  festgestellt  werden.  Die  Grenze  der 
Zerlegbarkeit  liegt  anscheinend  beim  Atomge- 
wicht 31.  „Wenn  sich  dies  allgemein  zutreffend 
erweist  (auch  für  a-Teilchen  von  größerer  Ge- 
schwindigkeit wie  die  des  Radiums  C),  so  kann 
das  ein  Anzeichen  sein,  daß  die  Struktur  der 
Atomkerne  an  diesem  Punkt  einer  bemerkens- 
werten Änderung  unterliegt.  So  könnten  in  den 
leichteren  Atomen  die  Wasserstoffkerne  Satelliten 
um  die  Hauptmasse  des  Kerns  darstellen,  während 
sie  vielleicht  bei  den  schwereren  Elementen  einen 
Teil    der   inneren    Struktur    bilden."     Interessant 


ist,  daß  bei  Elementen,  deren  Atomgewicht  ein 
Vielfaches  von  4  ist,  keine  Strahlen  großer  Reich- 
weite auftreten.  Dies  deutet  darauf  hin,  daß 
deren  Atom  nur  aus  Heliumkernen  von  der  Masse  4 
aufgebaut  ist. 

Die   Natur   der  Atomreste. 

Bei  den  jetzt  gelungenen  Zerlegungen  der  Ele- 
mente erhebt  sich  die  Frage  nach  der  Natur  des 
Atomrestes,  wenn  von  einem  Element  ein  H+- 
oder  X8++.Kern  abgespalten  ist.  Mit  Hilfe  der 
radiochemischen  Verschiebungssätze  von  Fajans 
und  Soddy  läßt  sich  voraussehen,  daß  beim 
Stickstoff  nach  Ausstoßung  eines  H+-Kerns  ein 
Atomrest  von  der  Masse  13  zurückbleibt,  der 
chemisch  mit  Kohlenstoff  übereinstimmen  muß. 
Wenn  mit  dem  H+  gleichzeitig  ein  negatives 
Elektron  ausgestoßen  wird,  so  ist  der  Atomrest 
ein  Isotop  vom  Stickstoff. 

Die  Ausstoßung  einer  zweifach  geladenen 
Masse  Xg"'"*'  aus  Stickstoff  ergibt  einen  mit  Bor 
isotopen  Atomrest  von  der  Masse  11.  Wenn 
überdies  ein  Elektron  entweicht,  so  bleibt  ein 
Isotop  vom  Kohlenstoff  zurück.  Aus  Sauerstoff 
entsteht  durch  Abspaltung  von  X3++  ein  Kohlen- 
stoffisotop vom  Atomgewicht  13;  geht  noch  ein 
Elektron  verloren,  so  bleibt  ein  Isotop  vom  Stick- 
stoff mit  der  Masse  13  übrig. 

Gegenwärtig  kann  zwischen  diesen  verschie- 
denen Möglichkeiten  nicht  entschieden  werden. 
Es  dürfte  aber  möglich  sein,  weitere  Aufschlüsse 
durch  das  Studium  der  a  ■  Strahlenbahnen  in 
Sauerstoff  oder  Stickstoff  nach  der  Expansions- 
methode von  C.  T.  R.  W  i  1  s  o  n  zu  erhalten.  Hier- 
bei werden  die  ionisierten  Wege  der  H-,  Xg-  usw. 
Teilchen  durch  die  Kondensation  von  Wasser- 
tröpfchen als  feine  Nebelfäden  sichtbar  gemacht. 
Rutherford  und  Shimizu*)  haben  im  Caven- 
dish-Laboratorium  den  Wilson  sehen  Expansions- 
apparat stark  verbessert  und  wir  können  hoffen 
„wertvollen  Aufschluß  über  die  Bedingungen  zu 
erhalten,  welche  die  Zertrümmerung  des  Atoms 
bestimmen  und  über  die  bezügliche  Energie,  die 
den  drei  betrachteten  Systemen  zukommt,  näm- 
lich den  a-Teilchen,  dem  herausspringenden  Atom 
und  dem  Kernrest." 

Strukturbilder  von  Atomen. 

Wenn  wir  die  experimentell  gefundenen  Kerne 
der  3  leichtesten  Atome  H+,  X++  und  He-H-  als 
wahrscheinlichste  Bausteine  der  Elemente  be- 
trachten, so  lassen  sich  von  den  Kernen  der  Ele- 
mente mit  niedrigem  Atomgewicht  bereits  Struktur- 
bilder aufstellen.  Nach  Rutherford*)  kann 
unter  allem  Vorbehalt  der  Kern  des  Lithium- 
atoms in  folgender  dreifacher  Weise  konstruiert 
sein: 


')  Baker-Vorlesung. 
")  Nature  1.  c. 


1)  Baker-Vorlesung    und    Nature    S.  694—698,    Vol.   107, 
Nr.  2700  (28.  VII.   1921). 


N.  F.  XX  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


731 


fe* 

+  + 

Q   Kohlenstoff 

- 

-          Masse  12 

p. 

(3)    Ladung  6 

+  + 

+  + 
.© 

Stickstoff 

-0- 

-0- 

Masse  14 

© 

,.®, 

Ladung  7 

"v? — ^^^ 

©  +  +  ©   Sauerstoff 

-(*)-      Masse  16 

0         0    Ladung  8 


©  = 

©  = 


Ht 


O 


H 
Elektron 


Tatsächlich  hat  jüngst  F.  W.  Aston')  in 
Lithiumkanalstrahlen  das  Vorkommen  von  Atomen 
mit  der  Masse  6  und  7  beobachtet,  so  daß  also 
wohl  Rutherfords  I.  und  2.  Atombild  zu 
Recht  besteht.  Von  Kohlenstoff,  Stickstoff  und 
Sauerstoff  entwirft  Rutherford  folgende  Kern- 
bilder : 


+ 

+ 

©- 

■© 

Masse  6 

+ 

+ 

+ 

+ 

©- 

.0 

Masse  7 

+ 

+ 

Bei  allen  Atomen  sind  die  äußeren  Elektronen, 
welche  die  meisten  chemischen  und  physikalischen 
Eigenschaften  der  Elemente  bedingen,  wegge- 
lassen. 

Da  nach  den  Untersuchungen  von  W.  L  e  n  z  ^) 
und  anderen  auch  He  und  X3  aus  Wasserstoff- 
kernen aufgebaut  sind,  so  haben  wir  in  diesen 
und  in  den  Elektronen  die  beiden  Bausteine 
unserer  sämtlichen  Elemente  zu  erblicken.  Ruther- 
ford schlägt  für  den  Wasserstoff  kern  H+,  dem 
wiederentdeckten  Urstoff,  den  Namen  Proton  vor, 
S o d d y  und  Patterson  gebrauchen  für  H+  den 
Namen  Hydron.  Aus  diesen  erfolgreichen  Unter- 
suchungen ist  ersichtlich,  daß  heute  die  Physik 
den  Atombau  der  Elemente  mit  gleichem  Erfolg 
untersucht,  wie  die  Chemie  seit  den  Zeiten  La- 
voisiers  den  Molekülbau  der  Verbindungen. 

K.  Kuhn. 


Wahrscheinlichkeitstheoretische  Betrach- 
tnngeu  zur  Endlichlieit  der  Welt. 

Die  Lehren  der  allgemeinen  Relativitätstheorie 
führen  zu  der  Annahme,  daß  der  dreidimensionale 
Raum,  in  dem  wir  leben  unbegrenzt,  aber  end- 
lich ist.  Man  kann  sich  dies  veranschaulichen,  in- 
dem man  die  Welt  betrachtet,  wie  sie  zwei- 
dimensionalen, also  unendlich  flachen  Wesen, 
sagen  wir  „Wanzen",  erscheinen  muß,  die  auf 
einer  dreidimensionalen  Kugel  leben.  Ihre  Welt 
ist  unbegrenzt,  denn  sie  ist  nirgends  „mit  Brettern 
vernagelt".  Und  sie  ist  endlich,  denn  nach  ge- 
nügend langer  Zeit  gelangt  die  Wanze,  wenn  sie 
stets  vorwärts  wandert,  wieder  zu  ihrem  Aus- 
gangspunkt zurück.  Ebenso  leben  wir  wahr- 
scheinlich auf  der  dreidimensionalen  Oberfläche 
einer  vierdimensionalen  Kugel,  oder  eines  vier- 
dimensionalen  EUipsoids.  Die  Geraden  in  unserem 
Raum,  also  z.  B.  der  Weg  des  Lichtes  sind  tat- 
sächlich geschlossene  Linien,  nämlich  sog.  größte 
Kreise  der  vierdimensionalen  Kugel.  Das  ist  nicht 
weiter   paradox.      Denn    die    uns    praktisch    be- 


+ 

-t- 

®- 

-® 

Masse  8 

+ 

+ 

Nature  S.  72,  Vol.    107,  Nr.  a68l  (1921). 
Naturw.  Wocbenschr.   1930,  S.  707. 


kannten  „Geraden"  z.  B.  eine  Bahn  um  die  Erd- 
oberfläche herum  sind  ja  auch  z.  T.  geschlossen. 
In  der  Zeitschrift  für  Physik  (Bd.  5,  Heft  4, 
1921)  untersucht  nun  Gumbel,  wie  groß  die 
Wahrscheinlichkeit  ist,  daß  ein  von  einem  Stern 
ausgehender  Lichtstrahl  in  einer  sphärischen  Welt 
auf  keinen  anderen  Stern  trifft,  sondern  nach  Um- 

=    He 
_    =    Elektron 

lauf  um  die  ganze  Welt  wieder  zum  Ausgangs- 
stern zurückkehrt.  Dem  liegt  natürlich  die  An- 
nahme zugrunde,  daß  eine  Extinktion  des  Lichtes 
im  leeren  Raum  nicht  stattfindet.  Betrachtet  man 
zunächst  nur  zwei  Sterne,  so  ist  die  Wahrschein- 
lichkeit, daß  ein  von  dem  einen  ausgehender 
Lichtstrahl  den  anderen  nicht  trifft,  gegeben  durch 
die  Oberfläche  der  ganzen  Kugel,  abgesehen  von 
einer  kleinen  Kugelkalotte,  um  den  ersten  Stern 
minus  einem  Streifen  von  der  Breite  eines  Stern- 
durchmessers dividiert  durch  die  ganze  Ober- 
fläche. Denn  ungünstig  im  Sinne  der  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung ist  es,  wenn  der  Lichtstrahl 
in  dem  Streifen,  günstig,  wenn  er  irgendwo  anders 
verläuft.  Betrachtet  man  jetzt  n  +  i  Sterne,  so 
kann  man  die  Wahrscheinlichkeiten,  daß  jeder 
einzelne  Stern  von  dem  Lichtstrahl  des  oben  be- 
trachteten Sterns  nicht  getroffen  wird,  als  von- 
einander unabhängig  betrachten.  Dies  beruht  auf 
einer  einfachen  Vernachlässigung,  die  wegen  der, 
verglichen  mit  dem  Gesamtraum,  geringen  Anzahl 
der  Sterne  erlaubt  ist.  Da  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Zusammentreffens  mehrerer  unabhängiger  Er- 
eignisse gleich  dem  Produkt  der  Wahrscheinlich- 
keiten der  einzelnen  ist,  bekommt  man  für  die 
gesuchte  Wahrscheinlichkeit  bei  n  -}-  i  Sternen  die 
n  t  e  Potenz  der  Wahrscheinlichkeit  für  den  obigen 
Spezialfall.  Betrachtet  man  endlich  einen  sehr 
großen  Raum  und  eine  sehr  große  Anzahl  von 
Sternen,  so  wird  die  gesuchte  Wahrscheinlichkeit 
W  =  e— Sp^kRn,  wobei  R  den  Radius  der  Welt, 
Q  den  mittleren  Radius  eines  Sternes,  e  die  Basis 
der  natürlichen  Logarithmen,  k  die  mittlere  Dichte 
der  Sterne  im  Raum  bedeutet.  Diese  Daten  sind 
natürlich  numerisch  nicht  genau  bestimmt.  Wohl 
aber  hat  man  gewisse  Anhaltspunkte  für  ihre 
Größenordnung,  wenigstens  nach  Zehnerpotenzen. 
Setzt  man  diese  ein,  so  bekommt  man  für  die 
Wahrscheinlichkeit,  daß  ein  von  einem  Stern  aus- 
gehender Lichtstrahl  von  keinem  anderen  Stern 
verschluckt  wird,  sondern  nach  einem  Umlauf  um 
die  ganze  Welt  zum  Ausgangsstern  zurückkehrt, 
einen  Bruch  der  sich  erst  in  der  zehnten  Dezimal- 
stelle von  der  Einheit  unterscheidet,  also  prak- 
tisch die  Gewißheit. 


732 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Dies  läßt  sich  dahin  interpretieren,  daß  es 
plausibel  erscheint,  anzunehmen,  daß  es  neben 
den  wirklichen  Sternen  noch  Bildsterne  gibt,  die 
tatsächlich  nur  Bilder  von  außerordentlich  weit 
entfernten  wirklichen  Sternen  sind. 

E.  I.  Gumbel  (Berlin). 

Maniuiiitvorkommeu  im  Jakutskgebiet. 

Im  Naturwissenschaftlichen  Verein  in  Hamburg 
berichtete  Hofrat  E.  W.  Pfizenmayer  vom 
Kaukasischen  Museum  in  Tiflis  über  die  Resultate 
der  von  der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
St.  Petersburg  zur  Ausgrabung  von  Mammut- 
kadavern 1901  und  1908  in  das  Jakutskgebiet  ent- 
sandten Expeditionen.  Lebhaftes  Interesse  für 
das  Vorkommen  des  Mammuts  bzw.  dessen  Über- 
reste hatte  bei  der  eingesessenen  Bevölkerung 
Ostsibiriens  die  Ausschreibung  von  Preisen  seitens 
der  Akademie  der  Wissenschaften  in  St.  Peters- 
burg geweckt.  Auf  Meldungen  waren  in  den 
Jahren  1901  und  1908  Expeditionen  ausgesandt 
worden  zur  Bergung  im  Jakutskgebiet  aufgefundener 
Mammutkadaver.  —  Den  ersten  Kadaver  hatten 
im  Jahre  1900  Tungusen  am  Ufer  der  Beresowka, 
einem  rechten  Neben flusse  der  ins  Eismeer  münden- 
den Kolyma  entdeckt,  nachdem  er  durch  einen 
Ufersturz  teilweise  sichtbar  geworden  war.  Die 
Expedition  gelangte  unter  Führung  des  Vor- 
tragenden nach  anstrengender,  monatelanger  Reise 
durch  die  nordischen  Urwälder  und  Tundren  an 
den  Fundort  und  es  gelang,  den  fast  vollständig 
erhaltenen  Kadaver  in  fast  2  Monate  dauernder 
Arbeit  zu  bergen  und  Skelett,   Haut   und  Weich- 


teile, letztere  im  gefrorenem  Zustande  auf  dem 
Schlittenweg  nach  dem  vom  Fundort  nahezu 
6000  km  entfernten  Irkutsk  und  von  dort  mit 
der  Bahn  nach  Petersburg  zu  schaffen.  —  Sieben 
Jahre  später  entsandte  die  Akademie  den  Vor- 
tragenden zum  zweiten  Male  nach  Sibirien  zur 
Untersuchung  und  Bergung  eines  neuen  Mammut- 
kadavers, der  in  der  Omulachtundra,  im  Eismeer- 
küstengebiet zwischen  Jana  und  Indigirka,  am 
Ufer  des  Küstenflüßchens  Sangajurach  entdeckt 
worden  war.  Dieser  zweite  Fund  war  nicht  so 
gut  erhalten  wie  der  von  der  Beresowka,  doch 
vervollständigten  einzelne  seiner  noch  erhaltenen 
Weichteile,  vor  allem  der  fast  ganz  intakte  Rüssel, 
unsere  Kenntnis  vom  Mammut.  Durch  die  beiden 
neuen  Funde  ist  unser  Wissen  über  den  fossilen 
Elefanten,  wie  Vortragender  darlegte,  in  vieler 
Hinsicht  sowohl  was  Skelett,  wie  Biegung  und 
Richtung  der  Stoßzähne,  als  auch  was  die  Weich- 
teile und  Behaarung  anbelangt,  in  wertvollster 
Weise  vervollständigt  bzw.  korrigiert  worden.  — 
Besonders  lehrreich  ist  der  Vergleich  des  Beresowka- 
mammuts  mit  den  neuen  Skeletten  von  Elephas 
primigenius,  die  in  den  letzten  10  Jahren  in 
Deutschland  entdeckt  und  in  Leipzig,  Stuttgart 
und  Münster  i.  W.  aufgestellt  worden  sind.  Auch 
einzelne  dort  noch  jetzt  lebende  seltene  Säuge- 
tiere, die  in  keiner  europäischen  Museumssamm- 
lung bisher  vertreten  sind,  eine  nordische  Berg- 
schaf- und  Murmeltierspezies  und  eine  neue  Elch- 
art Nüidostsibiriens,  welch  letztere  dem  Vor- 
tragenden zu  Ehren  jetzt  den  Namen  Alces 
Pfizenmayeri  Zukow  trägt,  wurden  im  Bilde 
gezeigt.  Petersen. 


f 


Bücherbesprechungen. 


Die  Tagebücher  von  Dr.  Emin  Pascha.    Heraus- 
gegeben mit  Unterstützung  des  Hamburgischen 
Staates   und   der   Hamburgischen  Wissenschaft- 
lichen   Stiftung   von  Dr.  Franz  Stuhlmann. 
Band    6:    Zoologische    Aufzeichnungen    Emins 
und  seine  Briefe  an  Dr.  G.  Hartlaub  bearbeitet 
von  Prof.  Dr.  H.  Schubotz.     VIII   u.  301  S., 
I    Karte.     Hamburg    und    Braunschweig    1921, 
Georg  Westermann.     Brosch.   100  M. 
In  Emin  Paschas  Nachlaß  fanden  sich  drei 
Tagebücher    rein    zoologischen    Inhalts    aus    den 
Jahren    1876—1888.       Zwei     weitere    Hefte    mit 
zoologischen    Aufzeichnungen     scheinen     verloren 
gegangen   zu  sein.     Mit   vollem  Recht   weist  der 
Herausgeber   der  Tagebücher,   Prof.  Schubotz, 
darauf  hin,  daß  „Emins  Beobachtungen  auch  heute 
noch  nicht  etwa   nur   historisches  Interesse  bean- 
spruchen können,  sondern  unumgänglich  sind  für 
jeden  Bearbeiter  einer  Fauna  der  oberen  Nilländer. 
Sie  stellen  einen  sehr  erheblichen  Teil  des  wenigen 
dar,  was  wir  über  die  Ökologie  afrikanischer  Vögel 
und  Säuger  wissen,  und  werden  immer  ein  wert- 
volles Quellenwerk  in  Fragen  der  Verfärbung,  des 


Nestbaues,  der  Wanderung  und  Nahrung  afrika- 
nicher  Vögel  bleiben."  Das  erste  Kapitel  (S.  i — 40) 
behandelt  die  von  Emin  Pascha  erwähnten 
Säugetiere.  Obwohl  Schubotz  durch  eigene 
Forschungsreisen  sich  eine  gründliche  Kenntnis 
der  Fauna  der  Äquatorialprovinz  erworben  hat, 
ist  in  diesem  Kapitel  in  bezug  auf  einzelne  Art- 
angaben eine  gewisse  Unsicherheit  bestehen  ge- 
blieben. Sie  war  nicht  zu  beseitigen,  weil  unsere 
Kenntnis  der  afrikanischen  Säuger  noch  zu  lücken- 
haft ist  und  das  von  Emin  Pascha  gesammelte 
Material  leider  nicht  in  vollem  Umfange  zur  Be- 
arbeitung gelangte.  Wie  Schubotz  nachweist, 
gehen  die  ersten  Nachrichten  über  das  Okapi 
nicht,  wie  man  bisher  annahm,  auf  Stanley, 
sondern  auf  Emin  Pascha  zurück.  Auf  viel 
sichererer  Grundlage  ruht  das  zweite  Kapitel  (S.  41 
bis  210),  das  sich  mit  der  Vogelwelt  beschäftigt. 
Hier  tritt  uns  Emin  Pascha  als  ausgezeichneter 
Systematiker  entgegen,  dessen  Verdienste  um  die 
Ornithologie  Afrikas  schon  Hartlaub  und  Scha- 
low  anerkannt  haben.  Insgesamt  wurden  165 
Arten  behandelt,   etwa  Vs   der  in  der  Äquatorial- 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


733 


provinz  heimischen  Spezies.  Der  dritte  Teil 
(S.  211 — 295)  des  Werkes  enthält  bisher  noch 
unveröffentlichte  Briefe  Emin  Paschas  an  den 
Bremer  Ornithologen  G.  Hartlaub  aus  den 
Jahren  1881 — 1891.  Sie  sind  nicht  nur  für  die 
Beurteilung  Emin  Paschas  als  Mensch  wert- 
voll, sondern  vermitteln  uns  auch  ein  anschau- 
liches Bild  von  seinem  inneren  Verhältnis  zur 
Zoologie.  Den  Schluß  des  Werkes  bildet  ein 
Verzeichnis  derjenigen  zoologischen  Arbeiten,  die 
ganz  oder  teilweise  auf  Emin  Paschas  Samm- 
lungen und  Beobachtungen  beruhen  (S.  297 — 298), 
sowie  ein  alphabetisches  Verzeichnis  der  be- 
handelten Arten  (S.  299—301),  Eine  Karte  der 
Äquatorialprovinz  im  Maßstabe  1:5000000  soll 
die  Auffindung  der  Fundorte  erleichtern. 

F.  Pax  (Breslau). 


Gerlach,  W.,  Die  experimentellen  Grund- 
lagen der  Quantentheorie.  Heft  58  der 
„Sammlung  Vieweg".  143  S.  mit  43  Abb.  im 
Text.  Braunschweig  192 1,  F.  Vieweg  u.  Sohn. 
—  Preis  brosch.  12  M.  und  Teuerungszuschlag. 
Die  von  uns  mehrfach  (z.  B.  Bd.  XIV,  S.  431, 
1915  und  Bd.XX,  S.  432,  1921)  erwähnte  Valen- 
tin ersehe  Darstellung  der  theoretischen  Grund- 
lagen und  der  klassischen  Anwendungen  der 
Quantentheorie  in  den  Heften  15  und  16  der 
„Sammlung  Vieweg"  erfährt  durch  die  vorliegende 
Veröffentlichung  Gerlachs  eine  wertvolle  Ver- 
vollständigung. Sie  beschäftigt  sich  mit  den 
neuesten  Anwendungen  der  quantentheoretischen 
Vorstellungen  auf  die  experimentelle  Erforschung 
derjenigen  Ercheinungen,  deren  Kenntnis  für  un- 
seren Einblick  in  die  Konstitution  der  Materie 
und  die  vornehmlich  im  Prozeß  der  Lichtemission 
sich  abspielenden  elektromagnetischen  Vorgänge 
des  Atominneren  von  grundlegender  Bedeutung 
geworden  sind.  Es  handelt  sich  hier  insbesondere 
um  die  Erscheinungen  des  Energieaustausches 
zwischen  Korpuskular-  und  Wellenstrahlung,  wie 
sie  bei  der  Erregung  von  Licht-  und  Hochfrequenz- 
strahlen durch  Kathoden-  und  Kanalstrahlen  und 
durch  Wellenstrahlung  selbst,  andererseits  bei 
der  Auslösung  von  Kathodenstrahlen  durch  Kor- 
puskular- und  Wellenstrahlen  im  Falle  der  Sekun- 
därstrahlung und  der  lichtelektrischen  Wirkung 
vorliegen,  und  schließlich  um  die  Quantenvorgänge 
in  der  Photochemie. 

Verf.  legt  seinen  Betrachtungen  das  wichtigste 
Ergebnis  der  quantentheoretischen  Forschung, 
das  Bohr  sehe  Atommodell  zugrunde  und  sucht 
mit  seiner  Hilfe  die  gesamten  in  Betracht  kom- 
menden, bis  jetzt  untersuchten  Erscheinungen  in 
einem  einheitlichen  Bilde  zusammenzufassen.  Bei 
der  Neuheit  des  Gegenstandes  und  der  Möglich- 
keit einer  späteren  Modifikation  mancher  theore- 
tischen Auffassung  ist  es  besonders  wichtig,  daß 
Verf.  bestrebt  war,  experimentell  festgelegte  Tat- 
sachen und  theoretische  Schlüsse  soweit  ausein- 
anderzuhalten, als  es  dem  Leser  für  die  Beurtei- 
lung der  Sicherheit  der  Einzelangaben  wünschens- 


wert erscheinen  muß.  Die  Quantentheorie  der 
Spektralserien  wird  nicht  behandelt,  da  dieses 
Gebiet  in  Sommerfelds  bekanntem  Werk  eine 
erschöpfende  Bearbeitung  gefunden  hat.  Unbe- 
rücksichtigt sind  leider  auch  wichtige  Unter- 
suchungen über  Kathodenstrahl-  und  Lichterregung 
durch  positive  Korpuskeln  geblieben. 

Die  sorgfältige  und  bis  auf  einige  Kleinigkeiten 
einwandfreie  Darstellung  ist  durchweg  klar  und 
gemeinverständlich,  wenn  sie  sich  auch  vielfach 
zwecks  Raumersparnis  kurzer,  gedrängter  Sätze 
bedient  und  daher  an  die  Mitarbeit  des  Lesers 
gewisse  Anforderungen  stellt.  Zu  begrüßen  ist 
die  möglichst  auf  Vollständigkeit  ausgehende  Zu- 
sammenfassung der  neuesten  Originalliteratur,  die 
Verf.  am  Schluß  jedes  Kapitels  nach  Autoren 
geordnet  angefügt  hat.  Wir  wünschen  der  an- 
regenden Monographie  weiteste  Verbreitung. 
A.  Becker. 

Rohr,  M.  V.,  Die  Brille  als  optisches  In- 
strument. 3.  Aufl.  XIV  u.  254  S.,  112  Bilder 
im  Text.  Berlin  192 1,  J.  Springer.  —  Preis 
66  M.,  ganz  leinen  78  M. 
Wie  der  jüngere  Napoleon  als  Beherrscher 
Frankreichs  sich  zwar  als  den  dritten  seines  Na- 
mens bezeichnete,  aber  der  zweite  war,  so  ist 
auch  die  neue  Auflage  des  mir  zur  Besprechung 
vorliegenden  Buches  nicht  die  dritte,  obwohl  der 
Verleger  aus  buchhändlerischen  Gründen  sie  so 
benennt,  sondern  die  zweite.  Während  aber  jener 
Kaiser  nur  die  stark  verwässerte  Ausgabe  seines 
Vorfahren  darstellt,  ist  die  neue  Auflage  des 
Buches  über  die  Brille  an  Umfang  —  damals  172, 
jetzt  254  Seiten  —  sowohl  als  auch  an  Inhalt 
viel  reicher  geworden.  In  der  ersten  Auflage 
(erschienen  191 1)  handelte  es  sich  um  die  Errich- 
tung eines  ganz  neuen  Gebäudes,  bei  der  jetzigen 
um  dessen  Wohnlichmachung.  Das  tritt  an  allen 
Stellen  des  Buches  hervor.  Die  Anordnung  des 
Stoffes  ist  unverändert  geblieben,  jedoch  werden 
so  oft  wie  nötig  und  möglich  in  eigenen  Para- 
graphen „Geschichtliche  Bemerkungen"  angehängt, 
mitunter  sehr  ausführliche,  denen  sich  allerlei 
Hübsches  entnehmen  läßt.  Besonders  dem  langen 
§  66,  der  von  den  Brillenformen  handelt,  ebenso 
dem  §  68  von  den  Fernrohr-  und  dem  §  79  von 
den  Vorhängebrillen,  dem  §  74  von  dem  Augen- 
drehpunkte, dem  §  103  von  den  asphärisch-sphä- 
rischen Brillen  und  zu  guter  Letzt  den  §§  178 — 
184,  wo  die  „Entwicklung  der  Lehre  von  der 
Brille"  geschildert  wird.  Auf  Einzelheiten,  nament- 
lich mathematische,  gehe  ich  absichtlich  nicht  ein, 
weil  dann  kein  Ende  abzusehen  wäre.  Nur  auf 
den  Abschnitt  über  die  „Brille  als  Sehhilfe  für 
beide  Augen"  (S.  204 — 218)  möchte  ich  hinweisen 
und  besonders  auf  §  166  (das  beidäugige  Sehet* 
durch  die  Fernbrille),  weil  darin  gezeigt  wird,  daß 
hierbei  jedem  Auge  ein  eigener  Bildpunkt  (mit 
verschiedenem  Hub-  und  Senkwinkel)  zukommt, 
deren  Vereinigung  zu  einer  einheitlichen  Raum- 
empfindung vom   Physiologen    oder   Psychologen 


734 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


genauer  untersucht  werden  müßte.  Im  übrigen 
hebe  ich  gern  und  nach  Gebühr  hervor,  daß  der 
Verf.  jetzt  noch  mehr  als  früher  es  versucht  hat, 
an  die  Stelle  der  vielen,  z.  T.  unschwer  vermeid- 
baren Fremdwörter  deutsche  treten  zu  lassen, 
allermeist  mit  Glück.  Er  hätte  hier  und  da  in 
dieser  Richtung  sogar  noch  weiter  gehen  können, 
z.  B.  gleich  im  Titel  wäre  Instrument  durch 
Werkzeug  oder  Gerät  ersetzbar  gewesen,  indessen 
man  muß  ihm  auch  so  schon  dankbar  sein. 
Mächtig  gewachsen  ist  das  „Quellen-  und  Namen- 
verzeichnis":  über  26  Seiten,  während  das  „Lite- 
raturverzeichnis" am  Schlüsse  der  ersten  Auflage 
nur  10  Seiten  umfaßte.  Es  ist  womöglich  noch 
sorgsamer  gearbeitet  als  das  frühere. 

P.  Mayer  (Jena). 


Alverdes,    Friedrich,    Rassen-   und   Artbil- 
dung.    Heft  9  der  Abhandlungen  zur  theoreti- 
schen Biologie,  herausgegeben  von  J.  S  c  h  a  x  e  1. 
Berlin  1921,  Gebr.  Bornträger.     32  M. 
Seit  der  Entstehung  der  experimentellen  Erb- 
lichkeitsforschung sind  Fragen,  die  nach  L  a  m  a  r  c  k 
und  Darwin   als   mehr   oder  weniger  gelöst  be- 
trachtet worden  waren,  neu    aufgeworfen  worden, 
und    Erkenntnisse,    die    als    gesichertes   Gut    ge- 
golten  hatten,   von  Neuem  ins  Wanken   geraten. 
Sie  können  zusammengefaßt  werden  als  Probleme 
der    Rassen-    und    Artbildung;     ihre    Lösung    ist 
letzten  Endes   das  Ziel   aller  Untersuchungen  auf 
den  Gebieten  der  Abstammungs-  und  Vererbungs- 
lehre,  sowie   der  Entwicklungsmechanik   der  ver- 
gangenen zwanzig  Jahre. 

Der  ^  Verf.  stellt  sich  die  Aufgabe,  die  An- 
sichten der  verschiedenen  Forscher  über  diese 
Fragen  kritisch  zu  untersuchen,  und  unterscheidet 
dabei  scharf  einerseits  zwischen  Theorien,  die 
durch  Experimente  mehr  oder  weniger  Bestätigung 
fanden,  und  andererseits  mit  Sicherheit  erkannten 
Tatsachen. 

So  werden  die  Grundlagen  der  ganzen  Ver- 
erbungslehre eingehend  erörtert,  wobei  der  Hin- 
weis darauf,  daß  die  symbolische  Darstellung  einer 
genotypischen  Konstitution  unbedingt  zu  trennen 
ist  von  der  tatsächlichen  Zusammensetzung  der 
Erbsubstanzen,  insofern  besonders  berechtigt  er- 
scheint, als  durch  manche  neuere  Vererbungs- 
arbeiten mit  stark  mechanisierenden  Tendenzen 
dieser  Gegensatz  verwischt  zu  werden  droht.  Wir 
sind  heute  noch  weit  davon  entfernt,  die  kompli- 
zierten physiologisch-chemischen  Vorgänge  im 
Lebenslauf  einer  Zelle  in  Formeln  ausdrücken  zu 
können.  In  diesem  Zusammenhang  ergibt  sich 
ganz  von  selbst  eine  Besprechung  der  von  ver- 
schiedenen Autoren  eingeführten  Fachausdrücke 
und  ihrer  Definitionen.  Im  Kapitel  der  Phäno- 
variationen  wird  naturgemäß  das  Problem  der  „Ver- 
erbung erworbener  Eigenschaften"  angeschnitten. 
Bereits  in  einer  früheren  Arbeit  (Zum  Begriff  der 
Scheinvererbung,  Zeitschr.  f.  ind.  Abst.  Bd.  25,  1921) 


hat  der  Verf.  die  falsche  Fragestellung  gekennzeichnet 
und  dargelegt,  daß  die  Frage  zu  lauten  hat :  Durch 
welche  äußeren  Faktoren  kann  die  Reaktionsnorm 
einer  Art  verändert  werden  ?  Wie  Nachwirkungen 
bei  Versuchen  in  dieser  Richtung  unter  Berück- 
sichtigung einer  nur  ungenügenden  Generationen- 
zahl zu  Täuschungen  Anlaß  geben  können,  zeigen 
u.  a.  die  Kammererschen  Arbeiten.  Besondere 
Kapitel  sind  auch  den  Mutationen  und  den  Geno- 
variationen  durch  Faktorenkombination  gewidmet. 
Schemata  veranschaulichen  die  verschiedenen 
Möglichkeiten  des  Zustandekommens  von  Ab- 
änderungen. 

Das  Endergebnis  der  angestellten  Betrachtungen 
ist  kurz  folgendes:  Nur  wenig  ist  bis  jetzt  sicher- 
gestellt, alles  ist  z.  Z.  derartig  im  Fluß,  daß  jede 
neue  Untersuchung  die  ganze  Fragestellung  ver- 
schieben und  viele  der  bisherigen  Annahmen  um- 
werfen kann.  Nur  das  Experiment  kann  uns 
weiterbringen.  Jedoch  mit  einiger  Sicherheit  läßt 
sich  schon  heute  sagen:  ein  einheitliches  Prinzip 
der  Artentstehung  wird  sich  nicht  finden  lassen, 
sondern  die  Neubildung  einer  Art  geschieht  in 
jedem  Fall  auf  eine  besondere  Weise.  Dabei 
werden  Mutationen  und  Bastardierungen  die  erste 
Rolle  spielen,  ebenso  wie  in  manchen  Fällen  noch 
Selektion  und  andere  Erscheinungen  sekundär 
dazukommen  mögen. 

Als  zeitgemäße  Behandlung  dieser  Fragen  im 
Zusammenhang,  die  bis  jetzt  fehlte,  ist  das  Buch 
außerordentlich  wertvoll.  Besonders  hinzuweisen 
ist  auf  die  Berücksichtigung  der  sonst  nicht  zu- 
gänglichen ausländischen  Arbeiten  wie  z.  B.  die 
neuesten  Untersuchungen  von  Tower  an  Leplt- 
notarsa.  Otto  Kuhn. 

Valentiner,  S.,  AnwendungenderQuanten- 
hypothese  in  der  kinetischen  Theorie 
der  festenKörper  und  der  Gase.    Heft  16 
der   „Sammlung  Vieweg".      Zweite,    erweiterte 
Auflage.     90  S.  mit    5  Abb.   im  Text.     Braun- 
schweig 192 1,  F.  Vieweg  u.  Sohn. 
Die   von   uns   bereits   früher  (diese  Zeitschrift 
N.  F.  Bd.  XIV,  S.  431,  191 5)  gewürdigte  treffliche 
Darstellung  der   Quantentheorie   der  spezifischen 
Wärmen  erfährt  durch  die  vorliegende  Neuauflage 
eine    die   seitherigen  Fortschritte    der  Forschung 
berücksichtigende     wertvolle    Erweiterung.       Die 
Zahl  der  Seiten   ist  von  72   auf  90  angewachsen, 
die  Zahl  der  Kapitel,   teils   lediglich   infolge  ver- 
änderter   Anordnung    des    Stoffes,    von    4   auf  6. 
Wesentliche  Verfeinerungen  des  Inhalts  beziehen 
sich  auf  die  Rotationsenergie  der  Gase;  leider  ist 
hier  die  Krügersche  Theorie   der  Kreiselmole- 
küle unerwähnt  geblieben.     Etwas   ausführlichere 
Besprechung    gegen    früher   hat    ihrer  Bedeutung 
entsprechend   die   Debyesche  Theorie  erfahren. 
Das  Bändchen  ist  allen  an  dem  Gegenstand  inter- 
essierten Kreisen  wärmstens  zu  empfehlen. 

A.  Becker. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


;3S 


Anregungen  und  Antworten. 


Zur  Kritik  der  Glazialkosmogonie.  Daß  Herr  F  a  u  t  h 
versuchen  würde,  die  in  meioem  Aufsatze  über  den  Kreis- 
laufprozeß des  Wassers  (Naturw.  Wochenschr.  1921,  H.  21) 
gegen  die  Glazialkosmogonie  erhobenen  Einwände  zu  entkräften, 
war  vorauszusehen.  Es  ist  eine  häu6ge  Erfahrungstatsache, 
daß  der  Urheber  einer  Hypothese  hartnäckig  an  ihr  festhält, 
wenn  ihm  auch  die  klarsten  Gründe  entgegengehalten  werden. 
Bei  der  Verteidigung  ist  es  ein  beliebter  Kunstgriff,  seinem 
Kritiker  Mißverständnis  Torzuwerfen,  während  das  Mißver- 
ständnis in  Wirklichkeit  auf  der  Seite  dessen  liegt,  der  sich 
mißverstanden  glaubt.  Eigentlich  genügt  es,  meine  Dar- 
legungen in  dem  früheren  Aufsatze  dem  Fauth sehen  Recht- 
fertigungsversuche gegenüber  zu  stellen,  um  die  Haltlosigkeit 
desselben  zu  erkennen.  Trotzdem  möchte  ich  einige  Worte 
zur  Klarstellung  sagen. 

1.  Daß  ein  Eiskörper  von  100  m  Durchmesser  in  lauter 
Hagelkörner  von  Nußgröße  zersplittern  müsse,  ist  nur  nach 
der  Glazialkosmogonie  „naturgemäß".  Ein  nicht  im  glazial- 
kosmogonischen  Gedankengange  Befangener  wird  es  naturge- 
mäß finden,  daß  ein  großer  Eiskörper,  wie  die  meisten  be- 
obachteten Meteore,  in  Stücke  von  sehr  verschiedener  Größe 
und  Gestalt  zerfällt. 

2.  Der  zweite  auf  die  Fortschreitungsgeschwindigkeit  der 
Hagelwetter  sich  beziehende  Einwand  ist  völlig  mißverstanden 
worden.  Die  große  Erstreckung  mancher  Hagelwettel-  (z.  B. 
vom  Schwarzen  Meere  bis  zur  Ostsee)  zwingen  den  Glazial- 
kosmogonen  zu  der  Annahme,  daß  das  Eismeteor  mit  seiner 
kosmischen  Geschwindigkeit  in  der  Erdatmosphäre  fortschreite. 
Der  nur  mit  geringer  Geschwindigkeit  fortschreitende  Hagel- 
wolkensturm würde  schon  nach  kurzer  Zeit,  nach  Zurück- 
legung eines  Weges  von  wenigen  hundert  Metern,  infolge  des 
Widerstandes  der  zu  verdrängenden  Luft,  stecken  bleiben.  Es 
dürfte  also  nur  zu  örtlich  eng  begrenzten  Hagelwettern  kommen. 

3.  Wenn  außer  Hagelkörnern  von  Nußgröße  gelegentlich 
{übrigens  im  Widerspruche  zu  l)  auch  massive  Brocken  fallen, 
von  denen  aber  der  meteorologischen  Wissenschaft  nichts  be- 
kannt ist  und  die  Hör  biger  auf  guten  Glauben  annimmt, 
auf  Berichte  aus  Indien  sich  stützend,  wo  Brocken  von  Ele- 
fantengröße niedergestürzt  sein  sollen,  so  würde  bei  ihrem 
Falle  der  einen  Meteorfall  stets  begleitende  ohrenbetäubende 
Lärm  zu  erwarten  sein.  Hierüber  wird  jedoch  auch  aus  dem 
Märchenlande  Indien  nichts   berichtet. 

4.  Wenn  nur  die  Hagelwetter,  bei  denen  die  Hagelkörner 
aus  ungeschichtetem  Eis  bestehen,  kosmischen  Ursprungs  sind, 
so  dürfte  es  schwer  sein,  ein  einziges  derselben  nachzuweisen. 

5.  Daß  es  nicht  gestattet  sein  soll,  kosmische  Eiskörper 
mit  Meteoren  in  Zusammenhang  zu  bringen,  dürfte  nicht  nur 
mein  kritisches  Verständnis  übersteigen. 

6.  Auf  diesen  Punkt  mache  ich  den  teilnehmenden  Leser 
besonders  aufmerksam.  Durch  eine  einfache  Rechnung,  deren 
theoretische  Grundlage  ganz  unanfechtbar  ist,  habe  ich  ge- 
zeigt, daß  wenn  die  durch  kosmische  Eiszufuhr  entstehende 
Vermehrung  der  jährlichen  Niederschlagsmenge  der  Erde  auch 
nur  13  cm  (also  weniger  als  Hör  biger  annimmt)  betrüge,') 
der  dadurch  entstehende  Massenzuwachs  den  Erdmond  zu 
einer  beschleunigten  Bewegung  zwingen  würde,  die  330  mal 
so  groß  als  die  wirklich  beobachtete  wäre.  Herr  Fauth 
glaubt  diesen  Einwand  durch  die  Annahme  entkräften  zu 
können,  daß  der  Massengewinn  durch  einen  bei  vulkanischen 
Ausbrüchen  entstehenden  Massenverlust  (Aushauchung  von 
WasserstoiT)  kompensiert  werde.      Eine    solche  Argumentation 


•)  Wenn  es  noch  beträchtlich  weniger  wäre,  was  nach 
Fauth  möglicherweise  zutrifft  (z.B.  so  wenig,  daß  sich  keine 
Widersprüche  mehr  mit  den  astronomischen  Forschungsergeb- 
nissen zeigten),  so  würde  die  ganze  Glazialmeteorologie,  d.  i. 
der  Kern  der  Glazialkosmogonie,  an  den  sich  alle  anderen 
Ausführungen  nur  anlehnen,  gegenstandslos  werden,  da  sie 
auf  der  Annahme,  daß  ein  nicht  unbedeutender  Teil  der  jähr- 
lichen Niederschlagsmenge  kosmischen  Ursprungs  sei,  als 
ihrem  Fundamente  ruht.  Daß  man  bei  der  Entscheidung 
einer  sehr  wichtigen  wissenschaftlichen  Frage  ein  Kopfrechen- 
beispiel wählt  und  dadurch  zugleich  die  mögliche  Fehler- 
haftigkeit seiner  Annahmen  zu  entschuldigen  sucht,  ist  übrigens 
ein  in  die  Wissenschaft  ganz  neu  eingeführtes  Verfahren. 


macht  es  schwer,  bei  der  Polemik  den  wissenschaftlichen  Ernst 
zu  wahren.  Der  ausgehauchte  Wasserstoff,  dessen  geringe 
Menge  übrigens  mit  der  angenommenen  Menge  des  kos- 
mischen Wasserzuflusses  gar  nicht  verglichen  werden  kann, 
bleibt  doch  in  der  Erdatmosphäre  (der  an  der  Atmosphären- 
grenze  gemäß  den  Annahmen  der  kinetischen  Gastheorie  ent- 
stehende Verlust  an  Wasserstoff  ist  verschwindend  klein),  geht 
also  der  Erdmasse  nicht  verloren.  —  Der  der  Sonne  nach 
den  Annahmen  der  Glazialkosmogonie  zufließende  Massenge- 
winn bewirkt  nach  unserer  Rechnung  eine  Verkürzung  des 
Erdenjahres  um  a  Stunden.  Wenn  Herr  Fauth  auch  diese 
Rechnung  glaubt  als  nicht  beweiskräftig  bezeichnen  zu  dürfen, 
so  ist  zu  erwidern,  daß  der  von  ihm  angeführte  Massenver- 
lust der  Sonne  (durch  Ausstoßung  von  Feineis)  noch  nicht 
um  den  tausendsten  Teil  hinter  dem  Massengewinn  an  Roheis 
zurückbleiben  dürfte,  wenn  die  Glazialkosmogonie  nicht  mit 
feststehenden  astronomischen  Beobachtungstatsachen  in  Wider- 
spruch geraten  will.  Wie  eine  solche  Annahme  wissenschaft- 
lich zu  bewerten  ist,  muß  dem  Urteil  des  Lesers  überlassen 
bleiben. 

Wir  haben  uns  bei  der  Kritik  der  Glazialkosmogonie 
auf  einige  naheliegende  Punkte  beschränkt,  zu  denen  uns  der 
Aufsatz  von  Herin  Prof.  Halb  faß  führte.  Das  Werk  selbst 
bietet  deren  eine  Legion.  Die  Haupteinwände  sind  jedoch 
rein  analytisch  theoretischer  Art  und  können  an  dieser  Stelle 
nicht  erörtert  werden.  Eine  neue  kleine  kritische  Arbeit  des 
Verf.  über  die  Glazialkosmogonie  wird  demnächst  in  der 
Naturwissenschaftlichen  Rundschau  der  Chemiker  -  Zeitung 
(Oktober-Nummer),  eine  weitere  im  Geographischen  Anzeiger 
erscheinen.  Die  Freude  über  das  der  Glazialkosmogonie 
gespendete  Lob  gönnen  wir  Herrn  Fauth  gern;  doch  ver- 
dient sie  es  leider  nicht  in  anderem  Sinne  als  ein  Ruman 
von  Jules  Verne. 

Bremen,  den  25.  August   1921.  Fr.  Nölke. 


Sind  die  Riesensterne  Gaskugeln  oder  nicht?  In  Nr.  44 
der  Naturw.  Wochenschr.  berichtet,  Herr  Prof.  Riem  über 
eine  Arbeit  des  amerikanischen  Astronomen  Pickering,  in 
welcher  dieser  gewisse  Vermutungen  über  die  physische  Kon- 
stitution der  Riesensterne  äußert,  zu  denen  z.  B.  der  hellste 
Stern  im  Urion,  Beteigeuze,  gehört,  dessen  Durchmesser  unge- 
fähr dem  Durchmesser  der  Marsbahn  gleichkommt.  Picke- 
ring  vergleicht  die  Anziehung,  die  Beteigeuze  und  der  Erd- 
mond auf  einen  Punkt  ihrer  Oberfläche  ausüben,  und  findet, 
daß  die  Anziehung  von  Beteigeuze,  wenn  dieser  Stern  auch 
die  loofache  Masse  unserer  Sonne  hätte,  doch  nur  den  4.  Teil 
der  Anziehung  des  Mondes  betragen  würde.  Weil  nun  schon 
der  kalte  Mond  kein  Gas  als  Atmosphäre  festhalten  könne, 
so  sei  Beteigeuze,  meint  Pickering,  wegen  der  hohen 
Temperatur  noch  viel  weniger  dazu  imstande.  Wenn  die 
Materie  des  Stern-es  sich  nicht  im  Welträume  verflüchtigen 
solle,  so  müsse  daher  angenommen  werden,  daß  sie  nicht 
gasförmig  sei,  sondern  vielleicht  aus  zwei  sich  durchdringenden 
Schwärmen  meteorartiger  Körper  bestehe,  die  gelegentlich 
Zusammenstöße    erleiden    und    dadurch    ins  Leuchten  geraten. 

Da  der  spektroskopische  Charakter  der  Riesensteme 
darauf  schließen  läßt,  daß  ihre  Materie  doch  gasförmig  ist,  so 
dürfen  wir  vermuten,  daß  Pick  erings  Schlüsse  einen  Fehler 
enthalten.  Dies  ist  auch  tatsächlich  der  Fall.  Die  Ge- 
schwindigkeit, welche  von  der  Oberfläche  eines  Sternes  in 
den  Weltraum  entweichende  Gasmoleküle  haben  müssen,  hängt 
nämlich  nicht,  wie  Pickering  annimmt,  nur  von  der  Größe 
der  an  der  Oberfläche  wirkenden  Anziehungskraft,  sondern 
außerdem  noch  von  seiner  räumlichen  Erstreckung  ab.  Dies 
mathematisch  zu  begründen,  würde  hier  zu  weit  führen.')  Es 
genügt,   auf  einige  bekannte  Dinge   hinzuweisen.     Der  Planet 

')  Die  analytische  Mechanik  liefert  für  die  Endgeschwindig- 
keit c  eines  aus  großer  Entfernung  auf  einen  Stern  stürzenden 
Körpers,  falls  m  die  Masse  des  Sternes,  r  seinen  Radius  und 
k  die  Gravitationskonstante  bedeutet,  die  Formel  c::=l'2km  :r. 
Dies  ist  umgekehrt  auch  die  Geschwindigkeit,  die  ein  Gas- 
teilchen haben  muß,  wenn  es  sich  von  der  Oberfläche  des 
Sternes  beliebig  weit  entfernen  soll. 


73Ö 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  51 


Mars  bewegt  sich  mit  einer  sekundlichen  Geschwindigkeit  von 
24  km  in  seiner  Bahn.  Soll  ein  Körper  in  der  Entfernung 
des  Mars  der  Sonne  entfliehen,  so  muß  seine  Geschwindigkeit 
die  parabolische  sein.  Diese  beträgt  das  ['anfache  der  Ge- 
schwindigkeit in  der  Kreisbahn,  also  rund  34  km/sec.  Die 
mittlere  molekulare  Geschwindigkeit  des  Wasserstoffs  bei  0°  C 
oder  273"  abs.  ist  1,843  km/sec;  die  Temperatur,  bei  der  sie 
gleich  der  angegebenen  parabolischen  Geschwindigkeit  würde, 
beträgt  dann,  da  die  Temperatur  dem  Quadrate  der  mittleren 
Molekulargeschwindigkeit  proportional  ist,  ungefähr  100  000". 
Wenn  unsere  Sonne  sich  als  Gaskugel  bis  zur  Marsbahn  er- 
streckte, so  würde  sie  demnach  eine  Wasserstoffatmosphäre  erst 
dann  am  Fortfliegen  nicht  mehr  hindern  können,  wenn  ihre 
Oberflächentemperatur  höher  wäre  als  100000°.  Da  die 
effektive  Temperatur  der  Riesensterne  nur  einige  tausend  Grade 
beträgt  und  wahrscheinlieh  ihre  Masse  durchschnittlich  etwas 
gröfler  als  die  Sonnenmasse  ist,  so  folgt  also,  daß  Picke- 
rings Bedenken  grundlos  sind  und  der  Annahme,  die  Sterne 
seien  Gaskugeln,  nichts  im  Wege  steht.  Fr.  Nölke. 


Waldschutz  durch  Vogelschutz.  Der  RaupenfraS  im 
nördlich  von  Eisenach  gelegenen  Hainichwalde  ist  auch  in 
diesem  Jahre  sehr  stark.  Die  Buchen  werden  von  Hundert- 
tausenden von  Raupen  des  Bürstenspinners  {Dasyckira  pudi- 
butidd)  auf  vielen  und  großen  Flächen  völlig  kahl  gefressen. 
Im  vorigen  Jahre  endete  die  Plage ,  süd-  und  ostwärts  vor- 
rückend, an  den  Grenzen  des  Seebacher  Waldes,  dem  Ver- 
suchsfelde der  staatlich  anerkannten  Vogelschutzstation  des 
Freiherrn  v.  Berlepsch.  Nur  einige  Randbäume  dieses  mit 
einem  langjährigen,  erfolgreichen  Vogelschutze  versorgten  Ge- 
bietes zeigten  erkennbare  Spuren  davon.  Wiewohl  nun  glei- 
ches schon  wiederholt  festzustellen  war,  und  im  heurigen  Vor- 
sommer überdies  beobachtet  wurde,  daß  die  Meisen  ihre  Brut 
vornehmlich  mit  den  Faltern  des  Schädlings  atzten,  blieb  doch 
im  vorliegenden  Falle  die  Frage  offen ,  ob  nicht  der  Unter- 
brechung des  Buchenwaldes  durch  die  große  Oppershäuser 
Blöße  und  die  ihr  angrenzenden  Nadelholzbestände  der  aus- 
schlaggebende Einfluß  zuzusprechen  sei.  Der  Befall  ist  nun 
süd-  und  ostwärts  durch  den  Seebacher  Wald  und  weit  über 
ihn  hinaus  vorgedrungen,  hat  sich  aber  erst  jenseits  desselben 
im  Kammerforster  Reviere  zu  vielen  umfangreichen  Kahlfraß- 
stellen verdichtet.  Der  Seebacher  Wald  ist  also  ebenso  wie 
die  angrenzenden  Forsten  von  den  Faltern  beflogen  worden. 
Hier  konnte  aber  nur  ein  geringer  Teil  von  ihnen  zur  Ei- 
ablage gelangen,  weil  sie  —  wie  schon  oben  erwähnt  —  von 
den  zahlreichen  Vögeln  abgefangen  und  verzehrt  wurden.  Im 
Seebacher  Walde  sind  infolgedessen  nur  an  vereinzelten  Wip- 
feln Fraßspuren  zu  erkennen ,  und  die  gesamte  Vogelschutz- 
fläche tritt  wie  schon  in  den  Jahren  1905  und  1914  wiederum 
als  grüne  Insel  aus  den  entblätterten  Nachbargebieten  hervor. 
Stellenweise  nähern  sich  die  beiden  Gegensätze  einander  bis 
auf  etwa  100  m  Entfernung.  Interessenten  mögen  nicht  ver- 
säumen, sich  durch  eigene  Betrachtung  vom  Sachverhalte  zu 
überzeugen ! 

Zum  Artikel:  Die  biologischen  Vorgänge  im  Boden,  von 
Dr.  H.  Wießmann,  Berlin,  in  Nr.  34  vom  21.  Aug.  1921 
erlaube  ich  mir  zu  Ws.  Bemerkung,  daß  man  schon  früher, 
z.  B.  in  Holland,  „dem  Instinkt  und  der  Erfahrung  und  nicht 
einer  begründeten  Auslegung  folgend"  Bodenimpfungen  aus- 
führte, folgenden  weiteren  Beleg  anzuführen.  In  der  ,,Ono- 
matologia    curiosa    artificiosa  et  magica   oder  ganz 


natürliches  Zauberlexicon,  welches  das  nötigste  natürlichste 
und  angenehmste  in  allen  realen  Wissenschaften  ...  be- 
schreibet zum  Nutzen  und  Vergnügen  der  Gelehrten  .  .  .  und 
des  Landroanns  .  .  .,  Ulm,  Frankfurt  und  Leipzig  .  .  .  1759" 
findet  sich  S.  13:  „Aker,  ungedüngten,  fruchtbar 
zu  machen.  Dieses  geschieht  durch  Zubereitung  des  Samens, 
indem  man  den  Samen  von  Waizen  und  Korn  in  einer  Mist- 
pfütze, in  welche  zuvor  etwa  2  Pfund  Salpeter  geworfen 
worden,  einweicht.  Nach  6  Stuiiden  aber  wird  er  wieder 
herausgenommen  und  getrocknet.  Den  andern  oder  dritten 
Tag  läßt  man  ihn  wieder,  aber  nur  3  Stunden  darin  erweichen. 
Ehe  man  diesen  Samen  aussäet,  muß  man  ihn  mit  ein  wenig 
ThauWasser  besprengen,  damit  er  nicht  klumpigt  auf  einander 
fällt.  Der  Hafer  und  Gerste  sollen  nur  halb  so  lange,  als 
oben  gesagt  worden,  eingeweicht  werden.  Die  Probe  damit 
auf  Aeckern  von  verschiedener  Art  soll  gut  geraten  seyn." 

M.  E.  liegt  hier  nur  im  geringen  Maße  ,, künstliche" 
Düngung  vor,  sondern  vor  allem  Bodenimpfung  durch  die 
Jauche,  als  Bakterienträger  und  „-fänger". 

Dr.  Dannmeyer. 

Woher  stammt  der  Name  „Keppernikel"  (Meum  atha- 
manticum)?  Zu  Naturw.  Wochenschr.  N.  F.  20  (192 1),  I9lf., 
424,  560.  Der  Name  Keppernikel,  den  Meum  athamanticum 
im  östlichen  Erzgebirge  führt,  hat  weder  mit  „Kupfernickel" 
noch  mit  „Gebär würz"  etwas  zu  tun.  Der  Name  ist  über- 
haupt kein  deutscher,  sondern  slavischen  Ursprungs. 
Die  Pflanze  heißt  nämlich  tschechisch  (und  serbisch)  koprnik 
(Annenkow  1878,  217),  kroatisch  koprc  (Sulek  1879,  158). 
Andere  Umbelliferen  führen  im  Slavischen  ähnliche  Namen, 
so  heißt  im  Kroatischen  Scandix  pecten  Veneris  koprenica, 
Anethum  graveolens  kopar,  kopric.  Der  verwandte  Ma- 
daun  (Meum  Mutellina)  hieß  nach  Rauschenfels  (1801) 
im  Pustertale  Copriz,  in  Kärnten  nach  Zwanziger  (1888) 
Copritz.  Oborny  gibt  den  Namen  K  ö  p  e  r  n  i  k  für  Meum 
Mutellina  im  Gesenke  an.  Alle  diese  Namen  finden  sich  in 
Gebieten  mit  früherer  slavischer  Bevölkerung  bzw.  in  Gegen- 
den, die  an  slavisches  Sprachgebiet  grenzen.  Daß  der  Pflan- 
zenname Kopritz  slavischen  Ursprungs  ist,  hat  übrigens  be- 
reits H.  Graßmann  (Deutsche  Pflanzennamen  1870,  106) 
behauptet.  Vielleicht  ist  auch  Köpken  (salat)  wie  der 
Doldenblütler  Chaerophyllum  bulbosum  nach  Nemnich  (Poly- 
glottenlexikon 1793  ff.)  in  der  Mark  Brandenburg  genannt 
wird,  hierher  zu  stellen.  Ob  der  Ortsname  Köppernig  (Reg.- 
Bez.  Oppeln)  und  der  Familienname  Koppernigk  (so  hieß  der 
aus  Krakau  stammende  Vater  des  berühmten  Kopemikus  I) 
zu  dem  Pflanzennamen  Keppernikel  in  irgendeiner  Beziehung 
stehen,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 

Dr.  Marzell,  Gunzenhausen. 


Der  auf  S.  512  dieses  Jahrgangs  der  Naturw.  Wochen- 
schrift als  sprachlich  unglücklich  gerügte  Fachausdruck  „In- 
kohlung" rührt  von  G  um  bei  her,  nicht  von  Potonie,  der 
nur  den  fast  vergessenen  Ausdruck  wieder  einführte. 


Literatur. 

Küster,  Prof.  Dr.  E.,  Botanische  Betrachtungen  über 
Alter  und  Tod.     Berlin  '21,  Gebr.  Bornträger.     12  M. 

Morgan,  Th.  H.,  Die  stofflichen  Grundlagen  der  Ver- 
erbung. Mit  118  Abbildungen.  Vom  Verfasser  autorksierte 
deutsche  Ausgabe  von  Dr.  Hans  Nachtsheim.  Berlin '21, 
Gebr.  Bornträger.     69  M. 


Inhalt:  Rob.  Mertens,  Über  die  Funktion  des  Schwanzes  der  Wirbeltiere.  S.  721.  E.  Lenk,  Vom  Leben  zum  Tode 
S.  726.  —  Einzelbeiichte:  Rutherford,  Die  Zerlegung  von  Elementen  durch  «-Strahlen.  S.  728.  Gumbel, 
j.  Wahrscheinlichkeitstheoretische  Betrachtungen  zur  Endlichkeit  der  Welt.  S.  731.  E.  W.  Pfizenmayer,  Mammut 
vorkommen  im  Jakutsgebiet.  S.  732.  —  Bücberbesprechungen :  Die  Tagebücher  von  Dr.  Emin  Pascha.  S.  732.  W, 
Gerlach,  Die  experimentellen  Grundlagen  der  Quantentheorie.  S.  733.  M.  v.  Rohr,  Die  Brille  als  optisches  Intru 
ment.  S.  733.  Fr.  Alverdes,  Rassen-  und  Artbildung.  S.  734.  S.  Valentiner,  Anwendungen  der  Quantenhypo 
these  in  der  kinetischen  Theorie  der  festen  Körper  und  der  Gase.  S.  734.  —  Anregungen  und  Antworten :  Zu 
Kritik  der  Glazialkosmogonie.  S.  735.  Sind  die  Riesensterne  Gaskugeln  oder  nicht?  S.  735.  Waldschutz  durch  Vogel 
schütz.  S.  736.  Die  biologischen  Vorgänge  im  Boden.  S.  736.  Woher  stammt  der  Name  „Keppernikel"  (Meum  atha 
manticum)f  S.  736.     Der  Ausdruck  „Inkohlung".  S.  736.  —  Literatur:  Liste.  S.  736. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck  der  G.  Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


Neue  Folge  20.  Band; 
der  gaiueo  Reibe    36.   Band, 


Sonntag,  den  25.  Dezember  1921. 


Nummer  53« 


Die  Folgerungen  der  allgemeinen  Relativitätstheorie 
und  die  Newtonsche  Physik. 


[Nachdruck  verboten.]  Von   Stjepan 

Die  allgemeine  Relativitätstheorie  hebt  beson- 
ders vier  ihrer  Folgerungen  hervor  „zu  denen  die 
frühere  Physik  nicht  führt" ;  *)  diese  sind :  Die 
Perihelbewegung  des  Merkur,  die  Lichtablenkung 
durch  das  Gravitationsfeld,  die  Rotverschiebung 
der  Spektrallinien  und  die  Tatsache,  daß  alle 
Körper  in  dem  Gravitationsfelde  dieselbe  Be- 
schleunigung erfahren.  Wir  werden  hier  be- 
trachten, ob  die  frühere  Physik  imstande  ist,  zu 
denselben  Folgerungen  zu  gelangen. 

1.  Die  Perihelbewegung  des  Merkur  hat 
bekanntlich  P.  Gerber  (1902)  theoretisch  abge- 
leitet durch  die  Annahme,  daß  die  Gravitation 
mit  Lichtgeschwindigkeit  sich  ausbreitet.  ^)  Es 
gibt  außerdem  noch  andere  Erklärungsmöglich- 
keiten, wie  z.  B.  die  Hypothese  von  A.  Hall 
und  die  bekannte  Theorie  von  H.  Seeliger, 
welche  nicht  nur  die  Perihelbewegung,  sondern 
auch  die  Knotenbewegung  und  die  Änderung  der 
Bahnneigung  der  vier  inneren  Planeten  erklärt. 

2.  Die  Lichtablenkung  durch  das  Gravi- 
tationsfeld hat  neuerdings  E.  Lihotzky -^j  in  der 
Newtonschen  Physik  gezeigt,  indem  er  das 
Licht  als  einen  Massenpunkt  behandelt  hat.  Der 
ganze  Efifekt  beträgt  nach  A.  Kopff'')  nur  eine 
Hälfte  des  Betrages  der  Einst  einschen  Theorie. 
Zu  ähnlichem  Resultate  sind  auch  Eddington 
und  E.  Reichenbächer,^)  sowie  schon  im 
Jahre  1804  J.  Söldner")  gekommen.  In  neuester 
Zeit  hat  T.  Banachiewicz")  auf  die  jährliche 
Refraktion  von  Courvoisier  aufmerksam  ge- 
macht, welche  nach  seiner  Rechnung  0,5"  in  der 
Nähe  der  Sonne  betragen  dürfte.  Wenn  man  die 
beiden  Beträge  addiert,  so  bekommt  man  den 
Wert,   welcher  sich  wenig  von   dem  E  inst  ein - 


Mohoroviüiü. 

sehen  unterscheidet,  was  gegen  seine  Theorie 
sprechen  würde.  Dazu  wird  noch  meistens  ver- 
schwiegen, daß  die  bei  der  Sonnenfinsternis  am 
29.  Mai  19 19  nachgewiesenen  Lichtablenkungen 
nicht  vollkommen  radial  sind.*) 

3.  Anders  steht  es  aber  mit  den  zwei  letzt- 
genannten Folgerungen.  Es  ist  nämlich  bis  jetzt 
nicht  gelungen,  sie  aus  der  Newton  sehen  Physik 
abzuleiten.-)  Unlängst  ist  es  mir  ■')  jedoch  gelungen, 
die  Rotverschiebung  der  Spektrallinien  vom 
Standpunkt  der  Newtonschen  Physik  abzuleiten. 
Da  ich  in  dieser  zitierten  Arbeit  eine  besondere 
Annahme  über  die  Lichtstruktur  gemacht  habe, 
so  werde  ich  hier  versuchen,  dies  in  aller  Küize 
und  ganz  elementar  zu  zeigen,  da  ich  in  einer 
größeren  Abhandlung  die  Grundlagen,  auf  denen 
die  allgemeine  Relativitätstheorie  gebaut  ist,  näher 
betrachten  werde.  Dabei  werden  wir  keine  neue 
Hypothese  über  die  Natur  des  Lichtes  aufstellen 
und  die  neue  Theorie  des  Aufbaues  der  Materie 
wird  hier  eine  neue  Stütze  finden. 

4.  Wenn  c  die  Lichtgeschwindigkeit  im  ide- 
alen Vakuum  (unendlicher  Entfernung)  ist,  dann 
wird  sie  in  der  Entfernung  r  von  dem  Sonnen- 
mittelpunkte *) 


')  A.  Einstein,  Über  die  spez.  u.  d.  al!g.  Relativitäts- 
theorie.     10.  Aufl.     S.   85.     Braunschweig   1920. 

'^)  Die  Gerb  ersehe  Theorie  wurde  heftig  angegriffen 
durch  H.  Seeliger  (Ann.  d.  Physik  Bd.  53,  S.  31— 32,  1917) 
und  M.  V.  Laue  (Ann.  d.  Physik  Bd.  53,  S.  214—216,  1917). 
Der  letztgenannte  behauptet,  daß  die  Gerb  ersehe  Theorie 
die  Perihelbewegung  des  Planeten  gar  nicht  liefert,  und  das- 
selbe wollte  H.  Anderson  (Phil.  Mag.  40,  1920)  fUr  die 
Relativitätstheorie  zeigen.  Eine  schöne  Kritik  der  Gerb  er- 
sehen Theorie  hat  S.  Oppenheim  (Ann.  d.  Physik  Bd.  53, 
1917)  gegeben. 

3)  E.  Lihotzky,  Physik.  ZS.   1921,  S.  69—71. 

*)  A.   Kopff,  Physik.  ZS.   1921,  S.  495—496. 

'')  E.  Reichenbächer,  Ann.  d.  Physik  Bd.  61,  S.  21 
bis  24,  1920. 

*J  T.  Banachiewicz,  ,,Einsteiniana",  ,,Antecedente" 
de  Einstein.  Circulaire  de  l'Observaloire  de  Cracovie.  Nr.  10, 
1921  (geschrieben  in  künstlicher  Sprache  ,,1atino  sine  flexione"). 

')  T.  Banachiewicz,  ,,Einsteiniana".  Deflexione  de 
radios  de  luce  per  Sole.     Ebenda  S.  7. 


f. 


/     I   kMi 


0) 


wo  k  die  Newton  sehe  Gravitationskonstante  und 
M  die  Sonnenrnasse  bedeutet.  Die  Gleichung  (i) 
können  wir  auch  in  der  Form  schreiben 

f=c  +  ^c,  (2) 

und  wenn  T  die  Schwingungsdauer  des  Lichtes 
in  unendlicher  Entfernung  bedeutet,  so  hat  man 
aus  (2)  sofort 

T.Jc  =  f-T  — c-T  (3) 

oder 

Al  =  {-T—/..  (4) 

Dividieren  wir  die  beiden  Seiten  von  (4)  mit 
A  =  c  •  T,  so  bekommt  man 


(5) 


z//_  f  _ 

oder,    mit  Rücksicht    auf   (i),    sofort    die  Rotver 
Schiebung 


')  L.  A.  Bauer,  Phys.  Rev.   15,  S.  333—335.  1920. 

'')  Für  die  Roiverschiebung  hat  dies  A.  II.  Bucherer 
(Physik.  ZS.  1920,  S.  451 — 452)  versucht;  er  hat  aber  seine 
Ableitung  selbst  später  (Ebenda,  S.  518)  als  nicht  hallbar 
anerkannt. 

')  S.  Moho  ro  vi  1 16,  Die  Rotverschiebung  der  Spek- 
Irallinicn  vom  Standpunkt  der  Newtonschen  Physik  (Ann.  d. 
Physik,  im  Druck). 

')  E.  Lihotzky,    1.  c. 


738 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


(5)' 


^._kM 

und  dies  stimmt  mit  dem  Einst  ei  nschen  Wert 
genau  überein ,  ')  worauf  wir  noch  später  zurück- 
kommen werden. ') 

5.  Herr  A.  Einstein  nimmt  als  besondere 
Bestätigung  seiner  Theorie  die  Tatsache,  daß 
allen  Körpern  im  Gravitationsfelde  dieselbe  Be- 
schleunigung erteilt  wird.  Das  kann  man  aber 
ohne  allgemeine  Relativitätstheorie  folgender- 
maßen erklären :  Wenn  sich  ein  Teilchen  (Atom  ?) 
im  Gravitationsfelde  befindet,  so  wird  ihm  eine 
Beschleunigung  erteilt.  Dieselbe  Beschleunigung 
wird  ein  zweites  gleiches  Teilchen  (Atom^  in 
diesem  Gravitationsfelde  erfahren.  Wenn  sich 
diese  zwei  Teilchen  jetzt  in  sehr  großer  Nähe 
befinden,  ist  wieder  kein  Grund  dafür,  daß  sich 
ihre  Beschleunigung  ändern  möchte;  usw.  für  den 
Fall  einer  großen  Menge  solcher  gleicher  Teilchen. 
Wir  können  sagen:  Die  Tatsache,  daß  alle 
Körper  in  dem  Gravitationsfelde  die- 
selbe Beschleunigung  erfahren,  ist  ein 
Beweis  dafür,  daß  alleKörper  ausglei- 
chen Uratomen  gebaut  sind.  Heute  wird 
z.  B.  von  verschiedener  Seite  als  solcher  das  H- 
Atom  angenommen. 

6.  Jetzt  möchte  ich  nur  noch  ein  paar  Worte 
über  die  Rotverschiebung  sagen.  Herr  A.  Ein- 
stein bekennt  selbst:  „Wenn  die  Rotverschiebung 
der  Spektrallinien  durch  das  Gravitationspotential 
nicht  existierte,  wäre  die  allgemeine  Relativitäts- 
theorie unhaltbar."  ^)  Bis  jetzt  wurde  die  Rot- 
verschiebung nur  in  Bonn  konstatiert,^)  alle 
anderen  Beobachtungen  haben  zu  einem  negativen 
Resultate  geführt.  Die  Theorie  der  Rotverschie- 
bung hat  eingehend  Guillau  me"')  kritisiert; 
ihm  ist  Einsteins  Gedankengang  unbegreiflich. 
Da  heutzutage  ein  großer  Streit  zwischen  An- 
hängern und  Gegnern  der  Relativitätstheorie 
herrscht, ")  so  sind  über  diesen  Haupteffekt  noch 
weitere  Beobachtungen  abzuwarten.  Ist  die  Rot- 
verschiebung wirklich  nicht  vorhanden,  dann  hat 
die  Gravitation  keinen  Einfluß  auf  die  Ausbreitung 
des  Lichtes.  In  diesem  Falle  wäre  auch  die 
Lichtablenkung  durch  das  Gravitationsfeld  unmög- 
lich und  wir  dürften  in  der  Newtonschen  Physik 


')  A.  Einstein,  1.  c.  S.  90;  siehe  auch  A.  H.  Euche- 
rer,  1.  c. 

")  Wegen  einigen  Bemerkungen  verweise  ich  auf  meine 
früher  zitierte  Arbeit,  wo  ich  gezeigt  habe,  daß  man  auch  zu 
noch  einigen  wichtigsten  Folgerungen  der  Relativitätstheorie 
gelangen  üann. 

ä)  1.  c.  S.  91. 

")  L.   Grebe,  Physik.  ZS.   1920,  S.  662—666. 

''}  Ed.  Guillaume  u.  Ch.  VVilligens,  Physik.  ZS. 
1921,  S.  leg — 114;  dann  Ed.  Gui  1  lau  me,  Physik.  ZS.  1921, 
S.  3S6— 38S. 

")  Vgl.  z.  B.  P.  Lenard,  Über  Relativitätsprinzip,  Äther 
und  Gravitation.  3.  Aufl.  Leipzig  1921  und  Über  Atlier  und 
Uräther,  Leipzig  1921.  Dann  E.  Gehrcke,  Die  Relativitäts- 
theorie eine  wissenschaftliche  Massensuggestion.  Berlin  1920. 
Verlag  K.  F.  Köhler-Leipzig  und  E.  Wiechert,  Der  .\lher 
im  Weltbild  der  Physik  usw.  Gott.  Nachr.  1021,  S.  29 — 70, 
auch  Berlin   1921. 


das  Licht  nicht  als  einen  Massenpunkt  (Licht- 
quantum r)  behandeln.  Dies  scheint  mir  nicht  an- 
nehmbar, da  das  Licht  auch  Energie  besitzt  und 
deshalb  müssen  wir  ihm  notwendig  eine  Masse 
zuschreiben.  Wenn  aber  die  genannten  Effekte 
wirklich  vorhanden  sind,  ist  noch  immer  kein 
Grund  dafür,  daß  wir  den  Boden  der  Newton- 
schen Physik  verlassen  und  die  Relativitätstheorie 
als  eine  neue  Weltanschauung  akzeptieren  ')  und 
zwar  aus  Gründen,  welche  wir  jetzt  näher  be- 
trachten werden. 

7.  Die  Grundlagen,  auf  denen  die  Relativitäts- 
theorie gebaut  ist,  sind  noch  nicht  ganz  geklärt 
und  gefestigt  —  wie  dies  unlängst  sehr  schön 
H.  Dingler"^)  gezeigt  hat.  Die  Theorie  führt 
auch  zu  Folgerungen,  welche  ein  Naturforscher 
nicht  ohne  ernstliche  Bedenken  und  Zweifel  ak- 
zeptieren kann.  ■')  Dazu  kommt  auch  die  Tat- 
sache, daß  auch  zwischen  Relativitätstheoretikern 
verschiedene  Ansichten  herrschen.'') 

Auch  meiner  Meinung  nach  ist  die  Gravitation 
eine  der  Materie  innewohnende  Kraft,  ^)  ihre 
Wirkung  äußert  sich  in  der  Erteilung  der  Be- 
schleunigung. Herr  Einstein  hat  den  umge- 
kehrten Weg  eingeschlagen :  mittels  der  Beschleu- 
nigung wollte  er  die  Gravitation  erklären.  Die 
Ursache  und  die  Folgerung  (Wirkung)  haben  ihre 
Rollen  gewechselt.  Mir  scheint  es,  daß  Herrn 
Einstein  nur  gelungen  sei,  von  mathematischer 
Seite  die  Gleichwertigkeit  der  Beschleunigung  und 

')  Es  ist  schon  lange  Zeit  meine  Ansicht,  daß  die  Rela- 
tivitätstheorie sich  zu  keiner  neuen  Weltanschauung  erheben 
kann.  In  neuester  Zeit  hat  dies  —  in  einer  kinetischen 
Theorie  des  Äthers  —  sehr  schön  O.  Wiener  gezeigt  (,,Das 
Grundgesetz  der  Natur  und  die  Erhaltung  der  absoluten  Ge- 
schwindigkeiten im  .\ther".  Abh.  d.  mat.-phys.  Kl.  d.  sächs. 
Akad.   d.   Wiss.  Bd.  XXXVIII,  Nr.  IV,  Leipzig   192 1). 

2)  H.  Dingler,  Physik.  ZS.  1920,  S.  668^674;  dann 
,, Physik  und  Hypothese.  Versuch  einer  induktiven  Wissen- 
schaftslehre nebst  einer  kritischen  Analyse  der  Fundamente 
der  Relativitätstheorie".     Berlin  u.  Leipzig  192  t. 

")  Vgl.  z.  B. :  P.  Lenard,  1.  c. ;  E.  Gehrcke,  1.  c, 
H.  Dingler,  1.  c.  und  G.  Mie,  Die  Einsteinsche  Gravitations- 
theorie. S.  62  u.  ff.  Leipzig  1921.  —  Bei  dieser  Gelegenheit  bin 
ich  gezwungen  noch  ein  Beispiel  anzuführen:  Wenn  ich  einen 
kleinen  Kreisel  mit  meinen  Fingein  in  die  Rotation  einsetze, 
dann  sind  von  dem  Standpunkte  der  allgemeinen  Relativitäts- 
theorie folgende  zwei  Annahmen  vollkommen  gleichbe- 
rechtigt, und  zwar  I.  der  Kreisel  rotiere  in  der  „ruhenden" 
Welt,  und  2.  die  ganze  Welt  rotiere  um  den  ,, ruhenden" 
Kreisel.  Wenn  die  zweite  Annahme  zulässig  wäre,  müßten 
wir  annehmen,  daß  ich  mit  meinen  Fingern  die  ganze  Welt 
in  die  Bewegung  um  den  „ruhenden"  Kreisel  gesetzt  habe, 
und  dies  ist  doch  unsinnig '.  Die  beiden  Annahmen  sind 
nicht  mal  von  rein  mathematischem  Standpunkte  gleichbe- 
rechtigt; von  dem  physikalischen  Standpunkte  also  noch 
weniger.  Wir  müssen  froh  sein,  daß  in  der  Zeit  des  Ptole- 
mäus  die  moderne  Vektor-  und  Tensoranalysis  unbekannt 
war,  sonst  hätte  Kopernikus  sicher  nicht  so  viel  Glück 
gehabt. 

*)  Vgl.  z.  B.  H.  Weyl:  Raum  -  Zeit  -  Materie.  3.  Aufl. 
Berlin  1920;  dann  „Elektrizität  und  Gravitation".  Physik. 
ZS.   1920,  S.  649—651. 

■')  E.  Reichenbächer,  Inwiefern  läßt  sich  die  mo- 
derne Gravitationstheorie  ohne  die  Relativität  begründen^  Die 
Naturwiss.  1920,  S.  looS.  —  In  der  zitierten  Arbeit  hat  dies 
sehr  elegant  O.  Wiener  gezeigt;  nach  seiner  groß  ange- 
legten .Ätherphysik  sollte  sich  die  Gravitation,  welche  eine 
Nahwirkung  ist,  unendlich  rasch  ausbreiten. 


I 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


739 


Gravitation  zu  zeigen.')  Das  allgemeine 
Relativitätsprinzip  hat  vielleicht  nur 
einen  heuristischen  Wert.  Hier  nützt  es 
nichts,  wenn  Herr  Einstein  daraufhinweist,'-) 
daß  kein  Gegensatz  zwischen  Theorie  und  Experi- 
ment besteht  (was  noch  sehr  fraglich  ist).  Wenn 
die  Einst  ein  sehe  Theorie  konsequent  wäre,  so 
müßte  sie  nicht  nur  die  Gravitationskräfte,  son- 
dern auch  die  elektrischen  Kräfte  durch  Bewegung 
„erklären"  und  ableiten.  Dies  wird  ihr  nie  ge- 
lingen und  zwar  aus  den  Gründen,  welche  ich 
an  anderem  Orte  betrachten  werde,  wo  ich  auch 
meine  Stellung  zur  Relativitätstheorie  näher  aus- 
führen werde. 

8.  Zum  Schlüsse  muß  ich  aufmerksam  machen, 
daß  auch  die  s  p  e  z  i  e  1 1  e  Relativitätstheorie  nicht 
so  geklärt  und  gefestigt  ist,  wie  dies  fast  allge- 
mein genommen  wird.  In  einem  Vortrage  sagt 
Herr  H.  Dingler:'')  „Da  jenes  völlige  Chaos 
der  Prinzipien  besteht,  so  ist  es  kühnen,  jugend- 
lichen Stürmern  unbenommen,  noch  ganz  andere 
Mechaniken  und  Physiken  aufzustellen.  Es  ist  da 
gar  keine  Grenze  .  .  ."  Vor  einigen  Jahren  habe 
ich  einen  solchen  Versuch  gemacht*)  und  gezeigt,^) 
daß  allgemein  unendlich  viele  spezielle  Relativi- 
tätstheorien möglich  sind.  In  der  Wirklichkeit 
kann  nur  eine  einzige  Mechanik  bestehen  I  Neuer- 
dings hat  Herr  Fr.  .Adler")  einen  ähnlichen 
Weg  eingeschlagen.  Seine  Ausführungen  stimmen 
in  vielen  Punkten  mit  meinen  Untersuchungen 
haargenau  überein ,  obwohl  ihm  meine  Unter- 
suchung unbekannt  war.  Es  ist  aber  ein  großes 
Verdienst,  daß  Herr  Adler  ganz  exakt  gezeigt 
hat,  daß  es  auch  in  der  Einst  einschen  Theorie 
ausgezeichnete  Koordinatensysteme  gibt,  und  daß 
die  spezielle  Relativitätstheorie  mit  einer  Annahme, 
des    Äthers  verträglich  ist.      Hier   muß    ich    noch 


')  Die  bekannten  Experimente  von  R.  v.  Eötvös 
sprechen  für  die  Einstein  sehe  Physik  gerade  so,  wie  für 
die  Newtonsche.  —  Anm.  b.  d.  Korr.;  Auf  Grund  dieser 
Annahme  ist  es  mir  gelungen  eine  äußerst  einfache  und  durch- 
sichtige Theorie  der  Gravitation  aufzustellen,  ohne  den  Zeit- 
begriff relativisieren  zu  brauchen. 

■^)  Physik.  ZS.   1920,  S.  667. 

3)  H.  Dingler,  Physik.  ZS.  1920,  S.  674 

^j  S.  Mohorovitic,  Über  die  räumliche  und  zeitliche 
Translation.  I — II.  Bullet.  H.  6/7  und  H.  9/10  d  südslaw. 
Akad.  d.  Wiss.     Zagreb   1916/17   und    1917/18. 

^)  II.  Teil,  S.  31—32. 

*}  Fr.  Adler,  Ortszeit-Systenzeit-Zonenzeit  usw.  Wien 
1920.  Siehe  auch  die  Besprechung  von  M.  Abraham  in 
Physik.  ZS.   1921,  S.  414 — 415. 


auf  die  ausgezeichneten  Untersuchungen  von  Ed. 
Guillaume')  aufmerksam  machen,  welcher  ge- 
zeigt hat,  wie  die  Lo  r  e  n  t  z  sehen  Transformationen 
zu  deuten  sind,  damit  die  Galil  eischen  Trans- 
formationsgleichungen zulässig  sind.  Er  setzt 
voraus  „die  Zeit  sei  ein  einfacher  Begriff,  daß 
es  aber  unendlich  viele  Arten  gibt,  dieselbe  aus- 
zudrücken". Die  Einst  ein  sehe  Signalisierung 
ist  nur  eine  Interpretation  der  Lorentzschen 
Transformationsgleichungen,  worauf  ich ")  bereits 
vor  fünf  Jahren  aufmerksam  gemacht  habe. 

9.  Aus  unseren  Ausführungen  folgt,  daß  noch 
weitere  theoretische  und  experimentelle  Unter- 
suchungen nötig  sind  ehe  wir  den  Boden  der  alten 
Physik  verlassen.  Zwischen  der  alten  und  der 
neuen  Physik  ist  beiläufig  folgender  Unterschied : 
Newton  hat  ein  großes  und  mächtiges  Gebäude 
aufgebaut,  welches  in  seinem  Inneren  vollkommen 
ausgebaut  ist,  nur  die  Fassade  ist  noch  nicht  in 
vollkommenster  Ordnung.  Dagegen  besteht  das 
Einsteinsche  Gebäude  nur  aus  vier  Wänden 
(welche  auf  schwachen  Fundamenten  ruhen)  mit 
einer  wunderschönen  Fassade  (dazu  haben  die 
hervorragendsten  Mathematiker  beigeholfen  ^)),  aber 
drinnen  ist  das  Gebäude  noch  ganz  leer.  Herr 
Einstein  und  seine  Gehilfen  dürfen  sich  nicht 
wundern,  wenn  wir  uns  nicht  trauen,  in  dieses 
Gebäude  einzutreten  aus  Angst,  daß  diese  vier 
sehr  hohen  Wände  uns  bei  der  ersten  größeren 
Erschütterung  begraben  könnten.'')  Lassen  Sie 
uns  dieses  Gebäude  vorläufig  nur  von  draußen 
bewundern  1 

10.  Zusammenfassung.  In  dieser  Mit- 
teilung ^)  wird  gezeigt,  daß  man  zu  den  meisten 
Folgerungen  der  Relativitätstheorie  auch  auf  Grund 
der  Newtonschen  Auffassung  gelangen  kann. 
Zum  Schlüsse  werden  die  Grundlagen,  auf  denen 
die  Relativitätstheorie  aufgebaut  ist,  nur  ganz  kurz 
gestreift. 


')  1.  c. 

«)  1.  c.  I.  Teil,  S.  48. 

^)  R.  Mewes  hält  es  deshalb  in  mathematischer  Hin- 
sicht für  „Bluff"  (Gesammelte  Arbeiten.  I.  Abt.,  Heft  4,  I.  T. 
Berlin   1921. 

■*)  Der  einzige  Einwand,  den  uns  die  Relativitätstheoretiker 
vorwerfen,  ist,  daß  wir  die  Relativitätstheorie  nicht  verstehen. 
Ich  persönlich  verstehe  nur  nicht,  was  an  den  Grundlagen  der 
Relativitätstheorie  so  schwer  zu  verstehen  wäre  ? 

'')  Diese  Mitteilung  lag  schon  in  April  d.  J.  druckfertig; 
jetzt  wurde  sie  etwas  ergänzt.  —  Zagreb  (Jugoslawien),  April- 
Oktober   1921. 


Zur  Metamorphose  der  Pflanzen. 


[Nachdruck  verboten.] 

Aus  Adolph  Hansens  nachgelassenen  Schriften 
ist  in  dieser  Zeitschrift  (1921,  Nr.  i)  ein  Aufsatz 
„Zur  Metamorphosenlehre"  veröffentlicht  worden, 
in  dem  die  Frage  behandelt  wird,  ob  eine  reelle 
Metamorphose  des  Blattes  anzunehmen  ist  oder 
ob    unter    Metamorphose    nur    die    Verschieden- 


Von  M.  Möbius. 


artigkeit  der  Erscheinung  des  ideellen  Blattes  zu 
verstehen  ist.  Hansen  verteidigt  den  ersteren 
Standpunkt,  den  er  auch  in  seinem  Buche  von 
1919  über  Goethes  Morphologie  eingenommen 
hatte,  gegen  einen  ,, befreundeten  ß'otaniker",  der 
ihm    geschrieben    hatte,    er   könne    seine    Ansicht 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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nicht  teilen.  Ich  habe  allen  Grund,  zu  vermuten, 
daß  ein  Brief  von  mir  gemeint  ist,,  und  glaube 
deshalb,  meine  Ansicht  auch  an  dieser  Stelle  be- 
gründen zu  müssen,  obwohl  unser  Hansen  leider 
nicht  mehr  am  Leben  ist.  Es  scheint  mir  aber 
eine  Frage  von  allgemeinem  Interesse  zu  sein,  über 
die  man  sich  klar  werden  muß.  Hansen  sagt 
ganz  deutlich,  daß  ein  Staubblatt  eigentlich  in  der 
Anlage  ein  Laubblatt  sei  und  erst  durch  die 
Metamorphose  die  Eigenschaften  erhält,  die  es 
zum  Staubblatt  machen,  und  beruft  sich  dabei  auf 
Goethe,  Goebel  und  andere  Botaniker,  von 
denen  er  besonders  Fit ting  (in  Strasburgers 
Lehrbuch,  13.  Aufl.  S.  169)  nennt.  Hier  ist  aber 
zweimal  von  „umgewandelten"  Blättern  die  Rede, 
wobei  die  Gänsefüßchen  nach  meiner  Auffassung 
nur  bedeuten  können,  daß  es  sich  nicht  um  eine 
wirkliche  Umwandlung  handelt.  Fitting  sagt 
sogar  selbst:  „Alle  diese  Umwandlungen  und 
Weiterbildungen  von  Organen  haben  offenbar 
während  der  phylogenetischen  Entwicklung  statt- 
gefunden." Damit  bin  ich  vollkommen  einver- 
standen, aber  es  handelt  sich  hier  nicht  um  diese, 
sondern  um  die  ontogenetische.  Wenn  man  mit 
Hansen  eine  reale  Metamorphose  annimmt,  so 
ist  die  Anlage  etwas  anderes  als  das  fertige  Organ. 
Goebel  jedoch  erklärt  die  reale  Metamorphose 
folgendermaßen:  „Ein  Laubblatt  wird  zum  Laub- 
blatt nicht  erst  im  letzten  Stadium  seiner  Ent- 
wicklung, die  Beschaffenheit  der  Anlagen  —  mögen 
wir  diese  nun  im  Vorhandensein  bestimmter  Stoffe 
oder  einer  bestimmten  Struktur  suchen  —  be- 
dingt die  Entwicklung."  Was  vom  Laubblatt  gilt, 
muß  aber  auch  von  einem  anderen  Blatt  gelten, 
also  auch  vom  Staubblatt.  Meiner  Ansicht  nach 
ist  der  Höcker  von  embryonalem  Gewebe,  aus 
dem  bei  normaler  Entwicklung  ein  Staubblatt  ent- 
steht, eine  Staubblattanlage,  was  einerseits  aus 
ihrer  Stellung,  andererseits  aus  ihrer  Form  hervor- 
geht. Anlagen,  die  bei  der  Blütenbildung  inner- 
halb der  Kronblattanlagen  auftreten,  sind  (bei 
Gentiana  z.  B.)  Staubblattanlagen,  nicht  Laubblatt- 
anlagen, die  zu  Staubgefäßen  metamorphosiert 
werden.  Was  die  Form  betrifft,  so  pflegen  gerade 
die  Staubgefäße  schon  in  der  ersten  Anlage  als 
solche  kenntlich  zu  sein,  weil  sie  in  viel  mehr 
abgerundeter  Form  als  Kelch-  und  Kronblatt- 
anlagen auftreten,  als  fast  halbkugelige  Höcker,  die 
dann  etwa  zapfenförmig  emporwachsen  und  sehr 
bald  die  Differenzierung  in  Staubfaden  und 
Anthere  zeigen. 

Gesetzt  nun,  es  wäre  die  Anlage  indifferent, 
was  Goebel  als  Differenzierungstheorie  bezeichnet, 
wann  sollte  dann  bestimmt  werden,  was  aus  ihr 
wird,  und  wer  bestimmt  es?  Bestimmend  ist  in 
erster  Linie  der  Ort,  wie  wir  eben  gesehen  haben, 
der  ist  aber  von  Anfang  an  gegeben.  Also  nicht, 
daß  sich  da,  wo  ein  Staubblatt  zu  erwarten  ist, 
aus  einer  Anlage  ein  solches  bildet,  ist  durch 
Metamorphose  zu  erklären,  sondern  wenn  sich 
aus  ihr  etwas  anderes  entwickelt.  Hansen  hat 
nämlich  ganz  recht,   wenn  er  sagt,    daß   es  nicht 


eine  von  Anfang  an  unveränderliche  Staubblatt- 
anlage gibt,  sondern  das  andere  Entwicklungs- 
möglichkeiten darin  verborgen  sind.  Aber,  füge 
ich  hinzu,  wenn  eine  andere  Entwicklung  erfolgen 
soll,  dann  muß  ein  besonderer  Reiz  hinzukommen, 
den  wir  freilich  nicht  immer  mit  Sicherheit  be- 
zeichnen können,  wie  bei  Füllung  der  Blumen  und 
anderen  Abnormitäten.  In  anderen  Fällen  kennen 
wir  den  Reiz  und  seine  Wirkungsweise,  wie  bei 
der  Gallenbildung. 

Wenn  wir  sagen,  daß  der  Ort  der  Anlage  den 
Charakter  derselben  bestimme,  so  können  wir 
uns  das  vielleicht  dadurch  erklären,  daß  von  den 
früheren  Anlagen  ein  Reiz  etwa  chemischer  Natur 
auf  die  über  ihnen  befindlichen  Teile  des  meri- 
stematischen  Gewebes  ausgeübt  werde.  Das  käme 
ungefähr  auf  dasselbe  hinaus,  was  Goethe  über 
die  Ursache  der  Metamorphose  gesagt  hat,  das 
nämlich  die  Veränderung  der  Säfte  einmal  zu  einer 
Ausdehnung  und  einmal  zu  einer  Zusammen- 
ziehung führe.  Offenbar  würde  es  sich  aber  auch 
dabei  nicht  um  eine  wirkliche  und  nachträgliche 
Metamorphose  der  Anlagen  handeln,  sondern  man 
müßte  es  sich  so  vorstellen,  daß  unter  dem  Ein- 
fluß der  Kelchblätter  und  der  durch  sie  veränderten 
Säfte  gleich  andere  Anlagen,  nämlich  statt  wieder 
Kelch-  nun  Kronblattanlagen  entstehen,  und  daß 
weiter  die  Entwicklung  der  Kronblätter  bewirke, 
daß  nach  und  über  ihnen  gleich  Staubblatt- 
anlagen gebildet  werden.  Es  scheint  mir  demnach, 
daß  man  auch  durch  die  Goethesche  Er- 
klärung der  Metamorphose  nicht  zu  der  Annahme 
gezwungen  ist,  der  Dichter  habe  an  eine  reale 
Metamorphose  gedacht.  Außerdem  ist  der  Ver- 
such, die  Sache  physiologisch  zu  erklären,  von 
Goethe  doch  erst  nachträglich  gemacht  worden, 
nachdem  er  die  Homologie  der  Blattorgane  be- 
reits erkannt  hatte. 

Hansen  sagt  nun,  daß  bei  den  Vegetations- 
organen der  Vorgang  der  Metamorphose  wirklich 
zu  sehen  sei,  und  führt  als  Beispiele  an:  Ranken, 
Kartoffeln,  Orchisknollen  und  Würzelknollen. 
Damit  scheint  mir  aber  keineswegs  bewiesen,  das 
nun  etwa  die  Ranke  in  der  Anlage  noch  keine 
Ranke  war,  sondern  man  kann  höchstens  sagen, 
daß  die  Anlage  einer  Ranke  von  der  eines  Blattes 
in  dem  jüngsten  Stadium  nicht  zu  unterscheiden 
ist.  Denken  wir  etwa  an  Lathyrus  aphaca,  so 
bezeichnen  wir  die  Ranke  nicht  deswegen  als 
metamorphosiertes  Blatt,  weil  ihre  Anlage  eine 
Blattanlage  war,  sondern  weil  sie  an  der  Stelle 
entsteht,  wo  sich  sonst  ein  Laubblatt  findet:  seit- 
lich am  Stengel  zwischen  zwei  Nebenblättern. 
Wir  werden  deshalb  auch  annehmen  dürfen,  daß 
die  Stammform  von  Lathyrus  aphaca  da,  wo  bei 
dieser  Art  eine  Ranke  sitzt,  ein  richtiges  grünes 
Blatt  gesessen  hat.  Wir  können  dies  auch  so 
ausdrücken,  daß  wir  sagen,  die  Ranke  von  Lythyrus 
und  das  gewöhnliche  Laubblatt  sind  homologe 
Gebilde,  obwohl  sie  verschiedene  Funktionen  über- 
nommen haben,  also  nicht  mehr  analog  sind.  Im 
Laufe   der    phylogenetischen   Entwicklung    haben 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


741 


eben  homologe  Organe  vielfach  ganz  verschiedene 
Funktionen  übernommen  und  sind  dadurch  zu 
ungleichen  Organen  und  unähnlichen  Gebilden  ge- 
worden. 

Im  Anfang  bildete  sich  zuerst  das  Laubblatt 
aus,  bei  Moosen  oder  schon  bei  einigen  Algen 
(Sargassum),  und  seine  wesentliche  Funktion  war 
die  Assimilation  (Photosynthese).  Dann  übernahm 
es  auch  andere  Funktionen,  wurde  zu  Sporophyllen, 
Schutz-  und  Schauapparaten  der  Blüte,  zu  Ranken, 
Dornen  u.  dgl.  Die  Metamorphose  ist  eben 
Funktionsänderung,  die  eine  Änderung  im  äußeren 
und  inneren  Bau  hervorruft.  Worauf  diese  be- 
ruht, haben  wir  hier  nicht  zu  untersuchen,  sondern 
nur  zu  konstatieren,  daß  Organe  von  verschiedener 
Funktion  und  verschiedenem  Aussehen  doch  mor- 
phologisch gleichwertig  sein  können,  weil  sie  an 
entsprechenden  Stellen  und  in  ähnlicher  Weise 
angelegt  werden  und  sich  im  Wachstum  ähnlich 
verhalten.  Wir  wählen  dann  als  allgemeinen 
Namen  für  die  morphologisch  gleichwertigen  Organe 
denjenigen,  mitdemdieam  häufigsten  vorkommende 
Form  bezeichnet  zu  werden  pflegt :  Blatt,  Stamm, 
Wurzel. 

Unter  Blatt  verstehen  wir  im  gewöhnlichen 
Leben  das  flache  grüne  Laubblatt,  und  wenn  wir 
in  der  botanischen  Morphologie  erfahren,  daß  auch 
Kelch-,  Krön-  und  Staubblätter,  gewisse  Früchte, 
Ranken,  Schläuche  u.  a.  nichts  anderes  als  „Blätter" 
sind,  so  heißt  das  nicht,  ein  grünes  Laubblatt  hat 
sich  im  Laufe  seiner  ontogenetischen  Entwicklung 
in  eins  der  genannten  Organe  umgewandelt,  sondern 
wir  erweitern  den  Begriff  Blatt  auf  alle  Organe, 
die  nach  dem  Ort,  der  Anlage  und  der  Art  des 
Wachstums  mit  dem  grünen  Laubblatt  überein- 
stimmen, obwohl  sie  eine  andere  Funktion  und 
andere  Gestalt  besitzen.  Wenn  wir  somit  dazu 
gelangen,  an  der  Pflanze  nur  die  oben  genannten 
Organe:  Blatt,  Stamm  und  Wurzel  zu  unterscheiden, 
so  ist  das  ein  Erkenntnisgewinn,  wie  jede  begriff- 
liche Zusammenfassung,  und  zwar  deswegen,  weil 
der  Begriff  einer  Anschauung  entspricht.  Mit  dem 
Begriff  Blatt  verbinden  wir  eine  gewisse  An- 
schauung, und  deshalb  erfahren  wir  etwas  Neues, 
wenn  wir  lernen,  daß  ein  Staubblatt,  eine  Ranke, 
eine  Knospenschuppe  nichts  als  ein  Blatt  ist. 
Würden  wir  diese  Dinge  nur  unter  dem  Begriff 
Pflanzenteil  oder  gar  Naturkörper  zusammenfassen, 
so  wäre  damit  nichts  gewonnen,  weil  wir  das 
von  vornherein  wissen  und  weil  mit  einem  so 
weiten  Begriff  keine  Anschauung  verbunden  ist. 
Das  ist  die  Bedeutung  der  Morphologie,  der  Wissen- 
schaft, die  Goethe  mit  seiner  Darstellung  der 
Pflanzenmetamorphose  begründet  hat.  Das  war 
es  ja  gerade,  worauf  Goethe  zielte,  sein  Be- 
streben war,  wie  er  selbst  sagt,  auf  Vereinfachung 
und  Zusammenfassung  gerichtet :  „das,  was  L  i  n  n  e 
in  scharfer  und  geistreicher  Weise  auseinander  zu 
halten  suchte,  mußte  nach  dem  innersten  Bedürf- 
nis seines  Wesens  zur  Vereinigung  anstreben". 
Dabei  war  ihm  aufgegangen,  „daß  in  demjenigen 
Organ,   welches   wir   als   Blatt   gewöhnlich   anzu- 


sprechen pflegen,  der  wahre  Proteus  verborgen 
liege,  der  sich  in  allen  Gestalten  verstecken  und 
offenbaren  könnte".  Daß  Goethe  dieselbe  Auf- 
fassung von  der  Metamorphose  hatte,  wie  sie  oben 
vorgetragen  wurde,  zeigt  uns  ferner  ganz  deutlich 
der  §  120  seines  „Versuchs":  „Es  versteht  sich  hier 
von  selbst,  daß  wir  ein  allgemeines  Wort  haben 
müssen,  wodurch  wir  dieses  in  so  verschiedenen 
Gestalten  metamorphosierte  Organ  bezeichnen  und 
alle  Erscheinungen  seiner  Gestalt  damit  vergleichen 
könnten,  gegenwärtig  müssen  wir  uns  damit  be- 
gnügen, daß  wir  uns  gewöhnen,  die  Erscheinungen 
vor-  und  rückwärts  gegeneinander  zu  halten.  Denn 
wir  können  ebensogut  sagen,  ein  Staubwerkzeug 
sei  ein  zusammengezogenes  Blumenblatt,  als  wir 
von  dem  Blumenblatt  sagen  können,  es  sei  ein 
Staubgefäß  im  Zustande  der  Ausdehnung,  ein  Kelch- 
blatt sei  ein  zusaminengezogenes,  einem  gewissen 
Grad  der  Verfeinerung  sich  näherndes  Stengel- 
blatt, als  wir  von  einem  Stengelblatt  sagen  können, 
es  sei  ein  durch  Zudringen  roher  Säfte  ausge- 
dehntes Kelchblatt."  Ebenso  deutlich  spricht 
Goethe  seine  Auffassung  aus  in  der  1817  ver- 
öffentlichten Schrift  über  IBildung  und  Umbildung 
organischer  Naturen,  worin  es  heißt:  „Daß  nun 
das,  was  der  Idee  nach  gleich  ist,  in  der  Er- 
fahrung entweder  als  gleich  oder  als  ähnlich,  ja 
sogar  als  völlig  ungleich  und  unähnlich  erscheinen 
kann,  darin  besteht  eigentlich  das  bewegliche  Leben 
der  Natur,  das  wir  in  diesen  Blättern  zu  entwerfen 
gedenken."  Ferner:  „Wollen  wir  also  eine  Morpho- 
logie einleiten,  so  dürfen  wir  nicht  von  Gestalt 
sprechen,  sondern,  wenn  wir  das  Wort  brauchen, 
uns  allenfalls  dabei  nur  die  Idee,  den  Begriff  oder 
ein  in  der  Erfahrung  nur  für  den  Augenblick 
Festgehaltenes  denken."  Es  ist  bekannt,  wie  übel 
Goethe  es  Schillern  genommen  hat,  als  er  ihm 
mit  wenigen  raschen  Strichen  die  Metamorphose 
der  Pflanze  auf  dem  Papier  entwarf  und  von  jenem 
die  Antwort  bekam :  „das  ist  keine  Erfahrung,  das 
ist  eine  Idee".  Es  ist  aber  nicht  abzuleugnen,  daß 
Goethe  später  die  Berechtigung  von  Schillers 
Ausspruch  anerkannt  hat,  „als  sich  im  Verfolg 
eines  zehnjährigen  Umgangs  mit  Schiller  die 
philosophischen  Anlagen,  inwiefern  sie  seine  Natur 
enthielt,  nach  und  nach  entwickelten".  Nun  ver- 
stehen wir  auch,  worin  der  große  Fortschritt  liegt, 
den  Goethe  machte,  als  er  von  dem  Suchen 
nach  der  Urpflanze  abließ  und  das  Blatt  als  Grund- 
organ der  Pflanze  aufstellte,  denn  die  Urpflanze 
war  kein  Begriff,  dem  eine  Anschauung  entsprach, 
wohl  aber  tat  dies  der  Begriff  Blatt.  In  diesem 
Sinne  heißt  es  in  einem  nicht  abgesandten,  aber 
in  der  Sophienausgabe  (27.  Brielband,  Nr.  7486) 
abgedruckten  Briefe  anNees  von  Esenbeck 
(von  Mitte  August  18 16?).  „In  den  Tagebüchern 
meiner  italienischen  Reise,  an  welchen  jetzt  ge- 
druckt wird,  werden  sie  nicht  ohne  Lächeln  be- 
merken, auf  welchen  seltsamen  Wegen  ich  der 
vegetabilischen  Umwandlung  nachgegangen  bin 
ich  suchte  damals  die  Urpflanze,  bewußtlos,  daß 
ich  die  Idee,  den  Begriff  suchte,    wonach  wir   .sie 


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Naturwissenschaftirche  Wochenschrift. 


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uns  ausbilden  könnten."  Und  in  einem  erst  1904 
bekannt  gewordenen  Entwurf  zu  Goethes  Ge- 
schichte seines  botanischen  Studiums  heißt  es: 
„In  Sizilien,  umgeben  von  einer  ganz  neuen  Pflanzen- 
welt, aufmerksam  auf  neue  Gestalten,  erhob  ich 
mich  von  dem  beschränkten  Begriff  einer  Ur- 
pflanze  zum  Begriff,  und  wenn  man  will,  zur  Idee 
einer  gesetzlichen,  gleichmäßigen,  wenn  schon 
nicht  gleichgestalteten  Bildung  und  Umbildung  des 
Pflanzenlebens  von  der  Wurzel  bis  zum  Samen." 
In  diesem  Punkte  scheint  mir  Goethe  viel 
konsequenter  in  seiner  Anschauung  geblieben  zu 
sein  als  in  Beziehung  auf  phylogenetische  Ab- 
leitung. Die  Äußerungen,  die  er  über  die  letztere 
getan  hat,  können  zum  Teil  verschieden  aufgefaßt 


werden,  und  Goethes  eigentliche  Ansicht  ist 
nicht  so  leicht  zu  durchschauen.  Goethe  hat 
fünfzig  Jahre  lang  Botanik  getrieben  und  müßte 
kein  wahrer  Forscher  gewesen  sein,  wenn  er  immer 
dieselbe  Ansicht  von  der  Entwicklung  der  Pflanzen 
behalten  hätte.  Nach  genauer  Prüfung  aller  seiner 
Äußerungen  über  die  Blattorgane  bin  ich  aber 
doch  zu  der  Überzeugung  gekommen,  daß  er 
damit  sagen  wollte:  die  Bezeichnung  „Blatt"  ent- 
spricht dem  Gesamtbegriff  für  eine  Anzahl  bisher 
als  eigenartig  unterschiedener  Organe,  daß  er 
damit  der  Trennung  eine  Einigung  entgegensetzen 
wollte.  Wir  aber  können  und  dürfen  die  Sache 
auch  nicht  anders  auffassen. 


[Nachdruck  verbotec] 


Besitzt  ein  Vogel  Einsicht  iu  kausale  Zusannnenhäuge  J 

Von  Prof.  J.  Reinke  (Kiel). 
Mit   I   Abbildung. 


Vor  12  Jahren  erwarb  ich  aus  einer  Vogel- 
handlung in  Kiel  einen  kleinen  Papagei,  etwa  von 
der  Größe  einer  Drossel.  Der  Vogel  war  an- 
geblich von  einem  Matrosen  aus  Südamerika  mit- 
gebracht worden.  Sein  Gefieder  ist  schön  ge- 
färbt: der  Rücken  grün  bis  in  den  Hals  hinauf, 
ebenso  die  Oberseite  der  Flügel;  die  Schwanz- 
federn teilweise  schwärzlich;  die  Brust  orange; 
Bauch  und  Unterseite  der  Flügel  hellgelb;  am 
Halse  schließt  sich  die  grüne  Färbung  auch  ober- 
halb der  Brust  ringförmig  zusammen ;  der  Kopf 
unterhalb  der  Augen  hellgrau,  oberhalb  dunkel- 
grau ;  dies  Dunkelgrau  des  Kopfes  grenzt  wie  eine 
Kapuze  an  das  grüne  Kolorit  des  Halses.  Die 
bei  Brehm  verglichenen  Beschreibungen  ließen 
mich  den  Vogel  als  Mönchssittich  bestimmen.  Er 
mag  im  folgenden  kurz  als  Sittich  bezeichnet  sein. 

Der  Vogel  wurde  zunächst  in  einen  großen 
Singvogelkäfig  getan,  in  dem  sich  in  verschiedener 
Höhe  zahlreiche  Querstangen  befanden,  auf  denen 
er  bald  umherkletterte.  Abends  suchte  er  die 
höchstgelegene  Stange  auf,  um  auf  ihr  zu  nächtigen. 
Ich  deutete  dies  dahin,  daß  er  seinem  Instinkt 
gemäß  die  höchst  gelegenen  Stellen  seines  Be- 
reichs aufsuche,  um  dort  vor  Feinden  geschützt 
zu  sein;  im  Urwalde  würden  es  die  höchsten 
Zweige  der  Bäume  sein.  Mit  dem  Licht  des 
neuen  Tages  begann  er  wieder,  sich  im  Käfig 
umher  zu  bewegen.  Von  Anfang  an  war  die 
Laune  des  Vogels  wechselnd:  bald  ließ  er  sich 
streicheln  und  hatte  dies  offenbar  gern,  dann 
wieder  hackte  er  nach  dem  Finger,  der  ihm  ge- 
nähert wurde.  Letzteres  hat  niemals  aufgehört, 
wenn  sein  Futter-  oder  Wassernapf  gewechselt 
wurde.  Anfangs  ließ  man  ihn  auch  dann  und 
wann  im  Zimmer  umherspazieren,  doch  da  der 
Hund  ihm  gefährlich  wurde,  ward  davon  Ab- 
stand genommen. 

Sittich  begann  bald,  die  Holzstangen  seines 
Käfigs   zu    zerknabbern.      Es    wurde   deshalb   ein 


aus  Drahtstäben,  die  oben  kuppelartig  konver- 
gierten ,  konstruierter  Papageienkäfig  angeschafft 
von  60  cm  Höhe  und  35  cm  Durchmesser  der 
kreisrunden  Basis,  in  dem  sich  außer  einer  einzigen 
in  20  cm  Höhe  angebrachten  hölzernen  Quer- 
stange noch  eine  Papageienschaukel  befand,  die 
aus  einem  Drahtbügel  und  einer  horizontalen 
Holzstange  bestand.  Ich  ersetzte  die  beiden 
Holzstangen  des  Käfigs  bald  durch  Stengelstücke 
der  im  Kieler  Botanischen  Garten  kultivierten 
Arundinaria  japonica,  deren  Zellgewebe  derart 
mit  Kieselsäure  imprägniert  ist,  daß  der  scharfe 
Schnabel  des  Tieres  ihm  nichts  anhaben  konnte. 
Anfangs  hatte  der  Sittich  Angst  vor  der  Schaukel, 
vermied  sie  und  kletterte  nur  an  den  Drahtstäben 
des  Käfigs  auf  und  ab,  während  er  auf  der 
unteren  (festen)  Querstange  nächtigte.  Dann 
verlor  er  seine  Scheu,  kletterte  auf  die  Schaukel 
und  fand  bald  Vergnügen  am  Schaukeln.  —  Nach 
einiger  Zeit  bemerkte  ich,  daß  die  Schaukel,  deren 
Querbalken  aus  Arundinaria  bestand,  mit  diesem 
Querbalken  abends  mit  den  Enden  zwischen  den 
Drahtstäben,  welche  die  Wand  des  Käfigs  bilden 
und  einem  in  40  cm  Höhe  über  dem  Boden  be- 
findlichen, die  Stäbe  verbindenden  Drahtring  ein- 
geklemmt war,  derart,  daß  die  Enden  des  Schaukel- 
stabes diesem  Drahtringe  auflagen.  Der  Sittich 
war  auf  den  Drahtbügel  der  Schaukel  bis  zu  dessen 
höchster  Stelle  hinaufgeklettert,  so  daß  er  mit 
dem  Rücken  die  Wölbung  des  Käfigs  berührte, 
und  hier  nächtigte  er  (s.  Abb.).  Am  nächsten 
Morgen  war  die  Schaukel  wieder  gelöst,  und  der 
Sittich  benutzte  sie  vielfach  zu  seiner  Unter- 
haltung, ohne  sie  bei  Tage  jemals  am  Drahtringe 
zu  befestigen. 

Fortan  wiederholte  sich  dies  Spiel  Tag  für 
Tag  die  langen  Jahre  hindurch.  An  jedem  Abende 
befestigte  der  Vogel  seine  Schaukel  in  der  an- 
gegebenen Weise,  kletterte  auf  den  Bügel  und 
brachte   hier   an   dessen   höchster  Stelle,   seltener 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


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etwas  tiefer,  die  Nacht  zu;  am  frühen  Morgen  war 
seine  erste  Handlung  nach  dem  Erwachen,  die 
Schaukel  zu  lösen,  so  daß  sie  den  Tag  über  frei 
schwebte.  Wenn  der  Sittich  ganz  oben  auf  dem 
Bügel  der  Schaukel  übernachtete,  deute  ich  dies 
wiederum  dahin,  daß  er  instinktiv  bei  der 
Nachtruhe  so  hoch  kletterte  wie  möglich. 

Es  gelang  bald ,  das  Verfahren  des  Vogels 
beim  Befestigen  und  beim  Lösen  der  Schaukel 
zu  beobachten.  Wollte  er  schlafen  gehen,  was 
meistens  geschah,  wenn  im  Zimmer  die  Lampe 
noch  brannte,  so  setzte  er  die  Schaukel  in  so 
starke  Bewegung,  daß  der  Querbalken,  auf  dem 
er  saß,  bis  gegen  die  Wand  des  Käfigs  flog.  Hier 
würde  die  Schaukel  indes  niemals  von  selbst  fest- 
geraten sein,  wenn  der  Sittich  nicht  einen  eigen- 
artigen,   man    könnte   sagen   genialen    Kunstgriff 


SiUich  in  Nachtstellung  auf  dem  Bügel  der  von  ihm  auf  King  j 

befestigten  Schaukel.     Meistens  klettert  er  noch  höher  hinauf, 

als  in  der  Skizze  wiedergegeben  wurde. 


angewandt  hätte.  Die  vertikalen  Drahtsläbe  des 
Käfigs  werden  durch  4  Drahtringe  miteinander 
verbunden,  deren  unterster  am  Boden,  deren 
zweiter  20  cm,  deren  dritter  40  cm,  deren  vierter 
und  oberster  53  cm  über  dem  Boden  des  Käfigs 
horizontal  verläuft.  An  dem  dritten  Drahtringe 
wurde,  wie  schon  mitgeteilt,  die  Schaukel  durch 
den  Vogel  befestigt,  und  zwar  so,  daß  die  Enden 
ihres  Querbalkens  auf  dem  Ringe  ruhten  und  sich 
zwischen  zwei  Vertikalstäbe  einschoben.  Wenn 
der  Sittich  die  Schaukel  in  dieser  Lage  befestigen 
will,  so  versetzt  er  sie  zunächst  in  starke  Schwin- 
gungen, wobei  er  sich  mit  dem  Schnabel  von 
einer   beliebigen  Stelle  der  Käfigstäbe  wiederholt 


abstößt.  Ist  dann  der  Balken  der  Schaukel  hier- 
bei bis  dicht  an  die  Wandung  des  Käfigs  heran- 
geschleudert, wobei  er  unmittelbar  unter  Quer- 
ring 3  zu  stehen  kommt,  so  reckt  der  Sittich  auf 
einmal  seinen  Hals  lang  aus,  hakt  den  Schnabel 
in  Querring  4  der  Käfigwand  und  hebt  gleich- 
zeitig ein  wenig  durch  Muskelkontraktion  der 
Beine  den  Balken  der  Schaukel,  so  daß  er  ober- 
halb von  Querring  4  des  Käfigs  zu  liegen  kommt 
und  mit  seinen  Enden  sich  zwischen  ein  Paar 
Längsdrähte  einschiebt.  Damit  ist  die  Schaukel 
völlig  befestigt,  und  der  Vogel  klettert  auf  ihren 
Bügel  bis  zum  Sitz  seiner  Nachtruhe  hinauf  Am 
nächsten  Morgen  —  ich  habe  es  oft  beobachtet, 
wenn  ich  die  Läden  des  Zimmers  öffnete  — 
macht  der  Sittich  seine  Schaukel  dadurch  wieder 
los,  daß  er  mit  dem  Schnabel  sich  am  oberen 
Teil  eines  Drahtes  festhält  und  mit  den  Klauen 
die  Schaukel  aus  ihrem  Lager  heraushebt. 

In  den  ersten  Jahren  hatte  ich  den  Eindruck, 
daß  die  beiden  Enden  des  Querbalkens  immer 
gleichzeitig  und  mit  einem  einzigen  Ruck  auf  den 
dritten  Querring  eingesetzt  wurden ;  zahlreiche 
Schwingungen  konnten  hierbei  mißlingen,  doch 
dauerten  die  vergeblichen  Versuche  stets  nur 
wenige  Minuten.  Später  gelang  es  dem  Vogel 
noch  rascher,  mit  völliger  Sicherheit,  die  Be- 
festigung zu  erreichen,  indem  er  das  eine  Ende 
des  Balkens  einen  Moment  früher  als  das  andere 
Ende  einsetzte;  die  ganze  Manipulation  verlief  fast 
blitzschnell. 

Ich  wiederhole,  daß  der  Vogel  diese  Handlung 
die  Jahre  hindurch  Tag  für  Tag  mit  völliger 
Regelmäßigkeit  ausgeübt  hat.  Ich  deute  als  Aus- 
wirkung des  Instinkts,  daß  er  so  hoch  oben 
im  Käfig  übernachtet,  wie  nur  immer  möglich 
ist,  obgleich  es  für  ihn  unbequemer  sein  muß, 
den  dünnen  Draht  der  Schaukel  zu  umklammern, 
als  wenn  er  auf  dem  unteren  dicken  Balken  des 
Käfigs  säße ;  dagegen  halte  ich  es  für  ein 
Zeichen  von  Einsicht,  von  Einsicht  in 
den  Zusammenhang  von  Ursache  und 
Wirkung,  wenn  der  Sittich  am  Abend  seine 
Schaukel  gewollt  durch  einen  Kunstgriff  befestigt 
und  am  anderen  Morgen  durch  einen  anderen 
Kunstgriff  gewollt  zum  Spiel  des  Tages  wieder 
löst.  Ich  zweifle  nicht  daran,  daß  er  die  Erfindung 
dieses  Verfahrens  einem  Zufall  verdankt;  sind 
doch  auch  die  meisten  Erfindungen  des  Menschen 
auf  einen  Zufall  zurückzuführen.  Daß  der  Vogel 
aber  alsbald  diesen  Zufall  auszunutzen  wußte,  um 
dem  Drange  seines  Instinkts  freie  Bahn  zu  schaffen, 
liahe  ich  für  Einsicht,  die  menschlicher  Einsicht 
verwandt  ist  trotz  aller  Verschiedenheit  im  Bau 
des  Großhirns  zwischen  Vogel  und  Mensch.  Der 
Sittich  hat  begriffen ,  daß  bei  Befestigung  der 
Schaukel  er  hoch  oben  im  Käfig  sitzen  kann ; 
er  hat  ferner  begriffen,  durch  welches  Zusammen- 
wirken des  Schnabels  und  der  Muskulatur  seiner 
Beine  die  Schaukel  gehoben  und  von  oben  her 
in  das  Befestigungslager  gebracht  werden  kann; 
er  hat  endlich  begriffen,    \yic  er  die  "Schaukel  für 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


deren  Tageszweck  wieder  zu  lösen  vermag.  Das 
sind  keine  instinktiven  Tätigkeiten,  und  ebenso- 
wenig kann  von  einer  Selbstdressur  des  Vogels 
die  Rede  sein,  sondern  das  ist  Einsicht.  Hinzu- 
gefügt sei  noch  folgendes.  Als  ich  eines  Abends 
zum  ersten  Male  die  Schaukel  festsitzen  sah, 
dachte  ich,  es  sei  das  zufällig  geschehen  und  löste 
sie  mit  der  Hand  wieder  aus.  Darauf  ein  heftiges 
Geschimpfe  des  Vogels  —  et-  versteht  tüchtig  zu 
zetern,  wenn  ihm  etwas  gegen  den  Strich  geht 
— •  und  alsbald  bewies  er,  daß  er  diese  Befestigung 
gewollt  habe,  indem  er  sie  erneuerte.  Vielleicht 
ist  auch  folgender  Zug  nicht  ohne  Interesse. 
Sittich  frißt  gerne  Kuchen,  sein  scharfes  Auge 
erkennt  es  sogleich,  wenn  ich  ein  Krümchen  da- 
von in  der  Hand  halte.  Er  bekommt  von  mir 
Leckerbissen  immer  nur  ausgehändigt,  wenn  er 
auf  der  unteren  festen  Querstange  des  Käfigs 
sitzt,  wohin  er  sich  aus  der  schwebenden  Schaukel 
oder  von  anderen  Teilen  des  Käfigs  her  begibt, 
sobald  ich  „komm"  rufe.  Saß  er  nun  schon  abends 
auf  dem  Bügel  der  befestigten  Schaukel,  schlief 
aber  noch  nicht,  und  ich  brachte  ihm  etwas 
Kuchen,  so  kletterte  er  herunter,  ohne  die 
Schaukel  erst  zu  lösen,  und  kletterte  nach 
Verzehren  des  Brockens  wieder  auf  seinen  Nacht- 
sitz hinauf. 

Ich  habe  den  Sittich  nunmehr  folgendem  Ex- 
periment unterworfen.  Er  wurde  aus  dem  Papa- 
geienkäfig wieder  in  den  Kanarienkäfig  gebracht 
und  hier  14  Tage  belassen.  Er  übernachtete  dort 
auf  einer  ganz  hohen  Stange,  die  für  ihn  neu 
eingeschoben  war.  Als  er  dann  in  den  Papageien- 
käfig zurückversetzt  wurde,  machte  er  gleich  am 
ersten  Abend  wieder  sein  Experiment  mit  der 
Schaukel;  er  hatte  also  seinen  Kunstgriff  nicht 
vergessen,  war  auch  in  Ausübung  desselben  so 
geschickt  geblieben  wie  vordem. 

Erst  in  diesem  Sommer  (192 1)  ist  der  Sittich 
von  seiner  Gewohnheit  abgewichen.  Mit  zuneh- 
mendem Alter  zeigt  er  manchmal  Erscheinungen 
von  Asthma.  Ein  solcher  Anfall  war  besonders 
heftig;  der  Vogel  saß  tagelang  keuchend  auf  dem 
Boden  des  Käfigs  und  fühlte  sich  offenbar  gar 
nicht  wohl.  In  diesen  Tagen  schaukelte  er  über- 
haupt nicht  und  übernachtete  auf  der  unteren 
festen  Querstange  des  Käfigs.  Auch  als  er  dann 
wieder  ganz  wohl  zu  sein  schien,  blieb  er  dabei, 
die  Nachtruhe  auf  der  unteren  Käfigstange  zu 
halten  und  sich  die  Mühe  mit  der  Schaukel  zu 
sparen.  Man  hatte  den  Eindruck,  als  habe  er 
erkannt,  daß  hier  unten  ihm  während  der  Nacht 
auch  kein  Leid  geschähe,  und  daß  die  Ruhe  unten 
doch  vielleicht  bequemer  sei.  Dabei  schaukelte 
er  am  Tage  nach  wie  vor,  und  jetzt  sah  ich  auch 
zum  ersten  Male  den  Sittich  bei  Tage  spielerisch 
seine  Schaukel  festmachen  und  gleich  darauf 
wieder  lösen,  wie  er  überhaupt  mit  allen  Gegen- 
ständen zu  spielen  liebt,  die  man  in  seinen  Käfig 
hineintut.  In  der  Folge  hat  er  dann  auch  wieder 
oben  auf  der  Schaukel  genächtigt,  doch  nicht 
mehr    mit    völliger    Regelmäßigkeit,    sondern    an 


manchen  Tagen  verbringt  er  die  Nacht  wieder 
auf  dem  unteren,  festen  Querbalken.  Er  war  also 
offenbar  nicht  mehr  so  stark  zur  Benutzung  des 
höchsten  Platzes  im  Käfig  angetrieben,  wie  es 
früher  der  Fall  war.  — 

Ich  halte  das  in  der  Frage  der  Überschrift 
gestellte  Problem  hiermit  für  gelöst.  Es  kann 
kein  Instinkt  sein,  also  kein  ererbter  Trieb,  der 
den  Vogel  veranlaßt,  eine  von  ihm  gemachte 
„Erfindung"  im  Sinne  seines  auch  anderweitig 
betätigten  Instinkts  zu  verwerten;  Einsicht  in 
Kausalbeziehungen  muß  ihm  zuhilfe  kommen,  um 
dies  zu  tun.  Vielleicht  wird  diese  Auffassung 
unterstützt  durch   nachstehende  Wahrnehmungen. 

Ich  habe  nie  versucht,  den  Sittich  zum  Plap- 
pern abzurichten,  wie  es  so  viel  bei  Papageien 
geschieht.  Dagegen  hat  er  spontane  Neigung, 
fremde  Vogelstimmen,  z.  B.  von  Amseln,  Staren, 
Finken  nachzuahmen,  ebenso  einige  ihn  inter- 
essierende Laute  der  menschlichen  Sprache.  Ich 
erwähnte  schon,  daß  ich  ihn  mit  dem  Worte 
„komm"  auf  seinen  Futterplatz  locken  kann.  Sind 
wir  beim  Speisen,  so  hat  er  sich  einen  eigentüm- 
lichen Lockton  angewöhnt,  der  etwa  „ibbet"  klingt, 
sobald  er  etwas  erspäht  zu  haben  glaubt,  das  ihm 
schmecken  dürfte;  bei  anderen  Gerichten,  z.  B. 
bei  der  Suppe,  ist  er  stumm.  Ruft  er  später  sein 
„ibbet"  und  ich  reagiere  nicht  darauf,  so  läßt  er 
dann  den  Ruf  „quomm"  ertönen,  was  ein  miß- 
ratenes „komm"  bedeutet,  manchmal  auch  wie 
„quaak"  klingt;  findet  er  auch  dann  noch  keine 
Beachtung,  so  beginnt  er,  in  seiner  Sprache  heftig 
zu  schelten  und  zu  kreischen.  Bringe  ich  ihm 
auf  seinen  Bittruf  ein  Stückchen  trockene  Salz- 
kartoffel, die  er  gar  nicht  liebt,  obgleich  sie  in 
der  Hungerzeit  des  Krieges  seine  Hauptnahrung 
war,  so  schlägt  er  es  mir  mit  dem  Schnabel  aus 
der  Hand  und  ist  zornig;  bringe  ich  ihm  dagegen 
eine  Bratkartoffel  oder  einen  Apfelkern,  so  nimmt 
er  diese  freundlich  und  zart  aus  meinen  Finger- 
spitzen; denn  heute  ist  er  gewohnt,  daß  sein 
Futter  aus  Hanfsamen  besteht,  wie  er  aller  fett- 
haltigen Nahrung  zugetan  ist. 

Ist  Sittich  schlechter  Laune,  so  haut  er  mit 
dem  Schnabel  nach  dem  Finger,  der  sich  ihm 
nähert.  Bei  guter  Laune  läßt  er  sich  gern  den 
ganzen  Körper  streichen,  ja  geradezu  massieren, 
wobei  er  oft  mit  dem.  Schnabel  in  eine  Draht- 
stange des  Käfigs  beißt.  Bei  diesem  Streicheln 
sagte  ich  einige  Male :  „Sittich,  du  Narr".  Ich  war 
nicht  wenig  verwundert,  als  der  Vogel  mir  eines 
Tages  beim  Betreten  des  Zimmers  „arrr"  zurief, 
und  sich  nun  gern  streichen  ließ.  Das  ist  fortan 
so  geblieben.  Ich  sage  beim  Streichen  öfters 
„Narr"  zu  ihm,  und  meistens,  wenn  der  Vogel 
mich  kommen  sieht,  erklingt  sein  „arrr",  eine  Auf- 
forderung, mit  ihm  zu  spielen ;  bleibt  die  Auf- 
forderung aus,  so  bin  ich  nicht  sicher,  ob  er  nicht 
beißt,  wenn  ich  ihn  streicheln  will.  Das  möge 
noch  in  bezug  auf  die  Sprache  des  Vogels  bzw. 
seine  Unterhaltung  mit  Menschen  hinzugefügt  sein, 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


745 


die  ihm  doch  auch  bewußtes  Mittel  zur  Erreichung 
eines  Zweckes  sein  dürfte. 

Die  mitgeteilten  Tatsachen  scheinen  mir  nach- 
stehende kurz  zusammengefaßte  Analyse  des  Ver- 
haltens des  Vogels  nahezulegen. 

Der  Sittich  fühlte  sich  durch  Ausnutzung  der 
Schaukel  von  dem  ihm  unbehaglichen  Zustande 
des  Nächtigens  in  der  Tiefe  des  Käfigs  erlöst. 
Sein  Gedächtnis  hielt  den  entdeckten  Mechanis- 
mus fortan  fest,  und  er  benutzte  ihn  bewußt  für 
seine  Zwecke,  sei  es  zum  Schlafen  oder  zum 
Schaukeln  je  nach  der  Tageszeit.  Er  verwertete 
also  neu  erschaute  Zusammenhänge  der  ihn  um- 
gebenden Dinge.  Nur  der  psychische  Zusammen- 
hang seiner  Erinnerungsbilder  konnte  den  Vogel 
veranlassen,  dauernd  an  seiner  Übung,  der  Be- 
festigung der  Schaukel  am  Abend  und  ihrer  Lö- 
sung am  Morgen,  festzuhalten.  Zweifellos  diente 
der  Zufall  als  auslösende  Ursache.  Der  Zufall 
allein  kann  indes  keine  Erfindung  veranlassen; 
Mensch  oder  Tier  sind  daran  psychisch  beteiligt. 
Der  Vogel  beachtete  die  Tatsache  eines  zufälligen 
Festhakens  der  Schaukel,  er  erkannte  den  zur  Be- 
friedigung seines  Instinkts  daraus  sich  ergebenden 
Vorteil.  Indem  er  dies  Neue  seinem  Gedächtnis 
einverleibte,  bewies  er  damit  die  Fähigkeit,  Er- 
fahrungen zu  machen.  Die  Leistung  des  Vogels 
lag  in  seiner  scharfen  Aufmerksamkeit,  die  eine 
außergewöhnliche  Veränderung  im  Verhalten  der 
Schaukel  sofort  zu  verwerten  verstand,  und  fortan 
im  intuitiven  Erkennen  des  Zusammentreffens  der 


einander  bedingenden  Erscheinungen;  den  Ge- 
dächtniseindruck benutzte  er,  um  allemal  die  ge- 
wünschten Bedingungen  innerhalb  des  ihn  um- 
gebenden Mechanismus  wiederherzustellen.  Der 
Sittich  hat  erst  psychische  Kombinationsarbeit 
geleistet,  der  dann  die  mechanische  Arbeit  von 
Hals-  und  Beinmuskeln  folgte.  Durch  den  psy- 
chischen Mechanismus  der  Assoziation  von  Er- 
innerungsbildern wurde  eine  zweckmäßig  wirkende 
Funktionsbereitschaft  herbeigeführt;  die  Befrie- 
digung eines  Wunsches  oder  Bedürfnisses  (Schlaf 
in  der  Höhe,  Lust  am  Schaukeln  bei  Tage)  wurde 
auf  dem  kürzesten  Wege  hergestellt.  In  dem 
Allen  zeigt  der  Sittich  wohl  einen  Gradunter- 
schied seiner  Einsicht  der  des  Menschen  gegen- 
über; einen  Art  u  nt  ersc  hied  zu  postulieren, 
liegt  kein  zwingender  Grund  vor,  noch  weniger, 
ihm  Einsicht  überhaupt  abzusprechen.  Will  man 
diese  Auffassung  anthropomorph  nennen,  so  tue 
man  esl  Der  Vorwurf  des  „Anthropomorphismus" 
ist  meistens  ein  wenig  überlegtes  Schlagwort,  da 
wir  —  namentlich  seit  Kant  —  wissen,  daß  wir 
nicht  anders  als  anthropomorph  vorstellen  und 
denken  können. 

Es  bedarf  wohl  kaum  des  Hinweises,  daß  jeder 
Besitzer  von  Haustieren,  namentlich  von  Hunden 
und  Katzen,  hundertfältig  Wahrnehmungen  machen 
wird,  die  denen  analog  sind,  die  vorstehend  be- 
schrieben und  analysiert  wurden. 

Endlich  habe  ich  noch  die  angenehme  Pflicht, 
F"räulein  A.  Weinreich  für  die  Zeichnung  der 
Skizze  meinen  Dank  auszusprechen ! 


Einzelberichte. 


Wie  eine  lufektionskraukheit  entsteht. 

Nach  Carre,  Revue  Gen.  de  Med.  Vet.  Nr.  351 
ist  in  Italien,  der  Schweiz  und  Spanien  seit  langer 
Zeit  eine  bei  Schafen  und  Ziegen  auftretende 
Agalaktie  bekannt,  die  in  Südtirol  sowie  in  Italien, 
da  als  besonderes  Symptom  neben  dem  Milch- 
mange),  die  Erkrankung  der  Augen  hervortritt, 
vielfach  als  „Augendiesel"  bezeichnet  wird  und  in 
gewisser  Hinsicht  Ähnlichkeit  mit  der  während  des 
Krieges  beobachteten  Augenseuche  der  Gemsen  hat. 
Die  Erscheinungen  der  Krankheit  sind  ;  Mammitis, 
Keratitis,  Arthritis,  Cachexie;  dabei  bestehen  nie 
Eiterungen.  Der  Erreger  ist  filtrierbar  und  wurde 
1906  von  Celli  und  Blasi  entdeckt.  Im  Jahre 
1910  wurde  in  den  Niederalpen  eine  neue  Seuche 
beobachtet,  die  zwar  auch  unter  den  Erscheinun- 
gen der  Agalaktie  verlief,  sich  von  der  bekannten 
Krankheit  aber  wesentlich  durch  das  Auftreten 
von  Eiterungen  unterschied.  Carre  wurde  mit 
der  Erforschung  der  neuen  Seuche  beauftragt. 
Er  stellte  fest,  daß  den  Erkrankungen  eine  Infek- 
tion mit  dem  bekannten  filtrierbaren  Virus  zu- 
grunde  lag;    waren    hierdurch    die   Abwehrkräfte 


(Antigene)  des  Körpers  geschädigt,  so  siedelten 
sich  die  Eitererreger,  die  sich  in  jeder  Streu  be- 
finden, im  Organismus  an  und  bedingten  das  ver- 
änderte Krankheitsbild.  Beobachtungen  im  Labo- 
ratorium bestätigten  die  Ansicht  des  Verf. 

Reuter. 


Zur  Staiiimesgeschichte  des  Hausriudes. 

Wie  der  Haushund  hat  auch  das  Hausrind 
schon  frühzeitig  mit  dem  Werdegang  der  mensch- 
lichen Kultur  in  Beziehungen  gestanden.  Die 
wissenschaftliche  Forschung  unterscheidet  für 
Europa  fünf  Stammrassen,  und  zwar  das  Urrind 
(Frimigenius-Rasse),  das  Großstirnrind  (Frontosus- 
Rasse),  das  Langstirnrind  (Brachyceros  Rasse),  das 
Kurzkopfrind  (Brachycephalus-Rasse)  und  das  horn- 
lose Rind  (Akematos- Rasse).  Dr.  P.  Mar  teil 
kommt  jedoch  in  der  ,,Berl.  Tierärztl.  Wochen- 
schrift" Nr.  18  von  1921  zu  der  Anschauung,  daß 
in  dem  Ur  (Bos  primigenius)  allein  der  Stamm- 
vater alter  Hausrinder  zu  sehen  wäre.  Die  Ver- 
breitung des  Urs  erstreckte  sich  ursprünglich  über 
ganz  Europa,  er  war  eine  der  europäischen  Tier- 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


weh  besonders  charakteristische  Erscheinung,  die 
als  Wildrind    erst    zur  Diluvialzeit  aufgetreten  ist. 
Der  Ur    ist    in    Europa    zu   Anfang   des   17.  Jahr- 
hunderts  ausgestorben ;    um    diese  Zeit  geschieht, 
aber   mit    Unrecht,    seine  Namensübertragung  auf 
den  Wisent.    Über  die  Gestalt  des  ausgestorbenen 
Urs    ist    man    bereits    durch    einige    vortreffliche 
Bilder  aus  der  assyrischen  und   mykenischen  Zeit 
unterrichtet.      Der    dem    Hausrinde    ähnliche    Ur 
besaß  einen  geraden  Rücken,    lange    Hörner,    die 
sich  nach  vorn  gegeneinander  krümmten  und  mit 
den    Spitzen    in   der   Regel   nach    aufwärts    liefen. 
Eine  Mähne  besaß  der  Ur  nicht;    dadurch    unter- 
scheidet er  sich  vom  Wisent,  der  außerdem  einen 
mehr   dreieckigen    Kopf,    abfallenden  Rücken  und 
kurze  hochgerichtete,    mit    der  Spitze    nach  innen 
laufende    und    rückwärts   zeigende  Hörner  besitzt. 
Aristoteles   und   Plinius   haben  bereits  gute 
Beschreibungen   vom  Wisent   gegeben.     Das  alte 
Torfrind  ist  in  prähistorischer  Zeit  bereits  in  Tur- 
kestan  nachweisbar  und  findet  sich  dann  in  Nord- 
afrika klar  ausgeprägt.     Von    da  aus  wanderte  es 
nach  Südeuropa  und  treten  Überreste  dieser  klei- 
nen   Rinderform    besonders    häufig    in    den   Pfahl- 
stationen der  Westschweiz  auf,  so  daß  im  Braun- 
vieh   der  Alpen    und    in    den    englischen    Kanal- 
rindern   jedenfalls    die    Nachkommen     der     alten 
Torfrinder  zu  erblicken  sind.    Diö  für  das  braune 
Alpenvieh    so    charakteristischen    Merkmale,    Aal- 
strich und  Rehmaul,  sind  auch  den  ostasiatischen 
und    indischen    Rindern    und   in  Deutschland  den 
Rindern    des    bayerischen   AUgäues    eigen.     Auch 
der   Zoologe    Prof.    Rütimeyer    nimmt    für    die 
Stammvaterschaft  der  etwa  auf  50  Rassen  des  in 
Europa     lebenden    Hausrindes     zu     bemessenden 
Kontingentes    drei    verschiedene    Wildrinderarten 
an,  den  Ur  (Bos  primigenius)  und  dessen  Speziali- 
täten der  Langstirn-  und  Breitstirnform.    Vergleiche 
der  Schädel  zwischen  Hausrind  und  Ur,    der    ur- 
sprünglich   über   ganz   Europa,   Asien   und  Nord- 
afrika verbreitet  war,    so  daß  demnach  Südafrika, 
sowie  auch  Amerika  als  Entstehungsherde  für  die 
Hausrinder  nicht  in  Frage  kommen,  machen  immer 
wieder  deutlich,  daß  wir  mit  aller  Wahrscheinlich- 
keit   in    dem    Ur   den  Stammvater    unseres  Haus- 
rindes zu  suchen  haben.     Auch   in  Mesopotamien 
haben  in  alter  Zeit  größere    Herden   des  Urs  ge- 
lebt, da  wir   aus    einer   alten   Inschrift  entnehmen 
können,    daß    gelegentlich    einer   Jagd    50    große 
Wildrinder    erlegt    und     8    gefangen    genommen 
wurden.     Selbst  zur  Zeit  Herodots  hat  der  Ur 
in  den  Griechenland  benachbarten  Ländern    noch 
eine   große  Verbreitung    gehabt,    weil    dieser  Ge- 
schichtsschreiber   von    „wilden    Stieren"    spricht, 
deren  große  Hörner  aus  Mazedonien  nach  Griechen- 
land in  den  Handel  kamen.     Auch    wird    in    dem 
Epigramm  des  Achaios    der  Wildstier  erwähnt. 
Fossile  Urrinder    sind    außerdem    in    Afrika    und 
Palästina   aufgefunden    worden    und   mit    größter 
Wahrscheinlichkeit  ist  Ägypten  das  Land,  in  dem 
die    Wandlung    des    Rindes    aus    dem    Wildstand 
zum  Haustier  vor  sich  gegangen  ist. 


In  Amerika  fanden  die  Rinder  erst  nach  der 
Entdeckung  durch  die  Europäer  Eingang  und 
zwar  führte  Kolumbus  schon  bei  seiner  zweiten 
Reise  Rinder  mit.  Ein  Wildrind  von  der  Gattung 
des  Ur  hat  es  in  Amerika  nie  gegeben,  dagegen 
hat  der  dem  Wisent  nahe  verwandte  Bison  (Bos 
americanus),  der  volkstümlich  als  „Büffel"  bekannt 
ist,  einst  die  Prärien  und  Wälder  Nordamerikas 
bevölkert  und  ist  gleich  dem  europäischen  Art- 
genossen fast  gänzlich  bis  auf  wenige  Exemplare, 
die  in  Gehegen  unter  dem  Schutz  der  amerikani- 
schen Regierung  gepflegt  werden,  von  der  Bild- 
fläche verschwunden.  Nunmehr  sind  in  Amerika 
sämtliche  europäische  Rinderrassen,  auch  das 
hornlose  Rind,  wie  man  sich  bei  den  von  dort 
jüngst  in  Deutschland  eingetroffenen  Transporten 
überzeugen  konnte,  vertreten.  Reuter. 


Zur  Frage  der  Schutziinpfuiig  bei  Maul-  und 
Klaueuseuche. 

Direktor  Dr.  Ernst  der  veterinärpolizeilicheh 
Anstalt  in  Schleißheim  bringt  in  der  „Münch. 
Tierärztl.  Wochenschr."  Nr.  17  von  192 1  eine 
vorläufige  Mitteilung  über  experimentelle  Über- 
tragung der  Maul-  und  Klauenseuche  auf  Katzen, 
Meerschweinchen  und  Igel.  Bei  Impfungen  am 
Rüssel  des  Schweines  wurden  mikroskopische 
Untersuchungen  angestellt.  Einschlußkörperchen 
spezifischer  Art  konnten  ebensowenig  gefunden 
werden  als  andere  Gebilde,  die  den  Guarnieri- 
schen  bei  Pocken  entsprechen.  Die  sehr  große 
Schwankung  der  Virulenz  des  Erregers  der  Maul- 
und  Klauenseuche,  seine  Anpassungsfähigkeit  und 
der  Umstand,  daß  auf  eine  milde  Erkrankung  nur 
eine  geringwertige  kurzdauernde  Immunität  folgt, 
lassen  die  Ansicht  begründet  erscheinen,  daß  es 
kaum  gelingen  wird ,  ein  praktisch  allgemein 
durchführbares,  ungefährliches  aktives  Impfverfah- 
ren auszuarbeiten.  Es  vi/erden  vermutlich  nur 
Notimpfungsverfahren  in  Betracht  kommen,  die 
sich  zweckmäßig  an  das  zuerst  von  Del  B  o  n  o 
bei  Maul-  und  Klauenseuche  mit  größeren  Mengen 
angewandte,  der  Impfung  von  spezifisch  wirk- 
samem Serum  oder  Blut  von  Tieren,  die  kurz 
vor  der  Entnahme  des  Blutes  die  Seuche  über- 
standen hatten  und  gleichzeitiger  Ansteckung  mit 
dem  im  Stalle  vorhandenen  Virus  eng  anlehnen. 
Diesem  Prinzip  entspricht  auch  das  Schleißheimer 
Impfverfahren.  Reuter. 


Seifen  mit  ringt'örniigeu  Koblenstolfsystenieu. 

Unter  Seifen  im  engeren  Sinne  versteht  man 
ausschließlich  Salze  von  höheren  Fettsäuren,  d.  h. 
von  Kohlenstofifverbindungen  kettenförmiger  Struk- 
tur. Es  ist  diesen  Stoffen  mit  14  bis  18  Kohlen- 
stofifatomen  eigentümlich,  die  bekannten  seifen- 
artigen Wirkungen  auszulösen,  wobei  jedoch  nicht 


N.  F    XX.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


747 


allein  die  Anzahl,  sondern  auch  die  Art  der  Ver- 
knüpfung jener  Atome  für  die  physikalischen 
Eigenschaften  verantwortlich  zu  machen  ist.  Dies 
geht  hervor  aus  Untersuchungen  von  R.  Will- 
st ä  1 1  e  r  und  E.  Waldschmidt-Leitz^)  über 
Verbindungen  mit  der  gleichen  Anzahl  von 
Kohlenstoffen  in  ringförmiger  Verknüpfung. 
Eine  derartige  Struktur  ist  vorhanden  in  den 
Phenyl-naphtyl-methan-karbonsäuren,  z.  B.  in 


Man  dachte  ursprünglich  daran,  Salze  dieser 
Säuren  unmittelbar  als  Seifen  verwenden  zu  kön- 
nen, als  die  Knappheit  von  Fettsäuren  zu  Aus- 
hilfsmaßnahmen zwang.  Die  Salze  dieser  aroma- 
tischen, d.  h.  ungesättigten  Säuren,  sind  jedoch 
keine  Seifen.  Mittels  Wasserstoff  und  Platinkataly- 
sator kann  man  jene  Säuren  jedoch  unmittelbar 
in  die  perhydrierten  Diarylmethan-karbonsäuren 
überführen.  Aus  dem  angeschriebenen  Stoff  ent- 
steht alsdann 


d.  h.  eine  völlig  gesättigte  Verbindung,  die  von 
der  entsprechenden  aliphatischen  Säure  mit  der- 
selben Anzahl  von  Kohlenstoffatomen  nur  durch 
die  ringförmige  Anordnung  verschieden  ist.  Die 
Löslichkeitsverhältnisse  der  Salze  dieser  Säure,  die 
übrigens  theoretisch  in  32  isomeren  Formen  auf- 
treten kann,  sind  sehr  bemerkenswert.  Die  Erd- 
alkali- und  Schwermetallsalze  lösen  sich  in  Kohlen- 
wasserstoffen, die  Alkalisalze  aber  sind 
Seifen.  So  ist  das  Calciumsalz  in  Äther  und 
Benzol  leicht  löslich,  während  das  entsprechende 
Salz  der  nichthydrierten,  also  aromatischen  Naph- 
tylmethanbenzoesäure  in  beiden  Mitteln  unlöslich 
ist  1  Das  gleiche  gilt  für  das  Kupfer-  und  Blei- 
salz; das  Quecksilbersalz  ist  sogar  sehr  leicht 
löslich  in  Äther  und  Benzol. 

Die  Alkalisalze  sind  echte  Seifen;  sie  werden 
in  Wasser  hydrolytisch  gespalten  unter  Abschei- 
dung saurer  Salze  und  schäumen  stark,  wenn 
auch  der  Schaum  nicht  so  lange  bestehen  bleibt 
wie  bei  unsern  gewöhnlichen  besten  Seifen.  Die 
freien  Salze  fühlen  sich  seifig  harzig  an. 

Abgesehen  von  ihrer  für  die  theoretische  Er- 
kenntnis der  Chemie  der  Seifen  wichtigen  Dar- 
stellung, ist  mit  den  genannten  Stoffen  ein  neuer 
Beitrag  geliefert  zur  Deckung  heimischen  Bedarfes 
an  Seifenmaterial  aus  einheimischen  Rohstoffen. 
Als  solche  dienen  Phtalsäureanhydrid  und  Naph- 
talin,  also  Erzeugnisse  der  Steinkohlendestillation, 
die  mittels  Aluminiumchlorid  glatt  zur  Naphtoyl- 
benzoesäure   kondensiert  werden   können.     Diese 


wird  alsdann  erschöpfend  hydriert,  'j  Hierbei  sind, 
im  Gegensatz  zum  Hydrierungsprozeß  des  Benzols 
oder  Naphtalins  selbst,  Zwischenprodukte  faßbar, 
die  unter  Aufnahme  von  2  Atomen  Wasserstoff 
entstehen.  H.  Heller. 

Die  Koustitutiou  des  Uetiuiols. 

Die  Frage  nach  der  wahren  Natur  des  Reu- 
niols  hat  infolge  der  großen  wirtschaftlichen  Be- 
deutung dieses  intensiven  und  ausgiebigen  Duft- 
stoffes zahlreiche  Arbeiten  gezeitigt.  Ihr  Ergeb- 
nis deutete  darauf  hin,  daß  das  Reuniol  nicht  ein- 
heitlich sei,  sondern  lediglich  ein  ziemlich  gleich- 
mäßig anfallendes  Gemenge  von  Geraniol  und 
Citronellol,  Duftstoffen  von  hoher  Qualität,  dar- 
stelle. Diesen  Befund  macht  Arno  Müller 
durch   optische  Untersuchungen   zur  Gewißheit.-) 

Müller  verwendete  die  Absorptionsspektral- 
analyse, die  zuerst  Hautzsch^)  auf  Probleme 
der  Terpenchemie  anzuwenden  empfahl.  Beim 
Vergleich  der  Absorptionskurven  im  Ultraviolett, 
die  von  Reuniol  einerseits,  von  Citronellol  und 
Geraniol  anderseits  aufgenommen  wurden,  zeigte 
sich,  daß  die  Kurve  des  Reuniols  zwischen  denen 
der  beiden  anderen  Stoffe  liegt.  Dies  Verhältnis 
wird  noch  deutlicher  bei  den  Estern,  den  Ace- 
taten.  Es  beweist,  auf  Grund  aller  bisherigen 
Kenntnis  der  Ultraviolettabsorption,  daß  die  Kon- 
stitution des  Reuniols  nicht  charakteristisch  ist, 
sondern  additiv  aus  zwei  Komponenten  aufge- 
faßt werden  muß.  Werden  die  drei  Stoffe  end- 
lich hydriert,  so  liegen  die  Absorptionsbanden 
ganz  eng  beieinander.  Reuniol  ist  also  fraglos 
eine  Mischung  aus  (schätzungsweise  60 "/q) 
Geraniol  und  Citronellol  und  ist  damit  aus 
der  Literatur  endgültig  zu  streichen.        H.  H. 


Die    Raubseeschwalbe,    eiu    verschAvuiidener 
Brutvogel  Deutschlands. 

Der  Krieg  hat  auch  der  deutschen  Vogelwelt 
einen  schmerzlichen  Verlust  zugefügt:  die  auf  dem 
Ellenbogen  auf  Sylt  nistende  Raubseeschwalbe, 
Sterna  caspia  PalL,  mit  deren  Verschwinden  aus 
der  deutschen  Ornis  früher  oder  später  allerdings 
gerechnet  werden  mußte,  hat  aufgehört,  Brutvogel 
unseres  Vaterlandes  zu  sein.  Im  Jahre  1819,  als 
Naumann,  dem  wir  auch  die  erste  genauere 
Kunde  über  den  Brutplatz  verdanken,  den  Ellen- 
bogen besuchte,  schätzte  er  die  Zahl  der  Brut- 
paare noch  auf  200  bis  300,  doch  sollte  der 
Vogel  ,,in  manchem  vergangenen  Jahre  bei  weitem 
zahlreicher  gewesen"  sein.  In  den  folgenden  50 
Jahren,  so  führt  Dr.  Dietrich,  der  unserer  Art 
einen  kleinen  Nekrolog  widmet,  in  der  Ornithol. 
Monatsschrift  (46,  1921,  33—42)  aus,  muß  die 
Kolonie    schon  stark    zurückgegangen    sein,    denn 


')  Berichte  d.   D.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.   1420,  1921. 


')  D.R.P.  336212. 

-)  Berichte  d.  Deutsch.  Chem.  Gesellsch.  54,  S.  1466,  1921. 

^)  Berichte  d.  Deutsch.  Chem  (lesollsch.  45,  S.  553,    1912. 


748 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


1870  fand    der  Leuchtturmwärter    etwa  50  Junge, 

1871  beobachtete  M ö b i u s  17  Nester,  1873  Gru- 
nack  und  Thiele  etwa  30  Paare,  1879  v.  Hoh- 
meyer  22  Nester,  1886  Leverkühn  höchstens 
30  Paare,  1 890  L  e  e  g  e  ebensoviel,  1 892  K  r  e  t  s  c  h  - 
mer  eine  kleine  Kolonie  auf  Hörnum  von  12 
Paaren  und  auf  dem  Ellenbogen  weitere  2  Brut- 
paare. 1896  wurden  2  Brut  paare  auf  Jordsand, 
einem  Eiland  östlich  des  Ellenbogens,  und  1897 
hier  wiederum  12  Nester  festgestellt.  1901  be- 
obachtete Hartlaub  auf  dem  Ellenbogen  etwa 
15  Gelege,  1902  Dr.' Dietrich  5  Paare;  eine 
Zahl,  die  im  folgenden  Jahre  auf  12 — 13  ange- 
stiegen war  und  sich  in  gleicher  Höhe  bis  1905 
hielt.  Als  dann  1907  der  Verein  Jordsand  den 
Schutz  der  Kolonie  übernahm,  wurden  igo8  8 
Nester,  1909  11,  1910  wiederum  u  und  1911  7 
gezählt.  Im  folgenden  Jahre  sank  dann,  an- 
scheinend durch  den  störenden  Eingriff  eines  rach- 
süchtigen Dritten,  die  Zahl  auf  nur  2 — 3,  sie  stieg 
1913  aber  wieder  auf  5  und  umfaßte  1914,  aus 
welchem  Jahre  die  letzten  sicheren  Zahlen  vor- 
liegen,   nur    noch    2  Nester.      Über    die   weiteren 


Schicksale  der  Kolonie  sind  wir  nicht  unterrichtet. 
Der  Kriegsausbruch  mit  der  starken  Belegung 
Sylts  mit  Militär,  der  uns  sofort  ja  auch  die 
Kolonie  unzugänglich  machte,  und  die  ver- 
schiedenen feindlichen  Angriffe  scheinen  zunächst 
zu  einer  Abwanderung  der  Vögel  auf  benach- 
barte Inseln  geführt  zu  haben ;  wenigstens  wurden 
1918  3  Paare  bei  einem  leider  ver'geblichen  Brut- 
versuch auf  Jordsand  und  ein  anderes  oder  eines 
von  diesen  dreien  dann  auch  noch  auf  Norderoog 
beobachtet.  Seitdem  ist  der  Vogel  nicht  wieder 
festgestellt  worden.  —  Zu  dem  dauernden  Rück- 
gang der  Kolonie  mag  neben  der  Schießerei  der 
Badegäste  auch  die  große  Zähigkeit  beigetragen 
haben,  mit  der  die  Vögel  an  dem  Jahr  für  Jahr 
immer  wieder  von  neuem  bezogenen,  denkbar 
ungünstigen  Brutplatz  auf  dem  breiten  Vorstrande 
an  der  Nordküste  des  Ellenbogens  hingen ;  stür- 
mische Winde  betteten  hier  die  Eier  oft  völlig  in 
den  Flugsand  ein,  so  daß  sie  häufig  ihren  Zweck 
nicht  erfüllten  und  die  Zahl  der  hochkommenden 
Jungen  nur  eine  kleine  war. 

Rud.  Zimmermann. 


Bücherbesprechungeii. 


Tammann,  Gustav,  Lehrbuch  der  Metallo- 
graphie. Chemie  und  Physik  der  Metalle 
und  ihrer  Legierungen.  Zweite  verbesserte 
Auflage.  219  Figuren.  402  S.  Leipzig  1921, 
Leopold  Voß.  Preis  geb.  1 10  M. 
Die  neue  Auflage  des  bekannten  vortrefflichen 
Lehrbuches  der  wissenschaftlichen  Metallographie 
unterscheidet  sich  von  der  früheren  hauptsächlich 
durch  die  Aufnahme  von  neuen  Forschungsergeb- 
nissen, die  zum  großen  Teile  dem  Verf.  und 
seinen  Schülern  selbst  zu  verdanken  sind.  So  ist 
in  dem  Abschnitt  „Die  chemischen  und  elektro- 
chemischen Eigenschaften  binärer  Legierungen" 
den  neuen  von  T.  geschaffenen  Tatsachen  der 
Einwirkungsgrenzen  chemischer  Agenzien  auf 
metallische  Mischkristalle  sowie  der  Verteilung 
zweier  Atomarten  im  Raumgitter  und  ihrer  Be- 
ziehung zu  diesen  Einwirkungsgrenzen  ausführlich 
Rechnung  getragen  worden.  Auch  der  Abschnitt 
über  die  Rekristallisation  kalt  bearbeiteter  Metalle 
und  ihre  Ursachen  ist  entsprechend  modernen 
atomistischen  Vorstellungen  über  diese  Vorgänge 
ganz  neuartig  dargestellt  worden.  Neu  sind  außer- 
dem beispielsweise  die  Abschnitte  über  die  Ober- 
flächenspannung in  den  Lamellen  fester  Körper, 
über  die  Raumgitter  der  Metalle,  über  Anlauf- 
farben von  Metallen  und  über  Reaktionen  von 
Metallen  mit  Elektrolyten,  einige  weitere  Kapitel 
in  dem  Abschnitt  „Die  Änderung  der  Eigenschaften 
bei  der  Bearbeitung  der  Metalle"  und  die  Kapitel 
über  die  Kennzeichen  einer  chemischen  Verbin- 
dung und  die  Bildungswärmen  und  Schmelz- 
wärmen von  Metallverbindungen.  Überall  zeigt 
sich  hierbei  der  Verf  als    hervorragender  Kenner 


und  sachlicher  Beurteiler  der  neuen  Fortschritte 
auf  den  betreffenden  Gebieten. 

Um  den  Umfang  des  Buches  durch  diese 
wesentlichen  und  wertvollen  Erweiterungen  nicht 
zu  vergrößern,  wurden  eine  Reihe  von  Kapiteln 
der  ersten  Auflage  fortgelassen,  andere  gekürzt. 
So  wurden  von  den  Zustandsdiagrammen  spezieller 
binärer  Systeme  nur  noch  die  des  Fe — C,  Pe — Si, 
Fe — Ni,  die  ternären  Kohlenstoffstähle,  das  meteo- 
rische Nickeleisen,  Cu — Sn,  Cu — Zn,  Cu — Ni, 
Cu— Ag,  Cu— Au,  Au-Ag,  Pb— Sn,  Mg— AI 
und  Sn — Sb  ausführlich  besprochen,  während  die 
Systeme  Fe — Mn,  Fe— Cu,  F'e — Zn,  P"e — Co,  Fe — 
FeS,  Cu"  AI,  Ni-Cr,  Co-Cr  und  Sb— Cd  nicht 
wieder  mit  aufgenommen  wurden.  Eine  Ent- 
schädigung dafür  und  gleichzeitig  eine  sehr  weit- 
volle  Hilfe  bei  speziellen  Fragen  bietet  aber  das 
neu  aufgenommene  Verzeichnis  der  Metallpaare, 
deren  Zustandsdiagramme  bekannt  sind ,  unter 
Angabe  der  sie  betreffenden  Literatur. 

So  ist  das  Buch  in  vielen  außerordentlich 
wesentlichen  Stücken  fortgeschritten,  durch  die 
neugeschaffenen  Teile  über  die  alte  Auflage  be- 
trächtlich hinausgewachsen.  Sicherlich  wird  es 
wie  diese  in  weitem  Umfange  der  relativ  jungen 
Wissenschaft  der  Metallographie  neue  Freunde 
zuführen.  Den  Studierenden  nicht  nur  der 
technischen,  sondern  auch  der  reinen  Physik 
und  Chemie,  besonders  aber  auch  dem  Mine- 
ralogen und  Kristallographen,  dessen 
Wissenschaft  viel  fruchtbare  Anregung  auf  metallo- 
graphischem Gebiete  findet,  darf  die  nähere  Be- 
schäftigung mit  dem  Buche  sehr  empfohlen  wer- 
den. Spangenberg. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


749 


Fischer,  Dr.  Hugo,  Pflanzenbau  und  Kohlen- 
säure.     82.  S.     Stuttgart   1921,   Eugen  Ulmer. 

In  einer  ganzen  Reihe  von  Publikationen  seit 
dem  Jahre  1909  hat  der  Verf.  auf  die  Bedeutung 
der  Kohlensäure  für  die  Blütcnbildung  und  als 
„Düngemittel"  hingewiesen,  und  mit  seltener 
Energie  hat  er  die  Praktiker,  Gärtner  und  Land- 
wirte, durch  eigene  Versuche  und  durch  Ver- 
öffentlichung seiner  Anschauungen  in  gärtnerischen 
und  landwirtschaftlichen  Zeitschriften  zu  über- 
zeugen versucht,  daß  der  Kohlensäure  für  die 
rationelle  Pflanzenzucht  die  gleiche  Bedeutung  ein- 
zuräumen ist,  wie  den  übrigen  Düngemitteln.  — 
Wer  die  Praktiker  kennt,  weiß,  daß  es  nicht  ganz 
leicht  ist,  sie  aus  den  gewohnten  Geleisen  heraus- 
zulocken. Ganz  besonders  schwerfällig  sind  die 
Gärtner,  wohl  deshalb,  weil  die  wissenschaftliche 
Durchforschung  der  gärtnerischen  Praxis  hinter 
der  landwirtschaftlichen  um  50  Jahre  oder  länger 
zurück  ist.  Es  ist  darum  zu  begreifen,  daß  der 
Verf.  mit  wenig  Freude  an  die  Gärtner  denkt 
und  aus  seinem  Mißmut  kein  Hehl  macht. 

Nachdem  es  aber  Fischer  jetzt  gelungen  ist, 
die  Großindustrie  für  seine  Gedanken  zu  interes- 
sieren und  seitdem  er  nachgewiesen  hat,  daß  bei 
Vorhandensein  billiger  CO.,-Quellen  (Abgase  der 
Hochöfen)  die  Kohlensäuredüngung  auch  im 
Großen  ausgezeichnete  Erfolge  erzielt  hat,  werden 
wir  hofifen  dürfen,  daß  die  Erkenntnis  der  Wichtig- 
keit des  Kohlendioxyds  in  absehbarer  Zeit  Ge- 
meingut aller  Pflanzenbauer  sein  wird. 

In  dem  vorliegenden  kleinen  Werke  gibt  der 
Verf.  eine  gemeinverständliche  Darstellung  der 
ganzen  Kohlensäurefrage.  In  einzelnen  Kapiteln 
werden  des  Verfs.  und  anderer  Versuche  be- 
sprochen, kritisch  bewertet  und  in  Beziehung  zur 
allgemeinen  Düngerlehre,  zur  Assimilation,  zur 
Wasseraufnahme  der  Pflanzen  und  zu  anderen  not- 
wendigen Lebensbedingungen  gebracht,  so  daß 
wir  das  Büchlein  fast  als  ein  kleines  Lehrbuch 
der  Ernährungsphysiologie  der  Pflanzen  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  Kohlensäure  be- 
zeichnen können.  Ein  ausführliches  Literaturver- 
zeichnis wird  besonders  den  Fachleuten  von 
Nutzen  sein.  —  Auf  Einzelheiten  soll  hier  nicht 
eingegangen  werden;  es  mag  nur  noch  hervor- 
gehoben werden,  daß  durch  die  Kohlensäure- 
düngung der  doppelte  bis  dreifache  Ertrag  erzielt 
werden  kann. 

Es  ist  erfreulich,  daß  die  Verlagsbuchhandlung 
es  gewagt  hat,  die  Fisch  ersehe  Arbeit  als  selb- 
ständiges Werk  erscheinen  zu  lassen,  so  daß  die 
Möglichkeit  gegeben  ist,  daß  die  Kohlensäurefrage 
bald  die  weitesten  Kreise  beschäftigt  zum  Wohle 
von  Deutschlands  Volksernährung,  der  das  Buch 
gewidmet  ist.  Wächter. 

Anonymus,  Gehes  Arzneipflanzen-Taschen- 
buch.    Zur  textlichen  Ergänzung   von   Gehes 
Arzneipflanzenkarten  -  Sammlung.      Dresden  -  N., 
Gehe  &  Co. 
Wer    die    bekannten    Gehe  sehen    Postkarten 


benutzt,  wird  erfreut  sein,  in  dem  vorliegenden 
Büchlein  eine  textliche  Erweiterung  des  Unter- 
nehmens der  bekannten  Drogenfirma  zu  besitzen. 
Nach  dem  Vorwort  ist  das  Werkchcn  als  Reper- 
torium  und  Repetitorium  gedacht,  soll  also  weder 
ein  Lehrbuch  noch  eine  Bestimmungsflora  sein. 
Eine  Übersicht  der  besprochenen  Pflanzen  nach 
dem  natürlichen  und  Li  nneeschen  System  leitet 
das  Buch  ein,  und  dann  werden  die  einzelnen 
Pflanzen  nach  folgenden  Gesichtspunkten  be- 
sprochen: allgemeine  Beschreibung,  Standort, 
Blütezeit ,  Arzneilich  verwendete  Pflanzenteile, 
Sammelzeit,  Eigenschaften,  Bestandteile,  aus  der 
Pflanze  gewonnene  Präparate,  Wirkung  der  Pflanze, 
Anwendung  in  der  Heilkunde  und  Hinweis  auf 
die  Abbildungen,  wenn  solche  vorhanden  sind. 
Als  Nachschlagebuch  ist  das  Werkchen  ausge- 
zeichnet zu  gebrauchen  und  es  wird  sicher  viele 
Liebhaber  finden. 

Das  Buch  ist  anonym  erschienen,  während  bei 
den  Postkarten  Josef  Ostermaier  als  Autor 
genannt  wird.  Aus  welchem  Grunde  sich  der 
Autor  des  Taschenbuchs  versteckt  oder  von  der 
Firma  versteckt  wird,  ist  nicht  recht  einzusehen. 
Der  Autor  braucht  sich  seiner  netten  Arbeit  nicht 
zu  schämen  und  die  Firma  Gehe  &  Co.  braucht 
sich  des  Autors  nicht  zu  schämen.  Das  Buch 
charakterisiert  sich  durchaus  nicht  als  verdeckte 
Reklame,  denn  es  ist  völlig  objektiv  gehalten  und 
könnte  in  jedem  Buchverlag  erschienen  sein.  — 
Die  Zeiten  der  üblen  Gewohnheit,  wissenschaft- 
liche Leistungen  im  Dienste  einer  Großfirma  unter 
dem  Namen  der  Firma  zu  publizieren,  sollten 
eigentlich  endgültig  vorüber  sein. 

Die  neuen  Kartenserien  von  Arzneipflanzen, 
Nr.  14  bis  17  sind  zum  Teil  recht  gelungen. 
Warum  Solanum  dulcamara  in  einer  Steinwüste 
aufgenommen  wurde,  ist  allerdings  nicht  einzu- 
sehen ,  zumal  als  Standort  angegeben  wird :  an 
feuchten  Gebüschen,  an  schattigen  Bach-  und  Fluß- 
ufern. Wächter. 

Astronomisches  Handbuch  herausgegeben  vom 
Bund  der  Sternfreunde  durch  R.  Henseling. 
287  S.,  98  Abb.,  15  Kunstdrucktafeln.  Stutt- 
gart 1921,  Franckhsche  Verlagsbuchhandlung. 
Der  Untertitel,  Theoretischer  und  praktischer 
Ratgeber  für  die  Arbeit  des  Liebhabers  der 
Himmelskunde,  entspricht  durchaus  den  Tatsachen, 
denn  dies  populär  geschriebene  Werk  enthält 
keine  Tatsache,  sondern  es  gibt  an,  wie  man  zu 
den  Beobachtungstatsachen  gelangt,  und  wie  man 
sie,  soweit  nötig,  rechnerisch  auswertet.  Es  wird 
die  Benutzung  eines  der  massenhaft  vorhandenen 
kleinen  Fernrohre  von  2  und  3  Zoll  vorausgesetzt, 
und  gezeigt,  wie  es  möglich  ist,  mit  diesen  schein- 
bar geringen  Mitteln  wissenschaftlich  brauchbare 
und  wertvolle  Arbeit  zu  leisten.  Eine  Anzahl 
unserer  hervorragendsten  Praktiker,  ich  nenne 
nur  Neugebauer,  Guthnick,  Wirtz,  Graff 
haben  sich  das  große  Gebiet  in  5  theoretische 
und   1 5  praktische  Kapitel  zerlegt  und  teilen  nun 


7SO 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


aus  ihrer  eigensten  Erfahrung  mit,  wie  man  eine 
Aufgabe  anfassen  oder  nicht  anfassen  muß.  Es 
ist  kein  Gebiet  vergessen,  sei  es  Beobachtung 
von  Sonne,  IVIond  oder  Planeten,  Sternfarben, 
Doppelsterne  oder  sonst  irgendetwas,  hier  findet 
sich  das  nötige  Material  und  genaue  Anweisung. 
Auch  die  einschlägige  Literatur  und  die  Art  ihrer 
Benutzung  ist  sorgfältig  behandelt  worden.  Klare 
Abbildungen  und  schöne  Tafeln  machen  das 
Werk  noch  wertvoller,  so  daß  der  Preis,  45  iVI. 
geh.  und  60  M.  geb.,  als  billig  zu  bezeichnen  ist. 

Riem. 

Lehmann,  W.,     Energie     und     Entropie. 

40  S.  mit  8  Textfig.     Berlin  192 1,  J.Springer. 
—  Preis  geh.  5,40  M. 

Die  kurze  Schrift  will  dazu  beitragen,  die  Un- 
klarheiten zu  beseitigen,  die  auch  heute  noch 
trotz  weitgehender  Popularisierung  der  wissen- 
schaftlichen Fortschritte  in  weiten  Kreisen  über 
die  Grundgesetze  des  Naturgeschehens  bestehen. 
Sie  befaßt  sich  im  besonderen  mit  den  für  die 
gesamte  Energiewirtschaft  fundamentalen  Begriffen 
der  Energie  und  der  Entropie.  Wer  auf  An- 
schaulichkeit und  klare  Begrififsbildung  Wert  legt, 
wird  die  sorgfältige,  streng  sachliche  und  leicht- 
faßliche Darstellung  zweifellos  mit  hoher  Befrie- 
digung lesen.  Namentlich  auf  die  Betrachtung 
der  Entropie  seien  auch  die  Studierenden  ange- 
legentlich hingewiesen.  Ref.  hätte  nur  noch  ge- 
wünscht, daß  die  Namen  von  Robert  Mayer, 
Helmholtz,  Clausius  und  Boltzmann 
nicht  ganz  unerwähnt  geblieben  wären. 

A.  Becker. 

Wegener,  Dr.  Alfred,  Die  Entstehung  der 
Mondkrater.  Mit  9  Abb.  48  S.  Braun- 
schweig 1921,  Vieweg  &  Sohn. 
Der  Verf.,  dessen  geophysikalische  Arbeiten 
sehr  bekannt  sind,  und  durch  die  Neuheit  ihrer 
Gedanken  überraschen,  setzt  sich  zunächst  mit 
den  bisher  angenommenen  Erklärungen  ausein- 
ander, der  Blasenhypothese,  der  Gezeiten-  und 
Vulkanhypothese,  und  zeigt  ihre  Unhallbarkeit. 
Nach  ihm  ist  die  Aufsturzhypothese  die  allein 
haltbare,  die  er  freilich  erst  durch  Einführung 
neuer  Gesichtspunkte  brauchbar  macht.  Eine  An- 
ordnung der  Krater  nach  Größen  zeigt,  daß  auch 
die  runden  Marc  mit  dazu  zu  rechnen  sind,  die 
bis  zu  1000  km  Durchmesser  haben.  Systema- 
tische eigene  Versuche  zu  dieser  Hypothese  haben 
dann  entsprechende  Gebilde  mit  und  ohne  Zen- 
tralberg ergeben,  so  daß  der  Verf.,  auch  unter 
Heranziehung  des  bekannten  Aufsturzkraters  in 
Arizona  und  unter  Berücksichtigung  der  Lage  der 
größten  Aufsturzspuren  zu  der  Annahme  kommt, 
daß  der  Mond  durch  den  Zusammensturz  dis- 
kreter fester  Körper  gebildet  ist,  die  in  nahe  bei- 
sammenliegenden Bahnen  die  Sonne  umkreist 
haben  und  später  von  der  Erde  eingefangen  sind. 
Zur  Kulminationszeit  dieses  Prozesses  erfolgten 
die  Aufstürze  so  schnell,  daß  die  Temperatur  des 


Mondkörpers  über  den  Schmelzpunkt  der  Mine- 
ralien stieg,  aber  in  der  letzten  Phase  des  Vor- 
ganges überwog  der  V^erlust  durch  Ausstrahlung 
so  sehr,  daß  die  letzten  Aufstürze  die  Mare  schon 
gänzlich  erstarrt  vorgefunden  haben.  Vielleicht 
bildeten  auch  die  Teile  einen  Ring  um  die  Erde, 
woraus  es  sich  erklären  würde,  daß  diese  Auf- 
sturzkrater auf  der  Erde  nicht  vorkommen.  Jeden- 
falls ein  höchst  geistreiches  Werk.  Riem. 


Mach,  Ernst,  Die  Prinzipien  der  physi- 
kalischen Optik.  444  Seiten  mit  279  Fig. 
im  Text  und  10  Bildnissen.  Leipzig  1921, 
J.  A.  Barth.  Brosch.  48  M. 
Machs  rühmlichst  bekannter  Mechanik  und 
Wärmelehre  folgt  jetzt,  4  Jahre  nach  seinem  Tode, 
in  analoger  Darstellung  die  Optik.  Verf.  verfolgt 
die  Entwicklung  unserer  optischen  Kenntnis  er- 
kenntniskritisch und  psychologisch  von  den  ältesten 
Anfängen  naturwissenschaftlichen  Denkens  bis  zu 
den  hervorragenden  klassischen  Vertretern  der 
optischen  Forschung,  durch  welche  die  funda- 
mentalen Gesetze  der  Lichtausbreitung  endgültig 
erkannt  worden  sind.  Die  außerordentlich  an- 
regende, lebendige  Darstellung  behandelt  im 
einzelnen  in  13  Abschnitten  die  geradlinige  zeit- 
liche Ausbreitung  des  Lichtes,  die  Reflexion  und 
die  Brechung,  Anfänge  der  Lehre  vom  Sehen, 
Entwicklung  der  Dioptrik,  die  Zusammensetzung 
des  Lichtes,  die  weitere  Entwicklung  der  P'arben- 
und  Dispersionslehre,  Periodizität,  weitere  Ent- 
wicklung der  Interferenzlehre,  Polarisation,  die 
mathematische  Darstellung  der  Eigenschaften  des 
Lichts,  weitere  Entwicklung  der  Kenntnis  der 
Polarisation,  die  Aufklärung  der  geraden  Strahlen, 
der  Reflexion  und  Brechung  durch  die  zeitliche 
Ausbreitung  des  Lichtes,  weitere  Aufklärung  des 
Lichtverhaltens  durch  die  Periodizität  und  die 
Beugung;  ein  Anhang  gibt  zwei  kurze  Original- 
abhandlungen von  Malus  wieder,  die  durch  eine 
eigenartige  Auffassung  vom  Wesen  des  reflektierten 
Lichts  charakteristisch  sind.  Sehr  wertvoll  ist 
die  sorgfältige  Wiedergabe  der  Bildnisse  von 
Porta,  Kepler,  Newton,  Grimaldi,  Fou- 
cault,  Fresnel,  Young,  Malus,  Arago  und 
Fraunhofer;  nur  Huygens  fehlt  leider. 

Das  Werk  ist  allen,  die  an  der  Entwicklung 
naturwissenschaftlicher  Erkenntnisse  im  allge- 
meinen und  der  optischen  Begriffe  im  besonderen 
Interesse  haben,  bestens  zu  empfehlen.  Wer  sich 
mit  den  Tatsachen  der  Optik  bereits  auf  Grund 
der  üblichen  Darstellungsweise  vertraut  gemacht 
hat,  wird  einen  Einblick  in  die  historischen  Zu- 
sammenhänge als  wesentliche  Vervollständigung 
seiner  Kenntnis  empfinden.  Möge  das  Buch  des- 
halb auch  beim  Unterricht  häufige  Berücksichtigung 
finden. A.  Becker. 

Loewit,  M. ,  Infektion  und  Immunität. 
Nach  dem  Tode  des  Verfassers  herausgegeben 
von  Gustav  Bayer.  550  S.  Berlin  und 
Wien   1921,  Urban  u.  Schwarzenberg. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


■5' 


Es  ist  überaus  beklagenswert,  daß  der  Verf. 
dieses  großen  und  schönen  Werkes  nicht  mehr 
unter  den  Lebenden  weilt.  Denn  die  Wissen- 
schaft von  Infektion  und  Immunität  hat  bisher 
nur  wenig  gründliche  Bearbeiter  gefunden.  Der 
andere,  mit  dessen  Buch  •  allein  man  das  vor- 
liegende Werk  in  Parallele  setzen  kann,  P.  Th. 
JVIüller,  ist  ebenfalls  nicht  mehr  am  Leben.  — 
Um  so  mehr  muß  man  dem  Herausgeber  des 
Loe witschen  Werkes  dankbar  sein,  daß  er  es 
der  Mit-  und  auch  Nachwelt  übermittelte.  Ein 
gewaltiges  Werk  sollte  es  werden,  von  dem  wir 
hier  nur  einen  Teil  vor  uns  haben.  Der  Verf. 
wollte  die  gesamte  allgemeine  Pathologie  be- 
handeln, und  das  Eingangskapitel  dieses  Buches, 
das  von  „Krankheitsbegriff  und  Krankheitsver- 
erbung" handelt,  deutet  noch  auf  diese  Absicht 
hin.  Wir  haben  aber  hier  nicht  etwa  einen  Torso 
vor  uns,  der  nur  geschichtlichen  Wert  haben  wird. 
Sondern  wir  haben  eine  P'undgrube,  aus  der  wir 
noch  recht  lange  werden  schöpfen  können.  Das 
Buch  ist  mit  erstaunlicher  Gründlichkeit  und  Ge- 
wissenhaftigkeit verfaßt,  ein  Lehr-  und  Handbuch 
zugleich.  Die  Anordnung  des  Stoffes  ist  geschickt 
und  übersichtlich.  Neben  dem  erwähnten  Ein- 
gangskapitel finden  alle  nur  irgendwie  in  Betracht 
kommenden  Fragen  der  Infektions-  und  Immuni- 
tätslehre eine  eingehende  und  mit  reichlichsten 
Literaturnachweisen  belegte  Besprechung.  So  ist 
das  Buch  eine  überaus  wertvolle  Bereicherung 
unseres  Schrifttums  und  wird  von  niemand,  der 
sich  mit  irgendeiner  Frage  dieses  Forschungs- 
gebietes beschäftigt,  entbehrt  werden  können. 
Huebschmann  (Leipzig). 


Steinriede,  Franz,    Anleitung  zur  minera- 
logischen    Bodenanalyse,     insbesondere 
zur   Bestimmung    der   feineren  Bodenmineralien 
unter  Anwendung  der  neueren  petrographischen 
Untersuchungsmethoden.    Zweite  umgearbeitete 
und  erweiterte  Auflage.     Mit   106  Abbildungen. 
238  Seiten.     Leipzig  1921,  Wilhelm  Engelmann. 
Preis  geb.  60  M. 
Neben    den    sonst    gebräuchlichen    Arten    der 
Bodenuntersuchung    will    der  Verf.    die    mineralo- 
gisch-petrographische  Untersuchungsart    in  weite- 
rem Umfange  der  Bodenkunde  dienstbar  machen. 
Er  behandelt  nächst  der  Gewinnung  der  zu  unter- 
suchenden Bodenprobe  durch  das  Schlämm  verfahren 
in  anerkennenswerter  Weise    die   dazu    dienenden 
Methoden    (Trennungsmethoden,    optische,    physi- 
kalische und  chemische  Untersuchungsmethoden). 
Danach  folgen  ein  Abschnitt  über  den  Gang  der 
Untersuchung  und  Hilfstabellen,  die  den  Überblick 
über  die  im   letzten  Kapitel    „Kennzeichnung  der 
Bodenmineralien"      gut      gelungene,     kurzgefaßte 
Charakteristik     derselben     wesentlich     erleichtern 
werden.      Zuletzt    ist    noch    ein  Schlüssel   zur  Be- 
stimmung der  wichtigeren    bodenbildenden  Mine- 
ralien   ausgearbeitet    worden,    so    daß    das    Buch 
jedermann,   der  sich   die   wertvollen   Aufschlüsse 
dieser    Art    der    Bodenanalyse    dienstbar  machen 


will  und  kann ,  in  den  meisten  Fällen  zum  Ziele 
führen  wird.  Ein  Literaturverzeichnis  wird  dem 
Weiterstrebenden  willkommen  sein. 

Spangenberg. 

Potonie,  Henry,  Die  Steinkohle,  ihr.Wesen 
und  Werden.     Herausgeg.  von  Rob.  Potonie. 
Reclams  Universalbibliothek.    Bücher  der  Natur- 
wissenschaft Bd.  30.     (Nr.  6212 — 6214.)     Leip-. 
zig    1921.     214  S.,    3  Taf.,    12  Textfig.      Geh. 
4,50  M.,  in  Bibliothekband  6  M. 
Ein  nachgelassenes,  vom  Sohne  zum  Abschluß 
gebrachtes    Werk    des    Pioniers    der   Erforschung 
brennbarer   geologischer   Stoffe.     Mit  Recht   und 
überzeugend    weist   ein  Vorwort    kurz  darauf  hin, 
daß  chemische  Untersuchungen  der  Kohlengesteine 
die    gewünschte    Klärung    allein    nicht     bringen 
können.      Vieles    ist    geologisch    zugänglich    und 
ablesbar,    worüber    auf   jenem    Wege    Gewißheit 
vergeblich  erstrebt  wurde  und  wird. 

Der  Titel  ist  viel  zu  eng  gewählt.  Es  werden 
nicht  nur  die  Kohlen  überhaupt,  sondern  auch 
Öle  und  Harze  vergleichend  mitbehandelt.  Der 
bekannte  Standpunkt  des  Verf.,  betr.  das  Tropen- 
klima der  Steinkohlenzeit,  findet  auch  hier  aus- 
führliche Begründung.  Statistische  Tabellen  über 
Produktion,  Verwertung  und  Deutschlands  Aus- 
und  Einfuhr  von  Kohlen  tragen  mit  verbindendem 
Text  zum  Schlüsse  auch  den  praktischen  Fragen, 
die  der  Stoff  birgt,  nach  Möglichkeit  Rechnung. 
Auf  knappem  Raum  eine  Fülle  des  Wissenswerten 
in  anregender  und  klarer  Darstellung.  Es  sei 
nachdrücklich  auf  das  kleine  Taschenbüchlein  hin- 
gewiesen. Edw.  Hennig. 

Kohlrausch,  F.,  Lehrbuch  der  praktischen 
Physik.    Dreizehnte,  stark  vermehrte  Auflage. 
Neu    bearbeitet    von    H.    Geiger,    E.    Grün- 
eisen, L.  Holborn,  K. Scheel  und  E.  War- 
burg.    724  S.  mit  353  Fig.  im  Text.     Leipzig 
und  Berlin  192 1,   B.  G.  Teubner.     Geh.  30  M. 
und   120  "!„  Teuerungszuschlag. 
Mit  dem  Fortschritt  der  Wissenschaft  und  der 
Vermehrung     und    Vervollkommnung    der    Meß- 
methoden und  Meßmittel  wächst  naturgemäß  die 
Schwierigkeit,     den    „großen    Kohlrausch"    ohne 
allzu    starke  Vergrößerung    des  Umfangs    auf  der 
Höhe   der  Zeit   zu  erhalten.     Die  Bearbeiter   der 
neuen  Auflage  haben  sich,  was  durchaus  zu  billigen 
ist,  dadurch  Platz  geschaffen,  daß  sie  neben  einigen 
veralteten  physikalischen  Methoden  die  geographi- 
schen   und    astronomischen    Bestimmungen    voll- 
ständig   ausschieden    und    an    geeigneten    Stellen 
ohne  wesentliche  Änderung   der  Darstellung   ver- 
wandte   Aufgaben    enger    zusammenfaßten.      Eine 
größere  Umarbeitung  erfuhren  dabei  u.  a.  einzelne 
Kapitel  über  die  Druckmessung,  die  Thermometrie, 
Kalorimetrie      und      Strahlungsmessung;      ferner 
namentlich    die    Abschnitte    über   Wechselströme, 
elektrische    Schwingungen,    Hochfrequenzstrahlen 
und    Radioaktivität.      Daß    dabei    der    Charakter 
des   alten  Kohlrausch  voll  gewahrt   bleibt,   ist 


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Naturwissenschaftliche  Wochenschrift. 


N.  F.  XX.  Nr.  52 


ein  besonderer  Vorzug.  So  wird,  auch  die  Neu- 
auflage zum  unentbehrlichen  Führer  in  der  prak- 
tischen Physik.  A.  Becker. 

Centnerszwer,  M.,  Das  Radium  und  die 
Radioaktivität.  405.  Bändchen  von  „Aus 
Natur  und  Geisteswelt".  Zweite  Auflage.  118 
Seiten  mit  33  Figuren  im  Text.  Leipzig  und 
Berlin  1921,  B.  G.  Teubner. 
Das  Bändchen  will  ohne  Voraussetzung  be- 
sonderer Vorkenntnisse  einen  allgemein  verständ- 
lichen Überblick  über  das  Gebiet  der  Radioaktivi- 
tät geben.  Die  zweite  Auflage  ergänzt  die  schon 
vor  dem  Kriege  erschienene  Erstauflage  durch 
die  Berücksichtigung  des  seitherigen  Fortschritts 
der  radioaktiven  Kenntnis,  der  vornehmlich  die 
Erforschung,  der  Isotopie  und  die  Stellung  der 
Radioelemente  im  periodischen  System  betrifft. 
Die  Darstellung  ist  recht  ansprechend  und  wird 
auch  in  sachlicher  Hinsicht  weniger  großen  An- 
sprüchen im  allgemeinen  befriedigend  gerecht. 
Einige  Stellen  erscheinen  etwas  reichlich  speku- 
lativ, andere  —  wie  namentlich  der  Abschnitt  36 
über  die  Transmutation  der  Elemente  —  gehen 
in  der  Berücksichtigung  der  vorhandenen  fremd- 
ländischen Literatur  jedenfalls  darin  zu  weit,  daß 
sie  ganz  wertlose  Untersuchungen,  wie  diejenigen 
Ramsays  über  die  Umwandlung  des  Kupfers, 
erwähnen.  Eine  strengere  Fassung  wäre  auch, 
um  Mißverständnisse  auszuschließen,  bei  den  An- 
gaben auf  den  Seiten  53  und  54  über  die  Ladung 
der  /^-Strahlen  und  über  „ein  modernes  Perpetuum 
mobile"  zu  wünschen.  A.  Becker. 


Philipp,  R.,  Die  Bedeutung   der  Geologie 
für    Handel,    Industrie    und    Technik, 
Landwirtschaft    und    Hygiene.      35    S. 
mit  21   Abbildgn.      Ratsbuchhandlung  Bamberg 
Greifswald  1921. 
Der    verdienstvolle    Organisator    der    Kriegs- 
geologie stellt    hier  in    einem  allgemein  verständ- 
lichen Vortrag  (vom  Januar  1920,  gehalten  vor  der 
Polytechnischen    Gesellschaft    in    Stettin)    alle  die 
zahlreichen  Fälle  zusammen,  in  denen  die  geolo- 
gische Wissenschaft  innigste  Berührung   zu  prak- 
tischen Tagesfragen  gewinnt.     Gerade  die  Kriegs- 
erfahrungen haben  eine  Reihe  neuer  Beziehungen 
aufgedeckt  und  damit  auch  Aufgaben  für  Friedens- 
zwecke   erschlossen.      Die    Not    der    Gegenwart 
macht    sie    ganz    besonders    dringlich.      Was    der 
Boden  an  Stoffen,  Eigenschaften  und  Werten  aller 
Art  birgt,  muß  er  hergeben,  um  unsere  Selbstän- 
digkeit zu  stärken  oder  wiederherzustellen.    Ratio- 
nelle Verwertung    ist    ohne    geologische   Einsicht 
und  Beratung  unmöglich. 

Eine  große  Zahl  glücklich  gewählter  Beispiele 
aus  Bergbau,  Steinbruchbetrieb,  Wasserversorgung, . 
Tiefbau  aller  Art,  Land-  und  Forstwirtschaft  führt 
im  Zusammenhang  mit  Darlegung  elementarster 
geologischer  Vorstellungen  und  Begriffe  in  die 
ganze  Vielseitigkeit  der  Betätigungsmöglichkeiten 
cies  Geologen  ein  und  weist  die  Praxis  auf  die 
Quellen  hin,  aus  denen  unter  den  jetzigen  Wirt- 
schaftsverhältnissen bei  sachgemäßem  Vorgehen 
Nutzen  gezogen  werden  kann. 

Edw.  Hennig. 


Anregungen  und  Antworten. 


Eine  neue  deutsche  Sttfiwassermeduse  (Microhydra  spec). 
Durch  Zufall  entdeckte  im  August  d.  J.  ein  Herr  Chr.  Alt 
in  Frankfurt  in  einem  seiner  Aquarien  ein  merkwürdiges  Ge- 
bilde, das  er  nach  längerem  Beobachten  als  eine  Meduse  er- 
kannte. Herr  Geh. -Rat  zur  Strassen,  der  Direktor  des 
hiesigen  Senckenbergischen  Nalurhistorischen  iSIuseums,  sprach 
das  hochinteressante  Tier  als  Microhydra  ryderi  Potts  an. 
Diese  Art  ist  aus  Deutschland  bis  jetzt  nur  aus  dem  Finow- 
kanal  bekannt,  wo  sie  laut  „Brehm"  Seh  orn  im  Jahre  1911 
entdeckte.  Der  zugehörige  Polyp  ist  seit  1908  durch  Goette 
bekannt.  Was  nun  unsere  Frankfurter  Meduse  anbetrifft,  so 
dürfte  es  sich  wohl  um  eine  neue  Art  handeln,  da  sie,  soweit 


ich  feststellen  und  vergleichen  konnte,  ziemlich  stark  von 
ryderi  abweicht.  Vor  allem  durch  die  Zahl  der  Tentakeln, 
die  bei  ryderi  8,  bei  der  Frankfurter  Art  aber  16  beträgt; 
auch  ist  der  Habitus  voneinander  abweichend.  Ein  glück- 
licher Zufall  gestattet  es  sogar,  den  zugehörigen  Polypen 
zu  beobachten.  Dieser  sitzt  an  einer  Ludwigia,  der  bekannten 
Aquarienpflanze,  die  nach  Alt  die  „Hauspflanze"  des  Polypen 
sein  soll.  Doch  halte  ich  die  Annahme,  daß  der  Polyp  durch 
Futtertiere  —  Daphnien  —  eingeschleppt  ist,  für  wahrschein- 
licher und  natürlicher,  zumal  die  Pflanzen  und  der  Boden- 
grund des  Beckens  nach  Aussage  seit  drei  Jahren  nicht  ge- 
wechselt wurden.  Günther  Hecht. 


Inhalt:  St.  M  ohorovüic,  Die  Folgerungen  der  allgemeinen  Relativitätstheorie  und  die  Newtonsche  Physik.  S.  737. 
M.  Möbius,  Zur  Metamorphose  der  Pflanzen.  S.  739.  J.  Reinke,  Besitzt  ein  Vogel  Einsicht  in  kausale  Zusammen- 
hängef  (l  Abb.)  S.  742.  —  Einzelberichte:  Carre,  Wie  eine  Infektionskrankheit  entsteht.  S.  745.  P.  Martell,  Zur 
Stammesgeschichie  des  Hausrindes.  S.  745.  Ernst,  Zur  Frage  der  Schutzimpfung  bei  Maul-  und  Klauenseuche.  S.  746. 
R.  Willstätter  und  E.  Waldschmidt-Leitz,  Seifen  mit  ringförmigen  Kohlenstoffsystemen.  S.  746.  A.  Müller, 
Die  Konstitution  des  Reuniols.  S.  747.  Dietrich,  Die  Raubseeschw.ilbe,  ein  verschwundener  Brutvogel  Deutschlands. 
S.  747.  —  Bücherbesprechungen;  G.  Tammann,  Lehrbuch  der  Metallographie.  S.  748.  H.Fischer,  Pflanzenbau 
und  Kohlensäure.  S.  749.  Gehes  Arzneipflanzen-Taschenbuch.  S.  749.  Astronomisches  Handbuch.  S.  749.  W.  Leh- 
mann, Energie  und  Entropie.  S.  750.  ■  A.  Wegener,  Die  Entstehung  der  Mondkrater.  S.  75°'  E.  Mach,  Die 
Prinzipien  der  physikalischen  Optik.  S.  750.  M.  Loewit,  Infektion  und  Immunität.  S.  750.  F.  Steinriede,  An- 
leitung zur  raineralogischen  Bodenanalyse.  S.  751.  H.  Potonie,  Die  Steinkohle,  ihr  Wesen  und  Werden.  S.  751. 
F.  Kohlrausch,  Lehrbuch  der  praktischen  Physik.  S.  751.  M.  Centnerszwer,  Das  Radium  und.  die  Radio- 
aktivität. S.  752.  R.  Philipp,  Die  Bedeutung  der  Geologie  für  Handel,  Industrie  und  Technik,  Landwirtschaft  und 
Hygiene.  S.  752.  —  Anregungen  und  Antworten;  Eine  neue  deutsche  Süßwassermeduse  (Microhydra  spec).  S.  752. 
—  Titel  und  Register  zu  N.   F.  Bd.  20. 

Manuskripte  und  Zuschriften  werden  an  Prof.  Dr.  H.  Mi  ehe,  Berlin  N  4,  Invalidenstraße  42,  erbeten. 

Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
Druck   der  G.   Pätz'schen  Buchdr.  Lippert  &  Co.  G.m.b.H.,  Naumburg  a.  d.  S. 


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UH    läNL    G 


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